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Entwicklungspsychologie - Oerter

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© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:02


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<strong>Oerter</strong> . Montada (Hrsg.)<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong>


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Rolf <strong>Oerter</strong> . Leo Montada (Hrsg.)<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

6., vollständig überarbeitete Auflage


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Anschrift der Herausgeber:<br />

Prof. Dr. Rolf <strong>Oerter</strong><br />

Universität München<br />

Fakultät für Psychologie und Pädagogik<br />

Leopoldstr. 13<br />

D-80802 München<br />

Prof. Dr. Leo Montada<br />

Universität Trier<br />

FB Psychologie<br />

Tarforst, Gebäude D<br />

D-54286 Trier<br />

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen<br />

Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch<br />

seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für<br />

Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.<br />

Haftungshinweis: Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer<br />

Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich.<br />

6., vollständig überarbeitete Auflage 2008<br />

1. Auflage 1982, Urban & Schwarzenberg, München<br />

2., neubearbeitete Auflage 1987, Psychologie Verlags Union, München<br />

3., vollständig überarbeitete Auflage 1995, Psychologie Verlags Union, Weinheim<br />

4., korrigierte Auflage 1998, Psychologie Verlags Union, Weinheim<br />

5., vollständig überarbeitete Auflage 2002, Psychologie Verlags Union, Weinheim<br />

© Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2008<br />

Programm PVU, Psychologie Verlags Union<br />

http://www.beltz.de<br />

Lektorat: Kerstin Barton, Matthias Reiss, Sigrid Weber, Ines Heinen, Reiner Klähn<br />

Herstellung: Anja Renz<br />

Umschlaggestaltung: Federico Luci, Odenthal<br />

Umschlagbild: Paul Klee, Neue Harmonie, 1936, 24; Ölfarbe auf Leinwand, 93¥66 cm,<br />

Solomon R. Guggenheim Museum, New York<br />

© VG BILD-KUNST, Bonn 2007<br />

Satz: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza<br />

e-book<br />

ISBN 978-3-621-27847-8


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Vorwort<br />

Schon die erste Auflage des Lehrbuchs „<strong>Entwicklungspsychologie</strong>“<br />

im Jahre 1982 fand in kurzer Zeit<br />

weite Verbreitung. Das Werk blieb seither als Standardwerk<br />

etabliert und akzeptiert, weil in jeder<br />

neuen Auflage die neueste Forschungsliteratur eingearbeitet<br />

wurde und sicher auch weil neue anregende<br />

und übersichtliche Darstellungsformen gefunden<br />

wurden.<br />

Bei dem enormen Wachstum entwicklungspsychologischer<br />

Forschungen stellte sich immer aufs<br />

Neue das Problem der Auswahl der Themenfelder.<br />

Auch in dieser Auflage standen Herausgeber und<br />

Verlag vor dem Problem der Auswahl. Außer neuen<br />

Forschungen, etwa aus den Neurowissenschaften,<br />

mussten wichtige Themen in aktuellen öffentlichen<br />

Debatten angemessen repräsentiert sein, so etwa<br />

Erziehung und Entwicklungsförderung in Familien<br />

unterschiedlicher Struktur, Frühförderung, Schulleistungen<br />

und -versagen, Förderung von Hochbegabungen,<br />

Integration von Migranten, antisoziales<br />

Verhalten, Umgang mit Medien, produktives Leben<br />

im Alter. Die erforderlichen Kürzungen haben wir<br />

möglichst auf solche Themenfelder begrenzt, die in<br />

anderen Lehrbüchern ausführlich behandelt sind.<br />

Entsprechende Verweise finden die Leser an vielen<br />

Textstellen.<br />

Die vorliegende sechste Auflage ist die letzte unter<br />

unserer Herausgeberschaft. Wir freuen uns, dass<br />

Ulman Lindenberger und Wolfgang Schneider als<br />

Herausgeber der nächsten Auflage gewonnen werden<br />

konnten.<br />

Die Grundstruktur des Buches wurde beibehalten.<br />

Im ersten Teil sind allgemeine Fragestellungen,<br />

Konzepte und Theorien behandelt, ergänzt nun um<br />

neurowissenschaftliche Erkenntnisse, fokussiert auf<br />

die embryonale und frühkindliche Entwicklung –<br />

weitere neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse<br />

sind in anderen Kapiteln behandelt. Wie bisher<br />

sind der verhaltensgenetischen und der kulturvergleichenden<br />

und sozioökologischen Forschung eigene<br />

Kapitel gewidmet. Dieser Teil wird abgeschlossen<br />

durch einen Überblick über die Sozialisation und<br />

Entwicklung im Kontext Familie.<br />

Der zweite Teil enthält integrative Übersichten<br />

der Entwicklungen in vielen Feldern über den gesamten<br />

Lebensverlauf von der vorgeburtlichen und<br />

frühkindlichen Entwicklung bis ins hohe Alter, darunter<br />

ein ausführliches Kapitel über das frühe<br />

Erwachsenenalter, die Lebensphase der Mehrzahl<br />

der Studierenden. Dieser Teil informiert ausführlich<br />

über die typischen Entwicklungsveränderungen und<br />

über Probleme in den verschiedenen Lebensabschnitten,<br />

über altersspezifische Entwicklungsaufgaben,<br />

relevante Einflussfaktoren sowie über historischen<br />

Wandel.<br />

Im dritten Teil werden die Entwicklungen einzelner<br />

Leistungs- und Funktionsbereiche behandelt.<br />

Das sind klassische Themen von der Entwicklung<br />

von Wahrnehmung und Psychomotorik, des Erkennens<br />

und Denkens, des Gedächtnisses, der Sprache,<br />

der Tätigkeitsregulationen durch Emotionen, Motivationen<br />

und Volition, der moralischen Entwicklung<br />

und Sozialisation, der Entwicklung der Geschlechtsidentität<br />

bis zur Persönlichkeits- und Selbstentwicklung.<br />

In diesem Teil ist auch ein Kapitel über die<br />

Entwicklung von Religiosität und Spiritualität enthalten.<br />

Der vierte Teil ist einzelnen Problemfeldern der<br />

psychologischen Praxis gewidmet. Sie erstrecken<br />

sich über den gesamten Lebenslauf und behandeln<br />

Probleme und Förderungsanregungen von der frühen<br />

Kindheit bis ins Alter.<br />

Auch in der sechsten Auflage sind also die Wissensgrundlagen<br />

für viele Praxisfelder anhand vieler<br />

Problemfälle aufbereitet, und zwar in einer theoretisch<br />

modernen systemischen, differentiell-psychologischen<br />

Betrachtungsweise.<br />

Das vorliegende Werk geht als „Einführung“ weit<br />

über die Vermittlung eines Grundwissens für Studienanfänger<br />

hinaus und bietet vertieftes Wissen<br />

Vorwort<br />

V


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sowie Informationen zu aktuellen Forschungsbefunden,<br />

so dass dieses Lehrbuch auch als Nachschlagewerk<br />

dienen kann. Es bietet in noch größerem<br />

Umfang als bei früheren Auflagen Befunde aus dem<br />

deutschsprachigen Raum und wird auf diese Weise<br />

der aktuellen Situation und den Problemlagen, mit<br />

denen die Studierenden konfrontiert werden, in<br />

besonderem Maße gerecht.<br />

In der neuen Auflage wurden über die bewährte<br />

Darstellungsformate hinaus einige neue didaktische<br />

Elemente aufgenommen. Denkanstöße und knifflige<br />

Fragen in jedem Kapitel fordern zum Nach-, Querund<br />

Weiterdenken auf. Zentrale Botschaften sind als<br />

Quintessenzen gefasst. Neu ist auch ein Glossar mit<br />

vielen wichtigen Begriffen, die in verschiedenen<br />

Kapiteln verwendet werden. Die Verweise auf weiterführende<br />

Literatur sind durchgängig kurz kommentiert.<br />

Dem Buch ist eine CD-ROM beigefügt mit<br />

Informationen, Definitionen, Zusammenfassungen<br />

und Fragen.<br />

Wir sind zuversichtlich, dass die Leserinnen und<br />

Leser das Buch nicht nur mit Gewinn an Problembewusstsein,<br />

Erkenntnissen, Ideen und Wissen für<br />

praktisches Handeln studieren, sondern dass auch<br />

die gewählten Darstellungsformate Freude machen<br />

werden.<br />

München und Konstanz, im Oktober 2007<br />

Rolf <strong>Oerter</strong><br />

Leo Montada<br />

VI<br />

Vorwort


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Inhalt<br />

Vorwort<br />

V<br />

Teil I<br />

Grundlagen der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 1<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte, Perspektiven 3<br />

Leo Montada<br />

1 Konzeptionen der Entwicklung 3<br />

1.1 Entwicklung als allgemeine Abfolge von Phasen oder Stufen 3<br />

1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 5<br />

1.2.1 Erweiterungen des Entwicklungsbegriffs 5<br />

1.2.2 Der Einfluss der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> der Lebensspanne 6<br />

1.2.3 Neue Kernannahmen in Forschung und Theorienbildung 9<br />

1.3 Gegenstandsbestimmung aus dem Bedarf an <strong>Entwicklungspsychologie</strong> in Praxisfeldern 14<br />

1.3.1 Orientierung über den Lebenslauf 14<br />

1.3.2 Prognose der Ausprägung und Veränderung von Personmerkmalen 15<br />

1.3.3 Ermittlung von Entwicklungsbedingungen 16<br />

1.3.4 Begründung von Entwicklungszielen 16<br />

1.3.5 Planung und Evaluation von Entwicklungsinterventionen 16<br />

1.4 Eine Arbeitsdefinition von Entwicklung 17<br />

1.4.1 Das Lebensalter ist eine sinnvolle Dimension zur Registrierung dieser Veränderungen 17<br />

1.4.2 Dauerhafte oder nachhaltig wirkende Veränderungen 18<br />

1.4.3 Suche nach Kontinuitäten 18<br />

2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll? 19<br />

2.1 Erfassung der Entwicklungsumwelt 19<br />

2.2 Erfassung von Erbunterschieden 20<br />

2.2.1 Chromosomale Besonderheiten 20<br />

2.2.2 Passung in ein Erbgangsmodell 20<br />

2.2.3 „Reinzüchtung“: Wie wirkt sich die Merkmalsähnlichkeit von Eltern aus? 21<br />

2.2.4 Populationsgenetische Analysen 21<br />

3 Weitere Erklärungskonzeptionen 28<br />

3.1 Reifung 28<br />

3.2 Reifestand und sensible Periode 29<br />

3.3 Das Modell der sukzessiven Konstruktion 32<br />

3.4 Entwicklung als Sozialisation 33<br />

3.5 Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse 36<br />

3.5.1 Altersnormierte Krisen 37<br />

3.5.2 Entwicklungsaufgaben 38<br />

Inhalt<br />

VII


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3.5.3 Kritische Lebensereignisse 39<br />

3.5.4 Folgerungen für die Entwicklungsberatung 40<br />

4 Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung 40<br />

4.1 Absolute Stabilität 41<br />

4.2 Normative Stabilität oder Positionsstabilität 42<br />

4.3 Entwicklung als Stabilisierung interindividueller Unterschiede 42<br />

4.4 Probleme des Nachweises der Stabilität von Eigenschaften und Fähigkeiten 43<br />

4.5 Kontinuität als Wirkung von Dispositionen, Kompetenzen und Selbstkonzept 44<br />

4.6 Aleatorische Entwicklungsmomente und aktionale Entwicklungsmodelle 46<br />

5 Zusammenfassung 46<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie und Genetik der Entwicklung 49<br />

Jens B. Asendorpf<br />

1 Evolutionspsychologie der Entwicklung 50<br />

1.1 Allgemeine Prinzipien der Evolutionspsychologie 50<br />

1.2 Verhaltensatavismen 52<br />

1.3 Entwicklung der sexuellen Orientierung 54<br />

1.4 Bedingungen und Konsequenzen väterlicher Fürsorge 56<br />

2 Entwicklungsgenetik 58<br />

2.1 Allgemeine Prinzipien der Entwicklungsgenetik 58<br />

2.2 Genetischer Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede 59<br />

2.3 Schätzungen des genetischen Einflusses 60<br />

2.4 Kovariation und Interaktion von genetischen und Umweltunterschieden 62<br />

3 Zusammenfassung 65<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische Grundlagen der Entwicklung 67<br />

Sabina Pauen . Birgit Elsner<br />

1 Wie ist unser Gehirn aufgebaut? 67<br />

1.1 Anatomie des Großhirns 67<br />

1.2 Anatomie des Hirnstamms 68<br />

1.3 Funktionale Beschreibung des Gehirns 70<br />

1.4 Neuronen als Bausteine des zentralen Nervensystems 71<br />

2 Wie gewinnt man Daten zur Gehirnentwicklung? 73<br />

3 Was weiß man über die Reifung des Gehirns? 76<br />

3.1 Gehirnentwicklung vor der Geburt 76<br />

3.1.1 Mitose und Migration 77<br />

3.1.2 Die Entstehung des Neocortex 77<br />

3.1.3 Wachstum von Axonen, Dendritenbildung und Synaptogenese 79<br />

VIII<br />

Inhalt


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3.2 Störungen der pränatalen Gehirnentwicklung 80<br />

3.3 Gehirnentwicklung nach der Geburt 80<br />

3.3.1 Dendritenbildung und Synaptogenese 81<br />

3.3.2 Myelinisierung und Apoptose 82<br />

3.4 Postnatale Gehirnentwicklung und interindividuelle Unterschiede 83<br />

4 Zusammenfassung 83<br />

Kapitel 4<br />

Kultur, Ökologie und Entwicklung 85<br />

Rolf <strong>Oerter</strong><br />

1 Lebensraum, Setting, ökologisches System 86<br />

1.1 Lebensraum 86<br />

1.2 Setting 88<br />

1.3 Ökologische Systeme 88<br />

2 Kultur und Entwicklung 90<br />

2.1 Zum Kulturbegriff 90<br />

2.2 Enkulturation und Akkulturation 91<br />

2.3 Die kulturhistorische Schule 92<br />

2.4 Weitere Theorien zu Kultur und Entwicklung 94<br />

2.5 Zwei hilfreiche Konzepte zur Verbindung von Kultur und Entwicklung 95<br />

2.5.1 Die Entwicklungsnische 95<br />

2.5.2 Die Zone nächster Entwicklung 96<br />

2.6 Entwicklung als Aufbau von Gegenstandsbezügen 97<br />

2.6.1 Entwicklung als Herstellung von Isomorphie zwischen Kultur und Individuum 97<br />

2.6.2 Austauschprozesse zwischen kultureller Umwelt und Individuum 99<br />

3 Kulturelle und ökologische Bedingungsfaktoren bei der Entwicklung des Menschen 101<br />

3.1 Kulturelle Universalien in der frühkindlichen Entwicklung 101<br />

3.2 Universalien bei intuitiven Theorien: Das Beispiel intuitive Biologie 102<br />

3.3 Kulturelle Besonderheiten 104<br />

3.3.1 Frühe Kindheit 104<br />

3.3.2 Spätere Entwicklung 106<br />

3.3.3 Ethnotheorien 108<br />

3.4 Der Aufbau kultureller Identität 110<br />

3.5 Das Zusammenspiel verschiedener Kontexte und Systeme in der Entwicklung 112<br />

3.5.1 Natürliche Experimente, die die Geschichte veranstaltete 112<br />

3.5.2 Minoritäten 114<br />

4 Zusammenfassung 115<br />

Inhalt<br />

IX


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Kapitel 5<br />

Sozialisation und Erziehung im Kontext der Familie 117<br />

Klaus A. Schneewind<br />

1 Sozialisation und Erziehung in theoretischer Sicht 117<br />

2 Die familienpsychologische Perspektive von Familienentwicklung 120<br />

3 Theoretische Aspekte einer Psychologie der Familienentwicklung 122<br />

3.1 Familiensystemtheorie 122<br />

3.2 Familienentwicklungstheorie 123<br />

3.3 Familienstresstheorie 125<br />

3.4 Integratives Systemmodell der Familienentwicklung 125<br />

4 Entwicklung von Familienbeziehungen 127<br />

4.1 Entwicklung von Paarbeziehungen 127<br />

4.1.1 Phasen und Aufgaben der Paarentwicklung 128<br />

4.1.2 Gelingende und misslingende Paarbeziehungen 129<br />

4.1.3 Paarbeziehungstypen 131<br />

4.2 Entwicklung von Eltern-Kind-Beziehungen 132<br />

4.2.1 Eltern als Interaktionspartner 132<br />

4.2.2 Eltern als Erzieher 134<br />

4.2.3 Eltern als Arrangeure von Entwicklungsgelegenheiten 136<br />

5 Beziehungen zwischen Beziehungen 138<br />

5.1 Intergenerationale Transmission von Eltern-Kind-Beziehungen 139<br />

5.2 Beziehungen zwischen dem Paar- und dem Eltern-Kind-Subsystem 139<br />

6 Entwicklung durch Intervention in Paar- und Familiensystemen 140<br />

6.1 Entwicklungsförderliche Stärkung von Paarbeziehungen 141<br />

6.2 Entwicklungsförderliche Stärkung von Elternkompetenzen 142<br />

6.3 Familiale Entwicklungsintervention als Public-Health-Aufgabe 143<br />

7 Zusammenfassung 144<br />

Teil II<br />

Entwicklungen in einzelnen Lebensabschnitten 147<br />

Kapitel 6<br />

Vorgeburtliche Entwicklung und frühe Kindheit 149<br />

Hellgard Rauh<br />

1 Perspektiven auf die frühe Entwicklungszeit 149<br />

2 Soziokulturelle und familiäre Rahmenbedingungen 149<br />

3 Vorgeburtliche Entwicklung 150<br />

3.1 Entwicklung des zentralen Nervensystems 151<br />

3.2 Motorische Verhaltensentwicklung des Fötus 153<br />

X<br />

Inhalt


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3.3 Geschlechtsdifferenzierung des Fötus 154<br />

3.4 Vorgeburtliche Risiken 154<br />

3.5 Frühgeburt 155<br />

3.6 Modellvorstellungen über vorgeburtliche Entwicklungsfaktoren 156<br />

3.7 Prognosen aufgrund der vorgeburtlichen Entwicklung 157<br />

3.8 Quintessenz aus der vorgeburtlichen Zeit und Entwicklungsübergang<br />

in die Neugeborenenzeit 158<br />

4 Die Neugeborenenzeit 159<br />

4.1 Veränderungen in der Geburtspraxis 159<br />

4.2 Zwei psychologische Fragen zur Geburt 159<br />

4.2.1 Gibt es ein Trauma der Geburt? 159<br />

4.2.2 Wie entsteht die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind? 159<br />

4.3 Psychologische Kompetenzen und Bedürfnisse des Neugeborenen 160<br />

4.3.1 Frühe Verhaltensorganisation und erste Regulationsleistungen 161<br />

4.3.2 Motorisches und sensorisches Verhaltensrepertoire in den ersten Lebenswochen 164<br />

4.3.3 Sinnesrepertoire des Neugeborenen 167<br />

4.3.4 Soziale Interaktion und Kommunikation in den ersten Lebensmonaten 171<br />

4.3.5 Individuelle Unterschiede: Schreien und Irritabilität 177<br />

4.4 Quintessenz aus der Neugeborenenzeit und Entwicklungsübergang<br />

in die eigentliche Säuglingszeit 178<br />

5 Der kompetente Säugling (ca. 4–12 Monate) 180<br />

5.1 Körperliche und motorische Veränderungen 180<br />

5.1.1 Übersicht 180<br />

5.1.2 Greifentwicklung als Modell für psychologische Entwicklung 182<br />

5.2 Neurologische und kognitive Veränderungen 184<br />

5.3 Lernen, Informationsverarbeitung und Gedächtnis im ersten Lebensjahr 186<br />

5.3.1 Indikatoren für Unterscheiden und Lernen 186<br />

5.3.2 Lernen und Emotionen 188<br />

5.3.3 Individuelle Unterschiede und langfristige Vorhersagen 189<br />

5.4 Objektpermanenz 190<br />

5.4.1 Piagets Forschung und Theorie 190<br />

5.4.2 Neue Erkenntnisse und die Kritik an Piaget 190<br />

5.4.3 Objektpermanenz und die Art des Versteckens 193<br />

5.5 Das Weltbild des Säuglings 194<br />

5.5.1 Verstehen von Kausalität 195<br />

5.5.2 Intentionalität und Theory of Mind 196<br />

5.5.3 Kategorien und Dimensionen 198<br />

5.6 Sozialverhalten und Emotionen 199<br />

5.6.1 Gegenseitige Aufmerksamkeitsregulation 200<br />

5.6.2 Kommunikation 201<br />

5.6.3 Entwicklung des emotionalen Ausdrucksverhaltens 202<br />

Inhalt<br />

XI


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5.7 Elternverhalten 206<br />

5.7.1 Intuitives Elternverhalten 206<br />

5.7.2 Kindgerichtete Sprechweise 208<br />

5.7.3 Sensitivität 208<br />

5.8 Quintessenz aus der Säuglingszeit 209<br />

6 Das Kleinkind im zweiten Lebensjahr 210<br />

6.1 Laufenlernen als Problemlösen und Entwicklungsaufgabe 212<br />

6.2 Bindung und Bindungsqualität 213<br />

6.2.1 Der theoretische Ansatz von John Bowlby 213<br />

6.2.2 Entwicklungsverlauf der sozial-emotionalen Bindung 214<br />

6.2.3 Bindungsqualität 215<br />

6.2.4 Längsschnittliche Veränderungen und Vorhersagen aus der frühkindlichen<br />

Bindungsqualität 218<br />

6.2.5 Krippenbesuch und Bindungsqualität 218<br />

6.3 Trotzverhalten 219<br />

6.4 Die Entdeckung des Ich im Spiegel und Anfänge der sozialen Kognition 220<br />

6.5 Sozialisationsbereitschaft 221<br />

6.6 Quintessenz: Wie wichtig ist die frühe Kindheit für die weitere Persönlichkeitsentwicklung? 224<br />

Kapitel 7<br />

Kindheit 225<br />

Rolf <strong>Oerter</strong><br />

1 Kindheit als Erzeugnis der Kultur und Geschichte 225<br />

2 Persönlichkeitsentwicklung in der Kindheit 226<br />

2.1 Temperament und Persönlichkeit 226<br />

2.1.1 Temperamentsdimensionen 226<br />

2.1.2 Befunde zur Entwicklung des Temperaments 227<br />

2.1.3 Persönlichkeitsvariablen: Die großen Fünf 228<br />

2.2 Selbstkonzept und Selbstrepräsentation 230<br />

2.2.1 Begriff und Entwicklungsüberblick 230<br />

2.2.2 Komponenten und Stabilität des Selbstkonzeptes 231<br />

2.2.3 Selbstrepräsentation und Schule 232<br />

2.2.4 Kontrollüberzeugungen 233<br />

2.2.5 Versuch einer theoretischen Integration 235<br />

2.2.6 Selbstbild und Menschenbild 235<br />

3 Spiel und kindliche Entwicklung 236<br />

3.1 Zur Geschichte der Spielforschung 236<br />

3.2 Drei Merkmale des Spiels und drei Spieltheorien 237<br />

3.2.1 Drei Merkmale des Spiels 237<br />

3.2.2 Drei psychologische Theorien 237<br />

3.3 Entwicklung des Spiels 239<br />

3.3.1 Formen des Spiels und ihre Reihenfolge in der Entwicklung 239<br />

3.3.2 Das Symbolspiel 240<br />

XII<br />

Inhalt


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3.3.3 Die Entwicklung des Sozialspiels 242<br />

3.3.4 Das Regelspiel 243<br />

3.3.5 Die Zone nächster Entwicklung im Spiel 244<br />

3.4 Warum spielen Kinder? 245<br />

3.4.1 Aktivierungszirkel 246<br />

3.4.2 Intensiver Austausch mit der Umwelt: Aneignung und Vergegenständlichung 246<br />

3.4.3 Bewältigung spezifischer Probleme 247<br />

3.4.4 Entwicklungs- und Beziehungsthematiken 247<br />

3.4.5 Formen und Etappen von Realitätsbewältigung 248<br />

4 Schule als Umwelt 249<br />

4.1 Intelligenz und Schule 249<br />

4.1.1 Was ist Intelligenz? 249<br />

4.1.2 Wie wird Intelligenz gemessen? 249<br />

4.1.3 Zur Stabilität der Intelligenz 250<br />

4.1.4 Intelligenz, Schule und Gesellschaft 253<br />

4.1.5 Intelligenz und Geschwisterposition 254<br />

4.1.6 Der Flynn-Effekt: säkularer Intelligenzanstieg 254<br />

4.2 Die Wirkung der Schule auf die Entwicklung 255<br />

4.2.1 Dekontextualisierung und semantisches Gedächtnis 255<br />

4.2.2 Die Bedeutung des Schriftsprachenerwerbs 255<br />

4.2.3 Aussagenlogik 256<br />

5 Die Gleichaltrigen 257<br />

5.1 Soziale Kompetenz 258<br />

5.1.1 Die Identifikation mit der Gruppe 258<br />

5.1.2 Emotionale Regulierung und soziale Kompetenz 259<br />

5.2 Entwicklung von Freundschaften und des Freundschaftsverständnisses 260<br />

5.3 Prosoziales Verhalten: Das fürsorgliche Kind 261<br />

5.3.1 Entwicklung des prosozialen Verhaltens 261<br />

5.3.2 Modifizierende äußere und innere Faktoren 262<br />

5.4 Schikanieren (Bullying): Täter, Opfer und Teilnehmer 265<br />

5.5 Sozialer Vergleich, Wettbewerb und Kooperation 268<br />

6 Zusammenfassung 270<br />

Kapitel 8<br />

Jugendalter 271<br />

Rolf <strong>Oerter</strong> · Eva Dreher<br />

1 Konzepte, Theorien, Thematiken 271<br />

1.1 Jugend – zur Konstruktion einer Lebensphase 271<br />

1.1.1 Soziohistorische Konstruktion 271<br />

1.1.2 Jugend als Phänomen multidisziplinären Interesses 272<br />

1.1.3 Periodisierung des Jugendalters 272<br />

Inhalt<br />

XIII


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1.2 Adoleszenz im Wandel entwicklungsrelevanter Themen 273<br />

1.2.1 Trends entwicklungspsychologischer Jugendforschung 273<br />

1.2.2 Entwicklung als Fortschritt und Risiko 273<br />

1.3 Theorien der Adoleszenz 274<br />

1.3.1 Biogenetische Position 275<br />

1.3.2 Kulturanthropologischer Ansatz 275<br />

1.3.3 Psychodynamischer Ansatz: Anna Freud 276<br />

1.3.4 Theoretische Weiterentwicklung: Coping-Konzepte 277<br />

1.3.5 Psychosozialer Ansatz: Erik H. Erikson 277<br />

1.3.6 Dynamischer Interaktionismus 278<br />

1.4 Entwicklungsaufgaben im Jugendalter 279<br />

1.4.1 Zeitliche Dimensionierung 280<br />

1.4.2 Entwicklungsaufgabe als Konstrukt der Veränderung 283<br />

2 Kognitive Entwicklung 284<br />

2.1 Theorien kognitiver Entwicklung im Überblick 284<br />

2.1.1 Kognitive Strukturen 284<br />

2.1.2 Kognitive Prozesse 285<br />

2.1.3 Kognitive Ressourcen 286<br />

2.1.4 Bio-neuro-psychologische Aspekte 286<br />

2.2 Merkmale des Denkens im Jugendalter 286<br />

2.2.1 Formales Denken 287<br />

2.2.2 Relativistisches Denken 288<br />

2.2.3 Kritisches Denken 288<br />

2.2.4 Kognitive Funktionen der Informationsverarbeitung 288<br />

3 Körperliche und psychosexuelle Entwicklung 289<br />

3.1 Körperwachstum 290<br />

3.2 Geschlechtsreifung (biosexuelle Entwicklung) 291<br />

3.2.1 Körperliche Veränderungen bei der Geschlechtsreife 291<br />

3.2.2 Veränderungen im Hormonhaushalt 293<br />

3.2.3 Akzeleration und Retardierung 293<br />

3.3 Das Körperselbstbild bei Jugendlichen 296<br />

3.4 Sexuelle Orientierung und Sexualverhalten 297<br />

3.4.1 Drei Thesen der sexuellen Entwicklung: Beschleunigung, Annäherung<br />

und religiöser Einfluss 298<br />

3.4.2 Zur Relation zwischen Wissen und Verhalten 300<br />

3.4.3 Zur Prävention früher Sexualkontakte 301<br />

3.5. Schlafregulation im Jugendalter: zu wenig und zu spät 301<br />

3.5.1 Daten zur Schlafregulation im Jugendalter 301<br />

3.5.2 Umwelt oder Natur? Bio-physiologische Ursachen der Veränderung der Schlafregulation 302<br />

4 Identität: das zentrale Thema des Jugendalters 303<br />

4.1 Zum Begriff der Identität 303<br />

4.2 Die Struktur der Identität und ihre Veränderung im Jugendalter 304<br />

XIV<br />

Inhalt


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4.2.1 Wachsende Komplexität der Identität 304<br />

4.2.2 Die vier Formen des Identitätsstatus nach Marcia 305<br />

4.2.3 Untersuchungsbeispiele zur Identität als Struktur 306<br />

4.2.4 Erweiterung des Identitätsspektrums 307<br />

4.3 Bewusstsein und Identität 309<br />

4.3.1 Gehirnentwicklung und Bewusstsein 309<br />

4.3.2 Bewusstsein als regulierende Instanz 310<br />

4.3.3 Das komplexe Selbst: Identität als Geschichte 311<br />

4.3.4 Komplexes Selbst: Rollenvielfalt und Widersprüchlichkeit 311<br />

4.3.5 Selbstdiskrepanztheorie 312<br />

4.3.6 Menschenbild und Widersprüchlichkeit 313<br />

4.4 Identität und emotionale Entwicklung 314<br />

4.4.1 Jugend als Zeit intensiver Gefühlserfahrung 314<br />

4.4.2 Kompetenzen: Emotion und Identitätsbildung 315<br />

5 Jugendliche im Spannungsfeld verschiedener Umwelten 317<br />

5.1 Die Familie als Umwelt 318<br />

5.1.1 Die Transformation familiärer Beziehungen im Jugendalter 318<br />

5.1.2 Exosystem Beruf: Berufstätigkeit der Mutter 319<br />

5.2 Die Gleichaltrigen 321<br />

5.2.1 Die Funktion der Peergruppe 321<br />

5.2.2 Peergruppe und Subkultur 321<br />

5.2.3 Dominanz und Altruismus in der Peergruppe 323<br />

5.2.4 Peergruppe: Was ist das Besondere im Jugendalter? 324<br />

5.2.5 Freundschaften, soziale Netze und Cliquen 326<br />

5.2.6 Das Mesosystem Familie – Peergruppe 328<br />

5.3 Arbeit und Berufstätigkeit im Jugendalter 329<br />

5.3.1 Beruf als Umwelt für Jugendliche 329<br />

5.3.2 Valenzen von Arbeit und Beruf beim Jugendlichen 329<br />

5.3.3 Arbeit und Beruf als ökologischer Übergang 330<br />

6 Zusammenfassung 332<br />

Kapitel 9<br />

Entwicklungsaufgaben im frühen Erwachsenenalter 333<br />

Günter Krampen · Barbara Reichle<br />

1 Frühes Erwachsenenalter: Transitionskriterien und Entwicklungsprozesse 333<br />

1.1 Kriterien und Charakteristika des frühen Erwachsenenalters 333<br />

1.2 Differentielle Entwicklung im frühen Erwachsenenalter 335<br />

2 Der Übergang zum frühen Erwachsenenalter 338<br />

2.1 Ablösung von der Herkunftsfamilie 339<br />

2.2 Berufsausbildung und Berufseintritt 342<br />

Inhalt<br />

XV


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3 Intensivierung und Differenzierung sozialer Beziehungen sowie Verantwortlichkeiten 344<br />

3.1 Berufliche Entwicklung 346<br />

3.2 Partnerschaft und Sexualität 348<br />

3.3 Partnerschaft und erste Jahre der Elternschaft 354<br />

3.4 Alternative Lebensformen 360<br />

3.5 Freizeit, soziale Beziehungen, Ausbildung und Berufstätigkeit 360<br />

3.5.1 Zeitbudget junger Erwachsener 361<br />

3.5.2 Freizeitverhalten junger Erwachsener 363<br />

3.5.3 Soziale Teilhabe und Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung 363<br />

4 Zusammenfassung 364<br />

Kapitel 10<br />

Erwachsenenalter und Alter 366<br />

Ulman Lindenberger · Sabine Schaefer<br />

1 Entwicklung im Erwachsenenalter 366<br />

1.1 Die generelle Architektur des Lebensverlaufs 366<br />

1.1.1 Die Abnahme evolutionärer Selektionsvorteile mit dem Alter 367<br />

1.1.2 Die Zunahme des Bedarfs an Kultur mit dem Alter 367<br />

1.1.3 Abnahme des Wirkungsgrads von Kultur mit dem Alter 368<br />

1.2 Veränderungen in der relativen Ressourcenallokation 369<br />

1.3 Selektive Optimierung mit Kompensation 370<br />

2 Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter 372<br />

2.1 Zweikomponentenmodelle der intellektuellen Entwicklung 372<br />

2.1.1 Die Mechanik der Kognition 377<br />

2.1.2 Die Pragmatik der Kognition 378<br />

2.1.3 Mechanik und Pragmatik: Evolutionäre und ontogenetische Abhängigkeiten 380<br />

2.2 Relative Stabilität intellektueller Leistungen über die Lebensspanne 382<br />

2.2.1 Verhalten im Säuglingsalter als Prädiktor intellektueller Leistungsfähigkeit 382<br />

2.2.2 Relative Stabilität nach dem Säuglingsalter 383<br />

2.3 Heritabilität 384<br />

2.4 Fähigkeitsstruktur 385<br />

2.5 Historische und ontogenetische Plastizität 385<br />

2.5.1 Kohorteneffekte, Periodeneffekte und gesellschaftlicher Wandel 386<br />

2.5.2 Kognitive Intervention im Alter: Aktivierung des Lernpotentials 387<br />

2.5.3 Altersunterschiede in der Mechanik: Purifizierung der Messung 391<br />

2.6 Determinanten der mechanischen Entwicklung im Erwachsenenalter 392<br />

2.7 Das Dilemma behavioralen Alterns aus neurokognitiver Sicht 395<br />

3 Die Entwicklung von Selbst und Persönlichkeit im Erwachsenenalter 398<br />

3.1 Forschungstraditionen im Bereich von Selbst und Persönlichkeit 398<br />

3.2 Persönlichkeit im Erwachsenenalter 400<br />

3.2.1 Strukturelle Stabilität 401<br />

3.2.2 Relative Stabilität 401<br />

3.2.3 Niveaustabilität 401<br />

XVI<br />

Inhalt


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3.2.4 Profilstabilität 402<br />

3.2.5 Persönlichkeit und erfolgreiche Entwicklung 402<br />

3.2.6 Stabilität ist nicht alles 403<br />

3.3 Selbstkonzeptionen und Selbst-regulative Prozesse 404<br />

3.3.1 Plurale Selbst-Struktur 404<br />

3.3.2 Themen und Motive als Entwicklungsziele: Altersunterschiede in Auswahl 404<br />

und Priorisierung<br />

3.3.3 Soziale und temporale Vergleichsprozesse 405<br />

3.3.4 Bewältigungsverhalten (Coping) 406<br />

Teil III<br />

Entwicklung einzelner Funktionen 411<br />

Kapitel 11<br />

Entwicklung der Wahrnehmung und Psychomotorik 413<br />

Friedrich Wilkening · Horst Krist<br />

1 Riechen, Schmecken und die Hautsinne 414<br />

2 Hören 416<br />

3 Sehen 418<br />

3.1 Sehschärfe und Kontrastsensitivität 418<br />

3.2 Distanzwahrnehmung 419<br />

4 Form- und Objektwahrnehmung 423<br />

4.1 Visuelle Form- und Objektwahrnehmung 423<br />

4.2 Intermodale Wahrnehmung 424<br />

5 Auge-Hand-Koordination 426<br />

5.1 Entwicklung der Auge-Hand-Koordination im ersten Lebensjahr 426<br />

5.2 Weitere Entwicklung der Auge-Hand-Koordination 429<br />

6 Ganzheitliche und analytische Wahrnehmung 432<br />

7 Zusammenfassung 434<br />

Kapitel 12<br />

Entwicklung des Denkens 436<br />

Beate Sodian<br />

1 Piagets Theorie der Denkentwicklung 437<br />

1.1 Das sensumotorische Stadium 438<br />

1.2 Das voroperatorische Stadium 439<br />

1.3 Das konkret-operatorische Stadium (7 bis 12 Jahre) 442<br />

1.4 Das formal-operatorische Stadium (ab 12 Jahren) 443<br />

Inhalt<br />

XVII


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2 Kritik an Piaget: Die kognitiven Kompetenzen junger Kinder 443<br />

2.1 Der kompetente Säugling: Objektpermanenz 444<br />

2.2 Kognitive Kompetenzen im Vorschulalter 445<br />

2.2.1 Egozentrismus 446<br />

2.2.2 Kausales Denken 447<br />

3 Informationsverarbeitungsansätze 448<br />

3.1 Kapazität der Informationsverarbeitung und<br />

Neo-Piaget-Theorien der kognitiven Entwicklung 449<br />

3.2 Alternative Informationsverarbeitungstheorien 450<br />

3.3 Theorie dynamischer Systeme 451<br />

3.4 Entwicklung des Problemlösens und des schlussfolgernden Denkens 452<br />

3.5 Analoges Denken und Problemlösen 455<br />

3.6 Deduktives Denken 456<br />

3.7 Wissenschaftliches Denken 457<br />

3.8 Entwicklung schulischer Fähigkeiten 459<br />

3.8.1 Schriftspracherwerb 460<br />

3.8.2 Arithmetik 461<br />

4 Theorien der Entwicklung domänenspezifischen begrifflichen Wissens 462<br />

4.1 Numerisches Wissen 464<br />

4.2 Intuitive Physik 466<br />

4.2.1 Kernwissen 466<br />

4.2.2 Entwicklung physikalischen Wissens in der Kindheit 469<br />

4.2.3 Misskonzepte und Wissensdissoziationen 469<br />

4.2.4 Intuitive Theorien 470<br />

4.3 Intuitive Psychologie (Theory of Mind) 471<br />

4.3.1 Kernwissen 471<br />

4.3.2 Entwicklung der Theory of Mind im Altersbereich zwischen drei und fünf Jahren 473<br />

4.4 Intuitive Biologie 476<br />

5 Zusammenfassung 478<br />

Kapitel 13<br />

Entwicklung des Gedächtnisses bei Kindern und Jugendlichen 480<br />

Wolfgang Schneider · Gerhard Büttner<br />

1 Frühe Kindheit 480<br />

1.1 Gedächtnis bei Säuglingen und Kleinkindern 480<br />

1.2 Gedächtnis im Vorschulalter 483<br />

1.2.1 Entwicklung des Kurzzeitgedächtnisses 483<br />

1.2.2 Entwicklung des Langzeitgedächtnisses 484<br />

2 Gedächtnisentwicklung zwischen 5 und 15 Jahren 484<br />

2.1 „Determinanten“ des Gedächtnisses 484<br />

2.1.1 Gedächtniskapazität 484<br />

2.1.2 Gedächtnisstrategien 486<br />

XVIII<br />

Inhalt


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2.2 Wissen und Gedächtnis 490<br />

2.2.1 Inhaltswissen und Gedächtnis 490<br />

2.2.2 Metagedächtnis 492<br />

3 Neuere Forschungstrends 495<br />

3.1 Konsistenz und Stabilität von Gedächtnisleistungen 495<br />

3.2 Fuzzy-Trace-Theorie 496<br />

3.3 Langfristiges Vergessen und Erinnern 497<br />

3.4 Implizites vs. explizites Gedächtnis 497<br />

3.5 Autobiographisches Gedächtnis und Augenzeugen-Forschung 498<br />

3.5.1 Autobiographisches Gedächtnis 498<br />

3.5.2 Gedächtnisleistungen von Augenzeugen 499<br />

4 Zusammenfassung 501<br />

Kapitel 14<br />

Sprachentwicklung 502<br />

Sabine Weinert · Hannelore Grimm<br />

1 Sprache und Spracherwerbsaufgabe 502<br />

1.1 Komponenten der Sprache: Was muss das Kind erwerben? 502<br />

1.2 Spracherwerbsaufgabe: Fragen und ungelöste Probleme 504<br />

2 Die wichtigsten Meilensteine der Sprachentwicklung 505<br />

2.1 Phonologisch-prosodische Entwicklung 505<br />

2.1.1 Rezeptive phonologisch-prosodische Entwicklung 505<br />

2.1.2 Produktive phonologische Entwicklung: Von den Sprachlauten zur Wortproduktion 509<br />

2.2 Lexikalische Entwicklung 510<br />

2.2.1 Hauptschritte des Wortschatzerwerbs 510<br />

2.2.2 Übergeneralisierungen und Überdiskriminierungen 511<br />

2.2.3 Schneller Worterwerb für Objekte und Eigenschaften 511<br />

2.2.4 Schneller Erwerb von Verben 514<br />

2.2.5 Fazit: Drei Hauptphasen der lexikalischen Entwicklung 515<br />

2.3 Von den Wörtern zur Satzproduktion 515<br />

2.3.1 Zwei- und Dreiwortäußerungen 516<br />

2.3.2 Grammatikerwerb als konstruktiver Prozess 517<br />

2.4 Der Weg zur pragmatischen Kompetenz 520<br />

3 Das Erklärungsproblem 521<br />

4 Voraussetzungen und Bedingungen für einen erfolgreichen Spracherwerb 524<br />

4.1 Spracherwerb als biologisch fundierter, eigenständiger Phänomenbereich 524<br />

4.2 Kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs: Wirkungen und Rückwirkungen 526<br />

4.2.1 Kognitiv-konzeptuelle Entwicklung und Erwerb sprachlicher Bedeutungen 527<br />

4.2.2 Phonologische Gedächtnisfähigkeiten 527<br />

4.2.3 Implizite Lernfähigkeiten und Sensitivität gegenüber prosodischen Strukturen<br />

und korrelativen Zusammenhängen 528<br />

Inhalt<br />

XIX


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4.3 Sozial-kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs 529<br />

4.4 Sozial-kommunikative Voraussetzungen des Spracherwerbs 530<br />

5 Zusammenfassung 534<br />

Kapitel 15<br />

Tätigkeitsregulation und die Entwicklung von Motivation, Emotion, Volition 535<br />

Manfred Holodynski · Rolf <strong>Oerter</strong><br />

1 Theoretische Grundlegung 535<br />

1.1 Komponenten der Tätigkeitsregulation 535<br />

1.2 Voraussetzungen der Tätigkeitsregulation 536<br />

1.3 Systemebenen der Tätigkeitsregulation 537<br />

1.4 Kulturhistorische Entwicklungsbedingungen der Tätigkeitsregulation 539<br />

2 Die Entwicklung der Motivation: Interesse und Leistung 540<br />

2.1 Neugier und Interesse 540<br />

2.1.1 Entwicklungsfunktion von Neugier und Interesse 540<br />

2.1.2 Anfänge der Interessenbildung 542<br />

2.1.3 Vier Entwicklungswege der Interessenbildung 543<br />

2.1.4 Entwicklungsetappen der Interessenbildung 544<br />

2.2 Entwicklung der Leistungsmotivation 546<br />

2.2.1 Was ist Leistungsmotivation? 547<br />

2.2.2 Leistungsmotivation als Selbstbewertungssystem 547<br />

2.2.3 Entwicklungsphasen der Leistungsmotivation 550<br />

2.2.4 Bedingungen der Leistungsmotivationsgenese 553<br />

3 Emotionale Entwicklung 554<br />

3.1 Ontogenetischer Ausgangspunkt: Die Dominanz der interpersonalen Regulation 554<br />

3.2 Säuglings- und Kleinkindalter 555<br />

3.2.1 Entwicklung funktionstüchtiger Emotionen 555<br />

3.2.2 Entwicklung der emotionalen Eindrucksfähigkeit 558<br />

3.3 Kleinkind- und Vorschulalter: Die Entstehung<br />

der intrapersonalen emotionalen Handlungsregulation 558<br />

3.4 Die Entwicklung des Ausdrucks ab dem Vorschulalter 560<br />

3.4.1 Der Gebrauch des Ausdrucks als Display in der interpersonalen Regulation 560<br />

3.4.2 Die Internalisierung von Ausdruckszeichen in der intrapersonalen Regulation 561<br />

4 Die Entwicklung der Handlungs- und Emotionsregulation 562<br />

4.1 Volitionale Handlungsregulation 562<br />

4.1.1 Das Rubikonmodell der Handlungsphasen 562<br />

4.1.2 Sprechen als Mittel der volitionalen Handlungsregulation 563<br />

4.2 Entwicklung der reflexiven Emotionsregulation 565<br />

4.2.1 Emotionsregulationsstrategien 566<br />

4.2.2 Belohnungsaufschub und mentale Zeitreise 568<br />

4.2.3 Wie Kinder Emotionsregulationsstrategien lernen 569<br />

5 Zusammenfassung 570<br />

XX<br />

Inhalt


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Kapitel 16<br />

Moralische Entwicklung und Sozialisation 572<br />

Leo Montada<br />

1 Soziale Normen, Geltungsbegründungen, Normenkonflikte 572<br />

1.1 Soziale Normen 572<br />

1.2 Begründungen moralischer Normen 574<br />

1.3 Normenkonflikte 576<br />

2 Themen entwicklungspsychologischer Moralforschung 577<br />

3 Was sind die Indikatoren normativer Überzeugungen? 578<br />

3.1 Was sind Indikatoren der persönlichen Moral? 579<br />

3.2 Moralische Überzeugungen und moralisches Handeln 580<br />

4 Die Internalisierung moralischer Normen 580<br />

4.1 Normvermittlung durch Konditionierung 581<br />

4.1.1 Klassische Konditionierung 581<br />

4.1.2 Belohnungsentzug (Extinktion) 581<br />

4.1.3 Strafe 581<br />

4.2 Internalisierung durch Identifikation 582<br />

4.3 Normvermittlung durch familiäre Sozialisation 582<br />

4.3.1 Die Wirkung Macht ausübenden Erziehungsverhaltens 583<br />

4.3.2 Strafe durch Liebesentzug 584<br />

4.3.3 Die induktive Erziehung 584<br />

4.4 Normenvermittlung außerhalb der Familie 585<br />

4.5 Entwicklung des moralischen Selbst 586<br />

5 Die Entwicklung des Denkens über Moral 586<br />

5.1 Piagets Theorie der Moralentwicklung 586<br />

5.2 Neuere Forschungen zu Piagets Themen der Moralentwicklung 588<br />

5.3 Entwicklung der Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Schuld 589<br />

5.4 Die Entwicklung der Verteilungsgerechtigkeit und Fairness 592<br />

5.5 Moralische Urteile: Kohlbergs Stufenmodell 593<br />

5.5.1 Angemessenheit des Stufenmodells 596<br />

5.5.2 Entwicklungsstufen des moralischen Urteilens und moralisches Verhalten 598<br />

5.5.3 Zusammenhangshypothesen 598<br />

5.6 „Männliche“ und „weibliche“ Moral? 600<br />

6 Das moralische Selbst 601<br />

6.1 Konsistenz zwischen Urteil und Handeln 601<br />

6.2 Die Funktion des moralischen Selbst 602<br />

7 Zusammenfassung 605<br />

Inhalt<br />

XXI


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Kapitel 17<br />

Entwicklung von Religiosität und Spiritualität 607<br />

Anton A. Bucher · Fritz Oser<br />

1 Traditionelle Ansätze 609<br />

2 Stufen des religiösen Urteils 610<br />

3 Evolutionspsychologische und neurophysiologische Aspekte von Religiosität 613<br />

4 Spiritualität/Religiosität in einzelnen Lebensabschnitten 615<br />

4.1 Kindheit 615<br />

4.2 Jugend 617<br />

4.3 Erwachsenenalter 618<br />

4.4 Höheres Erwachsenenalter 619<br />

5 Problematische Wege religiöser Entwicklung 620<br />

6 Zusammenfassung 623<br />

Kapitel 18<br />

Entwicklung der Geschlechtsidentität 625<br />

Hanns Martin Trautner<br />

1 Einleitung 625<br />

1.1 Bedeutung des Geschlechts für Individuum und Gesellschaft 625<br />

1.2 Die Geschlechtsvariable in der psychologischen Forschung 626<br />

1.2.1 Individuelles Merkmal 627<br />

1.2.2 Soziale Kategorie und Stimulusvariable 627<br />

1.2.3 Dimension der Selbstwahrnehmung und Informationsverarbeitung 628<br />

2 Die Geschlechtsidentität als Teilaspekt der individuellen Geschlechtstypisierung 628<br />

2.1 Huston-Matrix 629<br />

2.2 Individuelle konstitutive Elemente des Selbstkonzepts 631<br />

3 Die Entwicklung der Geschlechtsidentität über die Lebensspanne 633<br />

3.1 Entwicklung der Geschlechtsidentität in der Kindheit 634<br />

3.1.1 Null bis zwei Jahre 634<br />

3.1.2 Drei bis sechs Jahre 635<br />

3.1.3 Sieben bis elf Jahre 636<br />

3.2 Geschlechtsidentität in der Adoleszenz 638<br />

3.3 Geschlechtsidentität im Erwachsenenalter 640<br />

4 Erklärungsansätze für die Entwicklung der Geschlechtsidentität 642<br />

4.1 Biologische Ansätze 643<br />

4.1.1 Chromosomale, hormonelle und neuronale Grundlagen 643<br />

4.1.2 Evolutionäre Grundlagen der Geschlechterdifferenzierung 643<br />

4.2 Sozialisationstheoretische Ansätze 644<br />

4.2.1 Bekräftigungstheorie 644<br />

4.2.2 Imitationstheorie 645<br />

XXII<br />

Inhalt


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4.3 Kognitive Ansätze 647<br />

4.3.1 Die Theorie Kohlbergs 647<br />

4.3.2 Geschlechtsschema-Theorien 647<br />

5 Schlussfolgerungen und Ausblick 649<br />

6 Zusammenfassung 650<br />

Kapitel 19<br />

Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung über die Lebensspanne 652<br />

Günter Krampen · Werner Greve<br />

1 Entwicklungspsychologische Fragestellungen der Persönlichkeitspsychologie 652<br />

2 Theoretische Ansätze und Konzepte im Überblick 656<br />

3 Persönlichkeitsentwicklung in Sicht faktorenanalytischer Ansätze 657<br />

4 Psychodynamische Ansätze zur Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung 661<br />

4.1 Die Persönlichkeitsentwicklung nach Freud 662<br />

4.2 Die Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung nach Erikson 665<br />

4.3 Identitätsentwicklungs-Zustände nach Marcia 666<br />

5 Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung aufgrund von Entwicklungsaufgaben<br />

und kritischer Lebensereignisse 669<br />

6 Sozialkognitive und handlungstheoretische Ansätze<br />

der Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung 673<br />

6.1 Die Soziale Lerntheorie der Persönlichkeit nach J. B. Rotter 674<br />

6.2 Ein Handlungstheoretisches Partialmodell der Persönlichkeitsentwicklung 677<br />

6.3 Kontrolltheoretische Modelle der Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung 684<br />

7 Ausblick 686<br />

Teil IV<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong> in Praxisfeldern 687<br />

Kapitel 20<br />

Bindung, Bindungsdesorganisation und Bindungsstörungen in der frühen Kindheit:<br />

Entwicklungsbedingungen, Prävention und Intervention 689<br />

Peter Zimmermann · Gottfried Spangler<br />

1 Grundlagen der Bindungstheorie 689<br />

2 Organisierte Bindungsmuster, Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung 691<br />

3 Einflussfaktoren auf die Entstehung von Bindungsunterschieden,<br />

Bindungsdesorganisation und Bindungsstörungen 695<br />

4 Kontinuität und Konsequenzen von Bindungsorganisation, Bindungsdesorganisation<br />

und Bindungsstörungen 697<br />

Inhalt<br />

XXIII


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5 Intervention bei Bindungsunsicherheit, Bindungsdesorganisation<br />

und Bindungsstörungen 700<br />

6 Zusammenfassung 703<br />

Kapitel 21<br />

Elternschaft und Kleinkindbetreuung 705<br />

Axel Schölmerich · Birgit Leyendecker<br />

1 Elternschaft 705<br />

1.1 Traditionelle und nichttraditionelle Familien 705<br />

1.2 Einflussfaktoren für Paarbeziehungen und Elternschaft 706<br />

1.3 Geburten und Familienstatus 706<br />

1.3.1 Assistierte Befruchtung 707<br />

1.3.2 Juristische Definition der Elternschaft 707<br />

1.3.3 Nichteheliche Geburten 707<br />

1.3.4 Patchworkfamilien 707<br />

1.3.5 Gleichgeschlechtliche Elternschaft 708<br />

1.3.6 Adoption und Pflegeelternschaft 708<br />

2 Kleinkindbetreuung 710<br />

2.1 Leitfragen für die Betreuung von Kleinkindern 710<br />

2.2 Familiäre und außerfamiliäre Betreuung 711<br />

2.2.1 Betreuung durch Mutter und Vater 711<br />

2.2.2 Betreuung durch Verwandte 711<br />

2.2.3 Kindertagespflege 711<br />

2.2.4 Private Betreuungsverhältnisse 712<br />

2.2.5 Krippen 712<br />

2.3 Qualitätskriterien 713<br />

2.4 Konsequenzen außerfamiliärer Betreuung 713<br />

2.4.1 Konsequenzen für die emotionale Entwicklung 714<br />

2.4.2 Konsequenzen für die kognitive Entwicklung und Sprachentwicklung 715<br />

2.5 Unterschiedliche Aufgaben für Eltern und Betreuer? 716<br />

3 Zusammenfassung 717<br />

Kapitel 22<br />

Vorschulische Förderung 719<br />

Ulrich Schmidt-Denter<br />

1 Epochale Trends der Entwicklungsförderung im Elementarbereich 719<br />

2 Frühförderung und Evaluationskriterien 721<br />

3 Förderprogramme und ihre Effektivität 721<br />

3.1 Frühlesen und Prävention von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten 721<br />

3.2 Sprachförderung 724<br />

3.3 Intelligenzförderung und Denktraining 726<br />

XXIV<br />

Inhalt


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3.4 Der konstruktivistische Förderansatz 728<br />

3.5 Schulvorbereitung, Schulerfolg und Langzeitwirkungen 729<br />

4 Förderbedingungen und Kontextfaktoren 731<br />

5 Möglichkeiten und Grenzen vorschulischer Förderung 733<br />

6 Zusammenfassung 734<br />

Kapitel 23<br />

Entwicklung schulischer Leistungen 735<br />

Olaf Köller · Jürgen Baumert<br />

1 Die Verankerung von Schulleistungen in psychologischen Theorien 736<br />

2 Die Entwicklung von Schulleistungen in der Kindheit und im Jugendalter 739<br />

2.1 Lerngelegenheiten und Leistungsentwicklung 739<br />

2.2 Definition von schulischen Kompetenzniveaus 742<br />

3 Fähigkeitsgruppierungen und Schulleistungsentwicklung 747<br />

3.1 Leistungsdifferenzierung in der Sekundarstufe 747<br />

3.2 Kosten der Leistungsdifferenzierung im Sekundarbereich 751<br />

4 Schulleistungen – Leistungen der Schule oder des Schülers? 753<br />

5 Schulleistungsentwicklung in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft<br />

der Schülerinnen und Schüler 756<br />

6 Das Zusammenspiel der Entwicklungsverläufe<br />

von Schulleistungen und Intelligenz, Selbstkonzepten und Interessen 758<br />

6.1 Schulleistungsentwicklung und Intelligenzentwicklung 759<br />

6.2 Schulleistungsentwicklung und die Entwicklung von Fähigkeitsselbstkonzepten<br />

und schulischen Interessen 760<br />

7 Methodische Probleme bei der Untersuchung von Schulleistungen<br />

und deren Entwicklung 762<br />

7.1 Zur curricularen Validität von Schulleistungstests 763<br />

7.2 Probleme bei der statistischen Modellierung von schulischen Entwicklungsverläufen 763<br />

7.3 Die Rolle des Antwortformats in Schulleistungsstudien 764<br />

7.4 Zur Dimensionalität von Schulleistungen bzw. Schulleistungstests 765<br />

8 Zusammenfassung 768<br />

Kapitel 24<br />

Lernstörungen in Teilleistungsbereichen 769<br />

Marcus Hasselhorn · Claudia Mähler · Dietmar Grube<br />

1 Definition und Kriterien 769<br />

1.1 Diagnostische Kriterien 769<br />

1.2 Differentialdiagnostische Abgrenzungen 769<br />

Inhalt<br />

XXV


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2 Lese-/Rechtschreibstörungen 770<br />

2.1 Merkmale 770<br />

2.2 Prävalenz 770<br />

2.3 Ursachen 771<br />

2.4 Diagnostik 772<br />

2.5 Prävention und Intervention 772<br />

3 Rechenstörung 773<br />

3.1 Merkmale 774<br />

3.2 Prävalenz 774<br />

3.3 Ursachen 774<br />

3.4 Diagnostik 775<br />

3.5 Prävention und Intervention 775<br />

4 Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten 776<br />

4.1 Merkmale 776<br />

4.2 Prävalenz 776<br />

4.3 Ursachen 776<br />

4.4 Diagnostik 777<br />

4.5 Prävention und Intervention 777<br />

5 Zusammenfassung 777<br />

Kapitel 25<br />

Begabung, Expertise und Hochleistungen 779<br />

Rolf <strong>Oerter</strong><br />

1 Begabtheit (Talent) als stabiles Merkmal 779<br />

2 Dynamische Theorie von Begabtheit bzw. Talent 782<br />

3 Expertise und Deliberate Practice 784<br />

3.1 Expertise 784<br />

3.2 Übungsaufwand und Hochleistung 785<br />

3.3 Qualität der Deliberate Practice 785<br />

3.4 Zeitpunkt des Beginns der Deliberate Practice 786<br />

3.5 Entwicklung zum Experten 787<br />

4 Begabtheit als sich entwickelnde Expertise 787<br />

5 Expertise und Kreativität 790<br />

5.1 Einige Bedingungen für Kreativität 791<br />

5.2 Kreative Prozesse 792<br />

6 Die Entwicklung von Hochleistungen als Enkulturations- und Sozialisationsprozess 794<br />

6.1 Enkulturation 795<br />

6.2 Persönlichkeitsmerkmale von „Hochbegabten“ 796<br />

6.3 Die Rolle der Familie 798<br />

XXVI<br />

Inhalt


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6.4 Der Übergang zu selbstverantwortlicher Hingabe an Musik und Sport 799<br />

6.5 Resümee: Etappen in der Entwicklung zu Hochleistungen in Musik und Sport 799<br />

7 Probleme der Hochleistung 800<br />

7.1 Burnout und Staleness 800<br />

7.2 Kulturell bedingte Einseitigkeiten von Hochleistungen 801<br />

8 Zusammenfassung 802<br />

Kapitel 26<br />

Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch von Kindern 803<br />

Jochen Hardt · Anette Engfer<br />

1 Methodische Vorüberlegungen 803<br />

2 Vernachlässigung 805<br />

2.1 Häufigkeit und Dunkelziffer 806<br />

2.2 Erklärungsmodelle 806<br />

2.3 Intervention 807<br />

3 Körperliche Misshandlung und Prügel 808<br />

3.1 Häufigkeit und Dunkelziffer 809<br />

3.2 Erklärungsmodelle 809<br />

3.3 Auswirkungen 811<br />

3.4 Intervention 811<br />

4 Sexueller Missbrauch 812<br />

4.1 Häufigkeit und Dunkelziffer 813<br />

4.2 Opfer des sexuellen Missbrauchs 815<br />

4.3 Täter und Täterinnen 816<br />

4.4 Erklärung des sexuellen Missbrauchs 816<br />

4.5 Diagnostik des sexuellen Missbrauchs 817<br />

4.6 Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs 817<br />

4.7 Intervention bei sexuellem Missbrauch 820<br />

5 Zusammenfassung 821<br />

Kapitel 27<br />

Gesundheit als aktiver Gestaltungsprozess im menschlichen Lebenslauf 822<br />

Inge Seiffge-Krenke<br />

1 Erfahrungen mit Gesundheit und Krankheit 822<br />

1.1 Objektiver Gesundheitszustand von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und<br />

alten Menschen 822<br />

1.2 Subjektiver Gesundheitszustand und Wohlbefinden 823<br />

Inhalt<br />

XXVII


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2 Konzeptualisierungen von Gesundheit 824<br />

2.1 Krankheits- und Gesundheitskonzepte 825<br />

2.2 Wohlbefinden und Körperkonzept über die Lebensspanne 826<br />

3 Familie und Gesundheitsförderung 827<br />

3.1 Gesundheitsbewusste Ernährung 827<br />

3.2 Körperliche Aktivitäten und Sport 828<br />

4 Entwicklung und Veränderung von Risikoverhalten 829<br />

5 Auseinandersetzung mit Belastungen 830<br />

5.1 Typen von Stressoren 830<br />

5.2 Coping und Adaptation 831<br />

5.3 Soziale Unterstützung 832<br />

6 Entwicklungsbezogene Prävention und Intervention 833<br />

7 Zusammenfassung 836<br />

Kapitel 28<br />

Delinquenz und antisoziales Verhalten im Jugendalter 837<br />

Werner Greve · Leo Montada<br />

1 Begriffe und Erfassungsmethoden 837<br />

2 Ansätze zur Analyse von Straftaten und anderem antisozialen Verhalten 839<br />

2.1 Handlungsanalysen 839<br />

2.2 Handlungsanalysen und Fragen nach Bedingungen 841<br />

2.3 Bedingungsanalysen und Erklärungen 841<br />

2.4 Unser Bedingungswissen ist unvollständig und unsicher 843<br />

3 Schutz- und Risikofaktoren 843<br />

3.1 Taugen Korrelate der Delinquenz zur Delinquenzprognose? 843<br />

3.2 Genetische, biologische Risikobedingungen 845<br />

3.3 Soziale Risikobedingungen 846<br />

3.4 Vermittelnde Prozesse: Protektive und Risikofaktoren für Antisozialität 846<br />

4 Delinquenz und Lebensalter 847<br />

4.1 Jugenddelinquenz 847<br />

4.2 Persistente und jugendtypische Jugenddelinquenz 848<br />

5 Entwicklungsinterventionen: Sanktion und Prävention 851<br />

5.1 Strafrechtliche Verantwortlichkeit 852<br />

5.2 Jugendstrafrecht: Strafe als Entwicklungsintervention? 852<br />

5.3 Prävention: Vorbeugen ist besser als Strafen 854<br />

6 Entwicklungsfolgen krimineller Bedrohungs- und Opfererfahrungen 856<br />

7 Zusammenfassung 857<br />

XXVIII<br />

Inhalt


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Kapitel 29<br />

Akkulturation und Entwicklung: Jugendliche Immigranten 859<br />

Eva Schmitt-Rodermund · Rainer K. Silbereisen<br />

1 Zahlen, Daten, Fakten: Immigranten in Deutschland 859<br />

2 Modelle psychologischer Akkulturation 860<br />

2.1 Akkulturationsorientierungen 860<br />

2.2 Prozessmodelle 861<br />

2.3 Entwicklungssensitive Designs 863<br />

3 Folgen von Migration und Minoritätenstatus 864<br />

3.1 Befinden und Gesundheit 864<br />

3.2 Schule und Beruf 867<br />

3.3 Delinquenz 868<br />

3.4 Familie, Einstellungen, Verhalten 870<br />

4 Zusammenfassung 872<br />

Kapitel 30<br />

Jugend und Politik<br />

Anpassung – Partizipation – Extremismus 874<br />

Siegfried Preiser<br />

1 Politisches Bewusstsein und politisches Handeln als Entwicklungsaufgabe 874<br />

2 Grundbegriffe 875<br />

3 Jugend und Politik – Situationsbeschreibung 876<br />

4 Betrachtungsebenen und Erklärungsansätze 878<br />

5 Stabilität und Wandel 880<br />

6 Konsequenzen: Förderung, Prävention und Intervention 882<br />

7 Zusammenfassung 883<br />

Kapitel 31<br />

Medien und Entwicklung 885<br />

Ulrike Six<br />

1 Relevanz und Eingrenzung des Themas 885<br />

2 Quantitative Aspekte der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen 886<br />

3 Die Komplexität von Folgenabschätzungen 892<br />

3.1 Verhalten und Handeln in der Medienumgebung 893<br />

3.1.1 Medienbezogene Verhaltens- und Handlungsmuster 893<br />

3.1.2 Verhalten und Handeln im Kontext einer akuten Mediennutzungssituation 894<br />

3.2 Bedingungen und Einflussfaktoren 894<br />

4 Funktionen und Motive der Mediennutzung 896<br />

Inhalt<br />

XXIX


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5 Aufnahme und Verarbeitung von Medieninhalten 899<br />

5.1 Rezeptions- und Aufmerksamkeitsprozesse 900<br />

5.2 Verstehen und Speichern von Medieninhalten 901<br />

5.3 Medialitätsbewusstsein und Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion 902<br />

5.4 Perspektivenübernahme 903<br />

6 Ergebnisse und Folgen der Mediennutzung 904<br />

6.1 Werbewirkungen 904<br />

6.2 Wirkungen gewalthaltiger Medienangebote 904<br />

6.3 Prosoziale Medienwirkungen 906<br />

6.4 Medienwirkungen auf Wissen und Fähigkeiten 906<br />

6.4.1 Positive Wirkungen bestimmter Medienangebote 906<br />

6.4.2 Negative Wirkungen eines zu hohen Nutzungsquantums 906<br />

6.5 Ergebnisse und Folgen der Nutzung von Unterhaltungsangeboten 906<br />

6.6 Physiologische und emotionale Medienwirkungen 907<br />

6.7 „Kultivierung“ und Einflüsse auf die persönliche und soziale Identität 907<br />

6.8 Auswirkungen auf Freizeitverhalten und Gesundheit 907<br />

7 Zusammenfassung 908<br />

Kapitel 32<br />

Bewältigung und Entwicklung 910<br />

Werner Greve<br />

1 Bewältigung: Wovon ist die Rede? 910<br />

1.1 Bewältigung von Belastungen 910<br />

1.2 Bewältigung von Gefühlen 911<br />

1.3 Bewältigung von Ereignissen 911<br />

1.4 Aufbau des Kapitels 911<br />

2 Individuelle und soziale Bewältigungsformen 912<br />

2.1 Psychoanalytische Bewältigungstheorien 912<br />

2.2 Kognitiv-transaktionaler Ansatz 912<br />

2.3 Entlastende Funktion sozialer Vergleiche 914<br />

2.4 Bewältigung und Kontrolle 915<br />

2.5 Bewältigung im sozialen Kontext 915<br />

3 Bewältigung als Entwicklungsprodukt 916<br />

3.1 Kontrolle will gelernt sein 917<br />

3.2 Bewältigung und Identität 917<br />

3.3 Prozesse des Selbst stabilisieren die Persönlichkeit 918<br />

4 Bewältigung des Alterns 918<br />

5 Zwei-Prozess-Modell der Entwicklungsregulation 920<br />

5.1 Assimilative Strategien: Intentionale Selbstentwicklung 920<br />

5.2 Akkommodative Prozesse: Entwicklung als Adaptation 920<br />

5.3 Defensive Reaktion: Ausweg oder Umweg? 921<br />

XXX<br />

Inhalt


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6 Resilienz und Entwicklung 923<br />

6.1 Resilienz: Normale Entwicklung trotz unnormaler Bedingungen 923<br />

6.2 Resilienz: Mehr als protektive Ressourcen 923<br />

6.3 Wie entsteht Resilienz? 923<br />

6.4 Resilienz als Konstellation 924<br />

6.5 Entwicklung und Bewältigung 924<br />

6.6 Wann ist Bewältigung erfolgreich? 924<br />

7 Zusammenfassung 925<br />

Kapitel 33<br />

Produktives Leben im Alter: Aufgaben, Funktionen und Kompetenzen 927<br />

Ursula M. Staudinger · Ines Schindler<br />

1 Produktives Leben im Alter: ein Widerspruch? 927<br />

2 Psychologische Produktivität: eine Begriffsbestimmung 927<br />

2.1 Was ist Produktivität? 927<br />

2.2 Wem nutzt Produktivität? 928<br />

2.3 Welches Ziel hat Produktivität? 928<br />

2.4 Kann man Produktivität messen? 930<br />

2.5 Zeiteinheiten von Produktivität 930<br />

2.6 Woher kommt Produktivität? 930<br />

3 Produktivitätskonfigurationen des Alter(n)s:<br />

Hilft das Konzept der Entwicklungsaufgaben? 931<br />

4 Psychologische Produktivität im Alter 932<br />

4.1 Interindividuelle Unterschiede 932<br />

4.2 Das gesellschaftliche Altersbild beeinflusst Produktivitätspotentiale 933<br />

4.3 Psychologische Produktivität im Alter ist beeinflussbar 935<br />

5 Der alte Mensch in seinem Kontext und als Kontext für andere 935<br />

6 Ausgewählte Forschungsbefunde zur Produktivität im Alter 938<br />

6.1 Empirische Beispiele geistiger Produktivität im Alter 938<br />

6.1.1 Erfahrungswissen 939<br />

6.1.2 Weisheit 941<br />

6.1.3 Kreativität 943<br />

6.2 Empirische Befunde zur Produktivität von Selbst und Persönlichkeit im Alter 944<br />

6.2.1 Realismus der Selbsteinschätzung 944<br />

6.2.2 Psychologische Widerstandsfähigkeit im Alter 944<br />

6.3 Empirische Befunde zur Produktivität im Bereich sozialer Beziehungen im Alter 946<br />

6.3.1 Leisten alte Menschen soziale Unterstützung? 946<br />

6.3.2 Positive Auswirkungen der von alten Menschen geleisteten sozialen Unterstützung 947<br />

6.3.3 Spielen Großeltern eine besondere Rolle? 947<br />

6.3.4 Intergenerationelle Beziehungen 948<br />

Inhalt<br />

XXXI


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6.4 Empirische Befunde zu Tätigkeitsformen im Alter 948<br />

6.4.1 Welche Tätigkeitsformen gibt es im Alter? 948<br />

6.4.2 Welche Tätigkeiten üben welche älteren Menschen aus? 949<br />

6.4.3 Der Nutzen solcher Tätigkeiten für Gesellschaft und Individuum 951<br />

6.4.4 Wollen ältere Menschen tätig sein? 952<br />

7 Zusammenfassung 954<br />

Anhang<br />

Inhalt der beiliegenden CD-ROM<br />

Denkanstöße<br />

Zusammenfassungen<br />

Definition<br />

Anleitung zur Benutzung der CD-ROM 956<br />

Glossar 957<br />

Autorenverzeichnis 977<br />

Literaturverzeichnis 979<br />

Personenverzeichnis 1061<br />

Sachwortverzeichnis 1074<br />

Bildnachweis 1087<br />

XXXII<br />

Inhalt


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Teil I<br />

Grundlagen<br />

der <strong>Entwicklungspsychologie</strong>


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte, Perspektiven<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Leo Montada<br />

1 Konzeptionen der Entwicklung<br />

In der gut hundertjährigen Geschichte der empirischen<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong> hat es unterschiedliche<br />

Forschungstraditionen mit unterschiedlichen<br />

Fragestellungen und Konzeptionen der Entwicklung<br />

gegeben (vgl. z. B. Cairns, 1998; Trautner, 1991). Alle<br />

waren mit Veränderungen im Lebenslauf befasst.<br />

Welche Veränderungen sind als Entwicklung anzusehen,<br />

welche nicht? Zunächst werden zwei traditionelle<br />

Konzeptionen der Entwicklung dargestellt:<br />

Entwicklung als Abfolge von Phasen und Stufen. Die<br />

empirische Forschung dazu war auf die Ermittlung<br />

allgemeiner Veränderungen beschränkt. Die Untersuchung<br />

differentieller und kontextabhängiger Entwicklungen<br />

blieb der modernen <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

vorbehalten.<br />

1.1 Entwicklung als allgemeine Abfolge<br />

von Phasen oder Stufen<br />

Entwicklungsphasen. Karl Bühler (1918) hat das<br />

traditionelle Phasenkonzept populär gemacht mit<br />

einer Alterstypologie für das Kindesalter – der Greifling,<br />

der Läufling, das Schimpansenalter, das Alter<br />

der Namensfragen und der Warumfragen, das Märchenalter,<br />

die Schulreife. Das wurde auch auf das<br />

Jugendalter und das Erwachsenenalter ausgedehnt,<br />

etwa durch Charlotte Bühler (1933). Das deskriptive<br />

Suchbild waren Besonderheiten der Phasen, die es<br />

früher und später nicht gibt. Das theoretische Suchbild<br />

war es, die Funktion und den Sinn jeder Phase<br />

zu ermitteln, etwa im Hinblick auf eine immanente<br />

Entwicklungsrichtung. Die heute bekannteste Gliederung<br />

des Lebenslaufs in Phasen oder Stadien hat<br />

Erikson konzipiert (s. Abschn. 3.5.1).<br />

Entwicklungsstufen. Im Konzept der Entwicklungsstufen<br />

werden zusätzlich zum Phasenkonzept<br />

die Notwendigkeit der Stufenfolge und ein Endoder<br />

Reifestadium angenommen. Von Entwicklungsstufen<br />

wird gesprochen,<br />

wenn eine Veränderungsreihe mit mehreren<br />

Schritten vorliegt,<br />

die eine Richtung auf einen End- oder Reifezustand<br />

aufweist,<br />

der gegenüber dem Ausgangszustand höherwertig<br />

ist,<br />

deren Schritte unumkehrbar (irreversibel) sind,<br />

was mit der Überlegenheit der höheren Stufe<br />

erklärbar ist,<br />

deren Stufen als qualitative, strukturelle Transformationen<br />

im Unterschied zu nur quantitativem<br />

Wachstum beschreibbar sind.<br />

Die früheren Stufen werden als Voraussetzung der<br />

jeweils nachfolgenden angesehen. Die Veränderungen<br />

sind mit dem Lebensalter korreliert. Sie werden<br />

als universell in dem Sinne angesehen, dass sie in<br />

allen für die Spezies „Homo sapiens“ normalen Entwicklungsumwelten<br />

auftreten, insofern natürlich<br />

und nicht kulturgebunden sind. Oft wird von der<br />

Entfaltung eines inneren Bauplanes gesprochen, die<br />

allerdings eines normalen Kontextes bedarf. Ein klassisches<br />

Beispiel ist die Entwicklung der Motorik bis<br />

zum Laufen im ersten Lebensjahr (Abb. 1.1, S. 4).<br />

Im vorliegenden Buch sind manche Veränderungsreihen<br />

in der Kindheit und Jugend beschrieben,<br />

die mehrere dieser Merkmale aufweisen: Entwicklungen<br />

sensumotorischer (Kap. 6 und 12), sprachlicher<br />

(Kap. 14), kognitiver Leistungen (Kap. 7, 12 und 13),<br />

1.1 Entwicklung als allgemeine Abfolge von Phasen oder Stufen 3


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Abbildung 1.1. Entwicklung des motorischen Verhaltens<br />

in den ersten 60 Lebenswochen. Durchschnittswerte des<br />

Erwerbs der Fähigkeiten aus mehreren Untersuchungen<br />

moralischen Denkens (Kap. 16) und religiöser Überzeugungen<br />

(Kap. 17).<br />

Diese Entwicklungskonzeptionen sind aber viel<br />

zu eng, um alle Fragestellungen und Erkenntnisse<br />

der modernen <strong>Entwicklungspsychologie</strong> aufzunehmen.<br />

Das wird an einer Problematisierung des Stufenmodells<br />

aufgezeigt.<br />

Begrenzungen des Stufenmodells. Alle Elemente<br />

des traditionellen Entwicklungskonzeptes sind zu<br />

problematisieren.<br />

(1) Viele Veränderungen sind nicht als Stufenfolge<br />

oder Abfolge mehrerer auseinander hervorgehender<br />

Schritte beschreibbar, dennoch sprechen<br />

wir von Entwicklung, wenn notwendige oder<br />

disponierende Voraussetzungen in der Person<br />

für eine spezifische Veränderung identifiziert<br />

werden können: Das Leistungsmotiv setzt<br />

voraus, dass das eigene Tun an einem Bewertungsstandard<br />

gemessen und das Ergebnis<br />

auf die eigene Tüchtigkeit zurückgeführt wird<br />

(Kap. 15). Eine unsichere Bindung des Kindes<br />

an die Mutter am Ende des ersten Lebensjahres<br />

lässt soziale Probleme im Kindergarten und später<br />

wahrscheinlicher werden (Kap. 20).<br />

(2) Die Annahme einer Entwicklung zu einem<br />

höheren Niveau oder einem Reifezustand ist<br />

ebenfalls zu einschränkend. Es gibt viele Entwicklungen,<br />

für die keine konsensuellen Wertkriterien<br />

vorliegen. Bezogen auf Fertigkeiten,<br />

Wissen und Kompetenzen wird es leichter gelingen,<br />

einen Konsens über Wertkriterien zu finden,<br />

als z. B. bei der Herausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen,<br />

Wertorientierungen, Interessen,<br />

Einstellungen, Selbstbildern und Weltbildern.<br />

Die Entwicklung „zu mehr Autonomie“<br />

kann von unterschiedlichen Folgen oder Standpunkten<br />

her positiv oder negativ beurteilt werden.<br />

Sollten wir deshalb in diesen Fällen nicht<br />

von Entwicklung reden? Fehlentwicklungen wie<br />

die Entwicklung von Delinquenz (Kap. 28),<br />

psychopathologische Entwicklungen (Kap. 27)<br />

und Abbauprozesse im Alter (Kap. 10 und 33)<br />

blieben aus der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> ausgeschlossen.<br />

(3) Die Konzeption eines universellen Reifezustandes<br />

als Endpunkt von Entwicklungen ist einschränkend:<br />

Veränderungen in psychologischen<br />

Variablen sind während des ganzen Lebens<br />

möglich durch das Zusammenspiel individueller<br />

Dispositionen und Potentiale mit wechselnden<br />

Kontexten, Anforderungen, Informationsangeboten<br />

oder spezifischen Erfahrungen. Zum<br />

Beispiel mögen die Grundkompetenzen zu einfachen<br />

wissenschaftlichen Prüf- und Beweisverfahren<br />

in der späteren Kindheit und frühen<br />

Adoleszenz wenn auch nicht universell, so doch<br />

verbreitet erworben werden, aber damit ist<br />

die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens<br />

nicht generell abgeschlossen: Durch Studium,<br />

lebenslanges Lernen, auch durch historische<br />

Fortschritte der Wissenschaftstheorie und<br />

-methodologie werden diese Grundkompeten-<br />

4 1 Konzeptionen der Entwicklung


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zen differenziert ausgebaut, und sicher nicht<br />

nur im Sinne eines quantitativen Wachstums.<br />

(4) Mit der Einschränkung auf qualitative Veränderungen<br />

soll Entwicklung von quantitativem<br />

Zuwachs unterschieden werden. Das ist analytisch<br />

möglich. Allerdings lassen sich wohl alle<br />

Veränderungen sowohl mit quantitativen als<br />

auch mit qualitativen Dimensionen beschreiben,<br />

die unterschiedliche Aspekte desselben Veränderungsprozesses<br />

erfassen. Zum Beispiel kann<br />

die Entwicklung des Wortschatzes als quantitative<br />

Zunahme der verwendeten oder verstandenen<br />

Wörter oder qualitativ als semantische<br />

Differenzierung und Vernetzung der Wörter, als<br />

begriffliche Strukturierung, als grammatische<br />

oder syntaktisch relevante Kategorisierung von<br />

Wörtern beschrieben werden. Die Intelligenzentwicklung<br />

kann man sowohl quantitativ als<br />

Zunahme lösbarer Aufgaben wie auch qualitativ<br />

als Veränderung der Strukturen des Denkens<br />

und der Strategien des Problemlösens erfassen.<br />

Um auszuschließen, dass es sich um eine Entwicklung<br />

handelt, müsste also nachgewiesen<br />

werden, dass die fragliche Veränderung nicht<br />

qualitativ beschrieben werden kann.<br />

(5) Die Beschränkung der traditionellen <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

auf universelle Veränderungen<br />

ist in verschiedener Hinsicht problematisch.<br />

Erstens sind Universalismushypothesen empirisch<br />

nicht sicher zu belegen, weil immer Varianz<br />

zu beobachten ist und weil wir nicht über<br />

alle gegenwärtig lebenden, schon gar nicht über<br />

alle früheren und künftigen Populationen Daten<br />

haben. Vor allem aber bleiben kulturspezifische,<br />

z. B. durch kulturelle Anforderungen, Normen,<br />

Ideen, Wissensbestände ausgelöste und mitgestaltete<br />

Entwicklungen (vgl. Kap. 4), und differentielle<br />

und individuelle, z. B. durch unterschiedliche<br />

Anlagen und Erfahrungen erzeugte<br />

und mitgestaltete, auch geschlechtstypische<br />

(Kap. 18) sowie außergewöhnliche und pathologische<br />

Entwicklungen (Kap. 25, 27 und 28)<br />

außer Betracht.<br />

Die differentiellen Entwicklungen sind theoretisch<br />

besonders interessant und praktisch besonders<br />

wichtig, theoretisch, weil aus unterschiedlichen Entwicklungsverläufen<br />

Erkenntnisse über Einflussfaktoren<br />

und moderierende Bedingungen gewonnen werden<br />

können, und praktisch, weil dieses Wissen für<br />

die Förderung der Entwicklung und die Prävention<br />

von Fehlentwicklung erforderlich ist.<br />

Denkanstöße<br />

Man hört häufig den Begriff „Trotzphase“, wenn<br />

Kinder im zweiten und dritten Lebensjahr<br />

„widerspenstig“ sind. Unabhängig vom Lebensalter:<br />

Mit welchen Hypothesen kann „Widerspenstigkeit“<br />

erklärt oder verständlich gemacht<br />

werden?<br />

Mit welchen Hypothesen könnte eine „Trotzphase“<br />

erklärt werden, wenn es sie denn<br />

geben sollte?<br />

Welche praktischen Folgerungen wären aus<br />

der „Diagnose“ „Trotzphase“ zu ziehen?<br />

Mit welchen Argumenten könnte die Annahme<br />

einer generellen „Trotzphase“ in Zweifel<br />

gezogen werden?<br />

1.2 Die moderne differentielle und ökologische<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

Phasen- und Stufenmodelle der Entwicklung erweisen<br />

sich vielfach empirisch nicht als zutreffend, und<br />

sie engen den Entwicklungsbegriff in unfruchtbarer<br />

Weise ein.<br />

1.2.1 Erweiterungen des Entwicklungsbegriffs<br />

In den letzten Jahrzehnten wurden die einengenden<br />

Elemente der traditionelle Konzeption von Entwicklung<br />

aufgegeben, woraus sich eine starke Ausweitung<br />

der Themen- und Forschungsfelder der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

ergab, z. B.<br />

von der Entwicklung in Kindheit und Jugend auf<br />

die gesamte Lebensspanne,<br />

von der allgemeinen Entwicklung zu vielen differentiellen<br />

Entwicklungen,<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 5


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

von der normalen Entwicklung zur Entwicklung<br />

von Sondergruppen wie Hochbegabten<br />

(Kap. 24), aber auch von Störungen (Kap. 20 und<br />

27) oder von Delinquenz (Kap. 28),<br />

von der Beschränkung auf Entwicklungen hin<br />

zu Reifezuständen auf alle nachhaltigen Veränderungen<br />

(im Bewusstsein, dass Entwicklungen<br />

nicht nur Gewinne, sondern auch Verluste und<br />

Einschränkungen bedeuten können),<br />

auf alle Veränderungen, die spezifische Entwicklungsvoraussetzungen<br />

(z. B. Dispositionen) haben<br />

oder aus Entwicklungsdefiziten resultieren.<br />

Theoretische wie gegenständliche Erweiterungen<br />

ergaben sich aber auch aus einer zunehmenden Vernetzung<br />

mit anderen Disziplinen wie der Genetik<br />

(Kap. 2), den Neurowissenschaften (Kap. 3), mit<br />

verschiedenen medizinischen Disziplinen (Kap. 6, 10<br />

und 33), mit anderen Sozial- und Kulturwissenschaften<br />

(Kap. 4, 8, 16, 17, 29 und 31), mit Sprachwissenschaften<br />

(Kap. 14) u. a.<br />

Während die allgemeine <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

auf die Beschreibung modaler Veränderungen<br />

bei Kindern und Heranwachsenden beschränkt<br />

blieb, hat die moderne <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

differentielle Veränderungen als Folge der Interaktion<br />

externaler und internaler Faktoren erforscht.<br />

Unterschiede zwischen Kulturen und Subkulturen,<br />

zwischen Familien, Schulen und weiteren Entwicklungskontexten<br />

und individuelle Unterschiede<br />

ermöglichen es, Einflussfaktoren auf die Entwicklung<br />

zu ermitteln. Unter den internalen Faktoren<br />

sind nicht nur Hypothesen über Anlageunterschiede<br />

untersucht worden, sondern auch die Einflüsse von<br />

Dispositionen, Wissen und Kompetenzen, die in der<br />

vorausgegangenen Entwicklung durch Erfahrungen<br />

und in Interaktionen mit den gegebenen Kontexten<br />

entstanden sind.<br />

Die moderne <strong>Entwicklungspsychologie</strong> geht noch<br />

einen Schritt weiter, nachdem sie erkannt hat, dass<br />

Individuen nicht nur durch ihre Entwicklungsumwelt<br />

beeinflusst werden, sondern ihrerseits Einfluss<br />

auf ihre Umwelt nehmen und die ihnen passende<br />

Umwelt suchen und sich somit ihre Entwicklungskontexte<br />

selbst wählen und mitgestalten. Diese<br />

Erkenntnis wird in aktionalen und transaktionalen<br />

Modellen der Entwicklung repräsentiert (s. Abschn.<br />

1.2.2 und 1.2.3).<br />

Diese Grundannahmen bestimmen die Forschungsfragen,<br />

die Wahl von Beschreibungs- und<br />

Erklärungsmodellen, die Datenerhebungs- und Datenauswertungsstrategien,<br />

und sie leiten die Interpretation<br />

der Befunde.<br />

1.2.2 Der Einfluss der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

der Lebensspanne<br />

Besonders einflussreich wurde seit Ende der 1960er<br />

Jahre eine rasch wachsende Gruppe von Autoren, die<br />

unter der programmatischen Thematik <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

der Lebensspanne (life-span developmental<br />

psychology) eine große Zahl konzeptioneller,<br />

methodologischer, analytischer und empirischer<br />

Arbeiten publizierte (z. B. Baltes & Brim,<br />

1978–1984). Einen aktuellen Überblick bieten Baltes,<br />

Lindenberger und Staudinger (2006). Der Aufschwung<br />

der psychologischen Alternsforschung<br />

(Birren & Schaie, 1977; Lehr & Thomae, 1979) und<br />

interdisziplinäre Befruchtung durch die soziologische<br />

Lebenslaufforschung (Mayer, 1993; Riley, 1979)<br />

haben diese Entwicklung gefördert. Die Impulse<br />

durch diese Arbeiten haben die moderne <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

geprägt und sind deshalb mit einigen<br />

wichtigen Themen und Arbeiten etwas ausführlicher<br />

dargestellt.<br />

Entwicklung endet nicht im frühen Erwachsenenalter.<br />

Die traditionelle Konzeption der Entwicklung<br />

hat zwischen einer Phase des Aufbaus oder des<br />

Wachstums, einer Phase der Reife oder Stabilität<br />

und einer Phase des Abbaus im Alter unterschieden.<br />

Diese Generalisierung ist in mehrfacher Hinsicht zu<br />

relativieren. Jede Entwicklung ist immer auch als<br />

Spezialisierung (oder selektive Optimierung) zu<br />

sehen, ist also nicht nur Wachstum und Zugewinn,<br />

sondern bedeutet auch die Vernachlässigung alternativer<br />

Optionen und umfasst insofern auch Verluste<br />

(Baltes & Baltes, 1989). In jedem Alter ist in spezifischen<br />

Feldern Wachstum möglich, z. B. ein Zugewinn<br />

an Wissen, an Expertise in einem beruflichen<br />

Feld und in anderen Feldern, wenn keine Demenz<br />

vorliegt.<br />

6 1 Konzeptionen der Entwicklung


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Ohne Zweifel ist das höhere Lebensalter eine Periode,<br />

in der es typischerweise eine Häufung von Verlusten<br />

gibt:<br />

auf neurobiologischem Niveau (bezüglich der<br />

Sinnesfunktionen, der Motorik, einiger kognitiver<br />

Funktionen, der Körperkraft, bei der Frau der<br />

Reproduktionsfähigkeit),<br />

auf sozialer Ebene (Verlust an Sozialpartnern, an<br />

gesellschaftlichen Aufgaben und Positionen, damit<br />

an Ansehen, schließlich an Selbständigkeit;<br />

vgl. Kap. 10 und 33).<br />

In jedem Alter sind aber neue Erkenntnisse möglich,<br />

z. B. über sich selbst, über andere Menschen, über<br />

Zusammenhänge des sozialen Lebens. Neue Kompetenzen<br />

zur besseren Gestaltung des persönlichen<br />

Lebens und des sozialen Zusammenlebens, zur Bewältigung<br />

von Krisen und Verlusten können erworben<br />

werden. Psychische Störungen können überwunden<br />

werden. Neue Möglichkeiten eines produktiven<br />

Lebens können erkannt und erschlossen<br />

werden, auch in der nachberuflichen und nachfamiliären<br />

Lebensphase (vgl. Kap. 33). Zugewinne an<br />

Lebensweisheit bleibt eine mögliche Wachstumsdimension<br />

auch im höheren Alter (Baltes & Staudinger,<br />

2000).<br />

Solche Entwicklungen sind im mittleren und<br />

höheren Erwachsenenalter nicht generell zu erwarten,<br />

sondern individuell und differentiell, kultur-,<br />

kontextspezifisch, auch abhängig vom Lebensschicksal.<br />

Hochleistungen z. B. erfordern langfristiges<br />

Bemühen (Kap. 25), und es gibt Leistungssteigerungen<br />

auf vielen Gebieten auch in Altersphasen, in<br />

denen biologische Leistungsvoraussetzungen schon<br />

vermindert sind (Kap. 10).<br />

Entwicklung hat interindividuell unterschiedliche<br />

Verläufe. Im mittleren und höheren Erwachsenenalter<br />

sind nur wenige generelle Veränderungen<br />

bekannt. Die Veränderungen sind eher kultur-, subkultur-<br />

oder personspezifisch; sie sind unterschiedlich<br />

je nach Lebensschicksal, je nach gesellschaftlichen<br />

und beruflichen Anforderungen, je nach<br />

Erfahrungen, je nach Qualität der sozialen Einbindung<br />

und Unterstützung, und in interaktionistischer<br />

Sicht je nach eigenen Kompetenzen, Interessen<br />

und Einstellungen. Auch die ererbten Anlagen, das<br />

Genom, können lebenslang wirken. Schon die<br />

Lebensdauer eines Menschen ist in erheblichem<br />

Maße genetisch beeinflusst.<br />

Schaie (1988) hat dies in Längsschnittuntersuchungen<br />

über die Entwicklung der Intelligenz belegt.<br />

Auch zwischen dem 60. und dem 80. Lebensjahr<br />

gibt es in Intelligenztests mit unterschiedlichen<br />

Leistungsskalen keinen universellen Leistungsabfall:<br />

Viele können ihr Niveau halten bis in die 80er Jahre<br />

und einige, wenn auch weniger als 10 % insgesamt,<br />

verbessern ihr Gesamtniveau noch in ihrem achten<br />

Lebensjahrzehnt (vgl. Abb. 1.2).<br />

Verschiedene Dimensionen einer Funktion haben<br />

unterschiedliche Entwicklungsverläufe. Für die<br />

Intelligenzdimensionen fluide und kristalline Intelligenz<br />

(Horn, 1970) wurde ermittelt, dass sie in Kindheit<br />

und Jugend eine parallele, im Erwachsenenund<br />

insbesondere im höheren Alter unterschiedliche<br />

Entwicklungsverläufe nehmen. Die kristalline Intelligenz<br />

(das ist das Erfahrungswissen, die kulturellen<br />

Wissensbestände, Wissen über Problemlösestrategien<br />

und Gedächtnisstrategien usw.) bleibt vielfach<br />

bis ins höhere Alter erhalten und kann in Einzelfällen<br />

ansteigen, während die fluide Intelligenz (insbesondere<br />

die Geschwindigkeit der Aufnahme und<br />

Verarbeitung von Informationen) abfällt (vgl. auch<br />

Kap. 10).<br />

Abbildung 1.2. Ergebnisse einer Längsschnittstudie zum<br />

Altern der Intelligenz: Wie viel Prozent der untersuchten<br />

Personen aus mehreren Geburtsjahrgängen (Kohorten)<br />

zeigen Stabilität, Verluste oder Gewinne in ihren Intelligenzleistungen<br />

– jeweils über 7 Jahre gemittelte Werte?<br />

(Nach Schaie, 1988)<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 7


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Abbildung 1.3. Hypothetische Ablaufkurve der Intelligenz<br />

in einer Querschnittuntersuchung (durchgezogene<br />

Kurve) und Längsschnittuntersuchungen (unterbrochene<br />

Linien) an Stichproben aus verschiedenen Generationen<br />

(nach Baltes, 1968)<br />

Entwicklung ist kontextabhängig. Ontogenetische<br />

Entwicklung vollzieht sich in Interaktion mit Kontexten<br />

und unterliegt folglich einem historischen Wandel.<br />

Die Soziologie und die Geschichtswissenschaften<br />

haben sozialen Wandel beschrieben als Veränderung<br />

der Institutionen (Arbeitsfeld, Familie, Bildungseinrichtungen,<br />

soziale Versorgungssysteme<br />

usw.),<br />

der herrschenden Ideologien,<br />

der politischen und ökonomischen Situation,<br />

der demographischen Charakteristika der Population,<br />

der Wertvorstellungen und der politischen Überzeugungen.<br />

Selbstverständlich wurde angenommen, dass sich<br />

der auf diesem Niveau beschriebene gesellschaftliche<br />

Wandel auch in psychologisch beschreibbaren<br />

Veränderungen niederschlägt, z. B. in unterschiedlichen<br />

Bildungs-, Berufs- und Familienbiographien<br />

(Mayer, 1993), in Veränderungen des Verhaltens,<br />

Wertens, Urteilens und Erlebens.<br />

Die <strong>Entwicklungspsychologie</strong> hat diese Thematik<br />

lange vernachlässigt und nur nach allgemeinen, über<br />

historische Epochen hinweg gültigen Veränderungen<br />

gesucht. Es wird zunehmend deutlich, dass sich als<br />

Folge des raschen gesellschaftlichen Wandels auch<br />

nah aufeinander folgende Geburtsjahrgänge hinsichtlich<br />

ihrer Entwicklung unterscheiden. Konsequenterweise<br />

müsste die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

für jede Generation partiell neu geschrieben werden,<br />

so dass sich später einmal auf einer höheren theoretischen<br />

Ebene die Entwicklung auch in Abhängigkeit<br />

von Kontextdimensionen und ihrem historischen<br />

Wandel theoretisch erklären lassen wird.<br />

Die hier beschriebene Problematik wurde erst ins<br />

allgemeine Bewusstsein der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

gerückt, als Schaie (1965) die Frage nach der<br />

angemessenen Methodologie für die Gewinnung<br />

von Entwicklungsnormen aufwarf. Lange Zeit hat<br />

man die aus Querschnittsuntersuchungen ermittelte<br />

Altersverlaufskurve der Intelligenz (vgl. Abb. 1.3) im<br />

Sinne eines verbreiteten Vorurteils dahingehend<br />

interpretiert, dass es einen Anstieg der Intelligenzleistung<br />

bis ins frühe Erwachsenenalter gebe, wonach<br />

ein kontinuierlicher und beträchtlicher Abfall<br />

bis ins höhere Alter folge.<br />

Die Querschnittsmethode ist insofern problematisch,<br />

als die Stichproben unterschiedlicher Altersklassen<br />

nicht nur verschieden alt sind, sondern auch<br />

verschiedenen Generationen angehören, so dass die<br />

Frage offen bleibt, ob die ermittelte „Altersverlaufskurve“<br />

mit dem scheinbaren Abfall im Alter in<br />

Wahrheit keinen Abfall darstellt, sondern einen<br />

Leistungsunterschied zwischen verschiedenen Generationen.<br />

Die geringere Leistung der Älteren muss<br />

kein Intelligenzverlust sein, sondern könnte ein von<br />

Anfang an geringeres Leistungsniveau der älteren<br />

Generationen sein, das z. B. mit der geringeren<br />

Schulbildung dieser Generationen zu erklären wäre.<br />

Angeregt durch diese Debatte hat man Längsschnittdaten<br />

und Querschnittsuntersuchungen vergleichend<br />

gegenübergestellt und gefunden, dass<br />

sich der Altersverlauf in Längsschnittuntersuchungen<br />

anders darstellt (Schaie, 1994; Kap. 10). Die kritische<br />

Auseinandersetzung mit diesen Untersuchungen<br />

hat auch methodische Probleme in den Blick<br />

gerückt, die heute in jeder wissenschaftlichen Untersuchung<br />

berücksichtigt werden (Petermann &<br />

Rudinger, 2002).<br />

In Längsschnittstudien mit breiten Testbatterien,<br />

die viele Dimensionen der Intelligenz erfassen,<br />

8 1 Konzeptionen der Entwicklung


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wurde ermittelt, dass durchschnittlich die Leistungen<br />

bis ins hohe Alter nicht oder nur wenig abfallen.<br />

Dieses Ergebnis kann allerdings ein Artefakt sein.<br />

Erstens kann es Lerngewinne (sog. Testungseffekte)<br />

wegen der in Längsschnittuntersuchungen wiederholten<br />

Messungen geben, die einen realen Abfall<br />

kompensieren. Zweitens müsste geprüft werden, ob<br />

es mit zunehmendem Alter eine selektive Veränderung<br />

der Untersuchungsstichprobe derart gibt, dass<br />

die leistungsschwächeren Teilnehmer wegen fehlender<br />

Motivation, Krankheit oder Tod herausfallen,<br />

wodurch die Durchschnittswerte verfälscht werden<br />

(sog. selektiver Dropout). Um dies auszuschließen,<br />

sollte man nicht die Mittelwerte aller Testzeitpunkte<br />

betrachten, sondern muss sich etwa die Mittelwerte<br />

der Teilstichprobe ansehen, die bis zum letzten Testzeit<br />

dabei blieb. Rudinger & Rietz (1998) haben an<br />

Daten der Bonner Altersstudie zeigen können,<br />

dass es tatsächlich selektive Ausfälle derart gab,<br />

dass die leistungsschwächeren Teilnehmer früher<br />

<br />

herausfallen,<br />

dass die Mittelwerte der Leistungsstärkeren ebenfalls<br />

mit zunehmendem Alter abgefallen sind,<br />

aber nicht unter den Gesamtmittelwert der noch<br />

leistungsheterogeneren Stichproben in den vorausgehenden<br />

Testzeitpunkten.<br />

Neue Fragen machen neue Forschungsdesigns und<br />

-methoden erforderlich. In einem einflussreichen<br />

Buch haben Baltes, Reese und Nesselroade (1977)<br />

die Programmatik der modernen <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

methodologisch umgesetzt.<br />

Das Modell der selektiven Optimierung und der<br />

Kompensation von Verlusten. Wenn solche Verluste<br />

existieren, war die weitere Frage: Können sie ausgeglichen<br />

werden? Gibt es Möglichkeiten der Kompensation?<br />

Beispielsweise beobachtete Salthouse (1984), dass<br />

ältere Schreibkräfte genauso schnell schreiben wie jüngere,<br />

obwohl ihre Reaktionsgeschwindigkeit nachweislich<br />

langsamer war. Diese Verlangsamung konnte aber<br />

durch die gewonnene Fähigkeit, den zu schreibenden<br />

Text im Voraus zu lesen und zu verstehen, ausgeglichen<br />

werden. So könnten auch Einbußen in Bezug auf elementare<br />

Prozesse der Mechanik der Intelligenz und des<br />

Gedächtnisses unter Umständen durch Wissen und<br />

prozedurale Strategien kompensiert werden. Das von<br />

Baltes und Baltes (1989) formulierte Entwicklungsmodell<br />

der selektiven Optimierung einzelner Funktionsbereiche<br />

mit einer Kompensation von Einbußen in<br />

anderen repräsentiert diesen Gedanken.<br />

Möglichkeiten und Grenzen für eine Entwicklungsförderung<br />

im mittleren und höheren Erwachsenenalter.<br />

Spielräume und Grenzen der Entwicklungsförderung<br />

wurden z. B. anhand von Intelligenzund<br />

Gedächtnisaufgaben untersucht. Die fluide Intelligenz<br />

erwies sich auch im höheren Alter als trainierbar<br />

(z. B. Dixon & Baltes, 1986), womit eine meist<br />

ungenutzte Reservekapazität nachgewiesen und die<br />

Annahme der Plastizität der Entwicklung in jedem<br />

Lebensalter bestätigt schien. Allerdings bleiben die<br />

Trainingserfolge eng auf die trainierten Aufgaben<br />

beschränkt und werden nicht in andere Bereiche<br />

transferiert (Kap. 10).<br />

Grenzen der Entwicklungsmöglichkeiten im höheren<br />

Alter wurden mit der Methode des „Testing<br />

the Limits“ aufgewiesen, bei der die Schwierigkeiten<br />

von Aufgaben sukzessiv bis zur Leistungsgrenze<br />

gesteigert werden, z. B. in einem Training von Gedächtnisleistungen<br />

für Wortlisten durch Steigerung<br />

der Darbietungsgeschwindigkeit der einzuprägenden<br />

Wörter (Kliegl, Smith & Baltes, 1989). Die Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />

war bei älteren Probanden<br />

deutlich niedriger als bei jüngeren. Auch in dieser<br />

Funktion haben auch die älteren Probanden<br />

Leistungsgewinne erzielt, aber die Trainingsgewinne<br />

sind bei jüngeren Erwachsene weitaus höher, was auf<br />

neurobiologische Funktionsverluste bei den Älteren<br />

schließen lässt (Kap. 10).<br />

1.2.3 Neue Kernannahmen in Forschung und<br />

Theorienbildung<br />

Die Bedeutung grundlegender Annahmen wird<br />

bei einem Vergleich verschiedener Forschungslinien<br />

mit ihren unterschiedlichen theoretischen Interpretationen<br />

offensichtlich (Cairns, 1998; Overton, 2003;<br />

Trautner, 1991). Je nachdem, ob dem Subjekt und/oder<br />

der Umwelt ein gestaltender Beitrag zur Entwicklung<br />

zugebilligt wird oder nicht, lassen sich vier<br />

prototypische Modellfamilien unterscheiden (vgl.<br />

Abb. 1.4, S. 10):<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 9


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Subjekt<br />

aktiv<br />

nicht<br />

aktiv<br />

Umwelt<br />

aktiv<br />

interaktionistische<br />

transaktionale<br />

systemische<br />

Modelle<br />

exogenistische<br />

Modelle<br />

nicht aktiv<br />

aktionale und<br />

konstruktivistische<br />

Modelle<br />

endogenistische<br />

Modelle<br />

Abbildung 1.4. Eine Typologie von Entwicklungstheorien<br />

Eine erste Kernfrage lautet: Ist das Subjekt Gestalter<br />

seiner Entwicklung, oder wird seine Entwicklung<br />

von inneren und äußeren Kräften gelenkt?<br />

Das exogenistische Modell<br />

Watsons berühmtes Angebot, man möge ihm ein<br />

Dutzend Kinder geben und eine Welt, in der er sie<br />

aufziehen könne, dann garantiere er, dass er jedes zu<br />

dem mache, was man wolle: Arzt, Rechtsanwalt,<br />

Künstler, Unternehmer oder auch Bettler und Dieb<br />

(Watson, 1924), ist prägnanter Ausdruck des behavioristischen<br />

Menschenbildes (Gewirtz, 1969). Es<br />

handelt sich um ein radikal exogenistisches Entwicklungsmodell.<br />

Die Entwicklung wird völlig unter<br />

Kontrolle externer Einflussfaktoren gesehen.<br />

Endogenistische Modelle<br />

Demgegenüber führen endogenistische Theorien Entwicklung<br />

auf Entfaltung eines angelegten Plans des<br />

Werdens zurück. Anlagen und deren Reifung sind die<br />

Erklärungen für Veränderungen (vgl. auch die Diskussion<br />

des neuen Nativismus in Kap. 6). Das genetische<br />

Entwicklungsprogramm wird nur in zeitlich begrenzten<br />

sensiblen Perioden für jeweils spezifische äußere<br />

Einflüsse als offen angesehen (s. Abschn. 3.2). Entwicklung<br />

wird nicht erklärt durch Einflüsse von<br />

außen. Die Entwicklung als selbst erklärt, wann und<br />

inwiefern Einflüsse von außen veränderungswirksam<br />

werden, da spezifische äußere Faktoren nur bei einem<br />

bestimmten Entwicklungsstand einwirken können.<br />

Weder die exogenistischen noch die endogenistischen<br />

Modelle sind durch die Datenlage gerechtfertigt.<br />

Es sei nur auf ein Forschungsergebnis verwiesen.<br />

Wenn alle Kindern eine optimale kognitive<br />

Frühförderung erfahren, profitieren die meisten von<br />

diesem Programm, die Unterschiede zwischen den<br />

Kindern werden aber nicht kleiner, sondern größer;<br />

dies belegt, dass die Kinder mit den besseren Entwicklungspotentialen<br />

mehr von der Förderung profitieren<br />

(Kap. 22). Das exogenistische Modell kann<br />

die wachsenden Unterschiede zwischen den geförderten<br />

Kindern nicht erklären, das endogenistische<br />

Modell kann die durchschnittlichen Fördereffekte<br />

im Vergleich zu nicht geförderten nicht erklären.<br />

Nur mit einem interaktionistischen Modell sind die<br />

Ergebnisse zu erklären: Je größer die Potentiale,<br />

umso größer die Fördereffekte.<br />

Zwei Varianten interaktionistischer Modelle werden<br />

im Folgenden unterschieden.<br />

Aktionale Modelle<br />

Der Mensch selbst wird als Mitgestalter seiner Entwicklung<br />

angesehen (Brandtstädter, 2001), als erkennendes<br />

und reflektierendes Wesen, das sich ein<br />

Bild von sich selbst und seiner Umwelt macht und<br />

bei neuen Erfahrungen modifiziert. Der reflexive<br />

Mensch reagiert nicht mechanisch auf äußere Gegebenheiten,<br />

sondern nimmt diese selektiv wahr, deutet<br />

und interpretiert sie und richtet sein Verhalten<br />

an diesen Deutungen aus. Auch Reifungsvorgänge<br />

(etwa in der Pubertät) wirken nicht mechanisch<br />

determinierend, sondern vermittelt über das Selbstbild<br />

und die Wahrnehmung anderer Menschen und<br />

des sozialen Kontextes, die auch unter dem Einfluss<br />

von Reifungsvorgängen etwa in der Pubertät beeinflusst<br />

werden können (Kap. 8). Der Mensch ist im<br />

Laufe der Entwicklung immer besser in der Lage,<br />

ziel- und zukunftorientiert zu handeln und damit<br />

gestalterischen Einfluss auf seine eigene Entwicklung<br />

zu nehmen.<br />

Piagets Konstruktivismus. Das Modell der Selbstgestaltung<br />

liegt schon dem großen und einflussreichen<br />

Werk Jean Piagets (1896–1980) über die<br />

Entwicklung der Intelligenz, des Denkens und Forschens<br />

und der Moral zugrunde. Piaget sah die Entwicklung<br />

als Konstruktionsprozess, der durch die<br />

Aktivitäten der Subjekte selbst seine Wirkung entfal-<br />

10 1 Konzeptionen der Entwicklung


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tet (Montada, 2002). Ausgangspunkt der Entwicklung<br />

sind Handlungen, die nicht zum erwünschten<br />

Ergebnis, und Denkoperationen, die nicht zu widerspruchsfreien<br />

Problemlösungen führen. Dies macht<br />

eine Reorganisation der Handlungs- und Denkstrukturen<br />

notwendig. Das Ergebnis sind neue,<br />

leistungsfähigere Strukturen.<br />

Durch Eingriffe von außen kann dieser Entwicklungsprozess<br />

nicht völlig gesteuert werden. Die Umwelt<br />

kann lediglich durch angemessene Fragen und<br />

Problemstellungen, durch Erzeugung kognitiver<br />

Konflikte und Hinweis auf Widersprüchlichkeiten<br />

die Grenzen des jeweils gegebenen Entwicklungsstandes<br />

aufzeigen und neue Lösungen anregen. Der<br />

Aufbau neuer Strukturen erfordert aber nach Piaget<br />

eigenes Suchen, Probieren und Erkennen. Diese<br />

Konzeption Piagets war zwar schon systemisch in<br />

dem Sinne, dass Entwicklung aus einer aktiven Auseinandersetzung<br />

des Menschen mit Angeboten, Anforderungen<br />

und Problemen der Außenwelt resultiert,<br />

aber nur das Entwicklungssubjekt wurde als<br />

wirklich aktiv gestaltend angesehen.<br />

Der Mensch als Gestalter seiner eigenen Entwicklung.<br />

Dass Menschen Einfluss auf ihre eigene Entwicklung<br />

haben und nehmen, wird vom späteren<br />

Jugendalter an von niemandem bestritten, der Willensfreiheit<br />

annimmt und Wahlmöglichkeiten sieht.<br />

Was mündige Menschen aus ihren Potentialen machen,<br />

welche Entscheidungen sie bezüglich Lebensführung,<br />

Beruf und sozialen Beziehungen treffen,<br />

welche Regeln und Ordnungen sie anerkennen und<br />

einhalten, welche Risiken sie eingehen usw., dafür<br />

werden sie zumindest partiell als selbstverantwortlich<br />

betrachtet. Das heißt nicht, dass nicht wichtige<br />

andere Menschen und weitere Komponenten<br />

sozial/ökologischer Systeme mit verantwortlich<br />

bzw. einflussreich sind und in Kindheit und Jugend<br />

waren.<br />

Dass Menschen in ihren frühen Lebensjahren<br />

bereits ihre eigene Entwicklung selbst mitgestalten,<br />

wurde in der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> erst spät thematisiert<br />

(Lerner & Busch-Rossnagel, 1981). Seit<br />

langem ist bekannt, dass es im ersten Jahrzehnt<br />

signifikante IQ-Änderungen in Abhängigkeit vom<br />

familiären Kontext gibt. Sind diese ausschließlich<br />

durch Anregungen und Anforderungen der Eltern<br />

bedingt, oder haben die interessierten, lernmotivierten<br />

Kinder sich selbst eine anregende Umwelt<br />

geschaffen durch ihre Fragen, ihre Wissbegierde,<br />

ihre Resonanz auf entsprechende Bemühungen der<br />

Eltern? Nur wenn besondere Interessen und Begabungen<br />

von Kindern (Sprachkompetenz, Musikalität,<br />

handwerkliche Geschicklichkeit, sportliche<br />

Leistungsfähigkeit usw.) aufscheinen und erkannt<br />

werden, können sie bewusst gefördert werden. Für<br />

die einen ist ein Museumsbesuch eine Belohnung,<br />

für andere eine langweilige Zumutung.<br />

Kinder haben von früh an Vorlieben und Abneigungen,<br />

die eine Chance haben, toleriert oder durch<br />

entsprechende Angebote gefördert zu werden. Kinder<br />

treffen von früh an Wahlen, was die bevorzugten<br />

Kontakte und Tätigkeiten anbelangt, wenn sie alternative<br />

Optionen haben. Sie nehmen von früh an<br />

Einfluss auf ihr Umfeld, positiven Einfluss etwa<br />

durch Anschmiegen und Freundlichkeit, Responsivität<br />

und Resonanz, was für die Betreuungspersonen<br />

hoch befriedigend ist, und sie mit Freude und Stolz<br />

erfüllt. Dadurch fühlen sie sich akzeptiert und anerkannt<br />

und ihre Bindung zum Kind und ihre Neigung,<br />

das Kind zu fördern, wird gestärkt. Ein unleidlicher,<br />

irritierbarer Säugling verursacht bei den Betreuern<br />

Hilflosigkeit, Gefühle des Versagens, auch<br />

Ärger und Ablehnung. Die Folgen für das Selbstbild<br />

der Betreuungspersonen und ihr Bemühen um<br />

Selbstachtung liegen auf der Hand. Die Korrelation<br />

zwischen negativen Temperamentsmerkmalen in der<br />

frühen Kindheit und ungünstiger Persönlichkeitsentwicklung<br />

(z. B. Rutter, 1979) kann mit der Hypothese<br />

erklärt werden, dass Kinder mit schwierigem<br />

Temperament eher abgelehnt oder gemieden, was<br />

sich ungünstig auf ihre soziale, geistige und Persönlichkeitsentwicklung<br />

auswirkt.<br />

Von früh an haben Kinder mit ihren Aktivitäten,<br />

ihrem Temperament, ihren Kommunikationsstilen,<br />

ihren Interessen und anderem mehr Einfluss auf<br />

andere und auf die Interaktionen mit anderen. Und<br />

damit haben sie reziprok auch Einfluss auf ihre<br />

eigene Entwicklung, die durch alle Bezugspersonen<br />

gefördert oder beeinträchtigt werden kann. Kinder<br />

modifizieren von Geburt an auf vielfältige Weise das<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 11


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Selbstbild, die Einstellungen, Werthaltungen, Zielsetzungen<br />

und das Verhalten ihrer Sozialpartner, die<br />

ihrerseits auf das Kind einwirken und ihm rückmelden,<br />

ob es liebenswert ist oder nicht, ob es kompetent<br />

ist oder nicht, ob es bewundert wird oder nicht,<br />

ob es wichtig ist oder nicht. Und diese Rückmeldungen<br />

sind entscheidend für die Ausbildung eines<br />

Selbstbildes. Der symbolische Interaktionismus<br />

(Mead, 1934) hat dies zum Thema erhoben: Das<br />

Bild von sich selbst, das Bild von anderen, das Ausfüllen<br />

einer sozialen Rolle werden gestaltet in der<br />

sozialen Interaktion, die als wechselseitig Einfluss<br />

nehmend, also als transaktional zu sehen ist.<br />

Dass diese Einflüsse nicht auf die Bezugspersonen<br />

beschränkt bleiben, sondern auf vielfältige Weise<br />

Auswirkungen auf die materialen und medialen<br />

Angebote in der Familie, auf die familiären und<br />

außerfamiliären Aktivitäten und Kontakte, auf die<br />

Bildungsangebote usw. haben, kann man sich leicht<br />

denken. Menschen suchen sich lebenslang, wenn es<br />

Wahloptionen gibt, Kontakte, Aktivitäten, Settings<br />

usw., die zu ihren ausgebildeten Motiven, Wertungen<br />

und Kompetenzen passen. Und all das hat Folgen<br />

für die weitere Entwicklung.<br />

Transaktionale systemische Modelle<br />

In transaktionalen – auch dialektische, kontextuelle,<br />

relationale genannten – Konzeptionen (Cairns,<br />

1998; Overton, 2003) wird sowohl dem Entwicklungssubjekt<br />

als auch den Entwicklungskontexten<br />

(mit den dort agierenden Menschen) gestaltender<br />

Einfluss auf die Entwicklung zugeschrieben. Allen<br />

Varianten dieser Konzeption gemeinsam ist die Annahme<br />

systemischer Zusammenhänge. Menschen<br />

leben, agieren und entwickeln sich in sozialen bzw.<br />

ökologischen Systemen. Sie sind Teil verschiedener<br />

Systeme. Alle Teile der Systeme stehen in Relation<br />

zueinander. Ihre Aktivitäten können andere Teile<br />

beeinflussen.<br />

Ein Kind lebt in einer Familie und kommt mit<br />

anderen sozialen Kontexten in Kontakt. Es hat mannigfaltige<br />

Einflüsse auf Eltern und alle anderen Personen,<br />

mit denen es in Kontakt kommt. Die Einrichtung<br />

der Wohnung, die Aktivitäten der Familienmitglieder<br />

sind durch seine Existenz, seine<br />

Bedürfnisse und sein Verhalten, seine Persönlichkeit,<br />

seine Gesundheit mitbestimmt. Umgekehrt haben<br />

alle Kontaktpersonen und die physischen bzw. materiellen<br />

Elemente des Lebenskontextes Einfluss auf<br />

das Kind.<br />

Gemeinsame Kernannahme dieser Modelle ist,<br />

dass der Mensch und seine Umwelt ein Gesamtsystem<br />

bilden, in dem sowohl das Entwicklungssubjekt<br />

als auch seine Umwelt aktiv und miteinander verschränkt<br />

aufeinander einwirken. Die Veränderungen<br />

eines Teils führen zu Veränderungen auch anderer<br />

Teile und/oder des Gesamtsystems und wirken wieder<br />

zurück. Und alle Personen sind in ständiger Entwicklung<br />

begriffen, nicht nur Kinder und Jugendliche.<br />

Alle gewinnen neues Wissen, neue Einsichten,<br />

modifizieren ihr Selbstbild, ihr Bild von der Welt,<br />

ihre Einstellungen, ihre normativen Überzeugungen<br />

usw.<br />

Die Unterscheidung antezedierender Bedingungen<br />

und davon abhängiger Folgen bildet die real<br />

wirksamen Interaktionen zwischen den sich entwickelnden<br />

Personen und ihrer sozialen und physischen<br />

Umwelt nur in einem spezifischen Ausschnitt<br />

ab. Die komplexe Verschränkung gleichzeitiger Veränderungen<br />

aller Systemteile wird analytisch ausgeblendet,<br />

wenn die Aktivitäten eines Systemteils als<br />

antezedierende Bedingung, die Veränderungen anderer<br />

Systemteile als Folgen betrachtet werden. Das<br />

Konzept des „Circulus vitiosus“ bezeichnet eine<br />

Möglichkeit ungünstiger systemischer Wechselwirkungen,<br />

z. B. die Eskalierung von Gewalt. Selbstverständlich<br />

gibt es auch günstige Wechselwirkungen,<br />

etwa reziproker Freundlichkeit oder Unterstützung<br />

oder der Zusammenhang zwischen Interesse und<br />

Mitarbeit der Schüler und beruflichem Engagement<br />

der Lehrer.<br />

Die Umsetzung systemischen Denkens in Forschungsprogramme<br />

wird allerdings sehr komplex,<br />

so dass eine Prüfung von Zusammenhangshypothesen<br />

nur ausschnittweise möglich ist. Allerdings<br />

sollte man sich dessen bewusst sein und über einzelne<br />

Hypothesen hinaus denken. Systemische<br />

Betrachtung äußerte sich deshalb zunächst in einer<br />

Korrektur tradierter einseitiger Hypothesen. Hat<br />

man früher gefragt, wie das Kind durch seine fami-<br />

12 1 Konzeptionen der Entwicklung


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liäre Umwelt geformt wird, so fragt man heute auch<br />

umgekehrt, wie das Kind oder der Jugendliche auf<br />

die Familie ein- und rückwirken (s. Abschn. 4.4). Es<br />

wird also z. B. nicht nur gefragt, wie sich Scheidung<br />

auf die Kinder auswirkt, sondern auch, was Kinder<br />

zur Ehezufriedenheit beitragen oder ob etwa die<br />

Bindung der Eltern an ihre Kinder die Scheidungsentscheidung<br />

beeinflusst und welchen Einfluss die<br />

Kinder auf die Bindung ihrer Eltern haben.<br />

Unter der Lupe<br />

Ein Forschungsbeispiel<br />

Kagan und Moss (1962) ermittelten wie viele<br />

andere danach eine Korrelation zwischen Feindseligkeit<br />

und Strafneigung der Mütter und<br />

Aggressivität der Kinder gegen ihre Mütter<br />

(r = .70 für Jungen und r = .68 für Mädchen).<br />

Was bedeutet das? Verursacht die Feindseligkeit<br />

der Mutter die Aggressivität der Kinder? Oder<br />

resultiert die Feindseligkeit der Mutter aus der<br />

Aggressivität der Kinder? Oder bedingt sich das<br />

gegenseitig im Sinne eines Circulus vitiosus?<br />

Oder ist die Feindseligkeit der Mutter und die<br />

Aggressivität der Kinder durch gemeinsame<br />

genetische Anlagen bedingt? Um diese Fragen<br />

abklären zu können, wären Längsschnittstudien,<br />

vergleichende Studien über die Variationen von<br />

Mutter-Kind-Interaktionen in derselben Familie,<br />

vergleichende Studien in biologischen und Adoptivfamilien<br />

erforderlich. Wichtig ist festzuhalten,<br />

dass verschiedene Einflusshypothesen zu prüfen<br />

sind, bevor eine querschnittlich ermittelte Korrelation<br />

interpretiert werden darf.<br />

Systemisches Denken und das Konzept der Passung.<br />

Brandtstädter (1985) hat Entwicklungsprobleme<br />

als Passungsprobleme charakterisiert. Ein<br />

Entwicklungsproblem liegt vor, wenn bestimmte<br />

Entwicklungsstandards (etwa eine altersgemäße<br />

Leistung) nicht erbracht werden kann bzw. wenn die<br />

„Entwicklungsaufgaben“ einer Lebensperiode, etwa<br />

Berufsausbildung, Aufbau von Partnerschaft usw. im<br />

Jugend- und frühen Erwachsenenalter (vgl. Kap. 8<br />

und 9) nicht geleistet werden. Entwicklungsprobleme<br />

sieht er als Diskrepanz bzw. fehlende Passung<br />

zwischen<br />

den Zielen des Individuums selbst,<br />

seinen Potentialen (Dispositionen, Kompetenzen<br />

usw.),<br />

den Anforderungen im familiären, schulischen,<br />

subkulturellen Umfeld des Individuums, d. h. den<br />

dort existierenden alters-, funktions- oder<br />

bereichsspezifischen Standards,<br />

den Angeboten (Lern- und Hilfsangeboten,<br />

Ressourcen) in der Umwelt des Individuums.<br />

Es gibt Diskrepanzen zwischen Zielen und Potentialen,<br />

Anforderungen und Potentialen, Potentialen<br />

und Angeboten usw. Entwicklungsprobleme manifestieren<br />

sich als unzureichende Leistungen, als<br />

Selbstwertprobleme, Statusprobleme, Eheprobleme,<br />

Eltern-Kind-Probleme, berufliche Probleme u. a. m.<br />

Unter der Lupe<br />

Kindesmisshandlung<br />

Ein Beispiel für ein spezifisches Passungsproblem<br />

liefern Forschungen zu Kindesmisshandlung<br />

(Schneewind, Beckmann & Engfer, 1983;<br />

s. auch Kap. 26). Ursprünglich hat man Kindesmisshandlung<br />

als Ausdruck einer pathologischen<br />

Persönlichkeitsstruktur der Eltern angesehen, die<br />

oft mit ungünstigen Sozialisationsbedingungen<br />

erklärt wurde (etwa mit der Erfahrung, als Kind<br />

selbst abgelehnt oder überhart bestraft worden<br />

zu sein). In soziologischen Theorien wurden<br />

aktuelle Stressoren wie Armut, Arbeitslosigkeit,<br />

Scheidung, beengte Wohnverhältnisse oder<br />

Stress am Arbeitsplatz dafür verantwortlich<br />

gemacht. Dann begann man, die Eigenarten der<br />

Kinder selbst in die Betrachtung einzubeziehen<br />

und stellte fest, dass es die „schwierigen“ Kinder<br />

sind, die besonders häufig Opfer von Misshandlungen<br />

werden. Als Säuglinge sind diese Kinder<br />

leicht irritierbar, schreien viel, lassen sich nicht<br />

beruhigen. Später sind Ungehorsam und antisoziale<br />

Verhaltensweisen auffällig. Es sind nicht<br />

selten zu früh geborene Kinder, Kinder mit<br />

leichten zerebralen Schäden und anderen<br />

<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 13


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Anomalien, für die man als Außenstehender<br />

eher Rücksicht und Mitleid erwartet, die aber<br />

tatsächlich besondere Schwierigkeiten machen,<br />

mit denen nicht jede Mutter oder jeder Vater<br />

fertig wird.<br />

Das transaktionale Modell legt es nahe, soziale<br />

Systeme unter dem Gesichtspunkt der Passung zu<br />

betrachten. Schwierige Kinder können besorgte,<br />

geduldige, einfallsreiche Eltern haben oder aber<br />

Eltern, die rigide Vorstellungen über wünschenswertes<br />

Verhalten der Kinder haben, die sie durchsetzen<br />

wollen. In einer Untersuchung über die<br />

Häufigkeit harter Strafen fanden Schneewind<br />

et al. (1983) Belege für diese Passungshypothese.<br />

Häufig und hart bestraft werden<br />

überzufällig häufig die schwierigen Kinder, und<br />

zwar von Eltern, die zu einer rigiden Machtbehauptung<br />

neigen oder sich erzieherisch als<br />

ohnmächtig erleben.<br />

Zur praktischen Bedeutung von Entwicklungsmodellen.<br />

Entwicklungsmodelle haben nicht nur<br />

Bedeutung für Forschung und Theorienbildung. Sie<br />

haben eminente praktische Bedeutung. Eine Entwicklungsprognose<br />

auf der Grundlage eines interaktionistischen<br />

Modells wird nicht allein auf der Basis<br />

personaler Dimensionen oder Umweltdimensionen<br />

versucht, sondern wird nach Personklassen und<br />

Kontextklassen spezifiziert. Man baut z. B. nicht nur<br />

auf die empirische Regel „Intelligenz ist von der<br />

Schulzeit an recht stabil“, sondern man versucht, die<br />

Stabilität nach Personklassen und Kontextklassen zu<br />

spezifizieren. Da nicht wenige Menschen im Laufe<br />

des Lebens ihre Kontexte radikal wechseln (Adoption,<br />

Schulwechsel, Wechsel von Peergruppen, Partnerschaft,<br />

Berufseintritt und -wechsel) und Kontexte<br />

sich wandeln können (z. B. durch personelle Veränderungen),<br />

erfordern langfristige Prognosen auch<br />

Prognosen über Kontextänderungen, die allerdings<br />

als höchst unsicher anzusehen sind.<br />

Was Interventionen anbelangt, bieten interaktionistische<br />

Modelle mehrere Ansatzpunkte zur Wahl: das<br />

Entwicklungssubjekt, relevante Komponenten des<br />

Kontextes oder ein problembehaftetes System als<br />

Ganzes. Für eine Evaluation von Entwicklungsinterventionen<br />

ist die Wirkungs- und Nebenwirkungsanalyse<br />

auf mehrere Elemente des Systems und das<br />

System insgesamt auszudehnen.<br />

Denkanstöße<br />

Versuchen Sie, in einer transaktionalen Modellbildung<br />

hypothetische Entwicklungen zu skizzieren,<br />

die zu Schulversagen oder zu Delinquenz<br />

im Jugendalter führen. Denken Sie sich anschließend<br />

mögliche Maßnahmen aus, wie das Schulversagen<br />

oder die Delinquenz hätte verhindert<br />

werden können. Wählen Sie für diese Maßnahmen<br />

unterschiedliche Ansatzpunkte, die Sie aus<br />

Ihrer transaktionalen Modellbildung ableiten.<br />

1.3 Gegenstandsbestimmung aus dem<br />

Bedarf an <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

in Praxisfeldern<br />

Ein wichtiger Zugang, die Gegenstände der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

zu bestimmen, geht von der Frage<br />

aus, welche Beiträge das Fach zur Lösung praktischer<br />

Probleme leistet (vgl. Teil IV dieses Buches). Eltern,<br />

Lehrer, Schulpsychologen, klinische Psychologen,<br />

psychologische Gutachter vor Gericht, Sozialpädagogen,<br />

Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Gerontologen,<br />

Altenpfleger, Kriminologen, Strafrichter u. a. m.<br />

brauchen <strong>Entwicklungspsychologie</strong>. Entwicklungspsychologische<br />

Erkenntnisse und Überzeugungen<br />

fließen in das Bildungs-, das Wirtschafts-, das Sozialund<br />

das Rechtssystem der Gesellschaft ein. Im Folgenden<br />

werden einige typische Klassen von Fragen<br />

aus der Praxis genannt.<br />

1.3.1 Orientierung über den Lebenslauf<br />

Was hat man von einem Säugling, einem Grundschulkind,<br />

einem Jugendlichen, einem Erwachsenen,<br />

einem Greis zu erwarten? Welche Kompetenzen,<br />

Einstellungen, Interessen darf man voraussetzen?<br />

Welche Anforderungen sind angemessen, in welcher<br />

14 1 Konzeptionen der Entwicklung


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Hinsicht ist Schutz oder Schonung geboten? Auf<br />

welches Mindestalter sollen die Geschäftsfähigkeit,<br />

die Strafmündigkeit, die Volljährigkeit, das Wahlrecht,<br />

die Heiratsfähigkeit, das Rentenalter festgelegt<br />

werden? In welchen Entwicklungsperioden hat<br />

man mit welchen typischen Risiken, mit welchen<br />

Krisen oder Problemen zu rechnen? Was muss in<br />

welchen Altersperioden vermittelt oder vermieden<br />

werden, damit kein bleibender Schaden entsteht? In<br />

vielen Lebensbereichen wird solches Wissen über<br />

das weithin Gültige der menschlichen Entwicklung<br />

benötigt.<br />

Seit die Idee der Kindheit ins allgemeine Bewusstsein<br />

gerückt ist, dass nämlich Kinder und Heranwachsende<br />

besondere Betreuung und Förderung<br />

benötigen und nicht überfordert werden dürfen,<br />

haben sich wohlgemeinte, aber falsche Überzeugungen<br />

bezüglich der Begrenzungen und die Möglichkeiten<br />

gebildet, die bis heute herrschen. In den<br />

letzten Jahrzehnten wurden immer wieder Leistungsmöglichkeiten<br />

in den ersten Lebensjahren entdeckt,<br />

die man nicht für möglich gehalten hatte (vgl.<br />

z. B. Kap. 6, 12, 14 und 25). Analoges gilt für verbreitete<br />

Überzeugungen bezüglich genereller Leistungsverluste<br />

im Alter (Kap. 10 und 33). Solche<br />

Überzeugungen führen dazu, dass Leistungspotentiale<br />

nicht oder nicht optimal ausgeschöpft werden.<br />

Valides Forschungswissen und kreative Forschungsansätze<br />

haben eine nicht zu überschätzende gesellschaftliche<br />

Bedeutung.<br />

Normatives Wissen bereitstellen. Die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

hat die Aufgabe, solches Wissen<br />

bereitzustellen. Die Beschreibung von Lebensphasen,<br />

Kataloge altersspezifischer Entwicklungsaufgaben<br />

und -probleme, die Zusammenstellung von Leistungsinventaren<br />

und Entwicklungsnormen für verschiedene<br />

Altersstufen sind Beispiele. Viele Kapitel<br />

dieses Buches werden daher über typische Erwerbungen,<br />

Entwicklungsaufgaben und Probleme in verschiedenen<br />

Lebensabschnitten informieren.<br />

Individuelle Unterschiede beachten. Interindividuelle<br />

Unterschiede werden dabei genauso wenig<br />

übersehen wie Unterschiede, die sich aus der<br />

Geschlechts- oder Kulturzugehörigkeit und aus<br />

Kontexteinflüssen ergeben. Unterschiede werden<br />

durch Entwicklungstests objektiv messbar gemacht,<br />

die auch Standards – Durchschnittswerte – für die<br />

Beurteilung des Entwicklungsstandes bieten.<br />

Welche Abweichungen vom Durchschnitt sind<br />

wie wahrscheinlich? Wie sind sie zu erklären? Was<br />

bedeuten sie aktuell? Was bedeuten sie für das weitere<br />

Leben? Sind sie stabil, sind sie veränderbar? Das<br />

sind die Fragen, die für Entwicklungsprognosen und<br />

-interventionen relevant sind. Wie kann man die<br />

künftige Entwicklung in günstiger Weise beeinflussen?<br />

Welche präventiven Maßnahmen gegen Fehlentwicklungen<br />

sind wann und in welcher Weise zu<br />

ergreifen? Wie kann man einen Menschen gegen<br />

schädigende Einflüsse immunisieren? Wie kann man<br />

die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass belastende<br />

Erfahrungen bewältigt werden?<br />

Indem die <strong>Entwicklungspsychologie</strong> Antworten<br />

auf solche Fragen gibt, wird sie zu einem Führer<br />

durch den Lebenslauf für alle, die ihr eigenes Leben<br />

gestalten oder die andere bei der Gestaltung ihres<br />

Lebens beraten oder unterstützen wollen.<br />

1.3.2 Prognose der Ausprägung und<br />

Veränderung von Personmerkmalen<br />

Viele Entscheidungen und Maßnahmen in den<br />

genannten Praxisfeldern fußen auf mehr oder weniger<br />

sicheren Prognosen der weiteren Entwicklung.<br />

Ohne Vorhersagen von Entwicklungsverläufen und<br />

drohenden Störungen fehlt einer Entscheidung die<br />

Grundlage.<br />

Lassen sich Schulerfolg, Harmonie in der Ehe,<br />

Bewältigung von Lebenskrisen oder das Auftreten<br />

pathologischer Störungen langfristig prognostizieren?<br />

Es bleibt in aller Regel ein hohes Irrtumsrisiko,<br />

weil nicht alle Einflussfaktoren bekannt sind,<br />

weil nicht alle wirksamen positiven und negativen<br />

Einflüsse vorhersehbar sind,<br />

weil grundsätzlich Freiheiten zur Selbstgestaltung<br />

der eigenen Entwicklung anzunehmen sind.<br />

Entwicklung ist in vielen Bereichen „plastisch“, d. h.<br />

nicht durch Anlagen und vorausgegangene Entwicklungsschritte<br />

determiniert, sondern beeinflussbar<br />

und gestaltbar.<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

1.3 Gegenstandsbestimmung aus dem Bedarf an <strong>Entwicklungspsychologie</strong> in Praxisfeldern 15


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

1.3.3 Ermittlung von Entwicklungsbedingungen<br />

Charakteristisch für die entwicklungspsychologische<br />

Bedingungsforschung sind zwei Besonderheiten:<br />

Erstens werden die Auswirkungen von Einflussfaktoren,<br />

wenn möglich, nicht nur kurzfristig, sondern<br />

langfristig beobachtet. Hypothesen über die Spätfolgen<br />

von Kindheitserfahrungen, wie sie Freud beispielsweise<br />

in der Erklärung von Psychoneurosen<br />

formuliert hat, mögen als bekanntes Beispiel dienen<br />

(Freud, 1933). Es wäre voreilig, nur die aktuellen<br />

Wirkungen einer Erfahrung als Grundlage einer<br />

Bewertung zu nehmen. Manche aktuell unangenehme<br />

und stressreiche Belastung, wie z. B. die befristete<br />

Trennung des Kleinkindes von der Mutter, muss<br />

langfristig keine negativen Wirkungen haben. Wird<br />

sie bewältigt, ist die Person für künftige Belastungen<br />

dieser Art eher besser gerüstet.<br />

Zweitens wird untersucht, inwieweit der aktuelle<br />

Entwicklungsstand als Bedingung für die weitere<br />

Veränderung eine Rolle spielt. Es wird geprüft, ob<br />

Effekte und Effizienz von externen Einflussfaktoren<br />

eine Funktion des aktuellen Entwicklungsstandes<br />

(z. B. des Wissens, der Weisheit, der Motivdispositionen<br />

usw.) sind. Eine Einflussnahme mag förderlich<br />

sein, wenn sie zur rechten Zeit kommt (etwa<br />

eine Leistungsanforderung, die bewältigt werden<br />

muss). Sie mag Fehlentwicklungen auslösen, wenn<br />

sie zu früh erfolgt, wenn sie zu Misserfolg und<br />

einem negativen Leistungsselbstbild führt. Und sie<br />

mag unwirksam bleiben, wenn sie zu spät erfolgt.<br />

1.3.4 Begründung von Entwicklungszielen<br />

Zielsetzungen basieren auf den Überzeugungen, dass<br />

sie erreichbar sind und dass es gut ist, sie zu erreichen.<br />

Beide Überzeugungen sollten möglichst auf<br />

validen Forschungsergebnissen beruhen. Relevant<br />

für Zielsetzungen ist deskriptives Wissen (z. B. über<br />

alterstypische Leistungen und ihre Streuungen),<br />

aber auch über alterstypische Probleme und über<br />

differentielle Entwicklungsverläufe, sofern Einflussfaktoren<br />

bekannt sind. Wenn die Forschung zeigt,<br />

wovon die Entwicklung abhängt, wie man Fehlentwicklungen<br />

vermeiden und Ziele erreichen kann,<br />

werden Zielentscheidungen möglich, wo zuvor nur<br />

Schicksalsergebenheit oder „fromme Wünsche“<br />

möglich waren. Dann sind Ziele zu setzen wie die<br />

folgenden: Mein Kind soll wenigstens durchschnittliche<br />

Leistungen erbringen. Oder: Wir werden als<br />

Eltern Vorsorge treffen, dass unser Sohn im Jugendalter<br />

keine Drogen nehmen wird (oder keine Delikte<br />

begehen wird). Oder: Ich werde alles versuchen,<br />

im Alter so lange wie möglich produktiv und selbständig<br />

zu bleiben.<br />

1.3.5 Planung und Evaluation von<br />

Entwicklungsinterventionen<br />

Die Interventionsplanung baut auf den Prognosen,<br />

dem Bedingungswissen und den Zielentscheidungen<br />

auf. Welche Maßnahmen sind bei welchen Voraussetzungen<br />

geeignet, ein Interventionsziel zu erreichen?<br />

Gibt es optimale Interventionsperioden? Gibt<br />

es optimale Interventionsformen bei gegebenen Potentialen,<br />

Problemen oder Kontextgegebenheiten?<br />

Das sind die typischen Fragen. Auch hier benötigen<br />

wir Informationen über die kurz- und langfristige<br />

Wirksamkeit von Maßnahmen sowie über kurzoder<br />

langfristige Nebeneffekte, um entscheiden zu<br />

können, ob eine Maßnahme wirksam oder unwirksam,<br />

ob sie gefährlich oder förderlich ist. Ob es um<br />

Schulung oder Therapie, um Resozialisierung oder<br />

Rehabilitation, ob es um Adoption oder Bewährungshilfe<br />

geht: Man muss versuchen, auch die längerfristigen<br />

Auswirkungen einzuschätzen. Langfristige,<br />

verzweigte „Follow-up-Studien“ für die Wirkungsüberprüfung<br />

von Interventionen sind zwar<br />

immer aufwendig, aber wissenschaftlich und praktisch<br />

von großem Interesse.<br />

Denkanstöße<br />

Wählen Sie eines der aktuellen politischen<br />

Streitthemen (z. B. Kinderhorte für alle Kinder,<br />

Ganztagsschulen für alle, Verschiebung des<br />

Rentenalters), und stellen Sie dazu möglichst<br />

viele entwicklungspsychologische Fragen<br />

zusammen, die beantwortet sein sollten, bevor<br />

man zu Entscheidungen kommt.<br />

16 1 Konzeptionen der Entwicklung


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Beispiel<br />

Die Allgemeine Psychologie hat den zeitlichen<br />

Verlauf des Vergessens von auswendig gelerntem<br />

Stoff über mehr oder weniger kurze Zeitstrecken<br />

untersucht und Vergessenskurven und deren<br />

Bedingungen ermittelt. Die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

untersucht Veränderungen und Stabilitäten<br />

solcher Vergessenskurven über das Leben, also<br />

nicht die Vergessenskurve als Funktion der Zeit,<br />

sondern Veränderungen der Vergessenskurve als<br />

Funktion der Lebenszeit, wie das in Abb. 1.5<br />

hypothetisch dargestellt ist. Sollte sich die Vergessenskurve<br />

bei Stoffen, die nach Art und Umfang<br />

gleich sind, im Laufe des Lebens generell oder bei<br />

Einzelnen ändern, wäre eine allgemeine oder<br />

individuelle Altersverlaufskurve des Vergessens zu<br />

erstellen.<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Abbildung 1.5. Von der Allgemeinen Psychologie zur <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

1.4 Eine Arbeitsdefinition von<br />

Entwicklung<br />

Veränderungen und Stabilitäten von Kompetenzen,<br />

Überzeugungen, Interessen, Motivationen, Selbstkonzepten<br />

usw. sind Gegenstände der <strong>Entwicklungspsychologie</strong>.<br />

Die Veränderungen, die wir Entwicklung<br />

nennen, haben drei Besonderheiten.<br />

1.4.1 Das Lebensalter ist eine sinnvolle<br />

Dimension zur Registrierung dieser<br />

Veränderungen<br />

Ein breit akzeptierter Vorschlag zur Abgrenzung<br />

von Entwicklung von anderen Veränderungen wie<br />

Wissenserwerb, Lernen von Fertigkeiten, Vergessen,<br />

Adaptieren, Sensibilisieren, Ausbildung von Gewohnheiten,<br />

Aufbau und Änderung von Einstellungen,<br />

pathologische Symptombildung, Traumatisierungen,<br />

folgenreiche Entscheidungen wie Berufswahlen, Migration,<br />

Partnerwahl usw. ist folgender:<br />

Gegenstand der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

!<br />

sind Veränderungen und Stabilitäten, die<br />

sinnvollerweise auf der Zeitdimension Lebensalter<br />

registriert werden. Altersangaben, Altersverlaufskurven,<br />

Altersnormen sind folglich<br />

entwicklungsrelevante Informationen.<br />

In der Lernpsychologie hat man die Konditionierung<br />

von Angst auf einen aversiven Reiz untersucht. Ob<br />

solche Konditionierungsprozesse während der gesamten<br />

Lebensspanne möglich sind und ob ihre<br />

Effekte in allen Lebensaltern gleich oder ungleich stabil<br />

sind, wären entwicklungspsychologische Fragen.<br />

Man kann in jedem Lebensalter versuchen, eine<br />

Fremdsprache zu lernen. Ob es Altersunterschiede<br />

im Tempo und dem erreichten Niveau hinsichtlich<br />

Aussprache und grammatischer und syntaktischer<br />

Strukturen, der Wirksamkeit spezifischer Methoden<br />

oder der Dauerhaftigkeit der erworbenen Sprachkompetenzen<br />

gibt, das wären entwicklungspsychologische<br />

Fragen.<br />

Die Moralpsychologie untersucht die Vermittlung<br />

und den Erwerb moralischer Normen; eine entwicklungspsychologische<br />

Frage wäre, ob es Altersunter-<br />

1.4 Eine Arbeitsdefinition von Entwicklung 17


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

schiede in den Prozessen und Methoden des Erwerbs,<br />

im Verständnis und in der Beachtung von<br />

Normen gibt.<br />

Die Differentielle Psychologie beschreibt u. a. interindividuelle<br />

Unterschiede in Personmerkmalen. Die<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong> fragt nach Veränderungen<br />

und Stabilitäten der Merkmale über die Lebensspanne<br />

hinweg (Kap. 19).<br />

Die Arbeitspsychologie untersucht Leistungsanforderungen<br />

und die erforderlichen Fähigkeiten, die<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong> Fähigkeitsveränderungen<br />

bzw. -stabilitäten über die Lebensspanne hinweg oder<br />

mögliche Kompensationen von Einbußen an Fähigkeiten.<br />

Erklärungsbedürftige Altersunterschiede bezogen<br />

auf Veränderungen und Stabilitäten. Lebensalter<br />

ist keine Erklärung. Eine Veränderung tritt nicht ein,<br />

weil jemand älter wird, sondern weil Prozesse oder<br />

Ereignisse eintreten, die diese Veränderung bewirken.<br />

Diese Prozesse oder Ereignisse können mit dem Alter<br />

korreliert sein, Alter erklärt sie aber nicht.<br />

1.4.2 Dauerhafte oder nachhaltig wirkende<br />

Veränderungen<br />

Mit Entwicklung werden nur dauerhafte oder nachhaltig<br />

weiter wirkende Veränderungen bezeichnet.<br />

Einflüsse in der Kindheit (etwa Anregungen zur<br />

kognitiven Entwicklung oder traumatische Erfahrungen)<br />

sind nur dann entwicklungspsychologisch<br />

interessant, wenn sie nachhaltig wirken. Das ist dann<br />

der Fall, wenn sie Kompetenzen und Dispositionen<br />

erzeugen, die ihrerseits weiterwirken.<br />

Kommt es z. B. zu Problemen und Störungen im<br />

Kindesalter, fragen Entwicklungspsychologen, ob<br />

dies auch im späteren Leben noch Folgen hat (in<br />

differentieller Sicht: bei wem; in kontextueller Sicht:<br />

unter welchen Umständen). Umgekehrt fragen sie,<br />

ob die Grundlage für Störungen und Probleme im<br />

Erwachsenenalter schon in Kindheit und Jugend<br />

geschaffen wurde, etwa durch den Aufbau relevanter<br />

Dispositionen oder durch Defizite. Analoge Fragen<br />

werden gestellt, wenn es um positive Leistungen und<br />

Kompetenzen, Interessen, Motivationen oder Persönlichkeitsmerkmale<br />

geht.<br />

Im Unterschied zu anderen Teildisziplinen der<br />

Psychologie ist die Perspektive nicht auf einen Zeitpunkt<br />

der Beobachtung, sondern prospektiv und<br />

retrospektiv auf die gesamte Lebensspanne gerichtet:<br />

Wie ist es geworden? Und was wird weiter? Damit<br />

im Zusammenhang steht die dritte Besonderheit<br />

der <strong>Entwicklungspsychologie</strong>. Es geht um Kontinuität.<br />

1.4.3 Suche nach Kontinuitäten<br />

Die Suche nach Erklärungen jeder Veränderung und<br />

jeder Stabilität ist eine Suche nach Kontinuitäten in<br />

der Entwicklung (z. B. nach vorausgehenden Veränderungen,<br />

die die aktuelle Veränderung oder<br />

Stabilität mitbedingen oder ermöglichen). In einer<br />

Veränderungsreihe sind es die jeweils vorausgehenden<br />

Schritte, die als notwendige Voraussetzungen<br />

beherrscht werden müssen. Bei Überlegungen zum<br />

entwicklungsangemessenen Unterrichten sind es<br />

Wissens- und Kompetenzvoraussetzungen. Bei neurotischen<br />

Reaktionen von Erwachsenen vermutete<br />

Freud Dispositionen als Voraussetzungen, die durch<br />

traumatische Kindheitserfahrungen entstanden sind.<br />

Bei der Bewältigung eines Verlustes können es die<br />

vorausgehend erworbenen Bewältigungskompetenzen<br />

sein. Viele weitere Beispiele lassen sich in diesem<br />

Buch finden (s. auch Abschn. 5).<br />

Denkanstöße<br />

<br />

<br />

<br />

Tragen Sie entwicklungspsychologische<br />

Fragen über mögliche Wirkungen des Fernsehens<br />

zusammen, und stellen Sie Fragen,<br />

die Sie nicht als entwicklungspsychologische<br />

ansehen.<br />

Was bedeutet entwicklungsangemessenes<br />

Unterrichten?<br />

Ein Kind erlebt im Alter von 5 Jahren die<br />

Trennung seiner Eltern und den Auszug des<br />

Vaters, den es liebt wie die Mutter. Stellen<br />

Sie entwicklungspsychologische Fragen<br />

bezüglich der möglichen Auswirkungen<br />

dieses Ereignisses.<br />

18 2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll?


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

2 Die Anlage-Umwelt-Debatte:<br />

Welche Fragen sind sinnvoll?<br />

Kontroversen über die Frage, ob den Erbanlagen,<br />

dem Genom oder der Umwelt mehr Gewicht bei<br />

der Entwicklung von Fähigkeiten, Dispositionen,<br />

Störungen usw. zukomme, sind so alt wie die <strong>Entwicklungspsychologie</strong>.<br />

Voreingenommene Meinungen<br />

sind verbreitet, obwohl diese Frage unsinnig ist.<br />

Erbanlagen und die internale und externale Umwelt<br />

wirken bei der Entwicklung psychologischer Merkmale<br />

immer zusammen, und zwar nicht additiv.<br />

Deshalb ist die Frage nach Gewichten so unsinnig,<br />

wie es unsinnig wäre, zu fragen, ob die Länge oder<br />

die Breite mehr zur Fläche beitragen.<br />

Die sinnvolle Frage an die Wissenschaft lautet:<br />

Welche Komponenten des Genoms interagieren wann<br />

bei der Entwicklung mit welchen Aspekten der internalen<br />

somatischen und/oder der externalen Umwelt<br />

in welcher Weise und mit welchem Ergebnis? Diese<br />

Frage ist aber nicht generell zu beantworten, sondern<br />

für jede Entwicklung von Fähigkeiten, Merkmalen<br />

und Störungen gesondert. Bei der Beantwortung stehen<br />

wir in vielen Feldern erst am Anfang.<br />

Weil die Debatte über Gewichte von Anlagen und<br />

Umwelt nach wie vor kontrovers geführt wird, muss<br />

man sich mit Daten und Argumenten auseinander<br />

setzen. Sinnvoll gefragt werden darf, welcher Anteil<br />

an Fähigkeits- und Merkmalsunterschieden in einer<br />

Population auf Unterschiede<br />

in den Erbanlagen und<br />

in der Entwicklungsumwelt<br />

zurückführbar sind. Diese Frage muss erstens für<br />

jede Untersuchungspopulation gesondert beantwortet<br />

werden, und die Antwort darf nicht von einer Population<br />

auf andere generalisiert werden. Zweitens lassen<br />

die Antworten keinerlei Rückschlüsse zu auf das relative<br />

Gewicht von Anlage- und Umwelteinflüssen bei<br />

der Herausbildung von Fähigkeiten und Merkmalen<br />

eines Individuums. Das wird weiter unten erläutert.<br />

Wie erfasst man Unterschiede im Genom und in<br />

der Entwicklungsumwelt, um herauszufinden, ob<br />

diese bei der Herausbildung von Merkmalen (z. B.<br />

Fähigkeiten, Motivationen, Eigenschaften, Störungen)<br />

eine Rolle spielen?<br />

2.1 Erfassung der Entwicklungsumwelt<br />

Die möglicherweise relevanten Aspekte der Entwicklungsumwelt<br />

sind unzählbar. Das ist mit den<br />

vier systemischen Ebenen zu illustrieren, die Bronfenbrenner<br />

(1979) beschrieben hat: Mikro-, Meso-,<br />

Exo- und Makrosysteme (vgl. Kap. 4). Jede dieser<br />

Systemebenen kann unter ganz unterschiedlichen<br />

Aspekten beschrieben werden, etwa die Familie als<br />

eines der Mikrosysteme oder die Schule oder der<br />

Arbeitsplatz als zwei der Exosysteme oder die<br />

Rechtsordnung oder weltanschauliche Überzeugungen,<br />

die zu den makrosystemischen Gegebenheiten<br />

zählen. Die Beschreibungskategorien aller Verhaltens-,<br />

Sozial-, Kultur- und Ökowissenschaften können<br />

grundsätzlich relevant sein.<br />

In einzelnen Forschungsprogrammen werden<br />

jeweils spezifische Aspekte der Entwicklungsumwelt<br />

erfasst, die von den Forschern hypothetisch als einflussreich<br />

für spezifische Entwicklungen angesehen<br />

werden. Jedes erfolgreiche Forschungsprogramm<br />

leistet einen kleinen Beitrag zu der Hypothesensammlung<br />

über externale, ökologische Einflüsse auf<br />

die Entwicklung. In allen Kapiteln dieses Buches<br />

wird über solche Forschungsprogramme berichtet.<br />

Sie bieten die derzeit verfügbare Wissensgrundlage<br />

für praktisches Handeln. Mit Gewissheit generalisierbares<br />

Wissen kann die Forschung nicht liefern,<br />

schon weil nie alle internen und externen<br />

Bedingungen bekannt und kontrollierbar sind, die<br />

die Wirkung eines Einflussfaktors moderieren<br />

können.<br />

Das Konzept der speziesnormalen Umwelt. Die Spezies<br />

Homo sapiens hat sich in der Evolution als soziales<br />

und kulturelles Wesen herausgebildet. Es gab und<br />

gibt viele Kulturen, vor allem auch des sozialen<br />

Lebens. Viele Kulturspezifika werden gelernt. Dass<br />

aber die Kultur überhaupt gelernt werden kann, hat<br />

sich als Fähigkeit in der Evolution generell herausgebildet.<br />

Die Verhaltensgenetik unterscheidet Entwicklungsergebnisse,<br />

die normal sind für die Spezies, von<br />

solchen, die normal sind für eine spezifische Kultur.<br />

Alle genetisch normalen Kinder lernen eine Sprache,<br />

das Grundwissen, die Werte, die Normen, die Fertig-<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

2.1 Erfassung der Entwicklungsumwelt 19


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

keiten einer Kultur, wenn sie in einer für die Spezies<br />

Mensch normalen kulturellen Umwelt aufwachsen.<br />

Welche Sprache, welche Fertigkeiten, welche Werte<br />

und Normen und welches Grundwissen sie lernen,<br />

hängt davon ab, in welcher Kultur sie aufwachsen.<br />

Das, was sie lernen, ist phänotypisch unterschiedlich,<br />

aber funktional im jeweiligen materiellen, sozialen<br />

und kulturellen Kontext äquivalent. Ein Kernsatz der<br />

Verhaltensgenetiker lautet: Alle genetisch normalen<br />

Kinder erwerben das für die jeweilige Kultur normale<br />

Repertoire, wenn sie in einem für die Spezies normalen<br />

und nicht in einem extrem anregungsarmen<br />

Milieu aufwachsen (Scarr, 1993).<br />

Die hier bezeichneten Normalitäten der Genome<br />

und der Entwicklungskontexte sind keine punktuellen<br />

Mittelwerte, sondern umfassen breite Ausschnitte<br />

der Varianzen der Genome und Entwicklungskontexte.<br />

Folglich sind erhebliche Unterschiede in den<br />

Entwicklungsergebnissen zu erwarten. Auch wenn<br />

alle Kinder mit in diesem Sinne normalen Anlagen,<br />

die in einer in diesem Sinne für die Spezies<br />

normalen Umwelt aufwachsen, z. B. die Sprache ihrer<br />

Umwelt erlernen, wird es große interindividuelle<br />

Unterschiede in Bezug auf das Tempo des Spracherwerbs<br />

und auf die erworbenen Sprachkompetenzen<br />

geben. Solche Unterschiede im Entwicklungsergebnis<br />

sind bedeutsam für den Erfolg oder<br />

Misserfolg in einer Kultur. Deshalb sind sie ein<br />

zentraler Forschungsgegenstand der <strong>Entwicklungspsychologie</strong>.<br />

2.2 Erfassung von Erbunterschieden<br />

Die Träger der Erbanlagen werden Allele genannt.<br />

Sie sind beim Menschen in 23 Chromosomenpaaren<br />

aufgereiht. Die Orte auf den Chromosomen, an<br />

denen sich je ein Allel von Vater und Mutter befinden,<br />

heißen Gene. Mehrere Möglichkeiten des Nachweises<br />

von Vererbungseinflüssen sind zu unterscheiden<br />

(vgl. dazu Kap. 3).<br />

2.2.1 Chromosomale Besonderheiten<br />

Relativ unproblematisch ist der Nachweis der Vererbung<br />

in jenen Fällen, in denen ein enger Zusammenhang<br />

zwischen phänotypischen Merkmalen und<br />

chromosomalen Auffälligkeit gegeben ist. So ist die<br />

Geschlechtszugehörigkeit durch das 23. Chromosomenpaar<br />

determiniert, das beim Mann unterschiedliche<br />

(XY), bei der Frau homologe Paarlinge (XX)<br />

aufweist. Über 1.500 Chromosomenanomalien wurden<br />

beschrieben. Die meisten führen zum Tode oder<br />

zu pathologischen Entwicklungen. Die häufigste<br />

Chromosomenanomalie, die Trisomie 21 (das 21.<br />

Chromosom hat drei statt zwei Stränge), führt zum<br />

Down-Syndrom (volkstümlich als Mongolismus<br />

bezeichnet): Neben körperlichen Auffälligkeiten<br />

(wie einem mongoloiden Gesichtsschnitt) weisen<br />

die Träger geistige Behinderungen auf und sind<br />

nicht fortpflanzungsfähig.<br />

Denkanstöße<br />

Auf die Leistung eines Kindes in der Schule<br />

wirken viele Faktoren ein. Denken Sie<br />

darüber nach, wie sich die Anlagen, die Familie,<br />

die Qualität des Unterrichts und<br />

die verfügbaren Unterrichtsmaterialien auf<br />

die Leistung eines 12-Jährigen im Mathematikunterricht<br />

auswirken.<br />

Caspar Hauser wuchs allein in einem dunklen<br />

Verließ auf. Was meinen Sie, welche<br />

kognitiven Fähigkeiten am meisten beeinträchtigt<br />

waren.<br />

2.2.2 Passung in ein Erbgangsmodell<br />

Eine zweite Möglichkeit, Erbeinflüsse zweifelsfrei<br />

nachzuweisen, besteht dann, wenn ein Merkmal<br />

oder eine Krankheit in aufeinander folgenden Generationen<br />

bezüglich Aussehen und Auftreten einem<br />

der bekannten Erbgangsmodelle entspricht (Kap. 2).<br />

Die Mendel’schen Gesetze beruhen auf einfachen<br />

Erbgangsmodellen, in denen jeweils ein Gen die<br />

Ausprägung bestimmt. Bei klar abgrenzbaren (diskreten)<br />

Merkmalen kann der Erbgang in der Generationenfolge<br />

leicht verfolgt werden, wenn die Ausprägung<br />

durch ein einzelnes Gen determiniert wird.<br />

Dabei ist zu beachten, dass Allele dominant oder<br />

rezessiv sein können. Viele Krankheiten werden<br />

20 2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll?


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

durch rezessive Allele vererbt und kommen erst<br />

dann zur Ausprägung, wenn zwei identische rezessive<br />

Allele zusammentreffen. Haben Blutsverwandte<br />

Nachkommen, ist die Wahrscheinlichkeit für diese<br />

Krankheiten wesentlich höher als bei Nachkommen<br />

von Nichtverwandten. Die Beobachtung dieser Tatsache<br />

dürfte zum Verbot der Heirat zwischen Blutsverwandten<br />

geführt haben.<br />

Bei multigener Vererbung sind die Auftretenshäufigkeiten<br />

von Erkrankungen ein Indiz. Viele Krankheiten<br />

haben aufgrund genetischer Dispositionen<br />

ein erhöhtes Auftretensrisiko (z. B. Diabetes mellitus,<br />

verschiedene Organtumore, auch Schizophrenie<br />

und Alkoholismus). Anlagebedingt ist lediglich ein<br />

erhöhtes Risiko, das je nach Entwicklungsumständen,<br />

Umwelt und Lebensführung zum Ausdruck<br />

kommt oder nicht. Welche Einflussfaktoren dabei<br />

eine Rolle spielen, muss zur Vermeidung der Risiken<br />

aufgeklärt werden.<br />

Insgesamt spielen Erbgangsanalysen in der Medizin<br />

eine viel größere Rolle als in der Psychologie,<br />

weil bei kontinuierlichen psychologischen Variablen<br />

multigene Vererbung vorliegt. Hier wären nur familiäre<br />

Häufungen extremer Merkmalsausprägung als<br />

Indiz für Anlageeinflüsse anzusehen.<br />

2.2.3 „Reinzüchtung“: Wie wirkt sich die<br />

Merkmalsähnlichkeit von Eltern aus?<br />

In der Tierzucht sind Versuche der „Reinzüchtung“<br />

kontinuierlich abgestufter Merkmale durch Paarung<br />

von Individuen mit derselben extremen Merkmalsausprägung<br />

in aufeinander folgenden Generationen<br />

üblich. Gibt es dazu eine Analogie bei Menschen? In<br />

unserer Kultur ist die Wahl der Ehepartner in Bezug<br />

auf Intelligenz nicht zufällig: Die IQs von Ehepartnern<br />

sind recht hoch korreliert (r = .50 nach Vandenberg,<br />

1972). Man könnte den Mittelwert des IQ<br />

beider Eltern bilden und bei Paaren mit demselben<br />

Mittelwert zwei Stichproben bilden:<br />

Paare mit etwa dem gleichen IQ,<br />

Paare mit sehr unterschiedlichen IQ.<br />

Wenn die Geschwister mit Eltern der 1. Stichprobe<br />

geringere Unterschiede im IQ aufweisen würden als<br />

die Geschwister mit Eltern aus der zweiten Stichprobe,<br />

wäre ein genetischer Einfluss nachgewiesen.<br />

Auch ist damit zu rechnen, dass extremere Ausprägungsgrade<br />

der Intelligenz in der Population häufiger<br />

werden, wenn über mehrere Generationen diesbezügliche<br />

Ähnlichkeiten Kriterium bei der Partnerwahl<br />

war.<br />

2.2.4 Populationsgenetische Analysen<br />

Bei allen kontinuierlich abgestuften psychologischen<br />

Variablen wie Intelligenz, Verträglichkeit oder Aggressivität<br />

sind wie gesagt polygene Erbeinflüsse anzunehmen,<br />

die in Interaktion mit Erfahrungs- und<br />

Umwelteinflüssen die Entwicklung bestimmen. Für<br />

den Nachweis von Erbeinflüssen wurden sog. populationsgenetische<br />

Analysen verwendet. Da deren Ergebnisse<br />

oft missverstanden werden, werden sie hier<br />

etwas ausführlicher behandelt.<br />

In einer Population gibt es zwischen den Individuen<br />

Unterschiede in der Ausprägung von Fähigkeiten<br />

und Merkmalen,<br />

Anlageunterschiede,<br />

Umweltunterschiede.<br />

Anlage- und Umweltunterschiede sind oft konfundiert.<br />

Sir Francis Galton (1822–1911), ein Vetter von<br />

Charles Darwin, hatte beobachtet, dass berühmte<br />

Wissenschaftler häufig aus denselben Familien<br />

stammten („English Men of Science“, 1887). Er<br />

schloss daraus auf eine Vererbung wissenschaftlicher<br />

Begabung. Dies war voreilig, denn nicht nur die Erbanlagen,<br />

sondern Erziehung und Milieueinflüsse in<br />

diesen Familien (spezifizierbar als Anregung, Bildung,<br />

Anforderung und Vorbildwirkung usw., eventuell<br />

auch als Hilfe bei der Positionsfindung) könnten<br />

für Berufsorientierung und -erfolg von Belang<br />

gewesen sein.<br />

Die Auflösung dieser Konfundierung von Anlageund<br />

Umweltähnlichkeiten ist das methodische Problem<br />

der Populationsgenetik. Die Untersuchung von<br />

Zwillingen und von Adoptivkindern sind die beiden<br />

„klassischen“ Methoden. Da der gleiche Phänotypus,<br />

z. B. ein Intelligenzquotient (IQ), auf verschiedenen<br />

Wegen zustande kommen kann – ein mittlerer<br />

IQ beispielsweise durch die Kombination einer<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

2.2 Erfassung von Erbunterschieden 21


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

guten Begabung mit einer ungünstigen Umwelt oder<br />

einer schwachen Begabung mit einem optimalen<br />

Milieu – kann der Einzelfall keine Aufklärung über<br />

die Gewichte der beiden Faktorengruppen in der<br />

Population bringen. Man braucht dazu größere und<br />

repräsentative Stichproben.<br />

Zwillingsuntersuchungen<br />

Die Anlageähnlichkeit nimmt mit abnehmenden<br />

Verwandtschaftsgraden ab. Eineiige Zwillinge (EZ)<br />

entwickeln sich aus einem einzigen befruchteten Ei<br />

und sind anlagemäßig identisch. Alle Unterschiede<br />

müssen auf andere als Anlagefaktoren zurückgeführt<br />

werden. Bei allen anderen Verwandtschaftsgraden<br />

können die phänotypischen Unterschiede sowohl<br />

auf Anlageunterschieden als auch auf Erfahrungsoder<br />

Umweltunterschieden beruhen.<br />

Zweieiige Zwillinge (ZZ) sind anlagemäßig nicht<br />

ähnlicher als normale Geschwister, mögen aber<br />

vielleicht, da sie gleich alt sind, mehr an Kontext<br />

und Erfahrungen teilen als diese. Eventuell beobachtete<br />

phänotypische Ähnlichkeiten zwischen ZZ und<br />

altersungleichen Geschwistern wären dann auf größere<br />

Umweltdifferenzen bei Letzteren zurückzuführen.<br />

Tatsächlich wurden allerdings sogar geringere<br />

Ähnlichkeiten bei gemeinsam aufwachsenden<br />

ZZ-Paaren als bei altersungleichen Geschwistern<br />

und getrennt aufwachsenden ZZ-Paaren beobachtet<br />

(vgl. Tab. 1.1), was mit Bemühungen der ZZ um<br />

persönliche Identität durch Abgrenzung vom anderen<br />

Zwilling erklärt wurde. Im Durchschnitt sind<br />

die phänotypischen Ähnlichkeiten umso größer,<br />

je enger die genetische Verwandtschaft ist, also bei<br />

EZ größer als bei anderen Geschwisterpaaren oder<br />

bei Vettern. Zwischen Eltern und Kindern sind sie<br />

größer als zwischen Großeltern und Enkeln.<br />

Hypothese dieses Untersuchungsansatzes war folgende:<br />

Falls Umweltähnlichkeit von Bedeutung ist,<br />

sollten bei gleichem Verwandtschaftsgrad die Paarlinge<br />

umso ähnlicher sein, je länger sie zusammen,<br />

also im selben Kontext, gelebt haben. Allerdings<br />

bedeutet Leben in derselben Familie, am selben Ort<br />

usw. noch nicht, dass der Entwicklungskontext für<br />

die Geschwister identisch ist. Ein Geschwister kann<br />

z. B. dominanter, beliebter oder schwieriger sein,<br />

was voraussetzt, dass die Kontexte für dieses Kind<br />

anders sind als für sein Geschwister.<br />

EZ-Paare sind sich ähnlicher als ZZ-Paare. Dass<br />

gemeinsam aufwachsende EZ ähnlicher sind als ZZ,<br />

könnte auch damit erklärt werden, dass auch die<br />

Umwelt für EZ-Paare meist ähnlicher ist. Schon von<br />

Bracken (1933) ermittelte durch Befragungen von<br />

Eltern, Lehrern und den Zwillingen selbst, dass im<br />

Vergleich zu ZZ-Paaren EZ eine längere Zeit des<br />

Tages zusammen verbringen, häufiger die gleichen<br />

Freunde haben, sich in der Schule häufiger helfen,<br />

mehr füreinander eintreten und häufiger gleiche<br />

Interessen haben. Sie sind schwieriger zu unterscheiden<br />

und werden daher auch ähnlicher behandelt<br />

und beurteilt als die ZZ-Paare.<br />

Getrennt aufwachsende Zwillingspaare. Aussagekräftiger<br />

bezogen auf die Anlage-Umwelt-Einflüsse<br />

sind Vergleiche zwischen EZ- und ZZ-Paaren, die in<br />

früher Kindheit getrennt wurden und nicht gemeinsam<br />

aufgewachsen sind. Auch hier wurden regelmäßig<br />

größere Ähnlichkeiten bei EZ-Paaren gefunden.<br />

Auch dieses Ergebnis wurde kritisch hinterfragt. Tatsächlich<br />

sind viele Geschwisterpaare in verwandten<br />

Familien aufgewachsen, nicht selten hatten die Paare<br />

Kontakt zueinander in der Schule und in der Freizeit.<br />

Eine Kontrolle des Ausmaßes der Gemeinsamkeiten<br />

ergab jedoch keine Effekte und die Korrelation<br />

getrennt aufgewachsener EZ-Paare in einer Studie<br />

von Lykken und Bouchard (1984), die keinerlei<br />

Kontakt untereinander hatten, war nicht geringer als<br />

dies aus anderen Studien bekannt ist.<br />

Das generelle Ergebnismuster im Vergleich von<br />

EZ und ZZ ist nicht auf Intelligenz beschränkt.<br />

Goldsmith (1983) gibt einen Überblick über 26 Studien<br />

zur Erblichkeit einer Vielfalt von Temperaments-<br />

und Persönlichkeitsmerkmalen. Die Arbeiten<br />

erstrecken sich über einen breiten Altersbereich. Die<br />

Ergebnisse zeigen, dass die meisten Persönlichkeitsmerkmale<br />

(z. B. Aggressivität, Selbstkontrolle, Kontrollüberzeugungen,<br />

Ängstlichkeit, Impulsivität, Soziabilität)<br />

bei EZ-Paaren deutlich ähnlicher sind als<br />

bei ZZ-Paaren (vgl. hierzu auch Kap. 2).<br />

22 2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll?


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Unter der Lupe<br />

Ein Forschungsbeispiel zur Populationsgenetik: Intelligenz<br />

Tabelle 1.1 zeigt Korrelationen der Intelligenz<br />

erwachsener Paarlinge unterschiedlichen Verwandtschaftsgrades,<br />

die zusammen oder getrennt<br />

aufgewachsen sind. Anlageähnlichkeit (EZ, ZZ,<br />

Geschwister, nicht verwandte „Paare“ mit nur<br />

zufälliger Anlageähnlichkeit) und Umweltähnlichkeit<br />

(gemeinsam bzw. nicht gemeinsam aufgewachsene<br />

Paare) sind also unabhängig variiert.<br />

Die nicht gemeinsam aufwachsenden Geschwister<br />

wurden in früher Kindheit getrennt.<br />

Getrennt aufgewachsene EZ weisen eine höhere<br />

IQ-Ähnlichkeit auf als gemeinsam aufgewachsene<br />

Geschwister und ZZ. Auch getrennt aufwachsende<br />

Geschwister haben eine beträchtliche Ähnlichkeit,<br />

während nicht verwandte Paarlinge, die in der<br />

gleichen Umwelt aufgewachsen sind (z. B. in einer<br />

Adoptivfamilie), keine Ähnlichkeit aufweisen. In<br />

den untersuchten Stichproben ist also ein größerer<br />

Anteil an der Varianz des IQ auf genetische<br />

Verwandtschaft als auf gemeinsame familiäre Entwicklungsumwelt<br />

zurückzuführen.<br />

Tabelle 1.1. Phänotypische Ähnlichkeit im Erwachsenenalter<br />

als Korrelation zwischen Paarlingen bei unterschiedlichem<br />

Verwandtschaftsgrad und unterschiedlicher<br />

Umweltähnlichkeit (nach Bouchard et al., 1994)<br />

Verwandtschaftsgrad N Intelligenz<br />

Eineiige Zwillinge<br />

gemeinsam aufgewachsen 190 .86<br />

getrennt aufgewachsen 158 .75<br />

Zweieiige Zwillinge<br />

gemeinsam aufgewachsen 178 .39<br />

getrennt aufgewachsen 112 .35<br />

Geschwister<br />

gemeinsam aufgewachsen 271 .54<br />

getrennt aufgewachsen 28 .47<br />

Kinder, nicht verwandt<br />

gemeinsam aufgewachsen 108 –.02<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Untersuchungen in Adoptivfamilien<br />

Überzufällige Ähnlichkeiten zwischen Adoptiveltern<br />

und adoptierten Kindern – sofern sie nicht verwandt<br />

sind – und zwischen biologisch nicht verwandten<br />

Geschwistern in einer Adoptivfamilie können nur<br />

aus zwei Quellen stammen:<br />

einer differentiellen Auswahl oder selektive Platzierung<br />

bei Adoptionen, z. B. derart, dass Kinder<br />

mit höher eingeschätzter Intelligenzanlage in gebildetere<br />

(intelligentere) Adoptivfamilien vermittelt<br />

werden,<br />

der Sozialisation der adoptierten Kinder in der<br />

Adoptivfamilie und den über sie vermittelten<br />

Kontexten (Schulen u. a.).<br />

Eine überzufällige Korrelation zwischen den biologischen<br />

Eltern und ihren frühzeitig adoptierten Kindern<br />

ist – falls selektive Platzierung ausgeschlossen werden<br />

kann – nur auf Anlageähnlichkeiten zurückzuführen.<br />

Unter der Lupe<br />

Ein Untersuchungsbeispiel<br />

Munsinger (1975) hat aus 17 Untersuchungen<br />

über die Korrelation des IQ früh adoptierter<br />

Kinder mit dem IQ der Adoptiveltern und der<br />

biologischen Eltern die methodisch besten wie<br />

folgt zusammengefasst: Der IQ von Adoptivkindern<br />

ist mit dem mittleren IQ der Adoptiveltern<br />

nur gering korreliert (r = .19), mit dem IQ der<br />

biologischen Mütter signifikant höher (r = .34),<br />

obwohl die Schätzungen des IQ der biologischen<br />

Mütter unsicherer waren als die der Adoptiveltern.<br />

Zum Vergleich: Der Korrelationskoeffizient<br />

<br />

2.2 Erfassung von Erbunterschieden 23


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Veränderung des Erblichkeitskoeffizienten mit<br />

dem Lebensalter<br />

Die Erblichkeitskoeffizienten bleiben im Laufe der<br />

Entwicklung nicht stabil, sondern ändern sich systematisch<br />

von der frühen Kindheit bis zur Adoleszenz.<br />

Sie sprechen in der Summe für die These, dass sich<br />

genetische Ähnlichkeiten und Unterschiede nach der<br />

Vorschulperiode immer deutlicher manifestieren,<br />

oder umgekehrt, dass die Umwelteinflüsse in den<br />

ersten Lebensjahren zwar Effekte haben, aber keine<br />

bis zur Adoleszenz und dem Erwachsenenalter stabil<br />

bleibende Unterschiede erzeugen. Plomin und<br />

Thompson (1988) fassten die vorliegenden Studien<br />

zur Intelligenzentwicklung so zusammen, dass die<br />

Erblichkeitskoeffizienten von durchschnittlich 20 %<br />

in der frühen Kindheit über 40 % in der Kindheit<br />

auf 60 % in der Adoleszenz wachsen.<br />

Zwillings- und Geschwisterstudien in biologischen<br />

Familien. Die Korrelationen zwischen ZZ sind in den<br />

ersten Lebensjahren mit r = .60 bis .75 höher, als die<br />

Vererbungstheorie erwarten ließe (nämlich r = .50),<br />

denn ZZ sind sich genetisch im Durchschnitt so ähnzwischen<br />

dem IQ von Kindern und dem mittleren<br />

IQ ihrer biologischen Eltern ist r = .58, wenn<br />

die Kinder bei den Eltern leben (vgl. Tab. 1.2).<br />

Die Ergebnisse belegen, dass es hier einen Erbeinfluss<br />

gibt.<br />

Tabelle 1.2. Korrelationen der Intelligenz von Kindern und ihren biologischen Adoptiveltern (nach Munsinger,<br />

1975)<br />

N<br />

durchschnittliche<br />

Korrelation<br />

Durchschnittswert der Adoptiveltern<br />

(Intelligenzalter) ¥ IQ des Kindes 351 .19<br />

Durchschnittswert der biologischen Eltern<br />

(Intelligenzalter) ¥ IQ des Kindes (zusammen lebend) 378 .58<br />

Durchschnittswert des sozialen Status der biologischen<br />

Eltern ¥ IQ des Kindes (getrennt lebend) 41 .70<br />

IQ der biologischen Mutter ¥ IQ des Kindes<br />

(getrennt lebend) 255 .34<br />

Der Erblichkeitskoeffizient<br />

Erblichkeit (E 2 ) ist definiert als Anteil an der<br />

Gesamtvarianz eines Merkmals in einer Population,<br />

der auf Anlageunterschiede in einer Population<br />

zurückzuführen ist. Einfache Schätzungen stützen<br />

sich auf Korrelationen zwischen EZ- und ZZ-Paaren,<br />

die jeweils in derselben Umwelt aufgewachsen<br />

sind. E 2 = (r EZ – r ZZ ) : (1 – r ZZ ). Setzt man die Werte<br />

aus Tabelle 1.1 in die Formel ein, ergibt sich z. B. für<br />

die gemeinsam aufwachsenden Zwillinge E 2 = .77.<br />

Man verwendet zur Schätzung der Erblichkeit heute<br />

meist komplexe varianzanalytische Verfahren, die<br />

allerdings große varianzreiche Datensätze erfordern.<br />

Typischerweise ergeben sich Erblichkeitskoeffizienten<br />

für die Intelligenz zwischen .50 und .70. Zum<br />

Vergleich: Die Erblichkeitswerte für Schulleistungen<br />

liegen deutlich darunter. Für die meisten Persönlichkeitsmerkmale<br />

werden ebenfalls substantielle<br />

Erblichkeitskoeffizienten zwischen .40 und .50 berichtet<br />

(vgl. Kap. 3).<br />

24 2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll?


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lich wie „normale“ Geschwister. Diese Korrelationen<br />

sind nicht stabil. Nach Daten von Wilson (1983) ist<br />

die größte Ähnlichkeit bei ZZ, die gemeinsam aufwachsen,<br />

im Alter von drei Jahren erreicht, danach<br />

sinkt sie auf den von der Vererbungstheorie erwarteten<br />

Wert von r = .50 ab.<br />

Umgekehrt ist der Verlauf bei altersungleichen<br />

Geschwistern. Legt man die Messwerte jeweils des<br />

gleichen Alters zugrunde, ist in den ersten Lebensjahren<br />

die Ähnlichkeit geringer, als sie von der Vererbungstheorie<br />

erwartet würde. Sie steigt auf die Endhöhe<br />

von r = .50 in der Schulzeit an. Desgleichen<br />

fallen die Korrelationen bei EZ, die gemeinsam aufwachsen,<br />

nicht mit dem Alter ab, sondern steigen von<br />

Werten im ersten Lebensjahr, die denen der ZZ entsprechen<br />

(r = .66), rasch an und bleiben hoch.<br />

Studien in Adoptivfamilien. Das Bild wird durch<br />

Studien mit Adoptivkindern bestätigt. Die Korrelationen<br />

zwischen Adoptiveltern und Adoptivkindern liegen<br />

in den Vorschuljahren zwischen r = .20 und r =<br />

.30, fallen danach in der Regel deutlich ab, während die<br />

Korrelationen zwischen den biologischen Eltern und<br />

ihren früh adoptierten Kindern von Werten um r = .25<br />

in der frühen Kindheit auf Werte bis r = .40 in der<br />

Adoleszenz ansteigen (Gourley, 1979). Die Ähnlichkeit<br />

mit den biologischen Müttern wird mit zunehmendem<br />

Alter größer, die Ähnlichkeit mit den Adoptiveltern<br />

wird geringer. Die Korrelation der Intelligenzwerte<br />

nicht verwandter Adoptivkinder derselben<br />

Familie ist in der frühen und mittleren Kindheit noch<br />

positiv (r = .25 bis .39), fällt aber im Jugendalter auf<br />

.00 zurück (Plomin & Thompson, 1988).<br />

Wie sind diese unterschiedlichen Entwicklungen<br />

zu erklären? Plomin unterschied hypothetisch drei<br />

Arten der Anlage-Umwelt-Kovariation oder -Passung:<br />

die passive, die evokative und die aktive (Plomin,<br />

DeFries & Loehlin, 1977).<br />

Passive Genotyp-Umwelt-Passung. Eltern gestalten<br />

partiell das Leben ihrer Kinder mit ihren Angeboten<br />

und Anforderungen, ihren Interessen usw.<br />

Diese können den ererbten Potentialen und Dispositionen<br />

der Kinder mehr oder weniger entsprechen.<br />

Hat ein Vater z. B. Interesse an Musik, spielt er vielleicht<br />

ein Instrument, hört viel Musik, kauft seinem<br />

Kind früh ein Musikinstrument, lehrt es spielen, ist<br />

erfreut und lobt, wenn sein Kind sich interessiert<br />

und die Angebote aufnimmt. Wenn dieses Angebot<br />

dem Genotyp des Kindes entspricht, liegt eine passive<br />

Genotyp-Umwelt-Passung vor. Passend oder<br />

nicht: Das junge Kind kann sich dem nicht ganz entziehen,<br />

es wird sich diesen Angeboten bzw. Anforderungen<br />

des Vaters auch dann ein Stück weit<br />

anpassen, wenn es den eigenen Talenten und Dispositionen<br />

nicht entspricht.<br />

Evokative Genotyp-Umwelt-Passung. Evokative<br />

(oder reaktive) Passung liegt vor, wenn die Eltern<br />

Wünsche, Interessen, Präferenzen, Talente ihres Kindes,<br />

die dessen Genotyp entsprechen, erkennen und<br />

darauf eingehen, dem Kind also entsprechende<br />

Möglichkeiten bieten oder erlauben. Das wissbegierige<br />

Kind evoziert bei responsiven Eltern häufiger<br />

Wissensangebote, das sportlich begabte mehr Gelegenheiten<br />

zu sportlicher Betätigung.<br />

Aktive Genotyp-Umwelt-Passung. Aktive Passung<br />

liegt dann vor, wenn das Kind selbst aus dem Spektrum<br />

von Angeboten, Settings und Kontexten diejenigen<br />

auswählt, die seinem eigenen Genotyp entspricht,<br />

bzw. wenn das Kind seine Tätigkeitsfelder<br />

selbst gestaltet.<br />

Scarr und Weinberg (1983) nehmen an, dass sich<br />

die Bedeutung dieser drei Arten von Genotyp-<br />

Umwelt-Entsprechungen über das Lebensalter ändert:<br />

Die passive Entsprechung verliert mit steigendem<br />

Lebensalter an Bedeutung, weil die Kinder<br />

evokativ oder aktiv mehr Einfluss gewinnen bzw.<br />

nehmen, die aktive nimmt mit dem Lebensalter, mit<br />

wachsender Mobilität und Autonomie zu.<br />

Mit dieser Annahme lassen sich die oben geschilderten<br />

Daten plausibel interpretieren. Bezüglich einer<br />

passiven Kovariation besteht natürlich in biologischen<br />

Familien wegen der genetischen Ähnlichkeit<br />

zwischen Eltern und Kindern eine höhere Passungschance<br />

als in Adoptivfamilien, sofern keine selektive<br />

Platzierung auf der Basis geschätzter Ähnlichkeit der<br />

Adoptiveltern mit den biologischen Eltern vorliegt.<br />

Wir können also in jedem Lebensalter höhere<br />

Umwelt-Intelligenz-Korrelationen in biologischen<br />

Familien erwarten.<br />

Nicht zum Genotyp passende Anforderungen<br />

und Angebote werden in einem Alter, in dem das<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

2.2 Erfassung von Erbunterschieden 25


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Kind vornehmlich auf passive Entsprechung angewiesen<br />

ist, trotzdem ihre Wirkung haben. Dadurch<br />

können vor allem in früher Kindheit vorübergehend<br />

höhere Ähnlichkeiten zwischen Adoptiveltern und<br />

-kindern (und zwischen Stiefgeschwistern) erzeugt<br />

werden, als auf der Basis ihrer Anlageähnlichkeit zu<br />

erwarten wäre. Je mehr die evokativen und aktiven<br />

Arten an Bedeutung gewinnen, umso mehr setzt<br />

sich die Anlageähnlichkeit in der phänotypischen<br />

Ähnlichkeit durch.<br />

In der Regel werden nicht nur getrennt aufwachsende<br />

EZ einander immer ähnlicher, wenn sie aus<br />

einem breiten Angebot das ihrem Genom entsprechende<br />

aktiv auswählen können und dürfen. Die<br />

Ähnlichkeit zwischen adoptierten Kindern und<br />

ihren biologischen Eltern wächst mit zunehmendem<br />

Lebensalter, die Ähnlichkeit zwischen Stiefgeschwistern<br />

wird geringer.<br />

Die vorgestellten Daten deuten darauf hin, dass<br />

vor allem in den ersten Lebensjahren genetische<br />

Unterschiede durch Milieuunterschiede überlagert<br />

werden können. Mit zunehmendem Alter setzen sich<br />

die Anlageunterschiede stärker durch. Der Genotyp<br />

ist somit als ein Entwicklungsagens anzusehen, das<br />

ständig und selbsttätig wirksam ist.<br />

werden, weil ja alle die optimale Umwelt hatten,<br />

sondern müssten auf Anlageunterschiede (oder<br />

Messfehler) zurückgeführt werden.<br />

Würde dies bedeuten, dass die Umwelt für<br />

die Entwicklung der Intelligenz ohne Bedeutung<br />

ist? Nein, aber wir können Umwelteinflüsse nur<br />

nachweisen, wenn Menschen in unterschiedlichen<br />

Umwelten aufwachsen. Nur wenn das der<br />

Fall ist, aber nicht mit Intelligenzunterschieden<br />

korreliert ist, wäre nachgewiesen, dass diese<br />

Umweltunterschiede für die Entwicklung der<br />

Intelligenz nicht relevant sind, zumindest nicht<br />

in der untersuchten Population.<br />

Umgekehrt: Sollte die Reinzüchtung eines<br />

Merkmals gelingen, wären alle genetischen<br />

Unterschiede in diesem Merkmal in der reingezüchteten<br />

Population beseitigt. Unterschiede<br />

in dieser reingezüchteten Population können<br />

also nicht mit Anlageunterschieden erklärt<br />

werden. Dies hieße selbstverständlich nicht, dass<br />

die Anlagen ohne Bedeutung für die Ausprägung<br />

dieses Merkmals wären. Denn gerade die<br />

Tatsache, dass die Reinzüchtung gelungen ist,<br />

belegte doch den genetischen Einfluss.<br />

Die Interpretation populationsgenetischer Analysen<br />

Lässt sich aus den in Tabelle 1.1 und 1.2 dargestellten<br />

Ergebnissen folgern, dass das Merkmal Intelligenz<br />

stärker durch Anlagen als durch Umwelt determiniert<br />

ist? Diese Interpretation der Ergebnisse<br />

drängt sich auf. Sie ist aber in dieser Formulierung<br />

unzulässig, wie das folgende Gedankenexperiment<br />

aufzeigen soll.<br />

Unter der Lupe<br />

Gedankenexperiment<br />

Nehmen wir einmal an, für alle Menschen sei<br />

hinsichtlich der Intelligenzentwicklung dieselbe<br />

Umwelt optimal und diese sei realisiert.<br />

In diesem Falle könnten Intelligenzunterschiede<br />

– wenn es solche noch geben sollte –<br />

nicht mehr mit Umwelteinflüssen erklärt<br />

<br />

Dieses Gedankenexperiment zeigt auf, dass Erblichkeitskoeffizienten<br />

nur die Verhältnisse in der<br />

jeweils untersuchten Population beschreiben und<br />

nicht generalisiert werden können. In jeder Population<br />

sind spezifische Anlageunterschiede und spezifische<br />

Umweltunterschiede mit bestimmten Häufigkeiten<br />

realisiert. Andere Populationen können bezogen<br />

auf die Genome heterogener sein: Das würde<br />

wohl bei gleicher Umweltvarianz den Erblichkeitskoeffizienten<br />

erhöhen. In Populationen mit größerer<br />

Umweltvarianz, der gleicher genetischer Varianz wie<br />

in den bisher untersuchten wäre wohl ein größerer<br />

Anteil der Merkmalsvarianz durch Umweltunterschiede<br />

erklärt, was den Erblichkeitskoeffizienten<br />

vermindern würde.<br />

Bezüglich des IQs wurde die Erblichkeit, der<br />

genetisch bedingte Anteil an der Merkmalsvarianz,<br />

in den untersuchten Populationen auf mindestens<br />

50 % geschätzt, der Umweltanteil um gut 10 % nied-<br />

26 2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll?


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riger (z. B. Bouchard & Segal, 1985; Vandenberg &<br />

Vogler, 1985). Was bedeutet das? Fehlinterpretationen<br />

sind häufig.<br />

Fehlinterpretationen<br />

(1) Aus dem Varianzanteil des IQ in der untersuchten<br />

Population, der auf Anlageunterschiede<br />

zurückzuführen ist, kann und darf keinesfalls auf<br />

den „Anteil“ von Erbeinflüssen auf die Ausbildung<br />

des Merkmals bei einzelnen Personen<br />

geschlossen werden. Es gibt keine Möglichkeit,<br />

z. B. beim IQ eines Menschen Anlage- und<br />

Umwelteinflüsse in prozentuale Anteile zu trennen.<br />

Anlagen und Umwelteinflüsse wirken zusammen<br />

und können nicht addiert werden.<br />

(2) Aus dem Erblichkeitskoeffizienten des IQ lassen<br />

sich keine Prognosen über mögliche Umwelteinflüsse<br />

ableiten. Hierzu müssen die Effekte<br />

von Umweltveränderungen durch „Experimente<br />

des Lebens“ wie Adoptionen oder durch gezielte<br />

Interventionen wie kognitive Frühförderung<br />

(vgl. Kap. 22 und 23) längsschnittlich und im<br />

Vergleich mit Kontrollgruppen erfasst werden.<br />

Die Adoption von Kindern aus sozial schwachem<br />

Milieu in Mittelschichtfamilien stellt eine<br />

solche dauerhaft angelegte Förderung dar und<br />

führt im Durchschnitt auch zu beträchtlichen<br />

und dauerhaften Anstiegen des IQ (Scarr, 1993),<br />

auch wenn die interindividuellen Unterschiede<br />

zwischen den adoptierten Kindern dadurch<br />

nicht aufgehoben werden und höher korreliert<br />

sind mit den Unterschieden zwischen den biologischen<br />

Eltern als mit denen zwischen den<br />

Adoptiveltern (vgl. Tab. 1.2).<br />

Ein hoher Erblichkeitskoeffizient könnte reduziert<br />

werden, wenn es große Veränderungen bezüglich der<br />

Güte der Entwicklungsumwelten gibt, von denen<br />

nicht die ganze Population gleichermaßen betroffen<br />

ist, sondern nur Teilpopulationen, weil dadurch die<br />

Umweltvarianz größer würde.<br />

Die richtigen Fragen stellen<br />

Die beschriebenen Methoden der Familienforschung<br />

für die Ermittlung von Anlage- und Umwelteinflüssen<br />

haben gezeigt, dass die durch Korrelatio-<br />

nen erfassten Ähnlichkeiten zwischen Geschwisterpaaren<br />

eher wenig davon beeinflusst werden, ob die<br />

Geschwister gemeinsam oder getrennt aufwuchsen.<br />

Die Unterscheidung zwischen gemeinsamem oder<br />

getrenntem Aufwachsen lässt viele Fragen offen: Was<br />

sind entwicklungsrelevante familiäre Umwelteinflüsse?<br />

Welche außerfamiliären Einflüsse sind gleichzeitig<br />

gegeben, und wie relevant sind sie? Welche<br />

Unterschiede erleben und erfahren Geschwister, die<br />

in derselben Familie aufwachsen, und Geschwister,<br />

die in verschiedenen Familien aufwachsen? Gibt es<br />

je nach Anlagen unterschiedliche optimale und<br />

problematische Einflüsse? Welchen Einfluss haben<br />

die Heranwachsenden selbst auf die Gestaltung ihrer<br />

Entwicklungskontexte, und welche Freiheiten haben<br />

sie in der Wahl ihrer Umwelten?<br />

Anne Anastasi hat schon 1958 davor gewarnt,<br />

in der Debatte über Anlage- und Umwelteinflüsse<br />

die falschen Fragen zu stellen, und betont, dass es<br />

viele Wege des Zusammenwirkens von Anlagen und<br />

Umwelten gibt und dass es sinnvoller sei, diese Wege<br />

zu erkunden, als nach Einflussanteilen zu fragen. Die<br />

Frage nach Anteilen birgt je nach den Antworten,<br />

die auch voreingenommen und selektiv aufgenommen<br />

und interpretiert werden, das Risiko, die<br />

Erbeinflüsse zu überschätzen, und das Risiko eines<br />

unkritischen Optimismus, dass man die Entwicklung<br />

über Kontexte und Maßnahmen beliebig beeinflussen<br />

könne. Die Koaktionen zwischen Anlage<br />

und Umwelt sind sicher vielfältig. Aufgabe entwicklungspsychologischer<br />

Forschung ist es, die Art des<br />

Zusammenwirkens zu erkunden.<br />

Denkanstöße<br />

Inwiefern könnten Vergleiche der Kinder von<br />

EZ mit Kindern von ZZ oder von altersungleichen<br />

Geschwistern informativ sein für<br />

den Nachweis von Anlageeinflüssen?<br />

Was erwarten Sie: Sind Geschwister, die bei<br />

ihren biologischen Eltern aufwachsen ähnlicher<br />

als (biologische) Geschwister, die in gemeinsam<br />

in einer Adoptivfamilie aufwachsen?<br />

Formulieren Sie, was ein Korrelationskoeffizient<br />

besagt und was nicht, um den<br />

<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

2.2 Erfassung von Erbunterschieden 27


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

scheinbaren Widerspruch aufzulösen, dass<br />

eine Adoption für Kinder aus sozial schwachem<br />

Milieu und von wenig intelligenten<br />

Eltern hinsichtlich der Intelligenzentwicklung<br />

eine große Chance bedeutet, obwohl<br />

die Korrelationsbefunde zeigen, dass die Ähnlichkeit<br />

mit den biologischen Eltern<br />

größer ist als die mit den Adoptiveltern und<br />

mit dem Alter wächst, während die Korrelation<br />

mit den Adoptiveltern mit zunehmendem<br />

Alter geringer wird.<br />

3 Weitere Erklärungskonzeptionen<br />

Die <strong>Entwicklungspsychologie</strong> hat zu erklären, warum<br />

es zu Veränderungen kommt, warum es zu Stabilitäten<br />

kommt und warum es diesbezüglich interund<br />

intraindividuelle Unterschiede gibt. Folgende<br />

Konzeptionen werden kurz vorgestellt: Reifung, Reifestand,<br />

sensible Periode, Konstruktion, Sozialisation,<br />

Entwicklungsaufgaben, -probleme und -krisen.<br />

3.1 Reifung<br />

Definition<br />

Als Reifung werden gengesteuerte Veränderungen<br />

von Strukturen und Funktionen der<br />

Organe, des Zentralnervensystems, der<br />

hormonalen Systeme, der Köperformen usw.<br />

verstanden, deren Beschreibung und Erklärung<br />

allerdings nicht Gegenstand der Psychologie,<br />

sondern biologischer Wissenschaften ist. Ihre<br />

vielfältigen Wirkungen sind aber Themen der<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong> und werden in vielen<br />

Kapiteln dieses Buches behandelt.<br />

Heute sind viele der organismischen Struktur- und<br />

Funktionsveränderungen bis hinunter auf das molekulare<br />

Niveau beschreibbar (vgl. z. B. Kap. 2). Bevor<br />

dies möglich war, hat man in der Geschichte der<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong> Reifung immer dann<br />

angenommen, wenn universelle neue Funktionen<br />

(Leistungen, Interessen u. a.) nicht auf Lernen<br />

zurückzuführen waren, wenn z. B. Erfahrungs-,<br />

Übungs-, Lernmöglichkeiten eingeschränkt oder<br />

ausgeschaltet waren und es trotzdem keine deutliche<br />

Verzögerung im Erwerb einer Funktion gab oder<br />

wenn deren Erwerb durch Üben nicht deutlich früher<br />

stattfand.<br />

Säuglinge werden bereits mit einem umfangreichen<br />

Verhaltensrepertoire geboren (vgl. Kap. 6), dessen<br />

Erwerb nicht auf Lernen zurückgeführt wurde.<br />

Selbständiges Gehen wird um den 13. Lebensmonat,<br />

Zwei-Wort-Sätze um den 18. Lebensmonat beobachtet.<br />

Und wir kennen erstens keinen Weg, den<br />

Erwerb dieser Kompetenzen durch Übung deutlich<br />

vorzuverlegen, und jede für die Spezies normale,<br />

also nicht deprivierte Umwelt reicht für ihre Entwicklung<br />

aus.<br />

Fehlende Erfahrungsmöglichkeiten<br />

Eine experimentelle Ausschaltung von Erfahrungsmöglichkeiten<br />

wurde in Tierversuchen, auch bei<br />

Affen (Harlow & Zimmermann, 1958) häufig realisiert.<br />

Beim Menschen sind „Experimente des<br />

Lebens“ mit Einschränkungen von Erfahrungs- und<br />

Lernmöglichkeiten durch widrige Umstände eine<br />

Erkenntnisquelle (z. B. die „Wolfskinder“, die ohne<br />

menschliche Kontakte aufwuchsen, Fälle extremer<br />

Deprivation von Kindern durch Vernachlässigung<br />

und soziale Isolation, etwa durch Leben mit einer<br />

autistischen Mutter).<br />

Auch Extremvarianten kulturell geprägter Entwicklungsbedingungen<br />

sind aufschlussreich, wie<br />

etwa das „Binden“ von Säuglingen bei den Hopi-<br />

Indianern in ihren ersten Lebensmonaten, wodurch<br />

deren Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt war.<br />

Dass der dadurch verursachte Rückstand sehr rasch<br />

aufgeholt wurde, hat man als Beleg für die Reifung<br />

der motorischen Entwicklung gewertet (Dennis &<br />

Dennis, 1940).<br />

Spezifische Erfahrungsdeprivationen sind das<br />

Ergebnis sensorischer Defekte wie angeborener<br />

Blindheit und Taubheit sowie von Lähmungen und<br />

Missbildungen der Gliedmaßen. Welche Auswirkun-<br />

28 3 Weitere Erklärungskonzeptionen


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gen haben Blindheit, motorische Beeinträchtigungen<br />

durch Lähmungen oder Gliedmaßenverkümmerung?<br />

Sind Retardierungen reversibel? Spielt die Dauer der<br />

Deprivation eine Rolle und die Lebensperiode, in der<br />

es dazu kommt? Die Auswirkungen sind jeweils hinsichtlich<br />

ihres Ausmaßes und ihrer Reversibilität,<br />

ihrer aktuellen und langfristigen Effekte zu beurteilen.<br />

Zu all diesen entwicklungspsychologischen Fragen<br />

gibt es konkrete Informationen in diesem Buch,<br />

z. B. zur kognitiven und sprachlichen Entwicklung<br />

taub geborener Kinder (Kap. 14).<br />

Denkanstöße<br />

Sie haben weiter oben gelesen, dass Anlagen und<br />

Umwelt in der Entwicklung immer zusammenwirken.<br />

Nun wird Reifung hier als im Wesentlichen<br />

genetisch gesteuerte Entwicklung dargestellt.<br />

Stellen Sie Fragen nach möglichen<br />

Umwelteinflüssen auf die Auslösung, den Verlauf<br />

und das Ergebnis von Reifungsvorgängen.<br />

3.2 Reifestand und sensible Periode<br />

Definition<br />

Die Konzepte Reifestand („readiness for learning“)<br />

und sensible Periode beinhalten, dass ein<br />

bestimmter Entwicklungsstand gegeben sein muss,<br />

damit Erfahrungen auf fruchtbaren Boden fallen<br />

oder damit effizient geübt werden kann.<br />

Reifestand. Jede Mutter kann die Beobachtung<br />

machen, dass – zur rechten Zeit begonnen – mit<br />

wenig Aufwand dem Kind die Kontrolle über die<br />

Blasenentleerung oder selbständiges Gehen oder<br />

Fahrradfahren beigebracht werden kann. Versucht<br />

man es „zu früh“, ist es langwierig oder scheitert.<br />

Ähnliches kennen wir aus der Entwicklung der Sprache,<br />

der logischen Operationen oder des moralischen<br />

Denkens.<br />

Die in einer Kultur verbreiteten Meinungen über<br />

Reifung können zutreffend oder falsch sein. Glaubt<br />

man, Lesen sei nicht vor dem sechsten Lebensjahr<br />

(„der Schulreife“) zu erlernen, so werden Anforderungen<br />

und Anregungen darauf abgestellt, und das<br />

geistig normale Kind dieser Kultur wird nicht früher<br />

und auch nicht später lesen lernen (dürfen). Erst<br />

Beobachtungen Fowlers und seiner Nachfolger zeigten,<br />

dass Drei- und Vierjährige bei geeigneten<br />

Methoden durchaus in der Lage sind, lesen zu lernen<br />

(Fowler, 1962).<br />

Prägung. Konrad Lorenz (1935) machte das Konzept<br />

bekannt mit seinen Experimenten zur Prägung<br />

von Graugänsen, die in einem kurzen Zeitfenster<br />

nach der Geburt auf die Muttergans geprägt werden<br />

und dieser nachfolgen. Wenn es keine Gans gibt,<br />

erfolgt die Prägung auf ein anderes sich bewegendes<br />

Surrogat, etwa einen Menschen. Analog hierzu<br />

haben Klaus und Kennell (1987) die Bindung der<br />

Eltern an ihr Kind in den ersten Minuten und Stunden<br />

nach der Geburt beschrieben, was allerdings<br />

nicht unbestritten blieb (vgl. Kap. 6).<br />

Definition<br />

In der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> werden<br />

sensible Perioden als Entwicklungsabschnitte<br />

definiert, in denen – im Vergleich zu vorangehenden<br />

oder nachfolgenden Perioden –<br />

spezifische Erfahrungen maximale positive oder<br />

negative Wirkungen haben, also als Perioden<br />

erhöhter Plastizität unter dem Einfluss<br />

spezifischer Bedingungsfaktoren.<br />

Sensible Periode. Experimentell wäre der Nachweis<br />

einer sensiblen Periode methodisch leicht zu führen,<br />

was aber forschungsethisch problematisch sein kann.<br />

In deskriptiven Studien und Quasi-Experimenten ist<br />

der Nachweis mit Unsicherheiten bezüglich der Vergleichbarkeit<br />

der Stichproben und der realisierten<br />

Bedingungsfaktoren behaftet. In der Theorie der<br />

Ätiologie psychopathologischer Störungen findet<br />

sich immer wieder die Annahme einer besonderen<br />

Verletzlichkeit während der frühen Kindheit und der<br />

dauerhaften Nachwirkungen traumatischer Erfahrungen<br />

und Deprivationen in dieser Periode. Die<br />

Thesen von Spitz (1945) und Bowlby (1951) über die<br />

Gefährdung der kognitiven, sozialen und personalen<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

3.2 Reifestand und sensible Periode 29


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Entwicklung durch Hospitalisierung und andere<br />

Trennungen von der Mutter seien stellvertretend für<br />

viele entsprechende Überzeugungen genannt.<br />

Bekannt geworden ist der Fall des Mädchens<br />

„Genie“, die 13 Jahre isoliert lebte, bevor sie mit<br />

Menschen in Berührung kam. Sie hatte keine Sprache<br />

entwickelt, erwarb dann zwar rasch einen Wortschatz,<br />

konnte aber differenzierte syntaktische und<br />

morphologische Strukturen nicht mehr erwerben,<br />

was für die Existenz einer sensiblen Periode für diese<br />

Komponenten der Sprachentwicklung spricht (Curtiss,<br />

1977).<br />

Erklärungshypothesen. Wie können sensible Perioden<br />

erklärt werden? Was ist erklärungsbedürftig? Der<br />

Beginn einer sensiblen Periode ist wie die Reifestandshypothesen<br />

durch den Erwerb von Lern- oder<br />

Erfahrungsvoraussetzungen zu erklären. Schwieriger<br />

ist die Frage zu beantworten, warum nach ihrem<br />

Ende die gleichen Erfahrungen weniger wirksam<br />

sind, warum dann ein Lernen oder Umlernen weniger<br />

leicht möglich ist. Dazu müssen von Fall zu Fall<br />

Hypothesen entwickelt und abgeklärt werden.<br />

In einer Kategorie von Hypothesen werden Veränderungen<br />

von Hirnfunktionen angenommen. Für<br />

die Sprachentwicklung wurde ein angeborener<br />

Spracherwerbsmechanismus angenommen (Kap. 14),<br />

der ab dem siebten Lebensjahr abgebaut wird, was<br />

das Erlernen einer Sprache erschwert. Eine andere<br />

Hypothese besteht im Verlust zerebraler Plastizität<br />

mit fortschreitendem Alter. Einige Funktionsverluste<br />

durch Hirnverletzungen können in der Kindheit<br />

ausgeglichen werden, weil andere Hirnregionen<br />

diese Funktionen wenigstens partiell übernehmen<br />

können. Beispielsweise können Sprachleistungen der<br />

linken Hemisphäre, die durch Verletzungen verloren<br />

gehen, in der Kindheit durch die rechte Hemisphäre<br />

übernommen werden, nach dem zwölften<br />

Lebensjahr jedoch nicht mehr (zu dieser Thematik:<br />

Petermann, Niebank & Scheithauer, 2004; Kap. 3).<br />

Eine psychologische Erklärungshypothese für das<br />

erschwerte Umlernen lautet, dass sich Dispositionen<br />

und Erwartungen durch ihre Existenz selbst stabilisieren.<br />

Wer z. B. in einer Phase unkritischer Identifikation<br />

mit Autoritäten deren Vorurteile übernimmt,<br />

wird vielleicht künftig wegen seiner Vorurteile eine<br />

unvoreingenommene Informationsaufnahme vermeiden.<br />

Die Stabilität von Ängsten kann man dann<br />

lernpsychologisch damit erklären, dass sie zur Vermeidung<br />

der Angst auslösenden Objekte und Situationen<br />

motivieren: Wer wegen seiner Ängste auf<br />

Dauer die bedrohlich erscheinende Realität vermeidet,<br />

kann auch nicht erfahren, dass diese unbegründet<br />

sind, d. h., dass die angenommenen Gefahren<br />

nicht existieren oder wegen gewachsener Kompetenzen<br />

beherrscht werden. Wer in der Kindheit gelernt<br />

hat, seinen Mitmenschen misstrauisch zu begegnen<br />

und das Risiko einer engen emotionalen Bindung an<br />

andere zu vermeiden, wird möglicherweise auch<br />

seine künftigen Sozialbeziehungen nach diesem<br />

Muster aufbauen. Dass er mit dieser Haltung immer<br />

wieder abweisenden Reaktionen seiner Mitmenschen<br />

begegnen wird, wird für ihn kein Anlass zum<br />

Umlernen sein, sondern eher eine Bestätigung seiner<br />

Grundhaltung bedeuten. Insofern ist es eine nicht<br />

unplausible Hypothese, dass Interaktionen mit den<br />

Bezugspersonen der frühen Kindheit zu sozialen<br />

Haltungen wie Vertrauen oder Misstrauen führen,<br />

die sich durch ihre Wirkungen auf andere Menschen<br />

selbst stabilisieren (z. B. Lytton, 1990).<br />

Soziale Etikettierungen tragen zu solchen Stabilisierungen<br />

ebenfalls bei (vgl. auch Kap. 28). Auch<br />

positive Etikettierungen in der Kindheit – z. B. als<br />

tüchtig, brav, freundlich oder hilfsbereit – können<br />

selbststabilisierend wirken, wenn sie in das Selbstkonzept<br />

eingehen und entsprechendes Handeln<br />

motivieren, das in einem responsiven Sozialkontext<br />

anerkannt wird (vgl. auch Kap. 16).<br />

30 3 Weitere Erklärungskonzeptionen


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Unter der Lupe<br />

Die ersten Lebensjahre: Eine sensible Periode<br />

der Intelligenzentwicklung?<br />

Der Nachweis nachhaltiger Wirkungen von<br />

Anregungen in früher Kindheit auf die kognitive<br />

Leistungsfähigkeit (Hunt, 1961) und die These<br />

Benjamin Blooms (1964) über die Vorschuljahre<br />

als sensible Periode der Intelligenzentwicklung<br />

haben zunächst in den USA und dann in anderen<br />

Ländern eine Bewegung der kompensatorischen<br />

Vorschulerziehung entstehen lassen. Sie hatte<br />

das Ziel, anregungsarme Entwicklungsumwelten<br />

in sozial schwachen Familien auszugleichen<br />

(vgl. Kap. 23).<br />

Wenn man die Hypothese einer sensiblen<br />

Periode empirisch belegen möchte, so würden<br />

Daten gebraucht, die eine Altersabhängigkeit<br />

der Korrelationen zwischen Milieuvariablen und<br />

Intelligenz aufzeigen. Diese Korrelationen<br />

müssten während der angenommenen sensiblen<br />

Periode besonders hoch, vorher und nachher<br />

signifikant niedriger sein. Wenn das Vorschulalter<br />

tatsächlich eine sensible Periode für die<br />

Intelligenzentwicklung wäre, müssten Förderprogramme<br />

in dieser Zeit langfristige positive<br />

Wirkungen zeitigen.<br />

Blooms These einer sensiblen Periode beruht auf<br />

der Beobachtung, dass sich die Rangordnung in<br />

Bezug auf den IQ in der Vorschulperiode rasch stabilisiert,<br />

was eine Stabilisierung der interindividuellen<br />

Unterschiede in den Testleistungen bedeutet (vgl.<br />

Abb. 1.6).<br />

Allerdings bleibt ungeklärt, ob diese Stabilisierung<br />

nicht auf stabil bleibenden Milieuunterschieden<br />

beruht. Das wäre abzuklären durch<br />

Studien, in denen drei Stichproben von Kindern<br />

verglichen werden:<br />

Kinder, die nach dem Ende der vermuteten<br />

sensiblen Periode keine Veränderung in der<br />

Qualität ihrer Entwicklungsumwelt zu<br />

verzeichnen haben,<br />

Kinder, die diesbezüglich eine signifikante Verbesserung<br />

erfahren,<br />

Abbildung 1.6. Korrelationen zwischen der Intelligenz<br />

in Kindheit und Adoleszenz und der Intelligenz im frühen<br />

Erwachsenenalter<br />

Kinder, die eine signifikante Verschlechterung<br />

erfahren.<br />

Eine sensible Periode wäre nur dann anzunehmen,<br />

wenn Verbesserungen und Verschlechterungen<br />

der Entwicklungsumwelt nach der vermuteten<br />

sensiblen Periode keine Effekte auf die<br />

individuellen Positionen in der Intelligenzverteilung<br />

hätten, wenn sich in der Schulzeit, der<br />

Adoleszenz und im Erwachsenenalter auch bei<br />

deutlichen Veränderungen der Anregungen,<br />

Anforderungen und Schulungsangebote die<br />

Positionen nicht mehr ändern (lassen).<br />

Das ist nicht der Fall. Schon 1970 haben Rees<br />

und Palmer mit Daten aus fünf großen Längsschnittstudien<br />

sozialschichtabhängige Änderungen<br />

des IQs zwischen dem 6. und 17. Lebensjahr<br />

nachgewiesen, im Durchschnitt in der Mittelschicht<br />

nach oben, in der sozial schwachen<br />

Schicht nach unten.<br />

Wirken kompensatorische Vorschulprogramme<br />

nachhaltig?<br />

Die kompensatorischen Vorschulprogramme<br />

haben sich regelmäßig als kurzfristig erfolgreich<br />

erwiesen. Die Leistungs- und Positionsgewinne<br />

waren jedoch nicht stabil, wenn die besondere<br />

Förderung nicht fortgeführt wurde. Follow-up-<br />

Studien haben zwar bei einigen breit angelegten<br />

und die Familien einbindenden Programmen<br />

einen deutlich besseren Schulerfolg nachgewiesen<br />

<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

3.2 Reifestand und sensible Periode 31


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

(Haskins, 1989, vgl. Kap. 2). Dennoch sind Kinder<br />

aus dem sozial schwachen Milieu nach dem<br />

ersten oder zweiten Schuljahr ohne spezifische<br />

Weiterförderung bezüglich des IQ auf ihre Ausgangsposition<br />

zurückgefallen (Jensen, 1973). Dies<br />

ist aber unter der Annahme, die Vorschulzeit sei<br />

eine kritische Periode der Intelligenzentwicklung,<br />

erwartungswidrig. Die Stabilisierung der Förderungseffekte<br />

ist ein theoretisches und praktisches<br />

Problem.<br />

Daraus ist nicht die Folgerung zu ziehen, Bemühungen<br />

um eine angemessene Förderung auf<br />

spätere Lebensphasen zu verschieben. Selbstverständlich<br />

kann es kumulative Defizite bei<br />

langwährenden Deprivationen geben, die immer<br />

schwieriger durch entsprechende kumulative<br />

Anreicherungen rückgängig gemacht werden<br />

können.<br />

Denkanstöße<br />

Versuchen Sie, was die Entwicklung der sexuellen<br />

Orientierung angeht, eine im Vergleich zur<br />

Sicht der Humangenetik alternative Hypothese<br />

zu entwickeln, dass es eine sensible Periode<br />

geben könnte, in der die sexuelle Orientierung<br />

ausgeprägt wird. Und entwerfen Sie einen Forschungsplan,<br />

wie Sie Ihre Hypothese prüfen<br />

könnten.<br />

3.3 Das Modell der sukzessiven<br />

Konstruktion<br />

Stadienabfolgen müssen nicht auf Reifung zurückgeführt<br />

werden. Der Konstruktivismus, den Jean<br />

Piaget (1896–1980) in die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

eingeführt hat, ist eine alternative Erklärung (vgl.<br />

Montada, 2002).<br />

Entwicklung ist nicht eine beliebige, sondern<br />

eine sachlich wie logisch geordnete<br />

!<br />

Folge von Konstruktionsschritten, die durch<br />

Strukturanalysen verständlich zu machen sind<br />

(Aebli, 1981).<br />

Dass die Begriffe geben – nehmen – zahlen zeitlich<br />

früher richtig verstanden und gebraucht werden als<br />

die Begriffe kaufen – verkaufen, ist wegen der höheren<br />

Komplexität der Letzteren einleuchtend: Verkaufen<br />

enthält die folgenden Elemente: (1) Akteur A (2)<br />

Jean Piaget (1896–1980)<br />

gibt (3) ein Gut (4) an Akteur B (5) und (6) verlangt<br />

(7) von diesem (8) im Austausch (9) Geld, (10) das<br />

dieser (11) zahlt. Kaufen hat eine entsprechende<br />

Komplexität, während geben, nehmen und zahlen<br />

weniger komplex sind (wenn Zahlen nicht mehr<br />

bedeutet als das Geben von Geld; vgl. Gentner, 1978).<br />

Jede Entwicklung baut auf zuvor entwickelten Voraussetzungen<br />

auf. Höhere Stufen sind komplexer,<br />

integrieren mehr Elemente und Relationen als die<br />

vorausgehenden.<br />

32 3 Weitere Erklärungskonzeptionen


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Auch schulischer Unterricht beginnt mit einer Elementen-<br />

und Strukturanalyse eines Stoffbereiches.<br />

Ein guter Lehrer prüft, welche Wissenselemente und<br />

-strukturen die Schüler bereits aufgebaut haben, an<br />

die er bei der Einführung des neuen Gegenstandes<br />

anknüpfen kann. Seine Unterrichtssequenz enthält<br />

eine geordnete Folge von Lernschritten nach Maßgabe<br />

der Strukturanalyse.<br />

Insbesondere bei der kognitiven Entwicklung, bei<br />

der Entwicklung von Begriffen und Denkoperationen,<br />

beim Aufbau von Wissen, aber auch beim Aufbau sensumotorischer<br />

Fertigkeiten ist das Modell der Konstruktion<br />

angebracht, und zwar für die Erklärung von<br />

Entwicklung, für die Planung von Schulungen und<br />

Trainings, aber auch für die Analyse von Stagnation<br />

und von misslingenden Schulungs- und Fördermaßnahmen.<br />

Bei Letzteren muss immer bedacht werden,<br />

dass die Strukturanalyse falsch, zumindest unvollständig<br />

sein könnte, dass die benötigten Entwicklungsvoraussetzungen<br />

nicht oder nicht valide erfasst wurden,<br />

dass die anstehenden Schritte zu groß oder die Probleme,<br />

um deren Lösung es gehen soll, noch nicht völlig<br />

erfasst sind (vgl. hierzu die in Kap. 24 behandelten<br />

schulischen Leistungsprobleme).<br />

Denkanstöße<br />

Versuchen Sie sich an Strukturanalysen eines<br />

komplexen Begriffs wie Demokratie, und<br />

spezifizieren Sie Elemente, die Sie zur Begriffsbestimmung<br />

benötigen.<br />

3.4 Entwicklung als Sozialisation<br />

Um den Umfang dessen zu ermessen, was wir Sozialisation<br />

nennen, stelle man sich vor, was ein<br />

Mensch aus einer fremden Kultur oder einer vergangenen<br />

Epoche lernen müsste, um in unserer Kultur<br />

zu leben: Sprache und Regeln der Rede, den Sinn<br />

von Symbolen, Regeln des sozialen Umgangs und<br />

des Verhaltens in spezifischen Settings und bei spezifischen<br />

Anlässen, die Funktionen von Geräten und<br />

Werkzeugen, die Wertschätzungen von Kulturgütern,<br />

die Differenzierung sozialer Positionen mit<br />

ihren Rechten und Pflichten, die Institutionen und<br />

ihre Funktionen, die Kenntnisse und Fertigkeiten<br />

wenigstens eines Berufs, Ausschnitte aus mehreren<br />

Wissenschaftsbereichen, die Werte- und Glaubenssysteme<br />

und Ideologien, die Sitten, das Recht, die<br />

Bräuche und die Moden usw.<br />

!<br />

Sozialisation erfolgt durch Anleitung und<br />

Anforderung, Information und Belehrung,<br />

durch Beobachtung und Nachahmung von<br />

Vorbildern, durch Strafen und Belohnungen<br />

usw. Die Familie, die Schule, der Beruf, die<br />

Gruppe der Freunde, die Medien sind an diesem<br />

Prozess beteiligt.<br />

Die psychologischen Theorien des Lehrens, des Lernens,<br />

des Wissenserwerbs, der Identifikation, der Einstellungsbildung<br />

und -änderung, der Selbstkonzeptund<br />

der Weltbildentwicklung, des sozialen Wandels<br />

usw. erhellen Ausschnitte aus diesem Prozess.<br />

Lebenslanges Lernen<br />

Dieses Lernen ist nie zu Ende, nicht zuletzt weil die<br />

Gesellschaften und ihre Kulturen ständig im Wandel<br />

begriffen sind. Unsere Gesellschaft ist pluralistisch im<br />

Hinblick auf Wertsysteme, Religionen und Ideologien.<br />

Sie ist nicht statisch, sondern dynamisch: Wissenschaft,<br />

Technik, Künste, Sprache, soziale Institutionen<br />

u. a. sind in ständigem Wandel. Sie ist nicht geschlossen,<br />

sondern offen gegenüber Einflüssen aus anderen<br />

Kulturen und Neuerungen aus dem Inneren: Auf die<br />

Moderne folgt die Postmoderne. Die Wirtschaftsmärkte<br />

erfordern ständige Innovationen, traditionelle<br />

Berufe verschwinden, neue kommen hinzu usw. Sozialisation<br />

bedeutet folglich lebenslanges Lernen auf vielen<br />

Gebieten (Näheres dazu in Schneewind, 1994).<br />

Entwicklungspsychologische<br />

Sozialisationsforschung<br />

Hier soll nur auf spezifisch entwicklungspsychologische<br />

Fragestellungen und Perspektiven zur Sozialisation<br />

hingewiesen werden.<br />

(1) Es gibt eine kulturelle Normierung des Lebenslaufes<br />

mit spezifischen Aufgaben, Leistungs-<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

3.4 Entwicklung als Sozialisation 33


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

und Verhaltenserwartungen für jede Lebensphase.<br />

Das kommt auch im Konzept der alterspezifischen<br />

Entwicklungsaufgaben zum Ausdruck,<br />

das in Abschnitt 3.5 behandelt wird. Man erwartet<br />

von Kindern und Heranwachsenden nicht<br />

vor Erreichen der Volljährigkeit oder Mündigkeit,<br />

dass sie völlig eigenverantwortlich in den<br />

geltenden Normensystemen leben und leben<br />

können. Von erwachsenen Migranten erwartet<br />

man das aufgrund ihres Alters wohl, d. h., man<br />

räumt ihnen für den erforderlichen Akkulturationsprozess<br />

relativ wenig Zeit ein, diese Normensysteme<br />

kennen zu lernen und zu akzeptieren<br />

(vgl. Kap. 16 und Kap. 29).<br />

(2) Eine andere Fragestellung betrifft die Auswirkungen<br />

von Dispositionen, die sich entwickelt<br />

haben, etwa Wertorientierungen, Motivdispositionen,<br />

Einstellungen, die die Wirkungen sozialisatorischer<br />

Einflüsse moderieren. Subkulturell<br />

geprägte oder individuell ausgebildete Dispositionen<br />

werden eine Internalisation davon abweichender<br />

Anforderungen erschweren (Kap. 16).<br />

Man sollte auch nicht erwarten, dass Migranten,<br />

die in einer anderen Kultur sozialisiert wurden<br />

und diese Kultur internalisiert haben, die Wertorientierungen<br />

und sozialen Normen des Einwanderungslandes<br />

problem- und konfliktlos<br />

übernehmen (Kap. 29).<br />

(3) Die Wirkung sozialisatorischer Einflussfaktoren<br />

ändert sich in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand.<br />

Das gilt z. B. für die Einflussmächtigkeit<br />

von sozialen Kontexten. In der Kindheit ist<br />

zunächst die Familie, dann die Schule die dominante<br />

Einflussquelle, im Jugendalter gewinnen<br />

die Peergruppen und neue Identifikationsfiguren<br />

an Einfluss, insbesondere, wenn die Beziehungen<br />

zu den Eltern emotional belastet sind<br />

(Kap. 8, 16 und 28).<br />

(4) Auch die Wege und Methoden der Einflussnahme<br />

ändern sich im Laufe der Entwicklung. Kinder<br />

„wachsen“ in die Kultur ihrer unmittelbaren<br />

Kontexte hinein. Später kann es Divergenzen<br />

zwischen den aufgebauten Dispositionen und<br />

Überzeugungen und davon abweichenden Angeboten<br />

und Anforderungen geben. Wenn inne-<br />

re Konflikte Entscheidungen erfordern, sind<br />

argumentative Begründungen erforderlich. Aus<br />

der Forschung zur Sozialisation der Moral ist<br />

auch bekannt, dass mit zunehmendem Alter<br />

argumentative Begründungen von Verboten<br />

und Geboten wichtiger werden (Kap. 16).<br />

(5) Sozialisationswirkungen sind nicht nur kurzfristig<br />

zu erfassen, sondern langfristig. Eine aktuelle<br />

Anpassung an eine Anforderung sagt noch<br />

nichts über Dauerhaftigkeit aus. Bedingungen<br />

der Dauerhaftigkeit sind gesondert zu ermitteln,<br />

etwa bezüglich der Internalisation moralischer<br />

Normen, die durch Integration in das Selbstbild<br />

an Dauerhaftigkeit gewinnt (Kap. 16). Bezüglich<br />

Sozialisation ist immer zu fragen, ob und<br />

welche dauerhaften Dispositionen sich gebildet<br />

haben. Die Anpassung an eine normative Forderung,<br />

etwa anderen zu helfen, muss nicht<br />

bedeuten, dass Hilfsbereitschaft als Disposition<br />

aufgebaut wurde, sondern kann z. B. auch<br />

bedeuten, dass gelernt wurde, konformistisch<br />

sozialem Druck zu entsprechen. In diesem Fall<br />

ist nicht zu erwarten, dass einer bedrängten Person<br />

gegen das Mobbing einer Gruppe hilfsbereit<br />

beigestanden wird.<br />

(6) Die Effekte von Sozialisationsmaßnahmen können<br />

sich mit dem Entwicklungsstand ändern.<br />

Hohe Leistungsorientierung im Jugendalter erwies<br />

sich mit folgendem Muster mütterlichen<br />

Verhaltens korreliert: Fürsorge („Verwöhnen“)<br />

in der frühen Kindheit und angemessene Anforderungen<br />

danach. Forderndes bzw. akzelerierendes<br />

Verhalten in der frühen Kindheit und „verwöhnende“<br />

Nachgiebigkeit danach erwies sich<br />

als ungünstig (Kagan & Moss, 1962).<br />

Sozialisation und Identitätsfindung im interaktionistischen<br />

Modell<br />

Erziehung und Sozialisation sind nicht beschränkt<br />

auf die Vermittlung dessen, was in einer Gesellschaft<br />

an Wissen, Kulturgütern, Wertvorstellungen, Normen,<br />

Schemata für das Verstehen und Handeln usw.<br />

gegeben ist. Erziehungs- und Sozialisationsziele können<br />

auch emanzipatorischer Art sein und auf die<br />

Förderung von Wertvorstellungen, Einstellungen,<br />

34 3 Weitere Erklärungskonzeptionen


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Persönlichkeitsmerkmalen und Entwicklungszielen<br />

abheben, die zu einer innovatorischen, kritischen<br />

oder nonkonformistischen Auseinandersetzung mit<br />

den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten<br />

oder Vorgaben motivieren und befähigen<br />

(Brandtstädter & Schneewind, 1977). Die Entwicklung<br />

einer persönlichen Identität über vorgegebene<br />

Rollenmuster, Normorientierungen, Handlungsund<br />

Deutungsschemata hinaus sollte Erziehungsund<br />

Sozialisationsziel sein. In der soziologischen<br />

Sozialisationsforschung und -theorie wird die grundsätzliche<br />

Spannung zwischen gesellschaftlichen Vorgaben<br />

und der Herausbildung einer persönlichen<br />

Identität in der Auseinandersetzung mit den kontrastierenden<br />

Rollentheorien herausgearbeitet (Joas,<br />

1980).<br />

Interaktion und Sozialisation<br />

Mead (1934) analysierte, wie das Ich in der sozialen<br />

Interaktion entsteht und wie es sich in dieser Interaktion<br />

ausformt und wandelt. Ein zentraler Prozess<br />

ist die Übernahme der Perspektive von Interaktionspartnern.<br />

Menschen müssen imstande sein, zu begreifen,<br />

welches Bild sich andere von ihnen machen<br />

und welche Erwartungen andere an sie haben. Sie<br />

müssen in der Lage sein, sich selbst aus der Perspektive<br />

anderer zu sehen. Jeder kann durch sein<br />

Handeln, Reden und andere Äußerungen Einfluss<br />

darauf nehmen, was andere von ihm denken und<br />

erwarten; er kann insofern das sozial vermittelte<br />

Selbstbild selbst beeinflussen. Kommunikation und<br />

Zusammenarbeit kann nur gelingen, wenn die reziproken<br />

Verhaltenserwartungen aufeinander abgestimmt<br />

werden. Da verschiedene andere Menschen<br />

unterschiedliche Bilder und Erwartungen von uns<br />

haben, können verschiedene Selbstbilder aus der<br />

Perspektive verschiedener anderer entstehen. Diese<br />

müssen zu einem einheitlichen Selbstbild zusammengefügt<br />

werden. Allerdings können wir in verschiedenen<br />

sozialen Kontexten unterschiedliche<br />

„Selbste“ annehmen (Markus & Nurius, 1986;<br />

Kap. 20). Wird das als Inkonsistenz erlebt, motiviert<br />

es zu einer Harmonisierung.<br />

Intergenerationale Sozialisation. In den 1970er<br />

Jahren wurde das tradierte Wirkungsmodell, nach<br />

dem Entwicklung und Fehlentwicklungen der Kinder<br />

durch Eltern und Erzieher verursacht werden,<br />

ergänzt durch die Beachtung der Einflüsse, die von<br />

den Kindern auf Eltern und Erzieher sowie darüber<br />

hinaus auf die soziale Gemeinschaft ausgeübt werden<br />

(Klewes, 1983; Hagestad, 1984). In der „Childeffect“-Forschung<br />

sind Anpassungen der Eltern<br />

untersucht worden. In Kapitel 6 wird dargestellt, was<br />

Neugeborene bei den Eltern zum Aufbau der Bindung<br />

beitragen (Klaus & Kennell, 1987), dass irritierbare<br />

Neugeborene von der Mutter als schwierig<br />

erlebt werden, was sich in deren Verhalten gegenüber<br />

dem Kind ausdrückt und zur Bildung einer<br />

unsicheren Bindung zur Mutter führt (Van den<br />

Boom, 1990). Später verlangen Interessen, Moden,<br />

Freunde und vielerlei Autonomieansprüche der Kinder<br />

Anpassungsleistungen von den Eltern.<br />

Kinder vermitteln Wissen und Einstellungen.<br />

Auch der Einfluss Heranwachsender auf den Wandel<br />

von Ansichten, Einstellungen, Wertungen und Normen<br />

der Eltern ist untersucht worden. Ob es nun<br />

um Autonomieansprüche in vielen Feldern, um<br />

die Bewertung von Personen oder um politische<br />

Themen geht, Kinder konfrontieren ihre Eltern oft<br />

mit „abweichenden“ Überzeugungen (Wurzbacher,<br />

1977), die zu Zerwürfnissen oder aber zu produktiven<br />

Entwicklungen führen können.<br />

Folglich sind transaktionale Modelle angemessen.<br />

Baranowski (1978) befragte Jugendliche und jeweils<br />

beide Eltern, ob und in welchen Verhaltensbereichen<br />

die Jugendlichen Einflussversuche auf das elterliche<br />

Verhalten genommen hätten. Beide Seiten gaben an,<br />

dass die meisten der Einflussversuche in gewissem<br />

Grade erfolgreich waren. Sowohl Persönlichkeitsmerkmale<br />

der Jugendlichen als auch solche der Väter<br />

erwiesen sich dabei als einflussreich. Jugendliche mit<br />

hohem Autonomiebedürfnis unternahmen nach<br />

eigener und nach elterlicher Einschätzung mehr Einflussversuche.<br />

Demokratische Väter waren häufiger<br />

Einflussversuchen ausgesetzt als autokratische.<br />

Pauls und Johann (1984) haben die Methoden<br />

zusammengetragen, die Kinder zur Beeinflussung<br />

ihrer Eltern verwenden:<br />

konstruktiv-aktive Steuerung (z. B. logisches Argumentieren,<br />

Kompromissaushandlung),<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

3.4 Entwicklung als Sozialisation 35


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Vorwürfe und oppositionelle Steuerung (z. B.<br />

Drohen, Trotzen, Fordern, Erpressen),<br />

Steuerung durch Bestrafung (Schreien, „Nerven“,<br />

für die Eltern unangenehmes Verhalten in der<br />

Öffentlichkeit),<br />

Steuerung durch Ignorieren elterlicher Normen,<br />

passiv-resignative Steuerung (z. B. demonstrative<br />

Hilf- und Machtlosigkeit),<br />

Steuerung durch Schmusen und Schmeicheln,<br />

auch das Verlangen einer Begründung von Vorschriften<br />

und Verboten, von Einstellungen und<br />

Urteilen erzwingt eine Reflexion und führt nicht<br />

selten zu einer Revision.<br />

Schimpfen!“. Und entsprechend reichlicher ist<br />

dann auch die Bescherung.<br />

Denkanstöße<br />

Denken Sie einmal darüber nach, welche normativen<br />

Überzeugungen Sie selbst haben und<br />

welche Sie gegenüber anderen Menschen vertreten<br />

oder als von anderen anerkannt sich wünschen.<br />

Überlegen Sie auch, mit welchen Mitteln<br />

oder auf welchen Wegen Sie deren Anerkennung<br />

durch andere zu erreichen versuchen.<br />

Beispiel<br />

Wie Kinder ihre Eltern erziehen<br />

Wie geschickt Kinder unter Umständen operieren,<br />

mag folgende Begebenheit belegen. Unser<br />

Sohn Martin war viereinhalb Jahre. Es war zur<br />

Adventszeit. Ich sitze lesend am Tisch, als plötzlich<br />

schwere Schritte im Flur Besuch ankündigen.<br />

Es klopft, herein kommt Martin „als Nikolaus“<br />

mit einem Säckchen voller Nüsse über der<br />

Schulter und einem großen Buch in der Hand.<br />

Er erklärt „Ich bin jetzt der Nikolaus“, kommt<br />

gemessenen Schrittes zu mir, schlägt das Buch auf<br />

(das goldene Buch!), macht eine bedenkliche<br />

Miene, schüttelt gewichtig den Kopf und „liest“:<br />

„Sie schimpfen immer zu viel mit Ihrem Sohn!“<br />

Entsprechend spärlich fällt dann auch die<br />

Bescherung aus: eine einzige Erdnuss. Dann<br />

entfernt er sich, schon nicht mehr würdig, sondern<br />

wie üblich hampelnd, den Sack schlenkernd,<br />

und wirft dabei eine Vase mit Blumen um. Keine<br />

Scherben, aber Wasser auf Tisch, Wand und<br />

Boden. Gerade ermahnt, schimpfe ich nicht und<br />

beseitige die Spuren. Kaum sitze ich wieder am<br />

Tisch, als erneut gewichtige Schritte Besuch<br />

ankündigen. Klopfen. Herein kommt Martin: „Es<br />

wär’ jetzt nächstes Jahr!“, den Sack über der<br />

Schulter und das goldene Buch in der Hand. Er<br />

schlägt auf, mit freundlichem Gesicht, und „liest“:<br />

„Es ist schon viel besser geworden mit dem<br />

<br />

3.5 Entwicklungsaufgaben und kritische<br />

Lebensereignisse<br />

In der Literatur werden Entwicklungsaufgaben (Havighurst,<br />

1972; vgl. Kap. 4) und kritische Lebensereignisse<br />

(Montada, Filipp & Lerner, 1992) unterschieden.<br />

Während die Sequenz von Entwicklungsaufgaben<br />

und typischen Entwicklungskrisen als<br />

mehr oder weniger altersnormiert verstanden wird<br />

(was bedeutet, dass eine Mehrheit in der Population<br />

mit derselben Klasse von Aufgaben in einer spezifischen<br />

Periode des Lebens konfrontiert ist), ereignen<br />

sich kritische Lebensereignisse unvorhersehbar, und<br />

sie betreffen nur in Ausnahmefällen größere Teile<br />

einer Population (z. B. bei Krieg oder Naturkatastrophen).<br />

Entwicklungsaufgaben und Ereignisse schaffen<br />

oft Probleme und verursachen nicht selten Krisen.<br />

Eine Krise ist dann gegeben, wenn eine Person<br />

durch einen Verlust oder ein Problem emotional<br />

belastet, aber nicht in der Lage ist, eine angemessene<br />

Lösung zu entwickeln oder sich an die veränderte<br />

Situation anzupassen.<br />

Organismische Modelle. In organismischen Modellen<br />

der Entwicklung wird angenommen, dass die<br />

Probleme aus universellen Reifungs- und Entwicklungsveränderungen<br />

innerhalb des Organismus<br />

resultieren, die neue Motive, neue Interaktions- und<br />

Erfahrungsmöglichkeiten und damit neue Probleme,<br />

Frustrationen und Krisen erzeugen. Ein klassisches<br />

Beispiel dafür ist Freuds (1933) Sequenz der<br />

36 3 Weitere Erklärungskonzeptionen


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psychosexuellen Entwicklung und der Konflikte in<br />

Kindheit und Adoleszenz.<br />

Transaktionale Modelle. Transaktionale systemische<br />

Modelle der Entwicklung gehen von der Grundannahme<br />

aus, dass sowohl die sich entwickelnden Subjekte<br />

als auch die jeweiligen Lebenskontexte zur Entstehung<br />

und vielleicht Lösung von Problemen und<br />

Bewältigung von Krisen beitragen. Da es sowohl zwischen<br />

Subjekten als auch zwischen Entwicklungskontexten<br />

große Unterschiede gibt und da sowohl die Subjekte<br />

als auch die Kontexte in einem ständigen Prozess<br />

des Wandels begriffen sind, wird weder eine universelle<br />

Sequenz von Problemen noch eine universelle<br />

Sequenz von Problemlösungen erwartet.<br />

Probleme und Krisen wurden zunächst in der Entwicklungspathologie<br />

beachtet. Freud (1933) machte<br />

negative Erfahrungen in der Kindheit für die Entwicklung<br />

von Störungen verantwortlich. Kritische<br />

Lebensereignisse, die eine Umstellung von Lebensplänen<br />

und Handlungsroutinen notwendig machen<br />

wie z. B. Krankheiten, finanzielle Verluste, Tod nahe<br />

stehender Menschen, aber auch die Geburt eines Kindes<br />

wurden zunächst als mögliche Auslöser psychischer<br />

Störungen untersucht. Krisen können aber<br />

auch positive Entwicklungsfolgen haben, wenn sie als<br />

Herausforderungen angenommen, gemeistert oder<br />

emotional bewältigt werden.<br />

3.5.1 Altersnormierte Krisen<br />

Das bekannteste Beispiel für ein organismisches<br />

Modell ist Eriksons Stadienmodell der Persönlichkeitsentwicklung;<br />

vier der acht Stadien werden kurz<br />

skizziert.<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Unter der Lupe<br />

Eriksons Phasenmodell der Persönlichkeitsentwicklung<br />

Erikson (1973) hat Stadien des Lebenslaufs mit<br />

spezifischen Konflikten oder Krisen charakterisiert.<br />

Er meinte, wenn diese Krisen nicht bewältigt werden,<br />

führe das zu bleibenden Persönlichkeitsstörungen.<br />

Er sah folgende zentrale Themen<br />

dieser krisenhaften Konflikte:<br />

(1) Vertrauen vs. Misstrauen (erstes Lebensjahr).<br />

Hier geht es um die Entwicklung eines<br />

günstigen Verhältnisses von Vertrauen und Misstrauen.<br />

Vertrauen in die Verlässlichkeit und<br />

Zuneigung der Pflegepersonen nimmt Ängste.<br />

Wird das Vertrauen bestätigt, entwickelt sich<br />

Selbstvertrauen und Sicherheit; dies wird in der<br />

Bindungstheorie als „sichere Bindung an die<br />

Mutter“ bezeichnet (vgl. Kap. 6 und 20). Ein<br />

gewisses Maß an Misstrauen im Sinne von Vorsicht<br />

ist allerdings nützlich, um nicht vertrauenswürdigen<br />

Personen angemessen zu begegnen und<br />

Gefahren zu erkennen.<br />

Die Stadien (2) Autonomie vs. Scham und<br />

Zweifel (drittes Lebensjahr), (3) Initiative vs.<br />

Schuldgefühle (viertes und fünftes Lebensjahr)<br />

und (4) Wertsinn vs. Minderwertigkeit (mittlere<br />

Kindheit) sind angelehnt an Freuds Stufen der<br />

Entwicklung, die nicht als empirisch bestätigt<br />

gelten können (vgl. Kap. 19).<br />

Das (5) Stadium Identität vs. Rollendiffusion<br />

(Adoleszenz) ist in der Jugendforschung (vgl.<br />

Kap. 8) durchaus beachtet worden. In der Adoleszenz<br />

geht es um die Findung einer Identität, um<br />

den Aufbau eines Selbstkonzeptes mit den Facetten<br />

Geschlecht, Fähigkeiten, Bildungs- und Berufsaspirationen,<br />

Familienherkunft, Sozialstatus, Religion,<br />

Moral, Wertorientierungen, politische Haltungen<br />

usw. Jugendliche müssen diese verschiedenen<br />

Facetten in ein konsistentes persönliches Selbstbild<br />

integrieren, das die persönliche Identität ausmacht.<br />

Versagt der jugendliche Mensch bei dieser Aufgabe,<br />

führt dies zu einer Rollendiffusion, die durch<br />

Unverträglichkeiten und Unausgewogenheiten<br />

zwischen Haltungen und Werten, zwischen Aspirationen<br />

und Möglichkeiten, durch Instabilität von<br />

Zielen, gelegentlich zu ideologischer Einseitigkeit,<br />

häufiger zu oberflächlichen und unstabilen Engagements<br />

und nicht selten zu abweichendem Verhalten<br />

wie Drogengebrauch und Delinquenz führt.<br />

Im anschließenden Stadium (6) Intimität vs.<br />

Isolation (Beginn des Erwachsenenalters) themati-<br />

<br />

3.5 Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse 37


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Abbaus physischer und geistiger Fähigkeiten wie<br />

auch die Akzeptanz der Endlichkeit des eigenen<br />

Lebens (vgl. Kap. 10 und 33).<br />

Reifungs- und Abbauprozesse. Entwicklungsaufgaben<br />

ergeben sich nicht nur aus gesellschaftlichen<br />

Anforderungen, sondern auch aus Reifungs- und<br />

Abbauprozessen. Die Pubertät ist eine Folge der biologischen<br />

Reifung, die Festlegung von unteren<br />

Altersgrenzen für die Ehe ist sozial bestimmt, meist<br />

auch die für die Elternschaft. Das Rentenalter ist<br />

sozial normiert, wobei z. T. irrige Überzeugungen<br />

über den Abbau der Leistungsfähigkeit im Alter als<br />

Begründung dienen. Entwicklungsaufgaben gliedern<br />

den Lebenslauf durch vorgegebene Entwicklungsund<br />

Sozialisationsziele. Der Grad der normativen<br />

Verpflichtung variiert allerdings von Angeboten mit<br />

Empfehlungscharakter bis zur strikten, durch Sanktionsdrohungen<br />

gestützten Forderung: Der Beginn<br />

der Schulpflicht ist in unserer Kultur gesetzlich geregelt,<br />

der Berufseintritt jedoch weit weniger verpflichtend<br />

festgelegt. Hier gewinnen dann indivisiert<br />

Erikson nur einen Aspekt der sozialen Beziehungen.<br />

Viele andere wichtige Themen bleiben<br />

unberücksichtigt (vgl. Kap. 9).<br />

Ein interessanter Kontrast wird im Stadium (7)<br />

Generativität vs. Stagnation (mittleres Erwachsenenalter)<br />

formuliert: Mit Generativität als Entwicklungsziel<br />

dieser Phase ist die Förderung der<br />

Entwicklung der nächsten Generation, der eigenen<br />

Kinder und/oder anderer junger Menschen<br />

gemeint, darüber hinaus alle beruflichen, sozialen<br />

und politischen Engagements, von denen produktive<br />

Wirkungen für andere Menschen oder für<br />

eine Gemeinschaft zu erwarten sind. Fehlt diese<br />

Orientierung sind Stagnation, Selbstabsorption<br />

und/oder Langeweile zu erwarten.<br />

Im letzten Stadium (8) Ich-Integrität vs. Verzweiflung<br />

(späteres Erwachsenenalter) steht eine<br />

Reflexion über das eigene Leben und den Bezügen<br />

zu anderen Menschen, zu Gemeinschaften und zur<br />

historischen Zeit an. Gleichzeitig ist die Begrenztheit<br />

des Lebens zu akzeptieren. Zufriedenheit mit<br />

dem Leben ermöglicht Integrität. Später hat<br />

Erikson auch auf die Chancen Sinn stiftenden und<br />

produktiven Engagements im Alter hingewiesen<br />

(Erikson, Erikson & Kivnick, 1986). Wird Integrität<br />

nicht erreicht, droht Verzweiflung im Sinne von<br />

Trauer um das, was man mit dem eigenen Leben<br />

getan hat, drohen Furcht vor dem Tod und Vorwürfe<br />

gegen sich selbst.<br />

Erikson beschreibt wichtige Entwicklungsaufgaben.<br />

Es gibt sicher mehr. Er beschreibt sie nicht<br />

mit klar definierten Konzepten, die in empirischer<br />

Forschung leicht operationalisierbar wären.<br />

Dennoch gibt es gelungene Versuche einer<br />

empirischen Erforschung (vgl. Kap. 19). Wie häufig<br />

die Krisen vorkommen, wie häufig es gute<br />

Lösungen gibt, wie häufig die Krisen nicht bewältigt<br />

werden, von wem und in welchem Kontext<br />

sie besser oder schlechter bewältigt werden, das<br />

sind empirische Fragen. Eriksons Modell ist wohl<br />

weithin bekannt geworden, weil die beschriebenen<br />

Krisen intuitiv überzeugen.<br />

3.5.2 Entwicklungsaufgaben<br />

Wie Erikson hat auch Havighurst (1972) den<br />

Lebenslauf als eine Folge von Problemen strukturiert,<br />

die er Entwicklungsaufgaben nennt (vgl.<br />

Kap. 4 und 19), in der er in systemischer Sichtweise<br />

biologische, soziale und individuelle Faktoren integriert.<br />

In mehreren Kapiteln dieses Buches sind Entwicklungsaufgaben<br />

spezifiziert, deren Bewältigung<br />

Entwicklung erfordert (z. B. Kap. 6–10). Von der<br />

Trennung von Betreuungspersonen über schulische<br />

Anforderungen, die Identitätssuche im Jugendalter<br />

bis zur Bewältigung von Verlusten im Alter kann<br />

eine Abfolge von Entwicklungsaufgaben spezifiziert<br />

werden.<br />

Die entwicklungspsychologischen Überzeugungen<br />

einer Kultur sind in Entwicklungsaufgaben für<br />

mehr oder weniger enge Altersperioden artikuliert,<br />

für das Alter z. B. die Bewältigung des Verlustes der<br />

Berufsrolle, des Verlustes von Partnern und Freunden,<br />

die Meisterung von Gesundheitsproblemen, die<br />

Akzeptierung der eigenen Lebensgeschichte, des<br />

38 3 Weitere Erklärungskonzeptionen


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duelle Faktoren an Einfluss, z. B. die persönlichen<br />

Wertorientierungen, Selbstkonzepte und Lebensprojekte,<br />

aber auch die persönlichen und sozialen<br />

Ressourcen der sich entwickelnden Menschen und<br />

ihrer Bezugspersonen.<br />

Einflüsse auf Entwicklungsaufgaben. Die Erfüllung<br />

einer Entwicklungsaufgabe hängt von vielen<br />

Faktoren ab. Zum Beispiel hängen beruflicher Erfolg<br />

und soziale Anerkennung sowie die damit zusammenhängende<br />

Herausbildung eines Selbstbildes von<br />

einer Reihe von Faktoren ab:<br />

von biologischen Faktoren wie geistige und physische<br />

Gesundheit,<br />

von sozialen Kontextfaktoren wie Berufsaspirationen<br />

wichtiger Bezugspersonen,<br />

von psychologischen Faktoren wie individuellen<br />

Aspirationen, Fähigkeiten und Bildungsvoraussetzungen,<br />

von gesellschaftlichen Faktoren wie der Verfügbarkeit<br />

von Berufspositionen, der Qualität der<br />

öffentlichen Bildung, möglichen Diskriminierungen<br />

und Privilegierungen von Teilpopulationen,<br />

von kulturellen Faktoren wie der Bedeutung des<br />

Berufserfolgs.<br />

So können die Chancen für eine optimale Entwicklung<br />

zwischen Geburtskohorten, zwischen Familien,<br />

zwischen Individuen beträchtlich variieren. Insofern<br />

erwartet man in einer transaktionalen systemischen<br />

Sicht trotz der allgemeinen Formulierung von Entwicklungsaufgaben<br />

differentielle und individuelle<br />

Entwicklungsverläufe.<br />

3.5.3 Kritische Lebensereignisse<br />

Kritische Lebensereignisse wie Geburt eines Geschwisters,<br />

Scheidung der Eltern, Orts- und Schulwechsel,<br />

Arbeitslosigkeit, schwerwiegende Erkrankungen<br />

oder Behinderungen, Viktimisierungen<br />

durch Verbrechen, Tod von nahe stehenden Personen,<br />

Scheidung, ökonomische Verluste usw. sind Einschnitte<br />

in den Lebenslauf, die retrospektiv häufig als<br />

Wendepunkte im eigenen Leben bezeichnet werden.<br />

Sie können psychische Störungen erzeugen, aber<br />

auch zu vielfältigen Entwicklungsgewinnen führen,<br />

wenn sie gemeistert oder bewältigt werden (vgl.<br />

Kap. 32; Montada, Filipp und Lerner, 1992). Was<br />

muss gemeistert oder bewältigt werden?<br />

Probleme. Solche Ereignisse schaffen Probleme, die<br />

gelöst werden müssen. Denken Sie z. B. an eine<br />

Querschnittlähmung nach einem Unfall, an eine<br />

Scheidung oder an die Geburt eines ersten Kindes.<br />

Was alles muss neu organisiert werden, was alles<br />

muss neu gelernt werden, welche Entscheidungen<br />

sind unter Unsicherheit zu treffen, wie sind die sozialen<br />

Beziehungen tangiert und neu zu gestalten? Die<br />

Probleme müssen gemeistert werden, was etwa im<br />

Fall einer Querschnittlähmung lange Trainings zur<br />

Erlangung einer selbständigen Mobilität und vielleicht<br />

auch eine neue Berufsausbildung verlangt.<br />

Verluste. In allen kritischen Lebensereignissen gibt es<br />

auch Verluste unterschiedlicher Art. Der Verlust von<br />

Lebenspartnern oder der Gesundheit oder des Berufs<br />

kann viele weitere Verluste beinhalten: Selbstvertrauen,<br />

Sozialstatus, Lebensziele, Lebenssinn, finanzielle<br />

Sicherheit u. a. m. Wenn diese Verluste nicht ausgeglichen<br />

werden können, müssen sie bewältigt werden,<br />

etwa durch eine Reorganisation von Prioritäten oder<br />

durch Erschließung der Vergangenheit als Ressource,<br />

wie dies alte Menschen versuchen können.<br />

Soziale Konflikte. Viele Ereignisse führen zu sozialen<br />

Konflikten (z. B. mit denjenigen, die verantwortlich<br />

gemacht werden, etwa für einen Unfall, für<br />

eine Trennung, für eine Entlassung in die Arbeitslosigkeit<br />

oder für eine Krankheit). Und es gibt Konflikte<br />

wegen der Folgen eines kritischen Ereignisses<br />

(z. B. mit einem Partner, der sich trennt nach einer<br />

Querschnittlähmung, oder mit einer Versicherung<br />

wegen der Kostenübernahme).<br />

Belastende Emotionen. Kritische Ereignisse erzeugen<br />

zunächst einmal belastende Emotionen, z. B.<br />

Ängste, Hilflosigkeit, Empörung, Hass, Bitterkeit,<br />

Ärger über sich selbst, Scham, Schuldgefühle, Neid,<br />

Eifersucht usw. Diese Emotionen müssen bewältigt<br />

werden. Wenn das nicht durch eine Meisterung der<br />

Probleme und durch einen Ausgleich der Verluste<br />

gelingt, können Strategien der Emotionsbewältigung<br />

eingesetzt werden. In besonderer Weise emotional<br />

belastend wirken negative Reaktionen im sozialen<br />

Umfeld, wie die Abwendung von Freunden, Vorwürfe<br />

der Selbstverschuldung oder unzureichenden<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

3.5 Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse 39


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Bewältigungsanstrengungen; dies wird als „sekundäre<br />

Viktimisierung“ erlebt und ruft Bitterkeit hervor<br />

(Bennet-Herbert & Dunkel-Schetter, 1992).<br />

Positive Entwicklungen sind zu erwarten, wenn<br />

die Probleme gemeistert, die Verluste kompensiert<br />

oder bewältigt, die Konflikte beigelegt oder gewonnen<br />

und die belastenden Emotionen durch neue<br />

Sichten überwunden, gedämpft oder durch Strategien<br />

der Gefühlssteuerung kontrolliert werden können.<br />

Denn das ist nur möglich durch den Aufbau<br />

neuer Kompetenzen und neuer Erkenntnisse, auch<br />

über sich selbst, durch eine Sinnfindung oder Sinngebung.<br />

Daraus folgt ein Zuwachs an erlebter Selbstwirksamkeit,<br />

Stolz auf die eigenen Leistungen bei<br />

der Meisterung der Schwierigkeiten und die Zuversicht,<br />

auch künftigen Fährnissen des Lebens gewachsen<br />

zu sein. Auch eine Änderung von Prioritäten im<br />

Leben und neu aufgebaute Sozialbeziehungen können<br />

als Gewinne erlebt werden.<br />

Ein Risiko der Störungsentwicklung ist nicht zu<br />

leugnen. Etwa 10% der Varianz von Indikatoren der<br />

psychischen und psychosomatischen Gesundheit<br />

und Mortalität werden durch vorausgehende kritische<br />

Lebensereignisse erklärt; auch Risiko- und<br />

Schutzfaktoren wurden ermittelt (Fisher & Reason,<br />

1988, Teil 2). Dies zeigt aber auch, dass die meisten<br />

Menschen in der Lage sind, die Probleme und Verluste<br />

durch kritische Lebensereignisse alleine oder<br />

mit angemessener sozialer Unterstützung zu bewältigen<br />

oder zu meistern.<br />

die rasche Behebung eines Problems (etwa durch<br />

Unterstützung aus dem sozialen Umfeld oder durch<br />

Rücknahme einer Anforderung) angezeigt, nämlich<br />

dann nicht, wenn von den Betroffenen begründet<br />

erwartet werden kann, dass sie ein Problem selbst<br />

bewältigen und dass sie dabei Kompetenzen und<br />

Dispositionen entwickeln, die ihnen helfen, künftige<br />

Probleme und Krisen zu vermeiden oder besser zu<br />

bewältigen. Das kann ein realistisches Selbstbild<br />

sein, das können Strategien der Problem- und Verlustbewältigung,<br />

der Steuerung belastender Emotionen,<br />

der angemessenen Zielsetzung, das kann der<br />

Aufbau von Selbstvertrauen in die eigenen Kompetenzen<br />

sein. All das sind Schutzfaktoren bei neuen<br />

Problemen und Krisen.<br />

Denkanstöße<br />

Sie haben vermutlich manche kritischen<br />

Lebensereignisse erlebt. Wählen Sie eines aus,<br />

und notieren Sie alle Probleme, Verluste,<br />

Konflikte und belastenden Emotionen, die<br />

dadurch entstanden sind. Notieren Sie dann<br />

Ihre Versuche, diese zu meistern oder zu<br />

bewältigen und den Erfolg oder Misserfolg<br />

dieser Versuchen. Resümieren Sie, inwiefern Sie<br />

sich dabei entwickelt haben und was Entwicklung<br />

dabei bedeutet.<br />

3.5.4 Folgerungen für die<br />

Entwicklungsberatung<br />

Der Lebenslauf ist als eine Folge von Problemen und<br />

Krisen zu sehen. In systemischer Sicht sind für die<br />

Vermeidung oder die Lösung eines Problems oder<br />

einer Krise immer verschiedene Ansatzpunkte zu<br />

prüfen: die Betroffenen mit ihren Zielen, Aspirationen,<br />

Verpflichtungen, Ressourcen, Kompetenzen<br />

und Defiziten, die sozialen Kontexte mit ihren Aspirationen,<br />

Normen und Ressourcen, die Gesellschaft<br />

mit ihren Anforderungen und Opportunitätsstrukturen.<br />

Für eine optimale Entwicklung ist nicht immer<br />

4 Kontinuität und Diskontinuität<br />

in der Entwicklung<br />

Wenn wir einen Menschen als Säugling, als Schulanfänger,<br />

als Jugendlichen und als Erwachsenen vergleichen,<br />

werden wir oft Mühe haben, eine stabile<br />

Identität oder auch nur Ähnlichkeiten zu erkennen.<br />

Die allgemeinen Veränderungen sind in manchen<br />

Lebensabschnitten, vor allem in den ersten Lebensjahren,<br />

so groß, dass es nicht möglich ist, dieselben<br />

psychologischen Konstrukte und Messskalen zur<br />

Beschreibung verschiedener Altersstufen zu verwenden.<br />

Auch wenn dieselben abstrakten Konzepte wie<br />

40 4 Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Intelligenz oder Temperamentsattribute verwendet<br />

werden, sind deren konkrete Inhalte in verschiedenen<br />

Lebensperioden so unterschiedlich, dass ihre Äquivalenz<br />

für die Messung derselben latenten Merkmale<br />

nachgewiesen werden muss.<br />

Solch drastische Metamorphosen stehen auf den<br />

ersten Blick in einem Spannungsverhältnis zum Entwicklungsbegriff.<br />

Wenn nach der Okkupation eines<br />

Landes oder nach einer Revolution die alte gesellschaftliche<br />

Struktur zerschlagen und eine neue errichtet<br />

wird, sprechen wir nicht von gesellschaftlicher<br />

„Entwicklung“, auch nicht, wenn eine völlig<br />

neue Mode die bisherige ersetzt. Dies sind Beispiele<br />

für Diskontinuität. Wenn wir von Entwicklung sprechen,<br />

meinen wir zwar Veränderungen, unterstellen<br />

aber eine Kontinuität in der Veränderung.<br />

Auch bei einzelnen Individuen kann es ähnlich<br />

deutliche Veränderungen geben (z. B. der Leistungsfähigkeit,<br />

der Grundstimmung, der politischen Einstellungen,<br />

der Selbstsicherheit, der Interessen). Solche<br />

Veränderungen können durch Wechsel des sozialen<br />

Milieus, Wechsel der sozialen Rolle, durch<br />

kritische Lebensereignisse, Erkrankungen oder erfolgreiche<br />

Therapien bewirkt werden. Sie vermitteln<br />

den Eindruck der Diskontinuität. Ob es sich wirklich<br />

um Fälle von Diskontinuität handelt oder ob<br />

doch Kontinuität entdeckbar ist, ist eine andere<br />

Frage, deren Beantwortung eine Differenzierung des<br />

Kontinuitätsbegriffs voraussetzt.<br />

Der Begriff Kontinuität wird in unterschiedlichen<br />

Bedeutungen gebraucht:<br />

(1) absolute Stabilität, also das Fehlen von Veränderung,<br />

(2) Stabilität interindividueller Unterschiede oder<br />

Positionsstabilität in einer Rangreihe oder Verteilung,<br />

(3) aufeinander aufbauende Entwicklungsschritte,<br />

(4) phänotypische Veränderung oder Veränderung<br />

des Ausdrucks, der Manifestation einer gleich<br />

bleibenden latenten Variablen,<br />

(5) Erklärung interindividueller Unterschiede aus<br />

vorausgehenden Unterschieden in einer anderen<br />

Dimension.<br />

4.1 Absolute Stabilität<br />

Definition<br />

Wir sprechen von absoluter Stabilität, wenn<br />

keine Veränderung festgestellt wird. Über lange<br />

Zeitperioden bleibt die Körpergröße beim<br />

Erwachsenen unverändert. Die Einstellung zu<br />

einer anderen Person oder eine Kompetenz wie<br />

Fahrradfahren können über lange Perioden des<br />

Lebens unverändert bleiben.<br />

Die Feststellung absoluter Stabilität ist oft relativ zur<br />

Messmethode. Mit einer zweiwertigen kategorialen<br />

„Skala“ (vorhanden – nicht vorhanden; gekonnt –<br />

nicht gekonnt) sind weniger Veränderungen zu<br />

registrieren als mit kontinuierlichen Skalen. Ohne<br />

Erkrankungen, Verletzungen oder Altersdemenz<br />

werden z. B. viele einmal erworbene psychomotorische<br />

Fertigkeiten oder intellektuelle Fähigkeiten wie<br />

logisches Schlussfolgern nicht wieder völlig verlernt,<br />

aber die Leistungen können je nach Übung und körperlicher<br />

Kondition intraindividuell variieren. Man<br />

kann in diesem Sinne auch die Persistenz von Störungen<br />

(Stottern, Phobien, Zwangssymptomen, Delinquenz<br />

usw.) oder die Stabilität bzw. den Wandel<br />

von Interessen, Werthaltungen oder des Selbstbildes<br />

prüfen.<br />

Entwicklungsverlaufskurven von Merkmalen, Leistungen<br />

usw. geben Auskunft darüber, ob und wann<br />

und wie lange während des Lebenslaufes absolute Stabilität<br />

besteht. Man kann diesbezüglich verschiedene<br />

Merkmale, Verhaltensweisen oder Leistungen vergleichend<br />

beurteilen. Die Kapazitätsgrenze des Kurzzeitspeichers<br />

scheint sich während der Kindheit sukzessive<br />

zu erweitern, um dann lange Zeit unverändert<br />

zu bleiben (Kap. 13).<br />

Absolute Stabilität kann für einzelne Individuen<br />

oder für den Durchschnitt einer Population erfasst<br />

werden. Das sollte man sorgfältig voneinander unterscheiden.<br />

Ein Beispiel für Letzteres ist die Entwicklungskurve<br />

der Intelligenz (vgl. Abb. 1.6), die durchschnittliche<br />

Intelligenzleistung erreicht ihre Asymptote<br />

im frühen Erwachsenenalter. Das bedeutet, dass<br />

keine Testaufgaben bekannt sind, die im späteren<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

4.1 Absolute Stabilität 41


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Alter durchschnittlich besser gelöst werden. Aber<br />

nicht alle individuellen Entwicklungen erreichen ihre<br />

Asymptote in dieser Altersperiode: Einzelne Personen<br />

oder Kategorien von Personen können sich weiter<br />

entwickeln, während sich andere verschlechtern.<br />

Absolute Stabilität bei einzelnen Individuen heißt,<br />

dass keine weitere Entwicklung beobachtet wird.<br />

4.2 Normative Stabilität oder Positionsstabilität<br />

Definition<br />

Mit normativer Stabilität ist gemeint, dass die<br />

Positionen der Individuen bezogen auf die<br />

Verteilung eines Merkmals oder einer Leistung<br />

in der Alterskohorte als Bezugsgruppe erhalten<br />

bleiben.<br />

Wir wissen aus Längsschnittuntersuchungen, dass<br />

der IQ vom Grundschulalter bis ins Erwachsenenalter<br />

eine vergleichsweise hohe und wachsende Positionsstabilität<br />

aufweist (vgl. Abb. 1.6). Aggressives<br />

Verhalten ist bei Jungen bzw. Männern ebenfalls<br />

vom Grundschulalter an recht stabil (Olweus, 1979;<br />

Zumkley, 1993). Absolute und normative Stabilität<br />

dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Hohe<br />

normative Stabilität der Intelligenz z. B. zwischen<br />

dem 10. und dem 18. Lebensjahr bedeutet nicht,<br />

dass sich die Intelligenzleistung in diesen Jahren<br />

nicht ändert. Positionsstabilität oder -veränderung<br />

wird als Korrelation von längsschnittlich an derselben<br />

Stichprobe erhobener Messreihen ermittelt. Da<br />

in der Korrelationsberechnung nur Abweichungswerte<br />

vom Mittelwert der Verteilung, also Rangpositionen,<br />

berücksichtigt werden, zeigt ein hoher<br />

Koeffizient nichts anderes, als dass große Positionsverschiebungen<br />

nicht häufig vorkommen. Absolut<br />

gesehen kann die Stichprobe insgesamt über den<br />

Beobachtungszeitraum große Veränderungen aufweisen,<br />

lediglich die interindividuellen Unterschiede<br />

bleiben erhalten.<br />

Flynn (1987) weist beispielsweise für einige Industrieländer<br />

signifikante durchschnittliche Leis-<br />

tungssteigerungen in der Größenordnung einer<br />

Standardabweichung während der vergangenen 30<br />

Jahren nach, die im Übrigen nicht primär durch<br />

gestiegene Bildungsbeteiligung erklärt werden können,<br />

sondern wahrscheinlich auf vielerlei Veränderungen<br />

in alltäglichen Problem- und Informationsangeboten<br />

zurückzuführen sind. Trotz dieser<br />

durchschnittlichen Veränderungen ist die normative<br />

Stabilität weiterhin hoch; dies heißt, dass<br />

die interindividuellen Differenzen bei allgemeinem<br />

Wandel der Entwicklungsbedingungen stabil geblieben<br />

sind.<br />

4.3 Entwicklung als Stabilisierung<br />

interindividueller Unterschiede<br />

Der wissenschaftliche Eigenschaftsbegriff enthält die<br />

Annahme, dass interindividuelle Unterschiede konsistent<br />

über größere Zeitspannen stabil bleiben<br />

(normative Stabilität). Entwicklung kann als Stabilisierung<br />

interindividueller Unterschiede aufgefasst<br />

werden und damit als Herausbildung von Eigenschaften<br />

in dieser wissenschaftlichen Bedeutung<br />

(vgl. Kap. 19). Aus der Beobachtung solcher Stabilisierungen<br />

darf nicht geschlossen werden, dass definitive<br />

Verfestigungen eingetreten sind und somit<br />

eine Einschränkung von Veränderungsmöglichkeiten<br />

gegeben ist.<br />

Voraussetzung für solche Schlussfolgerungen wäre,<br />

dass die Stabilisierungen erklärt werden. Wenn sie<br />

ausschließlich genetisch bedingt wären, wären sie<br />

wohl dauerhaft. Wenn sie aber darauf zurückzuführen<br />

sind, dass für die Mehrheit einer untersuchten<br />

Population grundsätzlich änderbare Entwicklungseinflüsse<br />

gleich geblieben sind, dann würden sich bei<br />

differentiellen Veränderungen dieser Einflüsse auch<br />

die Positionen in der Verteilung „destabilisieren“.<br />

Deshalb ist es einmal von besonderem Interesse, jene<br />

Teilpopulationen zu untersuchen, die deutliche Veränderungen<br />

mutmaßlicher Entwicklungseinflüsse<br />

erfahren haben, zum anderen jene Personen zu identifizieren,<br />

deren Positionen in der Verteilung sich<br />

deutlich verändert hat, und nach Bedingungen dieser<br />

Instabilitäten zu suchen.<br />

42 4 Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Feststellungen über absolute oder normative Stabilität<br />

beschreiben die Gegebenheiten in einer spezifischen<br />

Population in einem spezifischen historischen<br />

Zeitraum. Bezogen auf den Spielraum für Veränderungen<br />

sind rein beschreibende Daten über Stabilität<br />

wenig aussagekräftig, wenn nicht zugleich das<br />

Ausmaß der gegebenen potentiellen Änderungsimpulse<br />

erfasst wurde, z. B. veränderte Anforderungen<br />

durch einen Wechsel des sozialen Milieus (z. B.<br />

Adoption, Institutionalisierung), durch Schule,<br />

Beruf, durch neue Verantwortlichkeiten und Aufgaben.<br />

4.4 Probleme des Nachweises der<br />

Stabilität von Eigenschaften<br />

und Fähigkeiten<br />

Über Kontinuität und Diskontinuität kann nicht<br />

allein auf der Beobachtungsebene entschieden werden.<br />

Phänomenal Unterschiedliches kann beruhen<br />

auf denselben kognitive Strukturen, die auf<br />

unterschiedliche Inhalte angewandt werden,<br />

auf derselben Fähigkeit, die sich in unterschiedlichen<br />

Leistungen zeigt,<br />

auf derselben Eigenschaft oder Disposition, die<br />

sich in unterschiedlichen Handlungen manifestiert.<br />

Die kognitive Struktur, die Piaget als „additive Komposition<br />

von Klassen“ bezeichnet hat, ermöglicht<br />

Klasseninklusionen, vollständige Kategorisierungen<br />

von Materialien oder Begriffen, effizientes Raten von<br />

Begriffen, sog. Realdefinitionen durch Oberbegriff<br />

und spezifische Differenz, richtige Verwendungen<br />

von Artikeln und der Quantifikatoren ein, einige,<br />

alle, logisches Schlussfolgern mit Klassenbegriffen<br />

(Montada, 2002).<br />

Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme im<br />

Sinne des Verstehens der Perspektive und des Wissens<br />

von Interaktionspartnern kann ganz unterschiedliche<br />

Leistungen ermöglichen: Vorhersagen<br />

ihres Handelns, Mitfühlen, Formulierung verstehbarer<br />

Erklärungen, erfolgreiches Verhandeln, vorteilhafte<br />

Selbstdarstellung, Vermeiden und Beilegen von<br />

Konflikten u. a. m.<br />

Eine Eigenschaft wie Aggressivität kann sich äußern<br />

in physischer Gewalt, Verängstigung, Kritikbereitschaft,<br />

in ironischem Lob, aber auch in zivilcouragiertem<br />

Handeln, u. a. m. Auf der anderen Seite<br />

kann phänotypisch Ähnliches (z. B. Gewaltdelikte<br />

im Jugendalter) Ausdruck verschiedener Personmerkmale<br />

sein, etwa eines Machtmotivs oder eines<br />

Gerechtigkeitsmotivs, das z. B. zur Vergeltung einer<br />

Kränkung motiviert, eines Defizit an Selbstbeherrschung<br />

oder des Motivs, Anerkennung in einer Peergruppe<br />

zu finden (vgl. Kap. 28).<br />

Latente Strukturen, manifestes Verhalten. Bevor<br />

bei der Untersuchung von Stabilitäten und Veränderungen<br />

im Lebenslauf festgestellt werden kann, ob<br />

Kontinuität oder Diskontinuität vorliegt, muss geklärt<br />

sein, welches latente Konstrukt (welche kognitive<br />

Struktur, Fähigkeit oder Disposition) sich in<br />

dem beobachteten oder erfragten Verhalten manifestiert.<br />

Das ist in der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> auch<br />

deshalb von Bedeutung, weil mit altersspezifischen<br />

Manifestationen derselben latenten Konstrukte zu<br />

rechnen ist. Die Aggressivität eines sechsjährigen<br />

Kindes wird sich vielleicht im physischen Angriff auf<br />

Personen und Sachen äußern, die Aggressivität des<br />

Erwachsenen auch in ironischem Lob, Schadenfreude<br />

und subtiler Demütigung.<br />

Bevor die Stabilität von Aggressivität geprüft werden<br />

kann, wäre zunächst zu belegen, dass die altersspezifischen<br />

Verfahren zur Messung oder Erfassung<br />

wirklich Aggressivität erfassen. Hierzu sind Validitätsstudien<br />

auf den verschiedenen Altersstufen notwendig,<br />

in denen das Vorhandensein theoretisch<br />

erwarteter Zusammenhänge geprüft wird (z. B. die<br />

Übereinstimmung mit Einschätzungen aus dem<br />

sozialen Umfeld der Untersuchungsteilnehmer). Das<br />

heißt, es müssen methodische Regeln für die Zuordnung<br />

manifesten Verhaltens zu latenten Konstrukten<br />

angewandt werden, wie sie in der Testpsychologie<br />

zur Validierung von Tests gelten. Man darf sich nicht<br />

mit der Augenscheinvalidität der verwendeten Messverfahren<br />

begnügen.<br />

Werden substantielle Korrelationen zwischen zeitlich<br />

auseinander liegenden und dem Augenschein<br />

nach unterschiedlichen Variablen beobachtet, könnte<br />

es sein, dass es sich um dieselbe latente Variable<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

4.4 Probleme des Nachweises der Stabilität von Eigenschaften und Fähigkeiten 43


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Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

handelt, die über diese Zeitspanne stabil ist. Eine<br />

andere Erklärung könnte sein, dass z. B. die zeitlich<br />

früher gemessene Variable (z. B. Abiturnote) eine<br />

Voraussetzung (z. B. Zulassung zu einigen Studiengängen)<br />

für die zeitlich später gemessene Variable<br />

(z. B. Einkommen) darstellt. Das wird im Folgenden<br />

weiter erläutert.<br />

4.5 Kontinuität als Wirkung<br />

von Dispositionen, Kompetenzen<br />

und Selbstkonzept<br />

Wie kommt es, dass verschiedene Personen dieselben<br />

Informationen unterschiedlich auffassen und auswerten,<br />

gleiche Ereignisse unterschiedlich bewältigen und<br />

sich unter äußerlich ähnlichen Bedingungen unterschiedlich<br />

entwickeln? Die zu einem Zeitpunkt<br />

entwickelten personalen Merkmale (Motive, Interessen,<br />

Kompetenzen, Wissen, Einstellungen usw.), das<br />

Selbstbild und die Erfahrungen, die bisher gemacht<br />

wurden und die sich in Verhaltens-, Urteils- und Wertungsdispositionen<br />

niedergeschlagen haben, haben<br />

Einfluss auf die weitere Entwicklung.<br />

Dispositionen, Kompetenzen und das Selbstkonzept<br />

sind auf mindestens drei Weisen einflussreiche<br />

Faktoren der Entwicklung:<br />

(1) Die jeweils gegebenen individuellen Merkmale<br />

(Kompetenzen und Dispositionen) und Selbstkonzepte<br />

moderieren die Einflüsse aus der<br />

Umwelt, die subjektiven Erfahrungen und die<br />

Aufnahme und Bewertung von Informationen.<br />

Zum Beispiel lernen die intelligenteren und besser<br />

informierten Schüler aus einem anspruchsvollen<br />

Fachbuch mehr als weniger begabte oder<br />

schlecht informierte. Die erfolgszuversichtlichen<br />

Schüler erklären eine schlechte Prüfung anders<br />

als misserfolgsängstliche, und sie bilden aus diesen<br />

Erklärungen andere Erwartungen für künftige<br />

Leistungssituationen.<br />

(2) Die Anforderungen und Angebote der Umwelt<br />

variieren je nach individuell gegebenen Merkmalen<br />

und Selbstkonzepten. Das schwierige<br />

Kind wird weniger Zuneigung und Freundlichkeit<br />

erfahren als das pflegeleichte. Der rebelli-<br />

sche oder delinquente Jugendliche wird häufiger<br />

zurückgewiesen und weniger unterstützt als<br />

der angepasste. Vom intelligenten und guten<br />

Grundschüler erwartet man eher den Besuch<br />

einer höheren Schule als von schlechten Schülern.<br />

(3) Die Dispositionen, Kompetenzen und Selbstkonzepte<br />

bestimmen, in welche Richtung die Menschen<br />

ihre eigene Entwicklung gestalten. Zum<br />

Beispiel hängt es vom Selbstkonzept der eigenen<br />

Fähigkeiten ab, was man anpackt und welche<br />

Ziele man sich setzt. Ausbildungs- und Berufsentscheidungen,<br />

Eingehen und Auflösen von<br />

Partnerschaften, Übernahme oder Ablehnung<br />

sozialer Pflichten sind auch Funktionen des<br />

Selbstkonzeptes. Diese Entscheidungen haben<br />

Auswirkungen auf die weitere Entwicklung. Die<br />

Bewältigung von Schwierigkeiten hängt nicht<br />

zuletzt davon ab, wie man in der Vergangenheit<br />

mit Schwierigkeiten fertig geworden ist. Hat man<br />

zuvor ähnliche Probleme bewältigt, geht man die<br />

neuen mit mehr Selbstvertrauen und Geschick<br />

an als im umgekehrten Fall.<br />

Die Suche nach Kontinuität in individuellen Lebensläufen<br />

zielt auf Erklärungen individueller Entwicklungen<br />

aus Voraussetzungen oder Bedingungen, die<br />

als Kompetenzen, als Personmerkmale oder als<br />

Selbstkonzept zu fassen sind.<br />

Unter der Lupe<br />

Bindungsrepräsentationen und kognitive<br />

Entwicklung<br />

Ein Beispiel für die wissenschaftliche Suche nach<br />

Kontinuität gibt eine Studie über den Zusammenhang<br />

zwischen der Bindung von Kindern an die<br />

Eltern und der Leistungsentwicklung in der<br />

Grund- und Sekundarstufe (Edelstein, 1996;<br />

Jacobsen & Hofman, 1997). Die Bindung an die<br />

Eltern wurde mittels Interview zu Bilderszenen<br />

über eine längere Trennungsepisode im Alter von<br />

7 Jahren erfasst. Die Validität dieser Erfassungsmethode<br />

wurde unter anderem über eine erstaunlich<br />

hohe Übereinstimmung mit den Ergebnissen<br />

der Bewertung in der sog. fremden Situation in der<br />

<br />

44 4 Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

frühen Kindheit (vgl. Kap. 5 und 20) belegt. Es<br />

konnte nachgewiesen werden, dass sicher gebundene<br />

Kinder im Vergleich zu unsicher gebundenen<br />

im Alter von 9, 12 und 15 Jahren dem Unterricht<br />

mit mehr Aufmerksamkeit und Beteiligung folgen<br />

(erfasst durch Lehrerurteile), bessere Noten<br />

erzielen sowie in der kognitiven Entwicklung sehr<br />

deutlich überlegen sind. Eine Anzahl alternativer<br />

Erklärungshypothesen war durch entsprechende<br />

Kontrollen auszuschließen.<br />

Wie sind diese Zusammenhänge zu erklären?<br />

Eine sichere Beziehung zu den Eltern (oder<br />

anderen primären Bezugspersonen) bedeutet<br />

Vertrauen und vermittelt Selbstbewusstsein, so<br />

dass von der Kindheit an „die Welt“ exploriert<br />

und aktiv erforscht werden kann. Sicher<br />

gebundene Kinder haben die Sicherheit, sich in<br />

Interaktionen mit anderen einlassen und<br />

daraus lernen zu können. Sie erleben die Schule<br />

als interessant und anregend. Sie trauen sich,<br />

Fragen zu stellen und Antworten zu geben und<br />

damit entwicklungsrelevante Rückmeldungen zu<br />

bekommen. Unsicher gebundene Kinder sind<br />

ängstlicher und trauen sich weniger; ihr Selbst<br />

ist verletzbarer, weshalb sie viele Lernmöglichkeiten<br />

nicht nutzen.<br />

Die empirische Basis für Kontinuitätsannahmen ist<br />

mitunter sehr fragwürdig. Die Phänomene, die<br />

durch eine Kontinuitätsannahme verknüpft sind,<br />

sind weder regelmäßig im Sinne einer Korrelation<br />

oder Veränderungssequenz, noch gesetzmäßig im<br />

Sinne einer Verursachungskette miteinander verknüpft.<br />

Eine Voreingenommenheit zur Postulierung<br />

von Kontinuitäten ist verbreitet.<br />

Deshalb sind prospektive Längsschnittuntersuchungen<br />

ein Königsweg zu wissenschaftlich belegbaren<br />

entwicklungspsychologischen Erkenntnissen.<br />

Zu den Leitvorstellungen entwicklungspsychologischen<br />

Denkens gehört die Annahme, dass es einen<br />

Zusammenhang zwischen früheren und späteren<br />

Zuständen gibt. Dieser Zusammenhang ist zunächst<br />

einmal empirisch zu sichern, sodann in einer theoretischen<br />

Interpretation zu plausibilisieren.<br />

Die Bedeutung von Kontinuität und Wandel für<br />

Entwicklungsprognosen und -interventionen<br />

Individuelle Entwicklungsprognosen über längere<br />

Zeiträume sind mit großen Unsicherheiten behaftet.<br />

„Traditionelle Vorstellungen von Stabilität, geordnetem<br />

Wandel und invarianter Eigenschaftsausstattung<br />

erscheinen durch die Befundlage in hohem Maße<br />

diskreditiert. Ins Positive gewendet mag man aus<br />

den Misserfolgen einer langfristigen Entwicklungsprognostik<br />

aber auch einen Beleg dafür sehen, dass<br />

menschliche Entwicklungsprozesse sehr weite Änderungs-<br />

und Optimierungsspielräume aufweisen“<br />

(Brandtstädter, 1985, S. 2).<br />

Plastizität, Variabilität und Kontextspezifität machen<br />

präzise Entwicklungsprognosen freilich nicht<br />

unmöglich. Allerdings lassen sich Prognosen nicht nur<br />

aufgrund der jeweils gegebenen Entwicklungszustände<br />

stellen: Das setzte hohe Stabilität der betreffenden Entwicklungsdimensionen<br />

voraus. Stattdessen muss man<br />

die Faktoren in die Prognose einbeziehen, die als entwicklungswirksam<br />

nachgewiesen werden. Dies erfordert<br />

allerdings eine ebenfalls mit Unsicherheiten behaftete<br />

Prognose über das Eintreten dieser Entwicklungsfaktoren.<br />

Wenn beispielsweise kontextuelle Einflüsse<br />

wirksam sind, müsste prognostiziert werden, wie die<br />

Kontexte im Verlauf der Entwicklung eines Individuums<br />

sein werden bzw. welche Kontexte ein Individuum<br />

aufsuchen oder herstellen wird.<br />

Es wurden interaktionistische, aktionale und<br />

transaktionale Entwicklungsmodelle formuliert. Es<br />

fehlt auch nicht an Methoden, wie man im Rahmen<br />

dieser Modelle forschen könnte. Wenn man diese<br />

Modelle jedoch anlegt, wird deutlich, wie breit<br />

die Spielräume für die Entwicklung insbesondere<br />

in Gesellschaften mit heterogenen Kulturen und<br />

einem hohen Änderungstempo sind. Für individuelle<br />

Entwicklungsprognosen ist das eine Erschwernis,<br />

weil die individuelle Entwicklungsprognose<br />

eine Prognose voraussetzt, ob, wann und in<br />

welcher Kombination diese Entwicklungsfaktoren<br />

eintreten und wirksam werden können, ob ihr Wirksamwerden<br />

möglicherweise durch andere Faktoren<br />

gefördert oder gedämpft wird usw. Entwicklungsprognosen<br />

werden also auch zukünftig notorisch<br />

mit großen Unsicherheiten behaftet sein.<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

4.5 Kontinuität als Wirkung von Dispositionen, Kompetenzen und Selbstkonzept 45


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Etwas einfacher stellt sich die Lage dar bei wissenschaftlich<br />

fundierten Interventionen, also wenn es<br />

um entwicklungsbezogenes Handeln geht. Denn<br />

die Entwicklungsfaktoren müssen nicht prognostiziert<br />

werden, sondern nur kontrolliert realisiert<br />

werden.<br />

4.6 Aleatorische Entwicklungsmomente<br />

und aktionale Entwicklungsmodelle<br />

In scharfem Kontrast zu den Kontinuitätsannahmen<br />

steht auf den ersten Blick die von Gergen (1979)<br />

besonders pointiert vorgetragene These von der<br />

Zufälligkeit, vom „Aleatorischen“ (lat. alea: der<br />

Würfel) in der Entwicklung. Beginnend mit der<br />

Zeugung spielen Zufälle eine Rolle. Mit welcher<br />

Kombination von Erbanlagen wir in welche Familie,<br />

welche Gesellschaft und welche historische Zeit hineingeboren<br />

werden, schon das ist ein Zufall. Welche<br />

glücklichen und unglücklichen Ereignisse wir erleben,<br />

welchen Menschen wir begegnen, mit welchen<br />

Ideen wir bekannt werden, auch dies hat ein Element<br />

des Zufalls. Vielleicht sind es die Zufälle und<br />

deren Auswirkungen, die den aus Längsschnittstudien<br />

bekannten Tatbestand erklären, dass mit<br />

zunehmendem Zeitintervall die Entwicklungsprognosen<br />

ungenauer werden.<br />

Unterschätzung der Zufälle. In der theoretischen<br />

und in der biographischen Rekonstruktion von Entwicklungsverläufen<br />

suchen wir jedoch nach Kausalund<br />

Sinnzusammenhängen und übersehen die<br />

zufälligen Momente. Wir haben eine Tendenz, den<br />

Zufall von Ereignissen und Begegnungen zu bezweifeln<br />

und stattdessen Dispositionen und Wahlen<br />

anzunehmen. Damit geben wir einem aktionalen<br />

Entwicklungsmodell den Vorzug, das ein reflexives<br />

und intentional handelndes Subjekt annimmt. Bei<br />

der biographischen Rekonstruktion haben viele das<br />

Motiv, die Kontrolle über die Geschehnisse, ihre<br />

Bewältigungsleistungen und die Kontinuität im<br />

Sinne einer Konsistenz und Stabilität persönlicher<br />

Identität in illusionärer Weise zu überschätzen.<br />

Kontinuität trotz Zufällen. Kontinuität und Zufallsmomente<br />

schließen sich aber durchaus nicht<br />

aus. Sie würden sich nur ausschließen, wenn die<br />

Zufallsmomente alleinige und hinreichende Ursachen<br />

für Entwicklungsveränderungen wären. Immer<br />

wenn individuelle Unterschiede in den Auswirkungen<br />

oder Verarbeitungen der Zufallsmomente feststellbar<br />

sind, die auf Dispositionen oder Kompetenzen<br />

zurückzuführen sind, wenn wir also Interaktionen<br />

nachweisen können, spricht das für Kontinuität,<br />

auch wenn die Entwicklungsbahnen durch die<br />

Zufallsereignisse mitbedingt sind. Die Annahme von<br />

Wahl- und Handlungsmöglichkeiten, die Annahme<br />

von wirksamen Dispositionen der Person wird nicht<br />

schon dadurch diskreditiert, dass man auch Zufälle<br />

als Einflussfaktoren akzeptiert.<br />

Denkanstöße<br />

Es wurden verschiedene Kontinuitätskonzepte<br />

unterschieden. Illustrieren Sie diese<br />

mit Beispielen aus Ihrem eigenen Leben.<br />

Machen Sie sich mehrere Zufälle in Ihrem<br />

eigenen Leben bewusst, und denken Sie darüber<br />

nach, welche Entscheidungen Sie selbst<br />

angesichts dieser Zufälle getroffen haben.<br />

Es wurden drei Möglichkeiten genannt, wie<br />

entwickelte Dispositionen, Kompetenzen<br />

und das Selbstkonzept einflussreich für die<br />

weitere Entwicklung werden können.<br />

Versuchen Sie, dafür Beispiele in Ihrer<br />

eigenen gegenwärtigen Lebensituation zu<br />

finden.<br />

5 Zusammenfassung<br />

Es ist das Anliegen des Einführungskapitels, den<br />

Lesern einen allgemeinen Überblick über die Fragestellungen<br />

und Themen der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

zu geben. Das wird mit verschiedenen Ansätzen<br />

versucht.<br />

Fragestellungen und Modellannahmen. Die heutige<br />

Forschung stellt Fragen in Abgrenzung von den in<br />

der Geschichte des Faches lange Zeit vorherrschenden<br />

Phasen- und Stufenmodellen, mit denen man<br />

46 5 Zusammenfassung


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allgemeine Entwicklungsveränderungen zu beschreiben<br />

versucht hat:<br />

Man schaut heute mehr auf individuelle und<br />

(sub-)kulturelle Unterschiede in Entwicklungen,<br />

weil man daraus mehr Erkenntnisse über Einflussfaktoren<br />

und -möglichkeiten gewinnen kann.<br />

Die Ansichten darüber haben sich sehr deutlich<br />

geändert.<br />

Man weiß heute, dass viele Einflussfaktoren in<br />

systemischen Bezügen interagieren, z. B. Erbanlagen<br />

mit sozialen und physischen Kontextkomponenten<br />

und diese Komponenten untereinander.<br />

Man hat auch erkannt, dass die sich entwickelnden<br />

Menschen Einfluss haben auf ihre Entwicklungsumwelt,<br />

auch aktiv gestaltenden Einfluss,<br />

und mit zunehmendem Alter immer mehr selbst<br />

entscheiden, in welchen Kontexten sie leben. Entwicklungseinflüsse<br />

sind nicht unilateral, etwa von<br />

Eltern und anderen Erwachsenen auf Kinder und<br />

Jugendliche, sondern wechselseitig oder „transaktional“.<br />

Entwicklung endet nicht mit dem Jugendalter.<br />

Die neuen Fragestellungen und Modellannahmen<br />

wurden vor allem angeregt und erforderlich durch<br />

eine Ausweitung der Entwicklungsforschung auf die<br />

gesamte Lebensspanne. Im Erwachsenen- und höheren<br />

Alter gibt es Entwicklungen in vielen Bereichen,<br />

aber eben differentielle, die sich aus den Interaktionen<br />

der Menschen in unterschiedlichen Systemen<br />

oder Lebenskontexten ergeben.<br />

Bereichsübergreifende Forschungsprobleme.<br />

Weiter wird eine Einführung in folgende allgemeine<br />

Forschungsprobleme gegeben:<br />

Anlage-Umwelt-Debatte,<br />

Entwicklung als Reifung und die Rolle der Erfahrung<br />

und des Lernens,<br />

Reifestand und sensible Perioden der Entwicklung<br />

als Voraussetzung für spezifisches Lernen,<br />

konstruktivistische Entwicklungskonzeptionen<br />

des Aufbaus von Erkenntnissen, Wissen und Erkenntnisinstrumenten,<br />

Sozialisationseinflüsse, die unter entwicklungspsychologischen<br />

Perspektiven spezifiziert werden,<br />

Entwicklungsaufgaben in unterschiedlichen Altersund<br />

Lebensphasen,<br />

Entwicklungskrisen und die Entwicklungsauswirkungen<br />

kritischer Lebensereignisse.<br />

Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung.<br />

Entwicklung bedeutet Veränderung, und zwar<br />

eine spezifische Kategorie von Veränderung, die<br />

sinnvoll auf die Zeitdimension Lebensalter bezogen<br />

werden kann. Eine Kernfrage dabei ist die Frage<br />

nach Kontinuität oder Diskontinuität. Von Entwicklung<br />

sprechen wir nur, wenn in irgendeiner Form<br />

Kontinuität in der Veränderung gegeben ist. Eine<br />

zentrale Frage ist deshalb, wie Kontinuität nachzuweisen<br />

ist. Hierzu werden verschiedene Konzepte<br />

von Stabilität und Kontinuität unterschieden und<br />

die methodischen Schwierigkeiten des Nachweises<br />

von Kontinuität in allgemeiner Darstellung aufgewiesen.<br />

Das Thema Kontinuität wird durch eine Diskussion<br />

der Rolle von Zufällen in der Entwicklung illustriert.<br />

Es gibt viele Zufälle in Entwicklungen. Ihre<br />

Wirkungen hängen aber ab von der Verarbeitung<br />

und dem Handeln durch die betroffenen Menschen<br />

in ihren jeweiligen systemischen Kontexten. In<br />

aktionalen und transaktionalen Modellen der Entwicklungen<br />

werden die Wirkungen von Zufällen als<br />

moderiert angesehen, moderiert durch die vorausgehenden<br />

Entwicklungen der Betroffenen, die zu<br />

Dispositionen, Fähigkeiten u. a. geführt haben.<br />

Die praktische Relevanz der Forschung. Welche<br />

der Interaktionen zwischen den sich entwickelnden<br />

Menschen (ihren Dispositionen und Potentialen)<br />

und den verschiedenen Kontexten sowie deren<br />

Komponenten und Facetten, welche der dort gemachten<br />

Erfahrungen usw. haben einen so großen<br />

Einfluss, dass man dieses Wissen für praktische Fragen,<br />

insbesondere für die Förderung einer guten<br />

Entwicklung und die Prävention von Fehlentwicklungen<br />

nutzen kann? Um eine Orientierung für die<br />

Lektüre dieses Buches zu geben, wird im Einführungskapitel<br />

eine Übersicht über die Relevanz entwicklungspsychologischen<br />

Wissens in unterschiedlichen<br />

Praxisfeldern und für die Gestaltung gesellschaftlicher<br />

Institutionen gegeben. Die Bedeutung<br />

der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> reicht heute bis zur<br />

Gestaltung eines produktiven Lebens im Alter.<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

5 Zusammenfassung 47


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 1<br />

Fragen, Konzepte,<br />

Perspektiven<br />

Weiterführende Literatur<br />

Brandtstädter, J. (2001). Entwicklung, Intentionalität, Handeln.<br />

Stuttgart: Kohlhammer.<br />

In diesem Buch wird ein aktionales Entwicklungsmodell<br />

begründet mit Bezügen zu allen wichtigen theoretischen und<br />

metatheoretischen Positionen.<br />

Petermann, F., Niebank, K. & Scheithauer, H. (2004). Entwicklungswissenschaft.<br />

Berlin: Springer.<br />

Das Buch reichert das transaktionale Entwicklungsmodell mit<br />

vielen Informationen über neue neuropsychologische und genetische<br />

Forschungen an.<br />

48 5 Zusammenfassung


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Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie und Genetik<br />

der Entwicklung<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

Jens B. Asendorpf<br />

„Biologisch“ wird in der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

in drei unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet:<br />

im Sinne der Evolutionsbiologie, im Sinne<br />

der Entwicklungsgenetik und im Sinne der Neurowissenschaft.<br />

Evolutionsbiologie. Wie bei allen anderen Lebewesen<br />

kann auch die menschliche Entwicklung von der<br />

Zeugung bis zum Tod als Produkt der Evolution verstanden<br />

werden, die von den ersten Lebewesen auf<br />

der Erde bis zu den heute lebenden Arten mit ihren<br />

charakteristischen Entwicklungsprozessen führte.<br />

Aus dieser Sicht ist die Individualentwicklung selbst<br />

Gegenstand eines Jahrmillionen andauernden Entwicklungsprozesses,<br />

eben der Evolution. Im ersten<br />

Teil dieses Kapitels wird gezeigt, wie sich aus dieser<br />

evolutionsbiologischen Sicht einige Aspekte der<br />

menschlichen Entwicklung verstehen lassen als Anpassungen<br />

der Individualentwicklung an die Umweltbedingungen<br />

unserer evolutionären Vorfahren.<br />

Entwicklungsgenetik. Zweitens wird „biologisch“<br />

im Sinne der Entwicklungsgenetik verstanden: Das<br />

genetische Erbgut (das Genom) variiert innerhalb<br />

bestimmter menschlicher Populationen von Individuum<br />

zu Individuum (eineiige Zwillinge ausgenommen).<br />

Diese genetischen Unterschiede führen zu<br />

einem unterschiedlichen Verlauf der Individualentwicklung<br />

und sind deshalb eine von mehreren Ursachen<br />

für Persönlichkeitsunterschiede. Im zweiten<br />

Teil dieses Kapitels wird umrissen, was wir heute<br />

über den genetischen Einfluss auf die differentielle<br />

Entwicklung wissen.<br />

Neurowissenschaft. Drittens wird „biologisch“ im<br />

Sinne der Neurowissenschaft verstanden: Wie entwickelt<br />

sich das Nervensystem im Verlauf der Indi-<br />

vidualentwicklung, und welche Beziehung besteht<br />

zwischen neuronalen und psychischen Entwicklungsprozessen?<br />

Dieser neurowissenschaftliche Zugang<br />

zur Entwicklung wird in Kapitel 3 behandelt.<br />

Genetisch beeinflusstes Lernen. Leider wird in der<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong> „biologisch“ oft auch missverständlich<br />

verwendet. Verbreitet ist z. B. die Kontrastierung<br />

von „biologisch bedingt“ (im Sinne von<br />

„genetisch bedingt“) mit „erlernt“. Diese Gegenüberstellung<br />

suggeriert, dass genetische Einflüsse auf<br />

die Entwicklung nicht auch über Lernen vermittelt<br />

werden und dass Lernen genetisch unbeeinflusst ist.<br />

Beides ist falsch. Das sei hier am Beispiel der Schlangenangst<br />

von Rhesusaffen erläutert (vgl. „Unter der<br />

Lupe“, S. 50).<br />

Sinnvolle Schlangenangst<br />

Rhesusaffen in der freien Wildbahn reagieren<br />

Schlangen gegenüber mit starker Angst, im Zoo aufgewachsene<br />

Rhesusaffen nicht. Sie erwerben aber<br />

Angst vor Schlangen sehr schnell und dauerhaft,<br />

wenn sie beobachten, dass Artgenossen ängstlich auf<br />

eine Schlange reagieren.<br />

Im Verlauf der Evolution scheint sich also eine<br />

genetische Prädisposition zum Erlernen von Angst<br />

gegenüber solchen Reizen herausgebildet zu haben,<br />

die in der evolutionären Vergangenheit Gefahr signalisierten.<br />

Dies ist vermutlich auch der Grund, warum<br />

in Mitteleuropa Angst vor Schlangen viel verbreiteter<br />

ist als Angst vor Autos, obwohl dort Autos<br />

objektiv gesehen viel gefährlicher sind als Schlangen.<br />

Rhesusaffen (und vermutlich auch Menschen) müssen<br />

zwar Angst vor Schlangen erst lernen, aber dass<br />

sie es überhaupt lernen, ist genetisch bedingt.<br />

Evolutionspsychologie und Genetik der Entwicklung 49


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Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

Unter der Lupe<br />

Cook und Mineka (1989) zeigten verschiedenen<br />

Gruppen von Rhesusaffen, die im Zoo aufgewachsen<br />

waren und nie zuvor eine Spielzeugschlange,<br />

ein Spielzeugkrokodil, einen Spielzeughasen<br />

oder eine Plastikblume gesehen hatten,<br />

mehrfach einen Videofilm, in dem ein Artgenosse<br />

unängstlich oder mit großer Angst auf einen dieser<br />

vier Reize reagierte. Durch Bildmanipulation<br />

wurde erreicht, dass die (nicht)ängstliche Reaktion<br />

des Artgenossen bei allen Reizen identisch<br />

war.<br />

Vor und nach diesem Lernexperiment wurden<br />

die Versuchstiere mit den im Film gezeigten Reizen<br />

direkt konfrontiert. Filme, in denen der<br />

gezeigte Rhesusaffe nichtängstlich auf Schlange,<br />

Krokodil, Hase oder Blume reagiert hatte, hinterließen<br />

keine Wirkung: Die Versuchstiere reagierten<br />

wie vor dem Experiment ohne Angst. Der<br />

Hase und die Blume ließen sie auch dann unbeeindruckt,<br />

wenn sie im Film mehrfach gesehen<br />

hatten, dass ein Artgenosse diesen Reizen gegenüber<br />

hochängstlich reagiert hatte. Rhesusaffen, die<br />

jedoch gesehen hatten, wie ihre Artgenossen<br />

ängstlich auf die Schlange oder das Krokodil reagierten,<br />

reagierten diesen gegenüber nun auch<br />

selbst mit Angst. Die Angst wurde also nur<br />

bestimmten Reizen gegenüber erworben. Dieses<br />

Ergebnis ist evolutionsbiologisch sehr sinnvoll,<br />

denn Schlangen und Krokodile sind hochgefährlich<br />

für Säugetiere, Hasen und Blumen jedoch<br />

nicht.<br />

Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass es genetische<br />

Unterschiede in der Lernbereitschaft gibt (vgl.<br />

Abschnitt 2.2). Was durch Reifung im Sinne einer<br />

genetisch determinierten Entwicklung erklärt wird,<br />

beruht oft auch auf Lernprozessen, und was im Verlauf<br />

der Entwicklung gelernt wird, kann genetisch<br />

vorbestimmt sein.<br />

!<br />

Genetischer Einfluss und Lernen können<br />

nicht als unabhängig betrachtet werden.<br />

1 Evolutionspsychologie<br />

der Entwicklung<br />

Zunächst werden einige allgemeine Prinzipien der<br />

Evolutionspsychologie skizziert. Dann wird exemplarisch<br />

anhand von drei Entwicklungsphänomenen<br />

(Atavismen, Entwicklung der sexuellen Orientierung<br />

und Konsequenzen väterlicher Fürsorge) geschildert,<br />

wie Entwicklungsphänomene evolutionspsychologisch<br />

erklärt werden.<br />

1.1 Allgemeine Prinzipien der<br />

Evolutionspsychologie<br />

Die Evolutionsbiologie geht auf Darwin (1859) zurück.<br />

Darwin erklärte die Vielfalt der heutigen Arten<br />

durch einen Entwicklungsprozess, der im Kern auf<br />

Variation der Erbanlagen und natürlicher Selektion<br />

beruht. Dieses Erklärungsprinzip lässt sich nicht nur<br />

auf die Entstehung der Arten, sondern auch auf die<br />

Individualentwicklung innerhalb der Arten anwenden.<br />

Beim Menschen lassen sich so Entwicklungsgemeinsamkeiten,<br />

aber auch Entwicklungsunterschiede<br />

als Anpassungsleistungen an die Umwelt unserer evolutionären<br />

Vorfahren verstehen.<br />

Definition<br />

Die Spezialisierung der Evolutionsbiologie auf<br />

menschliches Erleben und Verhalten wird auch<br />

Evolutionspsychologie genannt (Buss, 2004).<br />

Zu Darwins Zeit war es noch nicht klar, was eigentlich<br />

variiert, von einer Generation zur nächsten vererbt<br />

und durch natürliche Selektion ausgelesen<br />

wird. Erst die Genetik füllte diese Lücke. Was innerhalb<br />

einer Art variiert, sind die Allele, d. h. die Vari-<br />

50 1 Evolutionspsychologie der Entwicklung


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anten eines bestimmten Gens. So beruhen z. B. die<br />

Blutgruppen A, B, 0 auf Allelen eines Gens. Die<br />

Gene selbst sind funktionale Einheiten des Genoms<br />

und variieren mit wenigen Ausnahmen nur zwischen<br />

Arten; Mensch und Schimpanse z. B. teilen<br />

über 98 Prozent der Gene. Die Allele sind bis auf<br />

Mutationen das Leben hindurch konstant und in<br />

allen Zellen vorhanden; sie werden bei sexueller<br />

Fortpflanzung an die Kinder weitergegeben. Während<br />

der Meiose wird das Genom von Vater und<br />

Mutter in funktionale Einheiten zerlegt und durchmischt;<br />

diese sexuelle Rekombination stellt neben<br />

der Mutation die zweite Variationsquelle dar.<br />

!<br />

Gene variieren zwischen Arten. Allele variieren<br />

zwischen Individuen einer Art.<br />

Unterschiedliche Allele eines Gens können als in<br />

Konkurrenz zueinander betrachtet werden. Je nach<br />

Umweltbedingungen steigt oder sinkt ihre Häufigkeit<br />

relativ zu anderen Allelen: Sie weisen eine unterschiedliche<br />

Fitness auf. Dadurch nimmt die Umwelt<br />

Einfluss auf die Reproduktion von Genen; sie werden<br />

„natürlich ausgelesen“. Diese natürliche Selektion<br />

ist der entscheidende Mechanismus, der Gene<br />

und damit auch Genome und Lebewesen so an die<br />

Umwelt anpasst, dass sie überlebens- und fortpflanzungsfähig<br />

sind.<br />

Die Fitness hängt von der Umwelt ab. Das Konzept<br />

der natürlichen Selektion wird vielfach falsch<br />

verstanden. Erstens ist Fitness kein Merkmal eines<br />

Menschen oder eines Genoms, sondern eine Funktion<br />

eines Gens und seiner Umwelt. Ändert sich die<br />

Umwelt, kann sich seine Fitness ändern. Es gibt deshalb<br />

keine „guten“ oder „schlechten“ Gene, sondern<br />

nur Gene, die an eine bestimmte Umwelt „gut“ oder<br />

„schlecht“ angepasst sind. Zweitens bezieht sich die<br />

natürliche Selektion nur zum Teil auf die Lebenserwartung.<br />

Ein Gen, das Kindersterblichkeit begünstigt,<br />

ist zwar schlecht angepasst, aber Gene, die die<br />

Lebenserwartung erhöhen, doch die Zahl der Nachkommen<br />

senken, sind auch schlecht angepasst. Entscheidend<br />

ist der Reproduktionsvorteil eines Gens;<br />

statt „Survival of the fittest“ (Darwin) sollte es besser<br />

heißen “Reproduction of the fittest”. Deshalb ist<br />

es, drittens, falsch anzunehmen, dass die natürliche<br />

Selektion in westlichen Kulturen mit ihrer niedrigen<br />

Kindersterblichkeit und guten medizinischen Versorgung<br />

keine wesentliche Rolle mehr spiele. Gene<br />

beispielsweise, die Kinderwunsch oder Nachlässigkeit<br />

bei der Schwangerschaftsverhütung begünstigen,<br />

dürften heutzutage ausgesprochen fit sein.<br />

Die genetische Variation beruht auf Mutation<br />

und sexueller Rekombination, die<br />

!<br />

natürliche Selektion auf dem Reproduktionserfolg<br />

von Genen.<br />

Die natürliche Selektion wirkt sich deshalb am<br />

stärksten auf körperliche und Verhaltensmerkmale<br />

aus, die direkt die Reproduktion betreffen; alle anderen<br />

Merkmale sind nur indirekt betroffen. So gut<br />

wie gar nicht betroffen sind körperliche und Verhaltensmerkmale<br />

im hohen Alter, weil sie irrelevant<br />

für die Fortpflanzung der eigenen Gene und daher<br />

„selektiv neutral“ sind (vgl. Baltes, 1997). Ob jemand<br />

Alzheimer bekommt (eine genetisch stark<br />

mitbedingte Hirnerkrankung, die typischerweise<br />

erst ab dem Alter von 70 Jahren auftritt) oder nicht,<br />

ist evolutionär gesehen irrelevant; deshalb sind „Alzheimer-Gene“<br />

relativ häufig.<br />

Intra- und intersexuelle Selektion. Heutige evolutionsbiologische<br />

Erklärungen nutzen verschiedene<br />

Prinzipien, die sich aus den Kernprinzipien Variation<br />

und natürliche Selektion ableiten lassen. Darwin<br />

(1871) diskutierte bereits zwei von ihnen: intra- und<br />

intersexuelle Selektion. Intrasexuelle Selektion bezieht<br />

sich auf die Rivalität innerhalb der Geschlechter<br />

bei dem Versuch, Sexualpartner zu gewinnen und<br />

gegen Rivalen abzuschirmen. Gene, die diese Fähigkeiten<br />

fördern, haben einen Reproduktionsvorteil.<br />

Intersexuelle Selektion bezieht sich auf die sexuelle<br />

Attraktivität beim anderen Geschlecht. Gene, die körperliche<br />

oder Verhaltensmerkmale fördern, die vom<br />

anderen Geschlecht für attraktiv gehalten werden,<br />

haben einen Reproduktionsvorteil.<br />

Soziobiologie. Wilson (1975) wandte evolutionsbiologische<br />

Erklärungsprinzipien auf das Sozialver-<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

1.1 Allgemeine Prinzipien der Evolutionspsychologie 51


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Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

halten verschiedener Tierarten an und prägte den<br />

Begriff der Soziobiologie im Sinne einer Evolutionsbiologie<br />

des Sozialverhaltens. Dieser Ansatz löste<br />

starke Kontroversen mit Sozialwissenschaftlern aus,<br />

die bis dahin geglaubt hatten, biologische Zugänge<br />

zu sozialen Phänomenen ignorieren zu können. Mit<br />

gewissem Recht wurde den Soziobiologen vorgeworfen,<br />

dass ihre Überlegungen letztlich nur auf Spekulationen<br />

über optimal angepasstes Verhalten in einer<br />

hypothetischen Umwelt der Vergangenheit beruhten<br />

und der notwendigerweise angenommene genetische<br />

Einfluss auf das Verhalten nicht nachgewiesen<br />

sei.<br />

Ultimate und proximate Erklärungen. Allerdings<br />

unterschieden zumindest einige Soziobiologen<br />

schon früh zwischen ultimaten und proximaten Erklärungen.<br />

Ultimate Erklärungen beruhen auf Überlegungen<br />

zum Selektionsdruck und beschreiben, wie<br />

sich Individuen unter den angenommenen Umweltbedingungen<br />

der evolutionären Vergangenheit hätten<br />

verhalten sollen. Aber damit sie sich tatsächlich<br />

so verhalten haben, bedarf es proximater Mechanismen,<br />

die sie dazu gebracht haben, sich tatsächlich so<br />

zu verhalten. Die evolutionsbiologische Erklärung<br />

ist im Grunde nur vollständig (und überzeugender),<br />

wenn zu jeder ultimaten Erklärung auch eine proximate<br />

Erklärung durch Angabe eines proximaten<br />

Mechanismus geliefert wird.<br />

Evolvierte psychologische Mechanismen. Von daher<br />

greifen in ernst zu nehmenden evolutionären<br />

Erklärungen menschlichen Erlebens und Verhaltens<br />

immer biologische ultimate und psychologische<br />

proximate Erklärungen ineinander. Tatsächlich<br />

scheint sich der Schwerpunkt der evolutionspsychologischen<br />

Forschung in den letzten Jahren zunehmend<br />

in Richtung proximater Erklärungen verschoben<br />

zu haben. Hierbei wurde von Cosmides et al.<br />

(1992) der Begriff des evolvierten psychologischen<br />

Mechanismus (EPM) geprägt, der zur Abgrenzung<br />

der Evolutionspsychologie von einer nur ultimaten<br />

Erklärungen verpflichteten Soziobiologie benutzt<br />

wurde (Buss, 2004). Unter einem EPM wird ein<br />

bereichs- und kontextspezifischer proximater Mechanismus<br />

verstanden, der als Anpassungsleistung<br />

an die Umwelt unserer Vorfahren (also ultimat) verständlich<br />

ist und von dem angenommen wird, dass<br />

er genetisch fixiert ist und deshalb vererbt wird.<br />

Ultimate Erklärungen durch natürliche<br />

!<br />

Selektion müssen in evolutionspsychologischen<br />

Erklärungen durch Angabe proximater<br />

evolvierter psychologischer Mechanismen<br />

(EPMs) ergänzt werden.<br />

Ein viel zitiertes Beispiel für einen EPM ist die<br />

Hornhautbildung an den Füßen bei häufigem<br />

Gehen über hartes Gelände. Hornhaut schützt in<br />

diesem Fall vor Verletzungen bis hin zu Blutvergiftung.<br />

Wer nur über weiches Gras geht, bekommt<br />

keine Hornhaut, was die Sensitivität der Füße<br />

gegenüber taktilen Reizen fördert. In beiden Fällen<br />

ist Hornhaut bzw. das Fehlen derselben ultimat verständlich.<br />

Die Fähigkeit zur Hornhautbildung ist<br />

genetisch bedingt, aber ausgelöst wird sie durch spezifische<br />

Umweltreize. Dies wird als paradigmatisch<br />

für EPMs angesehen: EPMs sichern eine gute Anpassung<br />

an Umweltbedingungen, die in der evolutionären<br />

Vergangenheit variierten. Die Aufgabe der<br />

Evolutionspsychologie ist es daher, bei Menschen<br />

vorhandene Mechanismen der Informationsverarbeitung,<br />

Verhaltenskontrolle und Individualentwicklung<br />

als EPMs zu identifizieren. Im Folgenden<br />

werden exemplarisch einige entwicklungsrelevante<br />

EPMs vorgestellt.<br />

1.2 Verhaltensatavismen<br />

Aus entwicklungsbiologischer Sicht schreitet die<br />

Evolution dadurch voran, dass sich die genetisch<br />

bedingte Individualentwicklung ändert. Die natürliche<br />

Selektion begünstigt bestimmte Allele und<br />

damit auch bestimmte genetisch bedingte Entwicklungsverläufe.<br />

Diese Änderungen fußen auf dem<br />

konservativen Prinzip, dass Vorhandenes abgewandelt<br />

wird; das meiste wird beibehalten. Deshalb lassen<br />

sich in frühen Stadien der Individualentwicklung<br />

Anlagen zu artfremden Merkmalen finden. So<br />

findet sich in allen Embryos von Wirbeltieren (Men-<br />

52 1 Evolutionspsychologie der Entwicklung


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schen eingeschlossen) die Rückensaite der 500 Millionen<br />

Jahre alten Chorda-Tiere. Obwohl sie sich später<br />

zu funktionslosen Überresten in den Bandscheiben<br />

zurückentwickelt, hat diese Rückensaite eine<br />

zentrale Funktion in der Entwicklung. Entfernt man<br />

sie nämlich bei einem Wirbeltier-Embryo, so wird es<br />

keine Muskulatur entwickeln. Störungen in der<br />

Embryonalentwicklung können dazu führen, dass<br />

bestimmte Merkmale sich nicht artgerecht entwickeln,<br />

sondern auf einem evolutionär niedrigeren<br />

Niveau verbleiben. Dann werden Kinder mit körperlichen<br />

Atavismen geboren, d. h. körperlichen Abnormitäten,<br />

die Normalitäten unserer Vorfahren waren:<br />

Kiemenspalten, zwei Reihen von Zitzen oder Pelzgesichter.<br />

Der Jenaer Zoologe Haeckel (1868) fasste<br />

dies in dem missverständlichen Diktum zusammen,<br />

dass die Ontogenese (die Individualentwicklung) die<br />

Phylogenese (die Entwicklung der Arten) wiederhole.<br />

Das ist streng genommen nicht richtig. Menschliche<br />

Embryonen ähneln nie ausgewachsenen Fischen;<br />

sie ähneln aber in einer bestimmten Phase<br />

ihrer Entwicklung Fisch-Embryos. Die Ontogenese<br />

baut also auf phylogenetisch älteren Formen der<br />

Ontogenese auf.<br />

!<br />

Die Ontogenese wiederholt die Phylogenese<br />

der frühen Ontogenese.<br />

Der Klammerreflex. Dieses Prinzip ist auch gut<br />

geeignet, um heutzutage scheinbar überflüssige Verhaltensweisen<br />

in der menschlichen Entwicklung als<br />

Verhaltensatavismen zu verstehen. So zeigen Säuglinge<br />

einen Klammerreflex, der einst dazu gedient<br />

haben mag, dass sie sich am Fell der Mutter festhalten<br />

konnten – nur im Zeitalter der Kinderwagen<br />

und Tragetücher ein scheinbar überflüssiger Reflex.<br />

Der Klammerreflex kann als EPM verstanden werden:<br />

hochgradig bereichsspezifisch (betrifft nur<br />

Handbewegungen), kontextspezifisch (Berührungen<br />

der Handinnenfläche lösen ihn aus), genetisch<br />

fixiert (alle Säuglinge zeigen ihn bis auf pathologische<br />

Ausnahmen) und ultimat gut verständlich als<br />

Anpassungsleistung an Umweltbedingungen unserer<br />

Säuglings-Vorfahren (das Fell der Mutter).<br />

Das Konzept des Verhaltensatavismus ist nicht nur<br />

geeignet, um scheinbar zwecklose menschliche Verhaltensweisen<br />

als EPMs verständlich zu machen.<br />

EPMs können nämlich auch eine entwicklungspsychologische<br />

Bedeutung haben. Wegen ihrer langen<br />

evolutionären Geschichte liegt es nahe anzunehmen,<br />

dass einmal etablierte EPMs stimulierende Funktion<br />

in der Individualentwicklung haben – ähnlich wie<br />

die Ausbildung der Rückensaite in Wirbeltieren die<br />

Bildung der Muskulatur stimuliert. Das gilt auch für<br />

den Klammerreflex (vgl. „Unter der Lupe“).<br />

Unter der Lupe<br />

Akrobaten-Babys<br />

Koch (1969) trainierte bei Säuglingen systematisch<br />

diejenigen Reflexe, die es unseren stammesgeschichtlichen<br />

Vorfahren ermöglichten, sich<br />

am Fell der Mutter festzuhalten, u. a. den Klammerreflex.<br />

Dieses Training führte dazu, dass die<br />

Säuglinge mit sechs Monaten frei hängend an<br />

einem Trapez schaukeln und mit sieben Monaten<br />

eine Leiter hochklettern konnten – in einem<br />

Alter, in dem ihre Altersgenossen meist noch<br />

nicht einmal krabbeln. Offenbar erfüllten die<br />

von Koch trainierten Reflexe wichtige Funktionen<br />

in der motorischen Entwicklung. Hätte<br />

Koch dagegen direkt das Trapezschaukeln oder<br />

Leiterklettern trainiert, hätte er wohl kaum<br />

Erfolg gehabt – alleiniges Training des Laufens<br />

z. B. beschleunigt das Laufenlernen kaum. Das<br />

Geheimnis von Kochs Erfolg scheint vielmehr<br />

darin zu liegen, dass er heutzutage verkümmerte<br />

Stadien der motorischen Entwicklung stimulierte<br />

und dadurch die motorische Entwicklung insgesamt<br />

beschleunigte. Wunder darf man sich<br />

von solchen „evolutionär korrekten“ Trainings<br />

allerdings nicht erwarten: Im Alter von drei Jahren<br />

unterschieden sich die Koch’schen Akrobaten-Babys<br />

nicht mehr von normalen Altersgenossen.<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

1.2 Verhaltensatavismen 53


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Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

1.3 Entwicklung der sexuellen<br />

Orientierung<br />

Definition<br />

Unter sexueller Orientierung wird die Disposition<br />

verstanden, durch Menschen des anderen<br />

Geschlechts, des eigenen Geschlechts oder<br />

beider Geschlechter sexuell erregt zu werden.<br />

Von daher können drei Persönlichkeitstypen unterschieden<br />

werden: Heterosexuelle, Homosexuelle<br />

und Bisexuelle. In Deutschland wird Homosexualität<br />

von Männern etwa doppelt so häufig angegeben<br />

(4 Prozent der über 15-jährigen) wie von Frauen<br />

(2 Prozent), während Bisexualität von ca. 3 Prozent<br />

der Männer und 4 Prozent der Frauen berichtet<br />

wird (vgl. Asendorpf, 2004).<br />

Zwillingsstudien sprechen für einen substantiellen<br />

genetischen Einfluss auf Homosexualität (zur Methodik<br />

vgl. Abschnitt 2.3). So waren bei 115 männlichen<br />

Homosexuellen 52 Prozent der eineiigen, aber<br />

nur 22 Prozent der zweieiigen Zwillingsbrüder ebenfalls<br />

schwul. In einer vergleichbaren Studie mit 115<br />

weiblichen Homosexuellen waren 48 Prozent der<br />

eineiigen, aber nur 16 Prozent der zweieiigen Zwillingsschwestern<br />

ebenfalls lesbisch (Bailey & Zucker,<br />

1995).<br />

Retrospektive Studien fanden große Unterschiede<br />

im geschlechtstypischen Verhalten Homo- und Heterosexueller<br />

als Kinder. Homosexuelle erinnerten<br />

sich häufiger an Spielpartner des anderen Geschlechts<br />

und Aktivitäten, die typisch für das andere<br />

Geschlecht sind. Für Männer konnte dies durch<br />

prospektive Längsschnittstudien bestätigt werden<br />

(Bailey & Zucker, 1995), so dass es sich nicht um<br />

eine verzerrte Erinnerung aufgrund der späteren<br />

Homosexualität handelt. Für Frauen fehlen bisher<br />

entsprechende Längsschnittstudien.<br />

Fazit<br />

Homosexualität ist bei Männern und Frauen<br />

genetisch mitbedingt, keineswegs aber rein<br />

genetisch erklärbar. Schwule Männer waren als<br />

<br />

Kinder stärker an weiblichen Aktivitäten und<br />

Spielpartnerinnen interessiert als heterosexuelle<br />

Männer; dass Entsprechendes auf lesbische<br />

Frauen zutrifft, ist bisher nur durch retrospektive<br />

Daten gesichert.<br />

Die Theorie der Homosexualität von Bem<br />

Bem (1996) schlug eine evolutionspsychologische<br />

Theorie der Entwicklung von Homosexualität vor.<br />

Hierfür nutzte er evolutionspsychologische Erklärungen<br />

der in allen Kulturen beobachtbaren starken<br />

Geschlechtertrennung vor der Pubertät: Wenn sie<br />

die Wahl haben, spielen ältere Kinder weitaus häufiger<br />

mit gleichgeschlechtlichen Altersgenossen als mit<br />

gegengeschlechtlichen (Maccoby & Jacklin, 1987).<br />

Bems Theorie beginnt mit der Feststellung, dass<br />

Inzest, also Geschlechtsverkehr mit nahen Verwandten,<br />

in den meisten Kulturen tabu ist. Das ist ultimat<br />

gut verständlich, weil Inzest selektive Nachteile hat:<br />

Inzest führt zu einer erhöhten genetischen Ähnlichkeit<br />

der Eltern und ihrer Kinder, schränkt dadurch<br />

ihre genetische Variabilität ein und macht sie deshalb<br />

anfälliger gegenüber denselben Krankheitserregern.<br />

Gleichzeitig erhöht sich das Risiko für die Kinder,<br />

an einer rezessiven Erbkrankheit zu erkranken<br />

(d. h. an einer genetisch bedingten Erkrankung, die<br />

nur dann ausbricht, wenn das Kind das kritische<br />

Allel von beiden Eltern bekommt).<br />

Was exotisch ist, wird erotisch. Nach Westermarck<br />

(1891) wird das Inzest-Tabu proximat durch einen<br />

EPM gesichert, der sexuelles Interesse an Unvertrautheit<br />

in der Kindheit bindet. Ab der Pubertät<br />

würden also Männer und Frauen ihr sexuelles Interesse<br />

vor allem auf unvertraute Personen richten:<br />

Was exotisch ist, wird erotisch. So werde das sexuelle<br />

Interesse an Geschwistern und anderen Verwandten<br />

schon im Keim erstickt. Als Beleg für diese<br />

Annahme wird u. a. angeführt, dass israelische<br />

Kibbutz-Kinder, die in ihrer Kindheit in einem<br />

Schlafraum zusammen mit den anderen Kindern<br />

des Kibbutz schlafen, fast nie untereinander heiraten<br />

(vgl. Durham, 1991).<br />

Diese Tendenz, nur Exotisches erotisch zu finden,<br />

habe allerdings in den kleinen sozialen Gruppen<br />

54 1 Evolutionspsychologie der Entwicklung


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unserer Vorfahren zu dem Problem geführt, dass sie<br />

auch das sexuelle Interesse an nicht verwandten<br />

Gleichaltrigen des anderen Geschlechts dämpfen<br />

und damit die Fortpflanzungsmöglichkeiten einschränken<br />

würde, wenn ein intensiver Kontakt mit<br />

diesen Gleichaltrigen bestanden hätte. Die Geschlechtertrennung<br />

bis zur Pubertät löse dieses Problem,<br />

denn sie mache ja die Gleichaltrigen des anderen<br />

Geschlechts unvertraut. Sie seien von daher exotisch<br />

genug, um das sexuelle Interesse mit Einsetzen<br />

der Pubertät zu reizen.<br />

Fazit<br />

Nach evolutionspsychologischer Auffassung ist<br />

die Geschlechtertrennung bis zur Pubertät notwendig,<br />

um das Inzest-Tabu in kleinen sozialen<br />

Gruppen sichern zu können. Die Tendenz zur<br />

Geschlechtertrennung ist deshalb genetisch<br />

prädisponiert.<br />

Auf der Grundlage dieser Theorie der Geschlechtertrennung<br />

schlug Bem (1996) folgende Erklärung für<br />

Homosexualität vor: Zu Homosexualität komme es<br />

dann, wenn Kinder aus genetischen oder anderen<br />

Gründen, z. B. umweltbedingten pränatalen hormonellen<br />

Wirkungen, Interessen entwickeln, die typisch<br />

für das andere Geschlecht sind (wenn z. B. Jungen<br />

feminine Interessen entwickeln). Dann nämlich würden<br />

sie bevorzugt mit dem anderen Geschlecht spielen,<br />

wodurch das eigene Geschlecht exotisch werde,<br />

und da Exotisches erotisch werde, würden ihre sexuellen<br />

Interessen auf das eigene Geschlecht gelenkt.<br />

Fazit<br />

Nach der Theorie von Bem (1996) beruht<br />

Homosexualität auf genetisch oder umweltbedingten<br />

geschlechtsuntypischen Interessen in<br />

der Kindheit, die das eigene Geschlecht zunächst<br />

exotisch und damit später erotisch machen.<br />

Bewertung der Theorie von Bem<br />

Bems Theorie basiert auf der empirisch gut gesicherten<br />

abweichenden Geschlechtsrollenentwicklung spä-<br />

terer Homosexueller in der Kindheit. Außerdem berücksichtigt<br />

sie genetische Einflüsse auf Homosexualität,<br />

ohne anzunehmen, dass homosexuelle Tendenzen<br />

direkt genetisch beeinflusst sind. Diese Annahme<br />

ist auch nicht plausibel, denn Gene, die Homosexualität<br />

fördern und sonst nichts, würden sehr schnell<br />

durch natürliche Selektion verschwinden, weil sie in<br />

der Regel nicht an Nachkommen weitergegeben werden.<br />

Nach Bems Theorie ist aber zu erwarten, dass die<br />

für Homosexualität verantwortlichen Gene bei Männern<br />

und Frauen unterschiedlich sind, denn sie betreffen<br />

ja unterschiedliches Verhalten. Deshalb können<br />

die selektiven Nachteile für die Gen-Träger durch<br />

Fortpflanzungsvorteile kompensiert werden, die die<br />

Gene dann entfalten, wenn sie beim anderen Geschlecht<br />

vorkommen.<br />

Verschiedene Entwicklungspfade der Homosexualität.<br />

Es wäre allerdings höchst erstaunlich, wenn<br />

der von Bem (1996) beschriebene Entwicklungspfad<br />

zu Homo- oder Bisexualität der einzig mögliche<br />

Entwicklungspfad wäre und wenn alle Mädchen mit<br />

ausgeprägt maskulinen Interessen oder alle Jungen<br />

mit ausgeprägt femininen Interessen später homooder<br />

bisexuell würden. Bailey schätzte auf der Basis<br />

einer Metaanalyse des Zusammenhangs zwischen<br />

kindlichen Interessen und sexueller Orientierung,<br />

dass nur 6 Prozent der typisch maskulinen Mädchen<br />

später homosexuell werden, während dies immerhin<br />

bei 51 Prozent der typisch femininen Jungen der Fall<br />

sei. Möglicherweise trifft Bems Theorie bei weiblicher<br />

Homosexualität eher auf den Typ der körperlich<br />

und hormonell männlicheren „Butch“ zu, während<br />

die weiblichere „Femme“ sich sowohl körperlich<br />

wie auch von ihrer Geschlechtsrolle in der<br />

Kindheit nicht von anderen Frauen unterscheidet<br />

(Singh et al., 1999).<br />

Fazit<br />

Bems Theorie ist mit den vorliegenden Ergebnissen<br />

zur Entwicklung männlicher Homosexualität<br />

gut verträglich, nicht jedoch mit<br />

manchen Ergebnissen zur Entwicklung<br />

weiblicher Homosexualität, z. B. der Existenz<br />

von lesbischen „Femmes“.<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

1.3 Entwicklung der sexuellen Orientierung 55


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

1.4 Bedingungen und Konsequenzen<br />

väterlicher Fürsorge<br />

Dass Väter sich intensiv um ihre Kinder kümmern,<br />

ist nur bei 3–5 Prozent der Säugetierarten der Fall;<br />

bei unseren genetisch nächsten Verwandten (Schimpansen<br />

und Bonobos) jedenfalls nicht (Geary,<br />

2000). Kulturvergleichende Studien zeigen, dass in<br />

allen Kulturen Mütter mehr Zeit und Energie in ihre<br />

Kinder investieren als Väter. Gleichzeitig findet sich<br />

aber auch eine hohe Variabilität der väterlichen Fürsorge<br />

von Kultur zu Kultur und von Familie zu<br />

Familie innerhalb einer Kultur (Parke & Buriel,<br />

1998). Sind diese starken Unterschiede in der väterlichen<br />

Fürsorge evolutionspsychologisch verständlich,<br />

und welche Konsequenzen haben sie auf die<br />

Entwicklung ihrer Kinder?<br />

Elterlicher und Paarungsaufwand. Aus evolutionspsychologischer<br />

Sicht ist der elterliche Aufwand<br />

(engl.: parenting effort) die Zeit und Energie, die in<br />

leibliche Kinder gesteckt wird, nur eine von mehreren<br />

Möglichkeiten, die Reproduktion der eigenen<br />

Gene zu fördern. Alternativ kann die Reproduktion<br />

vor allem durch Paarungsaufwand begünstigt werden<br />

(engl.: mating effort), d. h. durch die Zeit und<br />

Energie, die in die Zeugung von Kindern investiert<br />

wird, Partnersuche und Werbungsverhalten eingeschlossen.<br />

Da Frauen viel weniger Kinder haben<br />

können als Männer und da sie während Schwangerschaft<br />

und Stillzeit viel mehr in ihr Kind investieren<br />

als der Vater, ist ihr elterlicher Aufwand im Vergleich<br />

zu Männern höher und weniger variabel. Diese einfache<br />

Überlegung alleine erklärt also bereits die<br />

geringere väterliche Fürsorge und deren größere<br />

Variabilität je nach Umweltbedingungen.<br />

Wie viel Väter in ihre Kinder investieren, hängt<br />

aus evolutionspsychologischer Sicht vor allem von<br />

zwei Faktoren ab:<br />

(1) der Reproduktionsfähigkeit der Kinder ohne<br />

väterliche Fürsorge und<br />

(2) der Erreichbarkeit potentieller Geschlechtspartnerinnen.<br />

Je stärker die Gesundheit oder gar das Überleben<br />

ihrer Kinder bedroht ist, desto mehr sollten sich<br />

Väter um sie kümmern. In reichen Umwelten, in<br />

denen ihre Fürsorge keinen Effekt auf die Reproduktionsfähigkeit<br />

der Kinder hat, sollten Väter eher<br />

darauf bedacht sein, viele Kinder mit vielen Partnerinnen<br />

zu zeugen, ohne sich um diese Kinder zu<br />

kümmern.<br />

Unabhängig davon sollten sie sich desto weniger<br />

um ihre Kinder kümmern, je leichter potentielle<br />

Geschlechtspartnerinnen für sie erreichbar sind. Die<br />

Erreichbarkeit hängt dabei von unterschiedlichen<br />

Faktoren ab, die sich u. a. auf die inter- und die<br />

intrasexuelle Selektion beziehen. Intersexuell betrachtet<br />

sollten z. B. physische Attraktivität als Indikator<br />

„guter Gene“ und sozialer Status und Ambitioniertheit<br />

als Indikatoren „guter Ressourcen für<br />

die Kinder“ die Erreichbarkeit fördern, da diese<br />

Merkmale vom weiblichen Geschlecht bei der Partnersuche<br />

hoch gewichtet werden (vgl. Buss, 2004).<br />

Intrasexuell betrachtet sollten z. B. hoher Status in<br />

männlichen Dominanzhierarchien, Kraft oder soziales<br />

Geschick im Ausstechen von Rivalen die Erreichbarkeit<br />

fördern. Zudem wird die Erreichbarkeit<br />

auch durch kulturelle Faktoren wie die Besiedlungsdichte<br />

oder einen durch Krieg reduzierten männlichen<br />

Anteil in der Population gefördert.<br />

Fazit<br />

Die beobachtbare hohe Variabilität der väterlichen<br />

Fürsorge zwischen und innerhalb von<br />

Populationen beruht aus evolutionspsychologischer<br />

Sicht darauf, dass eine väterliche Investition<br />

in die Kinder nicht immer deren Reproduktion<br />

fördert. Ob und wie stark sich Väter<br />

um ihre Kinder kümmern, hängt danach von<br />

zahlreichen Faktoren ab, die vor allem die Reproduktionsfähigkeit<br />

der Kinder und die Erreichbarkeit<br />

potentieller Geschlechtspartnerinnen<br />

betreffen.<br />

Affektive Steuerung des Fürsorgeverhaltens.<br />

Nach evolutionspsychologischer Vorstellung erfolgt<br />

die Verrechnung der einzelnen Faktoren beim einzelnen<br />

Vater natürlich nicht im Sinne einer rationalen<br />

Kosten-Nutzen-Kalkulation. Vielmehr werden<br />

die einzelnen Bedingungsfaktoren durch genetisch<br />

56 1 Evolutionspsychologie der Entwicklung


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fixierte proximate Mechanismen (EPMs) vermittelt,<br />

die das Fürsorgeverhalten affektiv steuern. So wird<br />

das Fürsorgeverhalten der jeweils aktuellen Situation<br />

so angepasst, dass es unter den Umweltbedingungen<br />

unserer evolutionären Vorfahren reproduktiv<br />

optimal gewesen wäre. Das heißt natürlich nicht,<br />

dass es deshalb auch unter den heutigen Umweltbedingungen<br />

optimal ist. Zum Beispiel können Männer<br />

heutzutage als Spender für Samenbanken sowohl<br />

ihren elterlichen als auch ihren Paarungsaufwand<br />

extrem minimieren und trotzdem viele Nachkommen<br />

haben. Hierfür kann sich aber kein begünstigender<br />

EPM entwickelt haben, so dass dieser Weg der<br />

Verbreitung der eigenen Gene affektiv nicht begünstigt<br />

wird.<br />

Väterliche Fürsorge. Welche Konsequenzen hat väterliche<br />

Fürsorge auf die Entwicklung ihrer Kinder?<br />

Draper und Harpending (1982) formulierten auf der<br />

Grundlage kulturvergleichender Studien die Hypothese,<br />

dass im Verlauf der jüngeren Evolution väterliche<br />

Fürsorge ein relativ verlässlicher Indikator für die<br />

künftige reproduktionsrelevante Umwelt der Kinder<br />

sei, da sie von Generation zu Generation relativ stabil<br />

gewesen sei. Evolutionspsychologisch würde dies<br />

heute so formuliert, dass väterliche Fürsorge eine<br />

proximate Bedingung der Entwicklung des Reproduktionsverhaltens<br />

ihrer Kinder ist. Ein EPM sorgt<br />

dafür, dass sich Kinder bei starker väterlicher Fürsorge<br />

in Richtung starker elterlicher Investition, bei<br />

Vaterabwesenheit oder geringer väterlicher Fürsorge<br />

in Richtung starken Paarungsaufwandes hin entwickeln<br />

würden. Die Individualentwicklung wird hier<br />

also als genetisch prädisponierte bedingte Entwicklungsstrategie<br />

verstanden, die durch frühe Umweltbedingungen<br />

festgelegt wird.<br />

Fazit<br />

Nach der Hypothese von Draper und Harpending<br />

entwickelt sich das Reproduktionsverhalten<br />

individuell in Form einer bedingten Entwicklungsstrategie;<br />

eine proximate Bedingung ist die<br />

väterliche Fürsorge.<br />

Folgen der frühen Vater-Tochter-Beziehung<br />

Unter anderem sagt diese Hypothese vorher, dass<br />

Töchter von Vätern, die sich in der Kindheit gar<br />

nicht oder wenig um sie kümmern, früher in die<br />

Pubertät kommen, eher den ersten Geschlechtsverkehr<br />

haben, weniger stabile Partnerschaften eingehen<br />

und selber weniger in ihre Kinder investieren als<br />

Töchter fürsorglicher Väter. Diese Vorhersagen lassen<br />

sich empirisch weitgehend bestätigen (Geary,<br />

2000), insbesondere die Vorhersage für das Einsetzen<br />

der Regelblutung.<br />

Männliche Geruchsstoffe und weibliche Reifung.<br />

Ellis et al. (1999) diskutierten verschiedene proximate<br />

Mechanismen, die der vermuteten bedingten<br />

Entwicklungsstrategie zugrunde liegen könnten. Ein<br />

möglicher, bei verschiedenen Säugetierarten nachgewiesener<br />

Mechanismus ist die Beschleunigung der<br />

weiblichen biologischen Reifung durch Geruchsstoffe<br />

nichtverwandter männlicher Artgenossen. In<br />

Übereinstimmung damit fanden Ellis und Garber<br />

(2000), dass die Regelblutung besser durch die<br />

Dauer des Zusammenlebens mit nichtverwandten<br />

Partnern der Mutter (Stiefvätern und Freunden)<br />

vorhergesagt wurde als durch die Dauer der Abwesenheit<br />

des leiblichen Vaters.<br />

Fazit<br />

Der Pubertätszeitpunkt bei Mädchen wird möglicherweise<br />

proximat durch Geruchsstoffe nichtverwandter<br />

Männer in der Familie mitbestimmt.<br />

Neben dieser Erklärung des Pubertätszeitpunkts<br />

durch eine bedingte Entwicklungsstrategie gibt es<br />

aber noch eine zweite, ganz andere biologische Erklärung,<br />

nämlich dass die beobachteten Unterschiede<br />

sowohl bei Vätern als auch bei ihren Töchtern<br />

durch dieselben Gene bedingt sind.<br />

Denkanstöße<br />

Würden Menschen weiterhin evolvieren,<br />

wenn niemand mehr vor Erreichen des<br />

50. Lebensjahres sterben würde?<br />

<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

1.4 Bedingungen und Konsequenzen väterlicher Fürsorge 57


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Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

Wiederholen Menschen während ihrer Entwicklung<br />

die Evolution der Arten?<br />

Sind evolvierte Entwicklungsmechanismen<br />

umweltunabhängig?<br />

Warum ist es kein Widerspruch, dass Mensch<br />

und Schimpanse über 98% der Gene teilen,<br />

menschliche zweieiige Zwillinge jedoch nur<br />

zu 50% genetisch identisch sind?<br />

Warum gibt es einen genetischen Einfluss auf<br />

Homosexualität, obwohl Homosexuelle nur<br />

selten Kinder haben?<br />

Ist es evolutionspsychologisch erklärbar, dass<br />

Mütter auch dann fremdgehen, wenn der<br />

Vater treu ist und sich intensiv um die Kinder<br />

kümmert?<br />

2 Entwicklungsgenetik<br />

Zunächst werden einige allgemeine Prinzipien der<br />

Entwicklungsgenetik skizziert. Dann wird geschildert,<br />

wie sich der genetische Einfluss auf die Entstehung<br />

von Persönlichkeitsunterschieden abschätzen<br />

lässt. Anhand von Kovariationen und Interaktionen<br />

zwischen genetischen und Umweltunterschieden<br />

wird deutlich gemacht, dass diese Unterschiede<br />

nicht unabhängig voneinander sind.<br />

2.1 Allgemeine Prinzipien<br />

der Entwicklungsgenetik<br />

Gene wirken nicht direkt auf die Entwicklung. Gene<br />

sind Moleküle, deren Aktivität direkt auf die Proteinsynthese<br />

der Zellen wirkt. Diese Proteine sind<br />

z. B. für den Aufbau des Nervensystems erforderlich.<br />

Durch Einfluss auf diese Proteine können Gene auf<br />

die neuronale Entwicklung wirken. Dabei entfaltet<br />

sich die Wirkung eines einzelnen Gens immer nur<br />

im Konzert der anderen Gene. Nicht nur Gene stehen<br />

in Wechselwirkung miteinander, sondern auch<br />

Gene und ihre Produkte, z. B. Enzyme. Daher können<br />

umweltbedingte Wirkungen auf den Stoffwechsel<br />

genetische Wirkungen auf die Entwicklung verändern.<br />

Phenylketonurie. Das klassische Beispiel hierfür ist<br />

die Stoffwechselstörung Phenylketonurie. Eine Variante<br />

davon beruht auf einem Allel des ersten Chromosoms.<br />

Wird dieses Allel sowohl vom Vater als<br />

auch von der Mutter vererbt, führt diese homozygote<br />

Form zu einem Phenylalanin-Überschuss, der die<br />

Entwicklung des Zentralnervensystems beeinträchtigt<br />

und eine massive Intelligenzminderung verursacht.<br />

Wird jedoch im Kindesalter eine Phenylalanin-arme<br />

Diät eingehalten (einschließlich Einnahme<br />

von Medikamenten, die den Phenylalanin-Haushalt<br />

regeln sollen), wird dieser intelligenzmindernde genetische<br />

Effekt fast vollständig beseitigt.<br />

Es gibt also keine Einbahnstraße vom Genom zur<br />

Person, sondern ein viele Aktivitätsebenen umspannendes<br />

Wirkungsnetz (Gottlieb, 1991; vgl. Abb. 2.1).<br />

Die genetische Aktivität beeinflusst die neuronale<br />

Aktivität, die Grundlage des Erlebens und Verhaltens<br />

ist; durch Verhalten kann die Umwelt verändert werden.<br />

Aber auch umgekehrt können Umweltbedingungen<br />

das Verhalten beeinflussen, dadurch die neuronale<br />

Aktivität und genetische Wirkungen, vermutlich<br />

auch die genetische Aktivität selbst verändern.<br />

Von daher ist die Vorstellung falsch, Gene „bewirkten“<br />

Entwicklung oder das Genom „sei“ oder<br />

„enthalte“ ein Programm, das die Entwicklung eines<br />

Organismus steuere (vgl. Oyama, 1989). Adäquater<br />

ist der Vergleich des Genoms mit einem Text. Der<br />

Text begrenzt das, was gelesen werden kann, legt<br />

aber keineswegs von vornherein fest, was überhaupt<br />

oder gar zu einem bestimmten Zeitpunkt gelesen<br />

wird. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt gelesen<br />

wird, hängt davon ab, was vorher gelesen wurde und<br />

welche Wirkungen dies hatte, einschließlich Rückkopplungseffekten<br />

auf das Leseverhalten.<br />

Entwicklung beruht nicht auf einem genetischen<br />

Programm, sondern auf der ständigen<br />

!<br />

Wechselwirkung zwischen Genaktivität, neuronaler<br />

Aktivität, Verhalten und Umwelt.<br />

58 2 Entwicklungsgenetik


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kumulativ-stabilisierende Genwirkung. Genetische<br />

Einflüsse aus früheren Entwicklungsphasen<br />

können sich physiologisch oder auch anatomisch<br />

auf neuronaler Ebene verfestigen und dadurch weiter<br />

wirken, auch wenn die betreffenden Gene inzwischen<br />

nicht mehr aktiv sind. Gene können damit in<br />

einer bestimmten kritischen Phase der Entwicklung<br />

einen Prozess in Gang setzen, der zum „Selbstläufer“<br />

wird. Bei Phenylketonurie beispielsweise muss die<br />

Phenylalanin-arme Diät von Anfang an erfolgen; ist<br />

die genetisch bedingte Hirnschädigung eingetreten,<br />

nützt die Diät nichts mehr. Umgekehrt ist diese Diät<br />

nicht das ganze Leben lang erforderlich, sondern<br />

nur während der Gehirnentwicklung im Verlauf der<br />

Kindheit. Danach spielt das kritische Gen keine<br />

Rolle mehr. Durch dieses kumulative Prinzip wirken<br />

Gene stabilisierend auf die Entwicklung.<br />

Destabilisierende Genwirkung. Genetische Wirkungen<br />

können aber auch destabilisierend sein.<br />

Denn Gene können zu bestimmten Zeitpunkten<br />

„angeschaltet“ oder „abgeschaltet“ werden (vgl. genauer<br />

Plomin et al., 1999). Durch diese Änderungen<br />

in der Gen-Aktivität kann es jederzeit zu genetisch<br />

bedingten Entwicklungsveränderungen kommen.<br />

Das ist in der Pubertät offensichtlich, aber auch im<br />

Verlauf des Erwachsenenalters können Gene, die bis<br />

dahin vor sich hin geschlummert haben, plötzlich<br />

ihre Wirkung entfalten. Zum Beispiel beginnt die<br />

Chorea Huntington (Veitstanz), eine degenerative<br />

Hirnerkrankung, die auf einem Allel auf dem vierten<br />

Chromosom beruht, im Durchschnitt erst mit Mitte<br />

vierzig; vorher führen die Allel-Träger ein völlig normales<br />

Leben.<br />

Die Genaktivität variiert im Verlauf der Entwicklung;<br />

sie kann sich kumulativ-stabilisie-<br />

!<br />

rend, aber auch destabilisierend auswirken.<br />

2.2 Genetischer Einfluss<br />

auf Persönlichkeitsunterschiede<br />

Aus der Unmöglichkeit, den Beitrag von Genom und<br />

Umwelt im Einzelfall zu bestimmen, wird manchmal<br />

geschlossen, die Anlage-Umwelt-Diskussion sei<br />

überhaupt überflüssig. Weil Genom und Umwelt in<br />

vollständiger Wechselwirkung stehen, ließen sich ihre<br />

anteiligen Wirkungen auch auf die Entwicklung individueller<br />

Besonderheiten, also auf die Persönlichkeitsentwicklung,<br />

nicht bestimmen.<br />

Das ist ein Fehlschluss. Es ist zwar richtig, dass die<br />

Fähigkeit zu sprechen oder die Eigenschaft, überhaupt<br />

eine Blutgruppe zu haben, immer eine Funktion<br />

von Genom und Umwelt ist. Welchen Dialekt<br />

aber jemand spricht, ist rein umweltbedingt, und<br />

welche Blutgruppe er hat, ist rein genetisch bedingt.<br />

Betrachten wir Persönlichkeitsmerkmale, in denen<br />

sich Mitglieder einer bestimmten Population (z. B.<br />

„alle deutschen Erwachsenen“) in stabiler Weise<br />

unterscheiden, ist die Frage nach dem relativen Einfluss<br />

der genetischen Unterschiede in der Population<br />

und der Umweltunterschiede der Populationsmitglieder<br />

auf die Merkmalsunterschiede in der Population<br />

nicht trivial. Der relative genetische Einfluss<br />

kann zwischen 0 und 100 Prozent variieren. Wie<br />

stark er ist, ist ausschließlich eine empirische Frage.<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

Umwelt<br />

Verhalten<br />

Neuronale<br />

Aktivität<br />

Genetische<br />

Aktivität<br />

Individuelle Entwicklung<br />

Abbildung 2.1.<br />

Ein Modell der Genom-<br />

Umwelt-Wechselwirkung<br />

(© nach Asendorpf, 1993)<br />

2.2 Genetischer Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede 59


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach zu<br />

geben, denn sie hängt von zahlreichen Faktoren ab<br />

(vgl. „Unter der Lupe“).<br />

Relativität des genetischen Einflusses<br />

auf Persönlichkeitsunterschiede<br />

Der genetische Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede<br />

in einer bestimmten Population variiert<br />

natürlich mit dem betrachteten Persönlichkeitsmerkmal.<br />

Er hängt aber auch von Merkmalen der<br />

Population ab:<br />

Genetische Variabilität. Je homogener die Gene<br />

einer Population sind, umso weniger tragen sie zu<br />

den Merkmalsunterschieden bei. In einer Population<br />

aus genetisch identischen Klonen sind alle Persönlichkeitsunterschiede<br />

ausschließlich umweltbedingt.<br />

Umweltvariabilität. Je homogener die Umwelten<br />

der Populationsmitglieder sind, umso stärker ist der<br />

genetische Einfluss auf die Persönlichkeitsunterschiede<br />

zwischen ihnen. Erhalten z. B. alle Kinder<br />

den exakt gleichen Unterricht, wären Leistungsunterschiede<br />

zwischen ihnen vor allem genetisch<br />

bedingt. Haben die einen gute und die anderen<br />

schlechte Lehrer, sinkt der genetische Einfluss. Jede<br />

kulturelle Änderung, z. B. im Bildungssystem, die<br />

die Variabilität der merkmalsrelevanten Umwelt verändert,<br />

ändert die Stärke des genetischen Einflusses.<br />

Daher kann der genetische Einfluss von Kultur zu<br />

Kultur oder innerhalb derselben Kultur von einer<br />

historischen Epoche zur nächsten variieren, selbst<br />

wenn es keine genetischen Unterschiede zwischen<br />

den Kulturen gibt.<br />

Altersabhängigkeit. Der genetische Einfluss auf<br />

dasselbe Merkmal in derselben Population kann mit<br />

dem Alter variieren, u. a. weil merkmalsrelevante<br />

Gene an- oder abgeschaltet werden können (vgl.<br />

Abschnitt 2.4 für weitere Ursachen).<br />

Unter der Lupe<br />

Indirekte genetische Einflüsse. Wichtig ist<br />

auch sich klarzumachen, dass genetische Einflüsse<br />

höchst indirekt vermittelt sein können.<br />

Angenommen, der genetische Einfluss auf Intel-<br />

<br />

ligenz beruhe darauf, dass bestimmte Allele<br />

dafür sorgen, dass die Informationsverarbeitung<br />

im Zentralnervensystem schneller verläuft. Das<br />

wäre ein vergleichsweise direkter genetischer<br />

Effekt auf Persönlichkeitsunterschiede. Weiter<br />

angenommen, intelligente Menschen würden<br />

eher die Todesstrafe ablehnen als weniger intelligente.<br />

Dann wäre auch die Einstellung zur<br />

Todesstrafe genetisch beeinflusst. Das bedeutet<br />

aber nicht, dass es irgendein Gen gibt, das die<br />

Einstellung zur Todesstrafe (neuronal vermittelt)<br />

direkt beeinflusst.<br />

Fazit<br />

Viele genetische Einflüsse auf Persönlichkeitsunterschiede<br />

sind höchst indirekt vermittelt,<br />

d. h., sie beruhen auf genetischen Einflüssen auf<br />

andere Persönlichkeitseigenschaften, die mit<br />

diesen Merkmalen korrelieren.<br />

2.3 Schätzungen des genetischen<br />

Einflusses<br />

Theoretisch könnte der genetische Einfluss einfach<br />

dadurch bestimmt werden, dass Persönlichkeitsunterschiede<br />

mit genetischen Unterschieden korreliert<br />

werden, die durch Genomanalyse bestimmt<br />

sind. Das ist derzeit aber mangels Kenntnissen relevanter<br />

Gene und Allele erst ansatzweise möglich.<br />

Deshalb muss der genetische Einfluss indirekt durch<br />

Kontrastierung der Persönlichkeitsähnlichkeit von<br />

Verwandten unterschiedlichen Verwandtschaftsgrades<br />

geschätzt werden. Drei Methoden sind heutzutage<br />

weit verbreitet: die Zwillingsmethode, die Adoptionsmethode<br />

und die Kombinationsmethode (vgl.<br />

hierzu genauer Asendorpf, 2004).<br />

Die Zwillingsmethode. Bei der Zwillingsmethode<br />

wird die Ähnlichkeit von eineiigen Zwillingen, die<br />

genetisch identisch sind, mit der Ähnlichkeit von<br />

zweieiigen Zwillingen verglichen, die wie andere<br />

leibliche Geschwister 50 Prozent ihrer Gene teilen.<br />

Dies sei hier am Beispiel der Ähnlichkeit des Intelli-<br />

60 2 Entwicklungsgenetik


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genzquotienten (IQ) illustriert. Testet man den IQ<br />

bei vielen ein- und zweieiigen Zwillingspaaren, so<br />

korrelieren die IQ-Werte zwischen eineiigen Zwillingen<br />

um .80 (sie sind sich also sehr ähnlich) und zwischen<br />

zweieiigen Zwillingen um .60 (sie sind sich<br />

weniger ähnlich, keineswegs aber unähnlich). Die<br />

Ähnlichkeit des IQ bei zweieiigen Zwillingen geht<br />

auf die gemeinsamen Umwelteinflüsse (Schwangerschaft,<br />

Geburt, Elternhaus) zurück und auf die Tatsache,<br />

dass sie 50 Prozent der genetischen Einflüsse<br />

auf den IQ teilen (weil sie sich zu 50 Prozent genetisch<br />

ähneln). Die Ähnlichkeit des IQ bei eineiigen<br />

Zwillingen ist höher, weil sie nicht nur 50, sondern<br />

100 Prozent der genetischen Einflüsse auf den IQ<br />

teilen. Also schätzt die Differenz .80 minus .60 den<br />

halben genetischen Einfluss auf den IQ und damit<br />

die doppelte Differenz .40 den ganzen genetischen<br />

Einfluss. Würden alle Einflüsse der einzelnen IQrelevanten<br />

Gene messfehlerfrei zu einem genetischen<br />

Index kombiniert, so würde die Korrelation<br />

zwischen diesem rein genetischen Maß der Intelligenz<br />

und dem beobachteten IQ .40 betragen. Dies<br />

wird auch so ausgedrückt, dass 40 Prozent der IQ-<br />

Unterschiede auf genetischen Unterschieden beruhen.<br />

Die restlichen IQ-Unterschiede beruhen auf<br />

dem Messfehler, der im Falle des IQ etwa 10 Prozent<br />

ausmacht, und den Umweltunterschieden, die also<br />

etwa 50 Prozent der IQ-Unterschiede ausmachen.<br />

Fazit<br />

Bei der Zwillingsmethode schätzt die doppelte<br />

Differenz der Korrelationen eines Persönlichkeitsmerkmals<br />

zwischen ein- bzw. zweieiigen<br />

Zwillingen den genetischen Einfluss auf dieses<br />

Merkmal.<br />

Die Adoptionsmethode. Bei der Adoptionsmethode<br />

wird die Ähnlichkeit von leiblichen Geschwistern<br />

(die 50 Prozent ihrer Gene teilen) mit der Ähnlichkeit<br />

von Adoptivgeschwistern verglichen, die in derselben<br />

Familie aufwachsen, aber nicht genetisch verwandt<br />

sind (also 0 Prozent ihrer Gene teilen). Der<br />

IQ zwischen leiblichen Geschwistern unterschiedlichen<br />

Alters korreliert um .50 (etwas geringer als bei<br />

zweieiigen Zwillingen, weil sie u. a. die Schwangerschaftsumwelt<br />

nicht teilen), der IQ bei Adoptivgeschwistern<br />

um .25. Die Differenz .50 minus .25 muss<br />

wieder verdoppelt werden, was zu einer Schätzung<br />

von 50 Prozent für den genetischen Einfluss führt.<br />

Die Adoptionsmethode kommt im Falle des IQ also<br />

zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Zwillingsmethode.<br />

Fazit<br />

Bei der Adoptionsmethode schätzt die doppelte<br />

Differenz der Korrelationen eines Persönlichkeitsmerkmals<br />

zwischen leiblichen und Adoptivgeschwistern<br />

den genetischen Einfluss auf dieses<br />

Merkmal.<br />

Die Kombinationsmethode. Bei der Kombinationsmethode<br />

werden Zwillings- und Adoptionsdaten,<br />

teilweise auch Daten über Eltern-Kind- oder Stiefeltern-Kind-Ähnlichkeiten<br />

in einer einzigen komplexen<br />

statistischen Analyse ausgewertet (vgl. Loehlin,<br />

1992). Dies hat den Vorteil, dass spezielle Probleme<br />

der einzelnen Methoden vermieden werden. Die<br />

Umweltvariation ist z.B in Adoptivfamilien deutlich<br />

eingeschränkt, weil Adoptionsagenturen darauf achten,<br />

Kinder nicht in Problemfamilien zu vermitteln.<br />

Dies führt zu einer Überschätzung des genetischen<br />

Einflusses. Umgekehrt führt die Ähnlichkeit der<br />

Eltern im IQ (die Korrelation zwischen Vätern und<br />

Müttern beträgt etwa .40) dazu, dass Vater und Mutter<br />

etwa 15 Prozent der IQ-relevanten Gene teilen.<br />

Deshalb teilen zweieiige Zwillinge in Wirklichkeit<br />

nicht 50 Prozent, sondern mehr IQ-relevante Gene,<br />

so dass die Zwillingsmethode den genetischen Einfluss<br />

unterschätzt. Die Kombinationsmethode verrechnet<br />

diese und andere methodische Probleme<br />

miteinander und kommt deshalb zu solideren Schätzungen.<br />

Tabelle 2.1 zeigt die besten derzeit möglichen<br />

Schätzungen mittels Kombinationsmethode für<br />

den genetischen Einfluss auf Unterschiede im IQ und<br />

in typischen Persönlichkeitsmerkmalen, wie sie in<br />

Persönlichkeitsfragebögen selbstbeurteilt werden.<br />

Reaktionsnorm. Was diese Prozentangaben für den<br />

Einzelfall bedeuten, macht folgende Überlegung zur<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

2.3 Schätzungen des genetischen Einflusses 61


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

Reaktionsnorm der IQ-Werte klar. Unter der Reaktionsnorm<br />

versteht man in der Genetik die Schwankung<br />

der tatsächlich beobachteten individuellen<br />

Merkmale um den rein genetisch geschätzten Wert<br />

herum: Wie stark weichen sie mit einer vorgegebenen<br />

Irrtumswahrscheinlichkeit vom geschätzten Wert ab?<br />

Die Stärke der Abweichung lässt sich direkt aus dem<br />

genetischen Anteil ableiten (vgl. Asendorpf, 2004).<br />

Im Falle des IQ schwanken die tatsächlichen Werte<br />

mit einer Sicherheit von 95 Prozent plus/minus<br />

21 IQ-Punkte um den rein genetisch geschätzten<br />

Wert herum. Dagegen schwanken sie aufgrund des<br />

Messfehlers der IQ-Tests mit 95-prozentiger Sicherheit<br />

nur um plus/minus 9 IQ-Punkte um den geschätzten<br />

wahren IQ-Wert der Person.<br />

Dies bedeutet, dass selbst bei perfekter Genomanalyse,<br />

die den genetischen Einfluss auf den IQ<br />

vollständig und fehlerfrei erfasst, die „genetische<br />

Diagnose“ für den Einzelfall wertlos ist. Was nützt<br />

Eltern die Aussage, dass ihr Kind mit 95-prozentiger<br />

Sicherheit einen IQ von 80 bis 120 haben wird, also<br />

schlimmstenfalls sonderschulbedürftig und bestenfalls<br />

hochschulreif sein wird? Von daher werden<br />

heutzutage Nutzen und Gefahren der Genomanalyse<br />

in Bezug auf die Vorhersage von Persönlichkeitsmerkmalen<br />

stark übertrieben. Allerdings gelten die<br />

obigen Schätzungen nur für die durchschnittliche<br />

Reaktionsnorm eines Genoms. In einzelnen Fällen<br />

wird sie sehr viel kleiner oder noch größer sein.<br />

Die Genomanalyse ist schlecht geeignet zur<br />

IQ-Diagnose, weil sie die Umwelteinflüsse auf den IQ<br />

Tabelle 2.1 Die genetischen Varianzschätzungen stammen<br />

aus Chipuer et al. (1990) und Loehlin (1992); die<br />

Fehleranteile sind geschätzt; die Umweltanteile ergeben<br />

sich als Differenz 100 % – genetische Varianz – Fehlervarianz<br />

Merkmal Genetischer Umwelt- Fehler-<br />

Anteil anteil anteil<br />

IQ 51 % 39 % 10 %<br />

Extraversion 49% 31% 20%<br />

Neurotizismus 35 % 45 % 20 %<br />

Verträglichkeit 38 % 42 % 20 %<br />

Gewissenhaftigkeit 41 % 39 % 20 %<br />

Offenheit 45 % 35 % 20 %<br />

völlig ignoriert, die ja fast so groß sind wie die genetischen<br />

Einflüsse (vgl. Tab. 2.1). Die Genomanalyse<br />

erfasst nur das Intelligenzpotential, der IQ-Test aber<br />

die tatsächliche Intelligenz. Deshalb ist er der Genomanalyse<br />

weit überlegen.<br />

Fazit<br />

Genomanalysen sind zur Vorhersage von Persönlichkeitsunterschieden<br />

nur schlecht geeignet,<br />

weil sie Umwelteinflüsse nicht berücksichtigen.<br />

2.4 Kovariation und Interaktion<br />

von genetischen und Umweltunterschieden<br />

Bisher wurde so getan, als seien genetische Einflüsse<br />

und Umwelteinflüsse auf Persönlichkeitsunterschiede<br />

unabhängig voneinander. In Wirklichkeit können<br />

aber Abhängigkeiten zwischen ihnen bestehen.<br />

Genom-Umwelt-Interaktion. Zum einen kann<br />

es Genom-Umwelt-Interaktionen geben derart, dass<br />

die genetischen Wirkungen von Umweltwirkungen<br />

abhängen und umgekehrt. Ein Beispiel hierfür<br />

ist die Entwicklung antisozialen Verhaltens bis zum<br />

Jugendalter (normverletzendes bis hin zu kriminellem<br />

Verhalten). Adoptionsstudien fanden, dass<br />

Adoptivkinder, deren biologischen Eltern selbst<br />

antisozial auffällig waren, oder Adoptivkinder, die in<br />

Problemfamilien aufwuchsen, nur ein geringfügig<br />

erhöhtes Risiko für antisoziales Verhalten aufwiesen.<br />

Kamen biologische und soziale Risiken<br />

jedoch zusammen, war ihr Risiko viermal höher, als<br />

wenn sie keinen der beiden Risikofaktoren aufwiesen<br />

(Cadoret et al., 1983). Sie erbten anscheinend<br />

von ihren leiblichen Eltern nur eine erhöhte<br />

Verletzbarkeit durch belastende Umweltbedingungen.<br />

Allerdings könnte diese Verletzbarkeit aber<br />

auch durch Umweltbedingungen vor der Adoption,<br />

z. B. Drogenkonsum der biologischen Mutter während<br />

der Schwangerschaft, verursacht worden sein.<br />

62 2 Entwicklungsgenetik


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Fazit<br />

Adoptionsstudien legen nahe, dass sich genetische<br />

und Umweltrisiken wechselseitig verstärken<br />

können (Genom-Umwelt-Interaktion).<br />

Gen-Umwelt-Interaktion. Während in Adoptionsstudien<br />

genetische Risiken nur global und indirekt<br />

geschätzt werden, gibt es in letzter Zeit erste Ergebnisse<br />

zur statistischen Gen-Umwelt-Interaktion, bei<br />

der spezifische Allele mit spezifischen Umweltbedingungen<br />

in Wechselwirkung stehen.<br />

Caspi et al. (2002) untersuchten in einer neuseeländischen<br />

Längsschnittstudie bei knapp 500 Männern<br />

den Zusammenhang zwischen erfahrener Kindesmisshandlung,<br />

zwei häufigen Allelen des MAOA-<br />

Gens auf dem X-Chromosom (resultierend in<br />

starker bzw. schwacher MAOA-Aktivität) und vier<br />

verschiedenen Indikatoren für antisoziales Verhalten<br />

im Alter von 26 Jahren. Für alle vier Indikatoren<br />

ergab sich dieselbe statistische Gen-Umwelt-Interaktion,<br />

die in Abbildung 2.2 für den Mittelwert der<br />

vier Indikatoren illustriert ist.<br />

Erfahrene Kindesmisshandlung erhöhte das Risiko<br />

für antisoziales Verhalten im Erwachsenenalter, wobei<br />

jedoch die Erhöhung deutlich stärker bei denjenigen<br />

163 männlichen Teilnehmern der Längsschnittstudie<br />

Antisoziales Verhalten<br />

26 Jahre (z-Wert)<br />

1,2<br />

1<br />

0,8<br />

0,6<br />

0,4<br />

0,2<br />

0<br />

–0,2<br />

–0,4<br />

keine wahrscheinlich schwere<br />

Kindesmisshandlung 3–11 Jahre<br />

MAOA<br />

niedrig<br />

(n = 163)<br />

MAOA<br />

hoch<br />

(n = 279)<br />

Abbildung 2.2. Statistische Interaktion zwischen der<br />

Aktivität des MAOA-Gens und erfahrener Kindesmisshandlung<br />

im Alter von 3-11 Jahren in Bezug auf antisoziales<br />

Verhalten im Alter von 26 Jahren bei Männern<br />

(Caspi et al., 2002)<br />

ausfiel, die das Allel für niedrige MAOA-Aktivität hatten.<br />

So wurden z. B. die 55 Männer, die beide Risikofaktoren<br />

aufwiesen (schwere Misshandlung und Allel<br />

für niedrige MAOA-Aktivität), bis zum Alter von 26<br />

Jahren dreimal so häufig verurteilt wie die 99 Männer,<br />

die auch schwer misshandelt worden waren, aber das<br />

Allel für hohe MAOA-Aktivität aufwiesen; für Vergewaltigung,<br />

Raub und Überfälle war die Rate sogar<br />

viermal so hoch. Genetisch bedingte, unzureichende<br />

MAOA-Aktivität scheint demnach die Entwicklung<br />

antisozialer Tendenzen zwar nicht allgemein, wohl<br />

aber nach erfahrener Kindesmisshandlung zu fördern.<br />

Dieses Ergebnis ist biochemisch plausibel. Das<br />

MAOA-Gen produziert das Enzym Monoaminoxidase<br />

A, das eine exzessive Produktion von Neurotransmittern<br />

wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin<br />

reduziert, zu der es bei starken Belastungen<br />

kommen kann. Tierexperimentelle Studien an Mäusen,<br />

deren MAOA-Gen stillgelegt wurde, haben gezeigt,<br />

dass fehlende MAOA-Aktivität zu erhöhter<br />

Aggressivität führt. Im Gegensatz zur globalen, indirekt<br />

geschätzten Genom-Umwelt-Interaktion in<br />

Adoptionsstudien ist die von Caspi et al. (2002)<br />

gefundene Interaktion viel spezifischer, weil das verantwortliche<br />

Gen und die verantwortliche Umweltbedingung<br />

konkret bestimmt sind. Vergleichbare<br />

Interaktionen wurde in derselben Längsschnittstichprobe<br />

auch für depressive Tendenzen in Reaktion<br />

auf kritische Lebensereignisse gefunden, die eine<br />

Abhängigkeit von Allelen des 5-HTT-Gens zeigten,<br />

das den Serotonin-Stoffwechsel im Gehirn beeinflusst<br />

(Caspi et al., 2003).<br />

Fazit<br />

Erste Hinweise auf spezifische Gen-Umwelt-<br />

Interaktionen in der Entwicklung wurden von<br />

Caspi et al. gefunden. Danach scheint ein Allel<br />

für unzureichende MAOA-Aktivität bei Männern<br />

die Entwicklung antisozialer Tendenzen<br />

nach erfahrener Kindesmisshandlung zu fördern<br />

und ein Allel für den Serotonin-Stoffwechsel die<br />

Entwicklung depressiver Tendenzen nach Erleben<br />

kritischer Lebensereignisse.<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

2.4 Kovariation und Interaktion von genetischen und Umweltunterschieden 63


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Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

Genom-Umwelt-Kovarianz. Zum zweiten können<br />

sich bestimmte Genome in bestimmten Umwelten<br />

häufen. So können sich intelligenzförderliche Genome<br />

in intelligenzanregenden Umwelten häufen, weil<br />

Eltern und Ausbildungssystem dies fördern und<br />

intelligente Menschen dazu tendieren, solche Umwelten<br />

aufzusuchen oder herzustellen. Dies wird als<br />

Genom-Umwelt-Kovarianz bezeichnet (Plomin et al.,<br />

1977; vgl. Kasten).<br />

Drei Formen der Genom-Umwelt-Kovarianz<br />

Aktive Genom-Umwelt-Kovarianz. Eine aktive<br />

Genom-Umwelt-Kovarianz kommt dadurch<br />

zustande, dass Menschen genetisch beeinflusste<br />

Tendenzen haben, bestimmte Umwelten aufzusuchen,<br />

passend zu verändern oder überhaupt<br />

erst herzustellen. So suchen sich Menschen beispielsweise<br />

intelligenzmäßig angemessene Freunde<br />

und Lektüre und stellen so eine Passung<br />

zwischen ihrer Intelligenz (damit ihrem Genom)<br />

und ihrer Umwelt her.<br />

Reaktive Genom-Umwelt-Kovarianz. Eine<br />

reaktive Genom-Umwelt-Kovarianz kommt<br />

dadurch zustande, dass die soziale Umwelt auf<br />

genetisch beeinflusste Persönlichkeitseigenschaften<br />

von Menschen reagiert. So werden Kinder in<br />

Abhängigkeit von ihrer Intelligenz unterschiedlichen<br />

Schultypen oder Leistungskursen zugewiesen,<br />

wodurch auch ohne ihre direkte Einflussnahme<br />

eine Passung zwischen ihrer Intelligenz<br />

(damit ihrem Genom) und ihrer<br />

schulischen Umgebung zustande kommt.<br />

Passive Genom-Umwelt-Kovarianz. Eine<br />

passive Genom-Umwelt-Kovarianz kommt<br />

ohne Zutun der Genomträger oder ihrer<br />

sozialen Umwelt dadurch zustande, dass genetisch<br />

Verwandte ihnen durch ihr Verhalten<br />

bestimmte Umweltbedingungen bieten. So<br />

wachsen intelligente Kinder schon deshalb in<br />

einer anregenderen Umwelt auf, weil ihre<br />

Eltern aufgrund ihrer eigenen Intelligenz, die<br />

teilweise auf den gleichen Genen wie die ihrer<br />

Kinder beruht, eine anregendere häusliche<br />

Umgebung schaffen.<br />

Dass sich Genome ihre Umwelten zum Teil selbst<br />

durch aktive Genom-Umwelt-Kovarianz schaffen,<br />

ist natürlich metaphorisch zu verstehen. Den Einfluss<br />

auf die Umwelt üben Personen aus, aber sofern<br />

sie dies aufgrund ihrer genetischen Anlage tun,<br />

beeinflusst tatsächlich das Genom die Umwelt. Entsprechendes<br />

gilt für die reaktive Form der Kovarianz.<br />

Mitmenschen reagieren auf Schönheit, nicht auf<br />

die Gene, die die Schönheit mitbedingen, aber<br />

wegen dieses genetischen Einflusses auf die Schönheit<br />

reagieren sie letztlich auch auf das Genom der<br />

Schönen.<br />

Die Genom-Umwelt-Kovarianz wird auch herangezogen,<br />

um zu erklären, warum der genetische Einfluss<br />

auf einige Persönlichkeitsunterschiede mit zunehmendem<br />

Alter wächst (im Falle des IQ sogar<br />

noch bis ins hohe Alter; vgl. Plomin et al., 1994). Die<br />

aktive Genom-Umwelt-Kovarianz wird im Laufe des<br />

Lebens immer bedeutsamer, da die Handlungsspielräume<br />

des Erwachsenen zunehmen. Die passive<br />

Genom-Umwelt-Kovarianz nimmt hingegen ab, da<br />

der Einfluss genetisch Verwandter, insbesondere der<br />

Eltern, mit zunehmendem Alter schwächer wird.<br />

Man nimmt an, dass der Zuwachs an aktiver Genom-Umwelt-Kovarianz<br />

für viele Persönlichkeitsmerkmale<br />

stärker ist als die Abnahme an passiver<br />

Genom-Umwelt-Kovarianz; dies bedeutet bei<br />

gleichbleibender reaktiver Genom-Umwelt-Kovarianz,<br />

dass der genetische Einfluss auf diese Persönlichkeitsmerkmale<br />

steigt, da Umweltunterschiede<br />

durch das immer stärkere Dominieren der aktiven<br />

Genom-Umwelt-Kovarianz immer mehr von genetischen<br />

Unterschieden kontrolliert werden.<br />

Fazit<br />

Dass der genetische Einfluss auf manche Persönlichkeitsmerkmale<br />

mit wachsendem Alter steigt,<br />

kann u. a. durch eine Zunahme der aktiven<br />

Genom-Umwelt-Kovarianz erklärt werden.<br />

Genom-Umwelt-Interaktion und Genom-Umwelt-<br />

Kovarianz sind in Bezug auf die Frage nach dem<br />

relativen Einfluss von Genen und Umwelten neutral,<br />

werden also in den Schätzungen des genetischen<br />

64 2 Entwicklungsgenetik


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Einflusses z. B. durch die Zwillingsstudie zur Hälfte<br />

dem genetischen und zur anderen Hälfte dem Umwelteinfluss<br />

zugeschlagen. Sie werden also nicht<br />

ignoriert, sind aber in den genetischen Einflussschätzungen<br />

nicht explizit ausgewiesen. Je größer<br />

die Genom-Umwelt-Interaktion oder -Kovarianz ist,<br />

desto weniger sinnvoll ist die Frage nach dem relativen<br />

Einfluss von Erbe und Umwelt auf Persönlichkeitsunterschiede.<br />

Denkanstöße<br />

Wieso kann sich der genetische Einfluss auf<br />

Persönlichkeitsunterschiede mit dem Alter<br />

verändern, obwohl das Genom jedes<br />

Menschen doch lebenslang konstant ist?<br />

Sind genetisch beeinflusste Persönlichkeitsmerkmale<br />

nur gentechnologisch veränderbar?<br />

Genetische Schätzungen besagen, dass die<br />

Wahrscheinlichkeit, geschieden zu werden,<br />

deutlich genetisch beeinflusst ist. Wie kann<br />

das erklärt werden?<br />

Wenn ein Verhalten deutlich mit der sozialen<br />

Schicht variiert, besagt das, dass dieses<br />

Verhalten umweltbedingt ist?<br />

Wenn bestimmte Gen-Varianten als kriminalitätsförderlich<br />

nachgewiesen werden würden,<br />

sollten dann Straftäter mit diesen Gen-<br />

Varianten juristisch anders behandelt werden<br />

als solche ohne diese Gen-Varianten?<br />

3 Zusammenfassung<br />

In diesem Kapitel wurden drei verschiedene entwicklungsrelevante<br />

Mechanismen geschildert:<br />

(1) evolvierte psychologische Mechanismen (EPMs)<br />

(2) konditionale Entwicklungsstrategien<br />

(3) genetische Unterschiede innerhalb von Populationen.<br />

EPMs. Sie sichern die Anpassung an die altersgemäße<br />

aktuelle Umwelt (Beispiele: Klammerreflex, Geschlechtertrennung<br />

vor der Pubertät). Nach evolutionspsychologischer<br />

Auffassung haben sich EPMs<br />

durch natürliche Selektion herausgebildet und variieren<br />

deshalb nicht wesentlich von Person zu Person.<br />

Sie lassen sich daher verwenden, um universelle Entwicklungsveränderungen<br />

(solche, die für fast alle<br />

Populationsmitglieder gelten) zu erklären.<br />

Konditionale Entwicklungsstrategien. Sie sind spezielle<br />

EPMs, die die individuelle Entwicklung an<br />

bestimmte immer wiederkehrende Umweltbedingungen<br />

anpassen (Beispiel: Pubertätszeitpunkt). Auch<br />

diese EPMs haben sich durch natürliche Selektion<br />

herausgebildet und variieren deshalb nicht wesentlich<br />

von Person zu Person. Die durch diese EPMs gesteuerten<br />

Entwicklungsstrategien variieren aber stark zwischen<br />

unterschiedlichen Umwelten. Sofern diese Umwelten<br />

innerhalb einer Population variieren, ist der<br />

genetische Einfluss auf die Entwicklungsstrategien<br />

null. Der EPM ist zwar zu 100 Prozent genetisch<br />

fixiert, seine Wirkung aber zu 100 Prozent umweltbedingt.<br />

Genetische Unterschiede innerhalb von Populationen.<br />

Während EPMs als Anpassungsleistungen<br />

an die evolutionäre Vergangenheit verstanden werden<br />

können, gilt dies für genetische Unterschiede<br />

innerhalb von Populationen nur begrenzt. Denn<br />

wenn die natürliche Selektion ein Merkmal in eine<br />

bestimmte Richtung drängt, weil hohe oder niedrige<br />

Merkmalsausprägungen besonders reproduktionsförderlich<br />

sind, würde dies merkmalsrelevante genetische<br />

Unterschiede minimieren und damit den<br />

genetischen Einfluss auf das Merkmal senken. Ein<br />

starker genetischer Einfluss auf Merkmalsunterschiede<br />

ist deshalb eher ein Indikator dafür, dass<br />

diese Unterschiede selektiv neutral sind. Entweder<br />

handelt es sich um Unterschiede, die irrelevant für<br />

die Reproduktion sind (z. B. ob man mit 70 oder 90<br />

Jahren stirbt), oder unterschiedliche Merkmalsausprägungen<br />

haben unterschiedliche, in der Summe<br />

aber gleiche Reproduktionsvorteile. So behindert<br />

z. B. hohe Ängstlichkeit die Erkundung neuer Nahrungsquellen<br />

und die Partnersuche, schützt aber<br />

gleichzeitig vor Gefahren; vielleicht sind Menschen<br />

daher so unterschiedlich ängstlich (vgl. Buss & Greiling,<br />

1999, für diese und weitere Mechanismen der<br />

Erzeugung von Merkmalsunterschieden innerhalb<br />

von Populationen).<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

3 Zusammenfassung 65


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 2<br />

Evolutionspsychologie<br />

und Genetik<br />

Fazit<br />

Evolutionspsychologisch sind sowohl universelle<br />

als auch differentielle Entwicklungsphänomene<br />

erklärbar. Umweltbedingte Entwicklungsunterschiede<br />

sind oft eher evolutionspsychologisch<br />

erklärbar als genetisch bedingte.<br />

Weiterführende Literatur<br />

Buss, D.M. (2004). Evolutionspsychologie (2. Aufl.). München: Pearson<br />

Studium.<br />

Umfassende Übersicht über das gesamte Gebiet der Evolutionspsychologie,<br />

verfasst von einem führenden Evolutionspsychologen.<br />

Plomin, R., McClearn, G.E., DeFries, J.C. & Rutter, M. (1999). Gene,<br />

Umwelt und Verhalten. Bern: Huber.<br />

Deutsche Übersetzung einer von führenden Verhaltensgenetikern<br />

verfassten Übersicht über das gesamte Gebiet der Verhaltensgenetik.<br />

66 3 Zusammenfassung


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische Grundlagen<br />

der Entwicklung<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

Sabina Pauen · Birgit Elsner<br />

In den letzten zehn Jahren hat innerhalb der Psychologie<br />

ein Wandel eingesetzt, der verschiedene Teilbereiche<br />

des Fachs bereits nachhaltig verändert hat und<br />

noch weiter verändern wird: Man gibt sich nicht länger<br />

damit zufrieden, psychische Prozesse über Verhaltensdaten<br />

zu erfassen, sondern fragt auch, was in<br />

unserem Gehirn passiert, wenn wir wahrnehmen,<br />

fühlen, denken oder handeln. Die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

greift dieses Thema vergleichsweise spät auf.<br />

Dabei hat sie gegenüber anderen Disziplinen den<br />

großen Vorteil, dass Phasen markanter Änderungen<br />

auf der Verhaltensebene in aller Regel an Phasen<br />

gekoppelt sind, in denen sich auch das Gehirn messbar<br />

verändert. Man denke etwa an die Zeit vor der<br />

Geburt, wenn das Gehirn allmählich Gestalt annimmt,<br />

an die frühe Kindheit, in der sich viele neuronale<br />

Netze neu formen, an die Pubertät, während der<br />

Veränderungen in der Hormonproduktion relevant<br />

werden, oder an das hohe Alter, wenn Zellen ihre<br />

Funktionsfähigkeit allmählich verlieren. Da die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

alterskorrelierte Veränderungen<br />

im Verhalten des Menschen erklären will und<br />

diese Veränderungen ihrerseits mit biologischen Reifungsprozessen<br />

zusammenhängen, scheint es nahe<br />

liegend, sich mehr als bisher mit neurowissenschaftlichen<br />

Erkenntnissen zu beschäftigen. Der vorliegende<br />

Beitrag bietet hierzu eine Einführung. Zunächst<br />

soll erörtert werden, wie unser Gehirn aufgebaut ist<br />

und mit welchen Methoden man Daten zur Hirnentwicklung<br />

gewinnt. Anschließend erhält der Leser<br />

einen Überblick darüber, was man bislang über die<br />

allgemeine Entwicklung des Gehirns vor und nach<br />

der Geburt weiß. Auf eine ausführliche Erörterung<br />

der Veränderung einzelner Hirnfunktionen und ihrer<br />

Beziehung zum Verhalten muss aus Platzgründen<br />

verzichtet werden.<br />

1 Wie ist unser Gehirn aufgebaut?<br />

Ausführliche Darstellungen der Neuroanatomie gibt<br />

es in den verschiedensten Lehrbüchern zur Neuropsychologie<br />

(z. B. Kolb & Wishaw, 2003). Im vorliegenden<br />

Kontext beschränken wir uns auf zentrale<br />

Aspekte, ohne deren Kenntnis die Entwicklung des<br />

Gehirns nicht verstanden werden kann.<br />

1.1 Anatomie des Großhirns<br />

Wenn man das Großhirn (Endhirn, Telencephalon)<br />

eines Erwachsenen auf der Makroebene von außen<br />

betrachtet, sieht man einzelne „Lappen“ (Lobi), die<br />

symmetrisch auf beiden Gehirnhälften (Hemisphären)<br />

angeordnet sind und denen man typische<br />

Funktionen zuordnen kann (s. Abb. 3.1): Am Hinterkopf<br />

befindet sich der Lobus occipitalis (Occipitallappen,<br />

Hinterhauptslappen). Zum oberen Kopfende<br />

hin geht der Occipitallappen in den Lobus<br />

Parietalis (Parietallappen, Scheitellappen) über. Am<br />

Vorderkopf liegt der Lobus Frontalis (Frontallappen,<br />

Stirnlappen), der evolutionär jüngste Teil unseres<br />

Gehirns. An beiden Seiten des Kopfes findet man<br />

den Lobus Temporalis (Temporallappen, Schläfenlappen).<br />

Alle genannten Strukturen werden bedeckt<br />

vom Neocortex (Hirnrinde), der an allen höheren<br />

geistigen Aktivitäten beteiligt ist und den wesent-<br />

1.1 Anatomie des Großhirns 67


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

Frontallappen<br />

Temporallappen<br />

Parietallappen<br />

Occipitallappen<br />

Kleinhirn<br />

Abbildung 3.1. Aufteilung des Großhirns in verschiedene<br />

Lobi (Lappen) und Lage des Kleinhirns (aus<br />

Schandry 2006, S.146)<br />

Von außen nicht unmittelbar sichtbar, sondern zwischen<br />

den Hemisphären oder unter dem Neocortex<br />

verborgen, befinden sich weitere wichtige Teile des<br />

Großhirns: das Corpus Callosum (Balken), das<br />

beide Hemisphären über die gesamte Scheitellänge<br />

miteinander verbindet, sowie verschiedene Strukturen,<br />

die unter anderem für die Steuerung des emotionalen<br />

Verhaltens und für das Lernen wichtig sind.<br />

Hierbei besonders hervorzuheben sind der rechte<br />

und linke Gyrus Cinguli (Teil des Frontallappens),<br />

die Amygdala (Mandelkern) und der Hippocampus<br />

(Teile des Temporallappens), die man gemeinsam<br />

mit anderen Strukturen auch unter dem Begriff limbisches<br />

System zusammenfasst (s. Abb. 3.2). Weiterhin<br />

zu erwähnen sind die Basalganglien, die an der<br />

Bewegungssteuerung beteiligt sind.<br />

lichen Bestandteil des Großhirns ausmacht. Die<br />

Oberfläche des Neocortex ist gekennzeichnet durch<br />

wulstartige Strukturen (Gyri) und Täler dazwischen<br />

(Sulci). Wo diese Gyri und Sulci genau liegen, ist<br />

bei jedem Menschen und sogar zwischen rechter<br />

und linker Gehirnhälfte der gleichen Person unterschiedlich.<br />

Die Anzahl und relative Lage einzelner<br />

Teilstrukturen lässt sich jedoch weitgehend standardisiert<br />

beschreiben. Nur deshalb kann man im<br />

Rahmen von Studien, die auf aggregierten Daten basieren,<br />

feststellen, in welchen Gehirnbereichen welche<br />

Art der geistigen Verarbeitung stattfindet.<br />

1.2 Anatomie des Hirnstamms<br />

Das Großhirn sitzt auf weiteren Teilen des Gehirns<br />

auf, die als Hirnstamm oder Stammhirn bezeichnet<br />

werden (s. Abb. 3.3). Am superioren (oberen) Ende<br />

des Hirnstamms befindet sich das Zwischenhirn<br />

(Diencephalon). Hierzu zählt man den Thalamus,<br />

die zentrale Schaltstelle für die von den Sinnesorganen<br />

kommenden Informationen, sowie den darunter<br />

befindlichen Hypothalamus und die Hypophyse<br />

(Hirnanhangdrüse), die für die Hormonproduktion<br />

Fornix<br />

Gyrus<br />

cinguli<br />

Thalamus<br />

Globus<br />

pallidus<br />

(medial)<br />

Fissura<br />

longitudinalis<br />

cerebri<br />

Nucleus<br />

caudatus<br />

Putamen<br />

(lateral)<br />

Amygdala<br />

Temporallappen<br />

Gyrus<br />

parahippocampalis<br />

Hippocampus<br />

Mammillarkörper<br />

Abbildung 3.2. Innenansichten des Gehirns: Das limbische System (links) und die Basalganglien (rechts) (aus<br />

Schandry 2006, S. 130)<br />

68 1 Wie ist unser Gehirn aufgebaut?


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Endhirn<br />

Zwischenhirn<br />

Tegmentum<br />

Tectum<br />

Mittelhirn<br />

Brücke<br />

verlängertes Mark<br />

Kleinhirn<br />

Abbildung 3.3. Die Hauptabschnitte des Gehirns (aus Schandry 2006,<br />

S. 108)<br />

eine wichtige Rolle spielen. Das darunter<br />

liegende Mittelhirn (Mesencephalon)<br />

ist anatomisch nicht einfach<br />

zu identifizieren und enthält verschiedene<br />

kleine Colliculi (Knoten) oder<br />

Nuclei (Kerne), die zum Tectum<br />

bzw. Tegmentum gerechnet werden.<br />

Das Hinterhirn (Metencephalon)<br />

besteht aus der blumenkohlartigen<br />

Struktur des Kleinhirns (Cerebellum)<br />

(s. Abb. 3.1) und der Pons (Brücke).<br />

Das Myelencephalon (auch Medulla<br />

oblongata oder verlängertes Rückenmark<br />

genannt) bildet den Übergang<br />

zum Rückenmark (Medulla spinalis).<br />

Gehirn und Rückenmark werden zusammen<br />

als zentrales Nervensystem<br />

(ZNS) bezeichnet. Die wichtigsten<br />

Funktionen aller bisher genannten<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

Tabelle 3.1. Funktionen unterschiedlicher Hirnbereiche<br />

Großhirn<br />

Neuronale Struktur<br />

Telencephalon<br />

Neocortex<br />

Occipitallappen<br />

Parietallappen<br />

Frontallappen<br />

Temporallappen<br />

Corpus Callosum<br />

Limbisches System<br />

Gyrus Cinguli<br />

Amygdala<br />

Hippocampus<br />

Funktion<br />

Höhere geistige Verarbeitung<br />

Wahrnehmen, Denken, Handeln<br />

Sehen (primäre und sekundäre Verarbeitung visueller Information)<br />

Sehen (tertiäre Verarbeitung), Bewegungswahrnehmung, Somatosensorik,<br />

Mathematisches Denken, Raumkognition<br />

Motorik, Handlungsplanung, Kurzzeitgedächtnis, Sprachproduktion,<br />

Stimmung, Handlungsantrieb bzw. -hemmung (exekutive Funktionen)<br />

Differenzierte auditorische Verarbeitung, visuelle Objekterkennung,<br />

semantisches Wissen, intermodale Integration<br />

Verbindung zwischen beiden Gehirnhälften<br />

Gefühle, Aufmerksamkeits- sowie Lernprozesse<br />

Gefühls- & Aufmerksamkeitslenkung<br />

Emotionale Reaktionen (vor allem Furcht)<br />

Gedächtnis, Lernen, räumliche Orientierung<br />

Basalganglien<br />

Subkortikale Bewegungskontrolle<br />

<br />

1.2 Anatomie des Hirnstamms 69


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Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

Neuronale Struktur<br />

Diencephalon<br />

Thalamus<br />

Funktion<br />

Zwischenstation für sensorischen Input, Hormonsteuerung<br />

Schaltstation für vielfältige Wahrnehmungsinformation<br />

Hypothalamus<br />

Hypophyse<br />

Epiphyse<br />

Mesencephalon<br />

Regelung von vegetativen Zuständen verschiedener Art<br />

Hormonausschüttung (Sexualverhalten, Stress, Wachstum etc.)<br />

Hormonausschüttung (Schlaf-Wachrhythmus)<br />

Subkortikale Wahrnehmungs- und Verhaltenssteuerung<br />

Stammhirn<br />

Tectum<br />

Tegmentum<br />

Metencephalon<br />

Cerebellum<br />

Pons<br />

Myelencephalon<br />

Formatio Reticularis<br />

Rückenmark<br />

Subkortikale Hör- und Sehfunktionen<br />

Subkortikale motorische Steuerung, Schmerzhemmung<br />

Implizites motorisches Lernen<br />

Flexible feinmotorische Bewegungskontrolle, Gleichgewicht,<br />

Erlernen motorischer Fertigkeiten<br />

Durchgangsstation für Neurone vom Rückenmark zum Cortex<br />

Steuerung unwillkürlichen Verhaltens/vegetativer Zustände<br />

Bewusstseinszustände (Schlafen, Wachen), Aktivierung<br />

Übertragung von Signalen vom Körper zum Gehirn und umgekehrt;<br />

Reflexsteuerung, Schmerzhemmung<br />

Strukturen sowie weiterer Teilstrukturen, die für spätere<br />

Ausführungen von Bedeutung sind, werden in<br />

Tabelle 3.1 aufgeführt.<br />

1.3 Funktionale Beschreibung des Gehirns<br />

Wurde bislang primär die Anatomie des Gehirns<br />

besprochen, geht es im Folgenden vor allem um eine<br />

allgemeine funktionale Betrachtungsweise. So kann<br />

man für verschiedene Teilaspekte der Wahrnehmung<br />

(z. B. visuell, akustisch oder somatosensorisch) jeweils<br />

primäre, sekundäre und tertiäre Bereiche der<br />

Verarbeitung identifizieren, wobei die Information<br />

zunächst bezüglich grundlegender physikalischer<br />

Eigenschaften (z. B. Helligkeit, Tonhöhe, Druckstärke)<br />

analysiert wird und auf nachgeordneten Ebenen<br />

eine Verbindung zwischen verschiedenen Reizeigen-<br />

schaften hergestellt werden kann. Häufig nennt man<br />

den tertiären Bereich auch Assoziationscortex. Solche<br />

Cortexareale gibt es an verschiedenen Stellen<br />

unseres Großhirns, genauer gesagt im Frontal-,<br />

Temporal- und im Parietallappen. Wie Abbildung<br />

3.4 deutlich macht, sind die sekundären und<br />

tertiären sensorischen Areale im Vergleich zu den<br />

primären Bereichen sehr groß, was darauf hinweist,<br />

dass Sinnesdaten im Gehirn nicht einfach abgebildet<br />

werden, sondern vielfältig weiter verarbeitet und mit<br />

anderen Informationen in Verbindung gebracht<br />

werden.<br />

In Büchern über Neuropsychologie findet man<br />

nicht immer die Bezeichnungen, die in Tabelle 3.1<br />

aufgeführt sind, sondern oft auch Namen für Funktionsbereiche.<br />

So ist etwa die Rede vom motorischen<br />

Cortex, der einen Teilbereich des Frontallappens<br />

darstellt und für die Steuerung unserer Körperbe-<br />

70 1 Wie ist unser Gehirn aufgebaut?


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Abbildung 3.4. Primäre, sekundäre und tertiäre Bereiche<br />

der Verarbeitung von Sinnesinformation unterschiedlicher<br />

Modalitäten (hier: für visuelle, akustische<br />

und somatosensorische Informationen)<br />

wegungen relevant ist, vom auditorischen Cortex,<br />

der sich auf einen Teilbereich des Temporallappens<br />

bezieht, in dem die Verarbeitung von Sprache,<br />

Musik und anderen akustischen Signalen erfolgt,<br />

oder vom somatosensorischen Cortex, einem Teil<br />

des Parietallappens, der die Repräsentation unseres<br />

Körperschemas enthält. Beim visuellen Cortex gilt es<br />

zu beachten, dass hier verschiedene Areale (V1-V5)<br />

unterschieden werden, wobei die primären Areale<br />

(V1) im Occipitalcortex und die sekundären Areale<br />

(V2-V5) im Übergangsbereich zwischen Occipital-,<br />

Temporal- und Parietallappen zu finden sind. Tertiäre<br />

visuelle Areale befinden sich im inferioren Temporallappen<br />

(ventraler Pfad), wo Informationen für<br />

die Objekterkennung verarbeitet werden, sowie im<br />

posterioren Parietallapen (dorsaler Pfad), wo Informationen<br />

für die Bewegungssteuerung verarbeitet<br />

werden.<br />

der Mikroebene. Man kann das Gehirn nämlich nicht<br />

nur hinsichtlich der räumlichen Anordnung der<br />

Lobi, Gyri und Sulci oder hinsichtlich funktioneller<br />

Bereiche beschreiben, sondern unter dem Mikroskop<br />

auch analysieren, wie einzelne Areale cytoarchitektonisch<br />

zusammengesetzt sind. Wie noch zu zeigen sein<br />

wird, ist diese Betrachtungsweise für Entwicklungspsychologen<br />

besonders relevant. Abbildung 3.5 zeigt<br />

zunächst den Aufbau eines typischen Neurons.<br />

Grundsätzlich hat jedes Neuron nur einen Zellkörper<br />

und genau ein Axon, das bezüglich seiner<br />

Länge und Dicke variieren kann und Erregung an<br />

andere Neurone weiter leitet. Viele Axone sind myelinisiert,<br />

d. h. von einer Fettschicht umgeben, was<br />

eine schnelle Weiterleitung von Informationen ermöglicht.<br />

Am Ende verzweigt sich das Axon in<br />

Kollaterale und dann noch feiner in Telodendrien.<br />

An den Telodendrien sitzen die synaptischen Endknöpfchen,<br />

die für die Ausschüttung von Neuro-<br />

Dendrit<br />

Zellkern<br />

Soma<br />

(Zellkörper)<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

1.4 Neuronen als Bausteine des zentralen<br />

Nervensystems<br />

Wenn ein Kind nach neun Monaten gesund auf die<br />

Welt kommt, sieht sein Gehirn rein äußerlich fast<br />

genauso aus wie das eines Erwachsenen. Die Anzahl<br />

der Nervenzellen (Neurone) verändert sich nach der<br />

Geburt nur unwesentlich, und alle Bereiche, die bislang<br />

genannt wurden, sind im Gehirn des Neugeborenen<br />

bereits identifizierbar. Was sich mit dem Alter<br />

systematisch verändert, sind der Reifungsgrad einzelner<br />

Neurone und die Art bzw. Dichte ihrer Verschaltung.<br />

Dabei handelt es sich um Veränderungen auf<br />

Axon<br />

Myelinscheide<br />

Synaptische Endigung<br />

Abbildung 3.5. Neuron mit unterschiedlichen Teilkomponenten<br />

(aus Schandry 2006, S. 37)<br />

1.4 Neuronen als Bausteine des zentralen Nervensystems 71


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Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

transmittern verantwortlich sind, wenn sich im<br />

Neuron ein Aktionspotential aufgebaut hat. Sie<br />

geben den Impuls über den synaptischen Spalt an<br />

nachgeordnete Neurone weiter. Die empfangende<br />

Seite eines Neurons ist durch Dendriten gekennzeichnet.<br />

Die Anzahl und Länge dieser „Antennen“,<br />

die Signale vorgeordneter Zellen empfangen, hängt<br />

unter anderem von der Zellart ab. Neurone unterscheiden<br />

sich durch die Länge und Dicke ihrer<br />

Axone und durch die Art der Verzweigungen auf der<br />

empfangenden und sendenden Seite.<br />

Die häufigste Zellart im Neocortex sind die Pyramidenzellen,<br />

die immerhin 70–85 % aller Cortexneurone<br />

ausmachen und Erregung zwischen weit<br />

entfernten Arealen und bis hin zum Rückenmark<br />

weiterleiten können. Andere Zellarten, die wesentlich<br />

seltener vorkommen, sind Korbzellen, Sternzellen<br />

und Doppel-Bouquet-Zellen, die vor allem für<br />

die lokale Erregungsausbreitung oder -hemmung<br />

innerhalb oder zwischen einzelnen Cortexschichten<br />

verantwortlich sind.<br />

Der Neocortex mit seinen verschiedenen Lobi<br />

besteht in allen Bereichen aus insgesamt sechs Zellschichten,<br />

die sich in verschiedenen Cortexregionen<br />

bezüglich ihrer Dicke und Zellzusammensetzung<br />

unterscheiden (s. Abb. 3.6). So ist im visuellen<br />

Cortex Schicht 4 am dicksten und im motorischen<br />

Cortex Schicht 5. Das hängt unter anderem davon<br />

ab, wo und in welcher Konzentration afferente (also<br />

solche, die von den Sinnesorganen bzw. vom Thalamus<br />

kommen) und efferente Verbindungen (solche,<br />

die Signale an andere Gehirnregionen oder Körperteile<br />

weiter leiten) nachweisbar sind.<br />

Die wohl bekannteste Systematik zur Beschreibung<br />

des Gehirns stammt von Brodmann (1909),<br />

der die Zellzusammensetzung der verschiedenen<br />

Cortexschichten zur Grundlage seiner Einteilung in<br />

Teilbereiche (Brodmannareale, abgekürzt: BA) ge-<br />

Abbildung 3.6. Querschnitt durch den Neocortex mit 6 Zellschichten und verschiedenen Zellarten (aus Kolb, Wishaw<br />

1996, S. 136)<br />

72 1 Wie ist unser Gehirn aufgebaut?


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macht hat. Man unterscheidet heute mehr als 200<br />

verschiedene cytoarchitektonische Areale.<br />

Denkanstöße<br />

Das Gehirn besteht aus vielen anatomisch<br />

und funktional unterschiedlichen Bereichen.<br />

Welche Folgen könnte es haben, wenn die<br />

einzelnen Bereiche im Entwicklungsverlauf<br />

unterschiedlich schnell heranreifen?<br />

Das zentrale Nervensystem setzt sich aus<br />

vielen einzelnen Nervenzellen zusammen.<br />

Welche Prozesse sind erforderlich, damit aus<br />

einer befruchteten Eizelle ein hochkomplexes<br />

erwachsenes Gehirn entstehen kann?<br />

2 Wie gewinnt man Daten zur<br />

Gehirnentwicklung?<br />

Daten zur Gehirnentwicklung werden heute mit<br />

verschiedenen Methoden gewonnen, die jeweils<br />

ihre Vor- und Nachteile haben und in unterschiedlichen<br />

Altersgruppen jeweils bevorzugt eingesetzt<br />

werden (einen Überblick geben Thomas & Casey,<br />

2003).<br />

Hirnschnitte<br />

Die Frage, in welchem Alter man welche Neurone in<br />

verschiedenen Gehirnregionen findet und wie Nervenzellen<br />

untereinander verschaltet sind, lässt sich<br />

zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur sinnvoll beantworten,<br />

indem man Hirngewebe analysiert. Es ist<br />

jedoch problematisch, die Gehirne von Menschen<br />

anatomisch zu untersuchen, denn ohne Grund darf<br />

man keine Obduktion durchführen. Wie noch zu<br />

zeigen sein wird, ist die Datenbasis für das Kindesalter<br />

daher recht dürftig. Von besonderem Interesse<br />

ist die Bestimmung der Dichte von Dendriten und<br />

Synapsen in einzelnen Hirnregionen zu verschiedenen<br />

Zeitpunkten der Entwicklung. Sie gibt Aufschluss<br />

über mögliche sensible Phasen der Hirnentwicklung.<br />

Die wichtigsten Arbeiten auf diesem<br />

Gebiet stammen von Huttenlocher (1990) sowie<br />

Huttenlocher und Dabholkar (1997), die die Entwicklung<br />

der Synapsen- und Dendritenbildung<br />

menschlicher Säuglinge untersucht haben. Ihre Befunde<br />

werden später ausführlich dargestellt.<br />

Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT)<br />

Die Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) bietet<br />

heute die Möglichkeit, das Gehirn von lebenden<br />

Menschen (auch Kindern) räumlich hochdifferenziert<br />

abzubilden. Computerprogramme setzen<br />

aus den einzelnen Schnittbildern dreidimensionale<br />

Abbildungen zusammen, die es ermöglichen, die<br />

Anordnung und Größe einzelner Hirnstrukturen<br />

sichtbar zu machen. Man spricht in diesem Zusammenhang<br />

von volumetrischen Analysen. Darüber<br />

hinaus kann man mit dieser Technik erfahren,<br />

wie weit einzelne Teilbereiche des Gehirns in einem<br />

gegebenen Alter myelinisiert sind. Dazu nimmt man<br />

eine T1-Gewichtung der Bilder vor. Dieses Maß verrät,<br />

wie hoch der Anteil an weißer und grauer Substanz<br />

in den einzelnen Gehirnbereichen ist. Die weiße<br />

Substanz enthält viele myelinisierte Axone, während<br />

die graue Substanz vor allem Zellkerne enthält. Man<br />

muss allerdings bedenken, dass entsprechende<br />

Daten von Kindern unter sechs Monaten schwer<br />

interpretierbar sind, weil der Wasseranteil im Hirngewebe<br />

von Säuglingen noch besonders hoch ist,<br />

und dies die Auswertung verzerrt. MRT-Studien<br />

haben uns gezeigt, dass<br />

nach dem fünften Lebensjahr kaum nennenswerte<br />

Veränderungen im Volumen des Gehirns zu<br />

verzeichnen sind;<br />

nach dem zwölften Lebensjahr eine signifikante<br />

Abnahme der grauen Substanz stattfindet;<br />

der Anteil an weißer Substanz über die gesamte<br />

Kindheit und das junge Erwachsenenalter ansteigt.<br />

Übersichtliche Zusammenfassungen entsprechender<br />

Forschungsarbeiten geben Casey, Thomas und<br />

McCandliss (2001) sowie Matsuzawa et al. (2001)<br />

und Paus et al. (2001).<br />

MRT-Messungen (wie auch fMRT-Messungen,<br />

von denen nachfolgend die Rede sein wird) sind mit<br />

einer starken Geräuschentwicklung verbunden, die<br />

trotz Ohrenschutz für die Probanden belastend ist.<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

2 Wie gewinnt man Daten zur Gehirnentwicklung? 73


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

Weil die Probanden außerdem noch ruhig liegen<br />

sollen, damit Verzerrungen bei den Aufnahmen vermieden<br />

werden, gibt man Kindern vor der Untersuchung<br />

oft Beruhigungs- oder Betäubungsmittel. Es<br />

verwundert daher kaum, dass MRT-Untersuchungen<br />

normalerweise nur bei medizinischer Indikation<br />

durchgeführt werden.<br />

Funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie<br />

(fMRT)<br />

Bei der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie<br />

(fMRT) ist man daran interessiert festzustellen,<br />

in welchen Hirnbereichen besonders viele Stoffwechselprozesse<br />

(gemessen über funktionell induzierte<br />

Veränderungen der Sauerstoffsättigung des Blutes)<br />

stattfinden, während bestimmte geistige Aufgaben<br />

bearbeitet werden. Um das zu erfassen, werden während<br />

der Bearbeitung unterschiedlicher Aufgaben<br />

Bilder vom Gehirn gemacht, die man später miteinander<br />

vergleicht. So kann man gezielt bestimmen,<br />

welche Gehirnstrukturen bei bestimmten geistigen<br />

Aktivitäten besonders aktiv sind. Das geht natürlich<br />

nur, wenn die Probanden bereits Instruktionen verstehen<br />

und ihnen folgen können. Eine fMRT-Untersuchung<br />

kann recht lange dauern, weil man unter<br />

Umständen viele Durchgänge braucht, um eine Mittelung<br />

der gemessenen Aktivitäten vornehmen zu können.<br />

Aus diesen Gründen und wegen der bereits für<br />

die MRT-Messung identifizierten Nachteile stellen<br />

fMRT-Studien im Kindesalter die Ausnahme dar und<br />

lassen sich mit Säuglingen oder Kleinkindern kaum<br />

durchführen. Ab dem Schulalter liefert diese Methode<br />

allerdings hilfreiche Daten zum Verständnis der<br />

Entwicklung einzelner Funktionsbereiche und wird<br />

vor allem eingesetzt, um nach Ursachen von kognitiven<br />

Teilleistungsdefiziten oder bestimmten Verhaltensauffälligkeiten<br />

zu suchen (einen Überblick über<br />

entsprechende Forschungsarbeiten geben Casey,<br />

Thomas und McCandliss, 2001).<br />

Positronen-Emissions-Tomographie (PET)<br />

Auch mit der Positronen-Emissions-Tomographie<br />

(PET) kann man herausfinden, welche Gehirnareale<br />

besonders aktiv sind, wenn Menschen bestimmte<br />

Aufgaben lösen. Dafür injiziert man den Personen<br />

kurz vor Beginn der Aufgabe eine schwach-radioaktive<br />

Substanz, die dann über das Blut vermehrt in jene<br />

Bereiche des Gehirns transportiert wird, in denen ein<br />

besonders reger Stoffwechsel stattfindet. PET-Untersuchungen<br />

werden auch eingesetzt, um den allgemeinen<br />

Energieumsatz im gesamten Gehirn oder in<br />

Teilbereichen zu bestimmen. Dieser Energieumsatz<br />

nimmt im Wesentlichen bis zur Grundschulzeit massiv<br />

zu und danach wieder deutlich ab. Die Grenzen<br />

der Anwendung von PET-Scans liegen auf der Hand:<br />

Zunächst stellt die Verwendung radioaktiver Substanzen<br />

ein ethisches Problem dar. Darüber hinaus<br />

gibt es die praktische Schwierigkeit, dass Kinder nicht<br />

lange still liegen und zu einem gegebenen Zeitpunkt<br />

gezielt eine spezifizierte geistige Aktivität zeigen.<br />

Ähnlich wie bei der fMRT-Methode kommen PET-<br />

Untersuchungen daher am ehesten bei der Bestimmung<br />

geistiger Aktivitäten von älteren Kindern und<br />

Erwachsenen zum Einsatz. Weiterführende Hinweise<br />

zur Nutzung dieser Technik im Rahmen entwicklungspsychologischer<br />

Überlegungen geben Chugani,<br />

Phelps und Mazziotta (1987).<br />

Nahinfrarotspektroskopie (NIRS)<br />

Die Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) stellt ein vergleichsweise<br />

neues Verfahren dar, bei dem die Sauerstoffsättigung<br />

des Blutes mit Hilfe einer optischen<br />

Technik erfasst wird. Das Verfahren eignet sich für die<br />

Untersuchung kleiner Kinder, weil die zur Messung<br />

erforderlichen Optroden rasch anzubringen sind und<br />

die Bewegungsfreiheit nur wenig einschränken. Das<br />

macht das Verfahren für Säuglings- und Kleinkindforscher<br />

attraktiv. Allerdings ist die räumliche und<br />

zeitliche Auflösung der Daten bislang recht ungenau,<br />

so dass nur bestimmte allgemeine Fragen mit diesem<br />

Verfahren beantwortet werden können. Diese Technik<br />

entwickelt sich zur Zeit aber rasant weiter, so dass<br />

wir vermutlich in naher Zukunft damit rechnen können,<br />

mit Hilfe der NIRS neue Erkenntnisse zur<br />

Gehirnentwicklung zu erhalten (einen Überblick zu<br />

diesem Verfahren gibt z. B. Hoshi, 2003).<br />

Elektroencephalographie (EEG)<br />

Die derzeit am weitesten verbreitete Methode, Hirnprozesse<br />

bei Probanden aller Altersstufen zu unter-<br />

74 2 Wie gewinnt man Daten zur Gehirnentwicklung?


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suchen, ist das Elektroencephalogramm (EEG). Hier<br />

werden am Kopf des Probanden Elektroden befestigt,<br />

um zu messen, wie sich die Spannung an der<br />

Kopfhaut durch die elektrische Aktivität der Neurone<br />

verändert. Dabei spielt die Aktivität der Pyramidenzellen<br />

eine entscheidende Rolle, insbesondere die<br />

Aktivität jener Zellen im Cortex und Hippocampus,<br />

die besonders dicht gepackt, parallel angeordnet und<br />

senkrecht zur Kopfhaut liegen. Dadurch hat die von<br />

ihnen erzeugte Veränderung in der elektrischen<br />

Spannung eine besonders starke Wirkung.<br />

Mit Hilfe des EEG kann man etwa beschreiben,<br />

welche elektrophysiologische Aktivität typischerweise<br />

in Schlaf- und Wachzuständen bei Kindern unterschiedlichen<br />

Alters auftritt oder wie sich das Ruhe-<br />

EEG zwischen Kindern unterscheidet (z. B. zwischen<br />

Schreibabys und ruhigen Säuglingen). Ein weiterer<br />

interessanter Aspekt dieser Methode ist die Möglichkeit<br />

der zeitnahen Erfassung kognitiver Prozesse, die<br />

mit der Wahrnehmung und Verarbeitung bestimmter<br />

Reize zusammenhängen. Dazu beschreibt man den<br />

Verlauf von gemittelten EEG-Wellen ab Beginn der<br />

Reizpräsentation. Inzwischen wurden eine ganze<br />

Reihe von charakteristischen Aktivitäts-Komponenten<br />

(ereigniskorrelierte Potentiale, EKPs, im Englischen:<br />

ERPs) identifiziert, die mit definierten kognitiven<br />

Prozessen zusammenzuhängen scheinen.<br />

Die EKP-Technik kann in allen Altersgruppen<br />

angewendet werden, weil sie nicht unbedingt willkürlich<br />

gesteuerte Reaktionen oder verbale Antworten<br />

erfordert. Es gibt jedoch auch einige Probleme: Eine<br />

praktische Schwierigkeit besteht darin, dass man viele<br />

Durchgänge braucht, über die man die gemessene<br />

Aktivität mitteln kann. Denn es können nur solche<br />

Durchgänge verwendet werden, bei denen der Proband<br />

sich nicht bewegt hat (insbesondere Kopf und<br />

Augen), weil ansonsten Bewegungsartefakte die Hirnströme<br />

überlagern. Ein zweites Problem hängt mit der<br />

Hirnreifung zusammen: Die Myelinisierung der Neurone<br />

beim Kleinkind ist noch nicht so weit fortgeschritten,<br />

die neuronale Organisation weist noch viele<br />

Freiheitsgrade auf, die Schädeldecke ist dünner und<br />

die Knochenplatten sind zumindest bis Ende des<br />

zweiten Lebensjahres noch nicht zusammengewachsen.<br />

Aus diesen Gründen unterscheiden sich die Hirn-<br />

ströme von Säuglingen und Kleinkindern zum Teil<br />

sehr deutlich von denen älterer Probanden, ohne dass<br />

man schon genau wüsste, worauf diese Abweichungen<br />

im konkreten Einzelfall zurückzuführen sind.<br />

Trotz dieser Einschränkungen ist es jedoch möglich,<br />

charakteristische Veränderungen in Reaktion auf<br />

bestimmte Reizarten im Kleinkindalter festzustellen.<br />

Die EKP-Forschung ist aufgrund der insgesamt nur<br />

geringen Belastung der Kinder eine durchaus gefragte<br />

Methode der modernen Entwicklungsneuropsychologie,<br />

vor allem auch der kognitiven Säuglingsforschung.<br />

Einen Überblick über entwicklungspsychologische<br />

Anwendungen dieser Methode geben<br />

Nelson und Monk (2001) sowie Thierry (2005).<br />

Magnet-Encephalographie (MEG)<br />

Auch die Magnet-Encephalographie (MEG) misst<br />

die elektrische Aktivität des Gehirns, allerdings auf<br />

einer etwas anderen Informationsbasis. An der<br />

Kopfoberfläche werden Veränderungen des Magnetfeldes<br />

gemessen, das durch elektrische Impulse der<br />

Neuronen erzeugt wird. Im Unterschied zum EEG<br />

hat der Proband weniger Bewegungsfreiheit, weil<br />

sein Kopf unter einem haubenförmigen Detektor<br />

still gehalten werden muss, damit eine störungsfreie<br />

Messung möglich ist. Das Verfahren lässt sich ab ca.<br />

fünf bis sechs Jahren praktikabel einsetzen, wenn<br />

Kinder bereits für einige Zeit still sitzen können. Der<br />

große Vorteil dieser Methode besteht darin, dass<br />

nicht für jeden Messpunkt zeitraubend einzelne<br />

Elektroden angebracht werden müssen, sondern<br />

dass sich der Proband einfach unter den Detektor<br />

setzt und ohne langwierige Vorbereitungsprozedur<br />

am Kopf eine Ableitung von vielen Messpunkten<br />

gleichzeitig erfolgen kann (bei typischen EKP-Studien<br />

variiert die Elektrodenanzahl bis 128 Messpunkte;<br />

beim MEG sind es bis zu 256 Messpunkte).<br />

Aufgrund der räumlich differenzierten Erfassung<br />

und der großen Zeitgenauigkeit der Daten lässt sich<br />

mit Hilfe von Computerprogrammen inzwischen<br />

sehr genau bestimmen, wo eine an der Schädeloberfläche<br />

gemessene Erregung ihren Ursprung hat. Eine<br />

solche Quellenanalyse ist auch bei EKP-Studien<br />

möglich, wenn eine größere Anzahl von Elektroden<br />

zur Verfügung stehen.<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

2 Wie gewinnt man Daten zur Gehirnentwicklung? 75


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

Analyse des Hormonstatus<br />

Ein weiteres Verfahren, das indirekt Auskünfte über<br />

die neuronale Entwicklung gibt, ist die Analyse des<br />

Hormonstatus. Dieser variiert mit der Reifung<br />

bestimmter Gehirnstrukturen, die für die Hormonausschüttung<br />

relevant sind (z. B. der Hypophyse).<br />

Die Bestimmung des Hormonstatus ist vor allem<br />

wichtig, um das körperliche Wachstum und die in<br />

der Pubertät auftretenden Veränderungen zu verstehen.<br />

Sie spielt darüber hinaus aber auch eine wichtige<br />

Rolle für die Ausbildung der Geschlechtsidentität<br />

im Kindesalter. Detaillierte Informationen zum<br />

komplexen Wechselspiel zwischen Hormonstatus<br />

und kognitiven Aktivitäten geben Berenbaum, Moffat,<br />

Wisniewski und Resnick (2003). Mit der Bedeutung<br />

von Geschlechtshormonen für die Gehirnentwicklung<br />

beschäftigt sich u. a. Cameron (2001).<br />

Im nächsten Schritt geht es um konkrete Erkenntnisse,<br />

die mit Hilfe der bislang beschriebenen Verfahren<br />

über die neurologische Entwicklung gewonnen<br />

wurden.<br />

Denkanstöße<br />

Es gibt verschiedenen Methoden, mit denen<br />

man das Gehirn des Menschen untersuchen<br />

kann. Welche Methode eignet sich dafür, wenn<br />

es darum geht,<br />

zu bestimmen, ob ein Säugling Laute<br />

voneinander unterscheiden kann?<br />

herauszufinden, ob ein Kind eine Hirnblutung<br />

hatte?<br />

festzustellen, ob die Neubildung von<br />

Synapsen zu vermehrtem Stoffwechsel in<br />

den Neuronen führt?<br />

schätzungsweise zehn bis fünfzehn Milliarden „grauen<br />

Zellen“ eines erwachsenen Gehirns sind bei der<br />

Geburt bereits vorhanden. Wie neuere Untersuchungen<br />

zeigen, wächst die Anzahl der Neurone in<br />

begrenztem Umfang noch bis zum sechsten Lebensjahr<br />

weiter (Shankle et al., 1998). Auch bei älteren<br />

Kindern und Erwachsenen werden in wenigen<br />

Regionen des Gehirns noch vereinzelt neue Neurone<br />

produziert. Parallel dazu setzt aber bereits in der<br />

pränatalen Zeit der Abbau von Nervenzellen ein, der<br />

sich über das gesamte Leben hinweg fortsetzt, aber<br />

in überschaubaren Grenzen hält.<br />

Die Aussage, dass die Mehrzahl der Neurone eines<br />

Menschen in der Zeit vor der Geburt gebildet wird,<br />

passt auf den ersten Blick nicht gut zu der Feststellung,<br />

dass sich das Gehirnvolumen eines Kindes von<br />

der Geburt bis zum Erwachsenenalter verdreifacht.<br />

Wiegt es bei einem gesunden Neugeborenen ca.<br />

400 g, so hat sich sein Gewicht im Alter von neun<br />

Monaten bereits auf 800 g verdoppelt. Im dritten bis<br />

vierten Lebensjahr kommt es auf 1200 bis 1300 g<br />

und beim Erwachsenen schwankt sein Gewicht zwischen<br />

1230 g und rund 1430 g. Das Gehirn von<br />

Männern wiegt dabei in der Regel mehr als das von<br />

Frauen.<br />

Wenn man den scheinbaren Widerspruch auflösen<br />

will, dass die Anzahl der Neuronen nahezu<br />

unverändert bleibt, aber das Gehirnvolumen massiv<br />

steigt, muss man sich konkreter mit der Frage beschäftigen,<br />

wie unser Gehirn reift. Dabei nimmt die<br />

Pränatalzeit eine besondere Stellung ein, weil hier<br />

der Großteil der Aufbauarbeit geleistet wird.<br />

3.1 Gehirnentwicklung vor der Geburt<br />

3 Was weiß man über die Reifung<br />

des Gehirns?<br />

Die Entwicklung des Gehirns beginnt sehr früh –<br />

schon ein bis zwei Wochen nach der Befruchtung,<br />

wenn die ersten Neurone produziert werden. Dann<br />

geht es in rasantem Tempo weiter, denn fast alle der<br />

Entwicklungspsychologen sollten über die pränatale<br />

Entwicklung des Gehirns Bescheid wissen. Sie<br />

sollten verstehen, welche Konsequenzen toxische,<br />

hormonelle oder sonstige Einflüsse während der<br />

Schwangerschaft auf die Hirnreifung haben können<br />

(z. B. die Auswirkungen von Dauerstress oder Rauchen<br />

der Mutter). Auch für die Schwangerschaftskonfliktberatung<br />

ist eine gute Kenntnis über die<br />

Gehirnentwicklung des Kindes in verschiedenen<br />

76 3 Was weiß man über die Reifung des Gehirns?


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Phasen der Schwangerschaft erforderlich. Weiterhin<br />

sollte man wissen, wie sich Frühgeborene (immerhin<br />

10% der Bevölkerung) und termingerecht geborene<br />

Kinder bezüglich ihrer Hirnreifung unterscheiden.<br />

In diesem Abschnitt wird daher zunächst erörtert,<br />

wie aus einer Eizelle und einem Spermium<br />

allmählich ein Mensch mit Gehirn entsteht (vgl.<br />

hierzu auch Rohen und Lütjen-Drecoll, 2004).<br />

Dorsale Aufsicht<br />

eines Embryos<br />

Neuralplatte<br />

Querschnitt eines dorsalen<br />

Ektoderms eines Embryos<br />

18 Tage<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

3.1.1 Mitose und Migration<br />

Wenn sich das Ei in der Gebärmutter einnistet, findet<br />

sich in seinem Inneren bereits die so genannte embryonale<br />

Platte mit drei unterschiedlichen, zunächst<br />

flach übereinander liegenden Zellschichten. Eine<br />

davon ist das Ektoderm. In einem ersten Schritt vermehren<br />

sich Zellen rechts und links entlang des so<br />

genannten Primitivstreifens, der die Längsachse des<br />

Embryos markiert (vgl. Abb. 3.7). Auf diese Weise bilden<br />

sich zwei hügelförmige Aufwerfungen – die Neuralwülste.<br />

Die Aufwerfungen schließen sich oben über<br />

einem Hohlraum zusammen, so dass ein Tunnel entsteht.<br />

Dieser Tunnel wird auch als Neuralrohr bezeichnet.<br />

Im unteren Drittel des Neuralrohrs entsteht<br />

daraus das Rückenmark, während sich die oberen<br />

zwei Drittel zum Gehirn weiter entwickeln. Diese Entwicklung<br />

findet so schnell statt, dass der Embryo<br />

zunächst fast nur aus einem Kopf zu bestehen scheint.<br />

Das Innere des Neuralrohrs, das sich direkt an<br />

den mit Flüssigkeit gefüllten Hohlraum anschließt,<br />

wird als ventrikuläre Zone bezeichnet – ein Bereich,<br />

in dem die künftigen Neurone „produziert“ werden.<br />

Die ventrikuläre Zone besteht aus vielen proliferaten<br />

Einheiten. Dort sitzen die Stammzellen, die sich<br />

zunächst durch einfache Zellteilung (Mitose) verdoppeln,<br />

wobei von jedem Paar eine Zelle auf Wanderschaft<br />

an ihren Bestimmungsplatz im Gehirn geht<br />

(Migration), während die andere in der proliferaten<br />

Einheit verbleibt und sich anschließend wieder teilt.<br />

Die Anzahl der Teilungen jeder Stammzelle sind begrenzt.<br />

Evolutionsbiologen vermuten, dass der Anstieg<br />

des Gehirnvolumens beim Menschen gegenüber<br />

seinen evolutionären Vorfahren auf Mutationen zurückgeht,<br />

die die Anzahl der Teilungen der Stammzellen<br />

beeinflusst haben (Bourgeois, 2001).<br />

Neuralrinne<br />

Neuralrohr<br />

21 Tage<br />

Neuralleiste<br />

Zentralkanal<br />

24 Tage<br />

Abbildung 3.7. Zwei bis drei Wochen alter Embryo von<br />

oben betrachtet (links) und im Querschnitt (rechts) (aus<br />

Pinel 2001, S. 213)<br />

Die Mitose folgt dem so genannten transversen neurogenetischen<br />

Trend. Damit ist gemeint, dass sie im<br />

oberen seitlichen Bereich des Neuralrohrs beginnt<br />

und sich dann hin zum unteren mittleren Bereich<br />

hin fortsetzt. Dieses Timing ist extrem wichtig.<br />

Warum das Gehirn irgendwann eine klar erkennbare<br />

Struktur hat und nicht einfach wie ein Hefekuchen<br />

in alle Richtungen gleichmäßig aufgeht, kann man<br />

sich dadurch erklären, dass die Zellteilung an verschiedenen<br />

Orten einem genau definierten Zeitplan<br />

folgt, wobei bestimmte Bereiche zu bestimmten Zeiten<br />

besonders schnell wachsen.<br />

3.1.2 Die Entstehung des Neocortex<br />

Die Mitose findet in verschiedenen Bereichen entlang<br />

des Neuralrohrs parallel statt, wobei subkortikale<br />

Strukturen etwas früher differenziert sind als<br />

die Schichten des Neocortex. Neuroblasten (unreife<br />

Vorformen der späteren Neurone), die subkortikale<br />

3.1 Gehirnentwicklung vor der Geburt 77


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

Strukturen bilden, werden größtenteils passiv von<br />

später gebildeten Zellen nach außen geschoben,<br />

während Neuroblasten, die später zum Neocortex<br />

gehören, von der ventrikulären Zone aus an Stützzellen<br />

(radialen Gliazellen) nach außen wandern<br />

und dabei die jüngeren Zellen immer an den älteren<br />

Zellen „vorbeiklettern“. Diesen Wachstumstrend von<br />

innen nach außen nennt man auch neurogenetische<br />

Sequenz. Sind die Neuroblasten an ihrem Bestimmungsort<br />

angekommen, beginnt die Differenzierung<br />

in die oben erwähnten Neuronentypen.<br />

Woher die Neuroblasten „wissen“, an welche Stelle<br />

des Cortex sie wandern müssen und zu welcher Art<br />

Neuron sie später einmal werden, ist noch umstritten.<br />

Die so genannte Protomap-Theorie besagt,<br />

dass das Schicksal jeder Zelle bereits am Startpunkt,<br />

in der proliferaten Einheit, feststeht (Racik, 1988). Im<br />

Unterschied dazu postuliert die Protocortex-Theorie,<br />

dass Axone der Neurone des Thalamus (die zu<br />

den subkortikalen Strukturen gehören und früher<br />

gebildet werden) und früher entwickelte benachbarte<br />

Neuroblasten durch die Art ihrer Kontaktbildung<br />

bestimmen, wie sich die jeweilige Zelle weiter entwickelt<br />

(Killackey, 1990). Andere Faktoren, die Einfluss<br />

auf die Migration und Differenzierung der Neurone<br />

nehmen, sind die zurückgelegte Distanz sowie<br />

die Wirkung molekularer Marker auf dem Weg bzw.<br />

am Zielort. Auch wenn im Einzelnen noch nicht<br />

klar ist, wie man sich diese komplexe Selbstorganisation<br />

des Gehirns vorstellen kann, lässt sich bereits<br />

heute sagen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit verschiedene<br />

Faktoren parallel dazu beitragen. Die<br />

geschilderten theoretischen Ansätze fassen Johnson<br />

und Munakata (2005) übersichtlich zusammen.<br />

Die Mitose und die Migration beginnen etwa in<br />

der dritten Woche nach der Befruchtung. Bereits in<br />

der fünften Schwangerschaftswoche wird das Großhirn<br />

mit seinen beiden Hemisphären angelegt. Da die<br />

Vermehrung von Neuronen in rasantem Tempo stattfindet,<br />

steht die Basisorganisation des Gehirns bereits<br />

im zweiten Schwangerschaftsmonat fest. Der Embryo<br />

hat zu diesem Zeitpunkt eine Größe von wenigen<br />

Zentimetern. Wenn man bedenkt, wie viele voneinander<br />

abhängige Prozesse in dieser frühen Entwicklungsphase<br />

stattfinden, ist es kaum verwunderlich,<br />

dass toxische Einflüsse zu Beginn der Schwangerschaft<br />

eine fatale Wirkung haben können. In der<br />

nachfolgenden Zeit wächst vor allem das Telencephalon<br />

beträchtlich: Bis etwa zur Hälfte der Schwangerschaft<br />

ist die Zellteilung weitgehend abgeschlossen.<br />

Nun verfügt der Fötus bereits über einige wichtige<br />

Funktionen, zu denen auch die Lernfähigkeit gehört.<br />

Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass man eine<br />

Abtreibung unter normalen Umständen nur vorher,<br />

nämlich innerhalb der ersten vierzehn Schwangerschaftswochen,<br />

straffrei durchführen kann. Im fünften<br />

Schwangerschaftsmonat werden zunächst die<br />

inneren kortikalen Schichten 6 und 5 sichtbar und<br />

mit den subkortikalen Schichten verschaltet. Die<br />

äußeren Cortexschichten reifen größtenteils bis zum<br />

achten postnatalen Lebensmonat, Schicht 1 entwickelt<br />

sich als letzte. Erst gegen Ende der Schwangerschaft<br />

werden die Gyri und Sulci des Neocortex sichtbar,<br />

die für die Oberfläche des menschlichen Gehirns<br />

so charakteristisch sind (vgl. Abb. 3.8).<br />

Wie bereits eingangs erwähnt, findet in verschiedenen<br />

Bereichen des Neocortex die Verarbeitung visueller,<br />

auditorischer und taktiler Informationen statt.<br />

Abbildung 3.8. Phasen der pränatalen Gehirnentwicklung<br />

vom 25. Tag bis zum 9. Monat (aus Kolb & Wishaw<br />

1996, S. 416)<br />

78 3 Was weiß man über die Reifung des Gehirns?


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Das Großhirn und das Zwischenhirn entwickeln sich<br />

aus dem embryonalen Vorderhirn (Prosencephalon).<br />

Ein anderes wichtiges Sinnesorgan des Kopfes, der für<br />

das Gleichgewicht zuständige Vestibularapparat, steht<br />

in enger Verbindung mit dem embryonalen Rautenhirn<br />

(Rhombencephalon). Aus ihm entwickelt sich<br />

das bereits erwähnte Kleinhirn, das für die unbewusste<br />

Regulation der Motorik und des Gleichgewichts<br />

verantwortlich ist. Ähnlich wie das Großhirn, stülpt<br />

sich auch das Kleinhirn zunehmend um die darunter<br />

befindlichen Strukturen. Dadurch wird das Rautenhirn<br />

in zwei Abschnitte gegliedert, von denen bereits<br />

die Rede war: das Metencephalon und das Myelencephalon<br />

(s. Tab. 3.1).<br />

3.1.3 Wachstum von Axonen, Dendritenbildung<br />

und Synaptogenese<br />

Auch wenn die Migration der Neuroblasten und die<br />

Differenzierung bei der Geburt noch nicht abgeschlossen<br />

sind – andere Entwicklungsschritte können<br />

erst folgen, wenn das künftige Neuron seinen<br />

endgültigen Platz eingenommen hat (oder sich ihm<br />

zumindest nähert). Das gilt sowohl für das Axonwachstum,<br />

das mit sieben bis 70 Mikrometern pro<br />

Stunde voran schreitet, sowie für die Dendritenbildung.<br />

Weitere Phasen der Hirnreifung, wie die Myelinisierung,<br />

beginnen, wenn die Axone weitgehend<br />

ausgewachsen sind. Das betrifft auch das Spreading,<br />

die verstärkte Bildung von Synapsen. Sie setzt ein,<br />

wenn sich die Dendriten bereits verzweigt haben.<br />

Und schließlich finden der Abbau von überschüssigen<br />

Synapsen und das Pruning/Shedding (das Verkümmern<br />

von ungenutzten Dendriten) statt, wenn<br />

auf der Grundlage bestehender Verknüpfungen und<br />

hinreichender Erfahrungen klar ist, welche Verbindungen<br />

benötigt werden und welche nicht. Auch die<br />

Apoptose – der programmierte Zelltod – von Neuronen<br />

ist ein normaler Entwicklungsprozess im<br />

Säuglingsalter, der zu einer gesteigerten Selektivität<br />

der synaptischen Übertragung beiträgt. Im Erwachsenenalter<br />

ist dieser Prozess eher die Ausnahme. Ein<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

Tabelle 3.2. Übersicht über wichtige Teilprozesse der Hirnreifung<br />

Prozesse, die primär pränatal ablaufen<br />

Mitose<br />

Migration<br />

Differenzierung<br />

Axonreifung<br />

Bildung von Neuroblasten in den proliferaten Einheiten der ventrikulären Zone<br />

Wanderung der Neuroblasten an ihren Bestimmungsort<br />

Differenzierung von Neuroblasten in unterschiedliche Neuronenarten<br />

Bildung und Wachstum von Axonen; Kontaktbildung zum Zielgebiet<br />

Prozesse, die primär postnatal ablaufen<br />

Dendritenbildung<br />

Synapsenbildung/<br />

Spreading<br />

Myelinisierung<br />

Pruning und Shedding<br />

Synapsenabbau<br />

Zelltod/Apoptose<br />

Bildung und Wachstum von Dendriten zum Empfang von Signalen anderer Neurone<br />

Vermehrte Bildung von Endknöpfchen<br />

Bildung einer isolierenden Fettschicht um die Axone zur beschleunigten Weiterleitung<br />

von Signalen<br />

Abbau von Dendriten und Synapsen, die auf Dauer nicht genutzt werden<br />

Absterben von Neuronen, die auf Dauer nicht genutzt werden<br />

3.1 Gehirnentwicklung vor der Geburt 79


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Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

verstärktes Absterben von Neuronen ist hier meist<br />

durch toxische Einflüsse (z. B. starker Alkoholkonsum)<br />

oder durch Erkrankungen des Zentralnervensystems<br />

verursacht.<br />

Alle bislang genannten Teilprozesse überlagern<br />

sich in gewissen Umfang. Tabelle 3.2 gibt eine Übersicht<br />

über die Abfolge wichtiger Entwicklungsschritte,<br />

die sich von der Embryonalphase über die gesamte<br />

Zeit der Schwangerschaft bis hin zu Jahren nach<br />

der Geburt vollziehen.<br />

3.2 Störungen der pränatalen Gehirnentwicklung<br />

Drogen, Medikamente oder Viren können das Gehirn<br />

und den Körper des sich entwickelnden Kindes<br />

nachhaltig schädigen. Drei Beispiele, die sich auf den<br />

Gebrauch weit verbreiteter Alltagsdrogen beziehen,<br />

mögen diese Zusammenhänge illustrieren. So ist<br />

etwa bekannt, dass Alkohol (insbesondere, wenn er<br />

schubweise und dann in großen Mengen zu Beginn<br />

der Schwangerschaft konsumiert wird) die Entwicklung<br />

des Sehsinns massiv stören kann und in Extremfällen<br />

sogar zur Erblindung beim Säugling führt.<br />

Kinder von Alkoholikerinnen kommen mit deutlich<br />

weniger Gewicht zur Welt und weisen spezifische<br />

morphologische Besonderheiten auf. Sie zeigen eine<br />

deutlich verminderte Intelligenz und verschiedenartige<br />

Verhaltensauffälligkeiten wie Ess-, Schlaf-, Aufmerksamkeits-,<br />

Sprach- und Angststörungen. Neueren<br />

Studien zufolge kann schon ein Drink pro Tag zu<br />

vermindertem Gehirnwachstum und Intelligenzeinbußen<br />

führen (Day et al., 2002).<br />

Bei anderen Alltagsdrogen, wie etwa dem Nikotin,<br />

ist die schädigende Wirkung subtiler: Mütter, die<br />

während der Schwangerschaft rauchen (auch passiv),<br />

vermindern die Sauerstoffzufuhr für ihr Kind: Nikotin<br />

besetzt die roten Blutplättchen, die den Sauerstoff<br />

transportieren, bei Mutter und Kind, weil Nikotin die<br />

Plazentaschranke genauso ungehindert passiert wie<br />

Alkohol. Zudem sorgt Nikotin für eine Verengung<br />

der Blutgefäße (auch jener, die zur Plazenta führen),<br />

so dass weniger Blut für die Versorgung des sich entwickelnden<br />

Organismus zur Verfügung steht. Vor<br />

diesem Hintergrund scheint es kaum verwunderlich,<br />

dass Babys von Raucherinnen im Durchschnitt kleiner<br />

und leichter auf die Welt kommen als Kinder von<br />

Nichtraucherinnen. Zusätzlich tragen Kinder von<br />

Raucherinnen besondere Risiken bezüglich ihrer<br />

Intelligenzentwicklung und Hörfähigkeit, und sie<br />

erleiden signifikant häufiger den plötzlichen Kindstod<br />

(Moore & Persaud, 2003). Auch der Konsum größerer<br />

Mengen von Koffein in Form von Kaffee (mehr<br />

als drei Tassen pro Tag), Tee oder Kakao geht mit<br />

einem niedrigen Geburtsgewicht, einer erhöhten<br />

Rate von Fehlgeburten und Entzugssymptomen<br />

beim Kind (Reizbarkeit, Erbrechen) nach der Geburt<br />

einher (Gilberg-Barness, 2000).<br />

Obwohl die konkreten Auswirkungen einzelner<br />

Substanzen oft schwer abschätzbar sind, weil in der<br />

Regel verschiedene Risikofaktoren zusammenkommen,<br />

zeigen diese Beispiele, dass ein gesundes Verhalten<br />

während der Schwangerschaft für eine normale<br />

Entwicklung des Kindes von zentraler Bedeutung ist.<br />

Ferner wird damit deutlich, dass bereits im Mutterleib<br />

externe Einflüsse die neurologische Entwicklung<br />

maßgeblich beeinflussen können. Einen Überblick<br />

über verschiedene pränatale Risiken finden interessierte<br />

Leser bei Moore und Persaud (2003).<br />

3.3 Gehirnentwicklung nach der Geburt<br />

Die neun Monate der Schwangerschaft sind sehr<br />

wichtig für eine ausreichende Entwicklung des Gehirns.<br />

Abhängig vom Zeitpunkt ihrer Geburt kommen<br />

Frühgeborene oft mit einem recht unreifen<br />

Gehirn zur Welt. Bei ihnen hat die Gyrifizierung<br />

unter Umständen noch gar nicht eingesetzt, ihr Cortex<br />

sieht äußerlich ganz glatt aus. Aber auch das<br />

Gehirn eines Termingeborenen ist noch nicht fertig<br />

entwickelt. Man vermutet sogar, dass die extrem<br />

lange postnatale Hirnreifung des Menschen einer<br />

der Gründe dafür ist, warum wir zu komplexeren<br />

geistigen Leistungen in der Lage sind als andere<br />

Wesen (Bourgeois, 2001). Sie erst ermöglicht es<br />

nämlich, unser biologisches Steuerzentrum optimal<br />

an die Gegebenheiten der Umwelt anzupassen.<br />

Einen aktuellen Hinweis für die Gültigkeit dieser<br />

80 3 Was weiß man über die Reifung des Gehirns?


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Annahme liefert eine Studie von Shaw et al. (2006),<br />

in der gezeigt wurde, dass Kinder, die sich später als<br />

besonders intelligent erwiesen, eine vergleichsweise<br />

langsamere Reifung des Frontallappens zeigten als<br />

Kinder, bei denen das nicht der Fall war. Damit stellt<br />

sich die Frage, welche Reifungsprozesse konkret<br />

nach der Geburt ablaufen. Im nächsten Abschnitt<br />

werden allgemeine Trends der postnatalen Hirnentwicklung<br />

beschrieben, die sich auf bereits erwähnte<br />

Teilprozesse beziehen.<br />

3.3.1 Dendritenbildung und Synaptogenese<br />

Die Dendritenbildung setzt in der Regel erst ein, wenn<br />

ein Neuron seine Endposition erreicht hat. Dendriten<br />

wachsen nicht wild (wie die Zweige eines Baumes),<br />

sondern sie kommen den Axonen, mit denen sie später<br />

Verbindung aufnehmen, entgegen. Erweist sich eine<br />

solche Verbindung in der Folge als wenig nützlich (selten<br />

gebraucht), verkümmern sie. Man spricht dann<br />

vom Pruning oder Shedding. Eng mit der Dendritenbildung<br />

verbunden ist die Synapsenbildung (Synaptogenese).<br />

Auch sie beginnt normalerweise erst, wenn<br />

das Neuron seinen Platz gefunden hat. Dabei lässt sich<br />

ein sehr interessanter Entwicklungstrend feststellen,<br />

der bis heute Stoff für heftige Diskussionen um die<br />

Existenz von sensiblen Phasen der Hirnreifung liefert:<br />

Zunächst wird ein massiver Überschuss an synaptischen<br />

Verbindungen produziert (Spreading) und<br />

anschließend wird nach dem Prinzip „Use it or loose<br />

it“ ausgewählt, welche Synapsen erhalten bleiben und<br />

welche wir wieder verlieren. Bourgeois (2001) spricht<br />

in diesem Zusammenhang von<br />

einer biologischen Reifungsphase, die sich primär<br />

vor der Geburt abspielt und die weitgehend unabhängig<br />

von Umwelterfahrungen sein soll;<br />

einer erfahrungsabhängigen Wachstumsphase,<br />

die zwar nach einem biologischen Plan abläuft,<br />

aber auf bestimmte Umweltreize angewiesen ist,<br />

um sich zu entfalten;<br />

einer erfahrungsabhängigen Abbauphase, in der<br />

sich entscheidet, welche Verbindungen in der<br />

Endauswahl erhalten bleiben.<br />

Die wohl bekanntesten Studien zu der Frage, wann<br />

und in welchen Gehirnbereichen der Auf- und Abbau<br />

von Synapsen stattfindet, stammen von Huttenlocher<br />

(1990) bzw. Huttenlocher und Dabholkar (1997). Sie<br />

untersuchten anhand von Hirnschnitten die Veränderung<br />

der Synapsendichte im auditorischen Cortex<br />

(Temporallappen), im visuellen Cortex (Occipitallappen)<br />

und im Präfrontalcortex (Frontallappen)<br />

von der pränatalen Zeit bis zum Erwachsenenalter.<br />

Ihre Daten machen deutlich, dass die Dichtekurven<br />

für die genannten Areale durchaus unterschiedlich<br />

aussehen (s. Abb. 3.9). So wird das Maximum für den<br />

visuellen Cortex noch innerhalb des ersten Lebensjahres<br />

erreicht, für den auditorischen Cortex und für<br />

den Präfrontalcortex aber erst im Kindesalter. Auch<br />

die Phase der stärksten Vernetzung und der Verlauf<br />

des anschließenden Abbaus synaptischer Verbindungen<br />

variieren beträchtlich zwischen den einzelnen<br />

Regionen. Kritisch muss angemerkt werden, dass<br />

neuere Analysen die zum Teil auffälligen Unterschiede<br />

im Timing bezüglich ihrer statistischen Bedeutung<br />

in Frage stellen, weil die Untersuchungen auf<br />

nur geringen Fallzahlen basieren. Da sich die Daten<br />

von Huttenlocher und Mitarbeitern aber durchaus<br />

sinnvoll mit Verhaltensdaten in Verbindung setzen<br />

lassen, ist es trotz methodischer Vorbehalte sinnvoll,<br />

vorerst mit ihnen weiterzuarbeiten.<br />

Lässt man die Unterschiede zwischen verschiedenen<br />

Cortexarealen einmal außer Betracht, so kann<br />

man festhalten, dass das Gehirn zwischen dem zweiten<br />

und dem sechsten Lebensjahr einen Grad der Vernetzung<br />

von Neuronen aufweist, der im späteren<br />

Leben nie mehr erreicht wird. Entsprechend erreicht<br />

der cerebrale Stoffwechsel etwas später, mit ca. sechs<br />

Jahren, sein Maximum und sinkt danach wieder<br />

beträchtlich. Warum es zu dieser zeitlichen Verzögerung<br />

kommt, ist noch nicht ganz geklärt. Es gilt aber<br />

zu bedenken, dass ein höherer Stoffwechsel nicht<br />

unbedingt auf einen höheren Grad der neuronalen<br />

Vernetzung hindeuten muss, sondern auch etwas mit<br />

der Effektivität der Informationsverarbeitung zu tun<br />

haben kann. Erwachsene zeigen gegenüber Grundschülern<br />

einen deutlich verringerten Metabolismus<br />

vor allem deshalb, weil sie Informationen gezielter<br />

und effizienter verarbeiten können.<br />

In neuerer Zeit wurden verschiedene Längsschnittstudien<br />

zur Veränderung der Dicke des Cortex durch-<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

3.3 Gehirnentwicklung nach der Geburt 81


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

Abbildung 3.9. Veränderung der<br />

Synapsendichte über das Lebensalter<br />

für verschiedene Cortexareale<br />

(nach Huttenlocher & Dabholkar<br />

1997, S. 170)<br />

geführt, die indirekten Aufschluss über die Synapsenund<br />

Dendritenbildung geben. So erreicht die Synaptogenese<br />

für den sensomotorischen Cortex ihren Höhepunkt<br />

bei der Geburt, für parietale und temporale<br />

assoziative Regionen im letzten Drittel des ersten<br />

Lebensjahres und für den Präfrontalcortex im Vorschulalter<br />

(Casey, Tottenham, Liston & Durston,<br />

2005). Diese Daten scheinen die allgemeinen Beobachtungen<br />

von Huttenlocher und Mitarbeitern zu<br />

bestätigen bzw. zu ergänzen.<br />

3.3.2 Myelinisierung und Apoptose<br />

Im Unterschied zur Dendriten- und Synapsenbildung<br />

ist die Myelinisierung vor allem für die Geschwindigkeit<br />

der Informationsweiterleitung relevant.<br />

Die Isolierung einzelner Axone beginnt in der<br />

zwölften bis vierzehnten Schwangerschaftswoche im<br />

Rückenmark und setzt sich bis ca. zum 40. Lebensjahr<br />

fort. Die wichtigste Phase mit den größten Veränderungen<br />

fällt dabei in die Zeit zwischen dem<br />

fünften Schwangerschaftsmonat und dem zweiten<br />

Lebensjahr. Will man konkrete Aussagen zum Zusammenhang<br />

zwischen biologischer Reifung und<br />

Verhalten machen, muss man sich einzelne Bereiche<br />

genauer anschauen. Nach Sampaio und Truwit<br />

(2001) lassen sich jedoch fünf allgemeine Regeln der<br />

Myelinisierung identifizieren:<br />

erst proximale, dann distale Verbindungen (von<br />

den Rezeptoren eines Sinnessystems über die primären<br />

zu den sekundären Arealen; vgl. Abb. 3.4),<br />

erst sensorische, dann motorische Verbindungen,<br />

erst projektive Verbindungen (spezifische Afferenzen,<br />

die vom Thalamus kommen), dann unspezifische<br />

(die von anderen Hirnbereichen kommen),<br />

erst zentrale, dann polare Bereiche des Telencephalons<br />

(von innen nach außen),<br />

erst occipitale, dann temporale Pole (vgl. Abb. 3.1).<br />

Im hohen Alter wird die Myelinschicht zum Teil<br />

wieder zurückgebildet. Bei bestimmten Alterserkrankungen<br />

(z. B. Alzheimer) spielt diese Reduktion<br />

eine ganz entscheidende Rolle. Denkprozesse laufen<br />

dadurch nicht nur verlangsamt ab, sondern verändern<br />

sich auch qualitativ, wenn der Abbau nicht in<br />

allen Regionen gleichmäßig verläuft.<br />

Die am Ende von Tabelle 3.2 ebenfalls aufgeführte<br />

Apoptose, der Zelltod von Neuronen, spielt unter<br />

normalen Umständen eine weitaus weniger wichtige<br />

Rolle für die Hirnreifung als die anderen bislang<br />

benannten Teilprozesse. Über das Leben verteilt verlieren<br />

wir etwa 7 % unseres Neuronenbestandes,<br />

wobei dieser Verlust angesichts der großen Überkapazität<br />

keine entscheidenden Folgen hat, wenn er<br />

sich gleichmäßig verteilt. Es gibt aber Bereiche in<br />

unserem Gehirn, wie etwa den Hippocampus, wo<br />

Neurone unter bestimmten schädigenden Umweltbedingungen<br />

(z. B. bei Dauerstress) besonders leicht<br />

zerstört werden, was nachhaltige Konsequenzen für<br />

die geistige Leistungsfähigkeit (hier: Gedächtnisund<br />

Lernleistungen) haben kann. Um diesem Problem<br />

zu begegnen, ist der Hippocampus eine der<br />

82 3 Was weiß man über die Reifung des Gehirns?


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

wenigen Regionen unseres Zentralnervensystems, in<br />

dem auch nach der Geburt noch neue Neurone<br />

gebildet werden können. Diese Fähigkeit zur Neubildung<br />

von Neuronen nimmt allerdings in der<br />

zweiten Hälfte des Lebens (ab ca. 40 Jahren) ab, so<br />

dass sich die Reparatur- und Kompensationsmöglichkeiten<br />

mit dem Alter verschlechtern. Dies ist vermutlich<br />

ein Grund dafür, warum ältere Menschen<br />

schwerer lernen und sich nicht so gut an neu Gelerntes<br />

erinnern können.<br />

3.4 Postnatale Gehirnentwicklung und<br />

interindividuelle Unterschiede<br />

Die postnatale Gehirnentwicklung ist zum Teil genetisch<br />

vorprogrammiert. Das gilt etwa für das Größenwachstum<br />

bestimmter Hirnareale, für die Lateralisierung<br />

einzelner kognitiver Funktionen, aber<br />

auch für den Grad der Vernetzung und der Myelinisierung<br />

lokaler neuronaler Strukturen. Diese genetischen<br />

Unterschiede sind zweifellos mit dafür verantwortlich,<br />

dass Eltern und ihre Kinder oft ähnliche<br />

Talente und Persönlichkeitseigenschaften aufweisen.<br />

Im Hinblick auf bestimmte neuronale Entwicklungsprozesse<br />

spielen jedoch auch Erfahrungen eine zentrale<br />

Rolle: Vereinfacht ausgedrückt kann man sagen,<br />

dass die Gene primär determinieren, wann und wo<br />

Spreading bzw. Pruning auftritt. In welchem Umfang<br />

Synapsen und Dendriten auf- bzw. abgebaut werden<br />

und welche Neurone konkret davon betroffen sind,<br />

hängt dagegen vor allem vom konkreten Input ab. So<br />

scheint beispielsweise die Seherfahrung vor Ende des<br />

ersten Lebensjahres für die Entwicklung der räumlichen<br />

Wahrnehmung von großer Bedeutung zu sein,<br />

weil in dieser Zeit die Verschaltung der Neuronen für<br />

das rechte und linke Auge im visuellen Cortex erfolgt.<br />

Für die Entwicklung der Sprachfähigkeiten muss insbesondere<br />

die Kindergarten- und frühe Grundschulzeit<br />

als relevant erachtet werden, weil in diesem Zeitraum<br />

das Spreading und Pruning im Broca-Areal<br />

stattfindet. Interindividuelle Unterschiede sind also<br />

stets das Produkt von Reifung und Erfahrung. Einen<br />

Überblick zu diesem Thema bieten Bailey, Bruer,<br />

Symons und Lichtman (2001).<br />

Denkanstöße<br />

Das Gehirn durchläuft eine rasante pränatale<br />

Entwicklung. Warum können vor dem<br />

Hintergrund dieser Erkenntnisse toxische<br />

Einflüsse (z. B. Alkohol, Nikotin, andere Drogen,<br />

Infektionen) gerade zu Beginn der<br />

Schwangerschaft besonders schwerwiegende<br />

Folgen für die kindliche Entwicklung haben?<br />

In vielen Bereichen der kognitiven und emotionalen<br />

Entwicklung spricht man von der<br />

frühen Kindheit als einer „sensiblen Phase“<br />

des Lernens und meint damit, dass die Erfahrungen,<br />

die man in dieser Zeit macht, prägende<br />

Wirkung haben. Die oben genannten<br />

Erkenntnisse lassen diese Hypothese grundsätzlich<br />

plausibel erscheinen. Warum?<br />

4 Zusammenfassung<br />

Der Beitrag beschäftigt sich mit den neurologischen<br />

Grundlagen von Entwicklung. Die Ausführungen<br />

sollen den Leser in die Lage versetzen, Korrespondenzen<br />

zwischen spezifischen Aspekten der Verhaltensentwicklung<br />

und Phasen der Hirnreifung in<br />

definierten Arealen zu verstehen. Dabei werden folgende<br />

Aspekte erörtert:<br />

Wie ist unser Gehirn aufgebaut? Anatomisch lässt<br />

sich das Gehirn zunächst in zwei große Abschnitte<br />

gliedern: das Großhirn und den Hirnstamm. Das<br />

Groß- oder Endhirn gliedert sich in vier Bereiche<br />

(Lappen) und ist vom Neocortex bedeckt. Weitere<br />

wichtige Strukturen des Großhirns sind das Corpus<br />

Callosum, das limbische System und die Basalganglien.<br />

Als Hirnstamm bezeichnet man zusammenfassend<br />

das Zwischen-, Mittel und Hinterhirn sowie<br />

das verlängerte Rückenmark. Die Hirnstamm-Abschnitte<br />

bestehen wiederum aus einzelnen Teilstrukturen.<br />

Auf einer funktionalen Ebene lassen sich Areale<br />

des Neocortex dahingehend beschreiben, welche<br />

Art von Informationen jeweils verarbeitet werden,<br />

und auf welcher hierarchischen Stufe die Verarbeitung<br />

erfolgt. Nervenzellen bilden die Bausteine<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

4 Zusammenfassung 83


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 3<br />

Neurologische<br />

Grundlagen<br />

der einzelnen Gehirnbereiche. Jedes Neuron weist<br />

verschiedene Bestandteile (Dendriten, Zellkörper,<br />

Axon) auf, die auf die Aufnahme oder Weiterleitung<br />

von Informationen spezialisiert sind.<br />

Wie gewinnt man Daten zur Gehirnentwicklung?<br />

Verschiedene Methoden vermitteln Erkenntnisse über<br />

den Aufbau und die Arbeitsweise des Gehirns. Während<br />

Gehirnschnitte und die Magnet-Resonanz-<br />

Tomographie (MRT) anatomische Veränderungen des<br />

sich entwickelnden Gehirns ermitteln können, erlauben<br />

moderne bildgebende Verfahren die Erfassung der<br />

Gehirnaktivität, während ein Proband verschiedene<br />

Aufgaben bearbeitet. Die funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie<br />

(fMRT), die Positronen-Emissions-Tomographie<br />

(PET) und die Nahinfrarot-Spektroskopie<br />

(NIRS) erfassen dabei neuronale Aktivität<br />

über Veränderungen des cerebralen Blutflusses. Die<br />

Elektro- und die Magnet-Encephalographie (EEG<br />

bzw. MEG) messen dagegen Auswirkungen von Veränderungen<br />

der neuronalen Aktivität, die sich an der<br />

Schädeloberfläche widerspiegeln. Jedes dieser Verfahren<br />

bietet gewisse Vor- und Nachteile, so dass die Eignung<br />

für entwicklungspsychologische Fragestellungen<br />

jeweils einzeln bewertet werden muss.<br />

Was weiß man über die Reifung des Gehirns? Die<br />

Entwicklung des Gehirns beginnt bereits in der<br />

zweiten Schwangerschaftswoche und setzt sich bis<br />

ins Erwachsenenalter fort. Vor der Geburt entstehen<br />

die zukünftigen Neurone durch Teilung von Stammzellen<br />

(Mitose) und wandern an ihren Bestimmungsort<br />

im Gehirn (Migration). Die Schichten des<br />

Neocortex bilden sich dabei von innen nach außen.<br />

Nach der Migration wachsen die Fortsätze der Neuronen<br />

(Dendriten und Axone), es bilden sich Verbindungen<br />

zwischen Neuronen (Synaptogenese)<br />

und die Axone werden teilweise mit einer Myelinschicht<br />

isoliert. Diese Prozesse dauern bis in die<br />

postnatale Zeit an. Hierbei laufen Auf- und Abbauprozesse<br />

gleichzeitig ab, was zu einer erfahrungsabhängigen<br />

Selektivität der gebildeten Verknüpfungen<br />

führt. Schädigende Einflüsse können die Entwicklung<br />

des zentralen Nervensystems bereits während<br />

der Schwangerschaft beeinträchtigen.<br />

Weiterführende Literatur<br />

Nelson, C.A. & Luciana, M. (Eds.). (2001). Handbook of developmental<br />

cognitive neuroscience. Cambridge: Bradford Book.<br />

Präsentiert Erkenntnisse zum Zusammenhang von entwicklungsbedingten<br />

Veränderungen des Verhaltens und der zugrundeliegenden<br />

neuronalen Strukturen in Bereichen wie Sehen, Hören,<br />

Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache, Temperament, Motorik<br />

oder neuronale Plastizität.<br />

de Haan, M. & Johnson, M.H. (Eds.). (2003). The cognitive neuroscience<br />

of development. Hove: Psychology Press.<br />

Bietet einen umfassenden Überblick über aktuelle Forschungsfragen<br />

an der Schnittstelle zwischen <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

und kognitiven Neurowissenschaften.<br />

Bailey, D.B., Bruer, J.T., Symons, F.J., & Lichtman, J.W. (Eds.). (2001).<br />

Critical thinking about critical periods. Baltimore, MD: Paul H<br />

Brookes Publishing.<br />

Enthält eine kritische Diskussion über die Annahme von „sensiblen<br />

Phasen“ in der frühen Gehirnentwicklung und deren Auswirkungen<br />

auf verschiedene Verhaltensbereiche.<br />

Johnson, M.H. & Munakata, Y. (2005). Processes of change in brain<br />

and cognitive development. Trends in Cognitive Sciences, 9 (3),<br />

152–158.<br />

Erläutert Zusammenhänge zwischen neuronalen Veränderungen<br />

und der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten.<br />

84 4 Zusammenfassung


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 4<br />

Kultur, Ökologie und Entwicklung<br />

Rolf <strong>Oerter</strong><br />

Kapitel 4<br />

Kultur, Ökologie<br />

und Entwicklung<br />

Uri Bronfenbrenner (1978) stellte in den 70er Jahren<br />

provokativ fest: „<strong>Entwicklungspsychologie</strong> ist die<br />

Wissenschaft fremdartigen Verhaltens von Kindern<br />

in fremden Situationen mit fremden Erwachsenen<br />

in kürzestmöglichen Zeitabschnitten“ (S. 33). Es ist<br />

eben einfacher und griffiger, menschliche Entwicklung<br />

„für sich“ zu untersuchen und zu beschreiben.<br />

Der Mensch wird dabei als selbstregulierendes System<br />

aufgefasst, das mit beliebigen äußeren Reizen fertig zu<br />

werden hat. Auch vom Augenschein her präsentiert<br />

sich uns der Mensch als wohlabgegrenztes, für sich<br />

existierendes Lebewesen. Nun zeigt aber schon die<br />

Biologie, dass Lebewesen mit ihrer Umwelt in Symbiose<br />

leben. Das Ökosystem eines Lebewesens ist keineswegs<br />

beliebig. Es enthält genau die Bedingungen,<br />

die für die Erhaltung des Individuums wie der Art<br />

erforderlich sind. Umgekehrt trägt das Lebewesen<br />

zur Erhaltung des Ökosystems bei, seine Ausrottung<br />

bedroht zugleich die Umwelt. Dass auch Menschen in<br />

einem solchen biologischen Ökosystem leben, zeigt<br />

sich heute angesichts der Bedrohung dieses Systems<br />

durch den Menschen selbst besonders deutlich.<br />

Bestandteile des Ökosystems. Menschliche Ökosysteme<br />

umfassen aber mehr als biologische Lebensbedingungen.<br />

Zu ihnen gehören<br />

die in einer Kultur erzeugten materiellen Gegenstände<br />

wie Häuser, Möbel und Werkzeuge,<br />

die Regeln des Zusammenlebens,<br />

die impliziten oder expliziten Handlungsvorschriften,<br />

die in der Kultur für menschliche Entwicklung<br />

vorgesehenen Einrichtungen wie Familie und<br />

Schule,<br />

soziale Partner und soziale Gruppen und<br />

das ganze gesellschaftliche System, in das ein<br />

Individuum eingebettet ist.<br />

Diese Komponenten der menschlichen Lebenswelt<br />

sind Bestandteile einer räumlich-materiellen Umwelt,<br />

die in der Sozialpsychologie und dem Interaktionismus<br />

einbezogen und zu einer ökologischen<br />

bzw. ökopsychologischen Betrachtungsweise weitergeführt<br />

wurden.<br />

Wirkung und Wechsel des Ökosystems. Für die<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong> erscheint die ökologische<br />

Perspektive unentbehrlich, wenn man sich zwei<br />

Sachverhalte vergegenwärtigt. Erstens ist die Beschreibung<br />

und das Verständnis früher Entwicklung<br />

ohne die Wirkung des Ökosystems nicht möglich,<br />

denn das Ökosystem gewährleistet erst die biologische<br />

und psychosoziale Entwicklung. Kapitel 4<br />

wird darlegen, wie die beteiligten Partner, vor<br />

allem Mutter, Vater und Kind, in Wechselbeziehung<br />

zueinander stehen und welche Rolle der Gegenstands-<br />

und Umweltbezug mit zunehmendem Alter<br />

spielt.<br />

Zweitens wechseln die Umwelten im Laufe der<br />

Entwicklung beträchtlich. Das Kind verlässt den<br />

Lebensraum Familie und gelangt in die neue Umwelt<br />

Schule. Später werden die Gruppe der Gleichaltrigen<br />

und die Lebensräume, in denen sie agiert,<br />

immer wichtiger (s. Kap. 6 und 7). Der Eintritt ins<br />

Berufsleben bringt erneut einen Umweltwechsel<br />

großen Ausmaßes mit sich, und die Gründung einer<br />

Familie (mit oder ohne formelle Eheschließung)<br />

fügt ein weiteres Ökosystem hinzu. Der Lebensraum<br />

im höheren Alter ist demgegenüber oft eingeengt<br />

oder zu wenig an die Handlungsmöglichkeiten älterer<br />

Menschen angepasst.<br />

Daher spricht Bronfenbrenner (1979) bei der<br />

menschlichen Entwicklung vom sich verändernden<br />

Individuum in einer sich wandelnden Umwelt.<br />

Kultur, Ökologie und Entwicklung 85


© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />

Kapitel 4<br />

Kultur, Ökologie<br />

und Entwicklung<br />

die Hausaufgaben fertig hat, darf es zum Spielen. Im<br />

Lebensraum des Kindes ist die physikalische Anordnung<br />

des Zimmers, Wohnhauses und Spielplatzes<br />

repräsentiert. Wesentlich ist dabei die subjektive<br />

Bedeutung physikalischer Räume. Der Spielplatz ist<br />

attraktiv und besitzt (in der Terminologie von Kurt<br />

Lewin) hohe positive Valenz. Die Hausaufgabe und<br />

mit ihr die materiellen Gegenstände Schulheft,<br />

Schulbuch und Arbeitszimmer besitzen negative<br />

Valenz. Sie sind eine „Barriere“ zwischen der eigenen<br />

Person und dem Spielplatz. Um zum Spielplatz zu<br />

gelangen, muss die Barriere überwunden, also die<br />

Hausaufgabe erledigt werden.<br />

Abbildung 4.1. Uri Bronfenbrenner (1917–2005)<br />

Definition<br />

Der Lebensraum im Sinne von Lewin ist also<br />

keine rein subjektive Konstruktion, sondern<br />

basiert auf objektiven Gegebenheiten. Der<br />

physikalische und soziale Raum wird zum<br />

Lebensraum durch die subjektive Bedeutung,<br />

die seine Komponenten erhalten. Handeln ist<br />

für Lewin ein Sich-Umherbewegen (Lokomotion)<br />

im Lebensraum.<br />

1 Lebensraum, Setting, ökologisches<br />

System<br />

Wir beginnen mit zwei Begriffen, die auch historisch<br />

das ökologische Verständnis menschlicher Entwicklung<br />

eingeleitet haben, dem Begriff des Lebensraumes<br />

(Lewin, 1936) und dem des Settings (Barker,<br />

1968). Lebensraum akzentuiert stärker die subjektive<br />

Bedeutung, die Umwelt im menschlichen Leben<br />

besitzt, während Setting stärker objektive Aspekte<br />

berücksichtigt, indem es alle Beteiligten eines Umweltausschnittes<br />

gleichberechtigt behandelt.<br />

1.1 Lebensraum<br />

Ein Kind sitzt bei der Hausaufgabe und blickt sehnsüchtig<br />

aus dem Fenster hinunter auf den Spielplatz,<br />

wo sich die Kameraden tummeln. Aber erst wenn es<br />

Wechsel des Lebensraums. Ebenso kann auch Entwicklung<br />

als Sich-Fortbewegen von einer Region in<br />

eine andere aufgefasst werden. Das Kind bewegt sich<br />

aus dem Lebensraum Familie in den Lebensraum<br />

Schule, der Jugendliche später in den Lebensraum<br />

Beruf und Arbeit. Gleichzeitig verlässt er den bisherigen<br />

Lebensraum der Familie gänzlich und gründet<br />

als Erwachsener eine eigene Familie, d. h., er baut<br />

einen neuen Lebensraum auf, was auch mit räumlich-materiellen<br />

Aspekten viel zu tun hat (Wohnungssuche,<br />

Wohnungseinrichtung, Umgestaltung<br />

der Wohnung bei der Ankunft des ersten Kindes;<br />

s. Kap. 4 und 7).<br />

Ausdifferenzierung. Lewin (1946) beschreibt diese<br />

menschliche Entwicklung auch als Ausdifferenzierung<br />

des Lebensraums selbst. Besteht dieser anfangs<br />

nur aus wenigen Regionen, die überdies ineinander<br />

übergehen, so vermehren sich die Regionen mit<br />

zunehmendem Alter bzw. fortschreitender Entwicklung;<br />

manche werden scharf voneinander geschie-<br />

86 1 Lebensraum, Setting, ökologisches System


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Kapitel 4<br />

Kultur, Ökologie<br />

und Entwicklung<br />

Abbildung 4.2. Die Differenzierung des Lebensraums in verschiedenen Stadien der Individualentwicklung unter<br />

Berücksichtigung verschiedener Abschnitte der Zeitperspektive (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) und zweier<br />

Realitätsebenen (Realität vs. Irrealität). Unter (a) ist der Lebensraum eines jüngeren Kindes dargestellt, unter (b) der<br />

Lebensraum eines älteren Kindes. Dieser weist in dreierlei Hinsicht einen größeren Differenzierungsgrad auf: hinsichtlich<br />

(1) der Anzahl der Umweltbereiche, (2) der Spannweite der Zeitperspektive und (3) der Abgehobenheit von<br />

Realitäts- und Irrealitätsebene (nach Lewin, 1946, S. 798). K = Kind; R = Realitätsebene; I = Irrealitätsebene; ps.<br />

Vg. = psychologische Vergangenheit; ps. Gg. = psychologische Gegenwart; ps. Zk. = psychologische Zukunft (Heckhausen,<br />

1980, S. 193)<br />

den, andere sind weniger klar getrennt. Abbildung<br />

4.2 zeigt den Lebensraum eines jüngeren und eines<br />

älteren Kindes.<br />