2013-04

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hat ein kompliziertes Verdauungssystem. Ihr Magen, der aus vier Teilen besteht, muss die hochgewürgte und von den Backenzähnen ein zweites Mal zerkleinerte Nahrung nach und nach verarbeiten. Ist das ein Leben! Wegen ihrer beiden Kitze verspürt Jacqueline keinerlei Unruhe. Sie sind im hohen Gras versteckt und harren hier ganz still und geduckt der Rückkehr ihrer Mutter. Auch ansonsten muss sie sich kaum mit irgendwelchen Problemen herumschlagen. Trübe Erinnerungen an den Winter, als im tiefen Schnee kaum ein Gräslein oder Kräutlein zu finden war, sind schon längst aus dem Gedächtnis gelöscht. In allen Gärten, die sie zu ihrem Eigentum zählt, haben irgendwelche Menschen geradezu riesige Mengen des wunderbarsten Futters für sie angebaut. Das Dasein im Schlaraffenland mit bis zu zwölf Mahlzeiten rund um die Uhr ist jedenfalls ganz und gar zum Genießen. Von ihr aus könnte die märchenhafte Erntezeit ewig andauern. Ein paar Tage nach dem Plündern der Buschbohnenblüten findet sich die Räuberin wieder ein. Sie hat bei ihrem letzten Besuch Gewächse mit noch nicht voll entwickelten Blütenständen dicht über dem Boden entdeckt. Es sind die hellen Röschen des ansonsten tiefgrünen Sprossenkohls, der von Zusehern der TV-Kochsendungen und weiteren gebildeten Menschen in aller Regel Broccoli genannt wird. Gerade will sich Jacqueline zum ersten Kopf hinabbeugen, da entdeckt sie das Ungeheuer. Es folgt ein rascher Schritt zurück und nach kurzer Witterung ein sachtes Heranpirschen an die Figur. Da haben die Zweibeiner doch tatsächlich eine Vogelscheuche errichtet – ohne zuvor noch die ansonsten üblichen Hundehaare und das Flatterband als Abschreckung zu installieren. Die bunte Figur macht sich sehr dekorativ im Garten. An das Kreuz aus zwei Latten hat man alte Kleidung und einen alten Hut gehängt. Diese Teile sind so betagt, dass sie ganz und gar muffig riechen – doch an den Geruch des einstigen Trägers erinnert nichts mehr. Damit kann die Scheuche vielleicht noch gefräßigen Amseln einen Schrecken einjagen, doch bei einem Reh ist der lustige und gänzlich steif dastehende Geselle als Ernteschutz völlig unbrauchbar. Unverzüglich beginnt Jacqueline daher mit dem Naschen; ihre Art der Nahrungsaufnahme – das schon angesprochen Abzupfen nämlich – ist vorzüglich für die Geschmacksnerven einer Feinschmeckerin geeignet. Nach und nach verschwinden die wichtigsten und zugleich weichsten Teile des Gemüsegewächses in ihrem Maul. Viel zu schnell ist alles abgezupft und obwohl sie eigentlich satt ist, wundert sie sich doch sehr, dass die Gärtnerin nur acht dieser köstlichen Pflanzen angebaut hat. Im Garten gibt es freilich noch so viele schöne Sachen, dass weitere Besuche unerlässlich sind. Beim nächsten kommt Jacqueline allerdings mächtig ins Grübeln. Alles ging bisher so glatt, doch so etwas hat sie noch nicht erlebt. Das Gemüseparadies ist abgeschottet. Jemand hat eine Wäscheleine gespannt und an dieser hängen bis zum Boden mehrere weiße Gardinen. Das Schlaraffenland ist vom Rest der Welt getrennt. Ein Durchkommen scheint nicht möglich. Ja, da muss man wohl oder übel zum nächsten Garten weiterziehen. Indessen – das hungrige Reh hat einen mächtigen Verbündeten. Es ist der Wind, dem die leichte Verzweiflung des Wildtieres nicht verborgen bleibt. Er bläst ein wenig, die Tücher beginnen sachte zu flattern und Jacqueline erkennt dank ihres ausgeprägten Hell-Dunkel-Sehvermögens, dass sie ganz leicht zwischen zwei Gardinen hindurchmarschieren kann. So kommt es, dass anderntags auch die Blütenstände des Blumenkohls fehlen, dazu sind von einer bunten Blumenpracht nur noch nackte Stängel zu sehen. Dummerweise ist es auch der Wind, der für eine überstürzte Flucht der stets hungrigen kleinen Mundräuberin sorgt. Immer stärker werdend fegt er irgendwann vom Zwetschgenbaum ein dürres Ästchen. Dieses findet nach kurzem Fall rein zufällig den Weg auf Jacquelines Rücken, was dieser einen solchen Schrecken einjagt, dass sie augenblicklich reagiert, auf der Stelle kraftvolle Sprünge in die Richtung der Gardinen vollführt und erst – ganz außer Atem – nach beinahe einhundert Metern wieder zum Stehen kommt. Leider reißt sie bei ihrer Hals-über-Kopf-Flucht auch zwei Tücher von der Leine. Von einem kann sie sich nach einigen wenigen Metern befreien, das zweite findet eine überaus frustrierte Gärtnerin am nächsten Morgen viel weiter entfernt am Boden liegend. Wie spätere Untersuchungen ans Tageslicht fördern, hat Jacqueline danach eine längere Zeit diesen Garten gemieden. 4. Kapitel „Jetzt ist endgültig Schluss! Meine Geduld ist am Ende! Ich habe alles versucht: CDs, Vogelscheuche und Gardinen; nichts hat gefruchtet. Im Garten ist alles futsch. Jetzt muss ein Jäger herbei; wozu bist du denn im Vorstand der Jagdgenossenschaft?“ So aufgebracht wie an diesem Morgen habe ich meine Frau lange nicht mehr gesehen. Mein Hinweis, dass es für Mundraub auch in früheren Zeiten in aller Regel nicht die Todesstrafe gegeben habe, fruchtet nicht. Auch nicht ein Zitat aus dem 5. Buch Mose, das wie folgt lautet: „Wenn du in deines Nächsten Weinberg gehest, so magst du Trauben essen nach deinem Willen, bis du satt hast; aber du sollst nichts in dein Gefäß tun.“ „Das Reh hat nicht das Geringste in einem Gefäß mitgenommen und also ganz im christlichen Sinne gehandelt“, sage ich und ernte nichts als Widerspruch. Mit den Worten: „Ich schufte im Frühjahr tagelang, um alles im christlichen Sinne in die Erde zu bringen, hacke und mache, verteile den Kompost und bin froh, wenn alles wächst. Und dann kommt so ein blödes Tier und macht meine ganze getane Arbeit zunichte“, weist sie dieses sowie weitere – gar nicht mehr vorgebrachte – Argumente pauschal zurück und beendet die kurze Diskussion scharf mit den Worten: „Ich rufe den Henning an.“ Der Henning wandert hin und wieder mit uns, er besitzt einen Jagdschein, dazu auch ein Gewehr, und obwohl er eine ausgesprochen nette und liebe Frau daheim hat, verbringt er die Nächte am liebsten auf Hochsitzen. Er also soll die spontan beschlossene Hinrichtung vollziehen. Doch der Henning mag nicht. Er hat durchaus keine Bedenken moralischer Art, sondern er muss das Ansinnen aus einem anderen – sehr stichhaltigen – Grund komplett negativ bescheiden: „In einem Garten mitten im Wohngebiet darf man auch mit der Erlaubnis des Besitzers niemals schießen. Denk an einen möglichen Querschläger. Und wenn ich das Reh am Waldesrand entdecken und erkennen würde, dürfte ich es ! 4/2013 durchblick 45
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