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Ausgrenzung, Stigmatisierung, Exotisierung - Urbane Lebenswelten von Roma / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 64 (3/2016)

Wer mit halbwegs wachem Geist in Europa lebt, weiß, dass Roma diskriminiert werden, ihnen mit rassistischem Hass und Gewalt begegnet wird; und doch scheint die Verdrängungsleistung in Bezug auf die untragbare Situation groß. Als ausgegrenzte und stigmatisierte europäische Minderheit trifft die Roma die neoliberale Stadtentwicklung der letzten Jahrzehnte besonders hart. Seien es die Privatisierung von kommunalen Dienstleistungen, die Kommodifizierung von Wohnraum oder die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums. Die Sommerausgabe von dérive greift all diese Punkte auf und setzt sich mit klassischen Vorurteilen wie dem Nomadentum oder dem Betteln auseinander. Darüberhinaus gibt es einen ausführlichen Beitrag über den Städtebau in Brasilien. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-64 bestellt werden.

Wer mit halbwegs wachem Geist in Europa lebt, weiß, dass Roma diskriminiert werden, ihnen mit rassistischem Hass und Gewalt begegnet wird; und doch scheint die Verdrängungsleistung in Bezug auf die untragbare Situation groß. Als ausgegrenzte und stigmatisierte europäische Minderheit trifft die Roma die neoliberale Stadtentwicklung der letzten Jahrzehnte besonders hart. Seien es die Privatisierung von kommunalen Dienstleistungen, die Kommodifizierung von Wohnraum oder die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums. Die Sommerausgabe von dérive greift all diese Punkte auf und setzt sich mit klassischen Vorurteilen wie dem Nomadentum oder dem Betteln auseinander. Darüberhinaus gibt es einen ausführlichen Beitrag über den Städtebau in Brasilien.
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Bezeichnung wird eben die Vorstellung einer homogenen<br />

Volksgruppe vermittelt. Die <strong>Roma</strong>-Gemeinschaft teilt sich<br />

jedoch in klar definierte Gruppen und Subgruppen, die<br />

zueinander in einem hierarchischen Beziehungsgeflecht stehen.<br />

Die Beziehungen unter den einzelnen Gruppen sind zum<br />

Teil noch komplexer als zwischen <strong>Roma</strong> und Nicht-<strong>Roma</strong> (u.a.<br />

Kokalanova 2009, S. 36).<br />

Hinter dem Begriff Zigeunerforschung verbarg sich im<br />

Nationalsozialismus das Rassenhygienische Institut unter<br />

der Leitung <strong>von</strong> Robert Ritter. Die pseudowissenschaftlichen<br />

Untersuchungen <strong>von</strong> Ritter und seinen MitarbeiterInnen boten<br />

die Grundlage <strong>für</strong> zahlreiche Zwangssterilisierungen und die<br />

Vernichtung <strong>von</strong> <strong>Roma</strong> in Deutschland und Österreich<br />

(Zimmermann 2007). Bis heute verbinden Überlebende und<br />

deren Familien die Begriffe Wissenschaft und Forschung<br />

mit der Deportation nach Auschwitz.<br />

Erst in den 1990er Jahren begann eine neue wissenschaftliche<br />

Auseinandersetzung, die sich unter der Bezeichnung<br />

<strong>Roma</strong>ni Studies mit der Frage »Wer sind die <strong>Roma</strong>?«<br />

beschäftigt. Die <strong>Roma</strong>ni Studies stellen die Auseinandersetzung<br />

mit dem Leben der <strong>Roma</strong> in den Mittelpunkt. Dabei<br />

versuchen Forschungen in diesem Bereich zunehmend eine<br />

gemeinsame Definition <strong>für</strong> alle <strong>Roma</strong> zu finden. ForscherInnen<br />

wie der Historiker und Kulturwissenschaftler Stefan Benedik<br />

kritisieren diese Herangehensweise, wobei sie vor allem vor<br />

dem Produzieren weiterer Vorurteile und Diskriminierungen<br />

warnen. Benedik verweist darauf, dass durch die Konzentration<br />

auf die Außenbetrachtung <strong>von</strong> <strong>Roma</strong> die Mechanismen der<br />

Diskriminierung, die in der Gesamtgesellschaft verankert sind,<br />

in den Hintergrund rücken. Hinzu können diese durch den<br />

Versuch, die heterogene Gruppe der <strong>Roma</strong> ethnisch unter<br />

einem Forschungsschwerpunkt zusammenzuführen, sogar<br />

gestärkt werden (Benedik 2015).<br />

Als Reaktion auf die einseitige Betrachtungsweise der<br />

<strong>Roma</strong>ni Studies erlebte Ende der 1990er Jahre die antiziganistische<br />

Forschung, die sich mit der negativen Einstellung der<br />

sogenannten Mehrheitsgesellschaft gegenüber den <strong>Roma</strong><br />

befasst, einen starken Aufschwung. Auf diesem Weg wird im<br />

Sinne eines Critical-Whiteness-Diskurses 3 die Perspektive<br />

gedreht und auf die BetrachterInnen gerichtet und somit die<br />

Frage nach ihren Handlungen in den Fokus gestellt. Der Fokus<br />

antiziganistischer Forschung ist auf Diskriminierung und<br />

negative Erfahrungen gesetzt, den Betroffenen wird durch<br />

diesen Ansatz die Macht der eigenen Repräsentation genommen.<br />

<strong>Roma</strong> werden in der antiziganistischen Forschung als<br />

vorrangig bedürftige Menschen und Opfer <strong>von</strong> Diskriminierungen<br />

dargestellt, womit erneut Vorurteile verfestigt werden<br />

(vgl. Benedik 2015).<br />

Schweigen oder die abwesende Präsenz<br />

Ein Sprechen über <strong>Roma</strong> ohne Stereotype und Diskriminierung<br />

scheint in diesem Kontext unmöglich. In dem<br />

daraus folgenden Versuch nicht über <strong>Roma</strong> zu sprechen, entstehen<br />

jedoch zunehmend Konflikte und versteckte Diskriminierungen.<br />

So wurden in den letzten Jahren absurde Begriffe<br />

wie beispielsweise Rotationseuropäer erfunden, um antiziganistische<br />

Aussagen zu umgehen und vor allem zu verdecken 4<br />

(vgl. End 2014).<br />

Des Weiteren fehlt grundsätzlich eine klare Strategie,<br />

die festlegt, ob eine staatliche Intervention sich an <strong>Roma</strong> wenden<br />

darf oder nicht. Deutschland reagierte auf die Aufforderung<br />

der Europäischen Union, eine Nationalstrategie über die<br />

Integration <strong>von</strong> <strong>Roma</strong> zu implementieren, negativ. Begründet<br />

wurde das damit, dass <strong>Roma</strong> zum einen immer schon da gewesen<br />

seien und damit Teil der Gesellschaft sind, weshalb sie<br />

keine Integration benötigen, und zum anderen sich solche Strategien<br />

an die Gesamtgesellschaft richten müssten und nicht<br />

ausschließlich <strong>Roma</strong> als Zielgruppe haben dürfen. Zwei Argumente,<br />

die in ihrem Ansatz sehr gut nachvollziehbar sind.<br />

Den Widerspruch zu dieser Stellungnahme stellen Maßnahmen<br />

der kommunalen und regionalen Verwaltungen dar, wenn sie<br />

in Folge der zunehmenden Zuwanderung <strong>von</strong> bulgarischen und<br />

rumänischen BürgerInnen in manchen Städten explizit <strong>Roma</strong>-<br />

Strategien implementieren. Dadurch wird innerhalb der<br />

Verwaltung die Meinung verbreitet, dass bestimmte Eigenschaften<br />

und Praktiken wie Obdachlosigkeit oder Betteln<br />

typisch <strong>für</strong> <strong>Roma</strong> sind und kein gesamtgesellschaftliches Phänomen<br />

darstellen.<br />

Um eine verstärkte Diskriminierung sowie verdeckte<br />

antiziganistische Aussagen zu vermeiden, scheint das Schweigen<br />

über <strong>Roma</strong> kein gangbarer Ausweg zu sein. Es wird nur<br />

allzu deutlich, dass uns die Begriffe fehlen. Bis heute ist unklar,<br />

worüber wir sprechen und dass bei dem Thema <strong>Roma</strong> eine<br />

große Hilflosigkeit und Unbedarftheit herrscht und es nach wie<br />

vor an Wissen fehlt. Die Ursachen da<strong>für</strong> sind in der jahrhundertelangen<br />

<strong>Roma</strong>-feindlichen Politik in Europa zu suchen, die<br />

sich durch die zunehmende Xenophobie in der Gesellschaft<br />

momentan weiter verstärkt.<br />

3<br />

Critical Whiteness bezeichnet<br />

einen aus den USA stammenden<br />

akademischen<br />

Diskurs zur postkolonialen<br />

Auseinandersetzung mit dem<br />

Weißsein, bei dem die Perspektive<br />

auf das Eigene bzw.<br />

das Privilegierte und<br />

nicht auf das Fremde bzw.<br />

das Marginale gerichtet<br />

wird. Whiteness beinhaltet<br />

dabei nicht nur die Hautfarbe<br />

sondern auch andere<br />

Parameter, die mit Macht<br />

und sozialem Status verbunden<br />

sind.<br />

4<br />

So berichtet beispielsweise<br />

die Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung über »Rotationseuropäer«,<br />

die Wohnungseinbrüche<br />

in Frankfurt<br />

durchführen. Im Nebensatz<br />

wird der Begriff Rotationseuropäer<br />

folgendermaßen<br />

erklärt: »[…] Die Einbrecher<br />

stammen aus dem Kreis<br />

der ›Rotationseuropäer‹,<br />

also aus Sinti- und <strong>Roma</strong>-<br />

Familien, die aus Straßburg<br />

in die Rhein-Main-Region<br />

gebracht werden.« (Iskander<br />

2009) Das Beispiel zeigt,<br />

wie anstatt einer differenzierten<br />

Betrachtung eine<br />

noch stärker stigmatisierende<br />

und versteckt rassistische<br />

Aussage getroffen<br />

wird. Ähnliche Aussagen<br />

trifft beispielsweise auch<br />

der Bürgermeister <strong>von</strong> Duisburg,<br />

Sören Link, wenn er<br />

bei einer Konferenz zum<br />

Umgang mit Geflüchteten im<br />

September 2015 in Berlin<br />

die Bereitschaft äußert,<br />

»(...) das Doppelte an<br />

Syrern [aufzunehmen], wenn<br />

[er] da<strong>für</strong> ein paar Osteuropäer<br />

abgeben könnte«.<br />

(SZ 2015). Dabei wird in<br />

einem Nebensatz noch verdeutlicht,<br />

dass Link mit<br />

dieser Aussage »<strong>Roma</strong> gegen<br />

syrische Flüchtlinge schachern«<br />

würde.<br />

06<br />

<strong>dérive</strong> N o <strong>64</strong> — <strong>Ausgrenzung</strong>, <strong>Stigmatisierung</strong>, <strong>Exotisierung</strong>. <strong>Urbane</strong> <strong>Lebenswelten</strong> <strong>von</strong> <strong>Roma</strong>

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