Entwicklungspsychologie - Oerter
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© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:02
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<strong>Oerter</strong> . Montada (Hrsg.)<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong>
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Rolf <strong>Oerter</strong> . Leo Montada (Hrsg.)<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
6., vollständig überarbeitete Auflage
Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)<br />
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Anschrift der Herausgeber:<br />
Prof. Dr. Rolf <strong>Oerter</strong><br />
Universität München<br />
Fakultät für Psychologie und Pädagogik<br />
Leopoldstr. 13<br />
D-80802 München<br />
Prof. Dr. Leo Montada<br />
Universität Trier<br />
FB Psychologie<br />
Tarforst, Gebäude D<br />
D-54286 Trier<br />
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen<br />
Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch<br />
seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für<br />
Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.<br />
Haftungshinweis: Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer<br />
Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich.<br />
6., vollständig überarbeitete Auflage 2008<br />
1. Auflage 1982, Urban & Schwarzenberg, München<br />
2., neubearbeitete Auflage 1987, Psychologie Verlags Union, München<br />
3., vollständig überarbeitete Auflage 1995, Psychologie Verlags Union, Weinheim<br />
4., korrigierte Auflage 1998, Psychologie Verlags Union, Weinheim<br />
5., vollständig überarbeitete Auflage 2002, Psychologie Verlags Union, Weinheim<br />
© Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2008<br />
Programm PVU, Psychologie Verlags Union<br />
http://www.beltz.de<br />
Lektorat: Kerstin Barton, Matthias Reiss, Sigrid Weber, Ines Heinen, Reiner Klähn<br />
Herstellung: Anja Renz<br />
Umschlaggestaltung: Federico Luci, Odenthal<br />
Umschlagbild: Paul Klee, Neue Harmonie, 1936, 24; Ölfarbe auf Leinwand, 93¥66 cm,<br />
Solomon R. Guggenheim Museum, New York<br />
© VG BILD-KUNST, Bonn 2007<br />
Satz: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza<br />
e-book<br />
ISBN 978-3-621-27847-8
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Vorwort<br />
Schon die erste Auflage des Lehrbuchs „<strong>Entwicklungspsychologie</strong>“<br />
im Jahre 1982 fand in kurzer Zeit<br />
weite Verbreitung. Das Werk blieb seither als Standardwerk<br />
etabliert und akzeptiert, weil in jeder<br />
neuen Auflage die neueste Forschungsliteratur eingearbeitet<br />
wurde und sicher auch weil neue anregende<br />
und übersichtliche Darstellungsformen gefunden<br />
wurden.<br />
Bei dem enormen Wachstum entwicklungspsychologischer<br />
Forschungen stellte sich immer aufs<br />
Neue das Problem der Auswahl der Themenfelder.<br />
Auch in dieser Auflage standen Herausgeber und<br />
Verlag vor dem Problem der Auswahl. Außer neuen<br />
Forschungen, etwa aus den Neurowissenschaften,<br />
mussten wichtige Themen in aktuellen öffentlichen<br />
Debatten angemessen repräsentiert sein, so etwa<br />
Erziehung und Entwicklungsförderung in Familien<br />
unterschiedlicher Struktur, Frühförderung, Schulleistungen<br />
und -versagen, Förderung von Hochbegabungen,<br />
Integration von Migranten, antisoziales<br />
Verhalten, Umgang mit Medien, produktives Leben<br />
im Alter. Die erforderlichen Kürzungen haben wir<br />
möglichst auf solche Themenfelder begrenzt, die in<br />
anderen Lehrbüchern ausführlich behandelt sind.<br />
Entsprechende Verweise finden die Leser an vielen<br />
Textstellen.<br />
Die vorliegende sechste Auflage ist die letzte unter<br />
unserer Herausgeberschaft. Wir freuen uns, dass<br />
Ulman Lindenberger und Wolfgang Schneider als<br />
Herausgeber der nächsten Auflage gewonnen werden<br />
konnten.<br />
Die Grundstruktur des Buches wurde beibehalten.<br />
Im ersten Teil sind allgemeine Fragestellungen,<br />
Konzepte und Theorien behandelt, ergänzt nun um<br />
neurowissenschaftliche Erkenntnisse, fokussiert auf<br />
die embryonale und frühkindliche Entwicklung –<br />
weitere neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse<br />
sind in anderen Kapiteln behandelt. Wie bisher<br />
sind der verhaltensgenetischen und der kulturvergleichenden<br />
und sozioökologischen Forschung eigene<br />
Kapitel gewidmet. Dieser Teil wird abgeschlossen<br />
durch einen Überblick über die Sozialisation und<br />
Entwicklung im Kontext Familie.<br />
Der zweite Teil enthält integrative Übersichten<br />
der Entwicklungen in vielen Feldern über den gesamten<br />
Lebensverlauf von der vorgeburtlichen und<br />
frühkindlichen Entwicklung bis ins hohe Alter, darunter<br />
ein ausführliches Kapitel über das frühe<br />
Erwachsenenalter, die Lebensphase der Mehrzahl<br />
der Studierenden. Dieser Teil informiert ausführlich<br />
über die typischen Entwicklungsveränderungen und<br />
über Probleme in den verschiedenen Lebensabschnitten,<br />
über altersspezifische Entwicklungsaufgaben,<br />
relevante Einflussfaktoren sowie über historischen<br />
Wandel.<br />
Im dritten Teil werden die Entwicklungen einzelner<br />
Leistungs- und Funktionsbereiche behandelt.<br />
Das sind klassische Themen von der Entwicklung<br />
von Wahrnehmung und Psychomotorik, des Erkennens<br />
und Denkens, des Gedächtnisses, der Sprache,<br />
der Tätigkeitsregulationen durch Emotionen, Motivationen<br />
und Volition, der moralischen Entwicklung<br />
und Sozialisation, der Entwicklung der Geschlechtsidentität<br />
bis zur Persönlichkeits- und Selbstentwicklung.<br />
In diesem Teil ist auch ein Kapitel über die<br />
Entwicklung von Religiosität und Spiritualität enthalten.<br />
Der vierte Teil ist einzelnen Problemfeldern der<br />
psychologischen Praxis gewidmet. Sie erstrecken<br />
sich über den gesamten Lebenslauf und behandeln<br />
Probleme und Förderungsanregungen von der frühen<br />
Kindheit bis ins Alter.<br />
Auch in der sechsten Auflage sind also die Wissensgrundlagen<br />
für viele Praxisfelder anhand vieler<br />
Problemfälle aufbereitet, und zwar in einer theoretisch<br />
modernen systemischen, differentiell-psychologischen<br />
Betrachtungsweise.<br />
Das vorliegende Werk geht als „Einführung“ weit<br />
über die Vermittlung eines Grundwissens für Studienanfänger<br />
hinaus und bietet vertieftes Wissen<br />
Vorwort<br />
V
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sowie Informationen zu aktuellen Forschungsbefunden,<br />
so dass dieses Lehrbuch auch als Nachschlagewerk<br />
dienen kann. Es bietet in noch größerem<br />
Umfang als bei früheren Auflagen Befunde aus dem<br />
deutschsprachigen Raum und wird auf diese Weise<br />
der aktuellen Situation und den Problemlagen, mit<br />
denen die Studierenden konfrontiert werden, in<br />
besonderem Maße gerecht.<br />
In der neuen Auflage wurden über die bewährte<br />
Darstellungsformate hinaus einige neue didaktische<br />
Elemente aufgenommen. Denkanstöße und knifflige<br />
Fragen in jedem Kapitel fordern zum Nach-, Querund<br />
Weiterdenken auf. Zentrale Botschaften sind als<br />
Quintessenzen gefasst. Neu ist auch ein Glossar mit<br />
vielen wichtigen Begriffen, die in verschiedenen<br />
Kapiteln verwendet werden. Die Verweise auf weiterführende<br />
Literatur sind durchgängig kurz kommentiert.<br />
Dem Buch ist eine CD-ROM beigefügt mit<br />
Informationen, Definitionen, Zusammenfassungen<br />
und Fragen.<br />
Wir sind zuversichtlich, dass die Leserinnen und<br />
Leser das Buch nicht nur mit Gewinn an Problembewusstsein,<br />
Erkenntnissen, Ideen und Wissen für<br />
praktisches Handeln studieren, sondern dass auch<br />
die gewählten Darstellungsformate Freude machen<br />
werden.<br />
München und Konstanz, im Oktober 2007<br />
Rolf <strong>Oerter</strong><br />
Leo Montada<br />
VI<br />
Vorwort
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Inhalt<br />
Vorwort<br />
V<br />
Teil I<br />
Grundlagen der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 1<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte, Perspektiven 3<br />
Leo Montada<br />
1 Konzeptionen der Entwicklung 3<br />
1.1 Entwicklung als allgemeine Abfolge von Phasen oder Stufen 3<br />
1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 5<br />
1.2.1 Erweiterungen des Entwicklungsbegriffs 5<br />
1.2.2 Der Einfluss der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> der Lebensspanne 6<br />
1.2.3 Neue Kernannahmen in Forschung und Theorienbildung 9<br />
1.3 Gegenstandsbestimmung aus dem Bedarf an <strong>Entwicklungspsychologie</strong> in Praxisfeldern 14<br />
1.3.1 Orientierung über den Lebenslauf 14<br />
1.3.2 Prognose der Ausprägung und Veränderung von Personmerkmalen 15<br />
1.3.3 Ermittlung von Entwicklungsbedingungen 16<br />
1.3.4 Begründung von Entwicklungszielen 16<br />
1.3.5 Planung und Evaluation von Entwicklungsinterventionen 16<br />
1.4 Eine Arbeitsdefinition von Entwicklung 17<br />
1.4.1 Das Lebensalter ist eine sinnvolle Dimension zur Registrierung dieser Veränderungen 17<br />
1.4.2 Dauerhafte oder nachhaltig wirkende Veränderungen 18<br />
1.4.3 Suche nach Kontinuitäten 18<br />
2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll? 19<br />
2.1 Erfassung der Entwicklungsumwelt 19<br />
2.2 Erfassung von Erbunterschieden 20<br />
2.2.1 Chromosomale Besonderheiten 20<br />
2.2.2 Passung in ein Erbgangsmodell 20<br />
2.2.3 „Reinzüchtung“: Wie wirkt sich die Merkmalsähnlichkeit von Eltern aus? 21<br />
2.2.4 Populationsgenetische Analysen 21<br />
3 Weitere Erklärungskonzeptionen 28<br />
3.1 Reifung 28<br />
3.2 Reifestand und sensible Periode 29<br />
3.3 Das Modell der sukzessiven Konstruktion 32<br />
3.4 Entwicklung als Sozialisation 33<br />
3.5 Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse 36<br />
3.5.1 Altersnormierte Krisen 37<br />
3.5.2 Entwicklungsaufgaben 38<br />
Inhalt<br />
VII
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3.5.3 Kritische Lebensereignisse 39<br />
3.5.4 Folgerungen für die Entwicklungsberatung 40<br />
4 Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung 40<br />
4.1 Absolute Stabilität 41<br />
4.2 Normative Stabilität oder Positionsstabilität 42<br />
4.3 Entwicklung als Stabilisierung interindividueller Unterschiede 42<br />
4.4 Probleme des Nachweises der Stabilität von Eigenschaften und Fähigkeiten 43<br />
4.5 Kontinuität als Wirkung von Dispositionen, Kompetenzen und Selbstkonzept 44<br />
4.6 Aleatorische Entwicklungsmomente und aktionale Entwicklungsmodelle 46<br />
5 Zusammenfassung 46<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie und Genetik der Entwicklung 49<br />
Jens B. Asendorpf<br />
1 Evolutionspsychologie der Entwicklung 50<br />
1.1 Allgemeine Prinzipien der Evolutionspsychologie 50<br />
1.2 Verhaltensatavismen 52<br />
1.3 Entwicklung der sexuellen Orientierung 54<br />
1.4 Bedingungen und Konsequenzen väterlicher Fürsorge 56<br />
2 Entwicklungsgenetik 58<br />
2.1 Allgemeine Prinzipien der Entwicklungsgenetik 58<br />
2.2 Genetischer Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede 59<br />
2.3 Schätzungen des genetischen Einflusses 60<br />
2.4 Kovariation und Interaktion von genetischen und Umweltunterschieden 62<br />
3 Zusammenfassung 65<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische Grundlagen der Entwicklung 67<br />
Sabina Pauen . Birgit Elsner<br />
1 Wie ist unser Gehirn aufgebaut? 67<br />
1.1 Anatomie des Großhirns 67<br />
1.2 Anatomie des Hirnstamms 68<br />
1.3 Funktionale Beschreibung des Gehirns 70<br />
1.4 Neuronen als Bausteine des zentralen Nervensystems 71<br />
2 Wie gewinnt man Daten zur Gehirnentwicklung? 73<br />
3 Was weiß man über die Reifung des Gehirns? 76<br />
3.1 Gehirnentwicklung vor der Geburt 76<br />
3.1.1 Mitose und Migration 77<br />
3.1.2 Die Entstehung des Neocortex 77<br />
3.1.3 Wachstum von Axonen, Dendritenbildung und Synaptogenese 79<br />
VIII<br />
Inhalt
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3.2 Störungen der pränatalen Gehirnentwicklung 80<br />
3.3 Gehirnentwicklung nach der Geburt 80<br />
3.3.1 Dendritenbildung und Synaptogenese 81<br />
3.3.2 Myelinisierung und Apoptose 82<br />
3.4 Postnatale Gehirnentwicklung und interindividuelle Unterschiede 83<br />
4 Zusammenfassung 83<br />
Kapitel 4<br />
Kultur, Ökologie und Entwicklung 85<br />
Rolf <strong>Oerter</strong><br />
1 Lebensraum, Setting, ökologisches System 86<br />
1.1 Lebensraum 86<br />
1.2 Setting 88<br />
1.3 Ökologische Systeme 88<br />
2 Kultur und Entwicklung 90<br />
2.1 Zum Kulturbegriff 90<br />
2.2 Enkulturation und Akkulturation 91<br />
2.3 Die kulturhistorische Schule 92<br />
2.4 Weitere Theorien zu Kultur und Entwicklung 94<br />
2.5 Zwei hilfreiche Konzepte zur Verbindung von Kultur und Entwicklung 95<br />
2.5.1 Die Entwicklungsnische 95<br />
2.5.2 Die Zone nächster Entwicklung 96<br />
2.6 Entwicklung als Aufbau von Gegenstandsbezügen 97<br />
2.6.1 Entwicklung als Herstellung von Isomorphie zwischen Kultur und Individuum 97<br />
2.6.2 Austauschprozesse zwischen kultureller Umwelt und Individuum 99<br />
3 Kulturelle und ökologische Bedingungsfaktoren bei der Entwicklung des Menschen 101<br />
3.1 Kulturelle Universalien in der frühkindlichen Entwicklung 101<br />
3.2 Universalien bei intuitiven Theorien: Das Beispiel intuitive Biologie 102<br />
3.3 Kulturelle Besonderheiten 104<br />
3.3.1 Frühe Kindheit 104<br />
3.3.2 Spätere Entwicklung 106<br />
3.3.3 Ethnotheorien 108<br />
3.4 Der Aufbau kultureller Identität 110<br />
3.5 Das Zusammenspiel verschiedener Kontexte und Systeme in der Entwicklung 112<br />
3.5.1 Natürliche Experimente, die die Geschichte veranstaltete 112<br />
3.5.2 Minoritäten 114<br />
4 Zusammenfassung 115<br />
Inhalt<br />
IX
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Kapitel 5<br />
Sozialisation und Erziehung im Kontext der Familie 117<br />
Klaus A. Schneewind<br />
1 Sozialisation und Erziehung in theoretischer Sicht 117<br />
2 Die familienpsychologische Perspektive von Familienentwicklung 120<br />
3 Theoretische Aspekte einer Psychologie der Familienentwicklung 122<br />
3.1 Familiensystemtheorie 122<br />
3.2 Familienentwicklungstheorie 123<br />
3.3 Familienstresstheorie 125<br />
3.4 Integratives Systemmodell der Familienentwicklung 125<br />
4 Entwicklung von Familienbeziehungen 127<br />
4.1 Entwicklung von Paarbeziehungen 127<br />
4.1.1 Phasen und Aufgaben der Paarentwicklung 128<br />
4.1.2 Gelingende und misslingende Paarbeziehungen 129<br />
4.1.3 Paarbeziehungstypen 131<br />
4.2 Entwicklung von Eltern-Kind-Beziehungen 132<br />
4.2.1 Eltern als Interaktionspartner 132<br />
4.2.2 Eltern als Erzieher 134<br />
4.2.3 Eltern als Arrangeure von Entwicklungsgelegenheiten 136<br />
5 Beziehungen zwischen Beziehungen 138<br />
5.1 Intergenerationale Transmission von Eltern-Kind-Beziehungen 139<br />
5.2 Beziehungen zwischen dem Paar- und dem Eltern-Kind-Subsystem 139<br />
6 Entwicklung durch Intervention in Paar- und Familiensystemen 140<br />
6.1 Entwicklungsförderliche Stärkung von Paarbeziehungen 141<br />
6.2 Entwicklungsförderliche Stärkung von Elternkompetenzen 142<br />
6.3 Familiale Entwicklungsintervention als Public-Health-Aufgabe 143<br />
7 Zusammenfassung 144<br />
Teil II<br />
Entwicklungen in einzelnen Lebensabschnitten 147<br />
Kapitel 6<br />
Vorgeburtliche Entwicklung und frühe Kindheit 149<br />
Hellgard Rauh<br />
1 Perspektiven auf die frühe Entwicklungszeit 149<br />
2 Soziokulturelle und familiäre Rahmenbedingungen 149<br />
3 Vorgeburtliche Entwicklung 150<br />
3.1 Entwicklung des zentralen Nervensystems 151<br />
3.2 Motorische Verhaltensentwicklung des Fötus 153<br />
X<br />
Inhalt
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3.3 Geschlechtsdifferenzierung des Fötus 154<br />
3.4 Vorgeburtliche Risiken 154<br />
3.5 Frühgeburt 155<br />
3.6 Modellvorstellungen über vorgeburtliche Entwicklungsfaktoren 156<br />
3.7 Prognosen aufgrund der vorgeburtlichen Entwicklung 157<br />
3.8 Quintessenz aus der vorgeburtlichen Zeit und Entwicklungsübergang<br />
in die Neugeborenenzeit 158<br />
4 Die Neugeborenenzeit 159<br />
4.1 Veränderungen in der Geburtspraxis 159<br />
4.2 Zwei psychologische Fragen zur Geburt 159<br />
4.2.1 Gibt es ein Trauma der Geburt? 159<br />
4.2.2 Wie entsteht die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind? 159<br />
4.3 Psychologische Kompetenzen und Bedürfnisse des Neugeborenen 160<br />
4.3.1 Frühe Verhaltensorganisation und erste Regulationsleistungen 161<br />
4.3.2 Motorisches und sensorisches Verhaltensrepertoire in den ersten Lebenswochen 164<br />
4.3.3 Sinnesrepertoire des Neugeborenen 167<br />
4.3.4 Soziale Interaktion und Kommunikation in den ersten Lebensmonaten 171<br />
4.3.5 Individuelle Unterschiede: Schreien und Irritabilität 177<br />
4.4 Quintessenz aus der Neugeborenenzeit und Entwicklungsübergang<br />
in die eigentliche Säuglingszeit 178<br />
5 Der kompetente Säugling (ca. 4–12 Monate) 180<br />
5.1 Körperliche und motorische Veränderungen 180<br />
5.1.1 Übersicht 180<br />
5.1.2 Greifentwicklung als Modell für psychologische Entwicklung 182<br />
5.2 Neurologische und kognitive Veränderungen 184<br />
5.3 Lernen, Informationsverarbeitung und Gedächtnis im ersten Lebensjahr 186<br />
5.3.1 Indikatoren für Unterscheiden und Lernen 186<br />
5.3.2 Lernen und Emotionen 188<br />
5.3.3 Individuelle Unterschiede und langfristige Vorhersagen 189<br />
5.4 Objektpermanenz 190<br />
5.4.1 Piagets Forschung und Theorie 190<br />
5.4.2 Neue Erkenntnisse und die Kritik an Piaget 190<br />
5.4.3 Objektpermanenz und die Art des Versteckens 193<br />
5.5 Das Weltbild des Säuglings 194<br />
5.5.1 Verstehen von Kausalität 195<br />
5.5.2 Intentionalität und Theory of Mind 196<br />
5.5.3 Kategorien und Dimensionen 198<br />
5.6 Sozialverhalten und Emotionen 199<br />
5.6.1 Gegenseitige Aufmerksamkeitsregulation 200<br />
5.6.2 Kommunikation 201<br />
5.6.3 Entwicklung des emotionalen Ausdrucksverhaltens 202<br />
Inhalt<br />
XI
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5.7 Elternverhalten 206<br />
5.7.1 Intuitives Elternverhalten 206<br />
5.7.2 Kindgerichtete Sprechweise 208<br />
5.7.3 Sensitivität 208<br />
5.8 Quintessenz aus der Säuglingszeit 209<br />
6 Das Kleinkind im zweiten Lebensjahr 210<br />
6.1 Laufenlernen als Problemlösen und Entwicklungsaufgabe 212<br />
6.2 Bindung und Bindungsqualität 213<br />
6.2.1 Der theoretische Ansatz von John Bowlby 213<br />
6.2.2 Entwicklungsverlauf der sozial-emotionalen Bindung 214<br />
6.2.3 Bindungsqualität 215<br />
6.2.4 Längsschnittliche Veränderungen und Vorhersagen aus der frühkindlichen<br />
Bindungsqualität 218<br />
6.2.5 Krippenbesuch und Bindungsqualität 218<br />
6.3 Trotzverhalten 219<br />
6.4 Die Entdeckung des Ich im Spiegel und Anfänge der sozialen Kognition 220<br />
6.5 Sozialisationsbereitschaft 221<br />
6.6 Quintessenz: Wie wichtig ist die frühe Kindheit für die weitere Persönlichkeitsentwicklung? 224<br />
Kapitel 7<br />
Kindheit 225<br />
Rolf <strong>Oerter</strong><br />
1 Kindheit als Erzeugnis der Kultur und Geschichte 225<br />
2 Persönlichkeitsentwicklung in der Kindheit 226<br />
2.1 Temperament und Persönlichkeit 226<br />
2.1.1 Temperamentsdimensionen 226<br />
2.1.2 Befunde zur Entwicklung des Temperaments 227<br />
2.1.3 Persönlichkeitsvariablen: Die großen Fünf 228<br />
2.2 Selbstkonzept und Selbstrepräsentation 230<br />
2.2.1 Begriff und Entwicklungsüberblick 230<br />
2.2.2 Komponenten und Stabilität des Selbstkonzeptes 231<br />
2.2.3 Selbstrepräsentation und Schule 232<br />
2.2.4 Kontrollüberzeugungen 233<br />
2.2.5 Versuch einer theoretischen Integration 235<br />
2.2.6 Selbstbild und Menschenbild 235<br />
3 Spiel und kindliche Entwicklung 236<br />
3.1 Zur Geschichte der Spielforschung 236<br />
3.2 Drei Merkmale des Spiels und drei Spieltheorien 237<br />
3.2.1 Drei Merkmale des Spiels 237<br />
3.2.2 Drei psychologische Theorien 237<br />
3.3 Entwicklung des Spiels 239<br />
3.3.1 Formen des Spiels und ihre Reihenfolge in der Entwicklung 239<br />
3.3.2 Das Symbolspiel 240<br />
XII<br />
Inhalt
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3.3.3 Die Entwicklung des Sozialspiels 242<br />
3.3.4 Das Regelspiel 243<br />
3.3.5 Die Zone nächster Entwicklung im Spiel 244<br />
3.4 Warum spielen Kinder? 245<br />
3.4.1 Aktivierungszirkel 246<br />
3.4.2 Intensiver Austausch mit der Umwelt: Aneignung und Vergegenständlichung 246<br />
3.4.3 Bewältigung spezifischer Probleme 247<br />
3.4.4 Entwicklungs- und Beziehungsthematiken 247<br />
3.4.5 Formen und Etappen von Realitätsbewältigung 248<br />
4 Schule als Umwelt 249<br />
4.1 Intelligenz und Schule 249<br />
4.1.1 Was ist Intelligenz? 249<br />
4.1.2 Wie wird Intelligenz gemessen? 249<br />
4.1.3 Zur Stabilität der Intelligenz 250<br />
4.1.4 Intelligenz, Schule und Gesellschaft 253<br />
4.1.5 Intelligenz und Geschwisterposition 254<br />
4.1.6 Der Flynn-Effekt: säkularer Intelligenzanstieg 254<br />
4.2 Die Wirkung der Schule auf die Entwicklung 255<br />
4.2.1 Dekontextualisierung und semantisches Gedächtnis 255<br />
4.2.2 Die Bedeutung des Schriftsprachenerwerbs 255<br />
4.2.3 Aussagenlogik 256<br />
5 Die Gleichaltrigen 257<br />
5.1 Soziale Kompetenz 258<br />
5.1.1 Die Identifikation mit der Gruppe 258<br />
5.1.2 Emotionale Regulierung und soziale Kompetenz 259<br />
5.2 Entwicklung von Freundschaften und des Freundschaftsverständnisses 260<br />
5.3 Prosoziales Verhalten: Das fürsorgliche Kind 261<br />
5.3.1 Entwicklung des prosozialen Verhaltens 261<br />
5.3.2 Modifizierende äußere und innere Faktoren 262<br />
5.4 Schikanieren (Bullying): Täter, Opfer und Teilnehmer 265<br />
5.5 Sozialer Vergleich, Wettbewerb und Kooperation 268<br />
6 Zusammenfassung 270<br />
Kapitel 8<br />
Jugendalter 271<br />
Rolf <strong>Oerter</strong> · Eva Dreher<br />
1 Konzepte, Theorien, Thematiken 271<br />
1.1 Jugend – zur Konstruktion einer Lebensphase 271<br />
1.1.1 Soziohistorische Konstruktion 271<br />
1.1.2 Jugend als Phänomen multidisziplinären Interesses 272<br />
1.1.3 Periodisierung des Jugendalters 272<br />
Inhalt<br />
XIII
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1.2 Adoleszenz im Wandel entwicklungsrelevanter Themen 273<br />
1.2.1 Trends entwicklungspsychologischer Jugendforschung 273<br />
1.2.2 Entwicklung als Fortschritt und Risiko 273<br />
1.3 Theorien der Adoleszenz 274<br />
1.3.1 Biogenetische Position 275<br />
1.3.2 Kulturanthropologischer Ansatz 275<br />
1.3.3 Psychodynamischer Ansatz: Anna Freud 276<br />
1.3.4 Theoretische Weiterentwicklung: Coping-Konzepte 277<br />
1.3.5 Psychosozialer Ansatz: Erik H. Erikson 277<br />
1.3.6 Dynamischer Interaktionismus 278<br />
1.4 Entwicklungsaufgaben im Jugendalter 279<br />
1.4.1 Zeitliche Dimensionierung 280<br />
1.4.2 Entwicklungsaufgabe als Konstrukt der Veränderung 283<br />
2 Kognitive Entwicklung 284<br />
2.1 Theorien kognitiver Entwicklung im Überblick 284<br />
2.1.1 Kognitive Strukturen 284<br />
2.1.2 Kognitive Prozesse 285<br />
2.1.3 Kognitive Ressourcen 286<br />
2.1.4 Bio-neuro-psychologische Aspekte 286<br />
2.2 Merkmale des Denkens im Jugendalter 286<br />
2.2.1 Formales Denken 287<br />
2.2.2 Relativistisches Denken 288<br />
2.2.3 Kritisches Denken 288<br />
2.2.4 Kognitive Funktionen der Informationsverarbeitung 288<br />
3 Körperliche und psychosexuelle Entwicklung 289<br />
3.1 Körperwachstum 290<br />
3.2 Geschlechtsreifung (biosexuelle Entwicklung) 291<br />
3.2.1 Körperliche Veränderungen bei der Geschlechtsreife 291<br />
3.2.2 Veränderungen im Hormonhaushalt 293<br />
3.2.3 Akzeleration und Retardierung 293<br />
3.3 Das Körperselbstbild bei Jugendlichen 296<br />
3.4 Sexuelle Orientierung und Sexualverhalten 297<br />
3.4.1 Drei Thesen der sexuellen Entwicklung: Beschleunigung, Annäherung<br />
und religiöser Einfluss 298<br />
3.4.2 Zur Relation zwischen Wissen und Verhalten 300<br />
3.4.3 Zur Prävention früher Sexualkontakte 301<br />
3.5. Schlafregulation im Jugendalter: zu wenig und zu spät 301<br />
3.5.1 Daten zur Schlafregulation im Jugendalter 301<br />
3.5.2 Umwelt oder Natur? Bio-physiologische Ursachen der Veränderung der Schlafregulation 302<br />
4 Identität: das zentrale Thema des Jugendalters 303<br />
4.1 Zum Begriff der Identität 303<br />
4.2 Die Struktur der Identität und ihre Veränderung im Jugendalter 304<br />
XIV<br />
Inhalt
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4.2.1 Wachsende Komplexität der Identität 304<br />
4.2.2 Die vier Formen des Identitätsstatus nach Marcia 305<br />
4.2.3 Untersuchungsbeispiele zur Identität als Struktur 306<br />
4.2.4 Erweiterung des Identitätsspektrums 307<br />
4.3 Bewusstsein und Identität 309<br />
4.3.1 Gehirnentwicklung und Bewusstsein 309<br />
4.3.2 Bewusstsein als regulierende Instanz 310<br />
4.3.3 Das komplexe Selbst: Identität als Geschichte 311<br />
4.3.4 Komplexes Selbst: Rollenvielfalt und Widersprüchlichkeit 311<br />
4.3.5 Selbstdiskrepanztheorie 312<br />
4.3.6 Menschenbild und Widersprüchlichkeit 313<br />
4.4 Identität und emotionale Entwicklung 314<br />
4.4.1 Jugend als Zeit intensiver Gefühlserfahrung 314<br />
4.4.2 Kompetenzen: Emotion und Identitätsbildung 315<br />
5 Jugendliche im Spannungsfeld verschiedener Umwelten 317<br />
5.1 Die Familie als Umwelt 318<br />
5.1.1 Die Transformation familiärer Beziehungen im Jugendalter 318<br />
5.1.2 Exosystem Beruf: Berufstätigkeit der Mutter 319<br />
5.2 Die Gleichaltrigen 321<br />
5.2.1 Die Funktion der Peergruppe 321<br />
5.2.2 Peergruppe und Subkultur 321<br />
5.2.3 Dominanz und Altruismus in der Peergruppe 323<br />
5.2.4 Peergruppe: Was ist das Besondere im Jugendalter? 324<br />
5.2.5 Freundschaften, soziale Netze und Cliquen 326<br />
5.2.6 Das Mesosystem Familie – Peergruppe 328<br />
5.3 Arbeit und Berufstätigkeit im Jugendalter 329<br />
5.3.1 Beruf als Umwelt für Jugendliche 329<br />
5.3.2 Valenzen von Arbeit und Beruf beim Jugendlichen 329<br />
5.3.3 Arbeit und Beruf als ökologischer Übergang 330<br />
6 Zusammenfassung 332<br />
Kapitel 9<br />
Entwicklungsaufgaben im frühen Erwachsenenalter 333<br />
Günter Krampen · Barbara Reichle<br />
1 Frühes Erwachsenenalter: Transitionskriterien und Entwicklungsprozesse 333<br />
1.1 Kriterien und Charakteristika des frühen Erwachsenenalters 333<br />
1.2 Differentielle Entwicklung im frühen Erwachsenenalter 335<br />
2 Der Übergang zum frühen Erwachsenenalter 338<br />
2.1 Ablösung von der Herkunftsfamilie 339<br />
2.2 Berufsausbildung und Berufseintritt 342<br />
Inhalt<br />
XV
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3 Intensivierung und Differenzierung sozialer Beziehungen sowie Verantwortlichkeiten 344<br />
3.1 Berufliche Entwicklung 346<br />
3.2 Partnerschaft und Sexualität 348<br />
3.3 Partnerschaft und erste Jahre der Elternschaft 354<br />
3.4 Alternative Lebensformen 360<br />
3.5 Freizeit, soziale Beziehungen, Ausbildung und Berufstätigkeit 360<br />
3.5.1 Zeitbudget junger Erwachsener 361<br />
3.5.2 Freizeitverhalten junger Erwachsener 363<br />
3.5.3 Soziale Teilhabe und Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung 363<br />
4 Zusammenfassung 364<br />
Kapitel 10<br />
Erwachsenenalter und Alter 366<br />
Ulman Lindenberger · Sabine Schaefer<br />
1 Entwicklung im Erwachsenenalter 366<br />
1.1 Die generelle Architektur des Lebensverlaufs 366<br />
1.1.1 Die Abnahme evolutionärer Selektionsvorteile mit dem Alter 367<br />
1.1.2 Die Zunahme des Bedarfs an Kultur mit dem Alter 367<br />
1.1.3 Abnahme des Wirkungsgrads von Kultur mit dem Alter 368<br />
1.2 Veränderungen in der relativen Ressourcenallokation 369<br />
1.3 Selektive Optimierung mit Kompensation 370<br />
2 Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter 372<br />
2.1 Zweikomponentenmodelle der intellektuellen Entwicklung 372<br />
2.1.1 Die Mechanik der Kognition 377<br />
2.1.2 Die Pragmatik der Kognition 378<br />
2.1.3 Mechanik und Pragmatik: Evolutionäre und ontogenetische Abhängigkeiten 380<br />
2.2 Relative Stabilität intellektueller Leistungen über die Lebensspanne 382<br />
2.2.1 Verhalten im Säuglingsalter als Prädiktor intellektueller Leistungsfähigkeit 382<br />
2.2.2 Relative Stabilität nach dem Säuglingsalter 383<br />
2.3 Heritabilität 384<br />
2.4 Fähigkeitsstruktur 385<br />
2.5 Historische und ontogenetische Plastizität 385<br />
2.5.1 Kohorteneffekte, Periodeneffekte und gesellschaftlicher Wandel 386<br />
2.5.2 Kognitive Intervention im Alter: Aktivierung des Lernpotentials 387<br />
2.5.3 Altersunterschiede in der Mechanik: Purifizierung der Messung 391<br />
2.6 Determinanten der mechanischen Entwicklung im Erwachsenenalter 392<br />
2.7 Das Dilemma behavioralen Alterns aus neurokognitiver Sicht 395<br />
3 Die Entwicklung von Selbst und Persönlichkeit im Erwachsenenalter 398<br />
3.1 Forschungstraditionen im Bereich von Selbst und Persönlichkeit 398<br />
3.2 Persönlichkeit im Erwachsenenalter 400<br />
3.2.1 Strukturelle Stabilität 401<br />
3.2.2 Relative Stabilität 401<br />
3.2.3 Niveaustabilität 401<br />
XVI<br />
Inhalt
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3.2.4 Profilstabilität 402<br />
3.2.5 Persönlichkeit und erfolgreiche Entwicklung 402<br />
3.2.6 Stabilität ist nicht alles 403<br />
3.3 Selbstkonzeptionen und Selbst-regulative Prozesse 404<br />
3.3.1 Plurale Selbst-Struktur 404<br />
3.3.2 Themen und Motive als Entwicklungsziele: Altersunterschiede in Auswahl 404<br />
und Priorisierung<br />
3.3.3 Soziale und temporale Vergleichsprozesse 405<br />
3.3.4 Bewältigungsverhalten (Coping) 406<br />
Teil III<br />
Entwicklung einzelner Funktionen 411<br />
Kapitel 11<br />
Entwicklung der Wahrnehmung und Psychomotorik 413<br />
Friedrich Wilkening · Horst Krist<br />
1 Riechen, Schmecken und die Hautsinne 414<br />
2 Hören 416<br />
3 Sehen 418<br />
3.1 Sehschärfe und Kontrastsensitivität 418<br />
3.2 Distanzwahrnehmung 419<br />
4 Form- und Objektwahrnehmung 423<br />
4.1 Visuelle Form- und Objektwahrnehmung 423<br />
4.2 Intermodale Wahrnehmung 424<br />
5 Auge-Hand-Koordination 426<br />
5.1 Entwicklung der Auge-Hand-Koordination im ersten Lebensjahr 426<br />
5.2 Weitere Entwicklung der Auge-Hand-Koordination 429<br />
6 Ganzheitliche und analytische Wahrnehmung 432<br />
7 Zusammenfassung 434<br />
Kapitel 12<br />
Entwicklung des Denkens 436<br />
Beate Sodian<br />
1 Piagets Theorie der Denkentwicklung 437<br />
1.1 Das sensumotorische Stadium 438<br />
1.2 Das voroperatorische Stadium 439<br />
1.3 Das konkret-operatorische Stadium (7 bis 12 Jahre) 442<br />
1.4 Das formal-operatorische Stadium (ab 12 Jahren) 443<br />
Inhalt<br />
XVII
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2 Kritik an Piaget: Die kognitiven Kompetenzen junger Kinder 443<br />
2.1 Der kompetente Säugling: Objektpermanenz 444<br />
2.2 Kognitive Kompetenzen im Vorschulalter 445<br />
2.2.1 Egozentrismus 446<br />
2.2.2 Kausales Denken 447<br />
3 Informationsverarbeitungsansätze 448<br />
3.1 Kapazität der Informationsverarbeitung und<br />
Neo-Piaget-Theorien der kognitiven Entwicklung 449<br />
3.2 Alternative Informationsverarbeitungstheorien 450<br />
3.3 Theorie dynamischer Systeme 451<br />
3.4 Entwicklung des Problemlösens und des schlussfolgernden Denkens 452<br />
3.5 Analoges Denken und Problemlösen 455<br />
3.6 Deduktives Denken 456<br />
3.7 Wissenschaftliches Denken 457<br />
3.8 Entwicklung schulischer Fähigkeiten 459<br />
3.8.1 Schriftspracherwerb 460<br />
3.8.2 Arithmetik 461<br />
4 Theorien der Entwicklung domänenspezifischen begrifflichen Wissens 462<br />
4.1 Numerisches Wissen 464<br />
4.2 Intuitive Physik 466<br />
4.2.1 Kernwissen 466<br />
4.2.2 Entwicklung physikalischen Wissens in der Kindheit 469<br />
4.2.3 Misskonzepte und Wissensdissoziationen 469<br />
4.2.4 Intuitive Theorien 470<br />
4.3 Intuitive Psychologie (Theory of Mind) 471<br />
4.3.1 Kernwissen 471<br />
4.3.2 Entwicklung der Theory of Mind im Altersbereich zwischen drei und fünf Jahren 473<br />
4.4 Intuitive Biologie 476<br />
5 Zusammenfassung 478<br />
Kapitel 13<br />
Entwicklung des Gedächtnisses bei Kindern und Jugendlichen 480<br />
Wolfgang Schneider · Gerhard Büttner<br />
1 Frühe Kindheit 480<br />
1.1 Gedächtnis bei Säuglingen und Kleinkindern 480<br />
1.2 Gedächtnis im Vorschulalter 483<br />
1.2.1 Entwicklung des Kurzzeitgedächtnisses 483<br />
1.2.2 Entwicklung des Langzeitgedächtnisses 484<br />
2 Gedächtnisentwicklung zwischen 5 und 15 Jahren 484<br />
2.1 „Determinanten“ des Gedächtnisses 484<br />
2.1.1 Gedächtniskapazität 484<br />
2.1.2 Gedächtnisstrategien 486<br />
XVIII<br />
Inhalt
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2.2 Wissen und Gedächtnis 490<br />
2.2.1 Inhaltswissen und Gedächtnis 490<br />
2.2.2 Metagedächtnis 492<br />
3 Neuere Forschungstrends 495<br />
3.1 Konsistenz und Stabilität von Gedächtnisleistungen 495<br />
3.2 Fuzzy-Trace-Theorie 496<br />
3.3 Langfristiges Vergessen und Erinnern 497<br />
3.4 Implizites vs. explizites Gedächtnis 497<br />
3.5 Autobiographisches Gedächtnis und Augenzeugen-Forschung 498<br />
3.5.1 Autobiographisches Gedächtnis 498<br />
3.5.2 Gedächtnisleistungen von Augenzeugen 499<br />
4 Zusammenfassung 501<br />
Kapitel 14<br />
Sprachentwicklung 502<br />
Sabine Weinert · Hannelore Grimm<br />
1 Sprache und Spracherwerbsaufgabe 502<br />
1.1 Komponenten der Sprache: Was muss das Kind erwerben? 502<br />
1.2 Spracherwerbsaufgabe: Fragen und ungelöste Probleme 504<br />
2 Die wichtigsten Meilensteine der Sprachentwicklung 505<br />
2.1 Phonologisch-prosodische Entwicklung 505<br />
2.1.1 Rezeptive phonologisch-prosodische Entwicklung 505<br />
2.1.2 Produktive phonologische Entwicklung: Von den Sprachlauten zur Wortproduktion 509<br />
2.2 Lexikalische Entwicklung 510<br />
2.2.1 Hauptschritte des Wortschatzerwerbs 510<br />
2.2.2 Übergeneralisierungen und Überdiskriminierungen 511<br />
2.2.3 Schneller Worterwerb für Objekte und Eigenschaften 511<br />
2.2.4 Schneller Erwerb von Verben 514<br />
2.2.5 Fazit: Drei Hauptphasen der lexikalischen Entwicklung 515<br />
2.3 Von den Wörtern zur Satzproduktion 515<br />
2.3.1 Zwei- und Dreiwortäußerungen 516<br />
2.3.2 Grammatikerwerb als konstruktiver Prozess 517<br />
2.4 Der Weg zur pragmatischen Kompetenz 520<br />
3 Das Erklärungsproblem 521<br />
4 Voraussetzungen und Bedingungen für einen erfolgreichen Spracherwerb 524<br />
4.1 Spracherwerb als biologisch fundierter, eigenständiger Phänomenbereich 524<br />
4.2 Kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs: Wirkungen und Rückwirkungen 526<br />
4.2.1 Kognitiv-konzeptuelle Entwicklung und Erwerb sprachlicher Bedeutungen 527<br />
4.2.2 Phonologische Gedächtnisfähigkeiten 527<br />
4.2.3 Implizite Lernfähigkeiten und Sensitivität gegenüber prosodischen Strukturen<br />
und korrelativen Zusammenhängen 528<br />
Inhalt<br />
XIX
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4.3 Sozial-kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs 529<br />
4.4 Sozial-kommunikative Voraussetzungen des Spracherwerbs 530<br />
5 Zusammenfassung 534<br />
Kapitel 15<br />
Tätigkeitsregulation und die Entwicklung von Motivation, Emotion, Volition 535<br />
Manfred Holodynski · Rolf <strong>Oerter</strong><br />
1 Theoretische Grundlegung 535<br />
1.1 Komponenten der Tätigkeitsregulation 535<br />
1.2 Voraussetzungen der Tätigkeitsregulation 536<br />
1.3 Systemebenen der Tätigkeitsregulation 537<br />
1.4 Kulturhistorische Entwicklungsbedingungen der Tätigkeitsregulation 539<br />
2 Die Entwicklung der Motivation: Interesse und Leistung 540<br />
2.1 Neugier und Interesse 540<br />
2.1.1 Entwicklungsfunktion von Neugier und Interesse 540<br />
2.1.2 Anfänge der Interessenbildung 542<br />
2.1.3 Vier Entwicklungswege der Interessenbildung 543<br />
2.1.4 Entwicklungsetappen der Interessenbildung 544<br />
2.2 Entwicklung der Leistungsmotivation 546<br />
2.2.1 Was ist Leistungsmotivation? 547<br />
2.2.2 Leistungsmotivation als Selbstbewertungssystem 547<br />
2.2.3 Entwicklungsphasen der Leistungsmotivation 550<br />
2.2.4 Bedingungen der Leistungsmotivationsgenese 553<br />
3 Emotionale Entwicklung 554<br />
3.1 Ontogenetischer Ausgangspunkt: Die Dominanz der interpersonalen Regulation 554<br />
3.2 Säuglings- und Kleinkindalter 555<br />
3.2.1 Entwicklung funktionstüchtiger Emotionen 555<br />
3.2.2 Entwicklung der emotionalen Eindrucksfähigkeit 558<br />
3.3 Kleinkind- und Vorschulalter: Die Entstehung<br />
der intrapersonalen emotionalen Handlungsregulation 558<br />
3.4 Die Entwicklung des Ausdrucks ab dem Vorschulalter 560<br />
3.4.1 Der Gebrauch des Ausdrucks als Display in der interpersonalen Regulation 560<br />
3.4.2 Die Internalisierung von Ausdruckszeichen in der intrapersonalen Regulation 561<br />
4 Die Entwicklung der Handlungs- und Emotionsregulation 562<br />
4.1 Volitionale Handlungsregulation 562<br />
4.1.1 Das Rubikonmodell der Handlungsphasen 562<br />
4.1.2 Sprechen als Mittel der volitionalen Handlungsregulation 563<br />
4.2 Entwicklung der reflexiven Emotionsregulation 565<br />
4.2.1 Emotionsregulationsstrategien 566<br />
4.2.2 Belohnungsaufschub und mentale Zeitreise 568<br />
4.2.3 Wie Kinder Emotionsregulationsstrategien lernen 569<br />
5 Zusammenfassung 570<br />
XX<br />
Inhalt
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Kapitel 16<br />
Moralische Entwicklung und Sozialisation 572<br />
Leo Montada<br />
1 Soziale Normen, Geltungsbegründungen, Normenkonflikte 572<br />
1.1 Soziale Normen 572<br />
1.2 Begründungen moralischer Normen 574<br />
1.3 Normenkonflikte 576<br />
2 Themen entwicklungspsychologischer Moralforschung 577<br />
3 Was sind die Indikatoren normativer Überzeugungen? 578<br />
3.1 Was sind Indikatoren der persönlichen Moral? 579<br />
3.2 Moralische Überzeugungen und moralisches Handeln 580<br />
4 Die Internalisierung moralischer Normen 580<br />
4.1 Normvermittlung durch Konditionierung 581<br />
4.1.1 Klassische Konditionierung 581<br />
4.1.2 Belohnungsentzug (Extinktion) 581<br />
4.1.3 Strafe 581<br />
4.2 Internalisierung durch Identifikation 582<br />
4.3 Normvermittlung durch familiäre Sozialisation 582<br />
4.3.1 Die Wirkung Macht ausübenden Erziehungsverhaltens 583<br />
4.3.2 Strafe durch Liebesentzug 584<br />
4.3.3 Die induktive Erziehung 584<br />
4.4 Normenvermittlung außerhalb der Familie 585<br />
4.5 Entwicklung des moralischen Selbst 586<br />
5 Die Entwicklung des Denkens über Moral 586<br />
5.1 Piagets Theorie der Moralentwicklung 586<br />
5.2 Neuere Forschungen zu Piagets Themen der Moralentwicklung 588<br />
5.3 Entwicklung der Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Schuld 589<br />
5.4 Die Entwicklung der Verteilungsgerechtigkeit und Fairness 592<br />
5.5 Moralische Urteile: Kohlbergs Stufenmodell 593<br />
5.5.1 Angemessenheit des Stufenmodells 596<br />
5.5.2 Entwicklungsstufen des moralischen Urteilens und moralisches Verhalten 598<br />
5.5.3 Zusammenhangshypothesen 598<br />
5.6 „Männliche“ und „weibliche“ Moral? 600<br />
6 Das moralische Selbst 601<br />
6.1 Konsistenz zwischen Urteil und Handeln 601<br />
6.2 Die Funktion des moralischen Selbst 602<br />
7 Zusammenfassung 605<br />
Inhalt<br />
XXI
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Kapitel 17<br />
Entwicklung von Religiosität und Spiritualität 607<br />
Anton A. Bucher · Fritz Oser<br />
1 Traditionelle Ansätze 609<br />
2 Stufen des religiösen Urteils 610<br />
3 Evolutionspsychologische und neurophysiologische Aspekte von Religiosität 613<br />
4 Spiritualität/Religiosität in einzelnen Lebensabschnitten 615<br />
4.1 Kindheit 615<br />
4.2 Jugend 617<br />
4.3 Erwachsenenalter 618<br />
4.4 Höheres Erwachsenenalter 619<br />
5 Problematische Wege religiöser Entwicklung 620<br />
6 Zusammenfassung 623<br />
Kapitel 18<br />
Entwicklung der Geschlechtsidentität 625<br />
Hanns Martin Trautner<br />
1 Einleitung 625<br />
1.1 Bedeutung des Geschlechts für Individuum und Gesellschaft 625<br />
1.2 Die Geschlechtsvariable in der psychologischen Forschung 626<br />
1.2.1 Individuelles Merkmal 627<br />
1.2.2 Soziale Kategorie und Stimulusvariable 627<br />
1.2.3 Dimension der Selbstwahrnehmung und Informationsverarbeitung 628<br />
2 Die Geschlechtsidentität als Teilaspekt der individuellen Geschlechtstypisierung 628<br />
2.1 Huston-Matrix 629<br />
2.2 Individuelle konstitutive Elemente des Selbstkonzepts 631<br />
3 Die Entwicklung der Geschlechtsidentität über die Lebensspanne 633<br />
3.1 Entwicklung der Geschlechtsidentität in der Kindheit 634<br />
3.1.1 Null bis zwei Jahre 634<br />
3.1.2 Drei bis sechs Jahre 635<br />
3.1.3 Sieben bis elf Jahre 636<br />
3.2 Geschlechtsidentität in der Adoleszenz 638<br />
3.3 Geschlechtsidentität im Erwachsenenalter 640<br />
4 Erklärungsansätze für die Entwicklung der Geschlechtsidentität 642<br />
4.1 Biologische Ansätze 643<br />
4.1.1 Chromosomale, hormonelle und neuronale Grundlagen 643<br />
4.1.2 Evolutionäre Grundlagen der Geschlechterdifferenzierung 643<br />
4.2 Sozialisationstheoretische Ansätze 644<br />
4.2.1 Bekräftigungstheorie 644<br />
4.2.2 Imitationstheorie 645<br />
XXII<br />
Inhalt
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4.3 Kognitive Ansätze 647<br />
4.3.1 Die Theorie Kohlbergs 647<br />
4.3.2 Geschlechtsschema-Theorien 647<br />
5 Schlussfolgerungen und Ausblick 649<br />
6 Zusammenfassung 650<br />
Kapitel 19<br />
Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung über die Lebensspanne 652<br />
Günter Krampen · Werner Greve<br />
1 Entwicklungspsychologische Fragestellungen der Persönlichkeitspsychologie 652<br />
2 Theoretische Ansätze und Konzepte im Überblick 656<br />
3 Persönlichkeitsentwicklung in Sicht faktorenanalytischer Ansätze 657<br />
4 Psychodynamische Ansätze zur Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung 661<br />
4.1 Die Persönlichkeitsentwicklung nach Freud 662<br />
4.2 Die Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung nach Erikson 665<br />
4.3 Identitätsentwicklungs-Zustände nach Marcia 666<br />
5 Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung aufgrund von Entwicklungsaufgaben<br />
und kritischer Lebensereignisse 669<br />
6 Sozialkognitive und handlungstheoretische Ansätze<br />
der Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung 673<br />
6.1 Die Soziale Lerntheorie der Persönlichkeit nach J. B. Rotter 674<br />
6.2 Ein Handlungstheoretisches Partialmodell der Persönlichkeitsentwicklung 677<br />
6.3 Kontrolltheoretische Modelle der Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung 684<br />
7 Ausblick 686<br />
Teil IV<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> in Praxisfeldern 687<br />
Kapitel 20<br />
Bindung, Bindungsdesorganisation und Bindungsstörungen in der frühen Kindheit:<br />
Entwicklungsbedingungen, Prävention und Intervention 689<br />
Peter Zimmermann · Gottfried Spangler<br />
1 Grundlagen der Bindungstheorie 689<br />
2 Organisierte Bindungsmuster, Bindungsdesorganisation und Bindungsstörung 691<br />
3 Einflussfaktoren auf die Entstehung von Bindungsunterschieden,<br />
Bindungsdesorganisation und Bindungsstörungen 695<br />
4 Kontinuität und Konsequenzen von Bindungsorganisation, Bindungsdesorganisation<br />
und Bindungsstörungen 697<br />
Inhalt<br />
XXIII
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5 Intervention bei Bindungsunsicherheit, Bindungsdesorganisation<br />
und Bindungsstörungen 700<br />
6 Zusammenfassung 703<br />
Kapitel 21<br />
Elternschaft und Kleinkindbetreuung 705<br />
Axel Schölmerich · Birgit Leyendecker<br />
1 Elternschaft 705<br />
1.1 Traditionelle und nichttraditionelle Familien 705<br />
1.2 Einflussfaktoren für Paarbeziehungen und Elternschaft 706<br />
1.3 Geburten und Familienstatus 706<br />
1.3.1 Assistierte Befruchtung 707<br />
1.3.2 Juristische Definition der Elternschaft 707<br />
1.3.3 Nichteheliche Geburten 707<br />
1.3.4 Patchworkfamilien 707<br />
1.3.5 Gleichgeschlechtliche Elternschaft 708<br />
1.3.6 Adoption und Pflegeelternschaft 708<br />
2 Kleinkindbetreuung 710<br />
2.1 Leitfragen für die Betreuung von Kleinkindern 710<br />
2.2 Familiäre und außerfamiliäre Betreuung 711<br />
2.2.1 Betreuung durch Mutter und Vater 711<br />
2.2.2 Betreuung durch Verwandte 711<br />
2.2.3 Kindertagespflege 711<br />
2.2.4 Private Betreuungsverhältnisse 712<br />
2.2.5 Krippen 712<br />
2.3 Qualitätskriterien 713<br />
2.4 Konsequenzen außerfamiliärer Betreuung 713<br />
2.4.1 Konsequenzen für die emotionale Entwicklung 714<br />
2.4.2 Konsequenzen für die kognitive Entwicklung und Sprachentwicklung 715<br />
2.5 Unterschiedliche Aufgaben für Eltern und Betreuer? 716<br />
3 Zusammenfassung 717<br />
Kapitel 22<br />
Vorschulische Förderung 719<br />
Ulrich Schmidt-Denter<br />
1 Epochale Trends der Entwicklungsförderung im Elementarbereich 719<br />
2 Frühförderung und Evaluationskriterien 721<br />
3 Förderprogramme und ihre Effektivität 721<br />
3.1 Frühlesen und Prävention von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten 721<br />
3.2 Sprachförderung 724<br />
3.3 Intelligenzförderung und Denktraining 726<br />
XXIV<br />
Inhalt
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3.4 Der konstruktivistische Förderansatz 728<br />
3.5 Schulvorbereitung, Schulerfolg und Langzeitwirkungen 729<br />
4 Förderbedingungen und Kontextfaktoren 731<br />
5 Möglichkeiten und Grenzen vorschulischer Förderung 733<br />
6 Zusammenfassung 734<br />
Kapitel 23<br />
Entwicklung schulischer Leistungen 735<br />
Olaf Köller · Jürgen Baumert<br />
1 Die Verankerung von Schulleistungen in psychologischen Theorien 736<br />
2 Die Entwicklung von Schulleistungen in der Kindheit und im Jugendalter 739<br />
2.1 Lerngelegenheiten und Leistungsentwicklung 739<br />
2.2 Definition von schulischen Kompetenzniveaus 742<br />
3 Fähigkeitsgruppierungen und Schulleistungsentwicklung 747<br />
3.1 Leistungsdifferenzierung in der Sekundarstufe 747<br />
3.2 Kosten der Leistungsdifferenzierung im Sekundarbereich 751<br />
4 Schulleistungen – Leistungen der Schule oder des Schülers? 753<br />
5 Schulleistungsentwicklung in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft<br />
der Schülerinnen und Schüler 756<br />
6 Das Zusammenspiel der Entwicklungsverläufe<br />
von Schulleistungen und Intelligenz, Selbstkonzepten und Interessen 758<br />
6.1 Schulleistungsentwicklung und Intelligenzentwicklung 759<br />
6.2 Schulleistungsentwicklung und die Entwicklung von Fähigkeitsselbstkonzepten<br />
und schulischen Interessen 760<br />
7 Methodische Probleme bei der Untersuchung von Schulleistungen<br />
und deren Entwicklung 762<br />
7.1 Zur curricularen Validität von Schulleistungstests 763<br />
7.2 Probleme bei der statistischen Modellierung von schulischen Entwicklungsverläufen 763<br />
7.3 Die Rolle des Antwortformats in Schulleistungsstudien 764<br />
7.4 Zur Dimensionalität von Schulleistungen bzw. Schulleistungstests 765<br />
8 Zusammenfassung 768<br />
Kapitel 24<br />
Lernstörungen in Teilleistungsbereichen 769<br />
Marcus Hasselhorn · Claudia Mähler · Dietmar Grube<br />
1 Definition und Kriterien 769<br />
1.1 Diagnostische Kriterien 769<br />
1.2 Differentialdiagnostische Abgrenzungen 769<br />
Inhalt<br />
XXV
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2 Lese-/Rechtschreibstörungen 770<br />
2.1 Merkmale 770<br />
2.2 Prävalenz 770<br />
2.3 Ursachen 771<br />
2.4 Diagnostik 772<br />
2.5 Prävention und Intervention 772<br />
3 Rechenstörung 773<br />
3.1 Merkmale 774<br />
3.2 Prävalenz 774<br />
3.3 Ursachen 774<br />
3.4 Diagnostik 775<br />
3.5 Prävention und Intervention 775<br />
4 Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten 776<br />
4.1 Merkmale 776<br />
4.2 Prävalenz 776<br />
4.3 Ursachen 776<br />
4.4 Diagnostik 777<br />
4.5 Prävention und Intervention 777<br />
5 Zusammenfassung 777<br />
Kapitel 25<br />
Begabung, Expertise und Hochleistungen 779<br />
Rolf <strong>Oerter</strong><br />
1 Begabtheit (Talent) als stabiles Merkmal 779<br />
2 Dynamische Theorie von Begabtheit bzw. Talent 782<br />
3 Expertise und Deliberate Practice 784<br />
3.1 Expertise 784<br />
3.2 Übungsaufwand und Hochleistung 785<br />
3.3 Qualität der Deliberate Practice 785<br />
3.4 Zeitpunkt des Beginns der Deliberate Practice 786<br />
3.5 Entwicklung zum Experten 787<br />
4 Begabtheit als sich entwickelnde Expertise 787<br />
5 Expertise und Kreativität 790<br />
5.1 Einige Bedingungen für Kreativität 791<br />
5.2 Kreative Prozesse 792<br />
6 Die Entwicklung von Hochleistungen als Enkulturations- und Sozialisationsprozess 794<br />
6.1 Enkulturation 795<br />
6.2 Persönlichkeitsmerkmale von „Hochbegabten“ 796<br />
6.3 Die Rolle der Familie 798<br />
XXVI<br />
Inhalt
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6.4 Der Übergang zu selbstverantwortlicher Hingabe an Musik und Sport 799<br />
6.5 Resümee: Etappen in der Entwicklung zu Hochleistungen in Musik und Sport 799<br />
7 Probleme der Hochleistung 800<br />
7.1 Burnout und Staleness 800<br />
7.2 Kulturell bedingte Einseitigkeiten von Hochleistungen 801<br />
8 Zusammenfassung 802<br />
Kapitel 26<br />
Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch von Kindern 803<br />
Jochen Hardt · Anette Engfer<br />
1 Methodische Vorüberlegungen 803<br />
2 Vernachlässigung 805<br />
2.1 Häufigkeit und Dunkelziffer 806<br />
2.2 Erklärungsmodelle 806<br />
2.3 Intervention 807<br />
3 Körperliche Misshandlung und Prügel 808<br />
3.1 Häufigkeit und Dunkelziffer 809<br />
3.2 Erklärungsmodelle 809<br />
3.3 Auswirkungen 811<br />
3.4 Intervention 811<br />
4 Sexueller Missbrauch 812<br />
4.1 Häufigkeit und Dunkelziffer 813<br />
4.2 Opfer des sexuellen Missbrauchs 815<br />
4.3 Täter und Täterinnen 816<br />
4.4 Erklärung des sexuellen Missbrauchs 816<br />
4.5 Diagnostik des sexuellen Missbrauchs 817<br />
4.6 Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs 817<br />
4.7 Intervention bei sexuellem Missbrauch 820<br />
5 Zusammenfassung 821<br />
Kapitel 27<br />
Gesundheit als aktiver Gestaltungsprozess im menschlichen Lebenslauf 822<br />
Inge Seiffge-Krenke<br />
1 Erfahrungen mit Gesundheit und Krankheit 822<br />
1.1 Objektiver Gesundheitszustand von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und<br />
alten Menschen 822<br />
1.2 Subjektiver Gesundheitszustand und Wohlbefinden 823<br />
Inhalt<br />
XXVII
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2 Konzeptualisierungen von Gesundheit 824<br />
2.1 Krankheits- und Gesundheitskonzepte 825<br />
2.2 Wohlbefinden und Körperkonzept über die Lebensspanne 826<br />
3 Familie und Gesundheitsförderung 827<br />
3.1 Gesundheitsbewusste Ernährung 827<br />
3.2 Körperliche Aktivitäten und Sport 828<br />
4 Entwicklung und Veränderung von Risikoverhalten 829<br />
5 Auseinandersetzung mit Belastungen 830<br />
5.1 Typen von Stressoren 830<br />
5.2 Coping und Adaptation 831<br />
5.3 Soziale Unterstützung 832<br />
6 Entwicklungsbezogene Prävention und Intervention 833<br />
7 Zusammenfassung 836<br />
Kapitel 28<br />
Delinquenz und antisoziales Verhalten im Jugendalter 837<br />
Werner Greve · Leo Montada<br />
1 Begriffe und Erfassungsmethoden 837<br />
2 Ansätze zur Analyse von Straftaten und anderem antisozialen Verhalten 839<br />
2.1 Handlungsanalysen 839<br />
2.2 Handlungsanalysen und Fragen nach Bedingungen 841<br />
2.3 Bedingungsanalysen und Erklärungen 841<br />
2.4 Unser Bedingungswissen ist unvollständig und unsicher 843<br />
3 Schutz- und Risikofaktoren 843<br />
3.1 Taugen Korrelate der Delinquenz zur Delinquenzprognose? 843<br />
3.2 Genetische, biologische Risikobedingungen 845<br />
3.3 Soziale Risikobedingungen 846<br />
3.4 Vermittelnde Prozesse: Protektive und Risikofaktoren für Antisozialität 846<br />
4 Delinquenz und Lebensalter 847<br />
4.1 Jugenddelinquenz 847<br />
4.2 Persistente und jugendtypische Jugenddelinquenz 848<br />
5 Entwicklungsinterventionen: Sanktion und Prävention 851<br />
5.1 Strafrechtliche Verantwortlichkeit 852<br />
5.2 Jugendstrafrecht: Strafe als Entwicklungsintervention? 852<br />
5.3 Prävention: Vorbeugen ist besser als Strafen 854<br />
6 Entwicklungsfolgen krimineller Bedrohungs- und Opfererfahrungen 856<br />
7 Zusammenfassung 857<br />
XXVIII<br />
Inhalt
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Kapitel 29<br />
Akkulturation und Entwicklung: Jugendliche Immigranten 859<br />
Eva Schmitt-Rodermund · Rainer K. Silbereisen<br />
1 Zahlen, Daten, Fakten: Immigranten in Deutschland 859<br />
2 Modelle psychologischer Akkulturation 860<br />
2.1 Akkulturationsorientierungen 860<br />
2.2 Prozessmodelle 861<br />
2.3 Entwicklungssensitive Designs 863<br />
3 Folgen von Migration und Minoritätenstatus 864<br />
3.1 Befinden und Gesundheit 864<br />
3.2 Schule und Beruf 867<br />
3.3 Delinquenz 868<br />
3.4 Familie, Einstellungen, Verhalten 870<br />
4 Zusammenfassung 872<br />
Kapitel 30<br />
Jugend und Politik<br />
Anpassung – Partizipation – Extremismus 874<br />
Siegfried Preiser<br />
1 Politisches Bewusstsein und politisches Handeln als Entwicklungsaufgabe 874<br />
2 Grundbegriffe 875<br />
3 Jugend und Politik – Situationsbeschreibung 876<br />
4 Betrachtungsebenen und Erklärungsansätze 878<br />
5 Stabilität und Wandel 880<br />
6 Konsequenzen: Förderung, Prävention und Intervention 882<br />
7 Zusammenfassung 883<br />
Kapitel 31<br />
Medien und Entwicklung 885<br />
Ulrike Six<br />
1 Relevanz und Eingrenzung des Themas 885<br />
2 Quantitative Aspekte der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen 886<br />
3 Die Komplexität von Folgenabschätzungen 892<br />
3.1 Verhalten und Handeln in der Medienumgebung 893<br />
3.1.1 Medienbezogene Verhaltens- und Handlungsmuster 893<br />
3.1.2 Verhalten und Handeln im Kontext einer akuten Mediennutzungssituation 894<br />
3.2 Bedingungen und Einflussfaktoren 894<br />
4 Funktionen und Motive der Mediennutzung 896<br />
Inhalt<br />
XXIX
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5 Aufnahme und Verarbeitung von Medieninhalten 899<br />
5.1 Rezeptions- und Aufmerksamkeitsprozesse 900<br />
5.2 Verstehen und Speichern von Medieninhalten 901<br />
5.3 Medialitätsbewusstsein und Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion 902<br />
5.4 Perspektivenübernahme 903<br />
6 Ergebnisse und Folgen der Mediennutzung 904<br />
6.1 Werbewirkungen 904<br />
6.2 Wirkungen gewalthaltiger Medienangebote 904<br />
6.3 Prosoziale Medienwirkungen 906<br />
6.4 Medienwirkungen auf Wissen und Fähigkeiten 906<br />
6.4.1 Positive Wirkungen bestimmter Medienangebote 906<br />
6.4.2 Negative Wirkungen eines zu hohen Nutzungsquantums 906<br />
6.5 Ergebnisse und Folgen der Nutzung von Unterhaltungsangeboten 906<br />
6.6 Physiologische und emotionale Medienwirkungen 907<br />
6.7 „Kultivierung“ und Einflüsse auf die persönliche und soziale Identität 907<br />
6.8 Auswirkungen auf Freizeitverhalten und Gesundheit 907<br />
7 Zusammenfassung 908<br />
Kapitel 32<br />
Bewältigung und Entwicklung 910<br />
Werner Greve<br />
1 Bewältigung: Wovon ist die Rede? 910<br />
1.1 Bewältigung von Belastungen 910<br />
1.2 Bewältigung von Gefühlen 911<br />
1.3 Bewältigung von Ereignissen 911<br />
1.4 Aufbau des Kapitels 911<br />
2 Individuelle und soziale Bewältigungsformen 912<br />
2.1 Psychoanalytische Bewältigungstheorien 912<br />
2.2 Kognitiv-transaktionaler Ansatz 912<br />
2.3 Entlastende Funktion sozialer Vergleiche 914<br />
2.4 Bewältigung und Kontrolle 915<br />
2.5 Bewältigung im sozialen Kontext 915<br />
3 Bewältigung als Entwicklungsprodukt 916<br />
3.1 Kontrolle will gelernt sein 917<br />
3.2 Bewältigung und Identität 917<br />
3.3 Prozesse des Selbst stabilisieren die Persönlichkeit 918<br />
4 Bewältigung des Alterns 918<br />
5 Zwei-Prozess-Modell der Entwicklungsregulation 920<br />
5.1 Assimilative Strategien: Intentionale Selbstentwicklung 920<br />
5.2 Akkommodative Prozesse: Entwicklung als Adaptation 920<br />
5.3 Defensive Reaktion: Ausweg oder Umweg? 921<br />
XXX<br />
Inhalt
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6 Resilienz und Entwicklung 923<br />
6.1 Resilienz: Normale Entwicklung trotz unnormaler Bedingungen 923<br />
6.2 Resilienz: Mehr als protektive Ressourcen 923<br />
6.3 Wie entsteht Resilienz? 923<br />
6.4 Resilienz als Konstellation 924<br />
6.5 Entwicklung und Bewältigung 924<br />
6.6 Wann ist Bewältigung erfolgreich? 924<br />
7 Zusammenfassung 925<br />
Kapitel 33<br />
Produktives Leben im Alter: Aufgaben, Funktionen und Kompetenzen 927<br />
Ursula M. Staudinger · Ines Schindler<br />
1 Produktives Leben im Alter: ein Widerspruch? 927<br />
2 Psychologische Produktivität: eine Begriffsbestimmung 927<br />
2.1 Was ist Produktivität? 927<br />
2.2 Wem nutzt Produktivität? 928<br />
2.3 Welches Ziel hat Produktivität? 928<br />
2.4 Kann man Produktivität messen? 930<br />
2.5 Zeiteinheiten von Produktivität 930<br />
2.6 Woher kommt Produktivität? 930<br />
3 Produktivitätskonfigurationen des Alter(n)s:<br />
Hilft das Konzept der Entwicklungsaufgaben? 931<br />
4 Psychologische Produktivität im Alter 932<br />
4.1 Interindividuelle Unterschiede 932<br />
4.2 Das gesellschaftliche Altersbild beeinflusst Produktivitätspotentiale 933<br />
4.3 Psychologische Produktivität im Alter ist beeinflussbar 935<br />
5 Der alte Mensch in seinem Kontext und als Kontext für andere 935<br />
6 Ausgewählte Forschungsbefunde zur Produktivität im Alter 938<br />
6.1 Empirische Beispiele geistiger Produktivität im Alter 938<br />
6.1.1 Erfahrungswissen 939<br />
6.1.2 Weisheit 941<br />
6.1.3 Kreativität 943<br />
6.2 Empirische Befunde zur Produktivität von Selbst und Persönlichkeit im Alter 944<br />
6.2.1 Realismus der Selbsteinschätzung 944<br />
6.2.2 Psychologische Widerstandsfähigkeit im Alter 944<br />
6.3 Empirische Befunde zur Produktivität im Bereich sozialer Beziehungen im Alter 946<br />
6.3.1 Leisten alte Menschen soziale Unterstützung? 946<br />
6.3.2 Positive Auswirkungen der von alten Menschen geleisteten sozialen Unterstützung 947<br />
6.3.3 Spielen Großeltern eine besondere Rolle? 947<br />
6.3.4 Intergenerationelle Beziehungen 948<br />
Inhalt<br />
XXXI
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6.4 Empirische Befunde zu Tätigkeitsformen im Alter 948<br />
6.4.1 Welche Tätigkeitsformen gibt es im Alter? 948<br />
6.4.2 Welche Tätigkeiten üben welche älteren Menschen aus? 949<br />
6.4.3 Der Nutzen solcher Tätigkeiten für Gesellschaft und Individuum 951<br />
6.4.4 Wollen ältere Menschen tätig sein? 952<br />
7 Zusammenfassung 954<br />
Anhang<br />
Inhalt der beiliegenden CD-ROM<br />
Denkanstöße<br />
Zusammenfassungen<br />
Definition<br />
Anleitung zur Benutzung der CD-ROM 956<br />
Glossar 957<br />
Autorenverzeichnis 977<br />
Literaturverzeichnis 979<br />
Personenverzeichnis 1061<br />
Sachwortverzeichnis 1074<br />
Bildnachweis 1087<br />
XXXII<br />
Inhalt
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Teil I<br />
Grundlagen<br />
der <strong>Entwicklungspsychologie</strong>
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© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte, Perspektiven<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Leo Montada<br />
1 Konzeptionen der Entwicklung<br />
In der gut hundertjährigen Geschichte der empirischen<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> hat es unterschiedliche<br />
Forschungstraditionen mit unterschiedlichen<br />
Fragestellungen und Konzeptionen der Entwicklung<br />
gegeben (vgl. z. B. Cairns, 1998; Trautner, 1991). Alle<br />
waren mit Veränderungen im Lebenslauf befasst.<br />
Welche Veränderungen sind als Entwicklung anzusehen,<br />
welche nicht? Zunächst werden zwei traditionelle<br />
Konzeptionen der Entwicklung dargestellt:<br />
Entwicklung als Abfolge von Phasen und Stufen. Die<br />
empirische Forschung dazu war auf die Ermittlung<br />
allgemeiner Veränderungen beschränkt. Die Untersuchung<br />
differentieller und kontextabhängiger Entwicklungen<br />
blieb der modernen <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
vorbehalten.<br />
1.1 Entwicklung als allgemeine Abfolge<br />
von Phasen oder Stufen<br />
Entwicklungsphasen. Karl Bühler (1918) hat das<br />
traditionelle Phasenkonzept populär gemacht mit<br />
einer Alterstypologie für das Kindesalter – der Greifling,<br />
der Läufling, das Schimpansenalter, das Alter<br />
der Namensfragen und der Warumfragen, das Märchenalter,<br />
die Schulreife. Das wurde auch auf das<br />
Jugendalter und das Erwachsenenalter ausgedehnt,<br />
etwa durch Charlotte Bühler (1933). Das deskriptive<br />
Suchbild waren Besonderheiten der Phasen, die es<br />
früher und später nicht gibt. Das theoretische Suchbild<br />
war es, die Funktion und den Sinn jeder Phase<br />
zu ermitteln, etwa im Hinblick auf eine immanente<br />
Entwicklungsrichtung. Die heute bekannteste Gliederung<br />
des Lebenslaufs in Phasen oder Stadien hat<br />
Erikson konzipiert (s. Abschn. 3.5.1).<br />
Entwicklungsstufen. Im Konzept der Entwicklungsstufen<br />
werden zusätzlich zum Phasenkonzept<br />
die Notwendigkeit der Stufenfolge und ein Endoder<br />
Reifestadium angenommen. Von Entwicklungsstufen<br />
wird gesprochen,<br />
wenn eine Veränderungsreihe mit mehreren<br />
Schritten vorliegt,<br />
die eine Richtung auf einen End- oder Reifezustand<br />
aufweist,<br />
der gegenüber dem Ausgangszustand höherwertig<br />
ist,<br />
deren Schritte unumkehrbar (irreversibel) sind,<br />
was mit der Überlegenheit der höheren Stufe<br />
erklärbar ist,<br />
deren Stufen als qualitative, strukturelle Transformationen<br />
im Unterschied zu nur quantitativem<br />
Wachstum beschreibbar sind.<br />
Die früheren Stufen werden als Voraussetzung der<br />
jeweils nachfolgenden angesehen. Die Veränderungen<br />
sind mit dem Lebensalter korreliert. Sie werden<br />
als universell in dem Sinne angesehen, dass sie in<br />
allen für die Spezies „Homo sapiens“ normalen Entwicklungsumwelten<br />
auftreten, insofern natürlich<br />
und nicht kulturgebunden sind. Oft wird von der<br />
Entfaltung eines inneren Bauplanes gesprochen, die<br />
allerdings eines normalen Kontextes bedarf. Ein klassisches<br />
Beispiel ist die Entwicklung der Motorik bis<br />
zum Laufen im ersten Lebensjahr (Abb. 1.1, S. 4).<br />
Im vorliegenden Buch sind manche Veränderungsreihen<br />
in der Kindheit und Jugend beschrieben,<br />
die mehrere dieser Merkmale aufweisen: Entwicklungen<br />
sensumotorischer (Kap. 6 und 12), sprachlicher<br />
(Kap. 14), kognitiver Leistungen (Kap. 7, 12 und 13),<br />
1.1 Entwicklung als allgemeine Abfolge von Phasen oder Stufen 3
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Abbildung 1.1. Entwicklung des motorischen Verhaltens<br />
in den ersten 60 Lebenswochen. Durchschnittswerte des<br />
Erwerbs der Fähigkeiten aus mehreren Untersuchungen<br />
moralischen Denkens (Kap. 16) und religiöser Überzeugungen<br />
(Kap. 17).<br />
Diese Entwicklungskonzeptionen sind aber viel<br />
zu eng, um alle Fragestellungen und Erkenntnisse<br />
der modernen <strong>Entwicklungspsychologie</strong> aufzunehmen.<br />
Das wird an einer Problematisierung des Stufenmodells<br />
aufgezeigt.<br />
Begrenzungen des Stufenmodells. Alle Elemente<br />
des traditionellen Entwicklungskonzeptes sind zu<br />
problematisieren.<br />
(1) Viele Veränderungen sind nicht als Stufenfolge<br />
oder Abfolge mehrerer auseinander hervorgehender<br />
Schritte beschreibbar, dennoch sprechen<br />
wir von Entwicklung, wenn notwendige oder<br />
disponierende Voraussetzungen in der Person<br />
für eine spezifische Veränderung identifiziert<br />
werden können: Das Leistungsmotiv setzt<br />
voraus, dass das eigene Tun an einem Bewertungsstandard<br />
gemessen und das Ergebnis<br />
auf die eigene Tüchtigkeit zurückgeführt wird<br />
(Kap. 15). Eine unsichere Bindung des Kindes<br />
an die Mutter am Ende des ersten Lebensjahres<br />
lässt soziale Probleme im Kindergarten und später<br />
wahrscheinlicher werden (Kap. 20).<br />
(2) Die Annahme einer Entwicklung zu einem<br />
höheren Niveau oder einem Reifezustand ist<br />
ebenfalls zu einschränkend. Es gibt viele Entwicklungen,<br />
für die keine konsensuellen Wertkriterien<br />
vorliegen. Bezogen auf Fertigkeiten,<br />
Wissen und Kompetenzen wird es leichter gelingen,<br />
einen Konsens über Wertkriterien zu finden,<br />
als z. B. bei der Herausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen,<br />
Wertorientierungen, Interessen,<br />
Einstellungen, Selbstbildern und Weltbildern.<br />
Die Entwicklung „zu mehr Autonomie“<br />
kann von unterschiedlichen Folgen oder Standpunkten<br />
her positiv oder negativ beurteilt werden.<br />
Sollten wir deshalb in diesen Fällen nicht<br />
von Entwicklung reden? Fehlentwicklungen wie<br />
die Entwicklung von Delinquenz (Kap. 28),<br />
psychopathologische Entwicklungen (Kap. 27)<br />
und Abbauprozesse im Alter (Kap. 10 und 33)<br />
blieben aus der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> ausgeschlossen.<br />
(3) Die Konzeption eines universellen Reifezustandes<br />
als Endpunkt von Entwicklungen ist einschränkend:<br />
Veränderungen in psychologischen<br />
Variablen sind während des ganzen Lebens<br />
möglich durch das Zusammenspiel individueller<br />
Dispositionen und Potentiale mit wechselnden<br />
Kontexten, Anforderungen, Informationsangeboten<br />
oder spezifischen Erfahrungen. Zum<br />
Beispiel mögen die Grundkompetenzen zu einfachen<br />
wissenschaftlichen Prüf- und Beweisverfahren<br />
in der späteren Kindheit und frühen<br />
Adoleszenz wenn auch nicht universell, so doch<br />
verbreitet erworben werden, aber damit ist<br />
die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens<br />
nicht generell abgeschlossen: Durch Studium,<br />
lebenslanges Lernen, auch durch historische<br />
Fortschritte der Wissenschaftstheorie und<br />
-methodologie werden diese Grundkompeten-<br />
4 1 Konzeptionen der Entwicklung
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zen differenziert ausgebaut, und sicher nicht<br />
nur im Sinne eines quantitativen Wachstums.<br />
(4) Mit der Einschränkung auf qualitative Veränderungen<br />
soll Entwicklung von quantitativem<br />
Zuwachs unterschieden werden. Das ist analytisch<br />
möglich. Allerdings lassen sich wohl alle<br />
Veränderungen sowohl mit quantitativen als<br />
auch mit qualitativen Dimensionen beschreiben,<br />
die unterschiedliche Aspekte desselben Veränderungsprozesses<br />
erfassen. Zum Beispiel kann<br />
die Entwicklung des Wortschatzes als quantitative<br />
Zunahme der verwendeten oder verstandenen<br />
Wörter oder qualitativ als semantische<br />
Differenzierung und Vernetzung der Wörter, als<br />
begriffliche Strukturierung, als grammatische<br />
oder syntaktisch relevante Kategorisierung von<br />
Wörtern beschrieben werden. Die Intelligenzentwicklung<br />
kann man sowohl quantitativ als<br />
Zunahme lösbarer Aufgaben wie auch qualitativ<br />
als Veränderung der Strukturen des Denkens<br />
und der Strategien des Problemlösens erfassen.<br />
Um auszuschließen, dass es sich um eine Entwicklung<br />
handelt, müsste also nachgewiesen<br />
werden, dass die fragliche Veränderung nicht<br />
qualitativ beschrieben werden kann.<br />
(5) Die Beschränkung der traditionellen <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
auf universelle Veränderungen<br />
ist in verschiedener Hinsicht problematisch.<br />
Erstens sind Universalismushypothesen empirisch<br />
nicht sicher zu belegen, weil immer Varianz<br />
zu beobachten ist und weil wir nicht über<br />
alle gegenwärtig lebenden, schon gar nicht über<br />
alle früheren und künftigen Populationen Daten<br />
haben. Vor allem aber bleiben kulturspezifische,<br />
z. B. durch kulturelle Anforderungen, Normen,<br />
Ideen, Wissensbestände ausgelöste und mitgestaltete<br />
Entwicklungen (vgl. Kap. 4), und differentielle<br />
und individuelle, z. B. durch unterschiedliche<br />
Anlagen und Erfahrungen erzeugte<br />
und mitgestaltete, auch geschlechtstypische<br />
(Kap. 18) sowie außergewöhnliche und pathologische<br />
Entwicklungen (Kap. 25, 27 und 28)<br />
außer Betracht.<br />
Die differentiellen Entwicklungen sind theoretisch<br />
besonders interessant und praktisch besonders<br />
wichtig, theoretisch, weil aus unterschiedlichen Entwicklungsverläufen<br />
Erkenntnisse über Einflussfaktoren<br />
und moderierende Bedingungen gewonnen werden<br />
können, und praktisch, weil dieses Wissen für<br />
die Förderung der Entwicklung und die Prävention<br />
von Fehlentwicklung erforderlich ist.<br />
Denkanstöße<br />
Man hört häufig den Begriff „Trotzphase“, wenn<br />
Kinder im zweiten und dritten Lebensjahr<br />
„widerspenstig“ sind. Unabhängig vom Lebensalter:<br />
Mit welchen Hypothesen kann „Widerspenstigkeit“<br />
erklärt oder verständlich gemacht<br />
werden?<br />
Mit welchen Hypothesen könnte eine „Trotzphase“<br />
erklärt werden, wenn es sie denn<br />
geben sollte?<br />
Welche praktischen Folgerungen wären aus<br />
der „Diagnose“ „Trotzphase“ zu ziehen?<br />
Mit welchen Argumenten könnte die Annahme<br />
einer generellen „Trotzphase“ in Zweifel<br />
gezogen werden?<br />
1.2 Die moderne differentielle und ökologische<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
Phasen- und Stufenmodelle der Entwicklung erweisen<br />
sich vielfach empirisch nicht als zutreffend, und<br />
sie engen den Entwicklungsbegriff in unfruchtbarer<br />
Weise ein.<br />
1.2.1 Erweiterungen des Entwicklungsbegriffs<br />
In den letzten Jahrzehnten wurden die einengenden<br />
Elemente der traditionelle Konzeption von Entwicklung<br />
aufgegeben, woraus sich eine starke Ausweitung<br />
der Themen- und Forschungsfelder der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
ergab, z. B.<br />
von der Entwicklung in Kindheit und Jugend auf<br />
die gesamte Lebensspanne,<br />
von der allgemeinen Entwicklung zu vielen differentiellen<br />
Entwicklungen,<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 5
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
von der normalen Entwicklung zur Entwicklung<br />
von Sondergruppen wie Hochbegabten<br />
(Kap. 24), aber auch von Störungen (Kap. 20 und<br />
27) oder von Delinquenz (Kap. 28),<br />
von der Beschränkung auf Entwicklungen hin<br />
zu Reifezuständen auf alle nachhaltigen Veränderungen<br />
(im Bewusstsein, dass Entwicklungen<br />
nicht nur Gewinne, sondern auch Verluste und<br />
Einschränkungen bedeuten können),<br />
auf alle Veränderungen, die spezifische Entwicklungsvoraussetzungen<br />
(z. B. Dispositionen) haben<br />
oder aus Entwicklungsdefiziten resultieren.<br />
Theoretische wie gegenständliche Erweiterungen<br />
ergaben sich aber auch aus einer zunehmenden Vernetzung<br />
mit anderen Disziplinen wie der Genetik<br />
(Kap. 2), den Neurowissenschaften (Kap. 3), mit<br />
verschiedenen medizinischen Disziplinen (Kap. 6, 10<br />
und 33), mit anderen Sozial- und Kulturwissenschaften<br />
(Kap. 4, 8, 16, 17, 29 und 31), mit Sprachwissenschaften<br />
(Kap. 14) u. a.<br />
Während die allgemeine <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
auf die Beschreibung modaler Veränderungen<br />
bei Kindern und Heranwachsenden beschränkt<br />
blieb, hat die moderne <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
differentielle Veränderungen als Folge der Interaktion<br />
externaler und internaler Faktoren erforscht.<br />
Unterschiede zwischen Kulturen und Subkulturen,<br />
zwischen Familien, Schulen und weiteren Entwicklungskontexten<br />
und individuelle Unterschiede<br />
ermöglichen es, Einflussfaktoren auf die Entwicklung<br />
zu ermitteln. Unter den internalen Faktoren<br />
sind nicht nur Hypothesen über Anlageunterschiede<br />
untersucht worden, sondern auch die Einflüsse von<br />
Dispositionen, Wissen und Kompetenzen, die in der<br />
vorausgegangenen Entwicklung durch Erfahrungen<br />
und in Interaktionen mit den gegebenen Kontexten<br />
entstanden sind.<br />
Die moderne <strong>Entwicklungspsychologie</strong> geht noch<br />
einen Schritt weiter, nachdem sie erkannt hat, dass<br />
Individuen nicht nur durch ihre Entwicklungsumwelt<br />
beeinflusst werden, sondern ihrerseits Einfluss<br />
auf ihre Umwelt nehmen und die ihnen passende<br />
Umwelt suchen und sich somit ihre Entwicklungskontexte<br />
selbst wählen und mitgestalten. Diese<br />
Erkenntnis wird in aktionalen und transaktionalen<br />
Modellen der Entwicklung repräsentiert (s. Abschn.<br />
1.2.2 und 1.2.3).<br />
Diese Grundannahmen bestimmen die Forschungsfragen,<br />
die Wahl von Beschreibungs- und<br />
Erklärungsmodellen, die Datenerhebungs- und Datenauswertungsstrategien,<br />
und sie leiten die Interpretation<br />
der Befunde.<br />
1.2.2 Der Einfluss der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
der Lebensspanne<br />
Besonders einflussreich wurde seit Ende der 1960er<br />
Jahre eine rasch wachsende Gruppe von Autoren, die<br />
unter der programmatischen Thematik <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
der Lebensspanne (life-span developmental<br />
psychology) eine große Zahl konzeptioneller,<br />
methodologischer, analytischer und empirischer<br />
Arbeiten publizierte (z. B. Baltes & Brim,<br />
1978–1984). Einen aktuellen Überblick bieten Baltes,<br />
Lindenberger und Staudinger (2006). Der Aufschwung<br />
der psychologischen Alternsforschung<br />
(Birren & Schaie, 1977; Lehr & Thomae, 1979) und<br />
interdisziplinäre Befruchtung durch die soziologische<br />
Lebenslaufforschung (Mayer, 1993; Riley, 1979)<br />
haben diese Entwicklung gefördert. Die Impulse<br />
durch diese Arbeiten haben die moderne <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
geprägt und sind deshalb mit einigen<br />
wichtigen Themen und Arbeiten etwas ausführlicher<br />
dargestellt.<br />
Entwicklung endet nicht im frühen Erwachsenenalter.<br />
Die traditionelle Konzeption der Entwicklung<br />
hat zwischen einer Phase des Aufbaus oder des<br />
Wachstums, einer Phase der Reife oder Stabilität<br />
und einer Phase des Abbaus im Alter unterschieden.<br />
Diese Generalisierung ist in mehrfacher Hinsicht zu<br />
relativieren. Jede Entwicklung ist immer auch als<br />
Spezialisierung (oder selektive Optimierung) zu<br />
sehen, ist also nicht nur Wachstum und Zugewinn,<br />
sondern bedeutet auch die Vernachlässigung alternativer<br />
Optionen und umfasst insofern auch Verluste<br />
(Baltes & Baltes, 1989). In jedem Alter ist in spezifischen<br />
Feldern Wachstum möglich, z. B. ein Zugewinn<br />
an Wissen, an Expertise in einem beruflichen<br />
Feld und in anderen Feldern, wenn keine Demenz<br />
vorliegt.<br />
6 1 Konzeptionen der Entwicklung
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Ohne Zweifel ist das höhere Lebensalter eine Periode,<br />
in der es typischerweise eine Häufung von Verlusten<br />
gibt:<br />
auf neurobiologischem Niveau (bezüglich der<br />
Sinnesfunktionen, der Motorik, einiger kognitiver<br />
Funktionen, der Körperkraft, bei der Frau der<br />
Reproduktionsfähigkeit),<br />
auf sozialer Ebene (Verlust an Sozialpartnern, an<br />
gesellschaftlichen Aufgaben und Positionen, damit<br />
an Ansehen, schließlich an Selbständigkeit;<br />
vgl. Kap. 10 und 33).<br />
In jedem Alter sind aber neue Erkenntnisse möglich,<br />
z. B. über sich selbst, über andere Menschen, über<br />
Zusammenhänge des sozialen Lebens. Neue Kompetenzen<br />
zur besseren Gestaltung des persönlichen<br />
Lebens und des sozialen Zusammenlebens, zur Bewältigung<br />
von Krisen und Verlusten können erworben<br />
werden. Psychische Störungen können überwunden<br />
werden. Neue Möglichkeiten eines produktiven<br />
Lebens können erkannt und erschlossen<br />
werden, auch in der nachberuflichen und nachfamiliären<br />
Lebensphase (vgl. Kap. 33). Zugewinne an<br />
Lebensweisheit bleibt eine mögliche Wachstumsdimension<br />
auch im höheren Alter (Baltes & Staudinger,<br />
2000).<br />
Solche Entwicklungen sind im mittleren und<br />
höheren Erwachsenenalter nicht generell zu erwarten,<br />
sondern individuell und differentiell, kultur-,<br />
kontextspezifisch, auch abhängig vom Lebensschicksal.<br />
Hochleistungen z. B. erfordern langfristiges<br />
Bemühen (Kap. 25), und es gibt Leistungssteigerungen<br />
auf vielen Gebieten auch in Altersphasen, in<br />
denen biologische Leistungsvoraussetzungen schon<br />
vermindert sind (Kap. 10).<br />
Entwicklung hat interindividuell unterschiedliche<br />
Verläufe. Im mittleren und höheren Erwachsenenalter<br />
sind nur wenige generelle Veränderungen<br />
bekannt. Die Veränderungen sind eher kultur-, subkultur-<br />
oder personspezifisch; sie sind unterschiedlich<br />
je nach Lebensschicksal, je nach gesellschaftlichen<br />
und beruflichen Anforderungen, je nach<br />
Erfahrungen, je nach Qualität der sozialen Einbindung<br />
und Unterstützung, und in interaktionistischer<br />
Sicht je nach eigenen Kompetenzen, Interessen<br />
und Einstellungen. Auch die ererbten Anlagen, das<br />
Genom, können lebenslang wirken. Schon die<br />
Lebensdauer eines Menschen ist in erheblichem<br />
Maße genetisch beeinflusst.<br />
Schaie (1988) hat dies in Längsschnittuntersuchungen<br />
über die Entwicklung der Intelligenz belegt.<br />
Auch zwischen dem 60. und dem 80. Lebensjahr<br />
gibt es in Intelligenztests mit unterschiedlichen<br />
Leistungsskalen keinen universellen Leistungsabfall:<br />
Viele können ihr Niveau halten bis in die 80er Jahre<br />
und einige, wenn auch weniger als 10 % insgesamt,<br />
verbessern ihr Gesamtniveau noch in ihrem achten<br />
Lebensjahrzehnt (vgl. Abb. 1.2).<br />
Verschiedene Dimensionen einer Funktion haben<br />
unterschiedliche Entwicklungsverläufe. Für die<br />
Intelligenzdimensionen fluide und kristalline Intelligenz<br />
(Horn, 1970) wurde ermittelt, dass sie in Kindheit<br />
und Jugend eine parallele, im Erwachsenenund<br />
insbesondere im höheren Alter unterschiedliche<br />
Entwicklungsverläufe nehmen. Die kristalline Intelligenz<br />
(das ist das Erfahrungswissen, die kulturellen<br />
Wissensbestände, Wissen über Problemlösestrategien<br />
und Gedächtnisstrategien usw.) bleibt vielfach<br />
bis ins höhere Alter erhalten und kann in Einzelfällen<br />
ansteigen, während die fluide Intelligenz (insbesondere<br />
die Geschwindigkeit der Aufnahme und<br />
Verarbeitung von Informationen) abfällt (vgl. auch<br />
Kap. 10).<br />
Abbildung 1.2. Ergebnisse einer Längsschnittstudie zum<br />
Altern der Intelligenz: Wie viel Prozent der untersuchten<br />
Personen aus mehreren Geburtsjahrgängen (Kohorten)<br />
zeigen Stabilität, Verluste oder Gewinne in ihren Intelligenzleistungen<br />
– jeweils über 7 Jahre gemittelte Werte?<br />
(Nach Schaie, 1988)<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 7
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Abbildung 1.3. Hypothetische Ablaufkurve der Intelligenz<br />
in einer Querschnittuntersuchung (durchgezogene<br />
Kurve) und Längsschnittuntersuchungen (unterbrochene<br />
Linien) an Stichproben aus verschiedenen Generationen<br />
(nach Baltes, 1968)<br />
Entwicklung ist kontextabhängig. Ontogenetische<br />
Entwicklung vollzieht sich in Interaktion mit Kontexten<br />
und unterliegt folglich einem historischen Wandel.<br />
Die Soziologie und die Geschichtswissenschaften<br />
haben sozialen Wandel beschrieben als Veränderung<br />
der Institutionen (Arbeitsfeld, Familie, Bildungseinrichtungen,<br />
soziale Versorgungssysteme<br />
usw.),<br />
der herrschenden Ideologien,<br />
der politischen und ökonomischen Situation,<br />
der demographischen Charakteristika der Population,<br />
der Wertvorstellungen und der politischen Überzeugungen.<br />
Selbstverständlich wurde angenommen, dass sich<br />
der auf diesem Niveau beschriebene gesellschaftliche<br />
Wandel auch in psychologisch beschreibbaren<br />
Veränderungen niederschlägt, z. B. in unterschiedlichen<br />
Bildungs-, Berufs- und Familienbiographien<br />
(Mayer, 1993), in Veränderungen des Verhaltens,<br />
Wertens, Urteilens und Erlebens.<br />
Die <strong>Entwicklungspsychologie</strong> hat diese Thematik<br />
lange vernachlässigt und nur nach allgemeinen, über<br />
historische Epochen hinweg gültigen Veränderungen<br />
gesucht. Es wird zunehmend deutlich, dass sich als<br />
Folge des raschen gesellschaftlichen Wandels auch<br />
nah aufeinander folgende Geburtsjahrgänge hinsichtlich<br />
ihrer Entwicklung unterscheiden. Konsequenterweise<br />
müsste die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
für jede Generation partiell neu geschrieben werden,<br />
so dass sich später einmal auf einer höheren theoretischen<br />
Ebene die Entwicklung auch in Abhängigkeit<br />
von Kontextdimensionen und ihrem historischen<br />
Wandel theoretisch erklären lassen wird.<br />
Die hier beschriebene Problematik wurde erst ins<br />
allgemeine Bewusstsein der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
gerückt, als Schaie (1965) die Frage nach der<br />
angemessenen Methodologie für die Gewinnung<br />
von Entwicklungsnormen aufwarf. Lange Zeit hat<br />
man die aus Querschnittsuntersuchungen ermittelte<br />
Altersverlaufskurve der Intelligenz (vgl. Abb. 1.3) im<br />
Sinne eines verbreiteten Vorurteils dahingehend<br />
interpretiert, dass es einen Anstieg der Intelligenzleistung<br />
bis ins frühe Erwachsenenalter gebe, wonach<br />
ein kontinuierlicher und beträchtlicher Abfall<br />
bis ins höhere Alter folge.<br />
Die Querschnittsmethode ist insofern problematisch,<br />
als die Stichproben unterschiedlicher Altersklassen<br />
nicht nur verschieden alt sind, sondern auch<br />
verschiedenen Generationen angehören, so dass die<br />
Frage offen bleibt, ob die ermittelte „Altersverlaufskurve“<br />
mit dem scheinbaren Abfall im Alter in<br />
Wahrheit keinen Abfall darstellt, sondern einen<br />
Leistungsunterschied zwischen verschiedenen Generationen.<br />
Die geringere Leistung der Älteren muss<br />
kein Intelligenzverlust sein, sondern könnte ein von<br />
Anfang an geringeres Leistungsniveau der älteren<br />
Generationen sein, das z. B. mit der geringeren<br />
Schulbildung dieser Generationen zu erklären wäre.<br />
Angeregt durch diese Debatte hat man Längsschnittdaten<br />
und Querschnittsuntersuchungen vergleichend<br />
gegenübergestellt und gefunden, dass<br />
sich der Altersverlauf in Längsschnittuntersuchungen<br />
anders darstellt (Schaie, 1994; Kap. 10). Die kritische<br />
Auseinandersetzung mit diesen Untersuchungen<br />
hat auch methodische Probleme in den Blick<br />
gerückt, die heute in jeder wissenschaftlichen Untersuchung<br />
berücksichtigt werden (Petermann &<br />
Rudinger, 2002).<br />
In Längsschnittstudien mit breiten Testbatterien,<br />
die viele Dimensionen der Intelligenz erfassen,<br />
8 1 Konzeptionen der Entwicklung
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wurde ermittelt, dass durchschnittlich die Leistungen<br />
bis ins hohe Alter nicht oder nur wenig abfallen.<br />
Dieses Ergebnis kann allerdings ein Artefakt sein.<br />
Erstens kann es Lerngewinne (sog. Testungseffekte)<br />
wegen der in Längsschnittuntersuchungen wiederholten<br />
Messungen geben, die einen realen Abfall<br />
kompensieren. Zweitens müsste geprüft werden, ob<br />
es mit zunehmendem Alter eine selektive Veränderung<br />
der Untersuchungsstichprobe derart gibt, dass<br />
die leistungsschwächeren Teilnehmer wegen fehlender<br />
Motivation, Krankheit oder Tod herausfallen,<br />
wodurch die Durchschnittswerte verfälscht werden<br />
(sog. selektiver Dropout). Um dies auszuschließen,<br />
sollte man nicht die Mittelwerte aller Testzeitpunkte<br />
betrachten, sondern muss sich etwa die Mittelwerte<br />
der Teilstichprobe ansehen, die bis zum letzten Testzeit<br />
dabei blieb. Rudinger & Rietz (1998) haben an<br />
Daten der Bonner Altersstudie zeigen können,<br />
dass es tatsächlich selektive Ausfälle derart gab,<br />
dass die leistungsschwächeren Teilnehmer früher<br />
<br />
herausfallen,<br />
dass die Mittelwerte der Leistungsstärkeren ebenfalls<br />
mit zunehmendem Alter abgefallen sind,<br />
aber nicht unter den Gesamtmittelwert der noch<br />
leistungsheterogeneren Stichproben in den vorausgehenden<br />
Testzeitpunkten.<br />
Neue Fragen machen neue Forschungsdesigns und<br />
-methoden erforderlich. In einem einflussreichen<br />
Buch haben Baltes, Reese und Nesselroade (1977)<br />
die Programmatik der modernen <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
methodologisch umgesetzt.<br />
Das Modell der selektiven Optimierung und der<br />
Kompensation von Verlusten. Wenn solche Verluste<br />
existieren, war die weitere Frage: Können sie ausgeglichen<br />
werden? Gibt es Möglichkeiten der Kompensation?<br />
Beispielsweise beobachtete Salthouse (1984), dass<br />
ältere Schreibkräfte genauso schnell schreiben wie jüngere,<br />
obwohl ihre Reaktionsgeschwindigkeit nachweislich<br />
langsamer war. Diese Verlangsamung konnte aber<br />
durch die gewonnene Fähigkeit, den zu schreibenden<br />
Text im Voraus zu lesen und zu verstehen, ausgeglichen<br />
werden. So könnten auch Einbußen in Bezug auf elementare<br />
Prozesse der Mechanik der Intelligenz und des<br />
Gedächtnisses unter Umständen durch Wissen und<br />
prozedurale Strategien kompensiert werden. Das von<br />
Baltes und Baltes (1989) formulierte Entwicklungsmodell<br />
der selektiven Optimierung einzelner Funktionsbereiche<br />
mit einer Kompensation von Einbußen in<br />
anderen repräsentiert diesen Gedanken.<br />
Möglichkeiten und Grenzen für eine Entwicklungsförderung<br />
im mittleren und höheren Erwachsenenalter.<br />
Spielräume und Grenzen der Entwicklungsförderung<br />
wurden z. B. anhand von Intelligenzund<br />
Gedächtnisaufgaben untersucht. Die fluide Intelligenz<br />
erwies sich auch im höheren Alter als trainierbar<br />
(z. B. Dixon & Baltes, 1986), womit eine meist<br />
ungenutzte Reservekapazität nachgewiesen und die<br />
Annahme der Plastizität der Entwicklung in jedem<br />
Lebensalter bestätigt schien. Allerdings bleiben die<br />
Trainingserfolge eng auf die trainierten Aufgaben<br />
beschränkt und werden nicht in andere Bereiche<br />
transferiert (Kap. 10).<br />
Grenzen der Entwicklungsmöglichkeiten im höheren<br />
Alter wurden mit der Methode des „Testing<br />
the Limits“ aufgewiesen, bei der die Schwierigkeiten<br />
von Aufgaben sukzessiv bis zur Leistungsgrenze<br />
gesteigert werden, z. B. in einem Training von Gedächtnisleistungen<br />
für Wortlisten durch Steigerung<br />
der Darbietungsgeschwindigkeit der einzuprägenden<br />
Wörter (Kliegl, Smith & Baltes, 1989). Die Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />
war bei älteren Probanden<br />
deutlich niedriger als bei jüngeren. Auch in dieser<br />
Funktion haben auch die älteren Probanden<br />
Leistungsgewinne erzielt, aber die Trainingsgewinne<br />
sind bei jüngeren Erwachsene weitaus höher, was auf<br />
neurobiologische Funktionsverluste bei den Älteren<br />
schließen lässt (Kap. 10).<br />
1.2.3 Neue Kernannahmen in Forschung und<br />
Theorienbildung<br />
Die Bedeutung grundlegender Annahmen wird<br />
bei einem Vergleich verschiedener Forschungslinien<br />
mit ihren unterschiedlichen theoretischen Interpretationen<br />
offensichtlich (Cairns, 1998; Overton, 2003;<br />
Trautner, 1991). Je nachdem, ob dem Subjekt und/oder<br />
der Umwelt ein gestaltender Beitrag zur Entwicklung<br />
zugebilligt wird oder nicht, lassen sich vier<br />
prototypische Modellfamilien unterscheiden (vgl.<br />
Abb. 1.4, S. 10):<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 9
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Subjekt<br />
aktiv<br />
nicht<br />
aktiv<br />
Umwelt<br />
aktiv<br />
interaktionistische<br />
transaktionale<br />
systemische<br />
Modelle<br />
exogenistische<br />
Modelle<br />
nicht aktiv<br />
aktionale und<br />
konstruktivistische<br />
Modelle<br />
endogenistische<br />
Modelle<br />
Abbildung 1.4. Eine Typologie von Entwicklungstheorien<br />
Eine erste Kernfrage lautet: Ist das Subjekt Gestalter<br />
seiner Entwicklung, oder wird seine Entwicklung<br />
von inneren und äußeren Kräften gelenkt?<br />
Das exogenistische Modell<br />
Watsons berühmtes Angebot, man möge ihm ein<br />
Dutzend Kinder geben und eine Welt, in der er sie<br />
aufziehen könne, dann garantiere er, dass er jedes zu<br />
dem mache, was man wolle: Arzt, Rechtsanwalt,<br />
Künstler, Unternehmer oder auch Bettler und Dieb<br />
(Watson, 1924), ist prägnanter Ausdruck des behavioristischen<br />
Menschenbildes (Gewirtz, 1969). Es<br />
handelt sich um ein radikal exogenistisches Entwicklungsmodell.<br />
Die Entwicklung wird völlig unter<br />
Kontrolle externer Einflussfaktoren gesehen.<br />
Endogenistische Modelle<br />
Demgegenüber führen endogenistische Theorien Entwicklung<br />
auf Entfaltung eines angelegten Plans des<br />
Werdens zurück. Anlagen und deren Reifung sind die<br />
Erklärungen für Veränderungen (vgl. auch die Diskussion<br />
des neuen Nativismus in Kap. 6). Das genetische<br />
Entwicklungsprogramm wird nur in zeitlich begrenzten<br />
sensiblen Perioden für jeweils spezifische äußere<br />
Einflüsse als offen angesehen (s. Abschn. 3.2). Entwicklung<br />
wird nicht erklärt durch Einflüsse von<br />
außen. Die Entwicklung als selbst erklärt, wann und<br />
inwiefern Einflüsse von außen veränderungswirksam<br />
werden, da spezifische äußere Faktoren nur bei einem<br />
bestimmten Entwicklungsstand einwirken können.<br />
Weder die exogenistischen noch die endogenistischen<br />
Modelle sind durch die Datenlage gerechtfertigt.<br />
Es sei nur auf ein Forschungsergebnis verwiesen.<br />
Wenn alle Kindern eine optimale kognitive<br />
Frühförderung erfahren, profitieren die meisten von<br />
diesem Programm, die Unterschiede zwischen den<br />
Kindern werden aber nicht kleiner, sondern größer;<br />
dies belegt, dass die Kinder mit den besseren Entwicklungspotentialen<br />
mehr von der Förderung profitieren<br />
(Kap. 22). Das exogenistische Modell kann<br />
die wachsenden Unterschiede zwischen den geförderten<br />
Kindern nicht erklären, das endogenistische<br />
Modell kann die durchschnittlichen Fördereffekte<br />
im Vergleich zu nicht geförderten nicht erklären.<br />
Nur mit einem interaktionistischen Modell sind die<br />
Ergebnisse zu erklären: Je größer die Potentiale,<br />
umso größer die Fördereffekte.<br />
Zwei Varianten interaktionistischer Modelle werden<br />
im Folgenden unterschieden.<br />
Aktionale Modelle<br />
Der Mensch selbst wird als Mitgestalter seiner Entwicklung<br />
angesehen (Brandtstädter, 2001), als erkennendes<br />
und reflektierendes Wesen, das sich ein<br />
Bild von sich selbst und seiner Umwelt macht und<br />
bei neuen Erfahrungen modifiziert. Der reflexive<br />
Mensch reagiert nicht mechanisch auf äußere Gegebenheiten,<br />
sondern nimmt diese selektiv wahr, deutet<br />
und interpretiert sie und richtet sein Verhalten<br />
an diesen Deutungen aus. Auch Reifungsvorgänge<br />
(etwa in der Pubertät) wirken nicht mechanisch<br />
determinierend, sondern vermittelt über das Selbstbild<br />
und die Wahrnehmung anderer Menschen und<br />
des sozialen Kontextes, die auch unter dem Einfluss<br />
von Reifungsvorgängen etwa in der Pubertät beeinflusst<br />
werden können (Kap. 8). Der Mensch ist im<br />
Laufe der Entwicklung immer besser in der Lage,<br />
ziel- und zukunftorientiert zu handeln und damit<br />
gestalterischen Einfluss auf seine eigene Entwicklung<br />
zu nehmen.<br />
Piagets Konstruktivismus. Das Modell der Selbstgestaltung<br />
liegt schon dem großen und einflussreichen<br />
Werk Jean Piagets (1896–1980) über die<br />
Entwicklung der Intelligenz, des Denkens und Forschens<br />
und der Moral zugrunde. Piaget sah die Entwicklung<br />
als Konstruktionsprozess, der durch die<br />
Aktivitäten der Subjekte selbst seine Wirkung entfal-<br />
10 1 Konzeptionen der Entwicklung
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tet (Montada, 2002). Ausgangspunkt der Entwicklung<br />
sind Handlungen, die nicht zum erwünschten<br />
Ergebnis, und Denkoperationen, die nicht zu widerspruchsfreien<br />
Problemlösungen führen. Dies macht<br />
eine Reorganisation der Handlungs- und Denkstrukturen<br />
notwendig. Das Ergebnis sind neue,<br />
leistungsfähigere Strukturen.<br />
Durch Eingriffe von außen kann dieser Entwicklungsprozess<br />
nicht völlig gesteuert werden. Die Umwelt<br />
kann lediglich durch angemessene Fragen und<br />
Problemstellungen, durch Erzeugung kognitiver<br />
Konflikte und Hinweis auf Widersprüchlichkeiten<br />
die Grenzen des jeweils gegebenen Entwicklungsstandes<br />
aufzeigen und neue Lösungen anregen. Der<br />
Aufbau neuer Strukturen erfordert aber nach Piaget<br />
eigenes Suchen, Probieren und Erkennen. Diese<br />
Konzeption Piagets war zwar schon systemisch in<br />
dem Sinne, dass Entwicklung aus einer aktiven Auseinandersetzung<br />
des Menschen mit Angeboten, Anforderungen<br />
und Problemen der Außenwelt resultiert,<br />
aber nur das Entwicklungssubjekt wurde als<br />
wirklich aktiv gestaltend angesehen.<br />
Der Mensch als Gestalter seiner eigenen Entwicklung.<br />
Dass Menschen Einfluss auf ihre eigene Entwicklung<br />
haben und nehmen, wird vom späteren<br />
Jugendalter an von niemandem bestritten, der Willensfreiheit<br />
annimmt und Wahlmöglichkeiten sieht.<br />
Was mündige Menschen aus ihren Potentialen machen,<br />
welche Entscheidungen sie bezüglich Lebensführung,<br />
Beruf und sozialen Beziehungen treffen,<br />
welche Regeln und Ordnungen sie anerkennen und<br />
einhalten, welche Risiken sie eingehen usw., dafür<br />
werden sie zumindest partiell als selbstverantwortlich<br />
betrachtet. Das heißt nicht, dass nicht wichtige<br />
andere Menschen und weitere Komponenten<br />
sozial/ökologischer Systeme mit verantwortlich<br />
bzw. einflussreich sind und in Kindheit und Jugend<br />
waren.<br />
Dass Menschen in ihren frühen Lebensjahren<br />
bereits ihre eigene Entwicklung selbst mitgestalten,<br />
wurde in der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> erst spät thematisiert<br />
(Lerner & Busch-Rossnagel, 1981). Seit<br />
langem ist bekannt, dass es im ersten Jahrzehnt<br />
signifikante IQ-Änderungen in Abhängigkeit vom<br />
familiären Kontext gibt. Sind diese ausschließlich<br />
durch Anregungen und Anforderungen der Eltern<br />
bedingt, oder haben die interessierten, lernmotivierten<br />
Kinder sich selbst eine anregende Umwelt<br />
geschaffen durch ihre Fragen, ihre Wissbegierde,<br />
ihre Resonanz auf entsprechende Bemühungen der<br />
Eltern? Nur wenn besondere Interessen und Begabungen<br />
von Kindern (Sprachkompetenz, Musikalität,<br />
handwerkliche Geschicklichkeit, sportliche<br />
Leistungsfähigkeit usw.) aufscheinen und erkannt<br />
werden, können sie bewusst gefördert werden. Für<br />
die einen ist ein Museumsbesuch eine Belohnung,<br />
für andere eine langweilige Zumutung.<br />
Kinder haben von früh an Vorlieben und Abneigungen,<br />
die eine Chance haben, toleriert oder durch<br />
entsprechende Angebote gefördert zu werden. Kinder<br />
treffen von früh an Wahlen, was die bevorzugten<br />
Kontakte und Tätigkeiten anbelangt, wenn sie alternative<br />
Optionen haben. Sie nehmen von früh an<br />
Einfluss auf ihr Umfeld, positiven Einfluss etwa<br />
durch Anschmiegen und Freundlichkeit, Responsivität<br />
und Resonanz, was für die Betreuungspersonen<br />
hoch befriedigend ist, und sie mit Freude und Stolz<br />
erfüllt. Dadurch fühlen sie sich akzeptiert und anerkannt<br />
und ihre Bindung zum Kind und ihre Neigung,<br />
das Kind zu fördern, wird gestärkt. Ein unleidlicher,<br />
irritierbarer Säugling verursacht bei den Betreuern<br />
Hilflosigkeit, Gefühle des Versagens, auch<br />
Ärger und Ablehnung. Die Folgen für das Selbstbild<br />
der Betreuungspersonen und ihr Bemühen um<br />
Selbstachtung liegen auf der Hand. Die Korrelation<br />
zwischen negativen Temperamentsmerkmalen in der<br />
frühen Kindheit und ungünstiger Persönlichkeitsentwicklung<br />
(z. B. Rutter, 1979) kann mit der Hypothese<br />
erklärt werden, dass Kinder mit schwierigem<br />
Temperament eher abgelehnt oder gemieden, was<br />
sich ungünstig auf ihre soziale, geistige und Persönlichkeitsentwicklung<br />
auswirkt.<br />
Von früh an haben Kinder mit ihren Aktivitäten,<br />
ihrem Temperament, ihren Kommunikationsstilen,<br />
ihren Interessen und anderem mehr Einfluss auf<br />
andere und auf die Interaktionen mit anderen. Und<br />
damit haben sie reziprok auch Einfluss auf ihre<br />
eigene Entwicklung, die durch alle Bezugspersonen<br />
gefördert oder beeinträchtigt werden kann. Kinder<br />
modifizieren von Geburt an auf vielfältige Weise das<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 11
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Selbstbild, die Einstellungen, Werthaltungen, Zielsetzungen<br />
und das Verhalten ihrer Sozialpartner, die<br />
ihrerseits auf das Kind einwirken und ihm rückmelden,<br />
ob es liebenswert ist oder nicht, ob es kompetent<br />
ist oder nicht, ob es bewundert wird oder nicht,<br />
ob es wichtig ist oder nicht. Und diese Rückmeldungen<br />
sind entscheidend für die Ausbildung eines<br />
Selbstbildes. Der symbolische Interaktionismus<br />
(Mead, 1934) hat dies zum Thema erhoben: Das<br />
Bild von sich selbst, das Bild von anderen, das Ausfüllen<br />
einer sozialen Rolle werden gestaltet in der<br />
sozialen Interaktion, die als wechselseitig Einfluss<br />
nehmend, also als transaktional zu sehen ist.<br />
Dass diese Einflüsse nicht auf die Bezugspersonen<br />
beschränkt bleiben, sondern auf vielfältige Weise<br />
Auswirkungen auf die materialen und medialen<br />
Angebote in der Familie, auf die familiären und<br />
außerfamiliären Aktivitäten und Kontakte, auf die<br />
Bildungsangebote usw. haben, kann man sich leicht<br />
denken. Menschen suchen sich lebenslang, wenn es<br />
Wahloptionen gibt, Kontakte, Aktivitäten, Settings<br />
usw., die zu ihren ausgebildeten Motiven, Wertungen<br />
und Kompetenzen passen. Und all das hat Folgen<br />
für die weitere Entwicklung.<br />
Transaktionale systemische Modelle<br />
In transaktionalen – auch dialektische, kontextuelle,<br />
relationale genannten – Konzeptionen (Cairns,<br />
1998; Overton, 2003) wird sowohl dem Entwicklungssubjekt<br />
als auch den Entwicklungskontexten<br />
(mit den dort agierenden Menschen) gestaltender<br />
Einfluss auf die Entwicklung zugeschrieben. Allen<br />
Varianten dieser Konzeption gemeinsam ist die Annahme<br />
systemischer Zusammenhänge. Menschen<br />
leben, agieren und entwickeln sich in sozialen bzw.<br />
ökologischen Systemen. Sie sind Teil verschiedener<br />
Systeme. Alle Teile der Systeme stehen in Relation<br />
zueinander. Ihre Aktivitäten können andere Teile<br />
beeinflussen.<br />
Ein Kind lebt in einer Familie und kommt mit<br />
anderen sozialen Kontexten in Kontakt. Es hat mannigfaltige<br />
Einflüsse auf Eltern und alle anderen Personen,<br />
mit denen es in Kontakt kommt. Die Einrichtung<br />
der Wohnung, die Aktivitäten der Familienmitglieder<br />
sind durch seine Existenz, seine<br />
Bedürfnisse und sein Verhalten, seine Persönlichkeit,<br />
seine Gesundheit mitbestimmt. Umgekehrt haben<br />
alle Kontaktpersonen und die physischen bzw. materiellen<br />
Elemente des Lebenskontextes Einfluss auf<br />
das Kind.<br />
Gemeinsame Kernannahme dieser Modelle ist,<br />
dass der Mensch und seine Umwelt ein Gesamtsystem<br />
bilden, in dem sowohl das Entwicklungssubjekt<br />
als auch seine Umwelt aktiv und miteinander verschränkt<br />
aufeinander einwirken. Die Veränderungen<br />
eines Teils führen zu Veränderungen auch anderer<br />
Teile und/oder des Gesamtsystems und wirken wieder<br />
zurück. Und alle Personen sind in ständiger Entwicklung<br />
begriffen, nicht nur Kinder und Jugendliche.<br />
Alle gewinnen neues Wissen, neue Einsichten,<br />
modifizieren ihr Selbstbild, ihr Bild von der Welt,<br />
ihre Einstellungen, ihre normativen Überzeugungen<br />
usw.<br />
Die Unterscheidung antezedierender Bedingungen<br />
und davon abhängiger Folgen bildet die real<br />
wirksamen Interaktionen zwischen den sich entwickelnden<br />
Personen und ihrer sozialen und physischen<br />
Umwelt nur in einem spezifischen Ausschnitt<br />
ab. Die komplexe Verschränkung gleichzeitiger Veränderungen<br />
aller Systemteile wird analytisch ausgeblendet,<br />
wenn die Aktivitäten eines Systemteils als<br />
antezedierende Bedingung, die Veränderungen anderer<br />
Systemteile als Folgen betrachtet werden. Das<br />
Konzept des „Circulus vitiosus“ bezeichnet eine<br />
Möglichkeit ungünstiger systemischer Wechselwirkungen,<br />
z. B. die Eskalierung von Gewalt. Selbstverständlich<br />
gibt es auch günstige Wechselwirkungen,<br />
etwa reziproker Freundlichkeit oder Unterstützung<br />
oder der Zusammenhang zwischen Interesse und<br />
Mitarbeit der Schüler und beruflichem Engagement<br />
der Lehrer.<br />
Die Umsetzung systemischen Denkens in Forschungsprogramme<br />
wird allerdings sehr komplex,<br />
so dass eine Prüfung von Zusammenhangshypothesen<br />
nur ausschnittweise möglich ist. Allerdings<br />
sollte man sich dessen bewusst sein und über einzelne<br />
Hypothesen hinaus denken. Systemische<br />
Betrachtung äußerte sich deshalb zunächst in einer<br />
Korrektur tradierter einseitiger Hypothesen. Hat<br />
man früher gefragt, wie das Kind durch seine fami-<br />
12 1 Konzeptionen der Entwicklung
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liäre Umwelt geformt wird, so fragt man heute auch<br />
umgekehrt, wie das Kind oder der Jugendliche auf<br />
die Familie ein- und rückwirken (s. Abschn. 4.4). Es<br />
wird also z. B. nicht nur gefragt, wie sich Scheidung<br />
auf die Kinder auswirkt, sondern auch, was Kinder<br />
zur Ehezufriedenheit beitragen oder ob etwa die<br />
Bindung der Eltern an ihre Kinder die Scheidungsentscheidung<br />
beeinflusst und welchen Einfluss die<br />
Kinder auf die Bindung ihrer Eltern haben.<br />
Unter der Lupe<br />
Ein Forschungsbeispiel<br />
Kagan und Moss (1962) ermittelten wie viele<br />
andere danach eine Korrelation zwischen Feindseligkeit<br />
und Strafneigung der Mütter und<br />
Aggressivität der Kinder gegen ihre Mütter<br />
(r = .70 für Jungen und r = .68 für Mädchen).<br />
Was bedeutet das? Verursacht die Feindseligkeit<br />
der Mutter die Aggressivität der Kinder? Oder<br />
resultiert die Feindseligkeit der Mutter aus der<br />
Aggressivität der Kinder? Oder bedingt sich das<br />
gegenseitig im Sinne eines Circulus vitiosus?<br />
Oder ist die Feindseligkeit der Mutter und die<br />
Aggressivität der Kinder durch gemeinsame<br />
genetische Anlagen bedingt? Um diese Fragen<br />
abklären zu können, wären Längsschnittstudien,<br />
vergleichende Studien über die Variationen von<br />
Mutter-Kind-Interaktionen in derselben Familie,<br />
vergleichende Studien in biologischen und Adoptivfamilien<br />
erforderlich. Wichtig ist festzuhalten,<br />
dass verschiedene Einflusshypothesen zu prüfen<br />
sind, bevor eine querschnittlich ermittelte Korrelation<br />
interpretiert werden darf.<br />
Systemisches Denken und das Konzept der Passung.<br />
Brandtstädter (1985) hat Entwicklungsprobleme<br />
als Passungsprobleme charakterisiert. Ein<br />
Entwicklungsproblem liegt vor, wenn bestimmte<br />
Entwicklungsstandards (etwa eine altersgemäße<br />
Leistung) nicht erbracht werden kann bzw. wenn die<br />
„Entwicklungsaufgaben“ einer Lebensperiode, etwa<br />
Berufsausbildung, Aufbau von Partnerschaft usw. im<br />
Jugend- und frühen Erwachsenenalter (vgl. Kap. 8<br />
und 9) nicht geleistet werden. Entwicklungsprobleme<br />
sieht er als Diskrepanz bzw. fehlende Passung<br />
zwischen<br />
den Zielen des Individuums selbst,<br />
seinen Potentialen (Dispositionen, Kompetenzen<br />
usw.),<br />
den Anforderungen im familiären, schulischen,<br />
subkulturellen Umfeld des Individuums, d. h. den<br />
dort existierenden alters-, funktions- oder<br />
bereichsspezifischen Standards,<br />
den Angeboten (Lern- und Hilfsangeboten,<br />
Ressourcen) in der Umwelt des Individuums.<br />
Es gibt Diskrepanzen zwischen Zielen und Potentialen,<br />
Anforderungen und Potentialen, Potentialen<br />
und Angeboten usw. Entwicklungsprobleme manifestieren<br />
sich als unzureichende Leistungen, als<br />
Selbstwertprobleme, Statusprobleme, Eheprobleme,<br />
Eltern-Kind-Probleme, berufliche Probleme u. a. m.<br />
Unter der Lupe<br />
Kindesmisshandlung<br />
Ein Beispiel für ein spezifisches Passungsproblem<br />
liefern Forschungen zu Kindesmisshandlung<br />
(Schneewind, Beckmann & Engfer, 1983;<br />
s. auch Kap. 26). Ursprünglich hat man Kindesmisshandlung<br />
als Ausdruck einer pathologischen<br />
Persönlichkeitsstruktur der Eltern angesehen, die<br />
oft mit ungünstigen Sozialisationsbedingungen<br />
erklärt wurde (etwa mit der Erfahrung, als Kind<br />
selbst abgelehnt oder überhart bestraft worden<br />
zu sein). In soziologischen Theorien wurden<br />
aktuelle Stressoren wie Armut, Arbeitslosigkeit,<br />
Scheidung, beengte Wohnverhältnisse oder<br />
Stress am Arbeitsplatz dafür verantwortlich<br />
gemacht. Dann begann man, die Eigenarten der<br />
Kinder selbst in die Betrachtung einzubeziehen<br />
und stellte fest, dass es die „schwierigen“ Kinder<br />
sind, die besonders häufig Opfer von Misshandlungen<br />
werden. Als Säuglinge sind diese Kinder<br />
leicht irritierbar, schreien viel, lassen sich nicht<br />
beruhigen. Später sind Ungehorsam und antisoziale<br />
Verhaltensweisen auffällig. Es sind nicht<br />
selten zu früh geborene Kinder, Kinder mit<br />
leichten zerebralen Schäden und anderen<br />
<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
1.2 Die moderne differentielle und ökologische <strong>Entwicklungspsychologie</strong> 13
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Anomalien, für die man als Außenstehender<br />
eher Rücksicht und Mitleid erwartet, die aber<br />
tatsächlich besondere Schwierigkeiten machen,<br />
mit denen nicht jede Mutter oder jeder Vater<br />
fertig wird.<br />
Das transaktionale Modell legt es nahe, soziale<br />
Systeme unter dem Gesichtspunkt der Passung zu<br />
betrachten. Schwierige Kinder können besorgte,<br />
geduldige, einfallsreiche Eltern haben oder aber<br />
Eltern, die rigide Vorstellungen über wünschenswertes<br />
Verhalten der Kinder haben, die sie durchsetzen<br />
wollen. In einer Untersuchung über die<br />
Häufigkeit harter Strafen fanden Schneewind<br />
et al. (1983) Belege für diese Passungshypothese.<br />
Häufig und hart bestraft werden<br />
überzufällig häufig die schwierigen Kinder, und<br />
zwar von Eltern, die zu einer rigiden Machtbehauptung<br />
neigen oder sich erzieherisch als<br />
ohnmächtig erleben.<br />
Zur praktischen Bedeutung von Entwicklungsmodellen.<br />
Entwicklungsmodelle haben nicht nur<br />
Bedeutung für Forschung und Theorienbildung. Sie<br />
haben eminente praktische Bedeutung. Eine Entwicklungsprognose<br />
auf der Grundlage eines interaktionistischen<br />
Modells wird nicht allein auf der Basis<br />
personaler Dimensionen oder Umweltdimensionen<br />
versucht, sondern wird nach Personklassen und<br />
Kontextklassen spezifiziert. Man baut z. B. nicht nur<br />
auf die empirische Regel „Intelligenz ist von der<br />
Schulzeit an recht stabil“, sondern man versucht, die<br />
Stabilität nach Personklassen und Kontextklassen zu<br />
spezifizieren. Da nicht wenige Menschen im Laufe<br />
des Lebens ihre Kontexte radikal wechseln (Adoption,<br />
Schulwechsel, Wechsel von Peergruppen, Partnerschaft,<br />
Berufseintritt und -wechsel) und Kontexte<br />
sich wandeln können (z. B. durch personelle Veränderungen),<br />
erfordern langfristige Prognosen auch<br />
Prognosen über Kontextänderungen, die allerdings<br />
als höchst unsicher anzusehen sind.<br />
Was Interventionen anbelangt, bieten interaktionistische<br />
Modelle mehrere Ansatzpunkte zur Wahl: das<br />
Entwicklungssubjekt, relevante Komponenten des<br />
Kontextes oder ein problembehaftetes System als<br />
Ganzes. Für eine Evaluation von Entwicklungsinterventionen<br />
ist die Wirkungs- und Nebenwirkungsanalyse<br />
auf mehrere Elemente des Systems und das<br />
System insgesamt auszudehnen.<br />
Denkanstöße<br />
Versuchen Sie, in einer transaktionalen Modellbildung<br />
hypothetische Entwicklungen zu skizzieren,<br />
die zu Schulversagen oder zu Delinquenz<br />
im Jugendalter führen. Denken Sie sich anschließend<br />
mögliche Maßnahmen aus, wie das Schulversagen<br />
oder die Delinquenz hätte verhindert<br />
werden können. Wählen Sie für diese Maßnahmen<br />
unterschiedliche Ansatzpunkte, die Sie aus<br />
Ihrer transaktionalen Modellbildung ableiten.<br />
1.3 Gegenstandsbestimmung aus dem<br />
Bedarf an <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
in Praxisfeldern<br />
Ein wichtiger Zugang, die Gegenstände der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
zu bestimmen, geht von der Frage<br />
aus, welche Beiträge das Fach zur Lösung praktischer<br />
Probleme leistet (vgl. Teil IV dieses Buches). Eltern,<br />
Lehrer, Schulpsychologen, klinische Psychologen,<br />
psychologische Gutachter vor Gericht, Sozialpädagogen,<br />
Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Gerontologen,<br />
Altenpfleger, Kriminologen, Strafrichter u. a. m.<br />
brauchen <strong>Entwicklungspsychologie</strong>. Entwicklungspsychologische<br />
Erkenntnisse und Überzeugungen<br />
fließen in das Bildungs-, das Wirtschafts-, das Sozialund<br />
das Rechtssystem der Gesellschaft ein. Im Folgenden<br />
werden einige typische Klassen von Fragen<br />
aus der Praxis genannt.<br />
1.3.1 Orientierung über den Lebenslauf<br />
Was hat man von einem Säugling, einem Grundschulkind,<br />
einem Jugendlichen, einem Erwachsenen,<br />
einem Greis zu erwarten? Welche Kompetenzen,<br />
Einstellungen, Interessen darf man voraussetzen?<br />
Welche Anforderungen sind angemessen, in welcher<br />
14 1 Konzeptionen der Entwicklung
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Hinsicht ist Schutz oder Schonung geboten? Auf<br />
welches Mindestalter sollen die Geschäftsfähigkeit,<br />
die Strafmündigkeit, die Volljährigkeit, das Wahlrecht,<br />
die Heiratsfähigkeit, das Rentenalter festgelegt<br />
werden? In welchen Entwicklungsperioden hat<br />
man mit welchen typischen Risiken, mit welchen<br />
Krisen oder Problemen zu rechnen? Was muss in<br />
welchen Altersperioden vermittelt oder vermieden<br />
werden, damit kein bleibender Schaden entsteht? In<br />
vielen Lebensbereichen wird solches Wissen über<br />
das weithin Gültige der menschlichen Entwicklung<br />
benötigt.<br />
Seit die Idee der Kindheit ins allgemeine Bewusstsein<br />
gerückt ist, dass nämlich Kinder und Heranwachsende<br />
besondere Betreuung und Förderung<br />
benötigen und nicht überfordert werden dürfen,<br />
haben sich wohlgemeinte, aber falsche Überzeugungen<br />
bezüglich der Begrenzungen und die Möglichkeiten<br />
gebildet, die bis heute herrschen. In den<br />
letzten Jahrzehnten wurden immer wieder Leistungsmöglichkeiten<br />
in den ersten Lebensjahren entdeckt,<br />
die man nicht für möglich gehalten hatte (vgl.<br />
z. B. Kap. 6, 12, 14 und 25). Analoges gilt für verbreitete<br />
Überzeugungen bezüglich genereller Leistungsverluste<br />
im Alter (Kap. 10 und 33). Solche<br />
Überzeugungen führen dazu, dass Leistungspotentiale<br />
nicht oder nicht optimal ausgeschöpft werden.<br />
Valides Forschungswissen und kreative Forschungsansätze<br />
haben eine nicht zu überschätzende gesellschaftliche<br />
Bedeutung.<br />
Normatives Wissen bereitstellen. Die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
hat die Aufgabe, solches Wissen<br />
bereitzustellen. Die Beschreibung von Lebensphasen,<br />
Kataloge altersspezifischer Entwicklungsaufgaben<br />
und -probleme, die Zusammenstellung von Leistungsinventaren<br />
und Entwicklungsnormen für verschiedene<br />
Altersstufen sind Beispiele. Viele Kapitel<br />
dieses Buches werden daher über typische Erwerbungen,<br />
Entwicklungsaufgaben und Probleme in verschiedenen<br />
Lebensabschnitten informieren.<br />
Individuelle Unterschiede beachten. Interindividuelle<br />
Unterschiede werden dabei genauso wenig<br />
übersehen wie Unterschiede, die sich aus der<br />
Geschlechts- oder Kulturzugehörigkeit und aus<br />
Kontexteinflüssen ergeben. Unterschiede werden<br />
durch Entwicklungstests objektiv messbar gemacht,<br />
die auch Standards – Durchschnittswerte – für die<br />
Beurteilung des Entwicklungsstandes bieten.<br />
Welche Abweichungen vom Durchschnitt sind<br />
wie wahrscheinlich? Wie sind sie zu erklären? Was<br />
bedeuten sie aktuell? Was bedeuten sie für das weitere<br />
Leben? Sind sie stabil, sind sie veränderbar? Das<br />
sind die Fragen, die für Entwicklungsprognosen und<br />
-interventionen relevant sind. Wie kann man die<br />
künftige Entwicklung in günstiger Weise beeinflussen?<br />
Welche präventiven Maßnahmen gegen Fehlentwicklungen<br />
sind wann und in welcher Weise zu<br />
ergreifen? Wie kann man einen Menschen gegen<br />
schädigende Einflüsse immunisieren? Wie kann man<br />
die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass belastende<br />
Erfahrungen bewältigt werden?<br />
Indem die <strong>Entwicklungspsychologie</strong> Antworten<br />
auf solche Fragen gibt, wird sie zu einem Führer<br />
durch den Lebenslauf für alle, die ihr eigenes Leben<br />
gestalten oder die andere bei der Gestaltung ihres<br />
Lebens beraten oder unterstützen wollen.<br />
1.3.2 Prognose der Ausprägung und<br />
Veränderung von Personmerkmalen<br />
Viele Entscheidungen und Maßnahmen in den<br />
genannten Praxisfeldern fußen auf mehr oder weniger<br />
sicheren Prognosen der weiteren Entwicklung.<br />
Ohne Vorhersagen von Entwicklungsverläufen und<br />
drohenden Störungen fehlt einer Entscheidung die<br />
Grundlage.<br />
Lassen sich Schulerfolg, Harmonie in der Ehe,<br />
Bewältigung von Lebenskrisen oder das Auftreten<br />
pathologischer Störungen langfristig prognostizieren?<br />
Es bleibt in aller Regel ein hohes Irrtumsrisiko,<br />
weil nicht alle Einflussfaktoren bekannt sind,<br />
weil nicht alle wirksamen positiven und negativen<br />
Einflüsse vorhersehbar sind,<br />
weil grundsätzlich Freiheiten zur Selbstgestaltung<br />
der eigenen Entwicklung anzunehmen sind.<br />
Entwicklung ist in vielen Bereichen „plastisch“, d. h.<br />
nicht durch Anlagen und vorausgegangene Entwicklungsschritte<br />
determiniert, sondern beeinflussbar<br />
und gestaltbar.<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
1.3 Gegenstandsbestimmung aus dem Bedarf an <strong>Entwicklungspsychologie</strong> in Praxisfeldern 15
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
1.3.3 Ermittlung von Entwicklungsbedingungen<br />
Charakteristisch für die entwicklungspsychologische<br />
Bedingungsforschung sind zwei Besonderheiten:<br />
Erstens werden die Auswirkungen von Einflussfaktoren,<br />
wenn möglich, nicht nur kurzfristig, sondern<br />
langfristig beobachtet. Hypothesen über die Spätfolgen<br />
von Kindheitserfahrungen, wie sie Freud beispielsweise<br />
in der Erklärung von Psychoneurosen<br />
formuliert hat, mögen als bekanntes Beispiel dienen<br />
(Freud, 1933). Es wäre voreilig, nur die aktuellen<br />
Wirkungen einer Erfahrung als Grundlage einer<br />
Bewertung zu nehmen. Manche aktuell unangenehme<br />
und stressreiche Belastung, wie z. B. die befristete<br />
Trennung des Kleinkindes von der Mutter, muss<br />
langfristig keine negativen Wirkungen haben. Wird<br />
sie bewältigt, ist die Person für künftige Belastungen<br />
dieser Art eher besser gerüstet.<br />
Zweitens wird untersucht, inwieweit der aktuelle<br />
Entwicklungsstand als Bedingung für die weitere<br />
Veränderung eine Rolle spielt. Es wird geprüft, ob<br />
Effekte und Effizienz von externen Einflussfaktoren<br />
eine Funktion des aktuellen Entwicklungsstandes<br />
(z. B. des Wissens, der Weisheit, der Motivdispositionen<br />
usw.) sind. Eine Einflussnahme mag förderlich<br />
sein, wenn sie zur rechten Zeit kommt (etwa<br />
eine Leistungsanforderung, die bewältigt werden<br />
muss). Sie mag Fehlentwicklungen auslösen, wenn<br />
sie zu früh erfolgt, wenn sie zu Misserfolg und<br />
einem negativen Leistungsselbstbild führt. Und sie<br />
mag unwirksam bleiben, wenn sie zu spät erfolgt.<br />
1.3.4 Begründung von Entwicklungszielen<br />
Zielsetzungen basieren auf den Überzeugungen, dass<br />
sie erreichbar sind und dass es gut ist, sie zu erreichen.<br />
Beide Überzeugungen sollten möglichst auf<br />
validen Forschungsergebnissen beruhen. Relevant<br />
für Zielsetzungen ist deskriptives Wissen (z. B. über<br />
alterstypische Leistungen und ihre Streuungen),<br />
aber auch über alterstypische Probleme und über<br />
differentielle Entwicklungsverläufe, sofern Einflussfaktoren<br />
bekannt sind. Wenn die Forschung zeigt,<br />
wovon die Entwicklung abhängt, wie man Fehlentwicklungen<br />
vermeiden und Ziele erreichen kann,<br />
werden Zielentscheidungen möglich, wo zuvor nur<br />
Schicksalsergebenheit oder „fromme Wünsche“<br />
möglich waren. Dann sind Ziele zu setzen wie die<br />
folgenden: Mein Kind soll wenigstens durchschnittliche<br />
Leistungen erbringen. Oder: Wir werden als<br />
Eltern Vorsorge treffen, dass unser Sohn im Jugendalter<br />
keine Drogen nehmen wird (oder keine Delikte<br />
begehen wird). Oder: Ich werde alles versuchen,<br />
im Alter so lange wie möglich produktiv und selbständig<br />
zu bleiben.<br />
1.3.5 Planung und Evaluation von<br />
Entwicklungsinterventionen<br />
Die Interventionsplanung baut auf den Prognosen,<br />
dem Bedingungswissen und den Zielentscheidungen<br />
auf. Welche Maßnahmen sind bei welchen Voraussetzungen<br />
geeignet, ein Interventionsziel zu erreichen?<br />
Gibt es optimale Interventionsperioden? Gibt<br />
es optimale Interventionsformen bei gegebenen Potentialen,<br />
Problemen oder Kontextgegebenheiten?<br />
Das sind die typischen Fragen. Auch hier benötigen<br />
wir Informationen über die kurz- und langfristige<br />
Wirksamkeit von Maßnahmen sowie über kurzoder<br />
langfristige Nebeneffekte, um entscheiden zu<br />
können, ob eine Maßnahme wirksam oder unwirksam,<br />
ob sie gefährlich oder förderlich ist. Ob es um<br />
Schulung oder Therapie, um Resozialisierung oder<br />
Rehabilitation, ob es um Adoption oder Bewährungshilfe<br />
geht: Man muss versuchen, auch die längerfristigen<br />
Auswirkungen einzuschätzen. Langfristige,<br />
verzweigte „Follow-up-Studien“ für die Wirkungsüberprüfung<br />
von Interventionen sind zwar<br />
immer aufwendig, aber wissenschaftlich und praktisch<br />
von großem Interesse.<br />
Denkanstöße<br />
Wählen Sie eines der aktuellen politischen<br />
Streitthemen (z. B. Kinderhorte für alle Kinder,<br />
Ganztagsschulen für alle, Verschiebung des<br />
Rentenalters), und stellen Sie dazu möglichst<br />
viele entwicklungspsychologische Fragen<br />
zusammen, die beantwortet sein sollten, bevor<br />
man zu Entscheidungen kommt.<br />
16 1 Konzeptionen der Entwicklung
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Beispiel<br />
Die Allgemeine Psychologie hat den zeitlichen<br />
Verlauf des Vergessens von auswendig gelerntem<br />
Stoff über mehr oder weniger kurze Zeitstrecken<br />
untersucht und Vergessenskurven und deren<br />
Bedingungen ermittelt. Die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
untersucht Veränderungen und Stabilitäten<br />
solcher Vergessenskurven über das Leben, also<br />
nicht die Vergessenskurve als Funktion der Zeit,<br />
sondern Veränderungen der Vergessenskurve als<br />
Funktion der Lebenszeit, wie das in Abb. 1.5<br />
hypothetisch dargestellt ist. Sollte sich die Vergessenskurve<br />
bei Stoffen, die nach Art und Umfang<br />
gleich sind, im Laufe des Lebens generell oder bei<br />
Einzelnen ändern, wäre eine allgemeine oder<br />
individuelle Altersverlaufskurve des Vergessens zu<br />
erstellen.<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Abbildung 1.5. Von der Allgemeinen Psychologie zur <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
1.4 Eine Arbeitsdefinition von<br />
Entwicklung<br />
Veränderungen und Stabilitäten von Kompetenzen,<br />
Überzeugungen, Interessen, Motivationen, Selbstkonzepten<br />
usw. sind Gegenstände der <strong>Entwicklungspsychologie</strong>.<br />
Die Veränderungen, die wir Entwicklung<br />
nennen, haben drei Besonderheiten.<br />
1.4.1 Das Lebensalter ist eine sinnvolle<br />
Dimension zur Registrierung dieser<br />
Veränderungen<br />
Ein breit akzeptierter Vorschlag zur Abgrenzung<br />
von Entwicklung von anderen Veränderungen wie<br />
Wissenserwerb, Lernen von Fertigkeiten, Vergessen,<br />
Adaptieren, Sensibilisieren, Ausbildung von Gewohnheiten,<br />
Aufbau und Änderung von Einstellungen,<br />
pathologische Symptombildung, Traumatisierungen,<br />
folgenreiche Entscheidungen wie Berufswahlen, Migration,<br />
Partnerwahl usw. ist folgender:<br />
Gegenstand der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
!<br />
sind Veränderungen und Stabilitäten, die<br />
sinnvollerweise auf der Zeitdimension Lebensalter<br />
registriert werden. Altersangaben, Altersverlaufskurven,<br />
Altersnormen sind folglich<br />
entwicklungsrelevante Informationen.<br />
In der Lernpsychologie hat man die Konditionierung<br />
von Angst auf einen aversiven Reiz untersucht. Ob<br />
solche Konditionierungsprozesse während der gesamten<br />
Lebensspanne möglich sind und ob ihre<br />
Effekte in allen Lebensaltern gleich oder ungleich stabil<br />
sind, wären entwicklungspsychologische Fragen.<br />
Man kann in jedem Lebensalter versuchen, eine<br />
Fremdsprache zu lernen. Ob es Altersunterschiede<br />
im Tempo und dem erreichten Niveau hinsichtlich<br />
Aussprache und grammatischer und syntaktischer<br />
Strukturen, der Wirksamkeit spezifischer Methoden<br />
oder der Dauerhaftigkeit der erworbenen Sprachkompetenzen<br />
gibt, das wären entwicklungspsychologische<br />
Fragen.<br />
Die Moralpsychologie untersucht die Vermittlung<br />
und den Erwerb moralischer Normen; eine entwicklungspsychologische<br />
Frage wäre, ob es Altersunter-<br />
1.4 Eine Arbeitsdefinition von Entwicklung 17
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
schiede in den Prozessen und Methoden des Erwerbs,<br />
im Verständnis und in der Beachtung von<br />
Normen gibt.<br />
Die Differentielle Psychologie beschreibt u. a. interindividuelle<br />
Unterschiede in Personmerkmalen. Die<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> fragt nach Veränderungen<br />
und Stabilitäten der Merkmale über die Lebensspanne<br />
hinweg (Kap. 19).<br />
Die Arbeitspsychologie untersucht Leistungsanforderungen<br />
und die erforderlichen Fähigkeiten, die<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> Fähigkeitsveränderungen<br />
bzw. -stabilitäten über die Lebensspanne hinweg oder<br />
mögliche Kompensationen von Einbußen an Fähigkeiten.<br />
Erklärungsbedürftige Altersunterschiede bezogen<br />
auf Veränderungen und Stabilitäten. Lebensalter<br />
ist keine Erklärung. Eine Veränderung tritt nicht ein,<br />
weil jemand älter wird, sondern weil Prozesse oder<br />
Ereignisse eintreten, die diese Veränderung bewirken.<br />
Diese Prozesse oder Ereignisse können mit dem Alter<br />
korreliert sein, Alter erklärt sie aber nicht.<br />
1.4.2 Dauerhafte oder nachhaltig wirkende<br />
Veränderungen<br />
Mit Entwicklung werden nur dauerhafte oder nachhaltig<br />
weiter wirkende Veränderungen bezeichnet.<br />
Einflüsse in der Kindheit (etwa Anregungen zur<br />
kognitiven Entwicklung oder traumatische Erfahrungen)<br />
sind nur dann entwicklungspsychologisch<br />
interessant, wenn sie nachhaltig wirken. Das ist dann<br />
der Fall, wenn sie Kompetenzen und Dispositionen<br />
erzeugen, die ihrerseits weiterwirken.<br />
Kommt es z. B. zu Problemen und Störungen im<br />
Kindesalter, fragen Entwicklungspsychologen, ob<br />
dies auch im späteren Leben noch Folgen hat (in<br />
differentieller Sicht: bei wem; in kontextueller Sicht:<br />
unter welchen Umständen). Umgekehrt fragen sie,<br />
ob die Grundlage für Störungen und Probleme im<br />
Erwachsenenalter schon in Kindheit und Jugend<br />
geschaffen wurde, etwa durch den Aufbau relevanter<br />
Dispositionen oder durch Defizite. Analoge Fragen<br />
werden gestellt, wenn es um positive Leistungen und<br />
Kompetenzen, Interessen, Motivationen oder Persönlichkeitsmerkmale<br />
geht.<br />
Im Unterschied zu anderen Teildisziplinen der<br />
Psychologie ist die Perspektive nicht auf einen Zeitpunkt<br />
der Beobachtung, sondern prospektiv und<br />
retrospektiv auf die gesamte Lebensspanne gerichtet:<br />
Wie ist es geworden? Und was wird weiter? Damit<br />
im Zusammenhang steht die dritte Besonderheit<br />
der <strong>Entwicklungspsychologie</strong>. Es geht um Kontinuität.<br />
1.4.3 Suche nach Kontinuitäten<br />
Die Suche nach Erklärungen jeder Veränderung und<br />
jeder Stabilität ist eine Suche nach Kontinuitäten in<br />
der Entwicklung (z. B. nach vorausgehenden Veränderungen,<br />
die die aktuelle Veränderung oder<br />
Stabilität mitbedingen oder ermöglichen). In einer<br />
Veränderungsreihe sind es die jeweils vorausgehenden<br />
Schritte, die als notwendige Voraussetzungen<br />
beherrscht werden müssen. Bei Überlegungen zum<br />
entwicklungsangemessenen Unterrichten sind es<br />
Wissens- und Kompetenzvoraussetzungen. Bei neurotischen<br />
Reaktionen von Erwachsenen vermutete<br />
Freud Dispositionen als Voraussetzungen, die durch<br />
traumatische Kindheitserfahrungen entstanden sind.<br />
Bei der Bewältigung eines Verlustes können es die<br />
vorausgehend erworbenen Bewältigungskompetenzen<br />
sein. Viele weitere Beispiele lassen sich in diesem<br />
Buch finden (s. auch Abschn. 5).<br />
Denkanstöße<br />
<br />
<br />
<br />
Tragen Sie entwicklungspsychologische<br />
Fragen über mögliche Wirkungen des Fernsehens<br />
zusammen, und stellen Sie Fragen,<br />
die Sie nicht als entwicklungspsychologische<br />
ansehen.<br />
Was bedeutet entwicklungsangemessenes<br />
Unterrichten?<br />
Ein Kind erlebt im Alter von 5 Jahren die<br />
Trennung seiner Eltern und den Auszug des<br />
Vaters, den es liebt wie die Mutter. Stellen<br />
Sie entwicklungspsychologische Fragen<br />
bezüglich der möglichen Auswirkungen<br />
dieses Ereignisses.<br />
18 2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll?
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
2 Die Anlage-Umwelt-Debatte:<br />
Welche Fragen sind sinnvoll?<br />
Kontroversen über die Frage, ob den Erbanlagen,<br />
dem Genom oder der Umwelt mehr Gewicht bei<br />
der Entwicklung von Fähigkeiten, Dispositionen,<br />
Störungen usw. zukomme, sind so alt wie die <strong>Entwicklungspsychologie</strong>.<br />
Voreingenommene Meinungen<br />
sind verbreitet, obwohl diese Frage unsinnig ist.<br />
Erbanlagen und die internale und externale Umwelt<br />
wirken bei der Entwicklung psychologischer Merkmale<br />
immer zusammen, und zwar nicht additiv.<br />
Deshalb ist die Frage nach Gewichten so unsinnig,<br />
wie es unsinnig wäre, zu fragen, ob die Länge oder<br />
die Breite mehr zur Fläche beitragen.<br />
Die sinnvolle Frage an die Wissenschaft lautet:<br />
Welche Komponenten des Genoms interagieren wann<br />
bei der Entwicklung mit welchen Aspekten der internalen<br />
somatischen und/oder der externalen Umwelt<br />
in welcher Weise und mit welchem Ergebnis? Diese<br />
Frage ist aber nicht generell zu beantworten, sondern<br />
für jede Entwicklung von Fähigkeiten, Merkmalen<br />
und Störungen gesondert. Bei der Beantwortung stehen<br />
wir in vielen Feldern erst am Anfang.<br />
Weil die Debatte über Gewichte von Anlagen und<br />
Umwelt nach wie vor kontrovers geführt wird, muss<br />
man sich mit Daten und Argumenten auseinander<br />
setzen. Sinnvoll gefragt werden darf, welcher Anteil<br />
an Fähigkeits- und Merkmalsunterschieden in einer<br />
Population auf Unterschiede<br />
in den Erbanlagen und<br />
in der Entwicklungsumwelt<br />
zurückführbar sind. Diese Frage muss erstens für<br />
jede Untersuchungspopulation gesondert beantwortet<br />
werden, und die Antwort darf nicht von einer Population<br />
auf andere generalisiert werden. Zweitens lassen<br />
die Antworten keinerlei Rückschlüsse zu auf das relative<br />
Gewicht von Anlage- und Umwelteinflüssen bei<br />
der Herausbildung von Fähigkeiten und Merkmalen<br />
eines Individuums. Das wird weiter unten erläutert.<br />
Wie erfasst man Unterschiede im Genom und in<br />
der Entwicklungsumwelt, um herauszufinden, ob<br />
diese bei der Herausbildung von Merkmalen (z. B.<br />
Fähigkeiten, Motivationen, Eigenschaften, Störungen)<br />
eine Rolle spielen?<br />
2.1 Erfassung der Entwicklungsumwelt<br />
Die möglicherweise relevanten Aspekte der Entwicklungsumwelt<br />
sind unzählbar. Das ist mit den<br />
vier systemischen Ebenen zu illustrieren, die Bronfenbrenner<br />
(1979) beschrieben hat: Mikro-, Meso-,<br />
Exo- und Makrosysteme (vgl. Kap. 4). Jede dieser<br />
Systemebenen kann unter ganz unterschiedlichen<br />
Aspekten beschrieben werden, etwa die Familie als<br />
eines der Mikrosysteme oder die Schule oder der<br />
Arbeitsplatz als zwei der Exosysteme oder die<br />
Rechtsordnung oder weltanschauliche Überzeugungen,<br />
die zu den makrosystemischen Gegebenheiten<br />
zählen. Die Beschreibungskategorien aller Verhaltens-,<br />
Sozial-, Kultur- und Ökowissenschaften können<br />
grundsätzlich relevant sein.<br />
In einzelnen Forschungsprogrammen werden<br />
jeweils spezifische Aspekte der Entwicklungsumwelt<br />
erfasst, die von den Forschern hypothetisch als einflussreich<br />
für spezifische Entwicklungen angesehen<br />
werden. Jedes erfolgreiche Forschungsprogramm<br />
leistet einen kleinen Beitrag zu der Hypothesensammlung<br />
über externale, ökologische Einflüsse auf<br />
die Entwicklung. In allen Kapiteln dieses Buches<br />
wird über solche Forschungsprogramme berichtet.<br />
Sie bieten die derzeit verfügbare Wissensgrundlage<br />
für praktisches Handeln. Mit Gewissheit generalisierbares<br />
Wissen kann die Forschung nicht liefern,<br />
schon weil nie alle internen und externen<br />
Bedingungen bekannt und kontrollierbar sind, die<br />
die Wirkung eines Einflussfaktors moderieren<br />
können.<br />
Das Konzept der speziesnormalen Umwelt. Die Spezies<br />
Homo sapiens hat sich in der Evolution als soziales<br />
und kulturelles Wesen herausgebildet. Es gab und<br />
gibt viele Kulturen, vor allem auch des sozialen<br />
Lebens. Viele Kulturspezifika werden gelernt. Dass<br />
aber die Kultur überhaupt gelernt werden kann, hat<br />
sich als Fähigkeit in der Evolution generell herausgebildet.<br />
Die Verhaltensgenetik unterscheidet Entwicklungsergebnisse,<br />
die normal sind für die Spezies, von<br />
solchen, die normal sind für eine spezifische Kultur.<br />
Alle genetisch normalen Kinder lernen eine Sprache,<br />
das Grundwissen, die Werte, die Normen, die Fertig-<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
2.1 Erfassung der Entwicklungsumwelt 19
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
keiten einer Kultur, wenn sie in einer für die Spezies<br />
Mensch normalen kulturellen Umwelt aufwachsen.<br />
Welche Sprache, welche Fertigkeiten, welche Werte<br />
und Normen und welches Grundwissen sie lernen,<br />
hängt davon ab, in welcher Kultur sie aufwachsen.<br />
Das, was sie lernen, ist phänotypisch unterschiedlich,<br />
aber funktional im jeweiligen materiellen, sozialen<br />
und kulturellen Kontext äquivalent. Ein Kernsatz der<br />
Verhaltensgenetiker lautet: Alle genetisch normalen<br />
Kinder erwerben das für die jeweilige Kultur normale<br />
Repertoire, wenn sie in einem für die Spezies normalen<br />
und nicht in einem extrem anregungsarmen<br />
Milieu aufwachsen (Scarr, 1993).<br />
Die hier bezeichneten Normalitäten der Genome<br />
und der Entwicklungskontexte sind keine punktuellen<br />
Mittelwerte, sondern umfassen breite Ausschnitte<br />
der Varianzen der Genome und Entwicklungskontexte.<br />
Folglich sind erhebliche Unterschiede in den<br />
Entwicklungsergebnissen zu erwarten. Auch wenn<br />
alle Kinder mit in diesem Sinne normalen Anlagen,<br />
die in einer in diesem Sinne für die Spezies<br />
normalen Umwelt aufwachsen, z. B. die Sprache ihrer<br />
Umwelt erlernen, wird es große interindividuelle<br />
Unterschiede in Bezug auf das Tempo des Spracherwerbs<br />
und auf die erworbenen Sprachkompetenzen<br />
geben. Solche Unterschiede im Entwicklungsergebnis<br />
sind bedeutsam für den Erfolg oder<br />
Misserfolg in einer Kultur. Deshalb sind sie ein<br />
zentraler Forschungsgegenstand der <strong>Entwicklungspsychologie</strong>.<br />
2.2 Erfassung von Erbunterschieden<br />
Die Träger der Erbanlagen werden Allele genannt.<br />
Sie sind beim Menschen in 23 Chromosomenpaaren<br />
aufgereiht. Die Orte auf den Chromosomen, an<br />
denen sich je ein Allel von Vater und Mutter befinden,<br />
heißen Gene. Mehrere Möglichkeiten des Nachweises<br />
von Vererbungseinflüssen sind zu unterscheiden<br />
(vgl. dazu Kap. 3).<br />
2.2.1 Chromosomale Besonderheiten<br />
Relativ unproblematisch ist der Nachweis der Vererbung<br />
in jenen Fällen, in denen ein enger Zusammenhang<br />
zwischen phänotypischen Merkmalen und<br />
chromosomalen Auffälligkeit gegeben ist. So ist die<br />
Geschlechtszugehörigkeit durch das 23. Chromosomenpaar<br />
determiniert, das beim Mann unterschiedliche<br />
(XY), bei der Frau homologe Paarlinge (XX)<br />
aufweist. Über 1.500 Chromosomenanomalien wurden<br />
beschrieben. Die meisten führen zum Tode oder<br />
zu pathologischen Entwicklungen. Die häufigste<br />
Chromosomenanomalie, die Trisomie 21 (das 21.<br />
Chromosom hat drei statt zwei Stränge), führt zum<br />
Down-Syndrom (volkstümlich als Mongolismus<br />
bezeichnet): Neben körperlichen Auffälligkeiten<br />
(wie einem mongoloiden Gesichtsschnitt) weisen<br />
die Träger geistige Behinderungen auf und sind<br />
nicht fortpflanzungsfähig.<br />
Denkanstöße<br />
Auf die Leistung eines Kindes in der Schule<br />
wirken viele Faktoren ein. Denken Sie<br />
darüber nach, wie sich die Anlagen, die Familie,<br />
die Qualität des Unterrichts und<br />
die verfügbaren Unterrichtsmaterialien auf<br />
die Leistung eines 12-Jährigen im Mathematikunterricht<br />
auswirken.<br />
Caspar Hauser wuchs allein in einem dunklen<br />
Verließ auf. Was meinen Sie, welche<br />
kognitiven Fähigkeiten am meisten beeinträchtigt<br />
waren.<br />
2.2.2 Passung in ein Erbgangsmodell<br />
Eine zweite Möglichkeit, Erbeinflüsse zweifelsfrei<br />
nachzuweisen, besteht dann, wenn ein Merkmal<br />
oder eine Krankheit in aufeinander folgenden Generationen<br />
bezüglich Aussehen und Auftreten einem<br />
der bekannten Erbgangsmodelle entspricht (Kap. 2).<br />
Die Mendel’schen Gesetze beruhen auf einfachen<br />
Erbgangsmodellen, in denen jeweils ein Gen die<br />
Ausprägung bestimmt. Bei klar abgrenzbaren (diskreten)<br />
Merkmalen kann der Erbgang in der Generationenfolge<br />
leicht verfolgt werden, wenn die Ausprägung<br />
durch ein einzelnes Gen determiniert wird.<br />
Dabei ist zu beachten, dass Allele dominant oder<br />
rezessiv sein können. Viele Krankheiten werden<br />
20 2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll?
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
durch rezessive Allele vererbt und kommen erst<br />
dann zur Ausprägung, wenn zwei identische rezessive<br />
Allele zusammentreffen. Haben Blutsverwandte<br />
Nachkommen, ist die Wahrscheinlichkeit für diese<br />
Krankheiten wesentlich höher als bei Nachkommen<br />
von Nichtverwandten. Die Beobachtung dieser Tatsache<br />
dürfte zum Verbot der Heirat zwischen Blutsverwandten<br />
geführt haben.<br />
Bei multigener Vererbung sind die Auftretenshäufigkeiten<br />
von Erkrankungen ein Indiz. Viele Krankheiten<br />
haben aufgrund genetischer Dispositionen<br />
ein erhöhtes Auftretensrisiko (z. B. Diabetes mellitus,<br />
verschiedene Organtumore, auch Schizophrenie<br />
und Alkoholismus). Anlagebedingt ist lediglich ein<br />
erhöhtes Risiko, das je nach Entwicklungsumständen,<br />
Umwelt und Lebensführung zum Ausdruck<br />
kommt oder nicht. Welche Einflussfaktoren dabei<br />
eine Rolle spielen, muss zur Vermeidung der Risiken<br />
aufgeklärt werden.<br />
Insgesamt spielen Erbgangsanalysen in der Medizin<br />
eine viel größere Rolle als in der Psychologie,<br />
weil bei kontinuierlichen psychologischen Variablen<br />
multigene Vererbung vorliegt. Hier wären nur familiäre<br />
Häufungen extremer Merkmalsausprägung als<br />
Indiz für Anlageeinflüsse anzusehen.<br />
2.2.3 „Reinzüchtung“: Wie wirkt sich die<br />
Merkmalsähnlichkeit von Eltern aus?<br />
In der Tierzucht sind Versuche der „Reinzüchtung“<br />
kontinuierlich abgestufter Merkmale durch Paarung<br />
von Individuen mit derselben extremen Merkmalsausprägung<br />
in aufeinander folgenden Generationen<br />
üblich. Gibt es dazu eine Analogie bei Menschen? In<br />
unserer Kultur ist die Wahl der Ehepartner in Bezug<br />
auf Intelligenz nicht zufällig: Die IQs von Ehepartnern<br />
sind recht hoch korreliert (r = .50 nach Vandenberg,<br />
1972). Man könnte den Mittelwert des IQ<br />
beider Eltern bilden und bei Paaren mit demselben<br />
Mittelwert zwei Stichproben bilden:<br />
Paare mit etwa dem gleichen IQ,<br />
Paare mit sehr unterschiedlichen IQ.<br />
Wenn die Geschwister mit Eltern der 1. Stichprobe<br />
geringere Unterschiede im IQ aufweisen würden als<br />
die Geschwister mit Eltern aus der zweiten Stichprobe,<br />
wäre ein genetischer Einfluss nachgewiesen.<br />
Auch ist damit zu rechnen, dass extremere Ausprägungsgrade<br />
der Intelligenz in der Population häufiger<br />
werden, wenn über mehrere Generationen diesbezügliche<br />
Ähnlichkeiten Kriterium bei der Partnerwahl<br />
war.<br />
2.2.4 Populationsgenetische Analysen<br />
Bei allen kontinuierlich abgestuften psychologischen<br />
Variablen wie Intelligenz, Verträglichkeit oder Aggressivität<br />
sind wie gesagt polygene Erbeinflüsse anzunehmen,<br />
die in Interaktion mit Erfahrungs- und<br />
Umwelteinflüssen die Entwicklung bestimmen. Für<br />
den Nachweis von Erbeinflüssen wurden sog. populationsgenetische<br />
Analysen verwendet. Da deren Ergebnisse<br />
oft missverstanden werden, werden sie hier<br />
etwas ausführlicher behandelt.<br />
In einer Population gibt es zwischen den Individuen<br />
Unterschiede in der Ausprägung von Fähigkeiten<br />
und Merkmalen,<br />
Anlageunterschiede,<br />
Umweltunterschiede.<br />
Anlage- und Umweltunterschiede sind oft konfundiert.<br />
Sir Francis Galton (1822–1911), ein Vetter von<br />
Charles Darwin, hatte beobachtet, dass berühmte<br />
Wissenschaftler häufig aus denselben Familien<br />
stammten („English Men of Science“, 1887). Er<br />
schloss daraus auf eine Vererbung wissenschaftlicher<br />
Begabung. Dies war voreilig, denn nicht nur die Erbanlagen,<br />
sondern Erziehung und Milieueinflüsse in<br />
diesen Familien (spezifizierbar als Anregung, Bildung,<br />
Anforderung und Vorbildwirkung usw., eventuell<br />
auch als Hilfe bei der Positionsfindung) könnten<br />
für Berufsorientierung und -erfolg von Belang<br />
gewesen sein.<br />
Die Auflösung dieser Konfundierung von Anlageund<br />
Umweltähnlichkeiten ist das methodische Problem<br />
der Populationsgenetik. Die Untersuchung von<br />
Zwillingen und von Adoptivkindern sind die beiden<br />
„klassischen“ Methoden. Da der gleiche Phänotypus,<br />
z. B. ein Intelligenzquotient (IQ), auf verschiedenen<br />
Wegen zustande kommen kann – ein mittlerer<br />
IQ beispielsweise durch die Kombination einer<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
2.2 Erfassung von Erbunterschieden 21
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
guten Begabung mit einer ungünstigen Umwelt oder<br />
einer schwachen Begabung mit einem optimalen<br />
Milieu – kann der Einzelfall keine Aufklärung über<br />
die Gewichte der beiden Faktorengruppen in der<br />
Population bringen. Man braucht dazu größere und<br />
repräsentative Stichproben.<br />
Zwillingsuntersuchungen<br />
Die Anlageähnlichkeit nimmt mit abnehmenden<br />
Verwandtschaftsgraden ab. Eineiige Zwillinge (EZ)<br />
entwickeln sich aus einem einzigen befruchteten Ei<br />
und sind anlagemäßig identisch. Alle Unterschiede<br />
müssen auf andere als Anlagefaktoren zurückgeführt<br />
werden. Bei allen anderen Verwandtschaftsgraden<br />
können die phänotypischen Unterschiede sowohl<br />
auf Anlageunterschieden als auch auf Erfahrungsoder<br />
Umweltunterschieden beruhen.<br />
Zweieiige Zwillinge (ZZ) sind anlagemäßig nicht<br />
ähnlicher als normale Geschwister, mögen aber<br />
vielleicht, da sie gleich alt sind, mehr an Kontext<br />
und Erfahrungen teilen als diese. Eventuell beobachtete<br />
phänotypische Ähnlichkeiten zwischen ZZ und<br />
altersungleichen Geschwistern wären dann auf größere<br />
Umweltdifferenzen bei Letzteren zurückzuführen.<br />
Tatsächlich wurden allerdings sogar geringere<br />
Ähnlichkeiten bei gemeinsam aufwachsenden<br />
ZZ-Paaren als bei altersungleichen Geschwistern<br />
und getrennt aufwachsenden ZZ-Paaren beobachtet<br />
(vgl. Tab. 1.1), was mit Bemühungen der ZZ um<br />
persönliche Identität durch Abgrenzung vom anderen<br />
Zwilling erklärt wurde. Im Durchschnitt sind<br />
die phänotypischen Ähnlichkeiten umso größer,<br />
je enger die genetische Verwandtschaft ist, also bei<br />
EZ größer als bei anderen Geschwisterpaaren oder<br />
bei Vettern. Zwischen Eltern und Kindern sind sie<br />
größer als zwischen Großeltern und Enkeln.<br />
Hypothese dieses Untersuchungsansatzes war folgende:<br />
Falls Umweltähnlichkeit von Bedeutung ist,<br />
sollten bei gleichem Verwandtschaftsgrad die Paarlinge<br />
umso ähnlicher sein, je länger sie zusammen,<br />
also im selben Kontext, gelebt haben. Allerdings<br />
bedeutet Leben in derselben Familie, am selben Ort<br />
usw. noch nicht, dass der Entwicklungskontext für<br />
die Geschwister identisch ist. Ein Geschwister kann<br />
z. B. dominanter, beliebter oder schwieriger sein,<br />
was voraussetzt, dass die Kontexte für dieses Kind<br />
anders sind als für sein Geschwister.<br />
EZ-Paare sind sich ähnlicher als ZZ-Paare. Dass<br />
gemeinsam aufwachsende EZ ähnlicher sind als ZZ,<br />
könnte auch damit erklärt werden, dass auch die<br />
Umwelt für EZ-Paare meist ähnlicher ist. Schon von<br />
Bracken (1933) ermittelte durch Befragungen von<br />
Eltern, Lehrern und den Zwillingen selbst, dass im<br />
Vergleich zu ZZ-Paaren EZ eine längere Zeit des<br />
Tages zusammen verbringen, häufiger die gleichen<br />
Freunde haben, sich in der Schule häufiger helfen,<br />
mehr füreinander eintreten und häufiger gleiche<br />
Interessen haben. Sie sind schwieriger zu unterscheiden<br />
und werden daher auch ähnlicher behandelt<br />
und beurteilt als die ZZ-Paare.<br />
Getrennt aufwachsende Zwillingspaare. Aussagekräftiger<br />
bezogen auf die Anlage-Umwelt-Einflüsse<br />
sind Vergleiche zwischen EZ- und ZZ-Paaren, die in<br />
früher Kindheit getrennt wurden und nicht gemeinsam<br />
aufgewachsen sind. Auch hier wurden regelmäßig<br />
größere Ähnlichkeiten bei EZ-Paaren gefunden.<br />
Auch dieses Ergebnis wurde kritisch hinterfragt. Tatsächlich<br />
sind viele Geschwisterpaare in verwandten<br />
Familien aufgewachsen, nicht selten hatten die Paare<br />
Kontakt zueinander in der Schule und in der Freizeit.<br />
Eine Kontrolle des Ausmaßes der Gemeinsamkeiten<br />
ergab jedoch keine Effekte und die Korrelation<br />
getrennt aufgewachsener EZ-Paare in einer Studie<br />
von Lykken und Bouchard (1984), die keinerlei<br />
Kontakt untereinander hatten, war nicht geringer als<br />
dies aus anderen Studien bekannt ist.<br />
Das generelle Ergebnismuster im Vergleich von<br />
EZ und ZZ ist nicht auf Intelligenz beschränkt.<br />
Goldsmith (1983) gibt einen Überblick über 26 Studien<br />
zur Erblichkeit einer Vielfalt von Temperaments-<br />
und Persönlichkeitsmerkmalen. Die Arbeiten<br />
erstrecken sich über einen breiten Altersbereich. Die<br />
Ergebnisse zeigen, dass die meisten Persönlichkeitsmerkmale<br />
(z. B. Aggressivität, Selbstkontrolle, Kontrollüberzeugungen,<br />
Ängstlichkeit, Impulsivität, Soziabilität)<br />
bei EZ-Paaren deutlich ähnlicher sind als<br />
bei ZZ-Paaren (vgl. hierzu auch Kap. 2).<br />
22 2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll?
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Unter der Lupe<br />
Ein Forschungsbeispiel zur Populationsgenetik: Intelligenz<br />
Tabelle 1.1 zeigt Korrelationen der Intelligenz<br />
erwachsener Paarlinge unterschiedlichen Verwandtschaftsgrades,<br />
die zusammen oder getrennt<br />
aufgewachsen sind. Anlageähnlichkeit (EZ, ZZ,<br />
Geschwister, nicht verwandte „Paare“ mit nur<br />
zufälliger Anlageähnlichkeit) und Umweltähnlichkeit<br />
(gemeinsam bzw. nicht gemeinsam aufgewachsene<br />
Paare) sind also unabhängig variiert.<br />
Die nicht gemeinsam aufwachsenden Geschwister<br />
wurden in früher Kindheit getrennt.<br />
Getrennt aufgewachsene EZ weisen eine höhere<br />
IQ-Ähnlichkeit auf als gemeinsam aufgewachsene<br />
Geschwister und ZZ. Auch getrennt aufwachsende<br />
Geschwister haben eine beträchtliche Ähnlichkeit,<br />
während nicht verwandte Paarlinge, die in der<br />
gleichen Umwelt aufgewachsen sind (z. B. in einer<br />
Adoptivfamilie), keine Ähnlichkeit aufweisen. In<br />
den untersuchten Stichproben ist also ein größerer<br />
Anteil an der Varianz des IQ auf genetische<br />
Verwandtschaft als auf gemeinsame familiäre Entwicklungsumwelt<br />
zurückzuführen.<br />
Tabelle 1.1. Phänotypische Ähnlichkeit im Erwachsenenalter<br />
als Korrelation zwischen Paarlingen bei unterschiedlichem<br />
Verwandtschaftsgrad und unterschiedlicher<br />
Umweltähnlichkeit (nach Bouchard et al., 1994)<br />
Verwandtschaftsgrad N Intelligenz<br />
Eineiige Zwillinge<br />
gemeinsam aufgewachsen 190 .86<br />
getrennt aufgewachsen 158 .75<br />
Zweieiige Zwillinge<br />
gemeinsam aufgewachsen 178 .39<br />
getrennt aufgewachsen 112 .35<br />
Geschwister<br />
gemeinsam aufgewachsen 271 .54<br />
getrennt aufgewachsen 28 .47<br />
Kinder, nicht verwandt<br />
gemeinsam aufgewachsen 108 –.02<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Untersuchungen in Adoptivfamilien<br />
Überzufällige Ähnlichkeiten zwischen Adoptiveltern<br />
und adoptierten Kindern – sofern sie nicht verwandt<br />
sind – und zwischen biologisch nicht verwandten<br />
Geschwistern in einer Adoptivfamilie können nur<br />
aus zwei Quellen stammen:<br />
einer differentiellen Auswahl oder selektive Platzierung<br />
bei Adoptionen, z. B. derart, dass Kinder<br />
mit höher eingeschätzter Intelligenzanlage in gebildetere<br />
(intelligentere) Adoptivfamilien vermittelt<br />
werden,<br />
der Sozialisation der adoptierten Kinder in der<br />
Adoptivfamilie und den über sie vermittelten<br />
Kontexten (Schulen u. a.).<br />
Eine überzufällige Korrelation zwischen den biologischen<br />
Eltern und ihren frühzeitig adoptierten Kindern<br />
ist – falls selektive Platzierung ausgeschlossen werden<br />
kann – nur auf Anlageähnlichkeiten zurückzuführen.<br />
Unter der Lupe<br />
Ein Untersuchungsbeispiel<br />
Munsinger (1975) hat aus 17 Untersuchungen<br />
über die Korrelation des IQ früh adoptierter<br />
Kinder mit dem IQ der Adoptiveltern und der<br />
biologischen Eltern die methodisch besten wie<br />
folgt zusammengefasst: Der IQ von Adoptivkindern<br />
ist mit dem mittleren IQ der Adoptiveltern<br />
nur gering korreliert (r = .19), mit dem IQ der<br />
biologischen Mütter signifikant höher (r = .34),<br />
obwohl die Schätzungen des IQ der biologischen<br />
Mütter unsicherer waren als die der Adoptiveltern.<br />
Zum Vergleich: Der Korrelationskoeffizient<br />
<br />
2.2 Erfassung von Erbunterschieden 23
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Veränderung des Erblichkeitskoeffizienten mit<br />
dem Lebensalter<br />
Die Erblichkeitskoeffizienten bleiben im Laufe der<br />
Entwicklung nicht stabil, sondern ändern sich systematisch<br />
von der frühen Kindheit bis zur Adoleszenz.<br />
Sie sprechen in der Summe für die These, dass sich<br />
genetische Ähnlichkeiten und Unterschiede nach der<br />
Vorschulperiode immer deutlicher manifestieren,<br />
oder umgekehrt, dass die Umwelteinflüsse in den<br />
ersten Lebensjahren zwar Effekte haben, aber keine<br />
bis zur Adoleszenz und dem Erwachsenenalter stabil<br />
bleibende Unterschiede erzeugen. Plomin und<br />
Thompson (1988) fassten die vorliegenden Studien<br />
zur Intelligenzentwicklung so zusammen, dass die<br />
Erblichkeitskoeffizienten von durchschnittlich 20 %<br />
in der frühen Kindheit über 40 % in der Kindheit<br />
auf 60 % in der Adoleszenz wachsen.<br />
Zwillings- und Geschwisterstudien in biologischen<br />
Familien. Die Korrelationen zwischen ZZ sind in den<br />
ersten Lebensjahren mit r = .60 bis .75 höher, als die<br />
Vererbungstheorie erwarten ließe (nämlich r = .50),<br />
denn ZZ sind sich genetisch im Durchschnitt so ähnzwischen<br />
dem IQ von Kindern und dem mittleren<br />
IQ ihrer biologischen Eltern ist r = .58, wenn<br />
die Kinder bei den Eltern leben (vgl. Tab. 1.2).<br />
Die Ergebnisse belegen, dass es hier einen Erbeinfluss<br />
gibt.<br />
Tabelle 1.2. Korrelationen der Intelligenz von Kindern und ihren biologischen Adoptiveltern (nach Munsinger,<br />
1975)<br />
N<br />
durchschnittliche<br />
Korrelation<br />
Durchschnittswert der Adoptiveltern<br />
(Intelligenzalter) ¥ IQ des Kindes 351 .19<br />
Durchschnittswert der biologischen Eltern<br />
(Intelligenzalter) ¥ IQ des Kindes (zusammen lebend) 378 .58<br />
Durchschnittswert des sozialen Status der biologischen<br />
Eltern ¥ IQ des Kindes (getrennt lebend) 41 .70<br />
IQ der biologischen Mutter ¥ IQ des Kindes<br />
(getrennt lebend) 255 .34<br />
Der Erblichkeitskoeffizient<br />
Erblichkeit (E 2 ) ist definiert als Anteil an der<br />
Gesamtvarianz eines Merkmals in einer Population,<br />
der auf Anlageunterschiede in einer Population<br />
zurückzuführen ist. Einfache Schätzungen stützen<br />
sich auf Korrelationen zwischen EZ- und ZZ-Paaren,<br />
die jeweils in derselben Umwelt aufgewachsen<br />
sind. E 2 = (r EZ – r ZZ ) : (1 – r ZZ ). Setzt man die Werte<br />
aus Tabelle 1.1 in die Formel ein, ergibt sich z. B. für<br />
die gemeinsam aufwachsenden Zwillinge E 2 = .77.<br />
Man verwendet zur Schätzung der Erblichkeit heute<br />
meist komplexe varianzanalytische Verfahren, die<br />
allerdings große varianzreiche Datensätze erfordern.<br />
Typischerweise ergeben sich Erblichkeitskoeffizienten<br />
für die Intelligenz zwischen .50 und .70. Zum<br />
Vergleich: Die Erblichkeitswerte für Schulleistungen<br />
liegen deutlich darunter. Für die meisten Persönlichkeitsmerkmale<br />
werden ebenfalls substantielle<br />
Erblichkeitskoeffizienten zwischen .40 und .50 berichtet<br />
(vgl. Kap. 3).<br />
24 2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll?
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lich wie „normale“ Geschwister. Diese Korrelationen<br />
sind nicht stabil. Nach Daten von Wilson (1983) ist<br />
die größte Ähnlichkeit bei ZZ, die gemeinsam aufwachsen,<br />
im Alter von drei Jahren erreicht, danach<br />
sinkt sie auf den von der Vererbungstheorie erwarteten<br />
Wert von r = .50 ab.<br />
Umgekehrt ist der Verlauf bei altersungleichen<br />
Geschwistern. Legt man die Messwerte jeweils des<br />
gleichen Alters zugrunde, ist in den ersten Lebensjahren<br />
die Ähnlichkeit geringer, als sie von der Vererbungstheorie<br />
erwartet würde. Sie steigt auf die Endhöhe<br />
von r = .50 in der Schulzeit an. Desgleichen<br />
fallen die Korrelationen bei EZ, die gemeinsam aufwachsen,<br />
nicht mit dem Alter ab, sondern steigen von<br />
Werten im ersten Lebensjahr, die denen der ZZ entsprechen<br />
(r = .66), rasch an und bleiben hoch.<br />
Studien in Adoptivfamilien. Das Bild wird durch<br />
Studien mit Adoptivkindern bestätigt. Die Korrelationen<br />
zwischen Adoptiveltern und Adoptivkindern liegen<br />
in den Vorschuljahren zwischen r = .20 und r =<br />
.30, fallen danach in der Regel deutlich ab, während die<br />
Korrelationen zwischen den biologischen Eltern und<br />
ihren früh adoptierten Kindern von Werten um r = .25<br />
in der frühen Kindheit auf Werte bis r = .40 in der<br />
Adoleszenz ansteigen (Gourley, 1979). Die Ähnlichkeit<br />
mit den biologischen Müttern wird mit zunehmendem<br />
Alter größer, die Ähnlichkeit mit den Adoptiveltern<br />
wird geringer. Die Korrelation der Intelligenzwerte<br />
nicht verwandter Adoptivkinder derselben<br />
Familie ist in der frühen und mittleren Kindheit noch<br />
positiv (r = .25 bis .39), fällt aber im Jugendalter auf<br />
.00 zurück (Plomin & Thompson, 1988).<br />
Wie sind diese unterschiedlichen Entwicklungen<br />
zu erklären? Plomin unterschied hypothetisch drei<br />
Arten der Anlage-Umwelt-Kovariation oder -Passung:<br />
die passive, die evokative und die aktive (Plomin,<br />
DeFries & Loehlin, 1977).<br />
Passive Genotyp-Umwelt-Passung. Eltern gestalten<br />
partiell das Leben ihrer Kinder mit ihren Angeboten<br />
und Anforderungen, ihren Interessen usw.<br />
Diese können den ererbten Potentialen und Dispositionen<br />
der Kinder mehr oder weniger entsprechen.<br />
Hat ein Vater z. B. Interesse an Musik, spielt er vielleicht<br />
ein Instrument, hört viel Musik, kauft seinem<br />
Kind früh ein Musikinstrument, lehrt es spielen, ist<br />
erfreut und lobt, wenn sein Kind sich interessiert<br />
und die Angebote aufnimmt. Wenn dieses Angebot<br />
dem Genotyp des Kindes entspricht, liegt eine passive<br />
Genotyp-Umwelt-Passung vor. Passend oder<br />
nicht: Das junge Kind kann sich dem nicht ganz entziehen,<br />
es wird sich diesen Angeboten bzw. Anforderungen<br />
des Vaters auch dann ein Stück weit<br />
anpassen, wenn es den eigenen Talenten und Dispositionen<br />
nicht entspricht.<br />
Evokative Genotyp-Umwelt-Passung. Evokative<br />
(oder reaktive) Passung liegt vor, wenn die Eltern<br />
Wünsche, Interessen, Präferenzen, Talente ihres Kindes,<br />
die dessen Genotyp entsprechen, erkennen und<br />
darauf eingehen, dem Kind also entsprechende<br />
Möglichkeiten bieten oder erlauben. Das wissbegierige<br />
Kind evoziert bei responsiven Eltern häufiger<br />
Wissensangebote, das sportlich begabte mehr Gelegenheiten<br />
zu sportlicher Betätigung.<br />
Aktive Genotyp-Umwelt-Passung. Aktive Passung<br />
liegt dann vor, wenn das Kind selbst aus dem Spektrum<br />
von Angeboten, Settings und Kontexten diejenigen<br />
auswählt, die seinem eigenen Genotyp entspricht,<br />
bzw. wenn das Kind seine Tätigkeitsfelder<br />
selbst gestaltet.<br />
Scarr und Weinberg (1983) nehmen an, dass sich<br />
die Bedeutung dieser drei Arten von Genotyp-<br />
Umwelt-Entsprechungen über das Lebensalter ändert:<br />
Die passive Entsprechung verliert mit steigendem<br />
Lebensalter an Bedeutung, weil die Kinder<br />
evokativ oder aktiv mehr Einfluss gewinnen bzw.<br />
nehmen, die aktive nimmt mit dem Lebensalter, mit<br />
wachsender Mobilität und Autonomie zu.<br />
Mit dieser Annahme lassen sich die oben geschilderten<br />
Daten plausibel interpretieren. Bezüglich einer<br />
passiven Kovariation besteht natürlich in biologischen<br />
Familien wegen der genetischen Ähnlichkeit<br />
zwischen Eltern und Kindern eine höhere Passungschance<br />
als in Adoptivfamilien, sofern keine selektive<br />
Platzierung auf der Basis geschätzter Ähnlichkeit der<br />
Adoptiveltern mit den biologischen Eltern vorliegt.<br />
Wir können also in jedem Lebensalter höhere<br />
Umwelt-Intelligenz-Korrelationen in biologischen<br />
Familien erwarten.<br />
Nicht zum Genotyp passende Anforderungen<br />
und Angebote werden in einem Alter, in dem das<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
2.2 Erfassung von Erbunterschieden 25
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Kind vornehmlich auf passive Entsprechung angewiesen<br />
ist, trotzdem ihre Wirkung haben. Dadurch<br />
können vor allem in früher Kindheit vorübergehend<br />
höhere Ähnlichkeiten zwischen Adoptiveltern und<br />
-kindern (und zwischen Stiefgeschwistern) erzeugt<br />
werden, als auf der Basis ihrer Anlageähnlichkeit zu<br />
erwarten wäre. Je mehr die evokativen und aktiven<br />
Arten an Bedeutung gewinnen, umso mehr setzt<br />
sich die Anlageähnlichkeit in der phänotypischen<br />
Ähnlichkeit durch.<br />
In der Regel werden nicht nur getrennt aufwachsende<br />
EZ einander immer ähnlicher, wenn sie aus<br />
einem breiten Angebot das ihrem Genom entsprechende<br />
aktiv auswählen können und dürfen. Die<br />
Ähnlichkeit zwischen adoptierten Kindern und<br />
ihren biologischen Eltern wächst mit zunehmendem<br />
Lebensalter, die Ähnlichkeit zwischen Stiefgeschwistern<br />
wird geringer.<br />
Die vorgestellten Daten deuten darauf hin, dass<br />
vor allem in den ersten Lebensjahren genetische<br />
Unterschiede durch Milieuunterschiede überlagert<br />
werden können. Mit zunehmendem Alter setzen sich<br />
die Anlageunterschiede stärker durch. Der Genotyp<br />
ist somit als ein Entwicklungsagens anzusehen, das<br />
ständig und selbsttätig wirksam ist.<br />
werden, weil ja alle die optimale Umwelt hatten,<br />
sondern müssten auf Anlageunterschiede (oder<br />
Messfehler) zurückgeführt werden.<br />
Würde dies bedeuten, dass die Umwelt für<br />
die Entwicklung der Intelligenz ohne Bedeutung<br />
ist? Nein, aber wir können Umwelteinflüsse nur<br />
nachweisen, wenn Menschen in unterschiedlichen<br />
Umwelten aufwachsen. Nur wenn das der<br />
Fall ist, aber nicht mit Intelligenzunterschieden<br />
korreliert ist, wäre nachgewiesen, dass diese<br />
Umweltunterschiede für die Entwicklung der<br />
Intelligenz nicht relevant sind, zumindest nicht<br />
in der untersuchten Population.<br />
Umgekehrt: Sollte die Reinzüchtung eines<br />
Merkmals gelingen, wären alle genetischen<br />
Unterschiede in diesem Merkmal in der reingezüchteten<br />
Population beseitigt. Unterschiede<br />
in dieser reingezüchteten Population können<br />
also nicht mit Anlageunterschieden erklärt<br />
werden. Dies hieße selbstverständlich nicht, dass<br />
die Anlagen ohne Bedeutung für die Ausprägung<br />
dieses Merkmals wären. Denn gerade die<br />
Tatsache, dass die Reinzüchtung gelungen ist,<br />
belegte doch den genetischen Einfluss.<br />
Die Interpretation populationsgenetischer Analysen<br />
Lässt sich aus den in Tabelle 1.1 und 1.2 dargestellten<br />
Ergebnissen folgern, dass das Merkmal Intelligenz<br />
stärker durch Anlagen als durch Umwelt determiniert<br />
ist? Diese Interpretation der Ergebnisse<br />
drängt sich auf. Sie ist aber in dieser Formulierung<br />
unzulässig, wie das folgende Gedankenexperiment<br />
aufzeigen soll.<br />
Unter der Lupe<br />
Gedankenexperiment<br />
Nehmen wir einmal an, für alle Menschen sei<br />
hinsichtlich der Intelligenzentwicklung dieselbe<br />
Umwelt optimal und diese sei realisiert.<br />
In diesem Falle könnten Intelligenzunterschiede<br />
– wenn es solche noch geben sollte –<br />
nicht mehr mit Umwelteinflüssen erklärt<br />
<br />
Dieses Gedankenexperiment zeigt auf, dass Erblichkeitskoeffizienten<br />
nur die Verhältnisse in der<br />
jeweils untersuchten Population beschreiben und<br />
nicht generalisiert werden können. In jeder Population<br />
sind spezifische Anlageunterschiede und spezifische<br />
Umweltunterschiede mit bestimmten Häufigkeiten<br />
realisiert. Andere Populationen können bezogen<br />
auf die Genome heterogener sein: Das würde<br />
wohl bei gleicher Umweltvarianz den Erblichkeitskoeffizienten<br />
erhöhen. In Populationen mit größerer<br />
Umweltvarianz, der gleicher genetischer Varianz wie<br />
in den bisher untersuchten wäre wohl ein größerer<br />
Anteil der Merkmalsvarianz durch Umweltunterschiede<br />
erklärt, was den Erblichkeitskoeffizienten<br />
vermindern würde.<br />
Bezüglich des IQs wurde die Erblichkeit, der<br />
genetisch bedingte Anteil an der Merkmalsvarianz,<br />
in den untersuchten Populationen auf mindestens<br />
50 % geschätzt, der Umweltanteil um gut 10 % nied-<br />
26 2 Die Anlage-Umwelt-Debatte: Welche Fragen sind sinnvoll?
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riger (z. B. Bouchard & Segal, 1985; Vandenberg &<br />
Vogler, 1985). Was bedeutet das? Fehlinterpretationen<br />
sind häufig.<br />
Fehlinterpretationen<br />
(1) Aus dem Varianzanteil des IQ in der untersuchten<br />
Population, der auf Anlageunterschiede<br />
zurückzuführen ist, kann und darf keinesfalls auf<br />
den „Anteil“ von Erbeinflüssen auf die Ausbildung<br />
des Merkmals bei einzelnen Personen<br />
geschlossen werden. Es gibt keine Möglichkeit,<br />
z. B. beim IQ eines Menschen Anlage- und<br />
Umwelteinflüsse in prozentuale Anteile zu trennen.<br />
Anlagen und Umwelteinflüsse wirken zusammen<br />
und können nicht addiert werden.<br />
(2) Aus dem Erblichkeitskoeffizienten des IQ lassen<br />
sich keine Prognosen über mögliche Umwelteinflüsse<br />
ableiten. Hierzu müssen die Effekte<br />
von Umweltveränderungen durch „Experimente<br />
des Lebens“ wie Adoptionen oder durch gezielte<br />
Interventionen wie kognitive Frühförderung<br />
(vgl. Kap. 22 und 23) längsschnittlich und im<br />
Vergleich mit Kontrollgruppen erfasst werden.<br />
Die Adoption von Kindern aus sozial schwachem<br />
Milieu in Mittelschichtfamilien stellt eine<br />
solche dauerhaft angelegte Förderung dar und<br />
führt im Durchschnitt auch zu beträchtlichen<br />
und dauerhaften Anstiegen des IQ (Scarr, 1993),<br />
auch wenn die interindividuellen Unterschiede<br />
zwischen den adoptierten Kindern dadurch<br />
nicht aufgehoben werden und höher korreliert<br />
sind mit den Unterschieden zwischen den biologischen<br />
Eltern als mit denen zwischen den<br />
Adoptiveltern (vgl. Tab. 1.2).<br />
Ein hoher Erblichkeitskoeffizient könnte reduziert<br />
werden, wenn es große Veränderungen bezüglich der<br />
Güte der Entwicklungsumwelten gibt, von denen<br />
nicht die ganze Population gleichermaßen betroffen<br />
ist, sondern nur Teilpopulationen, weil dadurch die<br />
Umweltvarianz größer würde.<br />
Die richtigen Fragen stellen<br />
Die beschriebenen Methoden der Familienforschung<br />
für die Ermittlung von Anlage- und Umwelteinflüssen<br />
haben gezeigt, dass die durch Korrelatio-<br />
nen erfassten Ähnlichkeiten zwischen Geschwisterpaaren<br />
eher wenig davon beeinflusst werden, ob die<br />
Geschwister gemeinsam oder getrennt aufwuchsen.<br />
Die Unterscheidung zwischen gemeinsamem oder<br />
getrenntem Aufwachsen lässt viele Fragen offen: Was<br />
sind entwicklungsrelevante familiäre Umwelteinflüsse?<br />
Welche außerfamiliären Einflüsse sind gleichzeitig<br />
gegeben, und wie relevant sind sie? Welche<br />
Unterschiede erleben und erfahren Geschwister, die<br />
in derselben Familie aufwachsen, und Geschwister,<br />
die in verschiedenen Familien aufwachsen? Gibt es<br />
je nach Anlagen unterschiedliche optimale und<br />
problematische Einflüsse? Welchen Einfluss haben<br />
die Heranwachsenden selbst auf die Gestaltung ihrer<br />
Entwicklungskontexte, und welche Freiheiten haben<br />
sie in der Wahl ihrer Umwelten?<br />
Anne Anastasi hat schon 1958 davor gewarnt,<br />
in der Debatte über Anlage- und Umwelteinflüsse<br />
die falschen Fragen zu stellen, und betont, dass es<br />
viele Wege des Zusammenwirkens von Anlagen und<br />
Umwelten gibt und dass es sinnvoller sei, diese Wege<br />
zu erkunden, als nach Einflussanteilen zu fragen. Die<br />
Frage nach Anteilen birgt je nach den Antworten,<br />
die auch voreingenommen und selektiv aufgenommen<br />
und interpretiert werden, das Risiko, die<br />
Erbeinflüsse zu überschätzen, und das Risiko eines<br />
unkritischen Optimismus, dass man die Entwicklung<br />
über Kontexte und Maßnahmen beliebig beeinflussen<br />
könne. Die Koaktionen zwischen Anlage<br />
und Umwelt sind sicher vielfältig. Aufgabe entwicklungspsychologischer<br />
Forschung ist es, die Art des<br />
Zusammenwirkens zu erkunden.<br />
Denkanstöße<br />
Inwiefern könnten Vergleiche der Kinder von<br />
EZ mit Kindern von ZZ oder von altersungleichen<br />
Geschwistern informativ sein für<br />
den Nachweis von Anlageeinflüssen?<br />
Was erwarten Sie: Sind Geschwister, die bei<br />
ihren biologischen Eltern aufwachsen ähnlicher<br />
als (biologische) Geschwister, die in gemeinsam<br />
in einer Adoptivfamilie aufwachsen?<br />
Formulieren Sie, was ein Korrelationskoeffizient<br />
besagt und was nicht, um den<br />
<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
2.2 Erfassung von Erbunterschieden 27
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
scheinbaren Widerspruch aufzulösen, dass<br />
eine Adoption für Kinder aus sozial schwachem<br />
Milieu und von wenig intelligenten<br />
Eltern hinsichtlich der Intelligenzentwicklung<br />
eine große Chance bedeutet, obwohl<br />
die Korrelationsbefunde zeigen, dass die Ähnlichkeit<br />
mit den biologischen Eltern<br />
größer ist als die mit den Adoptiveltern und<br />
mit dem Alter wächst, während die Korrelation<br />
mit den Adoptiveltern mit zunehmendem<br />
Alter geringer wird.<br />
3 Weitere Erklärungskonzeptionen<br />
Die <strong>Entwicklungspsychologie</strong> hat zu erklären, warum<br />
es zu Veränderungen kommt, warum es zu Stabilitäten<br />
kommt und warum es diesbezüglich interund<br />
intraindividuelle Unterschiede gibt. Folgende<br />
Konzeptionen werden kurz vorgestellt: Reifung, Reifestand,<br />
sensible Periode, Konstruktion, Sozialisation,<br />
Entwicklungsaufgaben, -probleme und -krisen.<br />
3.1 Reifung<br />
Definition<br />
Als Reifung werden gengesteuerte Veränderungen<br />
von Strukturen und Funktionen der<br />
Organe, des Zentralnervensystems, der<br />
hormonalen Systeme, der Köperformen usw.<br />
verstanden, deren Beschreibung und Erklärung<br />
allerdings nicht Gegenstand der Psychologie,<br />
sondern biologischer Wissenschaften ist. Ihre<br />
vielfältigen Wirkungen sind aber Themen der<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> und werden in vielen<br />
Kapiteln dieses Buches behandelt.<br />
Heute sind viele der organismischen Struktur- und<br />
Funktionsveränderungen bis hinunter auf das molekulare<br />
Niveau beschreibbar (vgl. z. B. Kap. 2). Bevor<br />
dies möglich war, hat man in der Geschichte der<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> Reifung immer dann<br />
angenommen, wenn universelle neue Funktionen<br />
(Leistungen, Interessen u. a.) nicht auf Lernen<br />
zurückzuführen waren, wenn z. B. Erfahrungs-,<br />
Übungs-, Lernmöglichkeiten eingeschränkt oder<br />
ausgeschaltet waren und es trotzdem keine deutliche<br />
Verzögerung im Erwerb einer Funktion gab oder<br />
wenn deren Erwerb durch Üben nicht deutlich früher<br />
stattfand.<br />
Säuglinge werden bereits mit einem umfangreichen<br />
Verhaltensrepertoire geboren (vgl. Kap. 6), dessen<br />
Erwerb nicht auf Lernen zurückgeführt wurde.<br />
Selbständiges Gehen wird um den 13. Lebensmonat,<br />
Zwei-Wort-Sätze um den 18. Lebensmonat beobachtet.<br />
Und wir kennen erstens keinen Weg, den<br />
Erwerb dieser Kompetenzen durch Übung deutlich<br />
vorzuverlegen, und jede für die Spezies normale,<br />
also nicht deprivierte Umwelt reicht für ihre Entwicklung<br />
aus.<br />
Fehlende Erfahrungsmöglichkeiten<br />
Eine experimentelle Ausschaltung von Erfahrungsmöglichkeiten<br />
wurde in Tierversuchen, auch bei<br />
Affen (Harlow & Zimmermann, 1958) häufig realisiert.<br />
Beim Menschen sind „Experimente des<br />
Lebens“ mit Einschränkungen von Erfahrungs- und<br />
Lernmöglichkeiten durch widrige Umstände eine<br />
Erkenntnisquelle (z. B. die „Wolfskinder“, die ohne<br />
menschliche Kontakte aufwuchsen, Fälle extremer<br />
Deprivation von Kindern durch Vernachlässigung<br />
und soziale Isolation, etwa durch Leben mit einer<br />
autistischen Mutter).<br />
Auch Extremvarianten kulturell geprägter Entwicklungsbedingungen<br />
sind aufschlussreich, wie<br />
etwa das „Binden“ von Säuglingen bei den Hopi-<br />
Indianern in ihren ersten Lebensmonaten, wodurch<br />
deren Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt war.<br />
Dass der dadurch verursachte Rückstand sehr rasch<br />
aufgeholt wurde, hat man als Beleg für die Reifung<br />
der motorischen Entwicklung gewertet (Dennis &<br />
Dennis, 1940).<br />
Spezifische Erfahrungsdeprivationen sind das<br />
Ergebnis sensorischer Defekte wie angeborener<br />
Blindheit und Taubheit sowie von Lähmungen und<br />
Missbildungen der Gliedmaßen. Welche Auswirkun-<br />
28 3 Weitere Erklärungskonzeptionen
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gen haben Blindheit, motorische Beeinträchtigungen<br />
durch Lähmungen oder Gliedmaßenverkümmerung?<br />
Sind Retardierungen reversibel? Spielt die Dauer der<br />
Deprivation eine Rolle und die Lebensperiode, in der<br />
es dazu kommt? Die Auswirkungen sind jeweils hinsichtlich<br />
ihres Ausmaßes und ihrer Reversibilität,<br />
ihrer aktuellen und langfristigen Effekte zu beurteilen.<br />
Zu all diesen entwicklungspsychologischen Fragen<br />
gibt es konkrete Informationen in diesem Buch,<br />
z. B. zur kognitiven und sprachlichen Entwicklung<br />
taub geborener Kinder (Kap. 14).<br />
Denkanstöße<br />
Sie haben weiter oben gelesen, dass Anlagen und<br />
Umwelt in der Entwicklung immer zusammenwirken.<br />
Nun wird Reifung hier als im Wesentlichen<br />
genetisch gesteuerte Entwicklung dargestellt.<br />
Stellen Sie Fragen nach möglichen<br />
Umwelteinflüssen auf die Auslösung, den Verlauf<br />
und das Ergebnis von Reifungsvorgängen.<br />
3.2 Reifestand und sensible Periode<br />
Definition<br />
Die Konzepte Reifestand („readiness for learning“)<br />
und sensible Periode beinhalten, dass ein<br />
bestimmter Entwicklungsstand gegeben sein muss,<br />
damit Erfahrungen auf fruchtbaren Boden fallen<br />
oder damit effizient geübt werden kann.<br />
Reifestand. Jede Mutter kann die Beobachtung<br />
machen, dass – zur rechten Zeit begonnen – mit<br />
wenig Aufwand dem Kind die Kontrolle über die<br />
Blasenentleerung oder selbständiges Gehen oder<br />
Fahrradfahren beigebracht werden kann. Versucht<br />
man es „zu früh“, ist es langwierig oder scheitert.<br />
Ähnliches kennen wir aus der Entwicklung der Sprache,<br />
der logischen Operationen oder des moralischen<br />
Denkens.<br />
Die in einer Kultur verbreiteten Meinungen über<br />
Reifung können zutreffend oder falsch sein. Glaubt<br />
man, Lesen sei nicht vor dem sechsten Lebensjahr<br />
(„der Schulreife“) zu erlernen, so werden Anforderungen<br />
und Anregungen darauf abgestellt, und das<br />
geistig normale Kind dieser Kultur wird nicht früher<br />
und auch nicht später lesen lernen (dürfen). Erst<br />
Beobachtungen Fowlers und seiner Nachfolger zeigten,<br />
dass Drei- und Vierjährige bei geeigneten<br />
Methoden durchaus in der Lage sind, lesen zu lernen<br />
(Fowler, 1962).<br />
Prägung. Konrad Lorenz (1935) machte das Konzept<br />
bekannt mit seinen Experimenten zur Prägung<br />
von Graugänsen, die in einem kurzen Zeitfenster<br />
nach der Geburt auf die Muttergans geprägt werden<br />
und dieser nachfolgen. Wenn es keine Gans gibt,<br />
erfolgt die Prägung auf ein anderes sich bewegendes<br />
Surrogat, etwa einen Menschen. Analog hierzu<br />
haben Klaus und Kennell (1987) die Bindung der<br />
Eltern an ihr Kind in den ersten Minuten und Stunden<br />
nach der Geburt beschrieben, was allerdings<br />
nicht unbestritten blieb (vgl. Kap. 6).<br />
Definition<br />
In der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> werden<br />
sensible Perioden als Entwicklungsabschnitte<br />
definiert, in denen – im Vergleich zu vorangehenden<br />
oder nachfolgenden Perioden –<br />
spezifische Erfahrungen maximale positive oder<br />
negative Wirkungen haben, also als Perioden<br />
erhöhter Plastizität unter dem Einfluss<br />
spezifischer Bedingungsfaktoren.<br />
Sensible Periode. Experimentell wäre der Nachweis<br />
einer sensiblen Periode methodisch leicht zu führen,<br />
was aber forschungsethisch problematisch sein kann.<br />
In deskriptiven Studien und Quasi-Experimenten ist<br />
der Nachweis mit Unsicherheiten bezüglich der Vergleichbarkeit<br />
der Stichproben und der realisierten<br />
Bedingungsfaktoren behaftet. In der Theorie der<br />
Ätiologie psychopathologischer Störungen findet<br />
sich immer wieder die Annahme einer besonderen<br />
Verletzlichkeit während der frühen Kindheit und der<br />
dauerhaften Nachwirkungen traumatischer Erfahrungen<br />
und Deprivationen in dieser Periode. Die<br />
Thesen von Spitz (1945) und Bowlby (1951) über die<br />
Gefährdung der kognitiven, sozialen und personalen<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
3.2 Reifestand und sensible Periode 29
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Entwicklung durch Hospitalisierung und andere<br />
Trennungen von der Mutter seien stellvertretend für<br />
viele entsprechende Überzeugungen genannt.<br />
Bekannt geworden ist der Fall des Mädchens<br />
„Genie“, die 13 Jahre isoliert lebte, bevor sie mit<br />
Menschen in Berührung kam. Sie hatte keine Sprache<br />
entwickelt, erwarb dann zwar rasch einen Wortschatz,<br />
konnte aber differenzierte syntaktische und<br />
morphologische Strukturen nicht mehr erwerben,<br />
was für die Existenz einer sensiblen Periode für diese<br />
Komponenten der Sprachentwicklung spricht (Curtiss,<br />
1977).<br />
Erklärungshypothesen. Wie können sensible Perioden<br />
erklärt werden? Was ist erklärungsbedürftig? Der<br />
Beginn einer sensiblen Periode ist wie die Reifestandshypothesen<br />
durch den Erwerb von Lern- oder<br />
Erfahrungsvoraussetzungen zu erklären. Schwieriger<br />
ist die Frage zu beantworten, warum nach ihrem<br />
Ende die gleichen Erfahrungen weniger wirksam<br />
sind, warum dann ein Lernen oder Umlernen weniger<br />
leicht möglich ist. Dazu müssen von Fall zu Fall<br />
Hypothesen entwickelt und abgeklärt werden.<br />
In einer Kategorie von Hypothesen werden Veränderungen<br />
von Hirnfunktionen angenommen. Für<br />
die Sprachentwicklung wurde ein angeborener<br />
Spracherwerbsmechanismus angenommen (Kap. 14),<br />
der ab dem siebten Lebensjahr abgebaut wird, was<br />
das Erlernen einer Sprache erschwert. Eine andere<br />
Hypothese besteht im Verlust zerebraler Plastizität<br />
mit fortschreitendem Alter. Einige Funktionsverluste<br />
durch Hirnverletzungen können in der Kindheit<br />
ausgeglichen werden, weil andere Hirnregionen<br />
diese Funktionen wenigstens partiell übernehmen<br />
können. Beispielsweise können Sprachleistungen der<br />
linken Hemisphäre, die durch Verletzungen verloren<br />
gehen, in der Kindheit durch die rechte Hemisphäre<br />
übernommen werden, nach dem zwölften<br />
Lebensjahr jedoch nicht mehr (zu dieser Thematik:<br />
Petermann, Niebank & Scheithauer, 2004; Kap. 3).<br />
Eine psychologische Erklärungshypothese für das<br />
erschwerte Umlernen lautet, dass sich Dispositionen<br />
und Erwartungen durch ihre Existenz selbst stabilisieren.<br />
Wer z. B. in einer Phase unkritischer Identifikation<br />
mit Autoritäten deren Vorurteile übernimmt,<br />
wird vielleicht künftig wegen seiner Vorurteile eine<br />
unvoreingenommene Informationsaufnahme vermeiden.<br />
Die Stabilität von Ängsten kann man dann<br />
lernpsychologisch damit erklären, dass sie zur Vermeidung<br />
der Angst auslösenden Objekte und Situationen<br />
motivieren: Wer wegen seiner Ängste auf<br />
Dauer die bedrohlich erscheinende Realität vermeidet,<br />
kann auch nicht erfahren, dass diese unbegründet<br />
sind, d. h., dass die angenommenen Gefahren<br />
nicht existieren oder wegen gewachsener Kompetenzen<br />
beherrscht werden. Wer in der Kindheit gelernt<br />
hat, seinen Mitmenschen misstrauisch zu begegnen<br />
und das Risiko einer engen emotionalen Bindung an<br />
andere zu vermeiden, wird möglicherweise auch<br />
seine künftigen Sozialbeziehungen nach diesem<br />
Muster aufbauen. Dass er mit dieser Haltung immer<br />
wieder abweisenden Reaktionen seiner Mitmenschen<br />
begegnen wird, wird für ihn kein Anlass zum<br />
Umlernen sein, sondern eher eine Bestätigung seiner<br />
Grundhaltung bedeuten. Insofern ist es eine nicht<br />
unplausible Hypothese, dass Interaktionen mit den<br />
Bezugspersonen der frühen Kindheit zu sozialen<br />
Haltungen wie Vertrauen oder Misstrauen führen,<br />
die sich durch ihre Wirkungen auf andere Menschen<br />
selbst stabilisieren (z. B. Lytton, 1990).<br />
Soziale Etikettierungen tragen zu solchen Stabilisierungen<br />
ebenfalls bei (vgl. auch Kap. 28). Auch<br />
positive Etikettierungen in der Kindheit – z. B. als<br />
tüchtig, brav, freundlich oder hilfsbereit – können<br />
selbststabilisierend wirken, wenn sie in das Selbstkonzept<br />
eingehen und entsprechendes Handeln<br />
motivieren, das in einem responsiven Sozialkontext<br />
anerkannt wird (vgl. auch Kap. 16).<br />
30 3 Weitere Erklärungskonzeptionen
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Unter der Lupe<br />
Die ersten Lebensjahre: Eine sensible Periode<br />
der Intelligenzentwicklung?<br />
Der Nachweis nachhaltiger Wirkungen von<br />
Anregungen in früher Kindheit auf die kognitive<br />
Leistungsfähigkeit (Hunt, 1961) und die These<br />
Benjamin Blooms (1964) über die Vorschuljahre<br />
als sensible Periode der Intelligenzentwicklung<br />
haben zunächst in den USA und dann in anderen<br />
Ländern eine Bewegung der kompensatorischen<br />
Vorschulerziehung entstehen lassen. Sie hatte<br />
das Ziel, anregungsarme Entwicklungsumwelten<br />
in sozial schwachen Familien auszugleichen<br />
(vgl. Kap. 23).<br />
Wenn man die Hypothese einer sensiblen<br />
Periode empirisch belegen möchte, so würden<br />
Daten gebraucht, die eine Altersabhängigkeit<br />
der Korrelationen zwischen Milieuvariablen und<br />
Intelligenz aufzeigen. Diese Korrelationen<br />
müssten während der angenommenen sensiblen<br />
Periode besonders hoch, vorher und nachher<br />
signifikant niedriger sein. Wenn das Vorschulalter<br />
tatsächlich eine sensible Periode für die<br />
Intelligenzentwicklung wäre, müssten Förderprogramme<br />
in dieser Zeit langfristige positive<br />
Wirkungen zeitigen.<br />
Blooms These einer sensiblen Periode beruht auf<br />
der Beobachtung, dass sich die Rangordnung in<br />
Bezug auf den IQ in der Vorschulperiode rasch stabilisiert,<br />
was eine Stabilisierung der interindividuellen<br />
Unterschiede in den Testleistungen bedeutet (vgl.<br />
Abb. 1.6).<br />
Allerdings bleibt ungeklärt, ob diese Stabilisierung<br />
nicht auf stabil bleibenden Milieuunterschieden<br />
beruht. Das wäre abzuklären durch<br />
Studien, in denen drei Stichproben von Kindern<br />
verglichen werden:<br />
Kinder, die nach dem Ende der vermuteten<br />
sensiblen Periode keine Veränderung in der<br />
Qualität ihrer Entwicklungsumwelt zu<br />
verzeichnen haben,<br />
Kinder, die diesbezüglich eine signifikante Verbesserung<br />
erfahren,<br />
Abbildung 1.6. Korrelationen zwischen der Intelligenz<br />
in Kindheit und Adoleszenz und der Intelligenz im frühen<br />
Erwachsenenalter<br />
Kinder, die eine signifikante Verschlechterung<br />
erfahren.<br />
Eine sensible Periode wäre nur dann anzunehmen,<br />
wenn Verbesserungen und Verschlechterungen<br />
der Entwicklungsumwelt nach der vermuteten<br />
sensiblen Periode keine Effekte auf die<br />
individuellen Positionen in der Intelligenzverteilung<br />
hätten, wenn sich in der Schulzeit, der<br />
Adoleszenz und im Erwachsenenalter auch bei<br />
deutlichen Veränderungen der Anregungen,<br />
Anforderungen und Schulungsangebote die<br />
Positionen nicht mehr ändern (lassen).<br />
Das ist nicht der Fall. Schon 1970 haben Rees<br />
und Palmer mit Daten aus fünf großen Längsschnittstudien<br />
sozialschichtabhängige Änderungen<br />
des IQs zwischen dem 6. und 17. Lebensjahr<br />
nachgewiesen, im Durchschnitt in der Mittelschicht<br />
nach oben, in der sozial schwachen<br />
Schicht nach unten.<br />
Wirken kompensatorische Vorschulprogramme<br />
nachhaltig?<br />
Die kompensatorischen Vorschulprogramme<br />
haben sich regelmäßig als kurzfristig erfolgreich<br />
erwiesen. Die Leistungs- und Positionsgewinne<br />
waren jedoch nicht stabil, wenn die besondere<br />
Förderung nicht fortgeführt wurde. Follow-up-<br />
Studien haben zwar bei einigen breit angelegten<br />
und die Familien einbindenden Programmen<br />
einen deutlich besseren Schulerfolg nachgewiesen<br />
<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
3.2 Reifestand und sensible Periode 31
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
(Haskins, 1989, vgl. Kap. 2). Dennoch sind Kinder<br />
aus dem sozial schwachen Milieu nach dem<br />
ersten oder zweiten Schuljahr ohne spezifische<br />
Weiterförderung bezüglich des IQ auf ihre Ausgangsposition<br />
zurückgefallen (Jensen, 1973). Dies<br />
ist aber unter der Annahme, die Vorschulzeit sei<br />
eine kritische Periode der Intelligenzentwicklung,<br />
erwartungswidrig. Die Stabilisierung der Förderungseffekte<br />
ist ein theoretisches und praktisches<br />
Problem.<br />
Daraus ist nicht die Folgerung zu ziehen, Bemühungen<br />
um eine angemessene Förderung auf<br />
spätere Lebensphasen zu verschieben. Selbstverständlich<br />
kann es kumulative Defizite bei<br />
langwährenden Deprivationen geben, die immer<br />
schwieriger durch entsprechende kumulative<br />
Anreicherungen rückgängig gemacht werden<br />
können.<br />
Denkanstöße<br />
Versuchen Sie, was die Entwicklung der sexuellen<br />
Orientierung angeht, eine im Vergleich zur<br />
Sicht der Humangenetik alternative Hypothese<br />
zu entwickeln, dass es eine sensible Periode<br />
geben könnte, in der die sexuelle Orientierung<br />
ausgeprägt wird. Und entwerfen Sie einen Forschungsplan,<br />
wie Sie Ihre Hypothese prüfen<br />
könnten.<br />
3.3 Das Modell der sukzessiven<br />
Konstruktion<br />
Stadienabfolgen müssen nicht auf Reifung zurückgeführt<br />
werden. Der Konstruktivismus, den Jean<br />
Piaget (1896–1980) in die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
eingeführt hat, ist eine alternative Erklärung (vgl.<br />
Montada, 2002).<br />
Entwicklung ist nicht eine beliebige, sondern<br />
eine sachlich wie logisch geordnete<br />
!<br />
Folge von Konstruktionsschritten, die durch<br />
Strukturanalysen verständlich zu machen sind<br />
(Aebli, 1981).<br />
Dass die Begriffe geben – nehmen – zahlen zeitlich<br />
früher richtig verstanden und gebraucht werden als<br />
die Begriffe kaufen – verkaufen, ist wegen der höheren<br />
Komplexität der Letzteren einleuchtend: Verkaufen<br />
enthält die folgenden Elemente: (1) Akteur A (2)<br />
Jean Piaget (1896–1980)<br />
gibt (3) ein Gut (4) an Akteur B (5) und (6) verlangt<br />
(7) von diesem (8) im Austausch (9) Geld, (10) das<br />
dieser (11) zahlt. Kaufen hat eine entsprechende<br />
Komplexität, während geben, nehmen und zahlen<br />
weniger komplex sind (wenn Zahlen nicht mehr<br />
bedeutet als das Geben von Geld; vgl. Gentner, 1978).<br />
Jede Entwicklung baut auf zuvor entwickelten Voraussetzungen<br />
auf. Höhere Stufen sind komplexer,<br />
integrieren mehr Elemente und Relationen als die<br />
vorausgehenden.<br />
32 3 Weitere Erklärungskonzeptionen
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Auch schulischer Unterricht beginnt mit einer Elementen-<br />
und Strukturanalyse eines Stoffbereiches.<br />
Ein guter Lehrer prüft, welche Wissenselemente und<br />
-strukturen die Schüler bereits aufgebaut haben, an<br />
die er bei der Einführung des neuen Gegenstandes<br />
anknüpfen kann. Seine Unterrichtssequenz enthält<br />
eine geordnete Folge von Lernschritten nach Maßgabe<br />
der Strukturanalyse.<br />
Insbesondere bei der kognitiven Entwicklung, bei<br />
der Entwicklung von Begriffen und Denkoperationen,<br />
beim Aufbau von Wissen, aber auch beim Aufbau sensumotorischer<br />
Fertigkeiten ist das Modell der Konstruktion<br />
angebracht, und zwar für die Erklärung von<br />
Entwicklung, für die Planung von Schulungen und<br />
Trainings, aber auch für die Analyse von Stagnation<br />
und von misslingenden Schulungs- und Fördermaßnahmen.<br />
Bei Letzteren muss immer bedacht werden,<br />
dass die Strukturanalyse falsch, zumindest unvollständig<br />
sein könnte, dass die benötigten Entwicklungsvoraussetzungen<br />
nicht oder nicht valide erfasst wurden,<br />
dass die anstehenden Schritte zu groß oder die Probleme,<br />
um deren Lösung es gehen soll, noch nicht völlig<br />
erfasst sind (vgl. hierzu die in Kap. 24 behandelten<br />
schulischen Leistungsprobleme).<br />
Denkanstöße<br />
Versuchen Sie sich an Strukturanalysen eines<br />
komplexen Begriffs wie Demokratie, und<br />
spezifizieren Sie Elemente, die Sie zur Begriffsbestimmung<br />
benötigen.<br />
3.4 Entwicklung als Sozialisation<br />
Um den Umfang dessen zu ermessen, was wir Sozialisation<br />
nennen, stelle man sich vor, was ein<br />
Mensch aus einer fremden Kultur oder einer vergangenen<br />
Epoche lernen müsste, um in unserer Kultur<br />
zu leben: Sprache und Regeln der Rede, den Sinn<br />
von Symbolen, Regeln des sozialen Umgangs und<br />
des Verhaltens in spezifischen Settings und bei spezifischen<br />
Anlässen, die Funktionen von Geräten und<br />
Werkzeugen, die Wertschätzungen von Kulturgütern,<br />
die Differenzierung sozialer Positionen mit<br />
ihren Rechten und Pflichten, die Institutionen und<br />
ihre Funktionen, die Kenntnisse und Fertigkeiten<br />
wenigstens eines Berufs, Ausschnitte aus mehreren<br />
Wissenschaftsbereichen, die Werte- und Glaubenssysteme<br />
und Ideologien, die Sitten, das Recht, die<br />
Bräuche und die Moden usw.<br />
!<br />
Sozialisation erfolgt durch Anleitung und<br />
Anforderung, Information und Belehrung,<br />
durch Beobachtung und Nachahmung von<br />
Vorbildern, durch Strafen und Belohnungen<br />
usw. Die Familie, die Schule, der Beruf, die<br />
Gruppe der Freunde, die Medien sind an diesem<br />
Prozess beteiligt.<br />
Die psychologischen Theorien des Lehrens, des Lernens,<br />
des Wissenserwerbs, der Identifikation, der Einstellungsbildung<br />
und -änderung, der Selbstkonzeptund<br />
der Weltbildentwicklung, des sozialen Wandels<br />
usw. erhellen Ausschnitte aus diesem Prozess.<br />
Lebenslanges Lernen<br />
Dieses Lernen ist nie zu Ende, nicht zuletzt weil die<br />
Gesellschaften und ihre Kulturen ständig im Wandel<br />
begriffen sind. Unsere Gesellschaft ist pluralistisch im<br />
Hinblick auf Wertsysteme, Religionen und Ideologien.<br />
Sie ist nicht statisch, sondern dynamisch: Wissenschaft,<br />
Technik, Künste, Sprache, soziale Institutionen<br />
u. a. sind in ständigem Wandel. Sie ist nicht geschlossen,<br />
sondern offen gegenüber Einflüssen aus anderen<br />
Kulturen und Neuerungen aus dem Inneren: Auf die<br />
Moderne folgt die Postmoderne. Die Wirtschaftsmärkte<br />
erfordern ständige Innovationen, traditionelle<br />
Berufe verschwinden, neue kommen hinzu usw. Sozialisation<br />
bedeutet folglich lebenslanges Lernen auf vielen<br />
Gebieten (Näheres dazu in Schneewind, 1994).<br />
Entwicklungspsychologische<br />
Sozialisationsforschung<br />
Hier soll nur auf spezifisch entwicklungspsychologische<br />
Fragestellungen und Perspektiven zur Sozialisation<br />
hingewiesen werden.<br />
(1) Es gibt eine kulturelle Normierung des Lebenslaufes<br />
mit spezifischen Aufgaben, Leistungs-<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
3.4 Entwicklung als Sozialisation 33
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
und Verhaltenserwartungen für jede Lebensphase.<br />
Das kommt auch im Konzept der alterspezifischen<br />
Entwicklungsaufgaben zum Ausdruck,<br />
das in Abschnitt 3.5 behandelt wird. Man erwartet<br />
von Kindern und Heranwachsenden nicht<br />
vor Erreichen der Volljährigkeit oder Mündigkeit,<br />
dass sie völlig eigenverantwortlich in den<br />
geltenden Normensystemen leben und leben<br />
können. Von erwachsenen Migranten erwartet<br />
man das aufgrund ihres Alters wohl, d. h., man<br />
räumt ihnen für den erforderlichen Akkulturationsprozess<br />
relativ wenig Zeit ein, diese Normensysteme<br />
kennen zu lernen und zu akzeptieren<br />
(vgl. Kap. 16 und Kap. 29).<br />
(2) Eine andere Fragestellung betrifft die Auswirkungen<br />
von Dispositionen, die sich entwickelt<br />
haben, etwa Wertorientierungen, Motivdispositionen,<br />
Einstellungen, die die Wirkungen sozialisatorischer<br />
Einflüsse moderieren. Subkulturell<br />
geprägte oder individuell ausgebildete Dispositionen<br />
werden eine Internalisation davon abweichender<br />
Anforderungen erschweren (Kap. 16).<br />
Man sollte auch nicht erwarten, dass Migranten,<br />
die in einer anderen Kultur sozialisiert wurden<br />
und diese Kultur internalisiert haben, die Wertorientierungen<br />
und sozialen Normen des Einwanderungslandes<br />
problem- und konfliktlos<br />
übernehmen (Kap. 29).<br />
(3) Die Wirkung sozialisatorischer Einflussfaktoren<br />
ändert sich in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand.<br />
Das gilt z. B. für die Einflussmächtigkeit<br />
von sozialen Kontexten. In der Kindheit ist<br />
zunächst die Familie, dann die Schule die dominante<br />
Einflussquelle, im Jugendalter gewinnen<br />
die Peergruppen und neue Identifikationsfiguren<br />
an Einfluss, insbesondere, wenn die Beziehungen<br />
zu den Eltern emotional belastet sind<br />
(Kap. 8, 16 und 28).<br />
(4) Auch die Wege und Methoden der Einflussnahme<br />
ändern sich im Laufe der Entwicklung. Kinder<br />
„wachsen“ in die Kultur ihrer unmittelbaren<br />
Kontexte hinein. Später kann es Divergenzen<br />
zwischen den aufgebauten Dispositionen und<br />
Überzeugungen und davon abweichenden Angeboten<br />
und Anforderungen geben. Wenn inne-<br />
re Konflikte Entscheidungen erfordern, sind<br />
argumentative Begründungen erforderlich. Aus<br />
der Forschung zur Sozialisation der Moral ist<br />
auch bekannt, dass mit zunehmendem Alter<br />
argumentative Begründungen von Verboten<br />
und Geboten wichtiger werden (Kap. 16).<br />
(5) Sozialisationswirkungen sind nicht nur kurzfristig<br />
zu erfassen, sondern langfristig. Eine aktuelle<br />
Anpassung an eine Anforderung sagt noch<br />
nichts über Dauerhaftigkeit aus. Bedingungen<br />
der Dauerhaftigkeit sind gesondert zu ermitteln,<br />
etwa bezüglich der Internalisation moralischer<br />
Normen, die durch Integration in das Selbstbild<br />
an Dauerhaftigkeit gewinnt (Kap. 16). Bezüglich<br />
Sozialisation ist immer zu fragen, ob und<br />
welche dauerhaften Dispositionen sich gebildet<br />
haben. Die Anpassung an eine normative Forderung,<br />
etwa anderen zu helfen, muss nicht<br />
bedeuten, dass Hilfsbereitschaft als Disposition<br />
aufgebaut wurde, sondern kann z. B. auch<br />
bedeuten, dass gelernt wurde, konformistisch<br />
sozialem Druck zu entsprechen. In diesem Fall<br />
ist nicht zu erwarten, dass einer bedrängten Person<br />
gegen das Mobbing einer Gruppe hilfsbereit<br />
beigestanden wird.<br />
(6) Die Effekte von Sozialisationsmaßnahmen können<br />
sich mit dem Entwicklungsstand ändern.<br />
Hohe Leistungsorientierung im Jugendalter erwies<br />
sich mit folgendem Muster mütterlichen<br />
Verhaltens korreliert: Fürsorge („Verwöhnen“)<br />
in der frühen Kindheit und angemessene Anforderungen<br />
danach. Forderndes bzw. akzelerierendes<br />
Verhalten in der frühen Kindheit und „verwöhnende“<br />
Nachgiebigkeit danach erwies sich<br />
als ungünstig (Kagan & Moss, 1962).<br />
Sozialisation und Identitätsfindung im interaktionistischen<br />
Modell<br />
Erziehung und Sozialisation sind nicht beschränkt<br />
auf die Vermittlung dessen, was in einer Gesellschaft<br />
an Wissen, Kulturgütern, Wertvorstellungen, Normen,<br />
Schemata für das Verstehen und Handeln usw.<br />
gegeben ist. Erziehungs- und Sozialisationsziele können<br />
auch emanzipatorischer Art sein und auf die<br />
Förderung von Wertvorstellungen, Einstellungen,<br />
34 3 Weitere Erklärungskonzeptionen
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Persönlichkeitsmerkmalen und Entwicklungszielen<br />
abheben, die zu einer innovatorischen, kritischen<br />
oder nonkonformistischen Auseinandersetzung mit<br />
den gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten<br />
oder Vorgaben motivieren und befähigen<br />
(Brandtstädter & Schneewind, 1977). Die Entwicklung<br />
einer persönlichen Identität über vorgegebene<br />
Rollenmuster, Normorientierungen, Handlungsund<br />
Deutungsschemata hinaus sollte Erziehungsund<br />
Sozialisationsziel sein. In der soziologischen<br />
Sozialisationsforschung und -theorie wird die grundsätzliche<br />
Spannung zwischen gesellschaftlichen Vorgaben<br />
und der Herausbildung einer persönlichen<br />
Identität in der Auseinandersetzung mit den kontrastierenden<br />
Rollentheorien herausgearbeitet (Joas,<br />
1980).<br />
Interaktion und Sozialisation<br />
Mead (1934) analysierte, wie das Ich in der sozialen<br />
Interaktion entsteht und wie es sich in dieser Interaktion<br />
ausformt und wandelt. Ein zentraler Prozess<br />
ist die Übernahme der Perspektive von Interaktionspartnern.<br />
Menschen müssen imstande sein, zu begreifen,<br />
welches Bild sich andere von ihnen machen<br />
und welche Erwartungen andere an sie haben. Sie<br />
müssen in der Lage sein, sich selbst aus der Perspektive<br />
anderer zu sehen. Jeder kann durch sein<br />
Handeln, Reden und andere Äußerungen Einfluss<br />
darauf nehmen, was andere von ihm denken und<br />
erwarten; er kann insofern das sozial vermittelte<br />
Selbstbild selbst beeinflussen. Kommunikation und<br />
Zusammenarbeit kann nur gelingen, wenn die reziproken<br />
Verhaltenserwartungen aufeinander abgestimmt<br />
werden. Da verschiedene andere Menschen<br />
unterschiedliche Bilder und Erwartungen von uns<br />
haben, können verschiedene Selbstbilder aus der<br />
Perspektive verschiedener anderer entstehen. Diese<br />
müssen zu einem einheitlichen Selbstbild zusammengefügt<br />
werden. Allerdings können wir in verschiedenen<br />
sozialen Kontexten unterschiedliche<br />
„Selbste“ annehmen (Markus & Nurius, 1986;<br />
Kap. 20). Wird das als Inkonsistenz erlebt, motiviert<br />
es zu einer Harmonisierung.<br />
Intergenerationale Sozialisation. In den 1970er<br />
Jahren wurde das tradierte Wirkungsmodell, nach<br />
dem Entwicklung und Fehlentwicklungen der Kinder<br />
durch Eltern und Erzieher verursacht werden,<br />
ergänzt durch die Beachtung der Einflüsse, die von<br />
den Kindern auf Eltern und Erzieher sowie darüber<br />
hinaus auf die soziale Gemeinschaft ausgeübt werden<br />
(Klewes, 1983; Hagestad, 1984). In der „Childeffect“-Forschung<br />
sind Anpassungen der Eltern<br />
untersucht worden. In Kapitel 6 wird dargestellt, was<br />
Neugeborene bei den Eltern zum Aufbau der Bindung<br />
beitragen (Klaus & Kennell, 1987), dass irritierbare<br />
Neugeborene von der Mutter als schwierig<br />
erlebt werden, was sich in deren Verhalten gegenüber<br />
dem Kind ausdrückt und zur Bildung einer<br />
unsicheren Bindung zur Mutter führt (Van den<br />
Boom, 1990). Später verlangen Interessen, Moden,<br />
Freunde und vielerlei Autonomieansprüche der Kinder<br />
Anpassungsleistungen von den Eltern.<br />
Kinder vermitteln Wissen und Einstellungen.<br />
Auch der Einfluss Heranwachsender auf den Wandel<br />
von Ansichten, Einstellungen, Wertungen und Normen<br />
der Eltern ist untersucht worden. Ob es nun<br />
um Autonomieansprüche in vielen Feldern, um<br />
die Bewertung von Personen oder um politische<br />
Themen geht, Kinder konfrontieren ihre Eltern oft<br />
mit „abweichenden“ Überzeugungen (Wurzbacher,<br />
1977), die zu Zerwürfnissen oder aber zu produktiven<br />
Entwicklungen führen können.<br />
Folglich sind transaktionale Modelle angemessen.<br />
Baranowski (1978) befragte Jugendliche und jeweils<br />
beide Eltern, ob und in welchen Verhaltensbereichen<br />
die Jugendlichen Einflussversuche auf das elterliche<br />
Verhalten genommen hätten. Beide Seiten gaben an,<br />
dass die meisten der Einflussversuche in gewissem<br />
Grade erfolgreich waren. Sowohl Persönlichkeitsmerkmale<br />
der Jugendlichen als auch solche der Väter<br />
erwiesen sich dabei als einflussreich. Jugendliche mit<br />
hohem Autonomiebedürfnis unternahmen nach<br />
eigener und nach elterlicher Einschätzung mehr Einflussversuche.<br />
Demokratische Väter waren häufiger<br />
Einflussversuchen ausgesetzt als autokratische.<br />
Pauls und Johann (1984) haben die Methoden<br />
zusammengetragen, die Kinder zur Beeinflussung<br />
ihrer Eltern verwenden:<br />
konstruktiv-aktive Steuerung (z. B. logisches Argumentieren,<br />
Kompromissaushandlung),<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
3.4 Entwicklung als Sozialisation 35
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Vorwürfe und oppositionelle Steuerung (z. B.<br />
Drohen, Trotzen, Fordern, Erpressen),<br />
Steuerung durch Bestrafung (Schreien, „Nerven“,<br />
für die Eltern unangenehmes Verhalten in der<br />
Öffentlichkeit),<br />
Steuerung durch Ignorieren elterlicher Normen,<br />
passiv-resignative Steuerung (z. B. demonstrative<br />
Hilf- und Machtlosigkeit),<br />
Steuerung durch Schmusen und Schmeicheln,<br />
auch das Verlangen einer Begründung von Vorschriften<br />
und Verboten, von Einstellungen und<br />
Urteilen erzwingt eine Reflexion und führt nicht<br />
selten zu einer Revision.<br />
Schimpfen!“. Und entsprechend reichlicher ist<br />
dann auch die Bescherung.<br />
Denkanstöße<br />
Denken Sie einmal darüber nach, welche normativen<br />
Überzeugungen Sie selbst haben und<br />
welche Sie gegenüber anderen Menschen vertreten<br />
oder als von anderen anerkannt sich wünschen.<br />
Überlegen Sie auch, mit welchen Mitteln<br />
oder auf welchen Wegen Sie deren Anerkennung<br />
durch andere zu erreichen versuchen.<br />
Beispiel<br />
Wie Kinder ihre Eltern erziehen<br />
Wie geschickt Kinder unter Umständen operieren,<br />
mag folgende Begebenheit belegen. Unser<br />
Sohn Martin war viereinhalb Jahre. Es war zur<br />
Adventszeit. Ich sitze lesend am Tisch, als plötzlich<br />
schwere Schritte im Flur Besuch ankündigen.<br />
Es klopft, herein kommt Martin „als Nikolaus“<br />
mit einem Säckchen voller Nüsse über der<br />
Schulter und einem großen Buch in der Hand.<br />
Er erklärt „Ich bin jetzt der Nikolaus“, kommt<br />
gemessenen Schrittes zu mir, schlägt das Buch auf<br />
(das goldene Buch!), macht eine bedenkliche<br />
Miene, schüttelt gewichtig den Kopf und „liest“:<br />
„Sie schimpfen immer zu viel mit Ihrem Sohn!“<br />
Entsprechend spärlich fällt dann auch die<br />
Bescherung aus: eine einzige Erdnuss. Dann<br />
entfernt er sich, schon nicht mehr würdig, sondern<br />
wie üblich hampelnd, den Sack schlenkernd,<br />
und wirft dabei eine Vase mit Blumen um. Keine<br />
Scherben, aber Wasser auf Tisch, Wand und<br />
Boden. Gerade ermahnt, schimpfe ich nicht und<br />
beseitige die Spuren. Kaum sitze ich wieder am<br />
Tisch, als erneut gewichtige Schritte Besuch<br />
ankündigen. Klopfen. Herein kommt Martin: „Es<br />
wär’ jetzt nächstes Jahr!“, den Sack über der<br />
Schulter und das goldene Buch in der Hand. Er<br />
schlägt auf, mit freundlichem Gesicht, und „liest“:<br />
„Es ist schon viel besser geworden mit dem<br />
<br />
3.5 Entwicklungsaufgaben und kritische<br />
Lebensereignisse<br />
In der Literatur werden Entwicklungsaufgaben (Havighurst,<br />
1972; vgl. Kap. 4) und kritische Lebensereignisse<br />
(Montada, Filipp & Lerner, 1992) unterschieden.<br />
Während die Sequenz von Entwicklungsaufgaben<br />
und typischen Entwicklungskrisen als<br />
mehr oder weniger altersnormiert verstanden wird<br />
(was bedeutet, dass eine Mehrheit in der Population<br />
mit derselben Klasse von Aufgaben in einer spezifischen<br />
Periode des Lebens konfrontiert ist), ereignen<br />
sich kritische Lebensereignisse unvorhersehbar, und<br />
sie betreffen nur in Ausnahmefällen größere Teile<br />
einer Population (z. B. bei Krieg oder Naturkatastrophen).<br />
Entwicklungsaufgaben und Ereignisse schaffen<br />
oft Probleme und verursachen nicht selten Krisen.<br />
Eine Krise ist dann gegeben, wenn eine Person<br />
durch einen Verlust oder ein Problem emotional<br />
belastet, aber nicht in der Lage ist, eine angemessene<br />
Lösung zu entwickeln oder sich an die veränderte<br />
Situation anzupassen.<br />
Organismische Modelle. In organismischen Modellen<br />
der Entwicklung wird angenommen, dass die<br />
Probleme aus universellen Reifungs- und Entwicklungsveränderungen<br />
innerhalb des Organismus<br />
resultieren, die neue Motive, neue Interaktions- und<br />
Erfahrungsmöglichkeiten und damit neue Probleme,<br />
Frustrationen und Krisen erzeugen. Ein klassisches<br />
Beispiel dafür ist Freuds (1933) Sequenz der<br />
36 3 Weitere Erklärungskonzeptionen
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psychosexuellen Entwicklung und der Konflikte in<br />
Kindheit und Adoleszenz.<br />
Transaktionale Modelle. Transaktionale systemische<br />
Modelle der Entwicklung gehen von der Grundannahme<br />
aus, dass sowohl die sich entwickelnden Subjekte<br />
als auch die jeweiligen Lebenskontexte zur Entstehung<br />
und vielleicht Lösung von Problemen und<br />
Bewältigung von Krisen beitragen. Da es sowohl zwischen<br />
Subjekten als auch zwischen Entwicklungskontexten<br />
große Unterschiede gibt und da sowohl die Subjekte<br />
als auch die Kontexte in einem ständigen Prozess<br />
des Wandels begriffen sind, wird weder eine universelle<br />
Sequenz von Problemen noch eine universelle<br />
Sequenz von Problemlösungen erwartet.<br />
Probleme und Krisen wurden zunächst in der Entwicklungspathologie<br />
beachtet. Freud (1933) machte<br />
negative Erfahrungen in der Kindheit für die Entwicklung<br />
von Störungen verantwortlich. Kritische<br />
Lebensereignisse, die eine Umstellung von Lebensplänen<br />
und Handlungsroutinen notwendig machen<br />
wie z. B. Krankheiten, finanzielle Verluste, Tod nahe<br />
stehender Menschen, aber auch die Geburt eines Kindes<br />
wurden zunächst als mögliche Auslöser psychischer<br />
Störungen untersucht. Krisen können aber<br />
auch positive Entwicklungsfolgen haben, wenn sie als<br />
Herausforderungen angenommen, gemeistert oder<br />
emotional bewältigt werden.<br />
3.5.1 Altersnormierte Krisen<br />
Das bekannteste Beispiel für ein organismisches<br />
Modell ist Eriksons Stadienmodell der Persönlichkeitsentwicklung;<br />
vier der acht Stadien werden kurz<br />
skizziert.<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Unter der Lupe<br />
Eriksons Phasenmodell der Persönlichkeitsentwicklung<br />
Erikson (1973) hat Stadien des Lebenslaufs mit<br />
spezifischen Konflikten oder Krisen charakterisiert.<br />
Er meinte, wenn diese Krisen nicht bewältigt werden,<br />
führe das zu bleibenden Persönlichkeitsstörungen.<br />
Er sah folgende zentrale Themen<br />
dieser krisenhaften Konflikte:<br />
(1) Vertrauen vs. Misstrauen (erstes Lebensjahr).<br />
Hier geht es um die Entwicklung eines<br />
günstigen Verhältnisses von Vertrauen und Misstrauen.<br />
Vertrauen in die Verlässlichkeit und<br />
Zuneigung der Pflegepersonen nimmt Ängste.<br />
Wird das Vertrauen bestätigt, entwickelt sich<br />
Selbstvertrauen und Sicherheit; dies wird in der<br />
Bindungstheorie als „sichere Bindung an die<br />
Mutter“ bezeichnet (vgl. Kap. 6 und 20). Ein<br />
gewisses Maß an Misstrauen im Sinne von Vorsicht<br />
ist allerdings nützlich, um nicht vertrauenswürdigen<br />
Personen angemessen zu begegnen und<br />
Gefahren zu erkennen.<br />
Die Stadien (2) Autonomie vs. Scham und<br />
Zweifel (drittes Lebensjahr), (3) Initiative vs.<br />
Schuldgefühle (viertes und fünftes Lebensjahr)<br />
und (4) Wertsinn vs. Minderwertigkeit (mittlere<br />
Kindheit) sind angelehnt an Freuds Stufen der<br />
Entwicklung, die nicht als empirisch bestätigt<br />
gelten können (vgl. Kap. 19).<br />
Das (5) Stadium Identität vs. Rollendiffusion<br />
(Adoleszenz) ist in der Jugendforschung (vgl.<br />
Kap. 8) durchaus beachtet worden. In der Adoleszenz<br />
geht es um die Findung einer Identität, um<br />
den Aufbau eines Selbstkonzeptes mit den Facetten<br />
Geschlecht, Fähigkeiten, Bildungs- und Berufsaspirationen,<br />
Familienherkunft, Sozialstatus, Religion,<br />
Moral, Wertorientierungen, politische Haltungen<br />
usw. Jugendliche müssen diese verschiedenen<br />
Facetten in ein konsistentes persönliches Selbstbild<br />
integrieren, das die persönliche Identität ausmacht.<br />
Versagt der jugendliche Mensch bei dieser Aufgabe,<br />
führt dies zu einer Rollendiffusion, die durch<br />
Unverträglichkeiten und Unausgewogenheiten<br />
zwischen Haltungen und Werten, zwischen Aspirationen<br />
und Möglichkeiten, durch Instabilität von<br />
Zielen, gelegentlich zu ideologischer Einseitigkeit,<br />
häufiger zu oberflächlichen und unstabilen Engagements<br />
und nicht selten zu abweichendem Verhalten<br />
wie Drogengebrauch und Delinquenz führt.<br />
Im anschließenden Stadium (6) Intimität vs.<br />
Isolation (Beginn des Erwachsenenalters) themati-<br />
<br />
3.5 Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse 37
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Abbaus physischer und geistiger Fähigkeiten wie<br />
auch die Akzeptanz der Endlichkeit des eigenen<br />
Lebens (vgl. Kap. 10 und 33).<br />
Reifungs- und Abbauprozesse. Entwicklungsaufgaben<br />
ergeben sich nicht nur aus gesellschaftlichen<br />
Anforderungen, sondern auch aus Reifungs- und<br />
Abbauprozessen. Die Pubertät ist eine Folge der biologischen<br />
Reifung, die Festlegung von unteren<br />
Altersgrenzen für die Ehe ist sozial bestimmt, meist<br />
auch die für die Elternschaft. Das Rentenalter ist<br />
sozial normiert, wobei z. T. irrige Überzeugungen<br />
über den Abbau der Leistungsfähigkeit im Alter als<br />
Begründung dienen. Entwicklungsaufgaben gliedern<br />
den Lebenslauf durch vorgegebene Entwicklungsund<br />
Sozialisationsziele. Der Grad der normativen<br />
Verpflichtung variiert allerdings von Angeboten mit<br />
Empfehlungscharakter bis zur strikten, durch Sanktionsdrohungen<br />
gestützten Forderung: Der Beginn<br />
der Schulpflicht ist in unserer Kultur gesetzlich geregelt,<br />
der Berufseintritt jedoch weit weniger verpflichtend<br />
festgelegt. Hier gewinnen dann indivisiert<br />
Erikson nur einen Aspekt der sozialen Beziehungen.<br />
Viele andere wichtige Themen bleiben<br />
unberücksichtigt (vgl. Kap. 9).<br />
Ein interessanter Kontrast wird im Stadium (7)<br />
Generativität vs. Stagnation (mittleres Erwachsenenalter)<br />
formuliert: Mit Generativität als Entwicklungsziel<br />
dieser Phase ist die Förderung der<br />
Entwicklung der nächsten Generation, der eigenen<br />
Kinder und/oder anderer junger Menschen<br />
gemeint, darüber hinaus alle beruflichen, sozialen<br />
und politischen Engagements, von denen produktive<br />
Wirkungen für andere Menschen oder für<br />
eine Gemeinschaft zu erwarten sind. Fehlt diese<br />
Orientierung sind Stagnation, Selbstabsorption<br />
und/oder Langeweile zu erwarten.<br />
Im letzten Stadium (8) Ich-Integrität vs. Verzweiflung<br />
(späteres Erwachsenenalter) steht eine<br />
Reflexion über das eigene Leben und den Bezügen<br />
zu anderen Menschen, zu Gemeinschaften und zur<br />
historischen Zeit an. Gleichzeitig ist die Begrenztheit<br />
des Lebens zu akzeptieren. Zufriedenheit mit<br />
dem Leben ermöglicht Integrität. Später hat<br />
Erikson auch auf die Chancen Sinn stiftenden und<br />
produktiven Engagements im Alter hingewiesen<br />
(Erikson, Erikson & Kivnick, 1986). Wird Integrität<br />
nicht erreicht, droht Verzweiflung im Sinne von<br />
Trauer um das, was man mit dem eigenen Leben<br />
getan hat, drohen Furcht vor dem Tod und Vorwürfe<br />
gegen sich selbst.<br />
Erikson beschreibt wichtige Entwicklungsaufgaben.<br />
Es gibt sicher mehr. Er beschreibt sie nicht<br />
mit klar definierten Konzepten, die in empirischer<br />
Forschung leicht operationalisierbar wären.<br />
Dennoch gibt es gelungene Versuche einer<br />
empirischen Erforschung (vgl. Kap. 19). Wie häufig<br />
die Krisen vorkommen, wie häufig es gute<br />
Lösungen gibt, wie häufig die Krisen nicht bewältigt<br />
werden, von wem und in welchem Kontext<br />
sie besser oder schlechter bewältigt werden, das<br />
sind empirische Fragen. Eriksons Modell ist wohl<br />
weithin bekannt geworden, weil die beschriebenen<br />
Krisen intuitiv überzeugen.<br />
3.5.2 Entwicklungsaufgaben<br />
Wie Erikson hat auch Havighurst (1972) den<br />
Lebenslauf als eine Folge von Problemen strukturiert,<br />
die er Entwicklungsaufgaben nennt (vgl.<br />
Kap. 4 und 19), in der er in systemischer Sichtweise<br />
biologische, soziale und individuelle Faktoren integriert.<br />
In mehreren Kapiteln dieses Buches sind Entwicklungsaufgaben<br />
spezifiziert, deren Bewältigung<br />
Entwicklung erfordert (z. B. Kap. 6–10). Von der<br />
Trennung von Betreuungspersonen über schulische<br />
Anforderungen, die Identitätssuche im Jugendalter<br />
bis zur Bewältigung von Verlusten im Alter kann<br />
eine Abfolge von Entwicklungsaufgaben spezifiziert<br />
werden.<br />
Die entwicklungspsychologischen Überzeugungen<br />
einer Kultur sind in Entwicklungsaufgaben für<br />
mehr oder weniger enge Altersperioden artikuliert,<br />
für das Alter z. B. die Bewältigung des Verlustes der<br />
Berufsrolle, des Verlustes von Partnern und Freunden,<br />
die Meisterung von Gesundheitsproblemen, die<br />
Akzeptierung der eigenen Lebensgeschichte, des<br />
38 3 Weitere Erklärungskonzeptionen
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duelle Faktoren an Einfluss, z. B. die persönlichen<br />
Wertorientierungen, Selbstkonzepte und Lebensprojekte,<br />
aber auch die persönlichen und sozialen<br />
Ressourcen der sich entwickelnden Menschen und<br />
ihrer Bezugspersonen.<br />
Einflüsse auf Entwicklungsaufgaben. Die Erfüllung<br />
einer Entwicklungsaufgabe hängt von vielen<br />
Faktoren ab. Zum Beispiel hängen beruflicher Erfolg<br />
und soziale Anerkennung sowie die damit zusammenhängende<br />
Herausbildung eines Selbstbildes von<br />
einer Reihe von Faktoren ab:<br />
von biologischen Faktoren wie geistige und physische<br />
Gesundheit,<br />
von sozialen Kontextfaktoren wie Berufsaspirationen<br />
wichtiger Bezugspersonen,<br />
von psychologischen Faktoren wie individuellen<br />
Aspirationen, Fähigkeiten und Bildungsvoraussetzungen,<br />
von gesellschaftlichen Faktoren wie der Verfügbarkeit<br />
von Berufspositionen, der Qualität der<br />
öffentlichen Bildung, möglichen Diskriminierungen<br />
und Privilegierungen von Teilpopulationen,<br />
von kulturellen Faktoren wie der Bedeutung des<br />
Berufserfolgs.<br />
So können die Chancen für eine optimale Entwicklung<br />
zwischen Geburtskohorten, zwischen Familien,<br />
zwischen Individuen beträchtlich variieren. Insofern<br />
erwartet man in einer transaktionalen systemischen<br />
Sicht trotz der allgemeinen Formulierung von Entwicklungsaufgaben<br />
differentielle und individuelle<br />
Entwicklungsverläufe.<br />
3.5.3 Kritische Lebensereignisse<br />
Kritische Lebensereignisse wie Geburt eines Geschwisters,<br />
Scheidung der Eltern, Orts- und Schulwechsel,<br />
Arbeitslosigkeit, schwerwiegende Erkrankungen<br />
oder Behinderungen, Viktimisierungen<br />
durch Verbrechen, Tod von nahe stehenden Personen,<br />
Scheidung, ökonomische Verluste usw. sind Einschnitte<br />
in den Lebenslauf, die retrospektiv häufig als<br />
Wendepunkte im eigenen Leben bezeichnet werden.<br />
Sie können psychische Störungen erzeugen, aber<br />
auch zu vielfältigen Entwicklungsgewinnen führen,<br />
wenn sie gemeistert oder bewältigt werden (vgl.<br />
Kap. 32; Montada, Filipp und Lerner, 1992). Was<br />
muss gemeistert oder bewältigt werden?<br />
Probleme. Solche Ereignisse schaffen Probleme, die<br />
gelöst werden müssen. Denken Sie z. B. an eine<br />
Querschnittlähmung nach einem Unfall, an eine<br />
Scheidung oder an die Geburt eines ersten Kindes.<br />
Was alles muss neu organisiert werden, was alles<br />
muss neu gelernt werden, welche Entscheidungen<br />
sind unter Unsicherheit zu treffen, wie sind die sozialen<br />
Beziehungen tangiert und neu zu gestalten? Die<br />
Probleme müssen gemeistert werden, was etwa im<br />
Fall einer Querschnittlähmung lange Trainings zur<br />
Erlangung einer selbständigen Mobilität und vielleicht<br />
auch eine neue Berufsausbildung verlangt.<br />
Verluste. In allen kritischen Lebensereignissen gibt es<br />
auch Verluste unterschiedlicher Art. Der Verlust von<br />
Lebenspartnern oder der Gesundheit oder des Berufs<br />
kann viele weitere Verluste beinhalten: Selbstvertrauen,<br />
Sozialstatus, Lebensziele, Lebenssinn, finanzielle<br />
Sicherheit u. a. m. Wenn diese Verluste nicht ausgeglichen<br />
werden können, müssen sie bewältigt werden,<br />
etwa durch eine Reorganisation von Prioritäten oder<br />
durch Erschließung der Vergangenheit als Ressource,<br />
wie dies alte Menschen versuchen können.<br />
Soziale Konflikte. Viele Ereignisse führen zu sozialen<br />
Konflikten (z. B. mit denjenigen, die verantwortlich<br />
gemacht werden, etwa für einen Unfall, für<br />
eine Trennung, für eine Entlassung in die Arbeitslosigkeit<br />
oder für eine Krankheit). Und es gibt Konflikte<br />
wegen der Folgen eines kritischen Ereignisses<br />
(z. B. mit einem Partner, der sich trennt nach einer<br />
Querschnittlähmung, oder mit einer Versicherung<br />
wegen der Kostenübernahme).<br />
Belastende Emotionen. Kritische Ereignisse erzeugen<br />
zunächst einmal belastende Emotionen, z. B.<br />
Ängste, Hilflosigkeit, Empörung, Hass, Bitterkeit,<br />
Ärger über sich selbst, Scham, Schuldgefühle, Neid,<br />
Eifersucht usw. Diese Emotionen müssen bewältigt<br />
werden. Wenn das nicht durch eine Meisterung der<br />
Probleme und durch einen Ausgleich der Verluste<br />
gelingt, können Strategien der Emotionsbewältigung<br />
eingesetzt werden. In besonderer Weise emotional<br />
belastend wirken negative Reaktionen im sozialen<br />
Umfeld, wie die Abwendung von Freunden, Vorwürfe<br />
der Selbstverschuldung oder unzureichenden<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
3.5 Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse 39
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Bewältigungsanstrengungen; dies wird als „sekundäre<br />
Viktimisierung“ erlebt und ruft Bitterkeit hervor<br />
(Bennet-Herbert & Dunkel-Schetter, 1992).<br />
Positive Entwicklungen sind zu erwarten, wenn<br />
die Probleme gemeistert, die Verluste kompensiert<br />
oder bewältigt, die Konflikte beigelegt oder gewonnen<br />
und die belastenden Emotionen durch neue<br />
Sichten überwunden, gedämpft oder durch Strategien<br />
der Gefühlssteuerung kontrolliert werden können.<br />
Denn das ist nur möglich durch den Aufbau<br />
neuer Kompetenzen und neuer Erkenntnisse, auch<br />
über sich selbst, durch eine Sinnfindung oder Sinngebung.<br />
Daraus folgt ein Zuwachs an erlebter Selbstwirksamkeit,<br />
Stolz auf die eigenen Leistungen bei<br />
der Meisterung der Schwierigkeiten und die Zuversicht,<br />
auch künftigen Fährnissen des Lebens gewachsen<br />
zu sein. Auch eine Änderung von Prioritäten im<br />
Leben und neu aufgebaute Sozialbeziehungen können<br />
als Gewinne erlebt werden.<br />
Ein Risiko der Störungsentwicklung ist nicht zu<br />
leugnen. Etwa 10% der Varianz von Indikatoren der<br />
psychischen und psychosomatischen Gesundheit<br />
und Mortalität werden durch vorausgehende kritische<br />
Lebensereignisse erklärt; auch Risiko- und<br />
Schutzfaktoren wurden ermittelt (Fisher & Reason,<br />
1988, Teil 2). Dies zeigt aber auch, dass die meisten<br />
Menschen in der Lage sind, die Probleme und Verluste<br />
durch kritische Lebensereignisse alleine oder<br />
mit angemessener sozialer Unterstützung zu bewältigen<br />
oder zu meistern.<br />
die rasche Behebung eines Problems (etwa durch<br />
Unterstützung aus dem sozialen Umfeld oder durch<br />
Rücknahme einer Anforderung) angezeigt, nämlich<br />
dann nicht, wenn von den Betroffenen begründet<br />
erwartet werden kann, dass sie ein Problem selbst<br />
bewältigen und dass sie dabei Kompetenzen und<br />
Dispositionen entwickeln, die ihnen helfen, künftige<br />
Probleme und Krisen zu vermeiden oder besser zu<br />
bewältigen. Das kann ein realistisches Selbstbild<br />
sein, das können Strategien der Problem- und Verlustbewältigung,<br />
der Steuerung belastender Emotionen,<br />
der angemessenen Zielsetzung, das kann der<br />
Aufbau von Selbstvertrauen in die eigenen Kompetenzen<br />
sein. All das sind Schutzfaktoren bei neuen<br />
Problemen und Krisen.<br />
Denkanstöße<br />
Sie haben vermutlich manche kritischen<br />
Lebensereignisse erlebt. Wählen Sie eines aus,<br />
und notieren Sie alle Probleme, Verluste,<br />
Konflikte und belastenden Emotionen, die<br />
dadurch entstanden sind. Notieren Sie dann<br />
Ihre Versuche, diese zu meistern oder zu<br />
bewältigen und den Erfolg oder Misserfolg<br />
dieser Versuchen. Resümieren Sie, inwiefern Sie<br />
sich dabei entwickelt haben und was Entwicklung<br />
dabei bedeutet.<br />
3.5.4 Folgerungen für die<br />
Entwicklungsberatung<br />
Der Lebenslauf ist als eine Folge von Problemen und<br />
Krisen zu sehen. In systemischer Sicht sind für die<br />
Vermeidung oder die Lösung eines Problems oder<br />
einer Krise immer verschiedene Ansatzpunkte zu<br />
prüfen: die Betroffenen mit ihren Zielen, Aspirationen,<br />
Verpflichtungen, Ressourcen, Kompetenzen<br />
und Defiziten, die sozialen Kontexte mit ihren Aspirationen,<br />
Normen und Ressourcen, die Gesellschaft<br />
mit ihren Anforderungen und Opportunitätsstrukturen.<br />
Für eine optimale Entwicklung ist nicht immer<br />
4 Kontinuität und Diskontinuität<br />
in der Entwicklung<br />
Wenn wir einen Menschen als Säugling, als Schulanfänger,<br />
als Jugendlichen und als Erwachsenen vergleichen,<br />
werden wir oft Mühe haben, eine stabile<br />
Identität oder auch nur Ähnlichkeiten zu erkennen.<br />
Die allgemeinen Veränderungen sind in manchen<br />
Lebensabschnitten, vor allem in den ersten Lebensjahren,<br />
so groß, dass es nicht möglich ist, dieselben<br />
psychologischen Konstrukte und Messskalen zur<br />
Beschreibung verschiedener Altersstufen zu verwenden.<br />
Auch wenn dieselben abstrakten Konzepte wie<br />
40 4 Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Intelligenz oder Temperamentsattribute verwendet<br />
werden, sind deren konkrete Inhalte in verschiedenen<br />
Lebensperioden so unterschiedlich, dass ihre Äquivalenz<br />
für die Messung derselben latenten Merkmale<br />
nachgewiesen werden muss.<br />
Solch drastische Metamorphosen stehen auf den<br />
ersten Blick in einem Spannungsverhältnis zum Entwicklungsbegriff.<br />
Wenn nach der Okkupation eines<br />
Landes oder nach einer Revolution die alte gesellschaftliche<br />
Struktur zerschlagen und eine neue errichtet<br />
wird, sprechen wir nicht von gesellschaftlicher<br />
„Entwicklung“, auch nicht, wenn eine völlig<br />
neue Mode die bisherige ersetzt. Dies sind Beispiele<br />
für Diskontinuität. Wenn wir von Entwicklung sprechen,<br />
meinen wir zwar Veränderungen, unterstellen<br />
aber eine Kontinuität in der Veränderung.<br />
Auch bei einzelnen Individuen kann es ähnlich<br />
deutliche Veränderungen geben (z. B. der Leistungsfähigkeit,<br />
der Grundstimmung, der politischen Einstellungen,<br />
der Selbstsicherheit, der Interessen). Solche<br />
Veränderungen können durch Wechsel des sozialen<br />
Milieus, Wechsel der sozialen Rolle, durch<br />
kritische Lebensereignisse, Erkrankungen oder erfolgreiche<br />
Therapien bewirkt werden. Sie vermitteln<br />
den Eindruck der Diskontinuität. Ob es sich wirklich<br />
um Fälle von Diskontinuität handelt oder ob<br />
doch Kontinuität entdeckbar ist, ist eine andere<br />
Frage, deren Beantwortung eine Differenzierung des<br />
Kontinuitätsbegriffs voraussetzt.<br />
Der Begriff Kontinuität wird in unterschiedlichen<br />
Bedeutungen gebraucht:<br />
(1) absolute Stabilität, also das Fehlen von Veränderung,<br />
(2) Stabilität interindividueller Unterschiede oder<br />
Positionsstabilität in einer Rangreihe oder Verteilung,<br />
(3) aufeinander aufbauende Entwicklungsschritte,<br />
(4) phänotypische Veränderung oder Veränderung<br />
des Ausdrucks, der Manifestation einer gleich<br />
bleibenden latenten Variablen,<br />
(5) Erklärung interindividueller Unterschiede aus<br />
vorausgehenden Unterschieden in einer anderen<br />
Dimension.<br />
4.1 Absolute Stabilität<br />
Definition<br />
Wir sprechen von absoluter Stabilität, wenn<br />
keine Veränderung festgestellt wird. Über lange<br />
Zeitperioden bleibt die Körpergröße beim<br />
Erwachsenen unverändert. Die Einstellung zu<br />
einer anderen Person oder eine Kompetenz wie<br />
Fahrradfahren können über lange Perioden des<br />
Lebens unverändert bleiben.<br />
Die Feststellung absoluter Stabilität ist oft relativ zur<br />
Messmethode. Mit einer zweiwertigen kategorialen<br />
„Skala“ (vorhanden – nicht vorhanden; gekonnt –<br />
nicht gekonnt) sind weniger Veränderungen zu<br />
registrieren als mit kontinuierlichen Skalen. Ohne<br />
Erkrankungen, Verletzungen oder Altersdemenz<br />
werden z. B. viele einmal erworbene psychomotorische<br />
Fertigkeiten oder intellektuelle Fähigkeiten wie<br />
logisches Schlussfolgern nicht wieder völlig verlernt,<br />
aber die Leistungen können je nach Übung und körperlicher<br />
Kondition intraindividuell variieren. Man<br />
kann in diesem Sinne auch die Persistenz von Störungen<br />
(Stottern, Phobien, Zwangssymptomen, Delinquenz<br />
usw.) oder die Stabilität bzw. den Wandel<br />
von Interessen, Werthaltungen oder des Selbstbildes<br />
prüfen.<br />
Entwicklungsverlaufskurven von Merkmalen, Leistungen<br />
usw. geben Auskunft darüber, ob und wann<br />
und wie lange während des Lebenslaufes absolute Stabilität<br />
besteht. Man kann diesbezüglich verschiedene<br />
Merkmale, Verhaltensweisen oder Leistungen vergleichend<br />
beurteilen. Die Kapazitätsgrenze des Kurzzeitspeichers<br />
scheint sich während der Kindheit sukzessive<br />
zu erweitern, um dann lange Zeit unverändert<br />
zu bleiben (Kap. 13).<br />
Absolute Stabilität kann für einzelne Individuen<br />
oder für den Durchschnitt einer Population erfasst<br />
werden. Das sollte man sorgfältig voneinander unterscheiden.<br />
Ein Beispiel für Letzteres ist die Entwicklungskurve<br />
der Intelligenz (vgl. Abb. 1.6), die durchschnittliche<br />
Intelligenzleistung erreicht ihre Asymptote<br />
im frühen Erwachsenenalter. Das bedeutet, dass<br />
keine Testaufgaben bekannt sind, die im späteren<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
4.1 Absolute Stabilität 41
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Alter durchschnittlich besser gelöst werden. Aber<br />
nicht alle individuellen Entwicklungen erreichen ihre<br />
Asymptote in dieser Altersperiode: Einzelne Personen<br />
oder Kategorien von Personen können sich weiter<br />
entwickeln, während sich andere verschlechtern.<br />
Absolute Stabilität bei einzelnen Individuen heißt,<br />
dass keine weitere Entwicklung beobachtet wird.<br />
4.2 Normative Stabilität oder Positionsstabilität<br />
Definition<br />
Mit normativer Stabilität ist gemeint, dass die<br />
Positionen der Individuen bezogen auf die<br />
Verteilung eines Merkmals oder einer Leistung<br />
in der Alterskohorte als Bezugsgruppe erhalten<br />
bleiben.<br />
Wir wissen aus Längsschnittuntersuchungen, dass<br />
der IQ vom Grundschulalter bis ins Erwachsenenalter<br />
eine vergleichsweise hohe und wachsende Positionsstabilität<br />
aufweist (vgl. Abb. 1.6). Aggressives<br />
Verhalten ist bei Jungen bzw. Männern ebenfalls<br />
vom Grundschulalter an recht stabil (Olweus, 1979;<br />
Zumkley, 1993). Absolute und normative Stabilität<br />
dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Hohe<br />
normative Stabilität der Intelligenz z. B. zwischen<br />
dem 10. und dem 18. Lebensjahr bedeutet nicht,<br />
dass sich die Intelligenzleistung in diesen Jahren<br />
nicht ändert. Positionsstabilität oder -veränderung<br />
wird als Korrelation von längsschnittlich an derselben<br />
Stichprobe erhobener Messreihen ermittelt. Da<br />
in der Korrelationsberechnung nur Abweichungswerte<br />
vom Mittelwert der Verteilung, also Rangpositionen,<br />
berücksichtigt werden, zeigt ein hoher<br />
Koeffizient nichts anderes, als dass große Positionsverschiebungen<br />
nicht häufig vorkommen. Absolut<br />
gesehen kann die Stichprobe insgesamt über den<br />
Beobachtungszeitraum große Veränderungen aufweisen,<br />
lediglich die interindividuellen Unterschiede<br />
bleiben erhalten.<br />
Flynn (1987) weist beispielsweise für einige Industrieländer<br />
signifikante durchschnittliche Leis-<br />
tungssteigerungen in der Größenordnung einer<br />
Standardabweichung während der vergangenen 30<br />
Jahren nach, die im Übrigen nicht primär durch<br />
gestiegene Bildungsbeteiligung erklärt werden können,<br />
sondern wahrscheinlich auf vielerlei Veränderungen<br />
in alltäglichen Problem- und Informationsangeboten<br />
zurückzuführen sind. Trotz dieser<br />
durchschnittlichen Veränderungen ist die normative<br />
Stabilität weiterhin hoch; dies heißt, dass<br />
die interindividuellen Differenzen bei allgemeinem<br />
Wandel der Entwicklungsbedingungen stabil geblieben<br />
sind.<br />
4.3 Entwicklung als Stabilisierung<br />
interindividueller Unterschiede<br />
Der wissenschaftliche Eigenschaftsbegriff enthält die<br />
Annahme, dass interindividuelle Unterschiede konsistent<br />
über größere Zeitspannen stabil bleiben<br />
(normative Stabilität). Entwicklung kann als Stabilisierung<br />
interindividueller Unterschiede aufgefasst<br />
werden und damit als Herausbildung von Eigenschaften<br />
in dieser wissenschaftlichen Bedeutung<br />
(vgl. Kap. 19). Aus der Beobachtung solcher Stabilisierungen<br />
darf nicht geschlossen werden, dass definitive<br />
Verfestigungen eingetreten sind und somit<br />
eine Einschränkung von Veränderungsmöglichkeiten<br />
gegeben ist.<br />
Voraussetzung für solche Schlussfolgerungen wäre,<br />
dass die Stabilisierungen erklärt werden. Wenn sie<br />
ausschließlich genetisch bedingt wären, wären sie<br />
wohl dauerhaft. Wenn sie aber darauf zurückzuführen<br />
sind, dass für die Mehrheit einer untersuchten<br />
Population grundsätzlich änderbare Entwicklungseinflüsse<br />
gleich geblieben sind, dann würden sich bei<br />
differentiellen Veränderungen dieser Einflüsse auch<br />
die Positionen in der Verteilung „destabilisieren“.<br />
Deshalb ist es einmal von besonderem Interesse, jene<br />
Teilpopulationen zu untersuchen, die deutliche Veränderungen<br />
mutmaßlicher Entwicklungseinflüsse<br />
erfahren haben, zum anderen jene Personen zu identifizieren,<br />
deren Positionen in der Verteilung sich<br />
deutlich verändert hat, und nach Bedingungen dieser<br />
Instabilitäten zu suchen.<br />
42 4 Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Feststellungen über absolute oder normative Stabilität<br />
beschreiben die Gegebenheiten in einer spezifischen<br />
Population in einem spezifischen historischen<br />
Zeitraum. Bezogen auf den Spielraum für Veränderungen<br />
sind rein beschreibende Daten über Stabilität<br />
wenig aussagekräftig, wenn nicht zugleich das<br />
Ausmaß der gegebenen potentiellen Änderungsimpulse<br />
erfasst wurde, z. B. veränderte Anforderungen<br />
durch einen Wechsel des sozialen Milieus (z. B.<br />
Adoption, Institutionalisierung), durch Schule,<br />
Beruf, durch neue Verantwortlichkeiten und Aufgaben.<br />
4.4 Probleme des Nachweises der<br />
Stabilität von Eigenschaften<br />
und Fähigkeiten<br />
Über Kontinuität und Diskontinuität kann nicht<br />
allein auf der Beobachtungsebene entschieden werden.<br />
Phänomenal Unterschiedliches kann beruhen<br />
auf denselben kognitive Strukturen, die auf<br />
unterschiedliche Inhalte angewandt werden,<br />
auf derselben Fähigkeit, die sich in unterschiedlichen<br />
Leistungen zeigt,<br />
auf derselben Eigenschaft oder Disposition, die<br />
sich in unterschiedlichen Handlungen manifestiert.<br />
Die kognitive Struktur, die Piaget als „additive Komposition<br />
von Klassen“ bezeichnet hat, ermöglicht<br />
Klasseninklusionen, vollständige Kategorisierungen<br />
von Materialien oder Begriffen, effizientes Raten von<br />
Begriffen, sog. Realdefinitionen durch Oberbegriff<br />
und spezifische Differenz, richtige Verwendungen<br />
von Artikeln und der Quantifikatoren ein, einige,<br />
alle, logisches Schlussfolgern mit Klassenbegriffen<br />
(Montada, 2002).<br />
Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme im<br />
Sinne des Verstehens der Perspektive und des Wissens<br />
von Interaktionspartnern kann ganz unterschiedliche<br />
Leistungen ermöglichen: Vorhersagen<br />
ihres Handelns, Mitfühlen, Formulierung verstehbarer<br />
Erklärungen, erfolgreiches Verhandeln, vorteilhafte<br />
Selbstdarstellung, Vermeiden und Beilegen von<br />
Konflikten u. a. m.<br />
Eine Eigenschaft wie Aggressivität kann sich äußern<br />
in physischer Gewalt, Verängstigung, Kritikbereitschaft,<br />
in ironischem Lob, aber auch in zivilcouragiertem<br />
Handeln, u. a. m. Auf der anderen Seite<br />
kann phänotypisch Ähnliches (z. B. Gewaltdelikte<br />
im Jugendalter) Ausdruck verschiedener Personmerkmale<br />
sein, etwa eines Machtmotivs oder eines<br />
Gerechtigkeitsmotivs, das z. B. zur Vergeltung einer<br />
Kränkung motiviert, eines Defizit an Selbstbeherrschung<br />
oder des Motivs, Anerkennung in einer Peergruppe<br />
zu finden (vgl. Kap. 28).<br />
Latente Strukturen, manifestes Verhalten. Bevor<br />
bei der Untersuchung von Stabilitäten und Veränderungen<br />
im Lebenslauf festgestellt werden kann, ob<br />
Kontinuität oder Diskontinuität vorliegt, muss geklärt<br />
sein, welches latente Konstrukt (welche kognitive<br />
Struktur, Fähigkeit oder Disposition) sich in<br />
dem beobachteten oder erfragten Verhalten manifestiert.<br />
Das ist in der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> auch<br />
deshalb von Bedeutung, weil mit altersspezifischen<br />
Manifestationen derselben latenten Konstrukte zu<br />
rechnen ist. Die Aggressivität eines sechsjährigen<br />
Kindes wird sich vielleicht im physischen Angriff auf<br />
Personen und Sachen äußern, die Aggressivität des<br />
Erwachsenen auch in ironischem Lob, Schadenfreude<br />
und subtiler Demütigung.<br />
Bevor die Stabilität von Aggressivität geprüft werden<br />
kann, wäre zunächst zu belegen, dass die altersspezifischen<br />
Verfahren zur Messung oder Erfassung<br />
wirklich Aggressivität erfassen. Hierzu sind Validitätsstudien<br />
auf den verschiedenen Altersstufen notwendig,<br />
in denen das Vorhandensein theoretisch<br />
erwarteter Zusammenhänge geprüft wird (z. B. die<br />
Übereinstimmung mit Einschätzungen aus dem<br />
sozialen Umfeld der Untersuchungsteilnehmer). Das<br />
heißt, es müssen methodische Regeln für die Zuordnung<br />
manifesten Verhaltens zu latenten Konstrukten<br />
angewandt werden, wie sie in der Testpsychologie<br />
zur Validierung von Tests gelten. Man darf sich nicht<br />
mit der Augenscheinvalidität der verwendeten Messverfahren<br />
begnügen.<br />
Werden substantielle Korrelationen zwischen zeitlich<br />
auseinander liegenden und dem Augenschein<br />
nach unterschiedlichen Variablen beobachtet, könnte<br />
es sein, dass es sich um dieselbe latente Variable<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
4.4 Probleme des Nachweises der Stabilität von Eigenschaften und Fähigkeiten 43
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
handelt, die über diese Zeitspanne stabil ist. Eine<br />
andere Erklärung könnte sein, dass z. B. die zeitlich<br />
früher gemessene Variable (z. B. Abiturnote) eine<br />
Voraussetzung (z. B. Zulassung zu einigen Studiengängen)<br />
für die zeitlich später gemessene Variable<br />
(z. B. Einkommen) darstellt. Das wird im Folgenden<br />
weiter erläutert.<br />
4.5 Kontinuität als Wirkung<br />
von Dispositionen, Kompetenzen<br />
und Selbstkonzept<br />
Wie kommt es, dass verschiedene Personen dieselben<br />
Informationen unterschiedlich auffassen und auswerten,<br />
gleiche Ereignisse unterschiedlich bewältigen und<br />
sich unter äußerlich ähnlichen Bedingungen unterschiedlich<br />
entwickeln? Die zu einem Zeitpunkt<br />
entwickelten personalen Merkmale (Motive, Interessen,<br />
Kompetenzen, Wissen, Einstellungen usw.), das<br />
Selbstbild und die Erfahrungen, die bisher gemacht<br />
wurden und die sich in Verhaltens-, Urteils- und Wertungsdispositionen<br />
niedergeschlagen haben, haben<br />
Einfluss auf die weitere Entwicklung.<br />
Dispositionen, Kompetenzen und das Selbstkonzept<br />
sind auf mindestens drei Weisen einflussreiche<br />
Faktoren der Entwicklung:<br />
(1) Die jeweils gegebenen individuellen Merkmale<br />
(Kompetenzen und Dispositionen) und Selbstkonzepte<br />
moderieren die Einflüsse aus der<br />
Umwelt, die subjektiven Erfahrungen und die<br />
Aufnahme und Bewertung von Informationen.<br />
Zum Beispiel lernen die intelligenteren und besser<br />
informierten Schüler aus einem anspruchsvollen<br />
Fachbuch mehr als weniger begabte oder<br />
schlecht informierte. Die erfolgszuversichtlichen<br />
Schüler erklären eine schlechte Prüfung anders<br />
als misserfolgsängstliche, und sie bilden aus diesen<br />
Erklärungen andere Erwartungen für künftige<br />
Leistungssituationen.<br />
(2) Die Anforderungen und Angebote der Umwelt<br />
variieren je nach individuell gegebenen Merkmalen<br />
und Selbstkonzepten. Das schwierige<br />
Kind wird weniger Zuneigung und Freundlichkeit<br />
erfahren als das pflegeleichte. Der rebelli-<br />
sche oder delinquente Jugendliche wird häufiger<br />
zurückgewiesen und weniger unterstützt als<br />
der angepasste. Vom intelligenten und guten<br />
Grundschüler erwartet man eher den Besuch<br />
einer höheren Schule als von schlechten Schülern.<br />
(3) Die Dispositionen, Kompetenzen und Selbstkonzepte<br />
bestimmen, in welche Richtung die Menschen<br />
ihre eigene Entwicklung gestalten. Zum<br />
Beispiel hängt es vom Selbstkonzept der eigenen<br />
Fähigkeiten ab, was man anpackt und welche<br />
Ziele man sich setzt. Ausbildungs- und Berufsentscheidungen,<br />
Eingehen und Auflösen von<br />
Partnerschaften, Übernahme oder Ablehnung<br />
sozialer Pflichten sind auch Funktionen des<br />
Selbstkonzeptes. Diese Entscheidungen haben<br />
Auswirkungen auf die weitere Entwicklung. Die<br />
Bewältigung von Schwierigkeiten hängt nicht<br />
zuletzt davon ab, wie man in der Vergangenheit<br />
mit Schwierigkeiten fertig geworden ist. Hat man<br />
zuvor ähnliche Probleme bewältigt, geht man die<br />
neuen mit mehr Selbstvertrauen und Geschick<br />
an als im umgekehrten Fall.<br />
Die Suche nach Kontinuität in individuellen Lebensläufen<br />
zielt auf Erklärungen individueller Entwicklungen<br />
aus Voraussetzungen oder Bedingungen, die<br />
als Kompetenzen, als Personmerkmale oder als<br />
Selbstkonzept zu fassen sind.<br />
Unter der Lupe<br />
Bindungsrepräsentationen und kognitive<br />
Entwicklung<br />
Ein Beispiel für die wissenschaftliche Suche nach<br />
Kontinuität gibt eine Studie über den Zusammenhang<br />
zwischen der Bindung von Kindern an die<br />
Eltern und der Leistungsentwicklung in der<br />
Grund- und Sekundarstufe (Edelstein, 1996;<br />
Jacobsen & Hofman, 1997). Die Bindung an die<br />
Eltern wurde mittels Interview zu Bilderszenen<br />
über eine längere Trennungsepisode im Alter von<br />
7 Jahren erfasst. Die Validität dieser Erfassungsmethode<br />
wurde unter anderem über eine erstaunlich<br />
hohe Übereinstimmung mit den Ergebnissen<br />
der Bewertung in der sog. fremden Situation in der<br />
<br />
44 4 Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
frühen Kindheit (vgl. Kap. 5 und 20) belegt. Es<br />
konnte nachgewiesen werden, dass sicher gebundene<br />
Kinder im Vergleich zu unsicher gebundenen<br />
im Alter von 9, 12 und 15 Jahren dem Unterricht<br />
mit mehr Aufmerksamkeit und Beteiligung folgen<br />
(erfasst durch Lehrerurteile), bessere Noten<br />
erzielen sowie in der kognitiven Entwicklung sehr<br />
deutlich überlegen sind. Eine Anzahl alternativer<br />
Erklärungshypothesen war durch entsprechende<br />
Kontrollen auszuschließen.<br />
Wie sind diese Zusammenhänge zu erklären?<br />
Eine sichere Beziehung zu den Eltern (oder<br />
anderen primären Bezugspersonen) bedeutet<br />
Vertrauen und vermittelt Selbstbewusstsein, so<br />
dass von der Kindheit an „die Welt“ exploriert<br />
und aktiv erforscht werden kann. Sicher<br />
gebundene Kinder haben die Sicherheit, sich in<br />
Interaktionen mit anderen einlassen und<br />
daraus lernen zu können. Sie erleben die Schule<br />
als interessant und anregend. Sie trauen sich,<br />
Fragen zu stellen und Antworten zu geben und<br />
damit entwicklungsrelevante Rückmeldungen zu<br />
bekommen. Unsicher gebundene Kinder sind<br />
ängstlicher und trauen sich weniger; ihr Selbst<br />
ist verletzbarer, weshalb sie viele Lernmöglichkeiten<br />
nicht nutzen.<br />
Die empirische Basis für Kontinuitätsannahmen ist<br />
mitunter sehr fragwürdig. Die Phänomene, die<br />
durch eine Kontinuitätsannahme verknüpft sind,<br />
sind weder regelmäßig im Sinne einer Korrelation<br />
oder Veränderungssequenz, noch gesetzmäßig im<br />
Sinne einer Verursachungskette miteinander verknüpft.<br />
Eine Voreingenommenheit zur Postulierung<br />
von Kontinuitäten ist verbreitet.<br />
Deshalb sind prospektive Längsschnittuntersuchungen<br />
ein Königsweg zu wissenschaftlich belegbaren<br />
entwicklungspsychologischen Erkenntnissen.<br />
Zu den Leitvorstellungen entwicklungspsychologischen<br />
Denkens gehört die Annahme, dass es einen<br />
Zusammenhang zwischen früheren und späteren<br />
Zuständen gibt. Dieser Zusammenhang ist zunächst<br />
einmal empirisch zu sichern, sodann in einer theoretischen<br />
Interpretation zu plausibilisieren.<br />
Die Bedeutung von Kontinuität und Wandel für<br />
Entwicklungsprognosen und -interventionen<br />
Individuelle Entwicklungsprognosen über längere<br />
Zeiträume sind mit großen Unsicherheiten behaftet.<br />
„Traditionelle Vorstellungen von Stabilität, geordnetem<br />
Wandel und invarianter Eigenschaftsausstattung<br />
erscheinen durch die Befundlage in hohem Maße<br />
diskreditiert. Ins Positive gewendet mag man aus<br />
den Misserfolgen einer langfristigen Entwicklungsprognostik<br />
aber auch einen Beleg dafür sehen, dass<br />
menschliche Entwicklungsprozesse sehr weite Änderungs-<br />
und Optimierungsspielräume aufweisen“<br />
(Brandtstädter, 1985, S. 2).<br />
Plastizität, Variabilität und Kontextspezifität machen<br />
präzise Entwicklungsprognosen freilich nicht<br />
unmöglich. Allerdings lassen sich Prognosen nicht nur<br />
aufgrund der jeweils gegebenen Entwicklungszustände<br />
stellen: Das setzte hohe Stabilität der betreffenden Entwicklungsdimensionen<br />
voraus. Stattdessen muss man<br />
die Faktoren in die Prognose einbeziehen, die als entwicklungswirksam<br />
nachgewiesen werden. Dies erfordert<br />
allerdings eine ebenfalls mit Unsicherheiten behaftete<br />
Prognose über das Eintreten dieser Entwicklungsfaktoren.<br />
Wenn beispielsweise kontextuelle Einflüsse<br />
wirksam sind, müsste prognostiziert werden, wie die<br />
Kontexte im Verlauf der Entwicklung eines Individuums<br />
sein werden bzw. welche Kontexte ein Individuum<br />
aufsuchen oder herstellen wird.<br />
Es wurden interaktionistische, aktionale und<br />
transaktionale Entwicklungsmodelle formuliert. Es<br />
fehlt auch nicht an Methoden, wie man im Rahmen<br />
dieser Modelle forschen könnte. Wenn man diese<br />
Modelle jedoch anlegt, wird deutlich, wie breit<br />
die Spielräume für die Entwicklung insbesondere<br />
in Gesellschaften mit heterogenen Kulturen und<br />
einem hohen Änderungstempo sind. Für individuelle<br />
Entwicklungsprognosen ist das eine Erschwernis,<br />
weil die individuelle Entwicklungsprognose<br />
eine Prognose voraussetzt, ob, wann und in<br />
welcher Kombination diese Entwicklungsfaktoren<br />
eintreten und wirksam werden können, ob ihr Wirksamwerden<br />
möglicherweise durch andere Faktoren<br />
gefördert oder gedämpft wird usw. Entwicklungsprognosen<br />
werden also auch zukünftig notorisch<br />
mit großen Unsicherheiten behaftet sein.<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
4.5 Kontinuität als Wirkung von Dispositionen, Kompetenzen und Selbstkonzept 45
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Etwas einfacher stellt sich die Lage dar bei wissenschaftlich<br />
fundierten Interventionen, also wenn es<br />
um entwicklungsbezogenes Handeln geht. Denn<br />
die Entwicklungsfaktoren müssen nicht prognostiziert<br />
werden, sondern nur kontrolliert realisiert<br />
werden.<br />
4.6 Aleatorische Entwicklungsmomente<br />
und aktionale Entwicklungsmodelle<br />
In scharfem Kontrast zu den Kontinuitätsannahmen<br />
steht auf den ersten Blick die von Gergen (1979)<br />
besonders pointiert vorgetragene These von der<br />
Zufälligkeit, vom „Aleatorischen“ (lat. alea: der<br />
Würfel) in der Entwicklung. Beginnend mit der<br />
Zeugung spielen Zufälle eine Rolle. Mit welcher<br />
Kombination von Erbanlagen wir in welche Familie,<br />
welche Gesellschaft und welche historische Zeit hineingeboren<br />
werden, schon das ist ein Zufall. Welche<br />
glücklichen und unglücklichen Ereignisse wir erleben,<br />
welchen Menschen wir begegnen, mit welchen<br />
Ideen wir bekannt werden, auch dies hat ein Element<br />
des Zufalls. Vielleicht sind es die Zufälle und<br />
deren Auswirkungen, die den aus Längsschnittstudien<br />
bekannten Tatbestand erklären, dass mit<br />
zunehmendem Zeitintervall die Entwicklungsprognosen<br />
ungenauer werden.<br />
Unterschätzung der Zufälle. In der theoretischen<br />
und in der biographischen Rekonstruktion von Entwicklungsverläufen<br />
suchen wir jedoch nach Kausalund<br />
Sinnzusammenhängen und übersehen die<br />
zufälligen Momente. Wir haben eine Tendenz, den<br />
Zufall von Ereignissen und Begegnungen zu bezweifeln<br />
und stattdessen Dispositionen und Wahlen<br />
anzunehmen. Damit geben wir einem aktionalen<br />
Entwicklungsmodell den Vorzug, das ein reflexives<br />
und intentional handelndes Subjekt annimmt. Bei<br />
der biographischen Rekonstruktion haben viele das<br />
Motiv, die Kontrolle über die Geschehnisse, ihre<br />
Bewältigungsleistungen und die Kontinuität im<br />
Sinne einer Konsistenz und Stabilität persönlicher<br />
Identität in illusionärer Weise zu überschätzen.<br />
Kontinuität trotz Zufällen. Kontinuität und Zufallsmomente<br />
schließen sich aber durchaus nicht<br />
aus. Sie würden sich nur ausschließen, wenn die<br />
Zufallsmomente alleinige und hinreichende Ursachen<br />
für Entwicklungsveränderungen wären. Immer<br />
wenn individuelle Unterschiede in den Auswirkungen<br />
oder Verarbeitungen der Zufallsmomente feststellbar<br />
sind, die auf Dispositionen oder Kompetenzen<br />
zurückzuführen sind, wenn wir also Interaktionen<br />
nachweisen können, spricht das für Kontinuität,<br />
auch wenn die Entwicklungsbahnen durch die<br />
Zufallsereignisse mitbedingt sind. Die Annahme von<br />
Wahl- und Handlungsmöglichkeiten, die Annahme<br />
von wirksamen Dispositionen der Person wird nicht<br />
schon dadurch diskreditiert, dass man auch Zufälle<br />
als Einflussfaktoren akzeptiert.<br />
Denkanstöße<br />
Es wurden verschiedene Kontinuitätskonzepte<br />
unterschieden. Illustrieren Sie diese<br />
mit Beispielen aus Ihrem eigenen Leben.<br />
Machen Sie sich mehrere Zufälle in Ihrem<br />
eigenen Leben bewusst, und denken Sie darüber<br />
nach, welche Entscheidungen Sie selbst<br />
angesichts dieser Zufälle getroffen haben.<br />
Es wurden drei Möglichkeiten genannt, wie<br />
entwickelte Dispositionen, Kompetenzen<br />
und das Selbstkonzept einflussreich für die<br />
weitere Entwicklung werden können.<br />
Versuchen Sie, dafür Beispiele in Ihrer<br />
eigenen gegenwärtigen Lebensituation zu<br />
finden.<br />
5 Zusammenfassung<br />
Es ist das Anliegen des Einführungskapitels, den<br />
Lesern einen allgemeinen Überblick über die Fragestellungen<br />
und Themen der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
zu geben. Das wird mit verschiedenen Ansätzen<br />
versucht.<br />
Fragestellungen und Modellannahmen. Die heutige<br />
Forschung stellt Fragen in Abgrenzung von den in<br />
der Geschichte des Faches lange Zeit vorherrschenden<br />
Phasen- und Stufenmodellen, mit denen man<br />
46 5 Zusammenfassung
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
allgemeine Entwicklungsveränderungen zu beschreiben<br />
versucht hat:<br />
Man schaut heute mehr auf individuelle und<br />
(sub-)kulturelle Unterschiede in Entwicklungen,<br />
weil man daraus mehr Erkenntnisse über Einflussfaktoren<br />
und -möglichkeiten gewinnen kann.<br />
Die Ansichten darüber haben sich sehr deutlich<br />
geändert.<br />
Man weiß heute, dass viele Einflussfaktoren in<br />
systemischen Bezügen interagieren, z. B. Erbanlagen<br />
mit sozialen und physischen Kontextkomponenten<br />
und diese Komponenten untereinander.<br />
Man hat auch erkannt, dass die sich entwickelnden<br />
Menschen Einfluss haben auf ihre Entwicklungsumwelt,<br />
auch aktiv gestaltenden Einfluss,<br />
und mit zunehmendem Alter immer mehr selbst<br />
entscheiden, in welchen Kontexten sie leben. Entwicklungseinflüsse<br />
sind nicht unilateral, etwa von<br />
Eltern und anderen Erwachsenen auf Kinder und<br />
Jugendliche, sondern wechselseitig oder „transaktional“.<br />
Entwicklung endet nicht mit dem Jugendalter.<br />
Die neuen Fragestellungen und Modellannahmen<br />
wurden vor allem angeregt und erforderlich durch<br />
eine Ausweitung der Entwicklungsforschung auf die<br />
gesamte Lebensspanne. Im Erwachsenen- und höheren<br />
Alter gibt es Entwicklungen in vielen Bereichen,<br />
aber eben differentielle, die sich aus den Interaktionen<br />
der Menschen in unterschiedlichen Systemen<br />
oder Lebenskontexten ergeben.<br />
Bereichsübergreifende Forschungsprobleme.<br />
Weiter wird eine Einführung in folgende allgemeine<br />
Forschungsprobleme gegeben:<br />
Anlage-Umwelt-Debatte,<br />
Entwicklung als Reifung und die Rolle der Erfahrung<br />
und des Lernens,<br />
Reifestand und sensible Perioden der Entwicklung<br />
als Voraussetzung für spezifisches Lernen,<br />
konstruktivistische Entwicklungskonzeptionen<br />
des Aufbaus von Erkenntnissen, Wissen und Erkenntnisinstrumenten,<br />
Sozialisationseinflüsse, die unter entwicklungspsychologischen<br />
Perspektiven spezifiziert werden,<br />
Entwicklungsaufgaben in unterschiedlichen Altersund<br />
Lebensphasen,<br />
Entwicklungskrisen und die Entwicklungsauswirkungen<br />
kritischer Lebensereignisse.<br />
Kontinuität und Diskontinuität in der Entwicklung.<br />
Entwicklung bedeutet Veränderung, und zwar<br />
eine spezifische Kategorie von Veränderung, die<br />
sinnvoll auf die Zeitdimension Lebensalter bezogen<br />
werden kann. Eine Kernfrage dabei ist die Frage<br />
nach Kontinuität oder Diskontinuität. Von Entwicklung<br />
sprechen wir nur, wenn in irgendeiner Form<br />
Kontinuität in der Veränderung gegeben ist. Eine<br />
zentrale Frage ist deshalb, wie Kontinuität nachzuweisen<br />
ist. Hierzu werden verschiedene Konzepte<br />
von Stabilität und Kontinuität unterschieden und<br />
die methodischen Schwierigkeiten des Nachweises<br />
von Kontinuität in allgemeiner Darstellung aufgewiesen.<br />
Das Thema Kontinuität wird durch eine Diskussion<br />
der Rolle von Zufällen in der Entwicklung illustriert.<br />
Es gibt viele Zufälle in Entwicklungen. Ihre<br />
Wirkungen hängen aber ab von der Verarbeitung<br />
und dem Handeln durch die betroffenen Menschen<br />
in ihren jeweiligen systemischen Kontexten. In<br />
aktionalen und transaktionalen Modellen der Entwicklungen<br />
werden die Wirkungen von Zufällen als<br />
moderiert angesehen, moderiert durch die vorausgehenden<br />
Entwicklungen der Betroffenen, die zu<br />
Dispositionen, Fähigkeiten u. a. geführt haben.<br />
Die praktische Relevanz der Forschung. Welche<br />
der Interaktionen zwischen den sich entwickelnden<br />
Menschen (ihren Dispositionen und Potentialen)<br />
und den verschiedenen Kontexten sowie deren<br />
Komponenten und Facetten, welche der dort gemachten<br />
Erfahrungen usw. haben einen so großen<br />
Einfluss, dass man dieses Wissen für praktische Fragen,<br />
insbesondere für die Förderung einer guten<br />
Entwicklung und die Prävention von Fehlentwicklungen<br />
nutzen kann? Um eine Orientierung für die<br />
Lektüre dieses Buches zu geben, wird im Einführungskapitel<br />
eine Übersicht über die Relevanz entwicklungspsychologischen<br />
Wissens in unterschiedlichen<br />
Praxisfeldern und für die Gestaltung gesellschaftlicher<br />
Institutionen gegeben. Die Bedeutung<br />
der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> reicht heute bis zur<br />
Gestaltung eines produktiven Lebens im Alter.<br />
Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
5 Zusammenfassung 47
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Kapitel 1<br />
Fragen, Konzepte,<br />
Perspektiven<br />
Weiterführende Literatur<br />
Brandtstädter, J. (2001). Entwicklung, Intentionalität, Handeln.<br />
Stuttgart: Kohlhammer.<br />
In diesem Buch wird ein aktionales Entwicklungsmodell<br />
begründet mit Bezügen zu allen wichtigen theoretischen und<br />
metatheoretischen Positionen.<br />
Petermann, F., Niebank, K. & Scheithauer, H. (2004). Entwicklungswissenschaft.<br />
Berlin: Springer.<br />
Das Buch reichert das transaktionale Entwicklungsmodell mit<br />
vielen Informationen über neue neuropsychologische und genetische<br />
Forschungen an.<br />
48 5 Zusammenfassung
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Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie und Genetik<br />
der Entwicklung<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
Jens B. Asendorpf<br />
„Biologisch“ wird in der <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
in drei unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet:<br />
im Sinne der Evolutionsbiologie, im Sinne<br />
der Entwicklungsgenetik und im Sinne der Neurowissenschaft.<br />
Evolutionsbiologie. Wie bei allen anderen Lebewesen<br />
kann auch die menschliche Entwicklung von der<br />
Zeugung bis zum Tod als Produkt der Evolution verstanden<br />
werden, die von den ersten Lebewesen auf<br />
der Erde bis zu den heute lebenden Arten mit ihren<br />
charakteristischen Entwicklungsprozessen führte.<br />
Aus dieser Sicht ist die Individualentwicklung selbst<br />
Gegenstand eines Jahrmillionen andauernden Entwicklungsprozesses,<br />
eben der Evolution. Im ersten<br />
Teil dieses Kapitels wird gezeigt, wie sich aus dieser<br />
evolutionsbiologischen Sicht einige Aspekte der<br />
menschlichen Entwicklung verstehen lassen als Anpassungen<br />
der Individualentwicklung an die Umweltbedingungen<br />
unserer evolutionären Vorfahren.<br />
Entwicklungsgenetik. Zweitens wird „biologisch“<br />
im Sinne der Entwicklungsgenetik verstanden: Das<br />
genetische Erbgut (das Genom) variiert innerhalb<br />
bestimmter menschlicher Populationen von Individuum<br />
zu Individuum (eineiige Zwillinge ausgenommen).<br />
Diese genetischen Unterschiede führen zu<br />
einem unterschiedlichen Verlauf der Individualentwicklung<br />
und sind deshalb eine von mehreren Ursachen<br />
für Persönlichkeitsunterschiede. Im zweiten<br />
Teil dieses Kapitels wird umrissen, was wir heute<br />
über den genetischen Einfluss auf die differentielle<br />
Entwicklung wissen.<br />
Neurowissenschaft. Drittens wird „biologisch“ im<br />
Sinne der Neurowissenschaft verstanden: Wie entwickelt<br />
sich das Nervensystem im Verlauf der Indi-<br />
vidualentwicklung, und welche Beziehung besteht<br />
zwischen neuronalen und psychischen Entwicklungsprozessen?<br />
Dieser neurowissenschaftliche Zugang<br />
zur Entwicklung wird in Kapitel 3 behandelt.<br />
Genetisch beeinflusstes Lernen. Leider wird in der<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> „biologisch“ oft auch missverständlich<br />
verwendet. Verbreitet ist z. B. die Kontrastierung<br />
von „biologisch bedingt“ (im Sinne von<br />
„genetisch bedingt“) mit „erlernt“. Diese Gegenüberstellung<br />
suggeriert, dass genetische Einflüsse auf<br />
die Entwicklung nicht auch über Lernen vermittelt<br />
werden und dass Lernen genetisch unbeeinflusst ist.<br />
Beides ist falsch. Das sei hier am Beispiel der Schlangenangst<br />
von Rhesusaffen erläutert (vgl. „Unter der<br />
Lupe“, S. 50).<br />
Sinnvolle Schlangenangst<br />
Rhesusaffen in der freien Wildbahn reagieren<br />
Schlangen gegenüber mit starker Angst, im Zoo aufgewachsene<br />
Rhesusaffen nicht. Sie erwerben aber<br />
Angst vor Schlangen sehr schnell und dauerhaft,<br />
wenn sie beobachten, dass Artgenossen ängstlich auf<br />
eine Schlange reagieren.<br />
Im Verlauf der Evolution scheint sich also eine<br />
genetische Prädisposition zum Erlernen von Angst<br />
gegenüber solchen Reizen herausgebildet zu haben,<br />
die in der evolutionären Vergangenheit Gefahr signalisierten.<br />
Dies ist vermutlich auch der Grund, warum<br />
in Mitteleuropa Angst vor Schlangen viel verbreiteter<br />
ist als Angst vor Autos, obwohl dort Autos<br />
objektiv gesehen viel gefährlicher sind als Schlangen.<br />
Rhesusaffen (und vermutlich auch Menschen) müssen<br />
zwar Angst vor Schlangen erst lernen, aber dass<br />
sie es überhaupt lernen, ist genetisch bedingt.<br />
Evolutionspsychologie und Genetik der Entwicklung 49
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
Unter der Lupe<br />
Cook und Mineka (1989) zeigten verschiedenen<br />
Gruppen von Rhesusaffen, die im Zoo aufgewachsen<br />
waren und nie zuvor eine Spielzeugschlange,<br />
ein Spielzeugkrokodil, einen Spielzeughasen<br />
oder eine Plastikblume gesehen hatten,<br />
mehrfach einen Videofilm, in dem ein Artgenosse<br />
unängstlich oder mit großer Angst auf einen dieser<br />
vier Reize reagierte. Durch Bildmanipulation<br />
wurde erreicht, dass die (nicht)ängstliche Reaktion<br />
des Artgenossen bei allen Reizen identisch<br />
war.<br />
Vor und nach diesem Lernexperiment wurden<br />
die Versuchstiere mit den im Film gezeigten Reizen<br />
direkt konfrontiert. Filme, in denen der<br />
gezeigte Rhesusaffe nichtängstlich auf Schlange,<br />
Krokodil, Hase oder Blume reagiert hatte, hinterließen<br />
keine Wirkung: Die Versuchstiere reagierten<br />
wie vor dem Experiment ohne Angst. Der<br />
Hase und die Blume ließen sie auch dann unbeeindruckt,<br />
wenn sie im Film mehrfach gesehen<br />
hatten, dass ein Artgenosse diesen Reizen gegenüber<br />
hochängstlich reagiert hatte. Rhesusaffen, die<br />
jedoch gesehen hatten, wie ihre Artgenossen<br />
ängstlich auf die Schlange oder das Krokodil reagierten,<br />
reagierten diesen gegenüber nun auch<br />
selbst mit Angst. Die Angst wurde also nur<br />
bestimmten Reizen gegenüber erworben. Dieses<br />
Ergebnis ist evolutionsbiologisch sehr sinnvoll,<br />
denn Schlangen und Krokodile sind hochgefährlich<br />
für Säugetiere, Hasen und Blumen jedoch<br />
nicht.<br />
Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass es genetische<br />
Unterschiede in der Lernbereitschaft gibt (vgl.<br />
Abschnitt 2.2). Was durch Reifung im Sinne einer<br />
genetisch determinierten Entwicklung erklärt wird,<br />
beruht oft auch auf Lernprozessen, und was im Verlauf<br />
der Entwicklung gelernt wird, kann genetisch<br />
vorbestimmt sein.<br />
!<br />
Genetischer Einfluss und Lernen können<br />
nicht als unabhängig betrachtet werden.<br />
1 Evolutionspsychologie<br />
der Entwicklung<br />
Zunächst werden einige allgemeine Prinzipien der<br />
Evolutionspsychologie skizziert. Dann wird exemplarisch<br />
anhand von drei Entwicklungsphänomenen<br />
(Atavismen, Entwicklung der sexuellen Orientierung<br />
und Konsequenzen väterlicher Fürsorge) geschildert,<br />
wie Entwicklungsphänomene evolutionspsychologisch<br />
erklärt werden.<br />
1.1 Allgemeine Prinzipien der<br />
Evolutionspsychologie<br />
Die Evolutionsbiologie geht auf Darwin (1859) zurück.<br />
Darwin erklärte die Vielfalt der heutigen Arten<br />
durch einen Entwicklungsprozess, der im Kern auf<br />
Variation der Erbanlagen und natürlicher Selektion<br />
beruht. Dieses Erklärungsprinzip lässt sich nicht nur<br />
auf die Entstehung der Arten, sondern auch auf die<br />
Individualentwicklung innerhalb der Arten anwenden.<br />
Beim Menschen lassen sich so Entwicklungsgemeinsamkeiten,<br />
aber auch Entwicklungsunterschiede<br />
als Anpassungsleistungen an die Umwelt unserer evolutionären<br />
Vorfahren verstehen.<br />
Definition<br />
Die Spezialisierung der Evolutionsbiologie auf<br />
menschliches Erleben und Verhalten wird auch<br />
Evolutionspsychologie genannt (Buss, 2004).<br />
Zu Darwins Zeit war es noch nicht klar, was eigentlich<br />
variiert, von einer Generation zur nächsten vererbt<br />
und durch natürliche Selektion ausgelesen<br />
wird. Erst die Genetik füllte diese Lücke. Was innerhalb<br />
einer Art variiert, sind die Allele, d. h. die Vari-<br />
50 1 Evolutionspsychologie der Entwicklung
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
anten eines bestimmten Gens. So beruhen z. B. die<br />
Blutgruppen A, B, 0 auf Allelen eines Gens. Die<br />
Gene selbst sind funktionale Einheiten des Genoms<br />
und variieren mit wenigen Ausnahmen nur zwischen<br />
Arten; Mensch und Schimpanse z. B. teilen<br />
über 98 Prozent der Gene. Die Allele sind bis auf<br />
Mutationen das Leben hindurch konstant und in<br />
allen Zellen vorhanden; sie werden bei sexueller<br />
Fortpflanzung an die Kinder weitergegeben. Während<br />
der Meiose wird das Genom von Vater und<br />
Mutter in funktionale Einheiten zerlegt und durchmischt;<br />
diese sexuelle Rekombination stellt neben<br />
der Mutation die zweite Variationsquelle dar.<br />
!<br />
Gene variieren zwischen Arten. Allele variieren<br />
zwischen Individuen einer Art.<br />
Unterschiedliche Allele eines Gens können als in<br />
Konkurrenz zueinander betrachtet werden. Je nach<br />
Umweltbedingungen steigt oder sinkt ihre Häufigkeit<br />
relativ zu anderen Allelen: Sie weisen eine unterschiedliche<br />
Fitness auf. Dadurch nimmt die Umwelt<br />
Einfluss auf die Reproduktion von Genen; sie werden<br />
„natürlich ausgelesen“. Diese natürliche Selektion<br />
ist der entscheidende Mechanismus, der Gene<br />
und damit auch Genome und Lebewesen so an die<br />
Umwelt anpasst, dass sie überlebens- und fortpflanzungsfähig<br />
sind.<br />
Die Fitness hängt von der Umwelt ab. Das Konzept<br />
der natürlichen Selektion wird vielfach falsch<br />
verstanden. Erstens ist Fitness kein Merkmal eines<br />
Menschen oder eines Genoms, sondern eine Funktion<br />
eines Gens und seiner Umwelt. Ändert sich die<br />
Umwelt, kann sich seine Fitness ändern. Es gibt deshalb<br />
keine „guten“ oder „schlechten“ Gene, sondern<br />
nur Gene, die an eine bestimmte Umwelt „gut“ oder<br />
„schlecht“ angepasst sind. Zweitens bezieht sich die<br />
natürliche Selektion nur zum Teil auf die Lebenserwartung.<br />
Ein Gen, das Kindersterblichkeit begünstigt,<br />
ist zwar schlecht angepasst, aber Gene, die die<br />
Lebenserwartung erhöhen, doch die Zahl der Nachkommen<br />
senken, sind auch schlecht angepasst. Entscheidend<br />
ist der Reproduktionsvorteil eines Gens;<br />
statt „Survival of the fittest“ (Darwin) sollte es besser<br />
heißen “Reproduction of the fittest”. Deshalb ist<br />
es, drittens, falsch anzunehmen, dass die natürliche<br />
Selektion in westlichen Kulturen mit ihrer niedrigen<br />
Kindersterblichkeit und guten medizinischen Versorgung<br />
keine wesentliche Rolle mehr spiele. Gene<br />
beispielsweise, die Kinderwunsch oder Nachlässigkeit<br />
bei der Schwangerschaftsverhütung begünstigen,<br />
dürften heutzutage ausgesprochen fit sein.<br />
Die genetische Variation beruht auf Mutation<br />
und sexueller Rekombination, die<br />
!<br />
natürliche Selektion auf dem Reproduktionserfolg<br />
von Genen.<br />
Die natürliche Selektion wirkt sich deshalb am<br />
stärksten auf körperliche und Verhaltensmerkmale<br />
aus, die direkt die Reproduktion betreffen; alle anderen<br />
Merkmale sind nur indirekt betroffen. So gut<br />
wie gar nicht betroffen sind körperliche und Verhaltensmerkmale<br />
im hohen Alter, weil sie irrelevant<br />
für die Fortpflanzung der eigenen Gene und daher<br />
„selektiv neutral“ sind (vgl. Baltes, 1997). Ob jemand<br />
Alzheimer bekommt (eine genetisch stark<br />
mitbedingte Hirnerkrankung, die typischerweise<br />
erst ab dem Alter von 70 Jahren auftritt) oder nicht,<br />
ist evolutionär gesehen irrelevant; deshalb sind „Alzheimer-Gene“<br />
relativ häufig.<br />
Intra- und intersexuelle Selektion. Heutige evolutionsbiologische<br />
Erklärungen nutzen verschiedene<br />
Prinzipien, die sich aus den Kernprinzipien Variation<br />
und natürliche Selektion ableiten lassen. Darwin<br />
(1871) diskutierte bereits zwei von ihnen: intra- und<br />
intersexuelle Selektion. Intrasexuelle Selektion bezieht<br />
sich auf die Rivalität innerhalb der Geschlechter<br />
bei dem Versuch, Sexualpartner zu gewinnen und<br />
gegen Rivalen abzuschirmen. Gene, die diese Fähigkeiten<br />
fördern, haben einen Reproduktionsvorteil.<br />
Intersexuelle Selektion bezieht sich auf die sexuelle<br />
Attraktivität beim anderen Geschlecht. Gene, die körperliche<br />
oder Verhaltensmerkmale fördern, die vom<br />
anderen Geschlecht für attraktiv gehalten werden,<br />
haben einen Reproduktionsvorteil.<br />
Soziobiologie. Wilson (1975) wandte evolutionsbiologische<br />
Erklärungsprinzipien auf das Sozialver-<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
1.1 Allgemeine Prinzipien der Evolutionspsychologie 51
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Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
halten verschiedener Tierarten an und prägte den<br />
Begriff der Soziobiologie im Sinne einer Evolutionsbiologie<br />
des Sozialverhaltens. Dieser Ansatz löste<br />
starke Kontroversen mit Sozialwissenschaftlern aus,<br />
die bis dahin geglaubt hatten, biologische Zugänge<br />
zu sozialen Phänomenen ignorieren zu können. Mit<br />
gewissem Recht wurde den Soziobiologen vorgeworfen,<br />
dass ihre Überlegungen letztlich nur auf Spekulationen<br />
über optimal angepasstes Verhalten in einer<br />
hypothetischen Umwelt der Vergangenheit beruhten<br />
und der notwendigerweise angenommene genetische<br />
Einfluss auf das Verhalten nicht nachgewiesen<br />
sei.<br />
Ultimate und proximate Erklärungen. Allerdings<br />
unterschieden zumindest einige Soziobiologen<br />
schon früh zwischen ultimaten und proximaten Erklärungen.<br />
Ultimate Erklärungen beruhen auf Überlegungen<br />
zum Selektionsdruck und beschreiben, wie<br />
sich Individuen unter den angenommenen Umweltbedingungen<br />
der evolutionären Vergangenheit hätten<br />
verhalten sollen. Aber damit sie sich tatsächlich<br />
so verhalten haben, bedarf es proximater Mechanismen,<br />
die sie dazu gebracht haben, sich tatsächlich so<br />
zu verhalten. Die evolutionsbiologische Erklärung<br />
ist im Grunde nur vollständig (und überzeugender),<br />
wenn zu jeder ultimaten Erklärung auch eine proximate<br />
Erklärung durch Angabe eines proximaten<br />
Mechanismus geliefert wird.<br />
Evolvierte psychologische Mechanismen. Von daher<br />
greifen in ernst zu nehmenden evolutionären<br />
Erklärungen menschlichen Erlebens und Verhaltens<br />
immer biologische ultimate und psychologische<br />
proximate Erklärungen ineinander. Tatsächlich<br />
scheint sich der Schwerpunkt der evolutionspsychologischen<br />
Forschung in den letzten Jahren zunehmend<br />
in Richtung proximater Erklärungen verschoben<br />
zu haben. Hierbei wurde von Cosmides et al.<br />
(1992) der Begriff des evolvierten psychologischen<br />
Mechanismus (EPM) geprägt, der zur Abgrenzung<br />
der Evolutionspsychologie von einer nur ultimaten<br />
Erklärungen verpflichteten Soziobiologie benutzt<br />
wurde (Buss, 2004). Unter einem EPM wird ein<br />
bereichs- und kontextspezifischer proximater Mechanismus<br />
verstanden, der als Anpassungsleistung<br />
an die Umwelt unserer Vorfahren (also ultimat) verständlich<br />
ist und von dem angenommen wird, dass<br />
er genetisch fixiert ist und deshalb vererbt wird.<br />
Ultimate Erklärungen durch natürliche<br />
!<br />
Selektion müssen in evolutionspsychologischen<br />
Erklärungen durch Angabe proximater<br />
evolvierter psychologischer Mechanismen<br />
(EPMs) ergänzt werden.<br />
Ein viel zitiertes Beispiel für einen EPM ist die<br />
Hornhautbildung an den Füßen bei häufigem<br />
Gehen über hartes Gelände. Hornhaut schützt in<br />
diesem Fall vor Verletzungen bis hin zu Blutvergiftung.<br />
Wer nur über weiches Gras geht, bekommt<br />
keine Hornhaut, was die Sensitivität der Füße<br />
gegenüber taktilen Reizen fördert. In beiden Fällen<br />
ist Hornhaut bzw. das Fehlen derselben ultimat verständlich.<br />
Die Fähigkeit zur Hornhautbildung ist<br />
genetisch bedingt, aber ausgelöst wird sie durch spezifische<br />
Umweltreize. Dies wird als paradigmatisch<br />
für EPMs angesehen: EPMs sichern eine gute Anpassung<br />
an Umweltbedingungen, die in der evolutionären<br />
Vergangenheit variierten. Die Aufgabe der<br />
Evolutionspsychologie ist es daher, bei Menschen<br />
vorhandene Mechanismen der Informationsverarbeitung,<br />
Verhaltenskontrolle und Individualentwicklung<br />
als EPMs zu identifizieren. Im Folgenden<br />
werden exemplarisch einige entwicklungsrelevante<br />
EPMs vorgestellt.<br />
1.2 Verhaltensatavismen<br />
Aus entwicklungsbiologischer Sicht schreitet die<br />
Evolution dadurch voran, dass sich die genetisch<br />
bedingte Individualentwicklung ändert. Die natürliche<br />
Selektion begünstigt bestimmte Allele und<br />
damit auch bestimmte genetisch bedingte Entwicklungsverläufe.<br />
Diese Änderungen fußen auf dem<br />
konservativen Prinzip, dass Vorhandenes abgewandelt<br />
wird; das meiste wird beibehalten. Deshalb lassen<br />
sich in frühen Stadien der Individualentwicklung<br />
Anlagen zu artfremden Merkmalen finden. So<br />
findet sich in allen Embryos von Wirbeltieren (Men-<br />
52 1 Evolutionspsychologie der Entwicklung
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
schen eingeschlossen) die Rückensaite der 500 Millionen<br />
Jahre alten Chorda-Tiere. Obwohl sie sich später<br />
zu funktionslosen Überresten in den Bandscheiben<br />
zurückentwickelt, hat diese Rückensaite eine<br />
zentrale Funktion in der Entwicklung. Entfernt man<br />
sie nämlich bei einem Wirbeltier-Embryo, so wird es<br />
keine Muskulatur entwickeln. Störungen in der<br />
Embryonalentwicklung können dazu führen, dass<br />
bestimmte Merkmale sich nicht artgerecht entwickeln,<br />
sondern auf einem evolutionär niedrigeren<br />
Niveau verbleiben. Dann werden Kinder mit körperlichen<br />
Atavismen geboren, d. h. körperlichen Abnormitäten,<br />
die Normalitäten unserer Vorfahren waren:<br />
Kiemenspalten, zwei Reihen von Zitzen oder Pelzgesichter.<br />
Der Jenaer Zoologe Haeckel (1868) fasste<br />
dies in dem missverständlichen Diktum zusammen,<br />
dass die Ontogenese (die Individualentwicklung) die<br />
Phylogenese (die Entwicklung der Arten) wiederhole.<br />
Das ist streng genommen nicht richtig. Menschliche<br />
Embryonen ähneln nie ausgewachsenen Fischen;<br />
sie ähneln aber in einer bestimmten Phase<br />
ihrer Entwicklung Fisch-Embryos. Die Ontogenese<br />
baut also auf phylogenetisch älteren Formen der<br />
Ontogenese auf.<br />
!<br />
Die Ontogenese wiederholt die Phylogenese<br />
der frühen Ontogenese.<br />
Der Klammerreflex. Dieses Prinzip ist auch gut<br />
geeignet, um heutzutage scheinbar überflüssige Verhaltensweisen<br />
in der menschlichen Entwicklung als<br />
Verhaltensatavismen zu verstehen. So zeigen Säuglinge<br />
einen Klammerreflex, der einst dazu gedient<br />
haben mag, dass sie sich am Fell der Mutter festhalten<br />
konnten – nur im Zeitalter der Kinderwagen<br />
und Tragetücher ein scheinbar überflüssiger Reflex.<br />
Der Klammerreflex kann als EPM verstanden werden:<br />
hochgradig bereichsspezifisch (betrifft nur<br />
Handbewegungen), kontextspezifisch (Berührungen<br />
der Handinnenfläche lösen ihn aus), genetisch<br />
fixiert (alle Säuglinge zeigen ihn bis auf pathologische<br />
Ausnahmen) und ultimat gut verständlich als<br />
Anpassungsleistung an Umweltbedingungen unserer<br />
Säuglings-Vorfahren (das Fell der Mutter).<br />
Das Konzept des Verhaltensatavismus ist nicht nur<br />
geeignet, um scheinbar zwecklose menschliche Verhaltensweisen<br />
als EPMs verständlich zu machen.<br />
EPMs können nämlich auch eine entwicklungspsychologische<br />
Bedeutung haben. Wegen ihrer langen<br />
evolutionären Geschichte liegt es nahe anzunehmen,<br />
dass einmal etablierte EPMs stimulierende Funktion<br />
in der Individualentwicklung haben – ähnlich wie<br />
die Ausbildung der Rückensaite in Wirbeltieren die<br />
Bildung der Muskulatur stimuliert. Das gilt auch für<br />
den Klammerreflex (vgl. „Unter der Lupe“).<br />
Unter der Lupe<br />
Akrobaten-Babys<br />
Koch (1969) trainierte bei Säuglingen systematisch<br />
diejenigen Reflexe, die es unseren stammesgeschichtlichen<br />
Vorfahren ermöglichten, sich<br />
am Fell der Mutter festzuhalten, u. a. den Klammerreflex.<br />
Dieses Training führte dazu, dass die<br />
Säuglinge mit sechs Monaten frei hängend an<br />
einem Trapez schaukeln und mit sieben Monaten<br />
eine Leiter hochklettern konnten – in einem<br />
Alter, in dem ihre Altersgenossen meist noch<br />
nicht einmal krabbeln. Offenbar erfüllten die<br />
von Koch trainierten Reflexe wichtige Funktionen<br />
in der motorischen Entwicklung. Hätte<br />
Koch dagegen direkt das Trapezschaukeln oder<br />
Leiterklettern trainiert, hätte er wohl kaum<br />
Erfolg gehabt – alleiniges Training des Laufens<br />
z. B. beschleunigt das Laufenlernen kaum. Das<br />
Geheimnis von Kochs Erfolg scheint vielmehr<br />
darin zu liegen, dass er heutzutage verkümmerte<br />
Stadien der motorischen Entwicklung stimulierte<br />
und dadurch die motorische Entwicklung insgesamt<br />
beschleunigte. Wunder darf man sich<br />
von solchen „evolutionär korrekten“ Trainings<br />
allerdings nicht erwarten: Im Alter von drei Jahren<br />
unterschieden sich die Koch’schen Akrobaten-Babys<br />
nicht mehr von normalen Altersgenossen.<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
1.2 Verhaltensatavismen 53
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Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
1.3 Entwicklung der sexuellen<br />
Orientierung<br />
Definition<br />
Unter sexueller Orientierung wird die Disposition<br />
verstanden, durch Menschen des anderen<br />
Geschlechts, des eigenen Geschlechts oder<br />
beider Geschlechter sexuell erregt zu werden.<br />
Von daher können drei Persönlichkeitstypen unterschieden<br />
werden: Heterosexuelle, Homosexuelle<br />
und Bisexuelle. In Deutschland wird Homosexualität<br />
von Männern etwa doppelt so häufig angegeben<br />
(4 Prozent der über 15-jährigen) wie von Frauen<br />
(2 Prozent), während Bisexualität von ca. 3 Prozent<br />
der Männer und 4 Prozent der Frauen berichtet<br />
wird (vgl. Asendorpf, 2004).<br />
Zwillingsstudien sprechen für einen substantiellen<br />
genetischen Einfluss auf Homosexualität (zur Methodik<br />
vgl. Abschnitt 2.3). So waren bei 115 männlichen<br />
Homosexuellen 52 Prozent der eineiigen, aber<br />
nur 22 Prozent der zweieiigen Zwillingsbrüder ebenfalls<br />
schwul. In einer vergleichbaren Studie mit 115<br />
weiblichen Homosexuellen waren 48 Prozent der<br />
eineiigen, aber nur 16 Prozent der zweieiigen Zwillingsschwestern<br />
ebenfalls lesbisch (Bailey & Zucker,<br />
1995).<br />
Retrospektive Studien fanden große Unterschiede<br />
im geschlechtstypischen Verhalten Homo- und Heterosexueller<br />
als Kinder. Homosexuelle erinnerten<br />
sich häufiger an Spielpartner des anderen Geschlechts<br />
und Aktivitäten, die typisch für das andere<br />
Geschlecht sind. Für Männer konnte dies durch<br />
prospektive Längsschnittstudien bestätigt werden<br />
(Bailey & Zucker, 1995), so dass es sich nicht um<br />
eine verzerrte Erinnerung aufgrund der späteren<br />
Homosexualität handelt. Für Frauen fehlen bisher<br />
entsprechende Längsschnittstudien.<br />
Fazit<br />
Homosexualität ist bei Männern und Frauen<br />
genetisch mitbedingt, keineswegs aber rein<br />
genetisch erklärbar. Schwule Männer waren als<br />
<br />
Kinder stärker an weiblichen Aktivitäten und<br />
Spielpartnerinnen interessiert als heterosexuelle<br />
Männer; dass Entsprechendes auf lesbische<br />
Frauen zutrifft, ist bisher nur durch retrospektive<br />
Daten gesichert.<br />
Die Theorie der Homosexualität von Bem<br />
Bem (1996) schlug eine evolutionspsychologische<br />
Theorie der Entwicklung von Homosexualität vor.<br />
Hierfür nutzte er evolutionspsychologische Erklärungen<br />
der in allen Kulturen beobachtbaren starken<br />
Geschlechtertrennung vor der Pubertät: Wenn sie<br />
die Wahl haben, spielen ältere Kinder weitaus häufiger<br />
mit gleichgeschlechtlichen Altersgenossen als mit<br />
gegengeschlechtlichen (Maccoby & Jacklin, 1987).<br />
Bems Theorie beginnt mit der Feststellung, dass<br />
Inzest, also Geschlechtsverkehr mit nahen Verwandten,<br />
in den meisten Kulturen tabu ist. Das ist ultimat<br />
gut verständlich, weil Inzest selektive Nachteile hat:<br />
Inzest führt zu einer erhöhten genetischen Ähnlichkeit<br />
der Eltern und ihrer Kinder, schränkt dadurch<br />
ihre genetische Variabilität ein und macht sie deshalb<br />
anfälliger gegenüber denselben Krankheitserregern.<br />
Gleichzeitig erhöht sich das Risiko für die Kinder,<br />
an einer rezessiven Erbkrankheit zu erkranken<br />
(d. h. an einer genetisch bedingten Erkrankung, die<br />
nur dann ausbricht, wenn das Kind das kritische<br />
Allel von beiden Eltern bekommt).<br />
Was exotisch ist, wird erotisch. Nach Westermarck<br />
(1891) wird das Inzest-Tabu proximat durch einen<br />
EPM gesichert, der sexuelles Interesse an Unvertrautheit<br />
in der Kindheit bindet. Ab der Pubertät<br />
würden also Männer und Frauen ihr sexuelles Interesse<br />
vor allem auf unvertraute Personen richten:<br />
Was exotisch ist, wird erotisch. So werde das sexuelle<br />
Interesse an Geschwistern und anderen Verwandten<br />
schon im Keim erstickt. Als Beleg für diese<br />
Annahme wird u. a. angeführt, dass israelische<br />
Kibbutz-Kinder, die in ihrer Kindheit in einem<br />
Schlafraum zusammen mit den anderen Kindern<br />
des Kibbutz schlafen, fast nie untereinander heiraten<br />
(vgl. Durham, 1991).<br />
Diese Tendenz, nur Exotisches erotisch zu finden,<br />
habe allerdings in den kleinen sozialen Gruppen<br />
54 1 Evolutionspsychologie der Entwicklung
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unserer Vorfahren zu dem Problem geführt, dass sie<br />
auch das sexuelle Interesse an nicht verwandten<br />
Gleichaltrigen des anderen Geschlechts dämpfen<br />
und damit die Fortpflanzungsmöglichkeiten einschränken<br />
würde, wenn ein intensiver Kontakt mit<br />
diesen Gleichaltrigen bestanden hätte. Die Geschlechtertrennung<br />
bis zur Pubertät löse dieses Problem,<br />
denn sie mache ja die Gleichaltrigen des anderen<br />
Geschlechts unvertraut. Sie seien von daher exotisch<br />
genug, um das sexuelle Interesse mit Einsetzen<br />
der Pubertät zu reizen.<br />
Fazit<br />
Nach evolutionspsychologischer Auffassung ist<br />
die Geschlechtertrennung bis zur Pubertät notwendig,<br />
um das Inzest-Tabu in kleinen sozialen<br />
Gruppen sichern zu können. Die Tendenz zur<br />
Geschlechtertrennung ist deshalb genetisch<br />
prädisponiert.<br />
Auf der Grundlage dieser Theorie der Geschlechtertrennung<br />
schlug Bem (1996) folgende Erklärung für<br />
Homosexualität vor: Zu Homosexualität komme es<br />
dann, wenn Kinder aus genetischen oder anderen<br />
Gründen, z. B. umweltbedingten pränatalen hormonellen<br />
Wirkungen, Interessen entwickeln, die typisch<br />
für das andere Geschlecht sind (wenn z. B. Jungen<br />
feminine Interessen entwickeln). Dann nämlich würden<br />
sie bevorzugt mit dem anderen Geschlecht spielen,<br />
wodurch das eigene Geschlecht exotisch werde,<br />
und da Exotisches erotisch werde, würden ihre sexuellen<br />
Interessen auf das eigene Geschlecht gelenkt.<br />
Fazit<br />
Nach der Theorie von Bem (1996) beruht<br />
Homosexualität auf genetisch oder umweltbedingten<br />
geschlechtsuntypischen Interessen in<br />
der Kindheit, die das eigene Geschlecht zunächst<br />
exotisch und damit später erotisch machen.<br />
Bewertung der Theorie von Bem<br />
Bems Theorie basiert auf der empirisch gut gesicherten<br />
abweichenden Geschlechtsrollenentwicklung spä-<br />
terer Homosexueller in der Kindheit. Außerdem berücksichtigt<br />
sie genetische Einflüsse auf Homosexualität,<br />
ohne anzunehmen, dass homosexuelle Tendenzen<br />
direkt genetisch beeinflusst sind. Diese Annahme<br />
ist auch nicht plausibel, denn Gene, die Homosexualität<br />
fördern und sonst nichts, würden sehr schnell<br />
durch natürliche Selektion verschwinden, weil sie in<br />
der Regel nicht an Nachkommen weitergegeben werden.<br />
Nach Bems Theorie ist aber zu erwarten, dass die<br />
für Homosexualität verantwortlichen Gene bei Männern<br />
und Frauen unterschiedlich sind, denn sie betreffen<br />
ja unterschiedliches Verhalten. Deshalb können<br />
die selektiven Nachteile für die Gen-Träger durch<br />
Fortpflanzungsvorteile kompensiert werden, die die<br />
Gene dann entfalten, wenn sie beim anderen Geschlecht<br />
vorkommen.<br />
Verschiedene Entwicklungspfade der Homosexualität.<br />
Es wäre allerdings höchst erstaunlich, wenn<br />
der von Bem (1996) beschriebene Entwicklungspfad<br />
zu Homo- oder Bisexualität der einzig mögliche<br />
Entwicklungspfad wäre und wenn alle Mädchen mit<br />
ausgeprägt maskulinen Interessen oder alle Jungen<br />
mit ausgeprägt femininen Interessen später homooder<br />
bisexuell würden. Bailey schätzte auf der Basis<br />
einer Metaanalyse des Zusammenhangs zwischen<br />
kindlichen Interessen und sexueller Orientierung,<br />
dass nur 6 Prozent der typisch maskulinen Mädchen<br />
später homosexuell werden, während dies immerhin<br />
bei 51 Prozent der typisch femininen Jungen der Fall<br />
sei. Möglicherweise trifft Bems Theorie bei weiblicher<br />
Homosexualität eher auf den Typ der körperlich<br />
und hormonell männlicheren „Butch“ zu, während<br />
die weiblichere „Femme“ sich sowohl körperlich<br />
wie auch von ihrer Geschlechtsrolle in der<br />
Kindheit nicht von anderen Frauen unterscheidet<br />
(Singh et al., 1999).<br />
Fazit<br />
Bems Theorie ist mit den vorliegenden Ergebnissen<br />
zur Entwicklung männlicher Homosexualität<br />
gut verträglich, nicht jedoch mit<br />
manchen Ergebnissen zur Entwicklung<br />
weiblicher Homosexualität, z. B. der Existenz<br />
von lesbischen „Femmes“.<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
1.3 Entwicklung der sexuellen Orientierung 55
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
1.4 Bedingungen und Konsequenzen<br />
väterlicher Fürsorge<br />
Dass Väter sich intensiv um ihre Kinder kümmern,<br />
ist nur bei 3–5 Prozent der Säugetierarten der Fall;<br />
bei unseren genetisch nächsten Verwandten (Schimpansen<br />
und Bonobos) jedenfalls nicht (Geary,<br />
2000). Kulturvergleichende Studien zeigen, dass in<br />
allen Kulturen Mütter mehr Zeit und Energie in ihre<br />
Kinder investieren als Väter. Gleichzeitig findet sich<br />
aber auch eine hohe Variabilität der väterlichen Fürsorge<br />
von Kultur zu Kultur und von Familie zu<br />
Familie innerhalb einer Kultur (Parke & Buriel,<br />
1998). Sind diese starken Unterschiede in der väterlichen<br />
Fürsorge evolutionspsychologisch verständlich,<br />
und welche Konsequenzen haben sie auf die<br />
Entwicklung ihrer Kinder?<br />
Elterlicher und Paarungsaufwand. Aus evolutionspsychologischer<br />
Sicht ist der elterliche Aufwand<br />
(engl.: parenting effort) die Zeit und Energie, die in<br />
leibliche Kinder gesteckt wird, nur eine von mehreren<br />
Möglichkeiten, die Reproduktion der eigenen<br />
Gene zu fördern. Alternativ kann die Reproduktion<br />
vor allem durch Paarungsaufwand begünstigt werden<br />
(engl.: mating effort), d. h. durch die Zeit und<br />
Energie, die in die Zeugung von Kindern investiert<br />
wird, Partnersuche und Werbungsverhalten eingeschlossen.<br />
Da Frauen viel weniger Kinder haben<br />
können als Männer und da sie während Schwangerschaft<br />
und Stillzeit viel mehr in ihr Kind investieren<br />
als der Vater, ist ihr elterlicher Aufwand im Vergleich<br />
zu Männern höher und weniger variabel. Diese einfache<br />
Überlegung alleine erklärt also bereits die<br />
geringere väterliche Fürsorge und deren größere<br />
Variabilität je nach Umweltbedingungen.<br />
Wie viel Väter in ihre Kinder investieren, hängt<br />
aus evolutionspsychologischer Sicht vor allem von<br />
zwei Faktoren ab:<br />
(1) der Reproduktionsfähigkeit der Kinder ohne<br />
väterliche Fürsorge und<br />
(2) der Erreichbarkeit potentieller Geschlechtspartnerinnen.<br />
Je stärker die Gesundheit oder gar das Überleben<br />
ihrer Kinder bedroht ist, desto mehr sollten sich<br />
Väter um sie kümmern. In reichen Umwelten, in<br />
denen ihre Fürsorge keinen Effekt auf die Reproduktionsfähigkeit<br />
der Kinder hat, sollten Väter eher<br />
darauf bedacht sein, viele Kinder mit vielen Partnerinnen<br />
zu zeugen, ohne sich um diese Kinder zu<br />
kümmern.<br />
Unabhängig davon sollten sie sich desto weniger<br />
um ihre Kinder kümmern, je leichter potentielle<br />
Geschlechtspartnerinnen für sie erreichbar sind. Die<br />
Erreichbarkeit hängt dabei von unterschiedlichen<br />
Faktoren ab, die sich u. a. auf die inter- und die<br />
intrasexuelle Selektion beziehen. Intersexuell betrachtet<br />
sollten z. B. physische Attraktivität als Indikator<br />
„guter Gene“ und sozialer Status und Ambitioniertheit<br />
als Indikatoren „guter Ressourcen für<br />
die Kinder“ die Erreichbarkeit fördern, da diese<br />
Merkmale vom weiblichen Geschlecht bei der Partnersuche<br />
hoch gewichtet werden (vgl. Buss, 2004).<br />
Intrasexuell betrachtet sollten z. B. hoher Status in<br />
männlichen Dominanzhierarchien, Kraft oder soziales<br />
Geschick im Ausstechen von Rivalen die Erreichbarkeit<br />
fördern. Zudem wird die Erreichbarkeit<br />
auch durch kulturelle Faktoren wie die Besiedlungsdichte<br />
oder einen durch Krieg reduzierten männlichen<br />
Anteil in der Population gefördert.<br />
Fazit<br />
Die beobachtbare hohe Variabilität der väterlichen<br />
Fürsorge zwischen und innerhalb von<br />
Populationen beruht aus evolutionspsychologischer<br />
Sicht darauf, dass eine väterliche Investition<br />
in die Kinder nicht immer deren Reproduktion<br />
fördert. Ob und wie stark sich Väter<br />
um ihre Kinder kümmern, hängt danach von<br />
zahlreichen Faktoren ab, die vor allem die Reproduktionsfähigkeit<br />
der Kinder und die Erreichbarkeit<br />
potentieller Geschlechtspartnerinnen<br />
betreffen.<br />
Affektive Steuerung des Fürsorgeverhaltens.<br />
Nach evolutionspsychologischer Vorstellung erfolgt<br />
die Verrechnung der einzelnen Faktoren beim einzelnen<br />
Vater natürlich nicht im Sinne einer rationalen<br />
Kosten-Nutzen-Kalkulation. Vielmehr werden<br />
die einzelnen Bedingungsfaktoren durch genetisch<br />
56 1 Evolutionspsychologie der Entwicklung
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fixierte proximate Mechanismen (EPMs) vermittelt,<br />
die das Fürsorgeverhalten affektiv steuern. So wird<br />
das Fürsorgeverhalten der jeweils aktuellen Situation<br />
so angepasst, dass es unter den Umweltbedingungen<br />
unserer evolutionären Vorfahren reproduktiv<br />
optimal gewesen wäre. Das heißt natürlich nicht,<br />
dass es deshalb auch unter den heutigen Umweltbedingungen<br />
optimal ist. Zum Beispiel können Männer<br />
heutzutage als Spender für Samenbanken sowohl<br />
ihren elterlichen als auch ihren Paarungsaufwand<br />
extrem minimieren und trotzdem viele Nachkommen<br />
haben. Hierfür kann sich aber kein begünstigender<br />
EPM entwickelt haben, so dass dieser Weg der<br />
Verbreitung der eigenen Gene affektiv nicht begünstigt<br />
wird.<br />
Väterliche Fürsorge. Welche Konsequenzen hat väterliche<br />
Fürsorge auf die Entwicklung ihrer Kinder?<br />
Draper und Harpending (1982) formulierten auf der<br />
Grundlage kulturvergleichender Studien die Hypothese,<br />
dass im Verlauf der jüngeren Evolution väterliche<br />
Fürsorge ein relativ verlässlicher Indikator für die<br />
künftige reproduktionsrelevante Umwelt der Kinder<br />
sei, da sie von Generation zu Generation relativ stabil<br />
gewesen sei. Evolutionspsychologisch würde dies<br />
heute so formuliert, dass väterliche Fürsorge eine<br />
proximate Bedingung der Entwicklung des Reproduktionsverhaltens<br />
ihrer Kinder ist. Ein EPM sorgt<br />
dafür, dass sich Kinder bei starker väterlicher Fürsorge<br />
in Richtung starker elterlicher Investition, bei<br />
Vaterabwesenheit oder geringer väterlicher Fürsorge<br />
in Richtung starken Paarungsaufwandes hin entwickeln<br />
würden. Die Individualentwicklung wird hier<br />
also als genetisch prädisponierte bedingte Entwicklungsstrategie<br />
verstanden, die durch frühe Umweltbedingungen<br />
festgelegt wird.<br />
Fazit<br />
Nach der Hypothese von Draper und Harpending<br />
entwickelt sich das Reproduktionsverhalten<br />
individuell in Form einer bedingten Entwicklungsstrategie;<br />
eine proximate Bedingung ist die<br />
väterliche Fürsorge.<br />
Folgen der frühen Vater-Tochter-Beziehung<br />
Unter anderem sagt diese Hypothese vorher, dass<br />
Töchter von Vätern, die sich in der Kindheit gar<br />
nicht oder wenig um sie kümmern, früher in die<br />
Pubertät kommen, eher den ersten Geschlechtsverkehr<br />
haben, weniger stabile Partnerschaften eingehen<br />
und selber weniger in ihre Kinder investieren als<br />
Töchter fürsorglicher Väter. Diese Vorhersagen lassen<br />
sich empirisch weitgehend bestätigen (Geary,<br />
2000), insbesondere die Vorhersage für das Einsetzen<br />
der Regelblutung.<br />
Männliche Geruchsstoffe und weibliche Reifung.<br />
Ellis et al. (1999) diskutierten verschiedene proximate<br />
Mechanismen, die der vermuteten bedingten<br />
Entwicklungsstrategie zugrunde liegen könnten. Ein<br />
möglicher, bei verschiedenen Säugetierarten nachgewiesener<br />
Mechanismus ist die Beschleunigung der<br />
weiblichen biologischen Reifung durch Geruchsstoffe<br />
nichtverwandter männlicher Artgenossen. In<br />
Übereinstimmung damit fanden Ellis und Garber<br />
(2000), dass die Regelblutung besser durch die<br />
Dauer des Zusammenlebens mit nichtverwandten<br />
Partnern der Mutter (Stiefvätern und Freunden)<br />
vorhergesagt wurde als durch die Dauer der Abwesenheit<br />
des leiblichen Vaters.<br />
Fazit<br />
Der Pubertätszeitpunkt bei Mädchen wird möglicherweise<br />
proximat durch Geruchsstoffe nichtverwandter<br />
Männer in der Familie mitbestimmt.<br />
Neben dieser Erklärung des Pubertätszeitpunkts<br />
durch eine bedingte Entwicklungsstrategie gibt es<br />
aber noch eine zweite, ganz andere biologische Erklärung,<br />
nämlich dass die beobachteten Unterschiede<br />
sowohl bei Vätern als auch bei ihren Töchtern<br />
durch dieselben Gene bedingt sind.<br />
Denkanstöße<br />
Würden Menschen weiterhin evolvieren,<br />
wenn niemand mehr vor Erreichen des<br />
50. Lebensjahres sterben würde?<br />
<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
1.4 Bedingungen und Konsequenzen väterlicher Fürsorge 57
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
Wiederholen Menschen während ihrer Entwicklung<br />
die Evolution der Arten?<br />
Sind evolvierte Entwicklungsmechanismen<br />
umweltunabhängig?<br />
Warum ist es kein Widerspruch, dass Mensch<br />
und Schimpanse über 98% der Gene teilen,<br />
menschliche zweieiige Zwillinge jedoch nur<br />
zu 50% genetisch identisch sind?<br />
Warum gibt es einen genetischen Einfluss auf<br />
Homosexualität, obwohl Homosexuelle nur<br />
selten Kinder haben?<br />
Ist es evolutionspsychologisch erklärbar, dass<br />
Mütter auch dann fremdgehen, wenn der<br />
Vater treu ist und sich intensiv um die Kinder<br />
kümmert?<br />
2 Entwicklungsgenetik<br />
Zunächst werden einige allgemeine Prinzipien der<br />
Entwicklungsgenetik skizziert. Dann wird geschildert,<br />
wie sich der genetische Einfluss auf die Entstehung<br />
von Persönlichkeitsunterschieden abschätzen<br />
lässt. Anhand von Kovariationen und Interaktionen<br />
zwischen genetischen und Umweltunterschieden<br />
wird deutlich gemacht, dass diese Unterschiede<br />
nicht unabhängig voneinander sind.<br />
2.1 Allgemeine Prinzipien<br />
der Entwicklungsgenetik<br />
Gene wirken nicht direkt auf die Entwicklung. Gene<br />
sind Moleküle, deren Aktivität direkt auf die Proteinsynthese<br />
der Zellen wirkt. Diese Proteine sind<br />
z. B. für den Aufbau des Nervensystems erforderlich.<br />
Durch Einfluss auf diese Proteine können Gene auf<br />
die neuronale Entwicklung wirken. Dabei entfaltet<br />
sich die Wirkung eines einzelnen Gens immer nur<br />
im Konzert der anderen Gene. Nicht nur Gene stehen<br />
in Wechselwirkung miteinander, sondern auch<br />
Gene und ihre Produkte, z. B. Enzyme. Daher können<br />
umweltbedingte Wirkungen auf den Stoffwechsel<br />
genetische Wirkungen auf die Entwicklung verändern.<br />
Phenylketonurie. Das klassische Beispiel hierfür ist<br />
die Stoffwechselstörung Phenylketonurie. Eine Variante<br />
davon beruht auf einem Allel des ersten Chromosoms.<br />
Wird dieses Allel sowohl vom Vater als<br />
auch von der Mutter vererbt, führt diese homozygote<br />
Form zu einem Phenylalanin-Überschuss, der die<br />
Entwicklung des Zentralnervensystems beeinträchtigt<br />
und eine massive Intelligenzminderung verursacht.<br />
Wird jedoch im Kindesalter eine Phenylalanin-arme<br />
Diät eingehalten (einschließlich Einnahme<br />
von Medikamenten, die den Phenylalanin-Haushalt<br />
regeln sollen), wird dieser intelligenzmindernde genetische<br />
Effekt fast vollständig beseitigt.<br />
Es gibt also keine Einbahnstraße vom Genom zur<br />
Person, sondern ein viele Aktivitätsebenen umspannendes<br />
Wirkungsnetz (Gottlieb, 1991; vgl. Abb. 2.1).<br />
Die genetische Aktivität beeinflusst die neuronale<br />
Aktivität, die Grundlage des Erlebens und Verhaltens<br />
ist; durch Verhalten kann die Umwelt verändert werden.<br />
Aber auch umgekehrt können Umweltbedingungen<br />
das Verhalten beeinflussen, dadurch die neuronale<br />
Aktivität und genetische Wirkungen, vermutlich<br />
auch die genetische Aktivität selbst verändern.<br />
Von daher ist die Vorstellung falsch, Gene „bewirkten“<br />
Entwicklung oder das Genom „sei“ oder<br />
„enthalte“ ein Programm, das die Entwicklung eines<br />
Organismus steuere (vgl. Oyama, 1989). Adäquater<br />
ist der Vergleich des Genoms mit einem Text. Der<br />
Text begrenzt das, was gelesen werden kann, legt<br />
aber keineswegs von vornherein fest, was überhaupt<br />
oder gar zu einem bestimmten Zeitpunkt gelesen<br />
wird. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt gelesen<br />
wird, hängt davon ab, was vorher gelesen wurde und<br />
welche Wirkungen dies hatte, einschließlich Rückkopplungseffekten<br />
auf das Leseverhalten.<br />
Entwicklung beruht nicht auf einem genetischen<br />
Programm, sondern auf der ständigen<br />
!<br />
Wechselwirkung zwischen Genaktivität, neuronaler<br />
Aktivität, Verhalten und Umwelt.<br />
58 2 Entwicklungsgenetik
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kumulativ-stabilisierende Genwirkung. Genetische<br />
Einflüsse aus früheren Entwicklungsphasen<br />
können sich physiologisch oder auch anatomisch<br />
auf neuronaler Ebene verfestigen und dadurch weiter<br />
wirken, auch wenn die betreffenden Gene inzwischen<br />
nicht mehr aktiv sind. Gene können damit in<br />
einer bestimmten kritischen Phase der Entwicklung<br />
einen Prozess in Gang setzen, der zum „Selbstläufer“<br />
wird. Bei Phenylketonurie beispielsweise muss die<br />
Phenylalanin-arme Diät von Anfang an erfolgen; ist<br />
die genetisch bedingte Hirnschädigung eingetreten,<br />
nützt die Diät nichts mehr. Umgekehrt ist diese Diät<br />
nicht das ganze Leben lang erforderlich, sondern<br />
nur während der Gehirnentwicklung im Verlauf der<br />
Kindheit. Danach spielt das kritische Gen keine<br />
Rolle mehr. Durch dieses kumulative Prinzip wirken<br />
Gene stabilisierend auf die Entwicklung.<br />
Destabilisierende Genwirkung. Genetische Wirkungen<br />
können aber auch destabilisierend sein.<br />
Denn Gene können zu bestimmten Zeitpunkten<br />
„angeschaltet“ oder „abgeschaltet“ werden (vgl. genauer<br />
Plomin et al., 1999). Durch diese Änderungen<br />
in der Gen-Aktivität kann es jederzeit zu genetisch<br />
bedingten Entwicklungsveränderungen kommen.<br />
Das ist in der Pubertät offensichtlich, aber auch im<br />
Verlauf des Erwachsenenalters können Gene, die bis<br />
dahin vor sich hin geschlummert haben, plötzlich<br />
ihre Wirkung entfalten. Zum Beispiel beginnt die<br />
Chorea Huntington (Veitstanz), eine degenerative<br />
Hirnerkrankung, die auf einem Allel auf dem vierten<br />
Chromosom beruht, im Durchschnitt erst mit Mitte<br />
vierzig; vorher führen die Allel-Träger ein völlig normales<br />
Leben.<br />
Die Genaktivität variiert im Verlauf der Entwicklung;<br />
sie kann sich kumulativ-stabilisie-<br />
!<br />
rend, aber auch destabilisierend auswirken.<br />
2.2 Genetischer Einfluss<br />
auf Persönlichkeitsunterschiede<br />
Aus der Unmöglichkeit, den Beitrag von Genom und<br />
Umwelt im Einzelfall zu bestimmen, wird manchmal<br />
geschlossen, die Anlage-Umwelt-Diskussion sei<br />
überhaupt überflüssig. Weil Genom und Umwelt in<br />
vollständiger Wechselwirkung stehen, ließen sich ihre<br />
anteiligen Wirkungen auch auf die Entwicklung individueller<br />
Besonderheiten, also auf die Persönlichkeitsentwicklung,<br />
nicht bestimmen.<br />
Das ist ein Fehlschluss. Es ist zwar richtig, dass die<br />
Fähigkeit zu sprechen oder die Eigenschaft, überhaupt<br />
eine Blutgruppe zu haben, immer eine Funktion<br />
von Genom und Umwelt ist. Welchen Dialekt<br />
aber jemand spricht, ist rein umweltbedingt, und<br />
welche Blutgruppe er hat, ist rein genetisch bedingt.<br />
Betrachten wir Persönlichkeitsmerkmale, in denen<br />
sich Mitglieder einer bestimmten Population (z. B.<br />
„alle deutschen Erwachsenen“) in stabiler Weise<br />
unterscheiden, ist die Frage nach dem relativen Einfluss<br />
der genetischen Unterschiede in der Population<br />
und der Umweltunterschiede der Populationsmitglieder<br />
auf die Merkmalsunterschiede in der Population<br />
nicht trivial. Der relative genetische Einfluss<br />
kann zwischen 0 und 100 Prozent variieren. Wie<br />
stark er ist, ist ausschließlich eine empirische Frage.<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
Umwelt<br />
Verhalten<br />
Neuronale<br />
Aktivität<br />
Genetische<br />
Aktivität<br />
Individuelle Entwicklung<br />
Abbildung 2.1.<br />
Ein Modell der Genom-<br />
Umwelt-Wechselwirkung<br />
(© nach Asendorpf, 1993)<br />
2.2 Genetischer Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede 59
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach zu<br />
geben, denn sie hängt von zahlreichen Faktoren ab<br />
(vgl. „Unter der Lupe“).<br />
Relativität des genetischen Einflusses<br />
auf Persönlichkeitsunterschiede<br />
Der genetische Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede<br />
in einer bestimmten Population variiert<br />
natürlich mit dem betrachteten Persönlichkeitsmerkmal.<br />
Er hängt aber auch von Merkmalen der<br />
Population ab:<br />
Genetische Variabilität. Je homogener die Gene<br />
einer Population sind, umso weniger tragen sie zu<br />
den Merkmalsunterschieden bei. In einer Population<br />
aus genetisch identischen Klonen sind alle Persönlichkeitsunterschiede<br />
ausschließlich umweltbedingt.<br />
Umweltvariabilität. Je homogener die Umwelten<br />
der Populationsmitglieder sind, umso stärker ist der<br />
genetische Einfluss auf die Persönlichkeitsunterschiede<br />
zwischen ihnen. Erhalten z. B. alle Kinder<br />
den exakt gleichen Unterricht, wären Leistungsunterschiede<br />
zwischen ihnen vor allem genetisch<br />
bedingt. Haben die einen gute und die anderen<br />
schlechte Lehrer, sinkt der genetische Einfluss. Jede<br />
kulturelle Änderung, z. B. im Bildungssystem, die<br />
die Variabilität der merkmalsrelevanten Umwelt verändert,<br />
ändert die Stärke des genetischen Einflusses.<br />
Daher kann der genetische Einfluss von Kultur zu<br />
Kultur oder innerhalb derselben Kultur von einer<br />
historischen Epoche zur nächsten variieren, selbst<br />
wenn es keine genetischen Unterschiede zwischen<br />
den Kulturen gibt.<br />
Altersabhängigkeit. Der genetische Einfluss auf<br />
dasselbe Merkmal in derselben Population kann mit<br />
dem Alter variieren, u. a. weil merkmalsrelevante<br />
Gene an- oder abgeschaltet werden können (vgl.<br />
Abschnitt 2.4 für weitere Ursachen).<br />
Unter der Lupe<br />
Indirekte genetische Einflüsse. Wichtig ist<br />
auch sich klarzumachen, dass genetische Einflüsse<br />
höchst indirekt vermittelt sein können.<br />
Angenommen, der genetische Einfluss auf Intel-<br />
<br />
ligenz beruhe darauf, dass bestimmte Allele<br />
dafür sorgen, dass die Informationsverarbeitung<br />
im Zentralnervensystem schneller verläuft. Das<br />
wäre ein vergleichsweise direkter genetischer<br />
Effekt auf Persönlichkeitsunterschiede. Weiter<br />
angenommen, intelligente Menschen würden<br />
eher die Todesstrafe ablehnen als weniger intelligente.<br />
Dann wäre auch die Einstellung zur<br />
Todesstrafe genetisch beeinflusst. Das bedeutet<br />
aber nicht, dass es irgendein Gen gibt, das die<br />
Einstellung zur Todesstrafe (neuronal vermittelt)<br />
direkt beeinflusst.<br />
Fazit<br />
Viele genetische Einflüsse auf Persönlichkeitsunterschiede<br />
sind höchst indirekt vermittelt,<br />
d. h., sie beruhen auf genetischen Einflüssen auf<br />
andere Persönlichkeitseigenschaften, die mit<br />
diesen Merkmalen korrelieren.<br />
2.3 Schätzungen des genetischen<br />
Einflusses<br />
Theoretisch könnte der genetische Einfluss einfach<br />
dadurch bestimmt werden, dass Persönlichkeitsunterschiede<br />
mit genetischen Unterschieden korreliert<br />
werden, die durch Genomanalyse bestimmt<br />
sind. Das ist derzeit aber mangels Kenntnissen relevanter<br />
Gene und Allele erst ansatzweise möglich.<br />
Deshalb muss der genetische Einfluss indirekt durch<br />
Kontrastierung der Persönlichkeitsähnlichkeit von<br />
Verwandten unterschiedlichen Verwandtschaftsgrades<br />
geschätzt werden. Drei Methoden sind heutzutage<br />
weit verbreitet: die Zwillingsmethode, die Adoptionsmethode<br />
und die Kombinationsmethode (vgl.<br />
hierzu genauer Asendorpf, 2004).<br />
Die Zwillingsmethode. Bei der Zwillingsmethode<br />
wird die Ähnlichkeit von eineiigen Zwillingen, die<br />
genetisch identisch sind, mit der Ähnlichkeit von<br />
zweieiigen Zwillingen verglichen, die wie andere<br />
leibliche Geschwister 50 Prozent ihrer Gene teilen.<br />
Dies sei hier am Beispiel der Ähnlichkeit des Intelli-<br />
60 2 Entwicklungsgenetik
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genzquotienten (IQ) illustriert. Testet man den IQ<br />
bei vielen ein- und zweieiigen Zwillingspaaren, so<br />
korrelieren die IQ-Werte zwischen eineiigen Zwillingen<br />
um .80 (sie sind sich also sehr ähnlich) und zwischen<br />
zweieiigen Zwillingen um .60 (sie sind sich<br />
weniger ähnlich, keineswegs aber unähnlich). Die<br />
Ähnlichkeit des IQ bei zweieiigen Zwillingen geht<br />
auf die gemeinsamen Umwelteinflüsse (Schwangerschaft,<br />
Geburt, Elternhaus) zurück und auf die Tatsache,<br />
dass sie 50 Prozent der genetischen Einflüsse<br />
auf den IQ teilen (weil sie sich zu 50 Prozent genetisch<br />
ähneln). Die Ähnlichkeit des IQ bei eineiigen<br />
Zwillingen ist höher, weil sie nicht nur 50, sondern<br />
100 Prozent der genetischen Einflüsse auf den IQ<br />
teilen. Also schätzt die Differenz .80 minus .60 den<br />
halben genetischen Einfluss auf den IQ und damit<br />
die doppelte Differenz .40 den ganzen genetischen<br />
Einfluss. Würden alle Einflüsse der einzelnen IQrelevanten<br />
Gene messfehlerfrei zu einem genetischen<br />
Index kombiniert, so würde die Korrelation<br />
zwischen diesem rein genetischen Maß der Intelligenz<br />
und dem beobachteten IQ .40 betragen. Dies<br />
wird auch so ausgedrückt, dass 40 Prozent der IQ-<br />
Unterschiede auf genetischen Unterschieden beruhen.<br />
Die restlichen IQ-Unterschiede beruhen auf<br />
dem Messfehler, der im Falle des IQ etwa 10 Prozent<br />
ausmacht, und den Umweltunterschieden, die also<br />
etwa 50 Prozent der IQ-Unterschiede ausmachen.<br />
Fazit<br />
Bei der Zwillingsmethode schätzt die doppelte<br />
Differenz der Korrelationen eines Persönlichkeitsmerkmals<br />
zwischen ein- bzw. zweieiigen<br />
Zwillingen den genetischen Einfluss auf dieses<br />
Merkmal.<br />
Die Adoptionsmethode. Bei der Adoptionsmethode<br />
wird die Ähnlichkeit von leiblichen Geschwistern<br />
(die 50 Prozent ihrer Gene teilen) mit der Ähnlichkeit<br />
von Adoptivgeschwistern verglichen, die in derselben<br />
Familie aufwachsen, aber nicht genetisch verwandt<br />
sind (also 0 Prozent ihrer Gene teilen). Der<br />
IQ zwischen leiblichen Geschwistern unterschiedlichen<br />
Alters korreliert um .50 (etwas geringer als bei<br />
zweieiigen Zwillingen, weil sie u. a. die Schwangerschaftsumwelt<br />
nicht teilen), der IQ bei Adoptivgeschwistern<br />
um .25. Die Differenz .50 minus .25 muss<br />
wieder verdoppelt werden, was zu einer Schätzung<br />
von 50 Prozent für den genetischen Einfluss führt.<br />
Die Adoptionsmethode kommt im Falle des IQ also<br />
zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Zwillingsmethode.<br />
Fazit<br />
Bei der Adoptionsmethode schätzt die doppelte<br />
Differenz der Korrelationen eines Persönlichkeitsmerkmals<br />
zwischen leiblichen und Adoptivgeschwistern<br />
den genetischen Einfluss auf dieses<br />
Merkmal.<br />
Die Kombinationsmethode. Bei der Kombinationsmethode<br />
werden Zwillings- und Adoptionsdaten,<br />
teilweise auch Daten über Eltern-Kind- oder Stiefeltern-Kind-Ähnlichkeiten<br />
in einer einzigen komplexen<br />
statistischen Analyse ausgewertet (vgl. Loehlin,<br />
1992). Dies hat den Vorteil, dass spezielle Probleme<br />
der einzelnen Methoden vermieden werden. Die<br />
Umweltvariation ist z.B in Adoptivfamilien deutlich<br />
eingeschränkt, weil Adoptionsagenturen darauf achten,<br />
Kinder nicht in Problemfamilien zu vermitteln.<br />
Dies führt zu einer Überschätzung des genetischen<br />
Einflusses. Umgekehrt führt die Ähnlichkeit der<br />
Eltern im IQ (die Korrelation zwischen Vätern und<br />
Müttern beträgt etwa .40) dazu, dass Vater und Mutter<br />
etwa 15 Prozent der IQ-relevanten Gene teilen.<br />
Deshalb teilen zweieiige Zwillinge in Wirklichkeit<br />
nicht 50 Prozent, sondern mehr IQ-relevante Gene,<br />
so dass die Zwillingsmethode den genetischen Einfluss<br />
unterschätzt. Die Kombinationsmethode verrechnet<br />
diese und andere methodische Probleme<br />
miteinander und kommt deshalb zu solideren Schätzungen.<br />
Tabelle 2.1 zeigt die besten derzeit möglichen<br />
Schätzungen mittels Kombinationsmethode für<br />
den genetischen Einfluss auf Unterschiede im IQ und<br />
in typischen Persönlichkeitsmerkmalen, wie sie in<br />
Persönlichkeitsfragebögen selbstbeurteilt werden.<br />
Reaktionsnorm. Was diese Prozentangaben für den<br />
Einzelfall bedeuten, macht folgende Überlegung zur<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
2.3 Schätzungen des genetischen Einflusses 61
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
Reaktionsnorm der IQ-Werte klar. Unter der Reaktionsnorm<br />
versteht man in der Genetik die Schwankung<br />
der tatsächlich beobachteten individuellen<br />
Merkmale um den rein genetisch geschätzten Wert<br />
herum: Wie stark weichen sie mit einer vorgegebenen<br />
Irrtumswahrscheinlichkeit vom geschätzten Wert ab?<br />
Die Stärke der Abweichung lässt sich direkt aus dem<br />
genetischen Anteil ableiten (vgl. Asendorpf, 2004).<br />
Im Falle des IQ schwanken die tatsächlichen Werte<br />
mit einer Sicherheit von 95 Prozent plus/minus<br />
21 IQ-Punkte um den rein genetisch geschätzten<br />
Wert herum. Dagegen schwanken sie aufgrund des<br />
Messfehlers der IQ-Tests mit 95-prozentiger Sicherheit<br />
nur um plus/minus 9 IQ-Punkte um den geschätzten<br />
wahren IQ-Wert der Person.<br />
Dies bedeutet, dass selbst bei perfekter Genomanalyse,<br />
die den genetischen Einfluss auf den IQ<br />
vollständig und fehlerfrei erfasst, die „genetische<br />
Diagnose“ für den Einzelfall wertlos ist. Was nützt<br />
Eltern die Aussage, dass ihr Kind mit 95-prozentiger<br />
Sicherheit einen IQ von 80 bis 120 haben wird, also<br />
schlimmstenfalls sonderschulbedürftig und bestenfalls<br />
hochschulreif sein wird? Von daher werden<br />
heutzutage Nutzen und Gefahren der Genomanalyse<br />
in Bezug auf die Vorhersage von Persönlichkeitsmerkmalen<br />
stark übertrieben. Allerdings gelten die<br />
obigen Schätzungen nur für die durchschnittliche<br />
Reaktionsnorm eines Genoms. In einzelnen Fällen<br />
wird sie sehr viel kleiner oder noch größer sein.<br />
Die Genomanalyse ist schlecht geeignet zur<br />
IQ-Diagnose, weil sie die Umwelteinflüsse auf den IQ<br />
Tabelle 2.1 Die genetischen Varianzschätzungen stammen<br />
aus Chipuer et al. (1990) und Loehlin (1992); die<br />
Fehleranteile sind geschätzt; die Umweltanteile ergeben<br />
sich als Differenz 100 % – genetische Varianz – Fehlervarianz<br />
Merkmal Genetischer Umwelt- Fehler-<br />
Anteil anteil anteil<br />
IQ 51 % 39 % 10 %<br />
Extraversion 49% 31% 20%<br />
Neurotizismus 35 % 45 % 20 %<br />
Verträglichkeit 38 % 42 % 20 %<br />
Gewissenhaftigkeit 41 % 39 % 20 %<br />
Offenheit 45 % 35 % 20 %<br />
völlig ignoriert, die ja fast so groß sind wie die genetischen<br />
Einflüsse (vgl. Tab. 2.1). Die Genomanalyse<br />
erfasst nur das Intelligenzpotential, der IQ-Test aber<br />
die tatsächliche Intelligenz. Deshalb ist er der Genomanalyse<br />
weit überlegen.<br />
Fazit<br />
Genomanalysen sind zur Vorhersage von Persönlichkeitsunterschieden<br />
nur schlecht geeignet,<br />
weil sie Umwelteinflüsse nicht berücksichtigen.<br />
2.4 Kovariation und Interaktion<br />
von genetischen und Umweltunterschieden<br />
Bisher wurde so getan, als seien genetische Einflüsse<br />
und Umwelteinflüsse auf Persönlichkeitsunterschiede<br />
unabhängig voneinander. In Wirklichkeit können<br />
aber Abhängigkeiten zwischen ihnen bestehen.<br />
Genom-Umwelt-Interaktion. Zum einen kann<br />
es Genom-Umwelt-Interaktionen geben derart, dass<br />
die genetischen Wirkungen von Umweltwirkungen<br />
abhängen und umgekehrt. Ein Beispiel hierfür<br />
ist die Entwicklung antisozialen Verhaltens bis zum<br />
Jugendalter (normverletzendes bis hin zu kriminellem<br />
Verhalten). Adoptionsstudien fanden, dass<br />
Adoptivkinder, deren biologischen Eltern selbst<br />
antisozial auffällig waren, oder Adoptivkinder, die in<br />
Problemfamilien aufwuchsen, nur ein geringfügig<br />
erhöhtes Risiko für antisoziales Verhalten aufwiesen.<br />
Kamen biologische und soziale Risiken<br />
jedoch zusammen, war ihr Risiko viermal höher, als<br />
wenn sie keinen der beiden Risikofaktoren aufwiesen<br />
(Cadoret et al., 1983). Sie erbten anscheinend<br />
von ihren leiblichen Eltern nur eine erhöhte<br />
Verletzbarkeit durch belastende Umweltbedingungen.<br />
Allerdings könnte diese Verletzbarkeit aber<br />
auch durch Umweltbedingungen vor der Adoption,<br />
z. B. Drogenkonsum der biologischen Mutter während<br />
der Schwangerschaft, verursacht worden sein.<br />
62 2 Entwicklungsgenetik
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Fazit<br />
Adoptionsstudien legen nahe, dass sich genetische<br />
und Umweltrisiken wechselseitig verstärken<br />
können (Genom-Umwelt-Interaktion).<br />
Gen-Umwelt-Interaktion. Während in Adoptionsstudien<br />
genetische Risiken nur global und indirekt<br />
geschätzt werden, gibt es in letzter Zeit erste Ergebnisse<br />
zur statistischen Gen-Umwelt-Interaktion, bei<br />
der spezifische Allele mit spezifischen Umweltbedingungen<br />
in Wechselwirkung stehen.<br />
Caspi et al. (2002) untersuchten in einer neuseeländischen<br />
Längsschnittstudie bei knapp 500 Männern<br />
den Zusammenhang zwischen erfahrener Kindesmisshandlung,<br />
zwei häufigen Allelen des MAOA-<br />
Gens auf dem X-Chromosom (resultierend in<br />
starker bzw. schwacher MAOA-Aktivität) und vier<br />
verschiedenen Indikatoren für antisoziales Verhalten<br />
im Alter von 26 Jahren. Für alle vier Indikatoren<br />
ergab sich dieselbe statistische Gen-Umwelt-Interaktion,<br />
die in Abbildung 2.2 für den Mittelwert der<br />
vier Indikatoren illustriert ist.<br />
Erfahrene Kindesmisshandlung erhöhte das Risiko<br />
für antisoziales Verhalten im Erwachsenenalter, wobei<br />
jedoch die Erhöhung deutlich stärker bei denjenigen<br />
163 männlichen Teilnehmern der Längsschnittstudie<br />
Antisoziales Verhalten<br />
26 Jahre (z-Wert)<br />
1,2<br />
1<br />
0,8<br />
0,6<br />
0,4<br />
0,2<br />
0<br />
–0,2<br />
–0,4<br />
keine wahrscheinlich schwere<br />
Kindesmisshandlung 3–11 Jahre<br />
MAOA<br />
niedrig<br />
(n = 163)<br />
MAOA<br />
hoch<br />
(n = 279)<br />
Abbildung 2.2. Statistische Interaktion zwischen der<br />
Aktivität des MAOA-Gens und erfahrener Kindesmisshandlung<br />
im Alter von 3-11 Jahren in Bezug auf antisoziales<br />
Verhalten im Alter von 26 Jahren bei Männern<br />
(Caspi et al., 2002)<br />
ausfiel, die das Allel für niedrige MAOA-Aktivität hatten.<br />
So wurden z. B. die 55 Männer, die beide Risikofaktoren<br />
aufwiesen (schwere Misshandlung und Allel<br />
für niedrige MAOA-Aktivität), bis zum Alter von 26<br />
Jahren dreimal so häufig verurteilt wie die 99 Männer,<br />
die auch schwer misshandelt worden waren, aber das<br />
Allel für hohe MAOA-Aktivität aufwiesen; für Vergewaltigung,<br />
Raub und Überfälle war die Rate sogar<br />
viermal so hoch. Genetisch bedingte, unzureichende<br />
MAOA-Aktivität scheint demnach die Entwicklung<br />
antisozialer Tendenzen zwar nicht allgemein, wohl<br />
aber nach erfahrener Kindesmisshandlung zu fördern.<br />
Dieses Ergebnis ist biochemisch plausibel. Das<br />
MAOA-Gen produziert das Enzym Monoaminoxidase<br />
A, das eine exzessive Produktion von Neurotransmittern<br />
wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin<br />
reduziert, zu der es bei starken Belastungen<br />
kommen kann. Tierexperimentelle Studien an Mäusen,<br />
deren MAOA-Gen stillgelegt wurde, haben gezeigt,<br />
dass fehlende MAOA-Aktivität zu erhöhter<br />
Aggressivität führt. Im Gegensatz zur globalen, indirekt<br />
geschätzten Genom-Umwelt-Interaktion in<br />
Adoptionsstudien ist die von Caspi et al. (2002)<br />
gefundene Interaktion viel spezifischer, weil das verantwortliche<br />
Gen und die verantwortliche Umweltbedingung<br />
konkret bestimmt sind. Vergleichbare<br />
Interaktionen wurde in derselben Längsschnittstichprobe<br />
auch für depressive Tendenzen in Reaktion<br />
auf kritische Lebensereignisse gefunden, die eine<br />
Abhängigkeit von Allelen des 5-HTT-Gens zeigten,<br />
das den Serotonin-Stoffwechsel im Gehirn beeinflusst<br />
(Caspi et al., 2003).<br />
Fazit<br />
Erste Hinweise auf spezifische Gen-Umwelt-<br />
Interaktionen in der Entwicklung wurden von<br />
Caspi et al. gefunden. Danach scheint ein Allel<br />
für unzureichende MAOA-Aktivität bei Männern<br />
die Entwicklung antisozialer Tendenzen<br />
nach erfahrener Kindesmisshandlung zu fördern<br />
und ein Allel für den Serotonin-Stoffwechsel die<br />
Entwicklung depressiver Tendenzen nach Erleben<br />
kritischer Lebensereignisse.<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
2.4 Kovariation und Interaktion von genetischen und Umweltunterschieden 63
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
Genom-Umwelt-Kovarianz. Zum zweiten können<br />
sich bestimmte Genome in bestimmten Umwelten<br />
häufen. So können sich intelligenzförderliche Genome<br />
in intelligenzanregenden Umwelten häufen, weil<br />
Eltern und Ausbildungssystem dies fördern und<br />
intelligente Menschen dazu tendieren, solche Umwelten<br />
aufzusuchen oder herzustellen. Dies wird als<br />
Genom-Umwelt-Kovarianz bezeichnet (Plomin et al.,<br />
1977; vgl. Kasten).<br />
Drei Formen der Genom-Umwelt-Kovarianz<br />
Aktive Genom-Umwelt-Kovarianz. Eine aktive<br />
Genom-Umwelt-Kovarianz kommt dadurch<br />
zustande, dass Menschen genetisch beeinflusste<br />
Tendenzen haben, bestimmte Umwelten aufzusuchen,<br />
passend zu verändern oder überhaupt<br />
erst herzustellen. So suchen sich Menschen beispielsweise<br />
intelligenzmäßig angemessene Freunde<br />
und Lektüre und stellen so eine Passung<br />
zwischen ihrer Intelligenz (damit ihrem Genom)<br />
und ihrer Umwelt her.<br />
Reaktive Genom-Umwelt-Kovarianz. Eine<br />
reaktive Genom-Umwelt-Kovarianz kommt<br />
dadurch zustande, dass die soziale Umwelt auf<br />
genetisch beeinflusste Persönlichkeitseigenschaften<br />
von Menschen reagiert. So werden Kinder in<br />
Abhängigkeit von ihrer Intelligenz unterschiedlichen<br />
Schultypen oder Leistungskursen zugewiesen,<br />
wodurch auch ohne ihre direkte Einflussnahme<br />
eine Passung zwischen ihrer Intelligenz<br />
(damit ihrem Genom) und ihrer<br />
schulischen Umgebung zustande kommt.<br />
Passive Genom-Umwelt-Kovarianz. Eine<br />
passive Genom-Umwelt-Kovarianz kommt<br />
ohne Zutun der Genomträger oder ihrer<br />
sozialen Umwelt dadurch zustande, dass genetisch<br />
Verwandte ihnen durch ihr Verhalten<br />
bestimmte Umweltbedingungen bieten. So<br />
wachsen intelligente Kinder schon deshalb in<br />
einer anregenderen Umwelt auf, weil ihre<br />
Eltern aufgrund ihrer eigenen Intelligenz, die<br />
teilweise auf den gleichen Genen wie die ihrer<br />
Kinder beruht, eine anregendere häusliche<br />
Umgebung schaffen.<br />
Dass sich Genome ihre Umwelten zum Teil selbst<br />
durch aktive Genom-Umwelt-Kovarianz schaffen,<br />
ist natürlich metaphorisch zu verstehen. Den Einfluss<br />
auf die Umwelt üben Personen aus, aber sofern<br />
sie dies aufgrund ihrer genetischen Anlage tun,<br />
beeinflusst tatsächlich das Genom die Umwelt. Entsprechendes<br />
gilt für die reaktive Form der Kovarianz.<br />
Mitmenschen reagieren auf Schönheit, nicht auf<br />
die Gene, die die Schönheit mitbedingen, aber<br />
wegen dieses genetischen Einflusses auf die Schönheit<br />
reagieren sie letztlich auch auf das Genom der<br />
Schönen.<br />
Die Genom-Umwelt-Kovarianz wird auch herangezogen,<br />
um zu erklären, warum der genetische Einfluss<br />
auf einige Persönlichkeitsunterschiede mit zunehmendem<br />
Alter wächst (im Falle des IQ sogar<br />
noch bis ins hohe Alter; vgl. Plomin et al., 1994). Die<br />
aktive Genom-Umwelt-Kovarianz wird im Laufe des<br />
Lebens immer bedeutsamer, da die Handlungsspielräume<br />
des Erwachsenen zunehmen. Die passive<br />
Genom-Umwelt-Kovarianz nimmt hingegen ab, da<br />
der Einfluss genetisch Verwandter, insbesondere der<br />
Eltern, mit zunehmendem Alter schwächer wird.<br />
Man nimmt an, dass der Zuwachs an aktiver Genom-Umwelt-Kovarianz<br />
für viele Persönlichkeitsmerkmale<br />
stärker ist als die Abnahme an passiver<br />
Genom-Umwelt-Kovarianz; dies bedeutet bei<br />
gleichbleibender reaktiver Genom-Umwelt-Kovarianz,<br />
dass der genetische Einfluss auf diese Persönlichkeitsmerkmale<br />
steigt, da Umweltunterschiede<br />
durch das immer stärkere Dominieren der aktiven<br />
Genom-Umwelt-Kovarianz immer mehr von genetischen<br />
Unterschieden kontrolliert werden.<br />
Fazit<br />
Dass der genetische Einfluss auf manche Persönlichkeitsmerkmale<br />
mit wachsendem Alter steigt,<br />
kann u. a. durch eine Zunahme der aktiven<br />
Genom-Umwelt-Kovarianz erklärt werden.<br />
Genom-Umwelt-Interaktion und Genom-Umwelt-<br />
Kovarianz sind in Bezug auf die Frage nach dem<br />
relativen Einfluss von Genen und Umwelten neutral,<br />
werden also in den Schätzungen des genetischen<br />
64 2 Entwicklungsgenetik
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Einflusses z. B. durch die Zwillingsstudie zur Hälfte<br />
dem genetischen und zur anderen Hälfte dem Umwelteinfluss<br />
zugeschlagen. Sie werden also nicht<br />
ignoriert, sind aber in den genetischen Einflussschätzungen<br />
nicht explizit ausgewiesen. Je größer<br />
die Genom-Umwelt-Interaktion oder -Kovarianz ist,<br />
desto weniger sinnvoll ist die Frage nach dem relativen<br />
Einfluss von Erbe und Umwelt auf Persönlichkeitsunterschiede.<br />
Denkanstöße<br />
Wieso kann sich der genetische Einfluss auf<br />
Persönlichkeitsunterschiede mit dem Alter<br />
verändern, obwohl das Genom jedes<br />
Menschen doch lebenslang konstant ist?<br />
Sind genetisch beeinflusste Persönlichkeitsmerkmale<br />
nur gentechnologisch veränderbar?<br />
Genetische Schätzungen besagen, dass die<br />
Wahrscheinlichkeit, geschieden zu werden,<br />
deutlich genetisch beeinflusst ist. Wie kann<br />
das erklärt werden?<br />
Wenn ein Verhalten deutlich mit der sozialen<br />
Schicht variiert, besagt das, dass dieses<br />
Verhalten umweltbedingt ist?<br />
Wenn bestimmte Gen-Varianten als kriminalitätsförderlich<br />
nachgewiesen werden würden,<br />
sollten dann Straftäter mit diesen Gen-<br />
Varianten juristisch anders behandelt werden<br />
als solche ohne diese Gen-Varianten?<br />
3 Zusammenfassung<br />
In diesem Kapitel wurden drei verschiedene entwicklungsrelevante<br />
Mechanismen geschildert:<br />
(1) evolvierte psychologische Mechanismen (EPMs)<br />
(2) konditionale Entwicklungsstrategien<br />
(3) genetische Unterschiede innerhalb von Populationen.<br />
EPMs. Sie sichern die Anpassung an die altersgemäße<br />
aktuelle Umwelt (Beispiele: Klammerreflex, Geschlechtertrennung<br />
vor der Pubertät). Nach evolutionspsychologischer<br />
Auffassung haben sich EPMs<br />
durch natürliche Selektion herausgebildet und variieren<br />
deshalb nicht wesentlich von Person zu Person.<br />
Sie lassen sich daher verwenden, um universelle Entwicklungsveränderungen<br />
(solche, die für fast alle<br />
Populationsmitglieder gelten) zu erklären.<br />
Konditionale Entwicklungsstrategien. Sie sind spezielle<br />
EPMs, die die individuelle Entwicklung an<br />
bestimmte immer wiederkehrende Umweltbedingungen<br />
anpassen (Beispiel: Pubertätszeitpunkt). Auch<br />
diese EPMs haben sich durch natürliche Selektion<br />
herausgebildet und variieren deshalb nicht wesentlich<br />
von Person zu Person. Die durch diese EPMs gesteuerten<br />
Entwicklungsstrategien variieren aber stark zwischen<br />
unterschiedlichen Umwelten. Sofern diese Umwelten<br />
innerhalb einer Population variieren, ist der<br />
genetische Einfluss auf die Entwicklungsstrategien<br />
null. Der EPM ist zwar zu 100 Prozent genetisch<br />
fixiert, seine Wirkung aber zu 100 Prozent umweltbedingt.<br />
Genetische Unterschiede innerhalb von Populationen.<br />
Während EPMs als Anpassungsleistungen<br />
an die evolutionäre Vergangenheit verstanden werden<br />
können, gilt dies für genetische Unterschiede<br />
innerhalb von Populationen nur begrenzt. Denn<br />
wenn die natürliche Selektion ein Merkmal in eine<br />
bestimmte Richtung drängt, weil hohe oder niedrige<br />
Merkmalsausprägungen besonders reproduktionsförderlich<br />
sind, würde dies merkmalsrelevante genetische<br />
Unterschiede minimieren und damit den<br />
genetischen Einfluss auf das Merkmal senken. Ein<br />
starker genetischer Einfluss auf Merkmalsunterschiede<br />
ist deshalb eher ein Indikator dafür, dass<br />
diese Unterschiede selektiv neutral sind. Entweder<br />
handelt es sich um Unterschiede, die irrelevant für<br />
die Reproduktion sind (z. B. ob man mit 70 oder 90<br />
Jahren stirbt), oder unterschiedliche Merkmalsausprägungen<br />
haben unterschiedliche, in der Summe<br />
aber gleiche Reproduktionsvorteile. So behindert<br />
z. B. hohe Ängstlichkeit die Erkundung neuer Nahrungsquellen<br />
und die Partnersuche, schützt aber<br />
gleichzeitig vor Gefahren; vielleicht sind Menschen<br />
daher so unterschiedlich ängstlich (vgl. Buss & Greiling,<br />
1999, für diese und weitere Mechanismen der<br />
Erzeugung von Merkmalsunterschieden innerhalb<br />
von Populationen).<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
3 Zusammenfassung 65
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 2<br />
Evolutionspsychologie<br />
und Genetik<br />
Fazit<br />
Evolutionspsychologisch sind sowohl universelle<br />
als auch differentielle Entwicklungsphänomene<br />
erklärbar. Umweltbedingte Entwicklungsunterschiede<br />
sind oft eher evolutionspsychologisch<br />
erklärbar als genetisch bedingte.<br />
Weiterführende Literatur<br />
Buss, D.M. (2004). Evolutionspsychologie (2. Aufl.). München: Pearson<br />
Studium.<br />
Umfassende Übersicht über das gesamte Gebiet der Evolutionspsychologie,<br />
verfasst von einem führenden Evolutionspsychologen.<br />
Plomin, R., McClearn, G.E., DeFries, J.C. & Rutter, M. (1999). Gene,<br />
Umwelt und Verhalten. Bern: Huber.<br />
Deutsche Übersetzung einer von führenden Verhaltensgenetikern<br />
verfassten Übersicht über das gesamte Gebiet der Verhaltensgenetik.<br />
66 3 Zusammenfassung
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische Grundlagen<br />
der Entwicklung<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
Sabina Pauen · Birgit Elsner<br />
In den letzten zehn Jahren hat innerhalb der Psychologie<br />
ein Wandel eingesetzt, der verschiedene Teilbereiche<br />
des Fachs bereits nachhaltig verändert hat und<br />
noch weiter verändern wird: Man gibt sich nicht länger<br />
damit zufrieden, psychische Prozesse über Verhaltensdaten<br />
zu erfassen, sondern fragt auch, was in<br />
unserem Gehirn passiert, wenn wir wahrnehmen,<br />
fühlen, denken oder handeln. Die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
greift dieses Thema vergleichsweise spät auf.<br />
Dabei hat sie gegenüber anderen Disziplinen den<br />
großen Vorteil, dass Phasen markanter Änderungen<br />
auf der Verhaltensebene in aller Regel an Phasen<br />
gekoppelt sind, in denen sich auch das Gehirn messbar<br />
verändert. Man denke etwa an die Zeit vor der<br />
Geburt, wenn das Gehirn allmählich Gestalt annimmt,<br />
an die frühe Kindheit, in der sich viele neuronale<br />
Netze neu formen, an die Pubertät, während der<br />
Veränderungen in der Hormonproduktion relevant<br />
werden, oder an das hohe Alter, wenn Zellen ihre<br />
Funktionsfähigkeit allmählich verlieren. Da die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
alterskorrelierte Veränderungen<br />
im Verhalten des Menschen erklären will und<br />
diese Veränderungen ihrerseits mit biologischen Reifungsprozessen<br />
zusammenhängen, scheint es nahe<br />
liegend, sich mehr als bisher mit neurowissenschaftlichen<br />
Erkenntnissen zu beschäftigen. Der vorliegende<br />
Beitrag bietet hierzu eine Einführung. Zunächst<br />
soll erörtert werden, wie unser Gehirn aufgebaut ist<br />
und mit welchen Methoden man Daten zur Hirnentwicklung<br />
gewinnt. Anschließend erhält der Leser<br />
einen Überblick darüber, was man bislang über die<br />
allgemeine Entwicklung des Gehirns vor und nach<br />
der Geburt weiß. Auf eine ausführliche Erörterung<br />
der Veränderung einzelner Hirnfunktionen und ihrer<br />
Beziehung zum Verhalten muss aus Platzgründen<br />
verzichtet werden.<br />
1 Wie ist unser Gehirn aufgebaut?<br />
Ausführliche Darstellungen der Neuroanatomie gibt<br />
es in den verschiedensten Lehrbüchern zur Neuropsychologie<br />
(z. B. Kolb & Wishaw, 2003). Im vorliegenden<br />
Kontext beschränken wir uns auf zentrale<br />
Aspekte, ohne deren Kenntnis die Entwicklung des<br />
Gehirns nicht verstanden werden kann.<br />
1.1 Anatomie des Großhirns<br />
Wenn man das Großhirn (Endhirn, Telencephalon)<br />
eines Erwachsenen auf der Makroebene von außen<br />
betrachtet, sieht man einzelne „Lappen“ (Lobi), die<br />
symmetrisch auf beiden Gehirnhälften (Hemisphären)<br />
angeordnet sind und denen man typische<br />
Funktionen zuordnen kann (s. Abb. 3.1): Am Hinterkopf<br />
befindet sich der Lobus occipitalis (Occipitallappen,<br />
Hinterhauptslappen). Zum oberen Kopfende<br />
hin geht der Occipitallappen in den Lobus<br />
Parietalis (Parietallappen, Scheitellappen) über. Am<br />
Vorderkopf liegt der Lobus Frontalis (Frontallappen,<br />
Stirnlappen), der evolutionär jüngste Teil unseres<br />
Gehirns. An beiden Seiten des Kopfes findet man<br />
den Lobus Temporalis (Temporallappen, Schläfenlappen).<br />
Alle genannten Strukturen werden bedeckt<br />
vom Neocortex (Hirnrinde), der an allen höheren<br />
geistigen Aktivitäten beteiligt ist und den wesent-<br />
1.1 Anatomie des Großhirns 67
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
Frontallappen<br />
Temporallappen<br />
Parietallappen<br />
Occipitallappen<br />
Kleinhirn<br />
Abbildung 3.1. Aufteilung des Großhirns in verschiedene<br />
Lobi (Lappen) und Lage des Kleinhirns (aus<br />
Schandry 2006, S.146)<br />
Von außen nicht unmittelbar sichtbar, sondern zwischen<br />
den Hemisphären oder unter dem Neocortex<br />
verborgen, befinden sich weitere wichtige Teile des<br />
Großhirns: das Corpus Callosum (Balken), das<br />
beide Hemisphären über die gesamte Scheitellänge<br />
miteinander verbindet, sowie verschiedene Strukturen,<br />
die unter anderem für die Steuerung des emotionalen<br />
Verhaltens und für das Lernen wichtig sind.<br />
Hierbei besonders hervorzuheben sind der rechte<br />
und linke Gyrus Cinguli (Teil des Frontallappens),<br />
die Amygdala (Mandelkern) und der Hippocampus<br />
(Teile des Temporallappens), die man gemeinsam<br />
mit anderen Strukturen auch unter dem Begriff limbisches<br />
System zusammenfasst (s. Abb. 3.2). Weiterhin<br />
zu erwähnen sind die Basalganglien, die an der<br />
Bewegungssteuerung beteiligt sind.<br />
lichen Bestandteil des Großhirns ausmacht. Die<br />
Oberfläche des Neocortex ist gekennzeichnet durch<br />
wulstartige Strukturen (Gyri) und Täler dazwischen<br />
(Sulci). Wo diese Gyri und Sulci genau liegen, ist<br />
bei jedem Menschen und sogar zwischen rechter<br />
und linker Gehirnhälfte der gleichen Person unterschiedlich.<br />
Die Anzahl und relative Lage einzelner<br />
Teilstrukturen lässt sich jedoch weitgehend standardisiert<br />
beschreiben. Nur deshalb kann man im<br />
Rahmen von Studien, die auf aggregierten Daten basieren,<br />
feststellen, in welchen Gehirnbereichen welche<br />
Art der geistigen Verarbeitung stattfindet.<br />
1.2 Anatomie des Hirnstamms<br />
Das Großhirn sitzt auf weiteren Teilen des Gehirns<br />
auf, die als Hirnstamm oder Stammhirn bezeichnet<br />
werden (s. Abb. 3.3). Am superioren (oberen) Ende<br />
des Hirnstamms befindet sich das Zwischenhirn<br />
(Diencephalon). Hierzu zählt man den Thalamus,<br />
die zentrale Schaltstelle für die von den Sinnesorganen<br />
kommenden Informationen, sowie den darunter<br />
befindlichen Hypothalamus und die Hypophyse<br />
(Hirnanhangdrüse), die für die Hormonproduktion<br />
Fornix<br />
Gyrus<br />
cinguli<br />
Thalamus<br />
Globus<br />
pallidus<br />
(medial)<br />
Fissura<br />
longitudinalis<br />
cerebri<br />
Nucleus<br />
caudatus<br />
Putamen<br />
(lateral)<br />
Amygdala<br />
Temporallappen<br />
Gyrus<br />
parahippocampalis<br />
Hippocampus<br />
Mammillarkörper<br />
Abbildung 3.2. Innenansichten des Gehirns: Das limbische System (links) und die Basalganglien (rechts) (aus<br />
Schandry 2006, S. 130)<br />
68 1 Wie ist unser Gehirn aufgebaut?
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Endhirn<br />
Zwischenhirn<br />
Tegmentum<br />
Tectum<br />
Mittelhirn<br />
Brücke<br />
verlängertes Mark<br />
Kleinhirn<br />
Abbildung 3.3. Die Hauptabschnitte des Gehirns (aus Schandry 2006,<br />
S. 108)<br />
eine wichtige Rolle spielen. Das darunter<br />
liegende Mittelhirn (Mesencephalon)<br />
ist anatomisch nicht einfach<br />
zu identifizieren und enthält verschiedene<br />
kleine Colliculi (Knoten) oder<br />
Nuclei (Kerne), die zum Tectum<br />
bzw. Tegmentum gerechnet werden.<br />
Das Hinterhirn (Metencephalon)<br />
besteht aus der blumenkohlartigen<br />
Struktur des Kleinhirns (Cerebellum)<br />
(s. Abb. 3.1) und der Pons (Brücke).<br />
Das Myelencephalon (auch Medulla<br />
oblongata oder verlängertes Rückenmark<br />
genannt) bildet den Übergang<br />
zum Rückenmark (Medulla spinalis).<br />
Gehirn und Rückenmark werden zusammen<br />
als zentrales Nervensystem<br />
(ZNS) bezeichnet. Die wichtigsten<br />
Funktionen aller bisher genannten<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
Tabelle 3.1. Funktionen unterschiedlicher Hirnbereiche<br />
Großhirn<br />
Neuronale Struktur<br />
Telencephalon<br />
Neocortex<br />
Occipitallappen<br />
Parietallappen<br />
Frontallappen<br />
Temporallappen<br />
Corpus Callosum<br />
Limbisches System<br />
Gyrus Cinguli<br />
Amygdala<br />
Hippocampus<br />
Funktion<br />
Höhere geistige Verarbeitung<br />
Wahrnehmen, Denken, Handeln<br />
Sehen (primäre und sekundäre Verarbeitung visueller Information)<br />
Sehen (tertiäre Verarbeitung), Bewegungswahrnehmung, Somatosensorik,<br />
Mathematisches Denken, Raumkognition<br />
Motorik, Handlungsplanung, Kurzzeitgedächtnis, Sprachproduktion,<br />
Stimmung, Handlungsantrieb bzw. -hemmung (exekutive Funktionen)<br />
Differenzierte auditorische Verarbeitung, visuelle Objekterkennung,<br />
semantisches Wissen, intermodale Integration<br />
Verbindung zwischen beiden Gehirnhälften<br />
Gefühle, Aufmerksamkeits- sowie Lernprozesse<br />
Gefühls- & Aufmerksamkeitslenkung<br />
Emotionale Reaktionen (vor allem Furcht)<br />
Gedächtnis, Lernen, räumliche Orientierung<br />
Basalganglien<br />
Subkortikale Bewegungskontrolle<br />
<br />
1.2 Anatomie des Hirnstamms 69
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Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
Neuronale Struktur<br />
Diencephalon<br />
Thalamus<br />
Funktion<br />
Zwischenstation für sensorischen Input, Hormonsteuerung<br />
Schaltstation für vielfältige Wahrnehmungsinformation<br />
Hypothalamus<br />
Hypophyse<br />
Epiphyse<br />
Mesencephalon<br />
Regelung von vegetativen Zuständen verschiedener Art<br />
Hormonausschüttung (Sexualverhalten, Stress, Wachstum etc.)<br />
Hormonausschüttung (Schlaf-Wachrhythmus)<br />
Subkortikale Wahrnehmungs- und Verhaltenssteuerung<br />
Stammhirn<br />
Tectum<br />
Tegmentum<br />
Metencephalon<br />
Cerebellum<br />
Pons<br />
Myelencephalon<br />
Formatio Reticularis<br />
Rückenmark<br />
Subkortikale Hör- und Sehfunktionen<br />
Subkortikale motorische Steuerung, Schmerzhemmung<br />
Implizites motorisches Lernen<br />
Flexible feinmotorische Bewegungskontrolle, Gleichgewicht,<br />
Erlernen motorischer Fertigkeiten<br />
Durchgangsstation für Neurone vom Rückenmark zum Cortex<br />
Steuerung unwillkürlichen Verhaltens/vegetativer Zustände<br />
Bewusstseinszustände (Schlafen, Wachen), Aktivierung<br />
Übertragung von Signalen vom Körper zum Gehirn und umgekehrt;<br />
Reflexsteuerung, Schmerzhemmung<br />
Strukturen sowie weiterer Teilstrukturen, die für spätere<br />
Ausführungen von Bedeutung sind, werden in<br />
Tabelle 3.1 aufgeführt.<br />
1.3 Funktionale Beschreibung des Gehirns<br />
Wurde bislang primär die Anatomie des Gehirns<br />
besprochen, geht es im Folgenden vor allem um eine<br />
allgemeine funktionale Betrachtungsweise. So kann<br />
man für verschiedene Teilaspekte der Wahrnehmung<br />
(z. B. visuell, akustisch oder somatosensorisch) jeweils<br />
primäre, sekundäre und tertiäre Bereiche der<br />
Verarbeitung identifizieren, wobei die Information<br />
zunächst bezüglich grundlegender physikalischer<br />
Eigenschaften (z. B. Helligkeit, Tonhöhe, Druckstärke)<br />
analysiert wird und auf nachgeordneten Ebenen<br />
eine Verbindung zwischen verschiedenen Reizeigen-<br />
schaften hergestellt werden kann. Häufig nennt man<br />
den tertiären Bereich auch Assoziationscortex. Solche<br />
Cortexareale gibt es an verschiedenen Stellen<br />
unseres Großhirns, genauer gesagt im Frontal-,<br />
Temporal- und im Parietallappen. Wie Abbildung<br />
3.4 deutlich macht, sind die sekundären und<br />
tertiären sensorischen Areale im Vergleich zu den<br />
primären Bereichen sehr groß, was darauf hinweist,<br />
dass Sinnesdaten im Gehirn nicht einfach abgebildet<br />
werden, sondern vielfältig weiter verarbeitet und mit<br />
anderen Informationen in Verbindung gebracht<br />
werden.<br />
In Büchern über Neuropsychologie findet man<br />
nicht immer die Bezeichnungen, die in Tabelle 3.1<br />
aufgeführt sind, sondern oft auch Namen für Funktionsbereiche.<br />
So ist etwa die Rede vom motorischen<br />
Cortex, der einen Teilbereich des Frontallappens<br />
darstellt und für die Steuerung unserer Körperbe-<br />
70 1 Wie ist unser Gehirn aufgebaut?
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Abbildung 3.4. Primäre, sekundäre und tertiäre Bereiche<br />
der Verarbeitung von Sinnesinformation unterschiedlicher<br />
Modalitäten (hier: für visuelle, akustische<br />
und somatosensorische Informationen)<br />
wegungen relevant ist, vom auditorischen Cortex,<br />
der sich auf einen Teilbereich des Temporallappens<br />
bezieht, in dem die Verarbeitung von Sprache,<br />
Musik und anderen akustischen Signalen erfolgt,<br />
oder vom somatosensorischen Cortex, einem Teil<br />
des Parietallappens, der die Repräsentation unseres<br />
Körperschemas enthält. Beim visuellen Cortex gilt es<br />
zu beachten, dass hier verschiedene Areale (V1-V5)<br />
unterschieden werden, wobei die primären Areale<br />
(V1) im Occipitalcortex und die sekundären Areale<br />
(V2-V5) im Übergangsbereich zwischen Occipital-,<br />
Temporal- und Parietallappen zu finden sind. Tertiäre<br />
visuelle Areale befinden sich im inferioren Temporallappen<br />
(ventraler Pfad), wo Informationen für<br />
die Objekterkennung verarbeitet werden, sowie im<br />
posterioren Parietallapen (dorsaler Pfad), wo Informationen<br />
für die Bewegungssteuerung verarbeitet<br />
werden.<br />
der Mikroebene. Man kann das Gehirn nämlich nicht<br />
nur hinsichtlich der räumlichen Anordnung der<br />
Lobi, Gyri und Sulci oder hinsichtlich funktioneller<br />
Bereiche beschreiben, sondern unter dem Mikroskop<br />
auch analysieren, wie einzelne Areale cytoarchitektonisch<br />
zusammengesetzt sind. Wie noch zu zeigen sein<br />
wird, ist diese Betrachtungsweise für Entwicklungspsychologen<br />
besonders relevant. Abbildung 3.5 zeigt<br />
zunächst den Aufbau eines typischen Neurons.<br />
Grundsätzlich hat jedes Neuron nur einen Zellkörper<br />
und genau ein Axon, das bezüglich seiner<br />
Länge und Dicke variieren kann und Erregung an<br />
andere Neurone weiter leitet. Viele Axone sind myelinisiert,<br />
d. h. von einer Fettschicht umgeben, was<br />
eine schnelle Weiterleitung von Informationen ermöglicht.<br />
Am Ende verzweigt sich das Axon in<br />
Kollaterale und dann noch feiner in Telodendrien.<br />
An den Telodendrien sitzen die synaptischen Endknöpfchen,<br />
die für die Ausschüttung von Neuro-<br />
Dendrit<br />
Zellkern<br />
Soma<br />
(Zellkörper)<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
1.4 Neuronen als Bausteine des zentralen<br />
Nervensystems<br />
Wenn ein Kind nach neun Monaten gesund auf die<br />
Welt kommt, sieht sein Gehirn rein äußerlich fast<br />
genauso aus wie das eines Erwachsenen. Die Anzahl<br />
der Nervenzellen (Neurone) verändert sich nach der<br />
Geburt nur unwesentlich, und alle Bereiche, die bislang<br />
genannt wurden, sind im Gehirn des Neugeborenen<br />
bereits identifizierbar. Was sich mit dem Alter<br />
systematisch verändert, sind der Reifungsgrad einzelner<br />
Neurone und die Art bzw. Dichte ihrer Verschaltung.<br />
Dabei handelt es sich um Veränderungen auf<br />
Axon<br />
Myelinscheide<br />
Synaptische Endigung<br />
Abbildung 3.5. Neuron mit unterschiedlichen Teilkomponenten<br />
(aus Schandry 2006, S. 37)<br />
1.4 Neuronen als Bausteine des zentralen Nervensystems 71
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Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
transmittern verantwortlich sind, wenn sich im<br />
Neuron ein Aktionspotential aufgebaut hat. Sie<br />
geben den Impuls über den synaptischen Spalt an<br />
nachgeordnete Neurone weiter. Die empfangende<br />
Seite eines Neurons ist durch Dendriten gekennzeichnet.<br />
Die Anzahl und Länge dieser „Antennen“,<br />
die Signale vorgeordneter Zellen empfangen, hängt<br />
unter anderem von der Zellart ab. Neurone unterscheiden<br />
sich durch die Länge und Dicke ihrer<br />
Axone und durch die Art der Verzweigungen auf der<br />
empfangenden und sendenden Seite.<br />
Die häufigste Zellart im Neocortex sind die Pyramidenzellen,<br />
die immerhin 70–85 % aller Cortexneurone<br />
ausmachen und Erregung zwischen weit<br />
entfernten Arealen und bis hin zum Rückenmark<br />
weiterleiten können. Andere Zellarten, die wesentlich<br />
seltener vorkommen, sind Korbzellen, Sternzellen<br />
und Doppel-Bouquet-Zellen, die vor allem für<br />
die lokale Erregungsausbreitung oder -hemmung<br />
innerhalb oder zwischen einzelnen Cortexschichten<br />
verantwortlich sind.<br />
Der Neocortex mit seinen verschiedenen Lobi<br />
besteht in allen Bereichen aus insgesamt sechs Zellschichten,<br />
die sich in verschiedenen Cortexregionen<br />
bezüglich ihrer Dicke und Zellzusammensetzung<br />
unterscheiden (s. Abb. 3.6). So ist im visuellen<br />
Cortex Schicht 4 am dicksten und im motorischen<br />
Cortex Schicht 5. Das hängt unter anderem davon<br />
ab, wo und in welcher Konzentration afferente (also<br />
solche, die von den Sinnesorganen bzw. vom Thalamus<br />
kommen) und efferente Verbindungen (solche,<br />
die Signale an andere Gehirnregionen oder Körperteile<br />
weiter leiten) nachweisbar sind.<br />
Die wohl bekannteste Systematik zur Beschreibung<br />
des Gehirns stammt von Brodmann (1909),<br />
der die Zellzusammensetzung der verschiedenen<br />
Cortexschichten zur Grundlage seiner Einteilung in<br />
Teilbereiche (Brodmannareale, abgekürzt: BA) ge-<br />
Abbildung 3.6. Querschnitt durch den Neocortex mit 6 Zellschichten und verschiedenen Zellarten (aus Kolb, Wishaw<br />
1996, S. 136)<br />
72 1 Wie ist unser Gehirn aufgebaut?
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
macht hat. Man unterscheidet heute mehr als 200<br />
verschiedene cytoarchitektonische Areale.<br />
Denkanstöße<br />
Das Gehirn besteht aus vielen anatomisch<br />
und funktional unterschiedlichen Bereichen.<br />
Welche Folgen könnte es haben, wenn die<br />
einzelnen Bereiche im Entwicklungsverlauf<br />
unterschiedlich schnell heranreifen?<br />
Das zentrale Nervensystem setzt sich aus<br />
vielen einzelnen Nervenzellen zusammen.<br />
Welche Prozesse sind erforderlich, damit aus<br />
einer befruchteten Eizelle ein hochkomplexes<br />
erwachsenes Gehirn entstehen kann?<br />
2 Wie gewinnt man Daten zur<br />
Gehirnentwicklung?<br />
Daten zur Gehirnentwicklung werden heute mit<br />
verschiedenen Methoden gewonnen, die jeweils<br />
ihre Vor- und Nachteile haben und in unterschiedlichen<br />
Altersgruppen jeweils bevorzugt eingesetzt<br />
werden (einen Überblick geben Thomas & Casey,<br />
2003).<br />
Hirnschnitte<br />
Die Frage, in welchem Alter man welche Neurone in<br />
verschiedenen Gehirnregionen findet und wie Nervenzellen<br />
untereinander verschaltet sind, lässt sich<br />
zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur sinnvoll beantworten,<br />
indem man Hirngewebe analysiert. Es ist<br />
jedoch problematisch, die Gehirne von Menschen<br />
anatomisch zu untersuchen, denn ohne Grund darf<br />
man keine Obduktion durchführen. Wie noch zu<br />
zeigen sein wird, ist die Datenbasis für das Kindesalter<br />
daher recht dürftig. Von besonderem Interesse<br />
ist die Bestimmung der Dichte von Dendriten und<br />
Synapsen in einzelnen Hirnregionen zu verschiedenen<br />
Zeitpunkten der Entwicklung. Sie gibt Aufschluss<br />
über mögliche sensible Phasen der Hirnentwicklung.<br />
Die wichtigsten Arbeiten auf diesem<br />
Gebiet stammen von Huttenlocher (1990) sowie<br />
Huttenlocher und Dabholkar (1997), die die Entwicklung<br />
der Synapsen- und Dendritenbildung<br />
menschlicher Säuglinge untersucht haben. Ihre Befunde<br />
werden später ausführlich dargestellt.<br />
Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT)<br />
Die Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) bietet<br />
heute die Möglichkeit, das Gehirn von lebenden<br />
Menschen (auch Kindern) räumlich hochdifferenziert<br />
abzubilden. Computerprogramme setzen<br />
aus den einzelnen Schnittbildern dreidimensionale<br />
Abbildungen zusammen, die es ermöglichen, die<br />
Anordnung und Größe einzelner Hirnstrukturen<br />
sichtbar zu machen. Man spricht in diesem Zusammenhang<br />
von volumetrischen Analysen. Darüber<br />
hinaus kann man mit dieser Technik erfahren,<br />
wie weit einzelne Teilbereiche des Gehirns in einem<br />
gegebenen Alter myelinisiert sind. Dazu nimmt man<br />
eine T1-Gewichtung der Bilder vor. Dieses Maß verrät,<br />
wie hoch der Anteil an weißer und grauer Substanz<br />
in den einzelnen Gehirnbereichen ist. Die weiße<br />
Substanz enthält viele myelinisierte Axone, während<br />
die graue Substanz vor allem Zellkerne enthält. Man<br />
muss allerdings bedenken, dass entsprechende<br />
Daten von Kindern unter sechs Monaten schwer<br />
interpretierbar sind, weil der Wasseranteil im Hirngewebe<br />
von Säuglingen noch besonders hoch ist,<br />
und dies die Auswertung verzerrt. MRT-Studien<br />
haben uns gezeigt, dass<br />
nach dem fünften Lebensjahr kaum nennenswerte<br />
Veränderungen im Volumen des Gehirns zu<br />
verzeichnen sind;<br />
nach dem zwölften Lebensjahr eine signifikante<br />
Abnahme der grauen Substanz stattfindet;<br />
der Anteil an weißer Substanz über die gesamte<br />
Kindheit und das junge Erwachsenenalter ansteigt.<br />
Übersichtliche Zusammenfassungen entsprechender<br />
Forschungsarbeiten geben Casey, Thomas und<br />
McCandliss (2001) sowie Matsuzawa et al. (2001)<br />
und Paus et al. (2001).<br />
MRT-Messungen (wie auch fMRT-Messungen,<br />
von denen nachfolgend die Rede sein wird) sind mit<br />
einer starken Geräuschentwicklung verbunden, die<br />
trotz Ohrenschutz für die Probanden belastend ist.<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
2 Wie gewinnt man Daten zur Gehirnentwicklung? 73
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
Weil die Probanden außerdem noch ruhig liegen<br />
sollen, damit Verzerrungen bei den Aufnahmen vermieden<br />
werden, gibt man Kindern vor der Untersuchung<br />
oft Beruhigungs- oder Betäubungsmittel. Es<br />
verwundert daher kaum, dass MRT-Untersuchungen<br />
normalerweise nur bei medizinischer Indikation<br />
durchgeführt werden.<br />
Funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie<br />
(fMRT)<br />
Bei der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie<br />
(fMRT) ist man daran interessiert festzustellen,<br />
in welchen Hirnbereichen besonders viele Stoffwechselprozesse<br />
(gemessen über funktionell induzierte<br />
Veränderungen der Sauerstoffsättigung des Blutes)<br />
stattfinden, während bestimmte geistige Aufgaben<br />
bearbeitet werden. Um das zu erfassen, werden während<br />
der Bearbeitung unterschiedlicher Aufgaben<br />
Bilder vom Gehirn gemacht, die man später miteinander<br />
vergleicht. So kann man gezielt bestimmen,<br />
welche Gehirnstrukturen bei bestimmten geistigen<br />
Aktivitäten besonders aktiv sind. Das geht natürlich<br />
nur, wenn die Probanden bereits Instruktionen verstehen<br />
und ihnen folgen können. Eine fMRT-Untersuchung<br />
kann recht lange dauern, weil man unter<br />
Umständen viele Durchgänge braucht, um eine Mittelung<br />
der gemessenen Aktivitäten vornehmen zu können.<br />
Aus diesen Gründen und wegen der bereits für<br />
die MRT-Messung identifizierten Nachteile stellen<br />
fMRT-Studien im Kindesalter die Ausnahme dar und<br />
lassen sich mit Säuglingen oder Kleinkindern kaum<br />
durchführen. Ab dem Schulalter liefert diese Methode<br />
allerdings hilfreiche Daten zum Verständnis der<br />
Entwicklung einzelner Funktionsbereiche und wird<br />
vor allem eingesetzt, um nach Ursachen von kognitiven<br />
Teilleistungsdefiziten oder bestimmten Verhaltensauffälligkeiten<br />
zu suchen (einen Überblick über<br />
entsprechende Forschungsarbeiten geben Casey,<br />
Thomas und McCandliss, 2001).<br />
Positronen-Emissions-Tomographie (PET)<br />
Auch mit der Positronen-Emissions-Tomographie<br />
(PET) kann man herausfinden, welche Gehirnareale<br />
besonders aktiv sind, wenn Menschen bestimmte<br />
Aufgaben lösen. Dafür injiziert man den Personen<br />
kurz vor Beginn der Aufgabe eine schwach-radioaktive<br />
Substanz, die dann über das Blut vermehrt in jene<br />
Bereiche des Gehirns transportiert wird, in denen ein<br />
besonders reger Stoffwechsel stattfindet. PET-Untersuchungen<br />
werden auch eingesetzt, um den allgemeinen<br />
Energieumsatz im gesamten Gehirn oder in<br />
Teilbereichen zu bestimmen. Dieser Energieumsatz<br />
nimmt im Wesentlichen bis zur Grundschulzeit massiv<br />
zu und danach wieder deutlich ab. Die Grenzen<br />
der Anwendung von PET-Scans liegen auf der Hand:<br />
Zunächst stellt die Verwendung radioaktiver Substanzen<br />
ein ethisches Problem dar. Darüber hinaus<br />
gibt es die praktische Schwierigkeit, dass Kinder nicht<br />
lange still liegen und zu einem gegebenen Zeitpunkt<br />
gezielt eine spezifizierte geistige Aktivität zeigen.<br />
Ähnlich wie bei der fMRT-Methode kommen PET-<br />
Untersuchungen daher am ehesten bei der Bestimmung<br />
geistiger Aktivitäten von älteren Kindern und<br />
Erwachsenen zum Einsatz. Weiterführende Hinweise<br />
zur Nutzung dieser Technik im Rahmen entwicklungspsychologischer<br />
Überlegungen geben Chugani,<br />
Phelps und Mazziotta (1987).<br />
Nahinfrarotspektroskopie (NIRS)<br />
Die Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) stellt ein vergleichsweise<br />
neues Verfahren dar, bei dem die Sauerstoffsättigung<br />
des Blutes mit Hilfe einer optischen<br />
Technik erfasst wird. Das Verfahren eignet sich für die<br />
Untersuchung kleiner Kinder, weil die zur Messung<br />
erforderlichen Optroden rasch anzubringen sind und<br />
die Bewegungsfreiheit nur wenig einschränken. Das<br />
macht das Verfahren für Säuglings- und Kleinkindforscher<br />
attraktiv. Allerdings ist die räumliche und<br />
zeitliche Auflösung der Daten bislang recht ungenau,<br />
so dass nur bestimmte allgemeine Fragen mit diesem<br />
Verfahren beantwortet werden können. Diese Technik<br />
entwickelt sich zur Zeit aber rasant weiter, so dass<br />
wir vermutlich in naher Zukunft damit rechnen können,<br />
mit Hilfe der NIRS neue Erkenntnisse zur<br />
Gehirnentwicklung zu erhalten (einen Überblick zu<br />
diesem Verfahren gibt z. B. Hoshi, 2003).<br />
Elektroencephalographie (EEG)<br />
Die derzeit am weitesten verbreitete Methode, Hirnprozesse<br />
bei Probanden aller Altersstufen zu unter-<br />
74 2 Wie gewinnt man Daten zur Gehirnentwicklung?
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suchen, ist das Elektroencephalogramm (EEG). Hier<br />
werden am Kopf des Probanden Elektroden befestigt,<br />
um zu messen, wie sich die Spannung an der<br />
Kopfhaut durch die elektrische Aktivität der Neurone<br />
verändert. Dabei spielt die Aktivität der Pyramidenzellen<br />
eine entscheidende Rolle, insbesondere die<br />
Aktivität jener Zellen im Cortex und Hippocampus,<br />
die besonders dicht gepackt, parallel angeordnet und<br />
senkrecht zur Kopfhaut liegen. Dadurch hat die von<br />
ihnen erzeugte Veränderung in der elektrischen<br />
Spannung eine besonders starke Wirkung.<br />
Mit Hilfe des EEG kann man etwa beschreiben,<br />
welche elektrophysiologische Aktivität typischerweise<br />
in Schlaf- und Wachzuständen bei Kindern unterschiedlichen<br />
Alters auftritt oder wie sich das Ruhe-<br />
EEG zwischen Kindern unterscheidet (z. B. zwischen<br />
Schreibabys und ruhigen Säuglingen). Ein weiterer<br />
interessanter Aspekt dieser Methode ist die Möglichkeit<br />
der zeitnahen Erfassung kognitiver Prozesse, die<br />
mit der Wahrnehmung und Verarbeitung bestimmter<br />
Reize zusammenhängen. Dazu beschreibt man den<br />
Verlauf von gemittelten EEG-Wellen ab Beginn der<br />
Reizpräsentation. Inzwischen wurden eine ganze<br />
Reihe von charakteristischen Aktivitäts-Komponenten<br />
(ereigniskorrelierte Potentiale, EKPs, im Englischen:<br />
ERPs) identifiziert, die mit definierten kognitiven<br />
Prozessen zusammenzuhängen scheinen.<br />
Die EKP-Technik kann in allen Altersgruppen<br />
angewendet werden, weil sie nicht unbedingt willkürlich<br />
gesteuerte Reaktionen oder verbale Antworten<br />
erfordert. Es gibt jedoch auch einige Probleme: Eine<br />
praktische Schwierigkeit besteht darin, dass man viele<br />
Durchgänge braucht, über die man die gemessene<br />
Aktivität mitteln kann. Denn es können nur solche<br />
Durchgänge verwendet werden, bei denen der Proband<br />
sich nicht bewegt hat (insbesondere Kopf und<br />
Augen), weil ansonsten Bewegungsartefakte die Hirnströme<br />
überlagern. Ein zweites Problem hängt mit der<br />
Hirnreifung zusammen: Die Myelinisierung der Neurone<br />
beim Kleinkind ist noch nicht so weit fortgeschritten,<br />
die neuronale Organisation weist noch viele<br />
Freiheitsgrade auf, die Schädeldecke ist dünner und<br />
die Knochenplatten sind zumindest bis Ende des<br />
zweiten Lebensjahres noch nicht zusammengewachsen.<br />
Aus diesen Gründen unterscheiden sich die Hirn-<br />
ströme von Säuglingen und Kleinkindern zum Teil<br />
sehr deutlich von denen älterer Probanden, ohne dass<br />
man schon genau wüsste, worauf diese Abweichungen<br />
im konkreten Einzelfall zurückzuführen sind.<br />
Trotz dieser Einschränkungen ist es jedoch möglich,<br />
charakteristische Veränderungen in Reaktion auf<br />
bestimmte Reizarten im Kleinkindalter festzustellen.<br />
Die EKP-Forschung ist aufgrund der insgesamt nur<br />
geringen Belastung der Kinder eine durchaus gefragte<br />
Methode der modernen Entwicklungsneuropsychologie,<br />
vor allem auch der kognitiven Säuglingsforschung.<br />
Einen Überblick über entwicklungspsychologische<br />
Anwendungen dieser Methode geben<br />
Nelson und Monk (2001) sowie Thierry (2005).<br />
Magnet-Encephalographie (MEG)<br />
Auch die Magnet-Encephalographie (MEG) misst<br />
die elektrische Aktivität des Gehirns, allerdings auf<br />
einer etwas anderen Informationsbasis. An der<br />
Kopfoberfläche werden Veränderungen des Magnetfeldes<br />
gemessen, das durch elektrische Impulse der<br />
Neuronen erzeugt wird. Im Unterschied zum EEG<br />
hat der Proband weniger Bewegungsfreiheit, weil<br />
sein Kopf unter einem haubenförmigen Detektor<br />
still gehalten werden muss, damit eine störungsfreie<br />
Messung möglich ist. Das Verfahren lässt sich ab ca.<br />
fünf bis sechs Jahren praktikabel einsetzen, wenn<br />
Kinder bereits für einige Zeit still sitzen können. Der<br />
große Vorteil dieser Methode besteht darin, dass<br />
nicht für jeden Messpunkt zeitraubend einzelne<br />
Elektroden angebracht werden müssen, sondern<br />
dass sich der Proband einfach unter den Detektor<br />
setzt und ohne langwierige Vorbereitungsprozedur<br />
am Kopf eine Ableitung von vielen Messpunkten<br />
gleichzeitig erfolgen kann (bei typischen EKP-Studien<br />
variiert die Elektrodenanzahl bis 128 Messpunkte;<br />
beim MEG sind es bis zu 256 Messpunkte).<br />
Aufgrund der räumlich differenzierten Erfassung<br />
und der großen Zeitgenauigkeit der Daten lässt sich<br />
mit Hilfe von Computerprogrammen inzwischen<br />
sehr genau bestimmen, wo eine an der Schädeloberfläche<br />
gemessene Erregung ihren Ursprung hat. Eine<br />
solche Quellenanalyse ist auch bei EKP-Studien<br />
möglich, wenn eine größere Anzahl von Elektroden<br />
zur Verfügung stehen.<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
2 Wie gewinnt man Daten zur Gehirnentwicklung? 75
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
Analyse des Hormonstatus<br />
Ein weiteres Verfahren, das indirekt Auskünfte über<br />
die neuronale Entwicklung gibt, ist die Analyse des<br />
Hormonstatus. Dieser variiert mit der Reifung<br />
bestimmter Gehirnstrukturen, die für die Hormonausschüttung<br />
relevant sind (z. B. der Hypophyse).<br />
Die Bestimmung des Hormonstatus ist vor allem<br />
wichtig, um das körperliche Wachstum und die in<br />
der Pubertät auftretenden Veränderungen zu verstehen.<br />
Sie spielt darüber hinaus aber auch eine wichtige<br />
Rolle für die Ausbildung der Geschlechtsidentität<br />
im Kindesalter. Detaillierte Informationen zum<br />
komplexen Wechselspiel zwischen Hormonstatus<br />
und kognitiven Aktivitäten geben Berenbaum, Moffat,<br />
Wisniewski und Resnick (2003). Mit der Bedeutung<br />
von Geschlechtshormonen für die Gehirnentwicklung<br />
beschäftigt sich u. a. Cameron (2001).<br />
Im nächsten Schritt geht es um konkrete Erkenntnisse,<br />
die mit Hilfe der bislang beschriebenen Verfahren<br />
über die neurologische Entwicklung gewonnen<br />
wurden.<br />
Denkanstöße<br />
Es gibt verschiedenen Methoden, mit denen<br />
man das Gehirn des Menschen untersuchen<br />
kann. Welche Methode eignet sich dafür, wenn<br />
es darum geht,<br />
zu bestimmen, ob ein Säugling Laute<br />
voneinander unterscheiden kann?<br />
herauszufinden, ob ein Kind eine Hirnblutung<br />
hatte?<br />
festzustellen, ob die Neubildung von<br />
Synapsen zu vermehrtem Stoffwechsel in<br />
den Neuronen führt?<br />
schätzungsweise zehn bis fünfzehn Milliarden „grauen<br />
Zellen“ eines erwachsenen Gehirns sind bei der<br />
Geburt bereits vorhanden. Wie neuere Untersuchungen<br />
zeigen, wächst die Anzahl der Neurone in<br />
begrenztem Umfang noch bis zum sechsten Lebensjahr<br />
weiter (Shankle et al., 1998). Auch bei älteren<br />
Kindern und Erwachsenen werden in wenigen<br />
Regionen des Gehirns noch vereinzelt neue Neurone<br />
produziert. Parallel dazu setzt aber bereits in der<br />
pränatalen Zeit der Abbau von Nervenzellen ein, der<br />
sich über das gesamte Leben hinweg fortsetzt, aber<br />
in überschaubaren Grenzen hält.<br />
Die Aussage, dass die Mehrzahl der Neurone eines<br />
Menschen in der Zeit vor der Geburt gebildet wird,<br />
passt auf den ersten Blick nicht gut zu der Feststellung,<br />
dass sich das Gehirnvolumen eines Kindes von<br />
der Geburt bis zum Erwachsenenalter verdreifacht.<br />
Wiegt es bei einem gesunden Neugeborenen ca.<br />
400 g, so hat sich sein Gewicht im Alter von neun<br />
Monaten bereits auf 800 g verdoppelt. Im dritten bis<br />
vierten Lebensjahr kommt es auf 1200 bis 1300 g<br />
und beim Erwachsenen schwankt sein Gewicht zwischen<br />
1230 g und rund 1430 g. Das Gehirn von<br />
Männern wiegt dabei in der Regel mehr als das von<br />
Frauen.<br />
Wenn man den scheinbaren Widerspruch auflösen<br />
will, dass die Anzahl der Neuronen nahezu<br />
unverändert bleibt, aber das Gehirnvolumen massiv<br />
steigt, muss man sich konkreter mit der Frage beschäftigen,<br />
wie unser Gehirn reift. Dabei nimmt die<br />
Pränatalzeit eine besondere Stellung ein, weil hier<br />
der Großteil der Aufbauarbeit geleistet wird.<br />
3.1 Gehirnentwicklung vor der Geburt<br />
3 Was weiß man über die Reifung<br />
des Gehirns?<br />
Die Entwicklung des Gehirns beginnt sehr früh –<br />
schon ein bis zwei Wochen nach der Befruchtung,<br />
wenn die ersten Neurone produziert werden. Dann<br />
geht es in rasantem Tempo weiter, denn fast alle der<br />
Entwicklungspsychologen sollten über die pränatale<br />
Entwicklung des Gehirns Bescheid wissen. Sie<br />
sollten verstehen, welche Konsequenzen toxische,<br />
hormonelle oder sonstige Einflüsse während der<br />
Schwangerschaft auf die Hirnreifung haben können<br />
(z. B. die Auswirkungen von Dauerstress oder Rauchen<br />
der Mutter). Auch für die Schwangerschaftskonfliktberatung<br />
ist eine gute Kenntnis über die<br />
Gehirnentwicklung des Kindes in verschiedenen<br />
76 3 Was weiß man über die Reifung des Gehirns?
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Phasen der Schwangerschaft erforderlich. Weiterhin<br />
sollte man wissen, wie sich Frühgeborene (immerhin<br />
10% der Bevölkerung) und termingerecht geborene<br />
Kinder bezüglich ihrer Hirnreifung unterscheiden.<br />
In diesem Abschnitt wird daher zunächst erörtert,<br />
wie aus einer Eizelle und einem Spermium<br />
allmählich ein Mensch mit Gehirn entsteht (vgl.<br />
hierzu auch Rohen und Lütjen-Drecoll, 2004).<br />
Dorsale Aufsicht<br />
eines Embryos<br />
Neuralplatte<br />
Querschnitt eines dorsalen<br />
Ektoderms eines Embryos<br />
18 Tage<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
3.1.1 Mitose und Migration<br />
Wenn sich das Ei in der Gebärmutter einnistet, findet<br />
sich in seinem Inneren bereits die so genannte embryonale<br />
Platte mit drei unterschiedlichen, zunächst<br />
flach übereinander liegenden Zellschichten. Eine<br />
davon ist das Ektoderm. In einem ersten Schritt vermehren<br />
sich Zellen rechts und links entlang des so<br />
genannten Primitivstreifens, der die Längsachse des<br />
Embryos markiert (vgl. Abb. 3.7). Auf diese Weise bilden<br />
sich zwei hügelförmige Aufwerfungen – die Neuralwülste.<br />
Die Aufwerfungen schließen sich oben über<br />
einem Hohlraum zusammen, so dass ein Tunnel entsteht.<br />
Dieser Tunnel wird auch als Neuralrohr bezeichnet.<br />
Im unteren Drittel des Neuralrohrs entsteht<br />
daraus das Rückenmark, während sich die oberen<br />
zwei Drittel zum Gehirn weiter entwickeln. Diese Entwicklung<br />
findet so schnell statt, dass der Embryo<br />
zunächst fast nur aus einem Kopf zu bestehen scheint.<br />
Das Innere des Neuralrohrs, das sich direkt an<br />
den mit Flüssigkeit gefüllten Hohlraum anschließt,<br />
wird als ventrikuläre Zone bezeichnet – ein Bereich,<br />
in dem die künftigen Neurone „produziert“ werden.<br />
Die ventrikuläre Zone besteht aus vielen proliferaten<br />
Einheiten. Dort sitzen die Stammzellen, die sich<br />
zunächst durch einfache Zellteilung (Mitose) verdoppeln,<br />
wobei von jedem Paar eine Zelle auf Wanderschaft<br />
an ihren Bestimmungsplatz im Gehirn geht<br />
(Migration), während die andere in der proliferaten<br />
Einheit verbleibt und sich anschließend wieder teilt.<br />
Die Anzahl der Teilungen jeder Stammzelle sind begrenzt.<br />
Evolutionsbiologen vermuten, dass der Anstieg<br />
des Gehirnvolumens beim Menschen gegenüber<br />
seinen evolutionären Vorfahren auf Mutationen zurückgeht,<br />
die die Anzahl der Teilungen der Stammzellen<br />
beeinflusst haben (Bourgeois, 2001).<br />
Neuralrinne<br />
Neuralrohr<br />
21 Tage<br />
Neuralleiste<br />
Zentralkanal<br />
24 Tage<br />
Abbildung 3.7. Zwei bis drei Wochen alter Embryo von<br />
oben betrachtet (links) und im Querschnitt (rechts) (aus<br />
Pinel 2001, S. 213)<br />
Die Mitose folgt dem so genannten transversen neurogenetischen<br />
Trend. Damit ist gemeint, dass sie im<br />
oberen seitlichen Bereich des Neuralrohrs beginnt<br />
und sich dann hin zum unteren mittleren Bereich<br />
hin fortsetzt. Dieses Timing ist extrem wichtig.<br />
Warum das Gehirn irgendwann eine klar erkennbare<br />
Struktur hat und nicht einfach wie ein Hefekuchen<br />
in alle Richtungen gleichmäßig aufgeht, kann man<br />
sich dadurch erklären, dass die Zellteilung an verschiedenen<br />
Orten einem genau definierten Zeitplan<br />
folgt, wobei bestimmte Bereiche zu bestimmten Zeiten<br />
besonders schnell wachsen.<br />
3.1.2 Die Entstehung des Neocortex<br />
Die Mitose findet in verschiedenen Bereichen entlang<br />
des Neuralrohrs parallel statt, wobei subkortikale<br />
Strukturen etwas früher differenziert sind als<br />
die Schichten des Neocortex. Neuroblasten (unreife<br />
Vorformen der späteren Neurone), die subkortikale<br />
3.1 Gehirnentwicklung vor der Geburt 77
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
Strukturen bilden, werden größtenteils passiv von<br />
später gebildeten Zellen nach außen geschoben,<br />
während Neuroblasten, die später zum Neocortex<br />
gehören, von der ventrikulären Zone aus an Stützzellen<br />
(radialen Gliazellen) nach außen wandern<br />
und dabei die jüngeren Zellen immer an den älteren<br />
Zellen „vorbeiklettern“. Diesen Wachstumstrend von<br />
innen nach außen nennt man auch neurogenetische<br />
Sequenz. Sind die Neuroblasten an ihrem Bestimmungsort<br />
angekommen, beginnt die Differenzierung<br />
in die oben erwähnten Neuronentypen.<br />
Woher die Neuroblasten „wissen“, an welche Stelle<br />
des Cortex sie wandern müssen und zu welcher Art<br />
Neuron sie später einmal werden, ist noch umstritten.<br />
Die so genannte Protomap-Theorie besagt,<br />
dass das Schicksal jeder Zelle bereits am Startpunkt,<br />
in der proliferaten Einheit, feststeht (Racik, 1988). Im<br />
Unterschied dazu postuliert die Protocortex-Theorie,<br />
dass Axone der Neurone des Thalamus (die zu<br />
den subkortikalen Strukturen gehören und früher<br />
gebildet werden) und früher entwickelte benachbarte<br />
Neuroblasten durch die Art ihrer Kontaktbildung<br />
bestimmen, wie sich die jeweilige Zelle weiter entwickelt<br />
(Killackey, 1990). Andere Faktoren, die Einfluss<br />
auf die Migration und Differenzierung der Neurone<br />
nehmen, sind die zurückgelegte Distanz sowie<br />
die Wirkung molekularer Marker auf dem Weg bzw.<br />
am Zielort. Auch wenn im Einzelnen noch nicht<br />
klar ist, wie man sich diese komplexe Selbstorganisation<br />
des Gehirns vorstellen kann, lässt sich bereits<br />
heute sagen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit verschiedene<br />
Faktoren parallel dazu beitragen. Die<br />
geschilderten theoretischen Ansätze fassen Johnson<br />
und Munakata (2005) übersichtlich zusammen.<br />
Die Mitose und die Migration beginnen etwa in<br />
der dritten Woche nach der Befruchtung. Bereits in<br />
der fünften Schwangerschaftswoche wird das Großhirn<br />
mit seinen beiden Hemisphären angelegt. Da die<br />
Vermehrung von Neuronen in rasantem Tempo stattfindet,<br />
steht die Basisorganisation des Gehirns bereits<br />
im zweiten Schwangerschaftsmonat fest. Der Embryo<br />
hat zu diesem Zeitpunkt eine Größe von wenigen<br />
Zentimetern. Wenn man bedenkt, wie viele voneinander<br />
abhängige Prozesse in dieser frühen Entwicklungsphase<br />
stattfinden, ist es kaum verwunderlich,<br />
dass toxische Einflüsse zu Beginn der Schwangerschaft<br />
eine fatale Wirkung haben können. In der<br />
nachfolgenden Zeit wächst vor allem das Telencephalon<br />
beträchtlich: Bis etwa zur Hälfte der Schwangerschaft<br />
ist die Zellteilung weitgehend abgeschlossen.<br />
Nun verfügt der Fötus bereits über einige wichtige<br />
Funktionen, zu denen auch die Lernfähigkeit gehört.<br />
Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass man eine<br />
Abtreibung unter normalen Umständen nur vorher,<br />
nämlich innerhalb der ersten vierzehn Schwangerschaftswochen,<br />
straffrei durchführen kann. Im fünften<br />
Schwangerschaftsmonat werden zunächst die<br />
inneren kortikalen Schichten 6 und 5 sichtbar und<br />
mit den subkortikalen Schichten verschaltet. Die<br />
äußeren Cortexschichten reifen größtenteils bis zum<br />
achten postnatalen Lebensmonat, Schicht 1 entwickelt<br />
sich als letzte. Erst gegen Ende der Schwangerschaft<br />
werden die Gyri und Sulci des Neocortex sichtbar,<br />
die für die Oberfläche des menschlichen Gehirns<br />
so charakteristisch sind (vgl. Abb. 3.8).<br />
Wie bereits eingangs erwähnt, findet in verschiedenen<br />
Bereichen des Neocortex die Verarbeitung visueller,<br />
auditorischer und taktiler Informationen statt.<br />
Abbildung 3.8. Phasen der pränatalen Gehirnentwicklung<br />
vom 25. Tag bis zum 9. Monat (aus Kolb & Wishaw<br />
1996, S. 416)<br />
78 3 Was weiß man über die Reifung des Gehirns?
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Das Großhirn und das Zwischenhirn entwickeln sich<br />
aus dem embryonalen Vorderhirn (Prosencephalon).<br />
Ein anderes wichtiges Sinnesorgan des Kopfes, der für<br />
das Gleichgewicht zuständige Vestibularapparat, steht<br />
in enger Verbindung mit dem embryonalen Rautenhirn<br />
(Rhombencephalon). Aus ihm entwickelt sich<br />
das bereits erwähnte Kleinhirn, das für die unbewusste<br />
Regulation der Motorik und des Gleichgewichts<br />
verantwortlich ist. Ähnlich wie das Großhirn, stülpt<br />
sich auch das Kleinhirn zunehmend um die darunter<br />
befindlichen Strukturen. Dadurch wird das Rautenhirn<br />
in zwei Abschnitte gegliedert, von denen bereits<br />
die Rede war: das Metencephalon und das Myelencephalon<br />
(s. Tab. 3.1).<br />
3.1.3 Wachstum von Axonen, Dendritenbildung<br />
und Synaptogenese<br />
Auch wenn die Migration der Neuroblasten und die<br />
Differenzierung bei der Geburt noch nicht abgeschlossen<br />
sind – andere Entwicklungsschritte können<br />
erst folgen, wenn das künftige Neuron seinen<br />
endgültigen Platz eingenommen hat (oder sich ihm<br />
zumindest nähert). Das gilt sowohl für das Axonwachstum,<br />
das mit sieben bis 70 Mikrometern pro<br />
Stunde voran schreitet, sowie für die Dendritenbildung.<br />
Weitere Phasen der Hirnreifung, wie die Myelinisierung,<br />
beginnen, wenn die Axone weitgehend<br />
ausgewachsen sind. Das betrifft auch das Spreading,<br />
die verstärkte Bildung von Synapsen. Sie setzt ein,<br />
wenn sich die Dendriten bereits verzweigt haben.<br />
Und schließlich finden der Abbau von überschüssigen<br />
Synapsen und das Pruning/Shedding (das Verkümmern<br />
von ungenutzten Dendriten) statt, wenn<br />
auf der Grundlage bestehender Verknüpfungen und<br />
hinreichender Erfahrungen klar ist, welche Verbindungen<br />
benötigt werden und welche nicht. Auch die<br />
Apoptose – der programmierte Zelltod – von Neuronen<br />
ist ein normaler Entwicklungsprozess im<br />
Säuglingsalter, der zu einer gesteigerten Selektivität<br />
der synaptischen Übertragung beiträgt. Im Erwachsenenalter<br />
ist dieser Prozess eher die Ausnahme. Ein<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
Tabelle 3.2. Übersicht über wichtige Teilprozesse der Hirnreifung<br />
Prozesse, die primär pränatal ablaufen<br />
Mitose<br />
Migration<br />
Differenzierung<br />
Axonreifung<br />
Bildung von Neuroblasten in den proliferaten Einheiten der ventrikulären Zone<br />
Wanderung der Neuroblasten an ihren Bestimmungsort<br />
Differenzierung von Neuroblasten in unterschiedliche Neuronenarten<br />
Bildung und Wachstum von Axonen; Kontaktbildung zum Zielgebiet<br />
Prozesse, die primär postnatal ablaufen<br />
Dendritenbildung<br />
Synapsenbildung/<br />
Spreading<br />
Myelinisierung<br />
Pruning und Shedding<br />
Synapsenabbau<br />
Zelltod/Apoptose<br />
Bildung und Wachstum von Dendriten zum Empfang von Signalen anderer Neurone<br />
Vermehrte Bildung von Endknöpfchen<br />
Bildung einer isolierenden Fettschicht um die Axone zur beschleunigten Weiterleitung<br />
von Signalen<br />
Abbau von Dendriten und Synapsen, die auf Dauer nicht genutzt werden<br />
Absterben von Neuronen, die auf Dauer nicht genutzt werden<br />
3.1 Gehirnentwicklung vor der Geburt 79
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Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
verstärktes Absterben von Neuronen ist hier meist<br />
durch toxische Einflüsse (z. B. starker Alkoholkonsum)<br />
oder durch Erkrankungen des Zentralnervensystems<br />
verursacht.<br />
Alle bislang genannten Teilprozesse überlagern<br />
sich in gewissen Umfang. Tabelle 3.2 gibt eine Übersicht<br />
über die Abfolge wichtiger Entwicklungsschritte,<br />
die sich von der Embryonalphase über die gesamte<br />
Zeit der Schwangerschaft bis hin zu Jahren nach<br />
der Geburt vollziehen.<br />
3.2 Störungen der pränatalen Gehirnentwicklung<br />
Drogen, Medikamente oder Viren können das Gehirn<br />
und den Körper des sich entwickelnden Kindes<br />
nachhaltig schädigen. Drei Beispiele, die sich auf den<br />
Gebrauch weit verbreiteter Alltagsdrogen beziehen,<br />
mögen diese Zusammenhänge illustrieren. So ist<br />
etwa bekannt, dass Alkohol (insbesondere, wenn er<br />
schubweise und dann in großen Mengen zu Beginn<br />
der Schwangerschaft konsumiert wird) die Entwicklung<br />
des Sehsinns massiv stören kann und in Extremfällen<br />
sogar zur Erblindung beim Säugling führt.<br />
Kinder von Alkoholikerinnen kommen mit deutlich<br />
weniger Gewicht zur Welt und weisen spezifische<br />
morphologische Besonderheiten auf. Sie zeigen eine<br />
deutlich verminderte Intelligenz und verschiedenartige<br />
Verhaltensauffälligkeiten wie Ess-, Schlaf-, Aufmerksamkeits-,<br />
Sprach- und Angststörungen. Neueren<br />
Studien zufolge kann schon ein Drink pro Tag zu<br />
vermindertem Gehirnwachstum und Intelligenzeinbußen<br />
führen (Day et al., 2002).<br />
Bei anderen Alltagsdrogen, wie etwa dem Nikotin,<br />
ist die schädigende Wirkung subtiler: Mütter, die<br />
während der Schwangerschaft rauchen (auch passiv),<br />
vermindern die Sauerstoffzufuhr für ihr Kind: Nikotin<br />
besetzt die roten Blutplättchen, die den Sauerstoff<br />
transportieren, bei Mutter und Kind, weil Nikotin die<br />
Plazentaschranke genauso ungehindert passiert wie<br />
Alkohol. Zudem sorgt Nikotin für eine Verengung<br />
der Blutgefäße (auch jener, die zur Plazenta führen),<br />
so dass weniger Blut für die Versorgung des sich entwickelnden<br />
Organismus zur Verfügung steht. Vor<br />
diesem Hintergrund scheint es kaum verwunderlich,<br />
dass Babys von Raucherinnen im Durchschnitt kleiner<br />
und leichter auf die Welt kommen als Kinder von<br />
Nichtraucherinnen. Zusätzlich tragen Kinder von<br />
Raucherinnen besondere Risiken bezüglich ihrer<br />
Intelligenzentwicklung und Hörfähigkeit, und sie<br />
erleiden signifikant häufiger den plötzlichen Kindstod<br />
(Moore & Persaud, 2003). Auch der Konsum größerer<br />
Mengen von Koffein in Form von Kaffee (mehr<br />
als drei Tassen pro Tag), Tee oder Kakao geht mit<br />
einem niedrigen Geburtsgewicht, einer erhöhten<br />
Rate von Fehlgeburten und Entzugssymptomen<br />
beim Kind (Reizbarkeit, Erbrechen) nach der Geburt<br />
einher (Gilberg-Barness, 2000).<br />
Obwohl die konkreten Auswirkungen einzelner<br />
Substanzen oft schwer abschätzbar sind, weil in der<br />
Regel verschiedene Risikofaktoren zusammenkommen,<br />
zeigen diese Beispiele, dass ein gesundes Verhalten<br />
während der Schwangerschaft für eine normale<br />
Entwicklung des Kindes von zentraler Bedeutung ist.<br />
Ferner wird damit deutlich, dass bereits im Mutterleib<br />
externe Einflüsse die neurologische Entwicklung<br />
maßgeblich beeinflussen können. Einen Überblick<br />
über verschiedene pränatale Risiken finden interessierte<br />
Leser bei Moore und Persaud (2003).<br />
3.3 Gehirnentwicklung nach der Geburt<br />
Die neun Monate der Schwangerschaft sind sehr<br />
wichtig für eine ausreichende Entwicklung des Gehirns.<br />
Abhängig vom Zeitpunkt ihrer Geburt kommen<br />
Frühgeborene oft mit einem recht unreifen<br />
Gehirn zur Welt. Bei ihnen hat die Gyrifizierung<br />
unter Umständen noch gar nicht eingesetzt, ihr Cortex<br />
sieht äußerlich ganz glatt aus. Aber auch das<br />
Gehirn eines Termingeborenen ist noch nicht fertig<br />
entwickelt. Man vermutet sogar, dass die extrem<br />
lange postnatale Hirnreifung des Menschen einer<br />
der Gründe dafür ist, warum wir zu komplexeren<br />
geistigen Leistungen in der Lage sind als andere<br />
Wesen (Bourgeois, 2001). Sie erst ermöglicht es<br />
nämlich, unser biologisches Steuerzentrum optimal<br />
an die Gegebenheiten der Umwelt anzupassen.<br />
Einen aktuellen Hinweis für die Gültigkeit dieser<br />
80 3 Was weiß man über die Reifung des Gehirns?
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Annahme liefert eine Studie von Shaw et al. (2006),<br />
in der gezeigt wurde, dass Kinder, die sich später als<br />
besonders intelligent erwiesen, eine vergleichsweise<br />
langsamere Reifung des Frontallappens zeigten als<br />
Kinder, bei denen das nicht der Fall war. Damit stellt<br />
sich die Frage, welche Reifungsprozesse konkret<br />
nach der Geburt ablaufen. Im nächsten Abschnitt<br />
werden allgemeine Trends der postnatalen Hirnentwicklung<br />
beschrieben, die sich auf bereits erwähnte<br />
Teilprozesse beziehen.<br />
3.3.1 Dendritenbildung und Synaptogenese<br />
Die Dendritenbildung setzt in der Regel erst ein, wenn<br />
ein Neuron seine Endposition erreicht hat. Dendriten<br />
wachsen nicht wild (wie die Zweige eines Baumes),<br />
sondern sie kommen den Axonen, mit denen sie später<br />
Verbindung aufnehmen, entgegen. Erweist sich eine<br />
solche Verbindung in der Folge als wenig nützlich (selten<br />
gebraucht), verkümmern sie. Man spricht dann<br />
vom Pruning oder Shedding. Eng mit der Dendritenbildung<br />
verbunden ist die Synapsenbildung (Synaptogenese).<br />
Auch sie beginnt normalerweise erst, wenn<br />
das Neuron seinen Platz gefunden hat. Dabei lässt sich<br />
ein sehr interessanter Entwicklungstrend feststellen,<br />
der bis heute Stoff für heftige Diskussionen um die<br />
Existenz von sensiblen Phasen der Hirnreifung liefert:<br />
Zunächst wird ein massiver Überschuss an synaptischen<br />
Verbindungen produziert (Spreading) und<br />
anschließend wird nach dem Prinzip „Use it or loose<br />
it“ ausgewählt, welche Synapsen erhalten bleiben und<br />
welche wir wieder verlieren. Bourgeois (2001) spricht<br />
in diesem Zusammenhang von<br />
einer biologischen Reifungsphase, die sich primär<br />
vor der Geburt abspielt und die weitgehend unabhängig<br />
von Umwelterfahrungen sein soll;<br />
einer erfahrungsabhängigen Wachstumsphase,<br />
die zwar nach einem biologischen Plan abläuft,<br />
aber auf bestimmte Umweltreize angewiesen ist,<br />
um sich zu entfalten;<br />
einer erfahrungsabhängigen Abbauphase, in der<br />
sich entscheidet, welche Verbindungen in der<br />
Endauswahl erhalten bleiben.<br />
Die wohl bekanntesten Studien zu der Frage, wann<br />
und in welchen Gehirnbereichen der Auf- und Abbau<br />
von Synapsen stattfindet, stammen von Huttenlocher<br />
(1990) bzw. Huttenlocher und Dabholkar (1997). Sie<br />
untersuchten anhand von Hirnschnitten die Veränderung<br />
der Synapsendichte im auditorischen Cortex<br />
(Temporallappen), im visuellen Cortex (Occipitallappen)<br />
und im Präfrontalcortex (Frontallappen)<br />
von der pränatalen Zeit bis zum Erwachsenenalter.<br />
Ihre Daten machen deutlich, dass die Dichtekurven<br />
für die genannten Areale durchaus unterschiedlich<br />
aussehen (s. Abb. 3.9). So wird das Maximum für den<br />
visuellen Cortex noch innerhalb des ersten Lebensjahres<br />
erreicht, für den auditorischen Cortex und für<br />
den Präfrontalcortex aber erst im Kindesalter. Auch<br />
die Phase der stärksten Vernetzung und der Verlauf<br />
des anschließenden Abbaus synaptischer Verbindungen<br />
variieren beträchtlich zwischen den einzelnen<br />
Regionen. Kritisch muss angemerkt werden, dass<br />
neuere Analysen die zum Teil auffälligen Unterschiede<br />
im Timing bezüglich ihrer statistischen Bedeutung<br />
in Frage stellen, weil die Untersuchungen auf<br />
nur geringen Fallzahlen basieren. Da sich die Daten<br />
von Huttenlocher und Mitarbeitern aber durchaus<br />
sinnvoll mit Verhaltensdaten in Verbindung setzen<br />
lassen, ist es trotz methodischer Vorbehalte sinnvoll,<br />
vorerst mit ihnen weiterzuarbeiten.<br />
Lässt man die Unterschiede zwischen verschiedenen<br />
Cortexarealen einmal außer Betracht, so kann<br />
man festhalten, dass das Gehirn zwischen dem zweiten<br />
und dem sechsten Lebensjahr einen Grad der Vernetzung<br />
von Neuronen aufweist, der im späteren<br />
Leben nie mehr erreicht wird. Entsprechend erreicht<br />
der cerebrale Stoffwechsel etwas später, mit ca. sechs<br />
Jahren, sein Maximum und sinkt danach wieder<br />
beträchtlich. Warum es zu dieser zeitlichen Verzögerung<br />
kommt, ist noch nicht ganz geklärt. Es gilt aber<br />
zu bedenken, dass ein höherer Stoffwechsel nicht<br />
unbedingt auf einen höheren Grad der neuronalen<br />
Vernetzung hindeuten muss, sondern auch etwas mit<br />
der Effektivität der Informationsverarbeitung zu tun<br />
haben kann. Erwachsene zeigen gegenüber Grundschülern<br />
einen deutlich verringerten Metabolismus<br />
vor allem deshalb, weil sie Informationen gezielter<br />
und effizienter verarbeiten können.<br />
In neuerer Zeit wurden verschiedene Längsschnittstudien<br />
zur Veränderung der Dicke des Cortex durch-<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
3.3 Gehirnentwicklung nach der Geburt 81
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
Abbildung 3.9. Veränderung der<br />
Synapsendichte über das Lebensalter<br />
für verschiedene Cortexareale<br />
(nach Huttenlocher & Dabholkar<br />
1997, S. 170)<br />
geführt, die indirekten Aufschluss über die Synapsenund<br />
Dendritenbildung geben. So erreicht die Synaptogenese<br />
für den sensomotorischen Cortex ihren Höhepunkt<br />
bei der Geburt, für parietale und temporale<br />
assoziative Regionen im letzten Drittel des ersten<br />
Lebensjahres und für den Präfrontalcortex im Vorschulalter<br />
(Casey, Tottenham, Liston & Durston,<br />
2005). Diese Daten scheinen die allgemeinen Beobachtungen<br />
von Huttenlocher und Mitarbeitern zu<br />
bestätigen bzw. zu ergänzen.<br />
3.3.2 Myelinisierung und Apoptose<br />
Im Unterschied zur Dendriten- und Synapsenbildung<br />
ist die Myelinisierung vor allem für die Geschwindigkeit<br />
der Informationsweiterleitung relevant.<br />
Die Isolierung einzelner Axone beginnt in der<br />
zwölften bis vierzehnten Schwangerschaftswoche im<br />
Rückenmark und setzt sich bis ca. zum 40. Lebensjahr<br />
fort. Die wichtigste Phase mit den größten Veränderungen<br />
fällt dabei in die Zeit zwischen dem<br />
fünften Schwangerschaftsmonat und dem zweiten<br />
Lebensjahr. Will man konkrete Aussagen zum Zusammenhang<br />
zwischen biologischer Reifung und<br />
Verhalten machen, muss man sich einzelne Bereiche<br />
genauer anschauen. Nach Sampaio und Truwit<br />
(2001) lassen sich jedoch fünf allgemeine Regeln der<br />
Myelinisierung identifizieren:<br />
erst proximale, dann distale Verbindungen (von<br />
den Rezeptoren eines Sinnessystems über die primären<br />
zu den sekundären Arealen; vgl. Abb. 3.4),<br />
erst sensorische, dann motorische Verbindungen,<br />
erst projektive Verbindungen (spezifische Afferenzen,<br />
die vom Thalamus kommen), dann unspezifische<br />
(die von anderen Hirnbereichen kommen),<br />
erst zentrale, dann polare Bereiche des Telencephalons<br />
(von innen nach außen),<br />
erst occipitale, dann temporale Pole (vgl. Abb. 3.1).<br />
Im hohen Alter wird die Myelinschicht zum Teil<br />
wieder zurückgebildet. Bei bestimmten Alterserkrankungen<br />
(z. B. Alzheimer) spielt diese Reduktion<br />
eine ganz entscheidende Rolle. Denkprozesse laufen<br />
dadurch nicht nur verlangsamt ab, sondern verändern<br />
sich auch qualitativ, wenn der Abbau nicht in<br />
allen Regionen gleichmäßig verläuft.<br />
Die am Ende von Tabelle 3.2 ebenfalls aufgeführte<br />
Apoptose, der Zelltod von Neuronen, spielt unter<br />
normalen Umständen eine weitaus weniger wichtige<br />
Rolle für die Hirnreifung als die anderen bislang<br />
benannten Teilprozesse. Über das Leben verteilt verlieren<br />
wir etwa 7 % unseres Neuronenbestandes,<br />
wobei dieser Verlust angesichts der großen Überkapazität<br />
keine entscheidenden Folgen hat, wenn er<br />
sich gleichmäßig verteilt. Es gibt aber Bereiche in<br />
unserem Gehirn, wie etwa den Hippocampus, wo<br />
Neurone unter bestimmten schädigenden Umweltbedingungen<br />
(z. B. bei Dauerstress) besonders leicht<br />
zerstört werden, was nachhaltige Konsequenzen für<br />
die geistige Leistungsfähigkeit (hier: Gedächtnisund<br />
Lernleistungen) haben kann. Um diesem Problem<br />
zu begegnen, ist der Hippocampus eine der<br />
82 3 Was weiß man über die Reifung des Gehirns?
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wenigen Regionen unseres Zentralnervensystems, in<br />
dem auch nach der Geburt noch neue Neurone<br />
gebildet werden können. Diese Fähigkeit zur Neubildung<br />
von Neuronen nimmt allerdings in der<br />
zweiten Hälfte des Lebens (ab ca. 40 Jahren) ab, so<br />
dass sich die Reparatur- und Kompensationsmöglichkeiten<br />
mit dem Alter verschlechtern. Dies ist vermutlich<br />
ein Grund dafür, warum ältere Menschen<br />
schwerer lernen und sich nicht so gut an neu Gelerntes<br />
erinnern können.<br />
3.4 Postnatale Gehirnentwicklung und<br />
interindividuelle Unterschiede<br />
Die postnatale Gehirnentwicklung ist zum Teil genetisch<br />
vorprogrammiert. Das gilt etwa für das Größenwachstum<br />
bestimmter Hirnareale, für die Lateralisierung<br />
einzelner kognitiver Funktionen, aber<br />
auch für den Grad der Vernetzung und der Myelinisierung<br />
lokaler neuronaler Strukturen. Diese genetischen<br />
Unterschiede sind zweifellos mit dafür verantwortlich,<br />
dass Eltern und ihre Kinder oft ähnliche<br />
Talente und Persönlichkeitseigenschaften aufweisen.<br />
Im Hinblick auf bestimmte neuronale Entwicklungsprozesse<br />
spielen jedoch auch Erfahrungen eine zentrale<br />
Rolle: Vereinfacht ausgedrückt kann man sagen,<br />
dass die Gene primär determinieren, wann und wo<br />
Spreading bzw. Pruning auftritt. In welchem Umfang<br />
Synapsen und Dendriten auf- bzw. abgebaut werden<br />
und welche Neurone konkret davon betroffen sind,<br />
hängt dagegen vor allem vom konkreten Input ab. So<br />
scheint beispielsweise die Seherfahrung vor Ende des<br />
ersten Lebensjahres für die Entwicklung der räumlichen<br />
Wahrnehmung von großer Bedeutung zu sein,<br />
weil in dieser Zeit die Verschaltung der Neuronen für<br />
das rechte und linke Auge im visuellen Cortex erfolgt.<br />
Für die Entwicklung der Sprachfähigkeiten muss insbesondere<br />
die Kindergarten- und frühe Grundschulzeit<br />
als relevant erachtet werden, weil in diesem Zeitraum<br />
das Spreading und Pruning im Broca-Areal<br />
stattfindet. Interindividuelle Unterschiede sind also<br />
stets das Produkt von Reifung und Erfahrung. Einen<br />
Überblick zu diesem Thema bieten Bailey, Bruer,<br />
Symons und Lichtman (2001).<br />
Denkanstöße<br />
Das Gehirn durchläuft eine rasante pränatale<br />
Entwicklung. Warum können vor dem<br />
Hintergrund dieser Erkenntnisse toxische<br />
Einflüsse (z. B. Alkohol, Nikotin, andere Drogen,<br />
Infektionen) gerade zu Beginn der<br />
Schwangerschaft besonders schwerwiegende<br />
Folgen für die kindliche Entwicklung haben?<br />
In vielen Bereichen der kognitiven und emotionalen<br />
Entwicklung spricht man von der<br />
frühen Kindheit als einer „sensiblen Phase“<br />
des Lernens und meint damit, dass die Erfahrungen,<br />
die man in dieser Zeit macht, prägende<br />
Wirkung haben. Die oben genannten<br />
Erkenntnisse lassen diese Hypothese grundsätzlich<br />
plausibel erscheinen. Warum?<br />
4 Zusammenfassung<br />
Der Beitrag beschäftigt sich mit den neurologischen<br />
Grundlagen von Entwicklung. Die Ausführungen<br />
sollen den Leser in die Lage versetzen, Korrespondenzen<br />
zwischen spezifischen Aspekten der Verhaltensentwicklung<br />
und Phasen der Hirnreifung in<br />
definierten Arealen zu verstehen. Dabei werden folgende<br />
Aspekte erörtert:<br />
Wie ist unser Gehirn aufgebaut? Anatomisch lässt<br />
sich das Gehirn zunächst in zwei große Abschnitte<br />
gliedern: das Großhirn und den Hirnstamm. Das<br />
Groß- oder Endhirn gliedert sich in vier Bereiche<br />
(Lappen) und ist vom Neocortex bedeckt. Weitere<br />
wichtige Strukturen des Großhirns sind das Corpus<br />
Callosum, das limbische System und die Basalganglien.<br />
Als Hirnstamm bezeichnet man zusammenfassend<br />
das Zwischen-, Mittel und Hinterhirn sowie<br />
das verlängerte Rückenmark. Die Hirnstamm-Abschnitte<br />
bestehen wiederum aus einzelnen Teilstrukturen.<br />
Auf einer funktionalen Ebene lassen sich Areale<br />
des Neocortex dahingehend beschreiben, welche<br />
Art von Informationen jeweils verarbeitet werden,<br />
und auf welcher hierarchischen Stufe die Verarbeitung<br />
erfolgt. Nervenzellen bilden die Bausteine<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
4 Zusammenfassung 83
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 3<br />
Neurologische<br />
Grundlagen<br />
der einzelnen Gehirnbereiche. Jedes Neuron weist<br />
verschiedene Bestandteile (Dendriten, Zellkörper,<br />
Axon) auf, die auf die Aufnahme oder Weiterleitung<br />
von Informationen spezialisiert sind.<br />
Wie gewinnt man Daten zur Gehirnentwicklung?<br />
Verschiedene Methoden vermitteln Erkenntnisse über<br />
den Aufbau und die Arbeitsweise des Gehirns. Während<br />
Gehirnschnitte und die Magnet-Resonanz-<br />
Tomographie (MRT) anatomische Veränderungen des<br />
sich entwickelnden Gehirns ermitteln können, erlauben<br />
moderne bildgebende Verfahren die Erfassung der<br />
Gehirnaktivität, während ein Proband verschiedene<br />
Aufgaben bearbeitet. Die funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie<br />
(fMRT), die Positronen-Emissions-Tomographie<br />
(PET) und die Nahinfrarot-Spektroskopie<br />
(NIRS) erfassen dabei neuronale Aktivität<br />
über Veränderungen des cerebralen Blutflusses. Die<br />
Elektro- und die Magnet-Encephalographie (EEG<br />
bzw. MEG) messen dagegen Auswirkungen von Veränderungen<br />
der neuronalen Aktivität, die sich an der<br />
Schädeloberfläche widerspiegeln. Jedes dieser Verfahren<br />
bietet gewisse Vor- und Nachteile, so dass die Eignung<br />
für entwicklungspsychologische Fragestellungen<br />
jeweils einzeln bewertet werden muss.<br />
Was weiß man über die Reifung des Gehirns? Die<br />
Entwicklung des Gehirns beginnt bereits in der<br />
zweiten Schwangerschaftswoche und setzt sich bis<br />
ins Erwachsenenalter fort. Vor der Geburt entstehen<br />
die zukünftigen Neurone durch Teilung von Stammzellen<br />
(Mitose) und wandern an ihren Bestimmungsort<br />
im Gehirn (Migration). Die Schichten des<br />
Neocortex bilden sich dabei von innen nach außen.<br />
Nach der Migration wachsen die Fortsätze der Neuronen<br />
(Dendriten und Axone), es bilden sich Verbindungen<br />
zwischen Neuronen (Synaptogenese)<br />
und die Axone werden teilweise mit einer Myelinschicht<br />
isoliert. Diese Prozesse dauern bis in die<br />
postnatale Zeit an. Hierbei laufen Auf- und Abbauprozesse<br />
gleichzeitig ab, was zu einer erfahrungsabhängigen<br />
Selektivität der gebildeten Verknüpfungen<br />
führt. Schädigende Einflüsse können die Entwicklung<br />
des zentralen Nervensystems bereits während<br />
der Schwangerschaft beeinträchtigen.<br />
Weiterführende Literatur<br />
Nelson, C.A. & Luciana, M. (Eds.). (2001). Handbook of developmental<br />
cognitive neuroscience. Cambridge: Bradford Book.<br />
Präsentiert Erkenntnisse zum Zusammenhang von entwicklungsbedingten<br />
Veränderungen des Verhaltens und der zugrundeliegenden<br />
neuronalen Strukturen in Bereichen wie Sehen, Hören,<br />
Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache, Temperament, Motorik<br />
oder neuronale Plastizität.<br />
de Haan, M. & Johnson, M.H. (Eds.). (2003). The cognitive neuroscience<br />
of development. Hove: Psychology Press.<br />
Bietet einen umfassenden Überblick über aktuelle Forschungsfragen<br />
an der Schnittstelle zwischen <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
und kognitiven Neurowissenschaften.<br />
Bailey, D.B., Bruer, J.T., Symons, F.J., & Lichtman, J.W. (Eds.). (2001).<br />
Critical thinking about critical periods. Baltimore, MD: Paul H<br />
Brookes Publishing.<br />
Enthält eine kritische Diskussion über die Annahme von „sensiblen<br />
Phasen“ in der frühen Gehirnentwicklung und deren Auswirkungen<br />
auf verschiedene Verhaltensbereiche.<br />
Johnson, M.H. & Munakata, Y. (2005). Processes of change in brain<br />
and cognitive development. Trends in Cognitive Sciences, 9 (3),<br />
152–158.<br />
Erläutert Zusammenhänge zwischen neuronalen Veränderungen<br />
und der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten.<br />
84 4 Zusammenfassung
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 4<br />
Kultur, Ökologie und Entwicklung<br />
Rolf <strong>Oerter</strong><br />
Kapitel 4<br />
Kultur, Ökologie<br />
und Entwicklung<br />
Uri Bronfenbrenner (1978) stellte in den 70er Jahren<br />
provokativ fest: „<strong>Entwicklungspsychologie</strong> ist die<br />
Wissenschaft fremdartigen Verhaltens von Kindern<br />
in fremden Situationen mit fremden Erwachsenen<br />
in kürzestmöglichen Zeitabschnitten“ (S. 33). Es ist<br />
eben einfacher und griffiger, menschliche Entwicklung<br />
„für sich“ zu untersuchen und zu beschreiben.<br />
Der Mensch wird dabei als selbstregulierendes System<br />
aufgefasst, das mit beliebigen äußeren Reizen fertig zu<br />
werden hat. Auch vom Augenschein her präsentiert<br />
sich uns der Mensch als wohlabgegrenztes, für sich<br />
existierendes Lebewesen. Nun zeigt aber schon die<br />
Biologie, dass Lebewesen mit ihrer Umwelt in Symbiose<br />
leben. Das Ökosystem eines Lebewesens ist keineswegs<br />
beliebig. Es enthält genau die Bedingungen,<br />
die für die Erhaltung des Individuums wie der Art<br />
erforderlich sind. Umgekehrt trägt das Lebewesen<br />
zur Erhaltung des Ökosystems bei, seine Ausrottung<br />
bedroht zugleich die Umwelt. Dass auch Menschen in<br />
einem solchen biologischen Ökosystem leben, zeigt<br />
sich heute angesichts der Bedrohung dieses Systems<br />
durch den Menschen selbst besonders deutlich.<br />
Bestandteile des Ökosystems. Menschliche Ökosysteme<br />
umfassen aber mehr als biologische Lebensbedingungen.<br />
Zu ihnen gehören<br />
die in einer Kultur erzeugten materiellen Gegenstände<br />
wie Häuser, Möbel und Werkzeuge,<br />
die Regeln des Zusammenlebens,<br />
die impliziten oder expliziten Handlungsvorschriften,<br />
die in der Kultur für menschliche Entwicklung<br />
vorgesehenen Einrichtungen wie Familie und<br />
Schule,<br />
soziale Partner und soziale Gruppen und<br />
das ganze gesellschaftliche System, in das ein<br />
Individuum eingebettet ist.<br />
Diese Komponenten der menschlichen Lebenswelt<br />
sind Bestandteile einer räumlich-materiellen Umwelt,<br />
die in der Sozialpsychologie und dem Interaktionismus<br />
einbezogen und zu einer ökologischen<br />
bzw. ökopsychologischen Betrachtungsweise weitergeführt<br />
wurden.<br />
Wirkung und Wechsel des Ökosystems. Für die<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> erscheint die ökologische<br />
Perspektive unentbehrlich, wenn man sich zwei<br />
Sachverhalte vergegenwärtigt. Erstens ist die Beschreibung<br />
und das Verständnis früher Entwicklung<br />
ohne die Wirkung des Ökosystems nicht möglich,<br />
denn das Ökosystem gewährleistet erst die biologische<br />
und psychosoziale Entwicklung. Kapitel 4<br />
wird darlegen, wie die beteiligten Partner, vor<br />
allem Mutter, Vater und Kind, in Wechselbeziehung<br />
zueinander stehen und welche Rolle der Gegenstands-<br />
und Umweltbezug mit zunehmendem Alter<br />
spielt.<br />
Zweitens wechseln die Umwelten im Laufe der<br />
Entwicklung beträchtlich. Das Kind verlässt den<br />
Lebensraum Familie und gelangt in die neue Umwelt<br />
Schule. Später werden die Gruppe der Gleichaltrigen<br />
und die Lebensräume, in denen sie agiert,<br />
immer wichtiger (s. Kap. 6 und 7). Der Eintritt ins<br />
Berufsleben bringt erneut einen Umweltwechsel<br />
großen Ausmaßes mit sich, und die Gründung einer<br />
Familie (mit oder ohne formelle Eheschließung)<br />
fügt ein weiteres Ökosystem hinzu. Der Lebensraum<br />
im höheren Alter ist demgegenüber oft eingeengt<br />
oder zu wenig an die Handlungsmöglichkeiten älterer<br />
Menschen angepasst.<br />
Daher spricht Bronfenbrenner (1979) bei der<br />
menschlichen Entwicklung vom sich verändernden<br />
Individuum in einer sich wandelnden Umwelt.<br />
Kultur, Ökologie und Entwicklung 85
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: UB Heidelberg So, Okt 23rd 2016, 12:06<br />
Kapitel 4<br />
Kultur, Ökologie<br />
und Entwicklung<br />
die Hausaufgaben fertig hat, darf es zum Spielen. Im<br />
Lebensraum des Kindes ist die physikalische Anordnung<br />
des Zimmers, Wohnhauses und Spielplatzes<br />
repräsentiert. Wesentlich ist dabei die subjektive<br />
Bedeutung physikalischer Räume. Der Spielplatz ist<br />
attraktiv und besitzt (in der Terminologie von Kurt<br />
Lewin) hohe positive Valenz. Die Hausaufgabe und<br />
mit ihr die materiellen Gegenstände Schulheft,<br />
Schulbuch und Arbeitszimmer besitzen negative<br />
Valenz. Sie sind eine „Barriere“ zwischen der eigenen<br />
Person und dem Spielplatz. Um zum Spielplatz zu<br />
gelangen, muss die Barriere überwunden, also die<br />
Hausaufgabe erledigt werden.<br />
Abbildung 4.1. Uri Bronfenbrenner (1917–2005)<br />
Definition<br />
Der Lebensraum im Sinne von Lewin ist also<br />
keine rein subjektive Konstruktion, sondern<br />
basiert auf objektiven Gegebenheiten. Der<br />
physikalische und soziale Raum wird zum<br />
Lebensraum durch die subjektive Bedeutung,<br />
die seine Komponenten erhalten. Handeln ist<br />
für Lewin ein Sich-Umherbewegen (Lokomotion)<br />
im Lebensraum.<br />
1 Lebensraum, Setting, ökologisches<br />
System<br />
Wir beginnen mit zwei Begriffen, die auch historisch<br />
das ökologische Verständnis menschlicher Entwicklung<br />
eingeleitet haben, dem Begriff des Lebensraumes<br />
(Lewin, 1936) und dem des Settings (Barker,<br />
1968). Lebensraum akzentuiert stärker die subjektive<br />
Bedeutung, die Umwelt im menschlichen Leben<br />
besitzt, während Setting stärker objektive Aspekte<br />
berücksichtigt, indem es alle Beteiligten eines Umweltausschnittes<br />
gleichberechtigt behandelt.<br />
1.1 Lebensraum<br />
Ein Kind sitzt bei der Hausaufgabe und blickt sehnsüchtig<br />
aus dem Fenster hinunter auf den Spielplatz,<br />
wo sich die Kameraden tummeln. Aber erst wenn es<br />
Wechsel des Lebensraums. Ebenso kann auch Entwicklung<br />
als Sich-Fortbewegen von einer Region in<br />
eine andere aufgefasst werden. Das Kind bewegt sich<br />
aus dem Lebensraum Familie in den Lebensraum<br />
Schule, der Jugendliche später in den Lebensraum<br />
Beruf und Arbeit. Gleichzeitig verlässt er den bisherigen<br />
Lebensraum der Familie gänzlich und gründet<br />
als Erwachsener eine eigene Familie, d. h., er baut<br />
einen neuen Lebensraum auf, was auch mit räumlich-materiellen<br />
Aspekten viel zu tun hat (Wohnungssuche,<br />
Wohnungseinrichtung, Umgestaltung<br />
der Wohnung bei der Ankunft des ersten Kindes;<br />
s. Kap. 4 und 7).<br />
Ausdifferenzierung. Lewin (1946) beschreibt diese<br />
menschliche Entwicklung auch als Ausdifferenzierung<br />
des Lebensraums selbst. Besteht dieser anfangs<br />
nur aus wenigen Regionen, die überdies ineinander<br />
übergehen, so vermehren sich die Regionen mit<br />
zunehmendem Alter bzw. fortschreitender Entwicklung;<br />
manche werden scharf voneinander geschie-<br />
86 1 Lebensraum, Setting, ökologisches System
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Kapitel 4<br />
Kultur, Ökologie<br />
und Entwicklung<br />
Abbildung 4.2. Die Differenzierung des Lebensraums in verschiedenen Stadien der Individualentwicklung unter<br />
Berücksichtigung verschiedener Abschnitte der Zeitperspektive (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) und zweier<br />
Realitätsebenen (Realität vs. Irrealität). Unter (a) ist der Lebensraum eines jüngeren Kindes dargestellt, unter (b) der<br />
Lebensraum eines älteren Kindes. Dieser weist in dreierlei Hinsicht einen größeren Differenzierungsgrad auf: hinsichtlich<br />
(1) der Anzahl der Umweltbereiche, (2) der Spannweite der Zeitperspektive und (3) der Abgehobenheit von<br />
Realitäts- und Irrealitätsebene (nach Lewin, 1946, S. 798). K = Kind; R = Realitätsebene; I = Irrealitätsebene; ps.<br />
Vg. = psychologische Vergangenheit; ps. Gg. = psychologische Gegenwart; ps. Zk. = psychologische Zukunft (Heckhausen,<br />
1980, S. 193)<br />
den, andere sind weniger klar getrennt. Abbildung<br />
4.2 zeigt den Lebensraum eines jüngeren und eines<br />
älteren Kindes.<br />