Christine Schrijvers/Mele Brink: „Gestatten: Buddy, Kulturspatz!“
Buddy ist ein Kulturspatz, denn er wohnt in einer noblen Gegend von Paris, ganz anders als die verrufenen Bahnhofs-spatzen. Das bekommt er zumindest immer erzählt. Als die Kette von Mama-Spatz gestohlen wird, landet Buddy ungewollt in der verbotenen Zone. Dort will ihm das Spatzenmädchen Sari helfen, die Kette wiederzufinden. Doch alles am Bahnhof scheint so fremd. Soll er ihr wirklich trauen und warum trägt Sari drei goldene Federn in ihrem Federkleid? Ein Vorlesebuch für Kinder ab 5 Jahren, zum Selberlesen ab 8 Jahren.
Buddy ist ein Kulturspatz, denn er wohnt in einer noblen Gegend von Paris, ganz anders als die verrufenen Bahnhofs-spatzen. Das bekommt er zumindest immer erzählt. Als die Kette von Mama-Spatz gestohlen wird, landet Buddy ungewollt in der verbotenen Zone. Dort will ihm das Spatzenmädchen Sari helfen, die Kette wiederzufinden. Doch alles am Bahnhof scheint so fremd. Soll er ihr wirklich trauen und warum trägt Sari drei goldene Federn in ihrem Federkleid?
Ein Vorlesebuch für Kinder ab 5 Jahren, zum Selberlesen ab 8 Jahren.
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Gestatten:
Buddy, Kulturspatz!
Christine Schrijvers
EDITION PASTORPLATZ
17
Illustrationen: Mele Brink
Gestatten:
Buddy,
Kulturspatz!
Für meine Eltern, Lene, David
und meine große Liebe Giac.
„Gestatten: Buddy, Kulturspatz!“ wird herausgegeben von der Edition Pastorplatz
(Mele Brink & Bernd Held GbR · Luisenstraße 52 · 52070 Aachen)
www.editionpastorplatz.de
www.facebook.com/edition.pastorplatz
www.twitter.com/ed_pastorplatz
Editionsnummer: 17 (Oktober 2016)
ISBN 978-3-943833-17-1
1. Auflage
Idee + Text: Christine Schrijvers
Zeichnungen: Mele Brink
Layout + Umsetzung: Bernd Held
Lektorat/Korrektorat: Angelika Lenz, Steinheim an der Murr
Gedruckt auf 140-g-Offsetpapier (FSC®-zertifiziert).
Umschlag auf 120-g-Offsetpapier (FSC®-zertifiziert).
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt
insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Gestatten:
Buddy, Kulturspatz!
Christine Schrijvers
Illustrationen: Mele Brink
Wir sind nun mal
Kulturspatzen.
Buddy - noch müde
Die Sonne strahlte bereits mit voller Kraft auf den noch nahezu
menschenleeren Platz vor Notre-Dame. Buddy, der Spatz,
rieb sich die Augen und stieg aus dem Bett.
„Buddy, beeil dich!“, schrie Mama-Spatz aus der Küche.
„Ich komme ja!“, rief Buddy genervt Richtung Treppenhaus.
Als er unten war, strich ihm Mama-Spatz unwirsch
über die Federn und gab ihm dann einen zärtlichen Kuss
auf die Stirn.
Durch das kleine Fenster in der Küche konnte man über die ganze Stadt schauen.
Es war ein schöner Tag, der Himmel war so blau wie schon lange nicht mehr
und die ersten Weckvögel kamen bereits von der Frühschicht nach Hause.
Weckvögel arbeiteten in Bezirken der Stadt Paris, die ihnen zugeteilt worden
waren. Ihre Aufgabe war es, vor den Fenstern der Menschen zu sitzen und sie
mit ihrem Vogelgesang aufzuwecken. Jeder Weckvogel hatte eine einzigartige
Stimme, denn nur die besten Sänger schafften es, eine erfolgreiche
Laufbahn als Weckvogel zu starten.
Mama-Spatz
Während Buddy seine Brotkrümelchen mit Milch
schmatzend runterschlang, starrte er noch immer aus
dem Fenster. Man konnte heute bis zum Bahnhof sehen,
der durch seine dunkle, schwere Steinfassade zwischen den
vielen weißen Häusern wie ein geheimnisvoller Ort emporstieg.
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Lenny
„Mama, wieso darf ich nicht zum Bahnhof fliegen?“, fragte Buddy und spuckte
dabei versehentlich etwas Milch auf Lenny, die kleine Stubenfliege.
„Das geht nicht, Buddy! Das habe ich dir doch schon tausendmal erklärt“,
versuchte Mama-Spatz die aufkommende Diskussion zu beenden. „Und pass
auf Lenny auf, ich musste ihm diese Woche schon zweimal die Flügelchen
föhnen, weil du deine Milch verschüttest hast.“
„Ich verstehe das aber einfach nicht! Wieso darf ich mir den Bahnhof nicht
wenigstens mal ansehen, ich würde ja nicht da landen, nur mal schauen. Wir
könnten doch mal einen Ausflug dahin machen. Du, Papa, Mindi, ich und
Lenny natürlich“, schlug Buddy halb wütend, halb hoffend vor.
„Buddy, wir sind nun mal Kulturspatzen!“
„Oh nein, Mama! Bitte fang nicht wieder damit an!“ Buddy schlug verzweifelt
die Flügel über die Ohren. Er wusste, was jetzt kommen würde. Ein ewiger,
nicht enden wollender Vortrag darüber, dass Buddy, seine Eltern und seine
kleine Schwester Mindi Kulturspatzen seien. Und dass Kulturspatzen ausschließlich
an den bedeutenden Sehenswürdigkeiten der Stadt lebten und arbeiteten.
Seine Mutter würde voller Stolz erklären, wie toll es sei, als
Kulturspatz aufzuwachsen, sich zu einem kleinen Kreis wichtiger
Spatzen zählen zu dürfen, wie dem Bürgermeister-Spatz
und dem Kirchenoberhaupt-Spatz.
Lenny, die kleine Stubenfliege, die es sich in Buddys Federn bequem
gemacht hatte, rollte mit ihren winzigen kugelrunden Augen, als
Mama-Spatz lang und breit ausführte, wie toll Bürgermeister-Spatz Kuhnt sei.
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„Er kann ja kaum noch über die Baumkronen fliegen, so dick wie der ist“,
brummelte Buddy, während Lenny im Halbschlaf zwischen Buddys Federn
vor sich hin brabbelte.
„Wir müssen dankbar sein, dass wir als Kulturspatzen geboren wurden. Nicht
viele haben es so einfach, andere müssen stehlen, um ihre Familien zu ernähren,
wie die Bahnhofsspatzen. Wir dagegen bekommen Körner, die eigens für
uns hergestellt werden. Gebildete, vornehme Menschen aus aller Welt kaufen
unser Futter bei den Körnerverkäufern der Stadt. Diese Menschen haben viel
Geld und Einfluss“, führte Mama-Spatz ihren Vortrag weiter aus.
„Touristen nennt man die, Mama.“ Eben kam Mindi zur Tür herein. „Die
gebildeten, vornehmen Menschen nennt man Touristen!“, ermahnte sie ihre
Mutter grinsend.
Mindi war eine Brut jünger als ihr großer Bruder Buddy.
Fleißig, wissbegierig, aber auch ein wenig schüchtern
war die kleine Mindi, die stets einen roten Schal
trug. Mindi himmelte ihren großen Bruder an, er war
so viel abenteuerlustiger als sie, und das fand Mindi
angsteinflößend und faszinierend zugleich.
„Buddy, kannst du mich heute begleiten? Ich will nicht alleine fliegen. Es ist
deutsche Woche und da ist das Ausweichhüpfen doppelt so schwer“, klagte
Mindi, während sie ihr Buch Ameisen: Das Leben als Krabbeltier lautstark auf
den Küchentisch knallen ließ und sich neben Buddy setzte.
Mindi
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Papa-Spatz
In den deutschen Wochen kamen unzählige Touristen aus Deutschland und
verbrachten ihre Ferien in der französischen Hauptstadt Paris. Das allein
war ja schön, aber anders als die heimischen Franzosen liefen die Touristen
aus dem Nachbarland kreuz und quer durch die Straßen. Weit ausgebreitete
Stadtpläne verdeckten ihnen dabei die Sicht auf kleine Spatzen wie Mindi. Außerdem
kauften die deutschen Ausländer so gut wie nie die leckeren Körner
für die Kulturspatzen.
„Total geizig sind die, und ich verstehe auch nicht, warum die alle einen Regenschirm
dabeihaben. Letzte Woche erst bin ich frontal gegen einen Schirm
geflogen, der urplötzlich aufsprang. Davon hab ich immer noch einen blauen
Fleck, guck, Mama!“, ärgerte sich Mindi. „Warum haben die immer diese
Schirme dabei, selbst im Hochsommer, wenn mir die Sonne auf die Federn
knallt!“, beklagte sie sich weiter.
„Dann musst du schneller ausweichen oder gleich zu den Italienern gehen“,
sagte Mama-Spatz. „Die Snacks von den hübschen Südländern sind sowieso
viel schmackhafter. Oh, erst gestern habe ich diesen fabelhaften Biscotto
von einem reizenden jungen Italiener bekommen!“ Verträumt
schaute sie auf einen Kekskrümel, der fast so groß
war wie Mindi.
„Kuckuck, alle zusammen!“, sagte Papa-Spatz in die Runde,
als er die Küche betrat.
„Schatz, mach doch nicht immer den Herrn Kuckuck nach. Der hört
das noch und denkt, wir machen uns lustig über ihn“, ermahnte ihn seine
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Frau. Gerade in diesem Moment kam Post-Kuckuck
Karl am Fenster der Familie vorbei.
„Morgen, Karl! Schönes Wetter heute, oder?“, begrüßte
Papa-Spatz den Post-Kuckuck.
„Kuckuck, alle zusammen! Ja, der erste Arbeitstag
ohne meine dicke Postjacke. Der Sommer
kommt, Freunde!“, freute sich Kuckuck Karl,
während er schon wieder in der Luft war
und weiterflog.
Buddy und seine Schwester mussten
lachen. Jeden Morgen hatten ihre
Eltern diese Unterhaltung, es war
ihr kleiner Brauch und endete
stets mit einem zärtlichen
Spatzenkuss.
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Kuckuck Karl
Papa-Spatz schaute gleich die vier weißen Briefe durch.
Einer war von der Bank, einer von der Bahnhofsmission,
die wieder für arme Straßenspatzen Spenden
sammelte, und einer von der Polizei. Mit seinen
großen, starken Federn öffnete Papa-Spatz den Umschlag
des Ministeriums für Vogelsicherheit am Boden wie im Flugraum
von Paris. „Oh nein, das habe ich ja gar nicht mitbekommen!“,
schimpfte Papa-Spatz.
„Was ist denn los?“, fragte Mama-Spatz und riss ihrem Ehemann den Briefbogen
unwirsch aus der Hand. „10 Stundenkilometer zu schnell?! Schon wieder?
Das ist das dritte Mal, dass du diesen Monat geblitzt wurdest, du fliegst
einfach zu schnell und beachtest die Flughöhe nicht!“, ärgerte sie sich, wandte
sich aber gleich wieder der Zubereitung des riesigen Kekskrümels zu.
Buddy und Mindi kicherten, als sie das Blitzer-Bild ihres Vaters auf dem
Schreiben des Polizeiministeriums betrachteten. Die Federn waren total zerzaust
und durch den starken Gegenwind tränten seine Augen unter der schief
sitzenden Fliegerbrille.
„Ich musste die Schnellflugbahn nehmen, sonst hätte ich die russische Reisegruppe
warten lassen müssen. Berühmte Kulturspatzen waren darunter“,
erklärte Papa-Spatz sein Fehlverhalten.
Wow, die Schnellflugbahn!, dachte Buddy. Ein Dutzend Mal hatte er schon
versucht, dort fliegen zu dürfen, aber man brauchte einen Flugschein, um weit
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oben über den Baumkronen zu schweben. Diesen Schein erhielt man auch erst
ab einem gewissen Alter und wenn man eine Prüfung bestanden hatte. War
man jedoch im Besitz des Schnellfliegerscheins, durfte man bis zu 60 Stundenkilometer
schnell fliegen. Nur in Notsituationen und unter Aufsicht von
Spatzen mit Flugschein hätte Buddy auf die Schnellflugbahn fliegen dürfen.
Papa-Spatz - Flitzer-Blitzer-Foto
+10 km/h
Buddys Vater war eigentlich immer in Eile. Das lag jedoch nicht daran, dass
er unpünktlich war – er hatte einfach zu viele Termine. Seit vielen, vielen Jahren
arbeitete Papa-Spatz als Reiseleiter an unzähligen Sehenswürdigkeiten der
Stadt. Er liebte die Geschichte, die sich hinter den alten Gebäuden, Brücken
und Denkmälern verbarg, und verschlang unzählige dicke, staubige Bücher
über die Stadt Paris.
„Es ist acht Uhr, ihr müsst los!“, erinnerte Mama-Spatz ihre Kinder und gab
ihnen einen dicken Kuss. Buddy ließ seine braune Lederfliegerbrille auf die
Augen schnalzen und ging zum Haustür-Flugloch. Mindi stand bereits abflugbereit
da, als Buddy noch schnell Lenny packte und mit sich in die Tiefe riss.
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Obwohl es noch früh am Morgen war, tummelten sich bereits Besucher aus dem
fernen China, dem warmen Spanien und natürlich dem nahen Deutschland auf
dem Platz vor der Kathedrale von Notre-Dame. „Juhuuuu!“, quietschte Buddy
vergnügt, während er die knapp 70 Meter bis zum Boden im Sturzflug hinabschoss.
Die Wangen von Lenny, der kleinen Stubenfliege, flatterten im Wind und
das hörte sich an, als ob Buddy einen kleinen Flugmotor bei sich hätte. Oma-
Spatz besaß so einen Flugrollator, um die nötige Geschwindigkeit zu erreichen.
Mindi musste lachen, ermahnte ihren Bruder aber gleich: „Nicht im Sturzflug,
Buddy! Wir sollen doch langsam gleiten. Von links nach rechts und wieder
von rechts nach links.“ Früher war sie an Lennys Stelle gewesen, als sie selbst
noch zu klein war, um alleine vom Flugloch abzufliegen. Aufregend war die
Geschwindigkeit ja schon, aber einfach viel zu gefährlich.
Die meisten Spatzen in Buddys und Mindis Alter durften nicht aus so großer
Höhe abfliegen. Die zwei aber hatten eine Sondergenehmigung, weil sich ihr
Zuhause in einem der beiden Zwillingstürme der Kathedrale von Notre-Dame
in einer Höhe von über 70 Metern befand.
Als Mindi gerade dabei war, ihren roten Schal am Boden wieder zurechtzuziehen,
kam Buddy mit einem riesigen Stück Crêpe angehüpft. „Hier, beiß ab, der
ist sogar noch ein bisschen warm“, grinste er mit einem völlig verschmierten
Schokoladenmund. Mindi schmunzelte und zupfte sorgfältig ein Stück von
dem dünnen Pfannkuchen ab. Trotzdem fand sie noch Stunden später Schokoladenflecken
auf ihrem Gefieder.
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Die deutschen Touristen machten an diesem Tag ihrem Ruf alle Ehre, weshalb
Mindi sich am Rande der Kathedrale unter einem Baum im Gras aufhielt. Die
saftige grüne Wiese war einer ihrer Lieblingsplätze. Hier dachte sie gerne nach
oder las eines ihrer Wissenschaftsbücher. „Du nimmst mir die ganze Sonne
weg, Buddy! Rutsch mal einen Hüpfer, bitte!“
Buddy ließ sich mit einem lauten Seufzer neben sie fallen und zerdrückte dabei
ein kleines Gänseblümchen. „Ich muss da hin, Mindi! Ich will wissen, was
sich hinter diesem riesigen Bahnhofsgebäude verbirgt!“
„Oh Buddy, du weißt doch, dass das nicht geht“, erwiderte
Mindi. „Hast du denn vergessen, was der alte Rabe Ronte
über das Gebäude mit den vielen Zügen und Schienen
erzählt hat? Fiese Gestalten sollen sich dort herumtreiben,
Diebe, die den Menschen ihren Schmuck klauen. Ja, und alle Spatzen
ernähren sich dort von dreckigen Abfällen. Sogar Aas essen die, hat der alte
Ronte erzählt!“ Mindi verzog schon bei dem Gedanken daran das Gesicht.
„So ein Quatsch, Spatzen essen doch keine toten Tiere! Der alte Ronte war
doch selbst noch nie am Bahnhof“, ärgerte sich Buddy.
„Bäh!“ Mindi schüttelte sich. „Allein die Vorstellung, das zu essen. Igitt, wie
widerlich das erst riechen muss!“
„Mindi, jetzt hör doch mal auf, ständig von Aas zu plappern! Willst du nicht
auch wissen, wie das Leben außerhalb von Notre-Dame ist?“
„Wir waren doch mal am Eiffelturm!“, warf Buddys kleine Schwester ein.
„Ach, da leben doch auch nur Kulturspatzen wie hier“, entgegnete Buddy.
„Die bekommen auch ihre Körner frisch gekauft und das Gelände wird von
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der Stadt gereinigt. Außerdem hat uns der Polizeichef Pelle und sein Lehrling
Sirenen-Stu die ganze Flugstrecke lang begleitet. Der Sirenen-Stu ist sowieso
ein bisschen blöd, wenn du mich fragst. Die einzige Aufgabe, die er hat, ist,
mit dem Blaulicht neben dem Polizeichef herzufliegen. Die schrille blaue Sirene
ist ja sogar mit einem langen Kabel an Pelles Uniform festgemacht, und
trotzdem klappt das nicht. Die verheddern sich ständig. Erst letzte Woche ist
Sirenen-Stu voll in den Polizeichef geflogen. Eine halbe Stunde hat es gedauert,
die zwei wieder zu entwirren. Da waren die Körnerdiebe natürlich schon
lange weg.“
Verträumt sah Buddy den dicken weißen
Wolken beim Wandern zu. „Nein, ich
will das wahre Paris sehen! Ich muss
einfach!“ Sein Entschluss stand fest.
„Magst du unser Leben denn gar nicht?“
Etwas traurig blickte Mindi ihren
Bruder an.
„Natürlich mag ich es“, antwortete
er. „Es ist toll, wir haben alles, was wir
brauchen, und noch mehr. Aber was ist ein Vogel, wenn er nicht fliegen darf?“
B
h
n
f
a h
h
f
a o
o
Der Satz hing noch in der Luft, als die Geschwister langsam eindösten.
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Schnell, sonst
entwischt sie
noch!
„Meine Kette! Aaaah! Die Elster klaut meine Kette!“ Der spitze Schrei schallte
über den ganzen Platz vor Notre-Dame. Buddy, Mindi und Lenny, die kleine
Stubenfliege, wurden aus dem Schlaf gerissen und suchten nach der Spätzin,
deren schriller Hilfeschrei die angenehme Ruhe des Sommertages durchbrochen
hatte. „Oh, meine Kette, meine wunderschöne Kette“, klagte Mama-
Spatz ununterbrochen, als ihre Spatzenkinder im Kurzflug zu ihr eilten.
„Mama, geht es dir gut? Was ist denn passiert?“, erkundigte sich Mindi.
„Ach, eine Elster hat mir meine Kette geklaut. Einfach geklaut! Diese diebischen
Elstern!“, erklärte Mama-Spatz kreuzunglücklich.
„Hast du die Kette etwa ausgezogen? Oder wie ist die Elster an die Perlenkette
gekommen? Und wo ist sie hingeflogen? Vielleicht erreichen wir sie noch“,
löcherte Buddy seine Mutter und dribbelte unruhig von einem Bein auf das
andere. Ihm dauerte das alles viel zu lange. Wer weiß, vielleicht könnte man
die Diebin noch erwischen, dachte er sich.
„Ich hatte die Kette doch nur kurz abgenommen, weil sie sich am Verschluss
in meinen Federn verheddert hatte. Ich habe sie neben mich gelegt und als ich
sie wieder anlegen wollte, war sie weg“, seufzte Mama-Spatz, als sich aus der
Ferne Polizeichef Pelle mit seiner lauten Trillerpfeife ankündigte.
Gerade als der Polizeichef zum Landeanflug ansetzte, schoss Sirenen-Stu mit
viel zu hoher Geschwindigkeit an Polizeichef Pelle vorbei. So weit, bis das Sirenenkabel
Stu wieder zu Pelle zurückschleuderte und beide in einem Durcheinander
von Sirenengeheul unsanft auf dem Boden aufkamen. Der Polizeichef
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klopfte sich schnell den Staub vom Gefieder, richtete seinen Polizeihelm, gab
Sirenen-Stu einen Schubs und stolzierte zu Mama-Spatz und ihren Kindern.
Bei Sirenen-Stu drehte sich noch immer alles und seine ohnehin zerzausten
Federn standen durch den Aufprall in alle Richtungen ab. Dieses verflixte
Gleichgewicht zu halten fiel ihm einfach unglaublich schwer.
Pelle & Stu
„Guten Morgen, Frau Mama-Spatz, bei Ihnen hat sich soeben
ein Diebstahl ereignet, ist das richtig?“, begann der
Polizeichef die Befragung wie immer nach Vorschrift.
„Ja, meine teure Kette, ein Erbstück! Eine Elster hat
sie mir geklaut und ist damit weggeflogen“, schluchzte
Mama-Spatz, während sie den Himmel nach der Diebin
absuchte.
„Können Sie den Täter näher beschreiben?“, fragte Pelle. „Hatte er oder sie
ein auffälliges Federkleid, einen ausgeprägten Schnabel und welche Flughöhe
wurde als Flucht-Flugbahn gewählt?“
„Ähm, nun ja. Es war … der Täter war eine Sie, also weiblich, und ja, sie trug
eine pinke Brille und na ja ...“, stammelte Mama-Spatz. „Da, da ist sie! Sie
fliegt auf der Schnellflugbahn davon!“, fuchtelte Mama-Spatz plötzlich mit
den Federn Richtung Norden. „Jetzt los! Was stehen Sie denn hier noch so
rum? Fliegen Sie hinterher! Schnell, sonst entwischt sie noch!“
„Nun ja, also, das ist gegen die Vorschrift. Eine direkte Verfolgung eines Tatverdächtigen
ist nur erlaubt, wenn mindestens zwei Beamte zur …“
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„Pelle, jetzt mach, dass du da hochkommst, und hör auf mit dieser aufgesetzten
Höflichkeit. Ich kenn dich, seit wir beide drei Monate alt waren!“ Mama-
Spatz verlor nun vollends die Fassung. Es ging schließlich um die Perlenkette
ihrer verstorbenen Mutter. Sie war die einzige Erinnerung, die Mama-Spatz
noch geblieben war, und sie glitzerte doch auch so schön in der Sonne.
Gerade als der Polizeichef zu einem weiteren Vortrag über die Vorgaben des
Polizeiministeriums für Flugsicherheit ausholen wollte, schrie Mindi dazwischen:
„Buddy, nein, komm zurück! Buddy!“
Erschrocken sahen alle hinauf – und da war er tatsächlich. Buddy war bereits
auf Höhe ihres Heims und flog weiter Richtung Schnellflugbahn. Weil die
Sonne hoch stand und stark blendete, konnte Mama-Spatz nicht lange nach
oben sehen. Verzweifelt versuchte sie trotzdem ihren kleinen Sohn zu erkennen.
Immer und immer wieder suchte sie den Himmel nach einem kleinen
braunen Punkt ab, der Buddy hätte sein können.
Nichts – er war verschwunden. Der Polizeichef blies abermals in seine Trillerpfeife,
damit Buddy kehrtmachte. Mindi und Lenny, die kleine Stubenfliege,
liefen auf und ab, schockiert, dass Buddy einfach so davongeflogen war. Mama-Spatz
liefen die Tränen über die Wangen, nicht weil die Sonne sie blendete,
sondern aus Sorge um ihren Buddy, ihren kleinen Spatz.
Buddy hatte von dem Moment an nicht mehr auf das Gespräch zwischen seiner
Mutter und dem Polizeichef geachtet, als Mama-Spatz auf die Diebin ge-
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deutet hatte. Eigentlich hatte er nur auf Höhe des Turms fliegen wollen, aber
dann war er doch noch ein Stückchen höher geflogen. Die schwarz-weiße Elster
schien nur wenige Meter entfernt zu sein. Doch Buddy machte einen verhängnisvollen
Fehler, er schaute nach unten. Er war viel höher, als er jemals
zuvor geflogen war!
Buddy erschrak fürchterlich. Die Sonne blendete
ihn, der Wind war stärker dort oben und
warf ihn von links nach rechts. So wurde es
immer anstrengender, das Gleichgewicht zu
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halten. Zudem hatte er vollständig die Orientierung verloren und auch die
Elster war längst verschwunden. Alles war irgendwie schiefgelaufen und jetzt
hing Buddy völlig verängstigt irgendwo in der Luft.
Da schoss auf einmal ein Spatz an ihm vorbei, dann ein zweiter, dritter und
vierter. Alle waren sie unglaublich schnell, fast 60 Stundenkilometer, dachte
Buddy. „60 Stundenkilometer? Natürlich, das muss die Schnellflugbahn
sein!“, schrie Buddy. „Ich muss auf die Flugbahn, die benutzt Papa auch immer,
und dann wird er mich finden.“ Fest entschlossen rückte Buddy noch
einmal seine lederne Fliegerbrille zurecht und begab sich dann mit heftigem
Flügelschlag in den Luftstrom.
Der Luftzug war stärker als gedacht und Buddy wurde mitgerissen. Immer
wieder versuchte er seine Bewegungen der Geschwindigkeit anzupassen,
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schlug dabei mit den Flügeln, so heftig er konnte. Irgendwann war er fürchterlich
erschöpft und wurde immer langsamer, bis er sich schließlich nur noch
treiben ließ. Und das war wohl auch die Lösung – auf der Flugbahn musste
man sich einfach nur dem Luftstrom anpassen und dahingleiten.
Jetzt, da er den Dreh beim Fliegen
raushatte, konnte er wieder mehr auf
sein Umfeld achten. „Okay, okay, okay, sehr gut. Ich fliege auf der Schnellflugbahn.
Oh ja, die Schnellflugbahn! Wenn ich das dem alten Rabe Ronte erzähle!“
Buddy musste bei dem Gedanken an die staunenden Gesichter zu Hause
grinsen – niemals würden sie ihm glauben, was er erlebt hatte! Dass er ganz
alleine auf dieser riesigen Schnellflugbahn unterwegs gewesen war. Während
er sich ausmalte, wem er alles von seinem Abenteuer erzählen würde, stellte er
mit Schrecken fest, wie riesig die Flugbahn eigentlich war. Jeweils vier Bahnen
in beide Richtungen, in der Mitte durch rot leuchtende Lichter getrennt, und
alle zwei Minuten eine Ausflugmöglichkeit. Papa-Spatz würde ihn hier nie
finden, das wurde Buddy langsam immer klarer. Vielleicht war das mit der
Flugbahn doch nicht die beste Idee gewesen? Vielleicht war er schon längst
außerhalb des Bezirks oder der Stadt oder gar des Landes?
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Buddy brach der Angstschweiß aus. Weg! Er musste hier weg, und zwar
schnell. Sein kleiner Körper bebte vor Angst und er spürte, wie eine Schweißperle
nach der anderen über seine Stirn rann. Zum Glück hielt seine Brille den
Schweiß davon ab, in seine Augen zu kullern. Hatte er es doch gewusst – die
Fliegerbrille war notwendig, dachte Buddy. So
oft wurde er wegen der viel zu großen Brille
mit Lederband auf seinem Kopf ausgelacht.
Unnötig sei sie und obendrein
total lächerlich, hatten viele
behauptet, diese Brille, die
Buddy trug, seit er Alleinflüge
machen durfte. Niemand hatte
gewusst, wie wichtig diese Brille für ihn war.
Der Gedanke an die blöden Bemerkungen machte
Buddy unendlich wütend. „Nein, denen werde
ich es zeigen, ich habe keine Angst!“, schrie er
todesmutig ins Nichts und schoss beim nächsten
Ausflug einfach raus. Das große eiserne Schild,
das von einer Wolke getragen über der Abzweigung
prangte, sah er nicht. Es trug die Aufschrift
„Ausflug 8 Richtung Bahnhof“.
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