Teil IV - Die heiße Phase
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<strong>Teil</strong> <strong>IV</strong><br />
<strong>Die</strong><br />
<strong>heiße</strong> <strong>Phase</strong>
Route:<br />
Bombay – Westküste – Südspitze - Madras<br />
120
Trockenzeit<br />
Bombay<br />
Eines der größten Länder der Erde ragt als Halbinsel in den<br />
indischen Ozean und obwohl unser Flugticket als Ziel<br />
Bombasa ausweist, landen wir in Mumbay, das dem Ort am<br />
nächsten kommt.<br />
Das Wort Bombay, auf Maharati auch Mumbay genannt,<br />
soll vom Namen der Gottheit Mumba Devi abgeleitet sein.<br />
<strong>Die</strong> Portugiesen, Vorgänger der Engländer in Bombay,<br />
interpretierten den Namen in ihrer Sprache sehr passend als<br />
„Bom Baim“ – was gute Bucht bedeutet, da sie hier einen<br />
ausgezeichneten Naturhafen gefunden hatten.<br />
<strong>Die</strong> Stadt liegt an Indiens Westküste, die sich von Gujarat<br />
bis nach Goa, Karnataka und Kerala erstreckt. Weiter<br />
südlich gehen die schmalen Uferstreifen und Ebenen<br />
schnell in die bewaldeten Hügel der West-Ghats über.<br />
Um bis in das Zentrum von Bombay vorzustoßen, verlassen<br />
wir unsere Vorortbleibe in Ville-Parle. <strong>Die</strong> Eisenbahn<br />
scheidet als Transportmöglichkeit zunächst aus, denn<br />
die Züge sind dermaßen überfüllt, dass die Menschen sogar<br />
außen an den Wagen hängen. Wir versuchen es daher mit<br />
einer Rikscha, der Fahrer deutet aber auf ein Taxi, weil<br />
seine Lizenz nicht bis in die Innenstadt reicht. <strong>Die</strong> Fahrt<br />
durch das endlose Verkehrsgewühl wird zu einer Schwitzkur<br />
und kostet uns eine Menge Rupien.<br />
An der Victoria-Station lassen wir uns absetzen.<br />
Auf den ersten Blick erscheint es mir geradezu unmöglich,<br />
dass dieser viktorianisch-gotische Steinkoloss mit seinen<br />
Torbögen und den bunten Fenstern aus Glas ein Bahnhof<br />
sein soll. Das Gebäude erinnert mich in seiner Form eher<br />
an eine Kirche, die gotischen Hallen muten mit ihren<br />
riesigen Ventilatoren jedenfalls grotesk an.<br />
121
Dennoch gilt Bombay VT aus architektonischer Sicht als<br />
einer der schönsten Bahnhöfe der Welt.<br />
Unter dem Triumphbogen des Gateway of India, dem<br />
berühmten Bauwerk, das 1911 anlässlich der Landung von<br />
König George V. und Königin Mary erbaut wurde, lassen<br />
wir uns von der Meeresbrise beleben. <strong>Die</strong> Strahlen der<br />
sinkenden Sonne berühren den honigfarbenen Basalt des<br />
Torbogens, der dazu in Tönen von Golden bis Rosa<br />
variiert. <strong>Die</strong> Wellen des arabischen Meeres plätschern<br />
verspielt am Landungssteg.<br />
Nicht nur geographisch ist Bombay die westlichste<br />
indische Großstadt, schon von den Engländern wurde sie<br />
als "urbs prima in Indiis" bezeichnet. <strong>Die</strong> Stadt vergleicht<br />
sich selbst nicht ungern mit New York.<br />
Sie gehört mit Delhi, Kalkutta und Madras zu den vier<br />
großen indischen Metropolen, die trotz des gemeinsamen<br />
historischen Hintergrundes der englischen Kolonisation<br />
unverwechselbar geblieben sind.<br />
Auf einer Fläche von nur 25 Kilometern Länge und bis zu<br />
6 Kilometern Breite leben in Bombay nur wenige<br />
Menschen in Reichtum, über die Hälfte jedoch in den<br />
Slums. Vierzehn Millionen drängen sich heute in der<br />
größten Stadt des Subkontinents, im Jahr 2010 sollen es 24<br />
Millionen sein.<br />
Wir fragen uns, weshalb sich so viele Leute in diesem<br />
riesigen Land auf engstem Raum zusammen zwängen – die<br />
Antwort lautet Jobs. Bombay ist das wichtigste Wirtschaftszentrum<br />
des Landes. Mit einer 140 Jahre alten Börse, einem<br />
riesigen Textilmarkt, den höchsten Immobilienpreisen und<br />
dem größten Steueraufkommen Indiens.<br />
Bombay besitzt neben einer wohlhabenden Oberschicht ein<br />
berüchtigtes Rotlichtviertel sowie unzählige Bettler und<br />
Obdachlose. Neben den Wolkenkratzern und Konzernriesen<br />
macht sich Armut und Elend breit.<br />
122
Schon gegen vier Uhr morgens erwacht die Stadt und aus<br />
den Bahnhöfen strömen die ersten Zugladungen. In den<br />
nächsten Stunden wird Bombay von einer gewaltigen<br />
Menschenwoge geflutet werden. Mehr als drei Millionen<br />
Menschen strömen Tag für Tag per Zug, Bus, Taxi oder im<br />
eigenen Wagen aus den Vororten zur Arbeit.<br />
Den Fängen dieser Stadt zu entkommen ist nicht einfach,<br />
so ziehen wir nach einem Obstfrühstück hinaus in den<br />
schwülen Morgen. Mit uns schieben in alle Regenbogenfarben<br />
gekleidete Menschenmassen durch die Straßen.<br />
Im frühen Tageslicht blättern die Farben und die europäische<br />
Fassade bröckelt dahin. Beim Überqueren einer<br />
Eisenbahnbrücke fällt mein Blick entlang der Strecke auf<br />
die traurigen Behausungen aus Wellblech, Pappe und<br />
Lumpen.<br />
Wir quälen uns durch einen lebensgefährlichen Verkehr<br />
und hoffen die richtige Richtung eingeschlagen zu haben,<br />
bis wir schließlich ganz die Orientierung verloren haben.<br />
Händeringend wende ich mich an das Fußvolk, dabei sind<br />
wirklich alle bemüht uns weiter zu helfen, aber jeder schickt<br />
uns in eine andere Richtung.<br />
Zuletzt verlasse ich mich lieber auf meinen Kompass.<br />
<strong>Die</strong> Luft ist unerträglich, der Schmutz der Straße brennt in<br />
den Augen. Rauchende Teerfässer und beißende Schwaden<br />
gehören zum Alltag der kleinen Arbeitstrupps die in den<br />
verrußten Zeltkolonien am Straßenrand hausen. Einige<br />
Kilometern weiter erkundige ich mich nach der Stadt<br />
Thane, ein Radler aus Bombay behauptet wir seien schon<br />
mittendrin. Er bietet seine <strong>Die</strong>nste an, um uns aus dem<br />
Chaos zu lotsen.<br />
Dank seiner Hilfe sind wir bald auf dem Lande, wo es weit<br />
friedlicher zugeht.<br />
123
Wir begegnen einem hübschen, aber toten Mädchen auf<br />
ihrem letzten Weg. Ihrer mit bunten Blumen geschmückten<br />
Bahre folgt ein langer, schweigender Leichenzug.<br />
Auf dieser Strasse geht es zwar zügig voran, dennoch ist<br />
unser Begleiter von starken Zweifeln befallen. Er steigt in<br />
die Bremsen, ich erhalte einen Stoss von hinten und<br />
Suzanne purzelt über den Asphalt hinweg. Zum Glück ist<br />
der anrückende Lastwagen weit genug entfernt, so dass<br />
Zeit zum Räumen der Straße bleibt.<br />
Mit dem Schrecken in den Gliedern setzen wir die Reise<br />
durch die dunstige Landschaft Maharastras fort. Vieles reibt<br />
sich am Bild dieses Musterstaates. <strong>Die</strong> trockenen, über<br />
weite Strecken verwaisten Böden mit Rissen und Klüften<br />
bestimmen das Bild dieser Landschaft in der sich meist nur<br />
kleine Dörfer mit simplen Behausungen finden.<br />
Der Verkehr reißt nicht ab, eine beständige Karawane aus<br />
Lastwagen drängt sich an uns vorbei. Immer wenn es zu<br />
eng wird, weichen wir in den Schotter, irgendwann ziehen<br />
wir es vor zu schieben.<br />
Nachdem wir die ersten Häuser von Panvel erreicht haben,<br />
verabschieden wir uns von Dev, der ab hier eine andere<br />
Richtung einschlägt. Da wir keine Lust mehr haben dem<br />
Highway Nummer 17 zu folgen, biegen wir in die kleinere<br />
Straße in Richtung Küste ab und strampeln über die Brücke<br />
eines gemächlich treibenden Flusses, dessen versandete<br />
Ufer bis nach Alibag reichen.<br />
Das Zentrum des Ortes zeigt sich in windschiefem<br />
Niedrighausstiel, meist nur zweistöckig mit Außentreppe<br />
und Holzveranda. Durch die engen Gassen finden wir den<br />
Weg zum Beach und enden vor einem von Palmen<br />
gesäumten Steinwall hinter dem der Ozean brandet.<br />
Das Meer hat sich in der Nacht fast völlig zurückgezogen,<br />
der Weg zur nahen Insel ist frei. Über den <strong>heiße</strong>n Sand<br />
wetzen wir ans Ufer, durch das seichte Wasser waten wir<br />
hinüber.<br />
124
Das Eiland empfängt uns mit glühendem Sand.<br />
Durch ein steinernes Tor hüpfen wir in den Innenhof einer<br />
alten Anlage. <strong>Die</strong> Festungsmauern rund um den Hindu-<br />
Stempel sind bis auf wenige <strong>Teil</strong>e zur See hin sehr gut<br />
erhalten. Wir klettern an ihnen empor und entdecken zwei<br />
rostige Kanonen, deren Gravur zu entnehmen ist, dass sie<br />
britischer Herkunft sind und aus dem Jahre 1849 stammen.<br />
Es wäre sicher interessant, etwas über ihre Vergangenheit<br />
zu erfahren, aber die stummen Zeugen behalten ihr<br />
Geheimnis für sich.<br />
Entlang der Bucht schlängelt sich unser Weg durch die<br />
sumpfige Landschaft, wir radeln durch einen dichten<br />
Kokoswald und staunen was alles auf den Palmen passiert.<br />
In den Baumkronen wird fleißig an den Nüssen geritzt, um<br />
die Vergärung der Kokosmilch zu starten. Aus einigen wird<br />
bereits das fertige Kokosbier gezapft.<br />
In den kleinen unscheinbaren Dörfern ist die Zeit stehen<br />
geblieben. Zwischen dem heutigen Leben und dem vor<br />
hundert Jahren unterscheidet sich wahrscheinlich nur<br />
wenig.<br />
Natürlich hat heutzutage die Motorisierung überall Einzug<br />
gehalten, doch die Karren mit den Ochsen an einer windschiefen<br />
Deichsel gehören immer noch dazu.<br />
<strong>Die</strong> Landschaft des Konkan ist zwar hügelig, die einmaligen<br />
Ausblicke auf die Küste entschädigen uns aber für alle<br />
Anstrengungen. Auch wenn es an Land zunehmend <strong>heiße</strong>r<br />
wird, macht eine frische Meeresbrise das Radfahren<br />
angenehm erträglich. Der feine Streifen aus Sand zwischen<br />
der azurblauen Brandung und dem endlosen Grün erstreckt<br />
sich bis zur nächsten Bucht hinüber.<br />
Es gibt es dort keine Brücke, doch das Segelboot nach<br />
Dighi dreht noch mal bei, um uns mitzunehmen. Es legt<br />
schwerfällig ab, weil es mit Säcken und Menschen stark<br />
überladen ist.<br />
125
Vergeblich versucht sich ein schwacher Windhauch am<br />
Segel und schließlich werden die Paddel bemüht um die<br />
Nussschale vorantreiben. Im Boot mischt sich turbulentes<br />
Frauengeschnatter mit Kindergeplärr und einem rauen<br />
Männerhusten. Ein besonders energischer Anfall lässt mich<br />
Bazillen befürchten und sofort in die hinterste Ecke des<br />
Bootes flüchten.<br />
Am Anleger von Dighi gehen wir an Land. Bei Dapoli wird<br />
„Id-Ul-Fitr“ gefeiert, denn der Ramadan ist zu Ende<br />
gegangen. Ein bunter Markt stillt unsere Bedürfnisse, wir<br />
futtern uns zunächst durch das reiche Angebot an den<br />
Ständen, dann finden wir ein Restaurant wo es für wenig<br />
Geld reichlich zu Essen gibt.<br />
Auf einem Bananenblatt wird der Thali serviert. Er besteht<br />
vor allem aus Gemüse, Kartoffeln, Reis und Brot.<br />
Fleisch wird nicht dazu gereicht, da die strengen Hindus<br />
nur vegetarisch essen. Wie üblich speisen wir ohne Besteck,<br />
das bedeutet es wird nur die rechte Hand benutzt. Bevor<br />
die Platte leer geputzt ist, eilen Burschen mit großen<br />
Eimern und Kellen heran, um bis zu unserem Abwinken<br />
nachzuschöpfen.<br />
Anschließend werde ich auf einen Herrn aufmerksam,<br />
dessen Gesicht von einer Postkarte an der Wand strahlt. Im<br />
Namen eines Reisetaschenherstellers wirbt der Mann aus<br />
Südtirol für seine Unternehmung. Wie sich herausstellt, ist<br />
er uns auf seinem Weg um den Äquator gute zwei Wochen<br />
voraus. Das Bartgesicht kommt mir bekannt vor und<br />
plötzlich ist mir wieder in Erinnerung: “Mensch das ist ja<br />
der Waldthaler vom Nordkap!“<br />
Es muss Anfang der achtziger Jahre gewesen sein, als ich in<br />
Skandinavien unterwegs war. Damals hatte ich Europas<br />
Nordspitze mit dem Motorrad erkundet. Auf der Insel<br />
Mangeroya begegnete ich dem Radler der schon seit Jahren<br />
durch die Welt reist.<br />
126
Im Mitternachts-Sonnenschein erfuhr ich von seiner<br />
Geschichte, auf einer zerfledderten Landkarte durfte ich<br />
seiner Reise folgen.<br />
<strong>Die</strong> Tour begann, als sich Tillmann während einer Südpol-<br />
Expedition als Schiffskoch abseilte, und sich in Neuseeland<br />
ein Fahrrad besorgte. Monatelang fuhr er über Australien<br />
und Asien bis hinauf nach Nordeuropa, daraufhin stand<br />
Spitzbergen auf seinem Programm.<br />
Seit dieser hellwachen Nacht wurde ich die Idee nicht mehr<br />
los, auch einmal auf diese Weise los zu ziehen.<br />
Erst ein Jahrzehnt später sollte es soweit kommen.<br />
Abends empfängt uns der Polizeiinspektor mit einem<br />
dampfenden Tee. Unser Gastgeber ist kaum zu verstehen,<br />
da sein Mund mit Betelblättern gefüllt ist.<br />
Mampfend reicht er mir das Röllchen aus Blättern, Kalk<br />
und Nüssen über den Schreibtisch: „That´s our culture –<br />
please try it. “<br />
Ich kann mich seiner Bitte nicht entziehen. Wohl oder übel<br />
klemme mir den exotischen Cocktail in die Backentasche.<br />
Mit dem bitteren Genuss weiß ich beim besten Willen<br />
nichts anzufangen, ich spuke das Zeug umgehend im<br />
hohen Bogen zum Fenster hinaus.<br />
Der Inspektor lässt die Puppen tanzen, indem er auf sein<br />
Glockenspiel in Reichweite einhämmert.<br />
Kling Glöckchen kling – wehe dem, der hier schlecht hört.<br />
Gegen 21 Uhr ist Feierabend, wir werden in eine Rikscha<br />
verfrachtet und zum örtlichen Gästehaus gekarrt. Diwakar<br />
lebt hier von seiner Frau und den Kindern getrennt.<br />
Indem man die Beamten immer wieder in andere Distrikte<br />
versetzt wird versucht der Vetternwirtschaft im Lande Herr<br />
zu werden.<br />
Zu uns gesellt sich der befreundete Anwalt Mr. Ram. Bei<br />
einer Flasche „Directors Spezial“ verlieren wir uns bald in<br />
den Themen der Zeit, der Stoff geht uns erst weit nach<br />
Mitternacht aus.<br />
127
Am nächsten Morgen sorgt die Lärmkulisse des Dorfes<br />
mit ihrem Zweitaktgeratter und Hundegebell dafür, dass<br />
wir zeitig aus den Federn purzeln.<br />
Wir stolpern in eine vernebelte Landschaft, welche so früh<br />
am Morgen nur von rasenden Hörnchen mit buschigen<br />
Schwänzen bevölkert wird.<br />
Bei Raula endet die Straße an einer Flussmündung. Einen<br />
Moment lang starren wir ratlos in unser Spiegelbild im<br />
Niedrigwasser.<br />
Am anderen Ufer ist der Sand so tief, dass es uns schwer<br />
möglich ist dort durch zu kommen. Weiter oben finde ich<br />
einen schmalen Weg durchs Dickicht, aber auch dieser<br />
Trampelpfad gestaltet sich mehr oder weniger unwegsam.<br />
Der Hürdenlauf bereitet uns in dieser Hitze nur wenig<br />
Freude, an einem dubiosen Abzweig halten wir inne.<br />
Es erscheint mir besser, die Gegend im Voraus zu<br />
erkunden. Meine Pfadfinderei endet an einer ausgedörrten<br />
Lichtung. <strong>Die</strong> Felsendome, die sich hier auftürmen sind<br />
einfach zu hoch. Der blanke Schädel mit den riesigen<br />
Hörnern und die zahlreich herum liegenden Knochen<br />
bewegen mich zur Einsicht, dass es vernünftiger ist, den<br />
Rückzug anzutreten.<br />
Dabei ist Eile angesagt, weil der Fluss inzwischen vom<br />
Meer geflutet wird. Dank einer Sandbank bewältigen wir<br />
die Flucht durch das anschwellende Meerwasser gerade<br />
noch rechtzeitig.<br />
Später hocken wir atemlos auf einer Bergkuppe bevor wir<br />
uns ins nächste Dorf hinunter stürzen. <strong>Die</strong> Gelegenheit<br />
von dort mit dem Bus weiter zu kommen, wollen wir nicht<br />
ungenutzt lassen. Wir zurren die Räder auf dem Dach fest<br />
und rasen über Stock und Stein davon. <strong>Die</strong> indischen<br />
Kraftfahrer mögen das, immer wieder schleudern wir durch<br />
Mangoplantagen oder preschen rasant über den<br />
Pisteschotter.<br />
128
<strong>Die</strong> Dunkelheit brach herein, als Afonso de Albuquerque<br />
auf einem Grashügel stand und über den Fluss blickte.<br />
Im Norden erstreckten sich fruchtbare Felder, die in grünes<br />
Hügelland übergingen. Unter sich sah er die Stelle, an der<br />
die Seeschlacht getobt und er gesiegt hatte.<br />
<strong>Die</strong> Flotte des Sultan von Bijapur, war geschlagen.<br />
Man schrieb den 25. November 1510, den Tag der heiligen<br />
Katharina. Überwältigt von der Vorstellung, dass dieses<br />
Land mit seinen Reichtümern ihm gehören sollte, kniete<br />
Albuquerque nieder, dankte seinem Gott und ordnete an,<br />
dass zu Ehren der Heiligen eine Kirche gebaut werde.<br />
Somit begann die vierhundert Jahre dauernde Ära der<br />
Portugiesen, die Goa zur Hauptstätte ihres Reiches im<br />
Osten erhoben.<br />
<strong>Die</strong> Kilometersteine des Highway 17 säumen ein Asphaltdrama<br />
bis zur Grenze von Goa. Eine Ansammlung von<br />
Schnapsläden markiert den Beginn eines neuen Staates.<br />
Es liegt eine spezifisch iberische Aura um Goa, eine Kultur,<br />
die christlich-romanische, aber auch orientalische Elemente<br />
enthält.<br />
<strong>Die</strong>ses Land ähnelt den prächtigen bunten Fenstern seiner<br />
Kirchen – ein Mosaik aus kräftigen Farben von mediterraner<br />
Leuchtkraft und den weichen Tönen der indischen<br />
Welt. Seitdem 1961 Goa in die Indische Union integriert<br />
wurde, hat sich vieles verändert, aber noch immer prägen<br />
verschlafene Dörfer mit Landhäusern im spanischen Stil<br />
und weiß getünchte Kirchen den Charakter dieses Landstriches.<br />
<strong>Die</strong> meisten größeren Orte liegen in Küstennähe.<br />
Panaji, seit 1759 die Hauptstadt, lässt sich entweder als<br />
beschauliche indische Kleinstadt oder als lebhafter Hafen<br />
begreifen. Fluss, Brücken und Hügel bestimmen die<br />
Silhouette der Stadt, auf deren höchster Stelle die strahlend<br />
weiße Kirche steht.<br />
129
Der Kirchplatz „Largo da Igreja“ besteht aus einem<br />
eindrucksvollen Ensemble von Bauwerken. Der Aufgang<br />
aus weißem Stein lässt die Barockfassade, die den Kirchplatz<br />
beherrscht, noch majestätischer erscheinen. Schon um<br />
1541 begrüßten ihre Zwillingstürme die Seeleute.<br />
Das Leben konzentriert sich rund um die Pfarrkirche, wo<br />
Motorräder und Roller durch die engen Straßen lärmen und<br />
sich die Geschäfte und Cafes aneinander reihen.<br />
Hier werden wir von einem Bettler angesprochen. Der<br />
arme Mann ist sehr höflich, sein Deutsch klingt zivilisiert<br />
auch wenn er arg zerrissen daherkommt. Mit fast blinden<br />
Augen erzählt er uns seine tragische Lebensgeschichte.<br />
Der Portugiese war als junger Mann einmal bei Opel in<br />
Deutschland beschäftigt. Um seinen Militärdienst abzuleisten,<br />
wurde er in die Heimat gerufen und daraufhin nach<br />
Goa verschickt.<br />
<strong>Die</strong>ses Land hat er seither nie wieder verlassen können.<br />
Von seinen Erzählungen lassen wir uns weit in die Vergangenheit<br />
tragen. An einem Januarmorgen landen wir in<br />
der Stube bei einer Frau Müller am Rhein. Vom Himmel<br />
herunter schneit es dicke Flocken und draußen ist es bitter<br />
kalt. Zu dieser Zeit wurde mit einem „Henkel Trocken“ auf<br />
den Geburtstag des noch nicht vom Schicksal gebeutelten<br />
Portugiesen angestoßen.<br />
Der indische Sommer dauert etwa von März bis Mai und<br />
ist sehr heiß und trocken. <strong>Die</strong> nördlichen Ebenen leiden zu<br />
dieser Zeit unter Staubstürmen und Temperaturen von<br />
40°C und mehr, während in Südindien, unter dem Einfluss<br />
einer Meeresbrise die schwüle Hitze erträglich wird.<br />
<strong>Die</strong> Ursache für den folgenden Monsun ist die Ausbildung<br />
eines Tiefdruckgebietes über dem Himalaya und den<br />
nördlichen Ebenen infolge der extremen Aufheizung der<br />
Landmassen zu dieser Zeit des Sonnenhöchststandes.<br />
130
Wir beschließen für längere Zeit in Goa zu bleiben. Erst<br />
Anfang Juni, wenn der Regen einsetzt und die schlimmste<br />
Hitze hinweg gefegt wird, soll es weiter gehen.<br />
Der Monsun erreicht uns am Samstag den 11. Mai mit<br />
einem heftigen Gewitter.<br />
Der Wetterwechsel verursacht eine eigenartige Stimmung.<br />
Bedrohlich ziehen die schweren Wolken heran, die<br />
Horizontlinie des Ozeans hebt sich dazu bestechend klar<br />
ab.<br />
Mit den ersten Tropfen endet das Leben am Strand, gegen<br />
Mitternacht schlägt das Wetter mit voller Wucht zu.<br />
Ein gewaltiges Donnerwetter lässt grelle Blitze zucken und<br />
Kokosnüsse durch die stürmische Nacht hageln.<br />
Der Stromausfall lässt nicht lange auf sich warten, die Hitze<br />
im Zimmer wird unerträglich. Ich fluche was das Zeug hält,<br />
der Ventilator bleibt still.<br />
Nach einer durchschwitzten Nacht auf feuchten Handtüchern<br />
beginnt der erste Dry-Day.<br />
Drei Tage vor den Wahlen, ist eine staatliche Alkoholsperre<br />
verordnet worden, um zu verhindern dass sich in dieser<br />
brisanten politischen <strong>Phase</strong> das Blut der Inder nicht<br />
unnötig aufheizt. <strong>Die</strong> Leute wissen sich zu helfen und so<br />
manch einer Wasserflasche entsteigt bereits am ersten Tag<br />
ein Weingeistwölkchen.<br />
Am Morgen des 22. Mai höre ich von der Schreckenstat.<br />
Durch eine Selbstmordattentäterin wurde der Premierminister<br />
Rajiv Gandhi während einer Veranstaltung im<br />
Bundessstaat Tamil-Nadu getötet.<br />
<strong>Die</strong> tamilische Frau, die den Anschlag ausführte, starb mit<br />
ihm. Drahtzieher des Attentats war die Terror-Organisation<br />
„Befreiungstiger von Tamil Elam“ die auf Sri Lanka für<br />
einen unabhängigen Tamilen-Staat kämpft.<br />
131
Mit dem Anschlag rächten sich die Rebellen dafür, dass<br />
Gandhi Truppen nach Sri Lanka schickte, um den Konflikt<br />
beizulegen.<br />
Calangute verwandelt sich über Nacht in eine Geisterstadt.<br />
Im Radio wird gemeldet, dass es in einigen Großstädten zu<br />
Krawallen mit vielen Verletzten und Toten gekommen ist.<br />
<strong>Die</strong> Strassen sind leergefegt.<br />
Selbst die heiligen Kühe lassen sich nicht mehr blicken.<br />
Indien ist erschüttert.<br />
132
Regentanz<br />
Karnataka<br />
I<br />
ch träume von Deutschland und höre wie der Regen auf<br />
das Blechdach prasselt, dann erinnere ich mich - gestern<br />
sind wir in das Haus der Christenfamilie nahe dem Meer<br />
bei Palolem gezogen.<br />
Ich öffne die Augen und blicke in ein Gemälde an einer<br />
fromm dekorierten Wand. <strong>Die</strong> heilige Maria und der kleine<br />
Jesus lächeln mit rosigen Gesichtern.<br />
Ich bewege mich gemächlich zur Toilette in den Garten.<br />
Mit wehenden Ohren rasen mir die Schweine hinter her.<br />
Warum sie dabei so einen Eifer an den Tag legen ist mir<br />
unbegreiflich, zumal sie mich nicht mal kennen.<br />
<strong>Die</strong> Antwort bleiben sie mir nicht lange schuldig.<br />
<strong>Die</strong> Technik des Abortes ist einfach und ökologisch - was<br />
oben hineinfällt, rutscht zur Freude aller Wartenden über<br />
eine schiefe Ebene hinab in den Pfuhl.<br />
Am Strand haben die Fischer die Netze an Land gezogen.<br />
Im engen Geschlinge zappelt der Fang, der von emsigen<br />
Frauenhänden sortiert, rasch in kunstvoll geflochtenen<br />
Körben landet.<br />
Wir radeln am Saum eines bewaldeten Hügels entlang, die<br />
Straße windet sich durch einen dichten Wald. Im Geäst<br />
triefender Bäume kauern Affen, die verständnislos auf uns<br />
herunter schauen.<br />
Es schüttet aus vollen Kübeln und nachdem inzwischen<br />
sowieso alles nass ist, finde ich die Idee eines trockenen<br />
Unterschlupfes bald lächerlich.<br />
So kreuzen wir die Ströme des wilden Wassers und freuen<br />
uns, dass es dabei nicht kalt ist. Rastlos treiben wir durch<br />
ein Labyrinth schlammiger Erde und Bächen.<br />
133
An den Hängen, wo vor wenigen Tagen noch Gras dörrte,<br />
rauschen jetzt ergiebige Wasserfälle. Dem Verkehr<br />
entkommen wir meist mit einem Fluchtsprung, aber auch<br />
das geben wir bald auf, denn gegen diese Wassermassen<br />
haben wir kaum eine Chance.<br />
Zuletzt schlittern wir auf schlüpfrigem Gestein durch eine<br />
Baustelle. Dort verbringen wir viel Zeit damit, den Fahrzeugen<br />
zuzusehen, wie sie sich durch den Schlamm wühlen.<br />
Einige Schauer warten wir dort ab, bis die Regenpausen<br />
lange genug sind um weiter paddeln zu können.<br />
<strong>Die</strong> Berge an denen die Wolken hängen, dampfen gewaltig.<br />
<strong>Die</strong> weitere Route führt jetzt dicht an die Küste des<br />
Unionsstaates Karnatakas heran, wo gut ein Dutzend<br />
Flüsse die Ebenen zwischen Karwar und Mangalore<br />
durchfließen. In den Monsunmonaten werden von ihnen<br />
riesige Wassermassen zum Meer befördert. In dieser Zeit<br />
wird das Land vom Grün der Flora überwuchert.<br />
Bereits in vorchristlicher Zeit wurden griechische Seefahrer<br />
an den Gestaden Karnatakas gesichtet. So gegensätzlich wie<br />
die Landschaftsformen Karnatakas, so verschieden sind<br />
auch dessen Bewohner.<br />
Im Küstenbereich wird Kannada, ein angenehmer Singsang<br />
sanfter Töne, gesprochen, hier siedeln die alteingesessenen<br />
Fischerfamilien, die seit Generationen mit ihren Booten<br />
aufs Meer hinaus fahren. Ihre Vorfahren sollen schon mit<br />
den antiken Völkern Mesobotamiens Handel getrieben<br />
haben.<br />
Mit den Wolken bläst uns der Wind, dabei erleben wir eine<br />
Landschaft, in der das Chlorophyll nur so aus dem Boden<br />
schießt.<br />
Während wir das Gras am Wegesrand wachsen hören,<br />
häufen sich die Begegnungen mit den Schlangen. Meist<br />
liegen sie tot herum, aber gelegentlich muss ich meine<br />
Beine schnell in Sicherheit bringen.<br />
134
Mehr Kopfzerbrechen bereitet mir der Verkehrsterror auf<br />
der Straße. Innerhalb nur weniger Kilometer geraten wir in<br />
zwei Unfälle. Im ersten Fall wird der Verkehr von einem<br />
umgestürzten Laster behindert, dessen <strong>Die</strong>sel auf die Straße<br />
ausläuft. Beim nächsten Unglück passieren wir einen völlig<br />
demolierten Kleinbus, dessen Insassen keinen Laut mehr<br />
von sich geben. Mit einem Grausen im Nacken machen wir<br />
stillschweigend Strecke.<br />
Das Zimmer liegt im ersten Stock eines Betonklotzes. Es<br />
ist sauber und nett, leidet aber unter dem üblichen Muff<br />
des prächtig gedeihenden Schimmels. Ich bin gerade dabei<br />
einige Räucherstäbchen anzuzünden, als mich ein dumpfes<br />
Krachen zusammen fahren lässt. Vom Fenster erkenne ich<br />
das Drama – ein Bus ist in die Menschenmenge gefahren,<br />
weil er die scharfe Kurve im Ort zu flott genommen hat.<br />
Es spielen sich entsetzliche Szenen ab, ein Dorfpolizist<br />
versucht mit seiner Pfeife Ordnung in das Desaster zu<br />
bringen. Überlebende stehen Hilflos um die Opfer herum.<br />
Kein Krankenwagen lässt sich blicken, nur notdürftig<br />
werden die Verletzten am Boden versorgt. Es dauert lange,<br />
bis die Leichen weggekarrt worden sind, dann nimmt der<br />
normale Wahnsinn wieder seinen Lauf.<br />
<strong>Die</strong> Welt erscheint wieder in Ordnung.<br />
Auf dem endlosen Asphaltband überqueren wir eine<br />
lehmgespeiste Seenplatte. Mit uns strömen die Wogen um<br />
die Wette, bei jedem Pedaltritt gluckst warmes Wasser aus<br />
den Schuhen.<br />
<strong>Die</strong> Gestalten welche uns hier begegnen, sehen in ihren<br />
groben Sackkutten merkwürdig aus, sie erscheinen dem<br />
Mittelalter entsprungen.<br />
Wir sind in Kerala angekommen.<br />
<strong>Die</strong>ser aus drei Fürstentümern zusammengefügte Staat ist<br />
einer der wunderlichsten Flecken unserer Erde.<br />
135
Es ist das einzige Land, in dem eine kommunistische Partei<br />
in freier Wahl an die Macht kam.<br />
Es stellt den am dichtest bevölkerten Bundesstaat Indiens<br />
dar und das ohne wuchernde Slums.<br />
Der statistisch ärmste Staat zeigt die höchste Bildungsquote<br />
Indiens und das bei einer Geburtenrate wie Mitteleuropa.<br />
<strong>Die</strong>ses Land erscheint verliebt in den Widerspruch.<br />
Kerala ist wie ein großes Dorf, die Menschen und Hütten<br />
sind wie mit einer Gieskanne verteilt, es gibt hier keine<br />
Ballungsräume. Am Rande der Lehmstrassen wird gelebt<br />
und gewerkelt.<br />
Der Schneider in Kottipuram berichtet uns, dass Berlin zur<br />
Hauptstadt Deutschlands ernannt worden ist. Wir geben<br />
ihm gleich zwei passende Fahnen in Auftrag.<br />
Mit der Schwarzrotgoldenen am Lenker und der Zuversicht<br />
jetzt nicht mehr ständig als Amerikaner zu gelten, treten wir<br />
munter in die Pedale. <strong>Die</strong> bunten Wimpel zeigen bald ihre<br />
Wirkung – John der Inder mit Motorrad spricht deutsch<br />
und lädt uns ein.<br />
Auf der Veranda seines Anwesens stopft er uns mit<br />
Kuchen voll, während er in seinen Erinnerungen schwelgt.<br />
Vierzehn Jahre hat er in Germany verbracht, seine Frau<br />
arbeitet bisher immer noch als Krankenschwester dort.<br />
„Ich habe mich in Deutschland wohlgefühlt, doch dann<br />
ging meine Firma Pleite. Lange Zeit war ich ohne Job, nur<br />
deshalb bin ich mit den Kindern nach Indien zurückgekehrt.<br />
Unser Haus ist inzwischen prima hergerichtet,<br />
wenn meine Frau heimkehrt, werden wir hier ein gutes,<br />
wenn auch bescheidenes Leben führen können.“<br />
An einem Sägewerk schauen wir den Elefanten bei der<br />
schweren Arbeit zu, als ein Auto an uns vorbei braust, um<br />
daraufhin gleich wieder im Rückwärtsgang zu erscheinen.<br />
136
Aus einer klimatisierten Kabine heraus mustert uns eine,<br />
wie es scheint „very important person“.<br />
<strong>Die</strong> getönte Scheibe der Luxuslimousine senkt sich mit den<br />
Worten: „Do you need any help? “<br />
Ich bin sprachlos, denn bislang konnten wir auf Indiens<br />
Straßen keinesfalls auf Rücksicht hoffen, aber so ist es<br />
hierzulande nun einmal.<br />
Himmel und Hölle liegen immer dicht bei einander.<br />
Es gibt Tage an denen ich alles verfluchen könnte und<br />
plötzlich erscheinen diese lichten Momente, wo einfach<br />
alles stimmt.<br />
Seit Bombay haben wir rund 2000 Kilometer hinter uns<br />
gebracht, jetzt freuen wir uns auf die Südspitze Indiens.<br />
Mit dem Regen dringen in das Chaos von Trivandrum vor.<br />
Der Padmanabha-Swamy Tempel beherrscht zwar noch<br />
immer das Stadtbild, aber die Stadt ist gleichzeitig auch eine<br />
moderne und höchst weltliche Metropole. In der einstigen<br />
Residenz des Maharadschas von Travancore werden uns<br />
die Gegensätze Keralas erst recht bewusst als wir lesen:<br />
„Der Eintritt in den Tempel ist nur für Hindus erlaubt! “<br />
Das pulsierende Leben des neuen, unaufhaltsam wachsenden<br />
großstädtischen Indien entfaltet sich hier wie in den<br />
anderen Metropolen extrem rücksichtslos.<br />
<strong>Die</strong> Gesellschaft von Kerala ist hin und her gerissen<br />
zwischen der Stille und dem Lärm. Zwischen Schönem und<br />
Hässlichem, Tradition und Fortschritt, Glauben und<br />
Gottlosigkeit.<br />
Vor dem einen Tempel ist allerlei Kitsch in Form von<br />
Gummipalmen oder Plastikgewehren zu finden, vor dem<br />
anderen schmettern die opferwilligen Hindus Kokosnüsse<br />
in einen steinernen Trog, worauf diese in tausend Stücke<br />
bersten.<br />
Wir schieben an einer Kirche vorbei und finden den<br />
Wegweiser zurück in die Natur.<br />
137
Der wohl bekannteste Sandstrand Keralas liegt nahe<br />
Trivandrum bei Kovalam gelegen. Entlang der<br />
Urwaldtrasse leisten die Tagelöhner harte Arbeit in den<br />
Steinbrüchen. <strong>Die</strong> gebrochenen Felsen werden von Frauen<br />
direkt zu Schotter weiter verarbeitet. Der Rhythmus ihrer<br />
Hämmer ist bis in die Abendstunden hinein zu hören.<br />
Am Lighthouse Beach brennen die Lichter, der Leuchtturm<br />
strahlt weit in die Nacht hinaus.<br />
Wie bereits in Goa, häufen sich hier die Touristenläden, in<br />
denen Bartgesichter im Turban geduldig auf fette Beute<br />
warten.<br />
Auf die typisch indische Weise winkt uns ein Wächter an<br />
sein Hoteltor, um uns daraufhin über dezent beleuchtete<br />
Treppen zu führen.<br />
Vor dem Fahrstuhl einer Glitzerhalle lässt er uns zurück.<br />
Beim ersten Blick in das schmucke Innenleben des Hauses<br />
gestehe ich ein, dass wir hier völlig fehl am Platze sind. Ein<br />
Hausdiener mit Silbertablett wandelt mit einer Kokosnuss<br />
und Strohhalm durch die Gänge. Es riecht nach Noblesse<br />
und einer Menge Geld.<br />
Der Kovalam Beach ist Ende Juni fast verlassen, dass Meer<br />
ist aufgewühlt und die vom Sturm getriebenen Wellen<br />
werden tief in die Bucht hinein getrieben.<br />
<strong>Die</strong> allgegenwärtigen Bretterbuden werden zu dieser<br />
Jahreszeit nicht verschont. Das Wasser findet seinen Weg<br />
bis unter die Tische und Stühle der Restaurants.<br />
Einige Touristen sitzen mit verknoteten Beinen auf Möbeln<br />
und schlürfen lauen Tee.<br />
<strong>Die</strong> Leute mit viel Zeit und wenig Elan sind überwiegend<br />
damit beschäftigt, dicke Rauchwolken in die Luft zu blasen<br />
und abzuwarten, dass ihnen ein Licht aufgeht.<br />
Immer wieder treffen wir auf diesen Typ Mensch, der<br />
glaubt in Indien sein geistiges Heil zu finden.<br />
138
<strong>Die</strong> nächste Etappe führt in das Land der Tamilen.<br />
Tamil-Nadu ist einer der faszinierendsten Staaten Indiens.<br />
Weit abgelegen im Süden, unbehelligt von den Invasionen<br />
fremder Eroberer konnte sich hier in 2000 Jahren eine<br />
eigene alte indische Kultur entfalten. <strong>Die</strong> vielen schönen<br />
Tempel zeugen von der architektonischen Vielfalt der alten<br />
Kulturen.<br />
An der südlichsten Spitze des Subkontinentes, trifft der<br />
Indische Ozean am Kap-Commorin auf das Arabische<br />
Meer und die Bucht von Bengalen.<br />
Eines der wichtigsten Pilgerzentren des Landes ist<br />
Kanykumari. Millionen orthodoxer Hindus legen großen<br />
Wert darauf, einmal im Leben an diesem heiligen Ort ein<br />
Bad zu nehmen.<br />
<strong>Die</strong> einzigartige Lage der kleinen Stadt führte zu einer<br />
Ansammlung wichtiger Gedenkstätten wie zum Beispiel<br />
dem Devi-Kumari-Tempel.<br />
Ganz in der Nähe liegt auch das Gandhi Memorial. <strong>Die</strong>se<br />
Gedenkstätte mit ihrer besonderen Architektur besitzt eine<br />
seltsame Öffnung.<br />
An Mahatmas Geburtstag fallen die Sonnenstrahlen durchs<br />
Dach auf die Stelle im Inneren des Gebäudes, an der die<br />
heilige Asche Gandhis stand, bevor sie ins Meer gestreut<br />
wurde.<br />
Auf der vorgelagerten Felseninsel wurde zudem dem<br />
indischen Philosophen Swami Vivekananda ein Denkmal<br />
errichtet.<br />
Das Elend ist am Pier zu Hause.<br />
Einbeinige und Bucklige, ein paar Leprakranke, viele<br />
Bettelkinder und die fliegenden Händler, die mit staubigen<br />
Postkarten Geld verdienen wollen, richten ihre Aufmerksamkeit<br />
bevorzugt auf uns.<br />
Schon deshalb ist der Ort sehr nervenaufreibend.<br />
139
<strong>Die</strong> Inder empfinden es anscheinend völlig normal, überall<br />
und jederzeit laut beschallt zu werden.<br />
<strong>Die</strong> vielen Menschen machen mich reizbar, der ewige<br />
Lärmterror schlägt mir aufs Gemüt.<br />
„Beware of thieves“ lautet eine Warnung im Gedränge der<br />
Ortsmitte. Ein in Schwarz gekleideter Herr, bittet mich um<br />
etwas Aufmerksamkeit.<br />
Als Leiter eines Kinderheimes möchte er uns auf die Not<br />
seiner Zöglinge aufmerksam machen, indem er uns ein<br />
abgegriffenes Fotoalbum unter die Nase hält. Mittels<br />
herzerweichender Bildern werden nun dramatische<br />
Kindergeschichten untermalt. 22 Mäuler müssen von der<br />
bescheidenen Pension des ehrwürdigen Mannes zehren, mit<br />
einer zusätzlichen Unterstützung durch den Staat sei nicht<br />
zu rechnen. Wir werden daraufhin um eine großzügige<br />
Spende gebeten, zumal die Reisvorräte des Kinderheimes<br />
bald zur Neige gehen.<br />
Wer´s glaubt … – als ich den Samariter später in einem<br />
Restaurant wieder entdecke, bin ich froh dass wir ihm<br />
nichts gegeben haben.<br />
Dem Kinderfreund fehlt es an rein gar nichts.<br />
So wie er beim Zeitung Lesen an der Zigarre nuckelt und<br />
Whisky schlürft, ist ihm weiß Gott keine Not anzusehen.<br />
In der verdorrten Landschaft Tamil-Nadus bekommen wir<br />
die Härte des alltäglichen Lebens hautnah zu spüren.<br />
Zunächst packt mich in Tiruchendur ein <strong>heiße</strong>s Fieber und<br />
in Tuticorin eine große Wut. In der Absicht ein Trinkgeld<br />
abzustauben bimmeln die Hotelboys unablässig an der<br />
Zimmerklingel. Anscheinend sind sie fest davon überzeugt,<br />
dass Hartnäckigkeit immer zum Ziel führt.<br />
Erst als ich drohe das verdammte Ding aus der Wand zu<br />
reißen, kehrt wieder Ruhe ein. Fast gleichzeitig versiegt<br />
unsere Wasserversorgung und dass solange bis wir abreisen.<br />
140
<strong>Die</strong> Strecke nach Sayalkudi zeichnet sich durch extreme<br />
Trockenheit aus. <strong>Die</strong> hochstämmigen Palmenwälder wirken<br />
im Vergleich zu Keralas grüner Hölle völlig ausgelaugt, sie<br />
sind dem Ende nahe. Wir passieren ausgetrocknete<br />
Flussläufe in denen das ausgemergelte Rindvieh apathisch<br />
im Staub scharrt. In den verdorrten Steppen peinigen uns<br />
die Stacheln der Dornengewächse, wie einst in Afrika.<br />
Bei Tuticorin stellen wir während des Reifenflickens<br />
einen neuen Zuschauerrekord auf. Zunächst glaubten wir in<br />
Ruhe arbeiten zu können, aber als ich die Packtaschen<br />
abnehme, bildet sich bereits ein Halbkreis aus Neugierigen.<br />
Während ich das Hinterrad aus der Gabel hebe, werde ich<br />
beim Blick über die Schulter blass – aufmerksam verfolgen<br />
etwa 50 Inder wie ich den Schlauch von der Felge ziehe.<br />
Gut 100 Augen konzentrieren sich auf die folgenden Flickund<br />
Klebearbeiten.<br />
Das Publikum agiert erdrückend.<br />
Bis ich mit der Arbeit fertig bin, durften sich cirka 200<br />
Leute glücklich schätzen, unserer Reparatur beigewohnt zu<br />
haben.<br />
In Pondicherry ist alles anders - es gibt französische<br />
Restaurants, französisch sprechende Rikschafahrer und die<br />
sauberste Seepromenade des Landes.<br />
Erst 1954 fiel dieses ehemalige französische Besitztum an<br />
Indien. <strong>Die</strong> Straßennamen verweisen auf die Tradition der<br />
südlich von Madras gelegenen einstigen französischen<br />
Enklave.<br />
Ein Stück nordwärts, an der Bucht von Bengalen liegt das<br />
im 7. Jahrhundert gegründete Mamallapuram.<br />
<strong>Die</strong> Stadt gilt heute als Wiege der drawidischen Tempelbaukunst<br />
Südindiens.<br />
Wahrzeichen dieser alten Hafenstadt sind die herrlichen<br />
Skulpturen.<br />
141
Madras ist nach Kalkutta, Bombay und Delhi die<br />
viertgrößte Stadt Indiens.<br />
Heiß oder glutheiß, dass sind die Variationen die das Klima<br />
hier zu bieten hat, nur der Monsun bringt ein paar Mal im<br />
Jahr etwas Linderung.<br />
<strong>Die</strong> Metropole empfängt uns mit breiten Strassen, über der<br />
Stadt braut sich ein kräftiges Gewitter zusammen.<br />
Schnell arbeiten wir uns durch den Kreisverkehr von<br />
Egmore, danach wandelt sich das Stadtbild zum<br />
Schlechteren.<br />
Vom Regen und dem Dreck, der überall anzutreffenden<br />
Armut aber auch von dem rücksichtslos hergezeigten<br />
Wohlstand – von all dem habe ich die Nase gestrichen voll.<br />
Ich spüre, dass es an der Zeit ist, diesen Breiten den<br />
Rücken zu kehren.<br />
Dennoch, möchte ich die 3000 Kilometer durch den Süden<br />
nicht vermissen, auch wenn uns prophezeit wurde, dass<br />
Indien für Radfahrer die reinste Hölle sei und uns<br />
hierzulande oft das Letzte abverlangt wurde.<br />
Wir sind diesem phantastischen Land wirklich sehr nahe<br />
gekommen. Egal ob es die beleidigenden Gerüche waren,<br />
die uns den Atem verschlugen oder der unvorstellbare<br />
Lärm auf den Strassen der uns mit dem immerwährenden<br />
Hupkonzert die Nerven strapazierte.<br />
Es waren die vielen fröhlichen Begegnungen mit den<br />
Menschen in Dörfern und Städten die wir zu schätzen<br />
gelernt haben.<br />
Indien ist für uns ein Land, das wirklich alle Sinne<br />
beansprucht hat – es wurde zu einer existentiellen<br />
Erfahrung.<br />
142
Eine Rast am Fluss<br />
<strong>Die</strong> Monsunzeit beginnt<br />
143
Grünes Land<br />
<strong>Die</strong> Südspitze Indiens<br />
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