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Ausgrenzung, Stigmatisierung, Exotisierung - Urbane Lebenswelten von Roma / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 64 (3/2016)

Wer mit halbwegs wachem Geist in Europa lebt, weiß, dass Roma diskriminiert werden, ihnen mit rassistischem Hass und Gewalt begegnet wird; und doch scheint die Verdrängungsleistung in Bezug auf die untragbare Situation groß. Als ausgegrenzte und stigmatisierte europäische Minderheit trifft die Roma die neoliberale Stadtentwicklung der letzten Jahrzehnte besonders hart. Seien es die Privatisierung von kommunalen Dienstleistungen, die Kommodifizierung von Wohnraum oder die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums. Die Sommerausgabe von dérive greift all diese Punkte auf und setzt sich mit klassischen Vorurteilen wie dem Nomadentum oder dem Betteln auseinander. Darüberhinaus gibt es einen ausführlichen Beitrag über den Städtebau in Brasilien. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-64 bestellt werden.

Wer mit halbwegs wachem Geist in Europa lebt, weiß, dass Roma diskriminiert werden, ihnen mit rassistischem Hass und Gewalt begegnet wird; und doch scheint die Verdrängungsleistung in Bezug auf die untragbare Situation groß. Als ausgegrenzte und stigmatisierte europäische Minderheit trifft die Roma die neoliberale Stadtentwicklung der letzten Jahrzehnte besonders hart. Seien es die Privatisierung von kommunalen Dienstleistungen, die Kommodifizierung von Wohnraum oder die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums. Die Sommerausgabe von dérive greift all diese Punkte auf und setzt sich mit klassischen Vorurteilen wie dem Nomadentum oder dem Betteln auseinander. Darüberhinaus gibt es einen ausführlichen Beitrag über den Städtebau in Brasilien.
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Editorial<br />

Wer mit halbwegs wachem Geist in Europa lebt, weiß, dass<br />

<strong>Roma</strong> diskriminiert werden, ihnen mit rassistischem Hass und<br />

Gewalt begegnet wird; und doch scheint die Verdrängungsleistung<br />

in Bezug auf die untragbare Situation groß. Im Februar<br />

1995 wurden Josef Simon, Peter Sarközi, Karl und Erwin<br />

Horvath im burgenländischen Oberwart durch einen rassistisch<br />

motivierten Bombenanschlag getötet. 2008/09 wurden<br />

in Ungarn sechs <strong>Roma</strong> <strong>von</strong> Rechtsextremisten heimtückisch<br />

ermordet, 55 weitere teils schwer verletzt. Am 18. April <strong>2016</strong><br />

wurde der 17jährige Rom Mitko Yonkov im bulgarischen<br />

Ovchepoltsi fast zu Tode geprügelt, weil er postulierte, dass<br />

<strong>Roma</strong> und die bulgarische Mehrheitsbevölkerung gleich sind.<br />

Der 24jährige Täter Angel Kaleev filmte seinen Gewaltakt<br />

und veröffentlichte das Video im Internet. Diese Taten bilden<br />

die Spitze eines Eisbergs aus tagtäglicher Diskriminierung,<br />

<strong>Ausgrenzung</strong> und <strong>Stigmatisierung</strong>. Bemühungen auf EU-<br />

Ebene, durch Initiativen wie der <strong>Roma</strong>-Dekade (2005 – 2015),<br />

der Diskriminierung und Benachteiligung eine Ende zu bereiten<br />

oder durch unterstützende Aktionen zumindest eine<br />

Trendwende einzuläuten, haben wenig bewirkt. Wir haben uns<br />

daran gewöhnt, dass <strong>Roma</strong>, die in West- und Nordeuropa<br />

seit mehr als einem halben Jahrtausend leben, als Bürger zweiter<br />

Klasse behandelt werden und tun kaum etwas gegen<br />

dieses Unrecht. Gilda-Nancy Horvath schreibt in ihrem Beitrag<br />

<strong>für</strong> diesen Schwerpunkt zu Recht: Wir lassen es zu.<br />

Als diskriminierte und stigmatisierte europäische Minderheit<br />

– wobei nicht vergessen werden sollte, dass diese<br />

Minderheit in Europa aus 14 Mio. Menschen besteht – trifft die<br />

<strong>Roma</strong> die neoliberale Stadtentwicklung der letzten Jahrzehnte<br />

besonders hart. Ein Beispiel da<strong>für</strong> ist die Privatisierung <strong>von</strong><br />

kommunalen Dienstleistung in bulgarischen Städten. Sie hat,<br />

wie Rosalina Babourkova in ihrem Artikel <strong>für</strong> diesen Schwerpunkt<br />

schreibt, nicht nur dazu geführt, dass die Lebensqualität<br />

<strong>von</strong> <strong>Roma</strong> stark beeinträchtigt wurde, sondern auch dazu,<br />

dass sie durch speziell gegen sie gerichtete Maßnahmen öffentlich<br />

stigmatisiert werden und ihr Stellenwert als Stadtbürger<br />

und -bürgerin im Sinken begriffen ist. Ein anderes Beispiel ist<br />

der Zugang zu Wohnraum. Die Redakteurin des Schwerpunkts,<br />

Anna Kokalanova, schildert gemeinsam mit Diana<br />

Botescu am Beispiel Berlin wie sich die Privatisierung des<br />

Wohnungsmarktes auf die Erlangung <strong>von</strong> Wohnraum <strong>für</strong> neu<br />

zugewanderte <strong>Roma</strong> auswirkt. Auch hier sind <strong>Roma</strong> <strong>von</strong> der<br />

allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung am schnellsten und<br />

härtesten betroffen. Zur grundsätzlichen Schwierigkeit eine<br />

leistbare Wohnung zu finden, gesellen sich rassistische Vorurteile<br />

und eine oftmalige Nicht-Anerkennung <strong>von</strong> EU-Bürgerrechten.<br />

Somit sind ankommende <strong>Roma</strong> auf ein Marktsegment angewiesen,<br />

das <strong>von</strong> diesen Ausschlüssen profitiert und im Geschäft<br />

mit der Armut horrende Preise <strong>für</strong> sogenannte Schrottimmobilien<br />

lukriert.<br />

Ein drittes Beispiel ist die Verdrängung <strong>von</strong> unerwünschten<br />

Personen aus dem öffentlichen Raum, der mittlerweile<br />

umindest in zentralen städtischen Lagen als Konsum- und<br />

Eventzone weitgehend ökonomisiert ist. Ferdinand Koller,<br />

Aktivist der Bettellobby Wien, hat diesen Umstand zum Anlass<br />

genommen, einerseits die Kriminalisierung des Bettelns im<br />

öffentlichen Raum und andererseits die verstärkte (mediale)<br />

Wahrnehmung <strong>von</strong> Bettlern als <strong>Roma</strong> und infolge dessen<br />

<strong>von</strong> <strong>Roma</strong> als Bettler zu analysieren. Denn die Zuschreibung<br />

verschleiert die tatsächlichen Verhältnisse, haben die allermeisten<br />

<strong>Roma</strong> (in Österreich) doch noch nie gebettelt und leben<br />

ein an die Mehrheitsbevölkerung angepasstes, durchschnittliches<br />

Leben. Der unterschiedliche Stellen-wert in der Gesellschaft<br />

erschließt sich also auch über die Sichtbarkeit. Die seit Generationen<br />

und Jahrhunderten in Österreich lebenden <strong>Roma</strong> werden<br />

zumeist nicht als solche wahrgenommen, ganz im Gegensatz<br />

zu den neu Zugewanderten bzw. den (Armuts-)MigrantInnen,<br />

die zwischen Rumänien, Bulgarien und Westeuropa pendeln<br />

und <strong>von</strong> denen Michael Hieslmair in seinem Bericht über eine<br />

Busreise <strong>von</strong> Sofia nach Wien erzählt.<br />

Das Thema Pendeln leitet zu einem weiteren Vorurteil<br />

über, mit dem <strong>Roma</strong> ständig konfrontiert sind und das in<br />

der Rede vom fahrenden Volk Eingang in den Sprachgebrauch<br />

gefunden hat. Andre Krammer lotet das Spektrum zwischen<br />

der Figur der modernen, <strong>von</strong> Termin zu Termin jettenden<br />

Nomadin, des auf Jack Kerouacs Pfaden wandelnden Hobos,<br />

des Flaneurs und schließlich der immer wieder aufs neue<br />

verdrängten und vertriebenen <strong>Roma</strong> aus.<br />

Manfred Russos Serie zur Geschichte der Urbanität<br />

macht diesmal Pause, was aber nicht heißt, dass es diesen<br />

Sommer keinen Lesestoff <strong>von</strong> Russo gibt. Wir dürfen nämlich<br />

erfreut vermelden, dass die Geschichte der Urbanität unter<br />

dem Titel Projekt Stadt – Eine Geschichte der Urbanität als<br />

knapp 450 Seiten starkes Werk jüngst bei Birkhäuser<br />

erschienen ist. Dem brasilianischen Städtebau und seinem<br />

Verhältnis zur Moderne, widmet sich der Berliner Stadtforscher<br />

Martin Gegner in einem ausführlichen Artikel im<br />

Magazinteil dieser Ausgabe.<br />

Noch ein wichtiger Hinweis in Sachen Lesestoff:<br />

In unserem neuen Online-Kiosk auf www.derive.at gibt es<br />

vergriffene <strong>dérive</strong>-Schwerpunkthefte wie Smart Cities, Stadt<br />

selber machen, Urbanität durch Migration, Modell Wiener<br />

Wohnbau und andere mehr jetzt als PDF zu erwerben –<br />

geht ganz einfach und schnell!<br />

Und ganz zum Schluss locken wir noch mit einem sensationellen<br />

Angebot zur Festival-Flanerie: <strong>2016</strong> geht urbanize!<br />

erstmals auf Wanderschaft und ist in Kooperation mit Planbude<br />

St. Pauli, ctc – curating the city, dem Kunsthaus Hamburg<br />

und dem Gängeviertel 10 Tage in Hamburg zu Gast (Housing<br />

the Many, 23.9 – 2.10). Anschließend setzen wir Segel und<br />

gehen mit dem Festivaltanker und jeder Menge hamburgischem<br />

Stadt selber machen im Gepäck <strong>für</strong> 5 Tage Diskussion,<br />

Wissensproduktion und Programm in Wien vor Anker<br />

(Die Stadt der Vielen, 12. – 16.10.). Alle Infos zum Festival-<br />

Programm <strong>2016</strong> demnächst auf www.urbanize.at.<br />

Einen schönen Sommer und auf bald in Hamburg,<br />

Wien oder anderswo!<br />

Christoph Laimer<br />

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