Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter - Siegler, DeLoache,Eisenberg
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Robert <strong>Siegler</strong> · Nancy <strong>Eisenberg</strong><br />
Judy De Loache · Jenny Saffran<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
<strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong><br />
Jugend alter<br />
Deutsche Ausgabe<br />
herausgegeben von Sabina Pauen<br />
4. Auflage
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>
<br />
Für die, die wir lieben
Robert <strong>Siegler</strong><br />
Nancy <strong>Eisenberg</strong><br />
Judy <strong>DeLoache</strong><br />
Jenny Saffran<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
<strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>-<br />
<strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong><br />
4. Auflage<br />
Aus dem Amerikanischen übersetzt<br />
von Katharina Neuser-von Oettingen<br />
unter Mitarbeit von Joach<strong>im</strong> Grabowski<br />
<strong>und</strong> Edeltraud Schönfeldt<br />
Deutsche Ausgabe herausgegeben<br />
von Sabina Pauen
<br />
Robert <strong>Siegler</strong><br />
Pittsburgh, USA<br />
Nancy <strong>Eisenberg</strong><br />
Tempe, USA<br />
Judy <strong>DeLoache</strong><br />
Charlottesville, USA<br />
Jenny Saffran<br />
Madison, USA<br />
ISBN 978-3-662-47027-5 ISBN 978-3-662-47028-2 (eBook)<br />
DOI 10.1007/978-3-662-47028-2<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />
Daten sind <strong>im</strong> Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />
First published in the United States by W. H. Freeman and Co., New York, © 2014 by W. H. Freeman and Company. All rights reserved.<br />
Erstmals erschienen 2014 bei W. H. Freeman and Company, New York, © 2014 W. H. Freeman and Company. Alle Rechte vorbehalten<br />
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011, 2005, 2016<br />
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz<br />
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Der Verlag, die Autoren <strong>und</strong> die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben <strong>und</strong> Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt<br />
der Veröffentlichung vollständig <strong>und</strong> korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen,<br />
ausdrücklich oder <strong>im</strong>plizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.<br />
Planung: Marion Krämer<br />
Übersetzung: Aus dem Amerikanischen übersetzt von Katharina Neuser-von Oettingen unter Mitarbeit von Joach<strong>im</strong> Grabowski <strong>und</strong><br />
Edeltraud Schönfeldt<br />
Gedruckt auf säurefreiem <strong>und</strong> chlorfrei gebleichtem Papier<br />
Springer-Verlag GmbH Berlin Heidelberg ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
V<br />
Vorwort zur amerikanischen Auflage<br />
Im Forschungsfeld der <strong>Kindes</strong>entwicklung erleben<br />
wir eine aufregende Zeit. Das vergangene Jahrzehnt<br />
brachte neue Theorien, neue Wege des Denkens,<br />
neue Forschungsbereiche <strong>und</strong> zahllose neue Bef<strong>und</strong>e<br />
auf diesem Gebiet. Wir haben das vorliegende Buch<br />
ursprünglich geschrieben, um dieses stetig wachsende<br />
Wissen über Kinder <strong>und</strong> ihre Entwicklung<br />
zu beschreiben <strong>und</strong> unsere Begeisterung über den<br />
Fortschritt zu vermitteln, der be<strong>im</strong> Verstehen der<br />
Entwicklungsprozesse erzielt wurde. Wir freuen uns,<br />
dieses Bestreben mit Erscheinen der vierten Auflage<br />
von <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong><br />
fortsetzen zu können.<br />
Als Lehrende <strong>im</strong> Bereich <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
sind wir uns der Anforderungen bewusst, die sich<br />
be<strong>im</strong> Versuch stellen, die Fortschritte <strong>und</strong> Entdeckungen<br />
zusammen mit den wichtigsten früheren Vorstellungen<br />
<strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>en <strong>im</strong> Rahmen eines Semesters<br />
darzustellen. Deshalb haben wir nicht enzyklopädische<br />
Vollständigkeit angestrebt, sondern uns darauf<br />
konzentriert, die wichtigsten Entwicklungsphänomene<br />
herauszuarbeiten <strong>und</strong> sie in hinlänglicher Tiefe<br />
zu beschreiben, um sie für Studierende sinnvoll <strong>und</strong><br />
einprägsam zu machen. Kurzum, unser Ziel bestand<br />
darin, ein Lehrbuch zu schreiben, das als Gr<strong>und</strong>lage<br />
einer Lehrveranstaltung zur <strong>Kindes</strong>entwicklung dienen<br />
kann <strong>und</strong> für Studierende <strong>und</strong> Lehrende gleichermaßen<br />
schlüssig <strong>und</strong> unterhaltsam ist.<br />
Klassische Themen<br />
Der Ausgangspunkt für die Konzeption dieses Buches<br />
besteht darin, dass ganz verschiedene Bereiche<br />
der <strong>Kindes</strong>entwicklung von einer kleinen Anzahl<br />
gemeinsamer Themen zusammengehalten werden.<br />
Diese Themen lassen sich in Form von Fragen formulieren,<br />
welche die Forschung zur <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
zu beantworten versucht:<br />
1. Wie formen Anlage <strong>und</strong> Umwelt gemeinsam die<br />
Entwicklung?<br />
2. Wie formen Kinder ihre eigene Entwicklung?<br />
3. In welcher Hinsicht verläuft Entwicklung kontinuierlich,<br />
in welcher diskontinuierlich?<br />
4. Wie ergeben sich Veränderungen?<br />
5. Wie beeinflusst der soziokulturelle Kontext die<br />
Entwicklung?<br />
6. Wie kommt es, dass sich Kinder so stark voneinander<br />
unterscheiden?<br />
7. Wie kann Forschung zur Förderung des <strong>Kindes</strong>wohls<br />
beitragen?<br />
Diese sieben Themen bilden die Kernstruktur des<br />
Buches. Sie werden in ▶ Kap. 1 anschaulich eingeführt<br />
<strong>und</strong> werden in den sich daran anschließenden<br />
14 Kapiteln thematisch <strong>im</strong>mer wieder aufgegriffen,<br />
wenn sie inhaltlich wichtig sind. Im Schlusskapitel<br />
werden diese sieben Themen als Rahmen genutzt,<br />
um die jeweils wichtigen Bef<strong>und</strong>e aus allen Entwicklungsbereichen<br />
einzuordnen. Durch die kontinuierliche<br />
Behandlung der gleichen Fragen können wir<br />
eine Geschichte erzählen, die mit einer Einleitung<br />
beginnt (in der wir die Themen vorstellen), einen<br />
Mittelteil besitzt (in dem wir die themenrelevanten<br />
Bef<strong>und</strong>e darstellen) <strong>und</strong> einen Schluss hat (in dem wir<br />
einen Überblick darüber geben, was die Studierenden<br />
über die einzelnen Themen gelernt haben). Wir sind<br />
überzeugt, dass diese themenbezogene Betonung <strong>und</strong><br />
Strukturierung den Studierenden nicht nur hilft, die<br />
Fragen zur <strong>Kindes</strong>entwicklung zu verstehen, sondern<br />
ihnen – am Ende der Lehreinheit – auch ein stärkeres<br />
Gefühl der Zufriedenheit <strong>und</strong> der Vollständigkeit des<br />
Lehrstoffs vermittelt.<br />
Die aktuelle Perspektive<br />
Das Ziel, eine durchweg zeitgemäße, aktuelle Perspektive<br />
auf die <strong>Kindes</strong>entwicklung zu bieten, hat sowohl<br />
den Aufbau als auch die Inhalte des Buches best<strong>im</strong>mt.<br />
Völlig neue Bereiche <strong>und</strong> Ansätze haben sich herausgebildet,<br />
die zum Teil noch gar nicht existierten, als<br />
die meisten der heute vorliegenden Lehrbücher zur<br />
<strong>Kindes</strong>entwicklung ursprünglich verfasst wurden.<br />
Der Aufbau von <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong><strong>und</strong><br />
<strong>Jugendalter</strong> folgt der Bestrebung, diese neuen<br />
Themen <strong>und</strong> Ansätze <strong>im</strong> Kontext des Forschungsfeldes<br />
entsprechend dem aktuellen Stand vorzustellen<br />
<strong>und</strong> nicht in Aufbauschemata hineinzuzwängen, die<br />
dem Forschungsfeld zwar früher einmal angemessen<br />
waren, es heutzutage aber nicht mehr sind.<br />
Nehmen wir den Fall von Piagets Theorie <strong>und</strong> der dazugehörigen<br />
Forschungen neueren Datums. Meistens<br />
wird die Theorie in einem eigenen Kapitel vorgestellt,<br />
von dem drei Viertel eine ausführliche Beschreibung<br />
der Theorie enthalten <strong>und</strong> der Rest aktuelle Forschungsarbeiten<br />
darstellt, die auf Probleme mit der<br />
Theorie aufmerksam machen. Bei dieser Vorgehensweise<br />
w<strong>und</strong>ern sich die Studenten, warum man der<br />
Theorie so viel Raum gibt, wenn die neuere Forschung<br />
doch zeigt, dass sie in vielerlei Hinsicht nicht zutrifft.<br />
Tatsache ist, dass sich die Forschungsrichtung, die<br />
vor über vierzig Jahren als Versuch begann, Piagets
VI<br />
Vorwort zur amerikanischen Auflage<br />
Theorie in Frage zu stellen, seitdem zu einem wichtigen<br />
eigenständigen Gebiet entwickelt hat – dem<br />
Bereich der Konzeptentwicklung. Forschungen zur<br />
Konzeptentwicklung bieten umfangreiche Einsichten<br />
zu faszinierenden Fragen, beispielsweise wie Kinder<br />
menschliche Wesen, Pflanzen, Tiere <strong>und</strong> die physikalische<br />
Welt verstehen. Wie in anderen Forschungszusammenhängen<br />
zielen die meisten Untersuchungen<br />
auch hier vorrangig darauf ab, Belege für aktuelle<br />
Annahmen zu entdecken – nicht für oder gegen die<br />
Annahmen Piagets.<br />
Wir haben uns in zweifacher Weise der veränderten<br />
Forschungslandschaft angepasst. Erstens beschreibt<br />
unser Kapitel „Theorien der kognitiven Entwicklung“<br />
(▶ Kap. 4) die gr<strong>und</strong>legenden Annahmen Piagets in<br />
aller Ausführlichkeit <strong>und</strong> bringt seinem Vermächtnis<br />
dadurch gebührenden Respekt entgegen, dass<br />
es sich auf diejenigen Aspekte seines Gesamtwerkes<br />
konzentriert, die sich als nachhaltig erwiesen haben.<br />
Zweitens behandelt das Kapitel „Die Entwicklung von<br />
Konzepten“ (▶ Kap. 7) auf neue Art die Fragestellungen,<br />
die von Piagets Theorie angeregt wurden, indem<br />
es sich auf moderne Ansätze <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>e zu diesen<br />
Fragestellungen konzentriert. Durch eine solche Vorgehensweise<br />
können wir den Studierenden einiges<br />
über die zahlreichen interessanten Annahmen <strong>und</strong><br />
Beobachtungen vermitteln, die auf diesem Gebiet entstanden<br />
sind, ohne neue Bef<strong>und</strong>e künstlich als „pro“<br />
oder „kontra“ Piaget kategorisieren zu müssen.<br />
Ein Lehrbuch auf der Gr<strong>und</strong>lage des aktuellen Kenntnisstandes<br />
gibt uns die Chance, wichtige Positionen<br />
innerhalb von Bereichen wie Epigenetik oder Verhaltensgenetik,<br />
Gehirnentwicklung, pränatales Lernen,<br />
das Denken des Säuglings, der Erwerb wissenschaftlicher<br />
Fähigkeiten, die emotionale Entwicklung, prosoziales<br />
Verhalten <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaftsmuster aufzunehmen<br />
– alles Bereiche, die sich rasant entwickeln.<br />
In allen diesen Forschungsgebieten waren in den vergangenen<br />
Jahren wichtige Durchbrüche zu verzeichnen,<br />
<strong>und</strong> ihre wachsende Bedeutung führte in dieser<br />
Auflage zu noch stärkerer Gewichtung.<br />
Zur Sache kommen<br />
Unser Bestreben, eine aktuelle, geradlinige Herangehensweise<br />
zu bieten, führte zu weiteren Abweichungen<br />
vom traditionellen Aufbau eines Lehrbuchs. Nach<br />
unserer Erfahrung belegen die heutigen Studenten<br />
Veranstaltungen zur <strong>Kindes</strong>entwicklung aus ganz unterschiedlichen<br />
praktischen Erwägungen <strong>und</strong> wollen<br />
vor allem etwas über Kinder lernen. In der Lehrbuchtradition<br />
kamen erst nach zwei, drei oder gar vier Kapiteln<br />
– über die Geschichte des Forschungsgebiets,<br />
über die wichtigen Theorien, über Forschungsmethoden,<br />
über Genetik – die Kinder selbst als Forschungsthema<br />
an die Reihe. Wir wollten demgegenüber von<br />
vornherein an die ursprüngliche Motivation der Studentinnen<br />
<strong>und</strong> Studenten anknüpfen.<br />
Statt also das Buch mit einer ausführlichen Darstellung<br />
zur Geschichte des Fachs zu eröffnen, beschränken wir<br />
uns <strong>im</strong> ersten Kapitel auf einen kurzen Überblick über<br />
den sozialen <strong>und</strong> intellektuellen Kontext, aus dem die<br />
wissenschaftliche Beschäftigung mit Kindern entstand;<br />
<strong>und</strong> auch in den nachfolgenden Kapiteln liefern wir<br />
historische Hintergründe <strong>im</strong>mer dann, wenn sie sachdienlich<br />
sind. Statt eines einleitenden „Blockbuster“-<br />
Theoriekapitels, das alle wichtigen kognitiven <strong>und</strong><br />
sozialen Theorien in einem Kapitel sammelt (an einer<br />
Stelle, die weit von den Inhaltskapiteln entfernt liegt, in<br />
denen diese Theorien angewendet werden), erläutern<br />
wir in ▶ Kap. 4 die Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
unmittelbar vor den Kapiteln, die sich auf spezielle<br />
Aspekte der kognitiven Entwicklung konzentrieren,<br />
<strong>und</strong> in ▶ Kap. 5 die Theorien der sozialen Entwicklung<br />
unmittelbar vor den Kapiteln, die sich mit speziellen<br />
Aspekten der sozialen Entwicklung befassen. Statt eines<br />
eigenen Kapitels über Genetik sind die Gr<strong>und</strong>lagen<br />
der Genetik in ▶ Kap. 3 „Biologie <strong>und</strong> Verhalten“ mit<br />
aufgenommen <strong>und</strong> darüber hinaus werden Beiträge<br />
der Genetik zu einigen interindividuellen Unterschieden<br />
<strong>im</strong> weiteren Verlauf des Buches diskutiert. Als wir<br />
uns zu diesem Aufbau entschlossen, wollten wir die<br />
Studierenden schon in den ersten Semesterwochen<br />
dafür begeistern herauszufinden, wie sich Kinder entwickeln.<br />
Nach der überwältigend positiven Resonanz<br />
zu urteilen, die wir von Lernenden ebenso wie von<br />
Lehrenden erhielten, ist uns das gelungen.<br />
Spezielle Merkmale<br />
Das wichtigste Merkmal dieses Buches ist die Art der<br />
Darstellung, die wir so klar, überzeugend <strong>und</strong> interessant<br />
wie möglich zu gestalten versucht haben. Wie<br />
in den früheren Auflagen haben wir besonderes Augenmerk<br />
darauf gelegt, den Stoff einer breiten Gruppe<br />
von Studierenden zugänglich zu machen.<br />
Um den Reiz <strong>und</strong> die Zugänglichkeit des Textes weiter<br />
zu erhöhen, haben wir die drei Arten von Exkursen in<br />
Form von Kästen beibehalten, die Themen von besonderem<br />
Interesse genauer beleuchten. „Anwendungs“-<br />
Kästen richten sich darauf, wie Forschungsarbeiten<br />
über <strong>Kindes</strong>entwicklung nutzbar sind, um das Wohlergehen<br />
der Kinder zu fördern. Zu den Anwendungen,<br />
die in diesen Kästen zusammengefasst dargelegt sind,<br />
zählen Brettspiel-Verfahren, um das Zahlenverständnis<br />
von Vorschulkindern zu verbessern; das Carolina
Vorwort zur amerikanischen Auflage<br />
VII<br />
Abecedarian Project; Maßnahmen zur Reduzierung<br />
von <strong>Kindes</strong>missbrauch; Programme wie PATHS, mit<br />
deren Hilfe Außenseiter bei ihren Altersgenossen<br />
größere Akzeptanz finden können; <strong>und</strong> schnelle Interventionen,<br />
die aggressive Kinder lehren, wie sie mit<br />
ihrer Wut <strong>und</strong> ihren antisozialen Verhaltenstendenzen<br />
besser umgehen können. Kästen über „Individuelle<br />
Unterschiede“ befassen sich mit Bevölkerungsgruppen,<br />
die sich <strong>im</strong> Hinblick auf das jeweilige Thema von<br />
der Norm unterscheiden, oder mit Unterschieden<br />
zwischen Kindern in derselben Bevölkerungsgruppe.<br />
Einige dieser Kästen beleuchten Entwicklungsprobleme<br />
wie Autismus, die Aufmerksamkeitsdefizit- <strong>und</strong><br />
Hyperaktivitätsstörung, Dyslexie, spezifischen Sprach<strong>und</strong><br />
Verhaltensstörungen; andere befassen sich mit<br />
Unterschieden der <strong>Kindes</strong>entwicklung, die mit dem<br />
Bindungsstatus, dem Geschlecht <strong>und</strong> mit kulturellen<br />
Unterschieden zu tun haben. Die Kästen „Näher<br />
betrachtet“ vertiefen wichtige <strong>und</strong> interessante Forschungsarbeiten<br />
eingehender, als dies <strong>im</strong> allgemeinen<br />
Textzusammenhang möglich wäre. Die behandelten<br />
Gebiete reichen von bildgebenden Verfahren in der<br />
Gehirnforschung über die geschlechtsspezifische Sozialisation<br />
in der Familie bis hin zu den Auswirkungen<br />
von Obdachlosigkeit auf die Entwicklung.<br />
Beibehalten haben wir auch eine Reihe anderer Besonderheiten,<br />
die dazu gedacht sind, den Lernprozess<br />
der Studierenden zu verbessern. Zu diesen Besonderheiten<br />
gehören das Hervorheben von Schlüsselbegriffen<br />
durch Fettdruck <strong>und</strong> das Einfügen der Definition<br />
direkt <strong>im</strong> Text sowie <strong>im</strong> Glossar des Anhangs; das Bereitstellen<br />
von Zusammenfassungen am Ende jedes<br />
größeren Abschnitts („In Kürze“) <strong>und</strong> von Gesamtzusammenfassungen<br />
am Kapitelende; <strong>und</strong> ganz am<br />
Ende eines jeden Kapitels das Anfügen weiterführender<br />
Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße, um eine vertiefte Auseinandersetzung<br />
mit wichtigen Themen zu fördern.<br />
Neuer <strong>und</strong> erweiterter Rahmen<br />
Bei der Auswahl, welche der vielen neuen Entdeckungen<br />
über <strong>Kindes</strong>entwicklung wir einbeziehen sollten,<br />
haben wir besonderen Wert auf Studien gelegt, die<br />
uns als die interessantesten <strong>und</strong> wichtigsten erschienen.<br />
Dabei haben wir zum einen den gr<strong>und</strong>legenden<br />
Rahmen beibehalten <strong>und</strong> sorgfältig aktualisiert, zum<br />
anderen haben wir eine Reihe faszinierender Forschungsgebiete<br />
erk<strong>und</strong>et, in denen in den letzten<br />
Jahren große Fortschritte erzielt wurden. Zu den Gebieten<br />
des neuen <strong>und</strong> erweiterten Berichtsumfanges<br />
gehören:<br />
-<br />
Epigenetik,<br />
-<br />
Beziehungen<br />
zwischen Genen <strong>und</strong> Umwelt,<br />
Entwicklung <strong>und</strong> Funktionsweise des Gehirns,<br />
einschließlich Methylierung,<br />
die Rolle spezifischer Genvarianten bei best<strong>im</strong>mten<br />
Verhalten,<br />
unterschiedliche Suszeptibilität für Umwelteinflüsse,<br />
Gehirnentwicklung <strong>und</strong> Gehirnfunktionen,<br />
Mechanismen kindlichen Lernens,<br />
das Verstehen anderer Menschen bei Säuglingen,<br />
exekutive Funktionen,<br />
-<br />
kulturelle Einflüsse auf die Entwicklung,<br />
Zusammenhänge zwischen dem kindlichen<br />
Verständnis von Zeit, Raum <strong>und</strong> Zahl,<br />
der Forschung in der Erziehung,<br />
der zunehmende Einfluss sozialer Medien auf<br />
-<br />
Kinder <strong>und</strong> Jugendliche,<br />
Fördermaßnahmen zur sozialen Anpassung.<br />
-<br />
Mathematik-Angst,<br />
-<br />
Anwendungen<br />
Neu in der vierten Auflage<br />
Wir haben unseren Rahmen um eine Reihe von Forschungsgebieten<br />
erweitert, die in den letzten Jahren<br />
sowohl für Studierende als auch für Lehrende der<br />
<strong>Kindes</strong>entwicklung <strong>im</strong>mer wichtiger wurden. Im Folgenden<br />
umreißen wir einige Schwerpunkte der vierten<br />
Auflage. Wir bedanken uns dafür, dass Sie sich die<br />
Zeit nehmen, die neue Auflage durchzusehen, <strong>und</strong> wir<br />
hoffen, dass die Erweiterungen in der vierten Auflage<br />
der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong><br />
für Sie nützlich <strong>und</strong> ansprechend sind.
IX<br />
Danksagung<br />
Zu diesem Buch haben so viele Menschen (unmittelbar<br />
oder mittelbar) beigetragen, dass sich nicht sagen<br />
lässt, wo wir mit dem Dank beginnen bzw. enden sollen.<br />
Jeder von uns hat seinem Lebenspartner <strong>und</strong> vielen<br />
anderen für ihre außergewöhnliche Unterstützung<br />
zu danken – Jerry Clore, Jerry Harris, Xiaodong Lin<br />
<strong>und</strong> Seth Pollak – <strong>und</strong> natürlich unseren Kindern –<br />
Benjamin Clore, Michael Harris, Todd, Beth <strong>und</strong> Aron<br />
<strong>Siegler</strong>, Avianna McGhee sowie Eli <strong>und</strong> Nell Pollak –<br />
<strong>und</strong> Eltern, Verwandten <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en sowie allen<br />
anderen, die uns nahe stehen. Unsere Lehrer in College<br />
<strong>und</strong> Universität – Richard Aslin, Ann Brown, Les<br />
Cohen, Harry Hake, Robert Liebert, J<strong>im</strong> Morgan, Paul<br />
Mussen, Ellisa Newport <strong>und</strong> J<strong>im</strong> Port unterstützten<br />
uns zu Beginn unserer Karrieren <strong>und</strong> weckten unsere<br />
Begeisterung für gute Forschung. Darüber hinaus haben<br />
wir natürlich von unseren Mitarbeitern profitiert,<br />
die unsere Wissbegierde für die Kindheitsentwicklung<br />
teilen, <strong>und</strong> von sehr vielen überaus hilfreichen <strong>und</strong><br />
großzügigen Kollegen, darunter Karen Adolph, Martha<br />
Alibali, Renee Baillargeon, Sharon Carver. Zhe<br />
Shen, Richard Fabes, Cindy Fisher, Melanie Jones,<br />
David Klahr, Patrick Lemaire, Angeline Lillard, John<br />
Opfer, Kristin Shutts, Tracy Spinrad, David Uttal <strong>und</strong><br />
Carlos Valiente. Besonderen Dank sagen wir unseren<br />
Assisteninnen Sheri Towe <strong>und</strong> Theresa Treasure, die<br />
auf unzählige Weise bei der Vorbereitung des Buches<br />
geholfen haben.<br />
Wir möchten auf diesem Wege auch all denen danken,<br />
die zur Prüfung des Manuskripts bei dieser <strong>und</strong> vorangehenden<br />
Auflagen des Lehrbuchs beigetragen haben:<br />
Daisuke Akiba, Queens College, City University<br />
of New York; K<strong>im</strong>berly Alkins, Queens College, City<br />
University of New York; Lynne Baker-Ward, North<br />
Carolina State University; Hilary Barth, Wesleyan<br />
University; Christopher Beevers, Texas University;<br />
Martha Bell, Virginia Tech; Cynthia Berg, University<br />
of Utah; Rebecca Bigler, Texas University; Margaret<br />
Borkowski, Saginaw Valley State University; Eric<br />
Buhs, University of Nebraska – Lincoln; G. Leonard<br />
Burns, Washington State University; Wendy Carlson,<br />
Shenandoah University; Kristi Cordell-McNulty, Angelo<br />
State University; Myra Cox, Harold Washington<br />
College; Emily Davidson, Texas A&M University –<br />
Main Campus; Ed de St. Aubin, Marquette University;<br />
Marissa Diener, University of Utah; Sharon Eaves,<br />
Shawnee State University; Urminda Firlan, Grand<br />
Rapids Community College; Dorothy Fragaszy, University<br />
of Georgia; Jeffery Gagne, University of Texas<br />
– Austin; Jennifer Ganger, University of Pittsburg;<br />
Alice Ganzel, Cornell College; Janet Gebelt, Westfield<br />
State University; Jan Gebelt, Westfield State<br />
University; Melissa Ghera, St. John Fischer College;<br />
Susan Graham, University of Calgary; Andrea Greenhood,<br />
University of Kansas; Frederick Grote, Western<br />
Washington University; John Gruszkos, Reynolds<br />
University; Hanna Gustafsson, University of North<br />
Carolina; Alma Guyse, Midland College; Lauren Harris,<br />
Michigan State University; Karen Hartleb, California<br />
State University – Bakerfield; Patricia Hawley,<br />
University of Kansas – Main; Susam Hespos, Northwestern<br />
University; Doris Hiatt, Manmouth University;<br />
Susan Holt, Central Connecticut State University;<br />
Lisa Huffman, Ball State University; Kathryn<br />
Kipp, University of Georgia; Rosemary Krawczyk,<br />
Minnesota State University; Raymond Krukovsky,<br />
Union County College; Tara Kuther, Western Connecticut<br />
State University; Richard Lanthier, George<br />
Washington University; Elida Laski, Boston College;<br />
Kathryn Lemery, Arizona State University; Barbara<br />
Licht, Florida State University; Angeline Lillard, University<br />
of Virginia; Wayne McMillin, Northwestern<br />
State University; Martha Mendes-Baldwin, Manhatten<br />
College; Scott Miller; University of Florida; Keith<br />
Nelson, Pennsylvania State University – Main Campus;<br />
Paul Nicodemus, Austin Peay State University;<br />
Katherine O’Doherty, Vanderbilt University; John<br />
Opfer, The Ohio State University; Ann Repp, Texas<br />
University; Leigh Shaw, Weber State University; Jennifer<br />
S<strong>im</strong>onds, Westminster College; Rebekah Smith,<br />
University of Texas – San Antonio; Mark Strauss,<br />
University of Pittsburgh – Main; Spencer Thompson,<br />
University of Texas – Permian Basin; Lisa Travis,<br />
University of Illinois – Urbana Champaign; Roger<br />
Webb, University of Arkansas – Little Rock; Keri<br />
Weed, University of South Carolina – Aiken; Sherri<br />
Widen, Boston College.<br />
Unser besonderer Dank gilt hier Campbell Leaper,<br />
University of California in Santa Cruz, der umfangreich<br />
zur Revision des ▶ Kap. 15 zur Geschlechterentwicklung<br />
beigetragen hat. Er hat sein Wissen <strong>und</strong><br />
seine Erfahrung auf diesem wichtigen Gebiet eingebracht<br />
<strong>und</strong> ihm verdanken wir viele wichtige Einsichten.<br />
Und natürlich gilt unseren Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Kollegen bei<br />
Worth Publishers ein besonderer Dank: den Lektoren,<br />
Daniel DeBonis <strong>und</strong> Kevin Feyen, die das Buch geplant<br />
bzw. betreut haben, verdanken wir eine überaus<br />
intensive Begleitung <strong>und</strong> einige sehr wertvolle Anregungen.<br />
Hier möchten wir auch Marge Byers danken,<br />
die uns bei der ersten Auflage zugearbeitet <strong>und</strong> geholfen<br />
hat, unsere Vision umzusetzen. Peter Deane, der<br />
die Entwicklung des Manuskripts <strong>im</strong> Lektorat beglei-
X<br />
Danksagung<br />
tet hat, ist eine Klasse für sich, was die Fähigkeiten<br />
<strong>und</strong> Hingabe bei der Manuskriptbearbeitung betrifft.<br />
Sein kreatives Denken <strong>und</strong> sein klarer Sachverstand<br />
hat die inhaltliche Darstellung unendlich verbessert.<br />
Wir sind ihm zutiefst dankbar. Außerdem danken<br />
wir unserer Lektoratsassistentin Nadina Persaud,<br />
der Projektmanagerin Vivian Wiess, der Leiterin der<br />
Entwicklungsabteilung für Druck- <strong>und</strong> elektronische<br />
Publikationen Tracey Kuhn sowie der Artdirektorin<br />
Barbara Rheingold <strong>und</strong> dem Cover- <strong>und</strong> Buchdesigner<br />
Kevin Kall, den Fotoredakteurinnen Bianca Moscatelli<br />
<strong>und</strong> Elyse Rieder für die Bearbeitung <strong>und</strong> Beschaffung<br />
der Fotos, der Herstellerin Sarah Segal <strong>und</strong><br />
der Setzerei Northeastern Graphic für ihre exzellente<br />
Arbeit. Sie haben geholfen, ein Buch zu schaffen, das<br />
unseres Erachtens be<strong>im</strong> Anschauen <strong>und</strong> Lesen Freude<br />
macht. Katherine Nurre hat als Marketingmanagerin<br />
ausgezeichnete Werbematerialien zur Information der<br />
Dozenten entwickelt. Anthony Casciano <strong>und</strong> Stacy<br />
Alexander haben ein w<strong>und</strong>erbares Paket von Zusatzmaterial<br />
geschnürt.<br />
Schließlich wollen wir unserem Buchteam <strong>im</strong> Vertrieb<br />
danken. Tom Kling, Julie Hirshman, Kari Ewalt, Greg<br />
David,, Tom Scotty, Cindy Rabinowitz, Glenn Russell<br />
<strong>und</strong> Matt Dunning haben die Entstehung des Buches<br />
mit Vertriebsperspektiven, wertvollen Vorschlägen<br />
<strong>und</strong> unermüdlichen Enthusiasmus unterstützt.
XI<br />
Vorwort zur deutschen Auflage<br />
Wer <strong>im</strong> Alltag oft mit Kindern zu tun hat, fragt sich,<br />
wann eine Entwicklung „normal“ verläuft, was man<br />
von Kindern in einem gegebenen Alter erwarten kann<br />
<strong>und</strong> wie man ihre Entwicklung auf unterschiedlichen<br />
Ebenen am besten fördert. Das gilt für Eltern, Großeltern<br />
<strong>und</strong> Verwandte genauso wie für Menschen, die<br />
professionell mit der Beratung, Betreuung, Unterrichtung<br />
<strong>und</strong> Behandlung von Kindern betraut sind, wie<br />
etwa Psychologen, Ärzte, Erzieher oder Lehrer. Auch<br />
die Politik hat mittlerweile erkannt, dass die Zukunft<br />
einer Gesellschaft wesentlich davon abhängt, wie gut<br />
sie dafür Sorge trägt, dass ihre Mitglieder von Geburt<br />
an gute Entwicklungsbedingungen vorfinden. Dieses<br />
veränderte gesellschaftliche Bewusstsein stärkt die<br />
Einsicht, dass wir eine moderne entwicklungspsychologische<br />
Forschung <strong>und</strong> Lehre brauchen.<br />
Als Einstiegslektüre zur Prüfungsvorbereitung für das<br />
Vordiplom oder für das Bachelor-Studium, die „Lust<br />
aufs Lernen“ machen sollte, haben wir 2003 gemeinsam<br />
mit führenden Hochschullehrern ein innovatives<br />
Lehrbuch für den deutschen Markt ausgewählt, das<br />
inzwischen zu den internationalen Lehrbuchklassikern<br />
zählt: How Children Develop, dessen Autoren<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong> <strong>und</strong><br />
Jenny R. Saffran zweifellos zu den einflussreichsten<br />
Entwicklungspsychologen unserer Zeit gehören. Der<br />
besondere Charme des Buches liegt darin, dass es von<br />
Wissenschaftlern verfasst wurde, die gleichzeitig Eltern<br />
sind <strong>und</strong> daher neben der Forschung auch die<br />
Anwendung nie aus dem Blick verlieren. So eignet<br />
sich ihr Werk nicht nur für Studenten, sondern auch<br />
als Nachschlagewerk für wissenschaftlich interessierte<br />
Erzieher, Lehrer, Ärzte <strong>und</strong> andere, die beruflich mit<br />
Kindern oder Jugendlichen arbeiten <strong>und</strong> gut über<br />
die Entwicklung Bescheid wissen müssen. Die nun<br />
vorliegende Neuauflage basiert auf der vierten englischen<br />
Ausgabe, die über alle Kapitel hinweg mit Blick<br />
auf neue Forschungsstudien aktualisiert <strong>und</strong> ergänzt<br />
wurde <strong>und</strong> einige kleinere Umstellungen in den Einzelkapiteln<br />
enthält.<br />
Anders als viele Standardwerke verzichtet das Buch<br />
bewusst auf eine strikte Ordnung nach Altersstufen,<br />
Entwicklungstheorien oder Funktionsbereichen.<br />
Stattdessen werden theoretische Überlegungen, empirische<br />
Beobachtungen <strong>und</strong> praktische Implikationen<br />
in jedem einzelnen Kapitel verzahnt. Einige Kapitelüberschriften<br />
beziehen sich auf Theorien (z. B.<br />
▶ Kap. 4: Theorien der kognitiven Entwicklung),<br />
andere auf einen definierten Altersbereich (z. B.<br />
▶ Kap. 5: Die frühe Kindheit) <strong>und</strong> wieder andere auf<br />
einen Funktionsbereich (z. B. ▶ Kap. 6: Die Entwicklung<br />
des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs). Stets werden<br />
dabei die gleichen Leitfragen behandelt (z. B. „Wie<br />
wirken Anlage <strong>und</strong> Umwelt zusammen?“ oder „Wie<br />
kommt es zu Veränderungen?“). Bei der Lektüre des<br />
Textes wird der Leser rasch feststellen, dass diese unkonventionelle<br />
Konzeption den Aufbau eines umfassenden<br />
Wissenssystems erleichtert, weil Sinnbezüge<br />
besonders gut deutlich werden.<br />
Zentrale Begriffe sind dort, wo sie eingeführt werden,<br />
<strong>im</strong> Druck hervorgehoben, näher erläutert <strong>und</strong><br />
<strong>im</strong> Anhang als Glossar zusammengefasst. Exkurse, in<br />
denen Forschung zu speziellen Fragen ausführlicher<br />
dargestellt wird, sind zum Teil für den deutschsprachigen<br />
Leser angepasst <strong>und</strong> ergänzt worden. Kurzzusammenfassungen<br />
der wichtigsten Fakten r<strong>und</strong>en<br />
die Kapitel ab, die mit einer Reihe von Wissens- <strong>und</strong><br />
Denkfragen zum Wiederholen <strong>und</strong> Vertiefen des<br />
Stoffes enden.<br />
Ein <strong>Entwicklungspsychologie</strong>-Lehrbuch herauszugeben,<br />
erfordert Teamarbeit: Hier konnten wir bei<br />
Übersetzung, Herausgabe <strong>und</strong> Lektorat an die Vorarbeit<br />
der ersten deutschen Auflage anknüpfen. Ein<br />
wichtiges Anliegen von uns bestand darin, den Stil des<br />
englischen Originals in der deutschen Übersetzung<br />
zu wahren. Als erfahrener Lehrbuch-Übersetzer hat<br />
Joach<strong>im</strong> Grabowski die Leichtigkeit der englischen<br />
Darstellung in der Vorauflage erhalten <strong>und</strong> damit eine<br />
wichtige Vorarbeit zur Neuübersetzung (durch Katharina<br />
Neuser-von Oettingen) geliefert. Die Verlagsredaktion<br />
<strong>und</strong> -korrektur haben wir uns mit Regine<br />
Z<strong>im</strong>merschied geteilt. Fremdwörter <strong>und</strong> Fachtermini<br />
wurden näher erläutert, um die Verständlichkeit zu<br />
max<strong>im</strong>ieren <strong>und</strong> das Buch auch für „Einsteiger“ lesbar<br />
zu machen. Auch waren wir bemüht, Fachsprache<br />
<strong>und</strong> Umgangssprache so zu verzahnen, dass die unterschiedlichen<br />
Terminologien in den verschiedenen<br />
theoretischen Ansätzen <strong>und</strong> Kontexten alltags- <strong>und</strong><br />
anwendungsnah verstehbar bleiben.<br />
Ein zweites Anliegen bestand darin, an ausgesuchten<br />
Stellen neuere Arbeiten deutscher Entwicklungspsychologen<br />
in den Originaltext zu integrieren, um<br />
exemplarisch zu zeigen, dass auch hierzulande spannende<br />
Forschung betrieben wird. Dabei geholfen haben<br />
verschiedene Kollegen <strong>und</strong> Kolleginnen, denen<br />
wir an dieser Stelle herzlich danken möchten!<br />
Auch <strong>im</strong> Verlag hat uns ein Team zugearbeitet – darunter<br />
Bettina Saglio (Manuskript- <strong>und</strong> Bildredak-
XII<br />
Vorwort zur deutschen Auflage<br />
tion), die für eine ansprechende optische Gestaltung<br />
gesorgt hat. Zahlreiche Bilder wurden von Bernadette<br />
Berg fotografiert, andere stammen aus den Privatbeständen<br />
der Teammitglieder. Sie zusammenzustellen,<br />
hat allen Beteiligten viel Freude bereitet! Die Schlussredaktion<br />
haben wir uns geteilt – die Homogenisierung<br />
der neuen <strong>und</strong> alten Übersetzungsteile <strong>und</strong> der<br />
Fachterminologie blieb in der Verantwortung des<br />
Lektorats, die Supervision <strong>und</strong> Ergänzung aktueller<br />
deutscher Forschungsbeiträge in der Verantwortung<br />
der Herausgeberin. Für fachliche Unzulänglichkeiten<br />
<strong>und</strong> Druckfehler, die trotz aller unserer Bemühungen<br />
übersehen wurden, tragen wir die Verantwortung.<br />
Der Verlag hat zugesagt, eventuelle Fehlermeldungen<br />
in einer Errata-Liste <strong>im</strong> Internet zugänglich<br />
zu machen. Melden Sie entsprechende Hinweise an<br />
Bettina.Saglio@springer.com.<br />
Wir haben be<strong>im</strong> Lesen <strong>und</strong> Bearbeiten der Neuauflage<br />
nicht nur Arbeit, sondern auch viel Spaß geteilt <strong>und</strong><br />
zahlreiche neue Einsichten gewonnen! Und wir hoffen,<br />
dass die Leser dieses Buches unsere Begeisterung<br />
dafür teilen.<br />
Sabina Pauen, Herausgeberin<br />
Katharina Neuser-von Oettingen, Übersetzerin
XIII<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Autoren ..................................................................................................XVI<br />
1 Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung ......................................................1<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung? .............................................................3<br />
Historische Wurzeln der Beschäftigung mit <strong>Kindes</strong>entwicklung ...............................................6<br />
Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung ...........................................................................8<br />
Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung .......................................................19<br />
Zusammenfassung ........................................................................................31<br />
Literatur ..................................................................................................32<br />
2 Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene .............................................37<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Pränatale Entwicklung .....................................................................................38<br />
Die Geburtserfahrung .....................................................................................58<br />
Das Neugeborene .........................................................................................60<br />
Zusammenfassung ........................................................................................70<br />
Literatur ..................................................................................................72<br />
3 Biologie <strong>und</strong> Verhalten ................................................................................77<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Anlage <strong>und</strong> Umwelt .......................................................................................78<br />
Die Entwicklung des Gehirns ...............................................................................94<br />
Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers ..................................................................105<br />
Zusammenfassung .......................................................................................111<br />
Literatur .................................................................................................112<br />
4 Theorien der kognitiven Entwicklung ..............................................................117<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Die Theorie von Piaget ....................................................................................119<br />
Theorien der Informationsverarbeitung ....................................................................132<br />
Soziokulturelle Theorien ..................................................................................140<br />
Theorien dynamischer Systeme ...........................................................................144<br />
Zusammenfassung .......................................................................................149<br />
Literatur .................................................................................................150<br />
5 Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun ......................................................155<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Wahrnehmung ...........................................................................................157<br />
Motorische Entwicklung ..................................................................................170<br />
Lernen ...................................................................................................178<br />
Kognition ................................................................................................184<br />
Zusammenfassung .......................................................................................190<br />
Literatur .................................................................................................191<br />
6 Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs ..............................................197<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Sprachentwicklung .......................................................................................198<br />
Nichtsprachliche Symbole <strong>und</strong> Entwicklung ...............................................................228<br />
Zusammenfassung .......................................................................................231<br />
Literatur .................................................................................................232
XIV<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
7 Die Entwicklung von Konzepten ....................................................................239<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Die Dinge verstehen: Wer oder was ........................................................................241<br />
Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel ...................................................255<br />
Zusammenfassung .......................................................................................267<br />
Literatur .................................................................................................268<br />
8 Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen ..............................................................275<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Was ist Intelligenz? .......................................................................................277<br />
Intelligenzmessung ......................................................................................279<br />
IQ-Werte als Prädiktoren von Lebenserfolg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .283<br />
Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung .................................................................284<br />
Alternative Ansätze zur Intelligenz ........................................................................293<br />
Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .294<br />
Zusammenfassung .......................................................................................305<br />
Literatur .................................................................................................306<br />
9 Theorien der sozialen Entwicklung .................................................................313<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Psychoanalytische Theorien ...............................................................................315<br />
Lerntheorien .............................................................................................321<br />
Theorien der sozialen Kognition ...........................................................................327<br />
Ökologische Entwicklungstheorien ........................................................................332<br />
Zusammenfassung .......................................................................................346<br />
Literatur .................................................................................................347<br />
10 Emotionale Entwicklung .............................................................................353<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Die Entwicklung von Emotionen in der Kindheit ...........................................................355<br />
Die Regulierung von Emotionen ..........................................................................366<br />
Individuelle Unterschiede bei Emotionen <strong>und</strong> ihrer Regulierung ............................................369<br />
Die emotionale Entwicklung von Kindern in der Familie ....................................................375<br />
Kultur <strong>und</strong> die emotionale Entwicklung von Kindern .......................................................378<br />
Das Emotionsverständnis von Kindern .....................................................................380<br />
Zusammenfassung .......................................................................................384<br />
Literatur .................................................................................................385<br />
11 Bindung <strong>und</strong> die Entwicklung des Selbst ...........................................................397<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Die Bindung zwischen Kindern <strong>und</strong> ihren Bezugspersonen .................................................399<br />
Konzeptionen des Selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .409<br />
Ethnische Identität .......................................................................................418<br />
Sexuelle Orientierung als Teil der Identität .................................................................420<br />
Selbstwertgefühl .........................................................................................424<br />
Zusammenfassung .......................................................................................429<br />
Literatur .................................................................................................430<br />
12 Die Familie .............................................................................................439<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Familiendynamik .........................................................................................442<br />
Der Einfluss der elterlichen Sozialisation ...................................................................443<br />
Mütter, Väter, Geschwister ................................................................................450<br />
Wie sich Familien verändert haben ........................................................................454<br />
Berufstätigkeit der Mütter <strong>und</strong> Kinderbetreuung ...........................................................464<br />
Zusammenfassung .......................................................................................470<br />
Literatur .................................................................................................471
Inhaltsverzeichnis<br />
XV<br />
13 Beziehungen zu Gleichaltrigen ......................................................................483<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Was ist das Besondere an Peer-Beziehungen? ..............................................................485<br />
Fre<strong>und</strong>schaften ..........................................................................................486<br />
Das Kind <strong>und</strong> seine Peer-Gruppe ..........................................................................496<br />
Status in der Peer-Gruppe ................................................................................501<br />
Die Rolle der Eltern bei den Peer-Beziehungen der Kinder ..................................................510<br />
Zusammenfassung .......................................................................................514<br />
Literatur .................................................................................................515<br />
14 Moralentwicklung ....................................................................................529<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Moralisches Denken <strong>und</strong> Urteilen .........................................................................531<br />
Die frühe Entwicklung des Gewissens .....................................................................540<br />
Prosoziales Verhalten .....................................................................................542<br />
Antisoziales Verhalten ....................................................................................549<br />
Zusammenfassung .......................................................................................560<br />
Literatur .................................................................................................562<br />
15 Die Entwicklung der Geschlechter ....................................................................575<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Theoretische Perspektiven der Geschlechterentwicklung ...................................................577<br />
Meilensteine in der Geschlechterentwicklung ..............................................................587<br />
Vergleiche zwischen den Geschlechtern ...................................................................593<br />
Zusammenfassung .......................................................................................609<br />
Literatur .................................................................................................611<br />
16 Fazit ....................................................................................................619<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Thema 1: Anlage <strong>und</strong> Umwelt: Alle Interaktionen zu allen Zeitpunkten ......................................620<br />
Thema 2: Kinder spielen bei ihrer Entwicklung eine aktive Rolle .............................................623<br />
Thema 3: Entwicklung verläuft kontinuierlich <strong>und</strong> diskontinuierlich .........................................625<br />
Thema 4: Mechanismen entwicklungsbedingter Veränderungen ............................................627<br />
Thema 5: Der soziokulturelle Kontext formt die Entwicklung ................................................631<br />
Thema 6: Individuelle Unterschiede .......................................................................634<br />
Thema 7: Entwicklungsforschung kann das Leben von Kindern verbessern ..................................636<br />
Literatur .................................................................................................640<br />
Serviceteil .............................................................................................641<br />
Glossar ..................................................................................................642<br />
Stichwortverzeichnis .....................................................................................654
XVI<br />
Autoren<br />
Robert <strong>Siegler</strong> hat die Teresa-Heinz-Professur für Kognitive Psychologie an der Carnegie Mellon University<br />
inne. Er ist Autor von Children’s Thinking, einem Lehrbuch der kognitiven Entwicklung, <strong>und</strong> hat mehrere weitere<br />
Bücher über <strong>Kindes</strong>entwicklung geschrieben oder herausgegeben. Seine Bücher wurden ins Japanische,<br />
Chinesische, Koreanische, Spanische, Französische, Griechische, Hebräische <strong>und</strong> Portugiesische übersetzt. In<br />
den vergangenen Jahren hielt er Gr<strong>und</strong>satzreferate bei Kongressen der Cognitive Development Society, der<br />
International Society for the Study of Behavioral Development, der Japanese Psychological Association, der<br />
Eastern Psychological Association, der American Pschological Society <strong>und</strong> bei der Conference on Human Development.<br />
Er war Mitherausgeber der Zeitschrift Developmental Psychology <strong>und</strong> des 2006 in sechster Auflage<br />
erschienenen zweiten Bandes Cognition, Perception, and Language des Handbook of Child Psychology <strong>und</strong><br />
arbeitete von 2006 bis 2008 <strong>im</strong> beratenden Ausschuss von National Mathematics mit. Im Jahr 2005 erhielt Robert<br />
<strong>Siegler</strong> den Distinguished Scientific Contribution Award der American Psychological Association, wurde<br />
2010 in die National Academy of Education gewählt <strong>und</strong> wurde 2012 Direktor des Siegel Center for Innovative<br />
Learning an der Beijing Normal University.<br />
Judy <strong>DeLoache</strong> hat die William-R.-Kenan-Jr.-Professur für Psychologie an der University of Virginia inne.<br />
Sie publizierte eine Vielzahl von Arbeiten über Aspekte der kognitiven Entwicklung von Säuglingen <strong>und</strong><br />
Kleinkindern. Judy <strong>DeLoache</strong> war Vorsitzende der Developmental Division in der American Psychological<br />
Association <strong>und</strong> gehörte dem Vorstand der International Society for the Study of Infancy an. Derzeit ist sie die<br />
gewählte Präsidentin der Cognitive Development Society. Als Gastvortragende hielt sie Gr<strong>und</strong>satzreferate bei<br />
Kongressen unter anderem der Association for Psychological Science <strong>und</strong> der Society for Research on Child<br />
Development. Judy <strong>DeLoache</strong> ist MERIT-Preisträgerin der National Institutes of Health; gesponsert werden<br />
ihre Forschungsarbeiten auch von der National Science Fo<strong>und</strong>ation. Sie war Gastwissenschaftlerin am Center<br />
for Advanced Study in the Behavioral Sciences <strong>und</strong> am Rockefeller Fo<strong>und</strong>ation Study Center in Bellagio, Italien.<br />
Sie ist Mitglied der National Academy of Arts and Sciences. 2013 erhielt sie den Research Contributions Award<br />
der Society for Research in Child Development <strong>und</strong> den Wiliam James Award for Distinguished Contributions<br />
to Research der Association for Psychological Science.<br />
Nancy <strong>Eisenberg</strong> hat die Regent’s-Professur für Psychologie an der Arizona State University inne. Sie ist<br />
Verfasserin <strong>und</strong> Herausgeberin zahlreicher Bücher über prosoziale, soziale. emotionale <strong>und</strong> moralische Entwicklung<br />
<strong>und</strong> interessiert sich für Sozialisationseinflüsse, insbesondere auf dem Gebiet der Selbstregulation<br />
<strong>und</strong> Anpassung. Sie ist Mitherausgeberin des Psychological Bulletin <strong>und</strong> des Handbook of Child Pschology <strong>und</strong><br />
war Mitbegründerin der Zeitschrift Child Development Perspectives der Society for Research in Child Development.<br />
Dr. <strong>Eisenberg</strong> ist Empfängerin der Research _Scientist Development Awards <strong>und</strong> eines Research<br />
Scientist Awards der National Institutes of Health. Sie war Vorsitzende der Western Psychological Association<br />
<strong>und</strong> der Abteilung 7 (Developmental Psychology) innerhalb der American Psychological Association. Sie ist<br />
nominiert als Vorsitzende der Association for Psychological Scien. 2007 erhielt sie den Ernest-R.-Hilgard-Preis<br />
für einen Beitrag zur Allgemeinen Psychologie, Abteilung 1, der American Psychological Association, 2008<br />
den Distinguished Scientific Contribution Award der International Society for the Study of Behavioral Development<br />
<strong>und</strong> 2009 von der Abteilung 7 der American Psychological Association den G.-Stanley-Hall-Preis für<br />
hervorragende Beiträge zur <strong>Entwicklungspsychologie</strong>. 2011 erhielt sie den William James Fellow Award for<br />
Career Contributions in the Basic Sciene of Psychology der Association for Psychological Science.<br />
Jenny R. Saffran ist Psychologieprofessorin an der Universität von Wisconsin-Madison <strong>und</strong> forscht dort am<br />
Waisman Center. Ihr Forschungsgebiet ist das Lernen <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong> mit besonderem Fokus auf<br />
Sprache. Für ihre Arbeit wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem MERIT-Award des Eunice<br />
Kennedy Shriver National Institute of Child Health and Human Development.<br />
Sabina Pauen ist Professorin für <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>und</strong> Biologische Psychologie an der Universität<br />
Heidelberg. Sie untersucht die frühkindliche Entwicklung sowohl mit Methoden der Hirnforschung als auch<br />
mit Exper<strong>im</strong>enten <strong>und</strong> Feldstudien. Dabei spielen Gr<strong>und</strong>lagenfragen genauso eine wichtige Rolle wie Anwendungsfragen.
Autoren<br />
XVII<br />
Joach<strong>im</strong> Grabowski ist Professor für Pädagogische Psychologie an der Leibniz Universität Hannover <strong>und</strong><br />
Privat-Dozent für Germanistische Linguistik daselbst. Er ist Mitherausgeber des Bandes „Sprachproduktion“<br />
in der Enzyklopädie der Psychologie <strong>und</strong> des Lehrbuchs für Angewandte Linguistik. Neben seiner Forschungstätigkeit<br />
<strong>im</strong> Bereich der Sprach- <strong>und</strong> Kognitionspsychologie hat er zahlreiche Übersetzungen von Fach- <strong>und</strong><br />
Lehrbüchern angefertigt <strong>und</strong> betreut, darunter Andersons Kognitive Psychologie <strong>und</strong> Hilgards Einführung in<br />
die Psychologie.
1 1<br />
Die Entwicklung von Kindern:<br />
Eine Einführung<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung? – 3<br />
Kinder erziehen – 3<br />
Sozialpolitische Entscheidungen treffen – 4<br />
Das Wesen des Menschen verstehen – 5<br />
Historische Wurzeln der Beschäftigung mit <strong>Kindes</strong>entwicklung – 6<br />
Frühe philosophische Ansichten zur <strong>Kindes</strong>entwicklung – 6<br />
Soziale Reformbewegungen – 7<br />
Darwins Evolutionstheorie – 7<br />
Die Anfänge forschungsbasierter Theorien der <strong>Kindes</strong>entwicklung – 8<br />
Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung – 8<br />
1 Anlage <strong>und</strong> Umwelt: Wie wirken sich Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
gemeinsam auf die Entwicklung aus? – 8<br />
2 Das aktive Kind: Wie formen Kinder ihre eigene Entwicklung? – 10<br />
3 Kontinuität/Diskontinuität: Inwiefern verläuft die Entwicklung<br />
kontinuierlich oder diskontinuierlich? – 11<br />
4 Mechanismen entwicklungsbedingter Veränderungen:<br />
Wie kommt es zu Veränderungen? – 14<br />
5 Der soziokulturelle Kontext: Wie wirkt sich der soziokulturelle<br />
Kontext auf die Entwicklung aus? – 15<br />
6 Individuelle Unterschiede: Warum werden Kinder so verschieden? – 17<br />
7 Forschung <strong>und</strong> <strong>Kindes</strong>wohl: Wie kann Forschung das <strong>Kindes</strong>wohl fördern? – 18<br />
Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung – 19<br />
Die wissenschaftliche Methode – 19<br />
Rahmenbedingungen der Datenerhebung – 21<br />
Korrelation <strong>und</strong> Verursachung – 24<br />
Designs für die Untersuchung von Entwicklung – 27<br />
Ethische Fragen bei der Erforschung der <strong>Kindes</strong>entwicklung – 30<br />
Zusammenfassung – 31<br />
Literatur – 32<br />
S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />
DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
2<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
© bassittart/fotolia.com<br />
Im Jahre 1955 begannen Entwicklungspsychologen eine bislang<br />
einzigartige Untersuchung. Ihr Ziel bestand darin herauszufinden,<br />
wie sich biologische <strong>und</strong> umweltbedingte Faktoren auf das<br />
intellektuelle, soziale <strong>und</strong> emotionale Wachstum von Kindern<br />
auswirken. Dieses Forschungsvorhaben war insofern einzigartig,<br />
als verschiedenste Entwicklungsaspekte an allen 698 Kindern<br />
untersucht wurden, die in dem betreffenden Jahr auf der<br />
Hawaii-Insel Kauai geboren wurden, <strong>und</strong> die Untersuchungen<br />
an den Kindern <strong>und</strong> ihren Eltern über mehr als 30 Jahre hinweg<br />
weitergeführt wurden.<br />
Die Projektgruppe unter der Leitung von Emmy Werner<br />
hatte von den Eltern die Zust<strong>im</strong>mung erhalten, eine ganze Reihe<br />
von Daten über die Entwicklung der Kinder zu erheben. Um etwas<br />
über etwaige Komplikationen vor oder während der Geburt<br />
zu erfahren, nahmen die Forscher Einsicht in die ärztlichen Unterlagen.<br />
Informationen über das Verhalten der Kinder in ihrer<br />
Familie <strong>und</strong> über deren Zusammenleben erhielten sie von Erzieherinnen<br />
<strong>und</strong> Sozialarbeitern, die die Familien beobachteten <strong>und</strong><br />
die Mütter befragten: einmal, als ihr Kind ein Jahr alt war, <strong>und</strong><br />
dann noch einmal <strong>im</strong> Alter von zehn Jahren. Weiterhin führte die<br />
Forschergruppe Interviews mit den Lehrkräften der Kinder, um<br />
etwas über deren schulische Leistungen <strong>und</strong> ihr Verhalten in den<br />
Gr<strong>und</strong>schulklassen zu erfahren. Es wurden Akten von Polizei,<br />
Familiengericht <strong>und</strong> sozialen Einrichtungen durchgesehen, sofern<br />
die Kinder als Opfer oder Täter betroffen waren. Schließlich<br />
wurden die Kinder <strong>im</strong> Alter von zehn <strong>und</strong> 18 Jahren standardisierten<br />
Intelligenz- <strong>und</strong> Persönlichkeitstests unterzogen; mit 18<br />
<strong>und</strong> mit Anfang 30 wurden sie interviewt, wie sie ihre eigene<br />
Entwicklung einschätzen.<br />
Die Ergebnisse dieser Untersuchung illustrieren einige der<br />
vielfältigen Weisen, auf die biologische <strong>und</strong> umweltbedingte Faktoren<br />
gemeinsam die <strong>Kindes</strong>entwicklung beeinflussen. Wenn in<br />
der Schwangerschaft oder bei der Geburt Komplikationen <strong>und</strong><br />
demzufolge biologische Risiken auftraten, entwickelten die Kinder<br />
mit größerer Wahrscheinlichkeit körperliche Behinderungen,<br />
Geisteskrankheiten <strong>und</strong> Lernschwierigkeiten als andere Kinder.<br />
Die Qualität der häuslichen Umwelt schien jedoch für die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
eine noch größere Rolle zu spielen. Das Einkommen<br />
der Eltern, ihr Bildungsstand <strong>und</strong> ihre geistige Ges<strong>und</strong>heit<br />
wirkten sich – zusammen mit der Qualität der Beziehung zwischen<br />
den Eltern – besonders stark auf die spätere Entwicklung<br />
der Kinder aus. Mit zwei Jahren waren Kinder, bei denen pränatal<br />
oder bei der Geburt ernste Schwierigkeiten aufgetreten waren,<br />
die jedoch in harmonischen Familien mit mittlerem Einkommen<br />
lebten, in ihren sprachlichen <strong>und</strong> motorischen Fähigkeiten<br />
fast so weit entwickelt wie Kinder ohne entsprechende Anfangsprobleme.<br />
Im Alter von zehn Jahren gingen Probleme vor oder<br />
während der Geburt generell nur dann mit einer beeinträchtigten<br />
psychischen Entwicklung einher, wenn das Kind zugleich unter<br />
schlechten Bedingungen aufwuchs.<br />
Was geschah mit den Kindern, denen sowohl die Biologie<br />
als auch die Umwelt einiges abverlangten – in Form von Komplikationen<br />
bei Schwangerschaft oder Geburt <strong>und</strong> in Form von<br />
ungünstigen Familienbedingungen? Die Mehrzahl solcher Kinder<br />
entwickelte mit zehn Jahren schwere Lern- oder Verhaltensprobleme.<br />
Mit 18 waren die meisten polizeilich erfasst, hatten<br />
Einschränkungen ihrer geistigen <strong>und</strong> psychischen Ges<strong>und</strong>heit<br />
oder waren bereits schwanger. Ein Drittel solcher Risikokinder<br />
wuchs jedoch zu Erwachsenen heran, von denen Emmy Werner<br />
(1989, S. 108D) sagte: „[they] loved well, worked well, and played<br />
well.“ Diese Fähigkeit von Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen, auch bei<br />
widrigen Umständen physisch <strong>und</strong> psychisch ges<strong>und</strong> zu bleiben,<br />
nennt man Resilienz.<br />
Resilienz – (wörtlich: Unverwüstlichkeit, Widerstandsfähigkeit) Die Fähigkeit,<br />
trotz negativer Umstände <strong>und</strong> Einflüsse seine körperliche <strong>und</strong> geistige<br />
Ges<strong>und</strong>heit aufrechtzuerhalten.<br />
..<br />
Werden diese Kinder resilient genug sein, um die Benachteiligungen ihrer<br />
Lebensumwelt ausgleichen zu können? Die Antwort hängt größtenteils<br />
davon ab, wie vielen Risikofaktoren sie ausgesetzt sind <strong>und</strong> über welche persönlichen<br />
Eigenschaften sie verfügen. (© Robert Nicklesburg/Getty Images)<br />
Ein derart widerstandsfähiges Kind war Michael. Er war eine<br />
untergewichtige Frühgeburt, seine Eltern waren selbst noch<br />
nicht erwachsen, <strong>und</strong> er verbrachte die ersten drei Lebenswochen<br />
<strong>im</strong> Krankenhaus getrennt von seiner Mutter. Als er acht<br />
Jahre alt wurde, waren seine Eltern geschieden, die Mutter<br />
hatte die Familie endgültig verlassen, <strong>und</strong> sein Vater versorgte<br />
ihn <strong>und</strong> seine drei Geschwister mit Unterstützung der schon<br />
recht alten Großeltern. Mit 18 Jahren jedoch war Michael ein<br />
erfolgreicher <strong>und</strong> beliebter Schüler mit hohem Selbstwertgefühl,<br />
ein einfühlsamer, fürsorglicher junger Mann mit positiver<br />
Lebenseinstellung. Die Tatsache, dass es viele solcher Michaels<br />
gibt – Kinder mit hoher Resilienz trotz widrigster Umstände –,
Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung?<br />
3<br />
1<br />
gehört zu den ermutigendsten Ergebnissen entwicklungspsychologischer<br />
Forschung. Was die Entwicklungspsychologen von<br />
den Michaels dieser Welt lernen, regt sie zur weiterer Forschung<br />
an, etwa zu der Frage, warum einzelne Kinder so unterschiedlich<br />
auf ähnliche Umweltverhältnisse reagieren <strong>und</strong> wie man<br />
entsprechende Forschungsbef<strong>und</strong>e anwenden kann, um mehr<br />
Kindern ein erfolgreiches Bewältigen schwieriger Verhältnisse<br />
zu ermöglichen.<br />
Das vorliegende Kapitel gibt eine Einführung in die genannten<br />
<strong>und</strong> in weitere Gr<strong>und</strong>fragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung. Es führt<br />
auch einige historische Herangehensweisen zur Beantwortung<br />
dieser Gr<strong>und</strong>fragen ein sowie Ansätze <strong>und</strong> Methoden, mit denen<br />
diese Fragen in der modernen Forschung untersucht werden.<br />
Aber zunächst wollen wir die vielleicht gr<strong>und</strong>legendste Frage von<br />
allen beantworten: Warum sollte man die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
überhaupt erforschen?<br />
Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung?<br />
Für uns Autoren <strong>und</strong> Eltern genügt allein die Freude daran,<br />
Kinder zu beobachten <strong>und</strong> sie verstehen zu wollen, als Gr<strong>und</strong><br />
für die Entwicklungsforschung aus. Was könnte mehr faszinieren<br />
als die Entwicklung eines <strong>Kindes</strong>? Doch gibt es auch<br />
praktische <strong>und</strong> rationale Gründe für ihre Untersuchung: Wenn<br />
man mehr über die <strong>Kindes</strong>entwicklung weiß, kann man die<br />
Erziehung verbessern, sozialpolitische Maßnahmen zum Wohl<br />
des <strong>Kindes</strong> fördern <strong>und</strong> schließlich auch Antworten auf faszinierende<br />
Fragen über das Wesen des Menschen gewinnen. In<br />
den folgenden Abschnitten kommen alle diese Forschungsmotivationen<br />
zur Sprache.<br />
Kinder erziehen<br />
Es ist nicht einfach, gute Eltern zu sein. Zu den vielen Herausforderungen<br />
gehören zahlreiche Fragen, die sich <strong>im</strong> Laufe der Jahre<br />
stellen. Ab wann wird mein Baby wissen, wer ich bin? Soll ich mit<br />
meinem Kind zu Hause bleiben oder wäre eine Tageskrippe für<br />
seine soziale Entwicklung besser? Sollte ich einer Dreijährigen<br />
schon das Lesen beibringen? Und wie kann ich meinem Sohn,<br />
der sich <strong>im</strong> Kindergarten offenbar einsam fühlt, dabei helfen,<br />
Fre<strong>und</strong>schaften zu schließen?<br />
Entwicklungspsychologische Forschung kann dazu beitragen,<br />
solche Fragen zu beantworten. Zum Bespiel besteht ein<br />
Problem, mit dem sich praktisch alle Eltern konfrontiert sehen,<br />
darin, ihren Kindern be<strong>im</strong> Umgang mit Ärger, Wut <strong>und</strong> anderen<br />
negativen Gefühlen zu helfen. Wenn ein Kind seine Wut<br />
auf unangemessene Wiese ausdrückt – etwa indem es kämpft,<br />
sch<strong>im</strong>pft oder Widerworte gibt –, sind Erwachsene oft versucht<br />
zu schlagen. In einer Studie mit einer repräsentativen Stichprobe<br />
US-amerikanischer Eltern von Kindergartenkindern gaben 80 %<br />
der Befragten an, ihr Kind schon einmal geschlagen zu haben,<br />
<strong>und</strong> 27 %, dies innerhalb einer Woche vor dem Befragungstermin<br />
getan zu haben (Gershoff et al. 2012). Tatsächlich verschl<strong>im</strong>mert<br />
Schlagen das Problem. Je öfter die Eltern ihre Kindergartenkinder<br />
schlugen, desto öfter stritten <strong>und</strong> kämpften diese Kinder <strong>im</strong><br />
Gr<strong>und</strong>schulalter von neun bis zehn Jahren oder zeigten anderes<br />
Fehlverhalten. Dieser Zusammenhang gilt gleichermaßen für<br />
Asiaten, Hispanos, Schwarze oder Weiße, <strong>und</strong> er bestätigt sich<br />
ungeachtet des Einflusses anderer wichtiger Faktoren wie Einkommen<br />
<strong>und</strong> Bildungsstand der Eltern.<br />
Die Forschung zeigt zum Glück mehrere wirksame Alternativen<br />
zum Schlagen auf (Denham 1998, 2006). Eine besteht darin,<br />
Verständnis zu zeigen: Wenn Eltern auf die Nöte der Kinder<br />
verständnisvoll reagieren, können diese besser mit der Situation<br />
umgehen, die ihre Gefühle verursacht. Wirksam ist auch, wütenden<br />
Kindern dabei zu helfen, positive Alternativen zu finden,<br />
um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. Wenn man sie zum Beispiel<br />
von der Quelle ihres Ärgers ablenkt <strong>und</strong> sie stattdessen dazu<br />
bringt, etwas zu tun, was ihnen Freude macht, kommen sie mit<br />
ihren negativen Gefühlen besser zurecht.<br />
Diese <strong>und</strong> ähnliche Strategien, wie etwa eine Unterbrechung<br />
durch T<strong>im</strong>e-out, können nicht nur von Eltern, sondern auch von<br />
anderen an der Erziehung beteiligten Personen, beispielsweise<br />
Tagesmüttern, Erzieherinnen oder Lehrerinnen, angewandt<br />
werden. Einen Nachweis dafür erbrachte ein spezielles Trainingsprogramm<br />
für (drei- <strong>und</strong> vierjährige) Vorschulkinder, die<br />
sehr aggressiv <strong>und</strong> unkontrolliert waren (Denham <strong>und</strong> Burton<br />
1996). Die Vorschulerzieherinnen konnten den Kindern nach<br />
einem 32-wöchigen Training helfen, ihre eigenen Gefühle sowie<br />
die Gefühle der anderen Kinder zu erkennen. Sie brachten<br />
den Kindern Techniken zur Kontrolle ihrer Wut bei <strong>und</strong><br />
gaben ihnen Hinweise, wie sie Konflikte mit anderen Kindern<br />
lösen können. Eine Methode, die den Kindern helfen sollte,<br />
mit ihrem Ärger kontrolliert umzugehen, war die sogenannte<br />
Schildkrötentechnik: Wenn sie merkten, dass sie wütend wurden,<br />
sollten sie von den anderen Kindern weggehen <strong>und</strong> sich in<br />
ihren „Schildkrötenpanzer“ zurückziehen, wo sie die Situation<br />
noch einmal überdenken konnten, bis sie bereit <strong>und</strong> in der Lage<br />
waren, den Panzer wieder zu verlassen. Überall hingen Plakate<br />
<strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer, die den Kindern vor Augen hielten, was bei<br />
aufkommender Wut zu tun ist.<br />
Dieses Trainingsprogramm war sehr erfolgreich. Den teilnehmenden<br />
Kindern gelang es am Ende besser, ihren Ärger zu<br />
erkennen <strong>und</strong> zu regulieren, sobald er auftrat, <strong>und</strong> sie verhielten<br />
sich generell weniger negativ. Ein Junge, der regelmäßig handgreiflich<br />
geworden war, wenn er sich ärgerte, sagte zu seiner<br />
Erzieherin, nachdem er sich mit einem anderen Kind über<br />
ein Spielzeug gestritten hatte: „Schau, ich habe meine Worte<br />
benutzt <strong>und</strong> nicht meine Hände“ (Denham 1998, S. 219). Die<br />
Wirkung solcher Programme kann nachhaltig sein. In einer<br />
Nachuntersuchung waren die positiven Wirkungen des in speziellen<br />
Unterrichtsräumen durchgeführten Trainings noch zwei<br />
Jahre später nachweisbar (Greenberg <strong>und</strong> Kuschée 2006). Ein<br />
für deutsche Kindergärten <strong>und</strong> Schulen adaptiertes Curriculum<br />
(„Faustlos“) wurde von Cierpka 2001 entwickelt <strong>und</strong> positiv<br />
evaluiert (Schick <strong>und</strong> Cierpka 2004). Das Beispiel zeigt, dass<br />
die Kenntnis entwicklungspsychologischer Forschungsergebnisse<br />
jedem, der mit Kindern <strong>und</strong> ihrer Erziehung zu tun hat,<br />
helfen kann.
4<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
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Sozialpolitische Entscheidungen treffen<br />
Ein weiterer Gr<strong>und</strong>, sich mit <strong>Entwicklungspsychologie</strong> zu beschäftigen,<br />
besteht darin, begründete Entscheidungen nicht nur<br />
bei den eigenen Kindern treffen zu können, sondern auch bei<br />
sozialpolitischen Fragen, die Kinder allgemein betreffen. Wie viel<br />
Vertrauen können Richter <strong>und</strong> Schöffen in Fällen von <strong>Kindes</strong>missbrauch<br />
der Zeugenaussage eines Vorschulkindes schenken?<br />
Sollten leistungsschwache Schüler eine Klasse wiederholen oder<br />
in die nächste Klasse versetzt werden, damit sie mit Gleichaltrigen<br />
lernen können? Wie wirksam sind Präventionsmaßnahmen<br />
der Ges<strong>und</strong>heitserziehung, die auf eine Verringerung des Rauchens<br />
<strong>und</strong> Trinkens bei Jugendlichen <strong>und</strong> die Vermeidung früher<br />
Schwangerschaften abzielen? Die Erforschung der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
liefert Informationen, die für die genannten <strong>und</strong> viele<br />
weitere politische Entscheidungen relevant sein können.<br />
Nehmen wir die Frage, wie glaubwürdig Zeugenaussagen von<br />
Vorschulkindern vor Gericht sind. Derzeit werden in den USA pro<br />
Jahr mehr als 100.000 Kinder in Rechtsfällen angehört (Bruck et al.<br />
2006). Viele dieser Kinder sind noch sehr jung: So sind beispielsweise<br />
mehr als 40 % jener Kinder, die <strong>im</strong> Zusammenhang mit sexuellem<br />
Missbrauch aussagen, keine fünf Jahre alt, <strong>und</strong> fast 40 % der<br />
stichhaltigen Fälle sexuellen Missbrauchs betreffen Kinder unter<br />
sieben Jahren (Bruck et al. 2006; Gray 1993). Von ihren Aussagen<br />
hängt viel ab. Falls das Gericht einem Kind glaubt, dessen Aussage,<br />
es sei missbraucht worden, aber falsch ist, können Unschuldige<br />
jahrelang ins Gefängnis wandern, <strong>und</strong> ihr guter Ruf ist für<br />
<strong>im</strong>mer ruiniert. Glaubt man wahrheitsgetreuen Aussagen dagegen<br />
nicht, kommen die Täter ungeschoren davon <strong>und</strong> vergreifen sich<br />
vielleicht noch an anderen Kindern. Aber wie können wir wissen,<br />
wann man einem Kind glauben kann? Was also können wir tun,<br />
um auch von kleinen Kindern glaubwürdige Zeugenaussagen zu<br />
erhalten <strong>und</strong> jede Beeinflussung zu vermeiden, die zu Aussagen<br />
über Dinge führen, die das Kind tatsächlich gar nicht erlebt hat?<br />
..<br />
Vor Gericht ist es von größter Wichtigkeit, Fragen so zu stellen, dass sie<br />
Kindern helfen, sehr genaue Zeugenaussagen zu machen. (© St. Petersburg<br />
T<strong>im</strong>es/Scott Mcintyre/The Image Work)<br />
Psychologische Forschung konnte zur Beantwortung solcher Fragen<br />
bereits erfolgreich beitragen. Ein Exper<strong>im</strong>ent untersuchte<br />
beispielsweise, inwieweit eine falsche Befragung die Genauigkeit<br />
der Erinnerung an körperliche Berührungen beeinflusst. Dreibis<br />
Sechsjährige sollten <strong>im</strong> Rahmen eines dem deutschen Kommando<br />
P<strong>im</strong>perle vergleichbaren Spiels best<strong>im</strong>mte Körperteile<br />
von sich selbst <strong>und</strong> anderen berühren. Nach einem Monat wurden<br />
sie über ihre Erlebnisse befragt (Ceci <strong>und</strong> Bruck 1998). Die<br />
Interviewerin hatte zuvor eine Beschreibung erhalten, aus der<br />
hervorging, was jedes Kind erlebt hatte, ohne jedoch zu wissen,<br />
dass ihre Information manchmal zutraf <strong>und</strong> manchmal nicht.<br />
Beispielsweise konnte ein Kind während des Spiels sich selbst an<br />
den Bauch <strong>und</strong> ein anderes Kind an die Nase gefasst haben, während<br />
man der Sozialarbeiterin sagte, das Kind habe sich an den<br />
Bauch <strong>und</strong> das andere Kind am Fuß angefasst. Danach erhielt<br />
die Fragestellerin eine Anweisung, wie sie auch <strong>im</strong> Gerichtsfall<br />
vorkommt: „Finden Sie heraus, woran sich das Kind erinnert!“<br />
Es stellte sich heraus, dass sich in der Art der Fragestellung,<br />
mit der sich die Sozialarbeiterin bemühte, die Erinnerungen der<br />
Kinder zu erfassen, häufig diejenige Version der Ereignisse widerspiegelte,<br />
die man ihr zuvor vermittelt hatte. Falls die Ereignisbeschreibungen<br />
eines <strong>Kindes</strong> dem widersprachen, was sie für zutreffend<br />
hielt, wiederholte sie meistens ihre Fragen über das Ereignis<br />
(„Bist du sicher, dass du seinen Fuß angefasst hast? Könnte es nicht<br />
ein anderer Körperteil gewesen sein?“). Konfrontiert mit diesen<br />
wiederholten Fragen, nahmen die Kinder oft an, dass die Antwort,<br />
die sie gegeben hatten, irgendwie falsch gewesen sein musste,<br />
<strong>und</strong> in der Folge st<strong>im</strong>mten sie ihre Antwort auf die Erwartungen<br />
der Fragestellerin ab. Im Ergebnis bestätigten 34 % der Drei- <strong>und</strong><br />
Vierjährigen <strong>und</strong> 18 % der Fünf- <strong>und</strong> Sechsjährigen mindestens<br />
eine der unzutreffenden Annahmen der Fragestellerin. Die Kinder<br />
wurden suggestiv dazu verleitet, nicht nur plausible, sondern<br />
auch unwahrscheinliche Geschehnisse zu „erinnern“, die der Sozialarbeiterin<br />
<strong>im</strong> Vorfeld berichtet worden waren. Beispielsweise<br />
glaubten einige Kinder, sich daran zu erinnern, dass man sie am<br />
Knie geleckt <strong>und</strong> ihnen eine Murmel ins Ohr gesteckt habe.<br />
Aus derartigen Untersuchungen lassen sich einige Konsequenzen<br />
für die Beurteilung von Zeugenaussagen von Kindern<br />
in Rechtsfällen ableiten. Die wichtigste Einsicht besteht darin,<br />
dass selbst drei- bis fünfjährige Kinder zuverlässige Zeugenaussagen<br />
vor Gericht liefern können, soweit sie diese spontan machen<br />
(Bruck et al. 2006; Howe <strong>und</strong> Courage 1997). Je jünger die Kinder<br />
sind, desto anfälliger sind sie allerdings für Suggestivfragen, besonders<br />
wenn <strong>im</strong>mer wieder nachgefragt wird. Auch fand man<br />
heraus, dass Requisiten wie anatomisch naturgetreue Puppen,<br />
die man in Gerichtsverfahren häufig in der Hoffnung einsetzt,<br />
die Erinnerung an sexuellen Missbrauch zu verbessern, eher zu<br />
falschen Behauptungen führen, möglicherweise deshalb, weil<br />
die Grenze zwischen fantasievollem Spiel <strong>und</strong> erinnerter Wirklichkeit<br />
verschw<strong>im</strong>mt (Lamb et al. 2008; Poole et al. 2011). Die<br />
Erforschung kindlicher Zeugenaussagen hat enorme praktische<br />
Bedeutung, <strong>und</strong> ihre Erkenntnisse haben bereits zu Revisionen<br />
der Befragungsmethoden geführt, mit denen Kinder als Zeugen<br />
von der Polizei <strong>und</strong> Gerichten angehört werden (z. B. State of<br />
Michigan, Governor’s Task Force 2011). Bef<strong>und</strong>e dieser Art tragen<br />
dazu bei, dass die Gerichte genauere Zeugnisse von jüngeren<br />
Kindern erhalten. In breiterem Zusammenhang gesehen illustrieren<br />
die geschilderten Ergebnisse, wie das Wissen über die<br />
Entwicklung von Kindern zu sozialpolitischen Entscheidungen<br />
<strong>und</strong> Verfahrensweisen beitragen kann.
Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung?<br />
5 1<br />
Das Wesen des Menschen verstehen<br />
Ein dritter Gr<strong>und</strong> für die Erforschung der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
besteht darin, dass man das Wesen des Menschen besser verstehen<br />
lernt. Viele der interessantesten Fragen über das Menschsein<br />
betreffen Kinder. Zum Beispiel: Beginnt der Prozess des Lernens<br />
erst nach der Geburt oder schon <strong>im</strong> Mutterleib? Lassen sich die<br />
nachteiligen Wirkungen früherer Aufenthalte in einer lieblosen<br />
Institution durch spätere Erziehung in einem liebevollen Zuhause<br />
ausgleichen? Unterscheiden sich Kinder in ihrer Persönlichkeit<br />
<strong>und</strong> ihrer Intelligenz vom ersten Tag an, oder sind sie sich<br />
bei Geburt recht ähnlich, <strong>und</strong> die Unterschiede ergeben sich erst<br />
aufgr<strong>und</strong> unterschiedlicher Lebenserfahrungen? Bis vor kurzer<br />
Zeit konnten wir über solche Fragen nur spekulieren. Mittlerweile<br />
verfügen Entwicklungsforscher aber über Methoden, die<br />
es möglich machen, Entwicklungsprozesse genau zu beobachten,<br />
zu beschreiben <strong>und</strong> zu erklären.<br />
Wie die Forschung unser Verständnis von der menschlichen<br />
Natur erweitern kann, illustrieren Untersuchungen über<br />
die Fähigkeit von Kindern, die Wirkung früher Misshandlungen<br />
zu überwinden. Dabei scheint bedeutsam, in welchem Alter es<br />
zur Misshandlung kam <strong>und</strong> wann sie endete. Im Rahmen eines<br />
entsprechenden Forschungsprogramms wurden Kinder untersucht,<br />
die in den späten 1980er <strong>und</strong> frühen 1990er Jahren ihre<br />
erste Lebenszeit unter schrecklichen Umständen in rumänischen<br />
Waisenhäusern verbracht hatten (McCall et al. 2011; Nelson et al.<br />
2007; Rutter et al. 2004). Dort hatten sie kaum persönlichen Kontakt<br />
zu irgendeiner Pflegeperson. Aus unbekannten, nicht nachvollziehbaren<br />
Gründen hatte man das Pflegepersonal in der Zeit<br />
der kommunistischen Diktatur dazu angehalten, sich nicht auf<br />
Interaktionen mit den Kindern einzulassen, noch nicht einmal<br />
be<strong>im</strong> Füttern. Viele Säuglinge hatten vom 18- bis 20-stündigen<br />
Auf-dem-Rücken-Liegen ohne körperliche Bewegung abgeflachte<br />
Hinterköpfe bekommen.<br />
..<br />
Dieses Foto zeigt eines der Kinder aus einem rumänischen Waisenhaus,<br />
die in den 1990er Jahren adoptiert wurden. Ob es sich erfolgreich<br />
entwickeln konnte, war nicht nur von der Qualität der Fürsorge in seiner<br />
Adoptivfamilie abhängig, sondern auch von der Zeit, die es <strong>im</strong> Waisenhaus<br />
verbrachte, <strong>und</strong> vom Alter, in dem es adoptiert wurde. (© Peter Turnley/<br />
Corbis)<br />
Kurz nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Reg<strong>im</strong>es<br />
in Rumänien adoptierten britische Familien einige dieser Kinder.<br />
Bei der Ankunft in Großbritannien waren die meisten von ihnen<br />
massiv unterernährt; über die Hälfte lag bezüglich körperlicher<br />
Maße wie Größe, Gewicht <strong>und</strong> Kopfumfang in den unteren drei<br />
Prozenten der Normalverteilung von Kindern gleichen Alters.<br />
Die meisten waren in unterschiedlichen Graden geistig zurückgeblieben<br />
<strong>und</strong> sozial nicht altersgemäß entwickelt. Die Adoptiveltern<br />
wussten von den Umständen, in denen die Kinder ohne<br />
jeden Entwicklungsanreiz aufgewachsen waren, <strong>und</strong> sie waren<br />
hochmotiviert, den Kindern ein liebevolles Elternhaus zu bieten,<br />
um die schädigenden Wirkungen der frühen Vernachlässigung<br />
zu überwinden.<br />
Um die Langzeitwirkungen dieser frühen Deprivation (Entzug<br />
von Anreizen, der die psychische <strong>und</strong> körperliche Entwicklung<br />
massiv beeinträchtigt) einschätzen zu können, untersuchte<br />
man die körperliche, geistige <strong>und</strong> soziale Entwicklung von 150<br />
dieser in Rumänien geborenen Kinder, als diese sechs Jahre alt<br />
waren, <strong>und</strong> ein weiteres Mal <strong>im</strong> Alter von elf Jahren. Um eine<br />
Vergleichsbasis zu schaffen, untersuchten die Forscher die Entwicklung<br />
einer weiteren Gruppe von Kindern, die in Großbritannien<br />
geboren <strong>und</strong> vor dem sechsten Lebensmonat von britischen<br />
Familien adoptiert worden waren. Vereinfacht ausgedrückt lautete<br />
die Frage: Ist die menschliche Natur so flexibel, dass die Folgen<br />
früher extremer Deprivation überw<strong>und</strong>en werden können,<br />
<strong>und</strong>, wenn ja, sinkt diese Flexibilität mit dem Alter der Kinder<br />
<strong>und</strong> mit der Deprivationsdauer?<br />
Deprivation – Der Entzug von Anreizen, der die psychische <strong>und</strong> körperliche<br />
Entwicklung eines <strong>Kindes</strong> massiv beeinträchtigt.<br />
Im Alter von sechs Jahren hatte sich die körperliche Entwicklung<br />
der in Rumänien geborenen Kinder sowohl in absoluten Maßen<br />
als auch <strong>im</strong> Vergleich zur Gruppe der in Großbritannien geborenen<br />
Kinder deutlich verbessert. Die frühen Deprivationserfahrungen<br />
beeinflussten die Entwicklung der rumänischen Kinder<br />
jedoch weiterhin, wobei das Ausmaß negativer Wirkungen<br />
davon abhing, wie lange das jeweilige Kind <strong>im</strong> He<strong>im</strong> gewesen<br />
war. Rumänische Kinder, die vor dem sechsten Lebensmonat<br />
von britischen Familien adoptiert worden waren, also nur eine<br />
kurze Phase ihres frühkindlichen Lebens in einem Waisenhaus<br />
verbracht hatten, wogen <strong>im</strong> Alter von sechs Jahren ungefähr so<br />
viel wie die in Großbritannien geborenen Kinder gleichen Alters.<br />
Die rumänischen Kinder, die zwischen dem sechsten <strong>und</strong> dem<br />
24. Lebensmonat adoptiert worden waren, also in ihrer frühen<br />
Kindheit eine längere Zeit in Waisenhäusern verbracht hatten,<br />
wogen weniger; <strong>und</strong> diejenigen, die erst zwischen dem 24. <strong>und</strong><br />
dem 42. Lebensmonat adoptiert worden waren, wogen noch weniger<br />
(Rutter et al. 2004).<br />
In der geistigen Entwicklung zeichnete sich ein ähnliches<br />
Muster ab. In Rumänien geborene Kinder, die vor dem sechsten<br />
Lebensmonat adoptiert worden waren, erreichten als Sechsjährige<br />
ein vergleichbares geistiges Niveau wie die Kinder der britischen<br />
Kontrollgruppe. Die rumänischen Kinder, die zwischen<br />
dem sechsten <strong>und</strong> dem 24. Lebensmonat adoptiert worden waren,<br />
schnitten etwas schlechter ab; <strong>und</strong> diejenigen, die zwischen<br />
dem 24. <strong>und</strong> dem 42. Lebensmonat adoptiert worden waren,
6<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
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erzielten noch schlechtere Testergebnisse (Rutter et al. 2004).<br />
Die Defizite in der geistigen Entwicklung zeigten sich bei den<br />
rumänischen Kindern, die <strong>im</strong> Alter von mehr als sechs Monaten<br />
adoptiert wurden waren, auch be<strong>im</strong> Nachtest <strong>im</strong> Alter von elf<br />
Jahren (Beckett et al. 2006; Kreppner et al. 2007).<br />
Die frühe Erfahrung in Waisenhäusern wirkte sich ähnlich<br />
schädigend auf das Sozialverhalten der Kinder aus (Kreppner<br />
et al. 2007; O’Connor et al. 2000). Beinahe 20 % der rumänischen<br />
Kinder, die nach dem sechsten Lebensmonat adoptiert worden<br />
waren, zeigten <strong>im</strong> Alter von sechs Jahren ein extrem abweichendes<br />
Sozialverhalten – sie schauten in angstauslösenden Situationen<br />
nicht zu ihren Eltern <strong>und</strong> gingen bereitwillig mit fremden<br />
Personen mit (gegenüber 3 % der in Großbritannien geborenen<br />
Vergleichsgruppe). Dieses atypische Sozialverhalten ging mit<br />
einer anomalen Gehirnaktivität einher. Bei Gehirnaufnahmen<br />
<strong>im</strong> Alter von acht Jahren zeigte bei den adoptierten Kindern,<br />
die relativ lange <strong>im</strong> rumänischen Waisenhaus gelebt hatten, eine<br />
ungewöhnlich geringe Aktivität in der Amygdala – einem an<br />
emotionalen Reaktionen wesentlich beteiligten Gerhirnbereich<br />
(Chugani et al. 2001). Nachfolgende Untersuchungen haben<br />
ähnlich auffällige Gehirnbef<strong>und</strong>e bei Kindern festgestellt, die<br />
ihre frühe Lebenszeit unter ungünstigen He<strong>im</strong>bedingungen in<br />
Russland <strong>und</strong> Ostasien verbracht hatten (Nelson et al. 2011; Tottenham<br />
et al. 2010).<br />
Diese Bef<strong>und</strong>e spiegeln ein Gr<strong>und</strong>prinzip der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
wider, das für viele Aspekte der menschlichen Natur<br />
bedeutsam ist: Der Zeitpunkt von Erfahrungen beeinflusst deren<br />
Wirkung. In diesem Fall waren die Kinder flexibel genug, um die<br />
Wirkungen der Lebensumstände in lieblosen, reizarmen He<strong>im</strong>en<br />
kompensieren zu können, solange die Deprivation nicht über die<br />
ersten sechs Monate ihres Lebens hinaus angedauert hatte; hatten<br />
die Kinder länger hospitalisiert gelebt, dann konnten sie die<br />
Wirkungen dieser Erfahrungen trotz der darauffolgenden Jahre<br />
in liebevoller <strong>und</strong> anregender Umgebung nur noch selten kompensieren.<br />
Die Adoptivfamilien bewirkten zwar überaus positive<br />
Veränderungen, aber die meisten Kinder jener Gruppe, die erst<br />
nach dem sechsten Lebensmonat adoptiert worden waren, trugen<br />
ihr Leben lang an den bleibenden Folgen ihrer frühen Isolierung.<br />
In Kürze | |<br />
Für die Untersuchung der <strong>Kindes</strong>entwicklung gibt es<br />
mindestens drei gute Gründe: Man kann die Erziehung der<br />
eigenen Kinder verbessern, zur Verbesserung der sozialen<br />
Situation von Kindern <strong>im</strong> Allgemeinen beitragen <strong>und</strong> die<br />
Natur des Menschen besser verstehen.<br />
Historische Wurzeln der Beschäftigung<br />
mit <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
Von der griechischen Antike bis zum Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
beobachteten viele bekannte Denker Kinder <strong>und</strong> schrieben<br />
darüber. Ihre Ziele waren dabei kaum andere als die der heutigen<br />
Forscher: Sie wollten den Menschen helfen, bessere Eltern zu<br />
werden, sie wollten das Wohlergehen der Kinder fördern, <strong>und</strong> sie<br />
wollten das Wesen des Menschen ergründen. Anders als die Forscher<br />
von heute orientierten sich ihre Schlussfolgerungen an philosophischen<br />
Wissensgr<strong>und</strong>sätzen <strong>und</strong> stützten sich auf formlose<br />
unsystematische Beobachtungen weniger Kinder, mit denen sie<br />
eher zufällig zu tun hatten. Ihre Fragen <strong>und</strong> ihre Einsichten waren<br />
jedoch so gr<strong>und</strong>legend, dass sich eine Auseinandersetzung<br />
mit ihren Sichtweisen auch heute noch lohnt.<br />
Frühe philosophische Ansichten<br />
zur <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
Zu den frühesten aufgezeichneten Ansichten über die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
gehören die Schriften von Platon <strong>und</strong> Aristoteles.<br />
Diese beiden griechischen Philosophen lebten <strong>im</strong> vierten vorchristlichen<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert. Sie interessierten sich besonders dafür,<br />
wie sich die Anlagen <strong>und</strong> die Erziehung von Kindern auf deren<br />
Entwicklung auswirken.<br />
Sowohl Platon als auch Aristoteles glaubten, dass das Wohlergehen<br />
einer Gesellschaft auf lange Sicht davon abhängt, dass<br />
die Kinder angemessen erzogen werden. Eine sorgfältige Erziehung<br />
sei entscheidend, weil ihre Natur sie sonst rebellisch <strong>und</strong><br />
gesetzlos werden lasse. Platon sah diesbezüglich bei Jungen eine<br />
besondere Herausforderung in der Erziehung zu einem rechtschaffenen<br />
Bürger:<br />
» Der Knabe aber ist unter allen Geschöpfen das am schwierigsten<br />
zu behandelnde; denn je mehr er eine Quelle des Nachdenkens<br />
besitzt, die noch nicht die rechte Richtung erhielt,<br />
wird er hinterhältig <strong>und</strong> verschlagen <strong>und</strong> das übermütigste<br />
der Geschöpfe. Darum gilt es, durch mannigfache Zügel ihn<br />
jenes kindischen <strong>und</strong> unverständigen Wesens wegen zu<br />
bändigen (Platon, Nomoi, Buch VII, 808).<br />
In Übereinst<strong>im</strong>mung mit dieser Sichtweise betonte Platon<br />
Selbstkontrolle <strong>und</strong> Disziplin als die wichtigsten Erziehungsziele<br />
(Borstelmann 1983).<br />
Aristoteles st<strong>im</strong>mte mit Platon darin überein, dass Disziplin<br />
<strong>im</strong> Einhalten geschriebener <strong>und</strong> ungeschriebener Gesetze wichtig<br />
notwendig sei, befasste sich darüber hinaus aber mehr noch<br />
mit der individuellen Erziehung <strong>und</strong> ihrer Anpassung an die Bedürfnisse<br />
des einzelnen <strong>Kindes</strong>:<br />
» Ferner, die Einzelerziehung ist von der gemeinsamen verschieden<br />
[…] Darum dürfte das einzelne sorgfältiger behandelt<br />
werden, wenn ihm eine eigene Fürsorge zuteilwird: dann<br />
erhält der einzelne eher, was ihm nützt (Aristoteles, Nikomachische<br />
Ethik, Buch 10, 1180b).<br />
Weit stärker unterschieden sich Platon <strong>und</strong> Aristoteles in ihren<br />
Ansichten darüber, wie Kinder Wissen erwerben. Platon glaubte,<br />
dass Kinder mit angeborenem Wissen auf die Welt kommen.<br />
Beispielsweise nahm er an, dass Kindern mit einer Vorstellung<br />
vom „Tier“ geboren werden, sodass sie in der Lage seien, H<strong>und</strong>e,<br />
Katzen <strong>und</strong> andere lebendige Geschöpfe, denen sie begegnen,<br />
als Tiere zu erkennen. Im Gegensatz dazu nahm Aristoteles an,<br />
dass alles Wissen aus der Erfahrung kommt, <strong>und</strong> verglich den
Historische Wurzeln der Beschäftigung mit <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
7 1<br />
Verstand eines Kleinkindes mit einer Schiefertafel, auf der noch<br />
nichts geschrieben steht.<br />
Etwa 2000 Jahre später richteten der englische Philosoph<br />
John Locke (1632–1704) <strong>und</strong> der französische Philosoph Jean-<br />
Jacques Rousseau (1712–1778) erneut ihr Augenmerk darauf,<br />
wie die Eltern <strong>und</strong> die Gesellschaft allgemein die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
am besten fördern können. Wie auch schon Aristoteles<br />
betrachtete Locke das Kind als tabula rasa, als unbeschriebenes<br />
Blatt, dessen Entwicklung weitestgehend die Erziehung durch<br />
seine Eltern sowie gesellschaftliche Einflüsse widerspiegele. Er<br />
glaubte, das wichtigste Ziel der <strong>Kindes</strong>erziehung bestehe darin,<br />
Wachstum <strong>und</strong> Charakter der Persönlichkeit zu fördern. Um<br />
diese Eigenschaften auf- <strong>und</strong> auszubauen, müssten Eltern in<br />
puncto Ehrlichkeit, Beständigkeit <strong>und</strong> Sanftmut mit gutem Beispiel<br />
vorangehen. Sie sollten es vermeiden, dem Kind gegenüber<br />
allzu nachgiebig zu sein, besonders in den ersten Lebensjahren;<br />
sobald ihm Disziplin <strong>und</strong> Verstand vermittelt wurden, sollten<br />
nach Lockes Meinung die Zügel etwas lockerer gelassen werden,<br />
denn je eher man das Kind wie einen Menschen behandele,<br />
desto früher werde es auch beginnen, ein solcher zu sein<br />
(Borstelmann 1983).<br />
Während sich Locke dafür aussprach, zuerst Disziplin herzustellen<br />
<strong>und</strong> dem Kind erst nach <strong>und</strong> nach größere Freiheiten zu<br />
geben, ging Rousseau davon aus, dass Eltern <strong>und</strong> die Gesellschaft<br />
Kindern von Anfang an max<strong>im</strong>ale möglichst viele Freiheiten gewähren<br />
sollten. Rousseau behauptete, dass Kinder vor allem aus<br />
ihren eigenen spontanen Begegnungen mit Gegenständen <strong>und</strong><br />
anderen Menschen lernen würden <strong>und</strong> weniger durch Anweisungen<br />
ihrer Eltern <strong>und</strong> Lehrer. Er sprach sich sogar dafür aus,<br />
dass Kinder bis zum Alter von etwa zwölf Jahren keine formale<br />
Erziehung erhalten sollten, sondern erst, wenn sie das „Verstandesalter“<br />
erreichen <strong>und</strong> sie den Wert dessen, was sie lesen <strong>und</strong><br />
was ihnen gesagt wird, selbst beurteilen können. Bis dahin sollte<br />
ihnen die Freiheit zugestanden werden, alles zu erk<strong>und</strong>en, was<br />
sie interessiere.<br />
Alle diese philosophischen Positionen wurden vor sehr<br />
langer Zeit formuliert, bilden aber noch <strong>im</strong>mer den Ausgangspunkt<br />
für aktuelle Debatten, etwa wenn es um die Frage geht,<br />
ob Kinder erwünschte Wissensinhalte <strong>und</strong> Fertigkeiten durch<br />
Anleitung <strong>und</strong> Instruktion oder durch ein Max<strong>im</strong>um an Freiheit<br />
be<strong>im</strong> selbstständigen Entdecken erwerben sollten oder ob Eltern<br />
durch explizite Anweisungen oder durch ihr Vorbild die Persönlichkeitsentwicklung<br />
ihres <strong>Kindes</strong> fördern sollten.<br />
Soziale Reformbewegungen<br />
Eine weitere Entwicklung, die der modernen Kinderpsychologie<br />
vorausging, war die sozialreformistische Bewegung, die die<br />
Lebensbedingungen der Kinder verbessern wollten. Im Verlauf<br />
der industriellen Revolution des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts setzte<br />
man viele Kinder in Europa <strong>und</strong> in den USA als schlecht bezahlte,<br />
rechtlose Arbeitskräfte ein. Manche waren gerade einmal<br />
fünf oder sechs Jahre alt; viele arbeiteten bis zu zwölf St<strong>und</strong>en<br />
am Tag in Fabriken oder Minen, oft unter äußerst gefährlichen<br />
Umständen. Diese harten Bedingungen riefen einige Sozialreformer<br />
auf den Plan, die begannen, die Wirkungen dieser Lebensbedingungen<br />
auf die Entwicklung der Kinder zu untersuchen.<br />
Beispielsweise hielt der Earl of Shaftesbury 1842 eine Rede<br />
vor dem britischen Unterhaus, in der es um die Bef<strong>und</strong>e eines<br />
Ausschusses ging, der sich mit den Bedingungen in den Minen<br />
befasst hatte. Er berichtete, dass die engen Schächte, in denen die<br />
Kinder Kohle abbauten,<br />
» sehr unzureichend entwässert sind. Die Laufwege sind so<br />
niedrig, dass nur kleine Jungen darin arbeiten können, was<br />
sie unbekleidet tun, oft in Schlamm <strong>und</strong> Wasser, wobei sie<br />
die Transportwannen mit Ketten an ihrem Gürtel ziehen. […]<br />
Liebenswürdige, wohlerzogene Kinder <strong>im</strong> Alter von sieben<br />
Jahren kommen von den Zechen nach einer Saison oft völlig<br />
verdorben zurück <strong>und</strong> […] mit teuflischer Wesensart<br />
(zit. nach Kessen 1965, S. 46–50).<br />
..<br />
Im 18., 19. <strong>und</strong> frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert arbeiteten viele junge Kinder<br />
in Kohleminen <strong>und</strong> Fabriken. Ihr Arbeitstag war lang <strong>und</strong> die Arbeit oft<br />
unges<strong>und</strong> <strong>und</strong> gefährlich. Die Sorge um das Wohlergehen solcher Kinder<br />
führte zu einigen der frühesten Untersuchungen über <strong>Kindes</strong>entwicklung. (©<br />
Bettmann/Corbis)<br />
Die sozialreformerischen Bemühungen des Grafen waren zum<br />
Teil erfolgreich – es erging ein Gesetz, das die Beschäftigung<br />
von Jungen <strong>und</strong> Mädchen unter zehn Jahren verbot. Und nicht<br />
nur das: Diese <strong>und</strong> weitere frühe Sozialreformen zogen auch<br />
Forschungen zum Nutzen von Kindern nach sich <strong>und</strong> lieferten<br />
so erste Beschreibungen der negativen Auswirkungen, die<br />
harte Umweltbedingungen auf die <strong>Kindes</strong>entwicklung haben<br />
können.<br />
Darwins Evolutionstheorie<br />
Im weiteren Verlauf des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ließen die Arbeiten<br />
von Charles Darwin zur biologischen Evolution viele Wissenschaftler<br />
vermuten, dass die intensive Untersuchung der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
wichtige Erkenntnisse über das Wesen des<br />
Menschen liefern könnte. Bereits Darwin selbst war schon an<br />
der Entwicklung von Kindern interessiert <strong>und</strong> veröffentlichte<br />
1877 den Aufsatz „Eine biografische Skizze eines Kleinkinds“<br />
(A Biographical Sketch of an Infant), in dem er die sorgfältigen<br />
Beobachtungen der motorischen, sensorischen <strong>und</strong> emotionalen
8<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
1<br />
2<br />
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19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Entwicklung seines eigenen, gerade geborenen Sohnes William<br />
niederschrieb. Darwins „Baby-Biografie“ lieferte eine systematische<br />
Beschreibung der normalen Entwicklung <strong>und</strong> kann als eine<br />
der ersten Methoden zur Untersuchung der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
gelten.<br />
Solche intensiven Studien zur Entwicklung einzelner Kinder<br />
bleiben ein besonderes Element moderner Forschung. Darwins<br />
Evolutionstheorie wirkt überdies in vielen Konzepten, wie etwa<br />
Mutter-Kind-Bindung (Bowlby 1969), angeborene Furcht vor<br />
Spinnen oder Schlangen (Rakison <strong>und</strong> Derringer 2008), Vorstellungen<br />
zu Geschlechtsunterschieden (Geary 2009), Aggression<br />
<strong>und</strong> Altruismus (Tooby <strong>und</strong> Cosmides 2005) bis hin zu Annahmen<br />
über Lernmechanismen (<strong>Siegler</strong> 1996).<br />
Die Anfänge forschungsbasierter Theorien<br />
der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
Ende des 19. <strong>und</strong> Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden die ersten<br />
Theorien der <strong>Kindes</strong>entwicklung formuliert, die die Forschungsbef<strong>und</strong>e<br />
zusammenfassten. Eine wichtige Theorie, die<br />
des österreichischen Psychiaters Sigm<strong>und</strong> Freud, gründete sich<br />
in großen Teilen auf Ergebnisse aus Untersuchungen, in denen<br />
mit Hypnose <strong>und</strong> Traumdeutung sowie Kindheitserinnerungen<br />
gearbeitet wurde. Nach Freuds psychoanalytischer Theorie haben<br />
biologische, insbesondere sexuelle Triebe, einen entscheidenden<br />
Einfluss auf die Entwicklung.<br />
Eine andere prominente Theorie aus derselben Zeit, die des<br />
amerikanischen Psychologen John Watson, gründete sich größtenteils<br />
auf Exper<strong>im</strong>entalbef<strong>und</strong>e über Lernprozesse bei Tieren<br />
<strong>und</strong> Kindern. Watsons behavioristische Theorie ging davon aus,<br />
dass die <strong>Kindes</strong>entwicklung durch Umweltbedingungen gesteuert<br />
wird, besonders durch Belohnung <strong>und</strong> Bestrafung, die auf<br />
best<strong>im</strong>mte Ereignisse <strong>und</strong> Verhaltensweisen folgen.<br />
Gemessen an heutigen Standards können die Methoden,<br />
mit denen man damals zu Erkenntnissen gelangte, bestenfalls<br />
als unvollkommen bezeichnet werden; entsprechend waren die<br />
Theorien, die darauf aufbauten, in ihrer Aussagekraft begrenzt.<br />
Aber <strong>im</strong>merhin war ihre Gr<strong>und</strong>lage besser als die früherer (philosophischer)<br />
Ansätze; ihre Aussagen wiesen einen höheren Grad<br />
an Differenziertheit auf <strong>und</strong> boten mehr Anregungspotenzial für<br />
die weitere Forschung.<br />
In Kürze | |<br />
Philosophen wie Platon, Aristoteles, Locke <strong>und</strong> Rousseau<br />
sowie frühe wissenschaftliche Theoretiker wie Darwin, Freud<br />
<strong>und</strong> Watson haben viele zentrale Fragen zur <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
bereits gestellt. Dazu gehört, wie Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
die Entwicklung beeinflussen, wie man Kinder am besten<br />
erzieht <strong>und</strong> wie man das Wissen über Entwicklung heranziehen<br />
kann, um das <strong>Kindes</strong>wohl zu verbessern. Die Stringenz<br />
der Argumentation früher Geistesgrößen war begrenzt,<br />
doch können sie als wichtige Wegbereiter der modernen<br />
Perspektiven auf Gr<strong>und</strong>fragen der kindlichen Entwicklung<br />
gelten.<br />
Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
Die neuere Untersuchung der <strong>Kindes</strong>entwicklung beginnt mit<br />
einer Reihe gr<strong>und</strong>legender Fragen. Alles Weitere – Theorien, Begriffe,<br />
Forschungsmethoden <strong>und</strong> Daten – ist Teil des Bemühens,<br />
Antworten auf diese Fragen zu finden. Zwar mag den verschiedenen<br />
Fachexperten das eine oder andere Thema besonders wichtig<br />
erscheinen; es besteht jedoch breite Übereinst<strong>im</strong>mung darin,<br />
dass die folgenden sieben Fragen zu den wichtigsten gehören:<br />
1. Wie wirken sich Anlage <strong>und</strong> Umwelt gemeinsam auf die Entwicklung<br />
aus? (Anlage <strong>und</strong> Umwelt)<br />
2. Wie formen Kinder ihre eigene Entwicklung? (Das aktive Kind)<br />
3. Inwiefern verläuft die Entwicklung kontinuierlich oder diskontinuierlich?<br />
(Kontinuität/Diskontinuität)<br />
4. Wie kommt es zu Veränderungen? (Mechanismen entwicklungsbedingter<br />
Veränderungen)<br />
5. Wie wirkt sich der soziokulturelle Kontext auf die Entwicklung<br />
aus? (Der soziokulturelle Kontext)<br />
6. Warum werden Kinder so verschieden? (Interindividuelle<br />
Unterschiede)<br />
7. Wie kann Forschung das <strong>Kindes</strong>wohl fördern? (Forschung<br />
<strong>und</strong> <strong>Kindes</strong>wohl)<br />
Die allgemeinen Antworten, die sich in der Auseinandersetzung<br />
damit ergeben haben, werden <strong>im</strong> Verlauf dieses Buches<br />
<strong>im</strong>mer wieder angesprochen <strong>und</strong> hervorgehoben, wenn es um<br />
best<strong>im</strong>mte Aspekte der <strong>Kindes</strong>entwicklung geht. In den folgenden<br />
Abschnitten erörtern wir kurz diese sieben Fragen <strong>und</strong> die<br />
Themenkomplexe, mit denen sie jeweils verknüpft sind.<br />
1 Anlage <strong>und</strong> Umwelt: Wie wirken sich Anlage<br />
<strong>und</strong> Umwelt gemeinsam auf die Entwicklung<br />
aus?<br />
Die mit Abstand gr<strong>und</strong>legendste Frage zur <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
richtet sich auf das Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong> Umwelt bei<br />
der Gestaltung von Entwicklungsprozessen. Anlage bezieht sich<br />
dabei auf unsere biologische Gr<strong>und</strong>ausstattung, insbesondere<br />
auf die Gene, die unsere Eltern uns mitgegeben haben. Dieses<br />
genetische Erbe beeinflusst praktisch alles, was uns ausmacht <strong>und</strong><br />
persönlich kennzeichnet – von unserer äußeren Erscheinung, unserer<br />
Persönlichkeit, Intelligenz <strong>und</strong> geistigen Ges<strong>und</strong>heit bis hin<br />
zu best<strong>im</strong>mten Vorlieben, beispielsweise unserer politischen Einstellung<br />
<strong>und</strong> dem Hang zu Nervenkitzel <strong>und</strong> Abenteuer (Plomin<br />
2004; Rothbart <strong>und</strong> Bates 2006). Umwelt bezieht sich demgegenüber<br />
auf das breite Spektrum materieller <strong>und</strong> sozialer Umgebungen,<br />
die unsere Entwicklung beeinflussen: den Mutterleib,<br />
in dem wir die Zeit bis zur Geburt verbringen; das Zuhause, in<br />
dem wir aufwachsen; die Schulen, die wir besuchen; die sozialen<br />
<strong>und</strong> politischen Gemeinschaften, in denen wir leben; die vielen<br />
Menschen, mit denen wir zu tun haben.<br />
Anlage – Unsere biologische Gr<strong>und</strong>ausstattung; die von den Eltern erhaltenen<br />
Gene.<br />
Umwelt – Die materiellen <strong>und</strong> sozialen Umgebungen, die unsere Entwicklung<br />
beeinflussen.
Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
9 1<br />
..<br />
Abb. 1.1 Genetische Verwandtschaft<br />
<strong>und</strong> Schizophrenie. Je näher<br />
die biologische Verwandtschaft desto<br />
größer ist die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass Verwandte einer Person mit<br />
Schizophrenie dieselbe Krankheit<br />
aufweisen. (Nach Gottesmann 1991)<br />
Risiko einer Schizophrenieerkrankung (in Prozent)<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Gesamtbevölkerung<br />
Cousin/Cousine<br />
Onkel/Tante<br />
Nichte/Neffe<br />
Enkel<br />
Halbgeschwister<br />
Eltern<br />
Geschwister<br />
Kind<br />
Zweieiiger Zwilling<br />
Eineiiger Zwilling<br />
Verwandschaftsverhältnis zum Schizophreniepatienten<br />
In der Öffentlichkeit wird die Anlage-Umwelt-Diskussion oft als<br />
Entweder-oder-Frage formuliert: „Was best<strong>im</strong>mt das Schicksal<br />
eines Menschen, Erbanlagen oder Umwelt?“ Dieses Entwederoder<br />
ist jedoch irreführend. Jedes Persönlichkeitsmerkmal, das<br />
wir besitzen – Intelligenz, Persönlichkeit, Aussehen, Gefühle –,<br />
entsteht durch das gemeinsame Wirken von Anlage <strong>und</strong> Umwelt,<br />
also durch das ständige Zusammenwirken von Genen <strong>und</strong><br />
Umwelt. Dementsprechend lautet die Frage nicht mehr, ob der<br />
eine oder der andere Einfluss der wichtigere sei, sondern sie richtet<br />
sich auf das Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong> Umwelt bei der<br />
Entwicklung.<br />
Dass dies die richtige Art zu fragen ist, lässt sich an Bef<strong>und</strong>en<br />
zur Entwicklung von Schizophrenien illustrieren. Schizophrenie<br />
ist eine schwere psychische Erkrankung, zu deren Symptomen<br />
irrationales Verhalten, Denkstörungen, Halluzinationen <strong>und</strong><br />
Wahnvorstellungen gehören. Bei dieser Erkrankung gibt es offensichtlich<br />
eine genetische Komponente. Zwar erkranken die<br />
meisten Kinder schizophrener Eltern nicht selbst an Schizophrenie,<br />
doch ist die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung bei ihnen<br />
weit höher als in der Gesamtbevölkerung, selbst wenn sie als<br />
Säuglinge adoptiert wurden <strong>und</strong> ihre biologischen (schizophrenen)<br />
Eltern gar nicht kennen (Kety et al. 1994). Hat von eineiigen<br />
Zwillingen, deren Gene identisch sind, einer Schizophrenie, dann<br />
ist der andere Zwilling mit etwa 50%iger Wahrscheinlichkeit<br />
ebenfalls schizophren – eine weit höhere Gefährdung als in der<br />
Gesamtbevölkerung, wo die entsprechende Wahrscheinlichkeit<br />
bei etwa 1 % liegt (Gottesman 1991; Cardno <strong>und</strong> Gottesman<br />
2000; . Abb. 1.1). Die genetische Ausstattung der Kinder wirkt<br />
sich also auf die Wahrscheinlichkeit aus, schizophren zu werden.<br />
Aber auch die Umwelt hat offensichtlich einen Einfluss, denn<br />
etwa die Hälfte der Kinder, die einen schizophrenen eineiigen<br />
Zwilling haben, werden selbst nicht schizophren; <strong>und</strong> Kinder<br />
aus Problemfamilien werden mit höherer Wahrscheinlichkeit<br />
schizophren als andere Kinder aus Durchschnittsfamilien. Am<br />
wichtigsten scheint die Wechselwirkung zwischen genetischer<br />
Ausstattung <strong>und</strong> Umwelt zu sein. Eine Untersuchung adoptierter<br />
Kinder, von denen einige schizophrene Eltern hatten, zeigte,<br />
dass eine nennenswerte Wahrscheinlichkeit, an Schizophrenie<br />
zu erkranken, nur bei den Kindern bestand, die von einem schizophrenen<br />
Elternteil abstammten <strong>und</strong> in eine gestörte Familie<br />
adoptiert worden waren (Tienari et al. 2006).<br />
Eine Reihe neuer bemerkenswerter Studien hat einige biologische<br />
Mechanismen aufgedeckt, durch die Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
in Interaktion treten. Diese Untersuchungen zeigen, dass<br />
das menschliche Genom – die komplette Erbinformation eines<br />
Menschen – nicht nur das Erleben <strong>und</strong> Verhalten beeinflusst,<br />
sondern umgekehrt auch durch Erleben <strong>und</strong> Verhalten verändert<br />
wird (Cole 2009; Meaney 2010). Das mag unmöglich erscheinen<br />
angesichts der allgemein bekannten Tatsache, dass die<br />
Erbsubstanz DNA während der gesamten Lebenszeit konstant<br />
bleibt. Aber das Genom besteht nicht nur aus DNA, sondern<br />
es enthält auch Proteine, die die Gene ein- <strong>und</strong> ausschalten<br />
können <strong>und</strong> so deren Ausprägung (oder Expression) regulieren.<br />
Als Reaktion auf Erfahrung verändern sich die Regulationsproteine,<br />
<strong>und</strong> sie können ohne strukturelle Veränderungen<br />
der DNA dazu führen, dass sich unser Denken, Fühlen <strong>und</strong><br />
Verhalten nachhaltig ändern. Diese Bef<strong>und</strong>e haben ein neues<br />
Forschungsgebiet entstehen lassen, das Epigenetik genannt<br />
wird <strong>und</strong> sich mit den bleibenden Veränderungen beschäftigt,<br />
die Umwelteinflüsse bei der Genexpression bewirken können.<br />
Man könnte sagen, die Epigenetik untersucht, wie Erfahrungen<br />
unter die Haut gehen.<br />
Genom – Die komplette Erbinformation eines Lebewesens.<br />
Epigenetik – Die Erforschung der bleibenden Veränderungen bei der Genexpression,<br />
die durch Umwelteinflüsse bewirkt werden können.<br />
Einen Beleg für nachhaltige epigenetische Einflüsse früher Erfahrungen<br />
<strong>und</strong> frühen Verhaltens liefert die Erforschung der<br />
Methylierung, eines biochemischen Prozesses, der die Ausprä-
10<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
1<br />
2<br />
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gung einer Reihe von Genen vermindert <strong>und</strong> insbesondere bei<br />
der Regulation von Stressreaktionen beteiligt ist (Champagne<br />
<strong>und</strong> Curley 2009; Meaney 2001). Eine neuere Studie zeigt den<br />
Einfluss von Stress; das Ausmaß des Stresses, den Mütter nach<br />
eigenen Angaben in ihrer Kindheit erlebt hatten, korrelierte mit<br />
der 15 Jahre später gemessenen Methylierung <strong>im</strong> Genom der<br />
Kinder (Essex et al. 2013). Andere Studien wiesen bei Neugeborenen<br />
depressiver Mütter eine erhöhte Methylierung in der<br />
aus der Nabelschnur entnommenen DNA nach (Oberlander<br />
et al. 2008) <strong>und</strong> zeigten auch bei Erwachsenen, die als Kinder<br />
missbraucht worden waren, eine erhöhte Methylierung der DNA<br />
(McGowan et al. 2009), was viele Forscher vermuten lässt, dass<br />
Kinder unter solchen Umständen ein erhöhtes Risiko tragen,<br />
als Erwachsene an Depression zu erkranken (Rutten <strong>und</strong> Mill<br />
2009).<br />
Methylierung – Ein biochemischer Prozess, der bei zahlreichen Genen die Expression<br />
reduziert.<br />
Wie diese Beispiele zeigen, ergibt sich Entwicklung aus einem<br />
ständigen beidseitigen Wechselspiel zwischen Anlage <strong>und</strong> Umwelt.<br />
Zu behaupten, dass eines von beiden wichtiger sei oder<br />
beide gleich stark einwirkten, wäre eine drastische Vereinfachung<br />
des Entwicklungsprozesses.<br />
2 Das aktive Kind: Wie formen Kinder<br />
ihre eigene Entwicklung?<br />
Bei aller Aufmerksamkeit, die der Rolle von Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
bei der Entwicklung zukommt, wird manchmal nur zu leicht<br />
übersehen, in welcher Weise die Kinder selbst zu ihrer eigenen<br />
Entwicklung beitragen. Schon bei Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern<br />
lässt sich dieser Beitrag auf vielfältige Weise erkennen: an ihren<br />
Aufmerksamkeitsmustern, ihrem Sprachgebrauch <strong>und</strong> ihrem<br />
Spielverhalten.<br />
Kinder formen ihre eigene Entwicklung zuallererst durch<br />
die Auswahl dessen, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten.<br />
Schon Neugeborene blicken in die Richtung von Gegenständen,<br />
die Geräusche machen <strong>und</strong> sich bewegen. Diese Aufmerksamkeitspräferenz<br />
hilft ihnen, wichtige Aspekte ihrer Umwelt kennenzulernen<br />
– etwa Menschen, Tiere <strong>und</strong> unbelebte Objekte,<br />
die sich bewegen (z. B. Autos oder Lastwagen). Wenn Säuglinge<br />
zu Menschen hinschauen, dann wird ihre Aufmerksamkeit besonders<br />
von Gesichtern angezogen. Wenn sie die Wahl haben,<br />
einem Fremden oder aber ihrer Mutter ins Gesicht zu blicken,<br />
entscheiden sich Kinder schon <strong>im</strong> ersten Lebensmonat für den<br />
Blick zur Mutter (Bartrip et al. 2001). Anfangs begleiten keine<br />
sichtbaren Gefühle diese Hinwendung, aber gegen Ende des<br />
zweiten Lebensmonats lächeln <strong>und</strong> gurren die Kinder, während<br />
sie der Mutter ins Gesicht schauen, mehr als sonst. Damit regen<br />
sie die Mutter zum Lächeln <strong>und</strong> Sprechen an, was von den<br />
Kindern wiederum mit Lächeln <strong>und</strong> Gurren beantwortet wird,<br />
<strong>und</strong> so fort (Lavelli <strong>und</strong> Fogel 2005). Auf diese Weise stärken die<br />
wechselseitigen Interaktionen, die durch die kindliche Blickpräferenz<br />
für das Gesicht der Mutter ausgelöst werden, die Bindung<br />
zwischen Mutter <strong>und</strong> Kind.<br />
..<br />
Kinder formen ihre eigene Entwicklung von Anfang an schon durch die<br />
Wahl, wohin sie schauen. Hohe Priorität besitzt vom ersten Lebensmonat an<br />
der Anblick der Mutter. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Wenn Kinder zu sprechen anfangen, was gewöhnlich zwischen<br />
neun <strong>und</strong> 15 Monaten passiert, wird der Beitrag ihrer geistigen<br />
Aktivitäten zu ihrer Entwicklung aus ihrer Sprachverwendung<br />
ersichtlich. In den ersten Jahren des aktiven Sprechens reden<br />
Kinder oft auch dann, wenn sie allein <strong>im</strong> Raum sind <strong>und</strong> keiner<br />
da ist, der sie bestärkt oder auf das Gesagte reagieren könnte. Nur<br />
weil Kinder aus sich heraus motiviert sind, die Sprache zu erlernen,<br />
lassen sich ihre Redeübungen unter den genannten Umständen<br />
nachvollziehen. Viele Eltern erschrecken, wenn sie solche<br />
Selbstgespräche hören, <strong>und</strong> fragen sich, ob mit ihrem Kind,<br />
das sich so seltsam verhält, vielleicht etwas nicht in Ordnung<br />
ist. Tatsächlich ist das jedoch völlig normal, <strong>und</strong> die Übung hilft<br />
ein- bis zweijährigen Kindern wahrscheinlich, ihre Sprechweise<br />
zu verbessern.<br />
Das Spielverhalten kleiner Kinder bietet viele andere Beispiele<br />
dafür, wie intrinsisch motivierte Aktivität zur Entwicklung<br />
beiträgt. Kinder spielen von sich aus um den reinen „Spaß<br />
an der Freud“, aber dabei lernen sie auch vieles. Jeder, der ein<br />
Baby einen Löffel gegen die verschiedenen Teile seines Hochstuhls<br />
hat schlagen sehen oder der zusah, wie es mit Absicht<br />
Essen auf den Boden fallen ließ, wird zust<strong>im</strong>men, dass für das<br />
Baby die Belohnung in der Tätigkeit selbst liegt. Gleichzeitig<br />
lernt das Baby aber auch, welche Geräusche entstehen, wenn<br />
verschiedene Gegenstände zusammenprallen, wie schnell etwas<br />
zu Boden fällt <strong>und</strong> vielleicht auch wo die Geduld der Eltern ihre<br />
Grenzen hat.
Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
11 1<br />
..<br />
Spielen trägt auf vielerlei Weise zur <strong>Kindes</strong>entwicklung bei, so zum räumlichen<br />
Verständnis <strong>und</strong> zum Beachten von Details – Fähigkeiten, die be<strong>im</strong><br />
Puzzeln erforderlich sind. (© Robert <strong>Siegler</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Das Fantasiespiel kleiner Kinder scheint einen besonders großen<br />
Beitrag zu ihrem Wissen über sich selbst <strong>und</strong> andere Menschen<br />
zu leisten. Etwa vom zweiten Lebensjahr an geben Kinder in<br />
gespielten Szenen manchmal vor, jemand anders zu sein. Zum<br />
Beispiel behaupten sie, dass sie jetzt Superhelden <strong>im</strong> Kampf mit<br />
Monstern oder Eltern, die sich um ein Baby kümmern, seien.<br />
Neben dem intrinsischen Vergnügen bringen diese Fantasiespiele<br />
wertvollen Lernzuwachs, beispielsweise darüber, wie man<br />
mit Ängsten umgeht oder eigene Reaktionen <strong>und</strong> die anderer<br />
Menschen versteht (Howes <strong>und</strong> Matheson 1992; Smith 2003).<br />
Vom Spiel älterer Kinder, das normalerweise geordneter ist <strong>und</strong><br />
best<strong>im</strong>mten Regeln folgt, lernen sie darüber hinaus wichtige<br />
Lektionen über die Selbstkontrolle, die benötigt werden, um<br />
Fehlverhalten abzustellen, Regeln zu befolgen oder bei Rückschlägen<br />
die eigenen Emotionen zu beherrschen (Hirsh-Pasek<br />
et al. 2009). Wie wir später in diesem Kapitel noch diskutieren<br />
werden, verstärken <strong>und</strong> erweitern sich die Eigenbeiträge der<br />
Kinder zu ihrer Entwicklung, wenn sie ihre Umgebung mit dem<br />
Alter <strong>im</strong>mer selbstständiger best<strong>im</strong>men <strong>und</strong> gestalten können.<br />
..<br />
Jugendliche, die an sportlichen <strong>und</strong> anderen außerschulischen Aktivitäten<br />
teilnehmen, schließen mit höherer Wahrscheinlichkeit das Gymnasium ab<br />
<strong>und</strong> geraten seltener in Schwierigkeiten als Gleichaltrige, die nicht an solchen<br />
Aktivitäten teilnehmen. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Kinder zu ihrer eigenen<br />
Entwicklung beitragen. (© Amy Myers/Fotolia.com)<br />
3 Kontinuität/Diskontinuität: Inwiefern verläuft<br />
die Entwicklung kontinuierlich<br />
oder diskontinuierlich?<br />
Manche Wissenschaftler stellen sich die <strong>Kindes</strong>entwicklung als<br />
einen kontinuierlichen Prozess kleiner Veränderungen vor, wie<br />
bei einem Baum, der höher <strong>und</strong> höher wächst. Andere sehen den<br />
Entwicklungsprozess als eine Reihe plötzlicher diskontinuierlicher<br />
(sprunghafter) Veränderungen, wie den Übergang von der<br />
Raupe über den Kokon zum Schmetterling (. Abb. 1.2). Die Kontroverse<br />
darum, welche dieser beiden Sichtweisen die richtigere<br />
ist, dauerte Jahrzehnte.<br />
Kontinuierliche Entwicklung – Die Vorstellung, dass altersbedingte Veränderungen<br />
allmählich <strong>und</strong> in kleinen Schritten geschehen, so wie ein Baum höher<br />
<strong>und</strong> höher wächst.<br />
Diskontinuierliche Entwicklung – Die Vorstellung, dass zu altersbedingten<br />
Veränderungen gelegentliche größere Entwicklungsschritte gehören, so wie die<br />
Verwandlung einer Raupe zur Puppe, die schließlich als Schmetterling schlüpft.<br />
Forscher, die die Entwicklung als diskontinuierlich betrachten,<br />
gehen von einer allgemeinen Beobachtung aus: Kinder verschiedenen<br />
Alters erscheinen qualitativ unterschiedlich. Beispielsweise<br />
unterscheiden sich Vier- <strong>und</strong> Sechsjährige nicht nur darin, wie<br />
viel sie wissen, sondern in der gesamten Art <strong>und</strong> Weise, wie sie<br />
die Welt verstehen. Um sich diese Unterschiede zu verdeutlichen,<br />
betrachte man die beiden (hier übersetzten) Unterhaltungen zwischen<br />
Beth, der Tochter eines der Autoren, <strong>und</strong> ihrer Mutter. Das
12<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
a<br />
b<br />
..<br />
Abb. 1.2 Kontinuierliche <strong>und</strong><br />
diskontinuierliche Entwicklung.<br />
Manche Forscher betrachten Entwicklung<br />
als einen kontinuierlichen,<br />
graduellen Prozess, wie bei einem<br />
Baum, der von Jahr zu Jahr stetig<br />
höher wächst (a). Andere sehen<br />
Entwicklung als einen diskontinuierlichen<br />
Prozess, zu dem plötzliche<br />
einschneidende Veränderungen<br />
gehören, so wie sich die Raupe über<br />
das Stadium der Verpuppung zum<br />
Schmetterling entwickelt (b). Beide<br />
Ansichten bilden best<strong>im</strong>mte Aspekte<br />
der <strong>Kindes</strong>entwicklung ab<br />
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erste Gespräch fand statt, als Beth vier Jahre alt war, das zweite mit<br />
sechs Jahren. Beide Gespräche ergaben sich, als Beth ihrer Mutter<br />
dabei zusah, wie sie das Wasser aus einem typischen Trinkglas vollständig<br />
in ein höheres Glas mit kleinerem Durchmesser umschüttete.<br />
Hier der Wortlaut des Gesprächs mit der vierjährigen Beth:<br />
Mutter: Ist das <strong>im</strong>mer noch dieselbe Menge Wasser?<br />
Beth: Nein.<br />
Mutter: War es vorher mehr Wasser, oder ist es jetzt mehr?<br />
Beth: Jetzt ist es mehr.<br />
Mutter: Warum glaubst du das?<br />
Beth: Das Wasser ist höher; man sieht, dass es mehr ist.<br />
Mutter: Ich schütte das Wasser jetzt in das normale Glas zurück. Ist das<br />
gleich viel Wasser wie vorher, als das Wasser auch in diesem Glas war?<br />
Beth: Ja.<br />
Mutter: Jetzt schütte ich das Wasser wieder in das hohe, dünne Glas.<br />
Ist die Menge an Wasser gleichgeblieben?<br />
Beth: Nein, ich hab dir schon gesagt, dass es mehr Wasser ist, wenn<br />
es <strong>im</strong> hohen Glas ist.<br />
Zwei Jahre später, Beth war inzwischen sechs, reagierte sie auf<br />
dasselbe Problem ganz anders:<br />
Mutter: Ist das <strong>im</strong>mer noch dieselbe Menge Wasser?<br />
Beth: Natürlich!<br />
Wie kommt diese Veränderung in Beths Denken zustande? Sie<br />
lässt sich nicht darauf zurückführen, dass sie inzwischen weitere<br />
Erfahrungen mit der Umfüllprozedur sammeln konnte; schon<br />
bevor sie vier Jahre alt wurde, hatte Beth häufig be<strong>im</strong> Wassereingießen<br />
zugeschaut <strong>und</strong> dennoch nicht begriffen, dass die<br />
Wassermenge dabei konstant blieb. Auch die Erfahrung mit der<br />
geschilderten Aufgabe erklärt den Zeitpunkt der Veränderung<br />
nicht: Zwischen dem ersten <strong>und</strong> dem zweiten Gespräch wurde<br />
Beth niemals danach gefragt, ob die Flüssigkeitsmenge dieselbe<br />
blieb, wenn man Wasser aus einem Trinkglas in ein höheres, schmaleres<br />
gießt. Warum also war sie als Vierjährige so sicher, dass<br />
das Umfüllen in das höhere, schmalere Glas die Wassermenge<br />
erhöht, <strong>und</strong> als Sechsjährige genauso davon überzeugt, dass die<br />
Menge gleich bleibt?<br />
Diese Unterhaltung zur Mengenkonstanz be<strong>im</strong> Umschüttversuch<br />
spiegelt ein klassisches Verfahren zur Überprüfung des<br />
kindlichen Denkniveaus wider. Es wurde weltweit bei Tausenden<br />
von Kindern angewandt, <strong>und</strong> so gut wie alle untersuchten<br />
Kinder, egal welcher Kultur, zeigten dieselbe Veränderung <strong>im</strong><br />
Denken wie Beth (wenn auch meist in etwas höherem Alter).<br />
Solche altersabhängigen Unterschiede bei Verständnisleistungen<br />
kennzeichnen das kindliche Denken insgesamt. Man betrachte<br />
zwei Briefe an Mr. Rogers (den Protagonisten einer Kindersendung),<br />
die ihm von einem vier- <strong>und</strong> einem fünfjährigen Kind<br />
zugesandt wurden:<br />
» Lieber Mr. Rogers,<br />
ich würde gern wissen, wie du in den Fernsehapparat hineinkommst.<br />
(Robby, vier Jahre alt)<br />
» Lieber Mr. Rogers,<br />
ich wünsche mir, dass du aus Versehen einmal aus dem<br />
Fernseher in meine Wohnung trittst, damit ich mit dir spielen<br />
kann. (Josiah, fünf Jahre alt)<br />
(Rogers 1996, S. 10 f.)<br />
Das sind eindeutig keine Ideen, die ein älteres Kind so haben<br />
würde. Wie in Beths Fall fragen wir uns: Was lässt Vier- <strong>und</strong><br />
Fünfjährige glauben, eine Person könnte in einen Fernsehgerät<br />
hinein- <strong>und</strong> aus ihm herausgehen? Und welche Änderungen<br />
treten ein, die solche Annahmen für Sechs- oder Siebenjährige<br />
lächerlich erscheinen lassen?<br />
Ein häufiger Ansatz zur Beantwortung solcher Fragen<br />
stammt aus Stufentheorien, nach denen Entwicklung als Abfolge<br />
unterscheidbarer (distinkter) altersabhängiger Stadien oder<br />
Phasen verläuft, ähnlich dem Schmetterlingsbeispiel in . Abb. 1.2.<br />
Diesen Theorien zufolge sind am Eintritt des <strong>Kindes</strong> in eine neue<br />
Phase relativ plötzliche, qualitative Veränderungen beteiligt, in<br />
denen eine in sich schlüssige Weise, die Welt zu erleben <strong>und</strong> aufzufassen,<br />
in eine andere, wiederum in sich zusammenhängende<br />
Weltsicht übergeht.<br />
Stufentheorien – Annahmen, die die Entwicklung als eine Reihe von diskontinuierlichen,<br />
altersabhängigen Stadien sehen.
Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
13 1<br />
..<br />
Als Beispiel für die Sicht auf Entwicklung als diskontinuierlich zieht man oft Piagets Invarianzaufgabe zur Einschätzung von Flüssigkeitsmengen heran.<br />
Man zeigt dem Kind zunächst gleiche Mengen an Flüssigkeit in gleich geformten Glasbehältern, hier zwei Bechergläsern, <strong>und</strong> einen leeren, anders geformten<br />
Behälter aus Glas. Dann schaut das Kind zu, wie die Flüssigkeit aus einem der Behälter in den leeren Glasbehälter umgeschüttet wird. Schließlich soll das Kind<br />
sagen, ob die Flüssigkeitsmenge dieselbe geblieben ist oder ob sich in einem der Behälter mehr Flüssigkeit befindet. Die meisten jungen Kinder, wie dieses<br />
Mädchen, sind unerschütterlich davon überzeugt, dass das schmalere Glas mit der höheren Flüssigkeitssäule mehr Flüssigkeit enthält. Ein, zwei Jahre später<br />
sind die Kinder genauso sicher, dass die Flüssigkeitsmenge in beiden Behältern gleich ist. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Zu den bekanntesten Stufentheorien gehört Jean Piagets Theorie<br />
der kognitiven Entwicklung, also der Entwicklung des Denkens.<br />
Nach dieser Theorie durchlaufen Kinder von der Geburt<br />
bis zur Adoleszenz vier Stadien der kognitiven Entwicklung, die<br />
durch jeweils unterschiedlich beschaffene geistige Fähigkeiten<br />
<strong>und</strong> durch unterschiedliche Arten, die Welt zu begreifen, gekennzeichnet<br />
sind. Beispielsweise befinden sich Piagets Theorie<br />
zufolge Zwei- bis Fünfjährige in einem Entwicklungsstadium, in<br />
dem sie zu jedem Zeitpunkt nur einen Aspekt eines Ereignisses<br />
oder nur eine Art von Information berücksichtigen können. Mit<br />
sechs oder sieben Jahren treten Kinder in ein anderes Stadium<br />
ein, in dem sie sich bei vielerlei Aufgaben gleichzeitig auf zwei<br />
oder mehr Aspekte eines Ereignisses konzentrieren beziehungsweise<br />
zwei oder mehr Informationstypen koordinieren können.<br />
Wenn sich Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige einer Aufgabe gegenübersehen,<br />
wie sie von Beths Mutter gestellt wurde, konzentrieren sie sich<br />
allein auf die D<strong>im</strong>ension der Höhe <strong>und</strong> kommen so zu der Erkenntnis,<br />
dass sich in dem schmalen, höheren Glas mehr Wasser<br />
befindet. Im Gegensatz dazu betrachten einige Siebenjährige <strong>und</strong><br />
die meisten der Achtjährigen die beiden relevanten D<strong>im</strong>ensionen<br />
der Aufgabe – Höhe <strong>und</strong> Durchmesser des Glases – gleichzeitig.<br />
Dadurch können sie erkennen, dass die Wassersäule in dem hohen<br />
Glas zwar höher steht, dass das Glas aber schmaler ist <strong>und</strong><br />
sich die beiden Unterschiede am Ende wieder ausgleichen.<br />
Kognitive Entwicklung – Insbesondere die Entwicklung des Denkens <strong>und</strong><br />
Schlussfolgerns, des Problemlösens, der Wahrnehmung <strong>und</strong> der Sprache.<br />
Bei der Lektüre des vorliegenden Buches werden wir einer Reihe<br />
von weiteren Stufentheorien begegnen, darunter Sigm<strong>und</strong> Freuds<br />
Theorie der psychosexuellen Entwicklung, Erik Eriksons Theorie<br />
der psychosozialen Entwicklung <strong>und</strong> Lawrence Kohlbergs Theorie<br />
der Moralentwicklung. Jede dieser Stufentheorien n<strong>im</strong>mt an,<br />
dass Kinder in einem best<strong>im</strong>mten Alter über viele Situationen<br />
hinweg starke Ähnlichkeiten aufweisen <strong>und</strong> dass sich ihr Verhalten<br />
in verschiedenen Altersstufen deutlich unterscheidet.<br />
Solche Stufentheorien erwiesen sich als sehr einflussreich. In<br />
den vergangenen Jahrzehnten kamen viele Forscher jedoch zu<br />
dem Schluss, dass die Veränderungen in den meisten Entwick-<br />
lungsaspekten eher allmählich <strong>und</strong> nicht abrupt verlaufen <strong>und</strong><br />
dass die Entwicklung von Fähigkeit zu Fähigkeit, von Aufgabe<br />
zu Aufgabe voranschreitet <strong>und</strong> nicht in breiter <strong>und</strong> einheitlicher<br />
Weise (Courage <strong>und</strong> Howe 2002; Elman et al. 1996; Thelen <strong>und</strong><br />
Smith 2006). Diese Sicht auf die Entwicklung ist weniger dramatisch,<br />
wird aber durch zahlreiche Belege gestützt. Ein solcher<br />
Bef<strong>und</strong> besteht in der Tatsache, dass sich Kinder oft bei einer<br />
Aufgabe gemäß einer Entwicklungsstufe <strong>und</strong> bei einer anderen<br />
Aufgabe in Übereinst<strong>im</strong>mung mit einer anderen Stufe verhalten<br />
(Fischer <strong>und</strong> Biddell 2006). Dieses variable Niveau der Denkprozesse<br />
macht es schwierig zu sagen, das Kind befinde sich „in“<br />
einer best<strong>im</strong>mten Phase.<br />
Eine der größten Schwierigkeiten bei der Entscheidung, ob<br />
Entwicklung kontinuierlich verläuft oder nicht, hängt damit<br />
zusammen, dass dieselben Sachverhalte aus unterschiedlicher<br />
Perspektive jeweils anders aussehen können. Nehmen wir die<br />
scheinbar einfache Frage, ob die Körpergröße eines <strong>Kindes</strong> kontinuierlich<br />
oder diskontinuierlich wächst. . Abbildung 1.3a zeigt<br />
die Körpergröße eines Jungen von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr<br />
(Tanner 1961). Betrachtet man die Größe des Jungen<br />
<strong>im</strong> jeweiligen Alter, so erscheint die Entwicklung geschmeidig<br />
<strong>und</strong> kontinuierlich, mit einem schnellen Wachstum am Lebensanfang,<br />
das sich dann verlangsamt.<br />
Ein ganz anderes Bild ergibt sich jedoch, wenn man . Abb. 1.3b<br />
betrachtet. Diese Kurve zeigt das Wachstum desselben Jungen,<br />
stellt aber den Größenzuwachs von einem Jahr zum nächsten<br />
dar. Der Junge wuchs in jedem Jahr, aber am meisten <strong>im</strong> Verlauf<br />
zweier Abschnitte: von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr<br />
<strong>und</strong> zwischen zwölf <strong>und</strong> 15 Jahren. Daten, die so aussehen, führen<br />
dazu, dass manche von einem diskontinuierlichen Wachstum<br />
reden <strong>und</strong> ein eigenes Stadium der Adoleszenz annehmen, zu<br />
dem ein Wachstumsschub gehört.<br />
Verläuft die Entwicklung nun <strong>im</strong> Wesentlichen kontinuierlich<br />
oder <strong>im</strong> Wesentlichen diskontinuierlich? Die vernünftigste<br />
Antwort scheint zu lauten: „Es kommt darauf an, wie man sie<br />
betrachtet <strong>und</strong> wie oft man hinschaut.“ Man stelle sich den Unterschied<br />
zwischen der Perspektive eines Onkels vor, der seine<br />
Nichte alle zwei oder drei Jahre sieht, <strong>und</strong> der Perspektive ihrer<br />
Eltern, die sie täglich sehen. Der Onkel wird fast <strong>im</strong>mer von den
14<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
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Körpergröße (cm)<br />
a<br />
Größenzuwachs (cm/Jahr)<br />
b<br />
Alter (in Jahren)<br />
Alter (in Jahren)<br />
..<br />
Abb. 1.3 Kontinuierliches <strong>und</strong> diskontinuierliches Wachstum. Je nach Betrachtungsweise<br />
können Veränderungen der Körpergröße als kontinuierlich<br />
oder diskontinuierlich gesehen werden. a Untersucht man die Körpergröße<br />
eines Jungen jährlich von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr, so sieht das<br />
Wachstum stetig <strong>und</strong> gleichmäßig aus (aus Tanner 1961). b Untersucht man<br />
den Größenzuwachs desselben Jungen über denselben Zeitraum jeweils<br />
<strong>im</strong> Vergleich zum Vorjahr, zeigt sich in den ersten drei Lebensjahren ein<br />
schnelles Wachstum, dann ein langsameres, dann ein Wachstumsschub in<br />
der Adoleszenz <strong>und</strong> schließlich ein schnelles Absinken der Wachstumsrate; so<br />
gesehen erscheint das Wachstum diskontinuierlich.<br />
gewaltigen Veränderungen beeindruckt sein, die seine Nichte seit<br />
ihrem letzten Zusammentreffen durchgemacht hat. Das Mädchen<br />
wird so verändert sein, dass es den Anschein hat, es sei auf eine<br />
höhere Entwicklungsstufe gelangt. Im Gegensatz dazu werden die<br />
Eltern meistens die Kontinuität in der Veränderung erleben; für<br />
sie scheint das Mädchen Tag für Tag ein Stückchen größer zu werden.<br />
Im Verlauf dieses Buches werden wir die Veränderungen –<br />
seien sie groß oder klein, abrupt oder allmählich – betrachten, die<br />
einige Forscher dazu veranlassten, die Kontinuität der Entwicklung<br />
zu betonen, <strong>und</strong> andere die Diskontinuität hervorheben ließ.<br />
4 Mechanismen entwicklungsbedingter<br />
Veränderungen: Wie kommt es<br />
zu Veränderungen?<br />
Das vielleicht größte Gehe<strong>im</strong>nis der <strong>Kindes</strong>entwicklung drückt<br />
sich in der Frage aus: „Wie kommt es zu Veränderungen?“ Welche<br />
Mechanismen rufen die beachtlichen Veränderungen hervor, denen<br />
alle Kinder unterliegen? Eine sehr allgemein gehaltene Antwort<br />
war in der Diskussion um das Thema Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
bereits <strong>im</strong>plizit enthalten: Das Wechselspiel zwischen Genomen<br />
<strong>und</strong> Umwelten best<strong>im</strong>mt sowohl, welche Veränderungen eintreten,<br />
als auch, wann sie eintreten. Darüber hinaus bedarf es<br />
aber der genaueren Spezifikation, wie best<strong>im</strong>mte Veränderungen<br />
ablaufen.<br />
Eine besonders interessante Analyse der Veränderungsmechanismen<br />
bei der Entwicklung betrifft die Rollen der Gehirnaktivität,<br />
der Gene <strong>und</strong> der Lernerfahrungen bei der Entwicklung<br />
angestrengter Aufmerksamkeit (z. B. Rothbart et al. 2007). Angestrengte<br />
Aufmerksamkeit ist ein Aspekt des Temperaments; willentliche<br />
Kontrolle der Gefühle <strong>und</strong> Gedanken gehört dazu. Angestrengte<br />
Aufmerksamkeit erfordert Prozesse wie das Hemmen<br />
der Impulse (z. B. der Aufforderung nachkommen, alles Spielzeug<br />
– <strong>und</strong> nicht nur einen Teil davon – beiseitezulegen, um zu vermeiden,<br />
dass man abgelenkt wird <strong>und</strong> weiterspielt), das Kontrollieren<br />
der Emotionen (z. B. nicht in Tränen ausbrechen, wenn etwas<br />
nicht klappt) <strong>und</strong> das Konzentrieren der Aufmerksamkeit (z. B.<br />
sich trotz verlockender Geräusche von draußen spielenden Kindern<br />
auf die Hausaufgaben konzentrieren). Schwierigkeiten be<strong>im</strong><br />
Ausüben angestrengter Aufmerksamkeit gehen oft mit Verhaltensauffälligkeiten,<br />
schlechten Mathematik- <strong>und</strong> Leseleistungen sowie<br />
psychischen Erkrankungen (Blair <strong>und</strong> Razza 2007; Diamond<br />
<strong>und</strong> Lee 2011; Rothbart <strong>und</strong> Bates 2006) einher.<br />
Man untersuchte die Gehirnaktivität von Menschen be<strong>im</strong><br />
Ausführen von Aufgaben, die eine Kontrolle der eigenen Gedanken<br />
<strong>und</strong> Gefühle erfordern, <strong>und</strong> fand eine besonders ausgeprägte<br />
Aktivität in den Verbindungen zwischen dem vorderen<br />
Cingulum, einer be<strong>im</strong> Setzen <strong>und</strong> Verfolgen eigener Ziele aktiven<br />
Gehirnstruktur, <strong>und</strong> dem l<strong>im</strong>bischen System, einem für emotionale<br />
Reaktionen bedeutsamen Teil des Gehirns (Etkin et al.<br />
2006). Die Verbindungen zwischen dem vorderen Cingulum <strong>und</strong><br />
dem l<strong>im</strong>bischen System entwickeln sich während der Kindheit<br />
beträchtlich, <strong>und</strong> dies scheint einer der Mechanismen zu sein, die<br />
zu einer Verbesserung angestrengter Aufmerksamkeit <strong>im</strong> Verlauf<br />
der Kindheit führen (Rothbart et al. 2007).<br />
Wie wirken Gene <strong>und</strong> Lernerfahrungen auf diesen Mechanismus<br />
der angestrengten Aufmerksamkeit ein? Best<strong>im</strong>mte<br />
Gene beeinflussen die Erzeugung wichtiger Neurotransmitter<br />
– chemischer Substanzen, die an der Informationsübertragung<br />
innerhalb des Gehirns beteiligt sind. Die individuell unterschiedliche<br />
Ausstattung mit den entsprechenden Genen hängt<br />
ihrerseits mit der individuell unterschiedlichen Leistungsstärke<br />
bei Aufgaben zusammen, die angestrengte Aufmerksamkeit erfordern<br />
(Canli et al. 2005; Diamond et al. 2004; Rueda et al.<br />
2005). Jedoch wirken diese Einflüsse nicht in einem Vakuum.<br />
Wie wir schon <strong>im</strong> Zusammenhang mit der Epigenetik festgestellt<br />
haben, spielt die Beschaffenheit der Umwelt be<strong>im</strong> Wirksamwerden<br />
der Gene eine entscheidende Rolle. Im genannten<br />
Fall zeigte sich bei Kleinkindern, bei denen eines der für angestrengte<br />
Aufmerksamkeit relevanten Gene eine best<strong>im</strong>mte<br />
Form aufwies, Zusammenhänge mit der Qualität der elterlichen<br />
Fürsorge: Schlechtere Fürsorge ging mit verminderter Fähigkeit<br />
der Aufmerksamkeitsregulation einher (Sheese et al. 2007). Bei<br />
Kindern, die diese besondere Form des Gens nicht aufwiesen,<br />
hatte die Qualität der elterlichen Fürsorge weniger Einfluss auf<br />
die angestrengte Aufmerksamkeit.
Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
15 1<br />
Neurotransmitter – Chemische Substanzen, die am Informationsaustausch<br />
zwischen Neuronen beteiligt sind.<br />
Auch die Verschaltung des Gehirnsystems, das angestrengte<br />
Aufmerksamkeit ermöglicht, kann sich durch die Erfahrungen<br />
der Kinder verändern. Rueda et al. (2005) führten mit Sechsjährigen<br />
ein fünftägiges Trainingsprogramm durch, das computerbasierte<br />
Übungen enthielt, um die Fähigkeit zu angestrengter<br />
Aufmerksamkeit zu verbessern. Die Untersuchung der elektrischen<br />
Aktivität <strong>im</strong> vorderen Cingulum zeigte, dass diejenigen<br />
Sechsjährigen, die das computerbasierte Trainingsprogramm<br />
durchlaufen hatten, zu höherer angestrengter Aufmerksamkeit<br />
<strong>im</strong>stande waren. Diese Kinder schnitten auch in Intelligenztests<br />
besser ab, was einleuchtet, da solche Tests ausdauernde<br />
angestrengte Aufmerksamkeit erfordern. Die Erfahrungen, die<br />
Kinder machen, beeinflussen also ihre Gehirnprozesse <strong>und</strong> das<br />
Wirksamwerden ihrer Gene, ebenso wie umgekehrt die Gehirnprozesse<br />
<strong>und</strong> die Gene ihrerseits die Reaktionen von Kindern<br />
auf Erfahrungen beeinflussen. Verallgemeinert gesagt: Will<br />
man die Mechanismen, die Entwicklungsveränderungen hervorbringen,<br />
so gut wie möglich verstehen, so muss man genauer<br />
spezifizieren, wie Gene, Gehirnstrukturen <strong>und</strong> -prozesse sowie<br />
Erfahrungen zusammenwirken.<br />
5 Der soziokulturelle Kontext: Wie wirkt sich<br />
der soziokulturelle Kontext<br />
auf die Entwicklung aus?<br />
Kinder wachsen in gegebenen materiellen <strong>und</strong> sozialen Umwelten<br />
auf, in einer best<strong>im</strong>mten Kultur, unter spezifischen<br />
ökonomischen Bedingungen, in einer definierten historischen<br />
Zeit. Zusammen bilden diese materiellen, sozialen, kulturellen,<br />
ökonomischen <strong>und</strong> zeitgeschichtlichen Umstände den soziokulturellen<br />
Kontext, in dem ein Kind lebt. Dieser soziokulturelle<br />
Kontext wirkt sich auf jeden Aspekt der <strong>Kindes</strong>entwicklung aus.<br />
Soziokultureller Kontext – Die materiellen, sozialen, kulturellen, ökonomischen<br />
<strong>und</strong> zeitgeschichtlichen Umstände, die die Umwelt eines <strong>Kindes</strong> bilden.<br />
Eine klassische Darstellung der Komponenten dieses soziokulturellen<br />
Kontexts findet sich <strong>im</strong> bioökologischen Modell von<br />
Urie Bronfenbrenner (1979), das in ▶ Kap. 9 <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit den Theorien der sozialen Entwicklung behandelt wird. Die<br />
ganz offensichtlich wichtigsten Teile des soziokulturellen Kontexts<br />
von Kindern sind die Menschen, mit denen sie zu tun haben<br />
– Eltern, Großeltern, Brüder, Schwestern, Erzieher, Lehrer,<br />
Fre<strong>und</strong>e, Mitschüler <strong>und</strong> so weiter –, <strong>und</strong> die materielle Umwelt,<br />
in der sie leben – Wohnung, Kindergarten, Schule, Nachbarschaft<br />
<strong>und</strong> dergleichen. Ein ebenfalls wichtiger, aber weniger<br />
greifbarer Teil des soziokulturellen Kontexts sind die Institutionen,<br />
die das Leben der Kinder beeinflussen, beispielsweise das<br />
Schulsystem, religiöse kirchliche Einrichtungen, Sportvereine<br />
oder Jugendgruppen.<br />
Andere wichtige Einflüsse stammen aus Besonderheiten der<br />
Gesellschaft, in der ein Kind aufwächst: ihr Wohlstand <strong>und</strong> ihre<br />
technologische Entwicklung; ihre Werte, Einstellungen, Glaubenshaltungen<br />
<strong>und</strong> Traditionen; ihre Gesetze, ihre politische<br />
Struktur <strong>und</strong> so weiter. So kommt in der Tatsache, dass in zahlreichen<br />
Ländern viele oder sogar die Mehrheit der Klein- <strong>und</strong><br />
Vorschulkinder Tagesstätten oder andere Betreuungseinrichtungen<br />
außerhalb des Elternhauses besuchen, eine ganze Reihe<br />
dieser weniger offensichtlichen soziokulturellen Faktoren zum<br />
Ausdruck:<br />
1. die historische Epoche (vor 50 Jahren gingen in den USA <strong>und</strong><br />
Deutschland weit weniger Kinder in Kindertagesstätten),<br />
2. die ökonomische Struktur (für Mütter jüngerer Kinder gibt es<br />
inzwischen mehr Möglichkeiten, außerhalb ihrer Wohnung<br />
zu arbeiten),<br />
3. kulturelle Überzeugungen (z. B. dass eine aushäusige Betreuung<br />
den Kindern nicht schadet) <strong>und</strong><br />
4. kulturelle Werte (z. B. dass Mütter jüngerer Kinder in der<br />
Lage sein sollten, eine Arbeit außer Haus aufzunehmen, falls<br />
sie das wünschen).<br />
Der Besuch des Kindergartens wirkt sich seinerseits darauf aus,<br />
welche Menschen ein Kind kennenlernt <strong>und</strong> an welchen Aktivitäten<br />
es sich beteiligt.<br />
Eine Methode, mit der sich der Einfluss des soziokulturellen<br />
Kontexts untersuchen lässt, besteht darin, Lebensbedingungen<br />
von Kindern zu vergleichen, die in verschiedenen Kulturen aufwachsen.<br />
Solche Kulturvergleiche lassen oft erkennen, dass Praktiken,<br />
die in der eigenen Kultur selten oder gar nicht vorkommen,<br />
in anderen Kulturen alltäglich <strong>und</strong> von großem Vorteil sind. Der<br />
folgende Vergleich der Umstände, unter denen jüngere Kinder<br />
in verschiedenen Gesellschaften schlafen, illustriert den Wert<br />
solcher kulturvergleichender Forschungen.<br />
In den meisten US-amerikanischen Familien schlafen Säuglinge<br />
zunächst <strong>im</strong> Schlafz<strong>im</strong>mer der Eltern, entweder in einem<br />
Kinderbett oder <strong>im</strong> Bett der Eltern. Mit zwei bis sechs Monaten<br />
verfrachten die Eltern die Kinder jedoch für gewöhnlich in<br />
ein Kinderz<strong>im</strong>mer, wo sie dann allein schlafen (Greenfield et al.<br />
2006). Dies erscheint nur Menschen natürlich, die in best<strong>im</strong>mten<br />
Ländern groß geworden sind. Weltweit gesehen sind solche<br />
Schlafgewohnheiten jedoch äußerst unüblich. In anderen Kulturen,<br />
darunter industrialisierten Industrienationen wie Italien,<br />
Japan <strong>und</strong> Südkorea, schlafen die Kinder in den ersten Lebensjahren<br />
fast <strong>im</strong>mer in demselben Bett wie die Mutter, <strong>und</strong> auch<br />
ältere Kinder schlafen in demselben Z<strong>im</strong>mer wie sie, manchmal<br />
in demselben Bett (z. B. Nelson et al. 2000; Whiting <strong>und</strong> Edwards<br />
1988). Wo bleiben dabei die Väter? In einigen Kulturen schläft<br />
der Vater in demselben Bett wie Mutter <strong>und</strong> Baby; in anderen<br />
Kulturen schläft er in einem eigenen Bett oder in einem anderen<br />
Z<strong>im</strong>mer.
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Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
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In vielen Ländern schlafen Mutter <strong>und</strong> Kind in den ersten Lebensjahren des<br />
<strong>Kindes</strong> gemeinsam in demselben Bett. Dieses soziokulturelle Muster unterscheidet<br />
sich gravierend von der US-amerikanischen Gewohnheit, Kleinkinder<br />
bald nach der Geburt allein schlafen zu lassen. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Wie wirken sich diese unterschiedlichen Schlafarrangements auf<br />
die Kinder aus? Um das herauszufinden, wurden in einer Studie<br />
Mütter aus amerikanischen Mittelschichtfamilien in Salt Lake City<br />
(Utah) <strong>und</strong> aus ländlichen Maya-Familien in Guatemala befragt<br />
(Morelli et al. 1992). Die Interviews ließen erkennen, dass die<br />
überwiegende Mehrheit der US-amerikanischen Kinder bereits<br />
mit sechs Monaten in ihrem eigenen Z<strong>im</strong>mer schlafen. Mit dem<br />
Herauswachsen aus dem Säuglingsalter wird die nächtliche Trennung<br />
von Kind <strong>und</strong> Eltern zu einem komplexen Ritual, zu dem<br />
Aktivitäten gehören, um das Kind zu trösten <strong>und</strong> zufriedenzustellen:<br />
Geschichten erzählen, aus Kinderbüchern vorlesen, Lieder<br />
singen <strong>und</strong> so weiter. Eine Mutter sagte: „Wenn meine Fre<strong>und</strong>e<br />
hören, dass für meinen Sohn Schlafenszeit ist, necken sie mich <strong>und</strong><br />
sagen: ‚Also bis in einer St<strong>und</strong>e dann‘“ (Morelli et al. 1992, S. 608).<br />
Etwa bei der Hälfte der Kinder wurde berichtet, dass sie ein Kuschelobjekt,<br />
eine Decke oder einen Teddybär, mit ins Bett nehmen.<br />
Im Gegensatz dazu zeigten die Interviews mit den Maya-<br />
Müttern, dass ihre Kinder typischerweise bis zum Alter von<br />
zwei oder drei Jahren mit ihrer Mutter in demselben Bett <strong>und</strong><br />
in den darauffolgenden Jahren weiterhin in demselben Z<strong>im</strong>mer<br />
schlafen. Die Kinder gehen normalerweise gleichzeitig mit ihren<br />
Eltern schlafen oder schlafen in jemandes Armen ein. Keine der<br />
Maya-Eltern gaben irgendwelche Zubettgehrituale an; fast nie<br />
wurde über Kuscheltiere, Puppen oder Decken berichtet, die die<br />
Kinder mit ins Bett nehmen.<br />
Warum unterscheiden sich die Schlafarrangements in verschiedenen<br />
Kulturen? Die Interviews mit den Maya-Eltern ließen<br />
erkennen, dass die kulturellen Werte eher ein entscheidender Gesichtspunkt<br />
bei ihren Schlafarrangements war. Die Maya-Kultur<br />
schätzt die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Menschen.<br />
Die Eltern gaben ihrer Überzeugung Ausdruck, dass der gemeinsame<br />
Schlaf des <strong>Kindes</strong> mit der Mutter für die Entwicklung einer<br />
guten Eltern-Kind-Beziehung wichtig sei; so lasse sich vermeiden,<br />
dass das Kind wegen seines Alleinseins bekümmert sei; <strong>und</strong><br />
schließlich würden Probleme, die das Kind haben könnte, auf<br />
diese Weise leicht erkannt. Häufig zeigten sich die Maya-Eltern<br />
erschüttert <strong>und</strong> voller Mitleid, wenn sie hörten, dass Kleinkinder<br />
in den USA normalerweise getrennt von ihren Eltern schlafen<br />
(Greenfield et al. 2006). Im Gegensatz dazu schätzt die amerikanische<br />
Kultur Unabhängigkeit <strong>und</strong> Selbstvertrauen. Die Mütter<br />
waren davon überzeugt, dass es diesen Werten entgegenkommt,<br />
wenn die Kinder auch schon in frühestem Alter allein schlafen,<br />
<strong>und</strong> dass dies den Elternpaaren zudem Int<strong>im</strong>ität erlaubt (Morelli<br />
et al. 1992). Diese Unterschiede illustrieren, wie sich Praktiken,<br />
die uns ganz natürlich erscheinen, über die Kulturen hinweg<br />
deutlich unterscheiden können <strong>und</strong> wie Alltagskonventionen oft<br />
tiefer liegende Werte <strong>und</strong> Überzeugungen widerspiegeln.<br />
Entwicklungskontexte unterscheiden sich nicht nur zwischen,<br />
sondern auch innerhalb der einzelnen Kulturen. In modernen<br />
multikulturellen Gesellschaften hängen viele Kontextunterschiede<br />
mit dem ethnischen Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> dem sozioökonomischen<br />
Status zusammen. Der sozioökonomische Status ist<br />
ein Maß der sozialen Schichtzugehörigkeit, das auf Bildung <strong>und</strong><br />
Einkommen basiert. Praktisch jeder Aspekt des <strong>Kindes</strong>lebens<br />
wird von diesen beiden Merkmalen beeinflusst, angefangen mit<br />
der Ernährung über Disziplinierungsmaßnahmen der Eltern bis<br />
hin zu den Spielen, die gespielt werden.<br />
Sozioökonomischer Status – Ein Maß für die soziale Schicht, das auf Einkommen<br />
<strong>und</strong> Bildung basiert.<br />
Der sozioökonomische Kontext wirkt sich besonders stark auf<br />
die Lebensumstände der Kinder aus. In wirtschaftlich entwickelten<br />
Gesellschaften wie der unseren wachsen die meisten Kinder<br />
unter komfortablen Umständen auf, was man von Millionen anderer<br />
Kinder nicht behaupten kann. In den USA beispielsweise<br />
lebten 2011 etwa 19 % der Kinder in Familien, deren Einkommen<br />
unter der Armutsgrenze lag (die für eine dreiköpfige Familie mit<br />
einem Erwachsenen <strong>und</strong> zwei Kindern in diesem Jahr bei 18.530<br />
US-Dollar Jahreseinkommen angesetzt war). In absoluten Zahlen<br />
bedeutet das, dass etwa 163 Millionen Kinder in den USA in Armut<br />
aufwachsen (U.S. Census Bureau 2012). Nach Angaben des<br />
Kinderschutzb<strong>und</strong>es waren es in Deutschland am Weltkindertag<br />
2010 2,5 Millionen, mit steigender Tendenz; laut Angaben der<br />
B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung (Chassé 2010) stieg der<br />
Anteil der von Armut betroffenen unter 15-Jährigen von 15,7 %<br />
<strong>im</strong> Jahr 2000 auf 26,3 % <strong>im</strong> Jahr 2006 <strong>und</strong> bei den 16- bis 24-Jährigen<br />
von 16,4 auf 28,3 %. Wie . Tab. 1.1 zeigt, sind die Armutsraten<br />
unter schwarzen <strong>und</strong> hispanischen Familien sowie bei alleinerziehenden<br />
Müttern besonders hoch. Von den schätzungsweise<br />
25 % aller in den Vereinigten Staaten lebenden Kinder, die einen<br />
Migrationshintergr<strong>und</strong> haben, lebt ein doppelt so hoher Anteil in<br />
Armut wie von den Kindern gebürtiger Amerikaner (Hernandez<br />
et al. 2008; Smeeding 2008). Ähnliche Trends wurden auch für<br />
Deutschland berichtet, wo laut der OECD-Studie zur sozialen<br />
Situation von Kindern aus dem Jahr 2009 jedes sechste Kind von<br />
Armut betroffen ist (nachzulesen in aktuellen Berichten auf der<br />
Internetseite des B<strong>und</strong>esarbeitsministeriums).<br />
Kinder aus armen Familien schneiden in vielfacher Hinsicht<br />
schlechter ab als andere Kinder (Evans et al. 2005; Morales <strong>und</strong><br />
Guerra 2006). Schon <strong>im</strong> Säuglingsalter haben sie mit größerer<br />
Wahrscheinlichkeit schwere Ges<strong>und</strong>heitsprobleme. In der Kindheit<br />
besteht bei ihnen eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür, soziale<br />
<strong>und</strong> emotionale Probleme sowie für Verhaltensauffälligkeiten<br />
zu entwickeln. In Kindheit <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong> verfügen sie oft über
Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
17 1<br />
..<br />
Tab. 1.1 Anteile US-amerikanischer Familien mit Kindern unter<br />
18 Jahren, die <strong>im</strong> Jahr 2011 unterhalb der Armutsgrenze lebten. (U.S.<br />
Census Bureau 2012)<br />
Gruppe<br />
Gesamtbevölkerung USA 19<br />
Weiß, nicht hispanisch 12<br />
Schwarz 33<br />
Hispanisch 29<br />
Asiatisch 12<br />
Verheiratete Paare 9<br />
Weiß, nicht hispanisch 5<br />
Schwarz 12<br />
Hispanisch 20<br />
Asiatisch 9<br />
Alleinerziehend: weiblicher Haushaltungsvorstand 41<br />
Weiß, nicht hispanisch 33<br />
Schwarz 47<br />
Hispanisch 49<br />
Asiatisch 26<br />
Armut in Prozent<br />
einen kleineren Wortschatz, ihr IQ ist niedriger, <strong>und</strong> in standardisierten<br />
Leistungstests erreichen sie niedrigere Punktzahlen<br />
bei Mathematik- <strong>und</strong> Leseaufgaben. In der Adoleszenz setzen<br />
sie mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Kind in die Welt oder<br />
gehen vorzeitig von der Schule ab (Evans et al. 2005; Luthar 1999;<br />
McLoyd 1998).<br />
Diese negativen Folgen überraschen nicht, wenn wir uns die<br />
riesige Bandbreite an Benachteiligungen vor Augen führen, denen<br />
sich arme Kinder ausgesetzt sehen. Verglichen mit Kindern,<br />
die unter günstigeren Lebensumständen aufwachsen, leben arme<br />
Kinder eher in gefahrvoller Nachbarschaft, besuchen schlechtere<br />
Kindertagesstätten oder Schulen <strong>und</strong> sind hohen Verschmutzungsgraden<br />
von Luft <strong>und</strong> Wasser ausgesetzt (Dilworth-Bart<br />
<strong>und</strong> Moore 2006; Evans 2004). Zudem wachsen arme Kinder<br />
häufiger mit nur einem Elternteil oder gar nicht bei den leiblichen<br />
Eltern auf. Die Eltern lesen ihnen seltener etwas vor <strong>und</strong><br />
sprechen seltener mit ihnen, besitzen weniger Bücher <strong>und</strong> kümmern<br />
sich weniger um schulische Angelegenheiten. Es sind also<br />
offenbar weniger einzelne Faktoren als vielmehr eine Anhäufung<br />
von nachteiligen Umständen, die armen Kindern die Chancen<br />
auf erfolgreiche Entwicklung nachhaltig verbauen (Luthar 2006;<br />
Morales <strong>und</strong> Guerra 2006).<br />
Und doch: Wie wir am Anfang dieses Kapitels am Beispiel<br />
von Werners Untersuchung der Kinder von Kauai gesehen haben,<br />
überwinden viele Kinder Hindernisse, die durch Armut<br />
zustande kommen. Solche Kinder zeichnen sich häufig durch<br />
drei Merkmale aus:<br />
1. Sie weisen positive persönliche Eigenschaften auf wie etwa<br />
hohe Intelligenz, Gelassenheit, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität<br />
gegenüber Veränderungen sowie eine opt<strong>im</strong>istische<br />
Einstellung hinsichtlich ihrer eigenen Zukunft.<br />
2. Häufig haben resiliente Kinder zu mindestens einem Elternteil<br />
eine enge Bindung.<br />
3. Weiterhin haben sie häufig eine enge Beziehung zu mindestens<br />
einem weiteren Erwachsenen neben den Eltern, etwa<br />
zum Großvater oder zur Großmutter, zu einem Lehrer, Trainer<br />
oder Fre<strong>und</strong> der Familie (Masten 2007).<br />
Obwohl Armut einer erfolgreichen Entwicklung also schwerwiegende<br />
Hindernisse in den Weg stellt, können viele Kinder diese<br />
Hindernisse mit der Unterstützung von Erwachsenen aus ihrer<br />
Familie oder Gemeinschaft überwinden.<br />
6 Individuelle Unterschiede: Warum werden<br />
Kinder so verschieden?<br />
Jeder, der Erfahrungen mit Kindern gemacht hat, ist von ihrer<br />
Individualität beeindruckt – Unterschiede bestehen nicht nur in<br />
der äußeren Erscheinung, sondern auch in anderer Hinsicht, so<br />
etwa hinsichtlich ihrer Aktivitäten <strong>und</strong> ihres Temperaments bis<br />
hin zu ihrer Intelligenz, Ausdauer, Hartnäckigkeit, Emotionalität<br />
<strong>und</strong> so weiter. Diese individuellen Unterschiede zwischen<br />
Kindern ergeben sich recht früh. Schon <strong>im</strong> ersten Lebensjahr<br />
sind manche Kinder schüchtern, andere kontaktfreudig. Manche<br />
Kinder spielen mit Gegenständen oder betrachten sie über<br />
längere Zeiträume hinweg, andere springen von einer Betätigung<br />
zur anderen, <strong>und</strong> selbst Kinder aus derselben Familie<br />
unterscheiden sich oft beträchtlich – wie jeder weiß, der Geschwister<br />
hat.<br />
Scarr (1992) identifizierte vier Faktoren, die dazu beitragen<br />
können, dass sich Kinder aus einer einzelnen Familie (genauso<br />
wie Kinder aus verschiedenen Familien) unterschiedlich entwickeln:<br />
1. genetische Unterschiede,<br />
2. Unterschiede in der Behandlung durch die Eltern <strong>und</strong> andere<br />
Personen,<br />
3. Unterschiedliche Reaktionen bei gleichartigen Erfahrungen,<br />
4. die Wahl unterschiedlicher Umgebungen.<br />
Der offensichtlichste Gr<strong>und</strong> für Unterschiede zwischen Kindern<br />
besteht darin, dass – abgesehen von eineiigen Zwillingen – jedes<br />
Individuum genetisch einzigartig ist. Selbst Geschwister (einschließlich<br />
zweieiiger Zwillinge), deren Gene zu 50 % übereinst<strong>im</strong>men,<br />
unterscheiden sich in den anderen 50 %.<br />
Eine zweite wichtige Variationsquelle zwischen Kindern besteht<br />
darin, dass sie von ihren Eltern <strong>und</strong> von anderen Personen<br />
unterschiedlich behandelt werden. Die unterschiedliche Behandlung<br />
geht oft mit bestehenden Unterschieden in den Eigenschaften<br />
der Kinder einher. So neigen Eltern dazu, einfache Kinder<br />
sensibler zu betreuen als „schwierige“ Kinder; Eltern schwieriger<br />
Kinder sind oft schon <strong>im</strong> Alter von zwei Jahren leicht verärgert,<br />
auch wenn die Kinder in der unmittelbaren Situation gar nichts<br />
falsch gemacht haben (van den Boom <strong>und</strong> Hoeksma 1994). In<br />
ähnlicher Weise reagieren auch Lehrer auf die individuellen Eigenschaften<br />
der Kinder. Schülern, die gut lernen <strong>und</strong> sich anständig<br />
benehmen, schenken Lehrer <strong>im</strong> Allgemeinen positive<br />
Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Ermutigung. Gegenüber schlechten <strong>und</strong>
18<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
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15<br />
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17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
störenden Schülern zeigen sie häufig offene Kritik <strong>und</strong> verweigern<br />
sich ihren Bitten um spezielle Hilfen (Good <strong>und</strong> Brophy<br />
1996).<br />
Kinder werden in ihrer Entwicklung nicht nur durch die<br />
objektiven Unterschiede in der Behandlung, die ihnen zuteilwird,<br />
geformt; sie sind auch von ihren subjektiven Interpretationen<br />
dieser Behandlung beeinflusst. Ein klassisches Bespiel<br />
sind Geschwisterpaare, bei denen jedes Kind wechselseitig<br />
ann<strong>im</strong>mt, die Eltern würden jeweils das andere Kind bevorzugen.<br />
Geschwister können auch unterschiedlich auf Ereignisse<br />
reagieren, die die ganze Familie betreffen. In einer Untersuchung<br />
riefen negative Ereignisse, beispielsweise wenn die Eltern<br />
den Arbeitsplatz verloren, bei Geschwistern in 69 % der Fälle<br />
gr<strong>und</strong>legend unterschiedliche Reaktionen hervor (Beardsall<br />
<strong>und</strong> Dunn 1992). Manche Kinder waren, wenn ein Elternteil<br />
seinen Job verlor, extrem besorgt; andere vertrauten darauf, dass<br />
alles gut wird.<br />
Eine vierte Hauptquelle von Unterschieden zwischen Kindern<br />
aus derselben Familie bezieht sich auf das bereits angesprochene<br />
Thema des aktiven <strong>Kindes</strong>: Kinder wählen mit zunehmendem<br />
Alter in wachsendem Maße ihre Betätigungen<br />
<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e selbst aus <strong>und</strong> beeinflussen so ihre eigene weitere<br />
Entwicklung. Kinder akzeptieren oder suchen sich Nischen;<br />
in einer Familie wird ein Kind vielleicht „das kluge Kind“, das<br />
andere „das beliebte Kind“, dann gibt es noch „das böse Kind“<br />
(später dann „das schwarze Schaf “) <strong>und</strong> so weiter (Scarr <strong>und</strong><br />
McCartney 1983). Ein Kind, das von den Familienmitgliedern<br />
das Etikett des „klugen“ oder „gescheiten“ <strong>Kindes</strong> erhält, wird<br />
sich vielleicht bemühen, dieser Etikettierung gerecht zu werden;<br />
dasselbe kann auf ein Kind zutreffen, das als „Störenfried“ <strong>und</strong><br />
„ungezogen“ gilt.<br />
Ebenso wie in den Abschnitten über Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
<strong>und</strong> über Entwicklungsmechanismen beschrieben, wirken<br />
auch be<strong>im</strong> Zustandekommen von Unterschieden Biologie<br />
<strong>und</strong> Erfahrung auf komplexe Weise zusammen <strong>und</strong> erzeugen<br />
eine unendliche Vielfalt menschlicher Individuen in der Welt.<br />
So zeigte eine Untersuchung an Elf- bis 17-Jährigen, dass die<br />
stärker schulisch engagierten Jugendlichen bessere Abschlüsse<br />
erzielten, als allein aufgr<strong>und</strong> ihrer genetischen Anlagen oder<br />
ihrer Familienverhältnisse zu erwarten gewesen wäre (Johnson<br />
et al. 2006). Dieselbe Studie zeigte, dass ungünstige Familienverhältnisse<br />
bei Kindern mit hoher Intelligenz weniger negative<br />
Auswirkungen haben als bei nicht so intelligenten Kindern. Auf<br />
diese Weise tragen die Gene der Kinder, ihre Behandlung durch<br />
andere Menschen, ihre subjektiven Reaktionen auf diese Behandlung<br />
<strong>und</strong> die Wahl ihrer Umgebungen gleichermaßen dazu<br />
bei, dass sich Kinder unterscheiden, selbst wenn sie in derselben<br />
Familie aufwachsen.<br />
..<br />
Unterschiedliche Kinder reagieren, selbst wenn sie aus derselben Familie<br />
stammen, auf dieselbe Erfahrung oft völlig anders. (© Fotografen GmbH/Alamy)<br />
7 Forschung <strong>und</strong> <strong>Kindes</strong>wohl: Wie kann<br />
Forschung das <strong>Kindes</strong>wohl fördern?<br />
Ein besseres Verständnis der <strong>Kindes</strong>entwicklung bringt oft auch<br />
praktischen Nutzen. Einige Beispiele wurden bereits beschrieben,<br />
etwa das Programm, das Kindern hilft, mit ihrer Wut umzugehen,<br />
<strong>und</strong> die Empfehlungen, wie man auch von jüngeren Kindern<br />
zutreffende Zeugenaussagen erhält.<br />
Eine weitere Art von praktischem Nutzen betrifft Innovationen<br />
<strong>im</strong> Bildungsbereich. Ein wichtiges Beispiel sind Studien darüber,<br />
wie die Annahmen von Menschen über Intelligenz deren Lernprozesse<br />
beeinflussen. Carol Dweck <strong>und</strong> ihre Mitarbeiter (Dweck 2006;<br />
Dweck <strong>und</strong> Leggett 1988) fanden, dass manche Kinder (<strong>und</strong> auch<br />
Erwachsene) Intelligenz für eine unwandelbare Gegebenheit halten.<br />
Sie vermuten in jedem Menschen einen best<strong>im</strong>mten Grad an<br />
Intelligenz, der von Geburt an feststehe <strong>und</strong> durch Erfahrung nicht<br />
veränderbar sei. Andere Kinder (<strong>und</strong> Erwachsene) halten Intelligenz<br />
für ein wandelbares Merkmal, das sich be<strong>im</strong> Lernen steigert;<br />
sie sind der Ansicht, dass die Zeit <strong>und</strong> Mühe, die Menschen ins<br />
Lernen investieren, zentralen Einfluss auf ihre Intelligenz haben.<br />
Menschen, die annehmen, dass die Intelligenz be<strong>im</strong> Lernen<br />
steigt, reagieren <strong>im</strong> Allgemeinen effektiver auf Fehlschläge<br />
(Dweck 2006). Wenn sie ein Problem nicht lösen können, neigen<br />
sie dazu, an der Aufgabe dranzubleiben <strong>und</strong> sich mehr Mühe<br />
zu geben. Diese Beharrlichkeit angesichts von Fehlschlägen ist<br />
eine wichtige Qualität, wie ein viel zitierter Satz des berühmten<br />
britischen Premierministers Winston Churchill zeigt: „Erfolg ist<br />
die Fähigkeit, von einem Misserfolg zum nächsten zu schreiten,<br />
ohne die Begeisterung zu verlieren.“ Hingegen neigen Menschen,<br />
die Intelligenz für eine unveränderbare Gegebenheit halten, zum<br />
Aufgeben, wenn sie an einer Aufgabe scheitern, weil sie glauben,<br />
das Problem sei zu schwierig für sie.<br />
Aufbauend auf diese Forschungsergebnisse entwarfen Blackwell<br />
et al. (2007) ein wirksames Lernprogramm für Mittelschüler<br />
aus gering verdienenden Familien. Dabei berücksichtigten sie die<br />
Beziehung zwischen den Annahmen über Intelligenz <strong>und</strong> der Beharrlichkeit<br />
be<strong>im</strong> Umgang mit Schwierigkeiten. Sie legten einigen<br />
zufällig ausgewählten Schülern Forschungsergebnisse darüber vor,<br />
wie Lernprozesse das Gehirn verändern, sodass späteres Lernen
Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />
19 1<br />
sich verbessert <strong>und</strong> man klüger wird; anderen zufällig ausgewählten<br />
Schülern derselben Klassen vermittelte man Informationen<br />
über die Funktionsweise des Gedächtnisses. Die Vorhersage des<br />
Forscherteams lautete: Diejenigen Schüler, die über die positive<br />
Wirkung des Lernens auf das Gehirn informiert worden sind, sollten<br />
ihre Annahmen über Intelligenz so verändern, dass sie Misserfolgen<br />
besser standhalten. Insbesondere sollten entsprechende Veränderungen<br />
die Lernergebnisse der Schüler <strong>im</strong> Fach Mathematik<br />
verbessern, in dem Kinder vor dem Erfolg oft Fehlschläge erleben.<br />
Diese Vorhersage erwies sich als zutreffend. Die Kinder, denen<br />
man davon berichtet hatte, wie Lernen das Gehirn verändert <strong>und</strong><br />
die Intelligenz vergrößert, schnitten später in Mathematik besser<br />
ab, die anderen Kinder hingegen nicht. Kinder, die anfangs glaubten,<br />
dass Intelligenz eine angeborene, unwandelbare Qualität ist,<br />
<strong>und</strong> später zu der Überzeugung gelangten, dass Intelligenz Lernprozesse<br />
widerspiegele, zeigten besonders große Lernfortschritte.<br />
Am überzeugendsten waren vielleicht die Aussagen der Lehrer<br />
dieser Kinder, die nicht wussten, welches Kind welche Information<br />
erhalten hatte. Als man sie fragte, ob sie bei irgendwelchen<br />
Schülern ungewöhnliche Motivations- oder Leistungsverbesserungen<br />
beobachtet hatten, nannten die Lehrer aus der Gruppe der<br />
Schüler, denen man über den Aufbau der Intelligenz durch Lernen<br />
berichtet hatte, mehr als dre<strong>im</strong>al so viele Namen wie aus der<br />
uninformierten Gruppe. Den Fortschritt eines Schülers beschrieb<br />
sein Lehrer so:<br />
» L., der sich niemals irgendwelche Mühe gibt <strong>und</strong> die Hausaufgaben<br />
<strong>im</strong>mer zu spät abgibt, blieb bis spät in die Nacht<br />
auf, um eine Aufgabe so rechtzeitig zu beenden, dass ich sie<br />
durchsehen <strong>und</strong> ihm die Gelegenheit geben konnte, sie zu<br />
berichtigen. Er bekam ein B+ 1 für diese Aufgabe; früher stand<br />
er bei C <strong>und</strong> darunter (Blackwell et al. 2007, S. 256).<br />
In den folgenden Kapiteln referieren wir viele zusätzliche Beispiele,<br />
wie entwicklungspsychologische Forschung sich zur Förderung<br />
des <strong>Kindes</strong>wohls verwenden lässt.<br />
In Kürze | |<br />
Die moderne Forschung zur <strong>Kindes</strong>entwicklung besteht<br />
weitestgehend in dem Versuch, eine kleine Anzahl gr<strong>und</strong>legender<br />
Fragen über Kinder zu beantworten. Dazu gehören:<br />
1. Was tragen Anlage <strong>und</strong> Umwelt zur Entwicklung bei?<br />
2. Wie tragen Kinder zu ihrer eigenen Entwicklung bei?<br />
3. Verläuft die Entwicklung kontinuierlich oder diskontinuierlich?<br />
4. Welche Mechanismen bewirken Entwicklung?<br />
5. Wie beeinflusst der soziokulturelle Kontext die Entwicklung?<br />
6. Warum sind Kinder so verschieden?<br />
7. Wie können wir die Forschung zur Verbesserung des<br />
<strong>Kindes</strong>wohls einsetzen?<br />
1 Nach dieser Benotung gibt es fünf Notenstufen von A bis E zwischen sehr<br />
gut (die besten 5 Prozent derjenigen, die den Test bestehen), sowie F für<br />
ungenügende Leistungen (Durchfallen), wenn die Prüfung nicht bestanden<br />
wird.<br />
Methoden der Untersuchung<br />
kindlicher Entwicklung<br />
Im vorangegangenen Abschnitt über die Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
wurde gezeigt, dass die moderne wissenschaftliche<br />
Forschung unser Verständnis gr<strong>und</strong>legender Fragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
ein gutes Stück weitergebracht hat, gemessen am<br />
Wissensstand der historischen Forscherpersönlichkeiten, die<br />
diese Fragen ursprünglich gestellt <strong>und</strong> diskutiert hatten. Dieser<br />
Fortschritt kommt nicht daher, dass die heutigen Forscher klüger<br />
wären oder härter arbeiten würden als die großen Denker der<br />
Vergangenheit; vielmehr spiegelt der Fortschritt die erfolgreiche<br />
Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf die Untersuchung<br />
der <strong>Kindes</strong>entwicklung wider. In diesem Abschnitt beschreiben<br />
wir die wissenschaftliche Methode sowie die Art <strong>und</strong><br />
Weise, wie ihre Anwendung auf die <strong>Kindes</strong>entwicklung unser<br />
Wissen vorangebracht hat.<br />
Die wissenschaftliche Methode<br />
Das Gr<strong>und</strong>postulat der wissenschaftlichen Methode besteht<br />
darin, dass alle Annahmen, wie plausibel sie auch erscheinen<br />
mögen <strong>und</strong> wie viele Menschen sie auch vertreten, falsch sein<br />
können. Solange die eigenen Überzeugungen nicht empirisch<br />
überprüft wurden, müssen sie deshalb als Hypothesen gelten;<br />
das sind nicht Wahrheiten, sondern begründete Vermutungen.<br />
Wenn eine Hypothese geprüft wird <strong>und</strong> die Bef<strong>und</strong>e sie wiederholt<br />
als falsch ausweisen, muss sie aufgegeben werden, so plausibel<br />
sie auch scheinen mag.<br />
Wissenschaftliche Methode – Ein Ansatz zur Prüfung von Annahmen, bei dem<br />
zunächst eine Fragestellung gewählt <strong>und</strong> dazu eine Hypothese formuliert wird,<br />
die man prüft, um danach auf der Basis empirischer Ergebnisse eine Schlussfolgerung<br />
zu ziehen.<br />
Hypothese – Eine begründete Vermutung.<br />
Die Anwendung der wissenschaftlichen Methode erfolgt in vier<br />
Gr<strong>und</strong>schritten:<br />
1. die Auswahl einer Fragestellung, die beantwortet werden soll,<br />
2. die Formulierung einer Hypothese, die sich auf die Fragestellung<br />
bezieht,<br />
3. die Entwicklung einer Methode zur Überprüfung der Hypothese,<br />
4. eine Schlussfolgerung über die Hypothese unter Verwendung<br />
von Daten, die mit der Methode erhoben wurden.<br />
Um diese Schritte zu veranschaulichen, ziehen wir folgende<br />
Fragestellung heran: „Welche Fähigkeiten von Vorschulkindern<br />
erlauben eine Vorhersage auf die zukünftige Lesefähigkeit der<br />
Kinder?“ Eine sinnvolle Hypothese könnte lauten: „Vorschulkinder,<br />
die die einzelnen Laute von Wörtern identifizieren können,<br />
werden bessere Leser als solche, die das nicht können.“ Eine<br />
einfache Methode zur Überprüfung dieser Hypothese bestünde<br />
darin, eine Gruppe von Vorschulkindern auszuwählen, ihre Fähigkeit<br />
zur Identifikation der einzelnen Laute von Wörtern zu<br />
testen <strong>und</strong> dann einige Jahre später die Lesefähigkeit derselben
20<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
1<br />
2<br />
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22<br />
23<br />
Kinder zu testen. Die Forschung hat tatsächlich gezeigt, dass<br />
Vorschulkinder, die die Lautbestandteile von Wörtern auffassen<br />
konnten, später tatsächlich wirklich besser lesen können als<br />
gleichaltrige Kinder, die diese Fähigkeit nicht besitzen – das gleiche<br />
Muster ergab sich unabhängig davon, ob die Kinder in den<br />
USA, in Australien, Norwegen oder Schweden lebten (Furnes<br />
<strong>und</strong> Samuelsson 2011). Diese Bef<strong>und</strong>e unterstützen den Schluss,<br />
dass die Fähigkeit von Vorschulkindern zur Identifikation der<br />
Laute, aus denen sich Wörter zusammensetzen, ihre spätere Lesekompetenz<br />
voraussagt.<br />
Der erste, zweite <strong>und</strong> vierte der genannten Schritte kommt<br />
nicht nur bei der wissenschaftlichen Methode vor. Wir haben<br />
gesehen, dass die großen Denker der Vergangenheit ebenfalls<br />
Fragen stellten, Hypothesen formulierten <strong>und</strong> Schlüsse zogen,<br />
die – gemessen an den ihnen zugänglichen Fakten – vernünftig<br />
waren. Was moderne wissenschaftliche Forschung von den<br />
früheren Ansätzen unterscheidet, ist der dritte Schritt – die Forschungsmethoden,<br />
mit denen die Hypothesen geprüft werden.<br />
Diese Forschungsmethoden <strong>und</strong> die qualitativ besseren Belege,<br />
die sie erbringen, ermöglichen es den Forschern, über ihre ursprünglichen<br />
Hypothesen hinauszugehen <strong>und</strong> gut begründete<br />
Schlüsse zu ziehen.<br />
Die Wichtigkeit geeigneter Messungen<br />
Für die wissenschaftliche Methode ist es entscheidend, Messwerte<br />
zu erhalten, die für die zu prüfende Hypothese relevant<br />
sind. Aber manchmal erweisen sich Messwerte, die anfangs<br />
sachangemessen schienen, später als wenig aussagekräftig. Beispielsweise<br />
könnte ein Forscher, der die Hypothese aufstellt, dass<br />
unterernährte Kinder von einem best<strong>im</strong>mten Ernährungsprogramm<br />
profitieren, dieses Programm anhand der individuellen<br />
Gewichte unmittelbar vor <strong>und</strong> nach der Teilnahme an diesem<br />
Programm evaluieren. Das Gewicht ist jedoch ein unzulängliches<br />
Maß für die Qualität der Ernährung – auch mit Unmengen<br />
von hochkalorischen Snacks lässt sich das Gewicht steigern, ohne<br />
den Ernährungsstatus zu verbessern; viele Übergewichtige sind<br />
fehlernährt (Sawaya et al. 1995). Ein besseres Maß für den Ernährungsstatus<br />
der Kinder wären Blutuntersuchungen vor <strong>und</strong><br />
nach der Diät, bei denen die essenziellen Nährstoffpegel <strong>im</strong> Blut<br />
der Kinder best<strong>im</strong>mt werden (Shetty 2006).<br />
Unabhängig davon, welche Messmethode <strong>im</strong> Einzelnen verwendet<br />
wird, best<strong>im</strong>men oft dieselben Kriterien, ob ein Maß<br />
geeignet ist. Ein Schlüsselkriterium wurde bereits genannt – das<br />
Maß muss für die Hypothese unmittelbar relevant sein. Zwei weitere<br />
Eigenschaften, die gute Messungen besitzen müssen, sind<br />
eine hohe Reliabilität <strong>und</strong> Validität.<br />
Das Ausmaß, in dem unabhängige Messungen eines best<strong>im</strong>mten<br />
Verhaltens übereinst<strong>im</strong>men, wird als Reliabilität<br />
(Zuverlässigkeit) der Messung bezeichnet. Ein wichtiger Typ<br />
der Übereinst<strong>im</strong>mung, die Interrater-Reliabilität, gibt das<br />
Ausmaß an Übereinst<strong>im</strong>mung zwischen den Beobachtungen<br />
verschiedener Personen an, die dasselbe Verhalten bewerten<br />
beziehungsweise „raten“ (englisch; <strong>im</strong> Deutschen wörtlich:<br />
„einstufen“). Manchmal sind die Ratings qualitativ, etwa wenn<br />
die einschätzenden Personen (die „Rater“) die Bindung eines<br />
Babys an seine Mutter als „sicher“ oder „unsicher“ einstufen.<br />
Manchmal sind die Beurteilungen aber auch quantitativ, etwa<br />
wenn die Rater auf einer Skala von 1 bis 10 angeben, wie stark<br />
es Babys aus der Fassung bringt, wenn man ihnen ein unvertrautes<br />
lärmendes Spielzeug oder einen ausgelassenen Fremden<br />
präsentiert. In beiden Fällen ergibt sich eine hohe Interrater-<br />
Reliabilität, wenn die Urteile verschiedener Beobachter gut<br />
übereinst<strong>im</strong>men. Das ist beispielsweise der Fall, wenn in der<br />
beobachteten Gruppe von Säuglingen Baby A <strong>im</strong> Hinblick auf<br />
ein best<strong>im</strong>mtes Verhalten von allen Ratern mit 6 oder 7 bewertet<br />
wird, Baby B von allen 3 oder 4 bekommt, Baby C 8<br />
oder 9 <strong>und</strong> so weiter. Ohne eine solche Übereinst<strong>im</strong>mung kann<br />
man den Forschungsergebnissen nicht trauen, weil man nicht<br />
entscheiden kann, welche Einschätzung die richtige ist (sofern<br />
überhaupt eine davon korrekt ist).<br />
Reliabilität (Zuverlässigkeit) – Das Ausmaß, in dem unabhängig voneinander<br />
durchgeführte Messungen eines best<strong>im</strong>mten Verhaltens übereinst<strong>im</strong>men.<br />
Interrater-Reliabilität – Das Ausmaß, in dem die Beobachtungen mehrerer<br />
Beurteiler, die alle dasselbe Verhalten einschätzen, übereinst<strong>im</strong>men.<br />
Ein zweiter wichtiger Typ der Übereinst<strong>im</strong>mung ist die Test-<br />
Retest-Reliabilität. Dieser Typ der Zuverlässigkeit ist erreicht,<br />
wenn die Messergebnisse der Leistungen eines <strong>Kindes</strong> in demselben<br />
Test, der unter gleichen Bedingungen bei mindestens zwei<br />
Gelegenheiten durchgeführt wird, ähnlich ausfallen. Angenommen,<br />
die Forscher geben denselben Kindern einen Vokabeltest<br />
<strong>im</strong> Abstand von einer Woche zwe<strong>im</strong>al vor. Wenn der Test reliabel<br />
ist, sollten die Kinder, die be<strong>im</strong> ersten Test die besten Resultate<br />
erzielten, auch be<strong>im</strong> zweiten Test wieder vorn liegen, weil sich<br />
das Wortschatzwissen der Kinder in einem so kurzen Zeitraum<br />
nicht sehr stark verändert. Wie <strong>im</strong> Beispiel der Interrater-Reliabilität<br />
würde ein Mangel an Retest-Reliabilität keine Beurteilung<br />
der Frage erlauben, welches Messergebnis das Wissen der Kinder<br />
korrekt widerspiegelt. (Vielleicht waren auch beide Messungen<br />
nicht brauchbar.)<br />
Test-Retest-Reliabilität – Das Ausmaß der Ähnlichkeit von Leistungsmessungen,<br />
die zu unterschiedlichen Zeiten erhoben wurden.<br />
Die Validität (Gültigkeit) eines Tests oder Exper<strong>im</strong>ents bezieht<br />
sich auf das Ausmaß, in dem ein Test misst, was er zu messen<br />
vorgibt. Forscher bemühen sich um zwei Arten der Validität:<br />
eine innere (interne) <strong>und</strong> eine äußere (externe) Validität. Interne<br />
Validität bezieht sich darauf, ob sich die Effekte, die in<br />
einem Exper<strong>im</strong>ent beobachtet wurden, tatsächlich mit hinreichender<br />
Sicherheit (Konfidenz) auf die Bedingungen zurückführen<br />
lassen, die vom Forscher gezielt manipuliert wurden.<br />
Angenommen, es soll die Wirksamkeit einer Psychotherapie<br />
gegen Depression getestet werden, mit der eine best<strong>im</strong>mte Anzahl<br />
depr<strong>im</strong>ierter Jugendlicher behandelt werden. Nach drei<br />
Monaten Psychotherapie ist bei einigen keine depressive Verst<strong>im</strong>mung<br />
mehr feststellbar. Kann man daraus schließen, dass<br />
die Psychotherapie wirksam war? Nein, weil die Verbesserung<br />
auch allein durch das Verstreichen der Zeit verursacht worden<br />
sein könnte. Depressive Verst<strong>im</strong>mungen schwanken, <strong>und</strong> viele<br />
Jugendliche, die zu einem best<strong>im</strong>mten Zeitpunkt depr<strong>im</strong>iert<br />
sind, sind drei Monate später auch ohne Psychotherapie wieder<br />
in ausgeglichener St<strong>im</strong>mung. In diesem Beispiel ist das Ver-
Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />
21 1<br />
streichen von Zeit eine mögliche Quelle fehlender interner Validität,<br />
weil der Faktor, auf den man die positive Veränderung<br />
ursächlich zurückführen wollte (die Psychotherapie), vielleicht<br />
gar keine Wirkung hatte.<br />
Validität (Gültigkeit) – Das Ausmaß, in dem ein Test das misst, was er messen<br />
soll.<br />
Interne Validität – Das Ausmaß, in dem sich exper<strong>im</strong>entelle Effekte auf Variablen<br />
zurückführen lassen, die <strong>im</strong> Test bewusst manipuliert wurden.<br />
Die externe Validität hingegen bezieht sich auf die Möglichkeit<br />
der Generalisierung von Forschungsbef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die Berechtigung,<br />
aus der Untersuchung verallgemeinerte Schlüsse<br />
zu ziehen. Untersuchungen zur <strong>Kindes</strong>entwicklung zielen fast<br />
nie auf Schlussfolgerungen, die lediglich für die untersuchten<br />
Kinder <strong>und</strong> die in der jeweiligen Untersuchung gerade verwendeten<br />
Methoden gelten sollen. Vielmehr besteht das Ziel darin,<br />
zu allgemeingültigeren Schlüssen zu kommen. In einem einzelnen<br />
Exper<strong>im</strong>ent Bef<strong>und</strong>e zu erheben, steht nur am Anfang des<br />
Prozesses, in dem die externe Validität der Bef<strong>und</strong>e best<strong>im</strong>mt<br />
wird. Es bedarf notwendigerweise zusätzlicher Untersuchungen<br />
an anderen Teilnehmern unterschiedlicher Herkunft <strong>und</strong> mit<br />
unterschiedlichen Einzelmethoden, um die externe Validität der<br />
Bef<strong>und</strong>e zu beurteilen. . Tabelle 1.2 fasst die wichtigsten Eigenschaften<br />
von Verhaltensmessungen zusammen.<br />
Externe Validität – Das Ausmaß, in dem sich Bef<strong>und</strong>e über die jeweilige Untersuchung<br />
hinaus verallgemeinern lassen.<br />
Rahmenbedingungen der Datenerhebung<br />
Forscher gelangen <strong>im</strong> Wesentlichen auf drei verschiedene Arten<br />
zu Daten über Kinder: durch Interviews, durch Feldbeobachtung<br />
<strong>und</strong> durch strukturierte Beobachtung. In den folgenden Abschnitten<br />
erläutern wir, wie die Datenerhebung <strong>im</strong> jeweiligen Untersuchungszusammenhang<br />
zur Beantwortung wichtiger Fragen der<br />
<strong>Kindes</strong>entwicklung beitragen kann.<br />
..<br />
Tab. 1.2 Wichtige Eigenschaften von Verhaltensmessungen<br />
Eigenschaft<br />
Hypothesenbezogene<br />
Relevanz<br />
Interrater-<br />
Reliabilität<br />
Kommen verschiedene Beurteiler, die dasselbe<br />
Verhalten beobachten, zu denselben Ergebnissen?<br />
Test-Retest-<br />
Reliabilität<br />
Interne Validität<br />
Leitfrage<br />
Lässt sich aus den Hypothesen in einfacher<br />
Weise vorhersagen, was bei den gemessenen<br />
Variablen passieren sollte?<br />
Sind die Punktwerte oder Klassifikationen, die<br />
die Kinder bei der Messung erhalten, über die<br />
Zeit hinweg stabil?<br />
Können die Effekte <strong>im</strong> Exper<strong>im</strong>ent ursächlich<br />
auf die Variablen zurückgeführt werden, die der<br />
Forscher gezielt manipuliert hat?<br />
Externe Validität In welchem Umfang kann man die Bef<strong>und</strong>e –<br />
über die Besonderheiten der jeweiligen Untersuchung<br />
hinaus – auf andere Kinder, Maße <strong>und</strong><br />
exper<strong>im</strong>entelle Verfahren generalisieren?<br />
Interviews<br />
Der naheliegendste Weg, Daten über Kinder zu sammeln, besteht<br />
darin, direkt zur Quelle zu gehen <strong>und</strong> die Kinder über verschiedene<br />
Aspekte ihres Lebens zu befragen. Ein Interviewtyp,<br />
das strukturierte Interview, ist besonders hilfreich, wenn es<br />
darum geht, von allen untersuchten Personen Selbstauskünfte<br />
über dasselbe Thema zu erheben. Beispielsweise befragten Valeski<br />
<strong>und</strong> Stipek (2001) Vorschüler <strong>und</strong> Erstklässler über ihre<br />
Gefühle gegenüber der Schule („Wie sehr kümmert sich dein<br />
Lehrer um dich?“, „Wie fühlst du dich in der Schule?“), <strong>und</strong> sie<br />
stellten ihnen Fragen zu eigenen schulischen Fähigkeiten („Wie<br />
viel weißt du über Zahlen?“, „Wie gut kannst du lesen?“). Die<br />
allgemeine Einstellung der Schüler gegenüber der Schule <strong>und</strong><br />
ihre Einschätzung der Beziehung zum Lehrer standen in einem<br />
positiven Zusammenhang mit ihren Annahmen über die eigenen<br />
Kompetenzen <strong>im</strong> Rechnen <strong>und</strong> Lesen. Indem einer großen Zahl<br />
von Kindern dieselben Fragen über ihre Gefühle <strong>und</strong> Selbsteinschätzungen<br />
gestellt werden, lassen sich schnell <strong>und</strong> auf direktem<br />
Wege wissenschaftliche Aussagen über Einstellungen <strong>und</strong><br />
Haltungen gewinnen.<br />
Strukturiertes Interview – Ein Forschungsverfahren, bei dem alle Teilnehmer<br />
dieselben Fragen beantworten sollen.<br />
Ein zweiter Interviewtyp, das klinische Interview, ist besonders<br />
nützlich, um eingehende Informationen über ein einzelnes Kind<br />
zu erhalten. Bei diesem Vorgehen beginnt der Interviewer mit<br />
einer Reihe vorbereiteter Fragen; wenn das Kind etwas Interessantes<br />
sagt, kann der Interviewer jedoch vom Fragefahrplan<br />
abweichen <strong>und</strong> den Wegen des <strong>Kindes</strong> folgen.<br />
Klinisches Interview – Ein Verfahren, bei dem die Fragen in Abhängigkeit von<br />
den Antworten des Befragten angepasst werden.<br />
..<br />
Klinische Einzelinterviews können tiefgreifende Informationen über ein<br />
Kind zutage fördern. (© Voisin/Science Source)<br />
Der Nutzen klinischer Interviews lässt sich am Beispiel des zehnjährigen<br />
Bobby illustrieren, bei dem ein Verdacht auf eine depressive<br />
Erkrankung bestand <strong>und</strong> der deshalb zur Untersuchung
22<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
1<br />
2<br />
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23<br />
überwiesen wurde (Schwartz <strong>und</strong> Johnson 1985). Als der Interviewer<br />
ihn über die Schule befragte, antwortete Bobby, dass er<br />
die Schule nicht möge, weil ihn die anderen Kinder nicht leiden<br />
könnten <strong>und</strong> er schlecht in Sport sei. Er sagte: „Ich bin bei allem<br />
nicht besonders gut“ (S. 214). Um die Ursache für diese traurige<br />
Selbstbeschreibung zu erk<strong>und</strong>en, fragte der Interviewer Bobby,<br />
was er sich wünschen würde, wenn er drei Wünsche frei hätte.<br />
Bobby antwortete: „Ich wäre gerne so ein Junge, wie meine Mutter<br />
<strong>und</strong> mein Vater es wollen, ich würde mir Fre<strong>und</strong>e wünschen<br />
<strong>und</strong> ich wäre gerne weniger traurig“ (S. 214). Solche herzzerreißenden<br />
Bemerkungen vermitteln einen Eindruck von dem<br />
schmerzlichen subjektiven Erleben dieses depr<strong>im</strong>ierten <strong>Kindes</strong>,<br />
den man mit anderen Methoden, die nicht auf das einzelne Kind<br />
zugeschnitten sind, niemals erhalten könnte.<br />
Wie bei allen Verfahrensweisen der Datenerhebung besitzen<br />
auch Interviews Stärken <strong>und</strong> Schwächen. Auf der positiven Seite<br />
produzieren sie große Datenmengen in recht kurzer Zeit <strong>und</strong> können<br />
eingehende Informationen über einzelne Kinder liefern. Auf<br />
der negativen Seite sind die Antworten auf Interviewfragen oft<br />
verzerrt. Kinder geben (wie Erwachsene auch) über vergangene<br />
Ereignisse nicht <strong>im</strong>mer korrekte Auskunft. Viele vermeiden es,<br />
enthüllende Tatsachen preiszugeben, die sie selbst in ein schlechtes<br />
Licht setzen, verzerren den Gang der Ereignisse <strong>und</strong> kennen ihre<br />
eigenen Motive nicht (Wilson <strong>und</strong> Dunn 2004). Diese Grenzen des<br />
Verfahrens brachten <strong>im</strong>mer mehr Forscher dazu, ihre Daten durch<br />
direkte Beobachtung des interessierenden Verhaltens zu gewinnen.<br />
Feldbeobachtung in der natürlichen Umwelt<br />
Wenn das vorrangige Ziel darin besteht zu beschreiben, wie sich<br />
Kinder in ihrer normalen Umgebung – in der Schule, auf dem<br />
Spielplatz, Zuhause oder an einem anderen häufig aufgesuchten<br />
Ort – verhalten, ist die Feldbeobachtung die Methode der<br />
Wahl. Bei diesem Erhebungsverfahren versuchen die Beobachter<br />
möglichst unauffällig <strong>im</strong> Hintergr<strong>und</strong> der jeweiligen Situation<br />
zu bleiben, um das interessierende Verhalten der beobachteten<br />
Personen möglichst nicht zu beeinflussen.<br />
Feldbeobachtung – Die Untersuchung des kindlichen Verhaltens in seiner<br />
üblichen Umgebung, ohne Einflussnahme des Forschers.<br />
..<br />
Manchmal beobachten Psychologen die familiären Interaktionen vor<br />
Ort, insbesondere am Esstisch, um auch Gesprächsbeiträge zu erfassen, die<br />
bisweilen starke Emotionen hervorrufen<br />
Ein herausragendes Beispiel für die Feldbeobachtung ist die<br />
vergleichende Untersuchung der Familiendynamik von Gerald<br />
Patterson (1982). Er untersuchte zwei Familientypen – einen mit<br />
Schwierigkeiten <strong>und</strong> einen ohne. Der eine Familientyp (troubled<br />
families) ist dadurch definiert, dass es mindestens ein Kind gibt,<br />
dem attestiert wurde, völlig außer Kontrolle geraten zu sein, <strong>und</strong><br />
das von der Schule, einem Gericht oder einem Facharzt zur Behandlung<br />
überwiesen wurde. Der andere Familientyp (typical<br />
families) ist dadurch definiert, dass keine Kinder mit Anzeichen<br />
für ernsthafte Verhaltensprobleme Teil der Familie sind. Die Einkommensverhältnisse<br />
<strong>und</strong> das Alter der Kinder waren bei beiden<br />
Familientypen gleich.<br />
Beobachtet wurde die Häufigkeit, mit der Kinder <strong>und</strong> Eltern<br />
negative Verhaltensweisen, wie einander aufziehen, brüllen,<br />
quengeln oder sich gegenseitig kritisieren, an den Tag legten.<br />
Forschungsassistenten beobachteten wiederholt die Interaktionen<br />
be<strong>im</strong> Abendessen in beiden Familientypen. Um die Familie<br />
an seine Anwesenheit zu gewöhnen, machte der Assistent zuerst<br />
mehrere Hausbesuche, bevor er mit der Datenerhebung begann.<br />
Die Forscher fanden heraus, dass sich sowohl die Kinder als<br />
auch die Eltern in den problematischen Familien anders verhielten<br />
als ihre Vergleichspersonen aus den typischen Familien.<br />
Die Eltern in den Problemfamilien waren mehr mit sich selbst<br />
beschäftigt <strong>und</strong> für ihre Kinder weniger ansprechbar als die<br />
Eltern in den typischen Haushalten. Auf elterliche Strafen hin<br />
reagierten die Kinder in den Problemfamilien mit zunehmender<br />
Aggression, wohingegen die Kinder der anderen Familien<br />
weniger aggressiv wurden. In den Problemfamilien gerieten die<br />
Interaktionen oft in einen Teufelskreis, der sich wie folgt beschreiben<br />
lässt:<br />
-<br />
Das Kind verhielt sich feindselig oder aggressiv, indem es<br />
sich zum Beispiel der Aufforderung eines Elternteils, sein<br />
Z<strong>im</strong>mer aufzuräumen, widersetzte.<br />
Ein Elternteil reagierte verärgert <strong>und</strong> brüllte das Kind beispielsweise<br />
an, es solle gefälligst gehorchen.<br />
Das Kind erhöhte seine Feindseligkeit, etwa indem es zurückschrie.<br />
-<br />
Das Elternteil trieb die Aggressivität noch höher <strong>und</strong> gab<br />
dem Kind zum Beispiel eine Ohrfeige.<br />
Pattersons Untersuchung lässt erkennen, dass Feldbeobachtungen<br />
besonders nützlich sind, um soziale Interaktionen – wie die<br />
zwischen Kindern <strong>und</strong> ihren Eltern – genauer zu beleuchten.<br />
Feldbeobachtungen erbringen zwar detaillierte Informationen<br />
über best<strong>im</strong>mte Aspekte des kindlichen Alltagslebens; sie<br />
unterliegen aber auch wichtigen Einschränkungen. Zum einen<br />
variieren natürlich auftretende Kontexte in vielen D<strong>im</strong>ensionen,<br />
<strong>und</strong> man kann nur schwer herausfinden, welche davon das interessierende<br />
Verhalten beeinflusste. So war in Pattersons Untersuchung<br />
zwar klar, dass sich die Interaktionen in den beiden<br />
Familientypen stark voneinander unterschieden; doch waren<br />
die Unterschiede <strong>im</strong> Interaktionsverhalten so vielfältig, dass es<br />
schwer war, die jeweils spezifischen Beiträge einzelner Verhaltensmuster<br />
zu identifizieren. Zum anderen treten viele wichtige<br />
Verhaltensweisen nur gelegentlich in der alltäglichen Umwelt<br />
auf, sodass Forscher selten Gelegenheit haben, sie überhaupt zu<br />
Gesicht zu bekommen <strong>und</strong> zu untersuchen. Die Verwendung
Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />
23 1<br />
strukturierter Beobachtungen stellt ein Mittel bereit, diese Beschränkungen<br />
zu überwinden.<br />
Strukturierte Beobachtung<br />
Um spezifische Hypothesen zu prüfen, gestalten Forscher oft<br />
eine Situation, die ein best<strong>im</strong>mtes, für die Hypothese relevantes<br />
Verhalten hervorruft, <strong>und</strong> beobachten dann verschiedene<br />
Kinder in dieser Situation. In solchen strukturierten Beobachtungssituationen<br />
zeichnet der Forscher auf, was jedes Kind tut,<br />
<strong>und</strong> bezieht dieses Verhalten auf Merkmale <strong>und</strong> Eigenschaften<br />
des <strong>Kindes</strong> wie Alter, Geschlecht <strong>und</strong> Persönlichkeit sowie auf<br />
das Verhalten des <strong>Kindes</strong> in anderen, ebenfalls beobachteten<br />
Situationen.<br />
Strukturierte Beobachtung – Ein Verfahren, bei dem jedem Kind die gleiche<br />
Situation dargeboten <strong>und</strong> sein Verhalten aufgezeichnet wird.<br />
In einer solchen Untersuchung interessierten sich Kochanska<br />
et al. (2001) dafür, wie die Beziehung zwischen Mutter <strong>und</strong> Kind<br />
die Bereitschaft von Zwei- <strong>und</strong> Dreijährigen beeinflusst, auf attraktive<br />
Aktivitäten zu verzichten oder unattraktive Tätigkeiten<br />
auszuführen, wenn die Mutter sie darum bittet. Die Forscher luden<br />
Mütter mit ihren Kleinkindern in einen Laborraum ein, in<br />
dem einige besonders attraktive Spielsachen in einem Regal <strong>und</strong><br />
viele weniger attraktive Spielsachen <strong>im</strong> Raum verstreut lagen. Die<br />
Mütter sollten ihren Kindern sagen, dass sie mit allen Spielsachen<br />
spielen dürften außer mit den besonders attraktiven <strong>im</strong> Regal.<br />
Rater beobachteten die Kinder in den folgenden Minuten <strong>und</strong><br />
stuften sie mit Blick auf ihre Folgsamkeit in die Kategorien „von<br />
ganzem Herzen“, „widerwillig“ oder „gar nicht“ ein. Dann bat der<br />
Versuchsleiter die Mutter, den Raum zu verlassen, <strong>und</strong> beobachtete<br />
durch einen Einwegspiegel, ob das Kind in Abwesenheit der<br />
Mutter mit den „verbotenen“ Spielsachen spielte.<br />
Die Forscher fanden, dass Kinder, die sich zunächst voll <strong>und</strong><br />
ganz mit der Aufforderung der Mutter einverstanden erklärt hatten,<br />
nicht mit den verbotenen Sachen zu spielen, in ihrer Abwesenheit<br />
das Verbot mit geringerer Wahrscheinlichkeit übertraten<br />
als die Kinder, die sich nur widerwillig oder gar nicht auf die<br />
Bitte der Mutter eingelassen hatten, als sie noch anwesend war.<br />
Die voll <strong>und</strong> ganz fügsamen Kinder waren auch mit größerer<br />
Wahrscheinlichkeit willig, die Anstrengung auf sich zu nehmen,<br />
herumliegende Spielsachen aufzuräumen, wenn ihre Mutter sie<br />
anschließend darum bat. Bei einer Nachuntersuchung um ihren<br />
vierten Geburtstag herum waren die meisten Kinder in derselben<br />
Weise willig oder nicht wie ein bis zwei Jahre zuvor. Insgesamt<br />
zeigen die Bef<strong>und</strong>e, dass die Qualität der kleinkindlichen Folgsamkeit<br />
gegenüber der Bitte der Mutter eine in gewisser Hinsicht<br />
stabile, allgemeine Eigenschaft der Mutter-Kind-Beziehung darstellt.<br />
..<br />
Die Welt steckt voller Versuchungen, aber Kinder, die sich <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
den Bitten ihrer Mutter fügen, wenn sie anwesend ist, widerstehen<br />
Versuchungen auch dann eher, wenn die Mutter abwesend ist (so wie dieser<br />
Junge, der Neffe eines der Autoren, der seinen Griff in die Torte noch rechtzeitig<br />
stoppen konnte, auch wenn es nicht danach aussieht). (© Suwanna <strong>und</strong><br />
David <strong>Siegler</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Dieser Typ der strukturierten Beobachtung bietet gegenüber<br />
Feldbeobachtungen einen wichtigen Vorteil. Es kann sichergestellt<br />
werden, dass alle Kinder auf identische Situationen stoßen,<br />
wodurch direkte Vergleiche der verschiedenen Verhaltensweisen<br />
möglich werden <strong>und</strong> die Allgemeingültigkeit der Verhaltensweisen<br />
über verschiedene Aufgaben hinweg best<strong>im</strong>mt werden kann.<br />
Andererseits liefert die strukturierte Beobachtung keine so umfassende<br />
Information über das subjektive Erleben einzelner Kinder,<br />
wie dies bei Interviews der Fall ist, <strong>und</strong> sie kann auch keine<br />
Situation so spontan <strong>und</strong> natürlich gestalten, wie dies die Feldbeobachtung<br />
ermöglicht. Welche Methode der Datenerhebung<br />
am sinnvollsten ist, hängt also davon ab, welche Aspekte für das<br />
jeweilige Untersuchungsziel besonders wichtig sind. In . Tab. 1.3<br />
sind die Vor- <strong>und</strong> Nachteile der verschiedenen Methoden zur<br />
Datenerhebung – Interview, Feldbeobachtung <strong>und</strong> strukturierte<br />
Beobachtung – zusammengefasst.
24<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
1<br />
..<br />
Tab. 1.3 Vor- <strong>und</strong> Nachteile der drei Datenerhebungsmethoden<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
Situation der<br />
Datenerhebung<br />
Interview<br />
Naturalistische<br />
Beobachtung<br />
Zentrale Eigenschaften Vorteile Nachteile<br />
Kinder beantworten Fragen<br />
entweder <strong>im</strong> Gespräch oder<br />
auf einem Fragebogen.<br />
Die Aktivitäten von Kindern<br />
in Alltagssituationen werden<br />
beobachtet.<br />
Kann das subjektive Erleben der Kinder verdeutlichen.<br />
Strukturierte Interviews sind preiswerte Mittel<br />
für die Gewinnung eingehender Daten über<br />
Einzelpersonen.<br />
Klinische Interviews sind flexibel, um unerwarteten<br />
Bemerkungen nachzugehen.<br />
Nützlich für die Verhaltensbeschreibung in<br />
Alltagssituationen.<br />
Hilft, soziale Interaktionsprozesse sichtbar zu<br />
machen.<br />
Die Angaben sind oft verzerrt, um einen<br />
guten Eindruck zu machen.<br />
Das Gedächtnis der interviewten Person ist<br />
oft ungenau <strong>und</strong> unvollständig.<br />
Die Vorhersage zukünftigen Verhaltens ist<br />
oft unzutreffend.<br />
Es ist schwer anzugeben, welche Aspekte<br />
der Situation den größten Einfluss haben.<br />
Begrenzter Nutzen bei der Untersuchung<br />
seltener Verhaltensweisen.<br />
7<br />
8<br />
Strukturierte<br />
Beobachtung<br />
Kinder werden ins Labor gebracht<br />
<strong>und</strong> mit vorarrangierten<br />
Aufgaben konfrontiert.<br />
Es ist sichergestellt, dass das Verhalten aller<br />
Kinder <strong>im</strong> gleichen Kontext beobachtet wird.<br />
Erlaubt den kontrollierten Vergleich des kindlichen<br />
Verhaltens in verschiedenen Situationen.<br />
Der Kontext ist weniger natürlich als bei<br />
der naturalistischen Beobachtung.<br />
Lässt weniger über subjektive Erlebnisqualitäten<br />
erkennen als Interviews.<br />
9<br />
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23<br />
Korrelation <strong>und</strong> Verursachung<br />
Menschen unterscheiden sich in einer unendlichen Anzahl<br />
von Variablen, das heißt Merkmalen, die von Person zu Person<br />
oder von Situation zu Situation variieren, beispielsweise Alter,<br />
Geschlecht, Aktivitätsniveau, sozioökonomischer Status oder<br />
best<strong>im</strong>mte Erfahrungen. Zu den wichtigsten Zielen entwicklungspsychologischer<br />
Forschung gehört die Best<strong>im</strong>mung des<br />
Wechselspiels der genannten <strong>und</strong> weiterer Variablen, <strong>und</strong> zwar<br />
sowohl hinsichtlich ihres gemeinsamen Auftretens als auch hinsichtlich<br />
ihrer Ursache-Wirkungs-Beziehung. In den folgenden<br />
Abschnitten erläutern wir Forschungsdesigns, mit denen die<br />
verschiedenen Beziehungstypen untersucht werden. Als Design<br />
bezeichnen wir einen Plan zur Untersuchung <strong>und</strong> Analyse best<strong>im</strong>mter<br />
Variablen <strong>und</strong> ihres Zusammenspiels.<br />
Variablen – Merkmale, die von Person zu Person <strong>und</strong> von Situation zu Situation<br />
variieren können, etwa Alter, Geschlecht oder Erwartungen.<br />
Korrelationsdesigns<br />
In manchen Untersuchungen – den sogenannten Korrelationsdesigns<br />
– besteht das vorrangige Ziel darin herauszufinden, ob<br />
Kinder, die sich in einer Eigenschaft unterscheiden, auch in anderen<br />
Merkmalen vorhersagbare Unterschiede aufweisen. Zum<br />
Beispiel könnte ein Forscher untersuchen, ob die Aggressivität<br />
eines Kleinkindes mit der Anzahl von St<strong>und</strong>en zusammenhängt,<br />
die es außer Haus betreut wird, oder ob es eine Beziehung zwischen<br />
der Beliebtheit von Jugendlichen <strong>und</strong> ihrer Selbstkontrolle<br />
gibt.<br />
Korrelationsdesigns – Untersuchungen, die auf die Beziehungen zwischen<br />
Variablen gerichtet sind.<br />
Der Zusammenhang zweier Variablen wird als Korrelation bezeichnet.<br />
Wenn zwei Variablen hoch korrelieren, also stark zusammenhängen,<br />
kann man aus der Kenntnis der Ausprägung eines<br />
<strong>Kindes</strong> in der einen Variablen die Ausprägung in der anderen<br />
Variablen recht genau vorhersagen. So bedeutet beispielsweise<br />
die Tatsache, dass die Anzahl von St<strong>und</strong>en, die Kinder wöchentlich<br />
mit Lesen verbringen, hoch mit ihren Ergebnissen bei einem<br />
Lesetest korreliert (Guthrie et al. 1999), dass man das Ergebnis<br />
des Lesetests eines <strong>Kindes</strong> genau vorhersagen kann, wenn man<br />
weiß, wie viel Zeit das Kind zum Lesen aufwendet. Es bedeutet<br />
umgekehrt auch, dass sich die mit Lesen verbrachte Zeit aus den<br />
Testwerten eines <strong>Kindes</strong> vorhersagen lässt.<br />
Korrelation – Der Zusammenhang zwischen zwei Variablen.<br />
Korrelationskoeffizient – Ein statistischer Kennwert für die Richtung <strong>und</strong><br />
Stärke einer Korrelation.<br />
Korrelationen können Werte zwischen 1.0, der stärksten positiven<br />
Korrelation, <strong>und</strong> von −1.0, der stärksten negativen Korrelation<br />
annehmen. Die Richtung des Zusammenhangs kann daher<br />
positiv oder negativ sein. Die Korrelation ist positiv, wenn hohe<br />
Werte in der einen Variable mit hohen Werten in der anderen<br />
einhergehen; die Korrelation ist negativ, wenn hohe Werte in<br />
der einen Variable mit niedrigen Werten in der anderen assoziiert<br />
sind. Die Korrelation zwischen der aufgewendeten Lesezeit<br />
<strong>und</strong> dem Wert <strong>im</strong> Lesetest wäre also positiv, weil Kinder, die viel<br />
Zeit für das Lesen aufwenden, auch hohe Testwerte erzielen. Ein<br />
deutliches Beispiel für eine negative Korrelation wäre der Zusammenhang<br />
zwischen Körperfülle <strong>und</strong> Laufgeschwindigkeit: Je korpulenter<br />
ein Kind ist, desto langsamer wird es <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
rennen können. (Eine ausführlichere Darstellung zur Korrelation<br />
findet sich in ▶ Exkurs 1.1.)<br />
Korrelation bedeutet nicht Verursachung<br />
Wenn zwei Variablen hoch korrelieren <strong>und</strong> zwischen ihnen eine<br />
plausible Ursache-Wirkungs-Beziehung besteht, ist es oft verlockend<br />
zu schließen, dass die eine die andere verursacht. Dieser<br />
Schluss ist jedoch aus zwei Gründen nicht gerechtfertigt. Der<br />
erste Gr<strong>und</strong> liegt <strong>im</strong> Problem der Verursachungsrichtung: Eine<br />
Korrelation gibt nicht an, welche Variable die Ursache <strong>und</strong> welche<br />
die Folge ist. Im oben genannten Beispiel des Zusammen-
Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />
25 1<br />
Exkurs 1.1: Genauer betrachtet: Der Korrelationskoeffizient | |<br />
Die Richtung <strong>und</strong> die Stärke einer Korrelation<br />
werden durch einen statistischen Kennwert<br />
angegeben, den man Korrelationskoeffizient<br />
nennt. Die Richtung des Zusammenhangs<br />
ergibt sich aus dem positiven oder negativen<br />
Vorzeichen des Zahlenwertes. So hängen<br />
Variable 1 <strong>und</strong> Variable 2 in . Abb. 1.4a <strong>und</strong> b<br />
positiv zusammen (je höher der Wert von Variable<br />
1, desto höher der Wert von Variable 2).<br />
Umgekehrt stehen Variable 1 <strong>und</strong> Variable 2<br />
in . Abb. 1.4c <strong>und</strong> d in einer negativen Beziehung<br />
(je höher der Wert von Variable 1, desto<br />
niedriger der Wert von Variable 2), weshalb vor<br />
dem Zahlenwert ein Minuszeichen steht.<br />
Die Stärke des Zusammenhangs der beiden<br />
Variablen wird durch den Zahlenwert<br />
(mathematisch: den Betrag) des Korrelationskoeffizienten<br />
angegeben. Je höher der<br />
Absolutwert (je näher an den Extremwerten<br />
1.0 beziehungsweise −1.0), desto stärker ist<br />
der Zusammenhang zwischen den Variablen;<br />
entsprechend ist die Beziehung schwächer,<br />
je niedriger (je näher an 0) der Absolutwert<br />
ist. Die in . Abb. 1.4a <strong>und</strong> c abgebildeten<br />
Korrelationen (1.0 <strong>und</strong> −1.0) sind gleich stark;<br />
der Zusammenhang ist beide Male besonders<br />
stark, auch wenn die Beziehungen gegensätzlich<br />
gerichtet sind. In beiden Beziehungen<br />
kennt man mit der Ausprägung von Variable 1<br />
auch den exakten Wert von Variable 2. Die<br />
Zusammenhänge in . Abb. 1.4b <strong>und</strong> d sind<br />
schwächer, aber auch sie sind noch informativ<br />
in dem Sinn, dass die Kenntnis der<br />
Ausprägung von Variable 1 eine recht gute<br />
Vorhersage der Ausprägung von Variable 2 erlaubt.<br />
Wenn man in . Abb. 1.4d beispielsweise<br />
weiß, dass Variable 1 einen recht hohen Wert<br />
besitzt, können wir vorhersagen, dass der Wert<br />
von Variable 2 relativ niedrig sein wird, auch<br />
wenn wir den genauen Wert nicht wissen. In<br />
. Abb. 1.4e beträgt der Wert des Korrelationskoeffizienten<br />
0. In dieser Situation leistet die<br />
Kenntnis der Ausprägung von Variable 1 überhaupt<br />
nichts für die Vorhersage des Wertes<br />
von Variable 2; wenn der Wert von Variable 1<br />
hoch ist, kann der Wert von Variable 2 mit<br />
gleicher Wahrscheinlichkeit hoch, mittel oder<br />
auch niedrig sein.<br />
a<br />
b<br />
c<br />
d<br />
..<br />
Abb. 1.4 Fünf Korrelationen<br />
e<br />
hangs zwischen aufgewendeter Lesezeit <strong>und</strong> Leseleistung könnte<br />
der größere Zeitaufwand die erhöhte Leseleistung verursacht<br />
haben. Andererseits könnte die Ursache-Wirkungs-Beziehung<br />
auch in umgekehrter Richtung verlaufen: Die höhere Lesefähigkeit<br />
könnte dafür verantwortlich sein, dass die Kinder mehr Zeit<br />
mit Lesen verbringen, weil sie das Lesen besser genießen können.<br />
Oder es könnte beides zutreffen.<br />
Problem der Verursachungsrichtung – Die Tatsache, dass eine Korrelation<br />
zwischen zwei Variablen nicht angibt, welche (<strong>und</strong> ob überhaupt eine) Variable<br />
Ursache für die andere ist.<br />
Der zweite Gr<strong>und</strong> dafür, dass Korrelation nicht Verursachung<br />
<strong>im</strong>pliziert, liegt <strong>im</strong> Problem der dritten Variable: Die Korrelation<br />
zwischen zwei Variablen kann in Wirklichkeit auf den Ein-
26<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
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fluss einer dritten, nicht spezifizierten Variable zurückgeführt<br />
werden. Um be<strong>im</strong> Lesebeispiel zu bleiben, könnte das Aufwachsen<br />
in einer intellektuellen häuslichen Umgebung die Ursache<br />
sowohl für den größeren Lesezeitaufwand als auch für die höhere<br />
Leseleistung darstellen.<br />
Problem der dritten Variable – Die Tatsache, dass eine Korrelation zwischen<br />
zwei Variablen durch eine dritte (störende) Variable beeinflusst oder verursacht<br />
sein kann.<br />
Wenn man Forschungsbef<strong>und</strong>e deutet, ist es entscheidend zu<br />
beachten, dass Korrelation nicht automatisch mit Verursachung<br />
gleichzusetzen ist. Selbst in renommierten Zeitschriften publizierte<br />
Bef<strong>und</strong>e können falsch gedeutet werden. So wurde in einem<br />
Artikel zur Korrelation bei Kindern, die <strong>im</strong> Alter unter zwei<br />
Jahren nachts bei eingeschaltetem Licht geschlafen hatten <strong>und</strong><br />
später als kurzsichtig diagnostiziert worden waren, geschlossen,<br />
dass das Licht die visuelle Entwicklung ungünstig beeinflusse<br />
– <strong>und</strong> das in der prestigeträchtigen Zeitschrift Nature (Quinn<br />
et al. 1999). Wenig überraschend fand diese These eine enorme<br />
Medienresonanz (z. B. Torassa 2000). Allerdings zeigten weitere<br />
Arbeiten, dass der Kausalschluss falsch war. Tatsächlich hatten<br />
kurzsichtige Kinder in der Regel kurzsichtige Eltern, die aus unbekannten<br />
Gründen sehr viel öfter als die anderen Eltern das<br />
Licht in den Schlafz<strong>im</strong>mern der Kinder eingeschaltet ließen<br />
(Gwiazda et al. 2000; Zadnik et al. 2000). Wie dieses Beispiel<br />
zeigt, erweisen sich Kausalzusammenhänge, die aufgr<strong>und</strong> von<br />
Korrelationen naheliegend scheinen, häufig als falsch.<br />
Wenn eine Korrelation nichts über die Verursachung eines<br />
Effekts aussagt, warum werden dann so häufig Korrelationsdesigns<br />
in der Forschung angewandt? Ein wichtiger Gr<strong>und</strong> besteht<br />
darin, dass der Einfluss von besonders interessierenden<br />
Variablen – wie Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit <strong>und</strong><br />
sozialer Schicht – sich nicht exper<strong>im</strong>entell untersuchen lässt,<br />
weil man diese Variablen nicht gezielt manipulieren kann; Personen,<br />
die an einem Versuch teilnehmen, können nicht beliebig<br />
dem einen oder anderen Geschlecht, dem einen oder anderen<br />
sozioökonomischen Status zugeordnet werden. Deshalb müssen<br />
Zusammenhänge zwischen diesen Variablen mit Korrelationsmethoden<br />
untersucht werden. Auch dann, wenn das Ziel<br />
vor allem darin besteht, Relationen zwischen den Variablen zu<br />
beschreiben, <strong>und</strong> weniger darin, Ursache-Wirkungs-Beziehungen<br />
zu best<strong>im</strong>men, sind Korrelationsdesigns nützlich. Wenn es<br />
beispielsweise darum geht zu klären, wie moralisches Urteilen,<br />
Empathie, Ängstlichkeit <strong>und</strong> Beliebtheit miteinander zusammenhängen,<br />
dann wird man höchstwahrscheinlich Korrelationsdesigns<br />
anwenden.<br />
Exper<strong>im</strong>entaldesigns<br />
Wenn Korrelationen nicht reichen, um auf Ursache-Wirkungs-<br />
Beziehungen zu schließen, was wäre dann hinreichend? Die Antwort<br />
lautet: Exper<strong>im</strong>entaldesigns. Die Logik exper<strong>im</strong>enteller Designs<br />
lässt sich recht einfach zusammenfassen: Wenn Kinder in<br />
zwei oder mehreren vergleichbaren Gruppen mit einer best<strong>im</strong>mten<br />
Erfahrung konfrontiert werden <strong>und</strong> sich später anders verhalten<br />
als Kinder in der Gruppe (oder den Gruppen), die nicht mit<br />
dieser Erfahrung konfrontiert wurden oder auch einer anderen<br />
Erfahrung ausgesetzt waren, dann müssen die späteren Verhaltensunterschiede<br />
das Resultat der Erfahrungsunterschiede sein.<br />
Exper<strong>im</strong>entaldesigns – Eine Gruppe von Forschungsansätzen, die Schlussfolgerungen<br />
über Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen zulassen.<br />
Zwei Verfahren sind für exper<strong>im</strong>entelle Designs entscheidend:<br />
Randomisierung der Gruppenteilnehmer <strong>und</strong> exper<strong>im</strong>entelle<br />
Kontrolle.<br />
Randomisierung bedeutet, dass die Probanden nach dem<br />
Zufall – durch Münzwurf oder Los – auf die verschiedenen<br />
Gruppen verteilt werden, sodass sich die Gruppen am Anfang<br />
nicht unterscheiden <strong>und</strong> vergleichbar sind. Diese Vergleichbarkeit<br />
ist relevant, um später Rückschlüsse darauf ziehen zu<br />
können, inwieweit die variierten exper<strong>im</strong>entellen Bedingungen<br />
oder Erfahrungen in den verschiedenen Gruppen die Ursache<br />
der später beobachteten Unterschiede sind. Andernfalls könnten<br />
diese Unterschiede auch darauf beruhen, dass zwischen den<br />
Gruppen von Untersuchungsteilnehmern schon von vornherein<br />
Unterschiede bestanden.<br />
Randomisierung – Ein Verfahren zur Auswahl von Versuchsgruppen nach dem<br />
Zufallsprinzip, bei dem jedes Kind dieselbe Chance hat, jeweils einer der Gruppen<br />
in einem Exper<strong>im</strong>ent zugeteilt zu werden.<br />
Angenommen, die Forscher wollten herausfinden, welche Intervention<br />
bei depressiven Müttern die Mutter-Kind-Beziehung am<br />
besten fördert – Hausbesuche oder aber stützende Telefonanrufe<br />
eines Therapeuten. Würde man die Hausbesuche bei Familien<br />
desselben Wohnviertels <strong>und</strong> die Anrufe bei Familien eines<br />
anderen Wohnviertels durchführen, ließe sich am Ende nicht<br />
entscheiden, ob die beobachteten Unterschiede in den Mutter-<br />
Kind-Beziehungen der verschiedenen Gruppen den unterschiedlichen<br />
Interventionen oder den unterschiedlichen Wohnvierteln<br />
zuzuschreiben sind. Depressive Mütter in dem einen Wohnviertel<br />
haben möglicherweise leichtere Formen der Depression als in<br />
dem anderen Viertel, oder sie können sich mehr Unterstützung<br />
von nahen Angehörigen, Familienberatungsstellen oder von Betreuungseinrichtungen<br />
für die Kinder holen.<br />
..<br />
Depressive Mütter haben oft Schwierigkeiten, mit ihren Kindern einfühlsam<br />
umzugehen. Hausbesuche von ausgebildeten Therapeuten können<br />
helfen, dieses Problem zu lindern. (© MachineHeadz / iStock)
Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />
27 1<br />
Wenn die Gruppen dagegen nach dem Zufallsprinzip gebildet<br />
(also randomisiert) werden <strong>und</strong> sich aus einer hinreichend großen<br />
Anzahl von Teilnehmern zusammensetzen (typischerweise<br />
20 <strong>und</strong> mehr pro Gruppe), sind die anfänglichen Unterschiede<br />
zwischen den Gruppen der Tendenz nach min<strong>im</strong>al. Verteilt man<br />
beispielsweise aus den beiden Wohnvierteln 40 Familien mit depressiven<br />
Müttern nach Zufall auf zwei Exper<strong>im</strong>entalgruppen,<br />
so werden in jeder Gruppe wahrscheinlich annähernd gleich<br />
viele Familien aus jedem Wohngebiet vertreten sein. Ähnlich<br />
werden in jeder Gruppe einige Mütter mit sehr schweren <strong>und</strong><br />
einige mit leichten Formen der Depression vertreten sein, <strong>und</strong><br />
der Großteil wird in beiden Gruppen mittlere Depressionsgrade<br />
aufweisen. Von den Kindern in beiden Gruppen werden einige<br />
von den Depressionen ihrer Mütter schwer in Mitleidenschaft<br />
gezogen sein, einige leicht <strong>und</strong> die meisten mittelschwer. Die<br />
Logik des Verfahrens <strong>im</strong>pliziert, dass die durch Randomisierung<br />
geschaffenen Probandengruppen in jeder beliebigen Variable<br />
vergleichbar sein sollen, mit Ausnahme der unterschiedlichen<br />
therapeutischen Versorgung, die die Familien in den Exper<strong>im</strong>entalgruppen<br />
<strong>im</strong> Versuchsverlauf erhalten. Ein solches Exper<strong>im</strong>ent<br />
wurde tatsächlich durchgeführt – mit dem Ergebnis,<br />
dass Hausbesuche besser halfen als Telefonanrufe (van Doesum<br />
et al. 2008).<br />
Die zweite wesentliche Eigenschaft eines Exper<strong>im</strong>entaldesigns,<br />
die exper<strong>im</strong>entelle Kontrolle, bezieht sich darauf, dass der<br />
Forscher die spezifischen Erfahrungen, mit denen ein Kind in<br />
der jeweiligen Untersuchungsbedingung konfrontiert ist, vorab<br />
festlegt (kontrolliert). Im einfachsten Fall eines Exper<strong>im</strong>entaldesigns<br />
mit nur zwei Versuchsbedingungen nennt man die beiden<br />
Gruppen „Exper<strong>im</strong>entalgruppe“ <strong>und</strong> „Kontrollgruppe“. In der<br />
Exper<strong>im</strong>entalgruppe sind die Kinder der interessierenden Einflussgröße<br />
ausgesetzt; die Kinder in der Kontrollgruppe werden<br />
identisch behandelt, außer dass sie der entscheidenden Einflussgröße<br />
nicht ausgesetzt werden oder einer anderen, die auf die<br />
Zielvariable aller Wahrscheinlichkeit nach kaum eine Wirkung<br />
ausübt.<br />
Exper<strong>im</strong>entelle Kontrolle – Die spezifischen Bedingungen, denen Forscher<br />
Kinder <strong>im</strong> Verlauf des Exper<strong>im</strong>ents aussetzen <strong>und</strong> dabei gleichzeitig störende<br />
Einflussvariablen kontrollieren.<br />
Exper<strong>im</strong>entalgruppe – Die Gruppe von Teilnehmern an einem Exper<strong>im</strong>ent, die<br />
den interessierenden Bedingungen ausgesetzt werden.<br />
Kontrollgruppe – Die Gruppe von Teilnehmern an einem Exper<strong>im</strong>ent, die den<br />
interessierenden Bedingungen nicht ausgesetzt werden, die aber in jeder anderen<br />
Hinsicht gleich behandelt werden wie die Exper<strong>im</strong>entalgruppe.<br />
Die Einflussgröße, der Kinder in der Exper<strong>im</strong>entalgruppe ausgesetzt<br />
sind, nicht aber Kinder in der Kontrollgruppe, wird als<br />
unabhängige Variable bezeichnet. Das Verhalten, auf das sich<br />
die unabhängige Variable hypothesengemäß auswirken soll, wird<br />
als abhängige Variable bezeichnet. Wenn ein Forscher also die<br />
Hypothese aufstellt, dass Kinder ihre Mitschüler weniger schikanieren,<br />
wenn sie einen Film gesehen haben, der sich gegen<br />
das sogenannte Bullying richtet, könnte er diese Hypothese testen,<br />
indem er von Kindern einer Schule per Zufall eine Gruppe<br />
auswählt, die den Anti-Bullying-Film gezeigt bekommt (Exper<strong>im</strong>entalgruppe),<br />
<strong>und</strong> eine zweite Gruppe, die einen anderen Film<br />
vorgeführt bekommt (Kontrollgruppe). Die Art des Films wäre<br />
dann die unabhängige Variable, <strong>und</strong> das Ausmaß an Bullying,<br />
also an schikanierenden <strong>und</strong> drangsalierenden Taten, die die<br />
Kinder anschließend begehen, wäre die abhängige Variable. Falls<br />
die unabhängige Variable tatsächlich die vermutete Wirkung hat,<br />
sollten die Kinder, die den Anti-Bullying-Film gesehen haben,<br />
weniger tyrannisierendes Verhalten zeigen als die Kinder, die den<br />
anderen Film gesehen haben.<br />
Unabhängige Variable – Die manipulierte Bedingung, der Kinder der Exper<strong>im</strong>entalgruppe<br />
ausgesetzt sind, aber Kinder der Kontrollgruppe nicht.<br />
Abhängige Variable – Eine Messgröße für Verhalten, das in unterschiedlichen<br />
Versuchsgruppen gezeigt wird, wie das Verhalten von der unabhängigen Variable<br />
beeinflusst wird.<br />
Wie die Forscher auf der Gr<strong>und</strong>lage exper<strong>im</strong>enteller Designs<br />
Schlussfolgerungen über Ursache <strong>und</strong> Wirkung ziehen können,<br />
zeigt eine Untersuchung zur Überprüfung der Hypothese, dass<br />
ein eingeschalteter Fernseher <strong>im</strong> Hintergr<strong>und</strong> das Spielverhalten<br />
von Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern beeinträchtigt (Schmidt et al.<br />
2008). Die unabhängige Variable war, ob in dem Raum, in dem<br />
die Kinder spielten, der Fernseher lief oder nicht; die abhängigen<br />
Variablen waren eine Reihe von verschiedenen Maßen für die<br />
Spielqualität <strong>und</strong> für die Aufmerksamkeit, die die Kinder dem<br />
Fernsehprogramm zuwandten. Das Fernsehprogramm war die<br />
Quizsendung Jeopardy! („Lebensgefahr“), die in Deutschland<br />
unter dem Titel Riskant! lief <strong>und</strong> für Ein- bis Zweijährige nicht<br />
besonders interessant war. Aber sie schauten durchschnittlich<br />
einmal pro Minute für jeweils wenige Sek<strong>und</strong>en hin. Das genügte,<br />
um das Spiel zu unterbrechen, die Länge der Spielepisoden<br />
zu verkürzen <strong>und</strong> die Konzentration auf das Spiel zu verringern.<br />
Nach diesen Bef<strong>und</strong>en gibt es bei jungen Kindern einen kausalen<br />
negativen Zusammenhang zwischen laufenden Fernsehsendungen<br />
<strong>und</strong> Spielqualität.<br />
Exper<strong>im</strong>entaldesigns sind die Methode der Wahl, wenn es<br />
darum geht, Kausalbeziehungen zwischen Ursache <strong>und</strong> Wirkung<br />
nachzuweisen – ein zentrales Ziel wissenschaftlicher Forschung.<br />
Jedoch können sie, wie erwähnt, nicht bei allen interessierenden<br />
Themen eingesetzt werden. Von großem Interesse ist zum Beispiel,<br />
aus welchen Gründen Jungen tendenziell aggressiver sind<br />
als Mädchen; aber man kann die Kinder nach dem Geschlecht<br />
nicht in randomisierte Gruppen einteilen. Auch führt man viele<br />
exper<strong>im</strong>entelle Untersuchungen in Laborsituationen durch, die<br />
zwar die exper<strong>im</strong>entelle Kontrolle verbessern, aber Zweifel an der<br />
externen Validität der Ergebnisse aufkommen lassen. Die Vor<strong>und</strong><br />
Nachteile von Korrelations- <strong>und</strong> Exper<strong>im</strong>entaldesigns sind<br />
in . Tab. 1.4 zusammengefasst.<br />
Designs für die Untersuchung von Entwicklung<br />
Große Teile der Forschungen zur <strong>Kindes</strong>entwicklung konzentrieren<br />
sich darauf, wie sich Kinder mit zunehmendem Alter <strong>und</strong><br />
wachsender Erfahrung verändern oder sich selbst treu bleiben.<br />
Um die Entwicklung <strong>im</strong> Zeitverlauf zu untersuchen, werden drei<br />
Forschungsdesigns verwendet: Querschnitt- <strong>und</strong> Längsschnittdesigns<br />
sowie mikrogenetische Designs.
28<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
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..<br />
Tab. 1.4 Vor- <strong>und</strong> Nachteile von Korrelations- <strong>und</strong> Exper<strong>im</strong>entaldesigns<br />
Designtyp Eigenschaften Vorteile Nachteile<br />
Korrelationsdesign<br />
Exper<strong>im</strong>entaldesign<br />
Vergleich bestehender Gruppen<br />
von Kindern oder Untersuchung der<br />
Beziehungen zwischen den Ausprägungen<br />
eines <strong>Kindes</strong> auf verschiedenen<br />
Variablen.<br />
Zufallszuweisung der Kinder zu<br />
Gruppen <strong>und</strong> exper<strong>im</strong>entelle<br />
Kontrolle der Bedingungen für die<br />
Gruppen.<br />
Querschnittdesigns<br />
Der gebräuchlichste <strong>und</strong> einfachste Weg zur Untersuchung von<br />
altersabhängigen Veränderungen <strong>und</strong> Verläufen sind Querschnittdesigns.<br />
Bei dieser Methode werden Kinder unterschiedlichen<br />
Alters hinsichtlich best<strong>im</strong>mter Verhaltensweisen,<br />
Fähigkeiten oder Eigenschaften miteinander verglichen, wobei<br />
alle Kinder ungefähr zum gleichen Zeitpunkt untersucht werden<br />
– etwa innerhalb eines Monats.<br />
Querschnittdesign – Eine Forschungsmethode, bei der in einer Zufallsstichprobe<br />
Kinder unterschiedlichen Alters zu einem Messzeitpunkt hinsichtlich<br />
best<strong>im</strong>mter Verhaltensweisen oder Eigenarten verglichen werden.<br />
In einer Querschnittuntersuchung untersuchten Evans et al.<br />
(2011) die Entwicklung des Lügenverhaltens bei chinesischen<br />
Kindern <strong>im</strong> Alter von drei, vier <strong>und</strong> fünf Jahren. Die Kinder<br />
spielten ein Ratespiel, bei dem sie einen Preis gewinnen konnten,<br />
wenn sie ein unter einem Pappbecher verstecktes Objekt richtig<br />
benannten. Aber bevor ein Kind angeben durfte, was sich unter<br />
dem Becher verbarg, verließ die Versuchsleiterin den Raum,<br />
nicht ohne das Kind zu ermahnen, während ihrer Abwesenheit<br />
nicht unter den Becher zu sehen. Der Becher war so mit Süßigkeiten<br />
präpariert, dass sie be<strong>im</strong> Hochheben des Bechers unweigerlich<br />
auf den Tisch quollen <strong>und</strong> das Kind sie unmöglich wieder<br />
unter dem Becher verstecken konnte. In allen Altersgruppen<br />
schauten die Kinder unter den Becher, leugneten dies jedoch <strong>im</strong><br />
Anschluss. Aber die Fünfjährigen logen häufiger, <strong>und</strong> sie logen<br />
raffinierter. Beispielsweise versuchten viele Fünfjährige, die Existenz<br />
der verräterischen Süßigkeiten auf dem Tisch zu erklären,<br />
<strong>und</strong> redeten sich damit heraus, dass sie versehentlich mit dem<br />
Ellenbogen an den Becher gestoßen seien. Andere Fünfjährige<br />
beseitigten die Süßigkeiten, indem sie sie einfach aufaßen. Die<br />
schlechtesten Lügner waren die Dreijährigen; sie erfanden wenig<br />
glaubhafte Ausreden, wie etwa die, dass ein älteres Kind in den<br />
Raum gekommen sei <strong>und</strong> den Becher umgestoßen habe oder<br />
dass der Becher von selbst umgefallen sei.<br />
Querschnittuntersuchungen sind geeignet, um Ähnlichkeiten<br />
<strong>und</strong> Unterschiede zwischen älteren <strong>und</strong> jüngeren Kindern<br />
gut sichtbar zu machen. Sie liefern jedoch keine Informationen<br />
über die Stabilität individueller Unterschiede <strong>im</strong> Zeitverlauf oder<br />
Bei vielen interessierenden Gruppen die<br />
einzige Vergleichsmöglichkeit (Jungen –<br />
Mädchen, reich – arm etc.).<br />
Bei vielen interessierenden Variablen<br />
die einzige Möglichkeit, ihre Beziehungen<br />
zu untersuchen (IQ <strong>und</strong> Leistung,<br />
Beliebtheit <strong>und</strong> Zufriedenheit, etc.).<br />
Erlaubt Kausalschlüsse, weil die Probleme<br />
der Verursachungsrichtung <strong>und</strong><br />
der dritten Variable ausgeschlossen<br />
werden können.<br />
Naturalistische Exper<strong>im</strong>ente können<br />
Ursache-Wirkungs-Verknüpfungen in<br />
natürlichen Situationen nachweisen.<br />
Problem der dritten Variable; Problem<br />
der Verursachungsrichtung.<br />
Das Bedürfnis nach exper<strong>im</strong>enteller<br />
Kontrolle führt oft zu künstlichen<br />
Exper<strong>im</strong>entalsituationen.<br />
Kann bei der Untersuchung vieler<br />
interessierender Unterschiede <strong>und</strong> Variablen<br />
nicht verwendet werden(Alter,<br />
Geschlecht, Temperament etc.).<br />
über Veränderungsmuster be<strong>im</strong> einzelnen Kind. Hier sind Längsschnittuntersuchungen<br />
von besonderer Bedeutung.<br />
Längsschnittdesigns<br />
Bei Längsschnittdesigns wird eine Gruppe von Kindern über<br />
einen längeren Zeitraum hinweg (meistens zwei oder mehr<br />
als ein Jahr lange) beobachtet, <strong>und</strong> ihre Entwicklungsverläufe<br />
werden beschrieben. Als Beispiel kann die Längsschnittuntersuchung<br />
von Brendgen et al. (2001) gelten, in der die Beliebtheit<br />
von Kindern bei ihren Klassenkameraden zwischen ihrem<br />
siebten <strong>und</strong> zwölften Lebensjahr jährlich untersucht wurde. Die<br />
Beliebtheit der meisten Kinder erwies sich in diesem Zeitraum<br />
als recht stabil: Eine große Zahl von Kindern war in den meisten<br />
Jahren beliebt; weniger Kinder waren in allen Jahren unbeliebt.<br />
Andererseits gab es bei Einzelnen individuelle Veränderungsmuster<br />
innerhalb dieser Jahre; dasselbe Kind konnte mit acht<br />
Jahren beliebt, mit zehn unbeliebt <strong>und</strong> mit zwölf durchschnittlich<br />
beliebt sein. Solche Erkenntnisse über die Zeitstabilität<br />
individueller Unterschiede <strong>und</strong> über individuelle Veränderungsmuster<br />
konnten nur mithilfe eines Längsschnittdesigns<br />
gewonnen werden.<br />
..<br />
Ausgeschlossen zu werden, macht niemandem Spaß. In Längsschnittstudien<br />
wurde untersucht, ob dieselben Kinder Jahr für Jahr unbeliebt bleiben<br />
oder ob sich die Beliebtheit <strong>im</strong> Lauf der Zeit ändert. (© Monkeybusiness/<br />
fotolia.com)
Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />
29 1<br />
Längsschnittdesign (Longitudinalstudie) – Eine Forschungsmethode, bei<br />
der man dieselben Kinder über einen längeren Zeitraum hinweg zwei- oder<br />
mehrmals untersucht.<br />
Wenn Längsschnittstudien Stabilität <strong>und</strong> Veränderung <strong>im</strong> Zeitverlauf<br />
so gut zum Vorschein bringen, warum sind dann Querschnittuntersuchungen<br />
üblicher? Die Gründe hierfür sind vorwiegend<br />
praktischer Natur. Die Untersuchung desselben <strong>Kindes</strong><br />
über einen längeren Zeitabschnitt hinweg bringt die schwierige<br />
<strong>und</strong> zeitaufwendige Aufgabe mit sich, das Kind für jede Nachuntersuchung<br />
wieder ausfindig zu machen. Es lässt sich nicht<br />
vermeiden, dass einige der Kinder wegziehen oder aus anderen<br />
Gründen die Schule verlassen. Ein solcher Teilnehmerverlust<br />
kann die externe Validität der Bef<strong>und</strong>e infrage stellen, weil sich<br />
die Kinder, die wegziehen oder nicht mehr weitermachen wollen,<br />
systematisch von den durchgehend teilnehmenden Kindern<br />
unterscheiden könnten. Die externe Validität von Längsschnittdesigns<br />
kann außerdem durch häufig wiederholte Testungen bedroht<br />
sein; beispielsweise könnte der wiederholte Umgang mit<br />
Intelligenztests die Kinder mit den Aufgaben der Tests vertraut<br />
machen, was ihre Testergebnisse mit der Zeit verbessert. Aus<br />
diesen Gründen werden Längsschnittdesigns vorrangig dann<br />
eingesetzt, wenn es pr<strong>im</strong>är um die Untersuchung von Stabilität<br />
oder Veränderung des Verhaltens einzelner Kinder <strong>im</strong> Zeitverlauf<br />
geht; diese Fragestellungen lassen sich nur längsschnittlich<br />
untersuchen. Richtet sich die zentrale entwicklungsbezogene<br />
Frage dagegen auf altersabhängige Änderungen bei typischen<br />
Leistungen, verwendet man üblicherweise Querschnittuntersuchungen.<br />
Mikrogenetische Designs<br />
Eine wichtige Beschränkung sowohl quer- als auch längsschnittlicher<br />
Untersuchungen besteht darin, dass beide nur eine grobe<br />
Skizze des Veränderungsprozesses liefern. Dagegen sind mikrogenetische<br />
Designs speziell dafür gedacht, Prozesse, die Veränderungen<br />
hervorrufen, <strong>im</strong> Detail zu erfassen (Miller <strong>und</strong> Coyle<br />
1999; <strong>Siegler</strong> 2006). Die Gr<strong>und</strong>idee dieses Ansatzes besteht darin,<br />
dass man Kinder, bei denen man das Eintreten einer wichtigen<br />
Entwicklungsveränderung in nächster Zeit erwartet, vermehrt<br />
mit genau denjenigen Erfahrungen konfrontiert, von denen man<br />
ann<strong>im</strong>mt, dass sie die Veränderungen hervorrufen – <strong>und</strong> das<br />
Verhalten der Kinder veränderungsbegleitend genau untersucht.<br />
Mikrogenetische Designs gleichen Längsschnittuntersuchungen<br />
darin, dass man dasselbe Kind <strong>im</strong> Lauf der Zeit wiederholt testet.<br />
Der Unterschied besteht darin, dass mikrogenetische Designs in<br />
der Regel in kürzerer Zeitspanne eine höhere Anzahl von Versuchsdurchläufen<br />
umfassen als Längsschnittstudien.<br />
Mikrogenetisches Design – Eine Forschungsmethode, bei der dieselben Kinder<br />
während eines kurzen Zeitabschnitts wiederholt untersucht werden.<br />
<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Jenkins (1989) verwendeten ein mikrogenetisches<br />
Design, um zu untersuchen, wie Kindergartenkinder die Weiterzählstrategie<br />
entdecken, mit der sie bei Additionsaufgaben vom<br />
größeren Summanden aus den kleineren hochzählen. Diese Strategie<br />
besteht darin, vom größeren Summanden so viele Schritte<br />
weiterzuzählen, wie es der kleinere Summand angibt. Wenn<br />
man ein Kind zum Beispiel fragt, wie viel 3 + 5 ist, wird es be<strong>im</strong><br />
Anwenden der Weiterzählstrategie sagen oder denken: „6, 7, 8“,<br />
um anschließend „8“ zu antworten. Bevor Kinder diese Strategie<br />
entdecken, lösen sie Additionsaufgaben für gewöhnlich, indem<br />
sie von der Zahl 1 an zählen. Das Weiterzählen vom größeren<br />
Summanden statt von der Zahl 1 aus verringert die Menge an<br />
notwendigen Zähloperationen <strong>und</strong> führt zu schnelleren <strong>und</strong> genaueren<br />
Leistungen.<br />
..<br />
Zu entdecken, wie man ein Problem löst, ist eine belohnende Erfahrung.<br />
Mikrogenetische Designs können Erkenntnisse sowohl über den Prozess<br />
dieser Entdeckung als auch über die damit einhergehenden emotionalen<br />
Reaktionen der Kinder liefern. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Weiterzählstrategie – Vom größeren Summanden so viele Male weiterzählen,<br />
wie der kleinere Summand angibt.<br />
Um den Entdeckungsprozess zu beobachten, wählten <strong>Siegler</strong> <strong>und</strong><br />
Jenkins Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige aus, die das Weiterzählen noch<br />
nicht verwendeten, aber schon wussten, wie man addiert, indem<br />
man mit der Zahl 1 beginnt. Diesen Kindern legten sie innerhalb<br />
von elf Wochen 30 Sitzungen jeweils sieben Additionsaufgaben<br />
vor – wesentlich mehr, als Kinder vor der Einschulung normalerweise<br />
begegnen – <strong>und</strong> nahmen das Verhalten jedes <strong>Kindes</strong><br />
bei jeder Aufgabe per Video auf. Mit diesem Vorgehen ließ sich<br />
genau identifizieren, wann jedes der Kinder die Weiterzählstrategie<br />
erstmals benutzte.
30<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
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Tab. 1.5 Vor- <strong>und</strong> Nachteile der verschiedenen entwicklungspsychologischen Untersuchungsdesigns<br />
Designtyp Eigenschaften Vorteile Nachteile<br />
Querschnittdesign<br />
Längsschnittdesign<br />
Mikrogenetisches<br />
Design<br />
Kinder unterschiedlichen Alters<br />
werden zu einem Zeitpunkt untersucht.<br />
Kinder werden über längere Zeit<br />
hinweg wiederholt untersucht.<br />
Kinder werden in einem relativ<br />
kurzen Zeitabschnitt, in dem eine<br />
Veränderung eintritt, intensiv<br />
beobachtet.<br />
Die Untersuchung der Aufgaben direkt vor der Entdeckung<br />
brachte Überraschendes zutage: Notwendigkeit ist nicht <strong>im</strong>mer<br />
die Mutter einer Erfindung. Nicht wenige Kinder entdeckten<br />
die Weiterzählstrategie bei der Bearbeitung einfacher Aufgaben,<br />
die sie zuvor durch Zählen von 1 an richtig gelöst hatten.<br />
Die mikrogenetische Methode offenbarte auch, dass mit der<br />
allerersten Verwendung der neuen Strategie oft eine eindrucksvolle<br />
Einsicht <strong>und</strong> Erregung einhergeht, wie beispielsweise bei<br />
Lauren:<br />
» Exper<strong>im</strong>entator: Wie viel ist 6 + 3?<br />
Lauren: (lange Pause) 9.<br />
E: OK, woher weißt du das?<br />
L: Ich glaub, ich sagte … Ich glaub, ich sagte … ooh, hm … 7<br />
war 1, 8 war 2, 9 war 3.<br />
E: Woher wusstest du, wie du das machen musst? Warum hast<br />
du nicht 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 gezählt?<br />
L: (aufgeregt) Weil man dann ja alle Zahlen zählen muss.<br />
(<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Jenkins 1989, S. 66)<br />
Trotz ihrer einsichtigen Erklärung des Weiterzählens <strong>und</strong> ihrer<br />
Aufregung über die Entdeckung wandten Lauren <strong>und</strong> die meisten<br />
anderen Kinder die Strategie erst allmählich vermehrt auf<br />
die Probleme an, die man ihnen nach der Entdeckung vorlegte.<br />
Auch andere mikrogenetische Untersuchungen zeigten, dass die<br />
Generalisierung neuer Strategien eher in kleinen Schritten vor<br />
sich geht (Kuhn <strong>und</strong> Franklin 2006).<br />
Das Beispiel illustriert, wie die mikrogenetische Methode<br />
wichtige Erkenntnisse über den Veränderungsprozess <strong>und</strong> über<br />
individuelle Unterschiede bei Veränderungsprozessen, die sich<br />
innerhalb relativ kurzer Zeiträume abspielen, liefern kann. Doch<br />
erbringt diese Methode <strong>im</strong> Unterschied zu Längsschnittuntersuchungen<br />
keine Informationen zur Stabilität <strong>und</strong> Veränderung<br />
über längere Zeiträume hinweg. Sie werden deshalb typischerweise<br />
verwendet, wenn das Gr<strong>und</strong>muster der altersbezogenen<br />
Veränderungen bereits bekannt ist <strong>und</strong> das nächste Ziel darin<br />
besteht herauszufinden, wie diese Veränderungen zustande kommen.<br />
In . Tab. 1.5 sind die jeweiligen Stärken <strong>und</strong> Schwächen der<br />
Erbringt nützliche Daten über Unterschiede<br />
zwischen Altersgruppen.<br />
Schnell <strong>und</strong> leicht durchzuführen.<br />
Zeigt das Ausmaß an Stabilität individueller<br />
Unterschiede über längere Zeiträume<br />
an.<br />
Macht das langfristige Veränderungsmuster<br />
einzelner Kinder sichtbar.<br />
Die intensive Beobachtung von Veränderungen<br />
während ihres Eintretens kann<br />
Veränderungsprozesse erkennen lassen.<br />
Zeigt kurzfristige individuelle Veränderungsmuster<br />
in großem Detail.<br />
drei Ansätze zur Untersuchung von alters- <strong>und</strong> erfahrungsabhängigen<br />
Veränderungen – Querschnitt-, Längsschnitt- <strong>und</strong> mikrogenetische<br />
Designs – zusammengefasst.<br />
Ethische Fragen bei der Erforschung<br />
der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
Jegliche Forschung an Menschen wirft ethische Probleme auf;<br />
dies trifft besonders auf die Untersuchung der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
zu. Den Forschern kommt die unabdingbare Verantwortung<br />
zu, mögliche Risiken, die ihre Untersuchung für die Kinder<br />
darstellen könnte, vorauszusehen, solche Risiken zu min<strong>im</strong>ieren<br />
<strong>und</strong> sicherzustellen, dass der Nutzen der Forschung das Schadensrisiko<br />
überwiegt.<br />
Die Society for Research on Child Development, eine Organisation,<br />
die sich mit der Forschung an Kindern befasst, hat<br />
ethische Richtlinien formuliert, an die sich Forscher in den<br />
USA halten müssen (SRCD Governing Council 2007). Einige<br />
der wichtigsten international anerkannten ethischen Prinzipien<br />
in diesem Kodex, der in Deutschland von Ethikkommissionen<br />
durchgesetzt wird, sind die folgenden:<br />
Stellen Sie sicher, dass die Forschung Kinder weder physisch<br />
noch psychisch verletzt.<br />
-<br />
Lassen<br />
-<br />
Wahren<br />
Sagt nichts über die Stabilität individueller<br />
Unterschiede <strong>im</strong> Zeitverlauf.<br />
Sagt nichts über Ähnlichkeiten <strong>und</strong><br />
Unterschiede in den Veränderungsmustern<br />
einzelner Kinder.<br />
Untersuchungsteilnehmer können<br />
verloren gehen.<br />
Die wiederholte Testung derselben<br />
Kinder kann die externe Validität<br />
beeinträchtigen.<br />
Liefert keine Informationen über typische<br />
langfristige Veränderungsmuster.<br />
Lässt keine langfristigen individuellen<br />
Veränderungsmuster erkennen.<br />
Sie sich die informierte Einwilligung in die Untersuchungsteilnahme<br />
geben, vorzugsweise schriftlich,<br />
<strong>und</strong> zwar von den Eltern oder anderen verantwortlichen<br />
Erwachsenen <strong>und</strong> auch von den Kindern, sofern sie alt<br />
genug sind, dass ihnen das Forschungsvorhaben erklärt<br />
werden kann. Der Versuchsleiter sollte die Kinder <strong>und</strong><br />
die maßgeblichen Erwachsenen über alle Aspekte des<br />
Vorhabens informieren, die die Teilnahmebereitschaft beeinflussen<br />
könnten, <strong>und</strong> sollte erklären, dass die Verweigerung<br />
der Teilnahme keine negativen Folgen nach sich<br />
zieht.<br />
Sie die Anonymität der Teilnehmer, <strong>und</strong> verwenden<br />
Sie Informationen nur zu den Zwecken, für die eine<br />
Erlaubnis gegeben wurde.
Zusammenfassung<br />
-<br />
Besprechen Sie mit den Eltern oder Erziehungsberechtigten<br />
alle durch die Forschung ermittelten Informationen, die für<br />
-<br />
das Wohl des <strong>Kindes</strong> wichtig sein könnten.<br />
Versuchen Sie, allen unvorhergesehen negativen Folgen,<br />
die <strong>im</strong> Forschungsverlauf auftreten, entgegenzuwirken.<br />
Falls solche negativen Folgen eintreten, überarbeiten Sie<br />
das Verfahren, um ähnliche Probleme zukünftig zu vermeiden.<br />
-<br />
Korrigieren Sie alle falschen Eindrücke, die das Kind <strong>im</strong><br />
Verlauf der Untersuchung gewinnen könnte. Erklären Sie den<br />
Teilnehmern nach Beendigung der Untersuchung die allgemeinen<br />
Bef<strong>und</strong>e auf einem Niveau, das sie verstehen können.<br />
In Anerkennung der Wichtigkeit solcher ethischer Fragen haben<br />
Universitäten <strong>und</strong> Regierungsbehörden institutionalisierte Ethikkommissionen<br />
eingerichtet, in denen unabhängige Wissenschaftler<br />
(<strong>und</strong> manchmal externe Spezialisten) die Forschungsvorhaben<br />
beurteilen, um sicherzustellen, dass damit keine ethischen<br />
Richtlinien verletzt werden. Diese Ethikkommissionen bewerten<br />
die vorgeschlagenen Forschungsprojekte <strong>und</strong> stellen sicher, dass<br />
es keine Verstöße gegen ethische Gr<strong>und</strong>prinzipien <strong>und</strong> geltendes<br />
Recht gibt. Doch trägt letztlich der einzelne Forscher, der die<br />
Forschung am besten kennt <strong>und</strong> mögliche Probleme am besten<br />
antizipieren kann, die endgültige Verantwortung dafür, dass die<br />
Untersuchung mit den ethischen Standards <strong>im</strong> Einklang steht.<br />
In Kürze | |<br />
Die wissenschaftliche Methode, bei der alle Hypothesen<br />
als potenziell falsch behandelt werden, ermöglichte dem<br />
heutigen Verständnis der <strong>Kindes</strong>entwicklung Fortschritte,<br />
die über die Erkenntnisse selbst der größten Denker der<br />
Vergangenheit weit hinausgehen. Dieser Fortschritt baut auf<br />
vier Arten von Neuerungen auf:<br />
1. Messungen, die für die zentrale Hypothese der Untersuchung<br />
unmittelbar relevant, reliabel <strong>und</strong> valide sind,<br />
2. Methoden der Datenerhebung, die nützliche Informationen<br />
über das Verhalten der Kinder hervorbringen,<br />
wie Interviews, Feldbeobachtungen <strong>und</strong> strukturierte<br />
Beobachtungen,<br />
3. Designs, mit denen die Zusammenhänge <strong>und</strong> Ursache-<br />
Wirkungs-Beziehungen von Variablen identifiziert werden<br />
können, vor allem korrelative <strong>und</strong> exper<strong>im</strong>entelle<br />
Designs,<br />
4. Designs, die die Analyse von Kontinuität <strong>und</strong> Veränderung<br />
erlauben, wie sie mit Alter <strong>und</strong> Erfahrung einhergehen,<br />
insbesondere Quer- <strong>und</strong> Längsschnittdesigns<br />
sowie mikrogenetische Ansätze.<br />
Die Durchführung wissenschaftlicher Exper<strong>im</strong>ente erfordert<br />
weiterhin die Einhaltung hoher ethischer Standards. Dazu<br />
gehört, die teilnehmenden Kinder in keinerlei Weise zu<br />
schädigen, vor ihrer Teilnahme die informierte Einwilligung<br />
einzuholen, die Anonymität aller Teilnehmer zu gewährleisten<br />
<strong>und</strong> <strong>im</strong> Anschluss an die Untersuchung die Ergebnisse<br />
den Eltern <strong>und</strong>, falls möglich, auch den Kindern zu erklären,<br />
<strong>und</strong> zwar auf einem verständlichen Niveau.<br />
31 1<br />
Zusammenfassung<br />
-<br />
Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung?<br />
Es ist aus mehreren Gründen nützlich, etwas über die<br />
<strong>Kindes</strong>entwicklung zu erfahren: Es kann uns helfen, bessere<br />
Eltern zu werden, es formt unsere Meinung über soziale<br />
Fragen, die Kinder berühren, <strong>und</strong> es verbessert unser Verständnis<br />
von der Natur des Menschen.<br />
-<br />
Historische Wurzeln der Beschäftigung mit <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
Große Denker wie Platon, Aristoteles, Locke <strong>und</strong> Rousseau<br />
formulierten gr<strong>und</strong>legende Fragen über die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
<strong>und</strong> stellten dazu interessante Hypothesen auf,<br />
besaßen jedoch noch nicht die modernen wissenschaftlichen<br />
Methoden zur Beantwortung dieser Fragen. Mit<br />
den jüngeren wissenschaftlichen Ansätzen wie denen von<br />
Freud <strong>und</strong> Watson begann die Bewegung hin zu modernen<br />
forschungsbasierten Theorien der <strong>Kindes</strong>entwicklung.<br />
-<br />
Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
Das Gebiet der <strong>Kindes</strong>entwicklung stellt den Versuch dar,<br />
Antworten auf mehrere Gr<strong>und</strong>fragen zu gewinnen:<br />
1. Wie wirken sich Anlage <strong>und</strong> Umwelt gemeinsam auf die<br />
Entwicklung aus?<br />
2. Wie formen Kinder ihre eigene Entwicklung?<br />
3. In welcher Hinsicht verläuft Entwicklung kontinuierlich,<br />
in welcher diskontinuierlich?<br />
4. Wie kommt es zu Veränderungen?<br />
5. Wie wirkt sich der soziokulturelle Kontext auf die Entwicklung<br />
aus?<br />
6. Warum werden Kinder so verschieden?<br />
-<br />
7. Wie kann Forschung das <strong>Kindes</strong>wohl fördern?<br />
Jeder Entwicklungsaspekt, von der ganz speziellen Verhaltensweise<br />
bis zum allgemeinen Wesenszug, spiegelt sowohl<br />
die biologische Ausstattung (die Anlagen) als auch die<br />
bisherigen Erfahrungen (die Umwelteinflüsse) eines Menschen<br />
wider.<br />
-<br />
Selbst Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder tragen aktiv zu ihrer<br />
eigenen Entwicklung bei: durch ihre Aufmerksamkeitsmuster,<br />
durch ihren Sprachgebrauch <strong>und</strong> durch die Wahl ihrer<br />
-<br />
Aktivitäten.<br />
Die meisten Entwicklungen können sowohl kontinuierlich<br />
als auch diskontinuierlich (in Stufen oder Schritten) erscheinen,<br />
je nachdem, wie oft <strong>und</strong> wie genau man hinsieht.<br />
-<br />
Die Mechanismen, die Veränderungen <strong>im</strong> Entwicklungsverlauf<br />
hervorbringen, umfassen ein komplexes Zusammenspiel<br />
von Genen, Gehirnstrukturen, Neurotransmittern<br />
-<br />
<strong>und</strong> Erfahrungen.<br />
Zu den Kontexten, die die Entwicklung formen, gehören<br />
diejenigen Menschen, mit denen Kinder direkt zu tun<br />
haben (z. B. Familie <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e), die Institutionen, die sie<br />
aufsuchen (z. B. Schule oder religiöse Einrichtungen), sowie<br />
gesellschaftliche Einstellungen (z. B. gegenüber ethnischen<br />
-<br />
Gruppen <strong>und</strong> sozialen Schichten).<br />
In interindividuellen Unterschieden, selbst jenen zwischen<br />
Geschwistern, spiegeln sich Differenzen in den Genen der<br />
Kinder, in der Behandlung durch andere Menschen, in der
32<br />
Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Interpretation eigener Erfahrungen sowie in der eigenen<br />
-<br />
Auswahl von Kontexten wider.<br />
Prinzipien, Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Methoden aus der Entwicklungsforschung<br />
werden fortlaufend angewandt, um die Lebensqualität<br />
von Kindern zu erhöhen.<br />
-<br />
Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />
Mit Einführung der wissenschaftlichen Methode wurden<br />
große Fortschritte be<strong>im</strong> Verstehen von Kindern möglich.<br />
Dabei wird eine Forschungsfrage ausgewählt, eine relevante<br />
Hypothese formuliert, eine Methode entwickelt, um die<br />
Hypothese zu prüfen, <strong>und</strong> anhand von Daten entschieden,<br />
-<br />
ob die Hypothese zutrifft.<br />
Damit Messwerte brauchbar sind, müssen sie für die Hypothese<br />
relevant, reliabel <strong>und</strong> valide sein. Reliabilität (Zuverlässigkeit)<br />
bedeutet, dass unabhängige Beobachtungen eines<br />
best<strong>im</strong>mten Verhaltens übereinst<strong>im</strong>men. Validität (Gültigkeit)<br />
bedeutet, dass ein Messwert das misst, was er messen<br />
-<br />
soll.<br />
Wichtige Methoden der Datenerhebung bei Kindern sind<br />
Interviews, Feldbeobachtungen <strong>und</strong> strukturierte Beobachtungen.<br />
Interviews lassen besonders gut das subjektive<br />
Erleben von Kindern erkennen. Die Feldbeobachtung ist<br />
besonders hilfreich, wenn das pr<strong>im</strong>äre Ziel darin besteht zu<br />
beschreiben, wie sich Kinder in ihrer alltäglichen Umgebung<br />
verhalten. Die strukturierte Beobachtung ist dann am<br />
nützlichsten, wenn hauptsächlich beschrieben werden soll,<br />
-<br />
wie verschiedene Kinder auf dieselbe Situation reagieren.<br />
Korrelation <strong>im</strong>pliziert nicht Kausalität. Korrelationen<br />
geben lediglich das Ausmaß an, in dem zwei Variablen<br />
zusammenhängen, während ein kausaler Zusammenhang<br />
bedeutet, dass die Veränderung der Ausprägung der einen<br />
Variable eine Änderung der Ausprägung der anderen Variable<br />
nach sich zieht.<br />
-<br />
Korrelationsdesigns sind besonders nützlich, wenn es darum<br />
geht, die Beziehungen zwischen Variablen zu beschreiben,<br />
oder wenn man die interessierenden Variablen aus<br />
technischen oder praktischen Erwägungen nicht manipulieren<br />
kann.<br />
Der besondere Wert exper<strong>im</strong>enteller Designs liegt darin,<br />
-<br />
die Ursachen für das Verhalten von Kindern aufzudecken.<br />
Entwicklungsdaten erhält man durch Querschnittdesigns<br />
(die Untersuchung von Kindern verschiedenen Alters),<br />
Längsschnittdesigns (die Untersuchung derselben Kinder<br />
in verschiedenem Alter) oder mikrogenetische Designs (die<br />
Darbietung intensiver Erfahrungen in kurzem Zeitraum<br />
-<br />
<strong>und</strong> die detaillierte Analyse des Veränderungsprozesses).<br />
Es ist für Forschende unabdingbar, sich an hohen ethischen<br />
Standards zu orientieren. Zu den wichtigsten ethischen<br />
Standards gehört, dass man versucht sicherzustellen,<br />
dass das Forschungsvorhaben die Kinder weder physisch<br />
noch psychisch schädigt, dass man von den Eltern <strong>und</strong><br />
nach Möglichkeit auch von den Kindern eine informierte<br />
Einwilligung erhält, dass man die Anonymität der Teilnehmer<br />
wahrt, dass man die Eltern über alles informiert, was<br />
für das Wohl des <strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> dessen Aufrechterhaltung<br />
nötig ist, dass man jeglichen negativen Auswirkungen der<br />
Untersuchung entgegenwirkt <strong>und</strong> dass man jeden unzutreffenden<br />
Eindruck, den Kinder <strong>im</strong> Verlauf der Untersuchung<br />
erhalten, richtigstellt.<br />
Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />
1. Haben Kinder unterschiedliche Veranlagungen, oder sind<br />
die Unterschiede zwischen Kindern ausschließlich ihren<br />
Erfahrungen geschuldet? Welche eigenen Beobachtungen,<br />
Forschungsergebnisse <strong>und</strong> Urteile führen Sie zu Ihrer<br />
Schlussfolgerung?<br />
2. Warum konnten Ihrer Meinung nach die Kinder, die<br />
weniger als sechs Monate in rumänischen Waisenhäusern<br />
verbracht hatten, ihre körperlichen, geistigen <strong>und</strong> sozialen<br />
Entwicklungsrückstände aufholen, während die Kinder,<br />
die längere Zeit dort zubringen mussten, bislang nicht<br />
alles aufholen konnten? Was meinen Sie: Werden sie alle<br />
Entwicklungsrückstände in Zukunft noch aufholen können?<br />
3. Inwiefern ist es ein glücklicher Umstand, inwiefern ein<br />
ungünstiger, dass Kinder ihre eigene Entwicklung in<br />
beträchtlichem Umfang selbst formen?<br />
4. Hatten die Informationen über die Schlafarrangements<br />
in den verschiedenen Kulturen einen Einfluss darauf, wie<br />
Sie es bei Ihren eigenen Kindern einmal halten wollen?<br />
Erläutern Sie, warum Sie das beeinflusst – oder auch nicht<br />
beeinflusst – hat.<br />
5. Können Sie sich angesichts dessen, was Sie in diesem Kapitel<br />
über die Erforschung der <strong>Kindes</strong>entwicklung gelernt<br />
haben, weitere praktische Anwendungen der Forschung<br />
vorstellen, die Ihnen sowohl durchführbar als auch wichtig<br />
erscheinen?<br />
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Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />
1<br />
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37 2<br />
Pränatale Entwicklung, Geburt<br />
<strong>und</strong> das Neugeborene<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Pränatale Entwicklung – 38<br />
Die Befruchtung – 40<br />
Entwicklungsprozesse – 41<br />
Früheste Entwicklung – 44<br />
Eine illustrierte Zusammenfassung der pränatalen Entwicklung – 45<br />
Das Verhalten des Fetus – 46<br />
Das Erleben des Fetus – 47<br />
Das Lernen des Fetus – 48<br />
Risiken der pränatalen Entwicklung – 50<br />
Die Geburtserfahrung – 58<br />
Unterschiedliche Geburtspraktiken – 59<br />
Das Neugeborene – 60<br />
Aktivierungszustände – 60<br />
Ungünstige Geburtsausgänge – 65<br />
Zusammenfassung – 70<br />
Literatur – 72<br />
S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />
DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
38<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
© Sabina Pauen<br />
Man stelle sich folgende Situation vor: Eine Entwicklungspsychologin<br />
nähert sich ihrer Versuchsperson in der Absicht, deren<br />
Wahrnehmungsfähigkeit <strong>und</strong> Fähigkeit, aus Erfahrungen<br />
zu lernen, zu untersuchen. Zuerst spielt sie der Versuchsperson<br />
aus einem Lautsprecher nahe am Ohr ein lautes Schallereignis<br />
vor (einen Laut oder einen Ton) <strong>und</strong> stellt mit Befriedigung fest,<br />
dass die Versuchsperson darauf reagiert <strong>und</strong> sich heftig bewegt;<br />
sie schließt daraus, dass die Versuchsperson das Geräusch hören<br />
kann. Daraufhin spielt sie denselben Ton <strong>im</strong>mer <strong>und</strong> <strong>im</strong>mer<br />
wieder vor. So wie es jede andere Person <strong>im</strong> Labor kaum mehr<br />
erträgt, denselben Ton andauernd wieder zu hören, so scheint<br />
es auch der Versuchsperson zu gehen, die auf die Wiederholungen<br />
<strong>im</strong>mer weniger anspricht <strong>und</strong> schließlich gar keine Reaktion<br />
mehr zeigt. Hat die Versuchsperson gelernt, den Ton zu erkennen,<br />
oder hat sie sich einfach schlafen gelegt? Um das herauszufinden,<br />
präsentiert die Forscherin nun einen anderen Ton,<br />
<strong>und</strong> die Versuchsperson beginnt erneut, sich heftig zu bewegen.<br />
Offenbar kann die Versuchsperson neben dem ersten Ton auch<br />
erkennen, dass der neue Ton anders beschaffen ist, was als Beleg<br />
dafür gelten kann, dass hier ein einfacher Lernprozess abgelaufen<br />
ist. Nun will die Forscherin herausfinden, ob die Versuchsperson<br />
auch etwas Komplexeres lernen kann <strong>und</strong> ob das Lernen auch<br />
in einer natürlicheren Umgebung funktioniert; sie schickt die<br />
Versuchsperson nach Hause <strong>und</strong> bittet deren Mutter, über einen<br />
Zeitraum von sechs Wochen hinweg mehrere Minuten täglich<br />
aus einem bekannten Kinderbuch vorzulesen. Denn sie will herausfinden,<br />
ob die Versuchsperson die vorgelesenen Passagen<br />
später wiedererkennt. Doch bevor die Forscherin wieder mit<br />
ihrer Versuchsperson zusammentrifft, passiert etwas ziemlich<br />
Einschneidendes: Die Versuchsperson wird geboren!<br />
Das beschriebene Szenario ist beileibe nicht aus der Luft gegriffen.<br />
Tatsächlich handelt es sich um die exakte Beschreibung<br />
einer faszinierenden <strong>und</strong> informativen Untersuchung, die unser<br />
Wissen über die pränatale Entwicklung revolutionierte (DeCasper<br />
<strong>und</strong> Spence 1986) <strong>und</strong> in diesem Kapitel später nochmals aufgegriffen<br />
wird. Dabei wird sich zeigen, dass Forscher die Wahrnehmungs-<br />
<strong>und</strong> Lernfähigkeiten des menschlichen Fetus auf vielerlei<br />
Weise untersucht haben. Sie haben herausgef<strong>und</strong>en, dass Feten<br />
schon <strong>im</strong> Mutterleib eine Vielzahl von Reizen, die aus der Außenwelt<br />
kommen, wahrnehmen <strong>und</strong> aus Erfahrung lernen können,<br />
wobei diese Erfahrungen bis nach der Geburt wirksam bleiben.<br />
In diesem Kapitel untersuchen wir den ungewöhnlichen Verlauf<br />
der pränatalen Entwicklung – einer Zeit erstaunlich schnellen<br />
<strong>und</strong> dramatischen Wandels. Zusätzlich zu den normalen Vorgängen<br />
der pränatalen Entwicklung geht es auch um Störeinflüsse <strong>und</strong><br />
Umweltgefahren, die den sich entwickelnden Fetus schädigen können.<br />
Danach behandeln wir in Kürze den Prozess des Geborenwerdens,<br />
<strong>und</strong> zwar vorrangig aus der Sicht des <strong>Kindes</strong> selbst: Was<br />
erfährt es während dieses dramatischen Wendepunktes? Schließlich<br />
untersuchen wir einige Verhaltens aspekte des Neugeborenen<br />
<strong>und</strong> diskutieren Probleme, die mit Frühgeburten einhergehen.<br />
Bei unserer Erörterung der frühesten Entwicklungsphasen<br />
eines Menschen spielen fast alle Entwicklungsthemen, die in<br />
▶ Kap. 1 beschrieben wurden, eine wichtige Rolle. An erster Stelle<br />
ist die Frage nach Anlage <strong>und</strong> Umwelt zu nennen; wir werden besonders<br />
darauf abheben, wie jeder Aspekt der vorgeburtlichen Entwicklung<br />
sich aus einer Kombination von biologischen Faktoren<br />
<strong>und</strong> Umweltfaktoren ergibt. Auch das Thema aktives Kind spielt<br />
wieder eine Rolle, insofern die Aktivitäten des Fetus auf vielerlei<br />
Weise entscheidend zu seiner Entwicklung beitragen. Die normale<br />
pränatale Entwicklung hängt, wie sich noch zeigen wird, von best<strong>im</strong>mten<br />
Verhalten des Fetus ab. Ein weiteres Thema, das noch<br />
beleuchtet wird, betrifft den soziokulturellen Kontext der pränatalen<br />
Entwicklung <strong>und</strong> der Geburt; hier lassen sich große kulturelle<br />
Unterschiede <strong>im</strong> Hinblick darauf feststellen, wie die Menschen in<br />
den verschiedenen Kulturen <strong>und</strong> Gesellschaften über den Beginn<br />
des Lebens denken <strong>und</strong> wie der Geburtsvorgang jeweils gehandhabt<br />
wird. Auch individuelle Unterschiede kommen an verschiedenen<br />
Stellen <strong>im</strong>mer wieder ins Spiel, etwa bei den unterschiedlichen<br />
Überlebensraten beider Geschlechter vom Zeitpunkt der Befruchtung<br />
an. Das Thema Kontinuität/Diskontinuität ist auch in dieser<br />
ersten Lebensphase wichtig: Trotz des dramatischen Wechsels zwischen<br />
dem Leben vor <strong>und</strong> nach der Geburt zeigt das Verhalten<br />
von Neugeborenen deutliche Beziehungen zu ihrem Verhalten <strong>im</strong><br />
Mutterleib <strong>und</strong> zu ihrer Vorgeschichte. Und schließlich bildet die<br />
Frage nach dem <strong>Kindes</strong>wohl bei der Forschung den Hintergr<strong>und</strong>,<br />
vor dem wir den Einfluss von Armut auf die pränatale Entwicklung<br />
<strong>und</strong> den Ges<strong>und</strong>heitsstatus bei der Geburt diskutieren sowie<br />
die Wirkung von Interventionsprogrammen zur Unterstützung<br />
der Entwicklung frühgeborener Kinder beschreiben.<br />
Pränatale Entwicklung<br />
Der Prozess der pränatalen („vorgeburtlichen“) Entwicklung galt<br />
schon <strong>im</strong>mer als gehe<strong>im</strong>nisvoll <strong>und</strong> faszinierend, <strong>und</strong> Mythen<br />
über den Ursprung des menschlichen Lebens <strong>und</strong> die Entwicklung<br />
vor der Geburt bildeten in allen Gesellschaften einen wichtigen<br />
Teil der Überlieferungen <strong>und</strong> Traditionen. ▶ Exkurs 2.1 beschreibt<br />
ein System kultureller Überzeugungen zum Beginn des Lebens,<br />
das stark von demjenigen westlicher Gesellschaften abweicht.<br />
Auch be<strong>im</strong> Blick zurück in die Geschichte kann man große<br />
Unterschiede darin erkennen, wie sich die Menschen die präna-
Pränatale Entwicklung<br />
39 2<br />
Exkurs 2.1: Genauer betrachtet: Die Anfänge bei den Beng | |<br />
Kaum ein Thema hat in den vergangenen<br />
Jahren in Deutschland <strong>und</strong> vielen anderen<br />
Ländern intensivere Debatten <strong>und</strong> Kontroversen<br />
ausgelöst als die Frage, an welcher<br />
Stelle der Entwicklung Leben anfängt – zum<br />
Zeitpunkt der Befruchtung oder irgendwann<br />
zwischen Befruchtung <strong>und</strong> Geburt. Ironischerweise<br />
erkennen nur wenige, die sich an dieser<br />
Auseinandersetzung beteiligen, wie komplex<br />
die Fragestellung ist <strong>und</strong> wie unterschiedlich<br />
die verschiedenen Völker <strong>und</strong> Gesellschaften<br />
der Welt diese Frage sehen.<br />
Ein Beispiel für diese Vielfalt bieten die Beng,<br />
die an der westafrikanischen Elfenbeinküste<br />
behe<strong>im</strong>atet sind. Sie glauben, dass jedes Kind<br />
die Reinkarnation eines Vorfahren ist (Gottlieb<br />
2004). Den Beng zufolge geht der Geist des<br />
Ahnen, sein wru, in den ersten Wochen nach<br />
der Geburt des <strong>Kindes</strong> nicht völlig in das<br />
irdische Leben über, sondern behält eine Doppelexistenz<br />
bei, die zwischen der Alltagswelt<br />
<strong>und</strong> wrugbe, dem „Ahnendorf“, hin- <strong>und</strong> herpendelt.<br />
(Der Begriff wrugbe kann ungefähr als<br />
„Leben danach“ übersetzt werden, aber „Leben<br />
davor“ wäre wohl ebenso angemessen.) Erst<br />
wenn der Nabel völlig abgeheilt ist, wird das<br />
Neugeborene als Person betrachtet – als ein<br />
aus dem wrugbe hervorgegangenes Wesen.<br />
Ein Neugeborenes, das vorher stirbt, erhält<br />
kein Begräbnis, weil sein Sterben schlicht als<br />
körperliche Form der Rückkehr in das wrugbe<br />
aufgefasst wird, das das Kind seelisch ohnehin<br />
noch bewohnte.<br />
Diese Überzeugungen bilden in vielerlei<br />
Hinsicht die Gr<strong>und</strong>lage der Säuglingspflege.<br />
So wird viele Male am Tag eine Kräutermischung<br />
auf den Nabel aufgetragen, um das<br />
Austrocknen <strong>und</strong> Abfallen der Nabelschnur<br />
zu beschleunigen. Bis dahin besteht zudem<br />
permanent die Gefahr, dass der Säugling<br />
<strong>und</strong> auch noch das kleine Kind He<strong>im</strong>weh<br />
nach seinem Leben <strong>im</strong> wrugbe bekommt<br />
<strong>und</strong> sich entschließt, seine irdische Existenz<br />
zu verlassen. Um dem vorzubeugen, tun die<br />
Beng-Eltern alles, damit ihr Baby glücklich<br />
ist <strong>und</strong> sich wohlfühlt, um es <strong>im</strong> diesseitigen<br />
Leben zu halten. Zu den vielen empfohlenen<br />
Verfahrensweisen gehört, das Gesicht <strong>und</strong><br />
den Körper des <strong>Kindes</strong> kunstvoll zu bemalen<br />
<strong>und</strong> zu schmücken, damit es andere anspricht<br />
<strong>und</strong> deren Aufmerksamkeit auf sich zieht.<br />
Manchmal werden spirituelle Heiler zurate gezogen,<br />
wenn sich ein Baby nicht wohlzufühlen<br />
scheint; <strong>und</strong> bei länger anhaltendem Weinen<br />
ergibt sich als häufige Diagnose, dass das Baby<br />
einen anderen Namen wünscht – einen aus<br />
seinem früheren Leben <strong>im</strong> wrugbe.<br />
Wann beginnt nun für die Beng das individuelle<br />
Leben? In gewisser Hinsicht fängt<br />
das Leben eines Beng schon vor der Geburt<br />
an, weil jedes menschliche Wesen ja eine<br />
Reinkarnation eines Vorfahren ist. In anderer<br />
Hinsicht beginnt das Leben jedoch nach der<br />
Geburt mit der Anerkennung des Individuums<br />
als Person.<br />
..<br />
Diese Mutter hat viel Zeit darauf verwendet,<br />
das Gesicht des Babys mit kunstvollen Mustern<br />
zu schmücken. Sie tut das jeden Tag in dem<br />
Bemühen, ihr Kind attraktiv zu machen, damit<br />
andere Menschen mit dazu beitragen, es in dieser<br />
Welt glücklich zu machen. (© Alma Gottlieb;<br />
mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
tale Entwicklung vorgestellt haben. Im vierten vorchristlichen<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert stellte Aristoteles die f<strong>und</strong>amentale Frage über die<br />
vorgeburtliche Entwicklung, die dem westlichen Denken in den<br />
darauf folgenden 1500 Jahren zugr<strong>und</strong>e liegen sollte: Beginnt<br />
das pränatale Leben mit dem bereits vorgeformten neuen Individuum,<br />
das sich von Anfang an aus einer vollständigen Ausstattung<br />
winziger Einzelteile zusammensetzt, oder entwickeln sich<br />
die vielen Teile des menschlichen Körpers nacheinander? Aristoteles<br />
lehnte die Idee der Präformation (des Vorgeformtseins)<br />
ab zugunsten der Epigenese – der Herausbildung neuer Strukturen<br />
<strong>und</strong> Funktionen <strong>im</strong> Verlauf der Entwicklung (wir werden<br />
die moderne epigenetische Sichtweise in ▶ Kap. 3 betrachten).<br />
Auf der Suche nach Belegen für seine Annahme unternahm<br />
Aristoteles einen für damalige Zeiten recht ungewöhnlichen<br />
Schritt <strong>und</strong> öffnete befruchtete Hühnereier, um die Wahrheit<br />
mit eigenen Augen zu sehen. Tatsächlich konnte er die Organe<br />
der heranwachsenden Küken in verschiedenen Entwicklungsstadien<br />
beobachten. Und dennoch hielt die Idee der präformierten<br />
Entwicklung noch lange nach Aristoteles an <strong>und</strong> wuchs sich zu<br />
einem Disput darüber aus, ob der präformierte Miniaturmensch<br />
<strong>im</strong> Ei der Mutter oder <strong>im</strong> Spermium des Vaters untergebracht<br />
sei (. Abb. 2.1).<br />
Epigenese – Die Ausbildung von Strukturen <strong>und</strong> Funktionen <strong>im</strong> Verlauf der<br />
Entwicklung.<br />
..<br />
Abb. 2.1 Präformation. Eine Zeichnung aus dem<br />
17. Jahrh<strong>und</strong>ert, die ein präformiertes Wesen innerhalb<br />
eines Spermiums zeigt. Diese Zeichnung basiert<br />
auf der Behauptung überzeugter Präformisten, die<br />
be<strong>im</strong> Blick durch das neu erf<strong>und</strong>ene Mikroskop auf<br />
Samenflüssigkeit eine winzige zusammengerollte<br />
Gestalt <strong>im</strong> Kopf des Spermiums zu sehen meinten. Sie<br />
glaubten, dass dieser Miniaturmensch wüchse, nachdem<br />
das Spermium in ein Ei eingedrungen ist. Wie<br />
diese Zeichnung illustriert, müssen wir stets auf der<br />
Hut davor sein, unser Denken so von lieb gewordenen<br />
Vorurteilen best<strong>im</strong>men zu lassen, dass wir sehen,<br />
was wir sehen wollen, <strong>und</strong> nicht, was wirklich vorliegt.<br />
(Aus Moore <strong>und</strong> Persaud 1993, S. 7)<br />
Die antike Vorstellung der Präformation mag uns naiv vorkommen,<br />
wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass unsere historischen<br />
Vorläufer nichts über die Existenz von Zellen <strong>und</strong> Genen oder<br />
über die Verhaltensentwicklung <strong>im</strong> Mutterleib wussten. Viele der
40<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Eileiter<br />
Plazenta<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
Eierstock<br />
Fetus<br />
Amnion<br />
Chorion<br />
Nabelschnur<br />
Fruchtwasser<br />
Gebärmutterhalskrebs<br />
9<br />
Vagina<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
Abb. 2.2 Das weibliche Fortpflanzungssystem. Eine vereinfachte Darstellung des weiblichen Fortpflanzungssystems mit einem heranwachsenden Fetus in<br />
der Gebärmutter (Uterus). Die Nabelschnur führt vom Fetus zur Plazenta (Mutterkuchen), die tief in die Uteruswand eingebettet ist. Der Fetus schw<strong>im</strong>mt <strong>im</strong><br />
Fruchtwasser innerhalb der Fruchtblase (Amnion), die von der Zottenhaut (Chorion) umgeben ist<br />
Gehe<strong>im</strong>nisse, die unsere antiken Vorläufer in Erstaunen versetzten,<br />
sind heute geklärt, aber an ihre Stelle sind – wie das in der<br />
Wissenschaft der Regelfall ist – auch wieder neue Rätsel getreten.<br />
Die Befruchtung<br />
Jeder von uns entstand als eine einzige Zelle, die aus der Vereinigung<br />
zweier hochspezialisierter Zellen hervorging – eines<br />
Spermiums vom Vater <strong>und</strong> einer Eizelle von der Mutter. Das<br />
Besondere dieser Ke<strong>im</strong>zellen oder Gameten liegt nicht nur in<br />
ihrer Funktion, sondern auch in der Tatsache, dass sie, verglichen<br />
mit den anderen Körperzellen, jeweils nur das halbe genetische<br />
Material enthalten. Ke<strong>im</strong>zellen werden durch einen<br />
speziellen Prozess der Zellteilung – die Meiose oder Reifeteilung<br />
– produziert, bei dem Eizelle <strong>und</strong> Spermium jeweils nur<br />
23 Chromosomen (einen einfachen, haploiden Satz) erhalten,<br />
während alle anderen Körperzellen 46 Chromosomen (einen<br />
doppelten, diploiden Satz) enthalten. Diese Halbierung ist für<br />
die Fortpflanzung notwendig: Wenn das Ei oder das Spermium<br />
einen vollständigen Chromosomensatz enthielte, könnten sie<br />
nicht verschmelzen, weil keine Zelle mit der doppelten Menge an<br />
genetischem Material überleben kann, sondern exakt 23 Chromosomenpaare<br />
aufweisen muss. Ein wichtiger Unterschied bei<br />
der Bildung dieser beiden Ke<strong>im</strong>zelltypen besteht darin, dass so<br />
gut wie alle Eizellen, die eine Frau jemals in sich trägt, bereits <strong>im</strong><br />
Verlauf ihrer eigenen pränatalen Entwicklung gebildet wurden,<br />
während Männer kontinuierlich <strong>und</strong> in großen Mengen neues<br />
Sperma produzieren.<br />
Gameten – (Ke<strong>im</strong>zellen) Fortpflanzungszellen, d. h. Ei <strong>und</strong> Spermium, die nur<br />
die Hälfte des genetischen Materials aller anderen Körperzellen enthalten.<br />
Meiose – (Reifeteilung) Eine zur Fortpflanzung erforderliche besondere Form<br />
der Zellteilung, bei der Gameten entstehen.<br />
Der Fortpflanzungsprozess beginnt mit der Entlassung einer Eizelle<br />
(der größten Zelle <strong>im</strong> menschlichen Körper) aus einem der<br />
Eierstöcke der Frau in den Eileiter (. Abb. 2.2). Bei der Reise durch<br />
den Eileiter in Richtung Gebärmutter gibt das Ei eine chemische<br />
Substanz ab, die wie eine Art Leuchtfeuer wirkt, ein „Kommthierher!“-Signal,<br />
das die Spermien anzieht. Falls in zeitlicher Nähe<br />
zur Freisetzung einer Eizelle Geschlechtsverkehr stattfindet, wird<br />
die Konzeption (Befruchtung) – die Vereinigung von Eizelle <strong>und</strong><br />
Spermium – möglich. Bei jedem Samenerguss werden nicht weniger<br />
als 500 Millionen Spermien in die Vagina der Frau hineingepumpt.<br />
Jedes Spermium, ein stromlinienförmiges Vehikel für die<br />
Zustellung der männlichen Gene an die Adresse der weiblichen<br />
Eizelle, besteht aus kaum mehr als einem spitzen Kopf, vollgepackt<br />
mit genetischem Material (den 23 Chromosomen), <strong>und</strong> einem langen<br />
Schwanz, der sich schnell bewegt <strong>und</strong> das Spermium durch<br />
das weibliche Fortpflanzungssystem treibt.<br />
Konzeption – (Befruchtung) Die Vereinigung von Eizelle <strong>und</strong> Spermium.<br />
Um als Kandidat für die Einleitung einer Befruchtung infrage zu<br />
kommen, muss ein Spermium etwa 6 h unterwegs sein, bis es die<br />
15–18 cm von der Vagina aufwärts durch die Gebärmutter bis<br />
zum Eileiter hinter sich gebracht hat. Die Ausfallquote auf dieser<br />
Reise ist enorm: Von den vielen Millionen Spermien, die in die
Pränatale Entwicklung<br />
41 2<br />
Vagina gelangen, schaffen es nur etwa 200, überhaupt in die Nähe<br />
der Eizelle zu gelangen (. Abb. 2.3). Für diese hohe Versagensrate<br />
gibt es viele Gründe. Einige Ausfälle unterliegen dem Zufall:<br />
Viele Spermien verheddern sich mit anderen Spermien, die in der<br />
Vagina umherirren, <strong>und</strong> andere haben sich einfach nur für den<br />
falschen Eileiter „entschieden“ (für den, der gerade keine Eizelle<br />
bereithält). Andere Ausfälle haben mit Problemen der Spermien<br />
selbst zu tun: Ein beträchtlicher Anteil der Spermien weist starke<br />
genetische oder andere Defekte auf, weshalb diese Spermien nicht<br />
in der Lage sind, sich kraftvoll genug vorwärtszubewegen, um das<br />
Ei zu erreichen <strong>und</strong> zu befruchten. Jedes einzelne Spermium, das<br />
es tatsächlich bis zur Eizelle geschafft hat, ist mit ziemlich großer<br />
Wahrscheinlichkeit ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> in bester Konstitution; damit<br />
tritt ein darwinistischer Ausleseprozess des survival of the fittest<br />
(„Überleben des am besten Angepassten“) zutage, der bei der Befruchtung<br />
wirksam wird. ▶ Exkurs 2.2 beschreibt die Folgen dieses<br />
Selektionsprozesses für die Zeugung von Männern <strong>und</strong> Frauen.<br />
Sobald der Kopf eines Spermiums in die äußere Membran der<br />
Eizelle eindringt, versiegelt eine chemische Reaktion die Membran,<br />
was andere Spermien am Eindringen hindert. Der Schwanz des<br />
Spermiums fällt ab, der Inhalt des Kopfes ergießt sich in die Eizelle,<br />
<strong>und</strong> <strong>im</strong> Lauf einiger St<strong>und</strong>en verschmelzen die Nuclei (Zellkerne)<br />
der beiden Zellen. Die befruchtete Eizelle, die Zygote, besitzt jetzt<br />
einen vollständigen Satz des menschlichen Genmaterials, die eine<br />
Hälfte von der Mutter <strong>und</strong> die andere Hälfte vom Vater. Die erste<br />
der drei Phasen der pränatalen Entwicklung (. Tab. 2.1) hat begonnen,<br />
<strong>und</strong> das Ganze wird, wenn alles gut verläuft, etwa neun Monate<br />
andauern (durchschnittlich 38 Wochen oder 266 Tage).<br />
Zygote – Eine befruchtete Eizelle.<br />
Entwicklungsprozesse<br />
Bevor wir den Verlauf der pränatalen Entwicklung beschreiben,<br />
müssen wir kurz vier wichtige Entwicklungsprozesse skizzieren,<br />
die der Umwandlung von der Zygote in einen Embryo <strong>und</strong> dann<br />
in einen Fetus zugr<strong>und</strong>e liegen. Der erste dieser Prozesse ist die<br />
Zellteilung, die als Mitose bezeichnet wird. Innerhalb von etwa<br />
12 h nach der Befruchtung teilt sich die Zygote in zwei gleiche<br />
Teile, die beide einen vollständigen Satz des genetischen Materials<br />
enthalten. Diese beiden Zellen teilen sich wieder, sodass<br />
vier Zellen entstehen, daraus werden acht Zellen, <strong>und</strong> so weiter.<br />
Durch die fortgesetzte Zellteilung <strong>im</strong> Verlauf von 38 Wochen<br />
wird aus der kaum sichtbaren Zygote ein Neugeborenes, das aus<br />
Billionen von Zellen besteht.<br />
Embryo – Bezeichnung für den sich entwickelnden Organismus von der dritten<br />
bis zur achten Woche der pränatalen Entwicklung.<br />
Fetus – Bezeichnung für den sich entwickelnden Organismus von der neunten<br />
Schwangerschaftswoche bis zur Geburt.<br />
Mitose – Zellteilung, bei der zwei identische Tochterzellen entstehen.<br />
..<br />
Abb. 2.3 Spermien nähern sich der Eizelle. Von den Millionen Spermien,<br />
die sich zusammen auf den Weg machen, gelangen nur einige wenige in<br />
die Nähe der Eizelle, der größten <strong>und</strong> einzigen menschlichen Zelle, die mit<br />
bloßem Auge sichtbar ist. Spermien gehören zu den kleinsten Körperzellen.<br />
(© Lennart Nilsson/TT)<br />
Ein zweiter wichtiger Prozess, der während der embryonalen<br />
Phase auftritt, ist die Zellmigration, die Wanderung neu gebildeter<br />
Zellen von ihrem Ausgangspunkt an eine andere Stelle <strong>im</strong><br />
Embryo. Zu den vielen migrierenden Zellen gehören die Neurone<br />
<strong>im</strong> Cortex, der äußeren Schicht des Gehirns. Diese Zellen<br />
entstehen tief <strong>im</strong> Inneren des embryonalen Gehirns <strong>und</strong> wandern<br />
dann, wie Pioniere, die neues Gebiet erschließen, in die<br />
äußeren Regionen des sich entwickelnden Gehirns.<br />
Der dritte für die weitere pränatale Entwicklung entscheidende<br />
Prozess ist die Zelldifferenzierung. Am Anfang sind alle<br />
embryonalen Zellen gleichwertig <strong>und</strong> wechselseitig austauschbar:<br />
Keine dieser sogenannten embryonale Stammzellen hat ein festgelegtes<br />
Schicksal oder eine festgelegte Funktion. Nach mehreren<br />
Zellteilungen fangen die Zellen jedoch an, sich zu spezialisieren.<br />
Be<strong>im</strong> Menschen entwickeln sich Stammzellen zu etwa 350 verschiedenen<br />
Zelltypen, die fortan <strong>im</strong> Interesse des Gesamtorganismus<br />
eine best<strong>im</strong>mte Funktion ausüben. (Wegen dieser Flexibilität<br />
stehen sehr frühe embryonale Stammzellen <strong>im</strong> Mittelpunkt des<br />
Interesses unserer modernen Medizinforschung, weil man hofft,<br />
dass sich solche Stammzellen, wenn man sie Patienten nach Verletzungen<br />
oder bei Erkrankungen injiziert, zu ges<strong>und</strong>en Zellen<br />
entwickeln, die die zerstörten oder geschädigten Zellen ersetzen.)<br />
Embryonale Stammzellen – embryonale Zellen, die sich zu jedem Körperzelltyp<br />
entwickeln können.<br />
Der Prozess der Zelldifferenzierung gehört zu den großen Gehe<strong>im</strong>nissen<br />
der pränatalen Entwicklung. Was best<strong>im</strong>mt, da doch<br />
alle Zellen <strong>im</strong> Körper dieselbe genetische Zusammensetzung besitzen,<br />
zu welchem Typ von Zelle sich eine best<strong>im</strong>mte Stammzelle<br />
entwickeln wird? Eine Schlüsseldeterminante ist, welche<br />
Gene in der Zelle „angeschaltet“ werden beziehungsweise zur<br />
Ausprägung gelangen (▶ Exkurs 2.3). Eine weitere best<strong>im</strong>mende<br />
Determinante ist der Ort, an dem eine Zelle zufällig landet, denn<br />
ihre zukünftige Entwicklung wird davon beeinflusst, was in den<br />
benachbarten Zellen vor sich geht.
42<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
Exkurs 2.2: Individuelle Unterschiede: Geschlechtsunterschiede von Anfang bis Ende | |<br />
Den sprichwörtlichen Wettstreit zwischen den<br />
Geschlechtern könnte man bereits auf das<br />
Wettrennen der Spermien um die Befruchtung<br />
der Eizelle zurückführen, bei dem die „Jungen“<br />
sehr viel häufiger gewinnen. Die Spermien,<br />
die ein Y-Chromosom besitzen (die genetische<br />
Basis für das männliche Geschlecht), sind<br />
leichter <strong>und</strong> schw<strong>im</strong>men schneller, sodass sie<br />
die Eizelle vor den Spermien erreichen, die ein<br />
X-Chromosom tragen. Im Ergebnis werden auf<br />
100 weibliche Zygoten ungefähr 120 bis 150<br />
männliche Zygoten gezeugt.<br />
Die Mädchen gewinnen den nächsten<br />
großen Wettbewerb – das Überleben. Die<br />
Geburtsquote beträgt nur mehr 106 Jungen<br />
auf 100 Mädchen. Wo sind die fehlenden<br />
Männer geblieben? Anscheinend bricht ihre<br />
Entwicklung viel häufiger vorzeitig ab als bei<br />
Frauen. Auch die Geburt ist für Jungen ein<br />
größeres Risiko; mit 50 % höherer Wahrscheinlichkeit<br />
ist ein Kaiserschnitt nötig. Die erhöhte<br />
Anfälligkeit ist nicht auf das Überleben der<br />
4,5<br />
pränatalen Phase beschränkt. Jungen leiden<br />
überproportional häufiger an Entwicklungsstörungen<br />
wie Sprach-, Lern- <strong>und</strong> Lesestörungen,<br />
an Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom,<br />
geistigem Zurückbleiben <strong>und</strong> Autismus. Die<br />
höhere Anfälligkeit der Männer setzt sich <strong>im</strong><br />
Lebensverlauf fort, wie die Abbildung zeigt.<br />
Pubertierende Jungen sind <strong>im</strong>pulsiver <strong>und</strong><br />
gehen höhere Risiken ein als Mädchen, sie<br />
begehen mit höherer Wahrscheinlichkeit<br />
Selbstmord oder sterben gewaltsam.<br />
Das Überleben liegt <strong>im</strong> Einzelfall nicht <strong>im</strong>mer<br />
in der Hand der Natur. In vielen Gesellschaften,<br />
in der Geschichte wie in der Gegenwart,<br />
erfährt männlicher Nachwuchs höhere Wertschätzung<br />
als weiblicher, <strong>und</strong> Eltern bedienen<br />
sich des <strong>Kindes</strong>mords, um keine Töchter haben<br />
zu müssen. Zum Beispiel waren die Inuit-<br />
Familien in Alaska traditionell auf männliche<br />
Kinder angewiesen, die bei der Jagd auf<br />
Nahrung mithalfen, <strong>und</strong> Mädchen wurden bei<br />
den Inuit früher oft bei der Geburt getötet.<br />
Chinesische Eltern zählen früher wie heute auf<br />
ihre Söhne, die sie <strong>im</strong> hohen Alter versorgen<br />
sollen. Im heutigen China hat die Ein-Kind-<br />
Politik – eine Maßnahme zur Verringerung des<br />
Bevölkerungswachstums, die es Paaren untersagt,<br />
mehr als ein Kind zu bekommen – dazu<br />
geführt, dass viele weibliche Babys getötet,<br />
ausgesetzt oder zur Adoption in westliche Familien<br />
freigegeben werden, um für einen Sohn<br />
Platz zu machen. Ein eher technologischer<br />
Ansatz wird derzeit in Ländern praktiziert, in<br />
denen männlicher Nachwuchs mehr wert ist:<br />
Mithilfe von Schwangerschaftstests wird das<br />
Geschlecht des Fetus best<strong>im</strong>mt, <strong>und</strong> weibliche<br />
Feten werden selektiv abgetrieben. Diese<br />
Fälle illustrieren das in ▶ Kap. 1 beschriebene<br />
Kontextmodell der Entwicklung auf drastische<br />
Weise; sie zeigen, wie kulturelle Werte,<br />
die Politik der jeweiligen Regierung <strong>und</strong> die<br />
verfügbare Technologie die Entwicklungsergebnisse<br />
beeinflussen.<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
Quotient der Zahlen männlicher/weiblicher Verstorbener<br />
4<br />
3,5<br />
3<br />
2,5<br />
2<br />
1,5<br />
01<br />
05<br />
10<br />
Alle Ursachen<br />
Externe Ursachen<br />
Interne Ursachen<br />
15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80<br />
Alter<br />
..<br />
Der Quotient aus der Sterblichkeitsrate<br />
US-amerikanischer Männer <strong>im</strong> Verhältnis zur<br />
Sterblichkeitsrate der Frauen liegt von Geburt<br />
an über dem Wert 1 – Männer sind über die<br />
gesamte Lebensspanne gefährdeter als Frauen.<br />
Der rasche Anstieg in Adoleszenz <strong>und</strong> frühem<br />
Erwachsenenalter – auf bis zu drei männliche<br />
Todesfälle auf einen weiblichen – geht vor allem<br />
auf äußere Einflüsse wie Unfälle, Morde oder<br />
Selbstmorde zurück<br />
19<br />
20<br />
21<br />
..<br />
Tab. 2.1 Phasen der pränatalen Entwicklung<br />
Befruchtung<br />
bis 2 Wochen<br />
Zygote<br />
Beginnt mit der Befruchtung <strong>und</strong> dauert, bis sich die Zygote in der Gebärmutterwand einnistet. Schnelle<br />
Zellteilung.<br />
3. bis 8. Woche Embryo Folgt auf die Einnistung; alle Organe <strong>und</strong> Körpersysteme entwickeln sich stark, <strong>und</strong> zwar durch die Prozesse<br />
der Zellteilung, der Zellmigration, der Differenzierung <strong>und</strong> des Absterbens von Zellen sowie durch hormonelle<br />
Einflüsse.<br />
22<br />
9. Woche<br />
bis Geburt<br />
Fetus<br />
Fortgesetzte Entwicklung der körperlichen Strukturen <strong>und</strong> schnelles Körperwachstum. Steigendes Verhaltensniveau,<br />
sensorische Erfahrung, Lernen.<br />
23
Pränatale Entwicklung<br />
43 2<br />
Exkurs 2.3: Genauer betrachtet: Phylogenetische Kontinuität | |<br />
An verschiedenen Stellen dieses Buches<br />
werden wir Forschungen an Tieren beschreiben,<br />
um etwas über die menschliche<br />
Entwicklung klarzumachen. Damit folgen wir<br />
dem Prinzip der phylogenetischen Kontinuität<br />
– der Ansicht, dass Menschen wegen ihrer<br />
gemeinsamen Evolutionsgeschichte einige<br />
Eigenschaften <strong>und</strong> Entwicklungsprozesse<br />
mit anderen Tieren, insbesondere Säugern,<br />
teilen. Tatsächlich haben Sie die meisten Ihrer<br />
Gene mit Ihrem H<strong>und</strong>, Ihrer Katze oder Ihrem<br />
Hamster gemeinsam.<br />
Die Annahme, dass verhaltens- <strong>und</strong> entwicklungsbezogene<br />
Tiermodelle für das Verständnis<br />
der menschlichen Entwicklung hilfreich<br />
<strong>und</strong> informativ sein können, liegt einer großen<br />
Zahl von Forschungsarbeiten zugr<strong>und</strong>e.<br />
Beispielsweise stammt ein Großteil unseres<br />
Wissens über die Wirkungen von Alkoholkonsum<br />
bei schwangeren Frauen aus der<br />
Forschung an Tieren. Weil man den Verdacht<br />
hatte, dass Alkohol während der Schwangerschaft<br />
das Muster an Defekten verursachen<br />
könnte, das wir heute als Fetales Alkoholsyndrom<br />
oder auch Alkoholembryopathie kennen<br />
(wir kommen in diesem Kapitel noch darauf<br />
zurück; . Abb. 2.11), setzten sie die Feten von<br />
Mäusen <strong>im</strong> Mutterleib exper<strong>im</strong>entell unter<br />
Alkoholeinfluss. Bei der Geburt zeigten die<br />
Tiere dann atypische Gesichtszüge, die den<br />
Gesichtsanomalien von Kindern alkoholabhängiger<br />
Mütter erstaunlich ähnlich waren. Dieser<br />
Sachverhalt bestärkte die Annahme, dass die<br />
gewöhnlich mit Alkoholembryopathie assoziierten<br />
Probleme tatsächlich durch den Alkohol<br />
verursacht sind <strong>und</strong> nicht durch irgendeinen<br />
anderen Faktor.<br />
Zu den faszinierendsten Entdeckungen der<br />
vergangenen Jahre gehört das fetale Lernen,<br />
das später noch ausführlich erläutert wird.<br />
Dieses Phänomen wurde zuerst an der Ratte<br />
nachgewiesen – einem der beliebtesten Lebewesen<br />
für vergleichende Verhaltensforschung.<br />
Um zu überleben, müssen die neugeborenen<br />
Ratten eine milchgebende Brustwarze der<br />
Mutter finden. Woher wissen sie, wo sie suchen<br />
müssen? Die Antwort lautet: Sie suchen nach<br />
etwas, das ihnen vertraut ist. Be<strong>im</strong> Gebären<br />
werden die Brustwarzen an der Unterseite des<br />
Bauches der Rattenmutter mit Fruchtwasser<br />
beschmiert. Der Geruch des Fruchtwassers ist<br />
den Rattenbabys aus ihrer Zeit <strong>im</strong> Mutterleib<br />
vertraut <strong>und</strong> lockt sie dorthin, wo sie hin<br />
müssen – mit ihren Nasen <strong>und</strong> damit ihren<br />
Mündern in die Nähe einer Brustwarze (Blass<br />
1990).<br />
Woher wissen wir, dass der erste Brustwarzenkontakt<br />
der neugeborenen Ratte auf dem<br />
Wiedererkennen des Fruchtwassers beruht?<br />
Als man den Bauch der Rattenmutter von<br />
jeglichem Fruchtwasser reinigte, fanden die<br />
Jungen die Brustwarzen nicht; reinigte man<br />
die Hälfte der Warzen, waren die Jungen von<br />
den ungewaschenen angezogen, an denen<br />
noch Fruchtwasser haftete (Blass <strong>und</strong> Teicher<br />
1980). Ein noch eindrucksvollerer Beleg wurde<br />
ermittelt, indem man dem Fruchtwasser Gerüche<br />
oder Geschmacksstoffe zusetzte – durch<br />
direkte Injektion oder durch Be<strong>im</strong>ischung<br />
<strong>im</strong> Futter der trächtigen Ratte –, denn dann<br />
bevorzugten die Jungen nach der Geburt<br />
diese Aromen (Hepper 1988; Pedersen <strong>und</strong><br />
Blass 1982; Smotherman <strong>und</strong> Robinson 1987).<br />
Exper<strong>im</strong>entelle Nachweise fetalen Lernens<br />
bei Nagetieren lösten eine wissenschaftliche<br />
Suche nach ähnlichen Prozessen bei menschlichen<br />
Feten aus. Und diese Suche war, wie wir<br />
sehen werden, erfolgreich.<br />
..<br />
Aus dem Verhalten von Ratten haben Entwicklungsforscher viel über<br />
die menschliche Entwicklung gelernt. (© Wildlife GmbH/Alamy)<br />
Phylogenetische Kontinuität – Die Vorstellung, dass die Evolutionsgeschichte<br />
von Mensch <strong>und</strong> Tier kontinuierlich verläuft <strong>und</strong> deshalb der Mensch viele Eigenschaften,<br />
Verhalten <strong>und</strong> Entwicklungsprozesse mit anderen Tieren, insbesondere<br />
Säugern, teilt.<br />
Die anfängliche Flexibilität <strong>und</strong> die anschließende Unflexibilität<br />
von Zellen sowie die Bedeutung ihres Ortes lassen sich anschaulich<br />
anhand der klassischen Forschungen mit Froschembryonen<br />
illustrieren. Wenn der Teil eines Froschembryos, der normalerweise<br />
zu einem Auge würde, sehr früh in der Entwicklung<br />
in seinen Bauchbereich eingepflanzt wird, entwickelt sich der<br />
transplantierte Bereich als normaler Teil des Bauches. Obwohl<br />
sich die Zellen anfänglich also am richtigen Ort befanden, um<br />
zu einem Auge zu werden, hatten sie sich noch nicht spezialisiert.<br />
Zu einem späteren Zeitpunkt führt dieselbe Operation zu<br />
einem – einzelnen <strong>und</strong> nicht sehenden – Auge, das <strong>im</strong> Bauch des<br />
Froschembryos angesiedelt ist (Wolpert 1991).<br />
Der vierte Entwicklungsprozess kommt uns normalerweise<br />
nicht als Teil einer Entwicklung in den Sinn – der Tod. Aber<br />
der selektive Tod best<strong>im</strong>mter Zellen ist der „praktisch ständige<br />
Begleiter“ der bereits beschriebenen Entwicklungsprozesse<br />
(Wolpert 1991). Die Rolle dieses genetisch vorprogrammierten<br />
Zelltodes, den man Apoptose nennt, ist an der Entwicklung der<br />
Hand erkennbar: Die Ausbildung der Finger hängt vom Absterben<br />
der Zellen zwischen den Rippen des Handtellers ab. Mit<br />
anderen Worten, für diejenigen Zellen, die aus den Handtellern<br />
selektiv verschwinden, ist der Tod ein Teil des Entwicklungsprogramms.<br />
Apoptose – Programmierter Zelltod.<br />
Zusätzlich zu diesen vier Entwicklungsprozessen müssen wir den<br />
Einfluss der Hormone auf die pränatale Entwicklung betrach-
44<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
ten. Beispielsweise spielen Hormone eine entscheidende Rolle bei<br />
der Geschlechtsdifferenzierung. Jeder menschliche Fetus kann,<br />
ungeachtet seiner Gene, männliche oder weibliche Genitalien<br />
ausbilden. Was die Entwicklung in die eine oder andere sexuelle<br />
Richtung verursacht, ist das Vorhandensein oder Fehlen von Androgenen,<br />
einer Klasse von Hormonen, zu denen auch das Testosteron<br />
gehört. Wenn Androgene vorhanden sind, entwickeln<br />
sich männliche Geschlechtsorgane; ohne Androgene bilden sich<br />
weibliche Geschlechtsorgane heraus. Die Quelle dieser einflussreichen<br />
Hormone ist der männliche Fetus selbst. Um die achte<br />
Woche nach der Befruchtung beginnen die Hoden, Androgene<br />
zu produzieren, <strong>und</strong> diese selbst erzeugte Substanz verändert den<br />
Fetus zeitlebens. Dies ist nur eine von vielen Arten, wie der Fetus<br />
seine eigene Entwicklung beeinflusst.<br />
Wir richten die Aufmerksamkeit nun auf den allgemeinen<br />
Verlauf der pränatalen Entwicklung, der sich aus allen genannten<br />
Einflüssen <strong>und</strong> weiteren Entwicklungsprozessen ergibt.<br />
Früheste Entwicklung<br />
Auf ihrem Weg durch den Eileiter in den Uterus verdoppelt die<br />
Zygote die Anzahl ihrer Zellen etwa zwe<strong>im</strong>al am Tag. Am vierten<br />
Tag nach der Befruchtung formen sich die Zellen zu einer<br />
Hohlkugel, der Ke<strong>im</strong>blase oder Blastozyste, in der sich auf der<br />
einen Seite ein Zellhaufen befindet – die innere Zellmasse, auch<br />
Embryoblast, genannt.<br />
Blastozyste – (Ke<strong>im</strong>blase) Eine Hohlkugel aus Zellen, zu der sich die Zygote um<br />
den vierten Tag ihrer Entwicklung formt.<br />
Innere Zellmasse – (Embryoblast) Der Zellhaufen <strong>im</strong> Inneren der Blastozyste,<br />
aus dem sich schließlich der Embryo entwickeln wird.<br />
Dies ist das Entwicklungsstadium, in dem eineiige Zwillinge<br />
am häufigsten entstehen. Sie gehen aus der Teilung der inneren<br />
Zellmasse in zwei Hälften hervor <strong>und</strong> besitzen somit beide exakt<br />
dieselbe genetische Ausstattung. Im Unterschied dazu entstehen<br />
zweieiige Zwillinge dann, wenn zufällig zwei Eizellen aus dem<br />
Eierstock in den Eileiter entlassen <strong>und</strong> beide befruchtet werden.<br />
Weil sie von zwei verschiedenen Eizellen <strong>und</strong> zwei verschiedenen<br />
Spermien stammen, sind sich zweieiige Zwillinge genetisch<br />
nicht ähnlicher als jedes andere Geschwisterpaar mit denselben<br />
Eltern.<br />
Eineiige Zwillinge – Zwillinge, die aus der Teilung der Zygote in zwei identische<br />
Hälften entstehen, von denen jede genau dieselben Gene hat.<br />
Zweieiige Zwillinge – Zwillinge, die aus zwei Eizellen entstehen, die be<strong>im</strong> gleichen<br />
Eisprung von zwei verschiedenen Spermien befruchtet werden. Zweieiige<br />
Zwillinge st<strong>im</strong>men nur in der Hälfte ihrer genetischen Ausstattung überein.<br />
Zum Ende der ersten Woche nach der Befruchtung findet, sofern<br />
alles gut geht (was nur bei weniger als der Hälfte der entstandenen<br />
Zygoten der Fall ist), ein entscheidendes Ereignis statt – die<br />
Einnistung (Nidation) der Zygote in die Gebärmutterschle<strong>im</strong>haut,<br />
wodurch sie mit Blick auf ihre Ernährung von der Mutter<br />
abhängig wird. Deutlich vor Ende der zweiten Woche hat sich die<br />
Zygote vollständig in die Gebärmutterwand eingebettet.<br />
Nach der Einnistung beginnt der abgekapselte Zellhaufen, sich<br />
weiter zu differenzieren. Die innere Zellmasse wird zum Embryo,<br />
<strong>und</strong> aus dem Rest der Zellen wird ein kunstvolles Unterstützungssystem<br />
aus Fruchtblase <strong>und</strong> Plazenta, das den Embryo dazu befähigt,<br />
sich zu entwickeln. Die innere Zellmasse besteht am Anfang<br />
nur aus einer Schicht, doch <strong>im</strong> Verlauf der zweiten Woche faltet<br />
sie sich zu drei Schichten mit einer jeweils anderen Best<strong>im</strong>mung<br />
<strong>im</strong> Entwicklungsverlauf. Aus der oberen Schicht entstehen das<br />
Nervensystem, die Nägel <strong>und</strong> Zähne, das Innenohr, die Augenlinsen<br />
<strong>und</strong> die äußere Oberfläche der Haut. Die mittlere Schicht<br />
wird am Ende zu Muskeln, Knochen, dem Blutkreislaufsystem,<br />
den inneren Schichten der Haut <strong>und</strong> anderen inneren Organen.<br />
Die untere Schicht entwickelt sich zum Verdauungssystem, zu den<br />
Lungen, dem Harntrakt <strong>und</strong> den Drüsen. Ein paar Tage, nachdem<br />
sich der Embryo in diese drei Schichten ausdifferenziert hat, bildet<br />
sich vom Zentrum der oberen Schicht eine U-förmige Furche nach<br />
unten. Die Falten am oberen Ende der Furche bewegen sich aufeinander<br />
zu <strong>und</strong> verbinden sich, wodurch das Neuralrohr entsteht.<br />
Das eine Ende des Neuralrohres wird anschwellen <strong>und</strong> sich zum<br />
Gehirn entwickeln, <strong>und</strong> der Rest wird zum Rückenmark.<br />
Neuralrohr – Eine U-förmige Furche in der oberen Schicht der sich ausdifferenzierenden<br />
Zellen des Embryos, aus der sich Gehirn <strong>und</strong> Rückenmark entwickeln.<br />
Das Unterstützungssystem, das sich zeitgleich mit dem Embryo<br />
ausformt, ist ausgefeilt <strong>und</strong> für dessen Entwicklung unabdingbar.<br />
Ein lebenswichtiger Teil des Unterstützungssystems ist die<br />
Fruchtblase, eine mit einer klaren, wässrigen Flüssigkeit gefüllte<br />
Membran, in der der Fetus schw<strong>im</strong>mt. Das Fruchtwasser<br />
wirkt auf mehrfache Weise als ein schützender Puffer für den<br />
sich entwickelnden Fetus; zum Beispiel sorgt es für eine relativ<br />
gleichbleibende Temperatur <strong>und</strong> dämpft ruckartige Bewegungen<br />
<strong>und</strong> Stöße ab. Da der Fetus in der Fruchtblase schw<strong>im</strong>mt,<br />
kann er außerdem, wie wir gleich sehen werden, seine kleinen,<br />
schwachen Muskeln relativ ungehindert von den Einflüssen der<br />
Schwerkraft gebrauchen.<br />
Fruchtblase – Die durchsichtige, mit Flüssigkeit gefüllte Membran, die den<br />
Fetus umgibt <strong>und</strong> schützt.<br />
Das zweite Schlüsselelement dieses Unterstützungssystems ist die<br />
Plazenta, ein einzigartiges Organ, das den Austausch von Stoffen<br />
in den Blutkreisläufen der Mutter <strong>und</strong> des Fetus ermöglicht. Die<br />
Plazenta besteht aus einem außerordentlich reichen Netzwerk<br />
von Blutgefäßen, darunter auch ganz winzige, die in das Gewebe<br />
des mütterlichen Uterus hineinreichen <strong>und</strong> zusammengenommen<br />
eine Oberfläche von ungefähr 8 m 2 bilden – das ist etwa<br />
das Stück Straße, das ein Mittelklassewagen einn<strong>im</strong>mt (Vaughn<br />
1996). Die Blutgefäße, die von der Plazenta zum Embryo <strong>und</strong><br />
zurück verlaufen, sind in der Nabelschnur enthalten.<br />
Plazenta – Ein Unterstützungsorgan für den Fetus; es hält die Blutkreislaufsysteme<br />
von Fetus <strong>und</strong> Mutter getrennt, ermöglicht aber als eine halbdurchlässige<br />
Membran den Austausch einiger Stoffe (Sauerstoff <strong>und</strong> Nährstoffe von<br />
der Mutter zum Fetus, Kohlendioxyd <strong>und</strong> Abfallstoffe vom Fetus zur Mutter).<br />
Nabelschnur – Ein Bindegewebsstrang mit Blutgefäßen, die den Fetus mit der<br />
Plazenta verbinden.
Pränatale Entwicklung<br />
45 2<br />
..<br />
Abb. 2.5 Ein fünf- bis sechswöchiger Embryo. (© Biophoto Associates/<br />
Photo Researchers)<br />
..<br />
Abb. 2.4 Ein vier Wochen alter Embryo. (© Lennart Nilsson/TT)<br />
In der Plazenta kommen die Blutkreislaufsysteme der Mutter <strong>und</strong><br />
des Fetus einander extrem nahe, aber die Plazenta verhindert,<br />
dass sich das Blut von beiden vermischt. Die Membran der Plazenta<br />
ist semipermeabel (halbdurchlässig), was bedeutet, dass<br />
manche Stoffe sie nur in einer Richtung durchdringen können,<br />
aber nicht in die andere. Sauerstoff, Nährstoffe, Mineralien <strong>und</strong><br />
manche Antikörper – alles Stoffe, die für den Fetus genauso lebenswichtig<br />
sind wie für uns – werden vom Blut der Mutter zur<br />
Plazenta transportiert. Dann durchqueren sie die Plazenta <strong>und</strong><br />
gelangen in das Blutsystem des Fetus. Abfallprodukte vom Fetus<br />
(z. B. Kohlendioxyd <strong>und</strong> Harnstoff) durchqueren die Plazenta in<br />
umgekehrter Richtung <strong>und</strong> werden vom Blutstrom der Mutter<br />
durch ihre normalen Ausscheidungsprozesse entsorgt.<br />
Die Membran der Plazenta dient auch als Abwehrschranke<br />
gegen eine ganze Reihe von Giftstoffen <strong>und</strong> infektiösen Ke<strong>im</strong>en,<br />
die sich <strong>im</strong> Körper der Mutter befinden können <strong>und</strong> für den Fetus<br />
schädlich oder sogar tödlich wären. Leider ist die semipermeable<br />
Plazenta keine perfekte Barriere, sodass, wie wir noch sehen werden,<br />
eine Vielzahl schädlicher Stoffe durch sie hindurch gelangen<br />
<strong>und</strong> den Fetus angreifen können. Eine weitere Funktion der Plazenta<br />
besteht in der Produktion von Hormonen, einschließlich des<br />
Östrogens, das den mütterlichen Blutzufluss zum Uterus erhöht,<br />
<strong>und</strong> des Progesterons, das Kontraktionen des Uterus, die den Fetus<br />
vorzeitig ausstoßen könnten, unterdrückt (Nathanielsz 1994).<br />
Eine illustrierte Zusammenfassung<br />
der pränatalen Entwicklung<br />
Wichtige Zwischenschritte der pränatalen Entwicklung ab der<br />
vierten Woche sind in . Abb. 2.4, 2.5, 2.6 <strong>und</strong> 2.7 dargestellt, wobei<br />
<strong>im</strong> Text die bedeutsamsten Schritte gesondert hervorgehoben<br />
werden. Die erwähnten Verhaltensweisen des Fetus werden in einem<br />
späteren Abschnitt noch eingehender erörtert. Man beachte,<br />
dass die Entwicklung am Anfang viel schneller vonstattengeht<br />
als in späteren Stadien <strong>und</strong> dass sich die Bereiche in der Nähe<br />
des Kopfes früher entwickeln als die vom Kopf weiter entfernten<br />
Körperbereiche (also Kopf vor Körper, Hände vor Füßen) – eine<br />
allgemeine Tendenz, die als cephalocaudale Entwicklung (vom<br />
Kopf zum Schwanz) bezeichnet wird.<br />
Cephalocaudale Entwicklung – Das Wachstumsmuster der Embryonalentwicklung,<br />
bei dem sich Regionen in Kopfnähe früher entwickeln als weiter vom<br />
Kopf entfernte Körperregionen.<br />
Etwa vier Wochen nach der Befruchtung ist der winzige Körper<br />
des Embryos so stark zusammengekrümmt, dass sich der Kopf<br />
<strong>und</strong> die schwanzartige Struktur am anderen Ende fast berühren<br />
(. Abb. 2.4). Mehrere Merkmale des Gesichts haben ihren Ursprung<br />
in vier Falten vorn am Kopf des Embryos; das Gesicht<br />
entwickelt sich nach <strong>und</strong> nach, indem sich dieses Gewebe bewegt<br />
<strong>und</strong> dehnt, sich Teile davon verbinden <strong>und</strong> andere sich trennen.<br />
Der r<strong>und</strong>e Bereich in der Nähe des oberen Kopfteiles ist die<br />
Stelle, an der sich das Auge bilden wird, <strong>und</strong> der r<strong>und</strong>e graue<br />
Bereich nahe dem hinteren Teil des „Nackens“ ist der Ursprung<br />
des Innenohres. Ein pr<strong>im</strong>itives Herz ist sichtbar; es schlägt bereits<br />
<strong>und</strong> bringt Blut in Umlauf. An der Seite des Embryos kann man<br />
eine Armknospe erkennen; eine Beinknospe, weniger deutlich,<br />
ist ebenfalls vorhanden.<br />
Ein fünf bis sechs Wochen alter Embryo schw<strong>im</strong>mt frei <strong>im</strong><br />
Fruchtwasser (. Abb. 2.5). In der fünften <strong>und</strong> sechsten Woche tritt<br />
eine schnelle Gehirnentwicklung ein, wie man an der vorgewölbten<br />
Stirn sehen kann. Die Anfänge eines Auges sind sichtbar,<br />
auch bildet sich eine Nase. Allmählich erscheinen separate Finger.<br />
Es treten die ersten spontanen Bewegungen auf, wenn der<br />
Embryo seinen Rücken krümmt. Weil der Embryo noch so klein<br />
<strong>und</strong> vom Fruchtwasser umgeben ist, kann die Mutter diese Bewegungen<br />
jedoch nicht wahrnehmen.
46<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
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Abb. 2.6 Ein 16 Wochen alter Fetus. (© Lennart Nilsson/TT)<br />
Bei einem neun Wochen alten Fetus n<strong>im</strong>mt der Kopf etwa die<br />
halbe Länge ein. Es bilden sich ansatzweise Augen <strong>und</strong> Ohren.<br />
Alle inneren Organe sind bereits vorhanden, müssen aber meistens<br />
noch weiterentwickelt werden. Die Geschlechtsdifferenzierung<br />
hat begonnen. Es bilden sich Rippen; Ellbogen, Finger <strong>und</strong><br />
Zehen sind entstanden; die Nägel wachsen. Der Fetus reagiert<br />
bereits auf äußere Berührungsreize: Die Berührung einer Seite<br />
des M<strong>und</strong>bereichs verursacht ein Wegdrehen des Kopfes.<br />
In den Wochen elf <strong>und</strong> zwölf sind die Augen fest verschlossen.<br />
Die Finger sind klar voneinander abgegrenzt, <strong>und</strong> die äußeren<br />
Genitalien haben sich entwickelt. Die Bewegungen des Fetus<br />
sind drastisch angestiegen: Die Brust macht Atembewegungen,<br />
<strong>und</strong> einige Reflexe – greifen, schlucken, saugen – sind bereits<br />
vorhanden. Die Arme <strong>und</strong> Beine befinden sich in heftiger, fast<br />
permanenter Bewegung, wobei diese Bewegungen des Fetus von<br />
der Mutter <strong>im</strong>mer noch nicht wahrgenommen werden.<br />
In den letzten fünf Monaten der pränatalen Entwicklung<br />
beschleunigt sich das Wachstum der unteren Körperpartien<br />
(. Abb. 2.6). Die Bewegungen des Fetus verstärken sich dramatisch;<br />
der Brustkorb hebt <strong>und</strong> senkt sich be<strong>im</strong> Atmen, <strong>und</strong> einige<br />
Reflexe sind vorhanden: greifen, schlucken, saugen. Den kräftigen<br />
Tritt des 16 Wochen alten Fetus wird die Mutter spüren, aber<br />
nur als ein sanftes „Flattern“. Ein anderer Kamerawinkel würde<br />
zeigen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, denn zu diesem<br />
Zeitpunkt sind die äußeren Genitalien weitgehend entwickelt.<br />
Mit 18 Wochen saugt der Fetus zuweilen an seinem Daumen;<br />
wenn die Hand zufällig den M<strong>und</strong> streift, kann der Fetus mit<br />
einem Saugreflex reagieren. Er ist jetzt mit einer feinen Behaarung<br />
bedeckt, <strong>und</strong> eine fettige Schicht schützt seine Haut vor<br />
dem langen Aufenthalt in Flüssigkeit. In der 20. Woche liegt der<br />
..<br />
Abb. 2.7 Ein 20 Wochen alter Fetus. (© Lennart Nilsson/TT)<br />
Fetus <strong>im</strong>mer längere Zeit mit dem Kopf nach unten. Jetzt sind<br />
einzelne Komponenten des Gesichtsausdrucks vorhanden – der<br />
Fetus kann die Augenbrauen hochziehen, die Stirn runzeln <strong>und</strong><br />
den M<strong>und</strong> bewegen (. Abb. 2.7).<br />
Mit der 28. Woche sind Gehirn <strong>und</strong> Lungen so weit entwickelt,<br />
dass der Fetus, falls er jetzt geboren würde, auch ohne<br />
medizinische Eingriffe eine Überlebenschance besäße. Die Augen<br />
können sich öffnen, <strong>und</strong> sie bewegen sich, insbesondere in<br />
den REM-Schlaf-Phasen (die von schnellen Augenbewegungen<br />
gekennzeichnet sind; REM ist die Abkürzung für rapid eye movement).<br />
Das Hörsystem funktioniert bereits, der Fetus hört Geräusche<br />
<strong>und</strong> reagiert auf viele von ihnen. Die Gehirnwellen eines<br />
Fetus ähneln in diesem Stadium stark denen eines Neugeborenen.<br />
In den letzten drei Monaten der pränatalen Entwicklung<br />
wächst der Fetus dramatisch <strong>und</strong> verdreifacht sein Gewicht. Das<br />
typische Ergebnis dieser neunmonatigen Phase der schnellen<br />
<strong>und</strong> bemerkenswerten Entwicklung ist ein ges<strong>und</strong>er Säugling.<br />
Das Verhalten des Fetus<br />
Wir haben schon erwähnt, dass der Fetus selbst aktiv zur Entwicklung<br />
seines Körpers <strong>und</strong> Verhaltens beiträgt. Tatsächlich<br />
hängt die normale Ausbildung von Organen <strong>und</strong> Muskeln von<br />
fetaler Aktivität ab, <strong>und</strong> der Fetus übt <strong>und</strong> erprobt das Verhaltensrepertoire,<br />
das er bei der Geburt benötigen wird.<br />
Bewegung<br />
Jede Mutter weiß, dass ihr Baby in der Gebärmutter bereits aktiv<br />
war, aber nur wenige sind sich darüber <strong>im</strong> Klaren, wie früh<br />
ihr Kind anfing, sich zu bewegen. Ab der fünften oder sechsten<br />
Woche nach der Befruchtung zeigt der Organismus in seiner Entwicklung<br />
spontane Bewegungen, angefangen mit dem einfachen<br />
Beugen von Kopf <strong>und</strong> Rückgrat, gefolgt von einer Vielzahl zunehmend<br />
komplizierter Bewegungen, die über die nächsten Wo-
Pränatale Entwicklung<br />
47 2<br />
chen hinweg einsetzen (de Vries et al. 1982). Eines der frühesten<br />
klar erkennbaren Verhaltensmuster, das mit etwa sieben Wochen<br />
entsteht, ist – bemerkenswerterweise – der Schluckauf. Warum?<br />
Die Gründe sind zwar bislang unbekannt, aber eine neue Theorie<br />
besagt, dass es sich <strong>im</strong> Wesentlichen um einen Aufstoßreflex handeln<br />
könnte, der den Fetus später befähigt, Luft aus dem Magen<br />
hochzustoßen, was be<strong>im</strong> Saugen nach der Geburt mehr Platz für<br />
die Milch schafft (Howes 2012).<br />
Weiterhin bewegt der Fetus Arme <strong>und</strong> Beine, wackelt mit<br />
den Fingern, umgreift die Nabelschnur, bewegt Kopf <strong>und</strong> Augen,<br />
gähnt, saugt <strong>und</strong> tut anderes mehr. Der Fetus kann seine Lage<br />
in der Gebärmutter durch eine Art von „Rolle rückwärts“ auch<br />
vollständig ändern. Diese vielgestaltigen Bewegungen sind am<br />
Anfang ruckartig <strong>und</strong> unkoordiniert, werden mit der Zeit aber<br />
<strong>im</strong>mer geschmeidiger. In der zwölften Woche sind die meisten<br />
der Bewegungen, die bei der Geburt zu beobachten sind, bereits<br />
aufgetreten (de Vries et al. 1982); die Mutter merkt davon allerdings<br />
noch nichts.<br />
Später dann, wenn die Mütter die Bewegungen ihres Fetus<br />
leicht erspüren können, lassen ihre Berichte erkennen, dass das<br />
Aktivitätsniveau – das Ausmaß, in dem sich ein Fetus bewegt –<br />
über die Zeit hinweg ziemlich gleich bleibt: Manche Feten sind<br />
typischerweise sehr aktiv, während andere eher bewegungsfaul<br />
erscheinen (Eaton <strong>und</strong> Saudino 1992). Vom pränatalen zum<br />
postnatalen Verhalten zeigt sich eine Kontinuität dieser individuellen<br />
Unterschiede: Aktivere Feten sind später auch aktivere<br />
Kleinkinder (DiPietro et al. 1998). Und Feten mit regelmäßigen<br />
Schlaf-Wach-Rhythmen haben als Neugeborene mit ziemlicher<br />
Wahrscheinlichkeit ähnlich regelmäßige Schlafenszeiten (DiPietro<br />
et al. 2002a).<br />
trägt der Durchlauf des Fruchtwassers durch Magen <strong>und</strong> Darm<br />
zur Reifung des Verdauungssystems bei. Das Verschlucken von<br />
Fruchtwasser bereitet den Fetus also auf das Überleben außerhalb<br />
des Mutterleibes vor.<br />
Eine weitere Form fetaler Bewegungen kann als Vorbereitung<br />
auf die Tatsache gesehen werden, dass das Kind bei<br />
der Geburt nur einen Moment Zeit hat, um mit dem Atmen<br />
zu beginnen. Damit das gelingt, müssen die Lungen <strong>und</strong> der<br />
Rest des Atmungssystems, einschließlich der Muskeln, die das<br />
Zwerchfell auf <strong>und</strong> ab bewegen, ausgereift <strong>und</strong> funktionsbereit<br />
sein. Schon von der zehnten Woche an trainiert der Fetus die<br />
Lungen durch „fetales Atmen“ <strong>und</strong> bewegt den Brustkorb auf<br />
<strong>und</strong> ab (Nathanielsz 1994). Natürlich atmet der Fetus keine<br />
Luft ein; vielmehr werden kleine Mengen an Fruchtwasser in<br />
die Lungen eingesogen <strong>und</strong> wieder ausgestoßen. Anders als bei<br />
der nachgeburtlichen Atmung, die permanent erfolgen muss,<br />
tritt das fetale Atmen anfangs nur vereinzelt <strong>und</strong> unregelmäßig<br />
auf, wird allmählich aber <strong>im</strong>mer häufiger <strong>und</strong> stabilisiert sich,<br />
besonders <strong>im</strong> letzten Schwangerschaftsdrittel (Govindan et al.<br />
2007).<br />
Verhaltenszyklen<br />
Wenn sich der Fetus mit fünf, sechs Wochen zu bewegen anfängt,<br />
bleibt er etwa einen Monat lang nahezu ständig in Bewegung.<br />
Dann treten nach <strong>und</strong> nach auch inaktive Phasen auf.<br />
Zyklen von Ruhepausen <strong>und</strong> Aktivität – Salven hoher Aktivität,<br />
die sich mit minutenlangen Phasen geringer oder völlig ausbleibender<br />
Aktivität abwechseln – treten schon mit zehn Wochen<br />
auf <strong>und</strong> werden in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft sehr<br />
beständig (Robertson 1990). In der zweiten Hälfte der pränatalen<br />
Zeit bewegt sich der Fetus nur in etwa 10–30 % der Zeit<br />
(DiPietro et al. 1998).<br />
Es werden auch Verhaltensmuster sichtbar, die sich über längere<br />
Zeitabschnitte erstrecken, wie tägliche (zirkadiane) Rhythmen,<br />
bei denen der Fetus am frühen Morgen weniger aktiv <strong>und</strong><br />
am späteren Abend wieder aktiver ist (Arduini et al. 1995). Das<br />
bestätigt den Eindruck schwangerer Frauen, dass ihr Fetus gerade<br />
dann aufwacht <strong>und</strong> seine Turnübungen beginnt, wenn sie selbst<br />
schlafen gehen wollen.<br />
Zum Ende der Schwangerschaft hin verbringt der Fetus mehr<br />
als drei Viertel seiner Zeit in ruhigen <strong>und</strong> aktiven Schlafzuständen,<br />
die denen von Neugeborenen gleichen (James et al. 1995).<br />
Der aktive Schlafzustand ist durch schnelle Augenbewegungen<br />
(REM) gekennzeichnet, wie dies auch bei Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen<br />
der Fall ist.<br />
..<br />
Mit Ultraschall untersucht die Entwicklungspsychologin Janet DiPietro<br />
die Bewegungen des Fetus dieser Frau. (© Janet Dipietro; mit fre<strong>und</strong>licher<br />
Genehmigung)<br />
Eine besonders wichtige Form der fetalen Bewegung ist das<br />
Schlucken. Der Fetus trinkt Fruchtwasser, das seinen Magen-<br />
Darm-Trakt durchläuft. Der größte Teil der Flüssigkeit wird dann<br />
wieder in die Fruchtblase ausgeschieden. Ein Vorteil dieser Tätigkeit<br />
besteht darin, dass die Zungenbewegungen, die mit dem<br />
Trinken <strong>und</strong> Schlucken einhergehen, die normale Entwicklung<br />
des Gaumens fördern (Walker <strong>und</strong> Quarles 1976). Zusätzlich<br />
Das Erleben des Fetus<br />
Es gibt die populäre – von allen, vom Gelehrten bis zum Karikaturisten,<br />
für zutreffend gehaltene – Vorstellung, dass wir uns<br />
unser Leben lang nach den friedvollen Tagen <strong>im</strong> Leib unserer<br />
Mutter zurücksehnen. Aber ist der Mutterleib tatsächlich ein Hafen<br />
der Ruhe <strong>und</strong> des Friedens? Der Uterus <strong>und</strong> das Fruchtwasser<br />
schirmen zwar viel von den Reizen, die auf die Mutter einwirken,<br />
vom Fetus ab; doch hat die Forschung deutlich werden lassen,<br />
dass der Fetus eine Fülle an St<strong>im</strong>ulation erfährt.
48<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
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Sicht <strong>und</strong> Berührung<br />
Obwohl es <strong>im</strong> Mutterleib nicht vollständig dunkel ist, sind die<br />
visuellen Erfahrungen des Fetus vermutlich vernachlässigbar. Als<br />
Folge seiner eigenen Aktivität erfährt der Fetus jedoch taktile<br />
St<strong>im</strong>ulation. Bei seinen Bewegungsvorgängen kommt die Hand<br />
des Fetus mit anderen Teilen seines Körpers in Kontakt; man<br />
hat beobachtet, dass Feten ihre Nabelschnur umfassen, ihr Gesicht<br />
reiben <strong>und</strong> am Daumen lutschen. Tatsächlich führt über die<br />
Hälfte aller Armbewegungen von 19 bis 35 Wochen alten Feten<br />
zu einer Berührung von Hand <strong>und</strong> M<strong>und</strong> (Myowa-Yamakoshi<br />
<strong>und</strong> Takeshita 2006). Mit zunehmendem Größenwachstum stößt<br />
der Fetus <strong>im</strong>mer häufiger gegen die Gebärmutterwand. Und am<br />
Ende der Schwangerschaft antwortet der Fetus auf die mütterlichen<br />
Bewegungen (indem er sich mehrfach wiegt <strong>und</strong> schaukelt);<br />
das lässt vermuten, dass auch das vestibuläre System – der<br />
Gleichgewichtsapparat <strong>im</strong> Innenohr, der Informationen zur Bewegung<br />
<strong>und</strong> Lage des eigenen Körpers rückmeldet – bereits vor<br />
der Geburt funktioniert (Lecanuet <strong>und</strong> Jacquet 2002).<br />
Geschmack<br />
Das Fruchtwasser, das der Fetus schluckt, enthält eine Vielzahl von<br />
Geschmacksstoffen (Maurer <strong>und</strong> Maurer 1988). Der Fetus kann<br />
diese Stoffe schmecken <strong>und</strong> mag die einen mehr als die anderen.<br />
Und in der Tat ist der Fetus ein süßes Leckermaul. Die ersten Belege<br />
für Geschmackspräferenzen von Feten stammen aus einer medizinischen<br />
Untersuchung von vor über 60 Jahren (beschrieben bei<br />
Gandelman 1992). Ein Arzt namens DeSnoo dachte sich eine raffinierte<br />
Behandlung für Frauen mit übermäßiger Fruchtwasserbildung<br />
aus. Er injizierte eine süß schmeckende Substanz (Saccharin)<br />
in ihr Fruchtwasser, in der Hoffnung, der Fetus werde der Mutter<br />
aushelfen, indem er erhöhte Mengen an gesüßtem Fruchtwasser<br />
aufn<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> den Überschuss dadurch verringert. Tatsächlich<br />
ergaben Urintests bei den Müttern Hinweise darauf, dass die Feten<br />
mehr Fruchtwasser getrunken hatten, wenn es gesüßt worden<br />
war. Das lässt darauf schließen, dass Geschmacksempfinden <strong>und</strong><br />
Geschmackspräferenzen schon vor der Geburt vorhanden sind.<br />
Geruch<br />
Fruchtwasser n<strong>im</strong>mt auch die Gerüche dessen an, was die Mutter<br />
gegessen hat (Mennella et al. 1995). Das bestätigt, was Geburtshelfer<br />
<strong>im</strong>mer schon berichtet hatten: dass sie bei der Geburt Gerüche<br />
wie Curry oder Kaffee <strong>im</strong> Fruchtwasser wahrnehmen konnten,<br />
wenn die Mütter diese Stoffe kurz zuvor zu sich genommen hatten.<br />
Das menschliche Fruchtwasser hat sich als reich an Geruchsstoffen<br />
erwiesen (wenngleich viele davon nicht sehr anziehend klingen<br />
– manche werden als stechend ranzig oder ziegenartig oder „mit<br />
stark fäkaler Note“ beschrieben; Schaal et al. 1995). Geruch kann<br />
auch durch Flüssigkeiten vermittelt werden, <strong>und</strong> durch die fetale<br />
Atmung kommt das Fruchtwasser mit den Geruchsrezeptoren des<br />
Fetus in Kontakt. Tatsächlich haben wir bereits in ▶ Exkurs 2.3 diskutiert,<br />
wie sich neugeborene Ratten durch den Fruchtwassergeruch<br />
an den mütterlichen Brustwarzen be<strong>im</strong> Saugen leiten lassen.<br />
Hören<br />
Stellen Sie sich seriöse Wissenschaftler vor, die sich über den gewölbten<br />
Unterleib einer schwangeren Frau beugen <strong>und</strong> mit einer<br />
Glocke läuten, einen Gong ertönen lassen, Holzklötze gegeneinander<br />
schlagen oder gar eine Autohupe betätigen (erinnern Sie<br />
sich an den Anfang dieses Kapitels?) – all dies, um festzustellen,<br />
ob der Fetus auf auditive Reize reagiert. Solche Forschungen haben<br />
gezeigt, dass zu den Außengeräuschen, die in der Gebärmutter<br />
hörbar sind, die St<strong>im</strong>men der Menschen gehören, die mit der<br />
Frau sprechen. Dazu umfasst die pränatale Umgebung auch viele<br />
Geräusche, die <strong>im</strong> Inneren der Mutter entstehen – ihr Herzschlag,<br />
ihr Blut, wie es durch die Gefäße gepumpt wird, ihre Atmung, ihr<br />
Schlucken <strong>und</strong> verschiedene weniger schickliche Geräusche, die<br />
ihr Verdauungssystem erzeugt. Ein besonders auffälliger akustischer<br />
Reiz ist der Tonfall der Mutter, wenn sie spricht, wobei die<br />
deutlichsten Aspekte der allgemeine Sprechrhythmus, die St<strong>im</strong>mlage<br />
<strong>und</strong> die Sprachmelodie sowie das Betonungsmuster sind.<br />
Der Fetus reagiert auf diese vielfältigen Geräusche spätestens<br />
ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat. Während des letzten<br />
pränatalen Vierteljahres rufen Außengeräusche Veränderungen<br />
in den Bewegungen <strong>und</strong> der Pulsfrequenz des Fetus hervor (Kisilevsky<br />
et al. 1998; Lecanuet et al. 1995; Z<strong>im</strong>mer et al. 1993).<br />
Wenn der Geburtstermin bevorsteht, kann man Unterschiede <strong>im</strong><br />
Pulsschlag des Fetus beobachten, wenn in der Nähe des Mutterleibes<br />
entweder Musik oder die St<strong>im</strong>me der Mutter dargeboten<br />
wird; diese Veränderungen lassen vermuten, dass der Fetus zwischen<br />
beidem unterscheiden kann (Granier-Deferre et al. 2011).<br />
Außerdem verlangsamt sich die Herzrate des Fetus kurzzeitig,<br />
wenn die Mutter zu sprechen beginnt (Fifer <strong>und</strong> Moon 1995).<br />
(Ein vorübergehend verlangsamter Pulsschlag ist ein Zeichen<br />
von Interesse.) Die ausgiebige pränatale akustische Erfahrung<br />
mit den menschlichen St<strong>im</strong>men hat dauerhafte Wirkungen, die<br />
<strong>im</strong> nächsten Abschnitt diskutiert werden.<br />
Das Lernen des Fetus<br />
Bisher haben wir die vor allem die eindrucksvollen Fähigkeiten des<br />
Fetus in den Bereichen Wahrnehmung <strong>und</strong> Verhalten hervorgehoben.<br />
Noch beeindruckender ist aber das Ausmaß, in dem der<br />
Fetus aus seinen vielfältigen Erfahrungen während der letzten drei<br />
Schwangerschaftsmonate lernt, nachdem das zentrale Nervensystem<br />
ausreichend entwickelt ist, um Lernprozesse zu unterstützen.<br />
Direkte Belege hierfür stammen aus Untersuchungen zur Habituation,<br />
einer der einfachsten Lernformen, die wir kennen (Thompson<br />
<strong>und</strong> Spencer 1966). Habituation zeigt sich an nachlassenden<br />
Reaktionen auf einen wiederholt dargebotenen oder längere Zeit<br />
andauernden Reiz (. Abb. 2.8). Wenn man neben dem Kopf eines<br />
Neugeborenen eine Rassel schüttelt, wird das Baby seinen Kopf<br />
wahrscheinlich dem Geräusch zuwenden. Gleichzeitig kann sich<br />
die Pulsfrequenz des <strong>Kindes</strong> für kurze Zeit senken – ein Zeichen<br />
von Interesse. Wenn man die Rassel jedoch <strong>im</strong>mer wieder betätigt,<br />
wird die Anzahl der Kopfdrehungen seltener, <strong>und</strong> die Veränderungen<br />
der Pulsfrequenz werden geringer. Diese abnehmende<br />
Reaktion ist ein Beleg für Lernen <strong>und</strong> Gedächtnis; nur wenn sich<br />
das Kind über die einzelnen Präsentationen hinweg an den Reiz<br />
erinnert, kann dieser seinen Neuheitswert verlieren. Wenn dann<br />
tatsächlich ein neuartiger Reiz auftritt, steigt die Häufigkeit bzw.<br />
Intensität der zuvor habituierten Reaktionen wieder. So kann das<br />
Klingeln mit einer Glocke die Reaktionen des <strong>Kindes</strong> (Kopfdrehen,<br />
Absenken der Pulsfrequenz) erneut hervorrufen. (Entwick-
Pränatale Entwicklung<br />
49 2<br />
lungspsychologen haben das Phänomen der Habituation ausgiebig<br />
genutzt, um eine Vielzahl von Fragestellungen zu untersuchen;<br />
davon wird in den folgenden Kapiteln mehrmals die Rede sein.)<br />
Stark<br />
Habituation – Eine einfache Form des Lernens, die sich in einer Abnahme der<br />
Reaktion auf wiederholte oder andauernd dargebotene Reize zeigt.<br />
Der früheste Zeitpunkt, zu dem Habituationsreaktionen des Fetus<br />
bislang beobachtet wurden, ist die dritte Schwangerschaftswoche,<br />
was dafür spricht, dass das zentrale Nervensystem nun so<br />
weit entwickelt ist, dass Lernen <strong>und</strong> Kurzzeitgedächtnisleistungen<br />
auftreten können (Dirix et al. 2009).<br />
Die St<strong>im</strong>me der Mutter ist vermutlich für Feten ein besonders<br />
interessanter Reiz, dem sie <strong>im</strong>mer wieder ausgesetzt sind. Sofern<br />
sie vor der Geburt schon etwas über diese St<strong>im</strong>me lernen, könnte<br />
ihnen dies nach der Geburt zu einer Art fliegendem Start be<strong>im</strong><br />
Lernen anderer Aspekte der Sprache verhelfen. Um diese Vermutung<br />
zu testen, untersuchten Kisilevski <strong>und</strong> seine Koautoren (Kisilevski<br />
et al. 2003) Feten am Ende der Schwangerschaft unter zwei<br />
Bedingungen. Die Hälfte der Feten hörte über Lautsprecher, die<br />
auf dem Bauch ihrer Mutter platziert wurden, eine St<strong>im</strong>maufzeichnung,<br />
in der die Mutter ein Gedicht vortrug. Die andere Hälfte<br />
der Feten bekam dasselbe Gedicht zu hören, allerdings in einer<br />
Aufnahme der St<strong>im</strong>me einer anderen Mutter. Die Forscher stellten<br />
fest, dass die Feten auf die St<strong>im</strong>me der eigenen Mutter mit einer<br />
Zunahme der Herzrate reagierten, während sie bei der St<strong>im</strong>me der<br />
anderen Frau eine sinkende Herzrate aufwiesen. Dieser Bef<strong>und</strong><br />
lässt vermuten, dass die Feten die mütterliche St<strong>im</strong>me von einer<br />
fremden St<strong>im</strong>me unterscheiden konnten. Diese Unterscheidung<br />
setzt natürlich voraus, dass sie den Klang der mütterlichen St<strong>im</strong>me<br />
wiedererkennen konnten, also zuvor etwas darüber gelernt hatten.<br />
Erinnern sich Neugeborene an irgendwelche Erfahrungen<br />
aus ihrem Leben als Fötus? Die Antwort ist ein klares Ja. Wie die<br />
neugeborenen Ratten in ▶ Exkurs 2.3 erinnern sich menschliche<br />
Neugeborene an den Geruch des Fruchtwassers, von dem sie vor<br />
der Geburt umgeben waren. Bei einer Untersuchungsreihe wurden<br />
Neugeborenen zwei Wattebäusche dargeboten, die jeweils<br />
mit Fruchtwasser aus der eigenen Fruchtblase bzw. der Fruchtblase<br />
eines anderen Neugeborenen getränkt waren, gleichzeitig<br />
auf beiden Seiten des Kopfes präsentiert. Die Kinder zeigten ihre<br />
Geruchspräferenz dadurch, dass sie ihren Kopf länger dem Wattebausch<br />
zuwandten, der mit ihrer eigenen Fruchtwasserprobe<br />
getränkt war (Marlier et al. 1998; Varendi et al. 2002). Solche<br />
Ergebnisse lassen sich auch für weitere Aromen erzielen, die die<br />
Schwangeren vor der Geburt aufgenommen hatten. Beispielsweise<br />
zeigten Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft Anis<br />
(das Aroma von Lakritz) zu sich genommen hatten, eine Präferenz<br />
für Anis, während Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft<br />
kein Anis zu sich genommen hatten, auf dieses Aroma<br />
neutral oder mit Abwehr reagierten (Schaal et al. 2000).<br />
Pränatale Erfahrungen können auch lang anhaltende Geschmackspräferenzen<br />
hervorrufen. In einer Studie (Mennella<br />
et al. 2001) wurden schwangere Frauen gebeten, gegen Ende<br />
ihrer Schwangerschaft drei Wochen lang an vier Tagen pro Woche<br />
Karottensaft zu trinken. Als ihre Babys <strong>im</strong> Alter von etwa<br />
fünfeinhalb Monaten nach der Geburt getestet wurden, reagierten<br />
sie auf Haferflocken, die mit Karottensaft angerührt waren,<br />
Reaktion<br />
Schwach<br />
Habituation auf<br />
einen wiederholten<br />
Reiz<br />
Wiedereintreten der<br />
Reaktion bei einem<br />
neuartigen Reiz<br />
..<br />
Abb. 2.8 Habituation. Die verminderte Reaktion auf den wiederholt präsentierten<br />
St<strong>im</strong>ulus ist ein Beleg dafür, dass sich eine Erinnerung an ihn gebildet<br />
hat; die erhöhte Reaktion auf den neuartigen Reiz zeigt, dass zwischen<br />
diesem <strong>und</strong> dem vertrauten Reiz unterschieden werden kann. Neuartiges<br />
wird in der Regel bevorzugt<br />
positiver als auf denselben Brei, der mit Wasser zubereitet war.<br />
Die Geschmackspräferenzen dieser Säuglinge spiegelten also<br />
den Einfluss ihrer Erfahrungen <strong>im</strong> Mutterleib mehrere Monate<br />
zuvor wider. Dieser Bef<strong>und</strong> zeigt die anhaltende Wirkung pränatalen<br />
Lernens. Auch wirft er ein Licht auf die Ursprünge <strong>und</strong> die<br />
Durchsetzungskraft kultureller Nahrungspräferenzen. Ein Kind,<br />
dessen Mutter während der Schwangerschaft beispielsweise häufig<br />
scharfe Peperoni, Ingwer <strong>und</strong> Kümmel aß, könnte von Anfang<br />
an gegenüber asiatischen Speisen positiver eingestellt sein als ein<br />
Kind, dessen Mutter sich weniger geschmacksintensiv ernährte.<br />
Ähnlich wie bei Geruch <strong>und</strong> Geschmack erinnern sich Neugeborene<br />
auch an Klänge, die sie <strong>im</strong> Mutterleib gehört haben. In<br />
einer klassischen Untersuchung ließen Anthony DeCasper <strong>und</strong><br />
Melanie Spence (DeCasper <strong>und</strong> Spence 1986) Frauen während<br />
der letzten sechs Wochen ihrer Schwangerschaft zwe<strong>im</strong>al am Tag<br />
aus einem in den USA weit verbreiteten Kinderbuch vorlesen: The<br />
Cat in the Hat von Dr. Seuss (oder aus einem anderen Buch desselben<br />
Autors). Die Feten der Frauen waren also demselben sehr<br />
rhythmischen Muster sprachlicher Laute wiederholt ausgesetzt.<br />
Ob sie die bekannte Geschichte nach der Geburt wiedererkennen<br />
würden, testeten die Forscher an Neugeborenen. Die Säuglinge<br />
wurden mit Minikopfhörern ausgestattet <strong>und</strong> bekamen einen speziellen<br />
Schnuller zum Saugen (. Abb. 2.9). Wenn das Baby mit einer<br />
best<strong>im</strong>mten Frequenz saugte, hörte es über den Kopfhörer die<br />
bekannte Geschichte; saugte es in einer anderen Frequenz, bekam<br />
es eine andere Geschichte zu hören. Schnell passten die Babys ihr<br />
Saugmuster so an, dass sie die bekannte Geschichte hören konnten.<br />
Diese Neugeborenen schienen also diejenige Geschichte zu<br />
erkennen <strong>und</strong> zu bevorzugen, die ihre Mutter ihnen vorgelesen<br />
hatte, als sie sich noch <strong>im</strong> Bauch befanden.<br />
Neugeborene legen auf der Basis ihrer pränatalen Erfahrungen<br />
auch viele akustische Präferenzen an den Tag. Das beginnt<br />
schon damit, dass sie die St<strong>im</strong>me ihrer Mutter lieber hören als<br />
die St<strong>im</strong>me einer anderen Frau (DeCaspar <strong>und</strong> Fifer 1980). Aber<br />
woher wissen die Forscher, dass diese Präferenz nicht auf Erfah-
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Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
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Abb. 2.9 Pränatales Lernen. Dieses Neugeborene kann beeinflussen, was es<br />
hört. Sein Schnuller ist an einen Computer angeschlossen, der mit einem Abspielgerät<br />
verb<strong>und</strong>en ist. Wenn das Baby in einem best<strong>im</strong>mten Rhythmus saugt,<br />
dann hört es eine best<strong>im</strong>mte Aufnahme. Wenn es in einem anderen Rhythmus<br />
saugt, hört es eine andere Aufnahme. Mit diesem Verfahren wurden viele Fragen<br />
über frühkindliche Fähigkeiten, zum Beispiel über den Einfluss pränataler<br />
Erfahrung auf die Hörpräferenzen von Neugeborenen beantwortet. (© Melanie<br />
Spence, University of Texas at Dallas; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
rungen unmittelbar nach der Geburt beruht? Es stellte sich heraus,<br />
dass Neugeborene tatsächlich eine Spielart der St<strong>im</strong>me ihrer<br />
Mutter bevorzugen, die durch akustisches Filtern dem vertrauten<br />
Eindruck <strong>im</strong> Mutterleib angepasst worden war (Moon <strong>und</strong> Fifer<br />
1990; Spence <strong>und</strong> Freeman 1996). Außerdem hören Neugeborene<br />
lieber der Sprache zu, die sie <strong>im</strong> Mutterleib gehört hatten, als einer<br />
anderen Sprache (Mehler et al. 1988; Moon et al. 1993). Kinder<br />
französisch sprechender Mütter bevorzugen Französisch gegenüber<br />
Russisch, <strong>und</strong> diese Präsenz zeigt sich auch dann, wenn die<br />
St<strong>im</strong>me so gefiltert wird, dass sie ähnlich wie <strong>im</strong> Mutterleib klingt.<br />
Es bestehen also kaum Zweifel daran, dass der menschliche<br />
Fetus zuhört <strong>und</strong> lernt. Sollten sich die zukünftigen Eltern deshalb<br />
für Programme anmelden, die eine „Förderung des ungeborenen<br />
<strong>Kindes</strong>“ versprechen? Solche Programme halten die werdenden<br />
Mütter dazu an, mit ihrem Fetus zu sprechen, ihm Bücher vorzulesen,<br />
ihm Musik vorzuspielen <strong>und</strong> so weiter. Es gibt sogar den<br />
Vorschlag, der zukünftige Vater solle durch ein Megaphon sprechen,<br />
das er auf den schwangeren Bauch seiner Frau richtet, in der<br />
Hoffnung, dass das Baby auch seine St<strong>im</strong>me <strong>und</strong> nicht nur die der<br />
Mutter erkennt. Haben solche Übungen einen Sinn?<br />
Wahrscheinlich nicht. Es ist zwar durchaus möglich, dass das<br />
deutliche <strong>und</strong> häufige Hören von Vaters St<strong>im</strong>me ein Neugeborenes<br />
veranlasst, diese St<strong>im</strong>me gegenüber unbekannten St<strong>im</strong>men zu bevorzugen,<br />
doch entwickelt sich eine solche Präferenz kurz nach der<br />
Geburt wahrscheinlich ohnehin. Und es ist recht klar, dass einige<br />
der angepriesenen Vorteile des pränatalen Trainings nicht eintreten<br />
werden. Der Entwicklungsstand des Gehirns dürfte bei einem<br />
Fetus kaum ausreichen, um die Sprache <strong>und</strong> ihre Bedeutung in<br />
nennenswertem Umfang zu verarbeiten (selbst Neugeborene lernen<br />
noch keine Wörter). Zudem filtert die Flüssigkeit <strong>im</strong> Mutterleib<br />
die einzelnen Sprachdetails, sodass dort nur noch die Melodie<br />
der St<strong>im</strong>mhöhen <strong>und</strong> das rhythmische Muster ankommen. Selbst<br />
wenn man einmal von der Gehirnentwicklung absieht, dürfte es<br />
die akustische Umgebung, in der jegliche Sicht auf die visuelle Welt<br />
abgeschnitten ist, für den Fetus unmöglich machen, die Bedeutung<br />
von Wörtern mit irgendeiner Art von Faktenwissen zu verknüpfen,<br />
egal wie viel die werdende Mutter ihm auch laut vorlesen mag.<br />
Kurzum, der Fetus wird nur ihre St<strong>im</strong>me <strong>und</strong> das allgemeine Muster<br />
ihres Sprachflusses erkennen lernen – <strong>und</strong> nicht irgendeinen<br />
best<strong>im</strong>mten Bedeutungsgehalt. Wir vermuten, dass der modische<br />
Schrei nach „pränataler Früherziehung“ so enden wird wie andere<br />
wenig durchdachte Ansätze, die frühe Entwicklung zu gestalten.<br />
Risiken der pränatalen Entwicklung<br />
Bislang haben wir uns auf den normalen Entwicklungsverlauf vor<br />
der Geburt konzentriert. Unglücklicherweise verläuft die pränatale<br />
Entwicklung aber nicht <strong>im</strong>mer störungs- <strong>und</strong> fehlerfrei. Das<br />
schl<strong>im</strong>mste <strong>und</strong> zugleich mit Abstand das häufigste Problem ist der<br />
spontane Abort (eine Fehlgeburt). Die meisten spontanen Aborte<br />
treten ganz am Anfang der Schwangerschaft auf, bevor die Frau<br />
überhaupt merkt, dass sie schwanger ist. So fanden Wang et al.<br />
(2003) bei einer Gruppe chinesischer Frauen, dass etwa ein Drittel<br />
der Schwangerschaften mit einem für das Kind tödlichen Abort<br />
endete, wobei zwei Drittel dieser Fehlgeburten eintraten, bevor die<br />
Schwangerschaft klinisch nachweisbar war. Die sehr früh abgegangenen<br />
Embryos wiesen dabei schwerwiegende Missbildungen wie<br />
etwa ein fehlendes oder ein überzähliges Chromosom auf, die die<br />
Weiterentwicklung unmöglich machten. In den USA enden etwa<br />
15 % der klinisch nachgewiesenen Schwangerschaften mit Fehlgeburten<br />
(Rai <strong>und</strong> Regan 2006). Im geburtsfähigen Alter erleben mindestens<br />
25 %, wenn nicht sogar 50 % der Frauen einen oder mehr<br />
Aborte. Wenige Paare sind sich bewusst, wie häufig Fehlgeburten<br />
eintreten, was es <strong>im</strong> Einzelfall nur noch schwerer macht, wenn das<br />
Paar von einer Fehlgeburt betroffen ist. Besonders schl<strong>im</strong>m trifft es<br />
Paare, die bei mehreren aufeinanderfolgenden Schwangerschaften<br />
spontane Aborte erleben (ca. 1 %; Rai <strong>und</strong> Regan 2006).<br />
Die meisten Kinder, die der Gefahr einer Fehlgeburt entgehen,<br />
werden völlig normal geboren. Aber es gibt zahlreiche Faktoren,<br />
die zu unvorhergesehenen Komplikationen führen können.<br />
Genetische Faktoren – die besonders häufige Ursachen von Fehlentwicklungen<br />
darstellen – werden <strong>im</strong> nächsten Kapitel behandelt.<br />
Hier betrachten wir zuvor einige der Umwelteinflüsse, die<br />
sich schädigend auf die pränatale Entwicklung auswirken können.<br />
Umwelteinflüsse<br />
Im Frühjahr 1956 brachte man zwei Schwestern in ein japanisches<br />
Krankenhaus, die in ein Delirium gefallen waren <strong>und</strong> nicht
Pränatale Entwicklung<br />
51 2<br />
mehr laufen konnten. Ihre Eltern <strong>und</strong> die Ärzte rätselten, was den<br />
plötzlichen Verfall der Mädchen verursacht haben könnte, die<br />
zuvor als „die aufgewecktesten, dynamischsten, niedlichsten Kinder,<br />
die man sich nur vorstellen konnte“ galten. Das Ganze wurde<br />
noch mysteriöser, als weitere Kinder <strong>und</strong> Erwachsene annähernd<br />
dieselben Symptome entwickelten. Als man herausfand, dass alle<br />
diese schwerbehinderten Patienten aus dem kleinen Küstenort<br />
Minamata stammten, lag der Verdacht nahe, dass diese „fremdartige<br />
Krankheit“ eine gemeinsame Ursache hatte (Newland <strong>und</strong><br />
Rasmussen 2003; Smith <strong>und</strong> Smith 1975).<br />
..<br />
Opfer der „Minamata-Krankheit“, verursacht durch Quecksilberverseuchung<br />
der Minamata Bay. (© Michael S. Yamashita/Corbis)<br />
Sensible Phase – Eine Zeitspanne, in der ein sich entwickelnder Organismus<br />
besonders anfällig für die Wirkung von äußeren Einflüssen ist; in sensiblen Phasen<br />
reagiert der Fötus am empfindlichsten auf die schädigenden Wirkungen<br />
von Teratogenen.<br />
Für die Bedeutung des Entwicklungszeitpunktes gibt es keine<br />
drastischere oder deutlichere Illustration als den sogenannten<br />
Contergan-Skandal in den 1960er Jahren. Das Beruhigungs<strong>und</strong><br />
Schlafmittel enthielt den Wirkstoff Thalidomid <strong>und</strong> wurde<br />
häufig auch gegen Schwangerschaftserbrechen verschrieben,<br />
denn es galt als sicher <strong>und</strong> konnte sogar rezeptfrei in Apotheken<br />
gekauft werden. Man glaubte damals, dass solche Medikamente<br />
die Plazentaschranke nicht durchdringen könnten. Aber viele<br />
schwangere Frauen, die dieses neue, angeblich sichere Schlafmittel<br />
einnahmen, brachten Babys mit schweren Fehlbildungen<br />
der Gliedmaßen zur Welt. Manche Babys besaßen keine Arme<br />
<strong>und</strong> hatten flossenartige Hände, die direkt aus ihren Schultern<br />
wuchsen. Diese schweren Defekte verdeutlichen auf drastische<br />
Wiese die sensible Phase der Entwicklung von Gliedmaßen,<br />
weil sie nur dann auftraten, wenn die schwangere Frau das Medikament<br />
zwischen der vierten <strong>und</strong> sechsten Woche nach der<br />
Befruchtung eingenommen hatte; das ist die Zeit, in der sich<br />
die Arme <strong>und</strong> Beine, Hände <strong>und</strong> Füße des Fetus herausbilden.<br />
Die Einnahme von Thalidomid hatte jedoch keine schädlichen<br />
Folgen, wenn sie vor Entwicklungsbeginn der Arme <strong>und</strong> Beine<br />
oder nach der Ausbildung der jeweiligen Gr<strong>und</strong>strukturen erfolgt<br />
war.<br />
Die Spur führte schließlich zu Tonnen voller Quecksilber, die eine<br />
örtliche petrochemische <strong>und</strong> Kunststofffabrik in der Minamata-<br />
Bay versenkt hatte. Jahrelang hatten die Einwohner von Minamata<br />
aus dem verschmutzten Wasser der Bucht Fische gefangen, die<br />
Quecksilber in sich aufgenommen hatten, <strong>und</strong> diese verzehrt. Bis<br />
zum Jahr 1993 diagnostizierte man bei über 2000 Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen<br />
die „Minamata-Krankheit“ – eine Methylquecksilbervergiftung<br />
(Harada 1995). Mindestens 40 Kinder waren pränatal<br />
durch den Fisch vergiftet, den ihre schwangeren Mütter verzehrt<br />
hatten, <strong>und</strong> kamen mit Gehirnlähmung, geistiger Behinderung<br />
<strong>und</strong> einer Reihe weiterer neurologischer Störungen zur Welt.<br />
Die Tragödie von Minamata lieferte erste eindeutige Belege<br />
für stark schädigende Wirkung best<strong>im</strong>mter Umweltsubstanzen<br />
auf den sich entwickelnden Fetus. Ein riesiges Aufgebot an<br />
schädlichen Umweltstoffen, Teratogene genannt, können pränatale<br />
Schäden verursachen, die von relativ harmlosen <strong>und</strong> leicht<br />
behebbaren Problemen bis hin zum Tod reichen.<br />
Teratogen – Ein externer Wirkstoff, der während der pränatalen Entwicklung<br />
zu Schädigungen <strong>und</strong> zum Tode führen kann.<br />
Ein entscheidender Faktor für die Schwere der Auswirkungen<br />
potenzieller Teratogene ist der Zeitpunkt ihres Einwirkens, das<br />
sogenannte T<strong>im</strong>ing (eines der gr<strong>und</strong>legenden Entwicklungsprinzipien,<br />
die wir in ▶ Kap. 1 erläutert haben). Viele Teratogene verursachen<br />
nur dann Schädigungen, wenn sie während einer sensiblen<br />
Phase der pränatalen Entwicklung auftreten. Die größeren<br />
Organsysteme sind zu dem Zeitpunkt, zu dem seine Gr<strong>und</strong>strukturen<br />
gebildet werden, besonders störanfällig (. Abb. 2.10).<br />
..<br />
Dieser junge Künstler wurde schon <strong>im</strong> Mutterleib geschädigt: Seine Mutter<br />
nahm das Medikament Contergan. Sie muss den Wirkstoff in der zweiten<br />
Schwangerschaftswoche eingenommen haben, der Zeit, in der sich die Armknospen<br />
entwickeln – ein tragisches Beispiel, das deutlich zeigt, wie bedeutsam<br />
der Einwirkzeitpunkt von Umweltfaktoren auf den sich entwickelnden<br />
Fetus ist. (© Paul Fieves/Bips/Getty Images)<br />
In . Abb. 2.10 kann man erkennen, dass die sensible Phase – <strong>und</strong><br />
damit die Zeit, in der das, was die Mutter tut oder erlebt, die<br />
stärkste teratogene Schädigung hervorrufen kann – bei vielen<br />
Organsystemen vor dem Zeitpunkt liegt, an dem die Frau die
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Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
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Abb. 2.10 Sensible Phasen während der pränatalen Entwicklung. Die sensibelste <strong>und</strong> damit kritischste Phase in der pränatalen Entwicklung ist die Embryonalphase.<br />
In den ersten zwei Wochen, vor der Einnistung in der Gebärmutter, reagiert die Zygote <strong>im</strong> Allgemeinen nicht anfällig auf Umweltfaktoren. Zwischen<br />
der dritten <strong>und</strong> dem Ende der achten Woche entwickeln sich alle großen Organsysteme des Körpers. In der Abbildung bezeichnen die dunkelgrünen Teile der<br />
Streifen die Zeiten der schnellsten Entwicklung, in denen die gravierendsten Defekte ihren Ursprung haben. Die hellgrünen Teile bezeichnen Phasen fortlaufender,<br />
aber langsamerer Weiterentwicklung, in denen mildere Defekte eintreten können. (Nach Moore <strong>und</strong> Persaud 1993)<br />
Schwangerschaft überhaupt bemerkt. Dies ist besonders deshalb<br />
problematisch, weil ein beträchtlicher Anteil aller Schwangerschaften<br />
ungeplant entsteht. Sexuell aktive Menschen <strong>im</strong> gebärfähigen<br />
Alter müssen sich also über die Folgen von Verhaltensweisen klar<br />
sein, mit denen sie die Ges<strong>und</strong>heit eines eventuell empfangenen<br />
<strong>Kindes</strong> beeinträchtigen könnten (z. B. Alkoholkonsum).<br />
Ein weiterer entscheidender Faktor, der die Schwere teratogener<br />
Wirkungen beeinflusst, sind das Ausmaß <strong>und</strong> die Dauer der<br />
Einwirkung – die Dosis-Reaktions-Beziehung. Bei den meisten<br />
Teratogenen hängt die Reaktion von der Dosis ab: Je mehr der<br />
Fetus einem potenziell schädigenden Einfluss ausgesetzt ist, desto<br />
wahrscheinlicher wird ein Defekt eintreten <strong>und</strong> desto schwerwiegender<br />
wird er wahrscheinlich ausfallen.<br />
Dosis-Reaktions-Beziehung – In dem Ausmaß, in dem ein Organismus einem<br />
Wirkfaktor ausgesetzt ist, verstärkt sich dessen Wirkung; in der pränatalen Entwicklung<br />
dürften die Wirkungen umso schwerwiegender sein, je länger <strong>und</strong><br />
stärker der Fetus einem potenziellen Teratogen ausgesetzt ist.<br />
Oft ist es schwierig, Umwelteinflüsse zu vermeiden, die teratogene<br />
Wirkungen haben, weil sich die Teratogene nicht unmittelbar<br />
identifizieren lassen. Ein Gr<strong>und</strong> dafür besteht darin, dass<br />
sie oft in Kombination auftreten, was eine Separierung ihrer<br />
Wirkungen erschwert. Zum Beispiel ist es bei Familien in städtischen<br />
Armutsvierteln schwierig, die Einflüsse von schlechter<br />
Ernährung der werdenden Mutter, Schwermetallen in der Luft,<br />
unzureichender pränataler Vorsorge <strong>und</strong> psychischem Stress<br />
infolge von Arbeitslosigkeit, Partnerlosigkeit <strong>und</strong> kr<strong>im</strong>inellem<br />
Wohnumfeld voneinander zu trennen.<br />
Hinzu kommt, dass das Auftreten mehrerer Faktoren einen<br />
kumulativen Effekt haben kann. Ein best<strong>im</strong>mter Schädigungsfaktor<br />
kann für sich genommen wenig erkennbare Wirkung, in<br />
Kombination mit anderen schädigenden Einflüssen aber doch<br />
Konsequenzen haben. So kann Mangelernährung während der<br />
Schwangerschaft dazu führen, dass sich der Stoffwechsel des Fetus<br />
auf den Mangel an Nährstoffen anpasst <strong>und</strong> sich nach der Geburt<br />
nicht auf eine veränderte Ernährungslage einstellt. Wenn die postnatale<br />
Umgebung reichlich Gelegenheit zur Kalorienaufnahme<br />
bietet, ist der Weg zu Übergewicht <strong>und</strong> Fettleibigkeit vorgezeichnet.<br />
Bei solchen späten Nachwirkungen der pränatalen Erfahrung<br />
spricht man von fetaler Programmierung, weil die Erfahrungen in<br />
der pränatalen Zeit „die physiologischen Eckdaten programmie-
Pränatale Entwicklung<br />
53 2<br />
ren, die den Körper <strong>im</strong> Erwachsenenalter regulieren“ (Coe <strong>und</strong><br />
Lubach 2008).<br />
Die Wirkungen von Teratogenen können auch aufgr<strong>und</strong> individueller<br />
Unterschiede in der genetischen Anfälligkeit (wahrscheinlich<br />
sowohl des Fetus als auch der Mutter) variieren. So<br />
kann eine Substanz, die für die meisten Menschen harmlos ist,<br />
bei einer Minderheit, die eine genetische Empfindlichkeit für<br />
diese Substanz aufweist, Probleme auslösen.<br />
Schließlich wird die Identifikation von Teratogenen auch<br />
durch den schleichenden Verlauf erschwert, wenn die Wirkung<br />
eines Schädigungsfaktors jahrelang nicht sichtbar ist.<br />
Beispielsweise wurde das Hormon Diäthylstilböstrol (DES) in<br />
den 1940er bis 1960er Jahren häufig verschrieben, um Fehlgeburten<br />
zu verhindern – ohne erkennbare Krankheitseffekte bei<br />
den Babys, deren Mütter es eingenommen hatten. Allerdings<br />
wiesen diese Kinder später <strong>im</strong> Jugend- <strong>und</strong> Erwachsenenalter<br />
auffällig hohe Inzidenzraten bei Gebärmutterhalskrebs bzw.<br />
Hodenkrebs auf.<br />
Inzwischen wurde eine enorme Vielzahl potenzieller Teratogene<br />
identifiziert. Hierzu gehören:<br />
-<br />
Drogen <strong>und</strong> Medikamente, z. B. Alkohol, Isotretinoin, Antibabypille<br />
(Sexualhormone), Kokain, Heroin, Marihuana,<br />
Methadon, Tabak,<br />
Umweltgifte, z. B. Blei, Quecksilber, PCBs (polychlorierte<br />
-<br />
Biphenyle),<br />
Krankheiten der Mutter, z. B. AIDS, Windpocken, Chlamydien,<br />
Zytomegalievirus, Gonorrhoe (Tripper), Herpes<br />
s<strong>im</strong>plex (auch genital), Grippe, Mumps, Röteln, Syphilis,<br />
Toxoplasmose.<br />
Schwangerschaftstest machen <strong>und</strong> sichere Verhütungsmittel anwenden.<br />
Die zwei legalen Drogen, die den mit Abstand verheerendsten<br />
Schaden für die Entwicklung von Feten verursachen, sind<br />
Zigaretten (Nikotin) <strong>und</strong> Alkohol.<br />
zz<br />
Nikotin<br />
Wir wissen alle, dass Rauchen für den Konsumenten unges<strong>und</strong><br />
ist, <strong>und</strong> es gibt eine Fülle an Belegen dafür, dass es für den Fetus<br />
einer Raucherin ebenfalls schlecht ist. Wenn eine Schwangere<br />
eine Zigarette raucht, bekommt sie weniger Sauerstoff, <strong>und</strong> das<br />
Gleiche gilt für ihren Fetus. Ein Zeichen dafür besteht darin,<br />
dass der Fetus weniger Atembewegungen macht, nachdem sich<br />
die Mutter eine Zigarette angezündet hat. Außerdem gehen einige<br />
der krebserregenden Stoffe, die <strong>im</strong> Tabak enthalten sind, in<br />
den Stoffwechsel des Fetus über. Und weil die werdende Mutter<br />
den Rauch auch dann inhaliert, wenn jemand anders – beispielsweise<br />
der Vater – in der Nähe raucht, kann sich passives Rauchen<br />
indirekt auf die Sauerstoffversorgung des Fetus auswirken.<br />
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass diese Aufzählung gefährlicher<br />
Stoffe nicht umfassend ist, denn es gibt viele weitere Faktoren in<br />
der Umwelt, die sich negativ auf die Entwicklung eines Fetus oder<br />
auf ein Kind <strong>im</strong> Prozess seiner Geburt auswirken können!<br />
Wir wollen uns hier nur auf einige der häufigsten Faktoren<br />
konzentrieren <strong>und</strong> dabei insbesondere auf jene abheben, die mit<br />
dem Verhalten der schwangeren Frau zu tun haben.<br />
Legale Drogen<br />
zz<br />
Medikamente<br />
Zwar können die meisten verschriebenen <strong>und</strong> rezeptfreien Medikamente<br />
von schwangeren Frauen risikolos eingenommen werden<br />
– aber eben nicht alle. Schwangere Frauen (<strong>und</strong> Frauen, die<br />
Gr<strong>und</strong> zu der Annahme haben, dass sie jetzt oder bald schwanger<br />
werden könnten) sollten Medikamente nur unter ärztlicher Aufsicht<br />
einnehmen. Das gilt besonders für Ges<strong>und</strong>heitsnotstände<br />
wie bei der 2009 durch das Virus H1N1 ausgelösten Schweinegrippe,<br />
bei der viele Ärzte sich fragten, ob eine Behandlung mit<br />
den üblichen Grippevakzinen oder dem Schmerzmittel Paracetamol<br />
bei Schwangeren angemessen sei (Rasmussen 2012). Andere<br />
verschreibungspflichtige Medikamente, die Frauen <strong>im</strong> gebärfähigen<br />
Alter häufig einnehmen, enthalten teratogene Wirkstoffe<br />
– wie beispielsweise das fruchtschädigende Isotretinoin in Aknemitteln<br />
(Accutane) –, die schwere Geburtsschäden oder sogar<br />
den Tod des Fetus verursachen können. Wegen des eindeutigen<br />
Zusammenhangs des Wirkstoffs mit Geburtsschäden fordern<br />
Ärzte, bevor sie das Mittel verschreiben, dass die Frauen einen<br />
..<br />
Eines ist klar: Diese Frau gefährdet die Ges<strong>und</strong>heit ihres Fetus. (© Jose<br />
Manuel Gelpi/fotolia.com)
54<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
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Exkurs 2.4: Anwendungen: Maßnahmen gegen den plötzlichen Kindstod | |<br />
Für Eltern gibt es nichts Entsetzlicheres als den<br />
Tod ihres <strong>Kindes</strong>. Menschen, die zum ersten<br />
Mal Eltern werden, jagt das Gespenst des<br />
plötzlichen Kindstods (sudden infant death<br />
syndrome, SIDS) besondere Angst ein. Mit<br />
diesem Begriff bezeichnet man den Tod eines<br />
noch nicht einjährigen <strong>Kindes</strong>, das scheinbar<br />
ohne erkennbare Ursache plötzlich stirbt. Ein<br />
typischer Verlauf wäre, dass ein scheinbar<br />
kernges<strong>und</strong>es Baby zwischen zwei <strong>und</strong> fünf<br />
Monaten für die Nacht in sein Bettchen gelegt<br />
<strong>und</strong> am Morgen tot aufgef<strong>und</strong>en wird. Obwohl<br />
der plötzliche Kindstod selten ist, sterben<br />
in den USA von 10.000 lebend geborenen<br />
Kindern <strong>im</strong> ersten Lebensjahr 56 – diese<br />
Mortalität bei Säuglingen unter einem Jahr<br />
ist höher als bei allen anderen Todesursachen<br />
zusammengenommen (Task Force on Sudden<br />
Infant Death Syndrome 2011). Bis in die<br />
1990er Jahre starben in Deutschland 1,8 von<br />
1000 Kindern am plötzlichen Kindstod, aber <strong>im</strong><br />
Jahr 2004 war die Rate bereits auf zirka 0,5 von<br />
1000 gesunken (Bajanowski <strong>und</strong> Poets 2004).<br />
Die Gründe für den plötzlichen Kindstod sind<br />
noch nicht völlig geklärt; Lewis Lipsitt (2003)<br />
vermutet, dass am plötzlichen Kindstod eine<br />
inadäquate Reflexantwort auf eine Verdeckung<br />
von M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Nase beteiligt sein könnte,<br />
genauer gesagt, die Unfähigkeit, etwas zu<br />
entfernen oder wegzuschieben, das die Luftzirkulation<br />
stört. Lipsitt ist der Ansicht, dass Säuglinge<br />
zwischen zwei <strong>und</strong> fünf Monaten vom<br />
plötzlichen Kindstod besonders bedroht sind,<br />
weil dies die Zeit ist, in der gelernte Verhaltensweisen,<br />
die von höheren Gehirnregionen<br />
(dem cerebralen Cortex) gesteuert werden,<br />
zunehmend die neonatalen Reflexe ersetzen,<br />
für die tiefer liegende Regionen <strong>im</strong> Stammhirn<br />
zuständig sind. Ein schwindender <strong>und</strong> desorganisierter<br />
Reflex könnte Kleinkinder in dieser<br />
Übergangsphase unfähiger machen, den Kopf<br />
von einem erstickenden Kissen wegzuwenden<br />
oder eine Decke vom Gesicht zu schieben.<br />
Bajanowski <strong>und</strong> Peots (2004) nennen für<br />
Deutschland das Schlafen in Bauchlage,<br />
Rauchen während der Schwangerschaft <strong>und</strong><br />
Stillverzicht als bekannte Risikofaktoren.<br />
Selten ereignet sich der plötzliche Kindstod <strong>im</strong><br />
ersten Lebensmonat. Die Hälfte aller Sterbefälle<br />
ist für die folgenden sechs Lebensmonate<br />
dokumentiert, wobei das Max<strong>im</strong>um zwischen<br />
dem zweiten <strong>und</strong> vierten Lebensmonat liegt.<br />
Jungen sind etwas häufiger betroffen als Mädchen<br />
(60:40). Die meisten Säuglinge sterben<br />
in den Wintermonaten. Der Tod tritt stets <strong>im</strong><br />
Schlaf <strong>und</strong> mit erhöhter Wahrscheinlichkeit in<br />
den frühen Morgenst<strong>und</strong>en ein. Ob das Kind<br />
<strong>im</strong> eigenen Bettchen liegt oder bei den Eltern<br />
schläft, spielt keine Rolle.<br />
Trotz der Ungewissheit über die Gründe des<br />
plötzlichen Kindstodes ergeben sich aus den<br />
Forschungsbef<strong>und</strong>en konkrete Maßnahmen,<br />
mit denen Eltern das Risiko ihrer Babys senken<br />
können. Die wichtigste lautet: Ein Baby soll<br />
be<strong>im</strong> Schlafen auf dem Rücken liegen. Das<br />
reduziert die Möglichkeit, dass etwas seine<br />
Atmung behindert. Die Forschungsergebnisse<br />
belegen, dass das Schlafen auf dem Bauch<br />
das Risiko eines plötzlichen Kindstodes mehr<br />
als jeder andere Einzelfaktor erhöht (z. B.<br />
Willinger 1995). Kampagnen, bei denen die<br />
Eltern aufgefordert wurden, ihre Kinder in Rückenlage<br />
schlafen zu lassen, haben zu einem<br />
enormen Rückgang der plötzlichen Kindstode<br />
beigetragen.<br />
..<br />
Auf dem Rücken schlafen. Die Eltern dieses<br />
Säuglings folgen dem guten Rat zur Vorbeugung<br />
gegen den plötzlichen Kindstod, was in<br />
Deutschland <strong>und</strong> den USA zu einer Halbierung<br />
des Auftretens solcher Fälle geführt hat. (Task<br />
Force on Sudden Infant Death Syndrome 2011;<br />
siehe auch die Website Gemeinsame Elterninitiative<br />
Plötzlicher Säuglingstod e. V.; www.sids.<br />
de) (© Adam Borkowski/fotolia.com)<br />
Eine weitere Maßnahme zur Verringerung<br />
des Risikos lautet: Eltern sollen nicht rauchen.<br />
Wenn sie schon rauchen, dann nicht <strong>im</strong><br />
Umfeld ihres Babys. Säuglinge, deren Mütter<br />
während der Schwangerschaft <strong>und</strong>/oder nach<br />
der Geburt rauchten, fallen dem plötzlichen<br />
Kindstod 3 1/2-mal so oft zum Opfer wie Babys<br />
aus Nichtraucherhaushalten (Anderson et al.<br />
2005). Zudem sollten Kinder auf einer festen<br />
Matratze ohne Kissen schlafen. Weiches Betten<br />
der Kinder kann die Luft um das Gesicht<br />
des <strong>Kindes</strong> herum einkapseln, was das Baby<br />
seinen eigenen Kohlendioxidausstoß statt<br />
frischen Sauerstoffs einatmen lässt. Weiterhin<br />
sollten Säuglinge nicht in viele Decken oder<br />
Kleidungsstücke eingepackt werden. Zu warm<br />
angezogen oder zugedeckt zu sein, scheint<br />
ebenfalls einen ungünstigen Faktor be<strong>im</strong><br />
plötzlichen Kindstod darzustellen. Schließlich<br />
scheint das Stillen das Risiko des frühen Kindstodes<br />
zu senken (z. B. Hauck et al. 2011). Aber<br />
wodurch kann das Stillen die Kinder schützen?<br />
Ein möglicher Gr<strong>und</strong> wäre, dass gestillte Babys<br />
nach dem Schlaf leichter in einen aufmerksamen<br />
Wachzustand kommen als Flaschenkinder<br />
<strong>und</strong> deshalb eher bemerken, wenn die Luft<br />
knapp wird (Horne et al. 2004).<br />
Eine unvorhergesehene Folge der Kampagne,<br />
das Kind auf dem Rücken schlafen zu lassen,<br />
war, dass Säuglinge heutzutage ein wenig<br />
später zu krabbeln beginnen als frühere Generationen,<br />
vermutlich wegen der selteneren<br />
Gelegenheit, ihre Muskeln zu trainieren, indem<br />
sie sich von der Matratze hochstemmen. Man<br />
ermuntert die Eltern nun, ihre Babys be<strong>im</strong><br />
Spielen auf dem Bauch zu beaufsichtigen,<br />
damit sie ihre Muskeln in den Tagesst<strong>und</strong>en<br />
trainieren.<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Die Hauptfolgen des mütterlichen Rauchens für den Fetus sind<br />
verlangsamtes Wachstum <strong>und</strong> geringes Geburtsgewicht, die<br />
beide die Ges<strong>und</strong>heit des Neugeborenen gefährden. Darüber hinaus<br />
gibt es Hinweise darauf, dass Rauchen mit einem erhöhten<br />
Risiko für den plötzlichen Kindstod (▶ Exkurs 2.4) <strong>und</strong> außerdem<br />
mit einer Vielzahl von Problemen wie geringerem IQ, Hörschäden<br />
<strong>und</strong> Krebs in Zusammenhang steht.<br />
Trotz der bestens dokumentierten negativen Effekte des mütterlichen<br />
Rauchens auf die fetale Entwicklung rauchen ungefähr<br />
10 % der Frauen in den USA während ihrer Schwangerschaft<br />
(Centers for Disease Control and Prevention 2013; Child Trends<br />
2012). Bei den Frauen, die während der Schwangerschaft das<br />
Rauchen aufgeben, gibt es eine hohe Rückfallquote; innerhalb der<br />
ersten sechs Monate nach der Geburt fangen 50 % dieser Frauen<br />
wieder an zu rauchen.<br />
Wie eine Studie des Deutschen Krebsforschungsinstituts in<br />
Heidelberg (2010) belegt, rauchen in Deutschland r<strong>und</strong> 13 % der<br />
Frauen zu Beginn der Schwangerschaft, <strong>und</strong> r<strong>und</strong> 20 % der Kleinkinder<br />
sind von Passivrauchen betroffen, mit seit einigen Jahren<br />
sinkender Tendenz. Auffällig scheint dabei, dass diese Zahlen<br />
mit der Schichtzugehörigkeit der Frauen variieren – in der Oberschicht<br />
liegt der Prozentsatz deutlich niedriger.<br />
Insgesamt zeigen diese Daten, dass viele Kinder vor ihrer Geburt<br />
einem Teratogen ausgesetzt sind <strong>und</strong> dass noch mehr Kinder<br />
nach ihrer Geburt einer bekannten Ges<strong>und</strong>heitsgefährdung<br />
ausgesetzt werden. Da die schädliche Wirkung des Rauchens<br />
von Schwangeren auf die vorgeburtliche Entwicklung des Fetus<br />
allgemein bekannt ist, überrascht es nicht, dass Frauen, die trotz<br />
Schwangerschaft rauchen, oft auch weniger einfühlsam <strong>und</strong> warmherzig<br />
mit ihren Kleinkindern umgehen (Schuetze et al. 2006).
Pränatale Entwicklung<br />
55 2<br />
..<br />
Abb. 2.11 Auswirkungen des Fetalen Alkoholsyndroms. Dieses Kind einer alkoholkranken Mutter zeigt die Symptome des Fetalen Alkoholsyndroms. Die<br />
charakteristischen Merkmale, die extensiver Alkoholgenuss der Mutter be<strong>im</strong> Kind verursacht, sind Abnormitäten des Gesichts (glatte Oberlippe ohne Nasolabialfalte,<br />
verbreiterte Stupsnase <strong>und</strong> schmale, weit auseinanderstehende Augen) <strong>und</strong> neuropsychologische Defizite (u. a. Störungen der Aufmerksamkeit, des<br />
Lernens <strong>und</strong> des Gedächtnisses). Auf 1000 Kinder kommen nach Schätzungen ein bis drei Fälle von fetalem Alkoholsyndrom. (© Susan Astley, University of<br />
Washington; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
zz<br />
Alkohol<br />
Alkohol gilt als das „verbreitetste menschliche Teratogen“ (Ramados<br />
et al. 2008). Alkoholkonsum der Mutter ist die häufigste<br />
Ursache einer Schädigung des fetalen Gehirns <strong>und</strong> der häufigste<br />
vermeidbare Gr<strong>und</strong> von geistigen Behinderungen <strong>und</strong> Fehlbildungen.<br />
Zwischen 2005 <strong>und</strong> 2010 nahmen in den USA schätzungsweise<br />
7,6 % der Schwangeren Alkohol zu sich (Centers for<br />
Disease Control 2012). Überraschenderweise neigen Frauen mit<br />
kaukasischer Herkunft, die älter als 35 Jahre <strong>und</strong> berufstätig sind,<br />
eher zu Alkoholkonsum als Frauen anderer Herkunft, die unter<br />
24 Jahren oder/<strong>und</strong> arbeitslos sind. Diese Statistik kehrt das übliche<br />
Muster der mütterlichen Teratogenbelastung um, bei dem<br />
werdende Mütter mit geringeren sozioökonomischen Ressourcen<br />
tendenziell höhere Belastungen aufweisen. In Deutschland trinken<br />
nach einer Studie der Charité (Bergmann et al. 2006) 58 %<br />
der Schwangeren während der Schwangerschaft Alkohol, <strong>und</strong> in<br />
jedem Jahr kommen zirka 10.000 Neugeborene mit alkoholbedingten<br />
Schädigungen zur Welt.<br />
Frauen, die vor der Schwangerschaft Alkohol trinken – <strong>und</strong><br />
das sind <strong>im</strong>merhin 50 % der Frauen <strong>im</strong> gebärfähigen Alter –,<br />
werden dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch während der<br />
Schwangerschaft tun. Zum Teil hängt das damit zusammen, dass<br />
in den USA etwa 40 % der betroffenen Frauen erst nach der vierten<br />
Schwangerschaftswoche, wenn die Periode ausbleibt, feststellen,<br />
dass sie ein Kind erwarten. Aber diese ersten Wochen sind für<br />
die Entwicklung des Fetus entscheidend, wie wir gesehen haben.<br />
Wenn eine schwangere Frau Alkohol zu sich n<strong>im</strong>mt, kann der<br />
Alkohol in ihrem Blut die Plazentaschranke überwinden <strong>und</strong> sowohl<br />
in den Blutkreislauf des Fetus als auch in das Fruchtwasser<br />
übertreten. Der Fetus bekommt den Alkohol also einmal direkt<br />
zugeführt <strong>und</strong> ein zweites Mal be<strong>im</strong> Trinken des Fruchtwassercocktails.<br />
Die Alkoholkonzentrationen <strong>im</strong> Blut der Mutter <strong>und</strong><br />
des Fetus gleichen sich schnell an, doch hat der Fetus weniger<br />
Möglichkeiten, den Alkohol durch Stoffwechselprozesse aus seinem<br />
Blut abzubauen, sodass er <strong>im</strong> System des Fetus länger verbleibt.<br />
Zu den sofortigen Verhaltenseffekten des Fetus gehören<br />
veränderte Aktivitätsniveaus <strong>und</strong> abnorme Schreckreflexe (Little<br />
et al. 2002).<br />
Auf lange Sicht kann mütterlicher Alkoholkonsum verschiedene<br />
Formen des fetalen Alkoholsyndroms d. h. einer fetalen<br />
Alkoholembryopathie (FAE) hervorrufen (Sokol et al. 2003), vor<br />
allem wenn der Fetus über längere Zeit hinweg größeren Mengen<br />
an Alkohol ausgesetzt ist. Babys alkoholkranker Frauen kommen<br />
oft mit den Symptomen einer Alkoholembryopathie auf die Welt<br />
(Jacobson <strong>und</strong> Jacobson 2002; Jones <strong>und</strong> Smith 1973; Streissguth<br />
2001; Streissguth et al. 1993). Zu den offensichtlichsten dieser<br />
Symptome gehören deformierte Gesichtszüge, wie sie . Abb. 2.11<br />
zeigt. Zu den auf den ersten Blick weniger erkennbaren Symptomen<br />
der Alkoholembryopathie gehören geistige Retardierung<br />
in unterschiedlichem Ausmaß, Aufmerksamkeitsprobleme <strong>und</strong><br />
Hyperaktivität. Vielen Kindern, die während ihrer pränatalen<br />
Entwicklung großen Mengen an Alkohol ausgesetzt waren <strong>und</strong><br />
ähnliche, aber weniger Symptome zeigen, stellt man die Diagnose<br />
fetale Alkoholeinwirkung (Mattson et al. 1998).<br />
Fetales Alkoholsyndrom – (Alkoholembryopathie, FAE) Die schädigenden Wirkungen<br />
mütterlichen Alkoholkonsums auf den sich entwickelnden Fetus. Zum<br />
Fetalen Alkoholsyndrom gehört eine ganze Reihe von Wirkungen, darunter<br />
Deformierungen des Gesichts oder geistige Behinderung, Aufmerksamkeitsstörungen<br />
<strong>und</strong> Hyperaktivität. Den Begriff „fetale Alkoholeinflüsse“ wendet man<br />
auf Individuen an, die einige, aber nicht alle Symptome des Fetalen Alkoholsyndroms<br />
aufweisen.<br />
Aktuellen Schätzungen der Drogenbeauftragten zufolge werden<br />
in Deutschland jährlich etwa 10.000 Säuglinge mit Schäden ge-
56<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
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20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
boren, die auf Alkoholmissbrauch ihrer Mütter zurückzuführen<br />
sind, wobei etwa 20 % dieser Kinder das Vollbild des fetalen Alkoholsyndroms<br />
aufweisen. Dieses Störungsbild gehört damit zu<br />
den häufigsten bereits bei Geburt nachweisbaren Behinderungen.<br />
Die Dunkelziffer könnte dabei durchaus noch deutlich höher<br />
liegen, weil viele Ärzte die zugehörigen Symptome nicht richtig<br />
diagnostizieren (Mortler 2014).<br />
Selbst moderates Trinken (weniger als ein Glas täglich) kann<br />
während der Schwangerschaft kurz- <strong>und</strong> langfristige negative<br />
Wirkungen auf die Entwicklung ausüben. Dasselbe gilt für gelegentliches<br />
exzessives Trinken (mehr als fünf Gläser; z. B. Hunt<br />
et al. 1995; Sokol et al. 2003). Bei Befragungen von Schwangeren<br />
zu ihrem Alkoholkonsum ergab die Analyse ihrer Angaben, dass<br />
zwischen 2006 <strong>und</strong> 2010 <strong>im</strong> Mittel 1,4 Prozent der Schwangeren<br />
in den USA mindestens einmal während der Schwangerschaft<br />
betrunken waren (Centers for Disease Control 2012). Angesichts<br />
der drastischen potenziellen Folgen von Alkoholmissbrauch <strong>und</strong><br />
der Tatsache, dass keine gefahrlose Höhe des Alkoholkonsums<br />
für Schwangere bekannt ist, sollten werdende Mütter Alkohol<br />
wohl besser ganz vermeiden.<br />
Illegale Drogen<br />
Schätzungsweise 4 % aller schwangeren Frauen weltweit nehmen<br />
verbotene Drogen wie Marihuana, Kokain, Ecstasy <strong>und</strong> Methamphetamin<br />
(U.S. Department of Health and Human Services 2006)<br />
zu sich. Fast alle gängigen illegalen Drogen haben sich für die pränatale<br />
Entwicklung als gefährlich erwiesen oder stehen zumindest<br />
in einem entsprechenden Verdacht. Es ist nicht ganz einfach, die<br />
Schädlichkeit der einzelnen Substanzen genau zu best<strong>im</strong>men, weil<br />
Schwangere, die eine illegale Substanz konsumieren, oft mehrere<br />
unterschiedliche Drogen nehmen, rauchen <strong>und</strong> Alkohol konsumieren<br />
(Frank et al. 2001; Lester 1998; Smith et al. 2006).<br />
Pränataler Kontakt mit Marihuana (der am häufigsten konsumierten<br />
illegalen Droge, auch in Deutschland) steht <strong>im</strong> Verdacht,<br />
nach der Geburt das Gedächtnis, die Lernprozesse <strong>und</strong> den Gesichtssinn<br />
zu schädigen (Fried <strong>und</strong> Smith 2001; Mereu et al.<br />
2003). Kokain in seinen verschiedenen Darreichungsformen ist<br />
bei amerikanischen Frauen <strong>im</strong> gebärfähigen Alter die zweithäufigste<br />
illegale Droge (Substance Abuse and Mental Health Services<br />
Administration 2011). Erste Berichte, denen zufolge der mütterliche<br />
Kokainkonsum verheerende Wirkungen nach sich zieht,<br />
erwiesen sich als übertrieben; doch hat man Kokainkonsum mit<br />
verzögertem Größenwachstum des Fetus <strong>und</strong> mit Frühgeburt<br />
in Zusammenhang gebracht (Hawley <strong>und</strong> Disney 1992; Singer<br />
et al. 2002). Außerdem ist bei Neugeborenen <strong>und</strong> älteren Kindern<br />
von Kokainabhängigen die Fähigkeit beeinträchtigt, Erregung<br />
<strong>und</strong> Aufmerksamkeit angemessen zu steuern (z. B. DiPietro<br />
et al. 1995; Lewkowicz et al. 1998). Besonders erschreckend sind<br />
die Fälle von Neugeborenen kokainabhängiger Mütter, die wie<br />
Suchtkranke einen Entzug durchmachen müssen (Kuschel 2007).<br />
Längsschnittstudien zur Entwicklung von Kindern Kokain<br />
konsumierender Mütter berichten über anhaltende, wenngleich<br />
manchmal nur subtile kognitive <strong>und</strong> soziale Defizite (Lester<br />
1998). Diese Defizite lassen sich bis zu einem gewissen Grad ausgleichen;<br />
das zeigen die verbesserten Leistungen von Kindern,<br />
die in unterstützende Mittelschichtfamilien adoptiert wurden<br />
(Koren et al. 1998).<br />
Umweltverschmutzung<br />
Der Körper <strong>und</strong> das Blut der meisten Amerikaner (einschließlich<br />
Frauen <strong>im</strong> gebärfähigen Alter) enthalten eine schädliche Mixtur<br />
aus toxischen Metallen, synthetischen Hormonen <strong>und</strong> diversen<br />
Bestandteilen von Kunststoffen, Pestiziden <strong>und</strong> Herbiziden, die<br />
teratogen sein kann (Moore 2003). Als ein Nachklang der Minamata-Krankheit<br />
verdichteten sich die Belege, dass Mütter, deren<br />
Speiseplan viel Fisch aus dem Michigan-See enthielt, Kinder mit<br />
kleinen Köpfen zur Welt brachten. Der Michigan-See weist einen<br />
hohen PCB-Spiegel auf (PCBs sind polychlorierte Biphenyle –<br />
Industriegifte mit ähnlicher Wirkung wie Pestizide). Die Kinder<br />
mit dem höchsten pränatalen PCB-Kontakt hatten noch elf Jahre<br />
später etwas geringere Intelligenzwerte (Jacobson <strong>und</strong> Jacobson<br />
1996; Jacobson et al. 1992). In China hat die rasante Modernisierung<br />
neben dem wirtschaftlichen Erfolg auch eine Kehrseite, die<br />
die allgemeine Ges<strong>und</strong>heit betrifft <strong>und</strong> zu einem dramatischen<br />
Anstieg von umweltbedingten Schädigungen bei Neugeborenen<br />
geführt hat, weil die Umweltverschmutzung durch unregulierte<br />
Kohleverbrennung, Einleiten von Schadstoffen ins Wasser <strong>und</strong><br />
die Anwendung von Pestiziden enorm gestiegen ist (z. B. Ren<br />
et al. 2011).<br />
Gefahren am Arbeitsplatz<br />
Viele Frauen führen Tätigkeiten aus, die sie mit einer Vielzahl<br />
an potenziell schädlichen Stoffen in Kontakt bringen. Die Kassiererinnen<br />
an Autobahnzahlstellen beispielsweise sind Auspuffgasen<br />
in hoher Konzentration ausgesetzt; in der Landwirtschaft<br />
sind es Pestizide <strong>und</strong> in den Fabriken zahlreiche Chemikalien.<br />
Wie . Abb. 2.12 zeigt, kann sogar Lärm die fetale Entwicklung<br />
nachteilig beeinflussen. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer bemühen<br />
sich darum, schwangere Frauen vor potenziellen Teratogenen zu<br />
schützen, ohne sie von best<strong>im</strong>mten Berufsgruppen völlig auszuschließen<br />
<strong>und</strong> damit beruflich zu diskr<strong>im</strong>inieren.<br />
Mütterseitige Faktoren<br />
Best<strong>im</strong>mte Merkmale der werdenden Mutter selbst können die<br />
pränatale Entwicklung beeinflussen; schließlich stellt sie die unmittelbarste<br />
Umgebung für ihren Fetus dar. Dazu gehören Alter,<br />
Ernährungsstand, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Stress.<br />
Alter<br />
Bei einer Schwangerschaft hat unter anderem das Alter der<br />
Schwangeren Auswirkungen auf das Kind. Babys, die von 15-jährigen<br />
<strong>und</strong> jüngeren Mädchen geboren werden, sterben drei- bis<br />
viermal so oft vor ihrem ersten Geburtstag wie Babys, deren<br />
Mütter zwischen 23 <strong>und</strong> 29 Jahre alt sind (Phipps et al. 2002).<br />
Allerdings ist die hohe Schwangerschaftsrate von Teenagern in<br />
den USA in den letzten Jahren rückläufig <strong>und</strong> fiel 2010 auf ein<br />
Rekordtief von 34 Geburten unter 1000 Frauen <strong>im</strong> Alter von weniger<br />
als 20 Jahren (Hamilton et al. 2011).<br />
Besorgniserregend ist seit Kurzem auch das steigende Alter<br />
der Erstgebärenden, das auf zwei Faktoren zurückzuführen<br />
ist: Viele Frauen in den Dreißigern <strong>und</strong> Vierzigern haben den<br />
Kinderwunsch zugunsten der Karriere aufgeschoben; <strong>und</strong> man<br />
hat verbesserte Verfahren entwickelt, die kinderlose Paare be<strong>im</strong><br />
Empfangen <strong>und</strong> Austragen von Kindern unterstützen. Ältere<br />
Schwangere tragen ein höheres Risiko, sowohl was sie selbst als
Pränatale Entwicklung<br />
57 2<br />
Prozentsatz der Kinder mit 10-Dezibel-Schwerhörigkeit<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
erkennen, wobei die Schwere der Auswirkung davon abhing,<br />
wie früh <strong>im</strong> Verlauf der Schwangerschaft die Mutter nichts oder<br />
zu wenig zu essen hatte. Mütter, die lediglich in den letzten Monaten<br />
ihrer Schwangerschaft an Mangelernährung litten, bekamen<br />
meistens kleine, untergewichtige Babys mit kleinem Kopfumfang.<br />
Die Babys von Müttern, die sich schon ab den ersten<br />
Schwangerschaftsmonaten nur ungenügend ernähren konnten,<br />
waren oft sehr klein <strong>und</strong> wiesen schwerere körperliche Schädigungen<br />
auf.<br />
0<br />
65–75 dB 75–85 dB 85–95 dB<br />
Lärmbelästigung während der Schwangerschaft<br />
..<br />
Abb. 2.12 Schwerhörigkeit bei Kindern, deren Mütter während der<br />
Schwangerschaft in lauten Fabriken arbeiteten. Je größer der Lärm, dem eine<br />
schwangere Frau ausgesetzt war, desto schl<strong>im</strong>mer die Hörbehinderung ihres<br />
<strong>Kindes</strong>. (Aus Lalande et al. 1986)<br />
auch was das Baby anbelangt; Chromosomenanomalien be<strong>im</strong> Fetus<br />
(▶ Kap. 3) <strong>und</strong> Komplikationen bei der Geburt gehören dazu.<br />
Ernährung<br />
In allen seinen Ernährungsbedürfnissen ist der Fetus auf seine<br />
Mutter angewiesen. Wenn sich eine schwangere Frau nicht angemessen<br />
ernährt, kann auch ihr ungeborenes Kind von Mangelerscheinungen<br />
betroffen sein (Pollitt et al. 1996). Eine unzureichende<br />
Versorgung mit spezifischen Nährstoffen oder Vitaminen<br />
kann dramatische Folgen haben. Frauen beispielsweise, die zu<br />
wenig Folsäure bekommen (eine Form des Vitamins B), tragen<br />
ein hohes Risiko, ein Baby mit Neuralrohrdefekt wie Spina bifida<br />
zur Welt zu bringen. Das Gehirnwachstum ist bei allgemeiner<br />
Unterernährung besonders beeinträchtigt: Neugeborene, die <strong>im</strong><br />
Mutterleib unzureichend mit Nährstoffen versorgt waren, haben<br />
tendenziell kleinere Gehirne, die weniger Gehirnzellen enthalten.<br />
Sie sind weniger gut ansprechbar <strong>und</strong> leichter erregbar.<br />
Weil schlechte Ernährung bei verarmten Familien häufiger<br />
auftritt, geht sie oft mit der ganzen Bandbreite anderer Risikofaktoren<br />
einher, die mit der Armut zusammenhängen, sodass<br />
sich ihre Auswirkungen auf die pränatale Entwicklung nur<br />
schwer isolieren lassen (Lozoff 1989; Sigman 1995). In einer<br />
außergewöhnlichen Entwicklungsstudie unter extremen Umständen<br />
konnten die Effekte mangelhafter Ernährung jedoch unabhängig<br />
vom sozioökonomischen Status best<strong>im</strong>mt werden (Stein<br />
et al. 1975). Während des Zweiten Weltkrieges erlebten in Teilen<br />
Hollands Menschen aller Einkommens- <strong>und</strong> Bildungsschichten<br />
eine schwere Hungerperiode. Die Durchsicht der Ges<strong>und</strong>heitsakten<br />
niederländischer Frauen, die in jener Zeit schwanger waren,<br />
ließen einen deutlichen negativen Einfluss der mütterlichen<br />
Ernährungsmängel auf die pränatale Entwicklung ihrer Kinder<br />
..<br />
Diese in Armut lebenden bolivianischen Eltern sorgen sich darum, wie<br />
sie ihre Kinder ernähren sollen – eine weltweit leider nur allzu verbreitete<br />
Situation. (© Javier Teniente/Getty Images)<br />
Krankheit<br />
Die meisten mütterlichen Krankheiten, die <strong>im</strong> Verlauf einer<br />
Schwangerschaft auftreten, wirken sich nicht auf den Fetus aus,<br />
einige aber schon. Zum Beispiel können Röteln <strong>im</strong> Anfangsstadium<br />
einer Schwangerschaft verheerende Auswirkungen auf die<br />
Entwicklung haben, bis hin zu schweren Missbildungen, Gehörlosigkeit,<br />
Blindheit <strong>und</strong> geistiger Behinderung. Jede Frau <strong>im</strong><br />
gebärfähigen Alter, die gegen Röteln nicht <strong>im</strong>mun ist, sollte sich<br />
dagegen <strong>im</strong>pfen lassen, bevor sie schwanger wird.<br />
Sexuell übertragbare Krankheiten, die weltweit auf dem<br />
Vormarsch sind, sind für den Fetus ziemlich gefährlich. Der<br />
Zytomegalievirus, eine Abart des Herpesvirus, den 50–80 % aller<br />
erwachsenen US-Amerikaner <strong>und</strong> Deutschen tragen, bildet<br />
derzeit die häufigste pränatale Infektionsquelle (mit einer Auftretenshäufigkeit<br />
von einer Infektion unter 150 Kindern); dieser<br />
Virus kann das Zentralnervensystem des Fetus schädigen <strong>und</strong><br />
eine ganze Reihe weiterer schwerer Defekte verursachen. Herpes<br />
genitalis kann ebenfalls sehr gefährlich sein: Kommt das Kind<br />
mit offenen Verletzungen <strong>im</strong> Geburtskanal in Kontakt, kann das<br />
zu Blindheit oder sogar zum Tode führen. Eine HIV-Infektion<br />
kann manchmal <strong>im</strong> Mutterleib oder während der Geburt auf den<br />
Fetus übergehen, aber die meisten Babys von HIV-infizierten<br />
oder AIDS-kranken Müttern haben diese Krankheit nicht. Nach<br />
der Geburt kann sie allerdings auch durch das Stillen übertragen<br />
werden, wenngleich neue Studien vermuten lassen, dass die Kohlehydrate<br />
in der Muttermilch vor einer HIV-Infektion schützen<br />
können (Bode et al. 2012).
58<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
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21<br />
22<br />
23<br />
Die Belege mehren sich, dass sich Krankheiten der Mutter<br />
auf die Entwicklung von Psychopathologien <strong>im</strong> späteren Leben<br />
des <strong>Kindes</strong> auswirken. Schizophrenie zum Beispiel tritt häufiger<br />
bei Menschen auf, deren Mütter in den ersten drei Monaten ihrer<br />
Schwangerschaft an Grippe erkrankten (Brown et al. 2004). Die<br />
Grippeerkrankung der Mutter könnte mit genetischen oder anderen<br />
Faktoren zusammenwirken <strong>und</strong> so zu dieser psychischen<br />
Störung führen.<br />
Emotionaler Zustand<br />
Seit Jahrh<strong>und</strong>erten sind Menschen davon überzeugt, dass die<br />
Emotionen einer Frau ihren Fetus beeinflussen. Diese Überzeugung<br />
wird nun durch Forschungsergebnisse gestützt (DiPietro<br />
2012). So sind die Feten von Frauen, die von höheren Stressniveaus<br />
während der Schwangerschaft berichten, die ganze Zeit<br />
hindurch körperlich aktiver als die Feten von Frauen, die sich weniger<br />
gestresst fühlten (DiPietro et al. 2002b). Diese erhöhte Aktivität<br />
hängt wahrscheinlich mit den Hormonen Adrenalin <strong>und</strong><br />
Kortisol zusammen, die von der Mutter bei Stress ausgeschüttet<br />
werden (Relier 2001). Die Wirkungen von Stress können nach<br />
der Geburt fortdauern. In einer Studie an über 7000 schwangeren<br />
Frauen <strong>und</strong> ihren Babys hat man untersucht, wie sich Ängstlichkeit<br />
<strong>und</strong> Depressivität der Mütter während der Schwangerschaft<br />
auswirken. Je stärker sich die schwangeren Frauen unter Stress<br />
fühlten, desto häufiger traten bei ihren Kindern <strong>im</strong> Alter von vier<br />
Jahren Verhaltensprobleme auf – darunter Hyperaktivität <strong>und</strong><br />
Aufmerksamkeitsstörungen bei Jungen, Störungen des Sozialverhaltens<br />
bei Mädchen <strong>und</strong> emotionale Probleme bei Jungen<br />
<strong>und</strong> Mädchen (O’Connor et al. 2002). Solche Bef<strong>und</strong>e, die einen<br />
Zusammenhang zwischen mütterlichem Stress vor der Geburt<br />
<strong>und</strong> Verhaltensproblemen der Kinder nach der Geburt belegen,<br />
lassen ebenfalls auf einen Einfluss erhöhter mütterlicher Hormonspiegel<br />
be<strong>im</strong> Stresshormon Cortisol schließen (Susman et al.<br />
2001; Susman 2006).<br />
Wie bei den anderen Teratogenen ist es auch bei der Stresseinwirkung<br />
schwierig, diesen Einflussfaktor von anderen Faktoren<br />
zu trennen, die mit mütterlichem Stress einhergehen. Beispielsweise<br />
ist es sehr wahrscheinlich, dass werdende Mütter,<br />
die während der Schwangerschaft Stress empfinden, auch nach<br />
der Geburt unter Stress stehen. So gesehen könnten Yoga <strong>und</strong><br />
Meditation Wege weisen, wie sich Stress während der Schwangerschaft<br />
reduzieren lässt – zum Nutzen von beiden, Mutter <strong>und</strong><br />
Kind.<br />
In Kürze | |<br />
Die am schnellsten voranschreitende Phase der Entwicklung<br />
beginnt mit der Befruchtung, der Vereinigung von Eizelle <strong>und</strong><br />
Spermium, <strong>und</strong> dauert etwa neun Monate, die sich in drei<br />
Entwicklungsstufen untergliedern lassen – Zygote, Embryo<br />
<strong>und</strong> Fetus. Die pränatale Entwicklung geschieht durch Zellteilung,<br />
Zellmigration, Zelldifferenzierung <strong>und</strong> Zelltod. Alle<br />
großen Organsysteme entwickeln sich weitgehend oder vollständig<br />
zwischen der dritten <strong>und</strong> der achten Woche nach der<br />
Befruchtung – ein Zeitraum, der deshalb eine sensible Phase<br />
für potenzielle Schädigungen durch Umweltgefahren ist.<br />
Die Forschung hat sehr viele Hinweise zum Verhalten <strong>und</strong><br />
Erleben des sich entwickelnden Organismus gesammelt, der<br />
sich fünf bis sechs Wochen nach der Befruchtung zu bewegen<br />
beginnt. Mit einigen Verhaltensweisen trägt der Fetus zu<br />
seiner eigenen Entwicklung aktiv bei; beispielsweise schluckt<br />
er Fruchtwasser <strong>und</strong> führt Atembewegungen aus. Durch<br />
Reize innerhalb <strong>und</strong> außerhalb des Mutterleibes hat der Fetus<br />
ein relativ reiches sensorisches Erleben, <strong>und</strong> diese St<strong>im</strong>ulation<br />
bildet die Gr<strong>und</strong>lage des fetalen Lernens. Mittlerweile wurden<br />
auch für die Zeit nach der Geburt nachhaltige Einflüsse des<br />
fetalen Lernens nachgewiesen.<br />
Viele Umweltfaktoren können die pränatale Entwicklung<br />
negativ beeinflussen; zu den häufigsten Teratogenen in<br />
westlichen Ländern zählen das Rauchen, der Alkoholkonsum<br />
<strong>und</strong> die Umweltverschmutzung. Einflussfaktoren durch die<br />
Mütter (Mangelernährung, Krankheiten, emotionaler Zustand<br />
etc.) können bei der Entwicklung des Fetus <strong>und</strong> des <strong>Kindes</strong><br />
ebenfalls Probleme verursachen. Bei vielen Teratogenen<br />
ist der Zeitpunkt der Einwirkung ausschlaggebend. Wie<br />
folgenschwer schädliche Umweltfaktoren sind, hängt <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
davon ab, in welchem Ausmaß <strong>und</strong> wie lange der<br />
Fetus ihnen ausgesetzt war <strong>und</strong> mit wie vielen verschiedenen<br />
negativen Einflüssen ein Fetus fertigwerden muss.<br />
Die Geburtserfahrung<br />
Ungefähr 38 Wochen nach der Befruchtung beginnen die Muskeln<br />
des Uterus zu kontrahieren; das leitet die Geburt des Babys<br />
ein. In der Regel hat das Baby selbst bereits zu diesem Prozess<br />
beigetragen, indem es sich in die normale Position mit abwärts<br />
gerichtetem Kopf gedreht hat. Zusätzlich setzen die heranreifenden<br />
Lungen des Fetus möglicherweise ein Protein frei, das den<br />
Beginn der Wehen auslöst. Die Gebärmutterkontraktionen <strong>und</strong><br />
das Vordringen des Babys durch den Geburtskanal sind für die<br />
Mutter schmerzhaft, sodass man Frauen, die in den Wehen liegen,<br />
oft schmerzstillende Medikamente gibt. Dabei neigen Frauen, die<br />
nach eigenen Angaben während der Schwangerschaft Angst vor<br />
der Geburt hatten, eher dazu, die Schmerzen während der Geburt<br />
durch Periduralanästhesie betäuben zu lassen (Haines et al. 2012).<br />
Diese Schmerzbetäubung kann zwar der Mutter dabei helfen, den<br />
Geburtsprozess besser durchzustehen, sie helfen aber nicht ihrem<br />
Baby. Viele Medikationen zur Geburtshilfe verlangsamen die<br />
Wehen, <strong>und</strong> alles, was die Wehen verlängert, erhöht die Wahrscheinlichkeit<br />
einer fetalen Hypoxie (eines Sauerstoffmangels)<br />
<strong>und</strong> vergrößert damit das Risiko einer Gehirnschädigung.<br />
Ist das Geborenwerden genauso schmerzhaft wie das Gebären?<br />
Es gibt gute Gründe zu bezweifeln, dass die Geburt für das<br />
Baby besonders schmerzhaft ist. Ein einfaches Exper<strong>im</strong>ent kann<br />
hier aufschlussreich sein. Dazu kneife man sich in die Haut am<br />
Unterarm <strong>und</strong> ziehe kräftig daran <strong>und</strong> vergleiche den Schmerz<br />
mit dem Schmerz, der entsteht, wenn man die Hand um den<br />
Unterarm legt <strong>und</strong> so fest wie möglich zusammendrückt. Das<br />
Auseinanderziehen tut weh, das Zusammendrücken nicht. Die<br />
Schmerzen der Mutter stammen daher, dass ihr Gewebe sehr
Die Geburtserfahrung<br />
59 2<br />
..<br />
Abb. 2.13 Schädelplatten.<br />
Der Druck auf den Kopf während<br />
der Geburt kann die voneinander<br />
getrennten Platten des Schädels<br />
übereinanderschieben; der Kopf<br />
verformt sich vorübergehend.<br />
Glücklicherweise korrigiert sich<br />
dies nach der Geburt rasch von<br />
allein. Die „weiche Stelle“, Fontanelle<br />
genannt, ist nichts weiter als eine<br />
zeitweilige Lücke zwischen den einzelnen<br />
Schädelplatten ganz oben<br />
am Kopf des Babys.<br />
stark gedehnt wird, während das Baby nur Druck erfährt. Die<br />
Erfahrungen der beiden Geburtsparteien dürften deshalb kaum<br />
vergleichbar sein (Mauer <strong>und</strong> Maurer 1988). Geburtshilfeprogramme,<br />
die auf der Annahme beruhen, dass die Geburt für<br />
das Neugeborene schmerzhaft <strong>und</strong> traumatisch ist, gehen wahrscheinlich<br />
von falschen Voraussetzungen aus.<br />
Dem Druck, den der Fetus bei der Geburt erfährt, kommen<br />
sogar mehrere wichtige Funktionen zu. Erstens verringert der<br />
Druck vorübergehend den Gesamtumfang des Kopfes, was dem<br />
überproportional großen Kopf dabei hilft, unbeschadet zwischen<br />
den Beckenknochen der Mutter hindurch zu gelangen.<br />
Das ist deshalb möglich, weil der Schädel aus einzelnen Platten<br />
zusammengesetzt ist, die sich während der Geburt leicht<br />
übereinanderschieben können (. Abb. 2.13). Zweitens st<strong>im</strong>uliert<br />
der Druck, der bei der Geburt auf den Kopf des Babys einwirkt,<br />
die Produktion von Hormonen, mit deren Hilfe der Fetus den<br />
leichten Sauerstoffmangel während der Geburt übersteht <strong>und</strong><br />
die Atmung nach der Geburt regelt. Das Zusammendrücken des<br />
kindlichen Körpers presst Fruchtwasser aus den Lungen; dies<br />
bereitet das Neugeborene auf den entscheidenden ersten Atemzug<br />
vor (Lagercrantz <strong>und</strong> Slotkin 1986; Nathanielsz 1994). Der<br />
Geburtsschrei bildet einen sehr wirksamen Mechanismus für den<br />
Blitzstart der Atmung: Ein guter, kräftiger Schrei sorgt nicht nur<br />
für den notwendigen Sauerstoff, sondern öffnet auch die kleinen<br />
Alveolen in den Lungen (die Enden der Bronchialverzweigungen),<br />
was das weitere Atmen erleichtert. Ein wichtiger Nachteil<br />
von Kaiserschnittgeburten (bei denen der Fetus chirurgisch aus<br />
dem Mutterleib herausgeholt wird) ist die höhere Wahrscheinlichkeit<br />
von Atmungsproblemen be<strong>im</strong> Neugeborenen.<br />
Unterschiedliche Geburtspraktiken<br />
Zwar sind die biologischen Aspekte der Geburt überall weitestgehend<br />
identisch; die Geburtspraktiken unterscheiden sich jedoch<br />
enorm. Wie bei vielen anderen Verhaltensweisen des Menschen<br />
kann ein Geburtsvorgang, der in der einen Gesellschaft als normal<br />
oder erstrebenswert angesehen wird, in der anderen als seltsam<br />
<strong>und</strong> abweichend – oder sogar gefährlich – gelten.<br />
Alle Kulturen verfolgen die beiden Ziele, Überleben <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
sowohl der Mutter als auch des <strong>Kindes</strong> sowie die soziale<br />
Integration des neuen Erdenbürgers zu sichern. Gruppen unterscheiden<br />
sich jedoch in der Relation der Wichtigkeit, die sie diesen<br />
Zielen be<strong>im</strong>essen. Eine werdende Mutter auf der Südpazifikinsel<br />
Bali geht davon aus, dass ihr Mann <strong>und</strong> andere Verwandte,<br />
einschließlich der vielleicht bereits vorhandenen Kinder, dem<br />
freudigen Ereignis der Geburt eines neuen <strong>Kindes</strong> beiwohnen<br />
wollen. Ihre weiblichen Verwandten sowie eine Hebamme leisten<br />
<strong>im</strong> Verlauf der Geburt, die zu Hause stattfindet, aktive Hilfe. Da<br />
sie bereits bei vielen Geburten dabei war, weiß die balinesische<br />
Frau, was sie bei einer Geburt zu erwarten hat, auch wenn es ihr<br />
erstes eigenes Kind ist (Diener 2000).<br />
Ein ganz anderes Szenario hat in den USA Tradition; hier<br />
zieht sich die Mutter in den Wehen fast völlig aus ihrem normalen<br />
Leben zurück. In den meisten Fällen geht sie zum Gebären<br />
in ein Krankenhaus, begleitet von nur einem oder einigen<br />
wenigen Menschen, die ihr emotional am nächsten stehen.<br />
Die Geburt wird von medizinischem Personal überwacht, das<br />
sich <strong>im</strong> Allgemeinen aus Fremden zusammensetzt. Anders als<br />
ihr balinesisches Pendant war die typische erstgebärende USamerikanische<br />
Frau vermutlich nie zuvor bei einer Geburt anwesend<br />
<strong>und</strong> hat nicht unbedingt realistische Erwartungen, was<br />
den Geburtsvorgang betrifft. Anders als in den meisten anderen<br />
Gesellschaften besteht für sie eine Wahrscheinlichkeit von 33 %,<br />
dass ihr Kind mit einem Kaiserschnitt aus dem Uterus herausgeholt<br />
wird; der Prozentsatz steigt in den Vereinigten Staaten<br />
seit vielen Jahren ständig an (Martin et al. 2012a). In Deutschland<br />
kamen 2012 r<strong>und</strong> 31 % aller Kinder per Kaiserschnitt auf<br />
die Welt, während es zehn Jahre zuvor noch 24 % waren (de.<br />
statistica.com; Kolip et al. 2014). Der Anstieg der Kaiserschnittgeburten<br />
hat eine Reihe von Gründen, darunter die Zunahme<br />
von Mehrlingsgeburten, die Planbarkeit des Geburtstermins für<br />
Ärzte <strong>und</strong> Eltern, die Rechtssicherheit <strong>im</strong> Hinblick auf Kunstfehlerprozesse<br />
bei einer Fehleinschätzung von Geburtsrisiken,<br />
wenn das Kind auf natürlichem Weg geholt wird (z. B. Yang<br />
et al. 2009).
60<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
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..<br />
In Ländern wie Deutschland <strong>und</strong> den Vereinigten Staaten überwiegt das<br />
medizinische Modell der Entbindung. (© Harriet Gans/The Image Works)<br />
..<br />
Diese Hausgeburt in Brasilien ist etwas ganz anderes. Das Baby wird zuhause<br />
geboren <strong>und</strong> vom Vater, dem älteren Bruder <strong>und</strong> von der Großmutter<br />
willkommen geheißen. Mit dabei ein Arzt sowie eine Hebamme. (© Robby<br />
Davis-Floyd; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Der balinesischen Herangehensweise bei der Geburt liegt eine<br />
starke Betonung der sozialen Zielsetzung zugr<strong>und</strong>e, das Neugeborene<br />
sofort in die Familie <strong>und</strong> in die Gemeinschaft zu integrieren;<br />
daraus erklärt sich die Anwesenheit vieler Verwandter <strong>und</strong><br />
Fre<strong>und</strong>e, die Mutter <strong>und</strong> Kind unterstützen. Im Gegensatz dazu<br />
haben die modernen westlichen Gemeinschaften die körperliche<br />
Ges<strong>und</strong>heit von Mutter <strong>und</strong> Kind über alle anderen Belange erhoben.<br />
Der Glaube an die höhere Sicherheit der Geburt in einer<br />
Klinikumgebung hat höheres Gewicht als die daraus resultierende<br />
soziale Isolierung von Mutter <strong>und</strong> Baby.<br />
Die Praktiken haben sich in beiden Gesellschaften etwas geändert.<br />
In den USA <strong>und</strong> Deutschland beachten Ärzte <strong>und</strong> Kliniken<br />
die soziale D<strong>im</strong>ension der Geburt in zunehmendem Maße,<br />
etwa bei ambulanten Geburten mit anschließender häuslicher<br />
Betreuung durch Hebammen. Wie auf Bali ermutigt man die Familienmitglieder<br />
– darunter manchmal sogar die Geschwister des<br />
Neuankömmlings –, dabei zu sein, um die kreißende Mutter zu<br />
unterstützen <strong>und</strong> am Familienereignis teilzuhaben. Immer häufiger<br />
zieht man Hebammen heran, die dafür ausgebildet sind, während<br />
der Wehen <strong>und</strong> der Entbindung sowohl für das emotionale<br />
als auch für das körperliche Wohlbefinden gebärender Frauen zu<br />
sorgen. Diese Verschiebung ging einher mit einer moderateren<br />
Verabreichung von geburtserleichternden Medikamenten, was<br />
die bewusste Beteiligung der Frau an der Geburt erhöht <strong>und</strong> ihre<br />
Fähigkeit vergrößert, mit ihrem Baby in Kontakt zu treten. Hinzu<br />
kommt, dass viele werdende Eltern Geburtsvorbereitungskurse<br />
besuchen, in denen sie etwas von dem Wissen vermittelt bekommen,<br />
das ihre balinesischen Pendants bei ihrer üblichen Anwesenheit<br />
bei Geburten erwerben. Soziale Unterstützung bildet eine<br />
zentrale Komponente dieser Kurse; dem Ehemann oder einer anderen<br />
Unterstützungsperson wird beigebracht, wie sie der Mutter<br />
bei der Geburt helfen kann. Solche Geburtsvorbereitungskurse<br />
sind <strong>im</strong> Allgemeinen nützlich (Lindell 1988), <strong>und</strong> Frauenärzte<br />
empfehlen werdenden Eltern generell die Teilnahme. Zur gleichen<br />
Zeit, in der diese Veränderungen in der westlichen Welt<br />
zu beobachten sind, werden von traditionellen, vorindustriellen<br />
Gesellschaften wie auf Bali in wachsendem Maße die westlichen<br />
Ges<strong>und</strong>heitspraktiken übernommen, um die Überlebensraten<br />
der Neugeborenen zu erhöhen.<br />
In Kürze | |<br />
Die Erforschung des Geburtsprozesses hat gezeigt, dass<br />
viele Aspekte der Erfahrung des Geborenwerdens – einschließlich<br />
des Eingezwängtseins <strong>im</strong> Geburtskanal – adaptiven<br />
Wert besitzen <strong>und</strong> die Überlebenswahrscheinlichkeit<br />
des Neugeborenen erhöhen. In den verschiedenen Kulturen<br />
bestehen zwar große Unterschiede in den Überzeugungen<br />
<strong>und</strong> Praktiken bei der Geburt, aber diese Unterschiede verschwinden<br />
in dem Maße, in dem werdende Mütter Zugang<br />
zu verschiedenen Geburtspraktiken nutzen.<br />
Das Neugeborene<br />
Ein ges<strong>und</strong>es Neugeborenes ist bereit <strong>und</strong> in der Lage, die Geschichte<br />
seiner Entwicklung in einer neuen Umgebung fortzuschreiben.<br />
Das Baby tritt sofort in Interaktion mit der Umwelt,<br />
erk<strong>und</strong>et die körperlichen <strong>und</strong> sozialen Gegebenheiten <strong>und</strong> lernt<br />
etwas darüber. Die Erk<strong>und</strong>ung des unerforschten Territoriums<br />
wird dabei sehr stark von dem Aktivierungszustand beeinflusst,<br />
in dem sich das Baby jeweils befindet.<br />
Aktivierungszustände<br />
Der Begriff Aktivierungszustand bezieht sich auf ein Kontinuum<br />
von Erregungsniveaus, das vom Tiefschlaf bis zu intensiver<br />
Aktivität reicht. Es ist allgemein bekannt, dass unser<br />
Aktivierungszustand die Interaktion mit der Umwelt – was<br />
wir überhaupt bemerken, was wir tun oder lernen, worüber<br />
wir nachdenken – drastisch beeinflusst. Er wirkt sich auch darauf<br />
aus, ob <strong>und</strong> wie andere mit uns interagieren können. Mit<br />
Blick auf die Erfahrungen des Kleinkindes in seiner Umgebung
Das Neugeborene<br />
61 2<br />
..<br />
Abb. 2.14 Aktivierungszustände von Neugeborenen. Diese Abbildung<br />
zeigt die durchschnittlichen Zeitanteile eines 24-St<strong>und</strong>en-Tages, die Neugeborene<br />
westlicher Länder in jedem der sechs Aktivierungszustände verbringen.<br />
Es bestehen beträchtliche individuelle <strong>und</strong> kulturelle Unterschiede, wie<br />
lange sich die Babys in den verschiedenen Zuständen befinden<br />
kommt dem Aktivierungszustand eine noch stärkere Vermittlungsfunktion<br />
zu.<br />
Aktivierungszustand – Erregungsniveau <strong>und</strong> Anteilnahme an der Umwelt,<br />
vom tiefen Schlaf bis zur intensiven Aktivität.<br />
. Abbildung 2.14 zeigt den durchschnittlichen Zeitanteil in einem<br />
24-h-Zyklus, den westliche Neugeborene typischerweise in sechs<br />
Aktivierungszuständen verbringen, vom ruhigen Schlaf bis zum<br />
Schreien. Innerhalb dieses allgemeinen Musters gibt es jedoch<br />
starke individuelle Variationen. Manche Kinder schreien relativ<br />
selten, während andere jeden Tag st<strong>und</strong>enlang schreien; manche<br />
Kinder schlafen deutlich mehr, manche deutlich weniger als<br />
die in . Abb. 2.14 verzeichneten durchschnittlich 16 h. Manche<br />
Kinder verbringen mehr als durchschnittlich 2,5 h <strong>im</strong> Zustand<br />
aufmerksamer Wachheit, in dem sie zwar wenig Aktivität zeigen,<br />
aber ihre Umgebung aufmerksam beobachten. Um ein Gefühl<br />
dafür zu bekommen, wie diese Unterschiede die Interaktion<br />
zwischen Eltern <strong>und</strong> Kind beeinflussen können, stelle man sich<br />
selbst als Elternteil eines Neugeborenen vor, das überdurchschnittlich<br />
viel schreit, wenig schläft <strong>und</strong> wenig Zeit in wacher<br />
Aufmerksamkeit verbringt. Dann stelle man sich den Umgang<br />
mit einem Baby vor, das relativ wenig schreit, gut schläft <strong>und</strong><br />
überdurchschnittlich viel Zeit wach liegt <strong>und</strong> seine Eltern <strong>und</strong><br />
den Rest der Umgebung ruhig betrachtet (. Abb. 2.15). Eindeutig<br />
hätte man mit dem zweitgenannten Baby mehr Gelegenheit zu<br />
angenehmen Interaktionen.<br />
Die beiden Aktivierungszustände des Neugeborenen, um die<br />
sich Eltern besonders viele Gedanken machen, hat man intensiv<br />
erforscht: Schlafen <strong>und</strong> Schreien.<br />
Schlafen<br />
In . Abb. 2.16 sind mehrere wichtige Fakten über den Schlaf <strong>und</strong><br />
seine Entwicklung zusammengefasst; zwei davon sind besonders<br />
bedeutsam. Erstens bedeutet „wie ein Baby zu schlafen“ unter<br />
..<br />
Abb. 2.15 Ruhiger <strong>und</strong> aufmerksamer Wachzustand. Die Eltern dieses ruhigen<br />
aufmerksamen Neugeborenen haben gute Chancen, auf angenehme<br />
Weise mit dem Baby interagieren zu können<br />
anderem, viel zu schlafen; durchschnittlich schlafen Neugeborene<br />
etwa doppelt so lange wie junge Erwachsene. Die Gesamtschlafenszeit<br />
sinkt <strong>im</strong> Verlauf der Kindheit gleichmäßig ab <strong>und</strong><br />
verringert sich, wenn auch langsamer, <strong>im</strong> Verlauf des gesamten<br />
Lebens weiter.<br />
Zweitens ändert sich das Muster von zwei verschiedenen<br />
Schlafzuständen – dem REM-Schlaf <strong>und</strong> dem Non-REM-<br />
Schlaf – mit dem Alter drastisch. Der REM-Schlaf ist ein aktiver<br />
Schlafzustand, der bei Erwachsenen mit Träumen einhergeht<br />
<strong>und</strong> der durch schnelle, ruckartige Augenbewegungen<br />
unter den geschlossenen Lidern gekennzeichnet ist (daher<br />
der Name REM für rapid eye movement, „schnelle Augenbewegung“).<br />
Weitere Kennzeichen des REM-Schlafes sind ein<br />
auffälliges Muster der Gehirnaktivität, Körperbewegungen<br />
<strong>und</strong> ein unregelmäßiges Muster der Puls- <strong>und</strong> Atemfrequenz.<br />
Der Non-REM-Schlaf ist <strong>im</strong> Gegensatz dazu ein ruhiger oder<br />
tiefer Schlafzustand ohne motorische Aktivität oder Augenbewegungen<br />
<strong>und</strong> mit starker, langsamer Regelmäßigkeit von<br />
Gehirnwellen, Atmung <strong>und</strong> Puls. Aus . Abb. 2.16 kann man entnehmen,<br />
dass der REM-Schlaf bei der Geburt ganze 50 % der<br />
Gesamtschlafzeit des Neugeborenen ausmacht. Der Anteil des<br />
REM-Schlafes verringert sich recht schnell auf nur mehr 20 %<br />
<strong>im</strong> Alter von drei oder vier Jahren <strong>und</strong> bleibt für den Rest des<br />
Lebens auf geringem Niveau.<br />
REM-Schlaf – Ein aktiver Schlafzustand mit charakteristischen schnellen, ruckartigen<br />
Augenbewegungen (rapid eye movements) unter den geschlossenen<br />
Lidern, der bei Erwachsenen mit Träumen einhergeht.<br />
Non-REM-Schlaf – Ein ruhiger oder tiefer Schlafzustand ohne motorische<br />
Aktivität <strong>und</strong> ohne Augenbewegungen; Atmungs- <strong>und</strong> Herzfrequenz sowie<br />
Gehirnwellen sind langsam <strong>und</strong> regelmäßig.<br />
Warum verbringen Kleinkinder so viel Zeit <strong>im</strong> REM-Schlaf?<br />
Manche Forscher glauben, dass das zur Entwicklung des visuellen<br />
Systems beiträgt. Das visuelle System des Menschen, einschließlich<br />
der Sehrinde <strong>im</strong> Gehirn, ist auf visuelle St<strong>im</strong>ulation<br />
angewiesen, aber der Fetus erfährt <strong>im</strong> Mutterleib kaum visuelle<br />
St<strong>im</strong>ulation (<strong>im</strong> Gegensatz zur auditiven S<strong>im</strong>ulation, die bereits<br />
in diesem Stadium enorm ist, wie <strong>im</strong> nächsten Abschnitt noch
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Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
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Abb. 2.16 Gesamtschlafzeit <strong>und</strong> Anteile von REM- <strong>und</strong> Non-REM-Schlaf <strong>im</strong> Entwicklungsverlauf. Neugeborene schlafen durchschnittlich 16 h am Tag, davon<br />
etwa die Hälfte <strong>im</strong> REM-Schlaf. Die Gesamtschlafenszeit sinkt während der frühen Kindheit deutlich; das setzt sich <strong>im</strong> weiteren Lebensverlauf abgeschwächt<br />
fort. Vom <strong>Jugendalter</strong> an n<strong>im</strong>mt der REM-Schlaf nur noch etwa 20 % der Gesamtschlafzeit ein. (Nach Roffwarg et al. 1966, <strong>und</strong> einer späteren Korrektur dieser<br />
Autoren; Foto: Bernadette Berg)<br />
deutlich wird). Das Neugeborene verbringt auch unmittelbar<br />
nach seiner Geburt so viel Zeit <strong>im</strong> Schlaf, dass es nicht viel Gelegenheit<br />
zu wachem visuellen Erleben hat. Nach der Autost<strong>im</strong>ulationstheorie<br />
des REM-Schlafes (Roffwarg et al. 1966) trägt<br />
die intern erzeugte Gehirnaktivität während des REM-Schlafes<br />
dazu bei, den natürlichen Mangel an externer St<strong>im</strong>ulation auszugleichen,<br />
<strong>und</strong> erleichtert damit die frühe Entwicklung des<br />
visuellen Systems be<strong>im</strong> Fetus <strong>und</strong> be<strong>im</strong> Neugeborenen. Für die<br />
Autost<strong>im</strong>ulationstheorie spricht der Bef<strong>und</strong>, dass Kleinkinder,<br />
die <strong>im</strong> Wachzustand ein höheres Maß an St<strong>im</strong>ulation erfahren,<br />
<strong>im</strong> Schlaf weniger REM-Aktivität zeigen als Kinder, die<br />
<strong>im</strong> Wachzustand in geringerem Maß visuell st<strong>im</strong>uliert wurden<br />
(Boismier 1977).<br />
Autost<strong>im</strong>ulationstheorie – Die Annahme, dass die Gehirnaktivität während<br />
des REM-Schlafes be<strong>im</strong> Fetus <strong>und</strong> be<strong>im</strong> Neugeborenen die frühe Entwicklung<br />
des visuellen Systems erleichtert.<br />
Ein anderes spezifisches Merkmal des Schlafes von Neugeborenen<br />
besteht darin, dass sie während eines Nickerchens lernen<br />
können. In einer Untersuchung, die diese Möglichkeit auslotete,<br />
spielte man Krippenkindern Vokallaute des Finnischen<br />
vor, während sie schlummerten. Die nach dem Aufwachen<br />
am Morgen gemessene Gehirnaktivität be<strong>im</strong> Hören derselben<br />
Laute zeigte, dass sie die Laute wiedererkannten, die sie<br />
<strong>im</strong> Schlaf gehört hatten (Cheour et al. 2002). In einer neueren<br />
Studie trainierten Forscher schlafende Neugeborene darauf, mit<br />
Augenbewegungen auf einen Luftstoß zu reagieren, der auf die<br />
geschlossenen Augenlider der Kinder traf (Fifer et al. 2010).<br />
Während der Trainingsphase wurde den Neugeborenen wiederholt<br />
unmittelbar vor jedem Luftstoß ein Ton dargeboten.<br />
Aufgr<strong>und</strong> dieser Erfahrung lernten die Neugeborenen schnell,<br />
nach dem Ton den Luftzug zu erwarten – darauf weist ihre Reaktion<br />
hin, auch dann auf den Ton mit Augenbewegungen zu<br />
antworten, wenn kein Luftstoß folgte. Neugeborene können<br />
anscheinend selbst <strong>im</strong> Schlaf lernen, weil ihr Gehirn <strong>im</strong> Schlaf<br />
weniger von externen St<strong>im</strong>uli abgeschottet ist als das Gehirn<br />
erwachsener Menschen.<br />
Ein weiterer (in . Abb. 2.16 nicht dargestellter) Unterschied<br />
zwischen dem Schlaf jüngerer Kinder <strong>und</strong> dem Schlaf älterer<br />
Personen liegt in den jeweiligen Schlaf-Wach-Zyklen. Neugeborene<br />
wechseln <strong>im</strong> Allgemeinen <strong>im</strong> Verlauf von 24 h mehrmals<br />
zwischen Schlafen <strong>und</strong> Wachen hin <strong>und</strong> her, mit etwas höheren<br />
Schlafanteilen nachts <strong>im</strong> Vergleich zu tagsüber (Whitney <strong>und</strong><br />
Thoman 1994). Anders ausgedrückt: In Zeiten, in denen ihre Eltern<br />
normalerweise schlafen, sind Neugeborene wahrscheinlich
Das Neugeborene<br />
63 2<br />
einige Zeit wach. Nach <strong>und</strong> nach entwickeln Säuglinge jedoch<br />
das reifere Muster des ununterbrochenen Nachtschlafes.<br />
Das Alter, in dem sich die kindlichen Schlafmuster denen<br />
der Erwachsenen angleichen, hängt stark von kulturspezifischen<br />
Praktiken <strong>und</strong> dementsprechendem Druck ab. Beispielsweise<br />
schlafen die meisten Kinder in den USA ab etwa vier Monaten<br />
nachts durch – ein Wandel, den die Mehrheit der Eltern aktiv<br />
unterstützt. Erschöpfte Eltern versuchen mit ganz unterschiedlichen<br />
Strategien, ihr Kind zum nächtlichen Durchschlafen zu<br />
bringen, von ausgefeilten, oft ausgedehnten Zubettgeh-Ritualen,<br />
die das Baby ins Traumland lullen sollen, bis zum kaum zu ertragenden<br />
passiven Abwarten, bis sich das Kind von selbst in<br />
den Schlaf weint. (Hinweis: Eine kaum bekannte, aber besonders<br />
nützliche Strategie, längere Nachtschlafphasen zu fördern, besteht<br />
darin, das Kind tagsüber hellem Sonnenlicht auszusetzen<br />
[Harrison 2004].)<br />
..<br />
Die meisten Eltern westlicher Länder möchten das Zwei-Uhr-Morgens-Erlebnis<br />
dieses jungen Vaters vermeiden. Sie halten das nächtliche Durchschlafen<br />
ihres Babys für einen Sieg – je früher, desto besser. (© Getty Images/Pure<br />
Stock)<br />
Im Gegensatz dazu üben die Eltern der Kipsigis <strong>im</strong> ländlichen<br />
Kenia wenig oder keinen Druck auf ihre Kinder aus, die Nacht<br />
durchzuschlafen. Die Babys sind fast <strong>im</strong>mer bei ihrer Mutter:<br />
Tagsüber werden sie häufig auf dem Rücken getragen, während<br />
die Mutter ihren Tätigkeiten nachgeht, <strong>und</strong> nachts schlafen sie<br />
ebenfalls bei der Mutter <strong>und</strong> dürfen, wann <strong>im</strong>mer sie wach sind,<br />
an der Brust trinken. In der Folge verteilen diese Babys ihren<br />
Schlaf mehrere Monate lang gleichermaßen über Tag <strong>und</strong> Nacht<br />
(Harkness <strong>und</strong> Super 1995; Super <strong>und</strong> Harkness 1986). Kulturen<br />
unterscheiden sich also nicht nur, wie in ▶ Kap. 1 bereits<br />
erwähnt, darin, wo Babys schlafen, sondern auch darin, wie<br />
stark die Eltern versuchen, das Schlafverhalten ihrer Kinder zu<br />
beeinflussen.<br />
Schreien<br />
Wie geht es Ihnen, wenn Sie ein Baby schreien hören? Wir dürfen<br />
annehmen, dass Sie, wie die meisten Menschen, den Klang eines<br />
schreienden <strong>Kindes</strong> als höchst unangenehm empfinden. Warum<br />
ist das Geschrei für uns so unangenehm?<br />
Aus evolutionärer Perspektive könnten das Schreien des<br />
<strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> die Abneigung der Erwachsenen gegen das Ge-<br />
schrei adaptiv sein. Kinder schreien aus verschiedenen Gründen<br />
– Krankheit, Schmerz, Hunger –, die die Aufmerksamkeit der<br />
Betreuungsperson erfordern. Das hohe Ausmaß an Motivation,<br />
das Schreien des <strong>Kindes</strong> zu beenden, bringt die Erwachsenen<br />
dazu, sich um die Bedürfnisse des <strong>Kindes</strong> zu kümmern, was zum<br />
Überleben des <strong>Kindes</strong> beiträgt. So haben manche sogar behauptet,<br />
dass in Notzeiten, beispielsweise während einer Hungersnot,<br />
akustisch nervende Babys mit größerer Wahrscheinlichkeit überleben<br />
als ruhigere Babys, möglicherweise weil die Schreihälse die<br />
Aufmerksamkeit der Erwachsenen hervorrufen <strong>und</strong> so von den<br />
kargen Nahrungsressourcen mehr bekommen, als ihnen eigentlich<br />
zustünde (DeVries 1984).<br />
Insbesondere unerfahrene Eltern sind bei ihrem ersten Kind<br />
oft ratlos <strong>und</strong> zerbrechen sich den Kopf darüber, warum ihr Baby<br />
schreit. Mit am häufigsten beklagen sich Eltern bei den Kinderärzten<br />
darüber, dass ihr Kind angeblich übermäßig schreit (Barr<br />
1998; Harkness et al. 1996). Mit zunehmender Erfahrung gelingt<br />
es den Eltern besser, die Kennzeichen des Schreiens selbst zu interpretieren<br />
(ein scharfer, durchdringender Schrei beispielsweise signalisiert<br />
meistens Schmerz) <strong>und</strong> den Kontext zu berücksichtigen<br />
(wie lange liegt die letzte Mahlzeit zurück?) (Green et al. 1987).<br />
Klingt das Schreien bei allen Neugeborenen gleich? Eltern<br />
werden das wohl verneinen. Tatsächlich können Mütter das<br />
Schreien ihrer eigenen neugeborenen Kinder vom Schreien anderer<br />
Kinder unterscheiden (z. B. Cismaresco <strong>und</strong> Montagner<br />
1990). Das Schreien von Neugeborenen wird auch durch den<br />
Klang der Sprache in ihrer Umgebung beeinflusst. Eine neuere<br />
Untersuchung hat die Schre<strong>im</strong>uster bei Neugeborenen in Frankreich<br />
<strong>und</strong> Deutschland verglichen <strong>und</strong> gezeigt, dass die kindlichen<br />
Schre<strong>im</strong>uster den Klangmustern ihrer Muttersprache folgten<br />
<strong>und</strong> deren Sprachmelodie nachahmten (Mampe et al. 2009).<br />
Das Schreien erreicht nach sechs Lebenswochen am Ende der<br />
Neugeborenenzeit sein Max<strong>im</strong>um <strong>und</strong> sinkt danach für den Rest<br />
des ersten Lebensjahres auf etwa 1 h pro Tag ab (St. James-Roberts<br />
<strong>und</strong> Halil 1991). Über den Tag gesehen liegt der Höhepunkt<br />
des Schreiens am späten Nachmittag oder am Abend. Das Phänomen<br />
des abendlichen Schreiens <strong>und</strong> Weinens kann für Eltern<br />
ziemlich enttäuschend sein, wenn sie sich am Ende des Arbeitstages<br />
auf das Zusammensein mit ihren Kindern gefreut haben.<br />
Vermehrtes abendliches Schreien kann auch auf eine kumulierte<br />
Wirkung exzessiver St<strong>im</strong>ulierung <strong>im</strong> Tagesverlauf zurückgehen.<br />
Die Art des Schreiens <strong>und</strong> seine Ursachen ändern sich <strong>im</strong><br />
Laufe der Entwicklung. Am Anfang ist das Schreien der Ausdruck<br />
von Unbehagen – Schmerz, Hunger, Kälte oder Überreizung;<br />
allerdings schreien Kinder von Anfang an auch aus Frustration<br />
(Lewis et al. 1990; Stenberg et al. 1983). Nach <strong>und</strong> nach<br />
wird daraus ein kommunikativer Akt; das Geschrei der älteren<br />
Babys scheint häufig darauf gerichtet zu sein, der Betreuungsperson<br />
etwas mitzuteilen <strong>und</strong> sie zu einer Reaktion zu veranlassen<br />
(Gustafson <strong>und</strong> Green 1988).
64<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
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..<br />
Wenn Eltern ihre Kinder nah am Körper tragen, schreien sie seltener. Viele<br />
Eltern in westlichen Ländern übernehmen inzwischen aus anderen Gesellschaften<br />
überall in der Welt die traditionellen Techniken des Mitsichtragens<br />
der Kinder. (© Digitalpress/fotolia.com)<br />
Beruhigen<br />
Was hilft am besten, um schreiende Babys zu beruhigen? Die<br />
meisten der traditionell eingesetzten Mittel funktionieren recht<br />
gut: wiegen <strong>und</strong> schaukeln, Schlaflieder singen, das Baby auf<br />
den Arm nehmen, ihm einen Schnuller geben (R. Campos 1989;<br />
Korner <strong>und</strong> Thoman 1970). Im Allgemeinen zeichnen sich viele<br />
der wirksamen Verfahren zur Beruhigung durch mäßig starke,<br />
kontinuierliche oder wiederholte St<strong>im</strong>ulation aus. Eine Kombination<br />
aus Im-Arm-Halten, Wiegen <strong>und</strong> Sprechen oder Singen<br />
löst den Stress des Kleinkindes besser als eines dieser Verfahren<br />
allein (Jahromi et al. 2004).<br />
Eine sehr verbreitete Beruhigungstechnik ist das Pucken, bei<br />
dem das Baby fest in Tücher oder eine Decke eingewickelt wird,<br />
sodass es in seinen Bewegungen von Armen <strong>und</strong> Beinen stark<br />
eingeschränkt ist. Das enge Eingewickeltsein bewirkt ein konstant<br />
hohes Maß an taktiler Reizung <strong>und</strong> Wärme. Dieses Verfahren<br />
wird in ganz verschiedenen <strong>und</strong> weit auseinanderliegenden<br />
Kulturen angewandt, beispielsweise bei den Navajo <strong>und</strong> Hopi <strong>im</strong><br />
Südwesten der USA (Chisholm 1963), den Quechua in Peru (Tronick<br />
et al. 1994) <strong>und</strong> ländlichen Dorfbewohnern in der Türkei<br />
(Delaney 2000) verwendet <strong>und</strong> war bis ins 19. Jahrh<strong>und</strong>ert auch<br />
in Deutschland verbreitet. Ein anderer traditioneller Ansatz besteht<br />
darin, ein aufgebrachtes Kind mit interessanten Gegenständen<br />
oder Ereignissen abzulenken. Auch dies kann beruhigende<br />
Wirkung haben, die jedoch endet, sobald der interessante Reiz<br />
wieder entfernt wird (Harman et al. 1997).<br />
Pucken – Eine in vielen Kulturen verbreitete Beruhigungstechnik, bei der das<br />
Baby fest in Tücher oder eine Decke eingewickelt wird.<br />
Auch Berührung kann sich beruhigend auf Kinder auswirken. Im<br />
Umgang mit einem Erwachsenen regen sich Kinder weniger auf<br />
<strong>und</strong> schreien seltener, lächeln <strong>und</strong> vokalisieren dagegen häufiger,<br />
wenn der Erwachsene sie tätschelt, abrubbelt oder streichelt (Field<br />
et al. 1996; Peláez-Nogueras et al. 1996; Stack <strong>und</strong> Arnold 1998;<br />
Stack <strong>und</strong> Muir 1992). Das Herumtragen kleiner Kinder, wie es<br />
weltweit in vielen Gesellschaften routinemäßig praktiziert wird,<br />
reduziert die Häufigkeit des Schreiens (Hunziker <strong>und</strong> Barr 1986).<br />
Tatsächlich zeigte sich in einer neuen Studie, dass schreiende Kinder<br />
dann, wenn sie von Müttern herumgetragen wurden, mit einer<br />
höheren Abnahme der Herzrate, der eigenen Bewegungen <strong>und</strong><br />
der Schreiintensität reagierten, als wenn sie nur auf ihrem Schoß<br />
saßen. Ähnliche Beruhigungsreaktionen lassen sich bei anderen<br />
Spezies beobachten (man denke nur an kleine Löwen, die sich<br />
bewegungslos <strong>im</strong> Maul der Mutter wegtragen lassen) <strong>und</strong> als angeborene<br />
Mechanismen kooperativen Verhaltens zur Unterstützung<br />
des Trageverhaltens der Mutter gelten (Esposito et al. 2013).<br />
In anderen Laboruntersuchungen ließ sich ein beträchtlicher<br />
Beruhigungseffekt dadurch erzielen, dass man einem verzweifelt<br />
schreienden Neugeborenen einen kleinen Tropfen von etwas Süßem<br />
auf die Zunge gab (Barr et al. 1994; Blass <strong>und</strong> Camp 2003;<br />
Smith <strong>und</strong> Blass 1996). Der Geschmack von Sucrose hat einen ähnlich<br />
starken Effekt auf die Schmerzempfindlichkeit: Neugeborene<br />
Jungen, die man bei der Beschneidung an einem gesüßten Schnuller<br />
saugen lässt, schreien viel weniger als Babys, bei denen diese<br />
einfache Maßnahme unterlassen wird (Blass <strong>und</strong> Hoffmeyer 1991).<br />
Reaktion auf kindlichen Stress<br />
Eltern fragen sich oft, wie sie reagieren sollen, wenn ihr Kind<br />
ihnen deutliche Zeichen von Stress signalisiert. Belohnt ihre<br />
Zuwendung das Kind für das Schreien <strong>und</strong> steigert dadurch<br />
dessen Häufigkeit, oder flößt das prompte <strong>und</strong> zuverlässige<br />
Reagieren ein Gefühl des Vertrauens ein <strong>und</strong> führt zu weniger<br />
Geschrei <strong>und</strong> Theater? Antworten auf diese Frage gibt eine<br />
Längsschnittstudie, die zeigt, dass Babys, deren Schreien in den<br />
ersten neun Wochen ignoriert wurde, in den darauffolgenden<br />
neun Wochen tatsächlich weniger schrien (Hubbard <strong>und</strong> van<br />
IJzendoorn 1992). Dabei ist es von entscheidender Wichtigkeit,<br />
die Schwere des kindlichen Unbehagens richtig einzuschätzen,<br />
bevor man reagiert. Wenn die Eltern auf starke Missempfindungen<br />
des <strong>Kindes</strong> sofort reagieren, aber bei geringeren Anlässen<br />
nicht so unverzüglich aufspringen, lernt das Kind vielleicht, den<br />
leichteren Typ der Missempfindung selbst zu regulieren <strong>und</strong> so<br />
insgesamt weniger zu schreien.
Das Neugeborene<br />
65 2<br />
Schreibabys<br />
Wie <strong>und</strong> wie sehr manche Eltern auch versuchen, ihr Kind zu<br />
beruhigen: Manche Kinder scheinen gegen diese Bemühungen<br />
<strong>im</strong>mun zu sein. Sie haben, besonders in den ersten Lebensmonaten,<br />
übermäßige, geradezu krampfartige Schreianfälle ohne<br />
irgendeinen offensichtlichen Gr<strong>und</strong>. Nicht nur, dass diese Babys<br />
viel schreien – weshalb sie als Schreibabys bezeichnet werden –,<br />
ihre Schreie sind für gewöhnlich auch schrill <strong>und</strong> äußerst unangenehm<br />
(Stifter et al. 2003). Die Ursachen sind häufig ungeklärt.<br />
Bei manchen Kindern hängen die Schreianfälle mit allergischen<br />
Reaktionen auf Substanzen in der Muttermilch zusammen, die<br />
durch die Ernährungsweise der Mutter bedingt sind, etwa bei<br />
Glutamatunverträglichkeit; zudem kann es sein, dass der Verdauungsapparat<br />
des <strong>Kindes</strong> noch unterentwickelt ist <strong>und</strong>/oder<br />
eine generelle Neigung zu schmerzhaften Blähungen besteht.<br />
Leider kommen Koliken bei Babys sehr häufig vor: In den USA<br />
leidet in den ersten drei Lebensmonaten mehr als jedes zehnte<br />
Kleinkind daran <strong>und</strong> mit ihm seine Eltern. Glücklicherweise hört<br />
die übermäßige Schreierei bei Babys, die nur an Koliken leiden,<br />
um den dritten Lebensmonat auf <strong>und</strong> hinterlässt keine krankhaften<br />
Folgen (Stifter <strong>und</strong> Braungart 1992; St. James-Roberts et al.<br />
1998). Schreien die Kinder auch danach noch übermäßig viel,<br />
spielen vermutlich andere Gründe eine entscheidende Rolle. In<br />
Deutschland ist laut einer umfassenden Studie von Wurmser <strong>und</strong><br />
Papousek (2004) annähernd jeder dritte Säugling, der in einer<br />
Säuglingssprechst<strong>und</strong>e vorgestellt wird, ein Schreibaby. Bei fast<br />
der Hälfte dieser Kinder hält das exzessive Schreien auch nach<br />
dem dritten Lebensmonat noch an. Mit zum Besten, was Eltern<br />
sowohl für ein Kind mit Koliken als auch ein Kind, das aus anderen<br />
Gründen schreit, tun können, gehört, sich soziale Unterstützung<br />
zu suchen <strong>und</strong> sich Erleichterung von Stress, Frustration<br />
<strong>und</strong> Gefühlen der Unzulänglichkeit zu verschaffen, die leicht<br />
aufkommen, wenn man das eigene Kind nicht beruhigen kann.<br />
Schreibabys – Babys, die häufig <strong>und</strong> langanhaltend ohne ersichtlichen Gr<strong>und</strong><br />
unmäßig <strong>und</strong> untröstlich schreien. Manchmal schreien Babys auch aufgr<strong>und</strong> von<br />
Koliken; dann n<strong>im</strong>mt das Schreien meist ab dem dritten Lebensmonat wieder ab.<br />
Säuglingssterblichkeit – Todesrate bei Kindern <strong>im</strong> ersten Jahr nach der Geburt.<br />
Die Kindersterblichkeit ist in den USA zwar auf dem tiefsten<br />
je erreichten Stand gesunken, aber <strong>im</strong> Vergleich zu vielen anderen<br />
Industrienationen relativ hoch. Nach Schätzungen des<br />
CIA World Fact Books für 2014 liegen viele Industrieländer (in<br />
. Tab. 2.2 eine Auswahl) unter den Raten der USA. Die relative<br />
Position der USA hatte sich in zurückliegenden Jahrzehnten verschlechtert,<br />
weil sich die Sterblichkeitsraten vieler anderer Länder<br />
schneller <strong>und</strong> stärker verringerten.<br />
Innerhalb der amerikanischen Bevölkerungsgruppen sterben<br />
afroamerikanische Kinder mehr als doppelt so häufig vor<br />
ihrem ersten Geburtstag wie euroamerikanische Kinder. Die<br />
Kindersterblichkeit bei Afroamerikanern ist sogar ähnlich hoch<br />
wie die vieler unterentwickelter Länder. Warum sterben in den<br />
USA – einem der reichsten Länder der Welt – anteilsmäßig mehr<br />
Babys als in 19 anderen Ländern? Warum sind die Überlebenschancen<br />
der afroamerikanischen Kinder so viel schlechter als<br />
die der euroamerikanischen? Dafür gibt es viele Gründe, von<br />
denen die meisten mit Armut zusammenhängen. Zum Beispiel<br />
besitzen viele einkommensschwache Schwangere, darunter eine<br />
überproportionale Zahl an Afroamerikanerinnen, keine Krankenversicherung<br />
<strong>und</strong> haben deshalb nur begrenzten Zugang zu<br />
guter Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Schwangerschaftsfürsorge (Cohen <strong>und</strong><br />
Martinez 2006). Im Gegensatz dazu gibt es in allen Ländern, die<br />
in der Sterblichkeitsstatistik vor den USA liegen, ein staatlich<br />
finanziertes oder zumindest unterstütztes Ges<strong>und</strong>heitssystem,<br />
das schwangeren Frauen kostenlose oder preiswerte Vorsorgeuntersuchungen<br />
ermöglicht.<br />
In weniger entwickelten Ländern, insbesondere wenn sie an<br />
einem Zusammenbruch ihrer sozialen Ordnung infolge von Krieg,<br />
Hungersnot, schweren Epidemien oder anhaltender extremer Armut<br />
leiden, kann die Säuglingssterblichkeit unglaubliche Ausmaße<br />
erreichen. Beispielsweise stirbt in Ländern wie Afghanistan, Mali<br />
oder Somalia von zehn lebendgeborenen Kindern eines innerhalb<br />
des ersten Lebensjahres (Central Intelligence Agency 2012).<br />
Ungünstige Geburtsausgänge<br />
Die Schwangerschaft endet für eine Frau in einer industrialisierten<br />
Gesellschaft in der Regel mit der Geburt eines ges<strong>und</strong>en Babys zum<br />
erwarteten Termin; doch gibt es manchmal auch weniger positive<br />
Ausgänge. Das Schl<strong>im</strong>mste ist für eine Frau zweifellos der Tod des<br />
eigenen <strong>Kindes</strong>. Wesentlich häufiger liegt ein zu geringes Geburtsgewicht<br />
vor, das <strong>im</strong> Extremfall Langzeitfolgen nach sich ziehen kann.<br />
Säuglingssterblichkeit<br />
Die Säuglingssterblichkeit – also die Todesrate bei Lebendgeborenen<br />
innerhalb des ersten Lebensjahres – ist in der westlichen<br />
industrialisierten Welt dank jahrzehntelanger Verbesserung der<br />
öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge <strong>und</strong> des allgemeinen Wohlstands<br />
relativ selten geworden. In den USA lag <strong>im</strong> Jahr 2010 die<br />
Sterblichkeitsrate bei 6,14 von 1000 Lebendgeburten; das ist der<br />
niedrigste Wert in der amerikanischen Geschichte (Miniño <strong>und</strong><br />
Murphy 2012).<br />
..<br />
Afghanistan gehört zu den Ländern mit der höchsten Säuglingssterblichkeit<br />
(117,23 Todesfälle auf 1000 Lebendgeburten). Zu den Ursachen gehören<br />
Armut, schlechte Nahrungsversorgung <strong>und</strong> schlechte Hygienestandards.<br />
Der größte Teil der Bevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem Wasser, was<br />
viele Todesfälle bei Säuglingen durch Ruhr, schwere Durchfallerkrankungen<br />
<strong>und</strong> andere Infektionen mit Ke<strong>im</strong>en aus dem Wasser zur Folge hat. (© Emilio<br />
Morenatti/AP Photo)
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Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
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Tab. 2.2 Geschätzte Säuglingssterblichkeit für das Jahr 2014 bei<br />
Ländern mit geringeren Mortalitätsraten als in den USA. (Daten aus:<br />
CIA World Factbook; https://www.cia.gov/library/publications/theworld-factbook/fields/2091.html)<br />
Land<br />
Vereinigte Staaten 6,17<br />
Litauen 6,13<br />
Ungarn 5,09<br />
Griechenland 4,78<br />
Kanada 4,71<br />
Neuseeland 4,59<br />
Portugal 4,48<br />
Großbritannien 4,44<br />
Australien 4,43<br />
Luxemburg 4,28<br />
Belgien 4,18<br />
Österreich 4,16<br />
Dänemark 4,10<br />
Slowenien 4,04<br />
Israel 3,98<br />
Korea (Süd) 3,93<br />
Irland 3,74<br />
Schweiz 3,73<br />
Niederlande 3,66<br />
Deutschland 3,46<br />
Finnland 3,36<br />
Spanien 3,33<br />
Italien 3,31<br />
Frankreich 3,31<br />
Island 3,15<br />
Tschechische Republik 2,63<br />
Schweden 2,60<br />
Norwegen 2,48<br />
Japan 2,13<br />
Todesfälle auf 1000 Lebendgeburten<br />
Frühgeburt <strong>und</strong> Untergewicht<br />
Das durchschnittliche Neugeborene in den USA wiegt 3400 g<br />
(die meisten liegen zwischen 2500 <strong>und</strong> 4500 g). Babys, die unter<br />
2500 g wiegen, gelten als untergewichtige Neugeborene. Einige<br />
untergewichtige Säuglinge werden zudem als Frühgeburten<br />
bezeichnet, weil sie bereits vor der 37. Schwangerschaftswoche<br />
geboren wurden. (Eine normale Schwangerschaft dauert 40 Wochen.)<br />
Laut einer aktuellen Studie der WHO sind in Deutschland<br />
9,2 % aller Kinder Frühgeborene. Weltweit ist es jedes<br />
zehnte Kind (Tendenz steigend.) Generell lässt sich feststellen,<br />
dass Frühgeborene häufig auch untergewichtig sind. Deshalb<br />
berücksichtigt man in der Regel auch das Gestationsalter (die<br />
Dauer der Schwangerschaft) bei der Beurteilung der Untergewichtigkeit:<br />
Manche Neugeborene gelten als untergewichtig für<br />
ihr Gestationsalter: Sie können sowohl früh- als auch reifgeboren<br />
sein, aber in jedem Fall liegt ihr Gewicht liegt erheblich unter<br />
dem, das für ihr jeweiliges Gestationsalter normal wäre. Wiegt<br />
ein Kind deutlich weniger als dies aufgr<strong>und</strong> seines Gestationsalters<br />
zu erwarten wäre, ist dies in der Regel ein ernstzunehmender<br />
Hinweis auf eine Mangelversorgung <strong>im</strong> Uterus oder andere<br />
Reifungsprobleme.<br />
Untergewichtig für das Gestationsalter – Babys, die erheblich weniger wiegen,<br />
als es ihrem Alter – gemessen in Wochen nach der Befruchtung – entspricht.<br />
Untergewichtige Neugeborene – (low birth weight infants) Babys, die bei der<br />
Geburt weniger als 2500 g wiegen.<br />
Frühgeburt – (premature) Babys, die vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren<br />
werden (anstatt wie normalerweise nach 40 Wochen).<br />
Gestationsalter – Dauer der Schwangerschaft seit der Befruchtung. Wird in<br />
Wochen gemessen.<br />
Etwas mehr als 8 % aller in den Vereinigten Staaten geborenen<br />
Babys sind untergewichtig (Martin et al. 2012a). Bei den Afroamerikanern<br />
ist die Rate wesentlich höher (13,6 %) <strong>und</strong> nähert<br />
sich dem in Entwicklungsländern festgestellten Wert von 16,5 %<br />
an (United Nation’s Children’s F<strong>und</strong> and World Health Organization<br />
2004). Die Gruppe der untergewichtigen Neugeborenen<br />
zeigt ein erhöhtes Ausmaß an medizinischen Komplikationen,<br />
höhere Prozentsätze neurosensorischer Defizite, mehr Kinderkrankheiten,<br />
niedrigere IQ-Werte <strong>und</strong> geringeren Bildungsstand.<br />
Stark untergewichtige Babys (die weniger als 1500 g wiegen) sind<br />
besonders anfällig; diese Kinder machen 1,45 % der Lebendgeborenen<br />
in den USA aus (Martin et al. 2011).<br />
Es gibt zahlreiche Ursachen für Untergewicht <strong>und</strong> Frühgeburten,<br />
einschließlich vieler der schon besprochenen Risikofaktoren<br />
für die Säuglingssterblichkeit. Ein weiterer Gr<strong>und</strong><br />
sind s<strong>im</strong>ultane Schwangerschaften – Zwillinge, Drillinge <strong>und</strong><br />
andere Mehrlingsgeburten, deren Häufigkeit aufgr<strong>und</strong> erfolgreicher<br />
Behandlungsmethoden bei Unfruchtbarkeit seit Kurzem<br />
hochschnellt. (Durch Hormonbehandlungen bei ungewollter<br />
Kinderlosigkeit kommt es häufig bei der Ovulation dazu, dass<br />
mehrere Eier reifen <strong>und</strong> befruchtet werden, <strong>und</strong> bei der In-vitro-<br />
Fertilisation werden mehrere Embryonen in die Gebärmutter<br />
eingesetzt.) Der Anteil der Zwillinge stieg in den USA zwischen<br />
1980 <strong>und</strong> 2009 von einem Zwilling unter 56 Neugeborenen auf<br />
einen Zwilling unter 30 Neugeborenen (Martin et al. 2012b). In<br />
dieser Zeitspanne erhöhten sich auch die Anteile der Drillinge,<br />
Vierlinge usw. dramatisch. Das ist ein Gr<strong>und</strong> zur Sorge, weil die<br />
Sterblichkeitsraten bei Mehrlingsgeburten sehr hoch sind: 56 %<br />
bei Zwillingen <strong>und</strong> über 90 % bei Geburten mit mehr als drei<br />
Kindern (Martin et al. 2011). In ▶ Exkurs 2.5 werden einige der<br />
Herausforderungen besprochen, denen sich Eltern mit untergewichtigen<br />
Neugeborenen gegenübersehen.<br />
Langfristige Folgen<br />
Was kann man von einem untergewichtigen Neugeborenen erwarten,<br />
wenn es überlebt? Diese Frage wird <strong>im</strong>mer wichtiger,
Das Neugeborene<br />
67 2<br />
Exkurs 2.5: Anwendungen: Die Elternschaft für ein untergewichtiges Baby | |<br />
Elternschaft ist selbst unter besten Umständen<br />
eine Herausforderung, aber um vieles mehr<br />
noch für die Eltern eines frühgeborenen oder<br />
untergewichtigen Babys. Zunächst einmal<br />
müssen sie ihre Enttäuschung darüber verwinden,<br />
dass sie nicht das perfekte Baby bekommen<br />
haben, das sie sich vorstellten. Vielleicht<br />
haben sie auch Schuldgefühle („Was habe ich<br />
falsch gemacht?“) oder müssen mit der eigenen<br />
Unzulänglichkeit („Wie kann ich für solch<br />
ein winziges, zerbrechliches Baby sorgen?“)<br />
<strong>und</strong> Furcht („Wird mein Baby überleben?“)<br />
umgehen. Außerdem ist es in der Regel sehr<br />
stressreich, aufwendig <strong>und</strong> teuer. ein untergewichtiges<br />
Baby zu versorgen, besonders wenn<br />
das Kind umfangreiche intensivmedizinische<br />
Behandlung benötigt.<br />
Auch Eltern eines ges<strong>und</strong>en Babys müssen<br />
sehr viel über dessen Pflege lernen, aber bei<br />
Eltern eines untergewichtigen Babys ist es<br />
ungleich mehr. Im Krankenhaus müssen sie<br />
ganz zu Beginn lernen, erfolgreich mit einem<br />
zerbrechlichen Baby umzugehen, das in einem<br />
abgeschlossenen Brutkasten liegt <strong>und</strong> dessen<br />
winziger Körper an lebenserhaltenden Geräten<br />
hängt. Kommt das Kind nach Hause, müssen<br />
die Eltern mit einem Baby zurechtkommen,<br />
das vergleichsweise passiv ist <strong>und</strong> sich nicht<br />
leicht ansprechen lässt, <strong>und</strong> gleichzeitig müssen<br />
sie sich davor hüten, das Kind – um endlich<br />
eine Reaktion hervorzurufen – allzu sehr<br />
zu st<strong>im</strong>ulieren (Brazelton et al. 1987; Patteson<br />
<strong>und</strong> Barnard 1990). Untergewichtige Kleinkinder<br />
neigen dazu, komplizierter <strong>und</strong> wählerischer<br />
zu sein als das Durchschnittsbaby, <strong>und</strong><br />
sind schwerer zu beruhigen, wenn sie aus der<br />
Fassung geraten (Greene et al. 1983). Und um<br />
das Maß voll zu machen, schreien sie oft in<br />
einem hohen Ton, der besonders unangenehm<br />
ist (Lester et al. 1989).<br />
Ein weiteres Problem für die Eltern besteht<br />
darin, dass untergewichtige Kinder größere<br />
Schwierigkeiten mit dem Einschlafen, Aufwachen<br />
<strong>und</strong> Wachbleiben haben als Kinder<br />
mit normalem Geburtsgewicht, <strong>und</strong> ihre<br />
Fütterungsintervalle sind weniger regelmäßig<br />
(DiVitto <strong>und</strong> Goldberg 1979; Meisels <strong>und</strong><br />
Plunkett 1988). Daher dauert es länger, bis das<br />
Baby einem regelmäßigen, vorhersagbaren<br />
Tagesablauf folgt, was das Leben der Eltern<br />
hektischer macht.<br />
Die Eltern müssen zudem begreifen, dass<br />
die Entwicklung ihres frühgeborenen Babys<br />
anfänglich nicht derselben zeitlichen Entwicklung<br />
folgt wie bei einem ausgetragenen<br />
Kind: Meilensteine der Entwicklung werden<br />
verspätet eintreten, weil sie stärker an das<br />
Gestationsalter geb<strong>und</strong>en sind als an das nach<br />
der Geburt durchlebte Alter. Statt sich um die<br />
sechste Lebenswoche herum an dem beginnenden<br />
Lächeln des <strong>Kindes</strong> zu erfreuen, müssen<br />
die Eltern eines Frühgeborenen vielleicht<br />
einige Wochen länger warten, bevor ihr Baby<br />
Augenkontakt aufn<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> herzerwärmend<br />
zu lächeln beginnt. Frühgeborene Kinder sind<br />
also nicht nur anspruchsvoller in der Fürsorge,<br />
sondern in mancherlei Hinsicht auch weniger<br />
belohnend, was die Interaktion mit ihnen<br />
betrifft. Infolgedessen werden Kinder, die<br />
vorzeitig zur Welt kommen, häufiger Opfer<br />
elterlicher <strong>Kindes</strong>misshandlung als Kinder,<br />
die zum erwarteten Termin das Licht der Welt<br />
erblicken (z. B. Spencer et al. 2006).<br />
Für Eltern eines untergewichtigen oder frühgeborenen<br />
Säuglings kann es hilfreich sein,<br />
sich Kenntnisse über die normale frühkindliche<br />
Entwicklung anzueignen. Ein Interventionsprogramm,<br />
das Mütter – schon in der Klinik<br />
<strong>und</strong> später zu Hause – darin trainierte, die<br />
Signale ihres frühgeborenen Babys zu deuten,<br />
führte zu positiven Resultaten bei der Leistung<br />
der Kinder in mentalen Tests (Achenbach et al.<br />
1990). Diese Kinder zeigten bei Tests <strong>im</strong> Alter<br />
von sieben Jahren signifikant höhere kognitive<br />
Leistungen als die ebenfalls untergewichtig<br />
geborenen Kinder in einer Vergleichsgruppe,<br />
bei denen die Eltern nicht geschult worden<br />
waren.<br />
In einer neueren Längsschnittstudie wurden<br />
die Mütter von untergewichtig geborenen<br />
Kindern zwei Gruppen zugeordnet, von<br />
denen die eine Intervention zur Stärkung des<br />
Selbstvertrauens <strong>und</strong> der Selbstkontrolle der<br />
Eltern bekam, während die zweite Gruppe<br />
(Kontrollgruppe) keine Intervention erhielt<br />
(Nordhov et al. 2012). Als die Kinder fünf Jahre<br />
alt waren, wurden beide Gruppen anhand von<br />
Angaben ihrer Eltern <strong>und</strong> Vorschulbetreuer<br />
miteinander verglichen; dabei zeigte sich,<br />
dass die Kinder von Müttern der Interventionsgruppe<br />
weniger Verhaltensauffälligkeiten<br />
aufwiesen als die Kinder der Kontrollgruppe.<br />
Das galt insbesondere für Aggressionsverhalten<br />
<strong>und</strong> Aufmerksamkeitsstörungen, die beide<br />
bei frühgeborenen Kindern gehäuft auftreten.<br />
Diese Bef<strong>und</strong>e sind besonders aufschlussreich,<br />
weil das Studiendesign die Möglichkeit<br />
ausschließt, dass die später nachgewiesenen<br />
Gruppenunterschiede schon vor Beginn der<br />
Intervention bestanden.<br />
Jeder Elternteil, der mit einem untergewichtigen<br />
oder in anderer Hinsicht problematischen<br />
Baby umzugehen versucht, tut gut daran,<br />
sich soziale Unterstützung zu suchen – vom<br />
Ehe- oder Lebenspartner, von anderen<br />
Familienmitgliedern, Fre<strong>und</strong>en oder einer<br />
Selbsthilfegruppe für Eltern. Eines der am<br />
besten nachgewiesenen Phänomene in der<br />
Psychologie ist, dass wir mit praktisch jedem<br />
Lebensproblem besser zurechtkommen, wenn<br />
wir die Unterstützung anderer Menschen erfahren.<br />
Tatsächlich sind regelmäßige Schulungen<br />
in der Klinik <strong>und</strong> zu Hause eine wichtige<br />
Komponente jeder erfolgreichen Intervention,<br />
die Eltern ermutigt, über ihre Erfahrungen <strong>und</strong><br />
Emotionen zu sprechen.<br />
seit Neugeborene mit extrem geringem Geburtsgewicht durch<br />
den Einsatz moderner Medizintechnologie am Leben erhalten<br />
werden. Die Antwort umfasst sowohl gute wie auch schlechte<br />
Nachrichten.<br />
Die schlechte Botschaft besteht darin, dass untergewichtige<br />
Kinder durchschnittlich mehr Entwicklungsprobleme aufweisen;<br />
je niedriger ihr Gewicht bei der Geburt ist, desto wahrscheinlicher<br />
haben sie nachhaltige Schwierigkeiten (z. B. Muraskas<br />
et al. 2004). Sie leiden an etwas stärkeren Beeinträchtigungen<br />
des Hörens, der Sprache <strong>und</strong> des Denkens. In der Vorschule <strong>und</strong><br />
Gr<strong>und</strong>schule sind sie mit höherer Wahrscheinlichkeit ablenkbar<br />
<strong>und</strong> hyperaktiv <strong>und</strong> zeigen Lernschwierigkeiten. Auch hat<br />
diese Gruppe mit größerer Wahrscheinlichkeit soziale Probleme<br />
verschiedenster Art, einschließlich schlechter Beziehungen zu<br />
Gleichaltrigen <strong>und</strong> zu ihren Eltern (Landry et al. 1990). Und als<br />
Jugendliche bestehen sie seltener das Abitur als ihre Geschwister<br />
(Conley <strong>und</strong> Bennett 2002). Entsprechendes gilt auch für Zwillinge:<br />
Der Zwilling mit dem höheren Geburtsgewicht wird mit<br />
höherer Wahrscheinlichkeit Abitur machen als der mit dem geringeren<br />
Gewicht (Black et al. 2007).<br />
Die gute Nachricht besteht darin, dass sich die Mehrzahl untergewichtiger<br />
Kinder recht gut entwickeln. Die negativen Effekte<br />
des Geburtsstatus verringern sich nach <strong>und</strong> nach, sodass Kinder<br />
mit leichtem oder mittlerem Untergewicht als Neugeborene <strong>im</strong><br />
Allgemeinen bei den meisten Entwicklungsmaßen schließlich<br />
innerhalb der normalen Bandbreite landen (Kopp <strong>und</strong> Kaler<br />
1989; Liaw <strong>und</strong> Brooks-Gunn 1993; Meisels <strong>und</strong> Plunkett 1988;<br />
Vohr <strong>und</strong> Garcia Coll 1988). . Abbildung 2.17 zeigt ein besonders<br />
überzeugendes Beispiel für diesen Sachverhalt (Muraskas<br />
et al. 2004). Und eine neuere Längsschnittstudie an extrem untergewichtigen<br />
Neugeborenen (mit einem Geburtsgewicht von<br />
unter 1000 g die gefährdetsten Frühchen) belegt, dass nach 18 bis<br />
22 Monaten 16 % dieser Kinder keine Beeinträchtigungen zeigten<br />
<strong>und</strong> 22 % nur mittlere Beeinträchtigungen aufwiesen. Bei 60 %<br />
wurden jedoch dauerhaft starke Einschränkungen gef<strong>und</strong>en<br />
(Gargus et al. 2009).
68<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
1<br />
2<br />
3<br />
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21<br />
22<br />
23<br />
Interventionsprogramme<br />
Was kann man tun, um die Chancen zu erhöhen, dass ein untergewichtiges<br />
Baby die Nachteile seines ungünstigen Starts ins Leben<br />
überwinden kann? Eine Vielzahl von Interventionsprogrammen<br />
für untergewichtige Neugeborene bieten vorzügliche Beispiele<br />
dafür, wie Forschung das Wohlergehen von Kindern verbessern<br />
kann. Früher ließen die Kliniken keinerlei Kontakt der Eltern mit<br />
ihren Babys zu, vor allem wegen der Infektionsgefahr. Jetzt ermutigen<br />
die Krankenhäuser die Eltern explizit, so viel Körperkontakt<br />
<strong>und</strong> soziale Interaktionen mit ihrem Baby aufzunehmen, wie der<br />
körperliche Zustand ihrer medizinisch betreuten Babys erlaubt.<br />
Eine breit angelegte Interventionsmaßnahme für hospitalisierte<br />
Neugeborene beruht auf dem Gedanken, dass das Berührtwerden,<br />
das Neugeborene normalerweise erfahren, wenn sie auf<br />
den Arm genommen, umhergetragen, gedrückt <strong>und</strong> liebkost<br />
werden, eine überlebenswichtige Erfahrung darstellt. Viele untergewichtige<br />
Babys erleben wegen der nötigen Vorsichtsmaßnahmen,<br />
die für sie getroffen werden müssen, wenig taktile St<strong>im</strong>ulation;<br />
sie liegen in isolierten „Brutkästen“ <strong>und</strong> hängen an diversen<br />
lebenserhaltenden Apparaten. Um diesen Berührungsmangel zu<br />
kompensieren, entwickelte Tiffany Field mit ihren Mitarbeitern<br />
(Field 2001; Field et al. 2004) eine spezielle Therapie, bei der<br />
die Babys massiert <strong>und</strong> ihre Arme <strong>und</strong> Beine gebeugt werden<br />
(. Abb. 2.18). Untergewichtige Babys, die diese Therapie erhalten,<br />
sind aktiver <strong>und</strong> wacher <strong>und</strong> nehmen schneller an Gewicht zu als<br />
Babys, die keine Massage erhalten. In der Folge können sie auch<br />
früher nach Hause entlassen werden. Neuere Untersuchungen<br />
lassen vermuten, dass untergewichtige Neugeborene während<br />
ihres Klinikaufenthalts auch ges<strong>und</strong>heitlich profitieren, wenn die<br />
Eltern ihnen etwas vorsingen – <strong>und</strong> gleichzeitig damit sich selbst<br />
beruhigen (Loewy et al. 2013).<br />
Viele Interventionsprogramme für untergewichtige Neugeborene<br />
reichen über den Krankenhausaufenthalt hinaus, manche<br />
sind auf mehrere Jahre angelegt (z. B. Ramey <strong>und</strong> Campbell<br />
1991). Das breiteste Interventionsprogramm, sowohl hinsichtlich<br />
der Anzahl einbezogener Kinder (985 Kinder aus acht großen<br />
Städten in den USA) als auch hinsichtlich Länge <strong>und</strong> Ausmaß der<br />
Intervention <strong>und</strong> der Nachfolgeversorgung, ist das Infant Health<br />
and Development Project (IHDP). Dieses Programm war besonders<br />
gut ausgearbeitet. Zum einen wurden die Säuglinge der Interventions-<br />
<strong>und</strong> der Kontrollgruppe nach dem Zufallsprinzip<br />
zugeteilt. Zum anderen erhielten alle untergewichtigen Neugeborenen<br />
eine gute medizinische Versorgung, die sicherstellte, dass<br />
Unterscheide in der Versorgung die Forschungsergebnisse nicht<br />
beeinflussen konnten. Überdies dauerte die Intervention drei<br />
Jahre <strong>und</strong> umfasste sowohl ein intensives Förderprogramm für<br />
Kleinkinder als auch Hausbesuche, die unter anderem die Eltern<br />
dazu ermutigten, weiter an diesem Programm teilzunehmen.<br />
Wiederholte Begutachtungen der Kinder zeigten durchgängig<br />
positive Wirkungen der Teilnahme an diesem Programm. Im Alter<br />
von drei Jahren wies die Interventionsgruppe einen um 14 Punkte<br />
höheren IQ auf als die Kontrollgruppe, auch wenn dieser Vorteil<br />
gegenüber Kindern mit weniger ausgeprägtem Untergewicht bei<br />
der Geburt (2000–2500 g gegenüber 2000 g <strong>und</strong> darunter) größer<br />
war. Ähnliches ergaben die Nachuntersuchungen dieser Kinder<br />
<strong>im</strong> Alter von fünf <strong>und</strong> acht Jahren, wobei der Unterschied zwischen<br />
Interventions- <strong>und</strong> Kontrollgruppe nur für Kinder mit Ge-<br />
..<br />
Abb. 2.17 Kleine W<strong>und</strong>er. Hier sehen Sie (a) eines der kleinsten Neugeborenen,<br />
das je überlebte, <strong>und</strong> (b) dasselbe Kind mit 14 Jahren. Als Madeline<br />
1989 nach nur 27 Schwangerschaftswochen geboren wurde, wog sie lediglich<br />
280 g – ungefähr so viel wie drei Stück Seife. Extrem untergewichtige<br />
Babys neigen zu gravierenden Behinderungen; Madeline aber ist bemerkenswert<br />
ges<strong>und</strong>, wenn man einmal davon absieht, dass sie ein bisschen klein für<br />
ihr Alter ist <strong>und</strong> Asthma hat. Sie wechselte mit Auszeichnung ins Gymnasium<br />
über <strong>und</strong> liebt das Violinespielen <strong>und</strong> Inlineskating. (© A. Hayashi, Loyola<br />
University Health System)
Das Neugeborene<br />
69 2<br />
..<br />
Abb. 2.18 Massage eines Neugeborenen. Jeder Mensch genießt eine<br />
gute Massage, aber Neugeborene in der Klinik profitieren besonders von<br />
zusätzlicher Berührung. (© Stevie Grand/Photo Researchers)<br />
burtsgewichten über 2000 g verringert war. In der jüngsten Nachuntersuchung<br />
der Teilnehmer mit 18 Jahren waren noch <strong>im</strong>mer<br />
Unterschiede zu beobachten, bei denen die Interventionsgruppe<br />
Vorteile aufwies, allerdings wiederum nur bei denjenigen Jugendlichen,<br />
die mit etwas höherem Gewicht zur Welt gekommen waren<br />
(McCormick et al. 2006). Aus ihren Ergebnissen schlossen die<br />
Forscher, dass frühes Eingreifen <strong>im</strong> Vorschulalter die Entwicklung<br />
von Risikokindern fördert. Gleichzeitig mussten sie einräumen,<br />
dass solche Interventionen bei extrem untergewichtig geborenen<br />
Kindern wahrscheinlich weniger erfolgreich sind.<br />
Dem IHDP lassen sich drei wichtige allgemeine Tatbestände<br />
entnehmen, die relevant für Interventionsbemühungen bei Fällen<br />
mit hohem Risiko sind. Erstens bewirken viele Interventionsprogramme<br />
nur mäßigen Zugewinn, <strong>und</strong> oft verschwindet dieser bescheidene<br />
Zugewinn <strong>im</strong> Lauf der Zeit. Zudem hängt der Erfolg<br />
jeglicher Intervention vom ursprünglichen Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />
des <strong>Kindes</strong> ab. Viele Programme für untergewichtige Babys nützten<br />
wie das IHDP solchen Kindern mehr, die zu Beginn nicht<br />
gar so winzig waren. Diese Tatsache gibt Anlass zur Sorge, da die<br />
moderne Medizintechnologie das Leben <strong>im</strong>mer kleinerer Neugeborener<br />
retten kann, die ein enorm hohes Risiko tragen, dauerhaft<br />
<strong>und</strong> gravierend behindert zu sein. Schließlich gilt: Je mehr Risiken<br />
ein Kind trägt, desto geringer sind die Chancen positiver Effekte<br />
von Interventionsprogrammen. Weil kumulierende Risiken für<br />
alle Aspekte der Entwicklung überaus wichtig sind, werden wir<br />
dieses Prinzip <strong>im</strong> folgenden Abschnitt genauer betrachten.<br />
Das Modell multipler Risiken<br />
Risikofaktoren neigen in dieser Welt dazu, gemeinsam aufzutreten.<br />
Eine Frau beispielsweise, die so alkohol-, kokain- oder<br />
heroinabhängig ist, dass sie ihren Drogenmissbrauch selbst in<br />
der Schwangerschaft fortsetzt, steht wahrscheinlich auch unter<br />
..<br />
Abb. 2.19 Multiple Risikofaktoren. Kinder, die in Familien mit mehreren<br />
Risikofaktoren aufwachsen, entwickeln mit höherer Wahrscheinlichkeit<br />
psychiatrische Störungen als Kinder aus Familien mit nur einem oder zwei<br />
problematischen Merkmalen. (Rutter 1979)<br />
großem Stress, <strong>und</strong> es ist recht unwahrscheinlich, dass sie sich<br />
gut ernährt, Vitamine zu sich n<strong>im</strong>mt, ein hohes Einkommen hat,<br />
die Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen wahrn<strong>im</strong>mt <strong>und</strong><br />
in jeder Weise auf sich achtet. Wie auch <strong>im</strong>mer die kumulativen<br />
Effekte dieser pränatalen Risikofaktoren <strong>im</strong> Einzelnen ausfallen<br />
mögen, sie werden sich wahrscheinlich noch verschl<strong>im</strong>mern,<br />
weil die Mutter ihren unges<strong>und</strong>en Lebensstil nach der Geburt<br />
vermutlich beibehält <strong>und</strong> dadurch ihre Fähigkeit einschränkt,<br />
ihr Kind gut zu versorgen (z. B. Weston et al. 1989).<br />
Wir werden in diesem Buch <strong>im</strong>mer wieder darauf stoßen,<br />
dass ein negativer Entwicklungsausgang – gleich ob in der pränatalen<br />
oder in der späteren Entwicklung – mit höherer Wahrscheinlichkeit<br />
eintritt, wenn mehrere Risikofaktoren gleichzeitig<br />
vorliegen. Als klassischer Nachweis dieser Tatsache gilt eine<br />
Studie von Michael Rutter (1979), der über eine erhöhte Quote<br />
psychiatrischer Störungen bei englischen Kindern berichtet, die<br />
in Familien mit vier oder mehr Risikofaktoren aufwachsen – darunter<br />
Eheprobleme, niedriger sozioökonomischer Status, Kr<strong>im</strong>inalität<br />
väterlicher- <strong>und</strong> psychischer Störungen mütterlicherseits<br />
(. Abb. 2.19). Das Risiko, eine Störung zu entwickeln, ist bei Kindern,<br />
deren Eltern sich viel streiten, nur leicht erhöht, aber wenn<br />
die Familie zusätzlich auch arm ist, der Vater kr<strong>im</strong>inell wird <strong>und</strong><br />
die Mutter emotionale Probleme hat, dann erhöht sich das Risiko<br />
des <strong>Kindes</strong> auf fast das Zehnfache. Ähnliche Muster wurden für<br />
eine Verminderung der Intelligenztestwerte (Sameroff et al. 1993)<br />
sowie sozial-emotionaler Kompetenzen (Sameroff et al. 1987)<br />
nachgewiesen.<br />
Armut als Entwicklungsrisiko<br />
Man kann es, da es so außerordentlich wichtig ist, gar nicht<br />
oft genug betonen: Das Vorliegen mehrfacher Risiken hängt<br />
aufs Engste mit dem sozioökonomischen Status zusammen.<br />
Betrachten wir einige der schon behandelten Faktoren, die bekanntermaßen<br />
für die Entwicklung des Fetus gefährlich sind:
70<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
1<br />
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unzureichende pränatale Vorsorge, schlechte Ernährung, Krankheit,<br />
emotionaler Stress, Rauchen, Drogenmissbrauch <strong>und</strong> der<br />
Kontakt mit beruflichen <strong>und</strong> umweltbedingten Gefahren. All<br />
diesen Faktoren ist eine Frau, die unterhalb der Armutsgrenze<br />
lebt, mit größerer Wahrscheinlichkeit ausgesetzt als eine Frau<br />
aus der Mittelschicht. So kann es nicht überraschen, dass das<br />
Ergebnis von Schwangerschaften für Kinder aus Familien mit<br />
niedrigem sozioökonomischem Status insgesamt weniger positiv<br />
ausfällt als für die Babys von Mittelschichteltern (Kopp 1990;<br />
Minde 1993; Sameroff 1986). Und so sollte es auch nicht verw<strong>und</strong>ern,<br />
dass bei untergewichtigen Babys die Entwicklung zu<br />
schlechteren Resultaten führt, wenn das Kind aus einer sozial<br />
<strong>und</strong> wirtschaftlich schwachen Familie stammt (Drillien 1964;<br />
Gross et al. 1997; Kalmár 1996; Largo et al. 1989; Lee <strong>und</strong> Barratt<br />
1993; McCarton et al. 1997; Meisels <strong>und</strong> Plunkett 1988).<br />
Ein gleichermaßen trauriger Sachverhalt besteht darin, dass<br />
in vielen Ländern die Familien von Minderheiten in den niedrigsten<br />
Schichten überrepräsentiert sind. Nach einer Studie des<br />
National Center for Children in Poverty lebten 2011 22 % der<br />
Kinder in Familien mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze<br />
(entsprechend 22.350 $ für eine vierköpfige Familie). Allerdings<br />
lag dieser Prozentsatz bei Afroamerikanern <strong>und</strong> Hispanos deutlich<br />
höher, nämlich bei 39 bzw. 34 % (Addy et al. 2013). Ihr<br />
sozioökonomischer Status setzt viele Feten, Neugeborene <strong>und</strong><br />
Kleinkinder von Minderheiten somit einem erhöhten Risiko aus,<br />
Entwicklungsprobleme zu bekommen.<br />
Nach Auskunft der B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung<br />
(Newsletter 23.4.2013) lag die Armutsgefährdung in Deutschland<br />
2011 bei etwa 12 % der Gesamtbevölkerung, unter Migranten<br />
jedoch mehr als doppelt so hoch (26 %). Auch hier zeigt sich<br />
folglich eine ungleiche Verteilung der Entwicklungsrisiken für<br />
verschiedene Bevölkerungsgruppen.<br />
Risiko <strong>und</strong> Resilienz<br />
Natürlich gibt es auch Individuen, die sich mehrfachen <strong>und</strong><br />
scheinbar überwältigenden Risiken <strong>und</strong> Gefahren gegenübersehen<br />
<strong>und</strong> sich dennoch gut entwickeln. Bei der Untersuchung<br />
solcher Kinder bringen die Forscher das Konzept der Entwicklungsresilienz<br />
ins Spiel (Garmezy 1983; Masten et al. 1990;<br />
Sameroff 1998). Resiliente Kinder – so wie die in der Kauai-<br />
Untersuchung, die wir in ▶ Kap. 1 erörtert haben – weisen oft<br />
zwei günstige Faktoren auf: Sie besitzen erstens best<strong>im</strong>mte Persönlichkeitseigenschaften,<br />
insbesondere Intelligenz, Offenheit<br />
<strong>und</strong> das Bewusstsein, die eigenen Ziele erreichen zu können,<br />
<strong>und</strong> zweitens erhalten sie von irgendjemandem wohlwollende<br />
Fürsorge..<br />
Entwicklungsresilienz – Die erfolgreiche Entwicklung trotz mehrfacher <strong>und</strong><br />
scheinbar überwältigender Entwicklungsrisiken.<br />
Entwicklung ist eine sehr komplexe Angelegenheit, schon vom<br />
Moment der Befruchtung <strong>und</strong> Empfängnis an. Dass diese Komplexität<br />
erhalten bleibt, dürfte <strong>im</strong> Verlauf der Lektüre dieses Buches<br />
deutlich werden. Zwar können die früheren Ereignisse <strong>und</strong><br />
Erfahrungen die spätere Entwicklung nachhaltig beeinflussen,<br />
doch steht der Ausgang einer Entwicklung niemals von vornherein<br />
fest.<br />
In Kürze | |<br />
Die Erfahrungen des neugeborenen <strong>Kindes</strong> werden durch<br />
innere Aktivierungs- oder Erregungszustände vermittelt, die<br />
von tiefem Schlaf bis zu intensivem Schreien reichen, wobei<br />
zwischen den Individuen große Unterschiede <strong>im</strong> Hinblick<br />
darauf bestehen, wie lange sie sich in welchem Zustand<br />
befinden. Neugeborene verbringen etwa die Hälfte der Zeit<br />
schlafend, <strong>und</strong> die Schlafdauer verringert sich in der frühen<br />
Kindheit relativ schnell <strong>und</strong> über die gesamte Lebensspanne<br />
hinweg kontinuierlich weiter. Die Forscher nehmen an,<br />
dass ein Großteil der Zeit, die Neugeborene <strong>im</strong> REM-Schlaf<br />
verbringen, für die Entwicklung des visuellen Systems <strong>und</strong><br />
des Gehirns wichtig ist. Das Schreien der Säuglinge ist für die<br />
Eltern ein besonders auffälliges Verhalten, das <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Fürsorge hervorruft. Wirksame<br />
Beruhigungstechniken bestehen in mäßiger, kontinuierlicher<br />
oder wiederholter St<strong>im</strong>ulation. Es besteht eine systematische<br />
Beziehung zwischen der Art, wie Eltern auf die Stresssignale<br />
ihres <strong>Kindes</strong> reagieren, <strong>und</strong> dessen langfristigem Schreiverhalten.<br />
Schwangerschaften nehmen bei Frauen aus Familien, die<br />
in Armut leben <strong>und</strong> Minderheiten angehören, besonders<br />
häufig einen schlechten Ausgang. Deutschland schneidet<br />
bei der Säuglingssterblichkeit vergleichbar gut ab; der Anteil<br />
untergewichtiger Geburten liegt vergleichsweise gering. Die<br />
meisten dieser Kinder erleiden kaum bleibende Folgen, aber<br />
die Entwicklung extrem untergewichtiger Neugeborener ist<br />
auf lange Sicht oft problematisch. Mehrere groß angelegte<br />
Interventionsprogramme konnten die Bilanz für mäßig untergewichtige<br />
Kinder erfolgreich verbessern.<br />
Nach dem Modell multipler Risiken steigt mit der Anzahl der<br />
Risiken, denen ein Fetus oder Kind ausgesetzt ist, die Wahrscheinlichkeit<br />
für eine Vielzahl von Entwicklungsproblemen.<br />
Niedriger sozioökonomischer Status geht mit vielen Gefahren<br />
<strong>und</strong> Risiken für die Entwicklung einher. Trotz der mehrfachen<br />
Risiken, die für viele Kinder bestehen, legen einige von ihnen<br />
eine bemerkenswerte Resilienz an den Tag <strong>und</strong> entwickeln<br />
sich gut.<br />
Zusammenfassung<br />
-<br />
Pränatale Entwicklung<br />
Anlage <strong>und</strong> Umwelt wirken bei der pränatalen Entwicklung<br />
zusammen. Ein großer Teil dieser Entwicklung wird vom<br />
Fetus selbst hervorgebracht; er ist ein aktiver Mitgestalter<br />
seines eigenen Entwicklungsfortschritts. Zwischen dem,<br />
was vor <strong>und</strong> was nach der Geburt vor sich geht, besteht<br />
große Kontinuität; die Kinder legen die Wirkungen dessen<br />
-<br />
an den Tag, was ihnen <strong>im</strong> Mutterleib widerfahren ist.<br />
Die pränatale Entwicklung beginnt auf der Ebene einzelner<br />
Zellen mit der Befruchtung, der Vereinigung einer mütterlichen<br />
Eizelle mit einem Spermium des Vaters, wodurch die<br />
Zygote entsteht. Die Zygote vervielfältigt <strong>und</strong> teilt sich auf<br />
ihrem Weg durch einen der Eileiter.
Zusammenfassung<br />
-<br />
Die Zygote unterliegt den Prozessen der Zellteilung, der<br />
Zellmigration, der Differenzierung <strong>und</strong> des Absterbens von<br />
Zellen (der Apoptose). Diese Prozesse setzen sich während<br />
-<br />
der gesamten pränatalen Entwicklung fort.<br />
Wenn sich die Zygote in der Gebärmutterwand einnistet,<br />
wird sie zum Embryo. Von diesem Moment an ist der<br />
Embryo von der Mutter abhängig – er erhält Nährstoffe<br />
sowie Sauerstoff <strong>und</strong> entsorgt Abfallstoffe über die Plazenta.<br />
-<br />
Das Verhalten des Fetus beginnt fünf oder sechs Wochen<br />
nach der Befruchtung, noch unbemerkt von der Mutter, mit<br />
einfachen Bewegungen; diese werden zunehmend komplexer<br />
<strong>und</strong> strukturieren sich zu Bewegungsmustern. Später<br />
übt der Fetus Verhaltensweisen, die für ein unabhängiges<br />
Leben unerlässlich sind, darunter das Schlucken <strong>und</strong> eine<br />
-<br />
Art intrauterines „Atmen“.<br />
Der Fetus erlebt <strong>im</strong> Mutterleib eine Fülle von St<strong>im</strong>ulationen<br />
sowohl aus dem Körper der Mutter als auch aus<br />
der äußeren Umgebung. Aus dieser Erfahrung lernt der<br />
Fetus. Das zeigen Untersuchungen, die nachgewiesen<br />
haben, dass sowohl die Feten als auch die Neugeborenen<br />
zwischen bekannten <strong>und</strong> neuartigen Geräuschen – insbesondere<br />
sprachlichen Lauten – unterscheiden können<br />
<strong>und</strong> <strong>im</strong> Mutterleib nachhaltige Geschmackspräferenzen<br />
-<br />
entwickeln.<br />
Für die pränatale Entwicklung bestehen viele Risiken. Das<br />
häufigste Schicksal eines befruchteten Eis ist der spontane<br />
Abort (eine Fehlgeburt). Eine ganze Palette von Umweltfaktoren<br />
kann die pränatale Entwicklung gefährden. Dazu<br />
gehören schädliche Einflüsse – sogenannte Teratogene<br />
– aus der äußeren Umwelt <strong>und</strong> best<strong>im</strong>mte mütterliche<br />
Merkmale <strong>und</strong> Gewohnheiten, zum Beispiel das Alter der<br />
Mutter, ihr Ernährungszustand, ihre körperliche Ges<strong>und</strong>heit,<br />
ihre Verhaltensweisen (insbesondere der Konsum<br />
legaler <strong>und</strong> illegaler Drogen) <strong>und</strong> ihre emotionale Verfassung.<br />
-<br />
Die Geburtserfahrung<br />
Etwa 40 Wochen nach der Befruchtung ist das Baby so<br />
weit, dass es geboren werden kann. Normalerweise trägt<br />
das Verhalten des Fetus zu diesem Zeitpunkt dazu bei, den<br />
-<br />
Geburtsvorgang einzuleiten.<br />
Der Prozess, in dem der Fetus durch den Geburtskanal<br />
gepresst wird, hat auf das Neugeborene mehrere positive<br />
Auswirkungen; beispielsweise bereitet er das Kind auf<br />
-<br />
seinen ersten Atemzug vor.<br />
Die Geburtspraktiken variieren zwischen den verschiedenen<br />
Kulturen enorm. Zum Teil hängen sie davon ab,<br />
welche Ziele <strong>und</strong> Werte von einer Kultur besonders betont<br />
werden.<br />
Das Neugeborene<br />
Neugeborene zeigen sechs verschiedene Aktivierungszustände,<br />
vom tiefen Schlafen bis zum aktiven Schreien.<br />
-<br />
Wie viel Zeit Säuglinge in den einzelnen Zuständen verbringen,<br />
kann sich stark unterscheiden, sowohl zwischen<br />
Individuen als auch zwischen Kulturen.<br />
71 2<br />
-<br />
Der REM-Schlaf scheint den Mangel an visueller St<strong>im</strong>ulation<br />
auszugleichen, der daraus resultiert, dass <strong>im</strong> Mutterleib<br />
Dunkelheit herrscht <strong>und</strong> das Neugeborene viele St<strong>und</strong>en<br />
-<br />
am Tag schläft, also mit geschlossenen Augen verbringt.<br />
Das Schreien eines Babys kann für andere äußerst unangenehm<br />
sein, <strong>und</strong> Eltern setzen viele Strategien ein, um<br />
-<br />
verzweifelt schreiende Babys zu beruhigen.<br />
Die Säuglingssterblichkeit ist in Deutschland vergleichsweise<br />
gering. Die Babys von Eltern mit niedrigem sozioökonomischen<br />
Status sterben allerdings wesentlich häufiger<br />
-<br />
als die Kinder gut situierter Eltern.<br />
Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 2500 g gelten<br />
als untergewichtig. Für diese Kinder besteht das Risiko<br />
vielfältiger Entwicklungsprobleme, <strong>und</strong> je geringer das<br />
Geburtsgewicht ist, desto höher ist das Risiko bleibender<br />
-<br />
Schwierigkeiten.<br />
Es gibt eine Vielzahl von Interventionsprogrammen, um<br />
den Entwicklungsverlauf bei untergewichtigen Babys zu<br />
verbessern, aber der Erfolg solcher Programme hängt stark<br />
von der Anzahl der Risikofaktoren ab, denen das Baby<br />
-<br />
gleichzeitig ausgesetzt ist.<br />
Das Modell der multiplen Risiken verweist auf die Tatsache,<br />
dass Kinder mit mehreren Risikofaktoren wahrscheinlicher<br />
bleibende Entwicklungsstörungen aufweisen. Armut ist ein<br />
besonders tückisches Entwicklungsrisiko, teils deswegen,<br />
weil sie untrennbar mit zahlreichen anderen negativen<br />
-<br />
Einflussfaktoren zusammenhängt.<br />
Manche Kinder erweisen sich selbst angesichts beträchtlicher<br />
Risikofaktoren als widerstandsfähig oder resilient.<br />
Resilienz scheint aus best<strong>im</strong>mten persönlichen Eigenschaften<br />
hervorzugehen sowie auf der Aufmerksamkeit<br />
<strong>und</strong> der emotionalen Unterstützung durch andere Menschen<br />
zu beruhen.<br />
Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />
1. Eine Karikatur zeigte kürzlich eine schwangere Frau, die<br />
eine Straße entlangläuft <strong>und</strong> eine Art MP3-Player mit sich<br />
trägt, dessen überd<strong>im</strong>ensionale Kopfhörer ihrem hervorquellenden<br />
Bauch aufgesetzt sind. Warum? Aufgr<strong>und</strong><br />
welcher Forschungen könnte sie sich so verhalten, <strong>und</strong><br />
welche Annahmen hat sie über das Ergebnis ihres Tuns?<br />
Wenn Sie oder Ihre Partnerin schwanger wären, würden<br />
Sie etwas Ähnliches tun?<br />
2. Wir hören dauernd von den schrecklichen <strong>und</strong> tragischen<br />
Auswirkungen illegaler Drogen wie Kokain <strong>und</strong><br />
von Krankheiten wie AIDS auf die Entwicklung des Fetus.<br />
Welche beiden mütterlichen Verhaltensweisen, die mit<br />
pränatalen Schädigungen einhergehen, wie wir sie in<br />
diesem Kapitel beschrieben haben, sind heutzutage tatsächlich<br />
die häufigsten? Nennen Sie einige der möglichen<br />
Wirkungen.<br />
3. Angenommen, Sie arbeiten in einem Projekt des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />
mit, um die pränatale Entwicklung zu verbessern,<br />
<strong>und</strong> können nur einen einzigen Faktor ins Auge<br />
fassen. Welchen Faktor würden Sie anpeilen <strong>und</strong> warum?
72<br />
Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />
1<br />
2<br />
3<br />
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5<br />
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18<br />
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20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
4. Beschreiben Sie einige der kulturellen Unterschiede, die<br />
in den Annahmen <strong>und</strong> Praktiken hinsichtlich Empfängnis,<br />
Schwangerschaft <strong>und</strong> Geburt bestehen. Gibt es irgendeine<br />
Praxis einer anderen Gesellschaft, die Ihnen besser gefällt<br />
als das, was Sie aus Ihrer eigenen Kultur kennen?<br />
5. Ermutigen oder entmutigen Sie die Resultate von Interventionsprogrammen<br />
wie des IHDP? Wie könnte man sie<br />
nutzbringender <strong>und</strong> nachhaltiger gestalten?<br />
6. Erklären Sie die gr<strong>und</strong>legende Annahme des Modells<br />
multipler Risiken <strong>und</strong> dessen Bezug zur Armut <strong>im</strong> Hinblick<br />
auf die pränatale Entwicklung <strong>und</strong> die Geburtsresultate.<br />
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1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
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77 3<br />
Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Anlage <strong>und</strong> Umwelt – 78<br />
Die Macht der Gene <strong>und</strong> die Macht der Umwelt – 79<br />
Verhaltensgenetik – 89<br />
Die Entwicklung des Gehirns – 94<br />
Gehirnstrukturen – 94<br />
Entwicklungsprozesse – 97<br />
Die Bedeutung der Erfahrung – 101<br />
Die Wiederherstellung von Funktionen nach Hirnschäden – 104<br />
Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers – 105<br />
Wachstum <strong>und</strong> Reifung – 105<br />
Ernährungsverhalten – 106<br />
Zusammenfassung – 111<br />
Literatur – 112<br />
S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />
DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
78<br />
Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
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10<br />
11<br />
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15<br />
16<br />
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19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
© Gina Sanders/fotolia.com<br />
Vor etlichen Jahren erhielt einer unserer Autoren einen Anruf<br />
von der Polizei. Ein Kontaktbereichsbeamter wollte vorbeikommen<br />
<strong>und</strong> sich mit ihm über einige Straßenschilder <strong>und</strong> Verkehrszeichen<br />
unterhalten, die gestohlen wurden, <strong>und</strong> auch darüber,<br />
dass einer der Übeltäter der 17-jährige Sohn dieses Autors war.<br />
An einem sehr ausgelassenen <strong>und</strong> vernunftgetrübten Abend<br />
hatte der Sohn mit zwei Fre<strong>und</strong>en zusammen über ein Dutzend<br />
Schilder gestohlen <strong>und</strong> sie auf dem Dachboden versteckt. Seine<br />
bestürzten Eltern grübelten, wie ihr süßer, lieber, sensibler Pfadfindersohn<br />
sich dermaßen <strong>im</strong> Vorhersehen der Folgen seiner<br />
Handlung verschätzt haben konnte.<br />
Viele Eltern grübeln ähnlich darüber nach, wie ihre einst<br />
musterhaften Kinder zu gedankenlosen, verantwortungslosen,<br />
selbstsüchtigen, unhöflichen, schlecht gelaunten Wesen mutieren<br />
konnten, nur weil sie in die Pubertät kamen. Nicht nur Eltern<br />
w<strong>und</strong>ern sich über den Verhaltenswandel ihres Nachwuchses;<br />
auch die Heranwachsenden selbst sind oft verblüfft <strong>und</strong> rätseln,<br />
was in sie gefahren sein mag. Eine 14-Jährige klagte:<br />
» Manchmal geht es einfach mit mir durch. […] All dieser<br />
Krempel mit Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Schule <strong>und</strong> wie ich aussehe <strong>und</strong><br />
obendrein meine Eltern. Da gehe ich einfach in mein<br />
Z<strong>im</strong>mer <strong>und</strong> mache die Tür zu. […] Gemein will ich eigentlich<br />
gar nicht sein, aber manchmal muss ich einfach weg<br />
von alledem <strong>und</strong> mich beruhigen, indem ich für mich bin<br />
(Strauch 2003).<br />
Und ein 15-Jähriger drückte Ähnliches aus:<br />
» Ich ecke jetzt <strong>im</strong>mer häufiger an, noch dazu für irgendwelchen<br />
Pipifax, den ich gar nicht so gemeint habe. […] Ich vergesse, zu<br />
Hause anzurufen. Ich weiß nicht, warum. Ich hänge einfach mit<br />
meinen Fre<strong>und</strong>en ab <strong>und</strong> bin ganz bei denen, <strong>und</strong> da vergesse<br />
ich das eben. Und dann kriegen meine Eltern die Krise, <strong>und</strong> ich<br />
drehe auch durch, <strong>und</strong> es ist ein Haufen Chaos (Strauch 2003).<br />
Neue Einblicke in diese oft abrupten Entwicklungsveränderungen<br />
eröffneten sich, als man die biologischen F<strong>und</strong>amente der<br />
Verhaltensentwicklung erforschte. Heute vermuten Forscher,<br />
dass viele der Verhaltensänderungen, die Eltern wie Jugendliche<br />
bekümmern, an dramatische Veränderungen in Struktur<br />
<strong>und</strong> Funktion des Gehirns geknüpft sind, die in der Adoleszenz<br />
ablaufen. Auch gibt es <strong>im</strong>mer mehr Belege dafür, dass einige genetische<br />
Prädispositionen erst in der Adoleszenz in Erscheinung<br />
treten, die zu den scheinbar abrupten Veränderungen beitragen.<br />
Wesentlich für das Verständnis der Entwicklung, egal zu welchem<br />
Zeitpunkt <strong>im</strong> Lebensverlauf, ist natürlich die Kenntnis der<br />
biologischen F<strong>und</strong>amente, die Verhaltensentwicklungen untermauern.<br />
Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf den wichtigsten<br />
biologischen Faktoren, die vom Augenblick der Befruchtung bis in<br />
die Pubertät hinein <strong>im</strong> Spiel sind: die Vererbung <strong>und</strong> der Einfluss<br />
der Gene, die Entwicklung <strong>und</strong> frühe Funktion des Gehirns sowie<br />
wichtige Aspekte der körperlichen Entwicklung <strong>und</strong> Reifung. Jede<br />
unserer Körperzellen trägt das genetische Material, das wir bei der<br />
Befruchtung geerbt haben <strong>und</strong> das unser Verhalten lebenslang beeinflusst.<br />
Alle unsere Verhaltensweisen werden jeweils vom Gehirn<br />
gesteuert. Alles, was wir in welchem Alter auch <strong>im</strong>mer tun, ist über<br />
einen sich permanent verändernden Körper vermittelt, der sich in<br />
der frühen Kindheit <strong>und</strong> in der Adoleszenz sehr schnell <strong>und</strong> drastisch,<br />
in anderen Lebensphasen langsamer <strong>und</strong> subtiler verändert.<br />
Mehrere der in ▶ Kap. 1 vorgestellten Themen spielen auch<br />
jetzt wieder eine wichtige Rolle. Die Fragen nach Anlage <strong>und</strong><br />
Umwelt sowie nach individuellen Unterschieden zwischen Kindern<br />
sind <strong>im</strong> Verlauf des gesamten Kapitels relevant, insbesondere<br />
<strong>im</strong> ersten Abschnitt, der auf die Wechselwirkung zwischen<br />
genetischen Faktoren <strong>und</strong> Umweltfaktoren bei der Entwicklung<br />
gerichtet ist. Die Mechanismen der Veränderung kommen <strong>im</strong><br />
Zusammenhang mit dem Einfluss genetischer Faktoren auf die<br />
Entwicklung <strong>und</strong> der Beziehung zwischen Gehirnfunktionen<br />
<strong>und</strong> Verhalten zur Sprache. Auch die Kontinuität der Entwicklung<br />
wird <strong>im</strong>mer wieder betont. Und schließlich werden auch die<br />
Aktivitätsabhängigkeit von Entwicklungsprozessen <strong>und</strong> die Rolle<br />
des aktiven <strong>Kindes</strong> bei der Richtungsbest<strong>im</strong>mung der eigenen<br />
Entwicklung herausgestellt.<br />
Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
Alles an einem Menschen – von der körperlichen Gestalt, der<br />
intellektuellen Fähigkeit <strong>und</strong> den Persönlichkeitseigenschaften<br />
bis zu den bevorzugten Hobbys <strong>und</strong> Nahrungsmitteln – geht auf
Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
79 3<br />
das Zusammenwirken des von den Eltern geerbten genetischen<br />
Materials <strong>und</strong> der Umwelt zurück, das jeder Einzelne von der<br />
Befruchtung bis zur Gegenwart erfahren hat. Diese beiden Faktoren<br />
– Anlage <strong>und</strong> Umwelt – prägen gemeinsam sowohl die Art<br />
<strong>und</strong> Weise, in der wir anderen Menschen gleichen, als auch die<br />
Art <strong>und</strong> Weise, in der wir einzigartig sind.<br />
Lange bevor man die Prinzipien der Vererbung verstand, war<br />
Menschen bewusst, dass best<strong>im</strong>mte Persönlichkeitszüge <strong>und</strong> Eigenschaften<br />
„in der Familie liegen“ <strong>und</strong> dass diese Tendenz etwas<br />
mit der Fortpflanzung zu tun hat. Seit es Haustiere gibt, nutzen<br />
Landwirte die selektive Züchtung, um best<strong>im</strong>mte Eigenschaften<br />
ihres Viehbestands zu verbessern – die Größe ihrer Pferde <strong>und</strong> den<br />
Milchertrag ihrer Ziegen, Kühe oder Yaks. Auch ist der Menschheit<br />
seit Langem bekannt, dass die Umwelt bei der Entwicklung<br />
ebenfalls eine Rolle spielt – dass der Viehbestand beispielsweise<br />
nahrhaftes Futter benötigt, um viel Milch oder Wolle von guter<br />
Qualität zu produzieren. Als die Forscher begannen, die Beiträge<br />
von Vererbung <strong>und</strong> Umwelt zur Entwicklung zu untersuchen,<br />
betonten sie <strong>im</strong> Allgemeinen den einen oder den anderen Faktor<br />
– entweder Vererbung oder Umwelt, entweder Anlage oder<br />
Erziehung – als den wichtigsten Einfluss. Im England des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
beispielsweise untersuchte Francis Galton, ein Cousin<br />
Charles Darwins, eine Vielzahl herausragender Leistungen prominenter<br />
Persönlichkeiten in verschiedensten Bereichen (Galton<br />
1869/1962) <strong>und</strong> kam zu dem Schluss, dass Begabung in der Familie<br />
liegt: Sehr nahe Verwandte eines bedeutenden Mannes (sein Vater,<br />
Bruder, Sohn) erbrachten mit höherer Wahrscheinlichkeit auch<br />
selbst außergewöhnliche Leistungen als weniger nahe Verwandte.<br />
Zu Galtons Fallbeispielen eng verwandter bedeutender Männer<br />
gehörten John Stuart Mill <strong>und</strong> dessen Vater, beide angesehene<br />
englische Philosophen. Allerdings wies Mill darauf hin, dass die<br />
meisten von Galtons bedeutenden Männern gleichzeitig Mitglieder<br />
wohlhabender Familien waren, <strong>und</strong> er schrieb die Beziehung<br />
zwischen ihren Leistungen <strong>und</strong> ihrer Verwandtschaft der Tatsache<br />
zu, dass sie vergleichbare Lebensbedingungen hatten, was<br />
ihren ökonomischen Wohlstand, ihren sozialen Status, ihre Ausbildung<br />
<strong>und</strong> Erziehung <strong>und</strong> weitere Vorteile <strong>und</strong> Gelegenheiten<br />
betrifft. Kurz gesagt erreichten Galtons Prominente nach Mills<br />
Auffassung ihre Bedeutung vor allem wegen ihrer Umwelt statt<br />
wegen ihrer Erbanlagen.<br />
Unser heutiges Verständnis davon, wie Eigenschaften von<br />
den Eltern an die Nachkommen weitergegeben werden, hat seine<br />
Wurzeln in Erkenntnissen von Gregor Mendel, einem österreichischen<br />
Mönch des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, der Vererbungsmuster bei<br />
den Erbsenpflanzen in seinem Klostergarten beobachtete. Später<br />
stellte sich heraus, dass einige Aspekte dieser Vererbungsmuster<br />
für alle Lebewesen Gültigkeit besitzen (wir kommen darauf in<br />
. Abb. 3.3 zurück). Ein viel umfassenderes Verständnis, wie genetische<br />
Einflüsse funktionieren, ermöglichte 1953 die Best<strong>im</strong>mung<br />
der DNA-Struktur, der gr<strong>und</strong>legenden Komponente der Erbsubstanz,<br />
durch James Watson <strong>und</strong> Francis Crick.<br />
Seit dieser bahnbrechenden Entdeckung hat man be<strong>im</strong> Entziffern<br />
des genetischen Codes enorme Fortschritte gemacht. Forscher<br />
haben für unzählige Pflanzen- <strong>und</strong> Tierarten das gesamte<br />
Genom – den vollständigen Satz aller Gene – kartiert, darunter<br />
die Genome von Hühnern, Mäusen, Sch<strong>im</strong>pansen, Menschen<br />
<strong>und</strong> sogar einiger bereits ausgestorbener Spezies einschließlich<br />
von frühen Vorfahren des Menschen wie dem Neandertaler<br />
(Green et al. 2010). So begann ein Konsortium von Genetikern<br />
<strong>im</strong> Jahr 2010 mit der Sequenzierung der Genome von 10.000<br />
verschiedenen Wirbeltierarten (Lander 2011). Von der Untersuchung<br />
der Genome so unterschiedlicher Arten verspricht man<br />
sich Aufschlüsse nicht nur über diese Arten, sondern auch über<br />
die Evolution des Menschen <strong>und</strong> über die Funktionsweise der<br />
Gene. Be<strong>im</strong> Vergleich der Genome unterschiedlicher Arten kam<br />
viel über die genetische Ausstattung von uns Menschen zutage,<br />
<strong>und</strong> es gab zahlreiche Überraschungen.<br />
Genom – Der vollständige Satz von Genen (d. h. Erbinformation tragenden<br />
DNA-Abschnitten) eines Organismus.<br />
Eine dieser Überraschungen war die Anzahl menschlicher Gene:<br />
Die derzeitige Schätzung – r<strong>und</strong> 21.000 Gene – liegt viel niedriger<br />
als die ursprünglichen Schätzungen von 35.000 bis über 100.000<br />
Genen (Clamb et al. 2007). Eine weitere große Überraschung bestand<br />
darin, dass alle Lebewesen die meisten dieser Gene tragen.<br />
Wir Menschen teilen einen großen Anteil unserer Gene mit Bären,<br />
Bachkrebsen, Bohnen <strong>und</strong> Bakterien. Die meisten unserer<br />
Gene dienen dazu, aus uns in aufsteigender Reihenfolge niedere<br />
Tiere, Wirbeltiere, Säugetiere, Pr<strong>im</strong>aten <strong>und</strong> schließlich Menschen<br />
zu machen. Die dritte Überraschung ist ein Highlight des<br />
nächsten Abschnitts.<br />
Je mehr die Forscher zur Rolle von Vererbungsfaktoren bei der<br />
Entwicklung herausfanden, desto stärker wurden ihnen auch die<br />
Grenzen dessen bewusst, was sich allein mit diesen Faktoren erklären<br />
lässt. In ähnlicher Weise wurde mit dem wachsenden Wissen<br />
über den Einfluss der Erfahrung auf die Entwicklung deutlich, dass<br />
Erfahrung allein nur selten eine befriedigende Erklärung bietet. Die<br />
Entwicklung resultiert aus dem engen <strong>und</strong> kontinuierlichen Zusammenspiel<br />
von Genen <strong>und</strong> Erfahrung, von Anlage <strong>und</strong> Umwelt,<br />
<strong>und</strong> dieses Thema steht <strong>im</strong> Zentrum des folgenden Abschnitts.<br />
Die Macht der Gene <strong>und</strong> die Macht der Umwelt<br />
Das enge <strong>und</strong> andauernde Zusammenspiel von Genen <strong>und</strong> Umwelt<br />
ist äußerst komplex. Um die Diskussion der Wechselwirkungen<br />
zwischen genetischen Faktoren <strong>und</strong> Umweltfaktoren<br />
zu vereinfachen, werden wir sie anhand des Modells der Vererbungs-<br />
<strong>und</strong> Umwelteinflüsse strukturieren, das in . Abb. 3.1<br />
dargestellt ist. Drei zentrale Elemente des Modells sind der Genotyp<br />
– das genetische Material, das ein Individuum erbt; der<br />
Phänotyp – die beobachtbare Ausprägung (Expr<strong>im</strong>ierung) des<br />
Genotyps, d. h. das Erscheinungsbild eines Menschen, zu dem<br />
sowohl die körperlichen Merkmale als auch das Verhalten gehören;<br />
<strong>und</strong> schließlich die Umwelt – alle Aspekte (einschließlich<br />
der pränatalen Erfahrungen) des Individuums <strong>und</strong> seiner Umgebung,<br />
die nicht die Gene selbst betreffen.<br />
Genotyp – Das genetische Material, das ein Individuum erbt.<br />
Phänotyp – Das beobachtbare Erscheinungsbild der Körper- oder Verhaltensmerkmale,<br />
d. h. die Ausprägung (Expression) des Genotyps.<br />
Umwelt – Alles außer den Genen, was zum Individuum <strong>und</strong> seiner Umgebung<br />
gehört.
80<br />
Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
..<br />
Abb. 3.1 Entwicklung. Zur<br />
Entwicklung tragen genetische <strong>und</strong><br />
Umweltfaktoren gemeinsam bei. Die<br />
fünf durchnummerierten Funktionsbeziehungen<br />
zwischen diesen<br />
Faktoren sind <strong>im</strong> Text ausführlich<br />
erläutert<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
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16<br />
17<br />
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19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Diese drei Elemente sind an fünf Beziehungen beteiligt, die<br />
gr<strong>und</strong>legend für die Entwicklung jedes <strong>Kindes</strong> sind: (1) am genetischen<br />
Beitrag der Eltern zum Genotyp des <strong>Kindes</strong>; (2) am Beitrag<br />
des Genotyps des <strong>Kindes</strong> zu seinem eigenen Phänotyp; (3)<br />
am Beitrag der Umwelt des <strong>Kindes</strong> zu seinem Phänotyp; (4) am<br />
Einfluss des Phänotyps des <strong>Kindes</strong> auf seine Umgebung; <strong>und</strong> (5)<br />
am Einfluss der Umwelt auf den Genotyp des <strong>Kindes</strong>. Wir werden<br />
jede dieser fünf Relationen nun nacheinander betrachten.<br />
1. Genotyp der Eltern – Genotyp des <strong>Kindes</strong><br />
Die erste Beziehung zwischen dem elterlichen Genotyp <strong>und</strong> dem<br />
Genotyp des <strong>Kindes</strong> betrifft die Übertragung des genetischen<br />
Materials – der Chromosomen <strong>und</strong> Gene – von den Eltern auf<br />
ihre Nachkommen. Einen ersten Blick darauf hat hier bereits in<br />
▶ Kap. 2 die Verschmelzung der Ke<strong>im</strong>zellen vermittelt, wo bei der<br />
Befruchtung aus Eizelle <strong>und</strong> Spermium eine Zygote entsteht. Der<br />
Nucleus jeder Körperzelle, der Zellkern, enthält Chromosomen,<br />
lange, fadenartige Moleküle, die aus zwei verdrillten Strängen<br />
aus DNA (Desoxyribonukleinsäure) bestehen. Die DNA trägt<br />
alle biochemischen Bauanleitungen für die Entstehung <strong>und</strong> die<br />
Funktionen eines Organismus. Diese Informationen sind in Genen<br />
„zusammengepackt“, den Gr<strong>und</strong>einheiten der Vererbung<br />
bei allen Lebewesen. Gene sind Abschnitte von Chromosomen;<br />
genauer gesagt ist jedes Gen ein DNA-Abschnitt, der den Code<br />
für die Produktion eines best<strong>im</strong>mten Proteins (Eiweißmoleküls)<br />
enthält. Einige Proteine sind die Bausteine der Körperzellen;<br />
andere steuern die Funktionen der Zelle. Gene beeinflussen die<br />
Entwicklung <strong>und</strong> das Verhalten ausschließlich über die Produktion<br />
von Proteinen – „die in Fleisch <strong>und</strong> Blut übersetzte DNA-<br />
Information“ (Levine <strong>und</strong> Suzuki 1993, S. 19).<br />
Chromosomen – Lange, fadenartige Moleküle, die genetische Information<br />
übertragen; Chromosomen bestehen aus DNA.<br />
DNA (Desoxyribonukleinsäure) – Die Erbsubstanz, die das genetische Programm<br />
für die biochemischen Prozesse codiert <strong>und</strong> bei der Entstehung <strong>und</strong><br />
der Funktion eines Organismus beteiligt ist.<br />
Gene – DNA-Abschnitte eines Chromosoms, die bei allen Lebewesen das Gr<strong>und</strong>element<br />
der Vererbung sind.<br />
Und jetzt kommt die angekündigte Überraschung: Wie die Forscher<br />
herausgef<strong>und</strong>en haben, machen Gene – jedenfalls „Gene“<br />
<strong>im</strong> Sinne der traditionellen Definition – nur 2 % des menschlichen<br />
Genoms aus (Mouse Genome Sequencing Consortium<br />
2002). Der große Rest der DNA, der lange als nichtcodierende<br />
„Schrott“-DNA angesehen wurde, hat sich als wichtig für die Regulation<br />
der proteincodierenden Gene erwiesen, durch die die<br />
genetische Transmission der Erbinformation bei der Verschmelzung<br />
der Gameten unterstützt wird (z. B. Mendes Soares <strong>und</strong> Valcárcel<br />
2006). Wie viel der nichtcodierenden DNA für lebenswichtige<br />
Funktionen entscheidend ist <strong>und</strong> welche Mechanismen diese<br />
DNA steuert, ist bislang rätselhaft <strong>und</strong> umstritten – das wird sich<br />
be<strong>im</strong> gegenwärtigen Fortschritt der genetischen Forschung schon<br />
bald ganz anders darstellen.<br />
Vererbung be<strong>im</strong> Menschen<br />
Menschen besitzen normalerweise insgesamt 46 Chromosomen<br />
<strong>im</strong> Nucleus jeder Zelle, mit der Ausnahme von Eizellen<br />
<strong>und</strong> Spermien. (Man erinnere sich an die Ausführungen in<br />
▶ Kap. 2, denen zufolge Eizelle <strong>und</strong> Spermium als Ergebnis der<br />
Meiose, der Zellteilung zur Produktion von Ke<strong>im</strong>zellen, jeweils<br />
nur 23 Chromosomen besitzen.) Bei den 46 Chromosomen handelt<br />
es sich um 23 Chromosomenpaare (. Abb. 3.2). Mit einer<br />
Ausnahme – den geschlechtsbest<strong>im</strong>menden Chromosomen –<br />
haben beide Elemente eines Chromosomenpaares ungefähr dieselbe<br />
Größe <strong>und</strong> Form. Ferner trägt jedes Chromosomenpaar,<br />
für gewöhnlich an korrespondierenden Stellen, Gene desselben<br />
Typs. Das bedeutet, dass jedes Paar an übereinst<strong>im</strong>menden Orten<br />
DNA-Sequenzen trägt, die für dieselben Personenmerkmale<br />
relevant sind. Von jedem Elternteil wurde jeweils ein Element<br />
eines jeden Chromosomenpaares vererbt. Jedes Individuum besitzt<br />
demnach zwei Kopien von jedem Gen, eines auf dem vom<br />
Vater <strong>und</strong> eines auf dem von der Mutter geerbten Chromosom.<br />
Ihre Kinder wiederum werden die Hälfte Ihres genetischen Materials<br />
erhalten, <strong>und</strong> Ihre Enkel werden ein Viertel davon besitzen<br />
(so wie Sie selbst die Hälfte Ihrer Gene mit jedem Ihrer<br />
Elternteile gemeinsam haben <strong>und</strong> jeweils ein Viertel mit jedem<br />
Großelternteil).<br />
Die Best<strong>im</strong>mung des Geschlechts<br />
Wie schon angedeutet, gibt es eine wichtige Ausnahme von der<br />
Regel, dass die beiden Elemente eines Chromosomenpaares von<br />
gleicher Größe <strong>und</strong> Form sind <strong>und</strong> dieselben Gene tragen. Diese<br />
Ausnahme betrifft die Geschlechtschromosomen, die das Geschlecht<br />
eines Individuums best<strong>im</strong>men. Frauen besitzen zwei<br />
identische, relativ große Geschlechtschromosomen, die sogenannten<br />
X-Chromosomen, aber Männer besitzen ein X- <strong>und</strong> ein<br />
sehr viel kleineres Y-Chromosom (das so bezeichnet wird, weil es<br />
wie der Buchstabe Y geformt ist). Weil ein weibliches Individuum
Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
81 3<br />
Vielfalt <strong>und</strong> Individualität<br />
Wie wir gesehen haben, stellen die Gene sicher, dass wir anderen<br />
Menschen gleichen – sowohl auf der Ebene der Spezies (wir<br />
sind z. B. alle Zweibeiner <strong>und</strong> besitzen opponierbare Daumen) als<br />
auch auf individueller Ebene (z. B. in Form von Familienähnlichkeit)<br />
in best<strong>im</strong>mter Weise gleichen. Gene sorgen aber auch auf<br />
beiden Ebenen für Unterschiede. Mehrere Mechanismen tragen<br />
zur genetischen Vielfalt unter Menschen bei.<br />
Ein solcher Mechanismus ist die Mutation, eine Veränderung<br />
in einem Abschnitt der DNA. Bei manchen Mutationen handelt<br />
es sich um zufällige, spontane Fehler, während andere durch Umweltfaktoren<br />
verursacht werden. Die meisten Mutationen sind<br />
für den Organismus schädlich. Mutationen, die in den Ke<strong>im</strong>zellen<br />
auftreten, können an den Nachwuchs weitergegeben werden;<br />
viele vererbte Krankheiten <strong>und</strong> Störungen entstanden aus einem<br />
mutierten Gen. In ▶ Exkurs 3.1 wird die genetische Übertragung<br />
von Krankheiten <strong>und</strong> Störungen diskutiert.<br />
Genetische Mutation – Eine Veränderung in einem DNA-Abschnitt.<br />
..<br />
Abb. 3.2 Dieses Karyogramm zeigt die 23 Chromosomenpaare eines ges<strong>und</strong>en<br />
Mannes. Die Chromosomen jedes (homologen) Paares sind ungefähr<br />
gleich groß. Eine Ausnahme bilden die beiden Geschlechtschromosomen<br />
(in der Mitte der untersten Reihe): Das Y-Chromosom, das das männliche<br />
Geschlecht best<strong>im</strong>mt, ist viel kleiner als das X-Chromosom. Das Karyogramm<br />
einer Frau würde zwei X-Chromosomen enthalten. (© Leonard Lessin/Photo<br />
Researchers)<br />
nur über X-Chromosomen verfügt, führt die Meiose-Teilung ihrer<br />
Ke<strong>im</strong>zellen dazu, dass all ihre Eizellen ein X-Chromosom<br />
besitzen. Bei männlichen Individuen, die einen XY-Chromosomensatz<br />
haben, enthält die Hälfte der Spermien ein X- <strong>und</strong> die<br />
andere Hälfte ein Y-Chromosom. Aus diesem Gr<strong>und</strong> ist es <strong>im</strong>mer<br />
der Vater, der das Geschlecht der Nachkommen best<strong>im</strong>mt: Wenn<br />
ein X-tragendes Spermium eine Eizelle befruchtet, entsteht eine<br />
weibliche (XX) Zygote; wird die Eizelle von einem Y-tragenden<br />
Spermium befruchtet, wird die Zygote männlich (XY). Das<br />
Vorhandensein eines Y-Chromosoms – <strong>und</strong> nicht die Tatsache,<br />
dass man nur über ein X-Chromosom verfügt – bewirkt, dass<br />
ein Individuum männlich ist. Auf dem Y-Chromosom befindet<br />
sich ein Gen, das ein Protein codiert, das seinerseits die Bildung<br />
der Hoden auslöst, indem es Gene auf anderen Chromosomen<br />
aktiviert. In der Folge übern<strong>im</strong>mt das in den Hoden produzierte<br />
Testosteron die Ausbildung der männlichen Merkmale (Jegalian<br />
<strong>und</strong> Lahn 2001).<br />
Geschlechtschromosomen – Die Chromosomen (X <strong>und</strong> Y), die das Geschlecht<br />
eines Individuums best<strong>im</strong>men.<br />
Gelegentlich jedoch steigert eine Mutation, die in einer Ke<strong>im</strong>zelle<br />
oder in einer frühen Phase der pränatalen Entwicklung auftritt,<br />
die Lebensfähigkeit von Individuen, weil sie vielleicht die Widerstandskraft<br />
gegenüber einer Krankheit stärkt oder die Fähigkeit<br />
erhöht, sich an einen entscheidenden Umweltaspekt anzupassen.<br />
Solche vorteilhaften Mutationen bilden die Gr<strong>und</strong>lage für die<br />
Evolution. Ein Individuum, welches das mutierte Gen trägt, kann<br />
nämlich mit höherer Wahrscheinlichkeit lange genug leben, um<br />
Nachkommen zu produzieren, die das mutierte Gen dann wiederum<br />
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit besitzen <strong>und</strong> damit<br />
ihre Chance erhöhen, zu überleben <strong>und</strong> sich zu reproduzieren.<br />
Über mehrere Generationen hinweg breiten sich solche vorteilhaften<br />
Gene <strong>im</strong> Genpool der Spezies weiter aus.<br />
Ein zweiter Mechanismus, der die Vielfalt unter den Individuen<br />
fördert, ist die zufällige Kombination der Chromosomen bei<br />
der Bildung von Eizelle <strong>und</strong> Spermium. Im Verlauf der Meiose<br />
werden die 23 Chromosomenpaare zufällig ausgeteilt, sodass<br />
der Zufall best<strong>im</strong>mt, welches Element eines Paares in eine neue<br />
Eizelle beziehungsweise Spermienzelle übergeht. Das bedeutet<br />
bei 23 Chromosomenpaaren, dass es für jede Ke<strong>im</strong>zelle 2 23 oder<br />
knapp 8,4 Mio. mögliche Chromosomenkombinationen gibt.<br />
Wenn sich also zwei Ke<strong>im</strong>zellen – Spermium <strong>und</strong> Eizelle – vereinigen,<br />
stehen die Chancen praktisch bei null, dass zwei beliebige<br />
Individuen – selbst Mitglieder derselben Familie – genau<br />
denselben Genotyp besitzen (mit Ausnahme natürlich von eineiigen<br />
Zwillingen). Weitere Kombinationsmöglichkeiten entstehen<br />
dadurch, dass die beiden Elemente eines Chromosomenpaares<br />
während der Meiose manchmal Teile austauschen. In diesem<br />
Prozess des Crossing-over wechseln DNA-Abschnitte von einem<br />
Chromosom zum anderen. In der Folge sind die Chromosomen,<br />
die Eltern an ihre Nachkommen weitergeben, anders zusammengesetzt<br />
als ihre eigenen.<br />
Crossing-over – Der Prozess, bei dem DNA-Abschnitte von einem Chromosom<br />
auf ein anderes überwechseln; das Crossing-over erhöht die Variation zwischen<br />
den Individuen.
82<br />
Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Exkurs 3.1: Anwendungen: Genetische Übertragung von Krankheiten <strong>und</strong> Störungen | |<br />
Man kennt derzeit Tausende von genetisch<br />
bedingten Krankheiten <strong>und</strong> Störungen des<br />
Menschen – viele davon sind überaus selten.<br />
Bei unserer Diskussion einiger dieser Störungen<br />
richten wir das Hauptaugenmerk auf die<br />
mit ihnen verb<strong>und</strong>enen Verhaltensweisen <strong>und</strong><br />
psychologischen Symptome, wenngleich diese<br />
Störungen häufig mit körperlichen Symptomen<br />
einhergehen. Zu diesen körperlichen Symptomen<br />
gehören ungewöhnliche körperliche<br />
Erscheinungen (z. B. verzerrte Gesichtszüge),<br />
Organdefekte (z. B. Herzfehler) <strong>und</strong> eine atypische<br />
Gehirnentwicklung. Diese <strong>und</strong> andere<br />
genetisch bedingte Krankheitsbilder können<br />
auf verschiedene Weisen vererbt werden.<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
Dominant-rezessive Muster<br />
Viele Krankheitsbilder weisen einfache<br />
Mendel’sche (dominant-rezessive) Vererbungsmuster<br />
auf. Bei vielen gravierenden<br />
genetischen Störungen wird das Krankheitsbild<br />
nur bei Individuen mit zwei rezessiven Allelen<br />
ausgeprägt. Bislang wurden mehr als 2850<br />
Krankheiten identifiziert, die über rezessive<br />
Gene übertragen werden (Lander 2011). Zu<br />
ihnen gehören beispielsweise die Stoffwechselstörung<br />
Phenylketonurie (die <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit der Interaktion von Genotyp <strong>und</strong><br />
Umwelt diskutiert werden; s. unter „Beispiele<br />
für die Genotyp-Umwelt-Interaktion“) <strong>und</strong> die<br />
Sichelzellenanämie (s. unten in diesem Exkurs)<br />
sowie das Tay-Sachs-Syndrom (eine schwere<br />
geistige Behinderung), die Mukoviszidose <strong>und</strong><br />
viele andere Störungen. Zu den Krankheiten,<br />
die von einem dominanten Gen verursacht werden,<br />
sind beispielsweise die Chorea Huntington<br />
(Veitstanz) <strong>und</strong> die Neurofibromatose (die<br />
Veränderungen in der Haut <strong>und</strong> <strong>im</strong> Nervensystem<br />
hervorruft). Und schließlich konnte eine<br />
besondere Form schwerer Artikulations- <strong>und</strong><br />
Sprachstörungen, die in einer einzelnen britischen<br />
Familie verbreitet sind, auf die Mutation<br />
eines einzelnen Gens (bezeichnet als FOXP2)<br />
zurückgeführt werden, das auf dominante<br />
Weise wirkt (Fisher <strong>und</strong> Scharff 2009).<br />
In einigen Fällen kann ein einzelnes Gen sowohl<br />
schädliche als auch vorteilhafte Wirkungen<br />
haben. Solch ein Fall ist die Sichelzellenanämie,<br />
bei der die roten Blutkörperchen eher sichelförmig<br />
als r<strong>und</strong> sind <strong>und</strong> weniger Sauerstoff aufnehmen<br />
können. Diese Blutkrankheit, die etwa<br />
jeden 500. Afroamerikaner betrifft, schwächt<br />
die Körperkonstitution <strong>und</strong> kann tödlich<br />
enden. Es ist eine rezessiv-genetische Störung;<br />
ein Kind, das von beiden Elternteilen je ein<br />
Sichelzellengen erbt, wird an dieser Krankheit<br />
leiden. Menschen mit einem normalen <strong>und</strong><br />
einem Sichelzellengen weisen best<strong>im</strong>mte<br />
Unregelmäßigkeiten in ihren Blutzellen auf,<br />
bemerken aber normalerweise keine negativen<br />
Auswirkungen. Sofern sie in solchen Regionen<br />
der Welt leben, in denen die Malaria grassiert<br />
(wie in Westafrika), sind sie sogar <strong>im</strong> Vorteil,<br />
weil die Sichelzellen in ihrem Blut ihnen eine<br />
besondere Widerstandskraft gegen diese tödliche<br />
Krankheit verleihen. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, als<br />
Europäer (denen das Sichelzellengen fehlt) mit<br />
der Erk<strong>und</strong>ung Afrikas begannen, wurde die<br />
Malaria als die „Krankheit des weißen Mannes“<br />
bekannt, weil so viele europäische Forschungsreisende<br />
daran starben.<br />
Man muss betonen, dass selbst dann, wenn<br />
eine Krankheit letztlich durch ein einzelnes Gen<br />
verursacht wird, nicht dieses eine Gen für alle<br />
Symptome der Krankheit verantwortlich ist.<br />
Dieses einzelne Gen setzt <strong>im</strong> Körper eine Lawine<br />
von Ereignissen nur in Gang, etwa das Ein- <strong>und</strong><br />
Ausschalten diverser Gene, das sich auf viele<br />
verschiedene Aspekte der weiteren Entwicklung<br />
des betroffenen Menschen auswirkt.<br />
12<br />
13<br />
14<br />
Polygenetische Vererbung<br />
Viele der häufigen Krankheiten <strong>und</strong> Störungsbilder<br />
des Menschen werden auf<br />
eine Kombinationswirkung mehrerer Gene<br />
zurückgeführt, die oft zudem mit Umweltfaktoren<br />
zusammenhängt. Unter die zahlreichen<br />
Krankheiten dieser Kategorie fallen einige<br />
Formen von Krebs <strong>und</strong> Herzerkrankungen<br />
sowie Diabetes vom Typ 1 <strong>und</strong> Typ 2 <strong>und</strong><br />
Asthma. Auch bei psychiatrischen Störungen<br />
wie der Schizophrenie <strong>und</strong> Verhaltensstörungen<br />
wie dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom<br />
sind wahrscheinlich mehrere Gene beteiligt.<br />
Bislang konnten mehr als 1100 Genorte, die<br />
mit menschlichen Merkmalen zusammenhängen,<br />
dank ständig verbesserter Methoden<br />
der genetischen Epidemiologie identifiziert<br />
werden (Lander 2011).<br />
15<br />
16<br />
17<br />
Geschlechtsgeb<strong>und</strong>ene Vererbung<br />
Wie <strong>im</strong> Haupttext erwähnt, werden manche<br />
Krankheiten, die von einem einzelnen Gen verursacht<br />
sind, auf dem X-Chromosom weitergegeben<br />
<strong>und</strong> treten bei Männern weit häufiger<br />
auf. (Auch Frauen können solche Krankheiten<br />
erben, aber nur in dem sehr seltenen Fall, in<br />
dem sie auf ihren beiden X-Chromosomen<br />
die verantwortlichen rezessiven Allele erben.)<br />
Geschlechtsgeb<strong>und</strong>ene Störungen reichen<br />
von relativ geringfügigen Problemen wie<br />
Glatzenbildung bei Männern <strong>und</strong> Rot-Grün-<br />
Farbenblindheit bis zu schwerwiegenden<br />
Störungen wie der Bluterkrankheit (Hämophilie)<br />
<strong>und</strong> der Duchenne-Muskeldystrophie.<br />
Eine weitere geschlechtsgeb<strong>und</strong>ene Störung<br />
ist das Syndrom des fragilen X-Chromosoms<br />
(Marker-X-Syndrom), die verbreitetste vererbte<br />
Form der geistigen Behinderung.<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Chromosomenanomalien<br />
Eine weitere Klasse von genetischen Störungen<br />
beruht auf Fehlern bei der Bildung<br />
der Ke<strong>im</strong>zellen während der Meioseteilung,<br />
sodass sich einer Zygote mit entweder<br />
mehr oder weniger Chromosomen bildet,<br />
als es dem normalen Chromosomensatz<br />
entspricht. Die meisten derartigen Zygoten<br />
können nicht überleben, aber manchen<br />
gelingt es dennoch. Das Down-Syndrom wird<br />
durch überzähliges Chromosomenmaterial<br />
verursacht, am häufigsten dadurch, dass sich<br />
die Eizelle der Mutter nicht richtig teilt <strong>und</strong><br />
das befruchtete Ei eine zusätzliche Kopie<br />
des Chromosoms 21 enthält. Die Wahrscheinlichkeit<br />
eines solchen Fehlers bei der<br />
Zellteilung steigt mit dem Alter der Mutter,<br />
<strong>und</strong> die Geburtshäufigkeit von Kindern mit<br />
Down-Syndrom ist bei Frauen über 35 Jahre<br />
deutlich höher als bei jüngeren Frauen. Auch<br />
das Alter des Vaters hat einen, wenn auch<br />
geringeren, Einfluss auf das Auftreten des<br />
Down-Syndroms (De Souza et al. 2009; Hurles<br />
2012). Das Kind auf dem Foto in diesem<br />
Exkurs zeigt einige der Gesichtsmerkmale,<br />
die für Down-Syndrom-Kinder typisch sind;<br />
weiterhin ist diese genetische Störung durch<br />
(leichte bis schwere) geistige Behinderung,<br />
eine Reihe körperlicher Probleme <strong>und</strong> ein<br />
liebenswürdiges, fre<strong>und</strong>liches Temperament<br />
gekennzeichnet.<br />
Andere Störungen entstehen wegen überzähliger<br />
oder fehlender Geschlechtschromosomen.<br />
Be<strong>im</strong> Klinefelter-Syndrom beispielsweise, das in<br />
den USA bei einem unter 500 bis 1000 Männern<br />
auftritt, liegt ein zusätzliches X-Chromosom<br />
vor (XXY); als körperliche Anzeichen dieses<br />
Syndroms können verkleinerte Hoden <strong>und</strong><br />
längere Gliedmaßen auftreten, die allerdings<br />
oft unbemerkt bleiben, aber es kommt häufig<br />
zur Unfruchtbarkeit. Bei einer unter 2500<br />
US-amerikanischen Frauen tritt das Turner-<br />
Syndrom auf, bei dem ein X-Chromosom (X0)<br />
fehlt. Das Turner-Syndrom ist durch Kleinwuchs,<br />
eine eingeschränkte Sexualentwicklung in der<br />
Pubertät <strong>und</strong> Unfruchtbarkeit gekennzeichnet.
Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
83 3<br />
Exkurs 3.1 (Fortsetzung) | |<br />
Genanomalien<br />
Ähnlich wie genetische Störungen durch<br />
zusätzliche oder fehlende Chromosomen<br />
entstehen, können auch aus zusätzlichen,<br />
fehlenden oder anomalen Genen genetische<br />
Störungen entstehen. Ein eindrucksvolles Beispiel<br />
ist das Williams-Syndrom. Bei dieser seltenen<br />
genetischen Störung tritt eine Vielzahl<br />
von Behinderungen auf, darunter auffällige<br />
Beeinträchtigungen räumlicher <strong>und</strong> visueller<br />
Fertigkeiten sowie geringe Einschränkungen<br />
der Sprachfähigkeit (z. B. Musolino <strong>und</strong> Landau<br />
2012; Skwerer <strong>und</strong> Tager-Flusberg 2011).<br />
Außerdem ist für Menschen mit Williams-<br />
Syndrom typisch, dass sie eine extrovertierte<br />
<strong>und</strong> fre<strong>und</strong>liche Persönlichkeit haben <strong>und</strong> an<br />
Ängsten <strong>und</strong> Phobien leiden. Dieses Krankheitsbild<br />
wird auf das Fehlen eines kleinen<br />
Abschnitts von schätzungsweise 20 Genen auf<br />
Chromosom 7 zurückgeführt. Bei manchen Betroffenen<br />
sind jedoch weniger Gene zerstört,<br />
<strong>und</strong> der Grad der Behinderung ist geringer,<br />
sodass man einen Zusammenhang zwischen<br />
der Anzahl der fehlenden Gene <strong>und</strong> den ausgeprägten<br />
Symptomen vermutet (Karmiloff-<br />
Smith et al. 2012). Interessanterweise gibt<br />
es auch Menschen mit einer Verdoppelung<br />
der Gensequenz, die be<strong>im</strong> Williams-Syndrom<br />
fehlt. Bei dieser genetischen Störung, die als<br />
7q11.23-Duplikation bezeichnet wird, kehren<br />
sich die Beeinträchtigungen gleichsam um:<br />
Jetzt gehen reduzierte Sprachfähigkeiten mit<br />
vergleichsweise hohen visuospatialen Fertigkeiten<br />
einher (Mervis <strong>und</strong> Velleman 2011;<br />
Osborne <strong>und</strong> Mervis 2007).<br />
Defekte von Regulatorgenen<br />
Viele Störungen werden auf Defekte in Regulatorgenen<br />
zurückgeführt, die die Expression<br />
anderer Gene steuern. So kann ein Defekt<br />
bei dem Regulatorgen, das die Entwicklung<br />
zum Mann initiiert, die normale Ereigniskette<br />
abbrechen lassen, was gelegentlich dazu<br />
führt, dass das genetisch männliche Neugeborene<br />
weibliche Genitalien besitzt. Solche<br />
Fälle werden häufig erst dann bemerkt, wenn<br />
bei einem Mädchen die Menstruation nicht<br />
einsetzt oder wenn sich bei einem ungewollt<br />
kinderlosen Paar herausstellt, dass die Person,<br />
die schwanger werden will, genetisch ein<br />
Mann ist.<br />
Unbekannte genetische Basis<br />
Zusätzlich zu den bekannten genetisch verursachten<br />
Krankheiten gibt es viele Syndrome,<br />
bei denen das Vererbungsmuster auf genetische<br />
Ursachen schließen lässt, die jedoch<br />
bislang nicht identifiziert werden konnten.<br />
Dyslexie zum Beispiel ist eine in hohem Maße<br />
erblich bedingte Leseschwäche, die vermutlich<br />
von einer ganzen Reihe genbasierter<br />
Bedingungen herrührt. Ein weiteres Beispiel<br />
ist das Tourette-Syndrom. Bei den meisten<br />
Betroffenen sieht man eine Vielzahl von Tics,<br />
von unwillkürlichen <strong>und</strong> nervösen Muskelzuckungen<br />
bis zum zwanghaften Herausbrüllen<br />
von Obszönitäten. Den Forschungsergebnissen<br />
nach könnte das Tourette-Syndrom auf<br />
dominanter, rezessiver <strong>und</strong> intermediärer<br />
Vererbung beruhen; das macht es schwer, die<br />
Ursache präzise zu best<strong>im</strong>men (O’Rourke et al.<br />
2009).<br />
Entsprechendes gilt für das Spektrum der<br />
autistischen Störungen, zu dem sowohl der<br />
Autismus als auch das Asperger-Syndrom<br />
gehören <strong>und</strong> das einen weiten Bereich von<br />
Defiziten in den sozialen Fertigkeiten <strong>und</strong> der<br />
Kommunikation umspannt. In den Vereinigten<br />
Staaten wurde 2008 in vielen Bezirken die<br />
Prävelenz von autistischen Störungen durch<br />
„Centers for Disease Control“ erhoben, wobei<br />
die Prävalenz bei achtjährigen Jungen auf ein<br />
Kind unter 88 Jungen geschätzt wurde (<strong>im</strong><br />
Alter von acht Jahren wird die Diagnose am<br />
häufigsten gestellt); Jungen werden fünfmal<br />
häufiger als autistisch diagnostiziert als<br />
Mädchen (Baio 2012). Typischerweise werden<br />
autistische Störungen anhand verminderter<br />
sozialer <strong>und</strong> kommunikativer Fertigkeiten <strong>und</strong><br />
eines reduzierten Interessenspektrums oder<br />
eines repetitiven Verhaltens diagnostiziert.<br />
Menschen mit Asperger-Syndrom zeigen dieselben<br />
Symptome in geringerer Ausprägung,<br />
wobei ihre Sprachfähigkeiten jedoch nicht<br />
reduziert sind.<br />
Zum Störungsspektrum gehört auch, dass<br />
manche Betroffene neben den verschiedenen<br />
Defiziten einige bemerkenswerte Fähigkeiten<br />
in eng umgrenzten Bereichen aufweisen, etwa<br />
in Mathematik oder <strong>im</strong> Zeichnen. Und man<br />
weiß, dass dieses Syndrom in hohem Maße<br />
erblich ist: Bei eineiigen Zwillingen (deren<br />
Gene zu 100 % übereinst<strong>im</strong>men) wird, wie einschlägige<br />
Studien ergaben, doppelt so oft für<br />
beide die Diagnose Autismus gestellt wie bei<br />
zweieiigen Zwillingen (bei denen nur 50 % der<br />
Gene übereinst<strong>im</strong>men) (Ronald <strong>und</strong> Hoekstra<br />
2011). Die Schwierigkeit, die genetischen<br />
Ursachen des autistischen Störungsspektrums<br />
zu spezifizieren, lässt sich daran verdeutlichen,<br />
dass derzeit mehr als 100 Gene als Kandidaten<br />
infrage kommen (Geschwind 2011; Xu et al.<br />
2012).<br />
In den vergangenen Jahrzehnten stieg die<br />
Anzahl der als autistisch diagnostizierten<br />
Menschen rapide an. Tatsächlich entspricht die<br />
2008 erhobene Prävalenz bei Achtjährigen in<br />
den USA einer Zunahme von 78 % gegenüber<br />
dem Vergleichsjahr 2002 (Baio 2012). Das wird<br />
teilweise der zunehmenden Aufmerksamkeit<br />
für dieses Syndrom zugeschrieben; Eltern,<br />
Lehrer <strong>und</strong> Ärzte stellen Autismus häufiger<br />
fest. Außerdem werden die Diagnosekriterien<br />
inzwischen weiter gefasst als früher. Deshalb<br />
ist nicht klar, inwieweit die Zunahme der<br />
Diagnosen mit einem vermehrten Auftreten<br />
der autistischen Störungen einhergeht (z. B.<br />
Gernsbacher et al. 2005).<br />
Ein Faktor jedoch, den man breit in der<br />
Öffentlichkeit diskutiert hatte, kann als<br />
mögliche Ursache definitiv ausgeschlossen<br />
werden: die Kombinations<strong>im</strong>pfung gegen<br />
Masern, Mumps <strong>und</strong> Röteln, den kleine Kinder<br />
routinemäßig erhalten (McMahon et al. 2008;<br />
Price et al. 2010). Tatsächlich wurde die Studie,<br />
in der dieser Zusammenhang zwischen der<br />
Impfung <strong>und</strong> Autismus behauptet worden war<br />
(Wakefield et al. 1998) als fehlerhaft widerlegt<br />
(Godlee et al. 2011). Leider haben viele Eltern<br />
<strong>im</strong>mer noch Vorbehalte gegen diese wichtige<br />
Impfung <strong>und</strong> setzen ihre Kinder unnötig dem<br />
Risiko der Krankheiten aus, denen der Impfstoff<br />
vorbeugt.<br />
..<br />
Die häufigste identifizierte Ursache für geistige<br />
Behinderung ist das Down-Syndrom, das <strong>im</strong><br />
Durchschnitt eines von 700 Kindern betrifft. Mit<br />
dem Alter der Eltern, insbesondere der Mutter,<br />
steigt das Risiko drastisch an; von Müttern,<br />
die 45 Jahre oder älter sind, kommt fast jedes<br />
30. Baby mit Down-Syndrom auf die Welt. Das<br />
Ausmaß der geistigen Behinderung variiert<br />
sehr stark <strong>und</strong> hängt zum Teil von der Art der<br />
Förderung <strong>und</strong> Ermutigung ab, die die Kinder<br />
erhalten. (© Lauren Shear/Science Source)
84<br />
Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
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..<br />
Elvis-Imitatoren sehen aus wie Elvis, grinsen wie Elvis <strong>und</strong> singen sogar wie<br />
Elvis (oder zumindest so ähnlich). Aber sie sind nicht der King. Die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass zwei Menschen denselben Genotyp haben, ist praktisch<br />
gleich null. (© Richard Ellis/Alamy)<br />
2. Genotyp des <strong>Kindes</strong> – Phänotyp des <strong>Kindes</strong><br />
Wir kommen nun zu der zweiten der in . Abb. 3.1 dargestellten<br />
Beziehungen: der Beziehung zwischen dem Genotyp <strong>und</strong> dem<br />
Phänotyp eines Individuums. Unsere Untersuchung des genetischen<br />
Beitrags zum Phänotyp beginnt mit einer gr<strong>und</strong>legenden<br />
Feststellung: Obwohl jede Zelle in unserem Körper Kopien aller<br />
Gene enthält, die wir von unseren Eltern geerbt haben, kommen<br />
nur einige dieser Gene zur Ausprägung. Zu jedem Zeitpunkt<br />
sind in jeder beliebigen Körperzelle nur einige Gene aktiv (oder<br />
angeschaltet) <strong>und</strong> andere nicht. Manche Gene, die in Neuronen<br />
massiv am Werke sind, bleiben in Fußnägelzellen völlig inaktiv.<br />
Dafür gibt es mehrere Gründe.<br />
Genexpression oder die Ausprägung der Gene<br />
bei Entwicklungsveränderungen<br />
Gene beeinflussen Entwicklung <strong>und</strong> Verhalten nur dann, wenn<br />
sie angeschaltet sind, <strong>und</strong> die menschliche Entwicklung verläuft<br />
von der Befruchtung bis zum Tod nur dann normal, wenn Gene<br />
am richtigen Ort, zur richtigen Zeit <strong>und</strong> für die richtige Zeitdauer<br />
an- oder abgeschaltet werden. Manche Gene werden nur in wenigen<br />
Zellen <strong>und</strong> nur ein paar St<strong>und</strong>en lang angeschaltet <strong>und</strong><br />
bleiben dann für <strong>im</strong>mer stumm. Dieses Muster ist typisch für<br />
die embryonale Entwicklung, beispielsweise wenn die Gene, die<br />
in best<strong>im</strong>mten Zellen angeschaltet sind, diese Zellen dazu veranlassen,<br />
Arme, Hände <strong>und</strong> Rillenmuster in den äußeren Fingergliedern<br />
zu bilden. Andere Gene sind an den Gr<strong>und</strong>funktionen<br />
praktisch aller Zellen zu fast jedem Zeitpunkt beteiligt.<br />
Das An- <strong>und</strong> Abschalten von Genen wird in erster Linie<br />
durch Regulatorgene gesteuert. Die Aktivierung <strong>und</strong> Deaktivierung<br />
eines Gens ist <strong>im</strong>mer Teil einer Kette genetischer Ereignisse.<br />
Wenn ein Gen eingeschaltet wird, bewirkt es bei anderen Genen<br />
das Ein- oder Ausschalten, was sich auf den Aktivitätsstatus weiterer<br />
Gene auswirkt. Gene funktionieren also niemals isoliert.<br />
Sie gehören vielmehr zu ausgedehnten Netzwerken, in denen<br />
die Expression eines Gens Vorbedingung der Expression eines<br />
anderen ist, <strong>und</strong> so fort. Das kontinuierliche An- <strong>und</strong> Abschalten<br />
von Genen liegt der Entwicklung lebenslang zugr<strong>und</strong>e, von<br />
der allerersten pränatalen Zelldifferenzierung über die genetisch<br />
induzierten Ereignisse der Pubertät bis hin zu den vielen Veränderungen,<br />
die mit dem Altern zusammenhängen.<br />
Regulatorgene – Gene, die die Aktivität anderer Gene steuern.<br />
Externe Faktoren können das An- <strong>und</strong> Abschalten der Gene beeinflussen.<br />
Ein dramatisches Beispiel ist die Wirkung von Contergan<br />
auf die Entwicklung der Gliedmaßen, die wir in ▶ Kap. 2<br />
beschrieben haben. Dieses Sedativum störte <strong>im</strong> pränatalen<br />
Prozess die normale Aktivierung der Gene für das Wachstum<br />
der Gliedmaßen (Ito et al. 2010). Ein weiteres Beispiel ist das<br />
visuelle System: Damit es sich normal entwickelt, sind visuelle<br />
Erfahrungen notwendig, durch die best<strong>im</strong>mte Gene angeschaltet<br />
werden, die ihrerseits weitere Gene <strong>im</strong> visuellen Cortex anschalten<br />
(Maya-Vetencourt <strong>und</strong> Origlia 2012). Die Auswirkungen<br />
verminderter Seherfahrung lassen sich bei Kindern mit einer<br />
unbehandelten Trübung der Augenlinse (Katarakt) beobachten,<br />
wie <strong>im</strong> Laufe dieses Kapitels noch diskutiert wird.<br />
Die Tatsache, dass Regulatorgene andere Gene wiederholt in<br />
unterschiedlichen Mustern an- <strong>und</strong> abschalten, bedeutet, dass ein<br />
best<strong>im</strong>mtes Gen während der Entwicklung zu vielen Zeitpunkten<br />
an vielen Orten wirken kann. Dazu ist nichts weiter erforderlich,<br />
als dass die Genexpression zu unterschiedlichen Zeiten durch<br />
unterschiedliche Regulatorgene gesteuert wird. Dieser Mechanismus<br />
des wiederkehrenden An- <strong>und</strong> Abschaltens einzelner Gene<br />
führt zu einer enormen Vielfalt in der Genexpression. Betrachten<br />
Sie als Analogie dazu dieses Buch, das mit nur 26 Buchstaben <strong>und</strong><br />
vermutlich kaum mehr als ein paar Tausend unterschiedlichen<br />
Wörtern aus Kombinationen dieser Buchstaben geschrieben ist.<br />
Die Bedeutung ergibt sich aus der Reihenfolge, in der die Buchstaben<br />
auftreten, also der Reihenfolge, in der sie <strong>im</strong> Schreibprozess<br />
von den Autoren gleichsam „an- <strong>und</strong> abgeschaltet“ wurden.<br />
Genexpression <strong>und</strong> Dominanzmuster<br />
Viele Gene eines Individuums kommen nie zur Ausprägung, <strong>und</strong><br />
viele andere werden nur teilweise expr<strong>im</strong>iert. Das liegt unter anderem<br />
daran, dass etwa ein Drittel der menschlichen Gene zwei<br />
oder mehr unterschiedliche Formen besitzen, die sogenannten<br />
Allele. Die Allele eines best<strong>im</strong>mten Gens beeinflussen dasselbe<br />
Merkmal oder dieselbe Eigenschaft (z. B. die Augenfarbe), aber
Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
85 3<br />
sie tragen zu unterschiedlichen Ausprägungen dieses Merkmals<br />
bei (z. B. braunen, blauen oder grauen Augen).<br />
Allele – Zwei oder mehr unterschiedliche Zustandsformen eines Gens für ein<br />
best<strong>im</strong>mtes Merkmal.<br />
Betrachten wir das einfachste Muster der Genexpression – das<br />
von Mendel entdeckte Vererbungsmuster, das dominant-rezessive<br />
Vererbungsmuster. Die Erklärung dafür (die Mendel noch nicht<br />
kannte), ergibt sich daraus, dass manche Gene genau zwei Allele<br />
besitzen, <strong>und</strong> zwar ein dominantes <strong>und</strong> ein rezessives. Bei diesem<br />
Vererbungsmuster gibt es nur zwei Möglichkeiten:<br />
1. Ein Individuum erbt zwei gleiche Allele – zwei dominante<br />
oder zwei rezessive; in diesem Fall ist es für das entsprechende<br />
Merkmal homozygot (reinerbig).<br />
2. Das Individuum erbt zwei verschiedene Allele – ein dominantes<br />
<strong>und</strong> ein rezessives; dann ist es mit Blick auf das fragliche<br />
Merkmal heterozygot (mischerbig).<br />
Ist ein Individuum homozygot, mit entweder zwei dominanten<br />
oder zwei rezessiven Allelen, dann wird das dazugehörige<br />
Merkmal expr<strong>im</strong>iert. Ist ein Individuum bei einem best<strong>im</strong>mten<br />
Merkmal heterozygot, dann kommt nur das dominante Allel zur<br />
Ausprägung (. Abb. 3.3).<br />
Dominantes Allel – Diejenige Genform <strong>im</strong> Chromosom, die als Merkmal zur<br />
Ausprägung kommt <strong>und</strong> gleichsam das zweite, rezessive Gen dominiert.<br />
Rezessives Allel – Diejenige Genform <strong>im</strong> Chromosom, die nicht zum Ausdruck<br />
kommt, falls ein dominantes Allel vorhanden ist.<br />
Homozygot (reinerbig) – Individuen, die für ein Merkmal zwe<strong>im</strong>al dasselbe<br />
Allel haben.<br />
Heterozygot (mischerbig) – Individuen, die für ein Merkmal zwei verschiedene<br />
Allele haben.<br />
Zur Illustration betrachten wir zwei Eigenschaften, die für das<br />
menschliche Überleben nicht besonders wichtig sind: die Fähigkeit,<br />
die Zunge der Länge nach zusammenzurollen, <strong>und</strong> Locken<br />
auf dem Kopf. Wer seine Zunge der Länge nach wie zu einem<br />
Rohr rollen kann, hat zumindest einen Elternteil (nicht notwendigerweise<br />
beide Elternteile), der diese bemerkenswerte, aber<br />
nutzlose Fähigkeit ebenfalls besitzen muss. Aus dieser Aussage<br />
(zusammen mit . Abb. 3.3) sollte man in der Lage sein herauszufinden,<br />
dass das Zungenrollen von einem dominanten Allel<br />
gesteuert wird. Im Unterschied dazu müssen, wenn jemand glatte<br />
Haare hat, beide Elternteile ein Allel für dieses Merkmal tragen.<br />
Es kann jedoch sein, dass keiner der beiden tatsächlich glatte<br />
Haare besitzt. Das liegt daran, dass glatte Haare von einem rezessiven<br />
Gen <strong>und</strong> gelockte Haare von einem dominanten Gen<br />
gesteuert werden. Geschwister, von denen das eine Locken <strong>und</strong><br />
das andere glatten Strähnen auf dem Kopf hat, können durchaus<br />
von denselben Eltern abstammen. In diesem Fall dürfen aber<br />
nicht beide Elternteile glatte Haare besitzen.<br />
Die Geschlechtschromosomen bringen eine interessante Nuance<br />
in die Geschichte der Dominanzmuster. Das X-Chromosom<br />
trägt etwa 1500 Gene, während das viel kleinere Y-Chromosom<br />
nur 200 Gene trägt. Wenn nun ein Mädchen ein rezessives Allel<br />
auf dem X-Chromosom der Mutter erbt, besteht eine relativ<br />
..<br />
Abb. 3.3 Mendel’sche Vererbungsmuster. Dargestellt sind die<br />
Mendel’schen Vererbungsmuster zweier braunhaariger Elternteile, die beide<br />
bezüglich der Haarfarbe heterozygot sind. Das Allel für braunes Haar (B)<br />
ist dominant, das für blondes Haar (b) ist rezessiv. Man beachte, dass diese<br />
Eltern eine Chance von 3:4 haben, Kinder mit braunen Haaren zu bekommen.<br />
Ihre Chance, braunhaarige Kinder mit einem Gen für blondes Haar zu bekommen,<br />
steht 2:4, <strong>und</strong> die für ein blondes Kind 1:4<br />
hohe Wahrscheinlichkeit, dass auf dem zweiten X-Chromosom<br />
vom Vater das entsprechende Allel dominant ist <strong>und</strong> das rezessive<br />
Allel nicht ausgeprägt wird. Wenn umgekehrt ein Junge dasselbe<br />
rezessive Allel auf dem X-Chromosom seiner Mutter erbt, wird<br />
auf dem vom Vater geerbten Y-Chromosom wahrscheinlich kein<br />
dominantes Allel vorhanden sein, das die Expression best<strong>im</strong>mt.<br />
Dieser Unterschied bei der Vererbung von Genen auf den Geschlechtschromosomen<br />
erklärt die höhere Anfälligkeit männlicher<br />
Individuen, die wir in ▶ Exkurs 2.2 beschrieben haben: Männliche<br />
Nachkommen leiden mit größerer Wahrscheinlichkeit an einer<br />
Vielzahl vererbter Störungen, die von rezessiven Allelen auf ihrem<br />
X-Chromosom verursacht werden (s. auch ▶ Exkurs 3.1).<br />
Trotz seiner historischen Bedeutung trifft das dominantrezessive<br />
Mendel’sche Vererbungsmuster, bei dem ein einzelnes<br />
Gen zu einem best<strong>im</strong>mten Merkmal führt, nur für relativ wenige<br />
menschliche Eigenschaften zu – darunter z. B. die Haarfarbe,<br />
Blutgruppe, Körperbehaarung sowie viele genetisch bedingte<br />
Störungen. Meist jedoch kann ein einziges Gen mehrere Merkmale<br />
beeinflussen; beide Allele können vollständig zur Expression<br />
kommen oder bei heterozygoten Individuen in einer Mischform<br />
auftreten, <strong>und</strong> manche Gene werden unterschiedlich ausgeprägt,<br />
je nachdem, ob sie von der Mutter oder vom Vater geerbt wurden.<br />
Die Vererbungsmuster sind bei denjenigen Merkmalen <strong>und</strong><br />
Verhaltenseigenschaften, die für Verhaltenswissenschaftler von<br />
vorrangigem Interesse sind, noch um vieles komplizierter. Eigenschaften<br />
wie Schüchternheit, Aggressivität, Sensationssuche<br />
oder Empathie beruhen auf polygenetischer Vererbung, bei<br />
der mehrere verschiedene Gene zu einer best<strong>im</strong>mten phänotypischen<br />
Erscheinungsform beitragen. Der Einfluss einzelner Gene<br />
ist bei Merkmalen, an deren Ausprägung viele Gene beteiligt<br />
sind, schwer festzustellen. Deshalb sollte man Zeitungsmeldungen,<br />
in denen die „Entdeckung eines Gens für“ eine komplexe<br />
menschliche Eigenschaft oder Prädisposition berichtet wird, mit<br />
Skepsis begegnen.
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Abb. 3.4 Das Konzept der Reaktionsnorm. Diese klassische Abbildung veranschaulicht, wie unterschiedlich sich ein best<strong>im</strong>mter Genotyp in unterschiedlichen<br />
Umgebungen entwickelt. Von sieben einzelnen Pflanzen wurden jeweils drei Ableger gezogen; die Ableger in jeder der drei Reihen besaßen also<br />
identische Gene. Dann pflanzte man die drei Ableger einer jeden Pflanze in drei verschiedene Höhenlagen, vom Meeresspiegel bis zum Hochgebirge. Die<br />
zu untersuchende Frage war, ob die <strong>im</strong> Tiefland üblichen Wachstumsunterschiede auch in den beiden höheren Lagen fortbestehen. Wie man sieht, ist das<br />
Wachstum in den verschiedenen Umgebungen weder gleich, noch folgt es einer Höhenregel. So wachsen zum Beispiel die Ableger der ersten Pflanze (links)<br />
auf Meeresspiegelniveau <strong>und</strong> in Höhenlagen am höchsten, in mittleren Lagen ist der Ableger eine der kleinsten Pflanzen. Die vierten Ableger von links sind in<br />
mittleren Lagen am höchsten <strong>und</strong> in Höhenlagen am niedrigsten. Man beachte, dass keine einzige Pflanze in allen drei Umgebungen durchgängig die größten<br />
oder die kleinsten Ableger aufweist. „Der Phänotyp ist die einzigartige Folge eines best<strong>im</strong>mten Genotyps, der sich in einer best<strong>im</strong>mten Umgebung entwickelt“<br />
(Lewontin 1982, S. 22 f.)<br />
Polygenetische Vererbung – Vererbung, bei der Eigenschaften oder Wesenszüge<br />
von mehr als einem Gen best<strong>im</strong>mt werden.<br />
3. Umwelt des <strong>Kindes</strong> – Phänotyp des <strong>Kindes</strong><br />
Wir kommen jetzt zu der dritten Beziehung in unserem Modell<br />
– dem Einfluss der Umwelt auf den Phänotyp des <strong>Kindes</strong>. (Zur<br />
Erinnerung: Umwelt schließt alles ein, was nicht <strong>im</strong> genetischen<br />
Material selbst enthalten ist, insbesondere auch die in ▶ Kap. 2<br />
besprochenen pränatalen Erfahrungen.) Das Modell zeigt, dass<br />
beobachtbare Eigenschaften des <strong>Kindes</strong> aus der Wechselbeziehung<br />
von Umweltfaktoren der genetischen Ausstattung des <strong>Kindes</strong><br />
resultieren.<br />
Wegen der permanenten Wechselwirkung zwischen Genotyp<br />
<strong>und</strong> Umwelt wird sich ein best<strong>im</strong>mter Genotyp in verschiedenen<br />
Umwelten auch unterschiedlich entwickeln. Diese<br />
Vorstellung kommt in dem Konzept der Reaktionsnorm zum<br />
Ausdruck (Dobzhansky 1955), das sich auf jene Phänotypen<br />
bezieht, die potenziell aus einem best<strong>im</strong>mten Genotyp in seiner<br />
Beziehung zu allen Umwelten hervorgehen, in denen er überleben<br />
<strong>und</strong> sich entwickeln könnte. Nach diesem Konzept würde<br />
man für einen jeweiligen Genotyp in variierenden Umwelten<br />
eine gewisse Variationsbandbreite unterschiedlicher Resultate<br />
erwarten. Ein Kind mit einem best<strong>im</strong>mten Genotyp wird sich<br />
in einer liebevollen, unterstützenden Familie deutlich anders<br />
entwickeln als in einer zerstörerischen, missbrauchenden Familie.<br />
. Abbildung 3.4 zeigt eine klassische Illustration der Reaktionsnorm<br />
bei einer Wechselwirkung zwischen Genotyp <strong>und</strong><br />
Umwelt für eine Pflanze.<br />
Reaktionsnorm – Das Konzept, das alle Phänotypen umfasst, die theoretisch<br />
aus einem best<strong>im</strong>mten Genotyp in seiner Beziehung zu jeder Umgebung entstehen<br />
können, in der dieser Genotyp überleben <strong>und</strong> sich entwickeln kann.<br />
Beispiele für die Genotyp-Umwelt-Interaktion<br />
Interaktionen zwischen Genotyp <strong>und</strong> Umwelt können direkt <strong>im</strong><br />
Tiermodell untersucht werden, indem man Tiere mit bekannten<br />
Genotypen in einer breiten Vielfalt von Umweltbedingungen aufwachsen<br />
lässt, wobei die Tiere den Umweltbedingungen nach
Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
87 3<br />
dem Zufallsprinzip zugeordnet werden. Wenn sich genetisch<br />
identische Tiere in verschiedenen Umwelten unterschiedlich<br />
entwickeln, können die Forscher daraus schließen, dass die Umwelteinflüsse<br />
dafür verantwortlich sein müssen. Zwar können<br />
Wissenschaftler natürlich nicht nach dem Zufallsprinzip Menschen<br />
unter verschiedenen Bedingungen aufwachsen lassen, aber<br />
es gibt dennoch überzeugende Beispiele für Genotyp-Umwelt-<br />
Interaktionen auch bei Menschen.<br />
Ein solches Beispiel ist die Phenylketonurie (PKU), eine Störung,<br />
die mit einem defekten rezessiven Gen auf dem Chromosom<br />
12 zusammenhängt. Individuen, die dieses Gen von beiden<br />
Elternteilen erben, können <strong>im</strong> Stoffwechsel Phenylalanin nicht<br />
umsetzen. Phenylalanin ist eine Aminosäure, die in vielen Lebensmitteln<br />
(wie dunklem Fleisch) <strong>und</strong> künstlichen Süßstoffen<br />
vorkommt. Wenn sich diese Personen normal ernähren, reichert<br />
sich das Phenylalanin <strong>im</strong> Blut an <strong>und</strong> verhindert eine normale<br />
Gehirnentwicklung, was zu schwerer geistiger Behinderung<br />
führt. Wenn Kinder, die ein PKU-Gen tragen, jedoch gleich<br />
nach der Geburt identifiziert <strong>und</strong> auf eine strenge phenylalaninfreie<br />
Diät gesetzt werden, kann die Behinderung abgewendet<br />
werden, sofern die Diät durchgehalten wird. Ein best<strong>im</strong>mter<br />
Genotyp führt also in Abhängigkeit von Umweltbedingungen<br />
zu ganz unterschiedlichen Phänotypen – schwerer Behinderung<br />
oder relativ normaler Intelligenz. Wegen der gravierenden Folgen<br />
dieser Stoffwechselstörung werden Neugeborene in den USA<br />
routinemäßig auf diese <strong>und</strong> weitere genetische Störungen untersucht,<br />
um den nachteiligen Folgen vorzubeugen.<br />
Phenylketonurie (PKU) – Eine Störung, die auf ein defektes rezessives Gen<br />
auf Chromosom 12 zurückgeht, das den Umbau von Phenylalanin verhindert.<br />
..<br />
Abb. 3.5 Genotyp <strong>und</strong> Umwelt. Diese grafische Darstellung zeigt das Ausmaß<br />
antisozialen Verhaltens junger Männer als Funktion des Ausmaßes, in<br />
dem sie in der Kindheit misshandelt wurden. Die jungen Männer, die schwere<br />
Misshandlungen erfuhren, ließen sich insgesamt eher zu antisozialem Verhalten<br />
hinreißen als diejenigen, die keine Misshandlungen erdulden mussten.<br />
Der Effekt war jedoch bei solchen Menschen, die relativ inaktive MAOA-Gene<br />
trugen, wesentlich stärker. (Nach Caspi et al. 2002, S. 852)<br />
Ein zweites Beispiel für die Genotyp-Umwelt-Interaktion ergibt<br />
sich aus einer Untersuchung zu den Folgen elterlicher Misshandlung<br />
bei Kindern mit einem best<strong>im</strong>mten Genotyp (Caspi<br />
et al. 2002). Die Forscher wollten herausfinden, warum manche<br />
Kinder, die schwere Misshandlungen erdulden müssen,<br />
als Erwachsene gewalttätig <strong>und</strong> antisozial werden, andere, die<br />
demselben Missbrauch ausgesetzt waren, hingegen nicht. Die<br />
Ergebnisse, die in . Abb. 3.5 dargestellt sind, zeigen, dass es eine<br />
Kombination von Umweltfaktoren <strong>und</strong> genetischen Faktoren<br />
ist, die zu antisozialem Verhalten führt – hier das Erleiden von<br />
Misshandlungen als Kind <strong>und</strong> das Tragen einer best<strong>im</strong>mten<br />
Variante eines an das X-Chromosom geb<strong>und</strong>enen Gens, das<br />
als Hemmer von chemischen Substanzen <strong>im</strong> Gehirn bekannt<br />
ist, die mit Aggressionen einhergehen. Junge Männer, die eine<br />
eher inaktive Version dieses MAOA-Gens besaßen <strong>und</strong> schwere<br />
Misshandlungen erfuhren, entwickelten sich antisozialer als andere<br />
Männer – in dieser Gruppe entwickelten 85 % irgendeine<br />
Form antisozialen Verhaltens, <strong>und</strong> sie wurden mit zehnmal so<br />
großer Wahrscheinlichkeit wegen Gewalttaten verurteilt. Der<br />
wichtige Punkt ist hierbei, dass keiner der Faktoren – ein inaktives<br />
MAOA-Gen oder die Misshandlung – für sich genommen<br />
die Jugendlichen zu höherer Aggressivität prädisponierte;<br />
das häufigere Auftreten antisozialen Verhaltens war nur in der<br />
Gruppe mit beiden Faktoren zu beobachten. Wie die Autoren<br />
dieser Studie anmerken, könnte das Wissen um solche spezifischen<br />
genetischen Risikofaktoren, die Menschen empfänglicher<br />
für best<strong>im</strong>mte Umweltwirkungen machen, zu verbesserten<br />
Modellen multipler Risiken führen, wie wir sie in ▶ Kap. 1 <strong>und</strong><br />
2 diskutiert haben.<br />
Elterliche Beiträge zur <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
Offensichtlich ist die Beziehung der Eltern zum Kind <strong>und</strong> die<br />
Art <strong>und</strong> Weise, wie sie mit ihm umgehen, ein besonders bedeutsamer<br />
<strong>und</strong> wichtiger Teil der kindlichen Umwelt – die<br />
allgemeine häusliche Umgebung, die sie bereitstellen; die Erfahrungen,<br />
die sie dem Kind ermöglichen; die Ermutigung,<br />
die das Kind für best<strong>im</strong>mte Verhaltensweisen <strong>und</strong> Aktivitäten<br />
erfährt, Einstellungen <strong>und</strong> Haltungen <strong>und</strong> so weiter. Weniger<br />
offenk<strong>und</strong>ig ist die Vorstellung, dass die Umwelt, die die Eltern<br />
ihren Kindern bieten, zum Teil von ihrer eigenen genetischen<br />
Ausstattung abhängt. So wie das Verhalten der Eltern gegenüber<br />
ihren Kindern (z. B., wie warmherzig oder zurückhaltend sie<br />
sind, wie geduldig oder aufbrausend) genetischen Einflüssen<br />
unterliegt, unterliegen auch die Vorlieben, Aktivitäten <strong>und</strong> Ressourcen,<br />
mit denen sie ihre Kinder in Kontakt bringen, genetischen<br />
Einflüssen (Plomin <strong>und</strong> Bergeman 1991). Das Kind eines<br />
Elternteils, das sehr musikalisch ist, wird von klein auf wahrscheinlich<br />
mehr Musik hören als ein Kind weniger musikliebender<br />
Eltern. Eltern, die das Lesen genießen <strong>und</strong> wertschätzen<br />
<strong>und</strong> die kompetente Leser sind, werden wahrscheinlich häufig<br />
zum Vergnügen <strong>und</strong> zur Information lesen, <strong>und</strong> sie haben<br />
wahrscheinlich zu Hause viele Bücher <strong>und</strong> Zeitschriften. Sie<br />
werden ihren Kindern mit größerer Wahrscheinlichkeit häufig<br />
etwas vorlesen <strong>und</strong> sie in eine Bibliothek mitnehmen. Im Gegensatz<br />
dazu werden Eltern, für die das Lesen anstrengend <strong>und</strong><br />
kein Vergnügen ist, ihren Kindern keine literarisch anregende<br />
Umwelt bieten (Scarr 1992).
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Diese Mutter liest in ihrer Freizeit gern Romane <strong>und</strong> muss auch bei ihrer<br />
Arbeit sehr viel lesen. Ihrem kleinen Kind bietet sie eine reichhaltige literarische<br />
Umwelt. Das Kind dürfte eine eifrige Leserin werden – zum einen, weil<br />
die genetische Ausstattung der Mutter zu ihrer Freude am Lesen beitrug,<br />
zum anderen wegen der materiellen <strong>und</strong> sozialen Umwelt (viele Bücher,<br />
Ermutigung des Interesses an Büchern), die diese Mutter bereitstellt. (© Judy<br />
<strong>DeLoache</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
4. Phänotyp des <strong>Kindes</strong> – Umwelt des <strong>Kindes</strong><br />
Schließlich verweist die vierte Beziehung unseres Modells wieder<br />
auf das Thema aktives Kind zurück – das Kind als eine Quelle<br />
seiner eigenen Entwicklung. Wie in ▶ Kap. 1 bereits angeführt,<br />
sind Kinder nicht nur die passiven Rezipienten einer vorgegebenen<br />
Umwelt. Vielmehr sind sie in zwei wichtigen Hinsichten<br />
aktive Gestalter der Umwelt, in der sie leben. Erstens rufen sie<br />
mithilfe ihres Wesens <strong>und</strong> ihres Verhaltens bei anderen Menschen<br />
aktiv best<strong>im</strong>mte Reaktionen hervor (Scarr 1992; Scarr<br />
<strong>und</strong> McCartney 1983). Babys, die es genießen, geknuddelt <strong>und</strong><br />
beschmust zu werden, werden auch mit größerer Wahrscheinlichkeit<br />
geknuddelt als Babys, die engen Körperkontakt nicht so<br />
gern haben. Impulsive Kinder hören zweifelsohne Äußerungen<br />
wie „nein“, „lass das“, „hör auf “ <strong>und</strong> „pass auf “ wesentlich häufiger<br />
als zurückhaltende Kinder. Es gibt Belege dafür, dass das<br />
Ausmaß, in dem Eltern <strong>und</strong> Kinder in ihren Beziehungen wechselseitig<br />
aufeinander reagieren, weitgehend eine Funktion der<br />
genetisch beeinflussten Verhaltenseigenschaften des <strong>Kindes</strong> ist,<br />
also des Verhaltens, das die Kinder bei ihren Eltern hervorrufen<br />
(Deater-Deckard <strong>und</strong> O’Connor 2000).<br />
Die zweite Art, wie Kinder ihre eigene Umwelt mitgestalten,<br />
liegt in der aktiven Auswahl von Umgebungen <strong>und</strong> Erfahrungen,<br />
die ihren Interessen, Begabungen <strong>und</strong> Persönlichkeitseigenschaften<br />
entsprechen (Scarr 1992). Sobald sich Kinder beispielsweise<br />
selbst fortbewegen können, suchen sie in ihrer Umgebung nach<br />
Gegenständen, die sie erk<strong>und</strong>en wollen. Einige sehr kleine Kinder<br />
(insbesondere Jungen) entwickeln stark ausgeprägte Interessen<br />
an best<strong>im</strong>mten Arten von Gegenständen oder Aktivitäten,<br />
die nicht auf elterliches Ermutigen zurückgehen (<strong>DeLoache</strong> et al.<br />
2007). Viele kleine Jungen sind zum Beispiel ganz närrisch auf<br />
Fahrzeuge <strong>und</strong> Baumaterialien. Andere Kleinkinder entwickeln<br />
idiosynkratische oder gar sehr eigentümliche Interessen (z. B. an<br />
Mixgeräten oder an totgefahrenen Tieren). Vielen Eltern bleibt<br />
die Herkunft solcher vorschulischen Leidenschaften vollkommen<br />
verschlossen, <strong>und</strong> gelegentlich sind sie sogar beunruhigt, weil sie<br />
nicht wissen, wie verbreitet solche ausgeprägten Interessen sind.<br />
Ab dem Vorschulalter hängen die Gelegenheiten der Kinder,<br />
Fre<strong>und</strong>schaften zu schließen, <strong>im</strong>mer mehr von ihren eigenen<br />
Eigenschaften ab, insofern sie sich Spielkameraden <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e<br />
aussuchen, mit denen sie sich gut vertragen – Gleich <strong>und</strong> Gleich<br />
gesellt sich nun einmal gern. Und wir haben in ▶ Kap. 1 bereits<br />
festgestellt, dass Kinder mit dem Alter eine zunehmend aktive<br />
Rolle bei der Auswahl ihrer Umgebung spielen. Je mehr Autonomie<br />
sie gewinnen, desto mehr wählen sie Aspekte ihrer Umwelt,<br />
die zu ihrem Temperament <strong>und</strong> ihren Fähigkeiten passen.<br />
Um auf das zuvor schon erwähnte Beispiel zurückzukommen:<br />
Kinder, die gern lesen, werden mehr Bücher lesen als Kinder,<br />
die das Lesen langweilig finden. Je mehr sie lesen, umso geschultere<br />
Leser werden sie, was dazu führt, dass sie zunehmend auch<br />
schwierigere Bücher auswählen, was wiederum dazu führt, dass<br />
sie einen erweiterten Wortschatz <strong>und</strong> ein größeres Allgemeinwissen<br />
erwerben, was sich dann letztlich in größerem schulischem<br />
Erfolg niederschlägt.<br />
5. Umwelt des <strong>Kindes</strong> – Phänotyp des <strong>Kindes</strong><br />
Die fünfte Beziehung in unserem Modell ist vielleicht die interessanteste.<br />
Bis vor relativ kurzer Zeit galt der Genotyp unter Genetikern<br />
als etwas, das von Geburt an weitgehend festgelegt ist.<br />
Aber das bereits in ▶ Kap. 1 erwähnte Forschungsgebiet der Epigenetik<br />
hat diese traditionelle Ansicht auf den Kopf gestellt. Wie<br />
man inzwischen weiß, ist zwar die Struktur der DNA weitgehend<br />
festgelegt (solange man von Mutationen absieht), aber unter dem<br />
Einfluss der Umwelt können epigenetische Mechanismen das<br />
Funktionieren der Gene verändern <strong>und</strong> andere Ausprägungen<br />
stabilisieren, die zum Teil sogar an die nächste Generation vererbt<br />
werden können.<br />
Solche epigenetischen Einflussfaktoren können auch erklären,<br />
warum eineiige Zwillinge <strong>im</strong> Laufe ihres Lebens nicht völlig<br />
identische Entwicklungen durchlaufen: Je nach Umwelt kann die<br />
Ausprägung derselben Gene während der Entwicklung auf subtile<br />
Weise abweichen. Dabei gehen nachhaltige Veränderungen<br />
der Genausprägungen, die durch die Umwelt vermittelt werden,<br />
mit dem Prozess der Methylierung einher, der best<strong>im</strong>mte Gene<br />
bei der Expression abschaltet. Unterschiede in der Genexpression<br />
spiegeln sich dann in unterschiedlichen Methylierungsgraden<br />
wider. Beispielsweise kann man Zwillingspaare <strong>im</strong> Alter von drei<br />
Jahren <strong>und</strong> 50 Jahren vergleichen, wobei die dreijährigen noch<br />
eine vergleichsweise ähnliche Umwelt erlebt haben, während die<br />
50-jährigen sehr unterschiedliche Lebensumwelten erlebt haben.<br />
Bei Vergleichsstudien zur DNA-Methylierung bei Zwillingspaaren<br />
<strong>im</strong> Alter von drei bzw. 50 Jahren stellte sich heraus, dass es<br />
bei den dreijährigen Zwillingen praktisch keine Unterschiede in<br />
der Methylierung gab, während der Methylierungsgrad bei etwa<br />
einem Drittel der 50-jährigen Zwillinge erhebliche Unterschiede<br />
in der Methylierung aufwies – je unterschiedlicher die Lebensweisen<br />
der Zwillinge gewesen waren, desto größer waren auch<br />
die Differenzen zwischen den Methylierungsgraden (Fraga et al.<br />
2005).<br />
Wie kann die Umwelt sich über epigenetische Mechanismen<br />
auswirken? Bislang stützt sich die Forschung zu dieser Frage auf
Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
89 3<br />
Tiermodelle, die klar belegen, dass eine schlechte mütterliche<br />
Versorgung be<strong>im</strong> Nachwuchs das Muster der Genexpression<br />
dauerhaft verändert (van IJzendoorn et al. 2011). Insbesondere<br />
verändert mangelhafte mütterliche Versorgung bei Tieren die<br />
Methylierung der Gene, die mit den Rezeptoren für Glucocorticoide<br />
zusammenhängen <strong>und</strong> die Stressbewältigung beeinflussen<br />
(z. B. Zhang <strong>und</strong> Meaney 2010). Wie in ▶ Kap. 1 erwähnt, gibt<br />
es Hinweise darauf, dass auch bei Menschen die Methylierung<br />
durch frühkindlichen Stress beeinflusst wird (z. B. Essex et al.<br />
2013). Auch die unzähligen Benachteiligungen, die ein Aufwachsen<br />
in Armut mit sich bringt, scheinen sich epigenetisch als Risikofaktoren<br />
zu verfestigen; Menschen, die in einkommensschwachen<br />
Haushalten aufgewachsen sind, zeigen nach Jahrzehnten<br />
andere Muster der Genexpression als Erwachsene, die unter sozioökonomisch<br />
günstigeren Bedingungen aufwachsen konnten<br />
– unabhängig von den sozioökonomischen Bedingungen, unter<br />
denen sie als Erwachsene lebten (z. B. Miller et al. 2009).<br />
Fazit<br />
Unsere Diskussion der fünf Arten von Wechselwirkungen zwischen<br />
Genen <strong>und</strong> Umwelt hat die enormen Herausforderungen<br />
in den Mittelpunkt gestellt, die sich bei der Erforschung der Genfunktionen<br />
bei der individuellen Entwicklung stellen. Noch ist<br />
die Konzeptualisierung dieses Prozesses, die wir hier vorgestellt<br />
haben, stark vereinfacht. Das gilt insbesondere für die letzte Beziehung<br />
– die Epigenetik –, die bei genauerem Hinsehen erkennen<br />
lässt, dass die Grenze zwischen Genen <strong>und</strong> Umwelt unscharf<br />
<strong>und</strong> fließend ist. Die Komplexität des Zusammenwirkens von<br />
Genen <strong>und</strong> Umwelt ist einerseits eine Herausforderung <strong>und</strong> andererseits<br />
eine Chance für die Forschung. Die Herausforderung<br />
liegt darin, dass das Genom nicht mehr einfach als unveränderlich<br />
<strong>und</strong> unabhängig von den vielfältigen Lebensumständen<br />
angesehen werden kann, unter denen Kinder sich entwickeln.<br />
Eine Chance liegt darin, dass sich die Epigenetik weiterentwickelt<br />
<strong>und</strong> vielleicht klären kann, welche Umwelteinflüsse mit hoher<br />
Wahrscheinlichkeit einen nachhaltig positiven Einfluss auf die<br />
Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> das Befinden eines <strong>Kindes</strong> haben.<br />
Verhaltensgenetik<br />
Das schnell wachsende Gebiet der Psychologie, das sich Verhaltensgenetik<br />
nennt, befasst sich damit, wie Variationen <strong>im</strong><br />
Verhalten <strong>und</strong> in der Entwicklung aus der Interaktion genetischer<br />
<strong>und</strong> umweltbedingter Faktoren entstehen. Verhaltensgenetiker<br />
stellen sich dieselbe Art von Frage wie Galton in Bezug<br />
auf herausragende Persönlichkeiten: „Warum unterscheiden<br />
sich die Menschen voneinander?“ Warum unterscheiden sich<br />
Menschen, egal welcher Gruppe sie angehören, darin, wie klug,<br />
kontaktfreudig, niedergeschlagen, aggressiv oder religiös sie<br />
sind? Verhaltensgenetiker beantworten diese Frage damit, dass<br />
alle Verhaltensmerkmale erblich sind, also in gewissem Ausmaß<br />
durch Erbfaktoren beeinflusst werden (Bouchard 2004; Turkhe<strong>im</strong>er<br />
2000). Diejenigen Merkmale, die Verhaltensgenetiker am<br />
meisten interessieren – z. B. Intelligenz, Geselligkeit, St<strong>im</strong>mung<br />
<strong>und</strong> Aggression –, sind polygenetisch, also durch eine Kombination<br />
vieler Gene beeinflusst. Und sie sind multifaktoriell, also<br />
von einer Vielzahl genetischer <strong>und</strong> umweltbedingter Faktoren<br />
beeinflusst. Die Quellen der interindividuellen Variation sind<br />
überaus vielfältig.<br />
Verhaltensgenetik – Die Analyse individueller Unterschiede in Verhalten <strong>und</strong><br />
Entwicklung <strong>im</strong> Hinblick auf genetische <strong>und</strong> umweltbedingte Einflussfaktoren,<br />
deren Zusammenwirken diese Unterschiede verursacht.<br />
Erblich – Bezieht sich auf die genetisch bedingten Merkmale.<br />
Multifaktoriell – Bezieht sich auf den Einfluss vieler genetischer oder umweltbedingter<br />
Faktoren auf das jeweils betrachtete Merkmal.<br />
Um Galtons Frage vollständig zu beantworten, versuchen Verhaltensgenetiker<br />
die Beiträge von Genetik <strong>und</strong> Umwelt zu den<br />
beobachteten Unterschieden innerhalb einer Population von<br />
Menschen oder Tieren zu trennen. Diesem Bestreben liegen zwei<br />
Prämissen zugr<strong>und</strong>e:<br />
1. In dem Ausmaß, in dem genetische Faktoren für ein best<strong>im</strong>mtes<br />
Persönlichkeitsmerkmal oder eine Verhaltensweise<br />
relevant sind, sollten Individuen, deren Genotypen ähnlich<br />
sind, auch phänotypisch ähnlich sein. Mit anderen Worten:<br />
Verhaltensmuster sollten familientypisch sein; Kinder sollten<br />
ihren Eltern <strong>und</strong> Geschwistern ähnlicher sein als Verwandte<br />
eines höheren Grades oder fremden Personen.<br />
2. In dem Ausmaß, in dem gemeinsame Umweltfaktoren eine<br />
Rolle spielen, sollten gemeinsam aufgewachsene Individuen<br />
einander ähnlicher sein als Menschen, die getrennt aufgewachsen<br />
sind.<br />
Verhaltensgenetische Forschungsdesigns<br />
Wie schon für Galton bildet die Familienuntersuchung die wesentliche<br />
Gr<strong>und</strong>lage der Verhaltensgenetik. Um die genetischen<br />
<strong>und</strong> umweltbedingten Beiträge zu einem best<strong>im</strong>mten Persönlichkeitsmerkmal<br />
oder einer Verhaltensweise zu untersuchen,<br />
messen Verhaltensgenetiker dieses Merkmal zunächst bei Menschen,<br />
die sich hinsichtlich der genetischen Verwandtschaft<br />
unterscheiden – bei Eltern <strong>und</strong> Kindern, eineiigen <strong>und</strong> zweieiigen<br />
Zwillingen, normalen Geschwistern <strong>und</strong> so weiter. Dann<br />
berechnen sie die Korrelationen der Merkmalsmessungen zwischen<br />
Paaren von Individuen, die verschiedene Ausprägungen<br />
von Verwandtschaftsbeziehungen aufweisen. (Wie in ▶ Kap. 1<br />
beschrieben, drückt ein Korrelationskoeffizient das Ausmaß aus,<br />
in dem zwei Variablen verknüpft sind; je höher die Korrelation,<br />
desto genauer können die Ausprägungen der einen Variable aus<br />
den Ausprägungen der anderen vorhergesagt werden.) Sie vergleichen<br />
dann die resultierenden Korrelationen, um zu prüfen,<br />
ob sie (1) zwischen näher verwandten Personen höher sind als<br />
zwischen entfernter oder gar nicht verwandten Personen <strong>und</strong> ob<br />
sie (2) zwischen Personen, die in derselben Umwelt aufgewachsen<br />
sind, höher sind als zwischen Personen, die in verschiedenen<br />
Umwelten lebten.<br />
Es gibt mehrere spezielle Designs für Familienuntersuchungen,<br />
die bei der Best<strong>im</strong>mung genetischer <strong>und</strong> umweltbedingter<br />
Einflüsse besonders geeignet sind. Dazu gehört das Zwillingsstudien-Design,<br />
bei dem die Korrelationen zwischen eineiigen<br />
(monozygoten) Zwillingen mit denen zwischen gleichgeschlechtlichen<br />
zweieiigen (dizygoten) Zwillingen verglichen werden. Wie<br />
bereits erwähnt, besitzen eineiige Zwillinge 100 % gemeinsamer
90<br />
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Gene, während sich zweieiige Zwillinge (wie normale Geschwister)<br />
genetisch nur zu 50 % gleichen. (Wie <strong>im</strong> vorangehenden<br />
Abschnitt dieses Kapitels erläutert, wird die Ausprägung dieser<br />
Gene <strong>im</strong> Laufe der Entwicklung durch epigenetische Faktoren<br />
beeinflusst.) Bei gemeinsam aufgewachsenen Zwillingen wird<br />
die Ähnlichkeit ihrer Umwelt <strong>im</strong> Allgemeinen als gleich oder<br />
annähernd gleich eingestuft. Beide Arten von Zwillingen teilten<br />
sich denselben Mutterleib, wurden zur gleichen Zeit geboren <strong>und</strong><br />
sind bei ihrer Untersuchung <strong>im</strong>mer gleich alt. Sofern sie zusammen<br />
aufwachsen, leben sie außerdem in derselben Familie <strong>und</strong><br />
in derselben Gemeinschaft. Die Unterschiede in der genetischen<br />
Ähnlichkeit beider Zwillingstypen bieten bei einer <strong>im</strong> Wesentlichen<br />
gleichen Umwelt einen Ausgangspunkt, um die beobachteten<br />
Unterschiede bei den beiden Zwillingstypen <strong>im</strong> Hinblick<br />
auf die Korrelation best<strong>im</strong>mter Merkmale als Anhaltspunkt für<br />
die Bedeutung genetischer Faktoren für die Entwicklung dieser<br />
Merkmale heranzuziehen. Wenn also die Korrelation zwischen<br />
eineiigen Zwillingen bei einem best<strong>im</strong>mten Merkmal oder einer<br />
Verhaltensweise beträchtlich höher ist als zwischen zweieiigen<br />
Zwillingen, kann man annehmen, dass genetische Faktoren in<br />
hohem Maße für diesen Unterschied verantwortlich sind.<br />
Ein weiteres Familienuntersuchungsdesign, das bei der<br />
Best<strong>im</strong>mung genetischer <strong>und</strong> umweltbedingter Einflüsse zum<br />
Einsatz kommt, ist die Adoptionsstudie, bei der die Forscher untersuchen,<br />
ob die Ausprägungen adoptierter Kinder auf einer<br />
best<strong>im</strong>mten Messvariablen höher mit denen ihrer biologischen<br />
Eltern <strong>und</strong> Geschwister korrelieren oder mit denen ihrer Adoptiveltern<br />
<strong>und</strong> -geschwister. Auf genetische Einflüsse wird in dem<br />
Ausmaß rückgeschlossen, in dem die Kinder ihren biologischen<br />
Verwandten stärker ähneln als ihren durch Adoption erworbenen<br />
Verwandten.<br />
Bei dem idealen verhaltensgenetischen Design – bei Adoptionsstudien<br />
mit Zwillingen – werden beide Designs kombiniert.<br />
Hier vergleicht man eineiige Zwillinge, die gemeinsam aufwuchsen,<br />
mit eineiigen Zwillingen, die kurz nach der Geburt getrennt<br />
wurden <strong>und</strong> in verschiedenen Kontexten aufwuchsen. Wenn<br />
die Korrelationen zwischen getrennt aufgewachsenen Zwillingen<br />
denen zwischen gemeinsam aufgewachsenen Zwillingen<br />
gleichen, kann man auf einen äußerst geringen Einfluss von<br />
Umweltfaktoren schließen. Wenn umgekehrt die Korrelationen<br />
zwischen eineiigen Zwillingen, die in unterschiedlichen Umwelten<br />
aufgewachsen sind, niedriger ausfallen als die Korrelationen<br />
zwischen gemeinsam aufgewachsenen Zwillingen, wird ein starker<br />
Umwelteinfluss vermutet. ▶ Exkurs 3.2 beschreibt einige der<br />
bemerkenswerten Bef<strong>und</strong>e aus Untersuchungen von getrennt<br />
aufgewachsenen Zwillingen sowie einige der Probleme, die bei<br />
solchen Forschungen auftreten.<br />
Familienuntersuchungen der Intelligenz<br />
Die Eigenschaft, auf die verhaltensgenetische Familienuntersuchungen<br />
bei Weitem am häufigsten gerichtet war, ist die<br />
Intelligenz. In . Tab. 3.1 sind die Ergebnisse von über 100 Familienuntersuchungen<br />
des IQ <strong>im</strong> Verlauf der Adoleszenz zusammengefasst;<br />
das Bef<strong>und</strong>muster lässt sowohl genetische als auch<br />
umweltbedingte Einflüsse erkennen. Der genetische Einfluss<br />
zeigt sich in den durchgehend höheren Korrelationen bei höheren<br />
Graden genetischer Ähnlichkeit. Am bemerkenswertesten ist<br />
der Bef<strong>und</strong>, dass eineiige Zwillinge einander ähnlicher sind als<br />
gleichgeschlechtliche zweieiige Zwillinge. Gleichzeitig spiegeln<br />
sich Umwelteinflüsse in der Tatsache wider, dass die Intelligenz<br />
eineiiger Zwillinge nicht identisch ist. Weitere Belege für die<br />
Rolle der Umwelt bestehen darin, dass sich gemeinsam aufgewachsene<br />
eineiige Zwillinge ähnlicher sind als eineiige Zwillinge,<br />
die getrennt aufwuchsen.<br />
Ändert sich der Einfluss, den Gene <strong>und</strong> Umwelt auf die Intelligenz<br />
haben, <strong>im</strong> Laufe der Entwicklung? Man könnte erwarten,<br />
dass genetische Einflüsse auf den IQ mit zunehmendem Alter <strong>und</strong><br />
zunehmend unterschiedlichen Erfahrungen (als variablem Umwelteinfluss)<br />
geringer würden. Überraschenderweise haben neue<br />
Untersuchungen genau das entgegengesetzte Muster bestätigt: Bei<br />
Zwillingen n<strong>im</strong>mt mit zunehmendem Alter der Grad, in dem die<br />
Varianz des IQ durch die genetische Ähnlichkeit erklärt werden<br />
kann, zu. In einer Zwillingsstudie mit 11.000 ein- <strong>und</strong> zweieiigen<br />
Zwillingspaaren aus vier Ländern zeigte sich, dass die Korrelation<br />
der IQs eineiiger Zwillinge mit zunehmendem Alter anstieg, während<br />
sie bei zweieiigen Zwillingen mit dem Alter abnahm. Diese<br />
Unterschiede <strong>im</strong> Korrelationsmuster wurde zunächst zwischen<br />
Kindheit <strong>und</strong> Adoleszenz beobachtet <strong>und</strong> später auch zwischen<br />
Adoleszenz <strong>und</strong> frühem Erwachsenenalter bestätigt (Haworth<br />
et al. 2010). Dasselbe Muster zeigten auch die Bef<strong>und</strong>e bei einer<br />
vergleichenden Längsschnittstudie mit ein- <strong>und</strong> zweieiigen Zwillingen<br />
<strong>im</strong> frühen <strong>Kindes</strong>alter (von zwei bis vier Jahren) sowie in<br />
der mittleren Kindheit (sieben bis zehn Jahre): Bei den jüngeren<br />
Kindern waren die Varianzen des IQ in höherem Maße durch die<br />
gemeinsame Umwelt erklärbar als durch die gemeinsamen Gene,<br />
wobei bei älteren Kindern das Muster der Varianzaufklärung genau<br />
umgekehrt war (Davis et al. 2009).<br />
Diese überraschenden Muster – die Zunahme der genetischen<br />
Einflüsse bei zunehmendem Alter – passen zu der Annahme<br />
(dritte Beziehung), dass Menschen sich ihre Umwelt aktiv konstruieren<br />
(McGue et al. 1993; Scarr <strong>und</strong> McCartney 1983). Wenn<br />
die Kinder älter werden, verringert sich der Einfluss der Eltern<br />
auf ihre Aktivitäten, <strong>und</strong> sie steuern ihre Erfahrungen zunehmend<br />
selbst. Für dieses Muster könnten durchaus Erfahrungen<br />
<strong>und</strong> Errungenschaften bedeutsam sein, die Kinder ihrer Erziehung<br />
verdanken, sofern diese Erfahrungen <strong>und</strong> Errungenschaften<br />
die Leistungen in Intelligenztests <strong>und</strong> die entsprechenden<br />
IQ-Maße beeinflussen. Jüngere Kinder haben auf die Umstände<br />
<strong>und</strong> Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Erziehung kaum Einfluss,<br />
während ältere Kinder, Teenager <strong>und</strong> junge Erwachsene <strong>im</strong> Hinblick<br />
auf ihre Erfahrungen mehr Einfluss auf ihre eigenen Erfahrungen<br />
haben (etwa indem sie mehr oder weniger anspruchsvolle<br />
Kurse in Schule <strong>und</strong> Universität wählen, sich mehr oder weniger<br />
gebildete Fre<strong>und</strong>e suchen <strong>und</strong> so weiter). Möglicherweise bleibt<br />
der IQ eineiiger Zwillinge bis ins Erwachsenenalter hinein ähnlich,<br />
weil ihre gemeinsamen genetischen Prädispositionen dazu<br />
führen, dass sie sich ähnliche intellektuelle Anregung schaffen,<br />
während sich zweieiige Zwillinge zunehmend unähnlicher werden,<br />
weil sie sich jeweils andere Erfahrungen aussuchen (Scarr<br />
<strong>und</strong> McCartney 1983).<br />
Erblichkeit<br />
Viele Verhaltensgenetiker versuchen in ihren Ansätzen zur<br />
Anlage-Umwelt-Debatte das Ausmaß, in dem die Gene zu den
Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
91 3<br />
Exkurs 3.2: Individuelle Unterschiede: Getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge | |<br />
Oskar Stohr <strong>und</strong> Jack Yufa sind eineiige Zwillinge,<br />
die kurz nach ihrer Geburt in Trinidad<br />
getrennt wurden. Oskar wurde von seiner<br />
Großmutter in Deutschland als Katholik <strong>und</strong><br />
Nazi erzogen. Jack wuchs bei seinem Vater in<br />
der Karibik als Jude auf. Ungeachtet ihrer recht<br />
unterschiedlichen Lebenshintergründe entdeckten<br />
die beiden Brüder, als sie sich <strong>im</strong> mittleren<br />
Lebensalter zum ersten Mal <strong>im</strong> Rahmen<br />
einer Forschungsuntersuchung in Minneapolis<br />
trafen, eine Reihe von Ähnlichkeiten:<br />
Sie mögen scharfes Essen <strong>und</strong> süße Liköre,<br />
sind zerstreut, haben die Angewohnheit, vor<br />
dem Fernseher einzuschlafen, finden es witzig,<br />
mitten unter Fremden zu niesen, betätigen<br />
die Toilettenspülung, bevor sie die Toilette<br />
benutzen, bewahren Gummiringe an ihrem<br />
Handgelenk auf, lesen Zeitschriften von hinten<br />
nach vorn, tunken gebutterten Toast in ihren<br />
Kaffee. Oskar tyrannisiert Frauen <strong>und</strong> schreit<br />
seine Frau an, was Jack vor seiner Scheidung<br />
ebenfalls tat (Holden 1980, S. 1324).<br />
Jack <strong>und</strong> Oskar sind Teilnehmer der Minnesota-Studie<br />
an getrennt aufgewachsenen<br />
Zwillingen, einer umfangreichen Untersuchung<br />
von Zwillingspaaren, die früh <strong>im</strong> Leben<br />
getrennt wurden (Bouchard et al. 1990). Es<br />
wurden mehr als 100 solcher Zwillingspaare<br />
ausfindig gemacht, für die Untersuchung<br />
angeworben <strong>und</strong> nach Minneapolis gebracht,<br />
wo sie einer umfangreichen Batterie<br />
physiologischer <strong>und</strong> psychologischer Tests<br />
unterzogen wurden. In vielen Fällen trafen sich<br />
die Zwillingsgeschwister zum ersten Mal seit<br />
ihrer Kindheit. (Die wieder zusammengeführten<br />
Zwillinge auf dem Foto legten fast so viele<br />
überzeugende Ähnlichkeiten an den Tag wie<br />
Jack <strong>und</strong> Oskar, einschließlich ihrer Berufswahl:<br />
Beide sind sie Feuerwehrmänner.) Die Motivation<br />
für diese ausgedehnte Studie besteht<br />
darin, die genetischen <strong>und</strong> umweltbedingten<br />
Beiträge zur Entwicklung <strong>und</strong> zum Verhalten<br />
zu erforschen, indem Individuen untersucht<br />
werden, die genetisch identisch sind, aber in<br />
unterschiedlichen Umwelten aufwuchsen.<br />
Das Forschungsteam in Minnesota war von<br />
dem Ausmaß an Ähnlichkeit überwältigt, das<br />
sie bei den untersuchten getrennten Zwillingen<br />
fanden; sie fanden genetische Beiträge zu<br />
„fast jedem Verhaltensmerkmal, das bislang<br />
untersucht wurde, von der Reaktionszeit bis<br />
zur Religiosität“ (Bouchard et al. 1990).<br />
So erstaunlich die Ähnlichkeiten zwischen den<br />
getrennten Zwillingen auch sein mögen, daraus<br />
automatisch schlussfolgern zu wollen, dass<br />
diese Ähnlichkeiten auf genetischen Faktoren<br />
beruhen, ist aus mehreren Gründen problematisch.<br />
So ist die Annahme, dass ähnliche Eigenschaften<br />
der getrennt aufgewachsenen Zwillinge<br />
genetisch bedingt sind, eine unzulässige<br />
Vereinfachung. Beispielsweise kann man nicht<br />
sagen, dass die übereinst<strong>im</strong>mende Berufswahl<br />
der Zwillinge auf dem Foto auf einem Satz von<br />
Genen beruhe, die beide zu Feuerwehrleuten<br />
vorherbest<strong>im</strong>men. Wie bereits erwähnt, codieren<br />
Gene für best<strong>im</strong>mte Proteine <strong>und</strong> nicht<br />
für so komplexe Eigenschaften wie berufliche<br />
Neigungen (oder die Entscheidung, sich einen<br />
Bart wachsen zu lassen).<br />
Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Praxis<br />
der selektiven Unterbringung: Adoptionsbehörden<br />
versuchen generell, die Kinder in<br />
Familien mit demselben Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
derselben Ethnizität unterzubringen, <strong>und</strong><br />
so gleichen sich die Umwelten getrennter<br />
Zwillinge oft in vielerlei Weise. Es ist überaus<br />
selten, dass getrennte Zwillinge wie Jack <strong>und</strong><br />
Oskar, in verschiedenen Sprachen, Religionen<br />
<strong>und</strong> Kulturen aufwachsen. Tatsächlich stammt<br />
die Mehrheit der Zwillinge in den meisten<br />
verhaltensgenetischen Untersuchungen<br />
vorrangig aus weißen Mittelschichtfamilien<br />
westlicher Länder. Die Verhaltensgenetiker<br />
Levine <strong>und</strong> Suzuki (1993) kommentieren dies<br />
folgendermaßen:<br />
N<strong>im</strong>m eines dieser Kinder <strong>und</strong> steck es in eine<br />
wirklich andere Umgebung, etwa in eine Familie<br />
von Buschmännern in Afrika oder in ein Bauerndorf<br />
in Zentralchina, <strong>und</strong> komm dann nach<br />
zwanzig Jahren zurück: Ob du dann wohl zwei<br />
Feuerwehrmänner findest, die sich gleichartig<br />
kleiden (Levine <strong>und</strong> Suzuki 1993, S. 241)?<br />
..<br />
Die eineiigen Zwillinge Gerald Levey <strong>und</strong><br />
Mark Newman wurden nach der Geburt<br />
getrennt <strong>und</strong> unabhängig voneinander<br />
in jüdischen Mittelschichtfamilien in der<br />
Gegend von New York aufgezogen. Bei ihrem<br />
Wiedersehen <strong>im</strong> Alter von 31 Jahren fanden sie<br />
sich beide als Feuerwehrmänner mit heruntergezogenem<br />
Oberlippenbart <strong>und</strong> Koteletten.<br />
Beide hatten eine Vorliebe für die Jagd <strong>und</strong><br />
das Fischen, für John-Wayne-Filme, sogar für<br />
dieselbe Biermarke, wobei sie die Bierdosen in<br />
gleicher Wiese mit dem kleinen Finger auf der<br />
Unterseite abstützten <strong>und</strong> nach dem Leeren<br />
zusammendrückten. (© Thomas Wanstall/The<br />
Image Works)<br />
verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen beitragen, zu quantifizieren.<br />
Um abzuschätzen, welche Variabilitätsanteile eines<br />
best<strong>im</strong>mten Merkmals sich auf genetische <strong>und</strong> welche auf umweltbedingte<br />
Faktoren zurückführen lassen, leiten sie aus Korrelationen,<br />
wie sie in . Tab. 3.1 dargestellt sind, Erblichkeitsschätzungen<br />
ab. Die Erblichkeit ist ein statistisch geschätzter Wert,<br />
der angibt, welcher Anteil der gemessenen Varianz bei einem<br />
best<strong>im</strong>mten Persönlichkeitsmerkmal zwischen den Individuen<br />
einer best<strong>im</strong>mten Population genetischen Unterschiede dieser<br />
Individuen zugeschrieben werden kann.<br />
Erblichkeit – Eine statistische Schätzung desjenigen Anteils an der gemessenen<br />
Varianz eines Merkmals bei Individuen einer best<strong>im</strong>mten Population, der<br />
genetischen Unterschieden dieser Individuen zuzurechnen ist.<br />
Be<strong>im</strong> Umgang mit einem Erblichkeitsindex ist unbedingt zu beachten,<br />
dass er <strong>im</strong> Fall des einzelnen Individuums nichts über<br />
die relativen Beiträge genetischer <strong>und</strong> umweltbedingter Faktoren<br />
zur Entwicklung aussagen kann. Stattdessen ist die Erblichkeit<br />
lediglich ein statistisches Maß dafür, in welchem Umfang die beobachtete<br />
Variabilität innerhalb einer best<strong>im</strong>mten Population von<br />
Menschen auf die Unterschiede ihrer Gene zurückgeht. Zum Beispiel<br />
liegt der Erblichkeitsindex für Intelligenz nach allgemeinen<br />
Annahmen bei etwa 50 % (Bouchard 2004; Plomin 1990). Das<br />
bedeutet, dass in einer untersuchten Population etwa 50 % der<br />
IQ-Ausprägungsvarianz auf genetische Unterschiede zwischen<br />
den Mitgliedern dieser Gruppe zurückgehen. (Es bedeutet nicht,<br />
dass 50 % der Intelligenzausprägung bei jedem Einzelnen von uns<br />
auf unsere genetische Ausstattung <strong>und</strong> 50 % jeweils auf unsere<br />
Erfahrung zurückgehen.) Dieser Erblichkeitswert weist darauf<br />
hin – <strong>und</strong> das sollte <strong>im</strong> Auge behalten werden –, dass der Beitrag<br />
der Umwelt zur Intelligenzvariation innerhalb einer Population<br />
ebenfalls etwa 50 % beträgt.<br />
Verhaltensgenetische Analysen wurden auf viele unterschiedliche<br />
Aspekte des menschlichen Verhaltens angewandt, von denen<br />
Sie einigen in den späteren Kapiteln dieses Buches begegnen.<br />
Hier sollen nur einige Beispiele genannt werden, bei denen<br />
Erblichkeit in bedeutsamer Ausprägung belegt ist: das kindliche<br />
Aktivitätsniveau (Saudino <strong>und</strong> Eaton 1991), das Temperament<br />
(Goldsmith et al. 1997), Leseschwäche (DeFries <strong>und</strong> Gillis 1993)
92<br />
Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
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17<br />
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19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
Tab. 3.1 Zusammenfassung von Familienuntersuchungen zur<br />
Intelligenz. (McGue et al. 1993)<br />
Durchschnittliche familiäre IQ-Korrelationen (R)<br />
Darüber hinaus gilt ein Erblichkeitsindex nur für eine best<strong>im</strong>mte<br />
Population, die zu einem best<strong>im</strong>mten Zeitpunkt in einer<br />
best<strong>im</strong>mten Umgebung lebt. Betrachten wir den Fall der Körpergröße.<br />
Die Forschung hierzu orientierte sich fast ausschließlich<br />
an Nordamerikanern <strong>und</strong> Europäern überwiegend weißer<br />
Hautfarbe, die überwiegend angemessen ernährt waren. Hier<br />
wurde eine Erblichkeit von etwa 90 % ermittelt. Was würde sich<br />
ändern, wenn ein großer Teil dieser Population in der Kindheit<br />
einer schl<strong>im</strong>men Hungersnot ausgesetzt gewesen wäre, während<br />
sich der andere Teil weiterhin gut ernähren konnte? Würde die<br />
Erblichkeit auch dann noch 90 % betragen? Wohl kaum – denn<br />
die Variabilität, die auf Umweltfaktoren beruht, würde drastisch<br />
ansteigen, <strong>und</strong> damit würde die Variabilität, die sich auf genetische<br />
Faktoren zurückführen lässt, ebenso drastisch sinken. In<br />
den IQ-Korrelationen der . Tab. 3.1 zeigt sich das Prinzip der<br />
variablen Erblichkeit darin, dass sich die statistisch abgeleiteten<br />
Erblichkeiten für dieselben Gruppen von Individuen zu unterschiedlichen<br />
Zeitpunkten in der Entwicklung unterscheiden<br />
(Davis et al. 2009).<br />
Außerdem ist bekannt, dass die Erblichkeitswerte bei unterschiedlichen<br />
Bevölkerungsgruppen, in denen Menschen in<br />
sehr verschiedenen Umwelten aufwachsen, deutlich voneinander<br />
abweichen. So unterscheiden sich beispielsweise in den<br />
Vereinigten Staaten die statistisch abgeleiteten Erblichkeitsindizes<br />
in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status, wie eine<br />
breit angelegte Zwillingsstudie zeigt, an der Familien aus allen<br />
sozioökonomischen Schichten teilnahmen (Turkhe<strong>im</strong>er et al.<br />
2003). Bei dieser Studie wurden nahezu 60 % der IQ-Varianz<br />
in der Stichprobe der sieben Jahre alten Kinder, die in Armut<br />
aufwuchsen, den für diese Gruppe typischen Umweltbedingungen<br />
zugeschrieben, aber so gut wie kein Varianzanteil der<br />
genetischen Ähnlichkeit. Bei wohlhabenden Familien war es<br />
umgekehrt: Die genetischen Faktoren trugen hier mehr zur IQ-<br />
Varianz bei als die Umweltfaktoren. Bei einer ähnlichen Studie,<br />
bei der die Testwerte von Zwillingen <strong>im</strong> Teenageralter verglichen<br />
wurden, wurde das gleiche Muster beobachtet: Bei Zwillingen<br />
aus armen Verhältnissen überwogen Umweltfaktoren bei der<br />
IQ-Varianzaufklärung gegenüber den genetischen Einflüssen,<br />
während bei den Teenagern aus gut situierten Verhältnissen die<br />
genetischen Einflüsse gegenüber den Umwelteinflüssen überwogen<br />
(Harden et al. 2007). Zwar ist noch nicht ganz klar, was<br />
diese differierenden Erblichkeitsniveaus hervorruft, doch lassen<br />
diese Bef<strong>und</strong>e vermuten, dass in armen <strong>und</strong> in wohlhabenden<br />
Umwelten qualitativ unterschiedliche Einflussfaktoren die Entwicklung<br />
best<strong>im</strong>men.<br />
Ein ähnliches <strong>und</strong> ebenfalls häufiges Missverständnis verkennt,<br />
dass hohe Erblichkeit nicht unbedingt Unveränderbarkeit<br />
bedeutet. Die Tatsache, dass eine Persönlichkeitseigenschaft in<br />
hohem Maße erblich ist, bedeutet nicht, dass jeder Versuch<br />
von vornherein sinnlos wäre, die Entwicklung dieser Eigenschaft<br />
positiv zu beeinflussen. Die relativ hohe Erblichkeit der<br />
Intelligenz bedeutet keineswegs, dass sich die intellektuelle<br />
Leistungsfähigkeit kleiner Kinder, die in Armut aufwachsen,<br />
durch geeignete Fördermaßnahmen (▶ Kap. 8) nicht verbessern<br />
ließe.<br />
Und schließlich sagen Erblichkeitsindizes – da sie für eine<br />
definierte Population gelten – nichts über die Unterschiede zwi-<br />
Verwandtschaftsbeziehung<br />
Durchschnittliches R<br />
Gemeinsam aufgewachsene biologische Verwandte<br />
Eineiige Zwillinge 0.86 4672<br />
Zweieiige Zwillinge 0.60 5533<br />
Geschwister 0.47 26.473<br />
Eltern–Kinder 0.42 8433<br />
Halbgeschwister 0.35 200<br />
Cousins/Cousinen 0.15 1176<br />
Getrennt aufgewachsene biologische Verwandte<br />
Eineiige Zwillinge 0.72 65<br />
Geschwister 0.24 203<br />
Eltern–Kinder 0.24 720<br />
Gemeinsam aufgewachsene nichtbiologische Verwandte<br />
Geschwister 0.32 714<br />
Eltern–Kinder 0.24 720<br />
Anzahl der Paare<br />
<strong>und</strong> für antisoziales Verhalten (Gottesman <strong>und</strong> Goldsmith 1994).<br />
Ein deutlicher Einfluss von Erbfaktoren wurde auch für Scheidung<br />
(McGue <strong>und</strong> Lykken 1992) <strong>und</strong> Fernsehkonsum (Plomin<br />
et al. 1990) sowie anderen Verhaltensweise festgestellt, die zuvor<br />
eher als umweltbedingt <strong>und</strong> weniger als genetisch verursacht galten<br />
(z. B. Jaffee <strong>und</strong> Price 2007).<br />
Allerdings scheint es wenig plausibel, die Existenz von Genen<br />
für „Scheitern in der Ehe“ oder „Dauerglotzen“ anzunehmen.<br />
Wir stoßen hier wieder an den wichtigen Aspekt, dass man nicht<br />
davon sprechen sollte, es gebe Gene „für“ best<strong>im</strong>mte Verhaltensmuster.<br />
Wir haben bereits betont, dass Gene nichts anderes<br />
tun als den Code für Proteine zu liefern; sie wirken sich auf das<br />
Verhalten insofern nur sehr indirekt aus, indem die nach ihrem<br />
Code synthetisierten Proteine Einfluss auf sensorische, neuronale<br />
<strong>und</strong> weitere physiologische Prozesse nehmen, die mit Verhalten<br />
in Zusammenhang stehen. Der Erblichkeitsindex für Scheidung<br />
könnte so vielleicht mit der genetischen Prädisposition zur Suche<br />
nach Veränderungen <strong>und</strong> zum Reiz an Neuem zusammenhängen,<br />
<strong>und</strong> der Bef<strong>und</strong> zum Fernsehkonsum geht vielleicht mit<br />
einem genetisch basierten niedrigen Aktivitätsniveau oder einer<br />
kurzen Aufmerksamkeitsspanne einher.<br />
Schätzungen des Erblichkeitsfaktors wurden sowohl innerhalb<br />
der Psychologie (z. B. Gottlieb et al. 1998; Lerner 1995) als<br />
auch von anderer Seite kritisiert (z. B. Levine <strong>und</strong> Suzuki 1993;<br />
Lewontin 1982). Ein Teil der Kritik fußt auf der Tatsache, dass<br />
entsprechende Angaben zur Erblichkeit oft falsch angewandt <strong>und</strong><br />
fehlinterpretiert werden. Ein sehr verbreitetes Missverständnis<br />
ist der Rückschluss vom statistischen Erblichkeitsindex auf den<br />
einzelnen Menschen, entgegen der bereits betonten Einschränkung:<br />
Erblichkeitsanteile gelten nur für Populationen, nicht für<br />
Individuen.
Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
93 3<br />
schen Gruppen aus. Der Erblichkeitsindex des IQ beispielsweise<br />
sagt wenig darüber aus, was die verschiedenen mittleren IQ-<br />
Werte der verschiedenen Bevölkerungsgruppen bedeuten. Euroamerikaner<br />
beispielsweise erreichen in IQ-Tests durchschnittlich<br />
15 Punkte mehr als Afroamerikaner. Manche Menschen nehmen<br />
deshalb irrtümlich an, dass der Unterschied zwischen den<br />
IQ-Werten der beiden Gruppen genetisch bedingt sei, weil der<br />
IQ eine Erblichkeit von 50 % aufweist. Dieser Schluss ist absolut<br />
ungerechtfertigt angesichts der großen Ungleichheit zwischen<br />
den beiden Gruppen hinsichtlich Familieneinkommen <strong>und</strong> Ausbildung,<br />
Qualität der Stadtteilschulen, Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge <strong>und</strong><br />
unzähliger weiterer Faktoren, die die Leistung in Intelligenztests<br />
beeinflussen können.<br />
Umwelteinflüsse<br />
Jede Untersuchung des genetischen Beitrags zum Verhalten <strong>und</strong><br />
zur Entwicklung ist notwendigerweise zugleich eine Untersuchung<br />
von Umwelteinflüssen: Die Abschätzung der Erblichkeit<br />
führt automatisch auch zur Abschätzung derjenigen Varianzanteile,<br />
die nicht den Genen zugeschrieben werden können. Dass<br />
die Erblichkeit den Wert von 50 % selten übersteigt, weist auf<br />
einen großen Beitrag der Umweltfaktoren hin.<br />
Verhaltensgenetiker versuchen zu best<strong>im</strong>men, in welchem<br />
Ausmaß Besonderheiten der Umwelt, die wir in der Regel mit<br />
unseren nächsten Verwandten teilen, dazu beitragen, dass wir<br />
einander ähnlich werden, <strong>und</strong> in welchem Ausmaß Erfahrungen,<br />
die nur den jeweils Einzelnen betreffen, Unterschiede<br />
hervorrufen. Mitglieder der gleichen Familie sind ganz offensichtlich<br />
besonders ähnlichen Umwelten ausgesetzt. Gemeinsame<br />
Umwelteinflüsse sind insbesondere dann zu vermuten,<br />
wenn Zwillinge oder andere Verwandte einander in einem<br />
best<strong>im</strong>mten Merkmal ähnlicher sind, als dies allein aufgr<strong>und</strong><br />
ihrer genetischen Ähnlichkeit zu erwarten wäre. Zum Beispiel<br />
konnte man einen beträchtlichen Einfluss der gemeinsamen<br />
Umwelt auf die positive Gefühlslage kleiner <strong>und</strong> jüngerer Kinder<br />
in einer Zwillingsstudie nachweisen, weil bei eineiigen <strong>und</strong><br />
zweieiigen Zwillingen, die gemeinsam aufwuchsen, vergleichbare<br />
Ähnlichkeiten <strong>im</strong> Ausdruck von Freude <strong>und</strong> Vergnügen<br />
beobachtet wurden (Goldsmith et al. 1997). Der Einfluss der<br />
Umwelt wird auch bei psychischen Störungen erkennbar, die<br />
eine genetische Komponente haben, wenn die betroffenen<br />
Menschen in einer gleichen Umwelt leben. So haben Zwillingsstudien<br />
zum autistischen Störungsspektrum (▶ Exkurs 3.1) konsistente<br />
Hinweise auf eine erbliche Komponente geliefert (bei<br />
eineiigen Zwillingen leiden häufiger beide Zwillinge desselben<br />
Paares an der Störung als bei zweieiigen Zwillingen). Allerdings<br />
zeigte sich in einer neueren groß angelegten Zwillingsstudie, an<br />
der Paare mit jeweils mindestens einem als autistisch gestört<br />
diagnostizierten Zwilling teilnahmen, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit<br />
derselben Diagnose be<strong>im</strong> zweiten Zwilling auch<br />
erheblich von der gemeinsam erlebten Umwelt abhing (Hallmayer<br />
et al. 2011).<br />
Erstaunlicherweise haben Verhaltensgenetiker bei vielen<br />
anderen Entwicklungsaspekten fast keine Belege für Einflüsse<br />
einer gemeinsamen Umwelt gef<strong>und</strong>en. Bei der Persönlichkeit liegen<br />
die Korrelationen bei Adoptivgeschwistern häufig nahe bei<br />
null (Rowe 1994). Dasselbe gilt für manche Typen psychischer<br />
Störungen <strong>und</strong> Pathologien, einschließlich der Schizophrenie<br />
(Gottesman 1991). Das Aufwachsen in einer Adoptivfamilie mit<br />
einem schizophrenen Geschwisterkind erhöht, wie in ▶ Kap. 1<br />
bereits erwähnt, nicht das Risiko, selbst schizophren zu werden.<br />
Es kommt hinzu, dass es für das Schizophrenierisiko des biologischen<br />
<strong>Kindes</strong> eines schizophrenen Elternteils keine Rolle spielt,<br />
ob das Kind bei der Geburt zur Adoption freigegeben wird oder<br />
ob es bei dem psychisch kranken Elternteil verbleibt (Kety et al.<br />
1994).<br />
Die verhaltensgenetischen Untersuchungen zum Einfluss<br />
einer nicht geteilten (also unterschiedlichen) Umwelt gehen<br />
von der Annahme aus, dass Kinder weder innerhalb noch außerhalb<br />
der Familie alle ihre Erfahrungen gemeinsam haben,<br />
auch dann nicht, wenn sie in derselben Familie gemeinsam aufwachsen.<br />
Geschwister können wegen ihrer Geburtsreihenfolge<br />
schon innerhalb der Familie recht Unterschiedliches erfahren.<br />
In einer kinderreichen Familie mag das älteste Geschwister<br />
beispielsweise von relativ jungen, aktiven, aber unerfahrenen<br />
Eltern erzogen worden sein, während ein deutlich jüngeres<br />
Geschwister mit älteren, gesetzteren, aber erfahrungsreicheren<br />
Eltern aufwächst, die wahrscheinlich über mehr pädagogische<br />
Erfahrungen verfügen als in jüngeren Jahren. Außerdem können,<br />
wie in ▶ Kap. 1 erwähnt, Geschwister das Verhalten ihrer<br />
Eltern ihnen gegenüber unterschiedlich erleben (etwa <strong>im</strong> Sinne<br />
eines „Immer-warst-du-Papas-Liebling“-Syndroms). Geschwister<br />
können weiterhin von einem Ereignis, das sie gemeinsam<br />
erleben, beispielsweise der Scheidung ihrer Eltern, ganz unterschiedlich<br />
betroffen sein (Hetherington <strong>und</strong> Clingempeel<br />
1992). Und schließlich sind Geschwister manchmal höchst<br />
motiviert, sich voneinander zu unterscheiden <strong>und</strong> gegeneinander<br />
abzugrenzen (Sulloway 1996). Der jüngere Bruder einer<br />
Musterschülerin versucht vielleicht, stattdessen ein Supersportler<br />
zu werden, <strong>und</strong> ein Kind, das beobachten muss, wie sich ein<br />
Geschwisterteil durch Drogen- <strong>und</strong> Alkoholmissbrauch selbst<br />
zerstört, wählt vielleicht besonders zielstrebig für sich einen<br />
anderen Weg. Wie diese Beispiele zeigen, bilden Geschwister<br />
bereits durch ihre Existenz einen wichtigen Teil der Umwelt<br />
<strong>und</strong> bringen für die anderen Geschwister jeweils andere Erfahrungskonstellationen<br />
mit sich. Das ist ein weiterer Faktor, der<br />
innerhalb einer Familie für jedes Kind zu einem etwas anderen<br />
Erleben führt.<br />
Geschwister, insbesondere wenn sie nicht vom selben Geschlecht<br />
sind, machen außerhalb ihres Zuhauses erst recht<br />
unterschiedliche Erfahrungen; beispielsweise haben sie verschiedene<br />
Fre<strong>und</strong>eskreise <strong>und</strong> Bezugsgruppen. Zwei sehr<br />
aktive Brüder, die beide körperliche Herausforderungen <strong>und</strong><br />
einen gewissen Nervenkitzel mögen, werden zu recht unterschiedlichen<br />
Erfahrungen gelangen, wenn sich der eine mit<br />
Bergsteigen beschäftigt, während sich der andere mit Kr<strong>im</strong>inellen<br />
herumtreibt. Idiosynkratische Lebensereignisse – einen<br />
schweren Unfall oder eine schl<strong>im</strong>me Krankheit erleiden, einen<br />
inspirierenden Lehrer haben, auf dem Schulhof schikaniert<br />
werden – können weiter dazu beitragen, dass sich Geschwister<br />
unterschiedlich entwickeln. Der Haupteffekt nicht geteilter<br />
Umweltfaktoren besteht darin, dass sich die Unterschiede<br />
zwischen Familienmitgliedern vertiefen (Plomin <strong>und</strong> Daniels<br />
1987).
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Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
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In Kürze | |<br />
Die fünf Beziehungen in . Abb. 3.1 bilden das komplexe Zusammenspiel<br />
zwischen genetischen Kräften <strong>und</strong> Umweltkräften<br />
bei der Entwicklung ab. (1) Der Verlauf der Entwicklung<br />
eines <strong>Kindes</strong> wird vom genetischen Erbe beeinflusst, das es<br />
von Mutter <strong>und</strong> Vater erhält, wobei das Geschlecht ausschließlich<br />
durch den Beitrag der Geschlechtschromosomen<br />
des Vaters best<strong>im</strong>mt ist. (2) Die Beziehung zwischen dem<br />
Genotyp <strong>und</strong> dem Phänotyp des <strong>Kindes</strong> hängt zum Teil von<br />
Dominanzmustern bei der Expression einiger Gene ab, doch<br />
die meisten Merkmale, die für Verhaltenswissenschaftler<br />
von pr<strong>im</strong>ärem Interesse sind, werden von mehreren Genen<br />
beeinflusst (polygenetische Vererbung). (3) Dem Konzept der<br />
Reaktionsnorm zufolge wird sich ein best<strong>im</strong>mter Genotyp<br />
in verschiedenen Umwelten jeweils anders entwickeln. Ein<br />
besonders bedeutsamer Teil der kindlichen Umwelt sind die<br />
Eltern, einschließlich deren genetischer Ausstattung, die sich<br />
darauf auswirkt, wie sich die Eltern gegenüber ihren Kindern<br />
verhalten. (4) Die genetische Ausstattung des <strong>Kindes</strong> selbst<br />
beeinflusst es bei der Auswahl <strong>und</strong> Gestaltung seiner eigenen<br />
Umwelt <strong>und</strong> bei dem, was es in dieser Umwelt erlebt. (5) Umgekehrt<br />
kann das Erleben des <strong>Kindes</strong> die Ausprägung der<br />
Gene durch epigenetische Prozesse verändern.<br />
Die Verhaltensgenetik befasst sich damit, wie sich Entwicklung<br />
aus der Interaktion von genetischen Faktoren <strong>und</strong><br />
Umweltfaktoren ergibt. Verhaltensgenetiker verwenden<br />
die Methode der Familienuntersuchung <strong>und</strong> vergleichen<br />
die Korrelationen zwischen Individuen, die sich in ihrer<br />
genetischen Verwandtschaft unterscheiden <strong>und</strong>/oder in unterschiedlichen<br />
Umwelten aufgewachsen sind. Der Erblichkeitsindex<br />
ist ein statistisches Maß für den Anteil der Varianz,<br />
die Individuen einer best<strong>im</strong>mten Population in einem<br />
best<strong>im</strong>mten Merkmal aufweisen, das sich auf genetische<br />
Unterschiede zurückführen lässt. Die meisten Verhaltenseigenschaften,<br />
die auf diese Weise gemessen wurden, zeigen<br />
einen beträchtlichen Erblichkeitsanteil bei der Varianzaufklärung.<br />
Zugleich lassen die statistischen Erblichkeitswerte<br />
das enge Zusammenspiel von Erbe <strong>und</strong> Umwelt bei der Entwicklung<br />
erkennen; es ist falsch <strong>und</strong> unangemessen, wenn<br />
man Anlage <strong>und</strong> Umwelt als unabhängige Einflüsse einander<br />
gegenüberstellt.<br />
Die Entwicklung des Gehirns<br />
Wir werden nun sehen, wie das Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong><br />
Umwelt auch die Entwicklung des Gehirns <strong>und</strong> des Nervensystems<br />
best<strong>im</strong>mt. Bevor wir jedoch die Entwicklungsprozesse bei<br />
der Ausbildung des Gehirns behandeln, müssen wir die Gr<strong>und</strong>bausteine<br />
dieser „kompliziertesten Struktur, die wir <strong>im</strong> Universum<br />
kennen“ (Thompson 2000, S. 1) betrachten.<br />
Das F<strong>und</strong>ament für alle Aspekte der Verhaltensentwicklung<br />
liegt in der Entwicklung des zentralen Nervensystems (ZNS) <strong>und</strong><br />
insbesondere des Gehirns. Das Gehirn ist der Ursprung allen<br />
Denkens, Erinnerns, Fühlens, aller Vorstellungskraft <strong>und</strong> der<br />
Persönlichkeit, kurz gesagt: des Verhaltens, der Fähigkeiten <strong>und</strong><br />
der Eigenschaften, die uns zu dem machen, was wir sind.<br />
Gehirnstrukturen<br />
In unserer Darstellung der Gehirnstrukturen konzentrieren wir<br />
uns auf zwei davon, die für das Verhalten entscheidend sind: das<br />
Neuron <strong>und</strong> den Cortex sowie einige ihrer Teilstrukturen.<br />
Neurone<br />
Das Hauptgeschäft des Gehirns besteht in der Verarbeitung von<br />
Information. Die Gr<strong>und</strong>einheiten des bemerkenswert mächtigen<br />
Informationssystems Gehirn sind seine mehr als 100 Mrd.<br />
Neurone (. Abb. 3.6), deren Zellkörper die graue Substanz bilden.<br />
Neurone sind Zellen, die für das Senden <strong>und</strong> Empfangen<br />
von elektrischen Signalen zwischen dem Gehirn <strong>und</strong> allen Teilen<br />
des Körpers sowie auch innerhalb des Gehirns selbst spezialisiert<br />
sind. Sensorische Neurone übertragen Information von den<br />
Sinnesrezeptoren, die auf Reize in der äußeren Umwelt oder <strong>im</strong><br />
Inneren des Körpers ansprechen; motorische Neurone übertragen<br />
Information vom Gehirn zu den Muskeln <strong>und</strong> Drüsen; <strong>und</strong><br />
Interneurone wirken als Vermittler zwischen sensorischen <strong>und</strong><br />
motorischen Neuronen.<br />
Neurone – Nervenzellen, die auf das Senden <strong>und</strong> Empfangen von Signalen<br />
zwischen Gehirn <strong>und</strong> allen Teilen des Körpers sowie innerhalb des Gehirns<br />
selbst spezialisiert sind.<br />
Wenngleich sich die Neurone auch nach Größe, Form <strong>und</strong> Funktion<br />
beträchtlich unterscheiden, so bestehen sie doch alle aus drei<br />
Hauptkomponenten:<br />
1. einem Zellkörper, der das biologische Basismaterial enthält,<br />
das das Neuron funktionstüchtig macht,<br />
2. Dendriten, das sind Fasern, die Signale von anderen Zellen<br />
als Input erhalten <strong>und</strong> diesen Input in Form von elektrischen<br />
Impulsen zum Zellkörper weiterleiten,<br />
3. einem Axon, einer Faser (deren Länge von ein paar Mikrometern<br />
bis zu mehr als 1 m betragen kann), die elektrische<br />
Signale vom Zellkörper weg zu den Verbindungen mit anderen<br />
Neuronen überträgt.<br />
Zellkörper – Ein Bestandteil des Neurons, der das gr<strong>und</strong>legende biologische<br />
Material enthält, mit dessen Hilfe das Neuron funktioniert.<br />
Dendriten – Nervenfasern, die Input von anderen Zellen erhalten <strong>und</strong> in Form<br />
von elektrischen Impulsen zum Zellkörper weiterleiten.<br />
Axone – Nervenfasern, die elektrische Signale vom Zellkörper weg zu den Verbindungen<br />
mit anderen Neuronen leiten.<br />
Neurone kommunizieren miteinander an den Synapsen, mikroskopisch<br />
kleinen Anschlussstellen zwischen dem Axonende<br />
des sendenden Neurons <strong>und</strong> den dendritischen Verzweigungen<br />
eines empfangenden Neurons. Bei diesem Prozess bewirken<br />
elektrische <strong>und</strong> chemische Prozesse in den Synapsen, dass das<br />
empfangende Neuron entweder beginnt, verstärkt zu feuern <strong>und</strong><br />
so ein Signal an ein anderes Neuron zu senden oder aber das<br />
Feuern zu reduzieren. Die Gesamtzahl der Synapsen ist schier
Die Entwicklung des Gehirns<br />
95 3<br />
..<br />
Abb. 3.6 Das Neuron. Der Zellkörper<br />
stellt Proteine <strong>und</strong> Enzyme<br />
her, die für das Funktionieren der<br />
Zelle sorgen, ferner Neurotransmitter<br />
– chemische Substanzen,<br />
welche die Kommunikation<br />
zwischen Neuronen ermöglichen.<br />
Das Axon ist die längliche Faser, die<br />
elektrische Impulse vom Zellkörper<br />
weg überträgt. Viele Axone sind<br />
von einer Myelinscheide umhüllt,<br />
welche die Geschwindigkeit <strong>und</strong><br />
Effizienz erhöht, mit der Signale das<br />
Axon entlangwandern. Verzweigungen<br />
am Ende des Axons besitzen<br />
Endknöpfchen, die Neurotransmittersubstanzen<br />
in die Synapsen<br />
– den schmalen Spalt zwischen den<br />
Axonenden des einen Neurons <strong>und</strong><br />
den Dendriten oder dem Zellkörper<br />
des anderen – freisetzen. Die Dendriten<br />
leiten Impulse zum Zellkörper<br />
hin. Ein Axon kann mit Tausenden<br />
anderer Neurone Synapsen haben.<br />
(Nach Banich 1997)<br />
unermesslich – es sind viele Billionen –, wobei manche Neurone<br />
mehr als 15.000 synaptische Verbindungen mit anderen<br />
Neuronen besitzen.<br />
Synapsen – Mikroskopisch kleine Spalte an den Verbindungsstellen zwischen<br />
dem Axonende des einen (sendenden) Neurons <strong>und</strong> den Dendritenverzweigungen<br />
oder dem Zellkörper eines anderen (empfangenden) Neurons.<br />
Gliazellen<br />
Außer den Neuronen enthält das Gehirn auch andere Zelltypen,<br />
vor allem Gliazellen, die etwa zehnmal so häufig sind wie<br />
Neurone. Diese Zellen üben eine Vielzahl entscheidender unterstützender<br />
Funktionen aus, darunter das Bilden einer Myelinscheide,<br />
die die Axone umhüllt <strong>und</strong> elektrisch isoliert, was<br />
die Geschwindigkeit <strong>und</strong> Effizienz der Informationsübertragung<br />
erhöht. Die Bedeutung des Myelins zeigt sich deutlich, wenn<br />
die Myelinbildung gestört ist – <strong>und</strong> dadurch schwerwiegende<br />
Krankheiten entstehen können. So wird bei Multipler Sklerose<br />
die Myelinscheide durch das Immunsystem angegriffen, was die<br />
Signalübertragung zwischen den Neuronen stört <strong>und</strong> vielfältige<br />
Beeinträchtigungen sensorischer, motorischer <strong>und</strong> kognitiver<br />
Funktionen hervorrufen kann. Auch bei psychischen Störungen<br />
wie Schizophrenie oder bipolarer Störung ist das Gen, das die<br />
Myelinproduktion reguliert, defekt (z. B. Hakak et al. 2001; Tkachev<br />
et al. 2003).<br />
Gliazellen spielen eine entscheidende Rolle bei der Kommunikation<br />
innerhalb des Gehirns, indem sie die Bildung <strong>und</strong><br />
Stärkung von Synapsen beeinflussen <strong>und</strong> untereinander in einem<br />
vom neuronalen Netzwerk getrennten Netzwerk kommunizieren;<br />
dadurch können sie die Gehirnaktivität in vieler Hinsicht<br />
sehr effizient regulieren (Fields 2004).<br />
Gliazellen – Zellen <strong>im</strong> Gehirn, die eine Vielzahl von entscheidenden Stützfunktionen<br />
ausüben.<br />
Myelinscheide – Die fetthaltige Schicht um best<strong>im</strong>mte Axone, die die Geschwindigkeit<br />
<strong>und</strong> Effizienz der Informationsübertragung erhöht.
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Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
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Abb. 3.7 Der cerebrale Cortex<br />
des Menschen. Diese Ansicht der<br />
linken Hemisphäre des erwachsenen<br />
Gehirns zeigt die vier größeren Regionen<br />
des Cortex – die sogenannten<br />
Lappen –, die durch tiefe Furchen<br />
voneinander getrennt sind. Jedes<br />
der pr<strong>im</strong>ären sensorischen Felder<br />
erhält Information von einem<br />
best<strong>im</strong>mten Sinnessystem, <strong>und</strong> der<br />
pr<strong>im</strong>äre motorische Cortex steuert<br />
die Muskeln des Körpers. Information<br />
aus mehreren sensorischen<br />
Bereichen wird in Assoziationsfeldern<br />
verarbeitet<br />
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Der Cortex<br />
Der cerebrale Cortex, dessen Oberfläche in . Abb. 3.7 dargestellt<br />
ist, gilt als der „menschlichste Teil des menschlichen Gehirns“<br />
(McEwen <strong>und</strong> Schmeck 1994). Im Verlauf der Evolution des<br />
Menschen vergrößerte sich das Gehirn <strong>im</strong>mens. Fast das gesamte<br />
evolutionäre Wachstum der Größe des menschlichen Gehirns<br />
geht auf die Ausdehnung des cerebralen Cortex zurück, der 80 %<br />
des Gehirns ausmacht, einen weit größeren Anteil als bei anderen<br />
Spezies. Die Furchen <strong>und</strong> Spalten, die in . Abb. 3.7 sichtbar sind,<br />
bilden sich während der Entwicklung, wenn das Gehirn innerhalb<br />
des begrenzten Schädelraumes wächst; diese Windungen<br />
machen es möglich, mehr Cortex in dem begrenzten Bereich<br />
unterzubringen.<br />
Cerebraler Cortex – Die Großhirnrinde, die von der „grauen Substanz“ des Gehirns<br />
gebildet wird; der Cortex spielt die wesentliche Rolle bei allem, was man<br />
sich unter den Funktionen vorstellt, die den Menschen besonders auszeichnen<br />
– vom Sehen <strong>und</strong> Hören bis hin zum Schreiben <strong>und</strong> zum Gefühlserleben.<br />
Der Cortex spielt bei einer Vielzahl von geistigen Funktionen<br />
eine entscheidende Rolle: vom Sehen <strong>und</strong> Hören, Lesen, Schreiben,<br />
Kopfrechnen, Mitgefühl bis zum Kommunizieren mit anderen<br />
Menschen. Wie . Abb. 3.7 zeigt, lassen sich die größeren<br />
Bereiche des Cortex – die Lappen – anhand der allgemeinen Verhaltenskategorien<br />
beschreiben, mit denen sie zusammenhängen.<br />
Der Okzipitallappen (oder Hinterhauptslappen) ist vorrangig<br />
an der Verarbeitung visueller Information beteiligt. Der Temporallappen<br />
(oder Schläfenlappen) hängt mit dem Gedächtnis,<br />
dem visuellen Erkennen <strong>und</strong> der Verarbeitung von Emotionen<br />
<strong>und</strong> auditiver Informationen zusammen. Der Parietallappen<br />
(oder Scheitellappen) ist für die räumliche Verarbeitung wichtig.<br />
Er ist außerdem an der Integration von Informationen aus<br />
verschiedenen Sinnesmodalitäten beteiligt <strong>und</strong> spielt eine Rolle<br />
bei der Integration des sensorischen Inputs mit der <strong>im</strong> Gedächtnis<br />
gespeicherten Information <strong>und</strong> mit Information über innere<br />
Zustände. Der Frontallappen (oder Stirnlappen), die „Exekutive“<br />
des Gehirns, ist an der kognitiven Kontrolle einschließlich<br />
des Arbeitsgedächtnisses, des Planens <strong>und</strong> Entscheidens sowie<br />
der inhibitorischen Kontrolle beteiligt. Information aus mehreren<br />
Sinnessystemen wird in Assoziationsfeldern verarbeitet<br />
<strong>und</strong> integriert, die zwischen den sensorischen <strong>und</strong> motorischen<br />
Hauptbereichen liegen.<br />
Lappen – Die größeren Bereiche des Cortex, die mit generellen Kategorien des<br />
Verhaltens zusammenhängen.<br />
Okzipitallappen (Hinterhauptslappen) – Der Teil des Cortex, der vorrangig<br />
an der Verarbeitung visueller Information beteiligt ist.<br />
Temporallappen (Schläfenlappen) – Der Teil des Cortex, der mit Gedächtnis,<br />
visuellem Wiedererkennen <strong>und</strong> mit der Verarbeitung von Emotionen <strong>und</strong> auditiven<br />
Informationen verknüpft ist.<br />
Parietallappen (Scheitellappen) – Steuert die räumliche Verarbeitung <strong>und</strong><br />
integriert den sensorischen Input mit der <strong>im</strong> Gedächtnis gespeicherten Information.<br />
Frontallappen (Stirnlappen) – Der Teil des Cortex, der für die Verhaltensorganisation<br />
zuständig ist <strong>und</strong> für die menschliche Fähigkeit des Vorausplanens<br />
als verantwortlich gilt.<br />
Assoziationsfelder – Teile des Gehirns, die zwischen den wichtigsten sensorischen<br />
<strong>und</strong> motorischen Feldern liegen <strong>und</strong> den Input aus diesen Feldern<br />
verarbeiten <strong>und</strong> integrieren.<br />
Es erscheint zwar praktisch, sich die verschiedenen cortikalen<br />
Bereiche so vorzustellen, dass sie jeweils für spezifische Funktionen<br />
zuständig sind, aber diese Vorstellung ist irreführend. Die<br />
Forschung macht zunehmend deutlich, dass komplexe geistige<br />
Funktionen von mehreren Bereichen des Gehirns vermittelt<br />
werden, mit einem hohen Grad an Interaktionen innerhalb<br />
<strong>und</strong> zwischen den einzelnen Regionen. Ein best<strong>im</strong>mter Bereich<br />
kann für eine Fähigkeit entscheidend sein, aber das bedeutet<br />
nicht, dass die Steuerung <strong>und</strong> Kontrolle dieser Fähigkeit<br />
in diesem einen Bereich lokalisiert wäre. ▶ Exkurs 3.3 erläutert
Die Entwicklung des Gehirns<br />
97 3<br />
einige der Methoden, mit denen die Forscher etwas über die<br />
Funktionen der spezifischen Bereiche des Gehirns herausfinden<br />
wollen.<br />
Cerebrale Lateralisierung<br />
Der Cortex ist in zwei separate Hälften aufgeteilt, die Hemisphären<br />
des Gehirns. Größtenteils gelangt der sensorische Input von<br />
einer Körperseite in die gegenüberliegende Gehirnhälfte, <strong>und</strong> die<br />
motorischen Felder des Cortex steuern jeweils die Bewegungen<br />
der gegenüberliegenden Körperhälfte. Wenn wir also mit der<br />
rechten Hand einen heißen Topf anfassen, registriert die linke<br />
Gehirnhälfte den Schmerz <strong>und</strong> sendet den Befehl, den Topf umgehend<br />
wieder loszulassen.<br />
Die linke <strong>und</strong> rechte Hemisphäre kommunizieren in erster<br />
Linie über das Corpus callosum (den Balken) miteinander, einen<br />
dichten Trakt von Nervenfasern, der beide Gehirnhälften miteinander<br />
verbindet. Die beiden Hemisphären sind auf verschiedene<br />
Verarbeitungsmodalitäten spezialisiert; dieses Phänomen<br />
nennt man cerebrale Lateralisierung. Dabei gibt es bemerkenswerte<br />
speziesübergreifende Ähnlichkeiten. Beispielsweise ist die<br />
Sprachverarbeitung <strong>im</strong> Wesentlichen linkshemisphärisch lateralisiert,<br />
<strong>und</strong> die gleiche Lateralisierung findet sich für die Verarbeitung<br />
kommunikativer Signale bei verschiedenen Tierarten<br />
von Mäusen bis Affen (Corballis 2009).<br />
Hirnhemisphären – Die beiden Hälften des Gehirns, die sensorische Information<br />
jeweils überwiegend aus der gegenüberliegenden Körperseite erhalten.<br />
Corpus callosum (Balken) – Ein dichter Bereich von Nervenfasern, durch den<br />
die beiden Hemisphären miteinander kommunizieren können.<br />
Cerebrale Lateralisation – Die Spezialisierung der Hirnhemisphären auf unterschiedliche<br />
Verarbeitungsmodalitäten.<br />
Entwicklungsprozesse<br />
Wie entsteht die unglaublich komplexe Struktur des menschlichen<br />
Gehirns? Es wird nicht sehr überraschen zu hören, dass<br />
auch hier wieder Anlage <strong>und</strong> Umwelt zusammenwirken. Manche<br />
Aspekte der Ausbildung des Gehirns werden von den Genen –<br />
relativ unabhängig von Erfahrung – angestoßen <strong>und</strong> eng kontrolliert.<br />
Wir werden jedoch sehen, dass andere Aspekte sehr stark<br />
von Erfahrungen beeinflusst werden.<br />
Die Neurogenese <strong>und</strong> die Entwicklung<br />
der Neurone<br />
In der dritten oder vierten pränatalen Lebenswoche beginnen<br />
sich die Zellen <strong>im</strong> frisch gebildeten Neuralrohr mit einer erstaunlichen<br />
Geschwindigkeit zu teilen – die Höchstproduktion liegt<br />
bei 250.000 neuen Zellen pro Minute. Diese Neurogenese – die<br />
Vermehrung von Neuronen durch Zellteilung – ist etwa 18 Wochen<br />
nach der Befruchtung praktisch abgeschlossen (Rakic 1995;<br />
Stiles 2008). (In best<strong>im</strong>mten Gehirnregionen kommt postnatal<br />
eine kleine Anzahl von Neuronen hinzu.) So hat man schon vor<br />
der Geburt fast so viele Neurone wie <strong>im</strong> Erwachsenenalter, wo<br />
es ungefähr 100 Mrd. sind. Allerdings werden auch während des<br />
gesamten Lebens weiterhin neue Neurone gebildet. So tritt Neurogenese<br />
beispielsweise <strong>im</strong> Hippocampus, einem für Gedächtnisprozesse<br />
wichtigen Gehirnbereich, während verschiedener<br />
Lebensabschnitte auf (Gould et al. 1999). Allerdings passiert das<br />
nicht <strong>im</strong>mer: Stress kann die Neurogenese hemmen (Mirescu<br />
<strong>und</strong> Gold 2006). Diese Bef<strong>und</strong>e lassen vermuten, dass die Neurogenese<br />
<strong>im</strong> späteren Leben nicht festgelegt oder vorbest<strong>im</strong>mt<br />
ist, sondern dass sie adaptiv angepasst wird: Unter belohnenden<br />
Bedingungen n<strong>im</strong>mt sie zu, unter bedrohenden Bedingungen ab<br />
(z. B. Glasper et al. 2012).<br />
Neurogenese – Die Vermehrung von Neuronen durch Zellteilung.<br />
Nach ihrer „Geburt“ treten die Neurone in einen zweiten Entwicklungsprozess<br />
ein, während sie zu ihren endgültigen Best<strong>im</strong>mungsorten<br />
wandern. Manche Neurone werden passiv durch die<br />
nach ihnen gebildeten neueren Zellen vorangeschoben, während<br />
sich andere aktiv zu ihrem endgültigen Ort hin bewegen.<br />
Sobald die Neurone ihren Best<strong>im</strong>mungsort erreichen, wachsen<br />
sie <strong>und</strong> differenzieren sich aus. Zuerst wächst den Neuronen<br />
ein Axon <strong>und</strong> dann ein „Strauch“ von Dendriten (. Abb. 3.6).<br />
Schließlich nehmen sie spezifische strukturelle <strong>und</strong> funktionale<br />
Eigenschaften in den verschiedenen Strukturen des Gehirns an.<br />
Axone verlängern sich, wenn sie zu einem best<strong>im</strong>mten Ziel hin<br />
wachsen, wobei es sich je nach dem betreffenden Neuron um ein<br />
anderes Neuron <strong>im</strong> Gehirn oder um einen Knochen <strong>im</strong> großen<br />
Zeh handeln kann. Die wichtigste Veränderung der Dendriten<br />
besteht in einer enormen Vergrößerung des „Dendritenbaumes“<br />
hinsichtlich Umfang <strong>und</strong> Komplexität als Ergebnis von Wachstum,<br />
Verästelung <strong>und</strong> Bildung von Dornen an den Verzweigungen.<br />
Diese Arborisierung erhöht <strong>im</strong>mens die Fähigkeit der<br />
Dendriten, Verbindungen mit anderen Neuronen einzugehen.<br />
Im Cortex erfolgt die Phase des intensivsten Wachstums <strong>und</strong> der<br />
stärksten Differenzierung nach der Geburt.<br />
Dornen – Auswüchse auf den Dendriten der Neurone, welche die Fähigkeit<br />
der Dendriten erhöhen, Verbindungen mit anderen Neuronen einzugehen.<br />
Der Prozess der Myelinisierung – der Bildung einer isolierenden<br />
Myelinschicht um manche Axone herum – beginnt <strong>im</strong> Gehirn<br />
schon vor der Geburt <strong>und</strong> setzt sich bis ins frühe Erwachsenenalter<br />
fort. Wie erwähnt, besteht eine wichtige Funktion des Myelins<br />
darin, die Geschwindigkeit der neuronalen Impulsweiterleitung<br />
zu erhöhen. Die Myelinisierung tritt zuerst tief <strong>im</strong> Gehirn auf <strong>und</strong><br />
beginnt <strong>im</strong> Hirnstamm, von wo sie sich <strong>im</strong>mer weiter in Richtung<br />
Cortex ausbreitet, wobei sie während der Kindheit <strong>und</strong> der Adoleszenz<br />
mit ziemlich gleichbleibender Geschwindigkeit von innen<br />
nach außen wandert (Lenroot <strong>und</strong> Giedd 2006). Die verschiedenen<br />
Cortexbereiche werden dann jedoch in sehr unterschiedlichem<br />
Tempo myelinisiert, was vielleicht zu den unterschiedlichen<br />
Entwicklungsraten einzelner Verhaltensaspekte beiträgt.<br />
Dieses Myelinisierungsmuster weicht auf bemerkenswerte<br />
Weise von dem Muster ab, das sich bei unseren nahen Pr<strong>im</strong>atenverwandten,<br />
den Sch<strong>im</strong>pansen, findet. Zunächst entwickelt<br />
sich die weiße Substanz in den Präfrontallappen der kindlichen<br />
<strong>und</strong> juvenilen Sch<strong>im</strong>pansen noch langsamer, als es bei der Entwicklung<br />
von Menschen der Fall ist; man kann darin einen Hinweis<br />
auf einen möglichen Mechanismus vermuten, durch den<br />
Evolutionsdruck die Gehirnfunktion be<strong>im</strong> Menschen <strong>im</strong> Ver-
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Exkurs 3.3: Näher betrachtet: Die Kartierung des Geistes | |<br />
Entwicklungsforscher setzen eine Vielzahl von<br />
Verfahren ein, um herauszufinden, welche<br />
Bereiche des Gehirns mit spezifischen Verhaltensweisen,<br />
Gedanken <strong>und</strong> Gefühlen assoziiert<br />
sind <strong>und</strong> wie sich die Gehirnfunktionen mit<br />
Elektrophysiologische Aufzeichnungen<br />
Eines der verbreitetsten Verfahren zur Untersuchung<br />
von Gehirnfunktionen in der Entwicklungsforschung<br />
basiert auf dem Elektroenzephalogramm<br />
(EEG). Bei diesem nichtinvasiven<br />
Verfahren werden die durch die Neuronenaktivität<br />
hervorgerufenen Hirnströme mit kleinen,<br />
auf der Kopfhaut aufgesetzten Elektroden<br />
gemessen. Das EEG kann deshalb erfolgreich<br />
bei Kindern <strong>und</strong> sogar Säuglingen angewandt<br />
werden (Foto „EEG“). EEG-Aufzeichnungen<br />
haben wertvolle Informationen zum zeitlichen<br />
Verlauf neuronaler Aktivität <strong>und</strong> zu einer Vielzahl<br />
von Zusammenhängen zwischen Gehirn<br />
<strong>und</strong> Verhalten erbracht.<br />
Ein elektrophysiologisches Verfahren, mit dem<br />
sich Beziehungen zwischen Hirnaktivität <strong>und</strong><br />
Funktionale Magnetresonanztomografie (fMRT)<br />
Die funktionale Magnetresonanztomografie<br />
MRT (functional magnetic resonance <strong>im</strong>aging,<br />
fMRI) benutzt ein starkes Magnetfeld, um farbige<br />
Bilder des cerebralen Blutflusses in unterschiedlichen<br />
Gehirngebieten aufzuzeichnen.<br />
Erhöhter Blutfluss spiegelt dabei eine erhöhte<br />
Neuronenaktivität wider, sodass sich mithilfe<br />
dieser Bilder genau angeben lässt, welche<br />
Bereiche des Gehirns jeweils durch best<strong>im</strong>mte<br />
Aufgaben oder St<strong>im</strong>uli aktiviert wurden. Eine<br />
Weitere Verfahren<br />
Die Positronenemissionstomografie (PET) ist<br />
ein weiteres bildgebendes Verfahren, das<br />
best<strong>im</strong>mte Stoffwechselprozesse abbildet <strong>und</strong><br />
einige wichtige Informationen zur Entwicklung<br />
des Gehirns beigetragen hat. Weil man<br />
bei diesem Verfahren jedoch radioaktive<br />
Marker ins Gehirn einbringen muss, wird<br />
diese Technik in erster Linie zu diagnostischen<br />
Zwecken eingesetzt.<br />
Zu den neuesten Methoden in der Entwicklungsforschung<br />
gehört die Nahes-Infrarot-<br />
Spektroskopie (NIRS), einer Methode, bei<br />
der Licht <strong>im</strong> Frequenzbereich von 650–1000<br />
Nanometer (für den Menschen unschädlich)<br />
das Gehirngewebe durchdringt <strong>und</strong> anschließend<br />
von einem Sensor-Pad auf der Kopfhaut<br />
gemessen wird. Hirnareale, die gut durchblutet<br />
sind, absorbieren diese Strahlung besser<br />
als weniger gut durchblutete Areale.<br />
Da Infrarotstrahlen lautlos sind, von außen<br />
ohne invasive Eingriffe verabreicht werden<br />
<strong>und</strong> auch keine Ruhigstellung des Probanden<br />
erfordern, ist dies eine vielversprechende<br />
Methode zur Untersuchung von Säuglingen<br />
<strong>und</strong> Kindern. Bislang haben verschiedene<br />
speziellen Arten der sensorischen St<strong>im</strong>ulation<br />
besonders gut untersuchen lässt, ist die<br />
Aufzeichnung ereigniskorrelierter Potentiale<br />
(EKPs); dabei werden Änderungen der hirnelektrischen<br />
Aktivität <strong>im</strong> EEG als Reaktion auf<br />
die Präsentation eines best<strong>im</strong>mten Reizes aufgezeichnet.<br />
Anhand solcher Messungen lassen<br />
sich unter anderem Kontinuitäten <strong>im</strong> Zeitverlauf<br />
entdecken. Beispielsweise konnte anhand<br />
von EKPs, die bei Säuglingen als Reaktion auf<br />
die Darbietung muttersprachlicher Laute aufgezeichnet<br />
wurden, die Sprachentwicklung für<br />
die nächsten Jahre vorhergesagt werden (Kuhl<br />
et al. 2008). Mit einer verwandten Methode<br />
namens Magnetenzephalogramm (MEG) lassen<br />
sich die durch die Hirnströme induzierten<br />
Person, deren Gehirn mit diesem Verfahren<br />
dargestellt wird, muss allerdings den Lärm <strong>und</strong><br />
die Enge einer MRT-Röhre aushalten können<br />
<strong>und</strong> sich dabei sehr ruhig verhalten. Deshalb<br />
wurden die meisten fMRT-Untersuchungen<br />
mit Kindern erst ab einem Alter von mindestens<br />
sechs Jahren durchgeführt, oft nach<br />
vorgeschalteten Übungssitzungen in einer<br />
Pseudo-MRT-Röhre, in denen sich die Kinder<br />
an die Untersuchungsumgebung gewöhnen<br />
Versuche, die Gehirnaktivierung durch spezifische<br />
Reize bei Kindern mithilfe der NIRS<br />
genau zu best<strong>im</strong>men, abweichende Bef<strong>und</strong>e<br />
ergeben, zum Teil deshalb, weil diese Technik<br />
noch in den Kinderschuhen steckt (Aslin<br />
2012). Als eine erfolgreiche Anwendung hat<br />
sich jedoch bereits bei der Überwachung von<br />
Frühgeborenen die NIRS-Messung des Sauerstoffgehalts<br />
<strong>im</strong> Gehirnblut erwiesen. Eine<br />
weitere interessante Anwendung erwies sich<br />
bei einer Studie mit taub geborenen Kindern<br />
als erfolgreich, die durch einen operativen<br />
Eingriff ein Cochlea-Implantat erhalten hatten<br />
(auf diese Hörprothesen kommen wir in<br />
▶ Kap. 6 zurück). Solche elektrisch arbeitenden<br />
Implantate kann man wegen des störenden<br />
Einflusses starker Magnetfelder nicht mit<br />
fMRT-Bildgebung untersuchen. Entsprechend<br />
hat man NIRS eingesetzt, um herauszufinden,<br />
inwieweit bei diesen Kindern der auditorische<br />
Cortex bei Hörreizen Aktivierung zeigt.<br />
Tatsächlich ergab sich das bemerkenswerte<br />
Resultat, dass der auditorische Cortex dieser<br />
tauben Kinder bereits wenige St<strong>und</strong>en nach<br />
der Aktivierung des Implantats auf akustische<br />
dem Alter ändern. Die Existenz von zunehmend<br />
mächtigeren Techniken zur Erforschung<br />
der Hirnfunktion hat unser Verständnis des<br />
Gehirns <strong>und</strong> seiner Entwicklung gravierend<br />
verändert. Wir stellen hier Beispiele der gängigsten<br />
Verfahren vor, mit denen das Gehirn<br />
<strong>und</strong> seine Arbeitsweise bei Kindern aufgezeichnet<br />
werden.<br />
Magnetfelder messen. Diese Methode hat den<br />
Vorteil, das einzige nichtinvasive bildgebende<br />
Verfahren zu sein, das zur Untersuchung der<br />
Gehirnentwicklung be<strong>im</strong> Fetus anwendbar ist.<br />
Auch wenn solche MEG-Untersuchungen zur<br />
Entwicklung <strong>im</strong> Mutterleib noch am Anfang<br />
stecken, konnten die Forscher bereits einige<br />
Reaktionen des Fetus nachweisen: Reaktionen<br />
auf auditive Reize oder auch Licht, das auf den<br />
Bauch der Mutter gerichtet wurde, sowie Habituation<br />
bei wiederholt dargebotenen St<strong>im</strong>uli<br />
(Sheridan et al. 2010).<br />
Ereigniskorrelierte Potentiale (EKPs)<br />
Veränderungen der elektrischen Gehirnaktivität<br />
<strong>im</strong> EEG, die als Reaktion auf die Darbietung<br />
eines best<strong>im</strong>mten St<strong>im</strong>ulus auftreten.<br />
konnten. Inzwischen wird die funktionale<br />
Magnetresonanztomografie aber bereits auch<br />
bei nur zwei Tage alten schlafenden Neugeborenen<br />
zur Untersuchung der neuronalen<br />
Prozesse angewandt. Eine solche Studie<br />
zeigte, dass dieselben Gehirnbereiche, die von<br />
der späten Kindheit an durch gesprochene<br />
Sprache aktiviert werden, bereits bei Neugeborenen<br />
auf gesprochene Sprache reagieren<br />
(Perani et al. 2011).<br />
Signale reagierte, denen er zuvor noch nie<br />
ausgesetzt gewesen war (Sevy et al. 2010).<br />
..<br />
EEG. Eine Kappe drückt die Elektroden auf<br />
die Kopfhaut des Babys, sodass die Forscher<br />
die elektrische Aktivität aufzeichnen können,<br />
die über das gesamte Gehirn des Babys verteilt<br />
erzeugt wird. (Foto: Sabina Pauen)
Die Entwicklung des Gehirns<br />
99 3<br />
Exkurs 3.3 (Fortsetzung) | |<br />
40<br />
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Mikrovolt<br />
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Mikrovolt<br />
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a<br />
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Millisek<strong>und</strong>en<br />
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b<br />
–40<br />
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800<br />
Millisek<strong>und</strong>en<br />
1200<br />
1600<br />
..<br />
EKP-Reaktionen. Diese Abbildung zeigt EKP-Wellen in Reaktion auf neuartige (rote Linie) <strong>und</strong> auf vertraute St<strong>im</strong>uli (gelbe Linie). Die Kinder sahen<br />
dabei, wie ein Spielzeug aus einzelnen Teilen zusammengesetzt wurde <strong>und</strong> wurden anschließend auf das Wiedererkennen der dabei gesehenen Teile<br />
<strong>und</strong> schließlich auf das Wiedererkennen be<strong>im</strong> Zusammensetzen des Spielzeugs getestet. Diejenigen Babys, die sich später daran erinnerten, wie ein<br />
Spielzeug zusammenzusetzen ist (linkes Diagramm), hatten in dem früheren Wiedererkennungstest der Bestandteile deutlich zwischen den bekannten<br />
<strong>und</strong> den neuartigen Teilen unterschieden. Diejenigen Babys, die sich nicht an das Zusammensetzen des Spielzeugs erinnerten (rechtes Diagramm), hatten<br />
in dem vorausgehenden Test zur Wiedererkennung der Teile nicht zwischen den bekannten <strong>und</strong> unbekannten Teilen unterschieden. (Nach Carver<br />
et al. 2000)<br />
..<br />
Funktionale Magnetresonanztomografie.<br />
Die beiden fMRT-Scans, wurden (A) von einem<br />
neunjährigen <strong>und</strong> (B) von einem 24 Monate<br />
alten Kind aufgenommen, während die Kinder<br />
kognitive Standardaufgaben lösten, bei denen<br />
auf best<strong>im</strong>mte Reize ein Verhalten gezeigt bzw.<br />
unterdrückt werden musste. (Auf der linken<br />
Seite sind jeweils die Schnittebenen gezeigt,<br />
aus deren Mittelung sich die rechten Schnittbilder<br />
ergeben.) Die Schnittbilder zeigen, dass<br />
die Aktivierungsorte <strong>im</strong> präfrontalen Cortex<br />
sich zwischen Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen nicht<br />
unterscheidet, wenngleich das Aktivierungsniveau<br />
bei den Kindern höher ist (Casey 1999).<br />
(Casey et al. 1997. A pediatric functional MRI<br />
study of prefrontal activation during performance<br />
of a Go-No-Go task. Journal of Cognitive<br />
Neuroscience, 9, 835–847; mit fre<strong>und</strong>licher<br />
Genehmigung)<br />
gleich zum Sch<strong>im</strong>pansen weiterentwickelte (Sakai et al. 2011).<br />
Allerdings ist das Myelinisierungsmuster bei den Sch<strong>im</strong>pansen<br />
bereits zum Zeitpunkt der Geschlechtsreife voll entwickelt, also<br />
weit früher als be<strong>im</strong> Menschen (Miller et al. 2012). Warum die<br />
Myelinisierung sich be<strong>im</strong> Menschen über eine so lange Zeit hinzieht,<br />
ist unbekannt. Es könnte darin sowohl ein Vorteil liegen<br />
(Verbesserungen der exekutiven Funktionen des menschlichen<br />
Gehirns) als auch ein Nachteil (erhöhte Anfälligkeit des menschlichen<br />
Gehirns für Krankheiten durch Defekte bei der Myelinisierung,<br />
die, wie schon erwähnt, bei Multipler Sklerose <strong>und</strong> auch<br />
Schizophrenie auftreten).<br />
Myelinisierung – Die Ausbildung einer Myelinscheide, einer fettartigen Hülle<br />
um die Axone der Neurone, die die Signalübertragung beschleunigt <strong>und</strong> die<br />
Kapazität der Informationsverarbeitung erhöht.<br />
Die Synaptogenese<br />
Ein Ergebnis des außerordentlichen Wachstums der Axon- <strong>und</strong><br />
Dendritenfasern besteht in einer überbordenden, explosionsartigen<br />
Generierung neuronaler Verbindungen. Im Prozess der Synaptogenese<br />
bildet jedes Neuron Synapsen mit Tausenden von<br />
anderen Neuronen, was in der schon erwähnten Ausbildung von<br />
Billionen von Verbindungen resultiert. . Abbildung 3.8 zeigt den<br />
zeitlichen Verlauf der Synaptogenese <strong>im</strong> Cortex. Man kann erkennen,<br />
dass die Synaptogenese pränatal beginnt <strong>und</strong> sowohl vor<br />
der Geburt als auch einige Zeit danach rapide vorangeht. Man<br />
beachte, dass der Zeitpunkt <strong>und</strong> die Zunahme der Synapsenproduktion<br />
in den verschiedenen Regionen des Cortex unterschiedlich<br />
sind; <strong>im</strong> visuellen Cortex ist die Synaptogenese beispielsweise<br />
viel früher abgeschlossen als <strong>im</strong> frontalen Bereich. Wie bei der<br />
Myelinisierung hängen die unterschiedlichen Zeitverläufe bei
100<br />
Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
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..<br />
Abb. 3.8 Produktion <strong>und</strong><br />
El<strong>im</strong>inierung von Synapsen. Die<br />
mittlere Synapsendichte (die Zahl<br />
der Synapsen in einem best<strong>im</strong>mten<br />
Bereich) steigt zunächst steil an,<br />
wenn zu viele Synapsen produziert<br />
werden, <strong>und</strong> n<strong>im</strong>mt dann allmählich<br />
ab, wenn überschüssige Synapsen<br />
el<strong>im</strong>iniert werden. Man beachte,<br />
dass die Zeitskala in den höheren<br />
Altersbereichen gestaucht ist. (Aus<br />
Huttenlocher <strong>und</strong> Dabholkar 1997)<br />
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der Synapsenbildung in unterschiedlichen Gehirnregionen vermutlich<br />
mit den Entwicklungszeitpunkten zusammen, an denen<br />
best<strong>im</strong>mte Fertigkeiten <strong>und</strong> Verhalten ausgebildet werden.<br />
Synaptogenese – Der Prozess der Bildung von Synapsen mit anderen Neuronen,<br />
der in Billionen von Nervenverbindungen resultiert.<br />
Die El<strong>im</strong>inierung von Synapsen<br />
Die explosionsartige Erzeugung von Neuronen <strong>und</strong> Synapsen<br />
bei der weitgehend genetisch gesteuerten Synaptogenese<br />
resultiert in einem riesigen Überschuss – es gibt weit mehr<br />
Nervenverbindungen, als ein Gehirn brauchen kann. Dieser<br />
Überschuss an Synapsen schließt auch einen Überschuss an<br />
Verbindungen zwischen verschiedenen Teilen des Gehirns<br />
ein. Beispielsweise sind zu viele Neurone dort, wo der auditive<br />
Cortex entstehen wird, mit den Neuronen <strong>im</strong> visuellen Bereich<br />
verknüpft, <strong>und</strong> beide Regionen sind übermäßig mit jenen Neuronen<br />
verschaltet, die an Geschmack <strong>und</strong> Geruch beteiligt sind.<br />
Infolge dieser Hyperkonnektivität erleben Neugeborene möglicherweise<br />
Synästhesie – die Mischung unterschiedlicher Arten<br />
von sensorischem Input (Maurer <strong>und</strong> Mondloch 2004). Wegen<br />
der zusätzlichen Verbindungen zwischen auditivem <strong>und</strong> visuellem<br />
Cortex könnten sie beispielsweise auf auditive St<strong>im</strong>ulierung<br />
hin visuelle Erlebnisse haben <strong>und</strong> einen Ton als eine best<strong>im</strong>mte<br />
Farbe wahrnehmen.<br />
Wir kommen nun zu einem besonders bemerkenswerten<br />
Sachverhalt bei der Entwicklung des menschlichen Gehirns.<br />
Schätzungsweise 40 % dieses großen Synapsenüberschusses<br />
werden später wieder selektiv durch einen Prozess der Synapsenreduktion<br />
abgebaut. Wir haben in ▶ Kap. 2 erfahren, dass<br />
das Absterben ein normaler Teil der Entwicklung ist, <strong>und</strong> dies<br />
wird nirgends deutlicher als bei der systematischen Reduktion<br />
der überzähligen Synapsen, die sich Jahre nach der Geburt fortsetzt.<br />
Das Verschwinden von Synapsen tritt zu verschiedenen<br />
Zeitpunkten in verschiedenen Gehirnregionen auf (Huttenlocher<br />
<strong>und</strong> Dabholkar 1997). . Abbildung 3.8 kann man entnehmen,<br />
dass die El<strong>im</strong>inierung von Synapsen <strong>im</strong> visuellen Cortex gegen<br />
Ende des ersten Lebensjahres beginnt <strong>und</strong> bis zum Alter von etwa<br />
zehn Jahren weitergeht, während die Synapsenel<strong>im</strong>inierung <strong>im</strong><br />
frontalen Bereich langsamer verläuft. In den Spitzenzeiten der<br />
Reduktion können bis zu 100.000 Synapsen pro Sek<strong>und</strong>e el<strong>im</strong>iniert<br />
werden (Kolb 1995)!<br />
Synapsenreduktion – Der Prozess der El<strong>im</strong>inierung von kaum aktivierten Synapsen<br />
während der normalen Gehirnentwicklung.<br />
Erst seit relativ kurzer Zeit weiß man, dass auch in der Pubertät<br />
<strong>im</strong> Gehirn explosionsartige Veränderungen vor sich gehen; insbesondere<br />
gibt es eine Welle von Überproduktion bzw. El<strong>im</strong>inierung,<br />
die denen in den ersten Lebensjahren gleichen (Giedd et al.<br />
1999; Gogtay et al. 2004). Während die weiße Cortexsubstanz<br />
bereits von der Kindheit an bis weit ins Erwachsenenalter stetig<br />
zun<strong>im</strong>mt, setzt bei der grauen Substanz ein dramatischer Anstieg<br />
<strong>im</strong> elften oder zwölften Lebensjahr ein. Dieser Zuwachs an<br />
grauer Substanz erfolgt rasch <strong>und</strong> erreicht etwa in der Pubertät<br />
seinen Höhepunkt; danach fällt er mit zunehmender Umwandlung<br />
eines Teiles der grauen Substanz in weiße ab (. Abb. 3.9).<br />
Der zuletzt reifende Bereich des Cortex ist der dorsolaterale präfrontale<br />
Cortex, der für die Steuerung der Aufmerksamkeit, die<br />
Impulskontrolle, das Voraussehen von Konsequenzen, das Setzen<br />
von Prioritäten <strong>und</strong> andere exekutive Funktionen entscheidend<br />
ist. Der dorsolaterale präfrontale Cortex ist vor dem 20. Lebensjahr<br />
noch nicht ausgereift.<br />
Aus . Abb. 3.8 ist keine zweite Welle der Zu- <strong>und</strong> Abnahme<br />
der Synapsendichte in der Pubertät ersichtlich. Das liegt unter<br />
anderem daran, dass diese Abbildung auf klinischer Forschung<br />
an Hirnschnitten beruht, die bei Autopsien von Verstorbenen<br />
unterschiedlichen Alters untersucht wurden. Die einschneidenden<br />
Veränderungen <strong>im</strong> pubertierenden Gehirn zeigen sich<br />
in neuen Bef<strong>und</strong>en aus Längsschnittuntersuchungen, in denen
Die Entwicklung des Gehirns<br />
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Alter<br />
Anteil der<br />
grauen Substanz<br />
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Abb. 3.9 Hirnreifung. Diese Seitenansichten <strong>und</strong> Aufsichten des Gehirns illustrieren die Reifung des Cortex <strong>im</strong> Alter zwischen fünf <strong>und</strong> 20 Jahren. Die<br />
gemittelten MRT-Bilder stammen von Personen, deren Gehirne <strong>im</strong> Zweijahresabstand wiederholt gescannt wurden. Je blauer das Bild gefärbt ist (d. h., je mehr<br />
graue Substanz durch weiße Substanz ersetzt ist), desto gereifter ist dieser Cortexbereich. Man beachte, dass die mit gr<strong>und</strong>legenderen Funktionen zusammenhängenden<br />
Teile des Cortex (das sind die weiter hinten liegenden sensorischen <strong>und</strong> motorischen Bereiche) früher ausreifen als die an höheren Funktionen<br />
beteiligten Gebiete (der Aufmerksamkeit <strong>und</strong> der angemessenen Ausführung). Man beachte insbesondere, dass die frontalen Gebiete, die an der exekutiven<br />
Kontrolle beteiligt sind, erst spät in der Pubertät zur Reife gelangen. (Aus Gogtay et al. 2004)<br />
die Gehirne derselben Menschen über mehrere Jahre hinweg<br />
mehrfach gescannt wurden. Die dramatische Entwicklung, die<br />
man bei individuellen Menschen <strong>im</strong> Laufe der Zeit beobachtet,<br />
lassen sich nicht anhand der Gehirne verschiedener Menschen<br />
aus unterschiedlichem Altersgruppen feststellen (s. dazu die<br />
Erörterung der entwicklungspsychologischen Forschungsmethoden<br />
in ▶ Kap. 1).<br />
Die Bedeutung der Erfahrung<br />
Was best<strong>im</strong>mt darüber, welche der überschüssigen Synapsen<br />
des Gehirns verschwinden <strong>und</strong> welche beibehalten werden? Die<br />
Erfahrung spielt eine entscheidende Rolle bei einem Auswahlprozess,<br />
der nach der Regel „Use it or loose it“ abläuft. In einem<br />
Konkurrenzprozess, der als „neuronaler Darwinismus“ bezeichnet<br />
wurde (Edelman 1987), bleiben diejenigen Synapsen, die häufig<br />
aktiviert werden, selektiv erhalten (Changeux <strong>und</strong> Danchin<br />
1976). Je häufiger eine Synapse aktiviert wird, desto stärker wird<br />
die Verbindung zwischen den beteiligten Neuronen (Hebb 1949).<br />
Umgekehrt wird eine Synapse, die selten aktiv ist, wahrscheinlich<br />
verschwinden; das Axon des einen Neurons zieht sich zurück,<br />
<strong>und</strong> der dendritische Dorn des anderen stirbt ab.<br />
Die naheliegende Frage lautet nun: Warum n<strong>im</strong>mt das<br />
menschliche Gehirn – das Produkt von Millionen Jahren der<br />
Evolution – einen derart abwegigen Entwicklungspfad <strong>und</strong> produziert<br />
einen riesigen Überschuss an Synapsen, nur um einen<br />
großen Anteil davon wieder zu zerstören? Die Antwort liegt<br />
offenbar in der evolutionären Ökonomie. Die Fähigkeit des Gehirns,<br />
durch Erfahrung beeinflusst zu werden, die Plastizität genannt<br />
wird, bietet eine Möglichkeit, weniger Information in den<br />
Genen enkodieren zu müssen. Diese Ökonomisierung könnte<br />
tatsächlich eine Notwendigkeit sein. Denn die Zahl der menschlichen<br />
Gene, die an der Entwicklung <strong>und</strong> den Funktionen des<br />
Nervensystems beteiligt sind, reicht zahlenmäßig nur für einen<br />
Bruchteil der normalen Gesamtausstattung mit Neuronen <strong>und</strong><br />
neuronalen Verbindungen zur Spezifikation ihrer Ausprägung<br />
aus. Um die vollständige Verschaltung des Gehirns zu erreichen,<br />
bündeln Anlage <strong>und</strong> Umwelt ihre Kräfte.<br />
Plastizität – Veränderungsfähigkeit des Gehirns durch Erfahrung, insbesondere<br />
auch nach Schädigungen.<br />
Das Zusammenspiel zwischen Anlage <strong>und</strong> Umwelt bei der Ausbildung<br />
des Gehirns verläuft für zwei Arten von Plastizität jeweils<br />
unterschiedlich. Eine Art betrifft die allgemeinen Erfahrungen, die<br />
fast alle normalen Kinder allein deshalb machen, weil sie Menschen<br />
sind. Die zweite Art betrifft die spezifischen, idiosynkratischen Erfahrungen,<br />
die Kinder aufgr<strong>und</strong> ihrer besonderen Lebensumstände<br />
machen – indem sie etwa in Deutschland oder den USA aufwachsen<br />
oder aber <strong>im</strong> Regenwald des Amazonas, oder indem sie häufig<br />
liebkost oder aber misshandelt werden, indem sie Einzelkind sind<br />
oder aber eines von vielen Geschwistern, <strong>und</strong> so weiter.<br />
Erfahrungserwartende Prozesse<br />
William Greenough bezeichnet die Rolle der allgemeinen<br />
menschlichen Erfahrung bei der Gehirnentwicklung als erfahrungserwartende<br />
Plastizität. Nach dieser Ansicht beruht die<br />
normale Verschaltung des Gehirns zum Teil auf solchen allgemeinen<br />
Erfahrungen, die <strong>im</strong> Verlauf der menschlichen Evolu-
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tion vorgekommen sind – Erfahrungen, die jeder Mensch besitzt,<br />
wenn er über ein einigermaßen intaktes sensomotorisches System<br />
verfügt <strong>und</strong> in einer einigermaßen normalen Umgebung lebt, die<br />
insbesondere visuelle St<strong>im</strong>ulation durch Reizmuster, St<strong>im</strong>men<br />
<strong>und</strong> andere Geräusche, Bewegung <strong>und</strong> Manipulation etc. aufweist<br />
(Greenough <strong>und</strong> Black 1992). Entsprechend kann das Gehirn<br />
Input aus verlässlichen Quellen „erwarten“, um die Feinabst<strong>im</strong>mung<br />
seiner Verschaltungen auszubalancieren, indem es häufig<br />
aktivierte Synapsen stärkt <strong>und</strong> stabilisiert <strong>und</strong> die El<strong>im</strong>inierung<br />
selten aktivierter Synapsen veranlasst. Unsere Erfahrung der äußeren<br />
Welt spielt somit eine entscheidende Rolle bei der Formung<br />
f<strong>und</strong>amentalster Aspekte der inneren Struktur unseres Gehirns.<br />
Erfahrungserwartende Plastizität – Der Prozess, durch den die normale Verschaltung<br />
des Gehirns teilweise als Ergebnis von Erfahrungen geschieht, die<br />
jeder Mensch in halbwegs normaler Umgebung macht.<br />
Ein gr<strong>und</strong>legender Nutzen der erfahrungserwartenden Plastizität<br />
besteht darin, dass die normale Entwicklung mit weniger Genen<br />
möglich wird, weil die Erfahrung das Gehirn formen hilft.<br />
Darüber hinaus kann sich das Gehirn von Verletzungen besser<br />
erholen, wenn andere Bereiche die Funktion übernehmen können,<br />
die das geschädigte Gebiet erfüllt hat. Je jünger das Gehirn<br />
bei der Schädigung ist, desto wahrscheinlicher erholt es sich.<br />
Die Kehrseite der erfahrungserwartenden Plastizität besteht<br />
darin, dass sie mit Verletzlichkeit einhergeht. Wenn die Erfahrung,<br />
die das sich entwickelnde Gehirn für die Feinabst<strong>im</strong>mung seiner<br />
Verschaltungen „erwartet“, aus irgendeinem Gr<strong>und</strong> ausbleibt, sei<br />
es wegen Reizarmut, sei es wegen Funktionsstörungen der Sinnesrezeptoren,<br />
kann die Entwicklung beeinträchtigt werden. Ein<br />
gutes Beispiel für diese Verletzlichkeit sind Kinder mit angeborenen<br />
Katarakten, deren Sehfähigkeit durch eine trübe Augenlinse<br />
eingeschränkt ist. Je länger die Linsentrübung nach der Geburt<br />
fortbesteht, desto beeinträchtigter wird die Sehschärfe nach der<br />
Entfernung des Katarakts bleiben. Dramatische Besserung folgt<br />
<strong>im</strong> Allgemeinen auf frühe Entfernung, wenn auch einige Aspekte<br />
der visuellen Verarbeitung (insbesondere von Gesichtern) beeinträchtigt<br />
bleiben (de Heering <strong>und</strong> Maurer 2012; Maurer et al.<br />
2007). Vermutlich treten die bleibenden Defizite einer späten Kataraktentfernung<br />
deswegen auf, weil die Synapsen, die nach der<br />
Geburt bei visueller St<strong>im</strong>ulation normalerweise aktiviert worden<br />
wären, wegen fehlender St<strong>im</strong>ulation ausgemerzt sind.<br />
Was geschieht, wenn best<strong>im</strong>mte, normalerweise zu erwartende<br />
sensorische Erfahrungen fehlen, mit den korrespondierenden<br />
Bereichen des Gehirns, die normalerweise aufgr<strong>und</strong> dieser<br />
Erfahrung sich funktional spezialisieren würden? Eine Vielzahl<br />
von Bef<strong>und</strong>en aus Tierversuchen weist darauf hin, dass sich solche<br />
Bereiche zumindest teilweise restrukturieren können, um<br />
eine andere Funktion auszuüben. Belege für eine solche Reorganisation<br />
be<strong>im</strong> Menschen stammen aus Untersuchungen an von<br />
Geburt an gehörlosen Erwachsenen, die als Kinder die American<br />
Sign Language (ASL) lernten, eine voll ausdifferenzierte Gebärdensprache<br />
auf visueller Gr<strong>und</strong>lage (Bavelier et al. 2006; Bavelier<br />
<strong>und</strong> Neville 2002). (Deutsche Gehörlose lernen die Deutsche Gebärdensprache<br />
(DGS); Boyes Braem 1995). Gehörlose verlassen<br />
sich bei der Sprachverarbeitung stark auf das periphere Sehen;<br />
typischerweise schauen sie einer Person, die ihnen gebärdet, in<br />
die Augen <strong>und</strong> überwachen deren Hand- <strong>und</strong> Armbewegungen<br />
mithilfe ihres peripheren Sehens. EKP-Aufzeichnungen der Gehirnaktivität<br />
(die in ▶ Exkurs 3.3 erläuterten ereigniskorrelierten<br />
Potentiale) zeigten, dass die Reaktionen gehörloser Menschen auf<br />
periphere visuelle Reize um ein Vielfaches stärker sind als bei hörenden<br />
Personen. Es kommt hinzu, dass ihre Reaktionen anders<br />
über die Gehirnregionen verteilt sind. Der Mangel an auditiven<br />
Erfahrungen bewirkt also, dass diejenigen Gehirnbereiche, die<br />
normalerweise am Hören <strong>und</strong> der Verarbeitung gesprochener<br />
Sprache beteiligt wären, so umorganisiert werden, dass sie stattdessen<br />
visuelle Informationen verarbeiten.<br />
Ähnliche Belege für die frühe Neuorganisation des Gehirns<br />
stammen aus der Forschung mit blinden Erwachsenen. Wenn man<br />
ihre Fähigkeit testet, Veränderungen der musikalischen Tonhöhe<br />
zu unterscheiden, schneiden blind geborene oder früh erblindete<br />
Erwachsene wesentlich besser ab als Erwachsene, die später <strong>im</strong><br />
Leben erblindeten (Gougoux et al. 2004). Vermutlich bleiben<br />
Verbindungen zwischen visuellem <strong>und</strong> auditivem Cortex bei früh<br />
erblindeten Menschen erhalten <strong>und</strong> verschaffen ihnen zusätzliche<br />
Gehirnkapazität, die sie für auditive Aufgaben verwenden können.<br />
In die gleiche Richtung weisen Bef<strong>und</strong>e mit bildgebenden<br />
Verfahren, die dafür sprechen, dass Teile des visuellen Cortex bei<br />
früh erblindeten Erwachsenen zu überlegener Verortungsfähigkeit<br />
von Geräuschen beitragen. Ähnliche Ergebnisse belegen, dass<br />
blind geborene Menschen eine Aktivierung des „visuellen“ Cortex<br />
zeigen, wenn sie Braille lesen (Sadato et al. 1998) <strong>und</strong> wenn sie<br />
gesprochene Sprache verarbeiten (Bedny et al. 2011).<br />
Sensible Phasen<br />
Wie die voranstehenden Beispiele erkennen lassen, ist das T<strong>im</strong>ing<br />
ein Schlüsselelement bei der erfahrungserwartenden Plastizität.<br />
Es gibt einige sensible Phasen, in denen das menschliche<br />
Gehirn für best<strong>im</strong>mte Arten externer Reize besonders empfänglich<br />
ist. Es ist, als ob sich ein Zeitfenster vorübergehend öffnet<br />
<strong>und</strong> Umweltinput hereinbittet, um zur Organisation des Gehirns<br />
beizutragen. Allmählich schließt sich das Fenster wieder. Die<br />
neuronale Organisation, die <strong>im</strong> Verlauf sensibler Phasen eintritt<br />
(oder ausbleibt), ist typischerweise irreversibel.<br />
Wir haben in ▶ Kap. 1 die extreme Deprivation diskutiert,<br />
die rumänischen He<strong>im</strong>kinder schon früh <strong>im</strong> Leben erleiden<br />
mussten – zu einer Zeit, in der Kinder normalerweise eine Fülle<br />
an sozialer <strong>und</strong> anderer umweltbedingter St<strong>im</strong>ulation erfahren;<br />
diese Deprivation wird von einigen Autoren als ein Beispiel für<br />
die Auswirkungen einer sensiblen Phase betrachtet. Insbesondere<br />
wird diskutiert, ob die Pubertät, in der rasche Veränderungen <strong>im</strong><br />
Gehirn geschehen, für verschiedene Aspekte der Entwicklung<br />
eine weitere sensible Phase sein könnte. Und in ▶ Kap. 6 wird<br />
außerdem eine sensible Phase für den Spracherwerb diskutiert.<br />
Erfahrungsabhängige Prozesse<br />
Das Gehirn wird auch durch idiosynkratische Erfahrungen geformt,<br />
die Greenough erfahrungsabhängige Plastizität nennt.<br />
Nervenverbindungen werden <strong>im</strong> Verlauf des Lebens als Funktion<br />
der individuellen Erfahrungen hergestellt <strong>und</strong> neu organisiert.<br />
(Wenn Sie sich an irgendetwas erinnern, was Sie in diesem Kapitel<br />
gelesen haben, dann haben Sie neue neuronale Verknüpfungen<br />
ausgebildet.)
Die Entwicklung des Gehirns<br />
103 3<br />
Erfahrungsabhängige Plastizität – Der Prozess, durch den Nervenverbindungen<br />
<strong>im</strong> Verlauf des Lebens als Funktion der Erfahrungen eines Individuums<br />
hergestellt <strong>und</strong> reorganisiert werden.<br />
Die Rolle der erfahrungsabhängigen Plastizität tritt bei Vergleichen<br />
zwischen Tieren zutage, bei denen man die Umweltbedingungen<br />
gezielt manipulieren kann. So hat man <strong>im</strong> Exper<strong>im</strong>ent Gruppen<br />
von Tieren untersucht, die entweder in komplexen, objektreichen<br />
Umwelten aufgezogen wurden, die sie erk<strong>und</strong>en konnten, oder<br />
aber in langweiligen Laborkäfigen. Die Gehirne von Ratten (<strong>und</strong><br />
auch von Katzen <strong>und</strong> Affen), die in einer komplexeren Umwelt<br />
aufwuchsen, weisen bei ihren Cortexneuronen mehr dendritische<br />
Dornen auf, mehr Synapsen pro Neuron <strong>und</strong> auch insgesamt mehr<br />
Synapsen; außerdem besitzen sie einen allgemein dickeren Cortex<br />
<strong>und</strong> mehr Stützgewebe (wie Blutgefäße <strong>und</strong> Gliazellen), das die<br />
neuronale <strong>und</strong> synaptische Funktion max<strong>im</strong>iert. Diese zusätzliche<br />
Gehirn-Hardware zahlt sich offenbar aus: Die in der komplexen<br />
Umwelt aufgewachsenen Ratten schneiden in einer Vielzahl von<br />
Lernaufgaben besser ab (z. B. Sale et al. 2009).<br />
darauf trainiert, eine Futterbelohnung mit nur einer der Vorderpfoten<br />
zu nehmen; sie wiesen danach einen Zuwachs an dendritischem<br />
Gewebe in genau dem Bereich des motorischen Cortex<br />
auf, der die Bewegung der trainierten Gliedmaße steuert (Greenough<br />
et al. 1985). Bei Menschen ließ eine Untersuchung an Geigern<br />
<strong>und</strong> Cellisten erkennen, dass diese Musiker <strong>im</strong> Vergleich<br />
mit einer Kontrollgruppe eine verstärkte cortikale Repräsentation<br />
ihrer Finger der linken Hand besitzen (Elbert et al. 1995).<br />
Nach Jahren der Übung wurden somit mehr cortikale Zellen<br />
dafür verwendet, Input von den Fingern der Greifhand aufzunehmen<br />
<strong>und</strong> diese Finger be<strong>im</strong> Abgreifen der Saiten zu steuern.<br />
In ähnlicher Weise zeigen geübte Leser der Braille-Schrift eine<br />
vergrößerte cortikale Repräsentation der linken Hand, mit der<br />
sie den in Braille geschriebenen Text normalerweise abtasten<br />
(Pascual-Leone et al. 1993).<br />
..<br />
Wie unterscheiden sich bei diesen beiden Berufsmusikern die cortikalen<br />
Repräsentationen der Hände? (oben: © Craig Lovell/Corbis; unten: © David<br />
Ramos/Getty Image)<br />
..<br />
Nach dem Aufwachsen in einer komplexen Umwelt voller st<strong>im</strong>ulierender<br />
Gegenstände, die zu erk<strong>und</strong>en sind, <strong>und</strong> voller Herausforderungen, die zu<br />
meistern sind, werden die Gehirne dieser Ratten (oben) mehr Synapsen<br />
enthalten, als wenn sie in einem reizarmen Laborkäfig (unten) aufgewachsen<br />
wären. (© Shawna Laufer/The Ratwhisperer(www.ratwhisperer.net); © destinycole/morguefile.com)<br />
Auch hochgradig spezifische Wirkungen der Erfahrung auf die<br />
Gehirnstruktur können eintreten. Beispielsweise wurden Ratten<br />
Wirkungen spezifischer Erfahrungen treten auch in fMRT-Studien<br />
an Menschen mit Dyslexie zutage, einer schwerwiegenden<br />
Leseschwäche bei normaler Intelligenz <strong>und</strong> Bildung (▶ Kap. 8).<br />
Zu einer solchen Untersuchung gehörte ein Leseförderprogramm,<br />
in dem man Zweit- <strong>und</strong> Drittklässler mit Dyslexie darin<br />
übte, die Übereinst<strong>im</strong>mung von Sprachlauten <strong>und</strong> Buchstaben zu<br />
erkennen (Blachmann et al. 2004). Nach dem Training war nicht<br />
nur die Lesefähigkeit dieser Kinder bedeutend besser, auch die
104<br />
Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
a<br />
..<br />
Abb. 3.10 Verzögerte Auswirkungen früher Gehirnschädigung. Im Alter von sechs Jahren schnitten Kinder mit angeborener Hirnschädigung auf zwei<br />
Unterskalen eines Intelligenztests genauso ab wie normale Kinder. Die hirngeschädigten Kinder verbesserten ihre Leistungen jedoch nicht <strong>und</strong> fielen <strong>im</strong>mer<br />
weiter hinter die normalen Kinder zurück, sodass <strong>im</strong> <strong>Jugendalter</strong> große Unterschiede zwischen den beiden Gruppen bestanden. (Daten aus Banich et al. 1990;<br />
grafische Darstellung von Kolb 1995)<br />
b<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
fMRT-Bilder zeigten eine wachsende Aktivität der linken Hirnregionen,<br />
die nun der Aktivität in Gehirnen geübter Leser ähnelte.<br />
Die spezifischen Wirkungen von Leseerfahrungen zeigen sich<br />
auch darin, dass be<strong>im</strong> Lesen chinesischer Schriftzeichen völlig<br />
andere Netzwerke <strong>im</strong> Gehirn aktiviert sind als be<strong>im</strong> Lesen von<br />
Buchstabenschriften (wie des Deutschen).<br />
Die Wiederherstellung von Funktionen<br />
nach Hirnschäden<br />
Weil das Gehirn (besonders zu Beginn des Lebens) besonders<br />
plastisch ist, kann es nach einer Gehirnschädigung – zumindest<br />
in best<strong>im</strong>mtem Umfang – neu verschaltet werden. In gewisser<br />
Hinsicht besitzen Kinder, die eine Hirnschädigung erleiden, eine<br />
höhere Chance zur Wiederherstellung der beeinträchtigten Funktionen<br />
als Erwachsene mit einer vergleichbaren Schädigung. Die<br />
überzeugendsten Belege dafür ergaben sich bei Kleinkindern, die<br />
eine Schädigung ihrer cortikalen Sprachregion erlitten <strong>und</strong> bei<br />
denen sich die Sprachfunktionen meist vollständig erholten. Dies<br />
ist möglich, weil in jungen, noch nicht ausgereiften Gehirnen die<br />
Sprachfunktionen nach einer Schädigung von einem anderen Gehirnbereich<br />
übernommen werden können. Im Ergebnis bleibt die<br />
Sprachfähigkeit großenteils erhalten, wenngleich einige spezifische<br />
Sprachbeeinträchtigungen zurückbleiben können (z. B. Zevin et al.<br />
2012).<br />
Erwachsene dagegen durchlaufen nach einer Hirnschädigung<br />
keine entsprechende Reorganisation ihrer sprachbezogenen<br />
Funktionen, sodass sie häufig einen permanenten Verlust<br />
ihrer Fähigkeit zur Sprachproduktion oder zum Sprachverstehen<br />
erleiden können. Auch bei anderen als sprachlichen Funktionen<br />
wurde eine bessere Erholung nach früh erlittenen Hirnschädigungen<br />
beobachtet. Zum Beispiel können Erwachsene, deren<br />
frontaler Cortexbereich <strong>im</strong> Erwachsenenalter Schaden nahm,<br />
schlechter angemessene Gesichtsausdrücke produzieren als Erwachsene,<br />
bei denen die Verletzung des Frontallappens in der<br />
Kindheit erfolgte (Kolb 1995).<br />
Es trifft jedoch nicht <strong>im</strong>mer zu, dass die Chance, sich von<br />
einer Gehirnverletzung zu erholen, mit dem Alter sinkt. Die<br />
Wahrscheinlichkeit des Genesens hängt davon ab, wie ausgedehnt<br />
die Schädigung ist <strong>und</strong> in welcher Entwicklungsphase<br />
sich das Gehirn zur Zeit der Verletzung befindet. Ein Beispiel<br />
dafür sind die Schicksale der Kinder japanischer Frauen, die 1945<br />
be<strong>im</strong> Abwurf der Atombomben während der Schwangerschaft<br />
extrem hohen Dosen radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren.<br />
Geistige Retardierung trat bei den überlebenden Kindern, die der<br />
Strahlung sehr früh – während der Zeit schneller Neurogenese<br />
<strong>und</strong> Neuronenwanderung – ausgesetzt waren, deutlich öfter auf<br />
als bei den Kindern, die in einem späteren Schwangerschaftsstadium<br />
der Strahlung ausgesetzt waren (Otake <strong>und</strong> Schull 1984).<br />
In ähnlicher Weise führt eine Hirnverletzung <strong>im</strong> ersten Lebensjahr<br />
<strong>im</strong> Allgemeinen in einer gravierenderen Beeinträchtigung<br />
der Intelligenz als eine später eintretende Verletzung (Anderson<br />
et al. 2012).<br />
Außerdem können selbst dann, wenn sich Kinder von einer<br />
früh eingetretenen Verletzung scheinbar völlig erholt haben,<br />
später noch Defizite auftauchen. Dies wurde in einer Untersuchung<br />
nachgewiesen, bei der kognitive Leistungen zwischen einer<br />
Gruppe von Kindern, die mit cerebralen Schäden geboren<br />
worden waren, <strong>und</strong> einer Kontrollgruppe von Kindern ohne<br />
Gehirnschäden verglichen wurden (Banich et al. 1990). Wie<br />
. Abb. 3.10 zeigt, unterschieden sich die beiden Gruppen von<br />
Kindern <strong>im</strong> Alter von sechs Jahren nicht in ihren Leistungen<br />
auf zwei Unterskalen eines Intelligenztests. Im weiteren Verlauf<br />
zeigten sich jedoch beträchtliche Unterschiede. Während sich<br />
die Leistung der normalen Kinder mit zunehmendem Alter<br />
deutlich verbesserte, gerieten die hirngeschädigten Kindern <strong>im</strong>mer<br />
mehr in Rückstand. Dasselbe Muster einer verlangsamten<br />
oder sogar abnehmenden Intelligenzleistung bei Kindern mit<br />
frühen Hirnläsionen zeigt sich auch in einer Längsschnittstudie,<br />
bei der die IQ-Werte <strong>im</strong> Alter unter <strong>und</strong> über sieben Jahren gemessen<br />
wurden (Levine et al. 2005). Diese Bef<strong>und</strong>e illustrieren<br />
die Schwierigkeit, die Entwicklung von Kindern mit cerebralen<br />
Verletzungen vorherzusagen; Verhalten, das anfangs normal
Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers<br />
105 3<br />
erscheint, kann mit der Zeit <strong>im</strong>mer deutlicher von der Norm<br />
abweichen.<br />
Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieser verschiedenen Aspekte der Plastizität<br />
können wir verallgemeinern, dass bei einer Hirnschädigung,<br />
die zu einem frühen Zeitpunkt eintritt – während der<br />
pränatalen Entwicklung <strong>und</strong> des ersten Lebensjahres nach<br />
der Geburt, wenn die Neurogenese <strong>im</strong> Gange ist <strong>und</strong> sich die<br />
f<strong>und</strong>amentalen Gehirnstrukturen bilden –, die Folgen am<br />
schwerwiegendsten sind. Eine Schädigung innerhalb dieser<br />
Zeitspanne kann kaskadenartig <strong>im</strong>mer weitere Prozesse der<br />
Gehirnentwicklung beeinträchtigen, sodass insgesamt weitreichende<br />
negative Wirkungen entstehen. Die „günstigste“ Zeit<br />
scheint die frühe Kindheit zu sein, wenn Synaptogenese <strong>und</strong><br />
Synapsenreduktion <strong>im</strong> Gange sind, wenn also die Plastizität<br />
am größten ist – wenn die Neuverschaltung des Gehirns noch<br />
möglich <strong>und</strong> die Chancen zur Wiederherstellung der Funktion<br />
noch groß sind.<br />
In Kürze | |<br />
Anlage <strong>und</strong> Umwelt arbeiten bei der Konstruktion des<br />
menschlichen Gehirns zusammen. Zu den wichtigen<br />
Gehirnstrukturen gehören Neurone, die an ihren Synapsen<br />
miteinander kommunizieren; der Cortex, in dem verschiedene<br />
Funktionen in verschiedenen Arealen lokalisiert sind;<br />
<strong>und</strong> die cerebralen Hemisphären, die auf verschiedene Arten<br />
der Verarbeitung spezialisiert sind. Zu den Prozessen, die an<br />
der Entwicklung des Gehirns beteiligt sind, gehören die Neurogenese<br />
<strong>und</strong> die Synaptogenese, denen die systematische<br />
El<strong>im</strong>inierung etlicher Synapsen <strong>und</strong> die Erhaltung anderer<br />
Synapsen folgen, in einem durch Erfahrung best<strong>im</strong>mten<br />
Ausleseprozess.<br />
Zwei Formen der Plastizität tragen zur Entwicklung des<br />
Verhaltens bei. Als Resultat der erfahrungserwartenden<br />
Plastizität wird das Gehirn durch Erfahrungen geformt, die<br />
in der Interaktion jedes ges<strong>und</strong>en Individuums mit jeder<br />
normalen Umwelt verfügbar sind. Aufgr<strong>und</strong> der erfahrungsabhängigen<br />
Plastizität wird das Gehirn auch durch die<br />
idiosynkratischen Erfahrungen strukturiert, die ein Individuum<br />
<strong>im</strong> Verlauf seines Lebens macht. Die Erfahrung ist für<br />
die Gehirnentwicklung entscheidend, denn es gibt sensible<br />
Phasen, während derer für eine normale Entwicklung<br />
best<strong>im</strong>mte Erfahrungen verfügbar sein müssen. Zudem ist<br />
das T<strong>im</strong>ing für die Auswirkungen einer Hirnschädigung ein<br />
entscheidender Faktor.<br />
Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers<br />
In ▶ Kap. 1 haben wir die vielfältigen Kontexte hervorgehoben, in<br />
denen Entwicklung stattfindet. An dieser Stelle konzentrieren wir<br />
uns nun auf den unmittelbarsten Kontext von Entwicklung – den<br />
Körper selbst. An allem, was wir denken, fühlen, sagen <strong>und</strong> tun,<br />
ist unser physisches Selbst beteiligt; <strong>und</strong> Körperveränderungen<br />
führen zu Verhaltensänderungen. In diesem Abschnitt bieten wir<br />
einen breiten Überblick über einige Aspekte des Körperwachs-<br />
tums einschließlich einiger Einflüsse, welche die normale Entwicklung<br />
stören können. Ein lebenswichtiger Faktor für die körperliche<br />
Entwicklung, das Ernährungsverhalten, skizzieren wir<br />
abschließend <strong>im</strong> Zusammenhang mit der Regulation des Essens.<br />
Dabei konzentrieren wir uns besonders auf eine Folge falscher<br />
Ernährung – die Fettleibigkeit. Schließlich richten wir unser Augenmerk<br />
auf das entgegengesetzte Problem – die Unterernährung.<br />
Wachstum <strong>und</strong> Reifung<br />
Im Vergleich zu den meisten anderen Spezies durchlaufen Menschen<br />
eine verlängerte Phase des körperlichen Wachstums. Der<br />
Körper wächst <strong>und</strong> entwickelt sich über 20 % der menschlichen<br />
Lebensspanne, wogegen Mäuse beispielsweise nur während 2 %<br />
ihrer Lebensspanne wachsen. . Abbildung 3.11 zeigt die offensichtlichsten<br />
Veränderungen des Körperwachstums: Von der<br />
Geburt bis zum 20. Lebensjahr werden wir dre<strong>im</strong>al größer <strong>und</strong><br />
15- bis 20-mal schwerer. Die Zahlen geben natürlich nur Durchschnittswerte<br />
an; offensichtlich bestehen große interindividuelle<br />
Unterschiede in Körpergröße <strong>und</strong> -gewicht wie auch <strong>im</strong> Zeitverlauf<br />
der körperlichen Entwicklung.<br />
Das Wachstum verläuft nicht gleichmäßig, wie man den<br />
Unterschieden <strong>im</strong> Anstieg der Kurven in . Abb. 3.11 entnehmen<br />
kann. Am steilsten verlaufen die Kurven in den Phasen des<br />
schnellsten Wachstums – in den ersten beiden Jahren <strong>und</strong> in der<br />
frühen Pubertät. Am Anfang wachsen Jungen <strong>und</strong> Mädchen etwa<br />
gleichförmig mit konstantem Kurvenanstieg, <strong>und</strong> bis zum Alter<br />
von etwa zehn bis zwölf Jahren sind sie praktisch gleich groß<br />
<strong>und</strong> gleich schwer. Dann durchlaufen die Mädchen den pubertären<br />
Wachstumsschub, an dessen Ende sie etwas größer <strong>und</strong><br />
schwerer sind als die Jungen. (Erinnern Sie sich an die etwas<br />
unbehaglichen Schuljahre in der Mittelstufe, als die Mädchen<br />
die Jungen plötzlich überragten, was beiden nicht so angenehm<br />
war?) Die heranwachsenden Jungen erleben ihren Wachstumsschub<br />
etwa zwei Jahre nach den Mädchen <strong>und</strong> überholen diese<br />
dann auf Dauer in Größe <strong>und</strong> Gewicht. Die volle Körpergröße<br />
erreichen Mädchen mit durchschnittlich 15 1/2 <strong>und</strong> Jungen mit<br />
durchschnittlich 17 1/2 Jahren.<br />
Das Wachstum verläuft in den verschiedenen Körperteilen<br />
nicht gleichmäßig. Die in ▶ Kap. 2 beschriebene cephalocaudale<br />
Entwicklung folgt dem Muster, dass die Kopfregion am Anfang<br />
relativ groß ist – mit zwei Monaten entspricht sie ungefähr 50 %<br />
der Körperlänge – <strong>und</strong> <strong>im</strong> Erwachsenenalter dann aber nur etwa<br />
10 % der Körpergröße erreicht. Die Schlaksigkeit <strong>und</strong> Ungelenkheit<br />
von Jugendlichen resultiert zum Teil aus dem Umstand, dass<br />
ihr Wachstumsschub mit drastischen Zuwächsen ihrer Hand<strong>und</strong><br />
Fußgröße beginnt; man stolpert leicht über seine eigenen<br />
Füße, wenn diese überproportional größer sind als der Rest.<br />
Auch die Zusammensetzung des Körpers ändert sich mit<br />
dem Alter. Der Anteil des Körperfetts ist in der Säuglingszeit am<br />
höchsten <strong>und</strong> sinkt danach allmählich ab bis zum Alter von etwa<br />
sechs bis acht Jahren. In der Pubertät sinkt der Fettanteil bei den<br />
Jungen, aber er steigt bei den Mädchen, was dazu beiträgt, dass<br />
das Einsetzen der Menstruation ausgelöst wird. Der Muskelanteil<br />
wächst bis zur Pubertät langsam <strong>und</strong> kontinuierlich <strong>und</strong> steigt<br />
dann, besonders bei den Jungen, drastisch an.
106<br />
Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
1<br />
110<br />
242<br />
200<br />
79<br />
2<br />
100<br />
90<br />
97%<br />
220<br />
198<br />
180<br />
97%<br />
50%<br />
71<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
Durchschnittsgewicht (kg)<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
50%<br />
3%<br />
176<br />
154<br />
132<br />
110<br />
88<br />
60<br />
44<br />
22<br />
Durchschnittsgewicht (po<strong>und</strong>)<br />
Durchschnittsgröße (cm)<br />
160<br />
140<br />
120<br />
100<br />
80<br />
60<br />
3%<br />
63<br />
55<br />
47<br />
39<br />
32<br />
24<br />
Durchschnittsgröße (inch)<br />
9<br />
0<br />
2<br />
4<br />
6<br />
8<br />
10<br />
12<br />
14<br />
16<br />
18<br />
20<br />
0<br />
2<br />
4<br />
6<br />
8<br />
10<br />
12<br />
14<br />
16<br />
18<br />
20<br />
10<br />
Alter (in Jahren)<br />
Mädchen<br />
Jungs<br />
Alter (in Jahren)<br />
11<br />
12<br />
..<br />
Abb. 3.11 Wachstumskurven für Größe <strong>und</strong> Gewicht von der Geburt bis zum 20. Lebensjahr. Je steiler die Steigung, desto schneller ergeben sich Veränderungen<br />
in Größe oder Gewicht. Diese Kurven beruhen auf großen Stichproben amerikanischer Kinder aus allen Teilen der USA. Jede Kurve gibt Mindestwerte<br />
für Körpergröße <strong>und</strong> Gewicht wieder, die bei einem best<strong>im</strong>mten Prozentsatz der Referenzpopulation (3, 50 bzw. 97 %) nicht unterschritten wurde. (Centers for<br />
Disease Control and Prevention 2002)<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Variabilität<br />
In allen Aspekten der körperlichen Entwicklung gibt es eine große<br />
Variabilität über Individuen <strong>und</strong> Gruppen hinweg, wie sich in den<br />
folgenden Beispielen zeigt. Diese Variabilität in der körperlichen<br />
Entwicklung beruht sowohl auf genetischen als auch auf umweltbedingten<br />
Faktoren. Die Gene wirken sich auf das Größenwachstum<br />
<strong>und</strong> die sexuelle Reife größtenteils durch die Beeinflussung<br />
der Hormonproduktion aus, insbesondere des Wachstumshormons<br />
(das die Hirnanhangdrüse freisetzt) <strong>und</strong> des Thyroxins (aus<br />
der Schilddrüse). Der Einfluss von Umweltfaktoren wird besonders<br />
in Jahrh<strong>und</strong>erttrends erkennbar, deutlichen Veränderungen<br />
der Körperentwicklung, die über Generationen hinweg auftreten.<br />
In den heutigen Industrienationen sind die Erwachsenen einige<br />
Zent<strong>im</strong>eter größer, als ihre gleichgeschlechtlichen Großeltern es<br />
waren. Diese Veränderung resultiert vermutlich vorwiegend aus<br />
Verbesserungen der Ernährung <strong>und</strong> der allgemeinen Ges<strong>und</strong>heit.<br />
Ein anderer Säkulartrend besteht darin, dass die Menstruation<br />
der Mädchen in Ländern wie den USA <strong>und</strong> Deutschland ein paar<br />
Jahre früher beginnt als bei ihren Großmüttern <strong>und</strong> Urgroßmüttern<br />
– eine Veränderung, die man der generellen Verbesserung<br />
des Ernährungszustands der Bevölkerung zuschreibt.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erttrends – Seit Generationen andauernde deutliche Veränderungen<br />
der Körperentwicklung.<br />
Umweltfaktoren können auch bei der Störung des normalen<br />
Wachstums eine Rolle spielen. Zum Beispiel kann schwerer chronischer<br />
Stress, wie er mit einer häuslichen Umgebung einhergeht,<br />
die von schwerwiegenden ehelichen Streitigkeiten, Alkoholismus<br />
oder <strong>Kindes</strong>misshandlung geprägt ist, das Wachstum beeinträchtigen,<br />
indem sich die Produktion des Wachstumshormons<br />
durch die Hirnanhangdrüse verringert (Powell et al. 1967). Auch<br />
He<strong>im</strong>kinder tragen ein höheres Risiko für Wachstumsstörungen,<br />
teilweise durch eine kombinierte Kombination von Stress<br />
<strong>und</strong> schlechter Ernährung (Johnson <strong>und</strong> Gunnar 2011). Eine<br />
Kombination von genetischen <strong>und</strong> umweltbedingten Faktoren<br />
ist offenbar auch an einem nicht organisch bedingten Entwicklungsstillstand<br />
beteiligt; bei diesem auch als Gedeihstörung bezeichneten<br />
Zustand bekommen die Kinder ohne erkennbaren<br />
medizinischen Gr<strong>und</strong> Untergewicht <strong>und</strong> nehmen nicht mehr an<br />
Körpergröße oder Gewicht zu. Für solche Entwicklungsstörungen<br />
gibt es wegen der unklaren Ursachen verschiedene Therapieansätze<br />
– von der Hospitalisierung bis hin zu Ernährungsprogrammen<br />
<strong>und</strong> Verhaltenstherapie durch gezieltes Belohnen<br />
positiver Essverhalten (Jaffe 2011).<br />
Gedeihstörung – Eine Entwicklungsstörung ohne erkennbare organische Ursache,<br />
bei der Säuglinge ohne erkennbaren medizinischen Gr<strong>und</strong> unterernährt<br />
werden <strong>und</strong> weder wachsen noch an Gewicht zulegen.<br />
Ernährungsverhalten<br />
Die Ges<strong>und</strong>heit unseres Körpers hängt davon ab, was wir ihm<br />
zuführen, einschließlich der Menge <strong>und</strong> Art von Nahrung, die<br />
wir zu uns nehmen. Die Entwicklung des Essens beziehungsweise
Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers<br />
107 3<br />
des Ernährungsverhaltens ist von Anfang an ein entscheidender<br />
Aspekt der <strong>Kindes</strong>entwicklung.<br />
Die Säuglingsernährung<br />
Wie alle Säugetiere erhalten neugeborene Menschen ihre lebenserhaltende<br />
Nahrung, indem sie gesäugt beziehungsweise<br />
gestillt werden. Jedoch brauchen die menschlichen Babys dabei<br />
mehr Hilfestellung als die meisten anderen Säuger. Vom<br />
Anbeginn der Menschheitsgeschichte <strong>und</strong> noch bis vor wenigen<br />
Jahrzehnten war die Muttermilch die einzige oder pr<strong>im</strong>äre<br />
Nahrungsquelle für Säuglinge, denn Muttermilch besitzt viele<br />
Vorteile (Newman 1995). Sie ist auf natürliche Weise frei von<br />
Bakterien, stärkt das kindliche Immunsystem <strong>und</strong> enthält die<br />
mütterlichen Antikörper gegen die Infektionserreger, mit denen<br />
das Baby nach seiner Geburt wahrscheinlich in Kontakt kommt.<br />
..<br />
Wenn eine Mutter ihren Säugling stillt, liefert sie ihm die vielen Vorteile, die<br />
Muttermilch gegenüber Ersatznahrung auszeichnet. (© vishnena/fotolia.com)<br />
Es gibt in der Literatur viele Annahmen darüber, wie die Fettsäuren<br />
in der Muttermilch die kognitive Entwicklung fördern,<br />
wobei einige Studien auf höhere IQ-Werte bei Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen<br />
hinweisen, die von ihren Müttern gestillt wurden (Zusammenfassung<br />
in Nisbett et al. 2012). Eine Herausforderung bei<br />
solchen Studien in den USA liegt darin, dass das Stillverhalten der<br />
Mütter mit sozialen Faktoren wie Bildungsstand oder Beschäftigungsverhältnissen<br />
korreliert, die ein Stillen neben der Arbeit erschweren.<br />
Allerdings bestätigen einige neuere Studien, bei denen<br />
der Einfluss der sozialen Schichtzugehörigkeit kontrolliert werden<br />
konnte, dass mit dem Stillen Vorteile in der kognitiven Entwicklung<br />
des <strong>Kindes</strong> einhergehen. In einer dieser Studie wurden die<br />
Mutter-Kind-Paare randomisiert zwei Gruppen zugeordnet, wobei<br />
in der Interventionsgruppe zum Stillen ermutigt wurde <strong>und</strong><br />
in der Kontrollgruppe nicht. Die Ergebnisse zeigten, dass ausschließliches<br />
<strong>und</strong> lange beibehaltenes Stillen bei den Kindern <strong>im</strong><br />
Alter von 6½ Jahren zu einem höheren IQ beiträgt (Kramer et al.<br />
2008). Bei einer anderen Studie zur Untersuchung genetischer<br />
Einflüsse zeigte sich, dass Kinder mit einem von zwei Allelen zur<br />
Regulation der Fettsäuren durch die Ernährung mit Muttermilch<br />
enorme kognitive Vorteile hatten <strong>im</strong> Vergleich zu Kindern mit<br />
einem anderen Allel, bei denen der Vorteil nur gering war (Capsi<br />
et al. 2007). Diese Bef<strong>und</strong>e spiegeln das in diesem Kapitel bereits<br />
erläuterte Zusammenspiel von Genotyp <strong>und</strong> Umwelt wider, wobei<br />
die Vorteile einer best<strong>im</strong>mten Umwelt (in diesem Fall die Muttermilch)<br />
durch den Genotyp des <strong>Kindes</strong> reduziert werden.<br />
Trotz der überlieferten ernährungsbezogenen Überlegenheit<br />
der Muttermilch <strong>und</strong> der Tatsache, dass sie nichts kostet, wird<br />
die Mehrzahl der Kleinkinder in den USA <strong>und</strong> ein Großteil der<br />
Säuglinge in anderen Industrienationen ausschließlich oder vorwiegend<br />
aus der Flasche ernährt. Durch neue ges<strong>und</strong>heitspolitische<br />
Maßnahmen hat sich der Trend zugunsten längeren Stillens<br />
verschoben, seit Eltern über die Vorteile der Brustmilchernährung<br />
aufgeklärt wurden <strong>und</strong> Arbeitgeber aufgefordert wurden,<br />
den Müttern mehr Raum zum Stillen oder Abpumpen der Milch<br />
<strong>im</strong> Berufsalltag einzuräumen. Seit Beginn dieser Maßnahmen<br />
hat sich der Anteil der Mütter, die ihre Kinder mit Muttermilch<br />
ernähren, kontinuierlich erhöht <strong>und</strong> erreichte 2009 bei den<br />
Neugeborenen in den USA 76,9 % (Centers for Disease Control<br />
and Prevention 2012). Allerdings war es für die Eltern offenbar<br />
schwierig, diesen guten Start bei der Ernährung beizubehalten.<br />
Im Alter von sechs Monaten wurden nur noch 47,2 % der Kinder<br />
gestillt, <strong>und</strong> <strong>im</strong> Alter von zwölf Monaten nur noch 25,5 %.<br />
Eine <strong>im</strong> Rahmen des Kindheits- <strong>und</strong> Jugendges<strong>und</strong>heitssurveys<br />
(KiGGS) durchgeführte repräsentative Studie, an der von<br />
1986–2005 ca. 17.000 Familien teilnahmen, ergab, dass sich der<br />
Anteil gestillter Kinder <strong>im</strong> oben genannten Zeitraum von 74 auf<br />
81,5 % gesteigert hat, wobei die Kinder der Jahrgänge 1998–2001<br />
mit einer Rate von 68 % nach vier Monaten <strong>und</strong> 48 % nach sechs<br />
Monaten am längsten voll gestillt worden sind. Negativ wirkten<br />
sich ein niedriger Sozialstatus, Zigarettenkonsum während der<br />
Schwangerschaft, Frühgeburtlichkeit <strong>und</strong> Geburtskomplikationen<br />
aus (zitiert nach Rubin 2008).<br />
In entwickelten Ländern kann Babynahrung das normale<br />
Wachstum <strong>und</strong> die normale Entwicklung unterstützen, wenngleich<br />
mit einer etwas höheren Infektionsrate als bei Muttermilch.<br />
In unterentwickelten Ländern kann der Einsatz von Ersatznahrung<br />
jedoch einen hohen Tribut fordern. Ein Großteil der<br />
Welt verfügt nicht über sauberes Wasser, sodass die Babynahrung<br />
oft mit verschmutztem Wasser in unhygienischen Behältnissen<br />
zubereitet wird. Außerdem strecken arme, unerfahrene Eltern<br />
häufig das Trockenpulver in dem Bemühen, die teure Babynahrung<br />
nicht so schnell zu verbrauchen. Unter solchen Umständen<br />
führen die Versuche von Eltern, die Ges<strong>und</strong>heit ihrer Babys<br />
zu fördern, zum gerade gegenteiligen Effekt (Popkin <strong>und</strong> Doan<br />
1990).
108<br />
Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Die Entwicklung von Nahrungspräferenzen<br />
<strong>und</strong> die Regulation des Essens<br />
Nahrungspräferenzen bilden eine pr<strong>im</strong>äre Determinante für<br />
das, was wir <strong>im</strong> Laufe unseres Lebens essen; zum Teil sind sie<br />
eindeutig angeboren. Neugeborene zeigen einige der ungelernten,<br />
reflexhaften Gesichtsausdrücke, die auch ältere Kinder <strong>und</strong><br />
Erwachsene als Reaktion auf drei gr<strong>und</strong>legende Geschmacksqualitäten<br />
zeigen – süß, sauer <strong>und</strong> bitter. Süßer Geschmack ruft<br />
einen Hauch von Lächeln hervor, saurer lässt uns die Stirn runzeln<br />
<strong>und</strong> bitterer das ganze Gesicht verziehen (Rosenstein <strong>und</strong><br />
Oster 1988; Steiner 1979). Die starke Bevorzugung von Süße bei<br />
Neugeborenen spiegelt sich sowohl in ihrem Lächeln als Reaktion<br />
auf süß Schmeckendes wider als auch in der Tatsache, dass<br />
sie von gesüßtem Wasser größere Mengen trinken als von neutralem<br />
Wasser. Diese angeborenen Präferenzen könnten einen<br />
evolutionären Ursprung besitzen, insofern giftige Substanzen<br />
oft bitter oder sauer schmecken, aber so gut wie niemals süß.<br />
Allerdings können Geschmackspräferenzen auch durch die<br />
pränatale Umgebung beeinflusst werden, wie wir in ▶ Kap. 2<br />
gesehen haben, <strong>und</strong> dementsprechend spielen vermutlich auch<br />
Erfahrungen bereits für die ersten Geschmackspräferenzen eine<br />
wichtige Rolle.<br />
Die Geschmacksempfindlichkeit der Kleinkinder wird aus<br />
ihren Reaktionen auf die Milch ihrer Mutter ersichtlich, die den<br />
Geschmack dessen annehmen kann, was sie selbst gegessen hat.<br />
Babys nuckeln länger <strong>und</strong> nehmen mehr Muttermilch auf, wenn<br />
ihre Mutter etwas zu sich genommen hat, das nach Knoblauch<br />
oder Vanille schmeckt, aber sie trinken weniger Milch an der<br />
Brust, wenn die Mutter vorher ein Bier getrunken hat (Menella<br />
<strong>und</strong> Beauchamp 1993a, 1993b, 1996).<br />
Vom Säuglingsalter an n<strong>im</strong>mt die Erfahrung einen wesentlichen<br />
Einfluss darauf, welche Nahrungsmittel Kinder mögen oder<br />
gerade nicht mögen <strong>und</strong> wie viel sie essen. Zum Beispiel steigt<br />
die Vorliebe von Kindergartenkindern für best<strong>im</strong>mte Dinge,<br />
wenn sie andere Kinder sehen, die diese genießen (Birch <strong>und</strong><br />
Fisher 1996). Das Essverhalten der Kinder wird auch dadurch<br />
beeinflusst, was ihre Eltern gut finden <strong>und</strong> wovon sie die Kinder<br />
abhalten wollen. Dieser Einfluss n<strong>im</strong>mt jedoch nicht <strong>im</strong>mer die<br />
von den Eltern ursprünglich beabsichtigte Richtung. So können<br />
die elterlichen Standardprozeduren, ihre kleinen Kinder durch<br />
gutes Zureden <strong>und</strong> Bestechung dazu zu bringen, etwas Neues<br />
oder Ges<strong>und</strong>es zu essen – „Wenn du deinen Spinat brav aufisst,<br />
bekommst du auch Nachtisch“ –, in doppelter Weise kontraproduktiv<br />
sein. Das wahrscheinlichste Ergebnis besteht darin, dass<br />
das Kind das als ges<strong>und</strong> angepriesene Essen nachher noch weniger<br />
mag <strong>und</strong> das als Belohnung versprochene süße <strong>und</strong>/oder fette<br />
Essen noch stärker bevorzugt (Birch <strong>und</strong> Fisher 1996).<br />
Viele Eltern sorgen sich unnötigerweise darum, wie viel ihre<br />
kleinen Kinder essen. Vielleicht würden die Eltern weniger Mühen<br />
darauf verwenden, das Essverhalten ihrer Kinder kontrollieren<br />
<strong>und</strong> steuern zu wollen, wenn sie erkennen würden, dass<br />
Kleinkinder recht gut darin sind, die Menge an Essen, die sie<br />
zu sich nehmen, zu regulieren. Die Forschung hat gezeigt, dass<br />
Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter die Menge, die sie zu einem best<strong>im</strong>mten<br />
Zeitpunkt essen, auf der Gr<strong>und</strong>lage dessen regulieren, wie viel sie<br />
schon konsumiert haben. In einigen Untersuchungen aßen die<br />
Kinder weniger zu Mittag, wenn sie zuvor schon einen kleinen<br />
Imbiss bekommen hatten, <strong>im</strong> Vergleich zu der gegessenen Menge<br />
ohne vorherigen Imbiss (Birch <strong>und</strong> Fisher 1996). (Eine Gruppe<br />
Erwachsener aß <strong>im</strong> Gegensatz dazu von einer Mahlzeit ziemlich<br />
genauso viel, gleich, ob es vorher schon eine Kleinigkeit gegeben<br />
hatte oder nicht.)<br />
Im Allgemeinen gilt: Kindern, deren Eltern ihre Essgewohnheiten<br />
zu kontrollieren versuchen, gelingt die eigene Regulierung<br />
ihrer Nahrungsaufnahme schlechter als Kindern, deren Eltern<br />
ihnen mehr Eigenkontrolle über ihr Essen lassen (Johnson <strong>und</strong><br />
Birch 1994). Übertriebene Steuerung des Ernährungsverhaltens<br />
der Kinder kann bleibende Folgen haben. Erwachsene, die davon<br />
berichteten, dass ihre Eltern das Essen dazu benutzten, um<br />
das Verhalten ihrer Sprösslinge zu kontrollieren, kämpften mit<br />
größerer Wahrscheinlichkeit mit ihrem Körpergewicht <strong>und</strong> mit<br />
Heißhungerattacken (Puhl <strong>und</strong> Schwartz 2003).<br />
Übergewicht<br />
Vielen Menschen fällt es schwer, ihr Essverhalten angemessen<br />
zu regulieren; das häufigste Ernährungsproblem in den USA ist<br />
übermäßiges Essen mit seinen vielen Konsequenzen. In einer Art<br />
Epidemie der Verfettung sind inzwischen mehr als ein Drittel aller<br />
US-amerikanischen Erwachsenen übergewichtig (Ogden et al.<br />
2012). In Deutschland stellte das Statistische B<strong>und</strong>esamt 2010 einen<br />
Anteil von 60 % der Männer <strong>und</strong> 43 % der Frauen fest, die<br />
übergewichtig sind. Korpulenz ist ein sich ausbreitendes Problem,<br />
nicht nur in den Vereinigten Staaten <strong>und</strong> Deutschland, sondern<br />
auch bei den indigenen Völkern vieler Entwicklungsländer (Abelson<br />
<strong>und</strong> Kennedy 2004). Diese Situation kommt zum Großteil<br />
dadurch zustande, dass Gesellschaften weltweit eine „westliche<br />
Ernährungsweise“ übernehmen, die reich an Fett <strong>und</strong> Zucker <strong>und</strong><br />
arm an Ballaststoffen ist. Fast-Food-Restaurants haben sich global<br />
ausgeweitet; Ronald McDonald ist nach dem Weihnachtsmann<br />
die zweitberühmteste Figur der Welt (Brownell 2004).<br />
Der Anteil amerikanischer Kinder <strong>und</strong> Jugendlicher mit<br />
Übergewicht hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten<br />
verdreifacht, wobei die Steigerung bei Latinos <strong>und</strong> Afroamerikanern<br />
besonders ausgeprägt ist. Die Aussichten für diese<br />
Kinder sind schlecht, weil die meisten dicken Kinder dicke<br />
Erwachsene werden <strong>und</strong> ihr ganzes Leben lang mit ihren Gewichtsproblemen<br />
zu kämpfen haben. Auch in Deutschland<br />
sind nach aktuellen Schätzungen circa 10–20 % aller Kinder<br />
übergewichtig. Bei etwa 7–8 % liegt sogar Adipositas (starkes<br />
Übergewicht) vor. Es ist damit zu rechnen, dass solche Kinder<br />
später eine ganze Reihe unges<strong>und</strong>er Maßnahmen ergreifen,<br />
um ihre Gewichtsprobleme zu bekämpfen – Mahlzeiten überspringen,<br />
fasten, rauchen, Appetitzügler einnehmen, das Fett<br />
absaugen lassen –, die allesamt zu weiteren ges<strong>und</strong>heitlichen<br />
Problemen führen können.<br />
Zwei wichtige Fragen stellen sich: Warum bekommen manche<br />
Menschen Übergewicht <strong>und</strong> andere nicht? Und warum gibt es eine<br />
Übergewichtsepidemie in den USA? Es liegt nahe, dass sowohl<br />
genetische als auch umweltbedingte Faktoren eine Rolle spielen.<br />
Genetische Faktoren spiegeln sich in den Bef<strong>und</strong>en wider, dass<br />
(1) das Gewicht adoptierter Kinder stärker mit dem ihrer biologischen<br />
Eltern als mit dem ihrer Adoptiveltern korreliert <strong>und</strong> dass<br />
(2) eineiige Zwillinge, auch getrennt aufgewachsene, einander hinsichtlich<br />
des Körpergewichts ähnlicher sind als zweieiige Zwillinge
Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers<br />
109 3<br />
(Plomin et al. 2013). Sogar die Geschwindigkeit des Essens, die<br />
sowohl mit der bei einer Mahlzeit verzehrten Menge als auch mit<br />
dem Gewicht zusammenhängt, weist einen beträchtlichen Grad an<br />
Erblichkeit auf (Llewellyn et al. 2008). Mithin haben vor allem die<br />
Gene einen Anteil daran, wie leicht Menschen zunehmen <strong>und</strong> wie<br />
viel sie essen; das macht es ihnen relativ schwer oder auch leicht,<br />
sich der Übergewichtsepidemie zu entziehen.<br />
Umweltfaktoren spielen ebenfalls eine große Rolle be<strong>im</strong><br />
Überhandnehmen der Verfettung, was man schon daran erkennt,<br />
dass heutzutage in den Vereinigten Staaten ein wesentlich<br />
höherer Anteil der Bevölkerung übergewichtig ist als früher.<br />
Man könnte das Dickwerden in den USA geradezu als eine normale<br />
Reaktion auf den derzeitigen Geschmack der US-Amerikaner<br />
an fettreichen, stark zuckerhaltigen Nahrungsmitteln in<br />
<strong>im</strong>mer größeren Mengen betrachten (Brownell 2003).<br />
..<br />
Dieses Foto zeigt deutlich die genetischen Aspekte des Übergewichtsproblems.<br />
Und die Eistüte des Mädchens links ist Ausdruck der Umweltfaktoren,<br />
die dazu beisteuern. (© Chris Cooper-Smith/Alamy)<br />
Eine Vielzahl anderer Faktoren treibt den ständig wachsenden<br />
Taillenumfang heutiger Kinder an. Die Kinder spielen nicht mehr<br />
so oft <strong>im</strong> Freien wie die Generationen vor ihnen: Die Hälfte der<br />
Kindergartenkinder verbringt weniger als 1 h am Tag mit Spielen<br />
<strong>im</strong> Freien (Tandon et al. 2012). Kinder bewegen sich heute<br />
auch deshalb weniger als früher, weil sie seltener zu Fuß oder<br />
mit dem Rad zur Schule kommen. In der Schule haben sie häufig<br />
keinen oder kaum Sportunterricht, Pausenaktivitäten fehlen, <strong>und</strong><br />
oft können sie sich in der Cafeteria fettreiche Mittagsmahlzeiten<br />
wie Pizzen oder Hamburger <strong>und</strong> hochkalorische Erfrischungsgetränke<br />
leisten. Junge Stubenhocker, von denen viele 5 h täglich<br />
<strong>und</strong> mehr vor dem Fernsehapparat verbringen, konsumieren<br />
minderwertige Nahrungsmittel, zumal sie von Werbung für<br />
mehr fettreiche, Fast-Food-Waren geringer Ernährungsqualität<br />
überschwemmt werden; solche Kinder sind wesentlich gefährdeter,<br />
fettleibig zu werden, als Kinder, die 2 h oder weniger fernsehen<br />
(Robinson 2001). Außerdem essen viele Familien häufiger<br />
auswärts <strong>und</strong> frequentieren Fast-Food-Restaurants oder solche<br />
mit „All-you-can-eat“-Buffets, wo sie große Portionen relativ<br />
hochkalorischer Lebensmittel verspeisen (Krishnamoorthy et al.<br />
2006). Und schließlich sind viele unges<strong>und</strong>e Nahrungsmittel erheblich<br />
billiger <strong>und</strong> leichter zu bekommen als ges<strong>und</strong>e, besonders<br />
in den Innenstädten, wo die Supermärkte mit einem breiten<br />
Lebensmittelangebot <strong>im</strong>mer seltener werden. In solchen „Nahrungswüsten“<br />
müssen sich oft Bewohner aus ärmeren Schichten<br />
mit dem reduzierten Angebot der Min<strong>im</strong>ärkte behelfen, die vor<br />
allem fertig abgepackte kalorienreiche Nahrung anbieten <strong>und</strong> es<br />
selbst motivierten Eltern schwermachen, ges<strong>und</strong>e Lebensmittel<br />
für ihre Kinder zu besorgen.<br />
Adipositas (der medizinische Name der Fettsucht) bringt<br />
eine Vielzahl ernster Ges<strong>und</strong>heitsrisiken für Kinder <strong>und</strong> Erwachsene<br />
mit sich, von Herzerkrankungen bis zu Diabetes. Außerdem<br />
leiden fettleibige Menschen oft unter den Folgen der negativen<br />
Stereotype <strong>und</strong> Diskr<strong>im</strong>inierung, angefangen bei der Wohnungssuche<br />
bis zur Zulassung zu Studiengängen (Friedman <strong>und</strong><br />
Brownell 1995). Übergewichtige Kinder <strong>und</strong> Jugendliche leiden<br />
darüber hinaus unter einer Vielzahl weiterer sozialer Probleme.<br />
Zum Beispiel sind dicke Jugendliche entweder sozial isoliert oder<br />
stehen in ihren Netzwerken eher am Rand (Strauss <strong>und</strong> Pollack<br />
2003). Jugendliche, die von Hänseleien wegen ihres Gewichts<br />
berichten, hatten häufiger als ihre schlankeren Altersgenossen<br />
den Selbstmord in Erwägung gezogen (<strong>Eisenberg</strong> et al. 2003).<br />
Bedauerlicherweise gibt es keine einfache Abhilfe für Fettleibigkeit<br />
bei Kindern. Es gibt jedoch die Hoffnung, das Problem<br />
des grassierenden Übergewichts zu lösen, weil die Öffentlichkeit<br />
auf die Schwere des Problems <strong>und</strong> die vielen dazu<br />
beitragenden Einflussfaktoren aufmerksam geworden ist. Viele<br />
Schulen haben damit begonnen, ges<strong>und</strong>ere, kalorienärmere<br />
Mahlzeiten <strong>und</strong> Getränke anzubieten, auch in den Automaten,<br />
<strong>und</strong> selbst Fast-Food-Ketten haben inzwischen auch kalorienarme<br />
Menüs auf der Speisekarte. Prominente wie Michele Obama<br />
haben das Übergewicht von Kindern als entscheidendes<br />
Ges<strong>und</strong>heitsproblem ins Visier genommen, was hoffen lässt,<br />
dass Kampagnen zur ges<strong>und</strong>en Ernährung <strong>und</strong> viel Bewegung<br />
bei vielen Familien zu einer ges<strong>und</strong>en Lebensweise führen. Ein<br />
hilfreicher weiterer Schritt, den das amerikanische Institute of<br />
Medicine (2004) <strong>und</strong> die Deutsche Gesellschaft für Ernährung<br />
empfehlen, wäre, dass die Nahrungsmittel- <strong>und</strong> Unterhaltungsindustrie<br />
aufhört, mit einer an Kinder <strong>und</strong> Jugendliche gerichteten<br />
Werbung fett- <strong>und</strong> zuckerreiche Speisen <strong>und</strong> Getränke<br />
anzupreisen.<br />
Unterernährung<br />
Zur selben Zeit, in der Menschen in vergleichsweise reichen Ländern<br />
unges<strong>und</strong> viel essen, ist die Ges<strong>und</strong>heit von Menschen in Entwicklungsländern<br />
dadurch gefährdet, dass sie zu wenig zu essen<br />
haben. Ein Viertel aller in diesen Ländern lebenden Kinder (davon<br />
40 % unter fünf Jahren) sind unterernährt. Die Ernährungsdefizite,<br />
denen diese Kinder ausgesetzt sind, können darin bestehen,<br />
dass sie unzureichend mit Kalorien, Proteinen, Vitaminen <strong>und</strong><br />
Mineralien versorgt sind oder eine Kombination dieser Mangelerscheinungen<br />
aufweisen. Schwere Fehlernährung von Säuglingen<br />
<strong>und</strong> Kleinkindern ist in unterentwickelten <strong>und</strong> kriegsgeschüttelten<br />
Ländern sehr verbreitet. Eine Analyse der Daten zur Kindersterblichkeit<br />
ergibt, dass 35 % der weltweiten Todesfälle bei Kindern auf<br />
einer Mangelernährung (insbesondere auch bei Ergänzungsnahrung<br />
zum Stillen) beruhen (Black et al. 2008).<br />
Unterernährung <strong>und</strong> Mangelernährung gehen fast <strong>im</strong>mer mit<br />
Armut <strong>und</strong> vielfältigen damit zusammenhängenden Faktoren
110<br />
Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
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2<br />
3<br />
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5<br />
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11<br />
..<br />
Abb. 3.12 Unterernährung <strong>und</strong> kognitive Entwicklung. Unterernährung in Kombination mit Armut wirkt sich auf viele Aspekte der Entwicklung aus <strong>und</strong><br />
kann zur Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten führen. (Brown <strong>und</strong> Pollitt 1996)<br />
12<br />
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23<br />
einher, angefangen von begrenztem Zugang zur Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge<br />
(dem Hauptgr<strong>und</strong> in den Vereinigten Staaten) bis hin zu<br />
Kriegen, Hungersnöten <strong>und</strong> Naturkatastrophen. Die Wechselwirkung<br />
zwischen Mangelernährung <strong>und</strong> Armut wie auch anderen<br />
Formen von Mangel <strong>und</strong> Entbehrung nehmen einen nachteiligen<br />
Einfluss auf alle Aspekte der Entwicklung. . Abbildung 3.12 stellt<br />
ein Modell vor, wie die komplexe Interaktion dieser vielfältigen<br />
Faktoren die kognitive Entwicklung beeinträchtigt (Brown <strong>und</strong><br />
Pollitt 1996). Man kann erkennen, dass Mangelernährung direkte<br />
Auswirkungen auf die strukturelle Entwicklung des Gehirns, das<br />
allgemeine Energieniveau, die Anfälligkeit für Infektionen <strong>und</strong><br />
das Körperwachstum haben kann. Ohne angemessene Energiezufuhr<br />
neigen unterernährte Kinder dazu, ihren Energieverbrauch<br />
zu reduzieren; sie ziehen sich bei St<strong>im</strong>ulation eher zurück, was sie<br />
generell ruhig <strong>und</strong> passiv macht, <strong>und</strong> bei sozialen Interaktionen<br />
machen sie weniger mit, in der Schule sinkt ihre Aufmerksamkeit,<br />
<strong>und</strong> so weiter. Apathie, verlangsamtes Wachstum <strong>und</strong> eine<br />
verzögerte Entwicklung ihrer motorischen Fähigkeiten schmälern<br />
auch die Erk<strong>und</strong>ung der Umgebung durch die Kinder, was ihre<br />
Lern- <strong>und</strong> Erfahrungsmöglichkeiten noch weiter einschränkt.<br />
Kann man etwas tun, um unter- <strong>und</strong> fehlernährten Kindern<br />
zu helfen? Weil so viele interagierende Faktoren an diesem<br />
Problem beteiligt sind, ist das nicht leicht; es ist aber auch nicht<br />
unmöglich, wie weltweit durch verschiedene groß angelegte Interventionsbemühungen<br />
deutlich wird. In einem erfolgreichen<br />
Langzeitprojekt in Guatemala unter der Leitung von Ernesto Pollitt<br />
beispielsweise korrelierte eine hoch proteinhaltige Nahrungsergänzung,<br />
die schon <strong>im</strong> Kleinkindalter begann, mit erhöhten<br />
Leistungen bei verschiedenen Tests kognitiver Funktionen <strong>im</strong><br />
Erwachsenenalter (Pollitt et al. 1993). Nachfolgeuntersuchungen<br />
<strong>im</strong> Erwachsenenalter lieferten nachhaltige Vorteile noch 25 Jahre<br />
nach der Intervention mit Nahrungsergänzung (Maluccio et al.<br />
2009). Obwohl es möglich ist, den Entwicklungsstand unterernährter<br />
Kinder zu verbessern, wäre es natürlich vorteilhafter,<br />
sowohl für die Kinder als auch generell für die Gesellschaft, in<br />
erster Linie das Auftreten von Unterernährung zu verhindern.<br />
Brown <strong>und</strong> Pollitt (1996, S. 702) führen an: „In der Bilanz erscheint<br />
es eindeutig, dass die Prävention von Unterernährung bei<br />
Kleinkindern die beste Politik bleibt – nicht nur aus moralischen,<br />
sondern auch aus ökonomischen Gründen.“<br />
In Kürze | |<br />
Das Ernährungsverhalten ist für die allgemeine Ges<strong>und</strong>heit<br />
von gr<strong>und</strong>sätzlicher Bedeutung. Präferenzen für best<strong>im</strong>mte<br />
Nahrungsmittel sind von Geburt an erkennbar, <strong>und</strong> <strong>im</strong> Verlauf<br />
ihrer Entwicklung wird das, was sich Kinder zum Essen<br />
auswählen, durch viele Faktoren beeinflusst, beispielsweise<br />
durch die Vorlieben ihrer Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> durch die Versuche<br />
ihrer Eltern, auf ihr Essverhalten Einfluss zu nehmen. In<br />
den vergangenen Jahrzehnten ist in den USA <strong>und</strong> einem<br />
Großteil der übrigen Welt bei Erwachsenen wie bei Kindern<br />
die Übergewichtigkeit drastisch gestiegen, weil vermehrt<br />
energiereiche Lebensmittel in großen Mengen zur Verfügung<br />
stehen <strong>und</strong> die körperliche Aktivität nachgelassen<br />
hat. Aber das häufigste Ernährungsproblem weltweit ist die<br />
Unterernährung. Sie ist sehr eng mit Armut assoziiert, <strong>und</strong><br />
die Kombination von Ernährungsdefiziten <strong>und</strong> Armut wirkt<br />
sich besonders verheerend auf die Entwicklung aus.
Zusammenfassung<br />
111 3<br />
Zusammenfassung<br />
-<br />
Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
Das komplexe Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
bildete das durchgehende Thema dieses Kapitels. Auf der<br />
Bühne der Entwicklung haben Genotyp, Phänotyp <strong>und</strong><br />
Umwelt ihren großen Auftritt, <strong>und</strong> die Handlung schreitet<br />
fort, indem all diese Faktoren auf mehr oder weniger offensichtliche<br />
Art <strong>und</strong> Weise interagieren.<br />
-<br />
Der Ausgangspunkt der Entwicklung ist der Genotyp – die<br />
Gene, die man bei der Befruchtung von seinen Eltern erbt.<br />
Nur einige dieser Gene kommen <strong>im</strong> Phänotyp, den beobachtbaren<br />
Eigenschaften eines Menschen, auch zur Ausprägung.<br />
Ob manche Gene überhaupt expr<strong>im</strong>iert werden oder nicht,<br />
ist eine Funktion von Dominanzmustern. Bei vielen Aspekten<br />
der Entwicklung ist das An- <strong>und</strong> Abschalten von Genen <strong>im</strong><br />
Zeitverlauf gr<strong>und</strong>legend. Dieser Prozess wird durch Erfahrung<br />
biochemisch über die Methylierung beeinflusst.<br />
-<br />
Die endgültige Ausprägung eines best<strong>im</strong>mten Genotyps<br />
hängt <strong>im</strong>mer von der Umwelt ab, in der er sich entwickelt.<br />
Die Eltern <strong>und</strong> ihr Verhalten gegenüber dem Kind<br />
sind markante Teile der Umwelt eines <strong>Kindes</strong>. Der eigene<br />
Genotyp der Eltern beeinflusst seinerseits ihr Verhalten<br />
ihren Kindern gegenüber. In ähnlicher Weise wird die<br />
Entwicklung eines <strong>Kindes</strong> durch die Aspekte derjenigen<br />
Umwelt beeinflusst, die sich das Kind auswählt, <strong>und</strong> durch<br />
die verschiedenartigen Reaktionen, die die Eigenschaften<br />
<strong>und</strong> Verhaltensweisen des <strong>Kindes</strong> bei anderen Menschen<br />
-<br />
hervorrufen.<br />
Die Verhaltensgenetik befasst sich mit dem gemeinsamen<br />
Einfluss genetischer <strong>und</strong> umweltbedingter Faktoren auf das<br />
Verhalten. Mithilfe einer Vielzahl von Familienuntersuchungsdesigns<br />
haben Verhaltensgenetiker eine große Bandbreite<br />
an Verhaltensmustern entdeckt, die „in der Familie<br />
liegen“. Viele Verhaltensgenetiker verwenden Erblichkeitsindizes,<br />
um die relativen Beiträge von Erbe <strong>und</strong> Umwelt auf<br />
das Verhalten statistisch abzuschätzen.<br />
-<br />
Die Entwicklung des Gehirns<br />
Ein aufblühender Bereich der Entwicklungsforschung<br />
befasst sich mit der Entwicklung des Gehirns – der komplexesten<br />
Struktur <strong>im</strong> bekannten Universum. Neurone sind<br />
die Basiseinheiten des Informationssystems Gehirn. Diese<br />
Zellen übermitteln Informationen durch elektrische Signale.<br />
Impulse von einem Neuron zu einem anderen werden<br />
-<br />
an Synapsen übertragen.<br />
Der Cortex gilt als der Teil des menschlichen Gehirns, der<br />
uns am ehesten zu dem macht, was wir sind, weil er an<br />
einer Vielzahl höherer geistiger Funktionen beteiligt ist.<br />
Verschiedene Areale des Cortex sind auf allgemeine Verhaltenskategorien<br />
spezialisiert. Der Cortex ist in zwei cerebrale<br />
Hemisphären geteilt, von denen jede auf best<strong>im</strong>mte Verarbeitungsmodalitäten<br />
spezialisiert ist; dieses Phänomen<br />
-<br />
nennt man cerebrale Lateralisierung.<br />
Die Gehirnentwicklung umfasst mehrere Prozesse; sie<br />
beginnt mit der Neurogenese <strong>und</strong> der Differenzierung von<br />
Nervenzellen. Bei der Synaptogenese, die pränatal beginnt<br />
<strong>und</strong> die ersten Jahre nach der Geburt andauert, wird<br />
eine enorme Fülle an Verbindungen zwischen Neuronen<br />
erzeugt. Durch die Zurückbildung von Synapsen werden<br />
-<br />
überzählige Verbindungen zwischen Neuronen el<strong>im</strong>iniert.<br />
Die Erfahrung spielt eine entscheidende Rolle bei der Stärkung<br />
oder El<strong>im</strong>inierung von Synapsen <strong>und</strong> somit bei der<br />
normalen Verschaltung des Gehirns. An der Feinabst<strong>im</strong>mung<br />
des Gehirns sind zum einen erfahrungserwartende<br />
Prozesse beteiligt, bei denen existierende Synapsen <strong>im</strong><br />
Zusammenhang mit derjenigen St<strong>im</strong>ulation, die praktisch<br />
jeder Mensch erfährt, erhalten bleiben, zum anderen erfahrungsabhängige<br />
Prozesse, bei denen neue Verbindungen <strong>im</strong><br />
-<br />
Zusammenhang mit Lernen gebildet werden.<br />
Plastizität bezieht sich auf die Tatsache, dass bei der<br />
normalen Entwicklung des Gehirns Umwelt <strong>und</strong> Anlage<br />
partnerschaftlich zusammenwirken. Dieser Umstand<br />
ermöglicht es dem Gehirn unter best<strong>im</strong>mten Umständen,<br />
sich als Reaktion auf eine Schädigung neu zu verschalten.<br />
Auch wird das sich entwickelnde Gehirn dadurch anfällig<br />
für das Fehlen von St<strong>im</strong>ulation in sensiblen Phasen der<br />
-<br />
Entwicklung.<br />
Die Fähigkeit des Gehirns, sich von einer Verletzung zu<br />
erholen, hängt vom Alter des <strong>Kindes</strong> ab. Schädigungen zu<br />
einem sehr frühen Zeitpunkt, wenn die Neurogenese <strong>und</strong><br />
Synaptogenese stattfinden, können besonders verheerende<br />
Auswirkungen haben. Eine Schädigung während der Vorschuljahre,<br />
wenn die El<strong>im</strong>inierung von Synapsen eintritt,<br />
wird mit geringerer Wahrscheinlichkeit andauernde Schäden<br />
bewirken.<br />
-<br />
Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers<br />
Menschen durchlaufen eine besonders lang andauernde<br />
Phase des Körperwachstums, die nicht gleichförmig<br />
verläuft, sondern durch schnelles Wachstum ganz früh <strong>im</strong><br />
Leben <strong>und</strong> dann wieder <strong>im</strong> <strong>Jugendalter</strong> gekennzeichnet ist.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erttrends wurden beobachtet, nach denen sich der<br />
-<br />
Durchschnitt von Körpergröße <strong>und</strong> Körpergewicht erhöht.<br />
Nahrungspräferenzen beginnen mit den angeborenen<br />
Reaktionen von Neugeborenen auf geschmackliche<br />
Gr<strong>und</strong>qualitäten, aber weitere Vorlieben entwickeln sich<br />
als Resultat der Erfahrung. Eltern haben einen großen<br />
Einfluss auf die Fähigkeit ihrer Kinder, ihr eigenes<br />
Essverhalten erfolgreich zu regulieren. Probleme mit der<br />
Regulation des Essens sind in den USA offenk<strong>und</strong>ig, wo<br />
die Epidemie des Übergewichts eindeutig sowohl mit<br />
Umweltfaktoren als auch mit genetischen Faktoren zusammenhängt.<br />
-<br />
In den meisten Teilen der Welt außerhalb der Industrieländer<br />
besteht das vorherrschende Problem darin, ausreichend<br />
Nahrung zu bekommen, <strong>und</strong> fast die Hälfte aller<br />
Kinder weltweit leidet an Unterernährung. Unzureichende<br />
Ernährung hängt eng mit Armut zusammen <strong>und</strong> führt zu<br />
einer Vielzahl von körperlichen <strong>und</strong> verhaltensbezogenen<br />
Problemen in praktisch jedem Aspekt des Lebens eines<br />
betroffenen <strong>Kindes</strong>. Damit Millionen von Kindern normale<br />
Gehirne <strong>und</strong> Körper entwickeln können, bedarf es Präventionsmaßnahmen<br />
gegen Unterernährung.
112<br />
Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />
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4<br />
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Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />
1. Ein zentraler Themenschwerpunkt dieses Kapitels war<br />
die Interaktion zwischen Anlage <strong>und</strong> Umwelt. Betrachten<br />
Sie sich <strong>und</strong> Ihre Familie (auch wenn Sie nicht bei Ihren<br />
biologischen Eltern aufgewachsen sind). Identifizieren Sie<br />
Aspekte dessen, was Sie sind <strong>und</strong> was Sie ausmacht, die<br />
jede der vier in . Abb. 3.1 beschriebenen Relationen illustrieren.<br />
(a) Wie <strong>und</strong> wann wurde Ihr Geschlecht best<strong>im</strong>mt?<br />
(b) Nennen Sie einige Allele, von denen Sie sicher oder mit<br />
relativer Überzeugung annehmen, dass Sie sie mit anderen<br />
Mitgliedern Ihrer Familie gemeinsam haben. (c) Was könnte<br />
<strong>im</strong> Verhalten Ihrer Eltern Ihnen gegenüber als Beispiel für<br />
eine Interaktion zwischen Genen <strong>und</strong> Umwelt dienen?<br />
(d) Nennen Sie ein Beispiel für Ihre aktive Auswahl Ihrer eigenen<br />
Umgebung, die Ihre weitere Entwicklung beeinflusst<br />
haben könnte. (e) Was in Ihrer Umwelt könnte epigenetischen<br />
Einfluss auf die Genexpression ausgeübt haben?<br />
2. „50 % der Intelligenz einer Person beruhen auf Vererbung<br />
<strong>und</strong> 50 % auf der Umwelt.“ Erläutern Sie, was an dieser<br />
Aussage falsch ist, <strong>und</strong> führen Sie aus, was Erblichkeitsindizes<br />
bedeuten <strong>und</strong> was sie nicht bedeuten.<br />
3. Beziehen Sie die Entwicklungsprozesse der Synaptogenese<br />
<strong>und</strong> der Synapsenel<strong>im</strong>inierung auf die Konzepte der<br />
erfahrungserwartenden <strong>und</strong> der erfahrungsabhängigen<br />
Plastizität.<br />
4. Welche Aspekte der Gehirnentwicklung könnten nach<br />
Auffassung von Forschern Einfluss auf Eigenschaften <strong>und</strong><br />
Verhaltensweisen von Jugendlichen haben?<br />
5. Denken Sie über den vergangenen Tag nach – welche Aspekte<br />
Ihrer Umwelt könnten mit der Verfettungsepidemie<br />
zusammenhängen, die wir in diesem Kapitel beschrieben<br />
haben?<br />
6. Betrachten Sie . Abb. 3.12 zur Unterernährung <strong>und</strong><br />
kognitiven Entwicklung. Stellen Sie sich ein unterernährtes<br />
sechsjähriges Kind vor, das in Deutschland lebt. Gehen Sie<br />
die Abbildung durch <strong>und</strong> erfinden Sie spezifische Beispiele<br />
dafür, was dem Kind an jeder Stelle des Diagramms passieren<br />
könnte. Und tun Sie nun dasselbe für ein sechsjähriges<br />
Kind, das in einem armen, kriegsgeschüttelten Land lebt.<br />
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117 4<br />
Theorien der kognitiven<br />
Entwicklung<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Die Theorie von Piaget – 119<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 120<br />
Zentrale Entwicklungsfragen – 121<br />
Das sensomotorische Stadium (Geburt bis zwei Jahre) – 122<br />
Das präoperationale Stadium (zwei bis sieben Jahre) – 125<br />
Das konkret-operationale Stadium (sieben bis zwölf Jahre) – 127<br />
Das formal-operationale Stadium (zwölf Jahre <strong>und</strong> älter) – 129<br />
Piagets Vermächtnis – 129<br />
Theorien der Informationsverarbeitung – 132<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 132<br />
Zentrale Entwicklungsfragen – 133<br />
Soziokulturelle Theorien – 140<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 141<br />
Zentrale Entwicklungsfragen – 142<br />
Theorien dynamischer Systeme – 144<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 146<br />
Zentrale Entwicklungsfragen – 147<br />
Zusammenfassung – 149<br />
Literatur – 150<br />
S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />
DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
118<br />
Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
© Bernadette Berg<br />
Ein sieben Monate alter Junge sitzt auf dem Schoß seines Vaters<br />
<strong>und</strong> ist von dessen Brille fasziniert, greift nach einem der Bügel<br />
<strong>und</strong> zieht daran. Der Vater sagt „Au!“, <strong>und</strong> der Junge lässt los,<br />
fasst dann aber erneut hin <strong>und</strong> zieht an der Brille. Das bringt den<br />
Vater dazu, sich zu fragen, wie er die Brillengläser in Sicherheit<br />
bringen kann, ohne dass das Kind zu weinen anfängt. Glücklicherweise<br />
kommt der Vater, ein Entwicklungspsychologe, schnell<br />
auf die Idee, dass Jean Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung<br />
eine einfache Lösung vorschlägt: Verbirg die Brille hinter<br />
dem Rücken! Nach Piagets Theorie sollte das Entfernen der Brille<br />
aus dem Sichtfeld ein Baby diesen Alters dazu bringen, sich so<br />
zu verhalten, als ob die Brille nicht mehr existierte. Die Strategie<br />
funktioniert genau wie geplant; nachdem der Vater die Brille aus<br />
dem Sichtfeld entfernt hat, zeigt der Junge kein weiteres Interesse<br />
daran <strong>und</strong> richtet seine Aufmerksamkeit woanders hin. Der Vater<br />
dankt Piaget <strong>im</strong> Stillen.<br />
Diese Erfahrung, die einer der Autoren tatsächlich machte, illustriert<br />
in kleinem Umfang, wie das Verstehen von Theorien der<br />
<strong>Kindes</strong>entwicklung praktische Vorteile haben kann. Sie illustriert<br />
auch drei weitergehende Vorteile, solche Theorien zu kennen:<br />
..<br />
Der Autor, dessen Sohn so gern nach seiner Brille griff, ist nicht der Einzige,<br />
dem dieses Problem begegnet ist. Wenn die Mutter auf diesem Foto dieses<br />
Buch gelesen hätte, dann hätte sie das Problem wohl ebenso gelöst. (© Elisabeth<br />
Crews/ The Image Works)<br />
1. Entwicklungstheorien bieten einen Rahmen, um wichtige Phänomene<br />
zu verstehen: Theorien weisen auf die Bedeutung von<br />
Beobachtungen in Forschungsuntersuchungen ebenso wie<br />
<strong>im</strong> Alltagsleben hin. Ein Zuschauer, der die Situation mit der<br />
Brille beobachtet, ohne die Theorie Piagets zu kennen, findet<br />
das Erlebnis vielleicht amüsant, aber belanglos. Innerhalb<br />
der Theorie Piagets verdeutlicht diese flüchtige Begebenheit<br />
jedoch ein sehr allgemeines <strong>und</strong> überaus wichtiges Entwicklungsphänomen:<br />
Kinder unter acht Monaten reagieren auf<br />
das Verschwinden eines Objekts so, als ob sie nicht verstehen<br />
würden, dass das Objekt <strong>im</strong>mer noch existiert; sie besitzen<br />
noch keine Vorstellung von Objektpermanenz. Theorien der<br />
<strong>Kindes</strong>entwicklung setzen best<strong>im</strong>mte Erfahrungen <strong>und</strong> Beobachtungen<br />
somit in einen breiteren Zusammenhang <strong>und</strong><br />
vertiefen unser Verständnis für deren Bedeutung.<br />
2. Entwicklungstheorien werfen wichtige Fragen über das Wesen<br />
des Menschen auf: Piagets Theorie über die Reaktionen von<br />
Kleinkindern auf verschwindende Gegenstände beruhte auf<br />
seinen nicht exper<strong>im</strong>entell kontrollierten Beobachtungen mit<br />
Kindern unter acht Monaten. Piaget verbarg einen Lieblingsgegenstand<br />
unter einem Tuch oder brachte ihn anderweitig
Die Theorie von Piaget<br />
119 4<br />
außer Sichtweite <strong>und</strong> wartete ab, ob seine Kinder versuchen<br />
würden, den Gegenstand wiederzufinden. Das taten sie selten.<br />
Bis zu diesem Alter, so schloss Piaget, begreifen Kinder<br />
nicht, dass es die verdeckten Gegenstände <strong>im</strong>mer noch gibt.<br />
Andere Forscher stellten diese Erklärung in Frage <strong>und</strong> argumentierten,<br />
Kinder unter acht Monaten verstünden durchaus,<br />
dass verborgene Gegenstände weiterhin existieren; aber<br />
ihnen fehlten die erforderlichen Gedächtnis- oder Problemlösefähigkeiten,<br />
um gemäß ihrem Verständnis zu handeln<br />
<strong>und</strong> die verborgenen Gegenstände wieder hervorzuholen<br />
(Baillargeon 1993). Trotz solcher Unst<strong>im</strong>migkeiten darüber,<br />
wie das Versagen der Kinder be<strong>im</strong> Wiederfinden verborgener<br />
Gegenstände am besten zu interpretieren sei, sind sich<br />
alle Forscher einig, dass Piagets Theorie eine entscheidende<br />
Frage über das Wesen des Menschen aufwirft: Erkennen Kinder<br />
von den ersten Tagen ihres Lebens an, dass Objekte auch<br />
dann weiterexistieren, wenn diese außer Sichtweite sind, oder<br />
lernen sie das erst später? Und noch bedeutsamer: Verstehen<br />
Kleinkinder, dass Menschen weiterhin existieren, wenn sie<br />
nicht zu sehen sind? Fürchten sie, dass die Mutter verschw<strong>und</strong>en<br />
ist, wenn sie nicht mehr zu sehen ist?<br />
3. Entwicklungstheorien führen zu einem besseren Verstehen von<br />
Kindern: Theorien regen auch zu neuen Untersuchungen an,<br />
deren Bef<strong>und</strong>e die ursprünglichen Annahmen stützen oder<br />
nicht stützen oder weitere Differenzierung erfordern, <strong>und</strong><br />
verbessern dadurch das Verstehen von Kindern. Beispielsweise<br />
veranlassten Piagets Ideen Munakata et al. (1997) zu<br />
testen, ob die Unfähigkeit sieben Monate alter Kinder, nach<br />
verdeckten Gegenständen zu greifen, an fehlender Motivation<br />
oder daran lag, dass sie nicht geschickt genug waren,<br />
so zu greifen, dass sie die Gegenstände erreichen. Um das<br />
zu prüfen, schufen die Forscher eine ähnliche Situation wie<br />
Piaget bei seinen Untersuchungen zur Objektpermanenz,<br />
nur dass sie das Objekt, ein attraktives Spielzeug, unter einer<br />
durchsichtigen Hülle „versteckten“. In dieser Situation<br />
nahmen die Kinder die Hülle schnell weg <strong>und</strong> nahmen das<br />
Spielzeug wieder in Besitz, womit sie zeigten, dass sie sowohl<br />
hinreichend motiviert als auch hinreichend geschickt waren,<br />
um das Objekt wiederzuerlangen. Dieser Bef<strong>und</strong> schien Piagets<br />
ursprüngliche Interpretation zu stützen.<br />
Im Gegensatz dazu wies ein von Diamond (1985) durchgeführtes<br />
Exper<strong>im</strong>ent auf die Notwendigkeit hin, Piagets Theorie zu modifizieren.<br />
Diamond verwendete wie Piaget eine <strong>und</strong>urchsichtige<br />
Abdeckung <strong>und</strong> variierte die Zeit zwischen dem Verstecken des<br />
Spielzeugs <strong>und</strong> dem Moment, in dem das Kind danach greifen<br />
durfte. Sie fand, dass schon sechs Monate alte Kinder das Spielzeug<br />
ausfindig machen konnten, wenn sie sofort danach greifen<br />
durften, dass sieben Monate alte Kinder bis zu 2 s warten konnten<br />
<strong>und</strong> dennoch erfolgreich waren, dass acht Monate alte Kinder<br />
auch nach 4 s noch erfolgreich waren <strong>und</strong> so weiter. Diamonds<br />
Bef<strong>und</strong> wies darauf hin, dass auch die Erinnerung an die Platzierung<br />
des versteckten Objekts – <strong>und</strong> nicht nur die Erkenntnis,<br />
dass dieses weiterhin existiert – für den Erfolg bei der Aufgabe<br />
entscheidend ist. Summa summarum sind Theorien der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
hilfreich, weil sie eine Rahmenkonzeption für das<br />
Verständnis wichtiger Phänomene bieten, weil sie gr<strong>und</strong>legende<br />
Fragen über das Wesen des Menschen aufwerfen <strong>und</strong> weil sie<br />
neue Forschungen anregen, die unser Verstehen von Kindern<br />
erweitern.<br />
Weil die <strong>Kindes</strong>entwicklung ein hoch komplexer <strong>und</strong> variationsreicher<br />
Prozess ist, kann keine einzelne Theorie alles erklären.<br />
Die aufschlussreichsten aktuellen Theorien konzentrieren sich<br />
vorrangig auf die kognitive oder aber auf die soziale Entwicklung.<br />
Es stellt eine <strong>im</strong>mense Herausforderung dar, in dem einen<br />
wie dem anderen Bereich einen guten theoretischen Ansatz zur<br />
Entwicklung vorzulegen, weil sich in beiden Fällen eine große<br />
Bandbreite an Themen aufspannt. Die kognitive Entwicklung<br />
umfasst die Entstehung solch verschiedenartiger Fähigkeiten<br />
wie der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit, der Sprache, des<br />
Problemlösens, des logischen Denkens, des Gedächtnisses, des<br />
begrifflichen Verstehens <strong>und</strong> der Intelligenz. Die soziale Entwicklung<br />
umfasst das Wachstum in ebenso vielen unterschiedlichen<br />
Bereichen: Emotionen, Persönlichkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen<br />
<strong>und</strong> Familienmitgliedern, Selbstverständnis, Aggression<br />
<strong>und</strong> moralisches Verhalten. Betrachtet man die <strong>im</strong>mense Bandbreite<br />
von Entwicklungsbereichen, so kann man leicht verstehen,<br />
warum keine der Theorien allein die <strong>Kindes</strong>entwicklung in<br />
Gänze erfasst.<br />
Deshalb stellen wir die kognitiven <strong>und</strong> die sozialen Theorien<br />
in getrennten Kapiteln vor. Wir behandeln die Theorien<br />
der kognitiven Entwicklung in diesem Kapitel, unmittelbar vor<br />
den Kapiteln zu spezifischen Bereichen der kognitiven Entwicklung,<br />
<strong>und</strong> behandeln die Theorien der sozialen Entwicklung in<br />
▶ Kap. 9, unmittelbar vor den Kapiteln zu spezifischen Bereichen<br />
der sozialen Entwicklung.<br />
Im vorliegenden Kapitel werden vier besonders einflussreiche<br />
Theorien der kognitiven Entwicklung untersucht: die Theorie<br />
Piagets, der Informationsverarbeitungsansatz, die soziokulturelle<br />
Perspektive <strong>und</strong> die Perspektive dynamischer Systeme. Bei jeder<br />
dieser fünf Positionen fragen wir, auf welchen Gr<strong>und</strong>annahmen<br />
über das Wesen von Kindern die Theorie basiert <strong>und</strong> auf welche<br />
Fragestellungen sie sich konzentriert, <strong>und</strong> geben praktische Beispiele<br />
für ihre pädagogische Brauchbarkeit.<br />
Die genannten vier theoretischen Perspektiven sind zum<br />
großen Teil deshalb so einflussreich, weil sie wichtige Einblicke<br />
in jene Gr<strong>und</strong>fragen der Entwicklung gewähren, die in ▶ Kap. 1<br />
beschrieben wurden. Jede Theorie spricht zu einem gewissen<br />
Grad alle Themen an, doch hebt jede unterschiedliche Themen<br />
besonders hervor. Piagets Theorie beispielsweise konzentriert<br />
sich auf Fragen nach der Kontinuität/Diskontinuität von Entwicklung<br />
<strong>und</strong> nach dem aktiven Kind, während sich Informationsverarbeitungstheorien<br />
auf die Mechanismen der Veränderung<br />
konzentrieren (. Tab. 4.1). Zusammen erlauben die vier Theorien<br />
ein breiteres Verständnis der kognitiven Entwicklung als jede<br />
einzelne für sich genommen.<br />
Die Theorie von Piaget<br />
Jean Piagets Untersuchungen der kognitiven Entwicklung sind<br />
ein Zeugnis dafür, wie viel ein einzelner Mensch zu einem wissenschaftlichen<br />
Gebiet beizutragen vermag. Bevor seine Arbeiten<br />
in den frühen 1920er Jahren erschienen, gab es kein erkennbares
120<br />
Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
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..<br />
Tab. 4.1 Zentrale Fragen, die von den Theorien der kognitiven<br />
Entwicklung behandelt werden<br />
Theorie<br />
Piaget<br />
Informationsverarbeitung<br />
Soziokulturell<br />
Dynamische Systeme<br />
Behandelte zentrale Fragen<br />
Anlage–Umwelt<br />
Kontinuität/Diskontinuität<br />
Das aktive Kind<br />
Anlage–Umwelt<br />
Mechanismen der Veränderung<br />
Anlage–Umwelt<br />
Einfluss des soziokulturellen Kontexts<br />
Mechanismen der Veränderung<br />
Anlage–Umwelt<br />
Das aktive Kind<br />
Mechanismen der Veränderung<br />
Forschungsfeld zur kognitiven Entwicklung. Fast ein Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
später ist Piagets Theorie in einem mit Theorien reichlich ausgestatteten<br />
Bereich die bekannteste geblieben. Wie lässt sich diese<br />
Langlebigkeit erklären?<br />
Ein Gr<strong>und</strong> besteht darin, dass Piagets Beobachtungen <strong>und</strong><br />
Beschreibungen von Kindern die Atmosphäre ihres Denkens<br />
in verschiedenen Altersstufen lebhaft vermitteln. Ein weiterer<br />
Gr<strong>und</strong> liegt in der außergewöhnlichen Breite der Theorie. Sie<br />
erstreckt sich von den ersten Kindheitstagen durch das <strong>Jugendalter</strong><br />
hindurch <strong>und</strong> untersucht so unterschiedliche Themen wie<br />
die Konzeptualisierung der Zeit, des Raumes <strong>und</strong> der Entfernung<br />
sowie der Zahl, den Sprachgebrauch, das Gedächtnis, das Verstehen<br />
der Perspektiven anderer Menschen, das Problemlösen <strong>und</strong><br />
das wissenschaftliche Schlussfolgern. Bis heute stellt sie damit<br />
die umfassendste Theorie der kognitiven Entwicklung dar. Eine<br />
weitere dritte Quelle ihrer Langlebigkeit besteht darin, dass sie<br />
die Wechselwirkung von Anlage <strong>und</strong> Umwelt bei der kognitiven<br />
Entwicklung intuitiv plausibel darstellt, ebenso wie die der Kontinuitäten<br />
<strong>und</strong> Diskontinuitäten, die intellektuelles Wachstum<br />
kennzeichnen.<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />
Piagets gr<strong>und</strong>legende Annahme über Kinder besteht darin, dass<br />
sie von Geburt an geistig ebenso aktiv sind wie körperlich <strong>und</strong><br />
dass ihre Aktivität stark zu ihrer eigenen Entwicklung beiträgt.<br />
Sein Ansatz wird oft konstruktivistisch genannt, weil er Kinder so<br />
darstellt, dass sie als Reaktion auf ihre Erfahrungen selbst Wissen<br />
konstruieren. Drei der wichtigsten konstruktiven Prozesse von<br />
Kindern sind nach Piaget das Hypothesenbilden, das Exper<strong>im</strong>entieren<br />
<strong>und</strong> das Schlussfolgern aus eigenen Beobachtungen. Es ist<br />
nicht zufällig, dass diese Beschreibung an das wissenschaftliche<br />
Problemlösen erinnert: Das „Kind als Wissenschaftler“ ist die<br />
dominante Metapher in Piagets Theorie. Betrachten wir folgende<br />
Beschreibung seines kleinen Sohnes:<br />
» Laurent [liegt] auf dem Rücken. […] Er ergreift nacheinander<br />
einen Schwan aus Zelluloid, eine Schachtel usw., streckt den<br />
Arm aus <strong>und</strong> lässt sie fallen. Dabei variiert er ganz deutlich die<br />
Fallstellungen. […] Wenn der Gegenstand auf einen neuen<br />
Platz fällt (z. B. auf das Kopfkissen), lässt er ihn zwe<strong>im</strong>al oder<br />
dre<strong>im</strong>al hintereinander auf diesen Ort fallen, wie um diese<br />
spezielle [d. h. räumliche] Relation genau zu studieren (Piaget<br />
1996, S. 272).<br />
In einfachen Aktivitäten wie Laurents Spiel „Lass das Spielzeug von<br />
verschiedenen Punkten aus fallen <strong>und</strong> sieh, was passiert“ erkannte<br />
Piaget den Beginn des wissenschaftlichen Exper<strong>im</strong>entierens.<br />
Dieses Beispiel zeigt auch eine zweite Gr<strong>und</strong>annahme Piagets:<br />
Kinder lernen viele wichtige Lektionen selbst <strong>und</strong> sind nicht<br />
auf die Instruktion von Erwachsenen oder älteren Kindern angewiesen.<br />
Um diesen Aspekt weiter zu illustrieren, zitierte Piaget<br />
eine Erinnerung eines Fre<strong>und</strong>es an seine Kindheit:<br />
» Als kleines Kind hatte er einmal Kieselsteine gezählt; er hatte<br />
sie in eine Zeile gelegt, von links nach rechts gezählt <strong>und</strong> war<br />
auf zehn gekommen. Nur so zum Spaß zählte er sie anschließend<br />
von rechts nach links, um zu sehen, welche Zahl er jetzt<br />
erhalten würde, <strong>und</strong> war erstaunt, als er wieder auf zehn kam.<br />
Er legte die Kiesel dann in einen Kreis, zählte sie, <strong>und</strong> wieder<br />
waren es zehn. Er zählte den Kreis in der anderen Richtung<br />
durch <strong>und</strong> zählte auch auf diese Weise zehn. Und wie auch<br />
<strong>im</strong>mer er die Kiesel anordnete, wenn er sie zählte, kam er<br />
jedes Mal bis zur Zahl zehn (Piaget 1973, S. 24).<br />
Diese Begebenheit beleuchtet auch eine dritte Gr<strong>und</strong>annahme<br />
Piagets: Kinder sind von sich aus (intrinsisch) motiviert zu lernen<br />
<strong>und</strong> bedürfen dazu nicht der Belohnung Erwachsener. Sobald<br />
sie eine neue Fähigkeit erworben haben, wenden sie diese so oft<br />
wie möglich an. Auch denken sie darüber nach, was sie aus ihrer<br />
Erfahrung lernen können, weil sie sich selbst <strong>und</strong> alles um sich<br />
herum verstehen wollen.<br />
..<br />
Jean Piaget, dessen Arbeiten die <strong>Entwicklungspsychologie</strong> nachhaltig<br />
beeinflusst haben, interviewt auf diesem Foto ein Kind, um etwas über das<br />
kindliche Denken zu erfahren. (© Photo Researchers/Getty Images)
Die Theorie von Piaget<br />
121 4<br />
Zentrale Entwicklungsfragen<br />
Zusätzlich zu der Einsicht, dass Kinder ihre eigene Umwelt aktiv<br />
formen, eröffnete Piaget wichtige Einblicke in die Rollen von<br />
Anlage <strong>und</strong> Umwelt sowie von Kontinuität <strong>und</strong> Diskontinuität<br />
bei der Entwicklung.<br />
Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
Piaget nahm an, dass Anlage <strong>und</strong> Umwelt bei der kognitiven Entwicklung<br />
zusammenspielen. In seiner Sicht umfasst die Umwelt<br />
nicht nur die Erziehung durch die Eltern <strong>und</strong> andere Betreuungspersonen,<br />
sondern jede Erfahrung, die das Kind macht. Zur<br />
Anlage gehören das reifende Gehirn <strong>und</strong> der reifende Körper des<br />
<strong>Kindes</strong>; die Fähigkeit wahrzunehmen, zu handeln <strong>und</strong> aus der<br />
Erfahrung zu lernen; <strong>und</strong> die Tendenz, einzelne Beobachtungen<br />
in einen Wissenszusammenhang zu integrieren. Wie diese Beschreibung<br />
zeigt, gehört es zum angeborenen Wesen des <strong>Kindes</strong>,<br />
auf seine Umwelt zu reagieren.<br />
Quellen der Kontinuität<br />
Nach Piagets Beschreibung sind an der Entwicklung sowohl kontinuierliche<br />
als auch diskontinuierliche Prozesse beteiligt. Die<br />
wichtigsten Quellen der Kontinuität sind drei Prozesse, die von<br />
Geburt an zusammenwirken, um die Entwicklung voranzutreiben:<br />
Ass<strong>im</strong>ilation, Akkommodation <strong>und</strong> Äquilibration.<br />
Ass<strong>im</strong>ilation ist der Prozess, bei dem Menschen eingehende<br />
Informationen in Konzepte einfügen, die sie schon verstehen.<br />
Zur Illustration: Als eines unserer Kinder zwei Jahre alt war, sah<br />
es einen Mann, der oben auf dem Kopf eine Glatze hatte <strong>und</strong> langes,<br />
krauses Haar an den Seiten. Zum Schrecken seines Vaters rief<br />
der Kleine vergnügt: „Clown, Clown!“ (Allerdings klang es eher<br />
wie „kaun, kaun“.) Der Mann sah offenbar einem Clown hinreichend<br />
ähnlich, sodass der Junge ihn in sein Clown-Konzept<br />
ass<strong>im</strong>ilieren konnte.<br />
Ass<strong>im</strong>ilation – Der Prozess, bei dem Menschen eintreffende Informationen<br />
in eine Form umsetzen, die mit den bereits verstandenen Konzepten übereinst<strong>im</strong>mt.<br />
Akkommodation ist der Prozess, bei dem Menschen vorhandene<br />
Wissensstrukturen in Reaktion auf neue Erfahrungen anpassen.<br />
Bei dem Clown-Vorfall erklärte der Vater seinem Sohn, dass der<br />
Mann kein Clown sei; zwar sehe sein Haar aus wie das eines<br />
Clowns, aber er trage kein lustiges Kostüm <strong>und</strong> mache keine<br />
komischen Sachen, um die Leute zum Lachen zu bringen. Mit<br />
dieser neuen Information konnte der Junge seine Vorstellung an<br />
das übliche Konzept von „Clown“ anpassen, was andere Männer<br />
mit Glatze <strong>und</strong> langem Seitenhaar in Zukunft unbehelligt an ihm<br />
vorbeigehen ließ.<br />
Akkommodation – Der Prozess, bei dem Menschen die vorhandenen Wissensstrukturen<br />
als Reaktion an neue Erfahrungen anpassen.<br />
Äquilibration ist der Prozess, bei dem Menschen Ass<strong>im</strong>ilation<br />
<strong>und</strong> Akkommodation ausbalancieren, um stabile Verstehensprozesse<br />
zu schaffen. Zur Äquilibration gehören drei Phasen:<br />
Anfangs sind Kinder mit ihrem Verständnis eines Phänomens<br />
zufrieden; Piaget bezeichnete diesen Zustand als Äquilibrium,<br />
weil die Kinder keinerlei Diskrepanzen zwischen ihren Beobachtungen<br />
<strong>und</strong> ihrem Verständnis des Phänomens sehen. Dann<br />
bemerken die Kinder aufgr<strong>und</strong> neuer Informationen, dass ihr<br />
Verständnis unzureichend ist; Piaget sagte, dass sich Kinder zu<br />
diesem Zeitpunkt in einem Zustand des Disäquilibriums befinden,<br />
weil sie die Unzulänglichkeiten ihrer bisherigen Verstehensstrukturen<br />
des Phänomens erkennen, aber noch keine bessere<br />
Alternative entwickeln können. Schließlich entwickeln Kinder<br />
ein differenzierteres Verständnis, das die Unzulänglichkeiten der<br />
bisherigen Verstehensstrukturen überwindet. Dieses neue Verstehen<br />
ermöglicht ein stabileres Äquilibrium in dem Sinne, dass<br />
damit nun ein breiterer Bereich von Beobachtungen verstanden<br />
werden kann.<br />
Äquilibration – Der Prozess, bei dem Kinder (<strong>und</strong> andere Menschen) Ass<strong>im</strong>ilation<br />
<strong>und</strong> Akkommodation ausbalancieren, um ein stabiles Verstehen zu<br />
schaffen.<br />
Als Beispiel dafür, wie Äquilibration funktioniert, betrachten wir<br />
eine Überzeugung, die die meisten Vier- bis Siebenjährigen in<br />
einer großen Zahl von Kulturen äußern (Inagaki <strong>und</strong> Hatano<br />
2008), nämlich dass Tiere die einzigen Lebewesen seien. Diese<br />
Überzeugung scheint aus der Annahme zu erwachsen, dass nur<br />
Tiere sich auf eine Weise bewegen können, die für sie lebenswichtig<br />
ist. Früher oder später werden sie erkennen, dass sich auch<br />
Pflanzen so bewegen, dass es zu ihrem Überleben beiträgt (z. B.<br />
zum Sonnenlicht hin). Diese neue Information wäre durch einfache<br />
Ass<strong>im</strong>ilation schwer in ihr bisheriges Denken zu integrieren.<br />
Die resultierende Diskrepanz zwischen dem bisherigen Verständnis<br />
von lebenden Wesen <strong>und</strong> ihrem neuen Wissen über Pflanzen<br />
würde in den Kindern einen Zustand des Disäquilibriums erzeugen,<br />
in dem sie sich unsicher wären, was es bedeutet, lebendig zu<br />
sein. Später würde sich ihr Denken an die neue Information über<br />
Pflanzen akkommodieren. Sie würden also erkennen, dass sich<br />
sowohl Tiere als auch Pflanzen in Anpassung an ihre Lebensbedingungen<br />
bewegen <strong>und</strong> dass, weil diese Art der Bewegung ein<br />
Schlüsselmerkmal lebender Wesen ist, Pflanzen ebenso lebendig<br />
sein müssen wie Tiere (Opfer <strong>und</strong> Gelman 2001; Opfer <strong>und</strong> <strong>Siegler</strong><br />
2004). Diese Einsicht erzeugt ein stabileres Gleichgewicht,<br />
weil weitere Informationen über Pflanzen <strong>und</strong> Tiere ihr nicht<br />
widersprechen. Durch unzählige solcher Äquilibrationen erweitern<br />
Kinder ihr Verständnis der sie umgebenden Welt.<br />
Quellen der Diskontinuität<br />
Auch wenn Piaget einigen Nachdruck auf die kontinuierlichen<br />
Aspekte der geistigen Entwicklung legte, bezieht sich der berühmteste<br />
Teil seiner Theorie auf diskontinuierliche Aspekte,<br />
die er als unterschiedliche Stufen der kognitiven Entwicklung<br />
beschrieb. Piaget sah diese Stufen als Produkte der gr<strong>und</strong>legenden<br />
menschlichen Tendenz, Wissen in kohärente Strukturen einzuordnen.<br />
Jede Stufe repräsentiert eine in sich schlüssige Art, die<br />
eigenen Erfahrungen zu verstehen, <strong>und</strong> jeder Übergang zwischen<br />
Stufen repräsentiert einen diskontinuierlichen intellektuellen<br />
Sprung von einer kohärenten Art des Verstehens zur nächsthöhe-
122<br />
Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
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ren. Die zentralen Eigenschaften von Piagets Stufentheorie lassen<br />
sich wie folgt benennen:<br />
1. Qualitative Veränderung: Piaget glaubte, dass Kinder verschiedenen<br />
Alters auf qualitativ unterschiedliche Weise denken.<br />
Zum Beispiel nahm er an, dass Kinder in den frühen Stadien<br />
der kognitiven Entwicklung Moral an den Konsequenzen<br />
des Verhaltens einer Person messen, während Kinder in<br />
späteren Stadien die Absicht der Person für eine moralische<br />
Beurteilung heranziehen. Ein Fünfjähriger würde jemanden,<br />
der unbeabsichtigt eine Glasschale mit Keksen fallen lässt, als<br />
„unartiger“ einschätzen als jemanden, der absichtlich <strong>und</strong><br />
he<strong>im</strong>lich einen Keks daraus nascht; ein Achtjähriger käme zu<br />
dem umgekehrten Schluss. Dieser Unterschied repräsentiert<br />
eine qualitative Veränderung, weil die beiden Kinder ihre moralischen<br />
Urteile auf völlig verschiedene Kriterien gründen.<br />
2. Breite Anwendbarkeit: Die jeweilige Art des Denkens, die für<br />
eine Stufe charakteristisch ist, durchdringt das Denken des<br />
<strong>Kindes</strong> über ganz verschiedene Themen <strong>und</strong> Kontexte hinweg.<br />
3. Kurze Übergangszeiten: Bevor sie eine neue Stufe erreichen,<br />
durchlaufen Kinder eine kurze Übergangsphase, in der sie<br />
zwischen der Art des Denkens auf der neuen, fortgeschritteneren<br />
Stufe <strong>und</strong> der Art des Denkens, wie sie die alte, weniger<br />
entwickelte Stufe kennzeichnet, hin <strong>und</strong> her schwanken.<br />
4. Invariante Abfolge: Jeder Mensch durchläuft die Stufen in derselben<br />
Reihenfolge, ohne jemals eine Stufe zu überspringen.<br />
Piaget nahm an, dass Kinder vier Stadien der geistigen Entwicklung<br />
durchlaufen: das sensomotorische Stadium, das präoperationale<br />
Stadium, das konkret-operationale Stadium <strong>und</strong> das formaloperationale<br />
Stadium. In jedem Stadium legen Kinder neue<br />
Fähigkeiten an den Tag, die es ihnen ermöglichen, die Welt auf<br />
qualitativ andere Weise zu verstehen als zuvor.<br />
1. Im sensomotorischen Stadium (von der Geburt bis zum Alter<br />
von zwei Jahren) entwickelt sich die Intelligenz der Kinder<br />
durch ihre sensorischen <strong>und</strong> motorischen Fähigkeiten <strong>und</strong><br />
drückt sich in diesen aus. Sie gebrauchen diese Fähigkeiten,<br />
um ihre Umgebung wahrzunehmen <strong>und</strong> zu erforschen. Aufgr<strong>und</strong><br />
dieser Fähigkeit können sie etwas über die Gegenstände<br />
<strong>und</strong> Menschen lernen <strong>und</strong> rud<strong>im</strong>entäre Formen gr<strong>und</strong>legender<br />
Konzepte wie Zeit, Raum <strong>und</strong> Kausalität konstruieren.<br />
Während des sensomotorischen Stadiums leben Kleinkinder<br />
weitestgehend <strong>im</strong> Hier <strong>und</strong> Jetzt: Ihre Intelligenz ist an ihre<br />
unmittelbaren Wahrnehmungen <strong>und</strong> Handlungen geb<strong>und</strong>en.<br />
2. Im präoperationalen Stadium (zwei bis sieben Jahre) werden<br />
die Kinder fähig, ihre Erfahrungen in Form von Sprache<br />
<strong>und</strong> geistigen Vorstellungen zu repräsentieren. Dadurch ist<br />
es ihnen möglich, sich über längere Zeiträume an ihre Erfahrungen<br />
zu erinnern <strong>und</strong> differenziertere Konzepte zu bilden.<br />
Wie der Begriff präoperational jedoch nahelegt, betont Piaget,<br />
Kinder seien in diesem Stadium noch nicht in der Lage,<br />
mentale Operationen wie etwa das gleichzeitige In-Betracht-<br />
Ziehen verschiedener D<strong>im</strong>ensionen auszuführen. Infolgedessen<br />
sind die Kinder nicht <strong>im</strong>stande, best<strong>im</strong>mte Gedanken zu<br />
formen, etwa die Vorstellung zu entwickeln, dass die Wassermenge<br />
unverändert bleibt, wenn man Wasser von einem<br />
breiten Glas in ein schmaleres, höheres Glas umschüttet. Mit<br />
anderen Worten, sie erkennen nicht, dass die größere Höhe<br />
der Wassersäule in dem schmaleren Glas durch den kleineren<br />
Durchmesser kompensiert wird.<br />
3. Im konkret-operationalen Stadium (sieben bis zwölf Jahre)<br />
können Kinder über konkrete Gegenstände <strong>und</strong> Ereignisse<br />
logisch schlussfolgern; sie verstehen beispielsweise, dass<br />
die Wassermenge be<strong>im</strong> Umschütten von einem Glas in ein<br />
schmaleres höheres Glas unverändert bleibt. Es fällt ihnen<br />
jedoch schwer, in rein abstrakten Begriffen zu denken <strong>und</strong><br />
wissenschaftliche Exper<strong>im</strong>ente zu entwickeln, um ihre Annahmen<br />
zu prüfen.<br />
4. Im letzten Stadium der kognitiven Entwicklung, dem formaloperationalen<br />
Stadium (zwölf Jahre <strong>und</strong> älter), können Kinder<br />
nicht nur über konkrete Ereignisse intensiv nachdenken,<br />
sondern auch über Abstraktionen <strong>und</strong> rein hypothetische Situationen.<br />
Sie können systematische wissenschaftliche Exper<strong>im</strong>ente<br />
durchführen <strong>und</strong> daraus die angemessenen Schlüsse<br />
ziehen, selbst wenn diese Schlüsse von ihren ursprünglichen<br />
Annahmen abweichen.<br />
Sensomotorisches Stadium – In Piagets Theorie die Phase (Geburt bis zwei<br />
Jahre), in der Intelligenz über sensorische <strong>und</strong> motorische Fähigkeiten zum<br />
Ausdruck kommt.<br />
Präoperationales Stadium – In Piagets Theorie die Phase (zwei bis sieben<br />
Jahre), in der Kinder fähig werden, ihre Erfahrungen in Form von Sprache, geistigen<br />
Vorstellungen <strong>und</strong> symbolischem Denken zu repräsentieren.<br />
Konkret-operationales Stadium – In Piagets Theorie die Phase (sieben bis<br />
zwölf Jahre), in der Kinder fähig werden, über konkrete Objekte <strong>und</strong> Ereignisse<br />
logisch nachzudenken.<br />
Formal-operationales Stadium – In Piagets Theorie die Phase (zwölf Jahre <strong>und</strong><br />
älter), in der Menschen fähig werden, abstrakt <strong>und</strong> hypothetisch zu denken.<br />
Nach diesem Überblick über die Theorie Piagets können wir nun<br />
einige der wichtigsten Veränderungen, die in jedem Stadium eintreten,<br />
<strong>im</strong> Detail betrachten.<br />
Das sensomotorische Stadium (Geburt bis zwei<br />
Jahre)<br />
Eine der tiefsten Einsichten Piagets bestand darin, dass er die<br />
Wurzeln der Intelligenz erwachsener Menschen in den frühesten<br />
Verhaltensweisen Neugeborener erkannte, in ihrem anscheinend<br />
ziellosen Saugen, den Greif- <strong>und</strong> Strampelbewegungen. Er stellte<br />
fest, dass diese Verhaltensweisen nicht zufällig sind, sondern einen<br />
frühen Intelligenztyp widerspiegeln, der die sensorische <strong>und</strong><br />
motorische Aktivität beinhaltet. Viele der klarsten Beispiele für<br />
das Thema des aktiven <strong>Kindes</strong> stammen aus Piagets Beschreibungen<br />
der „sensomotorische Intelligenz“.<br />
Im Verlauf der ersten beiden Lebensjahre entwickelt sich Piaget<br />
zufolge die sensomotorische Intelligenz der Kinder enorm.<br />
Schon das bloße Ausmaß der Veränderung mag zunächst erstaunlich<br />
erscheinen. Denkt man jedoch daran, dass die Kinder in dieser<br />
Zeitspanne eine riesigen Bandbreite von neuen Erfahrungen<br />
machen <strong>und</strong> sich das Gewicht des Gehirns von der Geburt bis<br />
zum Alter von drei Jahren verdreifacht (wobei das Gewicht als<br />
Indikator für die Entwicklung des Gehirns in dieser Phase gelten
Die Theorie von Piaget<br />
123 4<br />
kann), so wird der <strong>im</strong>mense Zuwachs an kognitiven Fähigkeiten<br />
verständlicher. Die tiefgreifenden Entwicklungen, die Piaget für<br />
den Verlauf des Säuglings- <strong>und</strong> Kleinkindalters konstatiert, machen<br />
auf ein allgemeines Prinzip aufmerksam: Das Denken des<br />
<strong>Kindes</strong> entwickelt sich in den ersten Lebensjahren besonders rasant.<br />
Babys werden mit vielen Reflexen geboren. Wenn sich Objekte<br />
vor ihren Augen bewegen, folgen ihre Augen der Bewegung;<br />
wenn man ihnen Objekte in den M<strong>und</strong> steckt, saugen sie daran;<br />
wenn Objekte mit ihren Händen in Berührung kommen, greifen<br />
sie zu; wenn sie Geräusche hören, drehen sie ihren Kopf in Richtung<br />
Geräuschquelle, <strong>und</strong> so weiter. Piaget glaubte, dass diese<br />
einfachen Reflexe <strong>und</strong> Wahrnehmungsfähigkeiten wesentliche<br />
Werkzeuge für den Aufbau der Intelligenz sind.<br />
Schon <strong>im</strong> ersten Lebensmonat fangen Säuglinge an, ihre Reflexe<br />
zu modifizieren, um sie besser anzupassen. Bei der Geburt<br />
beispielsweise saugen sie, egal woran, <strong>im</strong>mer auf dieselbe Weise.<br />
Innerhalb von ein paar Wochen ändern sie ihr Saugverhalten<br />
jedoch <strong>und</strong> passen es dem Objekt an, das sich gerade in ihrem<br />
M<strong>und</strong> befindet. An einer Milch gebenden Brustwarze saugen sie<br />
so, dass sie effizienter satt werden, <strong>und</strong> deutlich anders als an einem<br />
Finger oder einem Nuckel. Dieses Beispiel zeigt, dass Kinder<br />
ihre Handlungen vom ersten Tag außerhalb des Mutterleibes auf<br />
diejenigen Teile ihrer Umwelt einstellen (akkommodieren), mit<br />
denen sie es gerade zu tun haben.<br />
Im Lauf der ersten Lebensmonate beginnt das Kind, einzelne<br />
Reflexe zu größeren Verhaltenseinheiten zu organisieren, von<br />
denen die meisten auf den eigenen Körper zentriert sind. Statt<br />
auf zwei getrennte Reflexe beschränkt zu sein, etwa das Greifen,<br />
wenn Objekte ihre Handfläche berühren, <strong>und</strong> das Saugen,<br />
wenn Objekte in ihren M<strong>und</strong> gelangen, gelingt es den Babys nun,<br />
diese Handlungen zu integrieren. Wenn ein Gegenstand ihre<br />
Handfläche berührt, können sie ihn ergreifen <strong>und</strong> zum M<strong>und</strong><br />
führen. Ihre Reflexe dienen also als Bausteine für komplexeres<br />
Verhalten.<br />
In der Mitte des ersten Lebensjahres interessieren sich die<br />
Kinder zunehmend für die Welt um sie herum – für Menschen,<br />
Tiere, Spielzeuge <strong>und</strong> andere Objekte <strong>und</strong> für Ereignisse außerhalb<br />
ihres eigenen Körpers. Ein besonderes Kennzeichen dieser<br />
Wandlung ist die Wiederholung von Handlungen, die angenehme<br />
oder interessante Ergebnisse mit sich bringen. Das endlos<br />
wiederholte Schütteln einer Rassel oder Drücken einer Quietschente<br />
beispielsweise gehört zu den bevorzugten Tätigkeiten<br />
vieler Kinder diesen Alters.<br />
Piaget (1998) stellte eine bemerkenswerte <strong>und</strong> kontrovers<br />
diskutierte Behauptung auf, die sich auf ein Defizit <strong>im</strong> kindlichen<br />
Denken während dieser Phase bezieht <strong>und</strong> auf die bereits<br />
zu Beginn des Kapitels in der Anekdote über den Vater, der seine<br />
Brille versteckt, eingegangen wurde. Die Behauptung lautet, dass<br />
dem Kind bis zum Alter von acht Monaten das Konzept der Objektpermanenz<br />
fehle: das Wissen, dass Objekte auch dann weiterexistieren,<br />
wenn sie sich außerhalb des Wahrnehmungsfeldes<br />
befinden. Diese Behauptung beruhte pr<strong>im</strong>är auf Piagets Beobachtung<br />
seiner eigenen Kinder Laurent, Lucienne <strong>und</strong> Jacqueline.<br />
Die folgende Darstellung eines Exper<strong>im</strong>ents mit Laurent spiegelt<br />
den Typ von Beobachtung wider, der Piagets Annahmen über<br />
Objektpermanenz inspirierte:<br />
» Mit 7 Monaten <strong>und</strong> 28 Tagen halte ich ihm eine Klapper hinter<br />
einem Kissen hin. Solange er die Klapper sieht, <strong>und</strong> wenn es<br />
auch noch so wenig davon ist, versucht er, sie zu ergreifen.<br />
Wenn aber die Klapper völlig verschwindet, sucht er nicht<br />
mehr. Ich wiederhole den Versuch, wobei ich meine Hand als<br />
Abschirmung verwende. Laurent hält den Arm ausgestreckt<br />
<strong>und</strong> will gerade die Klapper ergreifen, als ich sie hinter meiner<br />
offenen Hand in 15 cm Distanz verschwinden lasse: Er zieht<br />
seinen Arm sofort zurück, als ob die Klapper nicht mehr existierte<br />
(Piaget 1998, S. 39).<br />
In der Sichtweise Piagets ist für Kinder bis zum Alter von acht<br />
Monaten also die Redewendung „aus den Augen, aus dem Sinn“<br />
tatsächlich wörtlich zu verstehen. Sie können Objekte nur in den<br />
Momenten geistig repräsentieren, in denen sie diese auch wahrnehmen<br />
können.<br />
Objektpermanenz – Das Wissen darüber, dass Objekte auch dann weiterexistieren,<br />
wenn sie sich außerhalb des Wahrnehmungsfeldes befinden.<br />
..<br />
Piaget zufolge bereitet es Kindern nicht nur Lust, an Objekten zu saugen,<br />
sondern sie gewinnen dadurch auch Wissen über die Welt jenseits ihres<br />
eigenen Körpers. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Gegen Ende des ersten Lebensjahres suchen Kinder nach versteckten<br />
Objekten <strong>und</strong> verhalten sich nicht mehr so, als wären<br />
diese verschw<strong>und</strong>en, was erkennen lässt, dass sie die Objekte<br />
auch dann mental repräsentieren, wenn sie diese nicht mehr se-
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Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
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..<br />
Abb. 4.1 Piagets A-nicht-B-Suchfehler. Ein Kind sucht <strong>und</strong> findet ein Spielzeug unter dem Tuch, unter dem es versteckt wurde (a). Nachdem es dies mehrmals<br />
erfahren hat, wird das Spielzeug an einem anderen Ort versteckt (b). Das Kind sucht weiterhin dort, wo es das Spielzeug vorher gef<strong>und</strong>en hat, <strong>und</strong> nicht<br />
dort, wo es jetzt versteckt ist. Es ignoriert, dass sich das Spielzeug auf dem rechten Foto unter dem anderen Tuch abzeichnet; das zeigt die Stärke der Neigung,<br />
<strong>im</strong> vorigen Versteck nachzuschauen. (© Ben Clore; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
hen. Diese allerersten Repräsentationen von Gegenständen sind<br />
jedoch recht fragil, wie der A-nicht-B-Suchfehler zeigt: Wenn<br />
Kinder zwischen acht <strong>und</strong> zwölf Monaten ein verstecktes Objekt<br />
wiederholt am Ort A gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> gegriffen haben <strong>und</strong> anschließend<br />
sehen, dass das Objekt nun an einem anderen Ort B<br />
versteckt wird, aber nicht sofort danach suchen dürfen, dann<br />
neigen sie dazu, dorthin zu greifen, wo sie das Objekt anfänglich<br />
fanden (. Abb. 4.1). Erst ab etwa ihrem ersten Geburtstag suchen<br />
Kinder durchgängig zuerst am tatsächlichen Ort des Objekts.<br />
A-nicht-B-Suchfehler – Die Tendenz, dorthin zu greifen, wo ein Objekt zuletzt<br />
gef<strong>und</strong>en wurde, statt es dort zu suchen, wo es tatsächlich versteckt wurde.<br />
Mit etwa einem Jahr fangen Kinder an, aktiv <strong>und</strong> begierig auszuprobieren,<br />
wozu man Objekte potenziell gebrauchen kann. Das<br />
oben beschriebene Beispiel vom „Kind als Wissenschaftler“, in<br />
dem Laurent die Positionen variierte, aus denen er verschiedene<br />
Gegenstände fallen ließ, um zu sehen, was passiert, liefert ein<br />
Beispiel für diese neu entstehende Kompetenz. Ähnliche Beispiele<br />
kommen in jeder Familie mit Kleinkindern vor. Nur wenige<br />
Eltern vergessen, wie ihr zwölf bis 18 Monate altes Kind<br />
auf seinem Hochstuhl sitzt, mit verschiedenen Gegenständen auf<br />
das Tablett schlägt – zuerst mit einem Löffel, dann mit einem<br />
Teller, dann mit einer Tasse – <strong>und</strong> offenbar fasziniert ist von den<br />
unterschiedlichen Geräuschen, die die einzelnen Gegenstände<br />
verursachen. Ebenso wenig vergessen sie, wie ihr Kind diverse<br />
Badartikel in die Toilette fallen ließ oder die Packung Mehl auf<br />
dem Küchenboden ausschüttete, nur um zu sehen, was passiert.<br />
In solchen Handlungen sah Piaget die Anfänge wissenschaftlichen<br />
Exper<strong>im</strong>entierens.<br />
Im letzten halben Jahr des sensomotorischen Stadiums (vom<br />
18. bis zum 24. Lebensmonat) erlangen Kinder nach Piaget die<br />
Fähigkeit, dauerhafte mentale Repräsentationen zu bilden. Das<br />
erste Anzeichen für diese neue Fähigkeit ist die zeitlich verzögerte<br />
Nachahmung, die Wiederholung des Verhaltens anderer<br />
Menschen Minuten, St<strong>und</strong>en oder Tage später. Betrachten wir<br />
Piagets Beobachtung der einjährigen Jacqueline:<br />
» Jacqueline bekam Besuch, <strong>und</strong> zwar von einem kleinen<br />
Jungen […], der sich <strong>im</strong> Verlauf des Nachmittags in eine<br />
fürchterliche Wut hineinsteigert: Er heult <strong>und</strong> versucht, aus<br />
seinem Laufställchen herauszukommen, <strong>und</strong> stampft mit den<br />
Füßen auf den Boden des Ställchens. […] Am folgenden Tag<br />
ist sie es, die <strong>im</strong> Laufställchen schreit <strong>und</strong> es zu verschieben<br />
versucht, wobei sie mehrfach nacheinander leicht mit dem<br />
Fuß aufstampft (Piaget 1969, S. 85).<br />
Zeitlich verzögerte Nachahmung – Die Wiederholung des Verhaltens anderer<br />
Menschen zu einem deutlich späteren Zeitpunkt.
Die Theorie von Piaget<br />
125 4<br />
noch eindrucksvolleren Beschränkungen. Die vielleicht wichtigste<br />
Errungenschaft ist die Entwicklung der symbolischen<br />
Repräsentationen; zu den auffälligsten Schwächen gehören der<br />
Egozentrismus <strong>und</strong> die Zentrierung.<br />
Die Entwicklung symbolischer Repräsentationen<br />
Haben Sie schon einmal gesehen, wie Kindergartenkinder mit<br />
zwei schräg aneinandergesetzten Eisstielen eine Pistole darstellen<br />
oder mit einer Spielkarte ein iPhone? Die Verwendung solcher<br />
selbst entwickelter Symbole kommt bei Drei- bis Fünfjährigen<br />
häufig vor. Dies ist einer der Wege, auf denen sie ihre entstehende<br />
Fähigkeit zur symbolischen Repräsentation einüben – die Verwendung<br />
eines Gegenstands stellvertretend für einen anderen.<br />
Typischerweise ähneln die selbst entwickelten Symbole äußerlich<br />
den Dingen, die sie darstellen sollen. Die Gestalt der beiden Eisstiele<br />
<strong>und</strong> der Spielkarte erinnert durchaus an die einer Pistole.<br />
Symbolische Repräsentation – Die Verwendung eines Objekts in der Funktion<br />
eines anderen.<br />
..<br />
Die Technik, mit der dieses Kind Lidschatten aufträgt, mag nicht ganz dem<br />
Verfahren entsprechen, das es bei seiner Mutter gesehen hat, aber es ähnelt diesem<br />
genug, um als überzeugendes Beispiel für zeitlich verzögerte Nachahmung<br />
zu dienen. Die Fähigkeit zu zeitlich verzögerter Nachahmung erwerben Kinder<br />
<strong>im</strong> zweiten Lebensjahr. (© Judy Deloache; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Piaget wies darauf hin, dass Jacqueline nie zuvor solch einen<br />
Wutanfall hatte. Anscheinend hatte sie das Verhalten ihres Spielkameraden<br />
beobachtet <strong>und</strong> es sich gemerkt, hatte über Nacht<br />
eine Repräsentation dieses Verhaltens <strong>im</strong> Gedächtnis behalten<br />
<strong>und</strong> es am nächsten Tag nachgemacht.<br />
Wenn wir Piagets gesamte Darstellung der Entwicklung <strong>im</strong><br />
Kleinkindalter betrachten, sind mehrere auffällige Tendenzen<br />
-<br />
erkennbar.<br />
Zunächst kreisen die Aktivitäten des <strong>Kindes</strong> um seinen<br />
eigenen Körper; später schließen sie auch die umgebende<br />
-<br />
Welt mit ein.<br />
Frühe Ziele sind konkreter Natur (eine Rassel schütteln <strong>und</strong><br />
den Geräuschen lauschen); spätere Ziele sind oft abstrakterer<br />
Art (die Höhe variieren, aus der man Objekte fallen<br />
-<br />
lässt, <strong>und</strong> beobachten, wie sich die Effekte verändern).<br />
Auch sind die Kinder zunehmend in der Lage, mentale<br />
Repräsentationen zu bilden, <strong>und</strong> schreiten vom „aus den<br />
Augen, aus dem Sinn“ fort zur Erinnerung an Handlungen<br />
eines Spielgefährten, die einen ganzen Tag vorher stattgef<strong>und</strong>en<br />
haben. Solche überdauernden mentalen Repräsentationen<br />
ermöglichen das nächste Stadium, das präoperationale<br />
Denken.<br />
Das präoperationale Stadium (zwei bis sieben<br />
Jahre)<br />
In Piagets Sicht umfasst das präoperationale Stadium eine Mischung<br />
aus eindrucksvollen kognitiven Errungenschaften <strong>und</strong><br />
Im Verlauf ihrer Entwicklung verlassen sich Kinder seltener auf<br />
selbst erzeugte Symbole, sondern eher auf konventionelle. Wenn<br />
zum Beispiel Fünfjährige Piraten spielen, tragen sie vielleicht eine<br />
Klappe über einem Auge <strong>und</strong> ein großes Taschentuch auf dem<br />
Kopf, weil Piraten meistens auf diese Weise abgebildet werden.<br />
Die zunehmenden symbolischen Fähigkeiten zeigen sich während<br />
des präoperationalen Stadiums auch in den Fortschritten<br />
be<strong>im</strong> Zeichnen. In Zeichnungen gebrauchen Kinder zwischen<br />
drei <strong>und</strong> fünf Jahren zunehmend Symbolkonventionen, beispielsweise<br />
die Darstellung der Blätter von Blumen in V-Form<br />
(. Abb. 4.2).<br />
Egozentrismus<br />
Piaget bemerkte zwar <strong>im</strong> Denken von Kindern während des präoperationalen<br />
Stadiums einen bedeutenden Zuwachs, aber bezeichnender<br />
für das präoperationale Verständnis erschienen ihm<br />
die Beschränkungen <strong>im</strong> Denken in dieser Phase. Eine wichtige<br />
Begrenztheit ist wie erwähnt der kindliche Egozentrismus, die<br />
Welt ausschließlich vom eigenen Standpunkt aus wahrzunehmen.<br />
Ein Beispiel dafür ist die Schwierigkeit von Kindergartenkindern,<br />
die räumliche Perspektive anderer Menschen einzunehmen<br />
<strong>und</strong> nicht nur den eigenen Blickwinkel zu berücksichtigen.<br />
Piaget <strong>und</strong> Inhelder (1977) demonstrierten diese Schwierigkeit,<br />
indem sie vierjährige Kinder an einen Tisch vor das Modell einer<br />
Landschaft setzten, die aus drei Bergen unterschiedlicher Größe<br />
<strong>und</strong> Höhe bestand (. Abb. 4.3). Man bat die Kinder herauszufinden,<br />
welche von mehreren Fotografien die Ansicht darstellte, die<br />
eine Puppe hätte, die auf einem der verschiedenen Stühle r<strong>und</strong><br />
um den Tisch saß. Die Lösung dieser Aufgabe erfordert von den<br />
Kindern zu erkennen, dass ihre eigene Perspektive nicht die einzig<br />
mögliche ist, <strong>und</strong> sich vorzustellen, welcher Anblick sich aus<br />
einer anderen Position <strong>und</strong> Blickrichtung darbieten würde. Piaget<br />
zufolge sind die meisten Vierjährigen dazu nicht in der Lage.<br />
Egozentrismus – Die Tendenz, die Welt ausschließlich aus der eigenen Perspektive<br />
wahrzunehmen.
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Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
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..<br />
Abb. 4.2 Ein Sommertag, gezeichnet von einem vierjährigen Kind. Man<br />
beachte den Einsatz einfacher künstlerischer Konventionen wie der V-<br />
förmigen Blätter an den Blumen<br />
Die Perspektive anderer Menschen einzunehmen, erweist sich<br />
auch in ganz anderen Kontexten als schwierig, zum Beispiel bei<br />
der Kommunikation. Wie in . Abb. 4.4 dargestellt, reden Kinder<br />
<strong>im</strong> Vorschulalter oft aneinander vorbei beziehungsweise nebeneinander<br />
her; sie scheinen nur auf das zu achten, was sie selbst<br />
sagen, <strong>und</strong> den Kommentaren ihrer Spielkameraden keinerlei<br />
Aufmerksamkeit zu schenken. Die egozentrische Kommunikation<br />
von Kindern in diesem Alter wird auch erkennbar, wenn sie<br />
Aussagen treffen, die be<strong>im</strong> Zuhörer Wissen voraussetzen, über<br />
das nur sie selbst verfügen, der oder die Zuhörer aber nicht.<br />
Beispielsweise beschweren sich Zwei- <strong>und</strong> Dreijährige häufig<br />
bei ihren Erzieherinnen: „Er hat es mir weggenommen“, ohne<br />
dass aus der Situation erkennbar wäre, auf welche Person <strong>und</strong><br />
welchen Gegenstand sich das Kind bezieht. Das egozentrische<br />
Denken zeigt sich auch in den Erklärungen von Ereignissen <strong>und</strong><br />
Verhaltensweisen. Man betrachte die folgenden Interviews mit<br />
Kindern <strong>im</strong> Kindergartenalter, die in einer beliebten amerikanischen<br />
Fernsehsendung aus den 1950er Jahren geführt wurden,<br />
die unter dem Titel Kids say the Darndest Things die Komik der<br />
Worte aus Kinderm<strong>und</strong> aufgriff:<br />
Interviewer: Hast du Geschwister?<br />
Kind: Ich habe einen Bruder, der ist eine Woche alt.<br />
I: Was kann er schon?<br />
K: Er kann „Mama“ <strong>und</strong> „Papa“ sagen.<br />
I: Kann er laufen?<br />
..<br />
Abb. 4.3 Piagets Drei-Berge-Versuch. Die Kinder sollen das Bild auswählen,<br />
das der Perspektive der Puppe auf dem gegenüberliegenden Stuhl<br />
entspricht. Die meisten Kinder unter sechs Jahren wählen das Bild, das die<br />
Szene so zeigt, wie sie ihnen selbst erscheint. Dies illustriert die Schwierigkeit,<br />
die eigene Perspektive von der anderer zu trennen<br />
K: Nein, er ist zu faul dazu.<br />
Interviewer: Hast du Geschwister?<br />
Kind: Einen zwei Monate alten Bruder.<br />
I: Wie ben<strong>im</strong>mt er sich?<br />
K: Er schreit jede Nacht.<br />
I: Warum macht er das wohl?<br />
K: Wahrscheinlich glaubt er, er verpasst was <strong>im</strong> Fernsehen.<br />
(Linkletter 1957, S. 6)<br />
Im Verlauf des präoperationalen Stadiums wird der egozentrische<br />
Sprachgebrauch seltener. Ein frühes Zeichen des Fortschritts<br />
besteht in den verbalen Streitereien des <strong>Kindes</strong>, die in diesem<br />
Stadium <strong>im</strong>mer häufiger werden. Dass Behauptungen eines<br />
<strong>Kindes</strong> den Widerspruch eines Spielgefährten hervorrufen, lässt<br />
erkennen, dass dieser die abweichende Perspektive, die in der<br />
Äußerung des anderen <strong>Kindes</strong> enthalten ist, zumindest beachtet.<br />
Auch können sich Kinder <strong>im</strong> präoperationalen Stadium andere<br />
räumliche Perspektiven als ihre eigene besser vorstellen. Zwar<br />
bleiben wir <strong>im</strong> Lauf unseres Lebens alle ein wenig egozentrisch,<br />
aber die meisten von uns machen doch gewisse Fortschritte.<br />
Zentrierung<br />
Eine mit dem Egozentrismus verwandte Einschränkung <strong>im</strong><br />
Denken von Kindern <strong>im</strong> Kindergartenalter ist die Zentrierung;<br />
darunter versteht man die Konzentration auf ein einzelnes, in<br />
der Wahrnehmung auffälliges Merkmal eines Objekts oder Ereignisses<br />
unter Ausschluss anderer wichtiger, aber unauffälligerer<br />
Merkmale. Die Art, wie Kinder an eine Balkenwaage herangehen,<br />
liefert ein gutes Beispiel für Zentrierung. Zeigt man Fünf- <strong>und</strong><br />
Sechsjährigen eine Balkenwaage wie die in . Abb. 4.5 <strong>und</strong> fragt<br />
sie, nach welcher Seite sie sich neigen wird, dann zentrieren sie<br />
auf die Gewichtsmenge auf beiden Seiten <strong>und</strong> ignorieren den<br />
Abstand der Gewichte von der Aufhängung: Sie sagen, dass sich<br />
diejenige Seite nach unten senken wird, auf der sich mehr Gewicht<br />
befindet (Inhelder <strong>und</strong> Piaget 1958).<br />
Zentrierung – Die Tendenz, sich auf ein einzelnes, perzeptuell auffälliges Merkmal<br />
eines Objekts oder Ereignisses zu konzentrieren.<br />
Ein weiteres gutes Beispiel für Zentrierung stammt aus Piagets<br />
Forschungen zum kindlichen Verständnis der Invarianz. Das In-
Die Theorie von Piaget<br />
127 4<br />
. . Abb. 4.5 Die Balkenwaage. Fragt man Fünf- <strong>und</strong> Sechsjährige, welche<br />
Seite einer Balkenwaage der hier abgebildeten Art sich abwärts neigt, wenn<br />
man sie entriegelt, so zentrieren sie ihre Aufmerksamkeit fast <strong>im</strong>mer auf die<br />
Gewichte <strong>und</strong> ignorieren den Abstand der Gewichte vom Drehpunkt. Im<br />
gegebenen Fall würden sie also vorhersagen, dass der linke Balkenarm sinkt;<br />
in Wirklichkeit wäre es in diesem Beispiel aber der rechte<br />
..<br />
Abb. 4.4 Egozentrismus. Ein Beispiel für eine egozentrische Unterhaltung<br />
zwischen kleinen Kindern<br />
varianzkonzept (Konzept der Erhaltung) besteht darin, dass ein<br />
bloßes Verändern der Erscheinung oder Anordnung von Objekten<br />
nicht notwendigerweise ihre zentralen Eigenschaften verändert,<br />
beispielsweise die Quantität des Materials. Drei Varianten dieses<br />
Invarianzkonzepts, die häufig an Fünf- bis Achtjährigen untersucht<br />
werden, betreffen die Erhaltung der Flüssigkeitsmenge, die Erhaltung<br />
der festen Masse <strong>und</strong> die Erhaltung der Zahl (Piaget 1994).<br />
In allen drei Fällen bestehen die Invarianzaufgaben, mit denen<br />
das Verständnis des <strong>Kindes</strong> untersucht wird, aus einem dreistufigen<br />
Verfahren (. Abb. 4.6). Zuerst sehen die Kinder zwei Objekte<br />
oder zwei Mengen von Objekten – zwei Gläser Orangensaft, zwei<br />
Tonklumpen oder zwei Reihen Münzen – von identischer Anzahl<br />
oder Menge. Wenn die Kinder zust<strong>im</strong>men, dass die jeweils interessierende<br />
D<strong>im</strong>ension (z. B. die Menge an Orangensaft) in beiden<br />
Fällen gleich ist, folgt die zweite Phase. Nun beobachten die Kinder,<br />
wie der Versuchsleiter ein Objekt (oder eine Objektmenge) so<br />
umgestaltet, dass es nachher anders aussieht, ohne dass sich dabei<br />
die fragliche D<strong>im</strong>ension verändert. Ein Glas Orangensaft wird<br />
beispielsweise in ein höheres, aber schmaleres Glas umgeschüttet;<br />
eine kurze, dicke Wurst aus Ton wird zu einer dünnen, längeren<br />
Wurst geformt; eine Reihe von Münzen wird mit größeren Abständen<br />
länger ausgelegt. In der dritten Phase schließlich sollen<br />
die Kinder angeben, ob die infrage stehende D<strong>im</strong>ension, in der die<br />
Kinder die beiden Objekte (bzw. Objektmengen) zuvor als gleich<br />
beurteilt hatten, <strong>im</strong>mer noch gleich ausgeprägt ist.<br />
Invarianzkonzept (Konzept der Erhaltung) – Die Vorstellung, dass ein bloßes<br />
Verändern des Erscheinungsbildes eines Objekts dessen gr<strong>und</strong>legende Eigenschaften<br />
unverändert lässt.<br />
Die große Mehrheit der Vier- <strong>und</strong> Fünfjährigen antwortet: Nein.<br />
Bei der Aufgabe zur Invarianz der Flüssigkeitsmenge behaupten<br />
sie, das schmalere, engere Glas enthalte mehr Orangensaft;<br />
be<strong>im</strong> Invarianzproblem fester Massen meinen sie, dass die lange,<br />
dünne Wurst mehr Ton enthalte als die kurze, dicke, <strong>und</strong> so<br />
weiter. In Alltagssituationen irren sich Kinder diesen Alters auf<br />
ähnliche Weise; wenn ein Kind einen Keks weniger hat als ein<br />
anderes, sehen sie beispielsweise die gerechte Lösung darin, einen<br />
der Kekse des benachteiligten <strong>Kindes</strong> in zwei Teile zu brechen<br />
(Miller 1984).<br />
Zu diesen Schwierigkeiten be<strong>im</strong> Invarianzproblem tragen<br />
eine Reihe von Schwächen bei, die Piaget <strong>im</strong> präoperationalen<br />
Denken erkannte. Präoperational Denkende zentrieren<br />
ihre Aufmerksamkeit auf eine einzige, in der Wahrnehmung<br />
hervorstechende D<strong>im</strong>ension wie Höhe oder Länge <strong>und</strong> lassen<br />
andere relevante D<strong>im</strong>ensionen außer Acht. Zusätzlich lässt<br />
sie ihr Egozentrismus übersehen, dass die eigene Perspektive<br />
irreführend sein kann – dass ein hohes, schmales Glas Orangensaft<br />
oder eine lange, dünne Tonwurst nicht schon deshalb<br />
mehr Orangensaft oder Ton enthält, weil sie länger aussehen.<br />
Auch die Tendenz der Kinder, sich auf den statischen Zustand<br />
(das Erscheinungsbild der Gegenstände vor <strong>und</strong> nach der Umformung)<br />
zu konzentrieren <strong>und</strong> die Transformationen, die erfolgten,<br />
zu ignorieren (das Umschütten des Orangensafts oder<br />
die Umformung des Tonklumpens), erschwert das Lösen von<br />
Invarianzproblemen.<br />
Im nächsten Stadium der kognitiven Entwicklung, dem<br />
konkret-operationalen Stadium, überwinden Kinder diese <strong>und</strong><br />
ähnliche Beschränkungen weitgehend.<br />
Das konkret-operationale Stadium (sieben bis<br />
zwölf Jahre)<br />
Im Alter von etwa sieben Jahren beginnen Kinder – Piaget<br />
zufolge – damit, logisch über konkrete Merkmale der Welt<br />
nachzudenken. Dieser Fortschritt lässt sich am Beispiel des<br />
Invarianzkonzepts illustrieren. Wenige Fünfjährige lösen irgendeine<br />
der drei Invarianzaufgaben, die wir <strong>im</strong> vorangehenden<br />
Abschnitt beschrieben haben; die meisten Siebenjährigen<br />
hingegen lösen sie alle drei. Derselbe Fortschritt <strong>im</strong> Denken<br />
ermöglicht Kindern <strong>im</strong> konkret-operationalen Stadium auch,<br />
viele andere Probleme <strong>und</strong> Aufgaben erfolgreich zu bewältigen,<br />
bei denen die Aufmerksamkeit auf mehrere D<strong>im</strong>ensionen gerichtet<br />
werden muss. Zum Beispiel beachten sie bei der Balken-
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Abb. 4.6 Verfahren zur Prüfung der Invarianzkonzepte von Flüssigkeitsmenge, fester Masse <strong>und</strong> Zahl. Die meisten Vier- <strong>und</strong> Fünfjährigen sagen, dass die<br />
höhere Flüssigkeitssäule mehr Flüssigkeit, die längere Tonwurst mehr Ton <strong>und</strong> die längere Reihe mehr Objekte enthält<br />
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waage (. Abb. 4.5) sowohl die Gewichte als auch ihren Abstand<br />
vom Drehpunkt.<br />
Diese relativ fortgeschrittenen logischen Denkprozesse bleiben<br />
nach Piaget jedoch auf konkrete Situationen beschränkt.<br />
Systematisches Denken bleibt äußerst schwierig, ebenso das<br />
Schlussfolgern über hypothetische Situationen. Offenk<strong>und</strong>ig<br />
werden diese Begrenzungen in der Art der Versuche, die Kinder<br />
<strong>im</strong> konkret-operationalen Stadium zur Lösung des Pendelproblems<br />
unternehmen (. Abb. 4.7) (Inhelder <strong>und</strong> Piaget 1958).<br />
Bei diesem Problem erhalten die Kinder ein Pendelgestell, eine<br />
Reihe von Schnüren unterschiedlicher Länge mit einer Schlinge<br />
an beiden Enden <strong>und</strong> einen Satz unterschiedlicher Metallgewichte,<br />
die sich an jeden der Schnüre anhängen lassen. Eine<br />
Schnur, an der ein Gewicht befestigt wurde, lässt sich in das Pendelgestell<br />
einhängen <strong>und</strong> zum Schwingen bringen. Die Aufgabe<br />
besteht darin zu exper<strong>im</strong>entieren, um herauszufinden, wovon<br />
die Zeitdauer abhängt, die das Pendel benötigt, um einmal hin<strong>und</strong><br />
herzuschwingen: Ist es die Länge der Schnur, die Schwere<br />
des Gewichts, die Höhe, aus der das Gewicht losgelassen wird,<br />
oder eine Kombination dieser Faktoren? Denken Sie selbst einen<br />
Moment nach: Wie würden Sie vorgehen, um diese Aufgabe zu<br />
lösen?<br />
Die meisten Kinder <strong>im</strong> konkret-operationalen Stadium beginnen<br />
ihre Exper<strong>im</strong>ente in dem Glauben, die Schwere des Gewichts<br />
sei der wichtigste Faktor <strong>und</strong> höchstwahrscheinlich auch<br />
der einzige. Diese Annahme ist nicht unvernünftig; die meisten<br />
Jugendlichen <strong>und</strong> Erwachsenen teilen sie. Worin sich Kinder<br />
von älteren Menschen unterscheiden, ist die Art <strong>und</strong> Weise, wie<br />
sie ihre Annahmen prüfen. Im konkret-operationalen Stadium<br />
führen Kinder in der Regel ihre Exper<strong>im</strong>ente unsystematisch<br />
entsprechend ihren Vorurteilen durch, sodass keine eindeutigen<br />
Schlüsse gezogen werden können. Zum Beispiel vergleichen sie<br />
die Schwingungszeit eines schweren Gewichts an einer kurzen<br />
Schnur, das aus großer Höhe losgelassen wurde, mit der Schwingungszeit<br />
eines leichten Gewichts an einer langen Schnur aus<br />
niedriger Höhe. Wenn das erste Pendel schneller ausschlägt,<br />
schließen sie daraus, dass – wie erwartet – schwere Gewichte<br />
schneller pendeln. Diese voreilige Schlussfolgerung spiegelt jedoch<br />
ihre unausgereifte Fähigkeit wider, systematisch zu denken<br />
<strong>und</strong> sich alle nur möglichen Kombinationen der Variablen<br />
vorzustellen; sie können sich offenbar nicht vorstellen, dass die<br />
schnellere Bewegung eher mit der Länge der Schnur oder der<br />
Höhe zusammenhängen könnte, aus der die Schnur losgelassen<br />
wurde, als mit dem Gewicht des Objekts.
Die Theorie von Piaget<br />
129 4<br />
..<br />
Abb. 4.7 Das Pendelproblem nach Inhelder <strong>und</strong> Piaget. Die Aufgabe<br />
besteht darin, die Bewegungen von Pendeln mit längeren <strong>und</strong> kürzeren<br />
Schnüren <strong>und</strong>/oder mit leichteren oder schwereren Gewichten zu vergleichen,<br />
um den Einfluss von Gewicht, Schnurlänge <strong>und</strong> Punkt des Loslassens<br />
auf die Zeit zu best<strong>im</strong>men, in der das Pendel einmal hin <strong>und</strong> her schwingt.<br />
Kinder unter zwölf Jahren führen meistens unsystematische Exper<strong>im</strong>ente<br />
durch <strong>und</strong> gelangen zu fehlerhaften Schlussfolgerungen<br />
Das formal-operationale Stadium<br />
(zwölf Jahre <strong>und</strong> älter)<br />
Das formal-operationale Denken, das die Fähigkeit zum abstrakten<br />
Denken <strong>und</strong> zum hypothetischen Schlussfolgern umfasst,<br />
bildet den Gipfel der Piaget’schen Stufenfolge. Der Unterschied<br />
zwischen der Denkweise dieses Stadiums <strong>und</strong> des vorherigen<br />
zeigt sich deutlich in der Herangehensweise von Jugendlichen <strong>im</strong><br />
formal-operationalen Stadium be<strong>im</strong> Pendelproblem. Indem sie<br />
das Problem abstrakter fassen als Kinder <strong>im</strong> konkret-operationalen<br />
Stadium, erkennen sie, dass jede dieser Variablen – Gewicht,<br />
Schnurlänge <strong>und</strong> Starthöhe – die Zeit beeinflussen könnte, in der<br />
das Pendel hin <strong>und</strong> her schwingt, <strong>und</strong> dass sie daher die Wirkung<br />
jeder Variable auf die Schwingungszeit systematisch prüfen müssen.<br />
Um die Wirkung des Gewichts zu prüfen, vergleichen sie die<br />
Pendelzeiten eines schwereren <strong>und</strong> eines leichteren Gewichts, die<br />
an Schnüren gleicher Länge hängen <strong>und</strong> aus gleicher Höhe losgelassen<br />
wurden. Um den Effekt der Schnurlänge zu prüfen, vergleichen<br />
sie die Pendelzeit einer kurzen <strong>und</strong> einer langen Schnur<br />
<strong>und</strong> halten Gewicht <strong>und</strong> Starthöhe konstant. Um den Einfluss der<br />
Höhe be<strong>im</strong> Loslassen einzuschätzen, variieren sie diese bei konstantem<br />
Gewicht <strong>und</strong> konstanter Schnurlänge. Eine solche systematische<br />
Versuchsreihe erlaubt dem formal-operational Denkenden<br />
zu erkennen, dass nur die Schnurlänge die Pendelzeit beeinflusst;<br />
das Gewicht <strong>und</strong> die Höhe des Startpunktes spielen keine Rolle.<br />
Piaget nahm an, dass dieses Stadium, anders als die drei vorangegangenen<br />
Stadien, nicht universell ist; nicht alle Jugendlichen<br />
(oder Erwachsenen) erreichen es. Bei denen jedoch, die<br />
es erreichen, erweitert <strong>und</strong> bereichert das formal-operationale<br />
Denken ihre intellektuelle Welt außerordentlich. Ein solches<br />
Denken ermöglicht es ihnen, die besondere Wirklichkeit, in der<br />
sie leben, als nur eine von einer unendlichen Vielzahl möglicher<br />
Realitäten aufzufassen. Diese Erkenntnis bringt sie dazu, sich<br />
Alternativen vorzustellen, wie die Welt beschaffen sein könnte,<br />
<strong>und</strong> tiefgehende Fragen zu erwägen, die Wahrheit, Gerechtigkeit<br />
<strong>und</strong> Moral betreffen. Zweifellos lässt sich so auch die Tatsache<br />
erklären, dass viele Menschen erst in ihrer Jugendzeit auf den<br />
Geschmack an Science-Fiction kommen. Die alternativen Welten,<br />
die in Science-Fiction-Romanen dargestellt sind, sprechen<br />
die sich herausbildende Fähigkeit der Jugendlichen an, sich die<br />
Welt als nur eine von vielen denkbaren Welten vorzustellen <strong>und</strong><br />
sich zu fragen, ob eine bessere Welt möglich wäre. Inhelder <strong>und</strong><br />
Piaget (1958, S. 340 f.) fanden treffende Worte für die intellektuelle<br />
Kraft, die das formal-operationale Denken Jugendlichen<br />
vermittelt: „Jeder besitzt seine eigenen Ideen (<strong>und</strong> glaubt meistens<br />
auch, dass es seine eigenen sind), die ihn von der Kindheit<br />
befreien <strong>und</strong> ihm erlauben, sich als gleichwertig mit Erwachsenen<br />
zu positionieren.“<br />
Wenn Jugendliche fähig werden, systematische, formal-operationale<br />
logische Schlussfolgerungen zu ziehen, <strong>im</strong>pliziert das<br />
noch nicht, dass sie <strong>im</strong>mer auf anspruchsvolle Weise dächten,<br />
aber es markiert nach Piaget den Zeitpunkt, zu dem Jugendliche<br />
das Denkpotenzial intelligenter Erwachsener erreichen. Wie Piagets<br />
Theorie zum Verbessern der Erziehung beitragen kann, wird<br />
in einigen Aspekten in ▶ Exkurs 4.1 diskutiert.<br />
Piagets Vermächtnis<br />
Obwohl große Teile von Piagets Theorie schon vor vielen Jahren<br />
formuliert wurden, bildet sie nach wie vor einen sehr einflussreichen<br />
Ansatz zur kognitiven Entwicklung. Einige ihrer Stärken<br />
wurden bereits angeführt. Sie bietet einen guten Überblick mit<br />
zahllosen faszinierenden Beobachtungen darüber, wie das Denken<br />
von Kindern zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entwicklung
130<br />
Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
1<br />
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4<br />
5<br />
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7<br />
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Exkurs 4.1: Anwendungen: Pädagogische Anwendungen von Piagets Theorie | |<br />
Piagets Sicht der kognitiven Entwicklung<br />
enthält eine Reihe allgemeiner Implikationen,<br />
wie man Kinder erziehen sollte (Case 1998;<br />
Piaget 1972). Ganz gr<strong>und</strong>sätzlich ist abzuleiten,<br />
dass die Art des kindlichen Denkens in den<br />
jeweiligen Altersstufen bei der Entscheidung<br />
der jeweiligen Unterrichtsformen berücksichtigt<br />
werden sollte. Beispielsweise sollte man<br />
von Kindern <strong>im</strong> konkret-operationalen Stadium<br />
nicht erwarten, dass sie rein abstrakte Begriffe<br />
wie „Trägheit“ oder „Gleichgewichtszustand“<br />
erlernen, während man das von Jugendlichen<br />
<strong>im</strong> formal-operationalen Stadium erwarten<br />
kann. Ein pädagogischer Ansatz, der solche<br />
allgemeinen altersbezogenen Unterschiede<br />
<strong>im</strong> kognitiven Niveau bei der Entscheidung<br />
berücksichtigt, wann welche Konzepte gelehrt<br />
werden sollten, wird oft als „kindzentrierter<br />
Ansatz“ bezeichnet.<br />
Eine zweite Implikation des Piaget’schen<br />
Ansatzes besteht darin, dass Kinder stets durch<br />
Interaktion mit der Umwelt lernen – geistig<br />
wie körperlich. Eine Studie zum Veranschaulichen<br />
dieses Prinzips befasste sich damit, das<br />
Verständnis des Geschwindigkeitsbegriffs<br />
zu fördern (Levin et al. 1990). Die Untersuchung<br />
konzentrierte sich auf Aufgaben, wie<br />
Physiklehrer sie besonders lieben: „Wenn sich<br />
ein Rennpferd auf einer kreisförmigen Bahn<br />
bewegt, bewegen sich seine linke <strong>und</strong> rechte<br />
Seite dann mit der gleichen Geschwindigkeit?“<br />
Offensichtlich scheint das der Fall zu sein, aber<br />
tatsächlich ist es anders: Der Teil des Pferdes,<br />
der nach außen gewandt ist, durchläuft bei<br />
seiner Bewegung r<strong>und</strong> um die Bahn in derselben<br />
Zeit einen etwas größeren Kreis als die<br />
nach innen gerichtete Seite <strong>und</strong> bewegt sich<br />
deshalb etwas schneller.<br />
Levin <strong>und</strong> ihre Kollegen entwarfen ein Verfahren,<br />
mit dessen Hilfe Kinder aktiv erfahren<br />
konnten, wie sich verschiedene Teile ein <strong>und</strong><br />
desselben Objekts mit unterschiedlicher<br />
Geschwindigkeit bewegen. Sie befestigten das<br />
eine Ende einer gut 2 m langen Metallstange<br />
an einer auf dem Boden montierten Drehachse.<br />
Dann gingen Sechstklässler einer nach<br />
dem anderen mit dem Forscher zusammen vier<br />
R<strong>und</strong>en <strong>im</strong> Kreis um die Drehachse <strong>und</strong> hielten<br />
dabei die Stange fest. Bei zwei dieser R<strong>und</strong>en<br />
ging das Kind dicht an der Achse, <strong>und</strong> der<br />
Forscher hielt die Stange am äußeren Ende; bei<br />
den beiden anderen R<strong>und</strong>en wechselten sie<br />
die Position (s. Abbildung). Nach jeder R<strong>und</strong>e<br />
wurden die Kinder gefragt, ob sie oder der<br />
Versuchsleiter schneller gegangen waren.<br />
Die Unterschiede in den Geschwindigkeiten,<br />
mit denen man innen <strong>und</strong> außen an der Stange<br />
geht, waren so drastisch, dass die Kinder ihre<br />
neue Erkenntnis auf andere Aufgaben übertragen<br />
konnten, bei denen Kreisbewegungen beteiligt<br />
sind, beispielsweise, wenn sich Autos auf<br />
dem Computerbildschirm <strong>im</strong> Kreis bewegen.<br />
Mit anderen Worten, die körperliche Erfahrung<br />
konnte vermitteln, was Jahre des formalen<br />
naturwissenschaftlichen Unterrichts nur selten<br />
schaffen. Ein Junge sagte: „Vorher hatte ich es<br />
nicht erlebt. Ich habe nie darüber nachgedacht.<br />
Jetzt habe ich diese Erfahrung gemacht<br />
<strong>und</strong> weiß: Um an der gleichen Stelle zu sein<br />
wie Sie, muss ich <strong>im</strong> äußeren Kreis schneller<br />
laufen“ (Levin et al. 1990). Ganz offensichtlich<br />
können relevante körperliche Aktivitäten in<br />
Verbindung mit Fragen, die die Aufmerksamkeit<br />
auf das richten, was die Aktivität uns lehrt,<br />
das Lernen der Kinder fördern.<br />
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22<br />
23<br />
beschaffen ist (. Tab. 4.2). Sie bietet eine plausible <strong>und</strong> attraktive<br />
Perspektive auf das Wesen des <strong>Kindes</strong>. Sie umfasst ein bemerkenswert<br />
breites Spektrum von Entwicklungsbereichen <strong>und</strong> behandelt<br />
die gesamte Altersspanne vom Säugling bis ins <strong>Jugendalter</strong>.<br />
Nachfolgende Analysen (Flavell 1971, 1982; Miller 2011) haben<br />
aber auch einige entscheidende Schwächen der Piaget’schen<br />
Theorie identifiziert. Besonders wichtig sind die folgenden vier<br />
Schwachpunkte:<br />
1. Das Stufenmodell stellt das Denken von Kindern konsistenter<br />
dar, als es ist: Nach Piaget zeigt das Denken von Kindern, sobald<br />
sie eine best<strong>im</strong>mte Stufe erreicht haben, die Eigenschaften<br />
dieser Stufe konsistent über diverse Konzepte hinweg.<br />
Spätere Forschungen ließen jedoch erkennen, dass das Denken<br />
von Kindern weit variabler ist, als dieses Bild nahelegt.<br />
Zum Beispiel sind die meisten Kinder mit sechs Jahren bei<br />
Aufgaben zur Erhaltung der Zahl erfolgreich, während die<br />
meisten Kinder Aufgaben zur Erhaltung fester Massen erst<br />
mit acht oder neun Jahren bewältigen (Field 1987). Piaget<br />
..<br />
Ein Kind <strong>und</strong> ein Erwachsener halten eine<br />
Stange fest <strong>und</strong> gehen viermal <strong>im</strong> Kreis herum.<br />
Bei den ersten beiden R<strong>und</strong>gängen hält das Kind<br />
die Stange nahe am Drehpunkt, bei den zweiten<br />
beiden R<strong>und</strong>en nahe am äußeren Ende. Das<br />
deutlich höhere Tempo, das man braucht, wenn<br />
man am äußeren Ende mit der Stange mithalten<br />
will, brachte Kinder zu der Erkenntnis, dass sich<br />
das Ende der Strange schneller bewegt als der zur<br />
Mitte gerichtete Teil. (Levin et al. 1990)<br />
erkannte, dass eine solche Variabilität besteht, hat sie jedoch<br />
unterschätzt <strong>und</strong> konnte sie auch nicht erfolgreich erklären.<br />
2. Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder sind kognitiv kompetenter, als Piaget<br />
dachte: Piaget gab Kindern relativ schwierige Verstehenstests<br />
vor. Das führte ihn dazu, die frühesten Konzepte, über<br />
die Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder bereits verfügen, zu übersehen.<br />
Beispielsweise durften die Kinder bei Piagets Test zur<br />
Objektpermanenz erst einige Sek<strong>und</strong>en nach dem Verstecken<br />
nach dem verborgenen Objekt greifen; Piaget behauptete,<br />
dass Kinder dies nicht vor ihrem achten oder neunten<br />
Lebensmonat tun. Allerdings zeigten alternative Tests zur<br />
Objektpermanenz, bei denen die Blickfixationen des <strong>Kindes</strong><br />
analysiert werden, nachdem das Objekt aus dem Sichtfeld<br />
verschw<strong>und</strong>en ist, dass Kinder bereits mit drei Monaten ein<br />
gewisses Verständnis der kontinuierlichen Existenz von Objekten<br />
besitzen (Baillargeon 1987, 1993).<br />
3. Piagets Theorie unterschätzt den Beitrag der sozialen Welt zur<br />
kognitiven Entwicklung: Piagets Theorie konzentriert sich da-
Die Theorie von Piaget<br />
131 4<br />
..<br />
Tab. 4.2 Piagets Stadien der kognitiven Entwicklung.<br />
Stadium Ungefähres Alter Neue Wege des Erkennens<br />
Sensomotorisch<br />
Präoperational<br />
Konkretoperational<br />
Formaloperational<br />
Geburt bis 2 Jahre<br />
Säuglinge erkennen die Welt<br />
mit ihren Sinnen <strong>und</strong> durch<br />
ihre Handlungen. Zum Beispiel<br />
lernen sie, wie H<strong>und</strong>e aussehen<br />
<strong>und</strong> wie es sich anfühlt, sie zu<br />
streicheln.<br />
2 bis 7 Jahre Bis zum Schulalter erwerben<br />
Kinder die Fähigkeit, die Welt<br />
durch Sprache <strong>und</strong> geistige Vorstellungen<br />
intern zu repräsentieren.<br />
Auch werden sie allmählich<br />
dazu fähig, die Welt aus der Perspektive<br />
anderer zu sehen <strong>und</strong><br />
nicht nur aus ihrer eigenen.<br />
7 bis 12 Jahre Die Kinder werden dazu fähig,<br />
logisch <strong>und</strong> nicht nur intuitiv zu<br />
denken. Sie können Objekte jetzt<br />
in zusammenhängende Klassen<br />
gruppieren <strong>und</strong> verstehen, dass<br />
Ereignisse häufig von mehreren<br />
Faktoren <strong>und</strong> nicht nur von<br />
einem beeinflusst werden.<br />
Ab 12 Jahre<br />
Jugendliche können systematisch<br />
denken <strong>und</strong> darüber<br />
spekulieren, was alternativ zum<br />
Bestehenden sein könnte. Das<br />
ermöglicht es ihnen, Politik,<br />
Ethik <strong>und</strong> Science-Fiction zu<br />
verstehen sowie wissenschaftlich-logisch<br />
zu denken.<br />
rauf, wie es Kindern gelingt, die Welt durch ihre eigenen Anstrengungen<br />
zu verstehen. Jedoch leben Kinder vom ersten<br />
Tag außerhalb des Mutterleibes an in einer sozialen Umwelt<br />
mit Erwachsenen <strong>und</strong> älteren Kindern, die ihre Entwicklung<br />
auf vielfältige Weise formen. Die kognitive Entwicklung eines<br />
<strong>Kindes</strong> spiegelt die Beiträge anderer Menschen <strong>und</strong> der Kultur<br />
<strong>im</strong> weiteren Sinne viel umfangreicher wider, als Piagets<br />
Theorie es zugesteht.<br />
4. Piagets Theorie bleibt unscharf hinsichtlich der kognitiven Prozesse,<br />
die das Denken des <strong>Kindes</strong> anstoßen, <strong>und</strong> der Mechanismen,<br />
die kognitives Wachstum hervorrufen: Piagets Theorie<br />
bietet zahllose exzellente Beschreibungen des kindlichen<br />
Denkens. Weit weniger klar <strong>und</strong> eindeutig ist die Theorie<br />
jedoch bei den Prozessen, die Kinder dahin führen, auf eine<br />
best<strong>im</strong>mte Weise zu denken, <strong>und</strong> Änderungen ihrer Denkweise<br />
hervorbringen. Ass<strong>im</strong>ilation, Akkommodation <strong>und</strong><br />
Äquilibration klingen plausibel, aber wie genau diese Prozesse<br />
funktionieren, ist alles andere als klar.<br />
Diese Schwächen in Piagets Theorie sollen die Größe seiner Leistung<br />
nicht schmälern: Seine Theorie bleibt eine der großen intellektuellen<br />
Leistungen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Man muss jedoch die<br />
Schwächen seiner Theorie ebenso beachten wie die Stärken, um<br />
zu verstehen, warum alternative Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
zunehmend an Bedeutung gewinnen.<br />
In den folgenden Abschnitten behandeln wir die drei prominentesten<br />
alternativen theoretischen Ansätze: den Informationsverarbeitungsansatz,<br />
die Theorien dynamischer Systeme <strong>und</strong><br />
die soziokulturelle Perspektive. Jeder dieser Theorietypen kann<br />
als Versuch gesehen werden, eine der zentralen Schwächen des<br />
Piaget’schen Ansatzes zu überwinden. Theorien der Informationsverarbeitung<br />
betonen präzise Beschreibungen der Prozesse,<br />
die für das Denken der Kinder verantwortlich sind, <strong>und</strong> der Mechanismen,<br />
die kognitives Wachstum hervorrufen. Soziokulturelle<br />
Theorien betonen die Wege, auf denen die Interaktionen<br />
der Kinder mit der sozialen Welt – zu der andere Menschen<br />
ebenso gehören wie die Produkte ihrer Kultur – die kognitive<br />
Entwicklung lenken. Theorien dynamischer Systeme betonen<br />
die Variabilität kindlichen Verhaltens <strong>und</strong> die Art, wie die sich<br />
entwickelnden körperlichen <strong>und</strong> geistigen Fähigkeiten sowie die<br />
Besonderheiten der Situation zu dieser Variabilität beitragen.<br />
In Kürze | |<br />
Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung betont die<br />
Interaktion zwischen Anlage <strong>und</strong> Umwelt, Kontinuität <strong>und</strong><br />
Diskontinuität sowie den aktiven Beitrag des <strong>Kindes</strong> zu seiner<br />
eigenen Entwicklung. Nach Piaget entstehen Kontinuitäten<br />
in der Entwicklung durch Ass<strong>im</strong>ilation, Akkommodation <strong>und</strong><br />
Äquilibration. Ass<strong>im</strong>ilation geht mit der Anpassung einlaufender<br />
Information einher, sodass sie ins aktuelle Vorverständnis<br />
passt. Akkommodation bezeichnet die Anpassung des eigenen<br />
Vorverständnisses an neue Erfahrungen, um Konsistenz<br />
(Widerspruchsfreiheit) des Denkens zu erreichen. Äquilibration<br />
ist die Balance zwischen Ass<strong>im</strong>ilation <strong>und</strong> Akkommodation<br />
in einer Weise, die ein stabiles Verstehen ermöglicht.<br />
Die Diskontinuitäten der Entwicklung, wie Piaget sie<br />
beschreibt, umfassen vier abgegrenzte Stufen: (1) das sensomotorische<br />
Stadium (Geburt bis zwei Jahre), in dem die<br />
Kinder beginnen, die Welt durch Sinneswahrnehmung <strong>und</strong><br />
motorische Aktivitäten zu begreifen; (2) das präoperationale<br />
Stadium (zwei bis sieben Jahre), in dem Kinder zu mentalen<br />
Repräsentationen fähig werden, jedoch noch dazu neigen,<br />
egozentrisch zu sein <strong>und</strong> sich bei einem Ereignis oder Problem<br />
auf eine einzige D<strong>im</strong>ension zu konzentrieren; (3) das<br />
konkret-operationale Stadium (sieben bis zwölf Jahre), in<br />
dem Kinder logisch über konkrete Aspekte ihrer Umwelt<br />
nachdenken können, aber be<strong>im</strong> abstrakten Denken noch<br />
Schwierigkeiten haben; <strong>und</strong> (4) das formal-operationale Stadium<br />
(ab zwölf Jahre), in dem Kinder vor <strong>und</strong> während der<br />
Pubertät die Fähigkeit zum abstrakten Denken erwerben.<br />
Zu den wichtigsten Stärken der Piaget’schen Theorie gehören<br />
ihr breiter Überblick über die Entwicklung, ihre plausible<br />
<strong>und</strong> attraktive Perspektive auf das Wesen des <strong>Kindes</strong>, ihr<br />
Einbezug verschiedener Aufgaben <strong>und</strong> Altersgruppen sowie<br />
unendlich viele faszinierende Beobachtungen. Zu den<br />
wichtigsten Schwächen gehören das Überschätzen der Konsistenz<br />
<strong>im</strong> Denken von Kindern, das Unterschätzen der kognitiven<br />
Kompetenz von Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern, die<br />
fehlende Beachtung des Beitrags der sozialen Umwelt sowie<br />
die Unschärfe hinsichtlich der kognitiven Mechanismen.
132<br />
Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
1<br />
2<br />
3<br />
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Theorien der Informationsverarbeitung<br />
Szene: Tochter <strong>und</strong> Vater sind <strong>im</strong> Garten. Eine Fre<strong>und</strong>in kommt<br />
mit dem Fahrrad angefahren.<br />
» Kind: Papa, schließt du mir bitte die Kellertür auf?<br />
Vater: Warum?<br />
Kind: Weil ich Rad fahren möchte.<br />
Vater: Dein Fahrrad ist in der Garage.<br />
Kind: Aber meine Socken sind <strong>im</strong> Trockner.<br />
(Klahr 1978, S. 181 f.)<br />
Welche gedanklichen Schlussfolgerungen könnten diesen rätselhaften<br />
Kommentar der Tochter „Aber meine Socken sind <strong>im</strong><br />
Trockner“ hervorgebracht haben? David Klahr, ein bekannter<br />
Informationsverarbeitungstheoretiker, formulierte das folgende<br />
Modell des Gedankenprozesses, der zu dieser Äußerung<br />
führte:<br />
Ziel: Ich will Rad fahren.<br />
Präferenz: Ich brauche Schuhe, um angenehm fahren zu können.<br />
Tatsache: Ich bin barfuß.<br />
Teilziel 1: Meine Turnschuhe holen.<br />
Tatsache: Die Turnschuhe sind <strong>im</strong> Garten.<br />
Tatsache: Sie tragen sich ohne Strümpfe nicht angenehm.<br />
Teilziel 2: Meine Socken holen.<br />
Tatsache: Die Sockenschublade war heute Morgen leer.<br />
Schluss: Wahrscheinlich sind die Socken <strong>im</strong> Trockner.<br />
Teilziel 3: Die Socken aus dem Trockner holen.<br />
Tatsache: Der Trockner ist <strong>im</strong> Keller.<br />
Teilziel 4: In den Keller gehen.<br />
Tatsache: Durch den Hofeingang geht es schneller.<br />
Tatsache: Der Hofeingang ist <strong>im</strong>mer verschlossen.<br />
Teilziel 5: Die Tür zum Keller öffnen.<br />
Tatsache: Väter haben Schlüssel für alles.<br />
Teilziel 6: Papa bitten, die Tür aufzuschließen.<br />
Klahrs Analyse des Denkens seiner Tochter zeigt mehrere bemerkenswerte<br />
Kennzeichen von Informationsverarbeitungstheorien<br />
1 . Eines davon ist die präzise Spezifizierung der am Denken<br />
der Kinder beteiligten Prozesse. Klahr verfolgte hier den Ansatz<br />
der Aufgabenanalyse.<br />
Informationsverarbeitungstheorien – Eine Klasse von Theorien, die die Informationsverarbeitung<br />
in den Mittelpunkt stellen, um die Struktur des kognitiven<br />
Systems <strong>und</strong> die mentalen Aktivitäten zu beschreiben, die Aufmerksamkeit <strong>und</strong><br />
Gedächtnis zum Problemlösen nutzen.<br />
Klahrs Ansatz wird als Aufgabenanalyse bezeichnet; damit ist<br />
die Identifikation der Ziele, der ihnen <strong>im</strong> Weg stehenden Hindernisse,<br />
der relevanten Umgebungsinformation <strong>und</strong> der poten-<br />
1 Hier <strong>und</strong> <strong>im</strong> weiteren Verlauf dieses Abschnitts verwenden wir den Ausdruck<br />
„Informationsverarbeitungstheorien“ <strong>im</strong> Plural <strong>und</strong> nicht <strong>im</strong> Singular,<br />
weil diese Theorien eine Vielzahl verwandter Ansätze umfassen <strong>und</strong> nicht<br />
die einheitlichen Vorstellungen eines einzelnen Theoretikers wie Piaget<br />
zum Ausdruck bringen. Aus demselben Gr<strong>und</strong> werden wir in den nachfolgenden<br />
Abschnitten von „soziokulturellen Theorien“ sprechen.<br />
ziellen Strategien zum Überwinden der Hindernisse <strong>und</strong> zum<br />
Erreichen des Zieles gemeint.<br />
Solche Aufgabenanalysen helfen Informationsverarbeitungsforschern,<br />
das Verhalten von Kindern zu verstehen <strong>und</strong><br />
vorherzusagen, <strong>und</strong> ermöglichen es, Hypothesen darüber,<br />
wie Entwicklung abläuft, exper<strong>im</strong>entell zu prüfen. In einigen<br />
Fällen bieten Aufgabenanalysen auch die Möglichkeit, Computers<strong>im</strong>ulationen<br />
zu programmieren, indem die Forscher<br />
ihre Annahmen über geistige Prozesse besonders eindeutig in<br />
Computers<strong>im</strong>ulationsmodellen formulieren. Zum Beispiel entwickelten<br />
S<strong>im</strong>on <strong>und</strong> Klahr (1995) S<strong>im</strong>ulationsmodelle zum<br />
Wissen <strong>und</strong> den geistigen Prozessen, die Kleinkinder bei Invarianzproblemen<br />
scheitern lassen, <strong>und</strong> entsprechend bei älteren<br />
Kindern zum fortgeschritteneren Wissen <strong>und</strong> den geistigen<br />
Prozessen, die älteren Kindern das Lösen dieser Aufgaben ermöglichen.<br />
Aufgabenanalyse – Eine Forschungstechnik, bei der für eine Aufgabe die Ziele,<br />
die relevante Umgebungsinformation <strong>und</strong> die möglichen Verarbeitungsstrategien<br />
identifiziert werden.<br />
Ein zweites kennzeichnendes Merkmal, das aus Klahrs Informationsverarbeitungsanalyse<br />
ersichtlich wird, ist die Betonung<br />
des Denkens als Aktivität mit zeitlichem Verlauf. Oft liegt dabei<br />
einem einfachen Verhalten wie dem von Klahrs Tochter geforderten<br />
Öffnen der Kellertür eine ausgedehnte Folge sehr schneller<br />
mentaler Operationen zugr<strong>und</strong>e. Die Analyse der Informationsverarbeitung<br />
spezifiziert, welche mentalen Operationen in<br />
welcher Reihenfolge ausgeführt werden <strong>und</strong> wie zunehmende<br />
Geschwindigkeit <strong>und</strong> Genauigkeit der mentalen Operationen zu<br />
kognitivem Wachstum führt.<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />
In der Sicht von Informationsverarbeitungstheoretikern durchlaufen<br />
Kinder kontinuierliche kognitive Veränderungen. Das<br />
kognitive Wachstum von Kindern wird als eine eher stetige<br />
Veränderung in gleichbleibenden Veränderungsschritten (Inkrementen)<br />
betrachtet <strong>und</strong> weniger als ein tiefgreifender <strong>und</strong><br />
abrupter Übergang. Diese Darstellung unterscheidet sich von<br />
Piagets Überzeugung, dass Kinder qualitativ unterscheidbare<br />
Stufen durchlaufen, die nur durch relativ kurze Übergangsphasen<br />
voneinander getrennt sind.<br />
Das Kind als Informationsverarbeitungssystem<br />
mit begrenzter Kapazität<br />
Be<strong>im</strong> Versuch, die Unterschiede kindlichen Denkens in verschiedenen<br />
Altersstufen zu verstehen, ziehen Informationsverarbeitungstheoretiker<br />
Vergleiche zwischen der Informationsverarbeitung<br />
von Computern <strong>und</strong> von Menschen. Die<br />
Informationsverarbeitung eines Computers ist durch seine Hardware<br />
(die physischen Bestandteile) <strong>und</strong> seine Software (die Programme)<br />
begrenzt. Die Hardware-Grenzen beziehen sich sowohl<br />
auf die Speicherkapazität des Computers als auch auf seine Leistungsfähigkeit<br />
be<strong>im</strong> Ausführen gr<strong>und</strong>legender Arbeitsschritte.<br />
Die Software-Grenzen beziehen sich auf die Strategien <strong>und</strong> die
Theorien der Informationsverarbeitung<br />
133 4<br />
Informationen, die für die jeweiligen Aufgaben zur Verfügung<br />
stehen. Menschliches Denken ist durch dieselben Faktoren begrenzt:<br />
Gedächtniskapazität, Schnelligkeit der Denkprozesse <strong>und</strong><br />
die Verfügbarkeit nützlicher Strategien <strong>und</strong> Wissensinhalte. Aus<br />
der Sicht der Informationsverarbeitung entsteht die kognitive<br />
Entwicklung dadurch, dass Kinder allmählich die Kapazitätsgrenzen<br />
ihres kognitiven Verarbeitungssystems überwinden,<br />
<strong>und</strong> zwar durch:<br />
1. Ausweitung des Informationsumfangs, den sie gleichzeitig<br />
verarbeiten können,<br />
2. <strong>im</strong>mer schnellere Ausführung der Denkprozesse,<br />
3. Erwerb neuer Strategien <strong>und</strong> neuen Wissens.<br />
Das Kind als Problemlöser<br />
Zentral für Informationsverarbeitungstheorien ist ferner die<br />
Annahme, dass Kinder aktive Problemlöser sind. Wie Klahrs<br />
Analyse des Verhaltens seiner Tochter erkennen lässt, gehören<br />
zum Problemlösen ein Ziel, das erreicht werden soll, <strong>und</strong> eine<br />
Strategie oder Regel, um Hindernisse auf dem Weg zum Ziel zu<br />
überwinden. Eine andere Beschreibung des Problemlösens bei<br />
einem jüngeren Kind zeigt dieselbe Kombination von Ziel, Hindernis<br />
<strong>und</strong> Strategie:<br />
» Georgie (zwei Jahre alt) will Steine aus dem Küchenfenster<br />
werfen. Draußen befindet sich der Rasenmäher. Papa sagt,<br />
dass Georgie keine Steine aus dem Fenster werfen darf, weil<br />
er mit den Steinen den Rasenmäher kaputt machen würde.<br />
Georgie sagt: „Ich hab eine Idee.“ Er geht nach draußen, bringt<br />
ein paar unreife Pfirsiche, mit denen er gespielt hatte, herein<br />
<strong>und</strong> sagt: „Die machen den Rasenmäher nicht kaputt.“ (Waters<br />
1989, S. 7)<br />
Neben der Illustration des Zusammenspiels von Ziel, Hindernis<br />
<strong>und</strong> Strategie bei der Mittel-Ziel-Analyse beleuchtet dieses Beispiel<br />
einen weiteren Gr<strong>und</strong>satz des Informationsverarbeitungsansatzes:<br />
Kognitive Flexibilität hilft Kindern be<strong>im</strong> Verfolgen ihrer<br />
Ziele. Das müssen nicht unbedingt die Ziele ihrer Eltern sein,<br />
aber der Erfindungsreichtum be<strong>im</strong> Überwinden von Hindernissen,<br />
die Eltern, die physikalische Umwelt <strong>und</strong> auch die eigenen<br />
Verarbeitungs- <strong>und</strong> Wissensgrenzen in den Weg stellen, ist bereits<br />
<strong>im</strong> Kleinkindalter bemerkenswert.<br />
Problemlösen – Der Prozess der Überführung eines Ausgangszustands in einen<br />
End- oder Zielzustand durch Anwenden einer Strategie, mit der ein Hindernis<br />
überw<strong>und</strong>en werden kann.<br />
Mittel-Ziel-Analyse – Aufteilung einer Zielhandlung in mehrere Teilschritte,<br />
die notwendigerweise aufeinander aufbauen.<br />
Zentrale Entwicklungsfragen<br />
Wie alle Theorien, die in diesem Kapitel beschrieben werden, untersuchen<br />
auch Informationsverarbeitungstheorien, wie Anlage<br />
<strong>und</strong> Umwelt als Motoren der Entwicklung zusammenwirken. Was<br />
Informationsverarbeitungstheorien auszeichnet, ist die präzise<br />
Beschreibung der Art <strong>und</strong> Weise, wie Veränderungen eintreten.<br />
Wie Theorien der Informationsverarbeitung die Fragen nach<br />
Anlage <strong>und</strong> Umwelt <strong>und</strong> das Wie der Veränderungen angehen,<br />
zeigt sich besonders deutlich daran, wie sie die Entwicklung von<br />
Gedächtnis <strong>und</strong> Problemlösen erklären.<br />
Die Entwicklung des Gedächtnisses<br />
Bei allem, was wir tun, ist das Gedächtnis von zentraler Bedeutung.<br />
Die Fertigkeiten, die wir be<strong>im</strong> Erledigen von Aufgaben einsetzen,<br />
die Sprache, derer wir uns be<strong>im</strong> Schreiben <strong>und</strong> Sprechen<br />
bedienen, die Emotionen, die wir bei best<strong>im</strong>mten Gelegenheiten<br />
empfinden – all dies hängt von unseren Erinnerungen an<br />
frühere Erfahrungen <strong>und</strong> an das bereits erworbene Wissen ab.<br />
Ohne Erinnerung an unsere Erfahrungen würden wir unsere<br />
Identität verlieren. Tatsächlich ist dieses niederschmetternde<br />
Syndrom bei Menschen mit best<strong>im</strong>mten Typen des Gedächtnisverlusts<br />
(Amnesie) zu beobachten (Reed <strong>und</strong> Squire 1998). Das<br />
Gedächtnis spielt in allen Entwicklungstheorien eine Rolle, aber<br />
bei den Informationsverarbeitungstheorien ist es zentral. Die<br />
meisten dieser Theorien unterscheiden dabei zwischen einem<br />
Arbeitsgedächtnis, einem Langzeitgedächtnis <strong>und</strong> einer exekutiven<br />
Funktion.<br />
Arbeitsgedächtnis<br />
Das Arbeitsgedächtnis (oft auch als „Kurzzeitgedächtnis“ bezeichnet)<br />
ist aktiv beteiligt, wenn wir Information mit Aufmerksamkeit<br />
beachten, speichern <strong>und</strong> verarbeiten. Wenn man beispielsweise<br />
ein Kind, nachdem es eine Geschichte über einen Vogel gelesen<br />
hat, danach fragt, so wird es interessante Informationen aus der<br />
Geschichte mit Schlussfolgerungen <strong>und</strong> Vorwissen verbinden <strong>und</strong><br />
all diese Informationen zu einer Antwort verarbeiten.<br />
Arbeitsgedächtnis (Kurzzeitgedächtnis) – Eine Art Werkstatt oder Pufferspeicher,<br />
in dem Informationen aus dem sensorischen <strong>und</strong> dem Langzeitgedächtnis<br />
zusammengeführt, beachtet <strong>und</strong> verarbeitet oder auch vergessen werden.<br />
Das Arbeitsgedächtnis ist sowohl in seiner Kapazität (der<br />
Menge an Information, die gespeichert werden kann) als auch<br />
in der Behaltensdauer begrenzt, über die hinweg Informationen<br />
ohne erneute Verarbeitung zur Aktualisierung zugreifbar bleibt.<br />
Beispielsweise kann ein Kind vielleicht eine Folge aus fünf Ziffern,<br />
aber nicht sechs ohne memorierendes Wiederholen 5–6 s<br />
behalten, nicht länger. Die Kapazität <strong>und</strong> Dauerhaftigkeit des<br />
Gedächtnisses variiert je nach Aufgabe <strong>und</strong> Art des verarbeiteten<br />
Informationsmaterials. Aber für eine best<strong>im</strong>mte Aufgabe,<br />
die auf eine best<strong>im</strong>mte Art gestellt wird, nehmen sowohl die<br />
Kapazität als auch die Geschwindigkeit der Verarbeitung mit<br />
zunehmendem Alter <strong>und</strong> wachsender Erfahrung zu (Schneider<br />
2011).<br />
Die gr<strong>und</strong>legende Organisation <strong>im</strong> Aufbau des Arbeitsgedächtnisses<br />
scheint von frühester Kindheit an konstant zu bleiben,<br />
aber seine Kapazität <strong>und</strong> Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />
wachsen <strong>im</strong> Lauf der Kindheit <strong>und</strong> Jugend stark an (Cowan<br />
et al. 1999; Gathercole et al. 2004). Diese Veränderungen werden<br />
teilweise auf das wachsende Wissen, mit dem das Gedächtnis<br />
operiert <strong>und</strong> teilweise auf die zunehmende Reifung des Gehirns<br />
zurückgeführt (Nelson et al. 2013; . Abb. 4.8).
134<br />
Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Präfrontaler Cortex<br />
(Stirnhirn)<br />
Frontallappen<br />
(Stirnlappen)<br />
Pr<strong>im</strong>ärer motorischer Cortex Parietallappen<br />
(Scheitellappen)<br />
Hippocampus<br />
..<br />
Abb. 4.8 Bei allen hier gezeigten<br />
größeren Bereichen des Gehirns<br />
geht die Reifung nach der Geburt<br />
weiter. Besonders lange braucht die<br />
Reifung des präfrontalen Cortex,<br />
der insbesondere bei der Planung,<br />
dem Unterdrücken von Handlungs<strong>im</strong>pulsen<br />
<strong>und</strong> dem Anpassen von<br />
Zielen an eine veränderte Situation<br />
beteiligt ist<br />
5<br />
Okzipitallappen<br />
(Hinterhauptlappen)<br />
6<br />
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20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Langzeitgedächtnis<br />
Temporallappen<br />
(Schläfenlappen)<br />
Im Unterschied zur kurzzeitigen Speicherung <strong>im</strong> Arbeitsgedächtnis<br />
enthält das Langzeitgedächtnis Wissen, das sich über<br />
die gesamte Lebenszeit eines Menschen angesammelt hat. Dazu<br />
gehört Faktenwissen (etwa wenn man die Hauptstädte verschiedener<br />
Länder kennt oder auch für die letzten fünf Jahre die<br />
Gewinner des Super-Bowl oder der B<strong>und</strong>esliga-Meisterschale<br />
nennen kann), Konzeptwissen (etwa bei Begriffen wie Gerechtigkeit,<br />
Dankbarkeit oder Gleichheit), Verfahrenswissen (etwa<br />
be<strong>im</strong> Zubinden von Schnürsenkeln oder Xbox-Spiel), Einstellungen<br />
(wie Vorlieben oder Ablehnung bei politischen Parteien<br />
oder auch Sardellen), Strategien be<strong>im</strong> schlussfolgernden Denken<br />
(etwa be<strong>im</strong> logischen Widerlegen von Argumenten) <strong>und</strong> so weiter.<br />
Das Langzeitgedächtnis kann man sich als die Gesamtheit<br />
des Wissens eines Menschen vorstellen, während man sich das<br />
Arbeitsgedächtnis als denjenigen Teil dieses Wissens veranschaulichen<br />
kann, der zu einem best<strong>im</strong>mten Zeitpunkt gerade verarbeitet<br />
wird (Cowan 2005; Ericsson <strong>und</strong> Kintsch 1995).<br />
Langzeitgedächtnis – Speicher von Informationen, die dauerhaft behalten<br />
werden.<br />
Im Gegensatz zum Arbeitsgedächtnis mit seinen engen Beschränkungen<br />
<strong>im</strong> Hinblick auf Kapazität <strong>und</strong> Verarbeitungsdauer<br />
kann das Langzeitgedächtnis Information praktisch in uneingeschränktem<br />
Umfang für unbegrenzte Zeit speichern. Hier ein<br />
bemerkenswertes Beispiel aus der Forschung: 50 Jahre nach dem<br />
Schulabschluss konnten sich Menschen, die Spanisch oder Algebra<br />
gelernt hatten, noch an einen beträchtlichen Teil des Stoffs<br />
erinnern, obwohl sie diese Informationen in der Zwischenzeit<br />
nicht gebraucht <strong>und</strong> eine enorme Menge anderer Fertigkeiten,<br />
Begriffe <strong>und</strong> Wissensinhalte <strong>im</strong> Langzeitgedächtnis angesammelt<br />
hatten (Bahrick 1987).<br />
Exekutive Funktion<br />
Exekutive Funktionen sind beteiligt, wenn wir unser Verhalten<br />
kognitiv steuern. Eine besonders wichtige Rolle spielt bei dieser<br />
Zerebellum (Kleinhirn)<br />
kognitiven Kontrolle der präfrontale Cortex. Drei gr<strong>und</strong>legende<br />
Arten exekutiver Funktionen sind die Hemmung von kontraproduktiven<br />
Handlungs<strong>im</strong>pulsen, die Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses<br />
durch Strategien wie das widerholende Memorieren<br />
von Telefonnummern, die ansonsten vergessen würden, <strong>und</strong> kognitive<br />
Flexibilität, etwa wenn man der Argumentation eines anderen<br />
folgt, ohne dessen Argumente zu übernehmen. Wie diese<br />
Beispiele andeuten, integrieren die exekutiven Funktionen die<br />
Informationen aus dem Arbeitsgedächtnis <strong>und</strong> dem Langzeitgedächtnis,<br />
um Ziele zu erreichen (z. B. Diamond 2013; Miyake<br />
<strong>und</strong> Friedman 2012; Rose et al. 2011).<br />
Die exekutiven Funktionen ermöglichen eine Kontrolle<br />
unseres Denkens <strong>und</strong> Handelns, d. h., jeder kann angemessen<br />
reagieren, statt unkontrolliert <strong>im</strong>pulsiv oder automatisch aus<br />
Gewohnheit zu handeln, <strong>und</strong> diese Funktionen entwickeln sich<br />
zunehmend <strong>im</strong> Kindergarten- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schulalter. Ein wichtiger<br />
Aspekt ist dabei die zunehmende kognitive Flexibilität be<strong>im</strong><br />
Verändern von Zielsetzungen. Wenn man Kindergartenkinder<br />
beispielsweise über längere Zeit hinweg auffordert, Spielzeuge<br />
nach deren Farben zu sortieren, <strong>und</strong> dann plötzlich verlangt,<br />
dass die Spielzeuge nach den Formen geordnet werden sollen,<br />
haben die meisten Dreijährigen Schwierigkeiten umzuschalten,<br />
während Fünfjährigen die Umstellung auf das neue Ziel leichtfällt<br />
(Baker et al. 2010; Zelazo et al. 2003).<br />
Die Fähigkeit, Verhaltensreaktionen zu stoppen, tritt etwas<br />
später auf <strong>und</strong> lässt sich in Kinderspielen wie S<strong>im</strong>on says, Kommando<br />
P<strong>im</strong>perle, oder Alle Vögel fliegen hoch! beobachten. Kindergartenkinder<br />
haben große Schwierigkeiten, bei ungültigen<br />
Kommandos, bei denen das entscheidende „S<strong>im</strong>on sagt“ fehlt,<br />
den Impuls zu bremsen, das Kommando gleich auszuführen. Im<br />
Gr<strong>und</strong>schulalter dagegen können die Kinder ihren Impuls, sofort<br />
zu handeln, besser zügeln (Dempster 1995; Diamond et al. 2002;<br />
Sabbagh et al. 2006). Die Strategien zur Kontrolle des Arbeitsgedächtnisses<br />
entwickeln sich meist etwas später, meist in den<br />
ersten Gr<strong>und</strong>schuljahren (Schneider 2011).<br />
Die Notwendigkeit einer starken exekutiven Funktion bleibt<br />
bekanntlich auch über die frühe Kindheit hinaus eine Herausfor-
Theorien der Informationsverarbeitung<br />
135 4<br />
derung. Auch für viele Jugendliche ist es nicht <strong>im</strong>mer leicht, der<br />
Versuchung zu widerstehen, Träumen nachzuhängen, statt Hausaufgaben<br />
zu machen, still zuzuhören, wenn der Lehrer spricht,<br />
oder respektlose Antworten seinen Eltern gegenüber zurückzuhalten<br />
(Bunge <strong>und</strong> Zelazo 2006; Munakata et al. 2011).<br />
Die Qualität der exekutiven Funktionen während der frühen<br />
Kindheit lässt als Prädiktor in hohem Maße wichtige Aspekte <strong>im</strong><br />
späteren Werdegang eines Menschen vorhersagen, beispielsweise<br />
was Schulabschluss, Studium, Einkommen <strong>und</strong> berufliche Stellung<br />
<strong>im</strong> Erwachsenenalter betrifft (Blair <strong>und</strong> Razza 2007; Mc-<br />
Clelland <strong>und</strong> Cameron 2012; Mischel <strong>und</strong> Ayduk 2011; Moffitt<br />
et al. 2011). Erfreulicherweise haben sich Förderprogramme für<br />
Kindergartenkinder, mit denen die exekutiven Funktionen trainiert<br />
werden können, als vielversprechend erwiesen (Diamond<br />
2013; Raver et al. 2011).<br />
In einer solchen Studie zur Förderung benachteiligter Vorschulkinder<br />
wurden zwei randomisierte Gruppen gebildet, die<br />
beide in eigenen Unterrichtsräumen ein Lernprogramm zur<br />
Förderung der exekutiven Funktionen durchliefen (Raver et al.<br />
2011). Die Intervention bestand darin, dass den Lehrern Strategien<br />
vorgegeben wurden, mit denen sie die Kinder bei der Impulskontrolle<br />
zur Unterdrückung störenden Verhaltens <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer<br />
unterstützen sollten – dazu gehörte es, klare Regeln<br />
vorzugeben <strong>und</strong> durchzusetzen, positives Verhalten zu belohnen<br />
<strong>und</strong> negatives in positive Richtungen zu lenken. Am Ende des<br />
Schuljahres zeigte die Intervention Verbesserungen <strong>im</strong> Verhalten<br />
der Kinder <strong>und</strong> in ihren Fähigkeiten zur Selbstkontrolle.<br />
Außerdem wirkte sich die Intervention in den drei folgenden<br />
Schuljahren bemerkenswert nachhaltig aus: Kinder der Interventionsgruppe<br />
erzielten bessere Leistungen in Rechnen <strong>und</strong> Lesen<br />
als die Kinder in der Kontrollgruppe (Raver et al. 2011).<br />
Erklärungen der Gedächtnisentwicklung<br />
Informationsverarbeitungstheoretiker wollen sowohl die Prozesse<br />
erklären, die das Gedächtnis in jedem Alter so gut machen,<br />
wie es jeweils ist, als auch die Beschränkungen, die es daran<br />
hindern, besser zu sein. Diese Bemühungen konzentrierten sich<br />
auf drei Fähigkeitsbereiche: Basisprozesse, Strategien <strong>und</strong> Inhaltswissen.<br />
Die einfachsten <strong>und</strong> am häufigsten eingesetzten geistigen<br />
Aktivitäten werden Basisprozesse genannt. Zu ihnen gehört<br />
das wechselseitige Assoziieren von Ereignissen, das Wiedererkennen<br />
von Objekten als vertraut, das Abrufen von Fakten <strong>und</strong><br />
Vorgehensweisen <strong>und</strong> das Verallgemeinern von einem Beispiel<br />
auf ein anderes. Ein weiterer Basisprozess, gr<strong>und</strong>legend für<br />
alle übrigen, ist das Encodieren, die Repräsentation spezieller<br />
Merkmale von Objekten <strong>und</strong> Ereignissen <strong>im</strong> Gedächtnis. Im<br />
Lauf der Entwicklung führen Kinder Basisprozesse <strong>im</strong>mer effizienter<br />
aus; das erweitert ihr Gedächtnis <strong>und</strong> ihre Lernleistung<br />
für Inhalte aller Art.<br />
Basisprozesse – Die einfachsten <strong>und</strong> am häufigsten eingesetzten geistigen<br />
Aktivitäten.<br />
Encodieren – Der Prozess, bei dem Information <strong>im</strong> Gedächtnis repräsentiert<br />
wird, die Aufmerksamkeit auf sich zieht oder als wichtig erachtet wird.<br />
Die meisten Basisprozesse sind allgemein bekannt <strong>und</strong> ihre Bedeutung<br />
liegt auf der Hand. Be<strong>im</strong> Encodieren ist es vermutlich<br />
jedoch nicht so klar. Um die Bedeutung des Encodierens zu<br />
verstehen, muss man etwas mehr über die Arbeitsweise des Gedächtnisses<br />
wissen. Häufig stellt man sich das Gedächtnis ähnlich<br />
wie eine originalgetreue Videoaufzeichnung des Erlebten vor. In<br />
Wahrheit ist das Erinnerungsvermögen jedoch weitaus selektiver.<br />
Menschen encodieren nur solche Informationen, die ihre<br />
Aufmerksamkeit erregen oder die sie für wichtig erachten. Das<br />
heißt, einen Großteil der Informationen encodieren sie nicht.<br />
An nicht encodierte Informationen kann man sich später jedoch<br />
nicht erinnern.<br />
Die Bedeutung des Encodierens für Lernen <strong>und</strong> Gedächtnis<br />
illustrieren Untersuchungen mit Kindern wie die zum Erlernen<br />
der Regeln, nach denen eine Balkenwaage funktioniert<br />
(. Abb. 4.5). Wie bereits erwähnt, sagen fast alle Fünfjährigen<br />
vorher, dass sich die Balkenwaage auf der Seite senken wird,<br />
auf der sich mehr Gewicht befindet – ungeachtet des Abstands<br />
der Gewichte vom Drehpunkt. Fünfjährige tun sich allgemein<br />
schwer be<strong>im</strong> Lernen diffizilerer Waage-Regeln, die beides, Abstand<br />
<strong>und</strong> Gewicht, berücksichtigen, weil sie die Information<br />
über den Abstand vom Drehpunkt noch nicht encodieren.<br />
Wenn man beispielsweise Fünfjährigen eine Balkenwaage mit<br />
verschiedenen Gewichtskonstellationen in den verschiedenen<br />
Abständen zeigt <strong>und</strong> sie anschließend auffordert, die jeweils<br />
gesehene Anordnung auf einer identischen Waage aus dem<br />
Gedächtnis zu rekonstruieren, so reproduzieren sie zwar die<br />
Gewichte auf jeder Seite richtig, legen diese aber nicht in den<br />
richtigen Abständen zum Drehpunkt auf (<strong>Siegler</strong> 1976). Weist<br />
man die Kinder jedoch darauf hin, den Abstand der Gewichte<br />
vom Drehpunkt <strong>im</strong> Gedächtnis zu behalten, können sie auch<br />
diffizilere Waage-Regeln erlernen, mit denen Gleichaltrige, denen<br />
das Encodieren nicht beigebracht wurde, Schwierigkeiten<br />
haben (<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Chen 1998).<br />
Ebenso wie die verbesserte Encodierung spielt auch eine erhöhte<br />
Verarbeitungsgeschwindigkeit bei der Lern- <strong>und</strong> Gedächtnisentwicklung<br />
eine Schlüsselrolle. Wie . Abb. 4.9 zeigt, erhöht<br />
sich die Verarbeitungsgeschwindigkeit am stärksten <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>alter,<br />
steigt aber auch während der Pubertät noch etwas an (Kail<br />
1991, 1997; Luna et al. 2004).<br />
Zwei biologische Prozesse tragen zur schnelleren Verarbeitung<br />
bei: die Myelinisierung <strong>und</strong> die zunehmenden Verbindungen<br />
zwischen den Gehirnregionen (Luna et al. 2004). Wie in ▶ Kap. 3<br />
dargestellt, werden von der pränatalen Phase an durch Kindheit<br />
<strong>und</strong> Jugend hindurch <strong>im</strong>mer mehr Axone von Neuronen mit Myelin<br />
ummantelt, einer fetthaltigen, isolierenden Substanz, die eine<br />
schnellere <strong>und</strong> zuverlässigere Übermittlung elektrischer Impulse<br />
<strong>im</strong> Gehirn fördert (Paus 2010). Die Myelinisierung verbessert die<br />
exekutiven Funktionen <strong>und</strong> trägt so zur Erhöhung der Fähigkeit<br />
bei, Ablenkungen zu widerstehen (Dempster <strong>und</strong> Corkill 1999;<br />
Wilson <strong>und</strong> Kipp 1998). Wachsende Verbindungen zwischen den<br />
Gehirnregionen erhöhen auch die Verarbeitungskapazität <strong>und</strong><br />
-geschwindigkeit, indem sie die Effizienz der Kommunikation<br />
von Gehirnregionen untereinander erhöhen (Thatcher 1992).<br />
Dieser Zuwachs an neuronaler Konnektivität erfolgt insbesondere<br />
in der späteren Kindheit <strong>und</strong> der Pubertät.
136<br />
Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
1<br />
2<br />
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4<br />
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17<br />
Mit dem Alter <strong>und</strong> den Erfahrungen wächst bei den Kindern<br />
das Inhaltswissen in fast allen Bereichen. Ihr umfangreicheres<br />
Wissen verbessert das Gedächtnis für neues Material, indem es<br />
die Verknüpfung des neuen Materials mit bereits vorhandenen<br />
Kenntnissen erleichtert (Pressley <strong>und</strong> Hilden 2006). Wie bedeutsam<br />
das Inhaltswissen für das Gedächtnis ist, zeigt sich daran,<br />
dass Kinder, wenn sie über ein Thema mehr wissen als Erwachsene,<br />
oft auch ein besseres Gedächtnis für neue Informationen zu<br />
diesem Thema haben als Erwachsene. Wenn Kinder <strong>und</strong> Erwacha<br />
..<br />
Abb. 4.9 Altersabhängige Steigerung der Verarbeitungsgeschwindigkeit bei zwei Aufgaben. Man beachte, dass die Steigerung in den frühen Jahren schnell<br />
<strong>und</strong> danach gemäßigter erfolgt. Man beachte ebenfalls: Niedrigere Skalenwerte zeigen schnellere Verarbeitungsprozesse an. (Daten aus Kail 1991)<br />
Theorien der Informationsverarbeitung verweisen auf den<br />
Erwerb <strong>und</strong> den Ausbau von Strategien als weitere wichtige<br />
Quelle der Entwicklung von Lernen <strong>und</strong> Gedächtnis. Eine Reihe<br />
dieser Strategien entsteht zwischen dem fünften <strong>und</strong> achten Lebensjahr,<br />
darunter die Strategie des Rehearsal, des ständigen<br />
Wiederholens oder Memorierens von Informationen, die man<br />
sich einprägen will. Der folgende Zeitungsausschnitt zeigt die<br />
Nützlichkeit des Memorierens für die wortwörtliche Erinnerung:<br />
» Ein 9-jähriger Junge merkte sich das Autokennzeichen eines<br />
Fluchtfahrzeugs nach einem bewaffneten Überfall; so wurde<br />
einem Gericht am Montag mitgeteilt. […] Der Junge <strong>und</strong> sein<br />
Fre<strong>und</strong> […] schauten in das Schaufenster eines Drogeriemarktes<br />
<strong>und</strong> sahen, wie ein Mann einen 14-jährigen Kassierer am<br />
Hals packte. […] Nach dem Raubüberfall wiederholten die Jungen<br />
das Kennzeichen <strong>im</strong> Geiste, bis sie es der Polizei mitteilten<br />
(Edmonton Journal vom 13. Januar 1981, zit. nach Kail 1984).<br />
Wenn die Jungen <strong>im</strong> Alter von fünf Jahren Zeugen desselben<br />
Ereignisses geworden wären, hätten sie die Buchstaben <strong>und</strong> Ziffern<br />
wahrscheinlich nicht memoriert <strong>und</strong> das Autokennzeichen<br />
wieder vergessen, bevor die Polizei kam.<br />
b<br />
viel Aufmerksamkeit auf die Objekte beider Kategorien, was ihr<br />
Gedächtnis für die Objekte, die sie sich merken sollen, verringert<br />
(DeMarie-Dreblow <strong>und</strong> Miller 1988).<br />
Selektive Aufmerksamkeit – Der Prozess der intendierten Konzentration auf<br />
die Information, die für das aktuelle Ziel am relevantesten ist.<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Rehearsal – Der Prozess der andauernden Wiederholung von Information als<br />
Gedächtnisstütze.<br />
Eine weitere, breit einsetzbare Gedächtnisstrategie, die <strong>im</strong><br />
Gr<strong>und</strong>schulalter zunehmend auftritt, ist die selektive Aufmerksamkeit,<br />
der Prozess der willentlichen Konzentration auf die<br />
Information, die für das gegenwärtige Ziel am wichtigsten ist.<br />
Wenn man Sieben- <strong>und</strong> Achtjährigen Gegenstände zweier verschiedener<br />
Kategorien zeigt (z. B. mehrere Spielzeugtiere <strong>und</strong><br />
mehrere Haushaltsgegenstände) <strong>und</strong> ihnen sagt, dass sie sich später<br />
nur an die Objekte in einer der beiden Kategorien zu erinnern<br />
brauchen (z. B. „Ihr braucht euch nur an die Tiere zu erinnern“),<br />
dann richten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Objekte der angekündigten<br />
Kategorie <strong>und</strong> erinnern sich an mehr Objekte. Unter<br />
derselben Instruktion richten dagegen Vierjährige etwa gleich<br />
..<br />
Durch wiederholte Arztbesuche <strong>und</strong> andere Erfahrungen, die mehr oder<br />
weniger festgelegte Abläufe aufweisen, bilden Kinder Skripte, mit deren Hilfe<br />
sie wissen können, was sie zukünftig erwarten können. (© Marcin Sadlowski/<br />
fotolia.com)
Theorien der Informationsverarbeitung<br />
137 4<br />
sene zum Beispiel neue Informationen über Kindersendungen<br />
<strong>im</strong> Fernsehen oder Kinderbüchern aufnehmen, dann merken<br />
sich Kinder <strong>im</strong> Allgemeinen mehr davon als die Erwachsenen<br />
(Lindberg 1980, 1991). In ähnlicher Weise lernen Kinder, die viel<br />
über Fußball wissen, be<strong>im</strong> Lesen neuer Fußballberichte mehr als<br />
andere Kinder, die sowohl älter sind als auch höhere Intelligenzwerte<br />
aufweisen, aber über weniger Fußballkenntnisse verfügen<br />
(Schneider et al. 1989).<br />
Inhaltliches Vorwissen verbessert das Gedächtnis für neue<br />
Informationen auf mehreren unterschiedlichen Wegen. Einer<br />
davon ist besseres Encodieren. Bei Gedächtnistests zu verschiedenen<br />
Spielstellungen von Schachfiguren auf einem Schachbrett<br />
erinnern sich Kinder, die dieses Spiel beherrschen, an wesentlich<br />
mehr Positionen der Figuren als Schachanfänger <strong>im</strong> Erwachsenenalter,<br />
weil sie aufgr<strong>und</strong> ihres größeren Expertenwissens die<br />
Information auf unterschiedlichem Niveau gebündelt encodieren,<br />
indem sie die Spielkonfiguration mehrerer Figuren in ihren<br />
Beziehungen zueinander encodieren, statt sich die Position jeder<br />
einzelnen Figur einzeln zu merken (Chi <strong>und</strong> Ceci 1987). Wissen<br />
verbessert das Gedächtnis auch dadurch, dass es nützliche Assoziationen<br />
bereitstellt. Ein Kind, das viel von Vögeln versteht,<br />
weiß, dass Schnabelform <strong>und</strong> bevorzugte Nahrung zusammenhängen;<br />
erinnert es sich an das eine, verbessert dies zugleich die<br />
Erinnerung an das andere (Johnson <strong>und</strong> Mervis 1994). Schließlich<br />
verweist Wissen auch darauf, was möglich ist <strong>und</strong> was nicht,<br />
<strong>und</strong> leitet das Gedächtnis daher in nützliche Richtungen. Bittet<br />
man beispielsweise Menschen, die mit dem Baseballspiel vertraut<br />
sind, sich an einen best<strong>im</strong>mten Durchgang (Inning) eines Spieles<br />
zu erinnern, das sie mitverfolgt haben, <strong>und</strong> sie können sich nur<br />
an zwei ausgeschiedene Spieler in diesem Inning erinnern, so<br />
sind sich diese Experten darüber <strong>im</strong> Klaren, dass es ein drittes<br />
Out gegeben haben muss, <strong>und</strong> werden ihr Gedächtnis danach<br />
durchsuchen, während Novizen ohne Baseballkenntnisse nicht<br />
darauf kommen (Spilich et al. 1979).<br />
Die Entwicklung des Problemlösens<br />
Wie erwähnt, beschreiben Informationsverarbeitungstheorien<br />
Kinder als aktive Problemlöser, denen es durch Anwenden von<br />
Strategien häufig gelingt, die Grenzen ihres Wissens <strong>und</strong> der<br />
Verarbeitungskapazität zu überschreiten. In diesem Abschnitt<br />
stellen wir eine Informationsverarbeitungsperspektive auf die<br />
Entwicklung des Problemlösens <strong>im</strong> Allgemeinen vor – den Ansatz<br />
überlappender Wellen – <strong>und</strong> untersuchen zwei besonders<br />
wichtige Problemlösungsprozesse: das Planen <strong>und</strong> das analoge<br />
Schlussfolgern. Nach Piagets Theorie nutzen Kinder eines best<strong>im</strong>mten<br />
Alters eine best<strong>im</strong>mte Strategie, um verschiedene Arten<br />
von Problemen zu lösen. Aus dieser Sicht lösen Fünfjährige<br />
die Aufgabe zur Zahlinvarianz (. Abb. 4.6), indem sie längere<br />
Reihen von Gegenständen wählen, während Siebenjährige die<br />
Lösung desselben Problems finden, indem sie schlussfolgern,<br />
dass die Anzahl der Gegenstände dieselbe geblieben sein muss,<br />
weil nichts hinzugefügt oder abgezogen wurde. Dagegen nutzen<br />
Kinder nach der Theorie der überlappenden Wellen eine Vielzahl<br />
von Herangehensweisen für die Lösung dieses <strong>und</strong> anderer<br />
Probleme (<strong>Siegler</strong> 1995). Untersucht man zum Beispiel die Denkweise<br />
von Fünfjährigen bei mehrfachen Versuchsdurchgängen<br />
bei der Zahlinvarianzaufgabe, so findet man, dass die meisten<br />
Kinder mindestens drei verschiedene Strategien einsetzen (<strong>Siegler</strong><br />
1995). Dasselbe Kind, das in einem Versuchsdurchgang den<br />
falschen Schluss zieht, die längere Reihe müsse mehr Objekte<br />
enthalten, schließt in anderen Versuchsdurchgängen richtig, dass<br />
ein bloßes Auseinanderziehen der Reihe die Anzahl der Objekte<br />
nicht ändert, <strong>und</strong> in wieder anderen Versuchsdurchgängen zählt<br />
es die Objekte in den beiden Reihen vielleicht durch, um herauszufinden,<br />
in welcher mehr davon sind.<br />
Theorien überlappender Wellen – Ein Informationsverarbeitungsansatz, der<br />
die Variabilität kindlichen Denkens bei der Anwendung verschiedener Strategien<br />
des Problemlösens betont.<br />
. Abbildung 4.10 stellt das typische Entwicklungsmuster dar, wie<br />
es der Ansatz überlappender Wellen entwirft, wobei Strategie 1<br />
die einfachste Strategie ist <strong>und</strong> Strategie 5 die anspruchsvollste.<br />
In dem jüngsten Alter, das in der Abbildung dargestellt ist, verwenden<br />
die Kinder meistens Strategie 1, manchmal aber auch<br />
Strategie 2 oder Strategie 4. Mit zunehmendem Alter <strong>und</strong> wachsender<br />
Erfahrung herrschen <strong>im</strong>mer mehr diejenigen Strategien<br />
vor, die zu erfolgreicheren Leistungen führen; auch neue Strategien<br />
werden entwickelt <strong>und</strong>, falls sie sich <strong>im</strong> Vergleich zu schon<br />
bestehenden Ansätzen als effektiver erweisen, <strong>im</strong>mer häufiger<br />
eingesetzt. . Abbildung 4.10 zeigt für den mittleren Altersbereich,<br />
dass die Kinder zu dem anfänglichen Inventar die Strategien 3<br />
<strong>und</strong> 5 hinzugefügt haben, während sie Strategie 1 fast gar nicht<br />
mehr einsetzen.<br />
Dieses Modell hat sich in einer Vielzahl von Kontexten als<br />
eine genaue Charakterisierung kindlichen Problemlösens erwiesen.<br />
Zu den Bereichen, in denen einzelne Kinder mehrere<br />
Strategien zur Lösung eines vorgegebenen Problems nutzen,<br />
gehören Kopfrechnen, Zeitangaben, Lesen, Buchstabieren, wissenschaftliches<br />
Exper<strong>im</strong>entieren, biologisches Verständnis, der<br />
Gebrauch von Hilfsmitteln <strong>und</strong> der Gedächtnisabruf (Chen <strong>und</strong><br />
<strong>Siegler</strong> 2000; Kuhn <strong>und</strong> Franklin 2006; Lee <strong>und</strong> Karmiloff-Smith<br />
2002; Miller <strong>und</strong> Coyle 1999). Die Modelle überlappender Wellen<br />
spezifizieren verschiedene Entwicklungswege, auf denen sich<br />
das Problemlösen verbessert. Kinder entdecken neue Strategien,<br />
die sich effizienter anwenden lassen als ihre Vorgänger, sie perfektionieren<br />
die Effizienz bei der Anwendung beider Strategien,<br />
<strong>und</strong> sie lernen, für ein Problem die jeweils geeignetste Strategie<br />
auszuwählen (Miller <strong>und</strong> Coyle 1999; <strong>Siegler</strong> 2006).<br />
Alle diese Ursprünge kognitiven Wachstums zeigen sich<br />
deutlich be<strong>im</strong> Erlernen der Addition. Im Kindergarten <strong>und</strong> in<br />
den ersten Gr<strong>und</strong>schuljahren verbessert sich das Wissen der Kinder<br />
über das Zusammenzählen einstelliger Zahlen enorm. Die<br />
Kinder entdecken neue Strategien wie das Weiterzählen (etwa<br />
bei der Lösung von 2 + 9, indem sie <strong>im</strong> Kopf zwei Zahlen weiter<br />
zählen, „9, 10, 11“). Eine weitere Ursache der Verbesserung liegt<br />
darin, dass alle bekannten Strategien schneller <strong>und</strong> genauer angewandt<br />
werden (z. B. Abruf der Antwort aus dem Gedächtnis,<br />
Aufwärtszählen von eins ausgehend oder Weiterzählen). Eine<br />
vierte Ursache der Verbesserung beruht darauf, dass die Wahl<br />
der Strategie zunehmend adaptiv ist (z. B. wählen die Kinder das<br />
Weiterzählen nun besonders häufig bei sehr unterschiedlichen<br />
Summanden wie 2 + 9, während sie bei großen Summanden wie<br />
7 + 8 von einer der Zahlen aus weiterzählen, weil es bei diesen
138<br />
Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
1<br />
2<br />
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4<br />
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..<br />
Abb. 4.10 Das Modell überlappender<br />
Wellen. Das Modell<br />
überlappender Wellen n<strong>im</strong>mt an,<br />
dass Kinder in jedem Alter be<strong>im</strong><br />
Problemlösen verschiedene Strategien<br />
anwenden, dass sie sich mit<br />
zunehmendem Alter <strong>und</strong> wachsender<br />
Erfahrung <strong>im</strong>mer häufiger<br />
auf anspruchsvollere Strategien<br />
verlassen (in der Abbildung mit höheren<br />
Ziffern bezeichnet) <strong>und</strong> dass<br />
Entwicklung Veränderungen bei der<br />
Anwendung bestehender Strategien<br />
sowie das Entdecken neuer Ansätze<br />
umfasst<br />
7<br />
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Exkurs 4.2: Anwendungen: Pädagogische Anwendungen von Informationsverarbeitungstheorien | |<br />
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Was Kinder über Zahlen wissen, wenn sie in<br />
den Kindergarten kommen, ist ein wichtiger<br />
Hinweis auf die mathematischen Leistungen,<br />
die sie Jahre später in der Gr<strong>und</strong>schule, in der<br />
Sek<strong>und</strong>arstufe <strong>und</strong> sogar an der Hochschule<br />
erreichen (Duncan et al. 2007; Stevenson <strong>und</strong><br />
Newman 1986). Es ist besonders bedauerlich,<br />
dass Kindergartenkinder aus geringverdienenden<br />
Familien Gleichaltrigen aus Familien<br />
mit mittlerem Einkommen in vieler Hinsicht<br />
weit hinterherhinken: be<strong>im</strong> Zählen, Ziffernerkennen,<br />
Kopfrechnen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Wissen über<br />
numerische Größen (z. B. dass 7 weniger ist als<br />
9 <strong>und</strong> dass beide in der Ziffernreihe näher bei<br />
10 liegen als bei 0).<br />
Worauf mögen diese frühen Unterschiede<br />
<strong>im</strong> numerischen Wissen von Kindern mit<br />
unterschiedlichem sozioökonomischem<br />
Hintergr<strong>und</strong> beruhen? Eine Informationsverarbeitungsanalyse<br />
ließ vermuten, dass Erfahrung<br />
mit Zahlen von Bedeutung sein könnte, besonders<br />
Spielerfahrungen mit Kinderbrettspielen,<br />
deren Felder nummeriert sind <strong>und</strong> auf denen<br />
die Figuren in vielen Spielr<strong>und</strong>en vorwärts<br />
oder rückwärts bewegt werden, bisweilen<br />
über 100 durchnummerierte Felder wie be<strong>im</strong><br />
in den USA beliebten Chutes and Ladders. Je<br />
höher die Nummer des Spielfeldes, auf das ein<br />
Kind seine Figur vorrücken kann, desto mehr<br />
Zahlennamen wird das Kind wahrscheinlich<br />
während des Spieles ausgesprochen <strong>und</strong> gehört<br />
haben. Und je weiter es seine Figur zwischen<br />
Start <strong>und</strong> Ziel bewegt hat, desto länger<br />
ist die Spielzeit <strong>und</strong> desto größer die Anzahl<br />
einzelner Spielzüge, in denen es die Zahlen<br />
lernt. Die verbalen, räumlichen, zeitlichen<br />
<strong>und</strong> kinästhetischen Hinweisreize vermitteln<br />
eine breite multisensorische Gr<strong>und</strong>lage zum<br />
Umgang mit Zahlen – einen Wissensbereich,<br />
der eng mit Testergebnissen über mathematische<br />
Leistungen zusammenhängt (Booth <strong>und</strong><br />
<strong>Siegler</strong> 2006, 2008; Geary 2011).<br />
Ramani <strong>und</strong> <strong>Siegler</strong> (2008) wandten diese<br />
Informationsverarbeitungsanalyse an, um<br />
die Wirkung des Kinderbrettspieles auf das<br />
Zahlenverständnis von Vorschülern aus<br />
geringverdienenden Familien zu untersuchen.<br />
Die Forscher verteilten Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige<br />
aus geringverdienenden Familien nach dem<br />
Zufallsprinzip auf eine Exper<strong>im</strong>entalgruppe<br />
unter Zahlenbrett-Bedingung <strong>und</strong> eine<br />
Kontrollgruppe unter Farbenbrett-Bedingung.<br />
Die Zahlenbrett-Bedingung war praktisch<br />
identisch mit der ersten Reihe des Chutes and<br />
Ladders-Spielbrettes; das Spielbrett bestand<br />
aus zehn fortlaufend von links nach rechts<br />
durchnummerierten Feldern. Die Anzahl der<br />
Felder, um die eine Figur vorrücken durfte,<br />
wurde mithilfe eines drehbaren Pfeiles auf<br />
einem Zahlenrad ermittelt, dessen Felder eine<br />
1 oder eine 2 zeigten. Wenn der Pfeil auf dem<br />
Zahlenrad bei einer 1 oder 2 stehen blieb,<br />
schoben die Kinder ihre Figur ein oder zwei<br />
Felder weiter, wobei sie die Zahl auf jedem<br />
Spielfeld nannten. Stand zum Beispiel die<br />
Figur eines <strong>Kindes</strong> auf dem Feld mit der 4 <strong>und</strong><br />
es bekam eine 2, sagte es bei seinem Zug „5,<br />
6“ <strong>und</strong> bewegte die Figur von der 4 auf die 6.<br />
Unter der Farbenbrett-Bedingung spielten die<br />
Kinder dasselbe Spiel, nur zeigte ihr Spielbrett<br />
keine Zahlen, <strong>und</strong> die Spieler nannten die<br />
Farben jedes Feldes, wenn sie ihre Figur<br />
vorwärts zogen. Bei beiden Gruppen wurden<br />
die Kinder einem Vortest unterzogen, der ihr<br />
Wissen über Zahlen vor Spielbeginn ermittelte,<br />
<strong>und</strong> alle spielten das Spiel dann innerhalb von<br />
zwei Wochen in vier Viertelst<strong>und</strong>ensitzungen.<br />
Am Ende der vierten Sitzung testete man das<br />
numerische Wissen der Kinder erneut, <strong>und</strong><br />
neun Wochen später wurden sie in einem mit<br />
Vor- <strong>und</strong> Nachtest identischen Follow-up-Test<br />
noch einmal nachuntersucht.<br />
Im Nachtest zeigten Kinder, die das Zahlenbrettspiel<br />
gespielt hatten, bei allen vier<br />
numerischen Aufgaben – Zählen, Ziffernlesen,<br />
Größenvergleichen (was ist größer, 8 oder 3?)<br />
<strong>und</strong> Schätzungen der Platzierung von Zahlen<br />
in einer Ziffernreihe – ein verbessertes Wissen.<br />
Neun Wochen später bestand der Wissenszuwachs<br />
signifikant fort. Im Unterschied<br />
dazu zeigten die Kontrollgruppenkinder,<br />
die das Farbenbrettspiel gespielt hatten, in<br />
keiner Aufgabe zum numerischen Wissen<br />
einen Fortschritt. Darüber hinaus korrelierten<br />
die Angaben der Kinder zur Häufigkeit des<br />
Brettspielens zu Hause positiv mit ihrem ursprünglichen<br />
Wissen in allen vier numerischen<br />
Aufgaben. Kinder aus Familien mit mittlerem<br />
Einkommen berichteten viel häufiger vom<br />
Spielen mit numerischen Spielbrettern (nicht<br />
aber mit Video- oder Computerspielen) als<br />
die Kinder aus Familien mit geringerem<br />
Einkommen.<br />
Wie eine Folgestudie (<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Ramani<br />
2009) zeigte, verbessert das Spielen mit dem<br />
Eins-bis-zehn-Brett auch die Fähigkeit von<br />
Vorschülern, Rechenaufgaben wie 2 + 4 = 6<br />
zu lösen. Alles in allem lassen diese Belege<br />
vermuten, dass Zahlenbrettspiele ein schnelles,<br />
effektives <strong>und</strong> kostengünstiges Mittel zur<br />
Verbesserung des numerischen Wissens von<br />
Kindern aus Familien mit geringerem Einkommen<br />
sind, bereits bevor sie in die Schule<br />
kommen.
Theorien der Informationsverarbeitung<br />
139 4<br />
..<br />
Der übergroße Opt<strong>im</strong>ismus kleiner Kinder verführt<br />
sie manchmal zu gefährlichen Aktionen. In diesem<br />
Fall hat der Plan funktioniert, aber solche riskanten<br />
Pläne können auch schiefgehen. (© Jodie Plumert; mit<br />
fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Zahlen für sie schwierig wird, andere schon bekannte Strategien<br />
anzuwenden) (Geary 2006; <strong>Siegler</strong> 1987; <strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Jenkins<br />
1989). ▶ Exkurs 4.2 illustriert, wie sich dieser Fokus auf die Strategienentwicklung<br />
pädagogisch nutzen lässt.<br />
Problemlösen ist häufig erfolgreicher, wenn man plant, bevor<br />
man handelt. Kinder profitieren beispielsweise vom Planen, wenn<br />
sie sich vorab klarmachen, wie sie zum Haus eines Fre<strong>und</strong>es gelangen<br />
oder wie sie mit den Eltern klarkommen oder auch wie sie<br />
schlechten Nachrichten die Spitze nehmen <strong>und</strong> möglichst keinen<br />
Ärger bei den Adressaten auslösen (Hudson et al. 1997). Ungeachtet<br />
der Vorteile des Planens gelingt es vielen jüngeren Kindern<br />
nicht, in Situationen zu planen, in denen dies die Problemlösung<br />
unterstützen würde (Berg et al. 1997). Die Frage ist, warum.<br />
Ein Gr<strong>und</strong>, weshalb Planung für jüngere Kinder schwierig<br />
ist, scheint nach Analyse der Informationsverarbeitungsanforderungen<br />
des Planens darin zu liegen, dass der Wunsch, das<br />
Problem auf der Stelle zu lösen, unterdrückt werden müsste,<br />
um zuerst die bestmögliche Strategie aufzustellen. Ein bekanntes<br />
Beispiel ist das sofortige Ausfüllen eines Arbeitsblatts ohne<br />
vorherige Planung dessen, was hineingeschrieben werden soll.<br />
Ein zweiter Gr<strong>und</strong> dafür, dass es Kleinkindern so schwerfällt<br />
zu planen, besteht darin, dass sie zu übertriebenem Opt<strong>im</strong>ismus<br />
hinsichtlich ihrer Fähigkeiten neigen <strong>und</strong> denken, dass<br />
sie Probleme effektiver lösen können, als es ihnen tatsächlich<br />
möglich ist (Bjorkl<strong>und</strong> 1997; Schneider 1998). Dieses übergroße<br />
Selbstvertrauen kann sie dazu verleiten, voreilig zu handeln.<br />
Zum Beispiel erleiden Sechsjährige, die ihre körperlichen Fähigkeiten<br />
überschätzen, mehr Unfälle als Kinder, die ihre Fähigkeiten<br />
realistischer einschätzen, vermutlich weil sie in ihrem<br />
Opt<strong>im</strong>ismus nicht einplanen, drohende Gefahren zu vermeiden<br />
(Plumert 1995).<br />
Im Lauf der Zeit, während der Reifung des präfrontale Cortex<br />
– des für Planung besonders wichtigen Gehirnbereichs – <strong>und</strong> mit<br />
zunehmender Erfahrung, wird der überschießende Opt<strong>im</strong>ismus<br />
gedämpft <strong>und</strong> die Bedeutung der Planung deutlich. Dadurch verbessert<br />
sich das Problemlöseverhalten (Chalmers <strong>und</strong> Lawrence<br />
1993). Allerdings dauert es lange, die Planungsprozesse zu perfektionieren.<br />
Selbst Zwölfjährige wahren be<strong>im</strong> Überqueren der<br />
Straße weniger Abstand zu näher kommenden Fahrzeugen als<br />
Erwachsene (Plumert et al. 2004).<br />
In Kürze | |<br />
Informationsverarbeitungstheorien stellen Kinder als<br />
aktive Lerner <strong>und</strong> Problemlöser dar, die sich ständig neue<br />
Mittel ausdenken, um die Grenzen ihrer Verarbeitungskapazität<br />
zu überwinden <strong>und</strong> ihre Ziele zu erreichen.<br />
Strukturelle Voraussetzungen dafür sind sensorisches<br />
Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis <strong>und</strong> Langzeitgedächtnis,<br />
deren Kapazität <strong>und</strong> Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />
jegliche Informationsverarbeitung beeinflussen. Die<br />
exekutiven Funktionen verwenden die Informationen<br />
in Arbeits- <strong>und</strong> Langzeitgedächtnis, um flexibel Ziele zu<br />
ändern <strong>und</strong> situationsunangemessene Handlungs<strong>im</strong>pulse<br />
zu stoppen; sie aktualisieren zudem ständig die Inhalte<br />
<strong>im</strong> Arbeitsgedächtnis, sodass neue Ziele effizient verfolgt<br />
werden können. Kognitives Wachstum <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
<strong>und</strong> die Entwicklung des Gedächtnisses <strong>und</strong> des Lernens<br />
<strong>im</strong> Besonderen gelten als Ausdruck zunehmend effizient<br />
ausgeführter Basisprozesse, neu gebildeter, <strong>im</strong>mer effizienterer<br />
Strategien <strong>und</strong> des Erwerbs von neuem Inhaltswissen.<br />
Entsprechend dem Modell der überlappenden Wellen<br />
nutzt jedes Kind be<strong>im</strong> Lösen desselben Problemtyps<br />
vielfältige Strategien; die Auswahl der Strategie ist dabei<br />
adaptiv, <strong>und</strong> das Problemlösen verbessert sich durch die<br />
zunehmende Effizienz be<strong>im</strong> Entdecken, Auswählen <strong>und</strong><br />
Ausführen der Strategien <strong>und</strong> durch besseres Planen.
140<br />
Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
1<br />
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Soziokulturelle Theorien<br />
Eine Mutter <strong>und</strong> ihre vierjährige Tochter, Sadie, setzen ein Spielzeug<br />
zusammen <strong>und</strong> benutzen dazu eine Anleitung, in der die<br />
Einzelteile <strong>und</strong> ihre Zusammensetzung skizziert sind.<br />
» Mutter: Jetzt brauchst du so eines wie das hier auf der anderen<br />
Seite. Hm – pr<strong>im</strong>a, genau so.<br />
» Sadie: Dann brauche ich das hier, so wie das andere? Gleich,<br />
gleich. Lass los. Jetzt. Raus damit. Hoppla.<br />
» M: Ich halt es fest, wenn du es drehst. (Sieht zu, wie Sadie an<br />
dem Spielzeug montiert) Jetzt mach du es fertig.<br />
» S: Das hier?<br />
» M: Nein, schau auf das Bild. Hierhin (zeigt auf die Zeichnung).<br />
Dieses Teil.<br />
» S: So?<br />
» M: Ja.<br />
(Gauvain 2001, S. 32)<br />
Diese Interaktion kommt Ihnen wahrscheinlich völlig normal<br />
vor – <strong>und</strong> das ist sie auch. Aus der Perspektive soziokultureller<br />
Theorien besitzen solche unspektakulären Interaktionen aber<br />
größte Bedeutung, weil sie die Mechanismen darstellen, die die<br />
Entwicklung vorantreiben.<br />
Soziokulturelle Theorien – Ansätze, die den Beitrag anderer Menschen <strong>und</strong><br />
der umgebenden Kultur zur <strong>Kindes</strong>entwicklung betonen.<br />
Eine erwähnenswerte Eigenschaft des oben beschriebenen Ereignisses<br />
besteht aus soziokultureller Sicht darin, dass Sadie den<br />
Zusammenbau des Spielzeugs in einem zwischenmenschlichen<br />
Kontext lernt. Soziokulturelle Ansätze betonen, dass ein Großteil<br />
der Entwicklung in direkten Interaktionen von Kindern mit anderen<br />
Menschen stattfindet: mit Eltern, Geschwistern, Lehrern,<br />
Spielkameraden <strong>und</strong> so weiter, die den Kindern dabei helfen<br />
wollen, die von ihrer jeweiligen Kultur geschätzten Fertigkeiten<br />
<strong>und</strong> Wissensinhalte zu erwerben. Während die Theorie von<br />
Piaget <strong>und</strong> die Informationsverarbeitungstheorien die eigenen<br />
Bemühungen der Kinder be<strong>im</strong> Verstehen der Welt hervorheben,<br />
betonen soziokulturelle Theorien die Bedeutung, die der Interaktion<br />
der Kinder mit anderen Menschen für die Entwicklung<br />
zukommt.<br />
Die Interaktion zwischen Sadie <strong>und</strong> ihrer Mutter ist auch<br />
deshalb bemerkenswert, weil sie als Beispiel für gelenkte Partizipation<br />
gelten kann. Darunter versteht man einen Prozess, bei<br />
dem besser informierte Menschen (Experten) ihre Aktivitäten<br />
so gestalten, dass sich Menschen mit geringeren Kenntnissen<br />
daran auf einem höheren Niveau beteiligen können, als sie es<br />
von sich aus fertigbrächten (Rogoff 2003). Sadies Mutter zum<br />
Beispiel hält ein Teil des Spielzeugs so fest, dass Sadie ein anderes<br />
Teil hineinschrauben kann; ohne die Hilfe ihrer Mutter wäre<br />
Sadie nicht in der Lage, die beiden Teile zusammenzuschrauben,<br />
<strong>und</strong> könnte ihre Fähigkeiten bei dieser Aufgabe somit auch<br />
nicht erweitern. In ähnlicher Weise zeigt Sadies Mutter auf den<br />
relevanten Teil der Bauanleitung <strong>und</strong> ermöglicht Sadie damit<br />
die Entscheidung, was als Nächstes zu tun ist, wobei sie außerdem<br />
lernt, in welcher Weise Bauanleitungen Informationen<br />
vermitteln. Diese Episode zeigt, dass gelenkte Partizipation oft<br />
in Situationen auftritt, in denen die explizite Absicht darin besteht,<br />
ein praktisches Ziel – wie den Zusammenbau eines Spielzeugs<br />
– zu erreichen, wobei das Lernen als ein Nebenprodukt<br />
der Tätigkeit stattfindet.<br />
Gelenkte Partizipation – Ein Prozess, bei dem informierte Menschen (Experten)<br />
Aktivitäten so organisieren, dass Menschen mit geringeren Kenntnissen<br />
etwas lernen.<br />
..<br />
Durch gelenkte Partizipation können Eltern ihren Kindern nicht nur be<strong>im</strong><br />
Erreichen unmittelbarer Ziele helfen, sondern auch den Erwerb allgemeinerer<br />
Fertigkeiten unterstützen – beispielsweise be<strong>im</strong> Zusammensetzen von Bauteilen<br />
nach Gebrauchsanleitung oder Bauzeichnung. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Eine dritte beachtenswerte Eigenschaft der Interaktion zwischen<br />
Sadie <strong>und</strong> ihrer Mutter ist die Einbettung in einen breiteren kulturellen<br />
Kontext. Zu diesem Kontext gehören nicht nur andere<br />
Menschen, sondern auch die zahllosen menschlichen Errungenschaften,<br />
die in soziokulturellen Theorien als Kulturwerkzeuge<br />
bezeichnet werden: Symbolsysteme, Gebrauchsgegenstände, Fähigkeiten,<br />
Werte <strong>und</strong> so weiter. Im Beispiel von Sadie <strong>und</strong> ihrer<br />
Mutter betreffen die relevanten Symbolsysteme die Sprache, mit<br />
der sie ihre Gedanken wechselseitig vermitteln, <strong>und</strong> die Zeichnung,<br />
die ihnen be<strong>im</strong> Zusammenbau hilft. Zu den relevanten<br />
Gebrauchsgegenständen (den von Menschen geschaffenen Artefakten<br />
einer Kultur) gehören das Spielzeug <strong>und</strong> das bedruckte<br />
Blatt mit der Bauanleitung. Relevante Fähigkeiten sind die Beherrschung<br />
der Sprache, die es den beiden ermöglicht, miteinander<br />
zu kommunizieren, <strong>und</strong> die Verfahren, mit denen sie<br />
die Zeichnung interpretieren. Zu den Werten gehört, dass die<br />
Kultur es positiv einschätzt, wenn Eltern mit ihren Kindern so
Soziokulturelle Theorien<br />
141 4<br />
interagieren, wie es Sadies Mutter tut, <strong>und</strong> dass kleine Mädchen<br />
technische Fertigkeiten erlernen. Im Hintergr<strong>und</strong> wirken weiterreichende<br />
allgemeine technologische, ökonomische <strong>und</strong> historische<br />
Faktoren: zum Beispiel die Technologie zum Herstellen von<br />
Spielzeug <strong>und</strong> zum Drucken von Zeichnungen, eine Wirtschaft,<br />
die Eltern die Freizeit für solche Interaktionen ermöglicht, <strong>und</strong><br />
eine Geschichte, die zu den Symbolsystemen, Artefakten, Fähigkeiten,<br />
Werten, Technologien <strong>und</strong> wirtschaftlichen Verhältnissen<br />
geführt hat, die die Interaktionen zwischen Sadie <strong>und</strong> ihrer Mutter<br />
überhaupt erst ermöglichen. Soziokulturelle Theorien tragen<br />
also mit dazu bei, die vielen Aspekte der Kultur zu würdigen,<br />
die selbst in den unscheinbarsten Alltagsinteraktionen zum Ausdruck<br />
kommen.<br />
der kindlichen Fähigkeit, das eigene Verhalten zu regulieren <strong>und</strong><br />
Probleme zu lösen. Zunächst wird das Verhalten des <strong>Kindes</strong> von<br />
der Kommunikation mit anderen Menschen gesteuert (so wie in<br />
dem Beispiel von Sadie <strong>und</strong> ihrer Mutter be<strong>im</strong> Zusammensetzen<br />
von Spielzeug); dann wird das Verhalten des <strong>Kindes</strong> von seinem<br />
eigenen Selbstgespräch gesteuert, in dem es sich laut vorsagt, was<br />
zu tun ist, ganz so wie früher die Eltern; <strong>und</strong> schließlich steuert<br />
das Kind sein Verhalten durch ein inneres Sprechen (Denken),<br />
in dem es sich mit unausgesprochenen Wörtern klarmacht, was<br />
zu tun ist. Be<strong>im</strong> Übergang von der zweiten zur dritten Phase<br />
flüstert es oft vor sich hin oder bewegt stumm die Lippen. Mit<br />
Wygotskis Worten geht das Sprechen „in den Untergr<strong>und</strong>“ <strong>und</strong><br />
wird Gedanke.<br />
Kulturwerkzeuge – Die unzähligen Produkte der menschlichen Erfindungskraft,<br />
die die kognitiven Leistungen erhöhen.<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />
Der Nestor des soziokulturellen Ansatzes der kognitiven Entwicklung<br />
war der russische Psychologe Lew Semjonowitsch<br />
Wygotski. (Da die Transliteration aus dem Kyrillischen unterschiedlich<br />
gehandhabt wird, finden sich auch die Schreibweisen<br />
„Vygotski“ oder „Wygotsky“.) Obwohl Wygotski <strong>und</strong> Piaget<br />
Zeitgenossen waren, blieben große Teile der wichtigsten Werke<br />
Wygotskis bis in die 1970er Jahre außerhalb der Sowjetunion<br />
weitgehend unbekannt. Ihr Erscheinen erregte einiges Aufsehen,<br />
zum Teil deshalb, weil sich Wygotskis Sicht auf das Wesen des<br />
<strong>Kindes</strong> von der Piagets stark unterscheidet.<br />
Die Theorie von Wygotski<br />
Wie bereits erwähnt, stellte Piaget Kinder als kleine Wissenschaftler<br />
dar, die die Welt aus eigenen Kräften zu verstehen<br />
versuchen. Wygotski (1896–1934) dagegen zeichnete sie als<br />
soziale Wesen, deren Schicksal aufs Engste verwoben ist mit<br />
dem anderer Menschen, die sich darum bemühen, ihnen be<strong>im</strong><br />
Erwerb von Fähigkeiten <strong>und</strong> Kenntnissen zu helfen. Während<br />
die Kinder bei Piaget darauf aus sind, physikalische, mathematische<br />
<strong>und</strong> logische Begriffe zu beherrschen, die zu jeder Zeit<br />
<strong>und</strong> an jedem Ort dieselben sind, sind sie bei Wygotski darauf<br />
bedacht, an Aktivitäten teilzunehmen, die in ihrer lokalen Umgebung<br />
vorherrschen. Wo Piaget qualitative Veränderungen <strong>im</strong><br />
Denken betonte, hob Wygotski auf kontinuierliche quantitative<br />
Veränderungen ab. Diese Sicht Wygotskis ließ die zentrale Metapher<br />
soziokultureller Theorien entstehen: Kinder sind soziale<br />
Wesen, geformt durch ihren kulturellen Kontext, den sie ihrerseits<br />
mitgestalten.<br />
Wygotskis Schwerpunktsetzung auf das soziale Wesen wird<br />
auch in seiner Sicht der Beziehung zwischen Sprechen <strong>und</strong> Denken<br />
deutlich. Während Piaget beide weitgehend unabhängig betrachtete,<br />
sah Wygotski (1934/2002) sie als zwei Aspekte eines<br />
Ganzen; insbesondere nahm er an, dass Denken ein inneres Sprechen<br />
ist <strong>und</strong> zum Großteil in den Äußerungen wurzelt, die Eltern<br />
<strong>und</strong> andere Erwachsene den Kindern gegenüber kommunizieren.<br />
Um die Verinnerlichung der Sprache zu illustrieren, beschrieb<br />
Wygotski drei Phasen des inneren Sprechens in der Entwicklung<br />
Inneres Sprechen – Die dritte Phase bei der Internalisierung von Sprache über<br />
Kommunikation, Selbstgespräch <strong>und</strong> verbales Denken nach Wygotski. Kinder<br />
entwickeln ihre Fähigkeiten zur Selbstregulation <strong>und</strong> zum Problemlösen, indem<br />
sie sich selbst die von den Eltern gehörten Anweisungen laut vorsagen oder <strong>im</strong><br />
Selbstgespräch anweisen, was zu tun ist, bis sie in der letzten Phase Sprache<br />
<strong>und</strong> Denken verinnerlicht haben.<br />
Selbstgespräche findet man besonders bei Vier- bis Sechsjährigen,<br />
aber auch ältere Kinder <strong>und</strong> Erwachsene bedienen sich bei<br />
anspruchsvollen Aufgaben des inneren Sprechens, etwa be<strong>im</strong> Zusammenbau<br />
eines Modellflugzeugs <strong>und</strong> be<strong>im</strong> Befolgen schwieriger<br />
Anweisungen (Winsler et al. 2003). Auch vollzieht sich der<br />
Übergang von externem zu internem Sprechen nicht nur mit<br />
fortschreitendem Alter, sondern mit zunehmender Erfahrung;<br />
Kinder generieren bemerkenswert viele laute Selbstgespräche,<br />
wenn sie auf eine anspruchsvolle Aufgabe stoßen, <strong>und</strong> das Ausmaß<br />
der Selbstgespräche sinkt in dem Maß, in dem sie die Aufgabe<br />
beherrschen (Berk 1994).<br />
Kinder als Lehrende <strong>und</strong> Lernende<br />
Heutige Vertreter der soziokulturellen Theorien wie Michael<br />
Tomasello (2001, 2009) entwickeln Wygotskis Ansatz weiter.<br />
Folgt man Tomasello, so sind menschliche Wesen auf zwei<br />
miteinander verknüpfte Arten <strong>und</strong> Weisen einzigartig, die<br />
die Gr<strong>und</strong>lage unserer Fähigkeit bilden, komplexe, schnell<br />
veränderliche Kulturen zu erschaffen. Eine dieser dem Menschen<br />
vorbehaltenen Eigenschaften ist die Neigung, anderen<br />
Mitgliedern der Spezies etwas beizubringen; die andere ist<br />
die Neigung, solche Unterweisungen zu beachten <strong>und</strong> daraus<br />
zu lernen. In jeder menschlichen Gesellschaft vermitteln die<br />
Erwachsenen Fakten, Fähigkeiten, Werte <strong>und</strong> Traditionen an<br />
ihren Nachwuchs. Das ist es, was Kultur ermöglicht; jede neue<br />
Generation steht auf den Schultern der alten <strong>und</strong> kann deshalb<br />
weiter sehen, wie es Sir Isaac Newton beschrieben hat. Die<br />
Neigung, anderen etwas zu zeigen oder beizubringen, besteht<br />
bereits sehr früh. Alle normalen Zweijährigen zeigen spontan<br />
auf Objekte, um die Aufmerksamkeit anderer Menschen darauf<br />
zu lenken, was sie selbst interessant finden. Es handelt sich dabei<br />
um ein elementares Lehrverhalten, das nicht direkt an das<br />
Überleben geknüpft ist <strong>und</strong> das sich nur be<strong>im</strong> Menschen findet.<br />
Diese Vorliebe, aus Hinweisen anderer zu lernen <strong>und</strong> selbst<br />
anderen etwas beizubringen, versetzt Kinder in die Lage, sich<br />
in ihre Kultur sozial einzufügen <strong>und</strong> diese Kultur an andere<br />
weiterzugeben.
142<br />
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Die Neigung zu lehren <strong>und</strong> die Fähigkeit, daraus zu lernen, gehören zu den<br />
kennzeichnendsten Eigenschaften des Menschen. (© Gallo Images/Danita<br />
Del<strong>im</strong>ont/Getty Images)<br />
Kinder als Produkte ihrer Kultur<br />
Viele Prozesse, die Entwicklung anstoßen, wie etwa der Prozess<br />
der gelenkten Partizipation, kommen nach Meinung der Vertreter<br />
soziokultureller Theorien in allen Gesellschaften gleichermaßen<br />
vor. Die Inhalte, die die Kinder lernen – die jeweiligen<br />
Symbolsysteme, Gebrauchsgegenstände, Fähigkeiten <strong>und</strong> Werte<br />
–, variieren jedoch stark von Kultur zu Kultur <strong>und</strong> formen dementsprechend<br />
das Denken der Kinder.<br />
Ein Beispiel für die Bedeutung kulturspezifischer Inhalte<br />
liefert eine Untersuchung zur langfristigen Anwendung von<br />
Analogieschlüssen, bei denen Lösungserfahrungen mit bereits<br />
bekannten Problemen auf neue Probleme übertragen werden<br />
(Chen et al. 2004). Man bat amerikanische <strong>und</strong> chinesische<br />
Studenten, zwei Probleme zu lösen. Das eine Problem erforderte<br />
eine ähnliche Lösung wie die Strategie zur Wegmarkierung<br />
in Gr<strong>im</strong>ms Märchen Hänsel <strong>und</strong> Gretel; dieses Märchen<br />
ist amerikanischen Studenten wohlbekannt, chinesischen aber<br />
nicht. Die amerikanischen Studenten waren be<strong>im</strong> Lösen des<br />
Problems wesentlich erfolgreicher, <strong>und</strong> viele von ihnen spielten<br />
auf das Märchen an, obwohl sie es seit vielen Jahren nicht mehr<br />
gehört hatten. Das andere Problem erforderte eine Lösung, die<br />
analog zu einem Märchen war, das chinesischen Studenten<br />
wohlbekannt ist, amerikanischen aber nicht. In diesem Fall<br />
übertrafen die chinesischen Studenten ihre amerikanischen<br />
Kommilitonen, <strong>und</strong> viele spielten auf das einschlägige chinesische<br />
Märchen an.<br />
Auch die Erinnerungen an eigene Erlebnisse spiegeln die<br />
Kultur wider, in der Kinder aufwachsen. In einer Untersuchung<br />
beschrieben Vier- bis Achtjährige aus China <strong>und</strong> den Vereinigten<br />
Staaten ihre frühesten Erinnerungen, <strong>und</strong> in den unterschiedlichen<br />
Berichten zeigten sich die unterschiedlichen Einstellungen<br />
<strong>und</strong> Werte beider Kulturen (Wang 2007). Die chinesische Kultur<br />
schätzt <strong>und</strong> fördert die wechselseitige Abhängigkeit von Menschen,<br />
insbesondere von nahen Angehörigen. Die euroamerikanische<br />
Kultur hingegen schätzt <strong>und</strong> fördert die Unabhängigkeit<br />
von Individuen. In Übereinst<strong>im</strong>mung mit diesen kulturellen<br />
Schwerpunktsetzungen bezogen sich die Berichte der chinesischen<br />
Kinder häufiger auf andere Menschen, während diejenigen<br />
der amerikanischen Kinder sich häufiger auf die subjektiven Gefühle<br />
<strong>und</strong> Reaktionen bezogen. Dies ist ein weiterer Beleg dafür,<br />
dass die Einstellungen <strong>und</strong> Werte einer Kultur die Denkweisen<br />
der Menschen ebenso formen wie ihre Erfindungen <strong>und</strong> Technologien.<br />
Zentrale Entwicklungsfragen<br />
Wygotski <strong>und</strong> heutige Vertreter soziokultureller Theorien haben<br />
eine Reihe spezifischerer Beiträge zu den Mechanismen entwicklungsbedingter<br />
Veränderungen vorgelegt. Eines ihrer Konzepte<br />
– die gelenkte Partizipation – wurde bereits behandelt. In diesem<br />
Abschnitt untersuchen wir zwei damit zusammenhängende<br />
Konzepte, die in soziokulturellen Analysen von Veränderungsprozessen<br />
eine wichtige Rolle spielen: Intersubjektivität <strong>und</strong> soziale<br />
Stützung.<br />
Intersubjektivität<br />
Die Gr<strong>und</strong>lage der kognitiven Entwicklung des Menschen liegt<br />
nach Meinung der Vertreter soziokultureller Theorien in der Fähigkeit,<br />
Intersubjektivität herzustellen, also das wechselseitige<br />
Verstehen in der Kommunikation zwischen Menschen (Gauvain<br />
2001; Rommetveit 1985). Hinter diesem <strong>im</strong>posant klingenden<br />
Ausdruck verbirgt sich die einfache wie gr<strong>und</strong>sätzliche Vorstellung,<br />
dass eine effektive kommunikative Verständigung voraussetzt,<br />
dass sich die Beteiligten auf dieselben Inhalte beziehen <strong>und</strong><br />
auf die Reaktionen <strong>und</strong> Mitteilungen des anderen reagieren. Eine<br />
intersubjektive „geistige Begegnung“ ist für wirksames Lehren<br />
<strong>und</strong> Lernen unverzichtbar.<br />
Intersubjektivität – Das wechselseitige Verstehen in der Kommunikation zwischen<br />
Menschen.<br />
Die Wurzeln der Intersubjektivität sind schon <strong>im</strong> frühesten Lebensalter<br />
erkennbar. Mit zwei bis drei Monaten sind die Säuglinge<br />
lebhafter <strong>und</strong> interessierter, wenn ihre Mütter auf ihre Aktionen<br />
reagieren, als wenn das Verhalten der Mütter von ihren<br />
Aktionen unabhängig ist (Murray <strong>und</strong> Trevarthen 1985). Mit<br />
sechs Monaten können die Kinder neuartige Verhaltensweisen<br />
allein durch die Beobachtung des Verhaltens anderer Menschen<br />
erlernen (Collie <strong>und</strong> Hayne 1999).<br />
Diese Entwicklungen bereiten eine Fähigkeit vor, die <strong>im</strong><br />
Zentrum der Intersubjektivität steht – die geteilte Aufmerksamkeit.<br />
Dabei richten Kinder <strong>und</strong> ihre sozialen Partner ihre<br />
Aufmerksamkeit intendiert auf einen gemeinsamen Bezugspunkt<br />
(Sachverhalt, Gegenstand; allgemein: Referenten) in der<br />
äußeren Umwelt. Das Auftreten geteilter Aufmerksamkeit wird<br />
auf verschiedene Weise sichtbar. Zwischen neun <strong>und</strong> 15 Monaten<br />
schauen die Kinder zunehmend auf dieselben Gegenstände<br />
wie ihre Sozialpartner, verfolgen Änderungen <strong>im</strong> Blickverhalten<br />
der Partner, passen ihre eigene Blickrichtung an, wenn der<br />
Partner ein neues Objekt fokussiert, <strong>und</strong> lenken die Aufmerksamkeit<br />
von Erwachsenen aktiv auf Objekte, die sie selbst interessieren<br />
(Adamson et al. 2004; Akhtar <strong>und</strong> Gernsbacher 2008;<br />
Moore 2008).
Soziokulturelle Theorien<br />
143 4<br />
Geteilte Aufmerksamkeit – Ein Prozess, bei dem soziale Partner ihre Aufmerksamkeit<br />
bewusst auf einen gemeinsamen Gegenstand in der äußeren Umwelt<br />
richten.<br />
Menschen vorübergehend eine Situation, die es Kindern ermöglicht,<br />
auf einem höheren Niveau zu denken, als sie es aus eigener<br />
Kraft können (Wood et al. 1976). Im Idealfall gehört zu einer<br />
solchen Situation, dass das Ziel einer Aufgabe erklärt wird, mögliche<br />
Lösungswege aufgezeigt werden <strong>und</strong> das Kind Hilfe bei der<br />
Ausführung der schwierigsten Teilhandlungen bekommt. Das<br />
ist letztlich die Art, wie Eltern ihren Kindern etwas beibringen<br />
(Pratt et al. 1988; Saxe et al. 1987; Wood 1986).<br />
Soziale Stützung – Ein Prozess, bei dem eine kompetentere Person zeitweilig<br />
ein Rahmengerüst bietet, welches das Denken des <strong>Kindes</strong> auf einer höheren<br />
Ebene ermöglicht, als das Kind es selbst bewältigen könnte.<br />
..<br />
Der menschlichen Fähigkeit, zu lehren <strong>und</strong> zu lernen, liegt geteilte<br />
Aufmerksamkeit zugr<strong>und</strong>e: der Prozess, bei dem sich die Sozialpartner auf<br />
dasselbe Objekt in der Umwelt konzentrieren. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Die geteilte Aufmerksamkeit erhöht die Fähigkeit der Kinder, von<br />
anderen Menschen zu lernen, beträchtlich. Ein wichtiges Beispiel<br />
bezieht sich auf das Sprachlernen. Wenn ein Erwachsener einem<br />
Kleinkind sagt, wie ein Objekt heißt, schaut der Erwachsene dieses<br />
Objekt meistens an oder zeigt darauf; Kinder, die dasselbe<br />
Objekt anschauen, sind in einer besseren Lage zu lernen, was<br />
das Wort bedeutet, als Kinder, die irgendwo anders hinschauen<br />
(Baldwin 1991). Wie erfolgreich Säuglinge dem Blick anderer<br />
Menschen folgen, sagt ihre spätere Wortschatzentwicklung vorher<br />
(Brooks <strong>und</strong> Meltzoff 2008) <strong>und</strong> ganz allgemein die spätere<br />
Sprachentwicklung (Carpenter et al. 1998).<br />
Die Intersubjektivität entwickelt sich weit über das Kleinkindalter<br />
hinaus weiter, wenn die Kinder zunehmend besser<br />
in der Lage sind, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen.<br />
Beispielsweise erreichen Kinder <strong>im</strong> Alter von vier Jahren,<br />
verglichen mit Dreijährigen, mit größerer Wahrscheinlichkeit<br />
Übereinst<strong>im</strong>mung mit Gleichaltrigen, was die Regeln des Spieles<br />
betrifft, das sie spielen wollen, <strong>und</strong> die Rollen, die jedes Kind<br />
dabei einnehmen soll (Göncü 1993). Die fortgesetzte Entwicklung<br />
solcher Fähigkeiten der Perspektivenübernahme führt auch<br />
dazu, dass Kinder <strong>im</strong> Schulalter <strong>im</strong>mer mehr in der Lage sind,<br />
sich wechselseitig etwas beizubringen <strong>und</strong> voneinander zu lernen<br />
(Gauvain 2001).<br />
Soziale Stützung<br />
Wenn hohe Gebäude errichtet werden, benutzen Bauarbeiter ein<br />
Gerüst, eine Rahmenkonstruktion aus Metall oder Holz, mit deren<br />
Hilfe sie auch in großer Höhe arbeiten können. Wenn eine<br />
tragende Struktur des Gebäudes errichtet ist, kann sie selbst für<br />
die weiteren Arbeiten als Plattform dienen, <strong>und</strong> das Gerüst kann<br />
abgebaut werden. In analoger Weise wird das Lernen des <strong>Kindes</strong><br />
durch soziale Stützung gefördert; dabei gestalten kompetentere<br />
..<br />
Indem Eltern soziale Stützung bieten, befähigen sie ihre Kinder, auf fortgeschrittenere<br />
Weise mit Spielzeug <strong>und</strong> anderen Objekten umzugehen, als es<br />
ihnen allein möglich wäre. Diese Unterstützung hilft den Kindern zu lernen.<br />
(© lagom/Fotolia.com)<br />
Durch den Prozess der sozialen Stützung werden Kinder befähigt,<br />
auf einem höheren Niveau zu arbeiten, als es ihnen ohne<br />
solche Hilfe möglich wäre. Zunächst verlangt dies umfangreiche<br />
Stützmaßnahmen, die mit der Zeit jedoch zurückgeschraubt<br />
werden können, bis das Kind die Aufgabe am Ende<br />
auch ohne fremde Hilfe bewältigt. Je besser die soziale Stützung<br />
beschaffen ist – das heißt, je mehr die Lehranstrengungen<br />
sich an der oberen Leistungsgrenze der kindlichen Fähigkeiten<br />
ausrichten –, desto besser wird der Lernerfolg des <strong>Kindes</strong> sein<br />
(Conner et al. 1997; Gauvain 2001). Das Ziel sozialer Stützung<br />
– den Kindern Lernen zu ermöglichen, indem sie etwas tun –<br />
ist dasselbe wie das der gelenkten Partizipation, aber soziale<br />
Stützung enthält tendenziell mehr explizite Anweisungen <strong>und</strong><br />
Erklärungen, während bei der gelenkten Partizipation meist<br />
die Erwachsenen die Aufgaben so strukturieren, dass Kinder<br />
<strong>im</strong>mer aktivere <strong>und</strong> verantwortlichere Rollen übernehmen<br />
können.<br />
Ein besonders wichtiger Weg, auf dem Eltern ihre Kinder<br />
sozial stützen können, besteht darin, den Kindern be<strong>im</strong> Aufbau<br />
des autobiografischen Gedächtnisses zu helfen, indem sie ihre<br />
Kinder auffordern, sich an selbst erlebte Ereignisse aus der Vergangenheit<br />
zu erinnern, die zu einer best<strong>im</strong>mten Zeit an einem<br />
best<strong>im</strong>mten Ort geschahen (Nelson <strong>und</strong> Fivush 2004). Zu autobiografischen<br />
Erinnerungen gehören auch Informationen über<br />
die Ziele, Intentionen, Emotionen <strong>und</strong> Reaktionen des <strong>Kindes</strong>,<br />
die mit diesen Ereignissen zusammenhängen. Im Lauf der Zeit
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Exkurs 4.3: Anwendungen: Pädagogische Anwendungen der soziokulturellen Theorien | |<br />
Das Bildungssystem in Ländern wie den USA<br />
<strong>und</strong> Deutschland wurde zeitweise kritisiert,<br />
weil es zu sehr ein mechanisches Auswendiglernen<br />
von Fakten fördere statt ein tieferes<br />
Verständnis von Zusammenhängen, weil es<br />
Konkurrenz statt Zusammenarbeit zwischen<br />
den Schülern unterstütze <strong>und</strong> weil es ganz<br />
allgemein zu wenig Begeisterung für das<br />
Lernen vermittele (National Association for the<br />
Education of Young Children 2011; Pellegrino<br />
et al. 2001). Soziokulturelle Theorien betonen<br />
die Rolle der Kultur; daraus leitet sich eine<br />
Veränderung der Schulkultur als ein Weg ab,<br />
um die schulische Ausbildung zu verbessern.<br />
Es sollte eine Kultur geschaffen werden, in der<br />
Unterricht auf ein tieferes Verständnis gerichtet<br />
ist, in der Lernen als kooperative Angelegenheit<br />
gilt <strong>und</strong> in der kleine Lernfortschritte<br />
die Kinder dazu veranlassen, noch mehr lernen<br />
zu wollen.<br />
Ein eindrucksvoller Versuch, diese Ziele<br />
umzusetzen, besteht in Ann Browns (1997)<br />
Programm einer Gemeinschaft der Lernenden.<br />
Ihre Bemühungen, Lerngemeinschaften<br />
aufzubauen, konzentrierten sich auf sechsbis<br />
zwölfjährige überwiegend afroamerikanische<br />
Kinder in innerstädtischen Schulen<br />
von Boston (Mass.) <strong>und</strong> Oakland (Calif.).<br />
Die hauptsächlichen Unterrichtseinheiten<br />
bestehen aus Projekten, die das Erforschen<br />
eines großen Zusammenhangs erfordern,<br />
etwa die Wechselwirkung zwischen Tieren<br />
verweben sich diese Erinnerungen in eine mehr oder weniger<br />
kohärente Schilderung des eigenen Lebens.<br />
Autobiografisches Gedächtnis – Erinnerungen an eigene Lebenserfahrungen<br />
einschließlich eigener Gedanken <strong>und</strong> Gefühle.<br />
Einige Mütter ermutigen ihre Kleinkinder, recht viele Details<br />
über vergangene Erlebnisse zu schildern, <strong>und</strong> weiten deren<br />
Darstellungen häufig aus, wenn sie diese Erfahrungen mit ihren<br />
Kindern besprechen. Eine solche Mutter kommentiert die<br />
Äußerung ihres <strong>Kindes</strong> „Vogel wegfliegen“ vielleicht mit einer<br />
Erwiderung: „Ja, der Vogel ist weggeflogen, weil du so nah an<br />
ihn herangegangen bist; da hat er sich vor dir gefürchtet.“ Solche<br />
Rückmeldungen helfen Kindern dabei, sich an ihre Erlebnisse<br />
zu erinnern, indem sie das Encodieren der wichtigsten Information<br />
(Abstand zum Vogel) <strong>und</strong> ihr Erkennen der Kausalbeziehungen<br />
zwischen Geschehnissen verbessern (Boland et al.<br />
2003; McGuigan <strong>und</strong> Salmon 2004). Andere Mütter stellen<br />
weniger Fragen <strong>und</strong> gehen selten darauf ein, was ihre Kinder<br />
sagen. Kinder, deren Mütter den ausführlicheren Stil gebrauchen,<br />
erinnern sich an mehr als Kinder, deren Mütter das selten<br />
tun (Haden et al. 1997; Harley <strong>und</strong> Reese 1999; Leichtman et al.<br />
2000). Wie in ▶ Exkurs 4.3 dargelegt, erwiesen sich Konzepte<br />
der soziokulturellen Theorien auch bei der Verbesserung des<br />
Schulunterrichts als nützlich.<br />
<strong>und</strong> ihrem Lebensraum. Eine Klasse wird<br />
in Kleingruppen aufgeteilt, die sich jeweils<br />
auf einen best<strong>im</strong>mten Aspekt des Themas<br />
konzentrieren. Bei dem Thema der Abhängigkeit<br />
zwischen Tieren <strong>und</strong> ihrem Lebensraum<br />
würde beispielsweise eine Gruppe die Beziehungen<br />
zwischen Raubtieren <strong>und</strong> ihrer Beute<br />
untersuchen, eine andere die Fortpflanzungsstrategien,<br />
eine dritte den Schutz vor den<br />
Elementen <strong>und</strong> so weiter.<br />
Am Ende der circa zehn Wochen werden neue<br />
Gruppen gebildet, mit je einem Kind aus<br />
jeder der ursprünglichen Gruppen. Die Kinder<br />
in den neuen Gruppen sollen eine Aufgabe<br />
bearbeiten, die alle Aspekte enthält, die von<br />
den vorherigen Gruppen untersucht wurden,<br />
beispielsweise ein „Zukunftstier“ entwerfen,<br />
das sich besonders gut an seinen Lebensraum<br />
anpassen könnte. Weil die Beteiligung<br />
eines jeden <strong>Kindes</strong> an der vorherigen Gruppe<br />
dazu geführt hat, dass es in dem von seiner<br />
Gruppe untersuchten Bereich Sachkenntnis<br />
gewonnen hat, die kein anderes Kind der neu<br />
zusammengesetzten Gruppe besitzt, sind die<br />
Beiträge aller Kinder wesentlich, damit die<br />
neue Gruppe erfolgreich sein kann. Dieses<br />
Vorgehen wurde von Aronson et al. (1978)<br />
auch als Puzzle-Ansatz bezeichnet, weil wie bei<br />
einem Puzzle jedes Teil für die schlussendliche<br />
Lösung notwendig ist.<br />
Eine Vielzahl von Menschen fördert solche<br />
Lerngemeinschaften. In der Schule stellen die<br />
In Kürze | |<br />
Lehrer die Idee der Lerneinheit als solche vor<br />
<strong>und</strong> ermutigen die Klasse, ihr Wissen zusammenzulegen,<br />
um ein besseres Verständnis zu<br />
ermöglichen; sie geben den Kindern Anstöße,<br />
Belege für ihre Annahmen beizubringen, <strong>und</strong><br />
lassen sie das, was sie wissen, zusammenfassen<br />
<strong>und</strong> neue Lernziele best<strong>im</strong>men. Experten<br />
von außerhalb werden in die Klasse geholt, um<br />
thematisches Wissen zu lehren <strong>und</strong> diesbezügliche<br />
Fragen zu beantworten. Kinder <strong>und</strong><br />
Lehrer tauschen mit anderen Schulen, die an<br />
denselben Fragestellungen arbeiten, E-Mails<br />
aus, um zu sehen, wie diese mit den Aspekten,<br />
die sich ergeben, umgehen.<br />
Lerngemeinschaften verschaffen Kindern sowohl<br />
kognitiven Gewinn als auch Motivation.<br />
Die Teilnahme an solchen Gruppen verhilft<br />
den Kindern dazu, <strong>im</strong>mer geschickter gute<br />
Lösungsansätze für die Aufgaben zu entwickeln,<br />
die sie zu lösen versuchen. Sie verhilft<br />
ihnen auch dazu, allgemeine Fähigkeiten wie<br />
die Identifikation zentraler Fragen <strong>und</strong> den<br />
Vergleich alternativer Lösungen bei einer<br />
Problemstellung zu erlernen. Weil die Kinder<br />
alle wechselseitig von ihren Beiträgen abhängig<br />
sind, fördert der Ansatz der Lerngemeinschaften<br />
nicht zuletzt auch gegenseitigen<br />
Respekt <strong>und</strong> die individuelle Verantwortung<br />
für den Erfolg der gesamten Gruppe. Kurz<br />
gesagt, dieser Ansatz erzeugt eine Kultur des<br />
Lernens.<br />
Soziokulturelle Ansätze sehen Kinder als lernende soziale Wesen,<br />
die von ihren kulturellen Kontexten geformt werden <strong>und</strong><br />
diese selbst formen. Diese Ansätze legen besonderes Gewicht<br />
darauf, dass sich Kinder in einem kulturellen Kontext entwickeln,<br />
der andere Menschen <strong>und</strong> menschliche Erfindungen<br />
einschließt: Symbolsysteme, Gebrauchsgegenstände, Fähigkeiten<br />
<strong>und</strong> Werte. Durch gelenkte Partizipation helfen Menschen,<br />
die es besser können, Kindern be<strong>im</strong> Erwerb von Fähigkeiten <strong>im</strong><br />
Umgang mit diesen Kulturwerkzeugen; die Verwendung der<br />
Werkzeuge selbst verändert wiederum das Denken der Kinder.<br />
Kultur wird durch die Neigung des Menschen zum Denken <strong>und</strong><br />
Lernen erst möglich; hinzu kommt die Fähigkeit, Intersubjektivität<br />
mit anderen Menschen herzustellen. Durch Prozesse wie<br />
soziale Stützung <strong>und</strong> das Schaffen von Lerngemeinschaften<br />
unterstützen ältere <strong>und</strong> erfahrenere Menschen Kinder be<strong>im</strong><br />
Erwerb von Fähigkeiten, Wissen <strong>und</strong> Werten ihrer Kultur.<br />
Theorien dynamischer Systeme<br />
Wie alle biologischen Prozesse bietet auch das Denken einen Anpassungsvorteil:<br />
Es befähigt Menschen <strong>und</strong> andere Tiere, Pläne
Theorien dynamischer Systeme<br />
145 4<br />
..<br />
Abb. 4.11 Problemlösen erfordert oft motorische Fähigkeiten. Eine gr<strong>und</strong>legende Erkenntnis der Theorien dynamischer Systeme besagt, dass Denken ohne<br />
motorische Fertigkeiten sinnlos bliebe. Auf diesen Fotos ist ein zwölf Monate altes Kind zu sehen, das ein Hindernis aus dem Weg räumt, um anschließend<br />
das Tuch mit der Schnur <strong>und</strong> dem Spielzeug zu sich hinzuziehen. Wäre das Kind nicht be<strong>im</strong> Greifen geschickt genug <strong>und</strong> be<strong>im</strong> Ziehen stark genug, wäre seine<br />
Problemlösung nutzlos. (© Peter Willatts, University of D<strong>und</strong>ee, Scotland; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
zu entwerfen, um Ziele zu erreichen. Zielerreichung erfordert<br />
aber auch die Fähigkeit zum effizienten Handeln; ohne diese Fähigkeit<br />
wäre das Denken sinnlos. Welchen Zweck hätte es für ein<br />
Kleinkind herauszufinden, dass es ein Hindernis entfernen muss,<br />
um an ein Spielzeug heranzukommen, wenn dieses Kind nicht<br />
<strong>im</strong>stande dazu wäre, das Hindernis zu entfernen, die Hand danach<br />
auszustrecken <strong>und</strong> es zu ergreifen (. Abb. 4.11)? Doch trotz<br />
dieses inneren Zusammenhangs von Denken <strong>und</strong> Handeln haben<br />
sich die meisten Theorien zur kognitiven Entwicklung einzig<br />
auf das Denken konzentriert <strong>und</strong> die Entwicklung des Handelns<br />
ignoriert, die es dem Kind gestattet, die Früchte seiner geistigen<br />
Anstrengungen zu ernten.<br />
Eine zunehmend einflussreiche Ausnahme von dieser Regel<br />
bilden die Theorien dynamischer Systeme, bei denen die<br />
zeitlichen Veränderungen komplexer Systeme <strong>im</strong> Mittelpunkt<br />
stehen. Dabei zeichnen sich komplexe Systeme durch eine Reihe<br />
von Komponenten aus, die das System bilden <strong>und</strong> durch viele<br />
Einflussfaktoren best<strong>im</strong>mt werden, die miteinander interagieren<br />
<strong>und</strong> die Entwicklung des gesamten Systems steuern. Mit diesem<br />
systemischen Forschungsansatz wurde in detaillierten Analysen<br />
gezeigt, dass schon gr<strong>und</strong>legende Handlungen wie Kriechen,<br />
Laufen, Hinlangen <strong>und</strong> Greifen überraschende <strong>und</strong> eindrucksvolle<br />
Einblicke darüber vermitteln, wie sich Entwicklung vollzieht.<br />
So wurde beispielsweise nachgewiesen, dass verbessertes<br />
Greifen die Entwicklung des freien (spontanen) Spieles von Kindern<br />
mit Gegenständen beeinflusst. Insbesondere ermöglicht es<br />
den Kindern, auf fortgeschrittenere Weise mit den Objekten zu<br />
spielen, sie etwa in Kategorien oder interessante Konfigurationen<br />
(Anordnungen) zu ordnen (Spencer et al. 2006; Thelen <strong>und</strong><br />
Corbetta 1994). Solche Forschungsarbeiten haben auch gezeigt,<br />
dass der Beginn des Krabbelns die Beziehungen des <strong>Kindes</strong> zu<br />
den Familienmitgliedern verändert, die womöglich ganz aus dem<br />
Häuschen sind, wenn sie sehen, wie ihr Baby diesen wichtigen<br />
Meilenstein in der motorischen Entwicklung erreicht, gleichzeitig<br />
aber die Notwendigkeit erkennen, nun Schutzmaßnahmen<br />
ergreifen <strong>und</strong> viel aufmerksamer überwachen zu müssen, wie<br />
das Kind versucht, alles <strong>und</strong> jedes, was es erreichen kann, auch<br />
zu untersuchen (Campos et al. 1992).<br />
Theorien dynamischer Systeme – Eine Klasse von Theorien, die sich darauf<br />
konzentriert, wie sich Veränderung <strong>im</strong> Verlauf der Zeit in komplexen Systemen<br />
abspielt. Dabei sind dynamische Systeme von instabilen Übergangsphasen<br />
gekennzeichnet, in denen sich das Zusammenwirken verschiedener Einflussfaktoren<br />
systemisch neu organisiert.<br />
Einen weiteren Beitrag leistete der systemische Ansatz mit dem<br />
Nachweis, dass die Entwicklung von scheinbar einfachen Handlungen<br />
wesentlich komplexer <strong>und</strong> interessanter ist als zunächst<br />
angenommen. Zum Beispiel wurde die traditionelle Auffassung<br />
widerlegt, der zufolge die körperliche Reifung die motorische<br />
Entwicklung von Kleinkindern beherrschen sollte <strong>und</strong> motorische<br />
Phasen stets in ungefähr demselben Alter, auf dieselbe<br />
Weise <strong>und</strong> kontinuierlich fortschreitend erreicht würden. Stattdessen<br />
stellte sich heraus, dass einzelne Kinder ihre Fertigkeiten<br />
in verschiedenem Alter <strong>und</strong> auf verschiedene Weise erwerben<br />
<strong>und</strong> nicht nur Fortschritte, sondern auch Rückschritte zu ihrer<br />
Entwicklung gehören (Adolph <strong>und</strong> Berger 2011).<br />
Ein Beispiel für diesen Typ von Forschung ist eine Längsschnittuntersuchung<br />
zur Entwicklung des Greifens, durchgeführt<br />
von Esther Thelen, die mit ihrer Mitarbeiterin Linda Smith zusammen<br />
den Ansatz begründete, die kognitiven Entwicklung als<br />
Entwicklung eines komplexen System zu beschreiben. In dieser<br />
Studie beobachteten Thelen et al. (1993) wiederholt die Greifbemühungen<br />
von vier Säuglingen <strong>im</strong> ersten Lebensjahr. Zur<br />
Erfassung der Muskelbewegungen der Babys setzten sie Hochgeschwindigkeitsmesssysteme<br />
zur Bewegungsaufzeichnung <strong>und</strong><br />
Computerauswertung ein <strong>und</strong> fanden, dass aufgr<strong>und</strong> der individuellen<br />
Unterschiede von Faktoren wie Physiologie, Aktivitätsniveau,<br />
Arousal (Erregung), Motivation <strong>und</strong> Erfahrung jedes<br />
Kind bei seinen Greifversuchen mit anderen Herausforderungen
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konfrontiert war. Die folgenden Beobachtungen vermitteln einen<br />
Eindruck von der Komplexität, die diese Forscher entdeckten,<br />
darunter die Variabilität des Alters, in dem die Kinder Entwicklungsziele<br />
erreichen, <strong>und</strong> die unterschiedlichen Herausforderungen,<br />
die sie meistern müssen:<br />
» Säuglinge unterschieden sich deutlich hinsichtlich des<br />
Übergangsalters (vom Nichtgreifen zum Greifen). Während<br />
Nathan erstmals mit zwölf Wochen zugriff, erreichten Hannah<br />
<strong>und</strong> Justin diesen Meilenstein nicht vor der zwanzigsten<br />
Lebenswoche. [Auch] zeigten die Säuglinge Phasen schnellen<br />
Wandels, Plateaus <strong>und</strong> sogar Rückschritte <strong>im</strong> Leistungsniveau<br />
[…] Bei drei der vier Säuglinge ließ in dem Zeitraum, in dem<br />
Zielsicherheit <strong>und</strong> Geschmeidigkeit auftraten, nach einiger<br />
Verbesserung die Leistung nach […] Letztlich gab es bei<br />
Nathan, Justin <strong>und</strong> Hannah einen eher diskontinuierlichen<br />
Wechsel zu besserer, weniger variabler Leistung […] Gabriels<br />
Übergang zur Stabilität verlief allmählicher (Thelen <strong>und</strong> Smith<br />
1998, S. 605, 607).<br />
» Vor dem Hintergr<strong>und</strong> ihres charakteristischen Stils müssen<br />
Säuglinge jeder für sich die angemessene Geschwindigkeit<br />
finden. Gabriel zum Beispiel musste seine sehr heftigen<br />
Bewegungen dämpfen, um erfolgreich zugreifen zu können,<br />
was ihm gelang. Hannah hingegen, deren Bewegungen langsam<br />
waren <strong>und</strong> die ihre Hände lange in Gesichtsnähe spielen<br />
ließ, musste ihre Arme stärker aktivieren, um sie von sich weg<br />
zu strecken. […] Das Greifen gestaltet sich also aus andauernden<br />
Bewegungen der Arme in einem Modulationsprozess<br />
je nachdem, was am Platze ist […] Wenn die Kinder älter<br />
werden, konzentriert sich ihre Aufmerksamkeit, ihre perzeptive<br />
Unterscheidungsfähigkeit verbessert sich, ihr Erinnerungsvermögen<br />
wird besser, <strong>und</strong> ihre Bewegungen werden<br />
geschickter. Ein reichhaltiger, komplexer <strong>und</strong> realistischer<br />
Veränderungsbericht muss dieses dynamische Zusammenspiel<br />
enthalten (Thelen 2001, S. 172, 182).<br />
Diese Zitate verschaffen einen Eindruck davon, was mit der Bezeichnung<br />
„dynamische Systeme“ gemeint ist. Wie der Begriff<br />
„dynamisch“ nahelegt, bilden diese Theorien Entwicklung als<br />
einen Prozess ab, in dem Veränderung die einzige Konstante<br />
ist. Während die meisten Ansätze zur kognitiven Entwicklung<br />
davon ausgehen, dass Entwicklung mit langen Phasen relativ<br />
stabiler Stadien verb<strong>und</strong>en ist, unterbrochen von relativ kurzen<br />
instabilen Übergangsphasen, nehmen die Theorien dynamischer<br />
Systeme an, dass sich Denken <strong>und</strong> Handeln an jedem Punkt <strong>im</strong><br />
Entwicklungsverlauf von Augenblick zu Augenblick wandeln, als<br />
Reaktion auf die jeweilige Situation sowie auf die unmittelbar<br />
vorangehende <strong>und</strong> die länger zurückliegende Geschichte von<br />
Handlungen des <strong>Kindes</strong> in ähnlichen Situationen. So bemerkten<br />
Thelen <strong>und</strong> Smith (1998), dass die Entwicklung der Greifens<br />
sowohl Rückschritte als auch Fortschritte enthielt, <strong>und</strong> Thelen<br />
(2001) beschrieb, wie die frühen Greifversuche von Hannah <strong>und</strong><br />
Gabriel ihren späteren Weg zu geübtem Greifen beeinflussten.<br />
Wie der zweite Terminus der Bezeichnung nahelegt, beschreibt<br />
diese Theorie jedes Kind als ein gut integriertes System, in dem<br />
viele Subsysteme zusammenarbeiten – Wahrnehmung, Handeln,<br />
Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache, soziale Interaktion <strong>und</strong><br />
so weiter –, um das Verhalten zu best<strong>im</strong>men. So haben Analysen<br />
dynamischer Systeme zutage gebracht, dass die Leistung in Tests<br />
zur Objektpermanenz, Piagets klassischem Maß für die kognitive<br />
Entwicklung von Kindern, nicht nur vom begrifflichen Verständnis<br />
beeinflusst ist, sondern von vielen anderen Faktoren, zu denen<br />
Veränderungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des<br />
Gedächtnisses <strong>und</strong> der motorischen Fertigkeiten gehören (Smith<br />
et al. 1999). Die Annahmen, dass Entwicklung dynamisch verläuft<br />
<strong>und</strong> dass sie als ein sich selbst organisierendes System funktioniert,<br />
ist zentral für die Sicht dieser Theorie auf das Wesen des <strong>Kindes</strong>.<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />
Die Theorien dynamischer Systeme sind der neueste der fünf<br />
Theorietypen, die wir in diesem Kapitel darstellen, <strong>und</strong> ihre Sicht<br />
auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> enthält Einflüsse aus allen übrigen.<br />
Wie die Theorie von Piaget betonen die Theorien dynamischer<br />
Systeme die angeborene Motivation des <strong>Kindes</strong>, seine Umgebung<br />
zu erforschen; wie die Informationsverarbeitungstheorien betont<br />
er die genaue Analyse be<strong>im</strong> Problemlösen; <strong>und</strong> wie die soziokulturellen<br />
Theorien betont er den formenden Einfluss anderer<br />
Menschen. Diese Ähnlichkeiten mit anderen Theorien, ebenso<br />
wie ihre Unterschiedlichkeiten, zeigen sich deutlich bei der Bedeutung,<br />
die Theorien dynamischer Systeme auf die Motivation<br />
<strong>und</strong> die Rolle der Handlung legen.<br />
Motivatoren der Entwicklung<br />
Ähnlich wie die Theorie von Piaget <strong>und</strong> mehr als alle anderen<br />
Theorien betonen Theorien dynamischer Systeme, dass Kinder<br />
vom Säuglingsalter an stark motiviert sind, etwas von der sie<br />
umgebenden Welt zu erfahren <strong>und</strong> ihre eigenen Fähigkeiten zu<br />
erproben <strong>und</strong> erweitern (von Hofsten 2007). Diese Erk<strong>und</strong>ungs<strong>und</strong><br />
Lernmotivation aus eigenem Antrieb kommt ganz deutlich<br />
in der Tatsache zum Ausdruck, dass Kinder beharrlich neue Fertigkeiten<br />
üben, selbst wenn sie effizientere, gut erprobte Fertigkeiten<br />
besitzen. So fahren Kleinkinder unbeirrt in ihren ersten<br />
unsicheren Gehversuchen fort, obwohl sie krabbelnd schneller<br />
<strong>und</strong> ohne Sturzrisiko zum Ziel kämen (Adolph <strong>und</strong> Berger 2011).<br />
Anders als Piagets Theorie <strong>und</strong> ähnlich wie die soziokulturelle<br />
Theorien betonen auch die Theorien dynamischer Systeme<br />
das kindliche Interesse an der sozialen Welt als einen entscheidenden<br />
Entwicklungsmotivator. Wie wir in ▶ Kap. 1 über das<br />
aktive Kind bemerkten, ziehen schon Neugeborene Geräusche,<br />
Bewegungen <strong>und</strong> Züge des menschlichen Gesichts nahezu allen<br />
anderen Reizen vor. Zwischen zehn <strong>und</strong> zwölf Monaten tritt das<br />
Interesse des Säuglings an der sozialen Welt hervor: Intersubjektivität<br />
entsteht. Kinder schauen nun recht konstant dorthin,<br />
wo die Menschen, mit denen sie interagieren, hinschauen, <strong>und</strong><br />
lenken die Aufmerksamkeit anderer auf Dinge, die sie selbst interessant<br />
finden (Deák et al. 2000; von Hofsten et al. 2005). Die<br />
Vertreter der Theorien dynamischer Systeme heben hervor, dass<br />
die Beobachtung anderer Menschen, das Imitieren ihrer Handlungen<br />
<strong>und</strong> das Aufsichziehen ihrer Aufmerksamkeit allesamt<br />
starke Entwicklungsmotivatoren sind (Fischer <strong>und</strong> Bidell 2006;<br />
von Hofsten 2007).
Theorien dynamischer Systeme<br />
147 4<br />
Die zentrale Bedeutung des Handelns<br />
Die Besonderheit des systemischen Ansatzes liegt darin, überzeugend<br />
aufzuzeigen, wie die spezifischen Handlungen der Kinder<br />
die Entwicklung formen. Piagets Theorie setzt die Rolle der<br />
Handlungen zwar bereits für die sensomotorische Stufe voraus,<br />
aber die Theorien dynamischer Systeme unterstreichen nachdrücklicher<br />
als jede andere Theorie, wie Handlungen über die<br />
gesamte Lebensspanne zur Entwicklung beitragen. Dieses auf die<br />
Rolle der Handlung gerichtete Augenmerk hat zu einer Vielzahl<br />
interessanter Entdeckungen geführt. Zum Beispiel ermöglicht<br />
das Greifen nach Gegenständen es Säuglingen, aus den Greifbewegungen<br />
anderer Menschen auf deren Ziele zu schließen; <strong>und</strong><br />
Kinder, die geschickt greifen können, blicken bei Greifbewegungen<br />
anderer eher auf das mögliche Ziel, wenn sie den Beginn der<br />
Greifbewegung sehen (von Hofsten 2007). Ein weiteres Beispiel<br />
dafür, wie Säuglinge aus ihren Handlungen lernen, liefert eine<br />
Studie, in der Säuglinge mit Klettbandfäustlingen ausgestattet<br />
wurden <strong>und</strong> so mit Klettband versehene Gegenstände „greifen“<br />
<strong>und</strong> untersuchen konnten, die sie anders nicht hätten aufnehmen<br />
können. Nachdem sie zwei Wochen lang Erfahrungen darin gesammelt<br />
hatten, mit Klettbandfäustlingen Gegenstände zu greifen,<br />
die mit Klettband versehen waren, erwiesen sich die Säuglinge<br />
als fähiger, gewöhnliche Gegenstände ohne Handschuhe<br />
zu greifen <strong>und</strong> zu untersuchen als andere Kinder gleichen Alters<br />
(Needham et al. 2002).<br />
..<br />
Das Greifen mithilfe eines Klettstreifens am Handschuh <strong>und</strong> auf dem Spielzeug<br />
verbesserte die späteren Fähigkeiten be<strong>im</strong> Ergreifen <strong>und</strong> Explorieren<br />
von Gegenständen ohne den Handschuh. (Libertus <strong>und</strong> Needham (2010); mit<br />
fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Handlungen formen die Entwicklung der Kinder weit über<br />
das frühkindliche Anfassen <strong>und</strong> Ergreifen von Gegenständen<br />
hinaus. Handlungen wirken sich auch auf das Kategorienlernen<br />
aus. In einer Untersuchung ermutigte man Kinder, einen Gegenstand<br />
aufwärts <strong>und</strong> abwärts zu bewegen; sie kategorisierten ihn<br />
daraufhin als zu einer Gruppe von Gegenständen gehörig, die<br />
man vertikal am besten bewegen kann; ermutigte man Kinder,<br />
denselben Gegenstand seitwärts zu bewegen, so kategorisierten<br />
sie ihn als zu einer Gruppe von Gegenständen gehörig, die sich<br />
horizontal am besten bewegen lassen (Smith 2005). Handlungen<br />
wirken sich auch auf den Wortschatzerwerb <strong>und</strong> auf das Verallgemeinern<br />
aus (Gershkoff-Stowe et al. 2006; Samuelson <strong>und</strong> Horst<br />
2008); so beeinträchtigen exper<strong>im</strong>entelle Manipulationen, die<br />
dem Kind einen falschen Namen für einen Gegenstand nahelegen,<br />
die künftigen Versuche des <strong>Kindes</strong>, den richtigen Namen des<br />
Gegenstands zu lernen. Handlungen formen darüber hinaus das<br />
Gedächtnis. Das zeigen Untersuchungen, in denen die Kinder<br />
Gegenstände orten <strong>und</strong> ausgraben sollten, die vor ihren Augen in<br />
einem Sandkasten versteckt worden waren. Als die Gegenstände<br />
erneut vor ihren Augen versteckt wurden, blieb die Erinnerung<br />
daran, wo diese Gegenstände ursprünglich versteckt waren,<br />
wirksam: Die Kinder suchten nun zwischen dem vergangenen<br />
<strong>und</strong> dem gegenwärtigen Versteck, als hätte ihr Gedächtnis einen<br />
Kompromiss zwischen dem neuen Platz <strong>und</strong> dem Ort geschlossen,<br />
wo sie die Gegenstände ursprünglich gesucht hatten (Schutte<br />
et al. 2003; Zelazo et al. 1998). Handlungen formen also das Denken<br />
ebenso, wie das Denken die Handlungen formt.<br />
Zentrale Entwicklungsfragen<br />
Zwei Entwicklungsthemen, die in den Theorien dynamischer<br />
Systeme besonders hervorstechen, sind die Fragen, wie sich das<br />
kognitive System selbst organisiert <strong>und</strong> wie es sich wandelt.<br />
Selbstorganisation<br />
Die Theorien dynamischer Systeme betrachten Entwicklung<br />
als einen sich selbst organisierenden Prozess, in dem Aufmerksamkeit,<br />
Gedächtnis, Emotionen <strong>und</strong> Handlungen so integriert<br />
werden, wie es die Anpassung an eine sich ständig wandelnde<br />
Umwelt erfordert (Spencer et al. 2006). Man hat diesen Organisationsprozess<br />
gelegentlich als weiche Funktionsgruppe (soft<br />
assembly) bezeichnet, weil sich die Komponenten <strong>und</strong> ihre Organisation<br />
von einem Zeitpunkt zum nächsten <strong>und</strong> von einer Situation<br />
zur anderen neu organisieren <strong>und</strong> nicht über Zeiten <strong>und</strong><br />
Situationen hinweg gemeinsam denselben festen Regeln folgen.<br />
Zu welcher Art von Forschung die systemische Perspektive<br />
führt, zeigt sich besonders deutlich an best<strong>im</strong>mten Untersuchungen<br />
des A-nicht-B-Suchfehlers, den Kinder zwischen acht <strong>und</strong><br />
zwölf Monaten in Piagets klassischer Objektpermanenz-Aufgabe<br />
begehen (. Abb. 4.1). Piaget (1937/1998) erklärte die Tatsache,<br />
dass die Kleinkinder dort nach einem verdeckten Spielzeug suchen,<br />
wo sie es früher gef<strong>und</strong>en haben (Ort A), anstatt dort, wo<br />
es vor ihren Augen zuletzt versteckt wurde (Ort B), mit der Annahme,<br />
dass Kleinkindern vor ihrem ersten Geburtstag ein klares<br />
Konzept der Objektpermanenz fehlt.<br />
Betrachtet man den A-nicht-B-Suchfehler dagegen aus der<br />
systemischen Perspektive, so beeinflussen neben dem Verständnis<br />
der Objektpermanenz viele andere Faktoren die Leistung bei<br />
der Suchaufgabe. Smith et al. (1999) argumentieren, dass das<br />
vorausgehende Greifen der Babys nach Ort A sich zur Gewohnheit<br />
ausgebildet hat, was das Greifverhalten auch dann noch<br />
beeinflusst, wenn man den Gegenstand anschließend an Ort B<br />
versteckt. Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieser Prämisse trafen die Forscher<br />
mehrere Vorhersagen, die sich später bestätigten. Eine davon lau-
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23<br />
Exkurs 4.4: Anwendungen: Pädagogische Anwendungen der Theorien dynamischer Systeme | |<br />
Wie in ▶ Kap. 2 erwähnt, entwickeln zu früh geborene<br />
Kinder mit geringem Geburtsgewicht<br />
wahrscheinlicher als andere Kinder Entwicklungsstörungen;<br />
eine davon ist das langsamere<br />
Auftreten <strong>und</strong> Sichverfeinern des Greifens<br />
(Fallang et al. 2003). Diese Verzögerungen be<strong>im</strong><br />
Greifen verlangsamen die Entwicklung der am<br />
Greifen beteiligten Gehirnregionen (Martin<br />
et al. 2004) <strong>und</strong> schränken die Fähigkeit der<br />
Kinder ein, ihre Umgebung zu erforschen <strong>und</strong><br />
mehr über die Gegenstände des Alltags zu<br />
erfahren (Lobo et al. 2004). Eine Vielzahl von<br />
scheinbar vernünftigen Bemühungen, das<br />
Greifen frühgeborener Kinder zu verbessern,<br />
etwa indem man ihre Arme be<strong>im</strong> Greifen führt,<br />
erbrachte ziemlich entmutigende Resultate<br />
(Blauw-Hospers <strong>und</strong> Hadders-Algra 2005).<br />
Im Unterschied dazu war eine kürzlich<br />
erprobte Intervention auf der Gr<strong>und</strong>lage dynamischer<br />
Systeme recht erfolgreich (Heathcock<br />
et al. 2008). Diese Intervention wurde durch<br />
zwei Forschungsresultate angeregt: (1) die Beobachtung<br />
von Thelen et al. (1993), dass Langsamkeit<br />
bei selbstinitiierten Armbewegungen<br />
tet: Je häufiger die Babys einen Gegenstand finden, indem sie zu<br />
einem best<strong>im</strong>mten Ort greifen, desto wahrscheinlicher werden<br />
sie wiederum dorthin greifen, wenn der Gegenstand an einem<br />
anderen Ort versteckt wurde. Eine weitere Vorhersage besagte,<br />
dass Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit nach Ort A greifen,<br />
wenn man die Anforderungen an das Gedächtnis erhöht <strong>und</strong><br />
den Kindern erst 3 s nach dem Verstecken des Gegenstands am<br />
neuen Ort B gestattet, nach dem verborgenen Gegenstand zu<br />
suchen; auch diese Vorhersage bestätigte sich (Clearfield et al.<br />
2009). Die Überlegung war hier, dass die Stärke der neuen Erinnerung<br />
schneller verblassen würde als die Gewohnheit, an Ort A<br />
zu suchen. Die Theorie dynamischer Systeme sagte ferner vorher,<br />
dass die Aufmerksamkeit der Kinder ihre Objektpermanenzleistung<br />
beeinflusst. Tatsächlich griffen die Kinder dann, wenn<br />
man genau in dem Moment, in dem sie zulangen wollten, ihre<br />
Aufmerksamkeit durch einen Fingertipp auf einen Ort lenkte,<br />
an dem das Objekt nicht versteckt war, zu diesem angetippten<br />
Ort, unabhängig davon, an welchem Ort das Objekt tatsächlich<br />
versteckt worden war.<br />
Der vielleicht überraschendste Test solcher Vorhersagen bestand<br />
darin, dass die Forscher kleine Gewichte an den Handgelenken<br />
der Kinder befestigten, nachdem diese nach Ort A gegriffen<br />
hatten, bevor der Gegenstand an Ort B versteckt wurde;<br />
das verbesserte die Leistung in der Objektpermanenzaufgabe<br />
(Diedrich et al. 2000). Die Forscher hatten genau dies vorhergesagt<br />
<strong>und</strong> damit begründet, dass die Gewichte an den Handgelenken<br />
zum Ergreifen des Gegenstands andere Muskelspannungen<br />
<strong>und</strong> Kräfte erfordern <strong>und</strong> dadurch die Gewohnheit der<br />
Kinder stören, nach Ort A zu greifen. Statt ein bloßes Maß des<br />
begrifflichen Verständnisses zu liefern, spiegelt die Leistung in<br />
der Objektpermanenzaufgabe anscheinend ein Zusammenwirken<br />
verschiedener Komponenten wider: der Gewohnheit, nach<br />
Ort A zu greifen, den Gedächtnisanforderungen der jeweiligen<br />
die Entwicklung des Greifens behindert, <strong>und</strong><br />
(2) die Beobachtung von Needham et al.<br />
(2002), dass Kleinkinder von Erfahrungen <strong>im</strong><br />
Hinlangen <strong>und</strong> Ergreifen von Gegenständen<br />
profitieren, wenn sie Gelegenheit hatten, unter<br />
vereinfachten Trainingsbedingungen Gegenstände<br />
mit Klettbandfäustlingen zu greifen.<br />
Zu Beginn ihrer Intervention wurden die<br />
Betreuer der frühgeborenen Kinder in der<br />
Exper<strong>im</strong>entalgruppe von Heathcock, Lobo<br />
<strong>und</strong> Galloway aufgefordert, den Kindern best<strong>im</strong>mte<br />
Bewegungserfahrungen zu verschaffen.<br />
Insbesondere sollten die Kinder zu Armbewegungen<br />
angeregt werden, indem ihnen<br />
(1) ein Glöckchen ans Handgelenk geb<strong>und</strong>en<br />
wurde, das bei Armbewegungen klingelt <strong>und</strong><br />
so vermutlich zu weiteren Armbewegungen<br />
motiviert; oder sie bekamen (2) Klettbandfäustlinge,<br />
mit denen sie Spielzeuge, die mit<br />
Klettband versehen waren <strong>und</strong> die man ihnen<br />
hinhielt, erreichen <strong>und</strong> ergreifen konnten. Man<br />
bat die Betreuungspersonen darum, dieses<br />
Training zu Hause acht Wochen lang fünfmal<br />
in der Woche durchzuführen.<br />
Die frühgeborenen Kontrollgruppenkinder<br />
sollten nach demselben Zeitplan wie dem der<br />
Exper<strong>im</strong>entalgruppe durch best<strong>im</strong>mte soziale<br />
Erfahrungen angeregt werden, etwa indem die<br />
Betreuungspersonen ihnen etwas vorsangen<br />
oder mit ihnen sprachen. In regelmäßigen Abständen<br />
wurden die Kinder beider Gruppen <strong>im</strong><br />
Labor auf ihr Greif- <strong>und</strong> Explorationsverhalten<br />
unter kontrollierten Bedingungen <strong>und</strong> be<strong>im</strong><br />
freien Spiel beobachtet.<br />
Wie zu erwarten, verbesserte sich <strong>im</strong> Verlauf<br />
der acht Untersuchungswochen das Greifen<br />
der frühgeborenen Kinder beider Gruppen.<br />
Die Kinder der Exper<strong>im</strong>entalgruppe verbesserten<br />
sich jedoch in höherem Ausmaß. Sie<br />
berührten Spielzeuge, die man ihnen hinhielt,<br />
häufiger <strong>und</strong> taten dies häufiger mit ihrer<br />
Handinnenfläche, wie das zum Greifen nötig<br />
ist. Solche Bef<strong>und</strong>e könnten frühgeborenen<br />
Kindern zugutekommen, um kognitive <strong>und</strong><br />
motorische Beeinträchtigungen zu vermeiden,<br />
die durch die verzögerte Entwicklung des<br />
Greifens mitverursacht sind.<br />
Aufgabe, des jeweiligen Aufmerksamkeitsfokus der Kinder <strong>und</strong><br />
des Zusammenspiels der Muskelkräfte, die in den alten <strong>und</strong> den<br />
neuen Situationen be<strong>im</strong> Greifen nötig sind.<br />
Wie Veränderung geschieht<br />
Die Theorien dynamischer Systeme postulieren, dass Veränderungen<br />
durch Mechanismen der Variation <strong>und</strong> der Selektion<br />
geschehen, analog zur biologischen Evolution (Fischer <strong>und</strong><br />
Bidell 2006; Steenbeek <strong>und</strong> Van Geert 2008). Variation meint in<br />
diesem Zusammenhang unterschiedliche Verhaltensweisen zur<br />
Verfolgung desselben Zieles. Beispielsweise könnte ein Kleinkind<br />
einen kleinen Abhang überwinden, indem es hinuntergeht,<br />
krabbelt oder sich rutschen lässt, wobei es auf dem Bauch oder<br />
mit den Füßen nach vorn rutschen kann, <strong>und</strong> so weiter (Adolph<br />
1997; Adolph <strong>und</strong> Berger 2011). Selektion bezeichnet hier eine<br />
wachsende Auswahl an Verhaltensoptionen, die sich zum Erreichen<br />
von Zielen als nützlich bewährt haben, <strong>und</strong> eine sinkende<br />
Auswahl an weniger effektiven Verhaltensweisen. Beispielsweise<br />
werden Kinder, die gerade Laufen gelernt haben, sich in ihrer opt<strong>im</strong>istischen<br />
Selbstüberschätzung vielleicht trauen, eine Rutsche<br />
hinunterzulaufen <strong>und</strong> oft hinfallen, aber nach einigen Monaten<br />
werden sie mit zunehmender Erfahrung die Steilheit genauer<br />
einschätzen <strong>und</strong> sich überlegen, ob sie aufrecht gehend hinunterkommen.<br />
Wenn Kinder aus alternativen Lösungsmöglichkeiten auswählen,<br />
zeigen sich verschiedene Einflüsse. Am wichtigsten ist<br />
der relative Erfolg jedes Lösungsversuchs be<strong>im</strong> Erreichen eines<br />
best<strong>im</strong>mten Zieles; mit dem Hinzugewinn von Erfahrung stützen<br />
sich die Kinder in wachsendem Maß auf Lösungsansätze,<br />
die früher schon das gewünschte Ergebnis geliefert haben. Ein<br />
weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist die Effizienz; die Kinder<br />
wählen vermehrt solche Lösungsmöglichkeiten, die schneller<br />
<strong>und</strong> müheloser als andere Lösungsansätze zum Ziel führen.
Zusammenfassung<br />
Ein dritter Gesichtspunkt ist die Neuartigkeit, die Verlockung<br />
<strong>und</strong> Herausforderung, etwas Neues auszuprobieren. Manchmal<br />
wählen Kinder neue Lösungswege, die nicht effektiver oder sogar<br />
ineffektiver als die gewohnten sind, denen aber ein Potenzial innezuwohnen<br />
scheint, effektiver zu werden. So verwenden sie zum<br />
Einprägen die Gedächtnisstrategie des Rehearsals, auch wenn<br />
das zunächst ihr Gedächtnis gar nicht verbessert, aber weil sie<br />
die neue Strategie trotzdem anwenden, verbessert sie schließlich<br />
das Behalten der laut wiederholten Information (Miller <strong>und</strong><br />
Seier 1994). Dieses Bevorzugen neuartiger Lösungen erweist<br />
sich als adaptiv, weil eine anfangs weniger effektive Strategie mit<br />
der Übung häufig effizienter wird als die bisherigen Strategien<br />
(Wittmann et al. 2008). Wie in ▶ Exkurs 4.4 dargelegt, führten die<br />
Theorien dynamischer Systeme über Veränderungsmechanismen<br />
sowohl zu nützlichen Anwendungen als auch zu Fortschritten in<br />
der Theoriebildung.<br />
In Kürze | |<br />
Die Theorien dynamischer System betrachten Kinder als<br />
sich ständig wandelnde, wohlintegrierte Organismen, die<br />
Wahrnehmung, Handeln, Aufmerksamkeit, Gedächtnis,<br />
Sprache <strong>und</strong> soziale Einflüsse durch Selbstorganisation<br />
miteinander verbinden, um Handlungen hervorbringen,<br />
die zu Zielen führen. Die Handlungen der Kinder sind<br />
unter dieser Perspektive durch Erfahrungen in mehr oder<br />
weniger weiter zurückliegender Vergangenheit, durch die<br />
momentanen körperlichen Fähigkeiten <strong>und</strong> durch ihre<br />
unmittelbare materielle <strong>und</strong> soziale Umwelt geprägt. Umgekehrt<br />
formen die Handlungen ihrerseits die Entwicklung<br />
des Kategorienlernens, des Konzepterwerbs, des Gedächtnisses,<br />
der Sprache <strong>und</strong> anderer Fähigkeiten. Einzigartig<br />
sind die Theorien dynamischer Systeme in ihrem Fokus<br />
darauf, wie die Handlungen der Kinder deren Entwicklung<br />
formen, <strong>und</strong> in der breiten Perspektive auf die Interaktion<br />
vielfältiger Einflüsse, die die Entwicklung unterschiedlicher<br />
Fähigkeiten steuern.<br />
Zusammenfassung<br />
Entwicklungstheorien sind wichtig, weil sie einen Rahmen für<br />
das Verständnis wichtiger Phänomene bieten, relevante Fragen<br />
über das Wesen des Menschen aufwerfen <strong>und</strong> neue Forschungen<br />
anregen. Fünf wichtige Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
sind die Theorie von Piaget, der Informationsverarbeitungsansatz,<br />
die soziokulturellen Theorien sowie der dynamische Systemansatz.<br />
-<br />
Die Theorie von Piaget<br />
Die Theorie Piagets hat unter anderem deshalb so lang<br />
anhaltende Wirkung, weil sie einen lebendigen Eindruck<br />
vom kindlichen Denken in verschiedenen Altersstufen<br />
vermittelt, weil sie eine breite Alters- <strong>und</strong> Inhaltsspanne<br />
umfasst <strong>und</strong> weil sie viele faszinierende <strong>und</strong> überraschende<br />
Beobachtungen kindlicher Denkleistungen bietet.<br />
149 4<br />
-<br />
Piagets Theorie wird oft als „konstruktivistisch“ bezeichnet,<br />
weil in ihrer Darstellung Kinder – als Reaktion auf ihre<br />
Erfahrungen <strong>und</strong> Erlebnisse – aktiv Wissen für sich selbst<br />
konstruieren. Piagets Theorie postuliert, dass Kinder mithilfe<br />
zweier von Geburt an vorhandener Prozesse lernen:<br />
Ass<strong>im</strong>ilation <strong>und</strong> Akkommodation. Weiterhin wird angenommen,<br />
dass sie die Beiträge dieser beiden Teilprozesse<br />
durch den dritten Prozess, die Äquilibration, in Balance<br />
bringen. Diese Prozesse bewirken Kontinuität <strong>im</strong> Entwicklungsverlauf.<br />
-<br />
Piagets Theorie unterteilt die kognitive Entwicklung in vier<br />
ausgedehnte Stadien: das sensomotorische Stadium (Geburt<br />
bis zwei Jahre), das präoperationale Stadium (zwei bis<br />
sieben Jahre), das konkret-operationale Stadium (sieben bis<br />
zwölf Jahre) <strong>und</strong> das formal-operationale Stadium (zwölf<br />
Jahre <strong>und</strong> älter). Diese Stadien spiegeln einen diskontinuierlichen<br />
Entwicklungsverlauf wider.<br />
-<br />
Im sensomotorischen Stadium kommt die Intelligenz der<br />
Kinder vorwiegend durch motorische Interaktionen mit der<br />
Umwelt zum Ausdruck. Die Säuglinge erwerben Konzepte<br />
wie die Objektpermanenz <strong>und</strong> können das Verhalten anderer<br />
zeitlich verzögert nachahmen.<br />
-<br />
Im präoperationalen Stadium erwerben Kinder die Fähigkeit,<br />
ihre Erfahrungen in Form von Sprache, mentalen<br />
Vorstellungsbildern <strong>und</strong> Gedanken zu repräsentieren;<br />
wegen kognitiver Beschränkungen wie Egozentrismus <strong>und</strong><br />
Zentrierung haben sie jedoch bei vielen Aufgaben Lösungsschwierigkeiten,<br />
beispielsweise bei diversen Aufgaben zur<br />
Invarianz <strong>und</strong> bei Aufgaben, die mit dem Übernehmen der<br />
-<br />
Perspektive anderer zusammenhängen.<br />
Im konkret-operationalen Stadium erlangen Kinder die Fähigkeit,<br />
angesichts konkreter Gegenstände <strong>und</strong> Ereignisse<br />
logisch zu schlussfolgern; es bestehen aber noch Schwierigkeiten<br />
<strong>im</strong> logischen Umgang mit rein abstrakten Begriffen<br />
<strong>und</strong> mit Aufgaben, die hypothetisches Denken erfordern,<br />
beispielsweise mit dem Pendelproblem.<br />
Im formal-operationalen Stadium erwerben Kinder die<br />
-<br />
kognitiven Fähigkeiten zum hypothetischen Denken.<br />
Vier Schwächen der Theorie Piagets bestehen darin, dass<br />
sie das Denken des <strong>Kindes</strong> konsistenter darstellt, als es<br />
ist, dass sie die kognitive Kompetenz von Säuglingen<br />
<strong>und</strong> Kleinkindern ebenso unterschätzt wie den Beitrag<br />
der sozialen Welt zur kognitiven Entwicklung <strong>und</strong> dass<br />
sie die Mechanismen, die das Denken <strong>und</strong> das kognitive<br />
Wachstum hervorbringen, nur andeutungsweise beschreibt.<br />
-<br />
Theorien der Informationsverarbeitung<br />
Informationsverarbeitungstheorien konzentrieren sich<br />
auf die speziellen geistigen Prozesse, die dem Denken von<br />
Kindern zugr<strong>und</strong>e liegen. Schon <strong>im</strong> Säuglingsalter wird<br />
Kindern zugeschrieben, dass sie Ziele aktiv verfolgen, an<br />
Verarbeitungsgrenzen stoßen <strong>und</strong> Strategien ausbilden, mit<br />
deren Hilfe sie die Verarbeitungsgrenzen überwinden <strong>und</strong><br />
-<br />
ihre Ziele erreichen können.<br />
Das Gedächtnissystem besteht aus Arbeits- <strong>und</strong> Langzeitgedächtnis<br />
sowie den exekutiven Funktionen.
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150<br />
Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
-<br />
Das Arbeitsgedächtnis (oft auch als Kurzzeitgedächtnis<br />
bezeichnet) ist ein System zur Steuerung der aktiven Aufmerksamkeit,<br />
zum Aufnehmen, Behalten, Speichern <strong>und</strong><br />
Verarbeiten von Information.<br />
Das Langzeitgedächtnis enthält das behaltene Wissen, das<br />
-<br />
sich <strong>im</strong> Laufe des Lebens ansammelt.<br />
Die exekutiven Funktionen sind entscheidend für die<br />
Kontrolle des Denkens <strong>und</strong> Handelns; sie entwickeln sich<br />
großenteils <strong>im</strong> Kindergartenalter <strong>und</strong> in den ersten Jahren<br />
der Gr<strong>und</strong>schulzeit <strong>und</strong> korrelieren mit schulischem <strong>und</strong><br />
-<br />
beruflichem Erfolg.<br />
Die Entwicklung von Gedächtnis <strong>und</strong> Lernen reflektiert in<br />
großem Ausmaß Verbesserungen der Basisprozesse <strong>und</strong><br />
-<br />
Strategien sowie des Inhaltswissens.<br />
Mithilfe von kognitiven Basisprozessen können Säuglinge<br />
von Geburt an lernen <strong>und</strong> sich erinnern. Zu den wichtigsten<br />
Basisprozessen gehören Assoziation, Wiedererkennen,<br />
-<br />
Generalisierung <strong>und</strong> Encodierung.<br />
Der Einsatz von Strategien erhöht die Lern- <strong>und</strong> Gedächtnisleistungen<br />
über das Niveau hinaus, das allein durch die<br />
Basisprozesse erreicht werden kann. Zwei wichtige Strategien<br />
sind das Rehearsal in Form ständigen Wiederholens<br />
<strong>und</strong> die selektive Aufmerksamkeit.<br />
Zunehmendes Inhaltswissen erhöht die Lern- <strong>und</strong> Gedächtnisleistungen<br />
aller Arten von Information.<br />
-<br />
Zur Entfaltung des Problemlösens trägt vorrangig die Entwicklung<br />
des Planens <strong>und</strong> des analogen Schlussfolgerns bei.<br />
-<br />
Soziokulturelle Theorien<br />
Ausgehend von der Theorie Wygotskis haben sich soziokulturelle<br />
Theorien darauf konzentriert zu klären, wie die<br />
soziale Welt die Entwicklung formt. Nach diesem Ansatz<br />
gestaltet sich die Entwicklung nicht nur durch Interaktionen<br />
mit anderen Menschen <strong>und</strong> die daraus erlernten Fertigkeiten,<br />
sondern auch durch die Gebrauchsgegenstände,<br />
mit denen Kinder umgehen, <strong>und</strong> durch die kulturellen<br />
-<br />
Werte <strong>und</strong> Traditionen der Gesellschaft als solcher.<br />
Aus der Sicht soziokultureller Theorien unterscheiden sich<br />
Menschen von anderen Lebewesen durch ihre Neigung,<br />
anderen etwas zu zeigen <strong>und</strong> beizubringen (zu lehren), <strong>und</strong><br />
-<br />
ihre Fähigkeit, aus den Instruktionen anderer zu lernen.<br />
Die Herstellung von Intersubjektivität zwischen Menschen<br />
durch geteilte Aufmerksamkeit ist wesentlich für das Lernen.<br />
-<br />
Soziokulturellen Theorien zufolge lernen Menschen durch<br />
gelenkte Partizipation <strong>und</strong> durch soziale Stützung, wobei<br />
die besser informierten Experten die Lernenden in ihren<br />
Bemühungen unterstützen.<br />
-<br />
Theorien dynamischer Systeme<br />
Nach den Theorien dynamischer Systeme ist der Wandel<br />
die entscheidende Konstante in der Entwicklung. Statt<br />
Entwicklung als eine Folge von Sprüngen zwischen langen<br />
Phasen der Stabilität <strong>und</strong> kurzen Phasen dramatischer Veränderung<br />
zu beschreiben, gehen diese Theorien von einem<br />
ständigen Wandel in allen Phasen aus.<br />
-<br />
Diese Theorien sehen jeden Menschen als ein einheitliches<br />
System, das Ziele erreicht, indem es Wahrnehmung, Handeln,<br />
Kategorienbildung, Motivation, Gedächtnis, Sprache,<br />
begriffliches Verständnis <strong>und</strong> das Wissen über die materielle<br />
<strong>und</strong> soziale Welt integriert.<br />
-<br />
Theorien dynamischer Systeme sehen Entwicklung als einen<br />
sich selbst organisierenden Prozess, der je nach Bedarf<br />
die nötigen Komponenten verbindet, um sich an die sich<br />
-<br />
kontinuierlich wandelnde Umwelt anzupassen.<br />
Zum Erreichen von Zielen ist beides erforderlich, Denken<br />
<strong>und</strong> Handeln. Das Denken formt das Handeln, wird seinerseits<br />
aber auch vom Handeln geformt.<br />
-<br />
Variation <strong>und</strong> Selektion führen – ähnlich wie bei der biologischen<br />
Evolution – zur kognitiven Entwicklung.<br />
Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />
1. Piagets Theorie gehört seit fast einem Jahrh<strong>und</strong>ert zu den<br />
klassischen Standards. Wird sich diese Bedeutung auch<br />
über die kommenden 20 Jahre fortsetzen? Warum oder<br />
warum nicht?<br />
2. Glauben Sie, dass der Ausdruck egozentrisch eine gute<br />
Beschreibung dafür ist, wie Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter<br />
insgesamt die Welt sehen? Erläutern Sie Ihre Antwort auf<br />
der Gr<strong>und</strong>lage des in diesem Kapitel Gelernten <strong>und</strong> Ihrer<br />
eigenen Erfahrung. Erklären Sie, in welcher Hinsicht Kinder<br />
in diesem Alter egozentrisch sind <strong>und</strong> in welcher nicht.<br />
3. Informationsverarbeitungsansätze erfassen kognitive<br />
Prozesse tendenziell spezifischer als die aus anderen Theorien<br />
gewonnenen Analysen. Halten Sie diese Spezifität für<br />
einen Vorteil oder für einen Nachteil? Warum?<br />
4. Entwickeln sich neue Verhalten ähnlich wie Tierarten <strong>im</strong><br />
Laufe der Evolution durch Variation <strong>und</strong> Selektion – so, wie<br />
es die Theorien dynamischer Systeme darstellen?<br />
5. Stellen Sie sich vor, Sie wollen einem sechsjährigen Kind<br />
dabei helfen, eine Fähigkeit zu erlernen, die Sie selbst<br />
besitzen. Beschreiben Sie, wie Sie dabei vorgehen würden,<br />
unter Einbeziehung der Annahmen zur gelenkten Partizipation<br />
<strong>und</strong> zur sozialen Stützung.<br />
6. In den dynamischen Systemansätzen finden sich Einflüsse<br />
aus jeder der anderen Theorien, die in diesem Kapitel<br />
dargestellt wurden. Welches Konzept hat Ihrer Meinung<br />
nach den stärksten Einfluss: Piagets Ansatz, die Informationsverarbeitung<br />
oder die Soziokultur? Begründen Sie Ihre<br />
Meinung.<br />
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5<br />
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154<br />
Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
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155 5<br />
Die frühe Kindheit – Sehen,<br />
Denken <strong>und</strong> Tun<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Wahrnehmung – 157<br />
Sehen – 157<br />
Akustische Wahrnehmung – 165<br />
Geschmack <strong>und</strong> Geruch – 168<br />
Berührung – 168<br />
Intermodale Wahrnehmung – 169<br />
Motorische Entwicklung – 170<br />
Reflexe – 171<br />
Meilensteine der Motorik – 171<br />
Aktuelle Perspektiven – 173<br />
Die Welt des Säuglings erweitert sich – 174<br />
Lernen – 178<br />
Habituation – 178<br />
Wahrnehmungslernen – 179<br />
Statistisches Lernen – 180<br />
Klassisches Konditionieren – 180<br />
Operantes Konditionieren – 181<br />
Beobachtungs- <strong>und</strong> Nachahmungslernen – 182<br />
Rationales Lernen – 183<br />
Kognition – 184<br />
Gegenstandswissen – 185<br />
Physikalisches Wissen – 186<br />
Soziales Wissen – 187<br />
Ausblick – 189<br />
Zusammenfassung – 190<br />
Literatur – 191<br />
S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />
DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
156<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
1<br />
2<br />
angenehmen Laute, die sie zuvor produziert hatten. Als Benjamin<br />
als Reaktion darauf zu weinen beginnt, stürzen die beiden<br />
Erwachsenen zu ihm hin, tätscheln ihn <strong>und</strong> machen für ihn sanfte,<br />
besonders angenehme Geräusche.<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
© Sabina Pauen<br />
Der vier Monate alte Benjamin sitzt in seinem Kindersitz auf der<br />
Arbeitsplatte der Küchenzeile <strong>und</strong> schaut seinen Eltern be<strong>im</strong> Abwasch<br />
zu. Was er beobachtet, sind zwei Menschen, die sich von<br />
selbst bewegen, <strong>und</strong> eine Auswahl an Gegenständen aus Glas,<br />
Keramik <strong>und</strong> Metall unterschiedlicher Größe <strong>und</strong> Form, die sich<br />
nur dann bewegen, wenn sie von einem Menschen in die Hand<br />
genommen werden. Andere Bestandteile der Szene bewegen sich<br />
überhaupt nicht. Bei ihrer Tätigkeit entströmen den sich bewegenden<br />
Lippen der Eltern charakteristische Geräusche (nur wir<br />
wissen, dass das Sprachlaute sind), während andere Geräusche<br />
entstehen, wenn sie Besteck, Pfannen, Gläser <strong>und</strong> Spülschwämme<br />
auf der Arbeitsplatte ablegen. Einmal sieht Benjamin eine Tasse<br />
völlig aus seinem Sichtfeld verschwinden, als sein Vater sie hinter<br />
einen Kochtopf stellt; kurz darauf taucht sie wieder auf, nachdem<br />
der Topf weggestellt wurde. Benjamin sieht Gegenstände auch verschwinden,<br />
wenn sie durch den Schaum ins Spülwasser getaucht<br />
werden, aber er sieht niemals, dass die Gegenstände einander<br />
durchdringen. Die auf der Arbeitsplatte platzierten Gegenstände<br />
bleiben jeweils so stehen, wie sie hingestellt wurden, bis Benjamins<br />
Vater ein Kristallglas so hinstellt, dass mehr als die Hälfte über<br />
den Rand übersteht. Es folgt ein klirrendes Geräusch, das alle drei<br />
anwesenden Personen erschreckt, <strong>und</strong> Benjamin erschrickt noch<br />
mehr, als die beiden Erwachsenen anfangen, scharfe, laute Geräusche<br />
gegeneinander auszusenden, ganz anders als die sanften,<br />
..<br />
Dieses Baby schaut <strong>und</strong> hört seinen Eltern be<strong>im</strong> Abwasch zu <strong>und</strong> erhält so<br />
eine Menge Wahrnehmungsinformationen. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Dieses Beispiel, auf das wir <strong>im</strong> Verlauf des Kapitels öfter zurückkommen<br />
werden, illustriert die enorme Informationsflut, die den<br />
meisten Säuglingen selbst in ganz alltäglichen Situationen zur<br />
Verfügung steht, um zu beobachten <strong>und</strong> daraus zu lernen. Be<strong>im</strong><br />
Lernen, wie die Welt beschaffen ist, erk<strong>und</strong>et Benjamin wie die<br />
meisten Kinder enthusiastisch alles <strong>und</strong> jeden um ihn herum <strong>und</strong><br />
setzt dabei alle verfügbaren Mittel ein: Er sammelt Informationen<br />
durch Hinschauen <strong>und</strong> Zuhören, genauso wie durch Schmecken,<br />
Riechen <strong>und</strong> Tasten. Der Einzugsbereich seiner Erk<strong>und</strong>ungen<br />
wird sich nach <strong>und</strong> nach erweitern, wenn er zunächst nach Objekten<br />
greifen <strong>und</strong> diese schließlich auch manipulieren kann,<br />
was ihn in die Lage versetzt, mehr über sie zu herauszufinden.<br />
Sobald er beginnt, sich aus eigener Kraft zu bewegen, wird ein<br />
noch größerer Teil der Welt für ihn verfügbar, was auch Dinge<br />
einschließt, die er <strong>im</strong> Sinne seiner Eltern lieber nicht erforschen<br />
sollte, beispielsweise Steckdosen oder Katzenstreu. Benjamin<br />
wird nie wieder so begierig alles erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> so schnell lernen<br />
wie in den ersten Jahren seines jungen Lebens.<br />
In diesem Kapitel behandeln wir die Entwicklung in vier eng<br />
miteinander verwandten Bereichen: der Wahrnehmung, dem<br />
Handeln, dem Lernen <strong>und</strong> der Kognition. Unsere Diskussion<br />
konzentriert sich vorrangig auf die frühe Kindheit. Ein Gr<strong>und</strong><br />
für die Konzentration auf diesen Lebensabschnitt besteht darin,<br />
dass sich während der ersten beiden Lebensjahre eines <strong>Kindes</strong><br />
in allen vier Bereichen außerordentlich schnelle Entwicklungen<br />
vollziehen. Ein zweiter Gr<strong>und</strong> liegt in der Tatsache, dass die<br />
Entwicklung in den vier Bereichen während dieser Lebensphase<br />
besonders eng miteinander verwoben ist: Die kleinen Revolutionen,<br />
die das Verhalten <strong>und</strong> Erleben der Kinder in dem einen<br />
Funktionsbereich nachhaltig verändern, führen zu kleinen Revolutionen<br />
in anderen Bereichen. Die <strong>im</strong>mense Erhöhung der<br />
Sehfähigkeit zum Beispiel, die in den ersten Lebensmonaten eintritt,<br />
befähigt die Kinder, mehr von den Menschen <strong>und</strong> Dingen
Wahrnehmung<br />
157 5<br />
in ihrer Umwelt zu sehen, was ihre Gelegenheiten, neue Informationen<br />
aufzunehmen, bedeutend erweitert.<br />
Ein dritter Gr<strong>und</strong> für die Konzentration auf die frühe Kindheit<br />
in diesem Kapitel besteht darin, dass der Großteil neuerer<br />
Forschungen über die perzeptuelle <strong>und</strong> motorische Entwicklung<br />
an Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern durchgeführt wurde. Auch mit<br />
Lernen <strong>und</strong> Kognition in den ersten Lebensjahren haben sich<br />
zahlreiche faszinierende Forschungsarbeiten befasst. Einen Teil<br />
davon werden wir hier besprechen, die weitere Entwicklung in<br />
diesen Bereichen wird in nachfolgenden Kapiteln behandelt. Ein<br />
letzter Gr<strong>und</strong> für die Konzentration auf die frühen Jahre <strong>im</strong> vorliegenden<br />
Kapitel liegt darin, dass sich die Methoden, mit denen<br />
die Entwicklung der Kinder in den vier genannten Bereichen<br />
untersucht wurde, notwendigerweise stark von denen unterscheiden,<br />
mit denen Forscher ältere Kinder untersuchen können.<br />
Bei der Behandlung zentraler Entwicklungsaspekte der frühen<br />
Kindheit kommen mehrere Leitthemen dieses Buches vor.<br />
Das Thema des aktiven <strong>Kindes</strong> verkörpert sich lebhaft <strong>im</strong> eifrigen<br />
Erk<strong>und</strong>en der Umwelt. Die Frage nach Kontinuität versus Diskontinuität<br />
von Entwicklung taucht wiederholt in Forschungsarbeiten<br />
auf, die sich mit der Beziehung zwischen Verhalten <strong>und</strong><br />
Entwicklung <strong>im</strong> Kleinkindalter <strong>und</strong> in späteren Lebensphasen<br />
beschäftigen. In einigen Abschnitten wird auch das Thema Mechanismen<br />
der Veränderung wichtig, wenn wir die Rolle von Variabilität<br />
<strong>und</strong> Selektion bei der Entwicklung untersuchen. Im Zusammenhang<br />
mit der frühen motorischen Entwicklung werden<br />
wir Beiträge beleuchten, die der soziokulturelle Kontext leistet.<br />
Das Thema jedoch, das sich am deutlichsten durch dieses<br />
Kapitel zieht, ist die Wechselwirkung zwischen Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />
bei der Entwicklung. Seit mindestens 2000 Jahren gibt es<br />
eine oft heftige Debatte zwischen denjenigen Philosophen <strong>und</strong><br />
Wissenschaftlern, die das angeborene Wissen als Erklärung der<br />
menschlichen Entwicklung betonen, <strong>und</strong> denjenigen, die das<br />
Lernen hervorheben (Spelke <strong>und</strong> Newport 1998). Der Wunsch,<br />
etwas Licht in diese anhaltende Auseinandersetzung zu bringen,<br />
dürfte ein Gr<strong>und</strong> dafür sein, dass in den vergangenen Jahrzehnten<br />
eine enorme Anzahl von Forschungsarbeiten zum Wahrnehmen,<br />
Handeln, Lernen <strong>und</strong> zur Kognition bei Kleinkindern<br />
durchgeführt wurde. Was Entwicklungsforscher in den letzten<br />
Jahren über Babys herausfanden, legt offen, dass deren Entwicklung<br />
noch komplizierter <strong>und</strong> bemerkenswerter verläuft als ursprünglich<br />
vermutet.<br />
Wahrnehmung<br />
Unweigerlich stellt sich Eltern von Neugeborenen die Frage, was<br />
ihre Kinder erleben – wie viel sie schon sehen, wie gut sie schon<br />
hören, ob sie – wie in unserem Eingangsbeispiel – Gesehenes <strong>und</strong><br />
Gehörtes miteinander verbinden <strong>und</strong> so weiter. Einer der ersten<br />
Psychologen, William James, Begründer der Psychologie in den<br />
USA <strong>und</strong> zugleich einer der wichtigsten Vertreter des philosophischen<br />
Pragmatismus hielt die Welt der Neugeborenen noch<br />
für ein „großes, sch<strong>im</strong>merndes <strong>und</strong> dröhnendes Wirrwarr“. Heutige<br />
Forscher teilen diese Ansicht nicht, denn die Erforschung<br />
der frühen Sinneseindrücke <strong>und</strong> Wahrnehmungen hat bemerkenswerte<br />
Fortschritte gemacht. Es zeigte sich, dass die Sinnessysteme<br />
Kinder, bereits unmittelbar nach der Geburt zu einem<br />
gewissen Grad funktionieren <strong>und</strong> die anschließende Entwicklung<br />
sehr schnell erfolgt. Sinnesempfindung bezieht sich auf<br />
die Verarbeitung gr<strong>und</strong>legender Information der äußeren Welt<br />
durch Rezeptoren in den Sinnesorganen (Augen, Ohren, Haut<br />
etc.) <strong>und</strong> <strong>im</strong> Gehirn. Wahrnehmung bezeichnet den Prozess der<br />
Strukturierung <strong>und</strong> Interpretation von Sinnesinformation über<br />
die Gegenstände, Ereignisse <strong>und</strong> räumlichen Gegebenheiten der<br />
Welt um uns herum. In unserem Eingangsbeispiel gehörten zu<br />
den Sinnesempfindungen Licht <strong>und</strong> Schallwellen, welche die<br />
Rezeptoren in Benjamins Augen <strong>und</strong> Ohren aktivieren <strong>und</strong> als<br />
neuronal kodierte Information ins Gehirn gelangen. Die Wahrnehmung<br />
umfasste beispielsweise seine Erfahrung der visuellen<br />
<strong>und</strong> akustischen St<strong>im</strong>ulation durch das zersplitternde Glas als ein<br />
einzelnes, zusammenhängendes Ereignis.<br />
Sinnesempfindung – Die Verarbeitung gr<strong>und</strong>legender Informationen aus der<br />
Außenwelt durch die Sinnesrezeptoren in den Sinnesorganen (Augen, Ohren,<br />
Haut etc.) <strong>und</strong> <strong>im</strong> Gehirn.<br />
Wahrnehmung – Der Prozess der Strukturierung <strong>und</strong> Interpretation sensorischer<br />
Information.<br />
Im vorliegenden Abschnitt richten wir die meiste Aufmerksamkeit<br />
auf das Sehen, sowohl wegen seiner f<strong>und</strong>amentalen<br />
Bedeutung für den Menschen als auch deshalb, weil es zum Sehen<br />
weitaus mehr Forschungsarbeiten gibt als zu allen anderen<br />
Sinnesmodalitäten. Wir werden auch das Hören <strong>und</strong> – eher am<br />
Rande – Geschmack, Geruch <strong>und</strong> Berührung sowie die Koordination<br />
zwischen mehreren Sinnesmodalitäten behandeln.<br />
Sehen<br />
Mehr als andere Spezies verlassen sich Menschen auf das Sehvermögen:<br />
Etwa 40–50 % unseres ausgereiften cerebralen Cortex<br />
sind an der visuellen Verarbeitung beteiligt (Kellman <strong>und</strong> Arterberry<br />
2006). Noch vor wenigen Jahrzehnten galt das Sehen bei<br />
Neugeborenen als kaum funktionsfähig. Als Forscher aber damit<br />
begannen, das Blickverhalten von Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern<br />
sorgfältig zu untersuchen, fanden sie heraus, dass diese Annahme<br />
falsch war. Tatsächlich beginnen Neugeborene schon Minuten<br />
nachdem sie den Mutterleib verlassen haben, damit, die Welt<br />
visuell zu erk<strong>und</strong>en. Sie lassen den Blick über die Umgebung<br />
schweifen, <strong>und</strong> wenn er auf eine Person oder einen Gegenstand<br />
trifft, halten sie inne <strong>und</strong> betrachten ihn. Neugeborene sehen<br />
zwar nicht so deutlich wie Erwachsene, aber ihr Sehvermögen<br />
verbessert sich in den ersten Lebensmonaten extrem schnell. Und<br />
neuere Studien haben, wie wir noch sehen werden, gezeigt, dass<br />
bereits die kleinsten Babys trotz der Unreife ihres visuellen Systems<br />
über erstaunlich raffinierte Sehfähigkeiten verfügen.<br />
Diese Behauptung könnten wir nicht überzeugend ohne<br />
empirische Belege vertreten, die erst durch die Entwicklung<br />
einer Vielzahl ausgeklügelter Forschungsmethoden möglich<br />
wurde. Der erste Durchbruch gelang mit der systematischen<br />
Beobachtung der Blickpräferenz, einer Methode, mit der man
158<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
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14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
die visuelle Aufmerksamkeit von Kleinkindern untersuchte. Bei<br />
diesem zuerst von Robert Fantz (1961) eingesetzten Verfahren<br />
werden unterschiedliche visuelle Reize üblicherweise auf zwei<br />
nebeneinander befindlichen Bildschirmen oder Projektionsflächen<br />
dargeboten. Wenn das Kind einen der beiden Reize länger<br />
betrachtet, kann der Forscher daraus schließen, dass das Baby<br />
den Unterschied zwischen den beiden Reizen bemerkt <strong>und</strong> einen<br />
davon bevorzugt. Fantz stellte fest, dass Neugeborene – wie jeder<br />
andere auch – lieber dorthin schauen, wo sich irgendetwas befindet,<br />
als dorthin, wo sich nichts befindet. Wurde irgendein Muster<br />
– schwarze <strong>und</strong> weiße Streifen, Zeitungspapier, eine Zielscheibe,<br />
ein schematisiertes Gesicht – neben einer unstrukturierten Oberfläche<br />
gezeigt, bevorzugten die Kinder das Muster (das heißt, sie<br />
betrachteten es länger).<br />
Blickpräferenz – Ein Verhalten, das zur Untersuchung der visuellen Aufmerksamkeit<br />
von Säuglingen herangezogen wird; man zeigt den Säuglingen zwei<br />
Muster oder zwei Objekte gleichzeitig, um herauszufinden, ob sie eines davon<br />
bevorzugt anschauen.<br />
Eine weitere Methode, die für die Untersuchung der Sinnes- <strong>und</strong><br />
Wahrnehmungsentwicklung von Kleinkindern benutzt wurde,<br />
ist die Habituation, der wir in ▶ Kap. 2 bereits als Methode zur<br />
Untersuchung der fetalen Entwicklung begegnet sind. Bei diesem<br />
Verfahren wird ein best<strong>im</strong>mter Reiz wiederholt dargeboten, bis<br />
die Reaktion des <strong>Kindes</strong> signifikant nachlässt, also habituiert.<br />
Dann wird ein neuartiger Reiz dargeboten. Wenn sich die Reaktion<br />
des <strong>Kindes</strong> daraufhin verstärkt, schließt der Forscher, dass<br />
das Kind den alten <strong>und</strong> den neuen Reiz unterscheiden kann.<br />
Diese Methoden sind zwar extrem einfach, erwiesen sich jedoch<br />
als sehr aussagekräftig, um zu untersuchen, wie Kleinkinder die<br />
Welt wahrnehmen <strong>und</strong> verstehen.<br />
Sehschärfe<br />
Anhand der Blickpräferenztechnik gelang es auch, wie in ▶ Kap. 1<br />
beschrieben, die Sehschärfe (Visus) von Säuglingen zu best<strong>im</strong>men,<br />
das heißt einzuschätzen, wie genau sie sehen können. Auf<br />
diese Weise haben Forscher herausgef<strong>und</strong>en, dass Säuglinge <strong>und</strong><br />
Kleinkinder, die den Unterschied zwischen einfachen Streifenmustern<br />
wie in . Abb. 5.1 <strong>und</strong> unstrukturierten grauen Flächen<br />
wahrnehmen können, bevorzugt auf das Muster blicken. Durch<br />
Variieren der Muster <strong>und</strong> Auswerten der beobachteten Blickrichtungen<br />
haben<br />
Wissenschaftler nicht nur über die visuellen Fähigkeiten in<br />
der frühesten Kindheit gelernt, sondern auch einiges über ihre<br />
Blickpräferenzen herausgef<strong>und</strong>en. So bevorzugen Säuglinge generell<br />
den Anblick kontrastreicher Muster, etwa schwarz-weißer<br />
Schachbretter (Banks <strong>und</strong> Dannemiller 1987). Das liegt daran,<br />
dass Säuglinge eine schwache Kontrastempfindlichkeit besitzen:<br />
Sie erkennen ein Muster nur dann, wenn es sich aus hochkontrastierenden<br />
Elementen zusammensetzt.<br />
Sehschärfe (Visus) – Das Auflösungsvermögen be<strong>im</strong> Sehen von Testobjekten<br />
unterschiedlicher Größe in einer best<strong>im</strong>mten Entfernung.<br />
Kontrastempfindlichkeit – Die Fähigkeit, Unterschiede zwischen den hellen<br />
<strong>und</strong> dunklen Bereichen eines optischen Musters zu erkennen.<br />
..<br />
Abb. 5.1 Die Sehschärfe lässt sich bei Säuglingen mit Testmustern wie diesen<br />
untersuchen. Dabei werden dem Kind jeweils zwei Testscheiben gleichzeitig<br />
präsentiert, eine mit einem Streifenmuster, die andere mit einer grauen<br />
Fläche. Sofern das Kind die Kontraste zwischen den weißen <strong>und</strong> schwarzen<br />
Streifen wahrn<strong>im</strong>mt, wird es seinen Blick auf das Streifenmuster richten –<br />
entsprechend der allgemein in diesem Alter zu beobachtenden Präferenz<br />
von Mustern gegenüber strukturlosen Bereichen <strong>im</strong> Blickfeld. Ein Augenarzt<br />
oder Forscher präsentiert dem Kind be<strong>im</strong> Sehtest eine Folge von Mustern mit<br />
<strong>im</strong>mer kleinerem Streifenabstand, bis das Kind keinen Unterschied zwischen<br />
beiden Testscheiben mehr feststellen kann. Der Streifenabstand be<strong>im</strong> feinsten<br />
Testmuster, für das eine Blickpräferenz beobachtet wurde, liefert dann ein<br />
Maß für die Sehschärfe des <strong>Kindes</strong>. (© Good-Lite Company; mit fre<strong>und</strong>licher<br />
Genehmigung)<br />
Ein Gr<strong>und</strong> für diese schwache Kontrastempfindlichkeit liegt<br />
darin, dass die Zapfen der Kinder noch nicht ausgereift sind –<br />
das sind lichtempfindliche Sehrezeptoren, die be<strong>im</strong> Sehen von<br />
Farben <strong>und</strong> von feinen Details beteiligt sind <strong>und</strong> von denen<br />
man besonders viele <strong>im</strong> Zentralbereich der Netzhaut, der Fovea<br />
(Sehgrube, dem Bereich des schärfsten Sehens), findet. In der<br />
frühen Kindheit sind die Zapfen von anderer Größe <strong>und</strong> Form<br />
<strong>und</strong> sitzen weiter voneinander entfernt als <strong>im</strong> Erwachsenenalter<br />
(Kellman <strong>und</strong> Arterberry 2006). Infolgedessen fangen die Zapfen<br />
von Neugeborenen nur 2 % des in die Fovea fallenden Lichtes<br />
auf; bei Erwachsenen sind es 65 % (Banks <strong>und</strong> Shannon 1993).<br />
Daraus erklärt sich zum Teil, weshalb Babys in den ersten Lebensmonaten<br />
eine Sehschärfe von nur etwa 0,1 (Dez<strong>im</strong>alvisus)<br />
entsprechend 20/200 (Snellen-Index) haben. (Ein Erwachsener<br />
mit dieser Sehschärfe könnte auf der Buchstabentafel des Augenarztes<br />
das große E ganz oben erkennen. Normalwert für den<br />
Visus wäre 1.) In der Folgezeit entwickelt sich die Sehschärfe so<br />
schnell, dass sich die Sehfähigkeit von acht Monate alten Babys<br />
derjenigen von Erwachsenen annähert; die volle Sehschärfe von<br />
Erwachsenen erreichen die Kinder <strong>im</strong> Alter von sechs Jahren<br />
(Kellman <strong>und</strong> Arterberry 2006).<br />
Zapfen – Die lichtempfindlichen Netzhautrezeptoren, die sich in hoher Dichte<br />
<strong>im</strong> Bereich des schärfsten Sehens, der Fovea, finden.
Wahrnehmung<br />
159 5<br />
..<br />
Das verschwommene Bild<br />
entspricht etwa dem, was ein einen<br />
Monat alter Säugling wahrnehmen<br />
würde. Die geringe Sehschärfe<br />
führt dazu, dass einige Merkmale<br />
mit deutlichem Kontrast hervortreten<br />
– insbesondere die Augen <strong>und</strong><br />
der Haaransatz. (© Goodshoot RF<br />
Thinkstock/ Getty Images)<br />
Eine weitere Einschränkung der visuellen Erfahrungen von<br />
Kleinstkindern besteht darin, dass sie in den ersten Lebensmonaten<br />
die Farbwahrnehmung Erwachsener nicht teilen. Von unserer<br />
Welt voller Farben können sie bestenfalls einige Graustufen<br />
zwischen Schwarz <strong>und</strong> Weiß unterscheiden (Adams 1995). Bei<br />
zwei oder drei Monate alten Säuglingen ist die Farbwahrnehmung<br />
bereits insofern ähnlich wie bei Erwachsenen (Kellman <strong>und</strong> Arterberry<br />
2006), als sie für dieselben Gr<strong>und</strong>farben Blickpräferenz<br />
zeigen (sie am längsten anschauen), die Erwachsene als am angenehmsten<br />
einschätzen: die Farben Rot <strong>und</strong> Blau (Bornstein 1975).<br />
Auch nehmen Säuglinge die Grenzen zwischen Farben mehr oder<br />
weniger ähnlich wahr wie Erwachsene: Sie reagieren gleichartig<br />
auf zwei Farbabstufungen, die Erwachsene als dieselbe Farbe bezeichnen<br />
würden (z. B. „Blau“), aber sie unterscheiden zwischen<br />
zwei Farbstufen, die Erwachsene mit unterschiedlichen Farbnamen<br />
benennen (z. B. „Blau“ <strong>und</strong> „Grün“; Bornstein et al. 1976).<br />
Visuelles Abtasten der Umwelt<br />
Wie bereits erwähnt, beginnen schon Neugeborene damit, ihren<br />
Blick über ihre Umgebung wandern zu lassen. Von Anfang an<br />
sind sie von Reizen angezogen, die sich bewegen, denen zu folgen<br />
ihnen jedoch schwerfällt, weil ihre Augenbewegungen ruckartig<br />
sind <strong>und</strong> ihr Blick oft nicht bei dem Objekt bleibt, das sie mit<br />
den Augen verfolgen wollen. Erst mit zwei oder drei Monaten<br />
sind die Kinder in der Lage, beweglichen Objekten geschmeidig<br />
zu folgen, aber nur, wenn sich das Objekt langsam genug bewegt<br />
(Aslin 1981). Dieser Entwicklungsfortschritt scheint weniger von<br />
Seherfahrungen abzuhängen als von Reifungsprozessen. Frühgeborene,<br />
deren neuronale Entwicklung <strong>und</strong> deren Sehsystem<br />
noch unreif ist, entwickeln das stetige Verfolgen eines bewegten<br />
Objekts mit den Augen später nach der Geburt als ausgetragene<br />
Kinder (Strand-Brodd et al. 2011)<br />
Eine weitere Einschränkung der visuellen Erfahrung von<br />
Säuglingen (die zugleich begrenzt, was sie von der Welt lernen<br />
können) besteht darin, dass ihr visuelles Abtasten von Objekten<br />
beschränkt ist. Bei einer einfachen Figur wie einem Dreieck blicken<br />
Kinder unter zwei Monaten fast ausschließlich auf eine der<br />
Ecken. Bei komplexeren Formen beschränken Säuglinge ihren<br />
Blickverlauf meistens auf die äußeren Ränder (Haith et al. 1977;<br />
Milewski 1976). Wenn also Kinder <strong>im</strong> Alter von einem Monat<br />
die Zeichnung eines Gesichts betrachten (. Abb. 5.2), fixieren sie<br />
a<br />
..<br />
Abb. 5.2 Visuelles Abtasten. Die rot eingezeichneten Linien auf diesen<br />
Gesichtern geben die Blickbewegungen zweier Babys unterschiedlichen<br />
Alters be<strong>im</strong> Fixieren der Bilder wieder. a Ein einen Monat altes Baby blickte<br />
vorwiegend auf die äußere Kontur des Gesichts <strong>und</strong> des Kopfes, mit ein paar<br />
einzelnen Fixierungen der Augenpartie. b Ein zwei Monate altes Baby fixierte<br />
vorwiegend die innen liegenden Merkmale des Gesichts, insbesondere<br />
Augen <strong>und</strong> M<strong>und</strong>. (Aus Maurer <strong>und</strong> Salapatek 1976)<br />
b
160<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
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gewöhnlich die Außenkanten – insbesondere das Kinn oder den<br />
Haaransatz, wo ein relativ starker Kontrast zum Hintergr<strong>und</strong> besteht.<br />
Ab zwei Monaten können die Kinder komplexe Reize viel<br />
Exkurs 5.1: Näher betrachtet: Gesichter <strong>und</strong> das Baby | |<br />
Ein besonders faszinierender Aspekt der Wahrnehmung<br />
eines Säuglings betrifft seine Reaktion<br />
auf den sozialsten aller Reize – das menschliche<br />
Gesicht. Wie wir schon erwähnten, sind Säuglinge<br />
von Geburt an von Gesichtern angezogen;<br />
das veranlasste Forscher zu der Frage, was die<br />
Aufmerksamkeit der Babys ursprünglich erweckt.<br />
Aufrechtes<br />
Gesicht<br />
Mehr Elemente<br />
oben<br />
Aufrechtes<br />
Gesicht<br />
Invertiertes<br />
Gesicht<br />
Mehr Elemente<br />
unten<br />
Mehr Elemente<br />
oben<br />
..<br />
Neugeborene blicken länger auf die drei<br />
St<strong>im</strong>uli in der linken Spalte <strong>und</strong> geben damit<br />
eine allgemeine Bevorzugung von kopflastigen<br />
St<strong>im</strong>uli zu erkennen, die zu ihrer Vorliebe für<br />
menschliche Gesichter beiträgt. Man beachte,<br />
dass diese Präferenz ausreicht, um zu erklären,<br />
warum Neugeborene mehr Zeit damit verbringen,<br />
ihrer Mutter ins Gesicht zu schauen als anderswohin.<br />
(Macchi Cassia et al. 2006; © Elsevier<br />
2006; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Die Antwort ist anscheinend eine ganz allgemeine<br />
Neigung zu Konfigurationen, die in der<br />
oberen Hälfte mehr Elemente enthalten als<br />
in der unteren – etwas, das alle menschlichen<br />
Gesichter kennzeichnet (Macchi Cassia et al.<br />
2004; S<strong>im</strong>ion et al. 2002; s. die drei Bildpaare<br />
mit manipulierten Gesichtern). Die ersten<br />
Hinweise auf eine verzerrte Wahrnehmung bei<br />
gesichtsähnlichen Reizvorlagen zeigte sich in<br />
Untersuchungen mit Neugeborenen, die Gesichter<br />
von Menschen <strong>und</strong> Affen mit gleicher<br />
Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Interesse betrachteten<br />
– solange diese Gesichter aufrecht präsentiert<br />
wurden (Di Giorgio et al. 2012).<br />
Die Kinder kommen aber schnell davon ab,<br />
allen Gesichtern die gleiche Aufmerksamkeit<br />
zu schenken, <strong>und</strong> bevorzugen sehr bald das<br />
Gesicht ihrer eigenen Mutter. Sobald sie<br />
jedoch in den ersten Tagen nach der Geburt<br />
das Gesicht ihrer Mutter <strong>im</strong>mer wieder zu<br />
sehen bekommen, betrachten Säuglinge das<br />
Gesicht der Mutter länger als das Gesicht<br />
einer unbekannten Frau, <strong>und</strong> zwar auch dann,<br />
wenn die Hinweisreize durch den Geruch der<br />
Mutter kontrolliert wurden – das ist ein wichtiger<br />
Schritt, weil Neugeborene den Geruch<br />
der Mutter bevorzugen, wie wir in ▶ Kap. 2<br />
erläutert haben (Bushnell et al. 2011). In den<br />
nächsten Monaten entwickeln die Kinder<br />
eine Präferenz für Gesichter, die dem gleichen<br />
Geschlecht zuzurechnen sind wie die Betreuungsperson,<br />
die sie am öftesten sehen – sei sie<br />
männlich oder weiblich (Quinn et al. 2002).<br />
Nachdem Säuglinge in den ersten Lebensmonaten<br />
viele unterschiedliche Gesichter<br />
gesehen haben, entwickeln sie allmählich<br />
einen wohlstrukturierten perzeptiven Prototyp<br />
von menschlichen Gesichtern. Die Bildung<br />
dieses detaillierten Gesichter-Prototyps<br />
erleichtert nun die Unterscheidung zwischen<br />
unterschiedlichen Gesichtern. Ein Beleg für<br />
die Bildung eines allgemeinen Gesichter-<br />
Prototyps <strong>im</strong> ersten Lebensjahr ergibt sich aus<br />
einer interessanten Studie über die Fähigkeit<br />
von Säuglingen <strong>und</strong> Erwachsenen, menschliche<br />
Gesichter oder auch Affengesichter zu<br />
unterscheiden. Erwachsenen wie sechs oder<br />
neun Monate alten Kindern fällt es leicht,<br />
menschliche Gesichter zu unterscheiden.<br />
Aber wenn sie ein Affengesicht von einem<br />
anderen Affengesicht unterscheiden sollen,<br />
haben sowohl neun Monate alte Säuglinge als<br />
auch Erwachsene erhebliche Schwierigkeiten<br />
(Pascalis et al. 2002). Überraschenderweise<br />
unterscheiden sechs Monate alte Säuglinge<br />
zwischen Affengesichtern ebenso gut wie<br />
zwischen Menschengesichtern.<br />
Die Forscher schlossen daraus, dass Kinder<br />
von neun Monaten <strong>und</strong> Erwachsene auf einen<br />
umfangreicher absuchen, sodass sie sowohl auf die Gesamtform<br />
als auch auf Details <strong>im</strong> Inneren achten können (▶ Exkurs 5.1).<br />
detaillierten Prototyp vom menschlichen<br />
Gesicht zurückgreifen, um zwischen Menschen<br />
zu unterscheiden; aber dieser Prototyp hilft<br />
ihnen nicht be<strong>im</strong> Unterscheiden zwischen<br />
Affen. Dass die sechs Monate alten Babys<br />
zwischen Menschengesichtern <strong>und</strong> zwischen<br />
Affengesichtern gleich gut unterscheiden<br />
konnten, lässt vermuten, dass ihr Prototyp<br />
vom menschlichen Gesicht noch nicht so<br />
detailliert <strong>und</strong> fest strukturiert ist, wie er bald<br />
sein wird. Mit sechs Monaten haben die Kinder<br />
zweifellos schon ein Wissen über Gesichter,<br />
aber sie bevorzugen die Details <strong>im</strong> menschlichen<br />
Gesicht gegenüber den Elementen <strong>im</strong><br />
Affengesicht noch nicht.<br />
Weitere Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen<br />
von Erfahrung auf das Wiedererkennen<br />
von Gesichtern passen gut zu diesem<br />
Bef<strong>und</strong>. In einer dieser Untersuchungen<br />
wurden sechs Monate alten Säuglingen über<br />
drei Monate zu Hause täglich nach einem vorgegebenen<br />
Zeitplan 1–2 min lang Bilder von<br />
Affen gezeigt. Als man sie <strong>im</strong> Alter von neun<br />
Monaten testete, hatten sie ihre Fähigkeit,<br />
zwischen Affengesichtern zu unterscheiden,<br />
bewahrt (Pascalis et al. 2005).<br />
Eine andere Erfahrung, die die Wahrnehmung<br />
von Gesichtern bei Säuglingen formt,<br />
sind Begegnungen mit Menschen anderer<br />
Ethnien. Ein allgemeiner Effekt, der zuerst<br />
bei Erwachsenen beobachtet wurde, ist der<br />
Einfluss ethnischer Prägungen von Gesichtern:<br />
Menschen erkennen Unterschiede zwischen<br />
Gesichtern innerhalb ihrer eigenen Ethnie<br />
besser wieder als innerhalb fremder Ethnien.<br />
Neugeborene zeigen noch keine Präferenz<br />
für Gesichter der eigenen Ethnie, aber bei<br />
drei Monate alte weißen, afrikanischen <strong>und</strong><br />
chinesischen Säuglingen konnten Präferenzen<br />
für die jeweils eigene Ethnie nachgewiesen<br />
werden (Kelly et al. 2005, 2007). In der zweiten<br />
Hälfte des ersten Lebensjahres spezialisiert<br />
sich die Gesichterverarbeitung weiter, wie die<br />
auftretenden Unterschiede bei der ethnischen<br />
Präferenz zeigen. Mit neun Monaten haben<br />
Kleinkinder größere Schwierigkeiten, Gesichter<br />
fremder Ethnien zu unterscheiden als Gesichter<br />
der eigenen Ethnie (Kelly et al. 2007, 2009).<br />
Was diese Entwicklung antreibt, ist nicht die<br />
eigene Ethnie als solche, sondern entscheidend<br />
sind es die Merkmale von Menschen in<br />
der unmittelbaren Umgebung des <strong>Kindes</strong>. So<br />
zeigten drei Monate alte Kinder afrikanischer<br />
Einwanderer in Israel, die von schwarzen <strong>und</strong><br />
weißen Betreuern umgeben waren, das gleiche<br />
Interesse an schwarzen <strong>und</strong> weißen Gesichtern<br />
(Bar-Ha<strong>im</strong> et al. 2006). Weitere Hinweise auf die<br />
Auswirkung visueller Erfahrung auf die Wahrnehmung<br />
von Gesichtern ergaben sich bei ei-
Wahrnehmung<br />
161 5<br />
Exkurs 5.1 (Fortsetzung) | |<br />
ner Untersuchung an biethnischen Kindern, die<br />
zu Hause ständig Gesichtermerkmale zweier<br />
Ethnien sahen. Diese Kinder sind be<strong>im</strong> visuellen<br />
Abtasten von Gesichtern deutlich weiter als<br />
monoethnische Kinder (Gaither et al. 2012).<br />
Zu den faszinierendsten Aspekten der Gesichterpräferenzen<br />
von Säuglingen gehört die Tatsache,<br />
dass sie – wie jeder von uns – hübsche<br />
Gesichter mögen. Von Geburt an betrachten<br />
sie Gesichter, die von Erwachsenen als sehr<br />
attraktiv beurteilt wurden, länger als Gesichter,<br />
denen weniger Attraktivität zugesprochen<br />
wurde (Langlois et al. 1991, 1987; Rubenstein<br />
et al. 1999; Slater et al. 1998, 2000).<br />
Bei älteren Säuglingen beeinflusst die Bevorzugung<br />
von Schönheit, wie bei Erwachsenen,<br />
auch ihr Verhalten gegenüber wirklich präsenten<br />
Menschen. Das ergab eine Untersuchung,<br />
in der zwölf Monate alte Kinder mit einer Frau<br />
interagierten, deren Gesicht entweder sehr<br />
attraktiv oder sehr unattraktiv war (Langlois<br />
et al. 1990). Das hervorstechendste Merkmal<br />
dieser Untersuchung bestand darin, dass die<br />
attraktive <strong>und</strong> die unattraktive Frau durch ein<br />
<strong>und</strong> dieselbe Person verkörpert wurde! Dieses<br />
doppelte Erscheinungsbild derselben Frau<br />
wurde dadurch erreicht, dass ein Maskenbildner<br />
die Frau sehr natürlich auf attraktiv oder<br />
unattraktiv schminkte, bevor sie mit den Kindern<br />
interagierte. An einem Tag kam die junge<br />
Frau, die die Babys testete, mit schöner Maske,<br />
an einem anderen mit unattraktiver, wobei die<br />
Masken dem entsprachen, was Erwachsene als<br />
sehr attraktives <strong>und</strong> als relativ unattraktives<br />
Gesicht eingeschätzt hatten.<br />
Bei der Interaktion mit der Frau verhielten sich<br />
die Säuglinge je nach der Maske, die sie trug,<br />
unterschiedlich. Verglichen mit ihren Reaktionen<br />
auf die unattraktive Maske, zeigten sie<br />
mehr Freude, beteiligten sich stärker am Spiel<br />
<strong>und</strong> zogen sich mit geringerer Wahrscheinlichkeit<br />
zurück, wenn die Frau attraktiv maskiert<br />
war. Diese Untersuchung hatte insofern ein<br />
gutes Design, als die Frau, die mit den Kindern<br />
interagierte, an keinem Tag wusste, auf<br />
welche Maske sie jeweils geschminkt war. Das<br />
Verhalten der Kinder konnte somit nicht durch<br />
entsprechende Hinweise in ihrem Verhalten<br />
gesteuert worden sein, sondern nur auf ihrem<br />
hübschen oder reizlosen Erscheinungsbild<br />
beruhen.<br />
..<br />
Zeigen diese Fotos das Gesicht desselben<br />
oder das Gesicht verschiedener Menschen?<br />
Und wie steht es mit den Affenfotos? Als ein<br />
erwachsener Mensch werden Sie zweifellos sehr<br />
leicht erkennen, dass sich die beiden Männer<br />
unterscheiden; nicht ganz so sicher sind Sie<br />
vielleicht, ob die beiden Affenfotos verschiedene<br />
Individuen darstellen oder nicht. (Es sind verschiedene.)<br />
(© Olivier Pascalis; mit fre<strong>und</strong>licher<br />
Genehmigung)<br />
Musterwahrnehmung<br />
Eine genaue visuelle Wahrnehmung der Welt erfordert mehr als<br />
Sehschärfe <strong>und</strong> systematisches Absuchen; sie setzt auch das Analysieren<br />
<strong>und</strong> Integrieren der einzelnen Elemente eines visuellen<br />
Reizes zu einem zusammenhängenden Muster voraus. Um das<br />
Gesicht in . Abb. 5.2 wahrzunehmen, wie es zwei Monate alte Kinder<br />
offenbar tun, müssen sie die einzelnen Elemente integrieren.<br />
Ein eindrucksvoller Nachweis der integrativen Musterwahrnehmung<br />
in der frühen Kindheit ergibt sich aus Forschungen, in<br />
denen die in . Abb. 5.3 gezeigte Reizanordnung eingesetzt wurde.<br />
Be<strong>im</strong> Betrachten n<strong>im</strong>mt man hier zweifellos ein Quadrat wahr,<br />
obwohl gar kein Quadrat existiert. Diese subjektive Wahrnehmung<br />
von Scheinkonturen resultiert aus der aktiven Integration<br />
der separaten Elemente der Reizanordnung zu einem einzigen<br />
Ganzen. Wenn man die einzelnen dargestellten Formen einfach
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Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
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Abb. 5.3 Scheinkontur. Wenn Sie auf diese Figur schauen, sehen Sie zweifellos<br />
ein Quadrat; man nennt dies eine subjektive Kontur oder Scheinkontur,<br />
weil hier gar kein Quadrat vorhanden ist. Auch sieben Monate alte Säuglinge<br />
entdecken das Scheinquadrat. (Aus Bertenthal et al. 1980)<br />
nur nacheinander betrachten würde, entstünde nicht der Wahrnehmungseindruck<br />
eines Quadrats. Ebenso wie Sie nehmen auch<br />
Kinder <strong>im</strong> Alter von sieben Monaten das subjektive Quadrat in<br />
. Abb. 5.3 wahr (Bertenthal et al. 1980), was darauf hindeutet, dass<br />
sie die einzelnen Elemente integrieren, um ein Ganzes wahrzunehmen.<br />
Und selbst Neugeborene können das bereits, sofern sie<br />
zusätzliche Hinweisreize durch Bewegung des Quadrats bekommen,<br />
etwa indem auf dem Bildschirm durch Vergrößern <strong>und</strong><br />
Verkleinern des Quadrats eine Scheinbewegung erzeugt wird<br />
(Valenza <strong>und</strong> Bulf 2007).<br />
Säuglinge können auch schon Zusammenhänge zwischen<br />
sich bewegenden Elementen wahrnehmen. In den Untersuchungen<br />
von Bennett Bertenthal <strong>und</strong> seinen Mitarbeitern<br />
(Bertenthal 1993; Bertenthal et al. 1987) sahen Säuglinge einen<br />
Film mit wandernden Lichtpunkten. Erwachsene identifizieren<br />
das, was sie sehen, sofort <strong>und</strong> eindeutig als einen gehenden<br />
Menschen; die sich bewegenden Lichtpunkte scheinen an den<br />
wichtigen Gelenken <strong>und</strong> am Kopf eines erwachsenen Menschen<br />
befestigt zu sein (<strong>und</strong> waren es bei den Filmaufnahmen<br />
auch). Und bei Neugeborenen konnte eine Präferenz für ein<br />
kohärentes Lichtpunkmuster gegenüber einem Zufallsmuster<br />
beobachtet werden, wie sie ähnlich schon bei dem Quadrat in<br />
. Abb. 5.3 gezeigt wurde. Aus diesen Bef<strong>und</strong>en ergibt sich, dass<br />
Neugeborene trotz ihrer schlechten Sehschärfe <strong>und</strong> mangelnder<br />
visueller Erfahrung bereits aufmerksam die unterschiedlichen<br />
Konfigurationen der Elemente <strong>und</strong> ihre Bewegung in der Umgebung<br />
verfolgen.<br />
Objektwahrnehmung<br />
Zu den bemerkenswertesten Erkenntnissen über die Wahrnehmung<br />
von Objekten gehört die Stabilität unserer Wahrnehmung.<br />
Wenn eine andere Person sich uns nähert oder sich entfernt oder<br />
sich langsam <strong>im</strong> Kreis herum bewegt, verändert sich unser Netzhautbild<br />
von dieser Person in Größe <strong>und</strong> Form, aber wir haben<br />
nicht den Eindruck, dass die Person größer oder kleiner wird<br />
oder sich in ihrer Form verändert. Stattdessen nehmen wir eine<br />
konstante Form <strong>und</strong> eine konstante Größe wahr; dieses Phänomen<br />
wird Wahrnehmungskonstanz genannt. Größenkonstanz<br />
lässt sich gut demonstrieren, indem man in den Spiegel schaut<br />
<strong>und</strong> beachtet, dass das Bild des eigenen Gesichts der normalen<br />
Größe eines Gesichts zu entsprechen scheint. Dann lässt man den<br />
Spiegel beschlagen <strong>und</strong> zeichnet den Umriss des Gesichts auf den<br />
Spiegel. Man wird feststellen, dass der Umriss bedeutend kleiner<br />
ist als das wirkliche Gesicht. Wegen der Wahrnehmungskonstanz<br />
n<strong>im</strong>mt man das Spiegelbild als ebenso groß wahr wie jedes andere<br />
Gesicht eines Erwachsenen.<br />
Wahrnehmungskonstanz – Die Wahrnehmung von Objekten in konstanter<br />
Größe, Form, Farbe etc. trotz physikalischer Unterschiede des Netzhautabbildes<br />
von diesem Objekt.<br />
Der Ursprung der Größenkonstanz bildete einen traditionellen<br />
Gegenstand in der Debatte zwischen Empiristen <strong>und</strong> Nativisten.<br />
Die Empiristen behaupteten, dass sich die Größen- <strong>und</strong> Formkonstanz<br />
bei der Wahrnehmung von Objekten als Funktion der<br />
Erfahrung entwickelt, während die Nativisten behaupteten, dass<br />
diese Wahrnehmungsgesetze auf inhärenten Eigenschaften des<br />
Nervensystems beruhen. Entsprechend vermuten die Empiristen,<br />
dass sich Größen- <strong>und</strong> Formkonstanz mit zunehmender räumlicher<br />
Erfahrung in unserer Umgebung entwickelt, während die<br />
Nativisten diese Konstanz auf die uns eigenen Strukturmerkmale<br />
des Nervensystems zurückführen.<br />
Für die nativistische Position spricht, dass sich die Wahrnehmungskonstanz<br />
schon bei Neugeborenen <strong>und</strong> Kleinstkindern<br />
nachweisen lässt. In einer Untersuchung zur Größenkonstanz<br />
(Slater et al. 1990) wurde Neugeborenen zum Training mehrmals<br />
entweder ein großer oder ein kleiner Würfel in unterschiedlichen<br />
Entfernungen gezeigt. Für beide Würfel änderte sich die Größe<br />
des Netzhautbildes aufgr<strong>und</strong> der unterschiedlichen Entfernung<br />
bei jedem Durchgang. Die Frage war, ob die Neugeborenen das<br />
als mehrfache Darbietungen eines einzelnen Objekts oder als<br />
ähnliche Objekte unterschiedlicher Größe wahrnehmen würden.<br />
Zur Klärung dieser Frage zeigten die Forscher den Neugeborenen<br />
abschließend den ursprünglichen Würfel zusammen mit<br />
einem zweiten, doppelt so großen, aber ansonsten identischen<br />
Würfel, der – <strong>und</strong> das war das entscheidende Element der Untersuchung<br />
– doppelt so weit entfernt war, sodass sein Netzhautbild<br />
die gleiche Größe hatte wie das des ersten Würfels (. Abb. 5.4).<br />
Die Säuglinge betrachteten den neuen, größeren <strong>und</strong> weiter entfernten<br />
Würfel länger, was darauf hinweist, dass sie seine Größe<br />
<strong>im</strong> Vergleich zum ursprünglichen Würfel als unterschiedlich<br />
wahrnahmen. Dies wiederum ließ darauf schließen, dass sie die<br />
unterschiedlichen Darbietungen des ursprünglichen Würfels in<br />
unterschiedlichen Entfernungen als ein einziges Objekt von konstanter<br />
Größe wahrgenommen hatten, obgleich ihr Netzhautbild<br />
dabei unterschiedliche Größen hatte. Visuelle Erfahrung scheint<br />
demnach keine Voraussetzung für Größenkonstanz zu sein<br />
(Granrud 1987; Slater <strong>und</strong> Morison 1985).
Wahrnehmung<br />
163 5<br />
..<br />
Abb. 5.4 Wenn dieser Säugling länger auf den größeren, aber weiter<br />
entfernten Würfel schaut, dann werden die Forscher daraus schließen, dass er<br />
über Größenkonstanz verfügt. (© Alan Slater; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Eine weitere entscheidende Wahrnehmungsfähigkeit ist die<br />
Objekttrennung, die Wahrnehmung einzelner Objekte in einer<br />
sichtbaren Anordnung. Um die Wichtigkeit dieser Fähigkeit richtig<br />
einzuschätzen, stelle man sich vor, man sehe die Gegenstände<br />
in seiner momentanen Umgebung zum ersten Mal. Woher weiß<br />
man, wo das eine Objekt aufhört <strong>und</strong> das andere anfängt? Eine<br />
Lücke zwischen zwei Objekten liefert einen deutlichen Hinweis<br />
auf zwei separate Gegenstände. Aber was ist, wenn keine sichtbaren<br />
Lücken existieren? Nehmen wir zum Beispiel an, dass das<br />
Baby Benjamin seinen Eltern be<strong>im</strong> Abwasch zuschaut <strong>und</strong> eine<br />
Tasse auf einer Untertasse stehen sieht. Wird er diese Anordnung<br />
als ein oder als zwei Objekte wahrnehmen? Da es ihm an Erfahrung<br />
<strong>im</strong> Umgang mit Porzellan fehlt, könnte er sich unsicher<br />
sein: Der Formunterschied spricht für zwei Objekte, aber die<br />
gleiche Oberflächenbeschaffenheit lässt auf ein Objekt schließen.<br />
Angenommen, Benjamins Mutter n<strong>im</strong>mt die Tasse <strong>und</strong> taucht sie<br />
ins Spülwasser. Wird er sich <strong>im</strong>mer noch unsicher sein? Nein,<br />
denn selbst für einen Säugling signalisiert die unabhängige Bewegung<br />
einer Tasse <strong>und</strong> einer Untertasse, dass es sich um separate<br />
Gegenstände handelt. Handelt es sich hier um angeborenes Wissen,<br />
oder erwerben die Säuglinge dieses Wissen aus alltäglichen<br />
Beobachtungen in ihrer Umgebung?<br />
Objekttrennung – Die Identifikation einzelner Objekte in einer visuellen Szene.<br />
Die Bedeutung der Bewegung für die Objekttrennung bei Säuglingen<br />
wurde in einem klassischen Exper<strong>im</strong>ent von Kellman<br />
<strong>und</strong> Spelke (1983) nachgewiesen. Zu Beginn wurde vier Monate<br />
alten Kindern die in . Abb. 5.5a dargestellte Anordnung gezeigt,<br />
die Erwachsene als einen Stab wahrnehmen, der sich hinter einem<br />
Holzklotz hin <strong>und</strong> her bewegt. Nachdem sie auf diese Darbietung<br />
habituiert waren, wurden den Säuglingen die beiden<br />
Testanordnungen in . Abb. 5.5b gezeigt. Die Forscher nahmen<br />
an, dass die Kinder die beiden Stabsegmente länger betrachten<br />
würden, falls sie, wie Erwachsene, davon ausgingen, dass sich<br />
in der Habituationsphase ein einziger Stab hinter dem Klotz<br />
bef<strong>und</strong>en hat; denn in diesem Fall wäre die gezeigte Anordnung<br />
mit den beiden Stabsegmenten neuartig. Und genau das taten<br />
die Babys.<br />
..<br />
Abb. 5.5 Objekttrennung.<br />
Säuglinge, denen man die in<br />
(a) dargestellte Kombination<br />
von gegeneinander bewegten<br />
Elementen zeigt, nehmen zwei<br />
getrennte Objekte wahr – hier<br />
einen Stab, der sich hinter<br />
einem Quader bewegt. Nachdem<br />
sie auf diesen Anblick<br />
habituiert wurden, betrachten<br />
sie <strong>im</strong> Testbild (b) zwei Stabsegmente<br />
länger als einen<br />
einzelnen Stab <strong>und</strong> lassen<br />
dadurch erkennen, dass ihnen<br />
der einzelne Stab vertraut ist<br />
<strong>und</strong> die beiden Stabsegmente<br />
neu sind. Wenn sie jedoch<br />
zuerst eine Darstellung ohne<br />
Bewegung sehen, schauen sie<br />
auf beide Testdarstellungen<br />
gleich lange. Dieses Ergebnis<br />
führt die Wichtigkeit von<br />
Bewegung für die Objekttrennung<br />
vor Augen. (Aus Kellman<br />
<strong>und</strong> Spelke 1983)<br />
a<br />
b<br />
Was brachte die Babys zu der Annahme, dass die beiden<br />
Stabsegmente, die sie sehen konnten, ein einzelnes, einheitliches<br />
Objekt bilden? Die Antwort ist: durch die gemeinsame Bewegung<br />
der beiden Stabsegmente, also dadurch, dass sich beide<br />
<strong>im</strong>mer gleichzeitig mit gleicher Geschwindigkeit in die gleiche<br />
Richtung bewegten. Vier Monate alte Säuglinge, die dieselbe<br />
Anordnung sahen wie in . Abb. 5.5a, nur dass der Stab ortsfest<br />
blieb, blickten beide Testanordnungen gleich lange an. Ohne<br />
das Moment der gemeinsamen Bewegung war die Anordnung<br />
mehrdeutig.<br />
Gemeinsame Bewegung ist ein so starker Hinweis, der Elemente,<br />
die in der Wahrnehmung zunächst getrennt erscheinen,<br />
wie ein einheitliches Objekt aussehen lässt. Es spielt keine Rolle,<br />
ob sich die beiden Teile des Gegenstands, der sich hinter dem<br />
Klotz bewegt, in ihrer Farbe, Textur oder Form unterscheiden;<br />
auch macht es keinen Unterschied, wie sie sich bewegen (seitwärts,<br />
auf <strong>und</strong> ab etc.) (Kellman <strong>und</strong> Spelke 1983; Kellman et al.<br />
1986). Für Säuglinge hat die gemeinsame Bewegung vielleicht<br />
auch deshalb so einen starken Einfluss, weil sie ihre Aufmerksamkeit<br />
auf die relevanten Veränderungen der Szene lenkt – die<br />
Stäbe bewegen sich, nicht der Holzklotz (Johnson et al. 2008). Allerdings<br />
muss diese scheinbar sehr elementare visuelle Wahrnehmung<br />
gelernt werden. Neugeborene ließen bei ähnlichen Testreizen<br />
wie den in . Abb. 5.5 gezeigten nicht erkennen, dass sie die<br />
gemeinsame Bewegung als Hinweisreiz für die Objektidentität<br />
nutzten (Slater et al. 1990, 1996). Erst <strong>im</strong> Alter von zwei Monaten<br />
wurde deutlich, dass sie die gemeinsame Bewegung des teilweise<br />
verdeckten Stabes als zusammenhängendes Objekt interpretieren<br />
(Johnson <strong>und</strong> Aslin 1995). Die gemeinsame Bewegung ist also
164<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
1<br />
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a<br />
..<br />
Abb. 5.6 Wissen <strong>und</strong> Objekttrennung. a Man kann nicht mit Sicherheit<br />
wissen, ob es sich bei dem, was man hier sieht, um ein Objekt oder um zwei<br />
Objekte handelt. b Aufgr<strong>und</strong> unseres Wissens über Schwerkraft <strong>und</strong> Halterungen<br />
können wir sicher sein, dass diese Figur ein einziges (allerdings sehr<br />
eigentümliches) Objekt ist. (Aus Needham 1997)<br />
ein starker Hinweis, aber die Fähigkeit, ihn zu nutzen, müssen<br />
Kinder erst erwerben.<br />
Wenn die Babys älter werden, nutzen sie zusätzliche Informationsquellen<br />
für die Objekttrennung, einschließlich ihres allgemeinen<br />
Weltwissens (Needham 1997; Needham <strong>und</strong> Baillargeon<br />
1997). Man betrachte dazu die ziemlich eigenartig aussehenden<br />
Anordnungen in . Abb. 5.6. Die Unterschiede in Farbe, Form <strong>und</strong><br />
Textur zwischen dem Quader <strong>und</strong> dem Rohr in . Abb. 5.6a legen<br />
die Annahme nahe, dass es sich um zwei getrennte Gegenstände<br />
handelt, obwohl man sich dessen nicht wirklich sicher sein kann.<br />
Das Wissen, dass Gegenstände nicht frei in der Luft schweben<br />
können, sagt uns jedoch, dass es sich in . Abb. 5.6b um ein einzelnes<br />
Objekt handeln muss; das heißt, das Rohr muss an dem<br />
Quader festgemacht sein.<br />
Wie wir Erwachsene interpretieren acht Monate alte Kinder<br />
diese beiden Darstellungen unterschiedlich. Wenn sie sehen, wie<br />
eine Hand in die Anordnung hineingreift <strong>und</strong> an dem Rohr in<br />
. Abb. 5.6a zieht, blicken sie länger hin (wahrscheinlich sind sie<br />
überraschter), wenn sich der Quader <strong>und</strong> das Rohr zusammen<br />
bewegen, als wenn sich das Rohr von dem Quader ablöst, was<br />
darauf schließen lässt, dass sie die Anordnung als zwei getrennte<br />
Objekte wahrnehmen. Das entgegengesetzte Bef<strong>und</strong>muster ergibt<br />
sich jedoch bei . Abb. 5.6b. Jetzt schauen die Kinder länger<br />
hin, wenn sich das Rohr allein bewegt, woraus man schließen<br />
kann, dass sie ein einzelnes, zusammenhängendes Objekt wahrnehmen.<br />
Nachfolgende Untersuchungen mit jüngeren Kindern,<br />
bei denen die gleichen Testreize wie in . Abb. 5.6 verwendet wurden,<br />
ergaben, dass Säuglinge bereits <strong>im</strong> Alter von viereinhalb<br />
Monaten die für Erwachsene typische Deutung der Reizmuster<br />
zeigen, allerdings nur, sofern sie zuvor mit dem Rohr <strong>und</strong> dem<br />
Quader vertraut gemacht worden waren (Needham <strong>und</strong> Baillargeon<br />
1998). Es scheint, als ob das Hantieren mit spezifischen<br />
Objekten Kindern zu einem Verständnis der physikalischen Eigenschaften<br />
verhilft. Wir kommen auf diesen Punkt noch weiter<br />
unten in diesem Kapitel <strong>im</strong> Abschnitt „Greifen“ zurück.<br />
Tiefenwahrnehmung<br />
Um uns sicher in der Umwelt zu bewegen, müssen wir wissen, wo<br />
wir uns in Hinblick auf die Objekte <strong>und</strong> die Orientierungspunkte<br />
um uns herum befinden. Wir ziehen viele Arten von Tiefen- <strong>und</strong><br />
Entfernungshinweisen heran, die uns sagen, ob wir an die Kaffeetasse<br />
auf dem Tisch heranreichen oder ob das Auto noch weit<br />
genug entfernt ist, um sicher vor ihm die Straße überqueren zu<br />
können. Von Anfang an sind Säuglinge für einige dieser Hinweise<br />
b<br />
empfänglich, <strong>und</strong> sie werden schon bald auch auf die restlichen<br />
Hinweisreize aufmerksam.<br />
Ein solcher Hinweisreiz, für den Säuglinge schon sehr früh<br />
empfänglich sind, ist die Objektausdehnung: Wenn sich uns ein<br />
Gegenstand nähert, gewinnt sein visuelles Abbild an Größe, was<br />
dazu führt, dass vom Hintergr<strong>und</strong> <strong>im</strong>mer mehr verdeckt wird.<br />
Wenn sich das Netzhautbild eines sich nähernden Objekts symmetrisch<br />
ausdehnt, wissen wir, dass sich das Objekt direkt auf uns<br />
zu bewegt, <strong>und</strong> eine vernünftige Reaktion besteht darin, sich zu<br />
ducken. Babys können sich nicht ducken, aber schon mit einem<br />
Monat blinzeln sie abwehrend, wenn ein Bild größer wird wie bei<br />
einem Objekt, das sich direkt auf sie zu bewegt. Der Zeitverlauf<br />
dieses Blinzelns ist ein entscheidender Faktor: Zu frühes oder zu<br />
spätes Blinzeln birgt das Risiko, dass ein näher kommendes Objekt<br />
auf ein geöffnetes Auge trifft. Allerdings ist es keineswegs offensichtlich,<br />
wie es die Babys bewerkstelligen, zum richtigen Zeitpunkt<br />
zu blinzeln. Dazu müssen sie die Information all dessen, was<br />
sich vor ihren Augen anbahnt, auswerten: unter anderem die Geschwindigkeit,<br />
mit der sich das Objekt visuell ausdehnt, <strong>und</strong> den<br />
zunehmenden Raum, den es <strong>im</strong> visuellen Feld einn<strong>im</strong>mt. Erstaunlicherweise<br />
können Babys bereits mit einem Monat zur Abwehr<br />
blinzeln, wenn ihnen ein expandierendes Objektbild präsentiert<br />
wird, das aussieht, als würde es sich auf den Betrachter zu bewegen<br />
(Ball <strong>und</strong> Tronick 1971; Náñez <strong>und</strong> Yonas 1994; Yonas 1981).<br />
Frühgeborene zeigen auch bei diesem Blinzeln zur Abwehr von<br />
herannahenden Objekten ein verzögertes Entwicklungsmuster,<br />
was vermuten lässt, dass Reifung <strong>und</strong> nicht zunehmende visuelle<br />
Erfahrung für diese Fähigkeit entscheidend ist (Kayed et al. 2008).<br />
Objektausdehnung – Ein Tiefenhinweis, bei dem ein Objekt den Hintergr<strong>und</strong><br />
<strong>im</strong>mer mehr verdeckt <strong>und</strong> damit anzeigt, dass es sich nähert.<br />
Ein weiterer Tiefenhinweis, der schon früh ausgebildet ist, beruht<br />
auf der einfachen Tatsache, dass wir über zwei Augen verfügen. Wegen<br />
des Abstands zwischen den Augen ist das Netzhautbild eines<br />
Objekts in beiden Augen niemals exakt gleich. Dementsprechend<br />
senden die Augen niemals genau gleiche Netzhautsignale an das<br />
Gehirn; dieses Phänomen nennt man binokulare Disparität. („Binokular“<br />
bedeutet „beidäugig“, „Disparität“ bedeutet „Verschiedenheit“.)<br />
Je näher der Gegenstand ist, den wir betrachten, desto<br />
größer ist der Unterschied zwischen den beiden Netzhautbildern;<br />
je weiter ein Objekt entfernt ist, desto weniger Disparität besteht.<br />
Be<strong>im</strong> beidäugigen oder Stereosehen (Stereopsis) überlagert der<br />
visuelle Cortex die mehr oder weniger disparaten Netzhautsignale<br />
von beiden Augen <strong>und</strong> verrechnet sie zu einer Tiefenwahrnehmung.<br />
Diese Form der Tiefenwahrnehmung tritt mit etwa vier Monaten<br />
recht plötzlich auf <strong>und</strong> ist <strong>im</strong> Allgemeinen binnen weniger<br />
Wochen voll entwickelt (Held et al. 1980), was wahrscheinlich auf<br />
die Reifung des visuellen Cortex zurückzuführen ist.<br />
Binokulare Disparität – Der Unterschied zwischen den Bildern eines Objekts<br />
auf den Netzhäuten beider Augen, durch den zwei leicht abweichende Signalmuster<br />
von den Netzhäuten an den visuellen Cortex gesendet werden. Die<br />
binokulare Disparität bildet eine Gr<strong>und</strong>lage des räumlichen Sehens.<br />
Stereosehen (Stereopsis) – Der Prozess, bei dem der visuelle Cortex die durch<br />
die binokulare Disparität leicht abweichenden Netzhautsignale von beiden<br />
Augen zu einer Tiefenwahrnehmung verarbeitet.
Wahrnehmung<br />
165 5<br />
..<br />
Abb. 5.7 Monokulare Tiefenindikatoren.<br />
Dieses sieben Monate<br />
alte Kind benutzt die relative Größe<br />
als monokularen Tiefenhinweis. Es<br />
trägt eine Augenklappe, sodass binokulare<br />
Tiefeninformationen nicht<br />
verfügbar sind, <strong>und</strong> greift nach der<br />
längeren Seite des trapezförmigen<br />
Fensters. Dieses Verhalten zeigt,<br />
dass das Baby diese Seite als die<br />
nähere, also leichter erreichbare<br />
Seite eines rechteckigen Fensters<br />
wahrn<strong>im</strong>mt. (© Albert Yonas, aus:<br />
Yonas et al. 1978)<br />
Mit etwa sechs oder sieben Monaten werden die Kinder für eine<br />
Vielzahl monokularer Tiefenhinweise empfänglich (die so genannt<br />
werden, weil sie räumliche Tiefe auch dann anzeigen, wenn<br />
ein Auge geschlossen ist) (Yonas et al. 2002). Diese Indikatoren<br />
werden auch als Bildindikatoren bezeichnet, weil sie dazu verwendet<br />
werden können, in Bildern räumliche Tiefe darzustellen.<br />
Monokulare Tiefenhinweise (Bildindikatoren) – Diejenigen Wahrnehmungshinweise<br />
auf räumliche Tiefe (wie etwa relative Größe <strong>und</strong> Verdeckung), die<br />
man mit nur einem Auge wahrnehmen kann.<br />
In einer der ersten – <strong>und</strong> bestdurchdachten – Untersuchungen<br />
zur monokularen Tiefenwahrnehmung von Säuglingen machten<br />
sich Yonas, Cleaves <strong>und</strong> Pettersen (1978) die Tatsache zunutze,<br />
dass Kleinkinder <strong>im</strong>mer nach dem näheren von zwei Objekten<br />
greifen werden. Die Forscher klebten fünf <strong>und</strong> sieben Monate<br />
alten Kindern ein Auge zu (um die binokulare Tiefeninformation<br />
auszuschalten) <strong>und</strong> zeigten ihnen ein trapezförmiges<br />
Fenster, dessen eine Seite beträchtlich länger war als die andere<br />
(. Abb. 5.7). (Aus der Sicht eines Erwachsenen, der ein Auge geschlossen<br />
hält, erscheint das Fenster als normales rechteckiges<br />
Fenster, das schräg zum Betrachter steht, sodass eine Seite näher<br />
erscheint als die andere). Die sieben Monate alten Kinder (aber<br />
nicht die jüngeren Babys) griffen nach der längeren Seite <strong>und</strong><br />
zeigten so, dass sie ebenso wie ein Erwachsener diese Seite als<br />
näher wahrgenommen hatten; sie lieferten damit einen Beleg dafür,<br />
dass sie die relative Größe als Hinweisreiz für räumliche Tiefe<br />
nutzten. ▶ Exkurs 5.2 beschreibt Forschungen über die Wahrnehmung<br />
von Bildern durch Säuglinge.<br />
Akustische Wahrnehmung<br />
Eine weitere reichhaltige Informationsquelle für Säuglinge ist die<br />
Welt der Klänge <strong>und</strong> Geräusche. Wie in ▶ Kap. 2 erwähnt, können<br />
Kinder bereits <strong>im</strong> Mutterleib gut genug hören, um gr<strong>und</strong>legende<br />
Merkmale ihrer Hörumgebung zu lernen (den Herzschlag<br />
der Mutter, Rhythmus <strong>und</strong> Melodik ihrer Sprache <strong>und</strong> so weiter).<br />
Bei der Geburt ist das auditive System <strong>im</strong> Vergleich zum visuellen<br />
System bereits relativ gut entwickelt. Die Struktur des Innenohres<br />
scheint ausgereift zu sein wie be<strong>im</strong> Erwachsenen, die Schallleitung<br />
<strong>im</strong> Außenohr aber noch ziemlich ineffizient (Keefe et al.<br />
1993). Im Laufe der frühen Kindheit entwickelt sich die Schalleitung<br />
vom Außen- <strong>und</strong> Mittelohr zum Innenohr enorm, <strong>und</strong> <strong>im</strong><br />
ersten Lebensjahr ist eine deutliche Reifung der Hörbahnen <strong>im</strong><br />
Gehirn festzustellen. Insgesamt führen diese Entwicklungen in<br />
Ohr <strong>und</strong> Gehirn zu einer enormen Verbesserung der Fähigkeit,<br />
auf Geräusche zu reagieren <strong>und</strong> durch sie zu lernen.<br />
Zu diesen Fortschritten tragen auch andere Faktoren bei. Ein<br />
Beispiel dafür ist die auditive Lokalisierung, die räumliche Ortung<br />
der Schallquelle. Neugeborene neigen dazu, wenn sie ein<br />
Geräusch hören, sich der Schallquelle zuzuwenden. Allerdings<br />
können Neugeborene die Schallquelle bei Weitem nicht so gut<br />
lokalisieren wie ältere Babys oder Kleinkinder. Bei der auditiven<br />
Lokalisierung stützt sich ein Hörer auf die Unterschiede in den<br />
bei jedem Ohr ankommenden Schallsignale: die Signale einer<br />
Schallquelle rechts vom Hörer werden sein rechtes Ohr eher erreichen<br />
als das linke Ohr, <strong>und</strong> sie werden zudem am rechten Ohr<br />
etwas lauter sein (genauer: einen höheren Schalldruck aufweisen)<br />
als am linken Ohr. Diese Unterschiede signalisieren dem<br />
Hörsystem den Ort der Geräuschquelle. Babys haben größere<br />
Schwierigkeiten als Kleinkinder, diese Information zu nutzen,<br />
vielleicht deshalb, weil ihr Kopfumfang kleiner ist <strong>und</strong> deshalb<br />
die Unterschiede, die an beiden Ohren bei der Stärke <strong>und</strong> <strong>im</strong><br />
Zeitverlauf des Schallsignals auftreten, geringer sind. Ein weiterer<br />
Gr<strong>und</strong> dafür, dass die Information von Säuglingen kaum genutzt<br />
werden kann, könnte darin liegen, dass sie noch nicht über mentale<br />
Karten des Hörraumes verfügen, d. h. noch keine Vorstellung<br />
davon haben, wie Schallquellen <strong>im</strong> Raum angeordnet sind – oben<br />
oder unten, rechts oder links. Um solche mentalen Karten zu<br />
entwickeln, bräuchte ein Baby mult<strong>im</strong>odale Erfahrungen, die es<br />
befähigen, die verschiedenen Informationen be<strong>im</strong> Hören, Sehen<br />
<strong>und</strong> Tasten zu integrieren. Die Entwicklung einer mentalen Karte<br />
des Hörraumes muss deshalb bis zu einem späteren Zeitpunkt<br />
warten, an dem die visuellen <strong>und</strong> motorischen Fähigkeiten <strong>im</strong><br />
Kleinkindalter hinreichend ausgebildet sind (Saffran et al. 2006).
166<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
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Exkurs 5.2: Näher betrachtet: Bildwahrnehmung | |<br />
Ein besonderer Fall der Wahrnehmungsentwicklung<br />
betrifft Bilder. Gemälde, Zeichnungen<br />
<strong>und</strong> Fotografien sind in modernen<br />
Gesellschaften allgegenwärtig, <strong>und</strong> eine<br />
<strong>im</strong>mense Menge an Information nehmen<br />
wir durch Bilder auf. Ab wann können Kinder<br />
diese wichtigen Bestandteile unserer Kultur<br />
wahrnehmen <strong>und</strong> verstehen?<br />
Schon Kleinkinder nehmen Bilder weitgehend<br />
in derselben Weise wahr wie wir. In einer<br />
klassischen Untersuchung ließen Hochberg<br />
<strong>und</strong> Brooks (1962) ihren eigenen Sohn in einer<br />
Umgebung ohne jegliche Bilder aufwachsen:<br />
keine Bilder an den Wänden ihrer Wohnung,<br />
keine Familienfotos, keine Bilderbücher, keine<br />
Muster auf Papier, Kleidung oder Spielsachen.<br />
Sie entfernten sogar die Banderolen von den<br />
Dosen. Und dennoch konnte das Kind, als es<br />
mit 18 Monaten getestet wurde, Menschen<br />
<strong>und</strong> Gegenstände auf Fotos <strong>und</strong> Zeichnungen<br />
problemlos identifizieren. Spätere Forschungen<br />
wiesen nach, dass schon fünf Monate alte<br />
Kinder Menschen <strong>und</strong> Gegenstände anhand<br />
von Fotografien <strong>und</strong> Zeichnungen erkennen<br />
können (z. B. <strong>DeLoache</strong> et al. 1979; Dirks<br />
<strong>und</strong> Gibson 1977), <strong>und</strong> selbst Neugeborene<br />
scheinen zweid<strong>im</strong>ensionale Versionen von<br />
dreid<strong>im</strong>ensionalen Objekten zu erkennen<br />
(Slater et al. 1984).<br />
Trotz ihrer früh entwickelten Wahrnehmung<br />
von Bildern verstehen Kleinkinder nicht, was<br />
Bilder eigentlich sind. Die vier abgebildeten<br />
Babys (s. Fotos) – zwei aus den USA <strong>und</strong> zwei<br />
aus einem Dorf in Westafrika – versuchen<br />
alle, nach den dargestellten Gegenständen<br />
zu greifen. Zwar können diese neun Monate<br />
alten Kinder den Unterschied zwischen<br />
Bildern <strong>und</strong> den tatsächlichen Gegenständen<br />
wahrnehmen, aber sie verstehen noch nicht,<br />
was Zweid<strong>im</strong>ensionalität bedeutet; darum<br />
versuchen sie, abgebildete Gegenstände so<br />
zu behandeln, als ob es die tatsächlichen Gegenstände<br />
wären – zwangsläufig ohne Erfolg.<br />
Mit 19 Monaten <strong>und</strong> nach beträchtlicher Erfahrung<br />
mit Bildern versuchen amerikanische<br />
Kinder nicht mehr, Bilder mit den Händen<br />
zu untersuchen; offenbar haben sie gelernt,<br />
Bilder zu betrachten, darüber zu sprechen,<br />
aber sie nicht zu befühlen, nach ihnen zu<br />
greifen oder sie zu essen (<strong>DeLoache</strong> et al.<br />
1998; Pierroutsakos <strong>und</strong> <strong>DeLoache</strong> 2003). Sie<br />
haben, kurz gesagt, die symbolische Natur<br />
von Bildern verstehen gelernt <strong>und</strong> wissen,<br />
dass ein abgebildeter Gegenstand einen<br />
realen Gegenstand nur repräsentiert (Preissler<br />
<strong>und</strong> Carey 2004).<br />
Während die meisten Kinder in der westlichen<br />
Welt überall Bilder vorfinden, haben Kinder<br />
anderer Kulturen bisweilen wenig Erfahrung<br />
mit Bildern. In faszinierenden kulturvergleichenden<br />
Untersuchungen hat man tatsächlich<br />
bei Kindern, die in einer familiären <strong>und</strong><br />
gesellschaftlichen Umgebung ohne Bilder<br />
von Objekten aufwuchsen, nicht den Entwicklungspfad<br />
beobachtet, der zum Verstehen der<br />
Bilder als Repräsentationen realer Objekte<br />
führt. In einer dieser Untersuchungen<br />
wurden Kinder <strong>im</strong> Kindergartenalter in ihrer<br />
Fertigkeit, Zeichnungen von Spielzeugen zu<br />
kopieren, verglichen, wobei die kanadischen<br />
Kinder besser abschnitten als Gleichaltrige<br />
aus ländlichen Regionen Indiens oder Perus<br />
(Callaghan et al. 2011). Und Kleinkinder aus<br />
ländlichen Bereichen Tansanias, die zuvor<br />
nicht mit Bildern konfrontiert waren, hatten<br />
be<strong>im</strong> Betrachten von Farbfotos größere<br />
Schwierigkeiten als amerikanische Kinder,<br />
wenn sie die abgebildeten Objekte pauschal<br />
benennen sollten (Walker et al. 2013). Wie<br />
diese Studien zeigen, braucht man Erfahrung<br />
mit Bildern, um den Zusammenhang<br />
zwischen den dreid<strong>im</strong>ensionalen Objekten<br />
<strong>und</strong> ihrer zweid<strong>im</strong>ensionalen Darstellung zu<br />
verstehen.<br />
..<br />
Diese neun Monate alten Kinder – zwei aus<br />
den USA <strong>und</strong> zwei aus Westafrika – reagieren<br />
auf die Bilder von Gegenständen, als ob es sich<br />
um echte Gegenstände handelt. Sie haben die<br />
eigentliche Beschaffenheit von Bildern noch<br />
nicht begriffen. (© Judy <strong>DeLoache</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher<br />
Genehmigung)
Wahrnehmung<br />
167 5<br />
Auditive Lokalisierung – Wahrnehmung des Ortes einer Geräuschquelle.<br />
Säuglinge sind geschickt darin, <strong>im</strong> Strom der Laute <strong>und</strong> Geräusche,<br />
die sie hören, Regelmäßigkeiten wahrzunehmen. Beispielsweise<br />
gelingt es ihnen bemerkenswert gut, feinste Unterschiede<br />
in den Lauten der menschlichen Sprache zu entdecken – eine Fähigkeit,<br />
die wir <strong>im</strong> Zusammenhang mit der Sprachentwicklung<br />
detaillierter in ▶ Kap. 6 erörtern werden. Hier an dieser Stelle<br />
konzentrieren wir uns auf einen anderen Bereich der akustischen<br />
Umwelt, in der Kleinkinder ein überraschendes Ausmaß an Wahrnehmungssensibilität<br />
an den Tag legen: den Bereich der Musik.<br />
Die Wahrnehmung von Musik<br />
Säuglinge reagieren sensibel auf Musik; das sieht man schon<br />
daran, dass die Betreuungspersonen in aller Welt ihren Babys<br />
vorsingen (Trehub <strong>und</strong> Schellenberg 1995). In den Vereinigten<br />
Staaten zum Beispiel singen oder spielen 60 % der Eltern ihren<br />
Kindern täglich etwas vor (Custodero et al. 2003).<br />
Wenn Erwachsene ihren Kindern etwas vorsingen, tun sie<br />
das meist auf eine besondere Weise, ähnlich wie sie mit ihnen<br />
in der Ammensprache reden, die wir in ▶ Kap. 6 behandeln. Sie<br />
singen dabei langsamer <strong>und</strong> in einer höheren Tonlage, als wenn<br />
sie für Erwachsene singen, um bei den Kindern eine positive<br />
St<strong>im</strong>mung zu wecken. Vielleicht bevorzugen Kinder aufgr<strong>und</strong><br />
dieser Merkmale das an sie gerichtete Singen gegenüber dem an<br />
Erwachsenen gerichteten (Masataka 1999; Trainor 1996). Tatsächlich<br />
scheint dieses das Kind-adressierende Singen gegenüber<br />
der Ammensprache sogar präferiert zu werden. Jedenfalls lässt<br />
das eine Studie mit sechs Monate alten Kindern vermuten, bei<br />
der die Halbjährigen Videoaufnahmen ihrer singenden Mutter<br />
mehr Aufmerksamkeit zuwandten als den Aufnahmen, in denen<br />
die Mutter sprach (Nakata <strong>und</strong> Trehub 2004).<br />
Über das allgemeine Interesse an Musik hinaus können Kinder<br />
auch erinnern, was sie hören, <strong>und</strong> Musik, die sie vor einigen<br />
Wochen gehört haben, bei erneuter Darbietung wiedererkennen<br />
(Saffran et al. 2000; Trainor et al. 2004; Volkova et al. 2006). Diese<br />
Erinnerungen sind überraschend genau <strong>und</strong> betreffen verschiedene<br />
Aspekte wie Tonhöhe, Klangfarbe <strong>und</strong> Tempo bei der ursprünglichen<br />
Präsentation. So schenkten sieben Monate alte Kinder<br />
den Liedern, die sie zwei Wochen zuvor in einer best<strong>im</strong>mten<br />
Tonart gehört hatten, dann mehr Aufmerksamkeit, wenn sie die<br />
Lieder be<strong>im</strong> Retest in einer anderen Tonart zu hören bekamen<br />
(Volkova et al. 2006). Das zeigt nicht nur, dass die Kinder zwischen<br />
den Tonarten unterschieden, sondern auch, dass sie die<br />
Tonarten über zwei Wochen hinweg behalten hatten.<br />
In vieler Hinsicht gleicht die kindliche Wahrnehmung von<br />
Musik der von Erwachsenen. Ein gut untersuchtes Beispiel dafür<br />
ist die Präferenz für konsonante Intervalle (wie Oktave oder<br />
Quinte, etwa am Beginn des Weihnachtsliedes Macht hoch die<br />
Tür) gegenüber dissonanten Intervallen (wie die verminderte<br />
Quarte etwa zu Beginn des Refrains „Maria“ in der West Side<br />
Story). Viele Gelehrte – von Pythagoras über Galilei bis in die<br />
heutige Zeit – haben behauptet, konsonante Klänge seien dem<br />
menschlichen Ohr von Natur aus angenehm, während Dissonanzen<br />
als unangenehm empf<strong>und</strong>en würden (Schellenberg <strong>und</strong><br />
Trehub 1996; Trehub <strong>und</strong> Schellenberg 1995). Um zu untersuchen,<br />
ob das auch bei Kleinkindern so ist, verwenden die Forscher<br />
ein s<strong>im</strong>ples, aber zuverlässiges (reliables) Verfahren. Vorn<br />
am Lautsprecher bringt man etwas für das Baby Interessantes an,<br />
beispielsweise ein Blinklicht. Dann beginnt die Musik zu spielen,<br />
was die Babys dazu bringt, zur Geräuschquelle hinzuschauen. Wie<br />
lange sie bei der jeweils abgespielten Musik auf den Lautsprecher<br />
blicken beziehungsweise auf das daran angebrachte Blinklicht,<br />
wird als Maß für ihr Interesse oder ihre Präferenz für diese Musik<br />
interpretiert, die gerade aus dem Lautsprecher kommt.<br />
Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder einer konsonanten<br />
Version eines Musikstückes – egal ob Volkslied oder Menuett<br />
– mehr Aufmerksamkeit widmen als einer dissonant gespielten<br />
Version (Trainor <strong>und</strong> Heinmiller 1998; Zentner <strong>und</strong> Kagan 1996,<br />
1998). Eine Studie von Masataka (2006) zeigte, dass zwei Tage<br />
alte Neugeborene dieses Präferenzmuster tatsächlich bereits haben.<br />
Diese Studie ist deshalb bemerkenswert, weil sie mit hörfähigen<br />
Kindern von tauben Müttern durchgeführt wurde, die<br />
<strong>im</strong> Mutterleib wahrscheinlich kaum Gelegenheit hatten, Gesang<br />
oder Musik zu hören. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass die<br />
Präferenz für konsonante Musik gegenüber dissonanter nicht<br />
auf Erfahrung mit Musik zurückzuführen ist. Tatsächlich zeigen<br />
auch andere Spezies (darunter Jungvögel, Makaken <strong>und</strong> Sch<strong>im</strong>pansen)<br />
die gleiche Präferenz für konsonante Musik. Das stützt<br />
die Vermutung, dass Präferenzen für konsonante Musik gegenüber<br />
dissonanter nicht von den Erfahrungen mit Musik abhängt<br />
(z. B. Chiandetti <strong>und</strong> Vallortigara 2011; Sug<strong>im</strong>oto et al. 2010).<br />
Im Hinblick auf andere Musikwahrnehmungen unterscheiden<br />
sich Säuglinge deutlich von Erwachsenen. Einer der interessantesten<br />
Unterschiede zeigt sich be<strong>im</strong> Wahrnehmen von Melodien:<br />
Hier können Säuglinge be<strong>im</strong> Hören von Melodien besser unterscheiden<br />
als Erwachsene. In einer Untersuchungsreihe hörten<br />
acht Monate alte Kinder <strong>und</strong> Erwachsene zunächst jeweils eine<br />
kurze, sich wiederholende Melodie, die den westlichen Konventionen<br />
für Harmonie in der Musik entsprach. In einer Reihe von<br />
Testdurchgängen wurde dann dieselbe Melodie erneut dargeboten,<br />
wobei allerdings jeweils ein Ton verändert worden war. Dieser<br />
veränderte Ton passte bei einigen Durchgängen zur Tonart der<br />
Melodie, bei anderen Durchgängen dagegen nicht. Beide Gruppen<br />
bemerkten die Veränderungen, die den Rahmen der Tonart<br />
sprengten, aber nur die Kinder bemerkten die Veränderung der<br />
Melodien, bei denen die Tonart unverändert blieb (Trainor <strong>und</strong><br />
Trehub 1992). Heißt das, dass Säuglinge musikalisch feiner eingest<strong>im</strong>mt<br />
sind als Erwachsene? Vermutlich nicht. Was hier wie eine<br />
erhöhte musikalische Sensibilität anmutet, beruht vermutlich auf<br />
fehlendem <strong>im</strong>plizitem Wissen über westliche Musik. Es dauert<br />
gewöhnlich Jahre, um mit den kulturspezifischen Strukturmerkmalen<br />
von Musik vertraut zu werden, <strong>und</strong> für die kleinen Hörer<br />
waren einfach die einzelnen Tonänderungen ungeachtet der ihnen<br />
unvertrauten Tonarten auffällig genug (Trainor <strong>und</strong> Trehub<br />
1994). Für Erwachsene ist es nach Jahren der Gewöhnung be<strong>im</strong><br />
Musikhören schwierig, einzelne veränderte Töne zu bemerken,<br />
solange diese nicht aus der Tonart fallen.<br />
Säuglinge reagieren auf ähnliche Weise auch be<strong>im</strong> Rhythmus<br />
der Musik sensibler als Erwachsene. Das rhythmische Muster<br />
variiert in den verschiedenen Musiksystemen auf komplizierte<br />
Weise. Westliche Musik ist zum Beispiel rhythmisch relativ einfach<br />
<strong>im</strong> Vergleich zur Musikkultur in Afrika oder Indien. Hannon<br />
<strong>und</strong> Trehub (2005a, 2005b) testeten Erwachsene <strong>und</strong> sechs
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Monate alte Säuglinge auf ihre Fähigkeiten, Veränderungen in<br />
der metrischen Struktur bei einfachen <strong>und</strong> komplexen Rhythmen<br />
zu entdecken. Einige der teilnehmenden Erwachsenen lebten<br />
auf dem Balkan, wo die landestypische Musik traditionell<br />
kompliziertere Rhythmen aufweist, <strong>und</strong> andere in Nordamerika,<br />
wo die Popularmusik einfacheren rhythmischen Mustern folgt.<br />
Die sechs Monate alten nordamerikanischen Babys schnitten bei<br />
diesen Tests besser ab als die nordamerikanischen Erwachsenen.<br />
Anschließend wurde untersucht, ob die nordamerikanischen<br />
Kinder <strong>im</strong> Alter von zwölf Monaten <strong>und</strong> auch die nordamerikanischen<br />
Erwachsenen die komplexeren Rhythmen nach einem<br />
entsprechenden Training besser erkennen. Nach einem zweiwöchigen<br />
Training mit Balkanrhythmen konnten die zwölf Monate<br />
alten Kinder Veränderungen auch in komplexen Rhythmen entdecken,<br />
während die Erwachsenen das nicht schafften.<br />
Diese Beispiele aus dem Bereich der Musik zeigen, dass Erfahrung<br />
mit einem Prozess der Wahrnehmungsverengung einhergeht.<br />
Kinder, die musikalisch unerfahren sind, können Unterschiede<br />
in verschiedenen Musikdarbietungen entdecken, die<br />
Erwachsene überhören. Solche entwicklungsabhängigen Veränderungen,<br />
bei denen die Erfahrung das Wahrnehmungssystem<br />
feinjustiert, lassen sich in vielen Bereichen beobachten Tatsächlich<br />
ist dieser Prozess der Wahrnehmungsverengung auch bei<br />
der in ▶ Exkurs 5.1 diskutierten Wahrnehmung von Gesichtern<br />
festzustellen, <strong>und</strong> dasselbe Muster wird uns wieder begegnen,<br />
wenn wir in einem der nächsten Abschnitte die intermodale<br />
Wahrnehmung betrachten <strong>und</strong> in ▶ Kap. 6 die intermodalen<br />
Aspekte des Spracherwerbs diskutieren. Bei all diesen Beispielen<br />
aus allen Bereichen der Wahrnehmung führt Erfahrung be<strong>im</strong><br />
frühen Lernen zu einem „Verlust“ der Unterscheidungsfähigkeit,<br />
über die ein Kind in früheren Entwicklungsphasen einmal<br />
verfügt hat. Allerdings erlaubt diese Wahrnehmungsverengung<br />
dem Kind, seine Entwicklung den Mustern der biologischen<br />
<strong>und</strong> sozialen St<strong>im</strong>ulierung anzupassen, die in seiner Umwelt<br />
vorherrschen.<br />
Geschmack <strong>und</strong> Geruch<br />
In ▶ Kap. 2 haben wir erfahren, dass sich die Empfindlichkeit<br />
für Geschmack <strong>und</strong> Geruch schon vor der Geburt entwickelt<br />
<strong>und</strong> dass Neugeborene eine angeborene Vorliebe für Süßes besitzen.<br />
Auch Geruchsvorlieben bestehen bereits sehr früh <strong>im</strong><br />
Leben. Neugeborene bevorzugen den Geruch der natürlichen<br />
Nahrungsquelle für menschliche Säuglinge, der Muttermilch<br />
(Marlier <strong>und</strong> Schaal 2005). Der Geruchssinn spielt bei vielen Säugetierarten<br />
eine wichtige Rolle dabei, wie der Nachwuchs lernt,<br />
seine Mutter zu erkennen. Dasselbe gilt wahrscheinlich auch für<br />
den Menschen, wie in Untersuchungen nachgewiesen wurde,<br />
in denen Säuglinge zwischen dem Geruch ihrer eigenen Mutter<br />
<strong>und</strong> dem einer anderen Frau wählen konnten. Beide Frauen<br />
hatten eine an ihrer Brust platzierte Einlage getragen, die danach<br />
links <strong>und</strong> rechts vom Kopf des Säuglings ausgelegt wurde. Schon<br />
mit zwei Wochen drehten die Kinder den Kopf häufiger zu dem<br />
Stoffstück, das den für die Mutter typischen Geruch enthielt, <strong>und</strong><br />
blieben ihm auch länger zugewandt (MacFarlane 1975; Porter<br />
et al. 1992).<br />
Berührung<br />
Eine weitere wichtige Methode, wie Säuglinge etwas über ihre<br />
Umgebung lernen, ist die aktive Berührung – mit ihren Händen<br />
<strong>und</strong> Fingern <strong>und</strong> auch mit dem M<strong>und</strong> <strong>und</strong> der Zunge. Die orale<br />
Erk<strong>und</strong>ung dominiert in den ersten Monaten, wenn sie ihre eigenen<br />
Finger <strong>und</strong> Zehen in den M<strong>und</strong> stecken <strong>und</strong> daran lutschen<br />
<strong>und</strong> dies auch mit fast allen anderen Gegenständen tun, mit<br />
denen sie in Kontakt kommen. (Deshalb muss man kleine, verschluckbare<br />
Dinge von Kleinkindern unbedingt fernhalten.) Auf<br />
dem Weg dieser begeisterten oralen Erk<strong>und</strong>ungstour lernen Babys<br />
vermutlich ihren eigenen Körper kennen (oder zumindest die<br />
Teile davon, die sie zum M<strong>und</strong> führen können) <strong>und</strong> erfahren die<br />
Oberflächenbeschaffenheit, den Geschmack <strong>und</strong> andere Eigenschaften<br />
der Gegenstände, mit denen sie in Berührung kommen.<br />
..<br />
Anfangs gelangt jeder Gegenstand, den das Baby in die Hand nehmen<br />
kann, zum Zweck der oralen Erk<strong>und</strong>ung in den M<strong>und</strong>, ob er dort hingehört<br />
oder nicht. Später beginnen Säuglinge die Gegenstände visuell zu erk<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> zeigen so ein Interesse am Gegenstand selbst. (© Galina Barskaya/fotolia.<br />
com <strong>und</strong> © Köpenicker/fotolia.com)<br />
Ab etwa dem vierten Lebensmonat gewinnen die Säuglinge<br />
mehr Kontrolle über ihre Hand- <strong>und</strong> Armbewegungen, sodass<br />
die Erk<strong>und</strong>ung mit den Händen stärker wird <strong>und</strong> gegenüber der<br />
oralen Erforschung der Umwelt mit der Zeit Vorrang erhält. Mit
Wahrnehmung<br />
169 5<br />
großer Aktivität befühlen Säuglinge Objekte, fassen sie an, untersuchen<br />
sie, schlagen drauf; <strong>und</strong> ihre Handlungen werden mit<br />
der Zeit <strong>im</strong>mer spezifischer mit Blick auf die Eigenschaften des<br />
Objekts. Zum Beispiel befühlen sie Gegenstände, die eine Oberflächenstruktur<br />
besitzen, <strong>und</strong> schlagen auf feste Gegenstände.<br />
Die Erweiterung der manuellen Kontrolle erleichtert auch die<br />
visuelle Erk<strong>und</strong>ung, indem die Kinder interessante Gegenstände<br />
festhalten können, um sie genauer zu untersuchen; sie können<br />
die Gegenstände drehen <strong>und</strong> aus verschiedenen Blickwinkeln<br />
betrachten, <strong>und</strong> auch der Wechsel von der einen Hand in die<br />
andere ermöglicht eine genauere Sicht (Bushnell <strong>und</strong> Boudreau<br />
1991; Lockman <strong>und</strong> McHale 1989; Rochat 1989; Ruff 1986).<br />
Intermodale Wahrnehmung<br />
An den meisten Ereignissen, die Säuglinge oder Erwachsene<br />
erleben, ist die gleichzeitige St<strong>im</strong>ulierung durch mehrere Sinnesmodalitäten<br />
beteiligt. Als Baby Benjamin zuschaute, wie das<br />
Kristallglas auf den gekachelten Boden fiel, bewirkte das splitternde<br />
Glas sowohl eine visuelle als auch eine auditive Reizung.<br />
Durch das Phänomen der intermodalen Wahrnehmung, der<br />
Kombination von Informationen aus zwei oder mehr Sinnessystemen,<br />
nahmen Benjamins Eltern die auditiven <strong>und</strong> visuellen<br />
Reize als ein einheitliches, zusammenhängendes Ereignis<br />
wahr. Wahrscheinlich gilt das auch für den vier Monate alten<br />
Benjamin.<br />
Intermodale Wahrnehmung – Die Kombination von Informationen aus zwei<br />
oder mehreren Sinnessystemen.<br />
Nach Piaget (1998) sind die Informationen aus den verschiedenen<br />
Sinnesmodalitäten am Anfang getrennt, <strong>und</strong> erst nach ein<br />
paar Monaten sind Kinder in der Lage, Assoziationen zu bilden<br />
zwischen dem Aussehen von Dingen <strong>und</strong> der Art, wie sie sich<br />
anhören <strong>und</strong> anfühlen, wie sie schmecken <strong>und</strong> so weiter. Allerdings<br />
hat sich <strong>im</strong>mer wieder deutlich gezeigt, dass Kinder<br />
schon sehr früh nach der Geburt Informationen verschiedener<br />
Sinnessysteme integrieren. So ergab die Forschung, dass<br />
beispielsweise orale <strong>und</strong> visuelle Erfahrung schon sehr früh<br />
integriert wird.<br />
In Untersuchungen an Neugeborenen (Kaye <strong>und</strong> Bower<br />
1994) <strong>und</strong> einen Monat alten Babys (Meltzoff <strong>und</strong> Borton<br />
1979) saugten die Babys an Schnullern, die sie aber nicht sehen<br />
konnten. Danach zeigte man ihnen ein Bild des Schnullers,<br />
an dem sie gesaugt hatten, <strong>und</strong> ein Bild eines neuartigen<br />
Schnullers von anderer Form oder Oberflächenbeschaffenheit.<br />
Die Babys betrachteten das Bild des Schnullers, an dem sie<br />
gesaugt hatten, länger. Sie konnten somit einen Gegenstand,<br />
den sie nur durch orale Erk<strong>und</strong>ung erfahren hatten, visuell<br />
wiedererkennen.<br />
Wenn die Kinder Gegenstände auch mit den Händen erk<strong>und</strong>en<br />
können, integrieren sie ihre visuellen <strong>und</strong> taktilen Erfahrungen<br />
mit Leichtigkeit. In einer Untersuchung beispielsweise<br />
durften vier Monate alte Säuglinge ein Paar Ringe festhalten <strong>und</strong><br />
befühlen, aber nicht sehen; die beiden Ringe waren entweder<br />
durch einen starren Stab oder durch eine Schnur verb<strong>und</strong>en.<br />
Zeigte man den Babys beide Arten von Ringen, erkannten sie<br />
diejenigen, die sie zuvor mit ihren Händen befühlt hatten (Streri<br />
<strong>und</strong> Spelke 1988). Mit einer sehr raffinierten Technik haben Forscher<br />
herausgef<strong>und</strong>en, dass Säuglinge auch über mehrere Formen<br />
der auditiv-visuellen intermodalen Wahrnehmung verfügen. Bei<br />
dieser Technik werden gleichzeitig zwei Filme nebeneinander<br />
dargeboten, während eine Filmmusik abgespielt wird, die nur mit<br />
einem der beiden Filme synchronisiert ist. Wenn ein Kind stärker<br />
auf den Film reagiert, der mit dem Ton synchron ist, kann dies<br />
als Beleg dafür gelten, dass es die gemeinsame Struktur in der<br />
akustischen <strong>und</strong> visuellen Information entdeckt hat.<br />
In einer klassischen Untersuchung mit diesem Verfahren<br />
zeigte Spelke (1976) viermonatigen Säuglingen zwei Videos, eines<br />
mit einer Person, die Guck-guck spielt, <strong>und</strong> eines mit einer<br />
Hand, die einen Trommelstock gegen einen Klotz schlägt. Die<br />
Kinder reagierten mehr auf den Film, der zu den Geräuschen<br />
passte, die sie hörten. Wenn sie eine St<strong>im</strong>me hörten, die „guckguck“<br />
sagte, betrachteten sie eher die Person; wenn sie aber ein<br />
schlagendes Geräusch hörten, betrachteten sie länger die Hand.<br />
In Folgeuntersuchungen zeigten die Kinder auch feinere Unterscheidungen.<br />
Zum Beispiel reagierten vier Monate alte Kinder<br />
stärker auf einen Film, in dem ein Spielzeugtier „hüpfte“ <strong>und</strong> das<br />
Geräusch des Aufpralls auf der Unterlage mit den Bewegungen<br />
des Tieres übereinst<strong>im</strong>mte, als auf einen Film, in dem sich das<br />
Tier jeweils gerade in der Luft befand, wenn das Aufprallgeräusch<br />
erklang (Spelke 1979). In diesem Alter können Babys auch eher<br />
abstrakte Verbindungen zwischen Gesehenem <strong>und</strong> Gehörtem<br />
ziehen. So blicken drei bis vier Monate alte Säuglinge auf einen<br />
Bildschirm, wenn der dort zu sehende Reiz – etwa ein hüpfender<br />
Ball – kongruent zu einem anderen Reiz in einer anderen Modalität<br />
in einer D<strong>im</strong>ension variiert – etwa mit dem Auf- <strong>und</strong> Absteigen<br />
der Tonhöhe eines akustischen Signals (Walker et al. 2010).<br />
..<br />
Mit einem Aufbau wie diesem untersuchen Forscher die auditiv-visuelle<br />
intermodale Wahrnehmung. Auf den beiden Computerbildschirmen laufen<br />
unterschiedliche Filme, von denen nur einer mit einer Tonspur synchronisiert<br />
ist. Die Videokamera zeichnet auf, wohin die Kinder blicken
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Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
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Ähnliche Untersuchungen dokumentieren, dass Babys besonders<br />
empfänglich für die Beziehung zwischen menschlichen Gesichtern<br />
<strong>und</strong> St<strong>im</strong>men sind. Zwischen fünf <strong>und</strong> sieben Monaten<br />
bemerken Kinder den Zusammenhang von emotionalem Gesichtsausdruck<br />
<strong>und</strong> St<strong>im</strong>mlage (Soken <strong>und</strong> Pick 1992; Walker-<br />
Andrews 1997). Wenn die Kinder eine fröhliche St<strong>im</strong>me hören,<br />
blicken sie länger zu einem lächelnden Gesicht, <strong>und</strong> wenn sie<br />
eine ärgerliche St<strong>im</strong>me wahrnehmen, schauen sie länger auf das<br />
Ärger ausdrückende Gesicht. Kinder sind also darauf eingestellt,<br />
Gesichter <strong>und</strong> die dazu passende St<strong>im</strong>mlage zu verbinden. Zeigt<br />
man Kindern <strong>im</strong> Alter von vier Monaten nebeneinander Filme<br />
von einer sprechenden Person, während sie eine Filmmusik hören,<br />
die zu einem der Filme gehört, betrachten sie das Gesicht,<br />
dessen Lippenbewegungen mit den gehörten Äußerungen synchron<br />
sind, länger (Spelke <strong>und</strong> Cortelyou 1981; Walker-Andrews<br />
1997). Kinder diesen Alters entdecken sogar die Beziehung zwischen<br />
speziellen Sprachlauten wie „a“ <strong>und</strong> „i“ <strong>und</strong> den speziellen<br />
Lippenbewegungen, die mit ihnen einhergehen (Kuhl <strong>und</strong><br />
Meltzoff 1982, 1984).<br />
Allerdings tritt auch bei der intermodalen Wahrnehmung<br />
die bereits erwähnte Wahrnehmungsverengung ein. Säuglinge<br />
können Korrespondenzen zwischen Sprechlauten <strong>und</strong> Gesichtsbewegungen<br />
auch bei einer fremden Sprechlauten entdecken, die<br />
es in ihrer Muttersprache nicht gibt, während ältere Kleinkinder<br />
das nicht können (Pons et al. 2009). Ähnlich sind Säuglinge in<br />
der Lage, bei Affengesichtern die Bewegungen <strong>und</strong> die produzierten<br />
Laute richtig zuzuordnen, während ältere Kleinkinder<br />
das nicht schaffen (Lewkowicz <strong>und</strong> Ghazanfar 2006). Erfahrung<br />
führt also zu einer Feinjustierung bei den Arten intermodaler<br />
Korrespondenz, die Kinder entdecken.<br />
Die Kinder können aber noch mehr, als nur Beziehungen<br />
zwischen Informationen verschiedener Sinnesmodalitäten zu<br />
entdecken: Sie können die Information der einen Modalität<br />
nutzen, um mehrdeutige Information einer anderen Modalität<br />
zu klären. In einer raffinierten Untersuchungsreihe hörten sieben<br />
Monate alte Kinder einen Musikrhythmus, dessen Gr<strong>und</strong>schlag<br />
nicht eindeutig war <strong>und</strong> sowohl als Zweiertakt als auch<br />
als Dreiertakt gedeutet werden konnte (Phillips-Silver <strong>und</strong> Trainor<br />
2005). Während die Kinder den Rhythmus hörten, wurden<br />
sie passend zum Gr<strong>und</strong>schlag auf- <strong>und</strong> abbewegt, wobei eine<br />
Gruppe dabei <strong>im</strong> Dreiertakt, die andere <strong>im</strong> Zweiertakt bewegt<br />
wurde. Be<strong>im</strong> Nachtest bevorzugten die Kinder, als ihnen zwei<br />
eindeutige Rhythmusversionen vorgespielt wurden, diejenige, die<br />
dem Bewegungsmuster be<strong>im</strong> ursprünglichen Hören entsprach.<br />
Diese Bef<strong>und</strong>e zeigen, dass die Kinder Information des Gleichgewichtssystems<br />
mit auditiver Information integrieren konnten:<br />
Die Auf- <strong>und</strong> Abbewegung hatte Einfluss darauf, wie die Kinder<br />
das, was sie hörten, interpretierten.<br />
In Kürze | |<br />
Mit einer Vielzahl spezieller Verfahren <strong>und</strong> Techniken sind<br />
Entwicklungspsychologen zahlreiche Entdeckungen über die<br />
Wahrnehmungsentwicklung in der frühen Kindheit gelungen.<br />
Sie haben die rasante Entwicklung der gr<strong>und</strong>legenden<br />
visuellen Fähigkeiten von der Geburt über die nächsten<br />
Lebensmonate hinweg nachgewiesen <strong>und</strong> herausgef<strong>und</strong>en,<br />
dass die Sehschärfe der Kinder, ihre Muster des visuellen Absuchens<br />
<strong>und</strong> ihre Farbwahrnehmung mit etwa acht Monaten<br />
den Fähigkeiten von Erwachsenen gleichen. Manche Formen<br />
der Tiefenwahrnehmung sind bei Geburt schon vorhanden,<br />
während sich andere erst in den Folgemonaten entwickeln.<br />
Mit fünf bis sieben Monaten können Kinder aktiv die einzelnen<br />
Elemente visueller Darstellungen integrieren, sodass sie<br />
ein zusammenhängendes Muster wahrnehmen. Sie nutzen<br />
viele Informationsquellen für die Trennung von Objekten,<br />
einschließlich der Bewegung <strong>und</strong> ihres Wissens über ihre<br />
Umwelt. Besonders interessante Objekte der Wahrnehmung<br />
sind für Säuglinge Gesichter.<br />
Forschungen zur auditiven Wahrnehmung haben gezeigt,<br />
dass sich Babys schon von Geburt an Geräuschen, die sie<br />
hören, zuwenden. Sie sind recht empfänglich für Musik <strong>und</strong><br />
zeigen viele derselben Vorlieben wie Erwachsene, etwa die<br />
Präferenz für Konsonanz gegenüber Dissonanz. In manchen<br />
Fähigkeiten übertreffen Säuglinge bei der Wahrnehmung<br />
von Musik auch die Erwachsenen, bei denen die Musikverarbeitung<br />
durch langjähriges Musikhören bereits geformt<br />
ist. Geruch <strong>und</strong> Geschmack spielen eine wichtige Rolle bei<br />
der Interaktion der Kinder mit ihrer Umwelt. Die zentrale<br />
Fähigkeit, die Wahrnehmungen aus getrennten Modalitäten<br />
miteinander zu verknüpfen <strong>und</strong> einheitliche, zusammenhängende<br />
Ereignisse zu erleben, ist in einfacher Form bereits ab<br />
der Geburt gegeben, wobei sich komplexere Assoziationen<br />
jedoch erst mit der Zeit herausbilden.<br />
Die aktuelle Forschung unterstützt insofern nativistische Überzeugungen.<br />
Neugeborene zeigen bemerkenswerte Wahrnehmungsfähigkeiten,<br />
die sich nicht mit Erfahrung erklären lassen,<br />
auch nicht mit pränatalen Erfahrungen. Gleichzeitig entwickeln<br />
sich die meisten Wahrnehmungsfertigkeiten aber auch<br />
<strong>im</strong> Verlauf der Zeit unter dem Einfluss von Lernprozessen. Die<br />
Kinder nähern sich in Ihren Wahrnehmungsfähigkeiten durch<br />
Wahrnehmungsverengung allmählich an: Mit zunehmender<br />
Expertise (durch Lernen) verlieren sie die Fähigkeit, bei weniger<br />
vertrauten Anblicken oder Geräuschen Unterscheidungen<br />
zu treffen, <strong>und</strong> passen sich zunehmend an die Umwelt an, in<br />
die sie hineingeboren sind.<br />
Motorische Entwicklung<br />
Wir haben in ▶ Kap. 2 bereits erfahren, dass menschliche Bewegung<br />
schon vor der Geburt beginnt, wenn der Fetus schwerelos<br />
<strong>im</strong> Fruchtwasser schwebt. Nach der Geburt sind die Bewegungen<br />
des Neugeborenen ungelenk <strong>und</strong> ziemlich unkoordiniert, zum<br />
Teil wegen fehlender körperlicher <strong>und</strong> neurologischer Reife <strong>und</strong><br />
zum Teil, weil das Baby erstmals die volle Wirkung der Schwerkraft<br />
erfährt. Wie <strong>im</strong> folgenden Abschnitt deutlich wird, ist die<br />
Entwicklung von der unkoordinierten Bewegung des in der<br />
Schwerkraft gefangenen Neugeborenen zum laufenden Kleinkind,<br />
das motorisch kompetent <strong>und</strong> zuversichtlich seine Umwelt<br />
erk<strong>und</strong>et, erstaunlich kompliziert.
Motorische Entwicklung<br />
171 5<br />
..<br />
Reflexe bei Neugeborenen. a Greifreflex, b Suchreflex, c Saugreflex, d tonischer Halsreflex. (a © Christopher Briscoe/Photo Researchers, b © Elisabeth Crews/<br />
Image Works, c © Laurent Ravonison/Photo Researchers, d © Custom Medical Stock/Alamy)<br />
Reflexe<br />
Neugeborene beginnen mit einigen fest strukturierten Verhaltensweisen,<br />
bekannt als frühkindliche (oder pr<strong>im</strong>itive) Reflexe.<br />
Einige Reflexe, beispielsweise das Zurückziehen von einem<br />
schmerzhaften Reiz, besitzen eindeutig adaptiven Wert; von<br />
anderen kennt man keine adaptive Bedeutung. Be<strong>im</strong> Greifreflex<br />
schließen Neugeborene ihre Finger um alles, was ihre Handinnenfläche<br />
berührt. Eine Berührung der Wange in der Nähe des<br />
M<strong>und</strong>es löst den Suchreflex aus, bei dem das Baby seinen Kopf in<br />
die Richtung der Berührung dreht <strong>und</strong> den M<strong>und</strong> öffnet. Wenn<br />
die Wange also die Brust der Mutter berührt, dreht es sich zur<br />
Brust hin <strong>und</strong> öffnet dabei den M<strong>und</strong>. Der Kontakt des M<strong>und</strong>es<br />
mit der Brustwarze löst dann den Saugreflex aus, gefolgt vom<br />
Schluckreflex; beide erhöhen die Chancen des Babys, Nahrung<br />
zu erhalten <strong>und</strong> letztlich zu überleben. Diese Reflexe folgen nicht<br />
vollständig einem Automatismus – so tritt der Saugreflex besonders<br />
dann auf, wenn der Säugling hungrig ist.<br />
Reflexe – Angeborene, festgefügte Handlungsmuster, die als Reaktion auf eine<br />
best<strong>im</strong>mte St<strong>im</strong>ulation auftreten.<br />
Bei anderen Reflexen ist kein unmittelbar mit ihnen assoziierter<br />
Vorteil bekannt, beispielsweise be<strong>im</strong> tonischen Halsreflex; wenn<br />
der Kopf des <strong>Kindes</strong> sich zu einer Körperseite dreht oder gedreht<br />
wird, streckt sich der Arm auf dieser Seite (<strong>und</strong> die Muskelspannung<br />
erhöht sich); gleichzeitig beugen sich (bei reduziertem Muskeltonus)<br />
der Arm <strong>und</strong> das Knie der anderen Seite. Man n<strong>im</strong>mt<br />
an, dass der tonische Halsreflex ein Bemühen des Säuglings darstellt,<br />
seine Hand <strong>im</strong> Blick zu behalten (von Hofsten 2004).<br />
Die Reflexe, die bei der Geburt vorhanden sind, lassen Rückschlüsse<br />
auf das zentrale Nervensystem des Neugeborenen<br />
zu. Reflexe, die entweder ungewöhnlich schwach oder ungewöhnlich<br />
stark ausgeprägt sind, können ein Hinweis auf eine<br />
Gehirnschädigung sein. Die meisten dieser frühkindlichen Reflexe<br />
verschwinden in einer festen zeitlichen Reihenfolge, aber<br />
einige bleiben ein Leben lang erhalten – beispielsweise das Husten,<br />
Niesen, Blinzeln <strong>und</strong> das Zurückziehen bei Schmerz. Das<br />
Überdauern eines frühkindlichen Reflexes über den Zeitpunkt<br />
hinaus, an dem er erwartungsgemäß verschwinden sollte, ist ein<br />
Warnhinweis auf ein möglicherweise vorliegendes neurologisches<br />
Problem.<br />
Meilensteine der Motorik<br />
Kleinkinder machen schnelle Fortschritte darin, die gr<strong>und</strong>legenden<br />
Bewegungsmuster unserer Spezies zu erwerben (. Abb. 5.8).<br />
Wir werden sehen, dass das Erreichen eines jeden wichtigen<br />
„motorischen Meilensteins“ in der Kindheit, insbesondere das<br />
freie Laufen, einen wichtigen Fortschritt für die Erfahrungsmöglichkeiten<br />
der Umwelt darstellt.
172<br />
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Abb. 5.8 Die wichtigsten Meilensteine der motorischen Entwicklung in der frühen Kindheit. Dargestellt sind das durchschnittliche Alter <strong>und</strong> der Altersbereich,<br />
in dem das Kind den jeweiligen Meilenstein erreicht. Man beachte, dass die Altersnormen auf Forschungen an ges<strong>und</strong>en, gut ernährten nordamerikanischen<br />
Kindern beruhen<br />
Nackt<br />
Wegwerfwindel<br />
Stoffwindel<br />
..<br />
Abb. 5.9 Einfluss der Windel auf den Gang eines <strong>Kindes</strong>. Die Fußspuren<br />
ergaben sich be<strong>im</strong> Test eines <strong>Kindes</strong>, das nackt oder in einer leichten Wegwerfwindel<br />
oder aber in einer dicken Stoffwindel über eine Matte ging. Be<strong>im</strong><br />
Gang ohne Windel kamen die Fußspuren (links) denen von Erwachsenen am<br />
nächsten. (Cole et al. 2012; Foto: © Karen Adolph; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Das durchschnittliche Alter, das in . Abb. 5.8 für die Entwicklung<br />
der jeweiligen wichtigen motorischen Fähigkeiten<br />
angegeben ist, beruht auf Forschungen an Kindern der westlichen,<br />
überwiegend nordamerikanischen Welt. Es gibt natürlich<br />
enorme individuelle Unterschiede, wann ein einzelnes Kind den<br />
jeweiligen Meilenstein erreicht. Interessant in diesem Zusammenhang<br />
ist auch die Tatsache, dass die motorische Entwicklung<br />
in verschiedenen Kulturen in unterschiedlichem Maße gefördert<br />
wird, was den Verlauf der Entwicklung beeinflussen kann. Tatsächlich<br />
versuchen manche Kulturen auch, frühe Fortbewegung<br />
aktiv zu verhindern. Im modernen städtischen China beispielsweise<br />
werden Säuglinge typischerweise auf Betten gelegt, umrahmt<br />
von dicken Kissen, damit sie nicht auf dem schmutzigen<br />
Fußboden krabbeln (Campos et al. 2000). Diese Einschränkung<br />
macht es den Kindern schwer, die Muskelstärke aufzubauen, die<br />
sie zur Unterstützung des Oberkörpers bräuchten, um krabbeln<br />
zu können. Bei den Aché, einem nomadischen Volk, das <strong>im</strong> Regenwald<br />
von Paraguay lebt, verbringen die Kinder aus Gründen<br />
der Sicherheit fast ihre gesamten ersten drei Lebensjahre eng am<br />
Körper der Mutter oder werden von ihr umhergetragen. Diese<br />
Säuglinge haben von Anfang an wenig Gelegenheit, ihre Fähigkeiten<br />
zur Fortbewegung einzuüben (Kaplan <strong>und</strong> Dove 1987).<br />
Im direkten Gegensatz dazu fördern die Kipsigi <strong>im</strong> ländlichen<br />
Kenia aktiv die motorische Entwicklung ihrer Kinder;<br />
zum Beispiel helfen sie ihren Babys be<strong>im</strong> Einüben des Sitzens,<br />
indem sie <strong>im</strong> Boden flache Gruben ausheben <strong>und</strong> die Kinder<br />
hineinsetzen, sodass ihr Rücken gestützt ist (Super 1976). Andere
Motorische Entwicklung<br />
173 5<br />
Exkurs 5.3: Näher betrachtet: „Der Fall des verschwindenden Reflexes“ | |<br />
Esther Thelen gehört zu den wichtigsten<br />
Vertreterinnen des dynamischen Systemansatzes,<br />
wie wir ihn in ▶ Kap. 4 besprochen haben.<br />
Frühe Forschungen von Thelen <strong>und</strong> ihren<br />
Koautoren liefern ein vorzügliches Beispiel<br />
für diesen Ansatz bei der Erforschung der<br />
motorischen Entwicklung <strong>und</strong> sind zugleich<br />
beispielhaft für die generelle Art, Hypothesen<br />
zu formulieren <strong>und</strong> zu prüfen. In einer Untersuchung<br />
hielten sie Kinder unter den Armen<br />
fest <strong>und</strong> tauchten sie bis zur Hüfte ins Wasser.<br />
Be<strong>im</strong> Lesen der folgenden Abschnitte werden<br />
Sie die Gr<strong>und</strong>idee dieses etwas sonderbar<br />
anmutenden, aber äußerst klugen <strong>und</strong> informativen<br />
Exper<strong>im</strong>ents schnell begreifen.<br />
Die genannte Untersuchung gehört zu einer<br />
Reihe von Forschungen, die Thelen (1995)<br />
als „den Fall des verschwindenden Reflexes“<br />
bezeichnete. Dabei geht es um den Schreitreflex,<br />
der sich auslösen lässt, indem man ein<br />
Neugeborenes so unter den Armen festhält,<br />
dass seine Füße eine Unterlage berühren; das<br />
Baby führt dann reflexhaft Schrittbewegungen<br />
aus, hebt zuerst das eine <strong>und</strong> dann das andere<br />
Bein, koordiniert wie be<strong>im</strong> Gehen. Der Reflex<br />
verschwindet normalerweise mit etwa zwei<br />
Monaten. Lange Zeit wurde angenommen,<br />
dass der Schreitreflex als Folge cortikaler<br />
Reifung aus dem motorischen Repertoire des<br />
<strong>Kindes</strong> verschwindet.<br />
Schreitreflex – Der angeborene Reflex des Säuglings,<br />
in koordiniertem Bewegungsmuster erst<br />
das eine <strong>und</strong> dann das andere Bein zu heben wie<br />
be<strong>im</strong> Gehen.<br />
Die Bef<strong>und</strong>e einer klassischen Untersuchung<br />
von Zelazo et al. (1972) st<strong>im</strong>mten mit dieser<br />
Annahme jedoch nicht überein. Bei diesen Forschungen<br />
erhielten zwei Monate alte Kinder<br />
zusätzliche Übungen, um ihren Schreitreflex<br />
zu trainieren, <strong>und</strong> in der Folge behielten die<br />
Kinder den Reflex viel länger bei, als es normalerweise<br />
der Fall wäre. Auch andere Forschungen<br />
wiesen das Fortdauern des Schreitmusters<br />
weit über das Alter von zwei Monaten hinaus<br />
nach. Zum einen ist das gleiche Muster der<br />
abwechselnden Beinbewegungen, welches<br />
das Schreiten kennzeichnet, auch be<strong>im</strong> rhythmischen<br />
Strampeln beteiligt, das Babys <strong>im</strong><br />
Liegen auf dem Rücken ausführen. Anders als<br />
der Schreitreflex besteht das Strampeln jedoch<br />
durch die frühe Kindheit hindurch fort (Thelen<br />
<strong>und</strong> Fisher 1982). Zum anderen machen sieben<br />
Monate alte Kinder, deren Schreitreflex schon<br />
verschw<strong>und</strong>en ist, rasche Gehbewegungen,<br />
wenn man ihnen auf einem sich bewegenden<br />
Laufband den notwendigen Halt gibt<br />
(Thelen 1986). Wenn sich das Verschwinden<br />
des Schreitreflexes hinauszögern lässt <strong>und</strong> er<br />
lange, nachdem er eigentlich verschw<strong>und</strong>en<br />
sein sollte, noch ausgelöst werden kann, dann<br />
kann die cortikale Reifung sein Verschwinden<br />
nicht erklären. Warum also bildet sich der<br />
Schreitreflex normalerweise völlig zurück?<br />
Ein Hinweis ergab sich aus der Beobachtung,<br />
dass pummeligere Babys <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
etwas später mit dem Laufen <strong>und</strong> Krabbeln<br />
beginnen als schlankere Babys. Thelen schloss<br />
daraus, dass die rasche Gewichtszunahme<br />
der Kinder in den ersten Lebenswochen dazu<br />
führen könnte, dass ihre Beine schneller<br />
schwerer als kräftiger werden. Zum Schreiten<br />
in aufgerichteter Position wird mehr Kraft<br />
benötigt als zum Strampeln <strong>im</strong> Liegen, <strong>und</strong><br />
zum Heben eines dicken Beines braucht man<br />
mehr Kraft als zum Heben eines dünnen<br />
Beines. Thelen nahm also an, dass die Lösung<br />
des Rätsels mehr mit den Muskeln als mit dem<br />
Gehirn zu tun hat.<br />
Um diese Hypothese zu prüfen, wurden zwei<br />
elegante Exper<strong>im</strong>ente durchgeführt (Thelen<br />
et al. 1984). In einem Exper<strong>im</strong>ent brachten die<br />
Forscherinnen an den Knöcheln von Säuglingen,<br />
deren Schreitreflex noch vorhanden<br />
war, Gewichte an, die etwa der Menge an Fett<br />
entsprachen, die ein Kind normalerweise in<br />
den ersten Lebensmonaten zusetzt. Plötzlich<br />
hörten diese Babys auf zu schreiten. In der<br />
zweiten Untersuchung wurden Säuglinge,<br />
die bereits keinen Schreitreflex mehr zeigten,<br />
bis zur Hüfte in ein Wasserbecken getaucht.<br />
Erwartungsgemäß begannen die Babys wieder<br />
zu schreiten, wenn der Auftrieb ihr Gewicht <strong>im</strong><br />
Wasser reduzierte. So kam durch die wissenschaftliche<br />
Detektivarbeit dieser Forscherinnen<br />
zutage, dass das normale Verschwinden<br />
des Schreitreflexes nicht, wie bislang angenommen,<br />
durch cortikale Reifung verursacht<br />
wird; vielmehr bleibt das Bewegungsmuster<br />
(<strong>und</strong> seine neuronale Gr<strong>und</strong>lage) erhalten,<br />
wird jedoch durch das veränderte Verhältnis<br />
von Gewicht <strong>und</strong> Kraft der Beine überdeckt.<br />
Nur indem man mehrere Variable gleichzeitig<br />
beachtete, ließ sich das Rätsel des verschwindenden<br />
Reflexes lösen.<br />
Volksgruppen in Westafrika oder auf den Westindischen Inseln<br />
führen ein offensives Programm aus Massage, Manipulation <strong>und</strong><br />
St<strong>im</strong>ulation durch, um die motorische Entwicklung ihrer Kinder<br />
zu fördern (Gottlieb 2004; Hopkins <strong>und</strong> Westra 1988).<br />
Diese sehr unterschiedlichen Kulturpraktiken können die Entwicklung<br />
der Kinder beeinflussen. Forscher haben bei den chinesischen<br />
Kindern <strong>und</strong> den Kindern der Aché eine etwas verlangsamte<br />
motorische Entwicklung nachgewiesen, verglichen mit den Normen<br />
aus . Abb. 5.8; die Babys der Kipsigi <strong>und</strong> solcher Gruppen, in<br />
denen konzentrierte Übungsmaßnahmen durchgeführt werden,<br />
sind in der Entwicklung ihrer motorischen Fähigkeiten demgegenüber<br />
weiter fortgeschritten als nordamerikanische Gleichaltrige.<br />
Selbst alltägliche Dinge, die wir in unserer Kultur für selbstverständlich<br />
halten, wirken sich auf die motorische Entwicklung der<br />
Kinder aus. So wurde untersucht, ob Windeln – eine relativ neue<br />
kulturelle Errungenschaft – einen Einfluss auf die motorische Entwicklung<br />
haben (Cole et al. 2012; . Abb. 5.9). Die Forscher stellten<br />
fest, dass einige Kinder einen reiferen Gang zeigten, wenn sie be<strong>im</strong><br />
Test nackt gingen, als wenn sie mit Windeln getestet wurden –<br />
wobei all diese Kinder in New York City lebten <strong>und</strong> an Windeln<br />
gewöhnt waren <strong>und</strong> selten nackt herumliefen. Das ist ein schönes<br />
Beispiel dafür, wie kulturelle Praktiken in einem Bereich (saubere<br />
Entsorgung der Exkremente) unvorhergesehene Folgen in einem<br />
anderen Bereich (motorische Entwicklung) zeitigen kann.<br />
Aktuelle Perspektiven<br />
Beeindruckt von dem geregelten Ablauf des Fähigkeitenerwerbs,<br />
wie er in . Abb. 5.8 dargestellt ist, schlossen zwei Pioniere der Untersuchung<br />
motorischer Entwicklung, Arnold Gesell <strong>und</strong> Myrtle<br />
McGraw, dass die neuronale Reifung des Cortex die motorische<br />
Entwicklung der Kinder best<strong>im</strong>mt (Gesell <strong>und</strong> Thompson 1938;<br />
McGraw 1943). Heutige Theoretiker folgen häufig dem dynamischen<br />
Systemansatz (▶ Kap. 4) <strong>und</strong> heben darauf ab, dass die<br />
frühe motorische Entwicklung aus dem Zusammenspiel zahlreicher<br />
Faktoren resultiert, welche die Entwicklung neuronaler Mechanismen,<br />
den Zuwachs an Körperkraft, an Kontrolle über die<br />
Körperhaltung, an Balance <strong>und</strong> Wahrnehmungsfähigkeit sowie<br />
die Veränderungen der Körperproportionen <strong>und</strong> der Motivation<br />
beinhalten (Bertenthal <strong>und</strong> Clifton 1998; Lockman <strong>und</strong> Thelen<br />
1993; von Hofsten 2004). ▶ Exkurs 5.3 bietet die detaillierte Darstellung<br />
eines Forschungsprogramms, das als Beispiel für diesen<br />
Ansatz gelten kann.<br />
Denken wir einen Augenblick darüber nach, wie jeder einzelne<br />
der genannten Faktoren mitwirkt an dem allmählichen<br />
Übergang vom Neugeborenen, das noch nicht einmal seinen<br />
Kopf heben kann, zum Kleinkind, das aus eigener Kraft gehen<br />
kann, indem es seinen Oberkörper aufrecht hält <strong>und</strong> dabei die<br />
Bewegungen der Beine koordiniert, die stark genug geworden
174<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
1<br />
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4<br />
5<br />
6<br />
..<br />
Abb. 5.10 Dieser rechtshändige<br />
Junge von 14 Monaten – ein<br />
Teilnehmer an den Forschungen<br />
von Rachel Keen <strong>und</strong> ihren Mitautoren<br />
– tut sich schwer damit,<br />
das angebotene Apfelmus in den<br />
M<strong>und</strong> zu bekommen. Man legte<br />
ihm einen Löffel mit dem Griff nach<br />
links vor (a), aber er ergriff ihn mit<br />
der dominanten rechten Hand (b),<br />
was es sehr schwierig macht, den<br />
Löffel auf dem Weg zum M<strong>und</strong><br />
richtig herum zu halten. Er kleckert.<br />
(© Rachel Keen; mit fre<strong>und</strong>licher<br />
Genehmigung)<br />
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sind, um das Körpergewicht zu tragen. Jeder Fortschritt in diesem<br />
Übergang wird zusätzlich dadurch angetrieben, dass das<br />
Kind <strong>im</strong>mer mehr von seiner Umwelt wahrnehmen kann <strong>und</strong><br />
motiviert ist, mehr über sie zu erfahren. Besonders klar wird<br />
die dynamisierende Rolle der Motivation an den beharrlichen<br />
Anstrengungen des <strong>Kindes</strong> zu laufen, wenn es krabbelnd besser<br />
vorwärts käme. Alle Eltern <strong>und</strong> viele Forscher teilen den Eindruck,<br />
dass Säuglinge Vergnügen daran haben, die Grenzen ihrer<br />
motorischen Fertigkeiten zu erweitern.<br />
Die Welt des Säuglings erweitert sich<br />
Das Meistern jedes in . Abb. 5.8 gezeigten Meilensteines erweitert<br />
die Welt des <strong>Kindes</strong> stark: Im Sitzen gibt es mehr zu sehen als<br />
<strong>im</strong> Liegen, es lässt sich mehr erk<strong>und</strong>en, wenn man selbst nach<br />
Dingen greifen kann, <strong>und</strong> wenn man sich aus eigener Kraft fortbewegen<br />
kann, gibt es noch mehr zu entdecken. In diesem Abschnitt<br />
betrachten wir, wie sich die motorische Entwicklung auf<br />
die Erfahrung der Kinder auswirkt.<br />
Greifen<br />
Die Entwicklung des Greifens löst <strong>im</strong> Leben des <strong>Kindes</strong> eine<br />
kleine Revolution aus: „Wenn Kinder erst einmal nach Gegenständen<br />
langen <strong>und</strong> sie greifen können, müssen sie nicht mehr<br />
darauf warten, dass die Welt zu ihnen kommt“ (Bertenthal <strong>und</strong><br />
Clifton 1998). Das Greifen braucht jedoch seine Zeit, um sich zu<br />
entwickeln. Das liegt daran (wie in ▶ Kap. 4 besprochen), dass an<br />
diesem scheinbar einfachen Verhalten eine komplizierte Wechselwirkung<br />
vieler voneinander unabhängiger Komponenten beteiligt<br />
ist, zum Beispiel die Muskelentwicklung, die Kontrolle der<br />
Körperhaltung <strong>und</strong> die Entwicklung verschiedener Wahrnehmungs-<br />
<strong>und</strong> Bewegungsfertigkeiten (Spencer et al. 2000; Thelen<br />
et al. 1993).<br />
Anfangs sind Säuglinge auf Vorformen des Greifens beschränkt.<br />
Dabei schlagen sie mit den Armen tollpatschig in die<br />
ungefähre Richtung von Objekten, die sie sehen (von Hofsten<br />
1982). Mit etwa drei bis vier Monaten fangen die Kinder an, mit<br />
Erfolg nach Gegenständen zu greifen, auch wenn ihre Bewegungen<br />
anfangs noch etwas ungelenk <strong>und</strong> schlecht kontrolliert<br />
erscheinen.<br />
Vorformen des Greifens – Die tollpatschigen schlagenden Bewegungen von<br />
Säuglingen in die ungefähre Richtung von Objekten, die sie sehen.<br />
Wie schon erwähnt, bereiten die Fortschritte bei der motorischen<br />
Entwicklung den Kindern auch den Weg für neue Erfahrungen<br />
<strong>und</strong> Möglichkeiten zum Lernen. Ein besonders überzeugendes<br />
Beispiel sind die Ergebnisse der Studie zum Greifen mithilfe<br />
von Klettband an speziellen Fäustlingen <strong>und</strong> Spielzeugen, die<br />
wir in ▶ Kap. 4 beschrieben haben (Needham et al. 2002). Die<br />
manuelle Exploration mithilfe der Klettbandfäustlinge steigerte<br />
das Interesse der Kinder an den Objekten <strong>und</strong> beschleunigte<br />
die Entwicklung der Fähigkeit, Gegenstände gezielt zu greifen.<br />
Und eine ähnliche Studie wies nach, dass die Intervention mit<br />
Klettbandfäustlingen auch über die Interaktion mit den Objekten<br />
hinausgeht (Libertus <strong>und</strong> Needham 2011). Die verbesserte<br />
Fähigkeit, mit Objekten zu interagieren, bietet den Kindern zusätzliche<br />
Möglichkeiten, mehr über ihre soziale Umwelt zu lernen<br />
– darüber, wie andere Menschen mit Objekten umgehen.<br />
Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten, mit den Betreuern<br />
durch gemeinsames Spielen mit Objekten in Interaktionen zu<br />
treten. Zusammengenommen tragen diese Faktoren zu einem<br />
wachsenden Interesse des <strong>Kindes</strong> an seinen sozialen Partnern bei.<br />
Mit etwa sieben Monaten, wenn die Kinder die Fähigkeit entwickelt<br />
haben, allein zu sitzen, wird ihr Greifvermögen ziemlich<br />
stabil, <strong>und</strong> die Bahn ihrer Greifbewegungen ist gleichbleibend geschmeidig<br />
<strong>und</strong> führt direkt zum Zielobjekt (Spencer et al. 2000;<br />
Thelen et al. 1993; von Hofsten 1979, 1991). Der Einflussbereich der<br />
Kinder erweitert sich durch die Errungenschaften des stabilen Sitzens<br />
<strong>und</strong> Greifens, weil sie sich jetzt nach vorn beugen können, um<br />
Gegenstände zu erreichen, die zuvor außerhalb ihrer Griffweite waren<br />
(Bertenthal <strong>und</strong> Clifton 1998; Rochat <strong>und</strong> Goubet 1995). Diese<br />
wachsenden Explorationsmöglichkeiten haben Auswirkungen auf
Motorische Entwicklung<br />
175 5<br />
Exkurs 5.4: Anwendungen: Eine aktuelle Veränderung bei der motorischen Entwicklung | |<br />
Ende der 1990er Jahre bemerkten Kinderärzte<br />
einen überraschenden Anstieg der Anzahl<br />
von Konsultationen, in denen Eltern sich<br />
beunruhigt zeigten, weil ihre Kinder entweder<br />
erst spät zu krabbeln anfingen oder überhaupt<br />
nicht krabbelten. Viele Babys waren vom Sitzen<br />
schlicht zum Laufen übergegangen.<br />
Die Ursache für diese völlig unbiologisch<br />
motivierte Veränderung bei der motorischen<br />
Entwicklung scheint auf die in ▶ Exkurs 2.4<br />
dargestellte Aufklärungskampagne zurückführbar<br />
zu sein, die Eltern eindringlich dazu<br />
anhält, ihre Babys auf dem Rücken schlafen zu<br />
lassen (Davis et al. 1998). Wie in ▶ Kap. 2 diskutiert,<br />
änderte diese öffentliche Ges<strong>und</strong>heitsmaßnahme<br />
das Verhalten von Eltern äußerst<br />
erfolgreich, was zu einem bemerkenswerten<br />
Rückgang der Auftretenshäufigkeit des<br />
plötzlichen Kindstodes führte. Anscheinend<br />
senkt das Auf-dem-Rücken-Liegen jedoch<br />
die Wahrscheinlichkeit, dass sich Kinder zum<br />
erwartbaren Zeitpunkt von selbst umdrehen<br />
können. Eine Quelle für diesen Effekt könnte<br />
motivationaler Natur sein: Die bessere Übersicht<br />
über die Umgebung, die man auf dem<br />
Rücken liegend hat, könnte die Motivation,<br />
sich auf den Bauch zu drehen, verringern; in<br />
dieser Lage wäre der Ausblick recht eingeschränkt.<br />
Wenn die Kinder jedoch weniger<br />
Zeit auf dem Bauch verbringen, haben sie<br />
weniger Gelegenheit herauszufinden, dass<br />
sie sich durch eigenes Rutschen <strong>und</strong> Winden<br />
selbst vorwärtsbewegen können. Bei weniger<br />
Übung, auf dem Bauch liegend den Oberkörper<br />
aufzurichten, könnte sich die Kraft in den<br />
Armen etwas langsamer entwickeln.<br />
Wie auch <strong>im</strong>mer: Die Forschungslage ist<br />
beruhigend. Beobachtet man die Kinder mit<br />
18 Monaten, findet sich kein Unterschied in<br />
der Entwicklung, gleichgültig ob sie beizeiten<br />
zu krabbeln begonnen haben oder nicht.<br />
die visuelle Wahrnehmung. Betrachten wir dazu die Schwierigkeit,<br />
dreid<strong>im</strong>ensionale Objekte als Ganzes visuell zu erfassen. Wenn wir<br />
die Vorderseite eines dreid<strong>im</strong>ensionalen Objekts sehen, ist naturgemäß<br />
die Rückseite verdeckt. Ungeachtet dessen ergänzen Erwachsene<br />
die nicht sichtbaren Teile <strong>und</strong> erkennen das Objekt auch ohne<br />
Röntgenbild als dreid<strong>im</strong>ensionales Volumen. Es stellt sich heraus,<br />
dass zunehmende Erfahrung mit der Manipulation von Objekten<br />
auch den Prozess der Objektvervollständigung be<strong>im</strong> Sehen verbessert.<br />
Kinder, die besser sitzen können <strong>und</strong> bessere manuelle<br />
Fertigkeiten haben, nehmen dreid<strong>im</strong>ensionale Objekte aus einem<br />
beschränkten Blickwinkel mit besserer Objektvervollständigung<br />
wahr als Kinder, die weniger gut sitzen <strong>und</strong> weniger manuelle Fertigkeiten<br />
haben (Soska et al. 2010).<br />
Solche Beobachtungen lassen eine starke Interaktion zwischen<br />
visueller <strong>und</strong> motorischer Entwicklung vermuten. Gleichzeitig<br />
können Kinder auch unabhängig vom Sehen einige motorische<br />
Aufgaben gut lösen, indem sie auditive <strong>und</strong> vestibuläre<br />
Hinweise ihrer Hör- <strong>und</strong> Gleichgewichtswahrnehmung heranziehen.<br />
Beispielsweise ist für akkurates Greifen das Sehen nicht<br />
<strong>im</strong>mer erforderlich: Kinder zwischen vier <strong>und</strong> acht Monaten<br />
greifen auch in einem völlig dunklen Raum nach einem nicht<br />
sichtbaren Gegenstand, der Geräusche produziert (Clifton et al.<br />
1991). Auch langen sie be<strong>im</strong> Greifen nach Gegenständen, die sie<br />
sehen können, selten nach solchen, die zu weit entfernt sind, was<br />
darauf schließen lässt, dass sie eine Vorstellung davon haben, wie<br />
lang ihre Arme sind (Bertenthal <strong>und</strong> Clifton 1998).<br />
Mit zunehmendem Alter <strong>und</strong> wachsender Übung zeigt das<br />
Greifen der Kinder zunehmend klare Anzeichen der Antizipation;<br />
langen sie beispielsweise nach einem großen Gegenstand, so<br />
spreizen sie die Finger weit auseinander <strong>und</strong> passen die Greifhand<br />
der Ausrichtung des begehrten Objekts an (Lockman et al. 1984;<br />
Newell et al. 1989). Und wie ein Feldspieler, der einen fliegenden<br />
Ball fängt, können sie auch ein sich bewegendes Objekt berühren,<br />
indem sie dessen Bewegungsbahn vorausberechnen <strong>und</strong> ihr<br />
Greifen auf eine Stelle kurz vor dem Objekt richten (Robin et al.<br />
1996; von Hofsten et al. 1998). Und die Art, wie sich zehn Monate<br />
alte Kinder einem Gegenstand nähern, wird davon beeinflusst,<br />
was sie zu tun beabsichtigen, wenn sie ihn in Händen halten – ein<br />
sehr eindrucksvoller Bef<strong>und</strong>. Ebenso wie Erwachsene greifen sie<br />
schneller nach einem Gegenstand, den sie zu werfen planen, als<br />
nach einem, den sie eingehender untersuchen wollen (Claxton<br />
et al. 2003). . Abbildung 5.10 veranschaulicht, dass die Antizipationsfähigkeiten<br />
eines Kleinkindes noch begrenzt sind.<br />
Eigene Fortbewegung<br />
Mit etwa acht Monaten sind die Kinder zum ersten Mal in ihrem<br />
Leben in der Lage, sich selbst auf eigene Faust in der Umgebung<br />
zu bewegen. Nun, da sie nicht mehr dadurch eingeschränkt sind,<br />
genau dort bleiben zu müssen, wo sie jemand hinbringt, dürfte<br />
ihnen ihre Welt erheblich größer erscheinen.<br />
Die ersten Erfolge von Kleinkindern, sich aus eigener Kraft<br />
fortzubewegen, spielen sich normalerweise in Form von Krabbeln<br />
ab. (▶ Exkurs 5.4 beschreibt ein interessantes aktuelles Beispiel<br />
für die Variabilität des Alters, in dem das Krabbeln beginnt.)<br />
Viele (wahrscheinlich die meisten) Kinder fangen damit an, auf<br />
dem Bauch zu rutschen, oder greifen auf irgendein anderes idiosynkratisches<br />
Muster zurück, um vorwärts zu kommen (Adolph<br />
et al. 1998). Die meisten Bauchkrabbler wechseln dann zum<br />
Krabbeln auf Händen <strong>und</strong> Knien über, was weniger anstrengend<br />
ist <strong>und</strong> schneller geht. Es gibt Krabbelstile mit bunt schillernden<br />
Namen oder Beschreibungen wie Robben, Rollen, Po-Rutschen,<br />
Krabbeln auf vier Beinen, <strong>im</strong> Spinnen- oder Krebsgang (Adolph<br />
<strong>und</strong> Robinson 2013).<br />
..<br />
Die ersten Schritte sind ein großer Moment <strong>im</strong> Leben eines <strong>Kindes</strong> <strong>und</strong><br />
seiner Eltern. (Foto: Bernadette Berg)
176<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
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Exkurs 5.5: Näher betrachtet: Abgr<strong>und</strong> oder Hindernis – ich komme | |<br />
Die wechselseitige Abhängigkeit verschiedener<br />
Entwicklungsbereiche lässt sich sehr schön<br />
anhand einer reichhaltigen <strong>und</strong> faszinierenden<br />
Serie von Exper<strong>im</strong>enten illustrieren, die über<br />
fünf Jahrzehnte hinweg durchgeführt wurde.<br />
Diese Arbeiten begannen mit einer markanten<br />
Untersuchung von Eleanor Gibson <strong>und</strong> Richard<br />
Walk (1960), in der sie der Frage nachgingen,<br />
ob Kleinkinder räumliche Tiefe wahrnehmen<br />
können, <strong>und</strong> gipfelten in Forschungen,<br />
die Tiefenwahrnehmung, Fortbewegung,<br />
kognitive Fähigkeiten, Emotion <strong>und</strong> den<br />
sozialen Kontext der Entwicklung miteinander<br />
verknüpften.<br />
Um die Frage nach der Tiefenwahrnehmung zu<br />
beantworten, verwendeten Gibson <strong>und</strong> Walk<br />
eine Vorrichtung, die „visuelle Klippe“ genannt<br />
wird. Wie das Foto zeigt, besteht die visuelle<br />
Klippe aus einer dicken Schicht Plexiglas, die<br />
das Gewicht eines Kleinkindes aushält. Ein<br />
Steg in der Mitte teilt die Vorrichtung in zwei<br />
Seiten. Ein kariertes Muster, das sich auf der<br />
einen Hälfte knapp unter dem Glas befindet,<br />
lässt es wie eine feste, sichere Fläche aussehen.<br />
Auf der anderen Seite befindet sich das<br />
Muster weit unterhalb der Glasplatte, <strong>und</strong> der<br />
Kontrast in der Größe, in der die Karos erscheinen,<br />
führt zu dem Eindruck, dass zwischen den<br />
beiden Seiten ein gefährliches Gefälle – eine<br />
Klippe – besteht.<br />
Gibson <strong>und</strong> Walk berichteten, dass Kinder <strong>im</strong><br />
Alter von sechs bis 14 Monaten problemlos<br />
den flachen Teil der visuellen Klippe überquerten.<br />
Sie überquerten aber nicht den tiefen Teil,<br />
selbst wenn ein Elternteil sie hinüberzulocken<br />
versuchte. Offenbar waren die Kinder nicht<br />
gewillt, sich auf ein Gelände zu wagen, das wie<br />
ein Abgr<strong>und</strong> aussah – ein starker Beleg dafür,<br />
dass sie den Tiefenindikator der relativen<br />
Größe wahrnehmen <strong>und</strong> seine Bedeutung<br />
verstehen konnten.<br />
Karen Adolph, die bei Gibson studiert hatte,<br />
führte umfangreiche Forschungsarbeiten über<br />
die Beziehungen zwischen Wahrnehmung<br />
<strong>und</strong> Handlung in der frühen Kindheit durch.<br />
Adolph <strong>und</strong> ihre Koautoren (Adolph 1997,<br />
2000; Adolph et al. 1993, 2003; Eppler et al.<br />
1996) entdeckten erstaunliche Diskontinuitäten,<br />
wenn die Kleinkinder lernten, was sie<br />
mit ihren sich entwickelnden Fähigkeiten der<br />
Fortbewegung <strong>und</strong> der Körperhaltung bewältigen<br />
konnten <strong>und</strong> was nicht. Diese Forschungen<br />
können als Beispiel für die Mechanismen<br />
der Veränderung gelten, bei denen Variation<br />
<strong>und</strong> Selektion Entwicklungsveränderungen<br />
hervorrufen.<br />
Um die Beziehung zwischen frühen motorischen<br />
Fähigkeiten <strong>und</strong> Einschätzungen zu<br />
untersuchen, baten die Forscher die Eltern,<br />
ihre Kinder dazu zu bringen, sich auf einer<br />
erhöhten Fläche über Abgründe unterschiedlicher<br />
Breite zu lehnen oder hinüberzukrabbeln<br />
<strong>und</strong> steile Rampen hinunterzukriechen oder<br />
hinunterzulaufen, deren Gefälle variierte.<br />
Einige dieser Aufgaben waren für das jeweilige<br />
Kind lösbar; ein Baby hat beispielsweise keine<br />
Schwierigkeiten damit, eine abschüssige<br />
Rampe mit einer mäßigen Steilheit zu überwinden.<br />
Andere Aufgaben jedoch waren für<br />
das jeweilige Kind unlösbar. Würden die Babys<br />
herausfinden, welche? (Einer der Forscher war<br />
stets in der Nähe, um Kinder aufzufangen, die<br />
ihr Können falsch einschätzten.)<br />
Die beiden Fotos zeigen, wie sich Kinder an<br />
den Rampen verhielten, wenn ein Erwachsener<br />
– in der Regel die Mutter – sie zu sich herüberzulocken<br />
versuchte. In den ersten Wochen<br />
des Krabbelns zögerten die durchschnittlich<br />
achteinhalb Monate alten Babys nicht <strong>und</strong><br />
überwanden geschickt das leichte Gefälle. Mit<br />
Rampen konfrontiert, die zu steil zum Hinunterkrabbeln<br />
waren, hielten die Babys normalerweise<br />
einen Augenblick inne, dann aber<br />
machten sie sich mit dem Kopf voran auf den<br />
Weg (die Forscherin musste sie auffangen!).<br />
Nach mehreren Wochen Krabbelerfahrung<br />
konnten die Babys besser beurteilen, ob eine<br />
Rampe schlicht zu steil war <strong>und</strong> gemieden<br />
werden sollte. Sie verbesserten sich auch <strong>im</strong><br />
Ausdenken von Strategien, wie man ziemlich<br />
steile Gefälle hinuntergelangen kann, etwa<br />
indem sie sich umdrehten <strong>und</strong> sich zent<strong>im</strong>eterweise<br />
vorsichtig rückwärts hinabschoben.<br />
Als die Kinder jedoch zu laufen begannen,<br />
verschätzten sie sich wiederum darin, welche<br />
Rampen sie mit ihrer neuen Fortbewegungsweise<br />
hinuntergelangen konnten, <strong>und</strong><br />
versuchten Rampen hinunterzulaufen, die zu<br />
steil für sie waren. Mit anderen Worten, sie<br />
versagten dabei, das, was sie be<strong>im</strong> Steile-<br />
Gefälle-Hinabkrabbeln gelernt hatten, auf<br />
das Hinablaufen zu übertragen. Kleinkinder<br />
müssen also offensichtlich durch Erfahrung<br />
lernen, wie die Wahrnehmungsinformation<br />
mit jedem neuen motorischen Verhalten,<br />
das sie entwickeln, zu integrieren ist. Dabei<br />
Wenn Kinder mit elf oder zwölf Monaten anfangen, aus eigener<br />
Kraft zu laufen, stellen sie ihre Füße relativ weit auseinander,<br />
was ihre stützende Basis vergrößert; sie beugen Hüfte <strong>und</strong> Knie<br />
ein wenig, wodurch ihr Schwerpunkt etwas tiefer liegt; sie halten<br />
die Hände in die Höhe, um besser Balance zu halten; <strong>und</strong><br />
sie haben in 60 % der Zeit beide Füße gleichzeitig auf dem Boden<br />
(<strong>im</strong> Gegensatz zu nur 20 % bei Erwachsenen) (Bertenthal<br />
<strong>und</strong> Clifton 1998). Wenn sie älter werden <strong>und</strong> an Erfahrung<br />
hinzugewinnen, werden ihre Schritte länger, gerader <strong>und</strong> stetiger.<br />
Übung ist unabdinglich be<strong>im</strong> allmählichen Beherrschen<br />
der anfänglich schwachen Muskeln <strong>und</strong> der unsicheren Balance<br />
(Adolph et al. 2003). Und sie üben: Bei einer Gruppe von zwölf<br />
bis 19 Monate alten Kindern in New York wurden <strong>im</strong> Mittel<br />
2368 Schritte <strong>und</strong> 17 Stürze pro St<strong>und</strong>e (!) beobachtet (Adolph<br />
et al. 2012).<br />
Das tägliche Leben zu Beginn des mobilen Krabbel- oder<br />
Laufalters ist reichlich mit besonderen Herausforderungen für<br />
die Fortbewegung ausgestattet – glatte Böden, weiche Teppiche,<br />
gewinnen sie mit zunehmender Erfahrung<br />
<strong>im</strong>mer mehr Flexibilität, die ihnen multiple<br />
Lösungsstrategien bei zuvor unlösbaren Aufgaben<br />
verschafft, darunter Laboranordnungen<br />
mit steilen Rampen oder schmale Stege mit<br />
einem schwankenden Geländer (Adolph <strong>und</strong><br />
Robinson 2013)<br />
Die Entscheidungen der Kinder in solchen<br />
Situationen hängen auch von den sozialen Informationen<br />
ab. Kleinkinder, die es schon fast<br />
schaffen, eine relativ steile Rampe hinunterzugelangen,<br />
sind recht leicht zu entmutigen <strong>und</strong><br />
von dem Versuch abzuhalten, wenn die Mutter<br />
Nein sagt. Umgekehrt kann eine begeisterte<br />
Ermutigung eines Elternteils einen unerfahrenen<br />
Krabbler oder Läufer dazu verführen, sich<br />
an Gefällen zu versuchen, die noch zu steil<br />
für ihn sind. Das Kind benutzt also sowohl die<br />
soziale als auch die Wahrnehmungsinformation,<br />
wenn es sich entscheidet, was zu tun ist.<br />
In diesem Fall erhält es die Information durch<br />
soziales Referenzieren, bei dem Bezug auf die<br />
emotionale Reaktion eines anderen Menschen<br />
genommen wird, um in einer ungewissen Situation<br />
zu entscheiden, wie man sich am besten<br />
verhält (▶ Kap. 10).<br />
Ein besonders wichtiger Bef<strong>und</strong> von Adolphs<br />
Forschung besteht darin, dass Kleinkinder<br />
aus Erfahrung lernen müssen, was sie unter<br />
Berücksichtigung jeder neuen motorischen<br />
Fähigkeit, die sie erworben haben, tun können<br />
<strong>und</strong> was nicht. Genauso wie die Kinder,<br />
die gerade erst krabbeln oder laufen gelernt<br />
haben, <strong>im</strong> Wortsinn auf die Nase fallen, wenn<br />
man sie oben an eine steile Rampe stellt, wird<br />
ein Kind, das gerade erst gelernt hat zu sitzen,<br />
sich zu weit nach einem Spielzeug außer<br />
Reichweite recken <strong>und</strong> dabei das Gleichgewicht<br />
verlieren – <strong>und</strong> <strong>im</strong> Labor durch die<br />
Lücke der Stützplatte fallen, wäre da nicht die<br />
allgegenwärtige Forscherin, die es auffängt.<br />
Erfahrene Krabbler <strong>und</strong> Läufer halten inne,<br />
um abzuwägen, ob sie versuchen sollten, die<br />
Rampe hinunterzukommen, oder lieber nicht.<br />
Und ebenso beurteilt ein Kleinkind, das seit<br />
einiger Zeit ohne Unterstützung sitzen kann,<br />
ob eine Lücke zu breit ist, um sich hinüberzulehnen,<br />
<strong>und</strong> wird das sein lassen, wenn<br />
sie ihm zu breit erscheint. Diese st<strong>im</strong>migen<br />
Bef<strong>und</strong>e zur Vielfalt motorischer Fähigkeiten<br />
sind sehr wichtig, um zu verstehen, wie<br />
Kleinkinder erfolgreich mit ihrer Umwelt<br />
interagieren lernen.
Motorische Entwicklung<br />
177 5<br />
Exkurs 5.5 (Fortsetzung) | |<br />
..<br />
Ein Kind weigert sich, den Abgr<strong>und</strong> der<br />
visuellen Klippe zu überqueren, obwohl seine<br />
Mutter auf der anderen Seite es ruft <strong>und</strong> zu sich<br />
herüberzulocken versucht. (© Prof. Joseph. J.<br />
Campos, University of Berkeley; mit fre<strong>und</strong>licher<br />
Genehmigung)<br />
..<br />
Das Integrieren der Wahrnehmungsinformation<br />
mit neuen<br />
motorischen Fertigkeiten. a Karen<br />
Adolph wird das seit Kurzem<br />
krabbelnde Baby retten müssen, das<br />
nicht erkennt, dass dieses Gefälle für<br />
sein derzeitiges Fähigkeitsniveau <strong>im</strong><br />
Krabbeln zu steil ist. b Im Unterschied<br />
dazu entscheidet das erfahren<br />
laufende Kind vernünftigerweise,<br />
dass dieses Gefälle zu steil zum<br />
Hinunterlaufen ist. (© Karen Adolph;<br />
mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Wege voller Gegenstände <strong>und</strong> Hindernisse, Treppen, schräg<br />
abfallende Rasenflächen <strong>und</strong> so weiter. Die Kinder müssen<br />
permanent einschätzen, ob ihre sich entwickelnden Fähigkeiten<br />
genügen, um damit von einem Ort zum anderen zu gelangen.<br />
Eleanor Gibson <strong>und</strong> ihre Mitautoren (Gibson et al. 1987;<br />
Gibson <strong>und</strong> Schmuckler 1989) fanden, dass die Kinder die Art<br />
ihrer Fortbewegung an die wahrgenommenen Merkmale der<br />
Flächen anpassen, die sie überqueren wollen. Beispielsweise<br />
kehrten Kinder, die problemlos einen festen Steg aus Sperrholz<br />
aufrecht überquert hatten, klugerweise wieder zum Krabbeln<br />
zurück, um ein Wasserbett zu durchqueren. ▶ Exkurs 5.5 stellt<br />
ein Forschungsprogramm über die frühe Entwicklung der Fortbewegung<br />
<strong>und</strong> andere Formen des motorischen Verhaltens in<br />
der frühen Kindheit zusammenfassend dar <strong>und</strong> befasst sich<br />
besonders mit der Integration von Wahrnehmung <strong>und</strong> Fortbewegung.<br />
Die Herausforderung, die kleine Kinder be<strong>im</strong> Integrieren<br />
der Wahrnehmungsinformation in ihr Planen <strong>und</strong> Ausführen<br />
von Handlungen erfahren, führt gelegentlich zu recht überraschenden<br />
Verhaltensweisen, vor allem, wenn die Kinder der<br />
Herausforderung noch nicht gewachsen sind. Ein besonders<br />
drastisches Beispiel für eine fehlgeschlagene Integration von<br />
Wahrnehmung <strong>und</strong> Handlung betrifft die Fehleinschätzung<br />
von Größenverhältnissen (Brownell et al. 2007; <strong>DeLoache</strong> et al.<br />
2004; Ware et al. 2006). Bei dieser Art von Skalierungsfehler<br />
versuchen sehr junge Kinder, Miniaturversionen von Gebrauchsgegenständen<br />
für Handlungen einzusetzen, für die das<br />
jeweilige Miniaturmodell viel zu klein ist. So versuchen Kinder,<br />
die gerade laufen lernen, mit aller Ernsthaftigkeit, sich auf einen<br />
winzigen Puppenstuhl zu setzen oder in ein Spielzeugauto<br />
einzusteigen (. Abb. 5.11). Be<strong>im</strong> Skalierungsfehler versagt das<br />
Kind vorübergehend darin, die Relation zwischen der eigenen<br />
Körpergröße <strong>und</strong> der Größe des Zielobjekts zu berücksichtigen.<br />
Vermutlich entstehen solche Fehler dadurch, dass die Integration<br />
der visuellen Informationen, die in zwei verschiedenen<br />
Gehirnregionen repräsentiert sind, <strong>im</strong> Dienste der Handlung<br />
fehlschlägt. Im Verlauf der Entwicklung treten diese Fehler<br />
seltener auf, aber auch Erwachsene begehen eine ganze Reihe<br />
von Handlungsfehlern (z. B. wenn sie versuchen, sich in zu enge<br />
Hosen zu quetschen oder eine mit Wasser gefüllte Tasse in den<br />
Schrank statt in die Mikrowelle stellen).<br />
Skalierungsfehler – Der Versuch eines kleinen <strong>Kindes</strong>, eine Handlung mit einem<br />
kleinen Gegenstand auszuführen, was unmöglich ist, weil die Größe des<br />
<strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> die Größe des Gegenstandes auseinanderklaffen.
178<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
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Abb. 5.11 Skalierungsfehler. Diese drei Kinder machen Skalierungsfehler, indem sie mit einem kleinen Gegenstand so umgehen, als wäre er wesentlich<br />
größer. a Das Mädchen ist gerade von der Spielzeugrutsche gefallen, die es hinunterrutschen wollte. b Der Junge versucht hartnäckig, in ein ganz kleines Auto<br />
einzusteigen. c Der Junge versucht, sich auf einen Miniaturstuhl zu setzen. (Aus <strong>DeLoache</strong> et al. 2004; © Judy Deloache; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
In Kürze | |<br />
Alle Kinder, die sich normal entwickeln, zeigen in der Entwicklung<br />
ihres motorischen Verhaltens eine ähnliche Abfolge<br />
der wichtigen Meilensteine. Dies beginnt bei Neugeborenen<br />
mit einer Reihe von angeborenen Reflexen, die allen Kindern<br />
gemeinsam sind. Der Zeitpunkt, an dem einzelne Kinder<br />
einen Meilenstein erreichen, variiert je nach kulturellen Einflüssen,<br />
aber die Reihenfolge verändert sich selten. Zunehmend<br />
betonen Forscher die weitgreifenden Zusammenhänge<br />
zwischen dem motorischen Verhalten, der Wahrnehmung<br />
<strong>und</strong> der Motivation von Kleinkindern <strong>und</strong> darüber hinaus die<br />
Vielfalt der Veränderungen in der Welt der Kinder, wenn diese<br />
mit zunehmenden motorischen Fähigkeiten neue Erfahrungen<br />
machen. Bei der Entwicklung der eigenständigen Fortbewegung<br />
(krabbeln, laufen) nutzen Kinder eine Vielzahl von<br />
unterschiedlichen Bewegungsmustern, um möglichst überall<br />
hinzukommen <strong>und</strong> die verschiedenen Herausforderungen,<br />
die ihre Umwelt bietet, zu bewältigen. Ein entscheidender<br />
Aspekt der Entwicklung ist die Fähigkeit, zutreffend zu beurteilen,<br />
welche Handlungen man auszuführen <strong>im</strong>stande ist<br />
<strong>und</strong> welche nicht; diese Fähigkeit wächst mit der Erfahrung.<br />
Lernen<br />
Wer hat <strong>im</strong> Verlauf des heutigen Tages wohl mehr gelernt – Sie<br />
oder ein zehn Monate altes Kind? Wir würden auf das Baby setzen,<br />
schon weil es für ein kleines Kind so viel Neues gibt. Erinnern<br />
Sie sich an den kleinen Benjamin in der Küche seiner Eltern.<br />
In dieser Alltagssituation war eine Fülle von Lernanlässen <strong>und</strong><br />
-gelegenheiten enthalten. Beispielsweise machte Benjamin neue<br />
Erfahrungen, was die Unterschiede zwischen belebten <strong>und</strong> unbelebten<br />
Objekten betrifft; er erlebte, wie best<strong>im</strong>mte visuelle <strong>und</strong><br />
akustische Eindrücke bei Ereignissen zusammen auftreten; er sah<br />
die Folgen, wenn Gegenstände ihre Standfestigkeit verlieren (einschließlich<br />
der Wirkung dieses Ereignisses auf den emotionalen<br />
Zustand seiner Eltern). Auch erfuhr er die Folgen seines eigenen<br />
Verhaltens, etwa die Reaktion der Eltern, als er zu weinen anfing.<br />
In diesem Abschnitt behandeln wir sechs verschiedene Formen<br />
des Lernens, durch die Kinder von ihrer Erfahrung profitieren<br />
<strong>und</strong> Weltwissen erwerben. Entwicklungspsychologen fragen<br />
in Bezug auf das Lernen in der frühen Kindheit beispielsweise<br />
danach, in welchem Alter die verschiedenen Formen des Lernens<br />
auftreten <strong>und</strong> wie sich das frühe Lernen zu den späteren kognitiven<br />
Fähigkeiten verhält. Eine weitere wichtige Frage betrifft das<br />
Ausmaß, in dem Kindern be<strong>im</strong> Lernen manches leichter <strong>und</strong><br />
manches schwerer fällt. Die Lernfähigkeiten, die <strong>im</strong> Folgenden<br />
beschrieben werden, sind in Entwicklungen in verschiedenen<br />
Bereichen menschlichen Wirkens eingeb<strong>und</strong>en, von der visuellen<br />
Wahrnehmung bis zu sozialen Fähigkeiten. Es ist deshalb<br />
unmöglich, über Entwicklung nachzudenken, ohne die Natur der<br />
Lernmechanismen zu betrachten, die den entwicklungsbedingten<br />
Veränderungen zugr<strong>und</strong>e liegen.<br />
Habituation<br />
Die einfachste <strong>und</strong> früheste Form des Lernens besteht darin, etwas<br />
wiederzuerkennen, das man zuvor schon einmal erfahren hat. Wir<br />
haben in ▶ Kap. 2 <strong>und</strong> an früherer Stelle <strong>im</strong> vorliegenden Kapitel<br />
bereits erwähnt, dass Babys – wie jeder andere auch – dazu neigen,<br />
relativ schwach auf Reize zu reagieren, die sie bereits kennen, <strong>und</strong><br />
vergleichsweise stark auf neuartige Reize (. Abb. 5.12). Das Auftreten<br />
von Habituation als Reaktion auf wiederholte gleichartige St<strong>im</strong>ulation<br />
lässt erkennen, dass Lernen stattgef<strong>und</strong>en hat; das Kind<br />
hat eine Gedächtnisrepräsentation des wiederholten <strong>und</strong> mittlerweile<br />
vertrauten Reizes gebildet. Habituation ist der Anpassung an<br />
die Umwelt sehr dienlich: Eine verringerte Aufmerksamkeit für<br />
das Alte <strong>und</strong> Bekannte versetzt Kinder in die Lage, auf das Neue<br />
zu achten <strong>und</strong> hierüber Neues zu lernen.<br />
Man n<strong>im</strong>mt an, dass die Geschwindigkeit, mit der ein Kind<br />
habituiert, die allgemeine Effektivität seiner Informationsverarbeitung<br />
widerspiegelt. Ähnliche Aufmerksamkeitsmaße wie die<br />
Blickdauer <strong>und</strong> das Ausmaß der Präferenz von Neuartigem werden<br />
ebenso auf die Geschwindigkeit <strong>und</strong> Effektivität der Verarbeitung<br />
bezogen. Ein beträchtliches <strong>und</strong> überraschendes Ausmaß an Kontinuität<br />
ergab sich zwischen diesen Maßen in der Kindheit <strong>und</strong> den<br />
allgemeinen kognitiven Fähigkeiten <strong>im</strong> späteren Leben. Kleinkinder,<br />
die sehr schnell habituieren, die optische Reize nur sehr kurz<br />
betrachten <strong>und</strong>/oder die eine stärkere Präferenz für Neuartiges erkennen<br />
lassen, haben in der Regel 18 Jahre später einen höheren IQ<br />
(Colombo et al. 2004; Rose <strong>und</strong> Feldman 1997; Kavsek 2004). Eine<br />
der frühesten <strong>und</strong> einfachsten Formen des menschlichen Lernens<br />
ist somit gr<strong>und</strong>legend für die allgemeine kognitive Entwicklung.
Lernen<br />
179 5<br />
..<br />
Abb. 5.12 Habituation. Dieses drei Monate alte Mädchen bietet eine anschauliche Demonstration der Habituation. Es sitzt vor einem Bildschirm, auf<br />
dem Fotografien gezeigt werden. Be<strong>im</strong> ersten Erscheinen eines fotografierten Gesichtes weiten sich seine Augen, <strong>und</strong> es schaut konzentriert hin. Nach drei<br />
weiteren Darbietungen dieses Fotos verebbt sein Interesse, <strong>und</strong> es gähnt. Bei der fünften Darbietung ziehen andere Dinge die Aufmerksamkeit des Mädchens<br />
auf sich, <strong>und</strong> bei der sechsten Präsentation ist sogar das eigene Kleidchen interessanter. Als jedoch ein neues Gesicht auf dem Bildschirm erscheint, ist sein<br />
Interesse an dem neuartigen Reiz unverkennbar. (Aus Maurer <strong>und</strong> Maurer 1988; © Charles E. Maurer; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Wahrnehmungslernen<br />
Von Anfang an suchen Säuglinge aktiv nach Ordnung <strong>und</strong> Regelmäßigkeit<br />
in ihrer Umwelt, <strong>und</strong> sie lernen eine Menge allein<br />
dadurch, dass sie sehr genau auf die Gegenstände <strong>und</strong> Ereignisse<br />
achten, die sie wahrnehmen. Nach Eleanor Gibson (1988) besteht<br />
der zentrale Prozess des Wahrnehmungslernens in der Differenzierung<br />
– dem Herausfiltern der unterschiedlichen Elemente aus der<br />
Umwelt, die stabil <strong>und</strong> unverändert bleiben. Beispielsweise lernen<br />
Kinder den Zusammenhang zwischen Tonfall <strong>und</strong> Gesichtsausdruck<br />
deshalb, weil in ihrer Erfahrung ein angenehmer, fröhlicher<br />
oder begeisterter Tonfall normalerweise zusammen mit einem lächelnden<br />
Gesicht auftritt, aber nicht mit einem finsteren, während<br />
ein rauer, verärgerter Tonfall regelmäßig gemeinsam mit einem<br />
finsteren Gesichtsausdruck auftritt, aber nicht mit einem Lächeln.<br />
Ein besonders wichtiger Teil des Wahrnehmungslernens besteht<br />
darin, dass die Kinder Affordanzen entdecken; darunter<br />
versteht man Angebote <strong>und</strong> Anregungen, die Gegenstände<br />
<strong>und</strong> Situationen mit Blick auf Handlungsmöglichkeiten eröffnen<br />
(Gibson 1988). Beispielsweise entdecken Kinder, dass man<br />
kleine – aber nicht große – Gegenstände hochheben kann, dass<br />
sich Flüssiges ausgießen <strong>und</strong> verschütten lässt, dass Stühle einer<br />
best<strong>im</strong>mten Größe zum Draufsitzen geeignet sind. Kinder<br />
entdecken solche Affordanzen, indem sie die Beziehungen zwischen<br />
den Dingen in ihrer Umwelt <strong>und</strong> ihrem eigenen Körper<br />
sowie ihren eigenen Fähigkeiten herausfinden. Wie wir schon<br />
dargestellt haben, erkennen Kinder beispielsweise mit der Zeit,<br />
dass feste, flache Oberflächen einen sicheren Tritt ermöglichen,<br />
was bei glitschigen, glatten oder steil abfallenden Flächen nicht<br />
der Fall ist (z. B. Adolph 2008).<br />
Differenzierung – Das Unterscheiden <strong>und</strong> Herausfiltern derjenigen Elemente<br />
aus dem sich ständig ändernden Reizangebot der Umwelt, die stabil <strong>und</strong> unverändert<br />
bleiben.<br />
Affordanzen – Die Handlungsmöglichkeiten, die Gegenstände <strong>und</strong> Situationen<br />
bieten.
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Die Gegenstände, die dieses Baby umgeben, bieten eine Vielzahl von Affordanzen.<br />
Einige kann man aufheben, andere sind zu groß für die kleinen Hände<br />
des <strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> zu schwer für seine begrenzten Kräfte. Die Klapper macht<br />
Geräusche, wenn man sie schüttelt, das Spielzeugklavier, wenn man auf die<br />
Tasten schlägt. Kleine Gegenstände kann man in die gelbe Dose tun, größere<br />
passen nicht hinein. Das Stofftier kann man mit Vergnügen knuddeln, das Telefon<br />
aber nicht. Durch Interaktion mit der Umwelt entdecken Kleinkinder diese<br />
<strong>und</strong> viele andere Arten von Affordanzen. (© Geri Engberg/The Image Works)<br />
Wahrnehmungslernen ist an vielen, wenn auch nicht an allen<br />
Aspekten der intermodalen Koordination beteiligt. Wie wir bereits<br />
ausgeführt haben, bedarf es keiner Lernprozesse, um ein integriertes<br />
Ereignis wahrzunehmen, an dem Sicht- <strong>und</strong> Hörbares beteiligt<br />
ist; so n<strong>im</strong>mt das Baby Benjamin von Natur aus ein einzelnes,<br />
zusammenhängendes Ereignis wahr, wenn es zum ersten Mal sieht<br />
<strong>und</strong> hört, wie ein Kristallglas am Fußboden zerspringt. Man muss<br />
jedoch lernen, welches die jeweiligen visuellen <strong>und</strong> akustischen<br />
Reize sind, die gemeinsam auftreten; nur durch Erfahrung kann<br />
Benjamin wissen, dass klirrende Geräusche mit zerbrechendem<br />
Glas zusammenhängen. Wir haben schon gesehen, dass Säuglinge<br />
von Anfang an auf die synchronen Zusammenhänge zwischen Lippenbewegungen<br />
<strong>und</strong> Lauten achten, während sie lernen müssen,<br />
den Bezug zwischen dem einzigartigen Anblick des Gesichts ihrer<br />
Mutter <strong>und</strong> dem einzigartigen Ton ihrer St<strong>im</strong>me herzustellen, was<br />
ihnen mit dreieinhalb Monaten gelingt (Spelke <strong>und</strong> Owsley 1979).<br />
Die Notwendigkeit des Wahrnehmungslernens wird besonders bei<br />
Ereignissen deutlich, an denen willkürliche Beziehungen beteiligt<br />
sind, beispielsweise die Assoziation zwischen der Farbe einer Tasse<br />
<strong>und</strong> dem Geschmack der darin befindlichen Nahrung. Die Tatsache,<br />
dass man sieben Monate alten Kindern <strong>im</strong> Labor Assoziationen<br />
zwischen Farbe <strong>und</strong> Geschmack beibringen kann (Reardon<br />
<strong>und</strong> Bushnell 1988), wird all jene Eltern nicht überraschen, deren<br />
Kinder ihren M<strong>und</strong> partout nicht aufmachen wollen, sobald sie<br />
einen Löffel sehen, auf dem sich irgendetwas Grünes befindet.<br />
Statistisches Lernen<br />
Ein verwandter Typ des Lernens erfordert ebenfalls nichts weiter<br />
als das Aufnehmen von Informationen aus der Umwelt, insbesondere<br />
das Bilden von Assoziationen zwischen Reizen, die in<br />
einem statistisch vorhersagbaren Muster auftreten (Aslin et al.<br />
1998; Kirkham et al. 2002; Saffran et al. 1996). Unsere natürliche<br />
Umgebung enthält ein hohes Maß an Regelmäßigkeit <strong>und</strong><br />
Red<strong>und</strong>anz; best<strong>im</strong>mte Ereignisse geschehen in vorhersagbarer<br />
Abfolge, best<strong>im</strong>mte Gegenstände erscheinen gleichzeitig <strong>und</strong> am<br />
selben Ort <strong>und</strong> so weiter. Ein für ein Baby alltägliches Beispiel<br />
ist die Regelmäßigkeit, mit der auf den Klang der mütterlichen<br />
St<strong>im</strong>me das Erscheinen ihres Gesichtes folgt.<br />
Schon sehr früh sind Säuglinge empfänglich für die Regelmäßigkeit,<br />
mit der ein Ereignis auf ein anderes folgt. In einer<br />
Untersuchung habituierte man zwei bis acht Monate alte Babys<br />
auf sechs einfache visuelle Formen, die nacheinander präsentiert<br />
wurden, wobei die Kombinationen von jeweils zwei Formen<br />
mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten auftraten<br />
(Kirkham et al. 2002). Zum Beispiel traten drei farbige Formen<br />
stets paarweise in derselben Abfolge auf (z. B. auf ein Quadrat<br />
folgte <strong>im</strong>mer ein Kreuz), aber der nächste Reiz konnte mit gleicher<br />
Wahrscheinlichkeit eine von drei Formen haben (z. B. folgte<br />
einem Kreuz ebenso häufig ein Kreis wie ein Dreieck oder ein<br />
Quadrat). Die Wahrscheinlichkeit, dass dem Quadrat das Kreuz<br />
folgte, betrug also 100 %, während die Wahrscheinlichkeit, dass<br />
dem Kreuz ein Kreis (oder ein Dreieck oder ein Quadrat) folgte,<br />
33 % betrug. Nachdem die Kinder an dieses Trainingsmaterial<br />
gewöhnt worden waren, änderte man in der Testphase die Reihenfolge<br />
des Auftretens eines oder mehrerer der Formen. Die<br />
Babys schauten länger hin, wenn die ursprüngliche Ordnung<br />
verändert worden war (z. B. wenn dem Quadrat ein Kreis folgte).<br />
Die Fähigkeiten des statistischen Lernens wurden in vielen<br />
Bereichen untersucht, darunter Musik, Handlung <strong>und</strong> Sprache<br />
(Roseberry et al. 2011; Saffran <strong>und</strong> Griepentrog 2001; Saffran<br />
et al. 1996). Bereits Neugeborene verfolgen statistische Regeln<br />
in diesen Bereichen, was vermuten lässt, dass die Mechanismen<br />
statistischen Lernens bereits bei der Geburt, wenn nicht noch<br />
früher, vorhanden sind (Bulf et al. 2011; Kudo et al. 2011; Teinonen<br />
et al. 2009). Das statistische Lernen scheint auch be<strong>im</strong> Spracherwerb<br />
eine entscheidende Bedeutung zu haben (in ▶ Kap. 6<br />
werden wir das genauer erörtern).<br />
Verschiedene Studien legen die Vermutung nahe, dass Säuglinge<br />
best<strong>im</strong>mte Typen statistischer Muster bevorzugen. Insbesondere<br />
zeigen sie eine Präferenz für Muster mit einer gewissen<br />
Variabilität gegenüber einfachen Mustern (die perfekt vorhersehbar<br />
sind) <strong>und</strong> komplexen Mustern (die zufällig sind) (Gerken<br />
et al. 2011; Kidd et al. 2012). Dieser „goldene Mittelweg“, bei<br />
dem zu einfache <strong>und</strong> zu schwierige Muster gemieden werden<br />
zugunsten einer Fokussierung auf Muster, die zu den jeweils gegebenen<br />
Lernfähigkeiten passen, lässt vermuten, dass Kinder ihre<br />
Aufmerksamkeit unterschiedlich auf unterschiedliche Lernprobleme<br />
richten <strong>und</strong> den informativsten Mustern bevorzugt Aufmerksamkeit<br />
schenken.<br />
Klassisches Konditionieren<br />
Eine andere wichtige Lernform ist das klassische Konditionieren,<br />
das zuerst von Iwan Pawlow in seinen berühmten Forschungen<br />
an H<strong>und</strong>en entdeckt wurde; diese lernten eine Assoziation<br />
zwischen dem Klang einer Glocke <strong>und</strong> der Gabe von Futter <strong>und</strong><br />
fingen mit der Zeit schon allein auf den Glockenton hin an zu<br />
speicheln. Das klassische Konditionieren spielt für Kinder be<strong>im</strong><br />
alltäglichen Lernen von Zusammenhängen zwischen Umweltereignissen,<br />
die für die Kinder relevant sind, eine Rolle. Betrachten<br />
wir die Mahlzeiten von Babys, die häufig vorkommen <strong>und</strong> eine
Lernen<br />
181 5<br />
vorhersagbare Struktur besitzen. Zu Beginn berührt eine Brust<br />
oder eine Flasche den M<strong>und</strong> des <strong>Kindes</strong>, was den Saugreflex auslöst.<br />
Das führt dazu, dass Milch in den M<strong>und</strong> des <strong>Kindes</strong> fließt,<br />
<strong>und</strong> es erfährt die angenehmen Empfindungen eines köstlichen<br />
Geschmacks <strong>und</strong> die Befriedigung des Hungergefühls. Lernen<br />
wird erkennbar, wenn die Saugbewegungen des <strong>Kindes</strong> schon<br />
be<strong>im</strong> bloßen Anblick der Flasche oder der Brust beginnen.<br />
Klassisches Konditionieren – Eine Form des Lernens, bei der ein ursprünglich<br />
neutraler Reiz (be<strong>im</strong> Pawlow’schen H<strong>und</strong> ein Klingelton) mit einem Reiz (Futter)<br />
assoziiert wird, der <strong>im</strong>mer eine best<strong>im</strong>mte Reaktion (Speicheln) auslöst.<br />
In den Begrifflichkeiten des klassischen Konditionierens ist die<br />
Brustwarze <strong>im</strong> M<strong>und</strong> des <strong>Kindes</strong> ein unkonditionierter (oder<br />
unbedingter) Reiz, abgekürzt UCS (unconditioned st<strong>im</strong>ulus), der<br />
eine ungelernte Reflexantwort verlässlich auslöst – in diesem<br />
Fall den Saugreflex, die unkonditionierte (oder unbedingte)<br />
Reaktion, abgekürzt UCR (unconditioned response). Lernen beziehungsweise<br />
Konditionierung tritt auf, wenn ein ursprünglich<br />
neutraler Reiz wiederholt als konditionierter Reiz, abgekürzt CS<br />
(conditioned st<strong>im</strong>ulus), unmittelbar vor dem unkonditionierten<br />
Reiz auftritt (wenn das Baby die Brust oder die Flasche wiederholt<br />
sieht, unmittelbar bevor es die Brustwarze oder den Sauger<br />
bekommt). Mit der Zeit tritt die ursprünglich reflexhafte Reaktion<br />
– nun als gelernte oder konditionierte Reaktion, kurz CR<br />
(conditioned response) – auf den konditionierten Reiz hinein (antizipatorische<br />
Saugbewegungen setzen jetzt schon ein, wenn das<br />
Baby Brust oder Flasche auch nur sieht). Mit anderen Worten,<br />
der Anblick von Brust oder Flasche wurde zu einem Signal für<br />
das, was danach passieren wird. Nach <strong>und</strong> nach kann das Kind<br />
auch die Mutter selbst mit der gesamten Ereignisabfolge assoziieren,<br />
einschließlich des angenehmen Gefühls, das sich nach<br />
dem Trinken einstellt. Wenn dies eingetreten ist, können solche<br />
Gefühle schließlich allein durch die Anwesenheit der Mutter ausgelöst<br />
werden. Man n<strong>im</strong>mt an, dass viele emotionale Reaktionen<br />
zuerst durch klassisches Konditionieren gelernt werden.<br />
Unkonditionierter Reiz (UCS) – Be<strong>im</strong> klassischen Konditionieren der Reiz, der<br />
eine Reaktion oder einen Reflex auslöst.<br />
Unkonditionierte Reaktion (UCR) – Be<strong>im</strong> klassischen Konditionieren die Reaktion<br />
(oder der Reflex), die (der) durch den unkonditionierten Reiz ausgelöst<br />
wird.<br />
Konditionierter Reiz (CS) – Be<strong>im</strong> klassischen Konditionieren ein anfangs neutraler<br />
Reiz, der mit dem unkonditionierten Reiz gemeinsam auftritt (assoziiert<br />
wird).<br />
Konditionierte Reaktion (CR) – Be<strong>im</strong> klassischen Konditionieren der ursprüngliche<br />
Reflex, der nun auch durch den konditionierten Reiz ausgelöst wird.<br />
Operantes Konditionieren<br />
Eine Schlüsselvariante des Lernens ist für Kleinkinder (wie für<br />
jeden anderen) das Erlernen der Konsequenzen des eigenen Verhaltens.<br />
Im täglichen Leben lernen Kinder, dass das Schütteln<br />
einer Rassel ein interessantes Geräusch produziert, dass der Vater<br />
zurücklächelt, wenn man ihn anstrahlt, <strong>und</strong> dass die eingehende<br />
Beschäftigung mit der Erde in einem Blumentopf den Tadel der<br />
..<br />
Tab. 5.1 Untersuchungen zum operanten Konditionieren bei Kleinkindern.<br />
(Bruner 1973; Hartshorn <strong>und</strong> Rovee-Collier 1997; Siqueland<br />
<strong>und</strong> DeLucia 1969; Siqueland <strong>und</strong> Lipsitt 1966)<br />
Altersgruppe Gelernte Reaktion Verstärkung (Belohnung)<br />
Neugeborene<br />
Seitliche Kopfdrehung<br />
Zuckerlösung trinken<br />
3 Wochen Saugmuster Interessante visuelle<br />
Darbietung<br />
5–12 Wochen Saugmuster Einen Film <strong>im</strong> Blick<br />
behalten<br />
6 Monate Einen Hebel drücken Eine Spielzeugeisenbahn<br />
in Bewegung<br />
setzen<br />
Eltern nach sich zieht. Diese Art des Lernens nennt man operantes<br />
Konditionieren oder instrumentelles Lernen; es umfasst die<br />
Beziehung zwischen dem eigenen Verhalten <strong>und</strong> der Belohnung<br />
oder Bestrafung, die daraus folgt. Die meisten Forschungen zum<br />
operanten Konditionieren bei Kindern arbeiten mit positiver<br />
Verstärkung; das bedeutet, dass auf ein Verhalten zuverlässig<br />
eine Belohnung folgt <strong>und</strong> die Wahrscheinlichkeit steigt, dass<br />
das Verhalten wiederholt wird. Es besteht somit zwischen dem<br />
kindlichen Verhalten <strong>und</strong> der Belohnung eine Kontingenzbeziehung<br />
(eine st<strong>im</strong>mige Beziehung zwischen zeitlich verb<strong>und</strong>enen<br />
Ereignissen): Wenn das Kind die jeweilige Reaktion zeigt, dann<br />
erhält es die Belohnung. . Tabelle 5.1 listet einige Beispiele aus<br />
der großen Vielfalt an einfallsreich gestalteten Situationen auf,<br />
die Forscher arrangiert haben, um das instrumentelle Lernen bei<br />
kleinen Kindern zu untersuchen.<br />
Operantes Konditionieren (instrumentelles Lernen) – Das Lernen der Beziehung<br />
zwischen dem eigenen Verhalten <strong>und</strong> den daraus entstehenden Folgen.<br />
Positive Verstärkung – Eine Belohnung, die verlässlich auf ein Verhalten folgt<br />
<strong>und</strong> die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass dieses Verhalten zukünftig wiederholt<br />
wird.<br />
Um das instrumentelle Lernen <strong>und</strong> das Gedächtnis bei Säuglingen<br />
zu untersuchen, entwarf Carolyn Rovee-Collier (1997) ein<br />
instrumentelles Konditionierungsverfahren. Bei diesem Verfahren<br />
schlingen die Forscher ein Band um den Fuß eines Säuglings<br />
<strong>und</strong> verbinden es mit einem Mobile, das über dem Bett des<br />
<strong>Kindes</strong> hängt (. Abb. 5.13). Während die Säuglinge von sich aus<br />
mit den Beinen strampeln, lernen sie schon mit zwei Monaten<br />
binnen Minuten die Beziehung zwischen ihren Beinbewegungen<br />
<strong>und</strong> dem unterhaltsamen Anblick des sich bewegenden Mobiles.<br />
Daraufhin steigern sie die Quote ihrer Strampelbewegungen ganz<br />
absichtlich <strong>und</strong> oft mit großer Freude. Die interessanten Bewegungen<br />
des Mobiles dienen so als Belohnung für das Strampelverhalten.<br />
Ein zusätzliches Merkmal dieses Verfahrens besteht<br />
darin, dass die Intensität der Belohnung von der Intensität des<br />
Verhaltens des Babys abhängt – je stärker es strampelt, umso<br />
heftiger bewegt sich das Mobile. Diese Aufgabe wurde genutzt,<br />
um intensiv zu untersuchen, wie lange <strong>und</strong> unter welchen Umständen<br />
die Kinder in Erinnerung behalten, dass sich das Mobile<br />
durch Strampeln bewegen lässt <strong>und</strong> wie sich die Behaltensdauer
182<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
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23<br />
..<br />
Abb. 5.13 Kontingenz. Dieser Säugling lernte in Minutenschnelle, dass<br />
das eigene Strampeln das Mobile dazu bringt, sich auf interessante Weise<br />
zu bewegen; er lernte die Beziehung zwischen dem eigenen Verhalten <strong>und</strong><br />
dem damit verb<strong>und</strong>enen äußeren Geschehen. Man beachte, mit welcher<br />
Konzentration das Kind auf das Mobile blickt, das es selbst steuert. (© Paul<br />
Newman/Photoedit)<br />
mit dem Alter verändert (z. B. Rovee-Collier 1999). Als Bef<strong>und</strong><br />
ergab sich unter anderem:<br />
1. Drei Monate alte Säuglinge behielten die Folgen des Strampelns<br />
eine Woche lang <strong>im</strong> Gedächtnis, während sechs Monate alte<br />
Kinder sich auch nach zwei Wochen noch daran erinnerten.<br />
2. <strong>im</strong> Alter von weniger als sechs Monaten erinnern sich die<br />
Kinder nur dann an die Strampelwirkung, wenn be<strong>im</strong> Training<br />
<strong>und</strong> be<strong>im</strong> Test dasselbe Mobile verwendet wurde, während<br />
ältere Kinder den Zusammenhang <strong>im</strong> Test auch bei<br />
neuen Mobiles noch präsent hatten.<br />
Die hohe Motivation von Kindern schon <strong>im</strong> jüngsten Alter, ihre<br />
Umgebung zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> zu beherrschen, die wir <strong>im</strong> Rahmen<br />
unseres Themas des aktiven <strong>Kindes</strong> <strong>im</strong>mer wieder betont haben,<br />
tritt in Situationen des instrumentellen Lernens zutage: Säuglinge<br />
arbeiten hart daran, ihre Erfahrungen vorhersagen <strong>und</strong> kontrollieren<br />
zu lernen, <strong>und</strong> sie mögen es nicht gern, die Kontrolle zu verlieren,<br />
nachdem sie einmal erworben wurde. Forscher beschrieben<br />
den Gesichtsausdruck von Freude <strong>und</strong> Interesse, während Kinder<br />
<strong>im</strong> Alter von gerade einmal zwei Monaten eine Kontingenzbeziehung<br />
lernten, <strong>und</strong> den Ausdruck von Ärger <strong>und</strong> Zorn, wenn<br />
die gelernte Reaktion nicht mehr zum erwarteten Ergebnis führte<br />
(Lewis et al. 1990; Sullivan et al. 1992). Wenn es Neugeborenen<br />
nicht mehr gelang, die Zuckerlösung zu erhalten, die ihrer Lernerfahrung<br />
gemäß auf eine Kopfdrehung hin eigentlich folgen sollte,<br />
begannen sieben von acht Kindern zu weinen (Blass 1990).<br />
Kleine Kinder können ebenfalls bereits lernen, dass es Situationen<br />
gibt, die sie nicht kontrollieren können. Zum Beispiel neigen<br />
die Kinder depressiver Mütter dazu, weniger zu lächeln <strong>und</strong><br />
schwächere Ausprägungen positiver Affekte zu zeigen als Kinder<br />
von Müttern ohne diese psychische Beeinträchtigung. Zum Teil<br />
kann das daran liegen, dass die Kinder depressiver Mütter lernen,<br />
dass solche fre<strong>und</strong>lichen Verhaltensweisen von ihrem mit anderen<br />
Dingen beschäftigten Elternteil selten belohnt werden (Campbell<br />
et al. 1995). Allgemeiner gesagt: Säuglinge lernen in Kontingenzsituationen<br />
– ob <strong>im</strong> Labor oder <strong>im</strong> Alltag – mehr als nur die jeweiligen<br />
Kontingenzbeziehungen, denen sie begegnen. Sie lernen auch etwas<br />
über die Beziehung zwischen sich selbst <strong>und</strong> der Welt <strong>und</strong> über das<br />
Ausmaß, in dem sie den Zustand der Welt beeinflussen können.<br />
Beobachtungs- <strong>und</strong> Nachahmungslernen<br />
Eine besonders ergiebige Quelle des kindlichen Lernens ist die<br />
Beobachtung des Verhaltens anderer Menschen. Eltern, die sich<br />
häufig darüber amüsieren <strong>und</strong> manchmal auch in Verlegenheit<br />
geraten, wenn ihre Kinder ihr eigenes Verhalten nachmachen,<br />
sind sich sehr bewusst, dass ihr Nachwuchs vieles einfach durch<br />
Beobachtung lernt.<br />
Die Fähigkeit, das Verhalten anderer zu <strong>im</strong>itieren, scheint<br />
schon sehr früh <strong>im</strong> Leben vorhanden zu sein, wenngleich zunächst<br />
in deutlich eingeschränkter Weise. Meltzoff <strong>und</strong> Moore<br />
(1977, 1983) fanden, dass Neugeborene ihre Zunge häufig herausstrecken,<br />
wenn sie ein erwachsenes Modell dabei beobachtet<br />
haben, wie es langsam <strong>und</strong> wiederholt seine Zunge herausstreckt.<br />
Im Alter von sechs Monaten ist das Nachahmungsverhalten von<br />
Kindern recht stabil. Kinder in diesem Alter machen nicht nur<br />
das Zungerausstrecken nach, sondern versuchen auch, ihre Zunge<br />
ausgestreckt seitwärts zu biegen, wenn sie das bei einem Erwachsenen<br />
gesehen haben (Meltzoff <strong>und</strong> Moore 1994). Ab diesem Alter<br />
erweitert sich der Bereich dessen, was Kinder <strong>im</strong>itieren. Sie<br />
machen neuartige Handlungen nach, die sie <strong>im</strong> Umgang mit Objekten<br />
beobachtet haben. In einem Verfahren, das dies vorführt,<br />
beobachten die Säuglinge einen Versuchsleiter, der einen ungewöhnlichen<br />
Umgang mit Gegenständen an den Tag legt, indem er<br />
etwa den Rumpf vornüber beugt, um mit der Stirn einen Kasten<br />
zu berühren, woraufhin der Kasten aufleuchtet. Einige Zeit nachdem<br />
sie eine solche Vorführung gesehen haben, erhalten die Kinder<br />
dieselben Objekte, mit denen der Versuchsleiter etwas getan<br />
hatte. Schon zwischen sechs <strong>und</strong> neun Monaten <strong>im</strong>itieren Kinder<br />
einige der neuartigen Handlungen, deren Zeuge sie waren, selbst<br />
nach einem zeitlichen Abstand von 24 h (Barr et al. 1996; Bauer<br />
2002; Hayne et al. 2003; Meltzoff 1988b), <strong>und</strong> mit 14 Monaten gelingt<br />
dies sogar noch nach einer ganzen Woche (Meltzoff 1988a).<br />
Kleinkinder, die sich entschließen, ein Modell nachzuahmen,<br />
analysieren offenbar die Gründe für das Verhalten dieses Menschen.<br />
Kinder, die sehen, wie sich ein Modell vornüber beugt<br />
<strong>und</strong> mit der Stirn einen Kasten berührt, tun später das Gleiche.<br />
Wenn aber die Modellperson bemerkt, dass sie friert, <strong>und</strong> einen<br />
Schal fest um ihren Körper zieht, während sie sich vornüber
Lernen<br />
183 5<br />
Als Erwachsene haben wir viele Vorstellungen über die Welt<br />
<strong>und</strong> sind gewöhnlich überrascht, wenn die Welt nicht den Era<br />
b<br />
..<br />
Abb. 5.14 Die Nachahmung von Absichten. a Sehen 18 Monate alte Kinder zu, wie eine Person offensichtlich versucht, die Enden einer kleinen Hantel<br />
abzuziehen, <strong>und</strong> daran scheitert, so <strong>im</strong>itieren sie das Abziehen der Hantelenden – also die beabsichtigte Handlung der Person, <strong>und</strong> nicht das, was die Person<br />
tatsächlich tat. b Eine mechanische Vorrichtung <strong>im</strong>itieren sie überhaupt nicht. (Aus Meltzoff 1995a)<br />
beugt <strong>und</strong> den Kasten mit der Stirn berührt, dann greifen die<br />
Kinder nach dem Kasten <strong>und</strong> berühren ihn mit der Hand anstatt<br />
mit dem Kopf (Gergely et al. 2002). Sie schlussfolgern offenbar,<br />
dass das Modell den Kasten anfassen wollte <strong>und</strong> das auch in der<br />
üblichen Weise getan hätte, wenn es die Hände frei gehabt hätte.<br />
Die Nachahmung basiert also darauf, wie die Kinder die Absichten<br />
des Menschen analysieren. Allgemein sind Kinder be<strong>im</strong><br />
Lernen durch Nachahmung flexibel; so wie be<strong>im</strong> Berühren des<br />
Kastens können sie entweder das spezifische Verhalten kopieren,<br />
mit dem das Modell ein Ziel erreicht, oder aber sie können sich<br />
unterschiedlicher Verhaltensweisen bedienen, um dasselbe Ziel<br />
zu erreichen wie das Modell (Buttelmann et al. 2008).<br />
Weitere Belege für das Beachten von Handlungsabsichten<br />
stammen aus Forschungen, in denen Kinder von 18 Monaten<br />
beobachteten, wie ein Erwachsener – erfolglos – versuchte, eine<br />
kleine Spielzeughantel auseinanderzunehmen (Meltzoff 1995a).<br />
Der Erwachsene zog an beiden Enden, aber seine Hand „rutschte<br />
ab“, <strong>und</strong> die Hantel blieb ganz (. Abb. 5.14a). Als die Kinder später<br />
selbst das Spielzeug in die Hand bekamen, zogen sie die beiden<br />
Enden auseinander <strong>und</strong> machten somit nach, was der Erwachsene<br />
zu tun beabsichtigte, <strong>und</strong> nicht, was er tatsächlich tat. Diese<br />
Untersuchung bewies auch, dass sich die Nachahmungshandlungen<br />
von Kindern auf Handlungen von Menschen beschränken.<br />
Eine andere Gruppe von gleichaltrigen Kindern beobachtete eine<br />
mechanische Vorrichtung mit Greifzangen, die die beiden Enden<br />
der Hantel festhielten. Entweder zerlegten die Greifzangen<br />
die Hantel, oder sie rutschten an den Enden ab (. Abb. 5.14b).<br />
Gleich, was die Kinder an der mechanischen Vorrichtung beobachtet<br />
hatten: Sie versuchten selbst nur selten, die Hantel auseinanderzunehmen.<br />
Kinder versuchen also, das Verhalten <strong>und</strong> die<br />
Absichten anderer Menschen zu reproduzieren, nicht aber die<br />
Verrichtungen unbelebter Objekte.<br />
Babys beschränken sich keineswegs darauf, aus dem Verhalten<br />
anwesender Erwachsener Modelle zu lernen. Schon mit<br />
15 Monaten <strong>im</strong>itieren sie Handlungen, die sie einen Erwachsenen<br />
<strong>im</strong> Fernsehen haben ausführen sehen (Barr <strong>und</strong> Hayne 1999;<br />
Meltzoff 1988a). Auch Gleichaltrige können bereits als Modell<br />
dienen: 14 Monate alte „Experten“-Peers mit entsprechender<br />
Übung machten ihren Altersgenossen – in der Kindertagesstätte<br />
oder <strong>im</strong> Labor – neuartige Handlungen vor (Hanna <strong>und</strong> Meltzoff<br />
1993). Beispielsweise drückten sie auf einen Knopf, der in einer<br />
Schachtel verborgen war, um einen Brummton auszulösen. Als<br />
die Kinder, die diesen Vorgang beobachtet hatten, 48 h später zu<br />
Hause getestet wurden, machten sie das nach, was sie bei dem<br />
gleichaltrigen Kind als Modell zuvor gesehen hatten.<br />
Die gegenwärtige Forschung konzentriert sich auf die neuronalen<br />
Gr<strong>und</strong>lagen des Nachahmungslernens. Besonders viel Aufmerksamkeit<br />
gilt hier einem möglichen Ort für das Nachahmen,<br />
der mit einem System sogenannter Spiegelneurone zusammenhängt,<br />
das zuerst <strong>im</strong> ventralen prämotorischen Cortex bei (nichtmenschlichen)<br />
Pr<strong>im</strong>aten gef<strong>und</strong>en wurde (z. B. Gallese et al. 1996;<br />
Rizzolatti <strong>und</strong> Craighero 2004). Wie sich bei Untersuchungen mit<br />
Makaken zeigt, wird dieses System aktiviert, wenn der Makake<br />
Handlungen ausführt oder auch nur beobachtet, wie andere Makaken<br />
(oder Menschen) dieselbe Handlung ausführen. Der Makake<br />
reagiert gleichsam so, als sähe er seine Handlung <strong>im</strong> Spiegel – daher<br />
der Name Spiegelneurone. (Diese Neurone wurden entdeckt, als<br />
Neurowissenschaftler <strong>im</strong> Labor die Gehirnaktivität von Makaken<br />
aufzeichneten <strong>und</strong> ein Versuchshelfer zufällig eine Eistüte an den<br />
M<strong>und</strong> führte; der Affe sah das, <strong>und</strong> in seinem prämotorischen<br />
Cortex feuerten die Neurone so, als würde er selbst das Eis essen.)<br />
Inwieweit dasselbe System der Spiegelneurone be<strong>im</strong> Menschen<br />
vorhanden ist <strong>und</strong> welche Auswirkungen es in verschiedenen Verhaltensbereichen<br />
hat (sofern es überhaupt Auswirkungen gibt), ist<br />
eine heiß diskutierte Frage. Allerdings haben Forscher eine Reihe<br />
von neuronalen Aktivierungsmustern <strong>im</strong> Gehirn von Säuglingen<br />
beobachtet, die mit der Hypothese der Spiegelneurone in Einklang<br />
stehen: Die beobachteten Aktivierungsmuster, die bei den Säuglingen<br />
durch das Beobachten einer Handlung ausgelöst wurden,<br />
ähnelten den Aktivierungsmustern, die ausgelöst wurden, wenn<br />
der Säugling dieselbe Handlung selbst ausführte (Marshall <strong>und</strong><br />
Meltzoff 2011). Zukünftige Untersuchungen mit neurowissenschaftlichen<br />
Methoden dürften mehr Klarheit darüber schaffen,<br />
was der Nachahmung zugr<strong>und</strong>e liegt, <strong>und</strong> spezifizieren, was die<br />
Säuglinge be<strong>im</strong> Beobachten einer Handlung tatsächlich encodieren<br />
<strong>und</strong> wie diese Information in eigenes Handeln umgesetzt wird.<br />
Rationales Lernen
184<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
1<br />
2<br />
3<br />
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23<br />
wartungen entspricht, die wir aus diesen Vorstellungen ableiten.<br />
Wir können dann unsere Erwartungen anhand neuer Information,<br />
die wir gerade bekommen haben, anpassen. Beispielsweise<br />
kann man nach einem Besuch in einem Chinarestaurant den<br />
Schluss ziehen, dass man auch be<strong>im</strong> nächsten Besuch dort wieder<br />
ein chinesisches Gericht essen kann, <strong>und</strong> diese Erwartung<br />
würde enttäuscht, falls bei diesem Besuch nur mexikanische<br />
Speisen auf der Karte stehen sollten. In diesem Fall würde man<br />
seine Erwartungen an die Küche dieses Restaurants revidieren.<br />
Ähnlich geht man in der Wissenschaft mit solchen Rückschlüssen<br />
aus Beobachtungsdaten um – unter anderem dann, wenn<br />
man aus Daten bei Stichproben einer best<strong>im</strong>mten Population<br />
Vorhersagen über diese Population ableitet. Auch Säuglinge<br />
können Erfahrungen nutzen, um Erwartungen über das, was<br />
als Nächstes geschehen wird, zu entwickeln. Dieser Prozess wird<br />
als rationales Lernen bezeichnet, weil es eine Integration von<br />
bereits bestehenden Vorstellungen <strong>und</strong> Fehlvorstellungen mit<br />
dem, was gerade in der Umwelt vor sich geht, einschließt (Xu<br />
<strong>und</strong> Kushnir 2013).<br />
Rationales Lernen – Die Fähigkeit, aus zurückliegenden Erfahrungen Vorhersagen<br />
über das abzuleiten, was in Zukunft passieren wird.<br />
In einer elegant konstruierten Studie haben Xu <strong>und</strong> Garcia (2008)<br />
gezeigt, dass acht Monate alte Kinder bei einfachen Ereignissen<br />
Voraussagen entwickeln konnten. Den Kindern wurde eine Kiste<br />
mit 75 Tennisbällen gezeigt, von denen 70 rot gefärbt waren <strong>und</strong> 5<br />
weiß. Anschließend beobachteten die Kinder die Exper<strong>im</strong>entatorin<br />
dabei, wie sie direkt vor ihren Augen (um es zufällig aussehen<br />
zu lassen) fünf Bälle aus der Kiste nahm – entweder vier weiße<br />
<strong>und</strong> einen roten oder vier rote <strong>und</strong> einen weißen – <strong>und</strong> diese anschließend<br />
zur Schau stellte. (Tatsächlich holte sie die scheinbar<br />
zufällig gezogenen Bälle aus einem versteckten Fach in der Kiste.)<br />
Die Kinder blickten länger auf die vier weißen Bälle, was auf ihre<br />
Überraschung darüber hinweist, dass aus dem Kasten mit überwiegend<br />
roten Bällen fast nur weiße Bälle gezogen worden waren.<br />
(Weiter unten in diesem Kapitel werden wir das Paradigma der<br />
Erwartungsverletzung zurückkommen, bei dem man die kindliche<br />
„Überraschung“ durch unerwartete Ereignisse nutzt, um Rückschlüsse<br />
auf die jeweiligen Erwartungen zu ziehen.) Allerdings ist<br />
zu beachten, dass keine Überraschung ausgelöst wurde, sobald für<br />
die Kinder klar ersichtlich war, dass die ausgestellten Bälle nicht<br />
aus der Kiste stammten (sondern beispielsweise aus der Jackentasche<br />
der Exper<strong>im</strong>entatorin), oder wenn sie sehen konnten, dass die<br />
Bälle in der Kiste alle festgeklebt waren <strong>und</strong> nicht herausgenommen<br />
werden konnten (Denison <strong>und</strong> Xu 2010; Teglas et al. 2007,<br />
2011; Xu <strong>und</strong> Denison 2009). Bereits sechs Monate alte Kinder<br />
scheinen also die Verteilung von Elementen (hier der beiden Farben)<br />
als Informationsquelle für zukünftige Ereignisse aufmerksam<br />
wahrzunehmen (Denison et al. 2013). In verschiedenen Bereichen<br />
ergaben sich bei Aufgaben zum Erlernen von Wörtern bis hin zu<br />
sozialen Interaktionen ähnliche Bef<strong>und</strong>e, die vermuten lassen,<br />
dass die Kinder aus bekannten Daten offenbar Erwartungen für<br />
zukünftige Ereignisse ableiten <strong>und</strong> dass sie neue Erfahrungen heranziehen,<br />
um ihre Schlussfolgerungen für die Zukunft anzupassen<br />
(z. B. Schulz 2012; Xu <strong>und</strong> Kushnir 2013).<br />
In Kürze | |<br />
Kinder beginnen von Geburt an, etwas über die Welt zu lernen.<br />
Sie habituieren auf wiederholt auftretende Reize, bilden<br />
Erwartungen über sich wiederholende Ereignisfolgen <strong>und</strong><br />
lernen Assoziationen zwischen best<strong>im</strong>mten optischen <strong>und</strong><br />
akustischen Eindrücken, die regelmäßig zusammen auftreten.<br />
Das klassische Konditionieren, das man bei Neugeborenen<br />
<strong>und</strong> älteren Säuglingen nachgewiesen hat, scheint besonders<br />
wichtig be<strong>im</strong> Lernen emotionaler Reaktionen zu sein.<br />
Säuglinge sind für eine Vielzahl von Kontingenzbeziehungen<br />
zwischen ihrem eigenen Verhalten <strong>und</strong> seinen Folgen hochempfänglich.<br />
Eine bei älteren Säuglingen besonders wirksame<br />
Form des Lernens ist das Beobachtungslernen: Ab dem Alter<br />
von sechs Monaten lernen Kinder viele neue Verhaltensweisen<br />
einfach durch die Beobachtung dessen, was andere tun. Auch<br />
wenn <strong>im</strong> Verlauf der frühen Kindheit eine enorme Menge<br />
an Lernprozessen abläuft, können Babys manche Assoziationen<br />
oder Beziehungen leichter lernen als andere. Be<strong>im</strong><br />
Beobachtungslernen beispielsweise spielt die Intentionalität<br />
(die Handlungsabsicht) des Modells eine zentrale Rolle. Und<br />
schlussendlich sind Kleinkinder in der Lage, aus gesammelten<br />
Erfahrungen rationale Erwartungen für die Zukunft abzuleiten.<br />
Kognition<br />
Es ist klar, dass Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder auf vielerlei Weise lernen<br />
können. Aber denken sie auch? Diese Frage fasziniert Eltern<br />
<strong>und</strong> Entwicklungspsychologen gleichermaßen. Die Eltern von<br />
Baby Benjamin haben ihr Kind zweifellos mit Staunen betrachtet<br />
<strong>und</strong> sich gefragt: „Was denkt er? Denkt er überhaupt?“ Im<br />
Verlauf etwa der vergangenen 20 Jahre haben Entwicklungsforscher<br />
große Anstrengungen unternommen, um herauszufinden,<br />
in welchem Umfang sich Säuglinge kognitiv betätigen (wissen,<br />
denken, schlussfolgern). Es gab geradezu eine Explosion von<br />
faszinierenden Forschungsarbeiten mit dem Ergebnis, dass die<br />
kognitiven Fähigkeiten in der frühen Kindheit weit beeindruckender<br />
sind, als man zunächst annahm. Der Ursprung <strong>und</strong> das<br />
Wesen dieser eindrucksvollen Fähigkeiten blieb jedoch Gegenstand<br />
heftiger Debatten. Insbesondere gehen die Meinungen von<br />
Theoretikern zur Rolle von Anlage <strong>und</strong> Umwelt in der kognitiven<br />
Entwicklung auseinander, insbesondere bei der Frage, ob Entwicklung<br />
von angeborenen Wissensstrukturen <strong>und</strong> zielspezifischen<br />
Lernmechanismen oder allgemeinen Lernmechanismen<br />
geleitet wird, die in allen Bereichen relevant sind.<br />
Wieder einmal entzündet sich die Debatte hauptsächlich<br />
zwischen Nativisten <strong>und</strong> Empiristen. Einige Nativisten behaupten,<br />
dass Säuglinge in wichtigen Bereichen über ein angeborenes<br />
Wissen verfügen (Carey <strong>und</strong> Spelke 1994; Gelman 2002; Gelman<br />
<strong>und</strong> Williams 1998; Scholl <strong>und</strong> Leslie 1999; Spelke 2000; Spelke<br />
<strong>und</strong> Kinzler 2007). Wie in ▶ Kap. 7 noch näher erläutert wird,<br />
halten diese Nativisten daran fest zu behaupten, dass Kinder mit<br />
einigem Wissen über die physikalische Welt geboren werden,<br />
beispielsweise über die Tatsache, dass zwei Objekte nicht den-
Kognition<br />
185 5<br />
selben Ort einnehmen können oder dass physikalische Objekte<br />
sich nur bewegen, wenn sie durch eine Kraft in Bewegung gesetzt<br />
werden. Sie nehmen auch an, dass Kinder ein rud<strong>im</strong>entäres Verständnis<br />
<strong>im</strong> Bereich von Biologie <strong>und</strong> Psychologie haben. Andere<br />
Nativisten betonen, dass Kinder über spezialisierte Lernmechanismen<br />
verfügen, mit deren Hilfe sie Wissen in diesen Bereichen<br />
schnell <strong>und</strong> effektiv erwerben können (Baillargeon 2004; Baillargeon<br />
et al. 1996). Empiristen wiederum betonen die allgemeinen<br />
Lernmechanismen, durch welche die mentalen Repräsentationen<br />
der physikalischen Welt von den Kindern nach <strong>und</strong> nach<br />
erworben <strong>und</strong> angereichert werden (Munakata et al. 1997). Auf<br />
diese Debatte werden wir in ▶ Kap. 7 <strong>im</strong> Zusammenhang mit<br />
der Entwicklung von Konzepten <strong>im</strong> Detail zurückkommen. In<br />
den verbleibenden Abschnitten dieses Kapitels wollen wir die<br />
Bef<strong>und</strong>e zu den kognitiven Fähigkeiten <strong>und</strong> Grenzen diskutieren,<br />
an deren genauer Erklärung Nativisten <strong>und</strong> Empiristen gleichermaßen<br />
arbeiten.<br />
Gegenstandswissen<br />
Ein großer Teil dessen, was wir über die Kognition von kleinen<br />
Kindern wissen, hat seinen Ursprung in Forschungsarbeiten über<br />
die Entwicklung des Objektwissens; solche Forschungen waren<br />
ursprünglich durch Jean Piagets Theorie der sensomotorischen<br />
Intelligenz inspiriert. Wie Sie in ▶ Kap. 4 erfahren haben, nahm<br />
Piaget an, dass das Verständnis der Welt bei Kleinkindern stark<br />
durch ihre Unfähigkeit eingeschränkt ist, Dinge, die sie <strong>im</strong> jeweiligen<br />
Moment nicht sehen, hören, anfassen etc. können, mental<br />
zu repräsentieren <strong>und</strong> über sie nachzudenken. Seine Tests zur<br />
Objektpermanenz führten Piaget zu dem Schluss, dass ein Säugling<br />
nach einem Objekt, das aus dem Blickfeld verschw<strong>und</strong>en ist,<br />
nicht sucht – nicht einmal dann, wenn es sein Lieblingsspielzeug<br />
ist –, weil dieser Gegenstand auch aus dem Bewusstsein des <strong>Kindes</strong><br />
verschw<strong>und</strong>en ist.<br />
Eine beträchtliche Anzahl von Forschungsarbeiten stützte<br />
Piagets ursprüngliche Beobachtung, dass Säuglinge nach versteckten<br />
Objekten nicht aktiv suchen. Wie wir in ▶ Kap. 4 bereits<br />
erwähnt haben, wuchsen mit der Zeit aber die Zweifel an seiner<br />
Erklärung dieses faszinierenden Phänomens, <strong>und</strong> eine überwältigende<br />
Zahl von Studien bewies, dass Kleinstkinder sehr wohl<br />
<strong>im</strong>stande sind, momentan nicht sichtbare Objekte <strong>und</strong> Ereignisse<br />
mental zu repräsentieren <strong>und</strong> über ihr Auftreten nachzudenken.<br />
Der einfachste Nachweis für diese Fähigkeit ergibt sich aus<br />
der Tatsache, dass Säuglinge <strong>im</strong> Dunkeln nach Objekten greifen;<br />
sie greifen also nach Gegenständen, die sie nicht sehen können.<br />
Wenn man ihnen einen attraktiven Gegenstand zeigt <strong>und</strong> den<br />
Raum dann verdunkelt, was dazu führt, dass der Gegenstand<br />
(wie alles andere auch) aus dem Sichtfeld verschwindet, dann<br />
greifen die meisten Babys dorthin, wo sie das Objekt zuletzt sahen,<br />
<strong>und</strong> zeigen damit, dass sie von der Erwartung ausgehen, es<br />
befinde sich <strong>im</strong>mer noch dort (Perris <strong>und</strong> Clifton 1988; Stack<br />
et al. 1989).<br />
Säuglinge scheinen sich sogar einige Merkmale von nicht<br />
sichtbaren Objekten vorstellen zu können, etwa deren Größe<br />
(Clifton et al. 1991). Wenn Kinder <strong>im</strong> Alter von sechs Monaten<br />
<strong>im</strong> Dunkeln sitzen <strong>und</strong> das Geräusch eines ihnen vertrauten großen<br />
Objekts hören, greifen sie mit beiden Händen danach (so wie<br />
sie es <strong>im</strong> Hellen tun); sie greifen aber mit nur einer Hand nach<br />
dem fraglichen Gegenstand, wenn das Geräusch, das sie hören,<br />
zu einem ihnen vertrauten kleinen Objekt gehört.<br />
Die Mehrzahl der Belege dafür, dass Säuglinge unsichtbare<br />
Objekte repräsentieren <strong>und</strong> zum Gegenstand ihres Denkens machen<br />
können, stammt aus Forschungen mit dem Verfahren der<br />
Erwartungsverletzung. Das Prinzip ist der bereits zu Beginn<br />
dieses Kapitels dargestellten Methode der Blickpräferenz ähnlich.<br />
Die Gr<strong>und</strong>annahme lautet: Wenn Säuglinge ein Ereignis beobachten,<br />
das <strong>im</strong> Widerspruch zu ihrem Wissen darüber steht, wie<br />
die Welt normalerweise beschaffen ist, dann werden sie überrascht<br />
sein oder zumindest verstärktes Interesse zeigen. Ein Ereignis,<br />
das unmöglich ist oder nicht mit dem Wissen des <strong>Kindes</strong><br />
übereinst<strong>im</strong>mt, sollte somit eine stärkere Reaktion (eine längere<br />
Blickzuwendung oder einen veränderten Puls) hervorrufen als<br />
ein mögliches oder mit dem Weltwissen konsistentes Ereignis.<br />
Erwartungsverletzung – Ein Verfahren zur Untersuchung des kindlichen Denkens,<br />
bei dem man Kleinkindern ein Ereignis zeigt, das Überraschung oder Interesse<br />
auslösen sollte, falls es dem widerspricht, was das Kind weiß oder für<br />
zutreffend hält.<br />
Die Technik der Erwartungsverletzung wurde zuerst von Renée<br />
Baillargeon <strong>und</strong> ihren Mitautoren (Baillargeon et al. 1985) in<br />
einer klassischen Untersuchungsreihe eingesetzt, um herauszufinden,<br />
ob Kinder, die zu jung sind, um nach einem unsichtbaren<br />
Objekt zu suchen, vielleicht dennoch eine mentale Repräsentation<br />
von dessen Existenz besitzen. In einigen dieser Untersuchungen<br />
wurden die Kinder zunächst darauf habituiert, dass ein<br />
Sichtschirm um 180° vor- <strong>und</strong> zurückklappte (. Abb. 5.15). Dann<br />
wurde auf dem Weg, den der Schirm überstrich, eine Schachtel<br />
platziert, <strong>und</strong> die Kinder sahen zwei Testereignisse. Bei dem möglichen<br />
Ereignis klappte der Sichtschirm hoch, verdeckte den Blick<br />
auf die Schachtel <strong>und</strong> kam zum Stillstand, als er an diese anstieß.<br />
Bei dem unmöglichen Ereignis klappte der Sichtschirm um volle<br />
180° ungehindert nach hinten weg, was so aussah, als ob er sich<br />
durch den Raum hindurchbewegte, den die Schachtel einnahm<br />
(der Versuchsleiter hatte sie he<strong>im</strong>lich weggestellt).<br />
Schon mit dreieinhalb Monaten betrachteten die Säuglinge<br />
das unmögliche Ereignis länger als das mögliche Ereignis. Die<br />
Forscher nahmen an, dass das vollständige Zurückklappen des<br />
Sichtschirmes (auf das die Kinder zuvor ja habituiert worden waren)<br />
nur dann interessanter oder überraschender sein konnte,<br />
wenn die Kinder erwartet hatten, dass der Schirm, wenn er die<br />
Schachtel erreicht, zum Stillstand kommen würde. Und der einzige<br />
Gr<strong>und</strong> dafür, warum sie eine solche Erwartung gehabt haben<br />
konnten, besteht darin, dass sie annahmen, die Schachtel existiere<br />
noch – was bedeutet, dass sie ein Objekt, das sie nicht mehr<br />
sehen konnten, mental noch repräsentiert hatten. Außerdem erwarteten<br />
die Säuglinge offenbar, dass die Schachtel an ihrem Ort<br />
blieb, <strong>und</strong> nicht, dass sich der Sichtschirm durch die Schachtel<br />
hindurchbewegen könnte.<br />
Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass einige Merkmale<br />
des verdeckten Gegenstands, darunter seine Höhe, das Ver-
186<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
1<br />
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..<br />
Abb. 5.15 Mögliche versus unmögliche Ereignisse. In einer klassischen<br />
Untersuchungsreihe zur Objektpermanenz habituierte Renée Baillargeon<br />
Säuglinge zuerst auf den Anblick eines Schirmes, der um 180° vor- <strong>und</strong> zurückklappte<br />
(a). Dann stellte man dem Schirm eine Schachtel in den Weg (b).<br />
Be<strong>im</strong> möglichen Ereignis klappte der Schirm hoch, verdeckte die Schachtel<br />
<strong>und</strong> kam zum Stillstand, als er an den oberen Rand der Schachtel stieß (c).<br />
Be<strong>im</strong> unmöglichen Ereignis klappte der Schirm hoch, verdeckte die Schachtel<br />
<strong>und</strong> rotierte die vollen 180°, was den Anschein erweckte, als bewege er<br />
sich durch den Raum, den die Schachtel einnahm (d). Die Kinder schauten<br />
zu dem unmöglichen Ereignis länger hin <strong>und</strong> zeigten dadurch, dass sie das<br />
Vorhandensein der nicht sichtbaren Schachtel mental repräsentierten. (Aus<br />
Baillargeon 1987a)<br />
halten der Säuglinge in dieser Situation beeinflussen (Baillargeon<br />
1987a, 1987b). Sie erwarten, dass der Schirm bei einer höheren<br />
Schachtel früher zum Stillstand kommt als bei einer niedrigeren.<br />
Mit zwei sehr unterschiedlichen Versuchsanordnungen – dem<br />
Greifen <strong>im</strong> Dunkeln <strong>und</strong> der visuellen Aufmerksamkeit – gelangten<br />
Forscher also zu übereinst<strong>im</strong>menden Belegen, dass Säuglinge,<br />
die nicht nach verborgenen Gegenständen suchen, gleichwohl<br />
deren fortdauernde Existenz <strong>und</strong> einige ihrer Merkmale repräsentieren<br />
können.<br />
Physikalisches Wissen<br />
Das Wissen von Säuglingen über die physikalische Welt ist nicht<br />
darauf begrenzt, was sie über Gegenstände wissen <strong>und</strong> lernen.<br />
Andere Forschungen untersuchten, was sie über physikalische<br />
Phänomene denken, zum Beispiel über die Schwerkraft. Schon<br />
a<br />
b<br />
c<br />
d<br />
..<br />
Abb. 5.16 Zum Verstehen der Lagestabilität. Säuglinge sind sich schon in<br />
den ersten Lebensmonaten bewusst, dass ein Gegenstand nicht durch die<br />
Luft schweben kann, doch beginnen sie erst allmählich zu verstehen, unter<br />
welchen Bedingungen ein Gegenstand durch einen anderen gestützt werden<br />
kann. (Nach Baillargeon 1998)<br />
<strong>im</strong> ersten Lebensjahr scheinen Kleinkinder zu wissen, dass Objekte<br />
nicht durch die Luft schweben, dass ein Objekt ohne hinreichende<br />
Unterlage herunterfallen wird, dass ein eckiges (nicht<br />
rollendes) Objekt, das man auf eine stabile Fläche stellt, so stehen<br />
bleiben wird, <strong>und</strong> so weiter. Zum Beispiel zeigte sich in einer<br />
Untersuchungsreihe (K<strong>im</strong> <strong>und</strong> Spelke 1992), in der Kleinkinder<br />
zusahen, wie man einen Ball an einer Steigung losließ, dass<br />
Kinder mit sieben (aber noch nicht mit fünf) Monaten länger<br />
auf einen Ball blickten, der eine Steigung hinaufrollte, als wenn
Kognition<br />
187 5<br />
er hinunterrollte; offensichtlich hatten sie die Abwärtsbewegung<br />
erwartet. In ähnlicher Weise betrachteten sie ein Objekt, das sich<br />
auf seinem Weg eine Schräge hinunter verlangsamte, länger als<br />
ein Objekt, das auf dem Weg nach unten schneller wurde.<br />
Auch verstehen Kinder <strong>im</strong> Laufe der Zeit, unter welchen Bedingungen<br />
ein Objekt stabil auf einem anderen Objekt aufliegen<br />
kann. In . Abb. 5.16 sind die Reaktionen von Kindern auf einfache<br />
Aufgaben zusammengefasst, in denen Schachteln <strong>und</strong> ein Podest<br />
vorkamen (Baillargeon et al. 1992; Needham <strong>und</strong> Baillargeon<br />
1993). Mit drei Monaten sind Kinder überrascht (sie sehen länger<br />
hin), wenn eine Schachtel mitten <strong>im</strong> Raum losgelassen wird <strong>und</strong><br />
sozusagen in der Luft hängen bleibt, ohne herunterzufallen (wie<br />
in . Abb. 5.16a). Solange jedoch irgendein Kontakt zwischen der<br />
Schachtel <strong>und</strong> dem Podest besteht (wie in . Abb. 5.16b <strong>und</strong> c), reagieren<br />
Kinder in diesem frühen Alter nicht, wenn die Schachtel<br />
an Ort <strong>und</strong> Stelle bleibt. Mit etwa fünf Monaten sind sie sich der<br />
Relevanz bewusst, welche die Art des Kontakts für die Stützfunktion<br />
einer Unterlage besitzt. Sie wissen jetzt, dass die Schachtel<br />
nur ortsstabil bleibt, wenn sie oben auf dem Podest losgelassen<br />
wird, sodass sie von der Anordnung in . Abb. 5.16b überrascht<br />
wären. Ungefähr einen Monat später erkennen sie die Bedeutung<br />
des Ausmaßes an Kontakt, weshalb sie jetzt die Anordnung<br />
in . Abb. 5.16c länger betrachten, in der die Schachtel auf dem<br />
Podest stehen bleibt, obwohl sich nur ein sehr kleiner Teil ihrer<br />
Unterseite auf dem Podest befindet. Kurz nach ihrem ersten Geburtstag<br />
berücksichtigen Kinder dann auch die Form des Objekts<br />
<strong>und</strong> sind deshalb überrascht, wenn ein asymmetrisches Objekt<br />
wie in . Abb. 5.16d stabil liegen bleibt.<br />
Vermutlich entwickeln Säuglinge dieses zunehmend verfeinerte<br />
Verstehen der Lagestabilität zwischen Objekten als Resultat<br />
ihrer Erfahrung. Sie beobachten bei zahllosen Gelegenheiten, wie<br />
Erwachsene Gegenstände auf Oberflächen abstellen, <strong>und</strong> ab <strong>und</strong><br />
an erleben sie die Folgen einer unzureichenden Unterlage, so wie<br />
Benjamin bei dem zersplitterten Kristallglas. Zusätzliche Daten<br />
sammeln sie natürlich durch ihre eigene Handhabung von Objekten,<br />
die weit mehr Beweise dafür liefert, als ihren Eltern lieb<br />
ist – etwa wenn eine Tasse voll Milch nicht auf der Tischkante<br />
des Hochstuhles stehen bleibt.<br />
Soziales Wissen<br />
Zusätzlich zum Wissenserwerb über die physikalische Welt müssen<br />
Kinder etliches über die soziale Welt lernen – über Menschen<br />
<strong>und</strong> ihr Verhalten. Ein wichtiger Aspekt des sozialen Wissens,<br />
der schon früh hervortritt, besteht darin zu wissen, dass das Verhalten<br />
anderer zweck- <strong>und</strong> zielgerichtet ist. Amanda Woodward<br />
(1998) untersuchte sechs Monate alte Säuglinge, denen auf einem<br />
Bildschirm gezeigt wurde, wie eine Hand wiederholt nach<br />
einem von zwei benachbarten Gegenständen griff (. Abb. 5.17).<br />
Dann wurden die Positionen dieser Gegenstände vertauscht, <strong>und</strong><br />
wieder griff die Hand nach demselben Gegenstand. Die Frage<br />
war, ob die Säuglinge das wiederholte Greifverhalten als objektgerichtetes<br />
Greifen nach demselben Gegenstand interpretierten.<br />
Das taten sie, wie sich darin zeigte, dass sie länger hinschauten,<br />
wenn die Hand nach einem neuen Gegenstand (am alten Platz)<br />
griff, als dann, wenn sie wie zuvor nach demselben Gegenstand<br />
(am neuen Platz) griff. Die Säuglinge interpretierten das Greifverhalten<br />
also als objektgerichtet. Jedoch galt das nur für eine<br />
Menschenhand; eine andere Gruppe von Säuglingen, die einen<br />
mechanischen Arm sahen, reagierte anders. (Diese Untersuchung<br />
könnte Sie an diejenige von Meltzoff (1995b) erinnern, in<br />
der etwas größere Säuglinge zwar die Handlungen von Menschen<br />
<strong>im</strong>itierten, nicht aber die eines mechanischen Geräts.) Etwas ältere<br />
Kinder (<strong>im</strong> Alter von elf Monaten) konnten nach demselben<br />
Training mit der greifenden Hand (. Abb. 5.17a) korrekt vorhersagen,<br />
was die Hand als Nächstes tun wird, wie sich an ihren Augenbewegungen<br />
in Richtung des Zielobjekts vor dem Auftauchen<br />
dieses Objekts auf dem Bildschirm erkennen ließ (Cannon <strong>und</strong><br />
Woodward 2012).<br />
Untersuchungen von Sommerville et al. (2005) bewiesen,<br />
dass das Verständnis der Säuglinge von der zielgerichteten Natur<br />
der Handlungen eines anderen mit ihren eigenen Erfahrungen<br />
be<strong>im</strong> Erreichen eines Zieles zusammenhängen. Säuglinge von<br />
drei Monaten, die Gegenstände noch nicht aufheben konnten,<br />
stattete man mit Klettbandfäustlingen aus (wie den in ▶ Kap. 4<br />
beschriebenen), sodass sie Spielzeuge, die mit Klettband versehen<br />
waren, aufheben konnten. Ihre kurze Erfahrung, dass sie Gegenstände<br />
erfolgreich „zu fassen bekommen“, befähigte sie, das zielgerichtete<br />
Greifen anderer <strong>im</strong> oben beschriebenen Woodward-<br />
Verfahren (. Abb. 5.17) einige Monate früher zu verstehen, als es<br />
ansonsten zu erwarten wäre.<br />
Mehr über das Verstehen von Intentionalität legten Studien<br />
offen, in denen größere Säuglinge sogar unbelebten Dingen Absichten<br />
<strong>und</strong> Ziele zuschreiben, wenn sich diese Objekte wie Menschen<br />
zu „verhalten“ scheinen. In einer Untersuchung von Susan<br />
Johnson stellte die Versuchsleiterin zwölf bis 15 Monate alten Kindern<br />
ein gesichtsloses, augenloses Plüschkissen vor, das Laute von<br />
sich gab <strong>und</strong> sich als Reaktion auf das, was die Versuchsleiterin<br />
oder das Kind tat, bewegte, also normale menschliche Interaktion<br />
s<strong>im</strong>ulierte (Johnson 2003; Johnson et al. 1998; . Abb. 5.18). Wenn<br />
sich das Plüschkissen anschließend in eine best<strong>im</strong>mte Richtung<br />
wandte, schauten die Säuglinge in diese Richtung. Sie schienen<br />
also dem „Blick“ des Plüschkissens zu folgen, so wie sie es bei<br />
einem Menschen in der Annahme täten, dass dieser Mensch sich<br />
umgewandt hat, um etwas anzuschauen. Wenn sich das Plüschkissen<br />
jedoch anfangs nicht auf ihr eigenes Verhalten bezogen<br />
verhalten hatte, dann folgten sie seiner „Blick“-Richtung nicht.<br />
Ältere Säuglinge interpretieren sogar rein abstrakte Bildschirman<strong>im</strong>ationen<br />
als absichtsvolle <strong>und</strong> zielgerichtete Handlung<br />
(Csibra et al. 1999, 2003; Gergely et al. 2002). Zum Beispiel sahen<br />
zwölf Monate alte Kinder die Computeran<strong>im</strong>ation eines Balles,<br />
der wiederholt über ein Hindernis zu einem Ball auf der anderen<br />
Seite des Hindernisses sprang. Erwachsene interpretieren diese<br />
An<strong>im</strong>ation so, dass der Ball zu dem anderen Ball hin „will“. Und<br />
so sehen das offenbar auch die Kinder. Wenn das Hindernis aus<br />
dem Weg geräumt war, schauten die Säuglinge länger hin, wenn<br />
sie den Ball weiterhin springen sahen, ganz so, wie er das zuvor<br />
getan hatte, <strong>und</strong> schauten nur kurz hin, wenn sie ihn sich geradewegs<br />
auf den zweiten Ball zubewegen sahen.<br />
Selbst jüngere Säuglinge scheinen einfachen An<strong>im</strong>ationen<br />
mit kleinen Gegenständen – einem Ball, einem Würfel, einer Pyramide,<br />
alle mit Kulleraugen – Absichten zuzuschreiben (Hamlin<br />
et al. 2007). Sechs <strong>und</strong> zehn Monate alte Kinder schauten zu, wie
188<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
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Abb. 5.17 Säuglinge wurden auf die Szene in Bild (a) habituiert: Eine Hand greift wiederholt nach einem Ball auf der einen Seite des Bildschirmes. Später<br />
wurden die Säuglinge mit den Bildschirmansichten (b), (c) oder (d) getestet. Dabei blickten diejenigen Säuglinge, die die Hand nach dem neuen Objekt (einem<br />
Teddybär) greifen sahen, länger hin als diejenigen, die die Hand nach dem Ball greifen sahen (egal, an welchem Platz der Ball lag). Die Ergebnisse zeigten, dass<br />
die Babys das ursprüngliche Greifen als objektgerichtet interpretierten. (Nach Woodward 1998)<br />
..<br />
Abb. 5.18 Wenn dieses gestaltlose Plüschobjekt auf die zuschauenden<br />
Säuglinge „reagiert“, dann neigen diese dazu, ihm Absichten zuzuschreiben.<br />
(© Susan Johnson; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
ein roter Wollball – der „Kletterer“ – wiederholt einen Hügel hinaufzukl<strong>im</strong>men<br />
„versuchte“ <strong>und</strong> jedes Mal zurück nach unten fiel<br />
(. Abb. 5.19). Dann stieß ihn die „helfende“ Pyramide den Hügel<br />
hinauf, oder aber der „feindliche“ Würfel stieß ihn wieder hinunter.<br />
In der Testan<strong>im</strong>ation näherte sich der Kletterer entweder dem<br />
d<br />
Helfer oder dem Feind. Die Kinder schauten länger hin, wenn er<br />
sich dem Feind näherte, was darauf hindeutet, dass sie nicht nur<br />
die „Intentionen“ aller dreier Objekte verstanden hatten, sondern<br />
auch wussten, welche Reaktionen von dem Kletterer zu erwarten<br />
wäre, wenn er auf den Helfer oder den Feind treffen würde.<br />
Säuglinge verknüpfen die Handlungen anderer nicht nur<br />
mit deren Intentionen, sondern sie gehen darüber hinaus: Sie<br />
bevorzugen best<strong>im</strong>mte Individuen <strong>und</strong> Objekte aufgr<strong>und</strong> von<br />
deren Handlungen. Die Forschung zur visuellen Präferenz<br />
haben wir bereits in ▶ Exkurs 5.1 beschrieben. Soziale Präferenzen<br />
zeigen Kinder, indem sie sich best<strong>im</strong>mten Personen<br />
lieber zuwenden als anderen. In einer der ersten Studien zum<br />
Nachweis dieser sozialen Präferenz (Kinzler et al. 2007) sahen<br />
zehn Monate alte amerikanische <strong>und</strong> französische Kinder lebensgroße<br />
Videoprojektionen von zwei Personen, die zu ihnen<br />
sprachen – die eine in englischer Sprache, die andere in französischer.<br />
Danach sahen die Kinder dieselben beiden Personen<br />
schweigend hinter einem Tisch stehen <strong>und</strong> jeweils das gleiche<br />
Plüschspielzeug in den Händen halten. Ohne etwas zu sagen, lächelten<br />
beide völlig synchron das Kind <strong>und</strong> dann das Spielzeug<br />
an, dann wieder das Kind <strong>und</strong> beugten sich schließlich über<br />
den Tisch nach vorn, als wollten sie dem Kind das Spielzeug
Kognition<br />
189 5<br />
..<br />
Abb. 5.19 Die Zuschauer bei dieser An<strong>im</strong>ation – Säuglinge ebenso wie Erwachsene – interpretieren die Bewegung des Kreises leicht als intentionale Handlung.<br />
Der Kreis „versucht“ in ihren Augen, den Hügel hinaufzugelangen, aber er rollt wieder herunter <strong>und</strong> verfehlt sein Ziel, den Gipfel zu erreichen. In einigen<br />
Versuchsdurchgängen erscheint ein Dreieck, als der Kreis gerade wieder hinunterzurollen beginnt, unterhalb des Kreises <strong>und</strong> scheint ihn „helfend“ nach oben<br />
zu schieben (a). In anderen Versuchsdurchgängen erscheint ein Quadrat oberhalb des Kreises <strong>und</strong> „hindert“ ihn daran, sich weiter in Richtung Gipfel zu bewegen<br />
(b). (© Hamlin et al. 2007; Nature Publishing Group)<br />
geben. Im gleichen Moment, in dem die beiden Spielzeuge vom<br />
Projektionsschirm verschwanden, tauchten sie (dank der magischen<br />
Forscherhände) auf dem Tisch vor dem Kind auf, was<br />
den Eindruck vermitteln sollte, dass die Spielzeuge unmittelbar<br />
von den Personen aus dem Video kamen. Die Reaktionen der<br />
Kinder lassen eine soziale Präferenz für die Person vermuten,<br />
die in ihrer Muttersprache spricht: Die englischsprachig aufwachsenden<br />
Kinder wählten das Spielzeug, das die Englisch<br />
sprechende Person angeboten hatte, die französischsprachigen<br />
griffen zum Spielzeug von der Französisch sprechenden Person.<br />
Da beide Personen die Spielzeuge schweigend zum Kind hin<br />
reichten, kann man die Präferenz als soziale Präferenz für die<br />
gleichsprachige Person werten, nicht – <strong>und</strong> das ist entscheidend<br />
– als Präferenz der Sprache selbst.<br />
Ähnliche Bef<strong>und</strong>e ergaben sich bei einem Auswahlparadigma<br />
mit zwei Personen, die den Kindern etwas zum Essen anboten,<br />
wobei das Angebot der Person, die anfangs in der Muttersprache<br />
des <strong>Kindes</strong> gesprochen hatte, später bevorzugt wurde (Shutts<br />
et al. 2009). Tatsächlich können auch Objekte wie in . Abb. 5.19<br />
soziale Präferenzen hervorrufen (Hamlin et al. 2007). In einer<br />
Variante zum „Kletterer“ genannten Ball, der einen Hang hinaufrollt,<br />
wurden sechs Monate alten Kindern Objekte gezeigt,<br />
die sie zuvor dabei beobachtete hatten, wie sie den „Kletterer“<br />
be<strong>im</strong> Aufstieg nach unten stießen oder aber unterstützten; dabei<br />
wurden die Helferobjekte häufiger bevorzugt. Die sozialen<br />
Präferenzen können in solchen Studien sehr differenziert hervortreten.<br />
In einer neueren Untersuchung, bei der Marionetten<br />
als Helfer oder Hinderer zusätzlich zu den Objekten auftraten,<br />
bevorzugten fünf Monate alte Säuglinge durchgehend die Figuren,<br />
die die Helfer unterstützt hatten, während acht Monate alte<br />
Säuglinge neben den Helfern der Helfer auch die Hinderer der<br />
Hinderer präferierten (Hamlin et al. 2011).<br />
Solche <strong>und</strong> ähnliche Studien weisen darauf hin, dass Säuglinge<br />
etwa in der Mitte des ersten Lebensjahres schon viel darüber<br />
gelernt haben, wie sich Menschen verhalten <strong>und</strong> wie ihr<br />
Verhalten mit ihren Absichten <strong>und</strong> Zielen zusammenhängt.<br />
Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder können auch Rückschlüsse auf den<br />
Wissensstand anderer Menschen ziehen. Kinder <strong>im</strong> Alter von<br />
15 Monaten zum Beispiel können aus ihrem Wissen darüber,<br />
was ein Mensch weiß, schlussfolgern, was dieser Mensch tun<br />
wird (Onishi <strong>und</strong> Baillargeon 2005). In einer bereits in ▶ Kap. 4<br />
beschriebenen Aufgabe, die anhand der visuellen Aufmerksamkeit<br />
untersucht, wie Säuglinge falsche Überzeugungen erkennen,<br />
scheinen diese nachzuverfolgen, was ein Erwachsener über den<br />
Ort weiß, an dem sich ein Gegenstand befindet. Wird der Gegenstand<br />
vor den Augen des <strong>Kindes</strong> an einen anderen Platz gebracht<br />
– ohne dass der Erwachsene dabei zuschaut –, so erwartet das<br />
Kind, dass der Erwachsene am ursprünglichen Ort des Gegenstands<br />
suchen wird. Das heißt, das Kind erwartet, dass der Erwachsene<br />
dort sucht, wo er den Gegenstand fälschlich vermutet,<br />
<strong>und</strong> nicht dort, wo ihn das Kind tatsächlich gesehen hat <strong>und</strong><br />
wo er in Wirklichkeit ist. Diese Interpretation stützt sich auf die<br />
Beobachtung bei dieser Untersuchung, dass die Kinder länger<br />
hinschauen, wenn der Erwachsene am richtigen Ort sucht, als<br />
dann, wenn er am ursprünglichen Ort sucht. Offenbar nehmen<br />
15 Monate alte Kinder an, dass sich das Verhalten eines Menschen<br />
daran orientiert, was dieser Mensch für wahr hält, auch<br />
dann, wenn das Kind weiß, dass diese Überzeugung falsch ist.<br />
Das Forschungsergebnis lässt vermuten, dass es sehr frühe Vorläufer<br />
einer Alltagspsychologie gibt.<br />
Ausblick<br />
Die intensive Forschung zur Kognition in der frühen Kindheit<br />
erbrachte eine Fülle an faszinierenden Bef<strong>und</strong>en. Diese neu<br />
gewonnenen Informationen haben jedoch die Gr<strong>und</strong>fragen<br />
dazu, wie sich das Denken in der frühen Kindheit entwickelt,<br />
nicht beantwortet. Die dargestellten Bef<strong>und</strong>e weisen auf eine<br />
bemerkenswerte Konstellation aus Fähigkeiten <strong>und</strong> Defiziten<br />
hin. Kleinkinder können sowohl überraschend clever als auch<br />
überraschend unbedarft sein (Keen 2003; Kloos <strong>und</strong> Keen<br />
2005). Sie können die Existenz eines nicht sichtbaren Objekts<br />
erschließen, aber sie können es nicht hervorholen. Sie erkennen,<br />
dass Objekte nicht in der freien Luft schweben können,<br />
meinen aber, dass jede Art <strong>und</strong> jedes Ausmaß an Unterlage<br />
ausreicht, damit ein Objekt nicht herunterfällt. Die besondere<br />
Herausforderung für die Theoriebildung liegt darin, sowohl<br />
die Kompetenz als auch die Inkompetenz des kindlichen Denkens<br />
zu erklären.
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Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
In Kürze | |<br />
Aufbauend auf den Einsichten <strong>und</strong> den Beobachtungen<br />
von Jean Piaget <strong>und</strong> unter Verwendung einer Reihe von<br />
äußerst ausgeklügelten Methoden gelang zeitgenössischen<br />
Forschern eine Reihe faszinierender Entdeckungen<br />
über die kognitiven Prozesse der frühen Kindheit. Sie<br />
haben gezeigt, dass Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder nicht nur<br />
die Existenz verborgener Objekte mental repräsentieren,<br />
sondern auch deren Eigenschaften wie Größe, Gewicht<br />
oder die Art von Geräuschen, die sie produzieren. Das<br />
Verstehen der physikalischen Welt wächst bei den Kindern<br />
stetig, wie sich in ihrem Verstehen von Lagestabilität <strong>und</strong><br />
ihrer wachsenden Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen,<br />
zeigt. Gleichzeitig wächst auch ihr Verständnis von der<br />
sozialen Welt, wie sich beispielsweise in ihrer Interpretation<br />
der Intentionalität zeigt, die dem Verhalten von<br />
Handelnden – Menschen ebenso wie An<strong>im</strong>ationsfiguren<br />
– zugr<strong>und</strong>e liegt.<br />
Zusammenfassung<br />
-<br />
Wahrnehmung<br />
Das visuelle System des Menschen ist bei Geburt relativ<br />
unreif; Kleinkinder besitzen eine geringe Sehschärfe, eine<br />
geringe Kontrastempfindlichkeit <strong>und</strong> min<strong>im</strong>ales Farbensehen.<br />
Neuere Forschungen haben jedoch nachgewiesen,<br />
dass Neugeborene schon Minuten nach der Geburt damit<br />
beginnen, die Welt visuell abzutasten, <strong>und</strong> dass sehr kleine<br />
Kinder stark kontrastive Muster bevorzugen, dieselben<br />
Farben präferieren wie Erwachsene <strong>und</strong> insbesondere eine<br />
-<br />
Vorliebe für menschliche Gesichter aufweisen.<br />
Einige Sehfähigkeiten, einschließlich der Wahrnehmung<br />
von Größen- <strong>und</strong> Formkonstanz, liegen bereits bei Geburt<br />
vor; andere entwickeln sich schnell <strong>im</strong> Verlauf des ersten<br />
Lebensjahres. Das beidäugige Sehen (Stereopsis) entwickelt<br />
sich mit etwa vier Monaten recht plötzlich; in diesem<br />
Alter ist auch die Fähigkeit zur Identifikation von Objektgrenzen<br />
– die Objekttrennung – vorhanden. Mit sieben<br />
Monaten sind Kinder für eine Vielzahl von Tiefenhinweisen<br />
in Bildern oder be<strong>im</strong> monokularen Sehen sensitiv; die<br />
Musterwahrnehmung hat sich so weit entwickelt, dass die<br />
Kinder – so wie Erwachsene – Scheinkonturen wahrnehmen<br />
können.<br />
-<br />
Das auditive System ist bei Geburt vergleichsweise gut<br />
entwickelt, sodass Neugeborene schon ihren Kopf drehen,<br />
um ein Geräusch zu lokalisieren. Die bemerkenswerte<br />
Fähigkeit von Kleinkindern, in akustischen Reizen Muster<br />
zu erkennen, liegt ihrer Empfindlichkeit für musikalische<br />
-<br />
Strukturen zugr<strong>und</strong>e.<br />
Kinder empfinden von Geburt an Gerüche. Sie lernen ihre<br />
Mutter unter anderem an ihrem einzigartigen Geruch zu<br />
-<br />
erkennen.<br />
Durch aktives Berühren mithilfe von M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Hand<br />
erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> erfahren Kinder sich selbst <strong>und</strong> ihre Umwelt.<br />
-<br />
Forschungen zum Phänomen der intermodalen Wahrnehmung<br />
ließen erkennen, dass Kinder vom frühesten Alter<br />
an Informationen der verschiedenen Sinnesmodalitäten<br />
integrieren, indem sie ihre visuellen Erfahrungen mit ihrem<br />
akustischen, olfaktorischen <strong>und</strong> taktilen Erfahrungen verknüpfen.<br />
-<br />
Motorische Entwicklung<br />
Die motorische Entwicklung, die Entwicklung der Handlungsmöglichkeiten,<br />
erreicht in der frühen Kindheit eine<br />
Reihe von „motorischen Meilensteinen“ <strong>und</strong> schreitet<br />
rapide voran, angefangen mit den starken Reflexen neugeborener<br />
Babys. Neuere Forschungsarbeiten haben nachgewiesen,<br />
dass das regelmäßige Entwicklungsmuster bis hin<br />
zum freihändigen Laufen aus dem Zusammentreffen vieler<br />
Faktoren resultiert, einschließlich der Entwicklung der Körperkraft,<br />
der Haltungskontrolle, des Gleichgewichts <strong>und</strong> der<br />
Wahrnehmungsfähigkeiten. Dieses Muster der motorischen<br />
Entwicklung variiert jedoch in den verschiedenen Kulturen<br />
-<br />
je nach ihren speziellen kulturellen Praktiken.<br />
Jede neue motorische Errungenschaft, vom Greifen bis zur<br />
Fortbewegung aus eigener Kraft, erweitert die Erfahrung<br />
des <strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> bietet gleichzeitig neue Herausforderungen.<br />
Kleinkinder verwenden eine Vielzahl von Strategien, um<br />
sich erfolgreich <strong>und</strong> sicher in der Welt umherzubewegen. In<br />
diesem Prozess machen sie eine ganze Reihe überraschender<br />
Fehler.<br />
-<br />
Lernen<br />
In der frühen Kindheit liegen verschiedene Arten des<br />
Lernens vor. Kinder habituieren auf Reize, die sich wiederholen,<br />
<strong>und</strong> bilden Erwartungen bei wiederkehrenden<br />
Regelmäßigkeiten von Ereignissen. Wahrnehmungslernen<br />
kommt durch aktive Exploration zustande. Kinder lernen<br />
auch durch klassisches Konditionieren, was die Bildung von<br />
Assoziationen zwischen natürlichen <strong>und</strong> neutralen Reizen<br />
einschließt, <strong>und</strong> durch operantes Konditionieren, bei<br />
dem das Lernen der Kontingenzen zwischen dem eigenen<br />
Verhalten <strong>und</strong> dessen Konsequenzen eine Rolle spielt. Sie<br />
können auch Erfahrungen nutzen, um Erwartungen für die<br />
-<br />
Zukunft zu entwickeln.<br />
Ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres wird das<br />
Beobachtungslernen – das Betrachten <strong>und</strong> Nachmachen<br />
der Verhaltensweisen anderer Menschen – eine zunehmend<br />
bedeutsame Informationsquelle. Was Kinder <strong>im</strong>itieren,<br />
hängt auch davon ab, wie sie die Absichten eines Modells<br />
einschätzen.<br />
-<br />
Kognition<br />
Mit leistungsfähigen neuen Forschungsverfahren – besonders<br />
mit der Methode der Erwartungsverletzung – wurde<br />
nachgewiesen, dass Säuglinge eindrucksvolle kognitive Fähigkeiten<br />
an den Tag legen. Ein großer Teil dieser Arbeiten<br />
zur mentalen Repräsentation <strong>und</strong> zum kindlichen Denken<br />
wurde ursprünglich von Jean Piagets Konzept der Objektpermanenz<br />
inspiriert. Im Gegensatz zu den Annahmen<br />
Piagets zeigte sich jedoch, dass bereits Kleinkinder nicht
Literatur<br />
191 5<br />
sichtbare Objekte mental repräsentieren <strong>und</strong> aus beobachteten<br />
Ereignissen sogar einfache Schlussfolgerungen ziehen<br />
-<br />
können.<br />
Weitere Forschungsarbeiten konzentrierten sich auf die<br />
Entwicklung des Wissens über die physikalische Welt <strong>und</strong><br />
zeigten, dass Kleinkinder bereits einige Auswirkungen der<br />
Schwerkraft verstehen. Babys brauchen mehrere Monate,<br />
um die Bedingungen herauszufinden, unter denen ein Objekt<br />
eine stabile Stütze für ein anderes Objekt bieten kann.<br />
-<br />
Was Kleinkinder von Menschen verstehen, wird rege erforscht.<br />
Klar ist der Bef<strong>und</strong>, dass Kleinkinder den Absichten<br />
anderer besondere Aufmerksamkeit schenken.<br />
-<br />
Wenngleich viele faszinierende Phänomene <strong>im</strong> Bereich der<br />
Kognition der frühen Kindheit entdeckt wurden, bleiben<br />
gr<strong>und</strong>legende Fragen der kognitiven Entwicklung unbeantwortet.<br />
Es gibt markante Unterschiede darin, wie Theoretiker<br />
die Fähigkeiten <strong>und</strong> die Defizite <strong>im</strong> kindlichen Denken<br />
erklären.<br />
Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />
1. Das Hauptthema in diesem Kapitel war das Verhältnis<br />
von Anlage <strong>und</strong> Umwelt. Betrachten Sie die folgenden<br />
Forschungsbef<strong>und</strong>e an Säuglingen, die <strong>im</strong> Kapitel erläutert<br />
wurden: die Bevorzugung von Konsonanz gegenüber Dissonanz<br />
in der Musik; die Bevorzugung von Gesichtern, die<br />
Erwachsene attraktiv finden; die Fähigkeit, die Existenz <strong>und</strong><br />
sogar die Größe eines verborgenen Objekts zu repräsentieren.<br />
Was glauben Sie: In welchem Umfang beruhen diese<br />
Präferenzen <strong>und</strong> Fähigkeiten auf angeborenen Faktoren,<br />
<strong>und</strong> in welchem Umfang resultieren sie aus Erfahrungen?<br />
2. Es wurde deutlich, dass die Forscher in der jüngeren<br />
Vergangenheit eine beträchtliche Menge an Erkenntnissen<br />
über die frühe Kindheit gewonnen haben. Haben Sie<br />
irgendwelche dieser Erkenntnisse überrascht? Schildern<br />
Sie einer Fre<strong>und</strong>in oder einem Fre<strong>und</strong> aus jedem der<br />
Hauptabschnitte des Kapitels etwas, von dem Sie niemals<br />
vermutet hätten, dass Kinder es können oder wissen.<br />
Schildern Sie in gleicher Weise einige Dinge, die Kinder zu<br />
Ihrer Überraschung noch nicht können oder wissen.<br />
3. Angenommen, Sie haben ein kleines Kind <strong>und</strong> machen<br />
sich Sorgen, dass es vielleicht nicht gut sehen kann. Wie<br />
könnten Entwicklungspsychologen das Sehvermögen<br />
Ihres Babys testen?<br />
4. Untersuchungen zur Wahrnehmung <strong>und</strong> Kognition von<br />
Säuglingen sind besonders knifflig, weil die Kinder nur<br />
sehr begrenzt antworten können – sie können nicht<br />
sprechen <strong>und</strong> auch nicht verlässlich greifen oder zeigen.<br />
Betrachten Sie einige der Methoden, die in diesem Kapitel<br />
vorgestellt wurden: Blickpräferenz, Konditionierung, Erwartungsverletzung,<br />
Nachahmung <strong>und</strong> so weiter. Können<br />
Sie jede Methode mit einer beschriebenen Untersuchung<br />
verknüpfen? Welche Art von Fragen passt am besten zu<br />
welcher Methode?<br />
5. Erklären Sie, warum die Forschung manchmal die unten<br />
genannten Verfahren nutzt, die seltsam anmuten, solange<br />
Literatur<br />
man die zugr<strong>und</strong>e liegende Rationalität nicht versteht.<br />
Welche Hypothesen sollten damit geprüft werden?<br />
a. Kinder bis zur Hüfte ins Wasser halten.<br />
b. Kindern ein Auge zubinden <strong>und</strong> ihnen ein verzerrtes<br />
Fenster zeigen.<br />
c. Ein Spielzeug in einem durchsichtigen Behältnis „verstecken“.<br />
d. Vorgeblich das Endstück einer Hantel nicht abziehen<br />
können.<br />
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1<br />
2<br />
3<br />
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3<br />
4<br />
5<br />
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196<br />
Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
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S0163-6383(98)90021-2.
197 6<br />
Die Entwicklung des Sprach<strong>und</strong><br />
Symbolgebrauchs<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Sprachentwicklung – 198<br />
Die Komponenten der Sprache – 199<br />
Voraussetzungen des Spracherwerbs – 200<br />
Der Prozess des Spracherwerbs – 205<br />
Theoriefragen der Sprachentwicklung – 224<br />
Nichtsprachliche Symbole <strong>und</strong> Entwicklung – 228<br />
Der Symbolgebrauch als Information – 229<br />
Zeichnen – 230<br />
Zusammenfassung – 231<br />
Literatur – 232<br />
S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />
DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
198<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
© Sabina Pauen<br />
„Woof.“ (mit 11 Monaten verwendet zur Bezeichnung des Nachbarh<strong>und</strong>es)<br />
„Hot.“ (mit 14 Monaten verwendet zur Bezeichnung von Herd,<br />
Streichhölzern, Kerzen <strong>und</strong> Licht, das von glänzenden Oberflächen<br />
reflektiert wird)<br />
„Read me.“ (mit 21 Monaten verwendet, um die Mutter zu bitten, eine<br />
Geschichte vorzulesen)<br />
„Why I don’t have a dog?“ (mit 27 Monaten)<br />
„If you give me some candy, I’ll be your best friend. I’ll be your two best<br />
friends.“ (mit 48 Monaten)<br />
„Granna, we went to Cagoshin [Chicago].“ (mit 65 Monaten)<br />
„It was, like, ya’ know, totally awesome, dude.“ (mit 192 Monaten)<br />
Diese Äußerungen, auf die wir <strong>im</strong> Verlauf des Kapitels zurückkommen<br />
werden, wurden alle von demselben Jungen produziert,<br />
während er allmählich das Englische als Muttersprache zu beherrschen<br />
lernte (Clore 1981). (In Klammern sind vergleichbare<br />
Äußerungen auf dem Weg zur deutschen Muttersprache hinzugefügt.)<br />
Jede dieser Äußerungen spiegelt eine Fähigkeit wider,<br />
die den Menschen am stärksten von anderen Spezies abhebt: die<br />
kreative <strong>und</strong> flexible Verwendung von Symbolen, einschließlich<br />
der Sprache <strong>und</strong> vieler Arten von nichtsprachlichen Symbolen<br />
(Abdrücken, Zahlen, Bildern, Modellen, Landkarten etc.). Wir<br />
verwenden Symbole, um (1) unsere Gedanken, Gefühle <strong>und</strong><br />
Wissensbestände zu repräsentieren <strong>und</strong> (2) diese anderen Menschen<br />
zu kommunizieren. Die Fähigkeit zum Symbolgebrauch<br />
erweitert unsere kognitiven <strong>und</strong> kommunikativen Kompetenzen<br />
<strong>im</strong>mens. Sie befreit uns von der Gegenwart <strong>und</strong> versetzt uns in<br />
die Lage, von früheren Generationen zu lernen <strong>und</strong> über die Zukunft<br />
nachzudenken. Weil Symbole für Lernen <strong>und</strong> Wissen eine<br />
so wichtige Quelle darstellen, bildet der Umgang mit Symbolen<br />
eine entscheidende Entwicklungsaufgabe für alle Kinder überall<br />
auf der Welt (<strong>DeLoache</strong> 2005).<br />
Symbole – Sinnbilder oder Zeichen zur Repräsentation von Gedanken, Gefühlen<br />
oder Wissen in der Kommunikation mit anderen Menschen.<br />
..<br />
Diese Kinder üben sich darin, eines der vielen wichtigen Symbolsysteme<br />
der heutigen Welt zu beherrschen. (Foto: Bernadette Berg)<br />
In diesem Kapitel konzentrieren wir uns zuerst <strong>und</strong> vorrangig auf<br />
den Erwerb, des herausragendsten Symbolsystems, der Sprache.<br />
Wir werden danach den Umgang von Kindern mit nichtsprachlichen<br />
Symbolen, wie etwa mit Bildern <strong>und</strong> Modellen, betrachten.<br />
Das dominierende Thema dieses Kapitels wird erneut die<br />
Frage nach der Bedeutung von Anlage <strong>und</strong> Umwelt sein. Dabei<br />
betrifft die Wechselbeziehung nun die Frage, in welchem Ausmaß<br />
der Spracherwerb durch Fähigkeiten zustande kommt, die speziell<br />
für das Erlernen von Sprache zuständig sind, <strong>und</strong> inwieweit<br />
hier ein kognitiver Lernmechanismus wirksam wird, der universell<br />
alle Arten des Lernens gleichermaßen unterstützt.<br />
Der soziokulturelle Kontext bildet ein weiteres wichtiges Thema<br />
in diesem Kapitel. Wir werden vergleichende Forschungsstudien<br />
besprechen, die Unterschiede <strong>im</strong> Spracherwerb bei verschiedenen<br />
Kulturen <strong>und</strong> Sprachgemeinschaften untersuchen. Solche vergleichenden<br />
Arbeiten liefern oft entscheidende Belege für oder gegen<br />
theoretische Annahmen über die Sprachentwicklung.<br />
Ein drittes Thema, das in diesem Kapitel mehrmals wiederkehrt,<br />
sind die individuellen Unterschiede. Bei jedem Meilenstein<br />
der Sprachentwicklung ist festzustellen, dass manche Kinder<br />
ihn viel früher erreichen als andere <strong>und</strong> manche deutlich später.<br />
Auch das Thema des aktiven <strong>Kindes</strong> wird wiederholt auftauchen.<br />
Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder richten ihre Aufmerksamkeit intensiv<br />
auf Sprache <strong>und</strong> eine breite Vielfalt von anderen Symbolen,<br />
<strong>und</strong> sie strengen sich sehr an, um herauszufinden, wie man mit<br />
anderen Menschen kommuniziert.<br />
Sprachentwicklung<br />
Was können durchschnittliche fünf- bis zehnjährige Kinder<br />
fast so gut wie Erwachsene? Nicht viel, aber eine sehr wichtige<br />
Sache ist die Verwendung von Sprache. Mit fünf Jahren haben
Sprachentwicklung<br />
199 6<br />
Kinder gelernt, die Gr<strong>und</strong>struktur ihrer Muttersprache(n) zu<br />
beherrschen, sei es gesprochene Sprache, sei es Gebärdensprache.<br />
(Wenn wir <strong>im</strong> Folgenden von „Muttersprache“ sprechen,<br />
schließen wir die Möglichkeit des bilingualen Aufwachsens in<br />
mehreren Sprachen <strong>im</strong>mer mit ein.) Die Sätze, die ein durchschnittlicher<br />
Erstklässler hervorbringt, sind grammatikalisch<br />
genauso korrekt wie diejenigen eines durchschnittlichen Studenten<br />
<strong>im</strong> ersten Semester, auch wenn das Ausdrucksvermögen <strong>und</strong><br />
der Wortschatz noch nicht so feinsinnig sind. Aber diese frühe<br />
Sprachfähigkeit ist bemerkenswert.<br />
Zur Sprachverwendung gehört sowohl das Sprachverstehen,<br />
also das Verständnis dessen, was andere sagen, schreiben oder<br />
über Gebärden vermitteln, als auch die Sprachproduktion, also<br />
das tatsächliche Sprechen, Gebärden oder Schreiben. Wir werden<br />
in diesem Kapitel wiederholt sehen, dass das Sprachverstehen<br />
der Sprachproduktion vorangeht: Kinder verstehen Wörter <strong>und</strong><br />
sprachliche Strukturen, die andere Menschen benutzen, bereits<br />
Monate oder gar Jahre bevor sie diese in ihren eigenen Äußerungen<br />
verwenden. Das trifft natürlich nicht nur auf kleine Kinder<br />
zu; zweifellos verstehen wir viele Wörter, die wir nie benutzen.<br />
Bei unserer Diskussion werden wir Entwicklungsprozesse betrachten,<br />
die am Sprachverstehen wie auch an der Sprachproduktion<br />
beteiligt sind, sowie die Beziehung zwischen diesen beiden<br />
Aspekten des Sprachgebrauchs.<br />
Sprachverstehen – Das Verstehen dessen, was andere sagen (oder gebärden<br />
oder schreiben).<br />
Sprachproduktion – Das tatsächliche Sprechen, Gebärden oder Schreiben.<br />
Die Komponenten der Sprache<br />
Wie funktioniert Sprache? Es gibt Tausende von Sprachen auf der<br />
Welt, aber sie alle haben übergreifende Gemeinsamkeiten: Alle<br />
menschlichen Sprachen sind ähnlich komplex <strong>und</strong> zeichnen sich<br />
durch verschiedene Elemente aus, die auf verschiedenen Ebenen<br />
innerhalb einer Hierarchie kombiniert werden können: Laute<br />
werden zusammengesetzt, um Wörter zu bilden, Wörter werden<br />
zu Sätzen kombiniert, <strong>und</strong> Sätze werden beispielsweise zu Geschichten<br />
zusammengefügt. Der Erwerb einer Sprache umfasst<br />
somit das Erlernen der Laute <strong>und</strong> Lautmuster dieser Sprache, ihre<br />
speziellen Wörter <strong>und</strong> die Art <strong>und</strong> Weise, in der Wörter in dieser<br />
Sprache kombiniert werden dürfen. Be<strong>im</strong> Erwerb einer Sprache<br />
müssen Kinder all diese Facetten ihrer Muttersprache lernen. Der<br />
enorme Vorteil, der sich aus diesem kombinatorischen Prozess<br />
ergibt, ist die Generativität von Sprache: Be<strong>im</strong> Verwenden der<br />
endlichen Menge an Wörtern in unserem Wortschatz können wir<br />
eine schier unendliche Vielzahl an Sätzen erzeugen <strong>und</strong> damit<br />
schier unendliche viele Gedanken zum Ausdruck bringen.<br />
Generativität von Sprache – Die Tatsache, dass wir be<strong>im</strong> Gebrauch der endlichen<br />
Anzahl an Wörtern <strong>und</strong> Morphemen unseres Wortschatzes eine unbegrenzte<br />
Anzahl an Sätzen zusammenfügen <strong>und</strong> eine unbegrenzte Anzahl an<br />
Gedanken ausdrücken können.<br />
Die generative Kraft der Sprache gibt es allerdings nicht umsonst.<br />
Be<strong>im</strong> Erlernen einer Sprache müssen Kinder mit deren<br />
Komplexität umgehen können. Um sich ein Bild davon zu machen,<br />
vor welchen Herausforderungen die Kinder stehen, wenn<br />
sie ihre Muttersprache beherrschen wollen, stelle man sich<br />
selbst als Fremden in einem fremden Land vor. Jemand kommt<br />
auf Sie zu <strong>und</strong> sagt: „Jusczyk daxly blickets Nthlakapmx.“ Sie<br />
hätten absolut keine Idee, was diese Person gerade gesagt hat.<br />
Warum?<br />
Zunächst haben Sie vielleicht Schwierigkeiten, einige der<br />
Laute, die die Person äußerte, überhaupt wahrzunehmen. Phoneme<br />
sind elementare lautliche Einheiten, mit denen Sprache<br />
produziert wird. Sie markieren Bedeutungsunterschiede. Zum<br />
Beispiel unterscheidet sich „Rippe“ nur durch ein Phonem von<br />
„Lippe“ (/r/ versus /l/), doch die beiden Wörter besitzen ganz verschiedene<br />
Bedeutungen. Sprachen verwenden unterschiedliche<br />
Mengen von Phonemen; das Deutsche beispielsweise verwendet<br />
gut 40 der etwa 200 Lautklassen, die in den Sprachen der Welt<br />
vorkommen. Die Phoneme, die in einer best<strong>im</strong>mten Sprache<br />
bedeutungsunterscheidend sind, überlappen sich mit denen in<br />
anderen Sprachen, wobei es aber auch Unterschiede gibt. Zum<br />
Beispiel transportieren die Laute, die den Lautklassen /r/ <strong>und</strong><br />
/l/ zuzuordnen sind, <strong>im</strong> Japanischen keine unterschiedliche Bedeutung.<br />
Es kommt hinzu, dass Lautkombinationen, die in einer<br />
Sprache häufig auftreten, in anderen Sprachen vielleicht niemals<br />
vorkommen. Wenn man die Äußerung des Fremden aus dem<br />
vorangegangen Absatz liest, hat man wahrscheinlich keine Idee,<br />
wie man „Nthlakapmx“ aussprechen soll, weil die Lautkombinationen,<br />
die die Buchstaben dieses Wortes bilden, <strong>im</strong> Deutschen<br />
nicht vorkommen (obwohl es sie in anderen Sprachen sehr wohl<br />
gibt). Der erste Schritt be<strong>im</strong> kindlichen Spracherwerb ist also die<br />
phonologische Entwicklung, der Erwerb von Wissen über das<br />
Lautsystem ihrer Sprache.<br />
Phoneme – Die elementaren lautlichen Einheiten einer Sprache, deren Veränderung<br />
mit Bedeutungsunterschieden einhergeht.<br />
Phonologische Entwicklung – Der Erwerb des Wissens über das Lautsystem<br />
einer Sprache.<br />
Ein weiterer Gr<strong>und</strong>, warum wir nicht verstehen würden, was der<br />
Fremde zu uns gesagt hat, selbst wenn wir in der Lage gewesen<br />
wären, die geäußerten Laute wahrzunehmen, besteht darin, dass<br />
wir keine Ahnung hätten, was diese Laute bedeuten. Die kleinsten<br />
bedeutungstragenden Einheiten sind die Morpheme, die sich in<br />
der Regel aus einem oder mehreren Phonemen zusammensetzen.<br />
Morpheme bilden allein oder in Kombination Wörter. Die Wörter<br />
ich <strong>und</strong> H<strong>und</strong> sind beispielsweise beide einzelne Morpheme,<br />
weil sie sich jeweils auf einen einzelnen Sachverhalt beziehen <strong>und</strong><br />
ihre Bedeutung verlieren würden, wenn man sie weiter zerlegen<br />
würde. Das Wort H<strong>und</strong>e besteht aus zwei Morphemen; das eine<br />
bezeichnet eine bekannte haarige Gegebenheit, <strong>und</strong> das zweite<br />
gibt an, dass es sich um mehr als ein Exemplar davon handelt.<br />
Der zweite Schritt be<strong>im</strong> Spracherwerb ist somit die semantische<br />
Entwicklung, bei der das System gelernt wird, mit dem man in<br />
einer Sprache Bedeutungen ausdrückt, einschließlich des Lernens<br />
der Wörter.<br />
Morpheme – Die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache, die<br />
aus einem oder mehreren Phonemen zusammengesetzt sind.
200<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
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Semantische Entwicklung – Das Erlernen des Systems, mit dem in einer Sprache<br />
Bedeutung ausgedrückt wird, einschließlich des Erlernens von Wörtern.<br />
Aber selbst wenn man die Bedeutung jedes einzelnen Wortes,<br />
das der Fremde verwendet hatte, gesagt bekäme, würde man die<br />
Äußerung noch <strong>im</strong>mer nicht verstehen, weil die Bedeutung in<br />
allen Sprachen davon abhängt, wie die Wörter zusammengefügt<br />
werden. Um eine Vorstellung beliebiger Komplexität auszudrücken,<br />
fügen wir Wörter zu Sätzen zusammen, aber nur best<strong>im</strong>mte<br />
Kombinationen sind zulässig. Wie Wörter verschiedener Wortklassen<br />
(Nomen, Verben, Adjektive etc.) kombiniert werden dürfen,<br />
ergibt sich aus der Syntax einer Sprache, d. h. aus den Regeln<br />
für erlaubte Wortkombinationen. Zum Beispiel ist <strong>im</strong> Deutschen<br />
die Reihenfolge, in der Wörter in einem Satz vorkommen können,<br />
entscheidend. „Klaus liebt Anna“ bedeutet nicht dasselbe<br />
wie „Anna liebt Klaus“. Während <strong>im</strong> Deutschen <strong>und</strong> beispielsweise<br />
auch <strong>im</strong> Englischen die Wortreihenfolge best<strong>im</strong>mt, welche<br />
Person liebt <strong>und</strong> welche geliebt wird, würde man diesen Sachverhalt<br />
in anderen Sprachen beispielsweise durch die Endungen<br />
von Wörtern oder durch subtile Lautunterschiede vermitteln..<br />
Die dritte Komponente des Spracherwerbs ist die syntaktische<br />
Entwicklung, d. h. das Aneignen der Regeln für die Kombination<br />
der Wörter einer gegebenen Sprache.<br />
Syntax – Die Regeln einer Sprache, die festlegen, wie die Wörter der verschiedenen<br />
Wortklassen (Nomen, Verben, Adjektive etc.) in grammatikalisch korrekten<br />
Sätzen miteinander kombiniert werden können.<br />
Syntaktische Entwicklung – Das Erlernen der Syntax einer Sprache.<br />
Und schließlich würde das vollständige Verstehen der Interaktion<br />
mit dem Fremden auch einiges Wissen über die kulturellen<br />
Regeln erfordern, die bei der Sprachverwendung gelten. In manchen<br />
Gesellschaften wäre es recht bizarr, einen Fremden gleich<br />
anzusprechen, während das in anderen Gesellschaften durchaus<br />
üblich ist. Um zu verstehen, was ein Sprecher wirklich kommunizieren<br />
will, muss man über die Wortebene hinausgehen <strong>und</strong><br />
gleichsam zwischen den Zeilen lesen können, sodass man in der<br />
Konversation Faktoren wie den Kontext oder die emotionale<br />
Tonlage des Sprechers einbeziehen kann. Der Erwerb des Wissens<br />
darüber, wie Sprache typischerweise verwendet wird, gehört<br />
zur pragmatischen Entwicklung.<br />
Pragmatische Entwicklung – Der Erwerb des Wissens darüber, wie Sprache<br />
verwendet wird.<br />
..<br />
In diesem Alltagsgespräch generieren die kleinen Jungen vollständig<br />
neue Sätze, die bei Fünfjährigen in Hinblick auf Phonologie, Semantik <strong>und</strong><br />
Syntax ihrer Muttersprache korrekt sind. Und indem sie den Inhalt dessen<br />
berücksichtigen, was ihr Gesprächspartner äußert, ziehen sie angemessene<br />
pragmatische Schlussfolgerungen. (© ella/fotolia.com)<br />
Unser Beispiel der Verwirrung, die wir erleben, wenn wir jemandem<br />
zuhören, dessen Sprache wir nicht kennen, konnte dazu<br />
dienen, die Komponenten des Sprachgebrauchs zu skizzieren.<br />
Aber wenn wir als Erwachsene jemanden in einer unbekannten<br />
Sprache reden hören, wissen wir bereits, was Sprache ist. Und<br />
wir wissen, dass die Laute, die die Person äußert, Wörter bilden,<br />
dass die Wörter zu Sätzen kombiniert sind, dass nur best<strong>im</strong>mte<br />
Kombinationen grammatikalisch akzeptabel sind, <strong>und</strong> so weiter.<br />
Mit anderen Worten, Erwachsene verfügen – <strong>im</strong> Unterschied zu<br />
jungen Sprachenlernern – über ein beträchtliches metasprachliches<br />
Wissen, d. h. Wissen über Sprache, einschließlich ihrer<br />
Eigenschaften <strong>und</strong> ihrer Verwendung.<br />
Metasprachliches Wissen – Das Verstehen der Eigenschaften <strong>und</strong> Funktionen<br />
von Sprache, also das reflektierte Verstehen von Sprache als Sprache.<br />
Das Lernen, Sprache zu verstehen <strong>und</strong> zu produzieren, umfasst<br />
also die phonologische, semantische, syntaktische <strong>und</strong> pragmatische<br />
Entwicklung sowie metasprachliches Wissen über<br />
Sprache. Dieselben Faktoren sind auch be<strong>im</strong> Lernen einer Gebärdensprache<br />
beteiligt, wobei hier die Basiselemente Gesten<br />
<strong>und</strong> nicht Laute sind. Es gibt über 200 Gebärdensprachen, zum<br />
Beispiel die deutsche Gebärdensprache, die auf Gesten beruhen,<br />
die sowohl mit den Händen als auch mit der Gesichtsm<strong>im</strong>ik<br />
gebildet werden. Es handelt sich hierbei um voll ausgeprägte<br />
Sprachen, <strong>und</strong> der Verlauf des Erwerbs einer Gebärdensprache<br />
zeigt bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit dem bei gesprochenen<br />
Sprachen.<br />
Voraussetzungen des Spracherwerbs<br />
Was braucht man, um überhaupt in der Lage zu sein, eine Sprache<br />
zu lernen? Eine voll ausgebildete Sprache wird nur von Menschen<br />
erworben, sodass offensichtlich eine Voraussetzung für<br />
den Spracherwerb das menschliche Gehirn ist. Aber ein einzelner<br />
Mensch, der von jeder Erfahrung mit Sprache abgeschnitten
Sprachentwicklung<br />
201 6<br />
wäre, könnte niemals eine Sprache lernen. Entscheidend für eine<br />
erfolgreiche Sprachentwicklung ist das Hören (oder Sehen) von<br />
Sprache.<br />
Ein menschliches Gehirn<br />
Der Schlüssel zur Entwicklung einer voll ausgebildeten Sprache<br />
ist das menschliche Gehirn. Sprache ist ein artspezifisches<br />
Verhalten: Nur Menschen erwerben in ihrem normalen Entwicklungsverlauf<br />
Sprache. Außerdem ist Sprache für die Spezies<br />
Mensch universell: Weltweit erlernen praktisch alle Menschen in<br />
der Kindheit Sprache.<br />
Im Gegensatz zum Menschen entwickelt keine andere Tierart<br />
auf natürliche Weise irgendeine Kompetenz, die der Komplexität<br />
oder Generativität der menschlichen Sprache nahekäme,<br />
auch wenn Tiere durchaus miteinander kommunizieren können.<br />
Zum Beispiel behaupten Vögel ihre territorialen Rechte durch<br />
ihren Gesang (Marler 1970), <strong>und</strong> die Schreie einer in der Savanne<br />
lebenden Affenart geben die Anwesenheit eines Raubtieres zu<br />
erkennen <strong>und</strong> zeigen an, ob es sich dabei um einen Falken oder<br />
eine Schlange handelt (Seyfarth <strong>und</strong> Cheney 1993).<br />
Forscher erzielten einen gewissen Erfolg dabei, nichtmenschliche<br />
Pr<strong>im</strong>aten darin zu trainieren, komplexe Kommunikationssysteme<br />
zu verwenden. Zu den frühen Anstrengungen<br />
dieser Art gehört ein sehr ambitioniertes Projekt, bei dem ein<br />
äußerst engagiertes Ehepaar einen Sch<strong>im</strong>pansen in ihrer eigenen<br />
Wohnung <strong>und</strong> mit ihren eigenen Kindern aufzog, um zu<br />
sehen, ob der Sch<strong>im</strong>panse mit Namen Vicki sprechen lernen<br />
würde (Hayes <strong>und</strong> Hayes 1951). Vicki lernte zwar einige Wörter<br />
<strong>und</strong> Phrasen verstehen, sie produzierte aber praktisch keine erkennbaren<br />
Wörter. Spätere Forscher versuchten, nichtmenschlichen<br />
Pr<strong>im</strong>aten eine Zeichensprache beizubringen. Washoe, ein<br />
Sch<strong>im</strong>panse, <strong>und</strong> Koko, ein Gorilla, wurden für ihre Fähigkeit<br />
berühmt, mit ihren menschlichen Trainern <strong>und</strong> Pflegern durch<br />
Handzeichen zu kommunizieren (Gardner <strong>und</strong> Gardner 1969;<br />
Patterson <strong>und</strong> Linden 1981). Washoe konnte eine Vielzahl von<br />
Objekten benennen <strong>und</strong> Aufforderungen („more fruit“, „please<br />
tickle“) <strong>und</strong> Kommentare („Washoe sorry“) abgeben. Es besteht<br />
jedoch allgemeine Übereinst<strong>im</strong>mung darin, dass die „Äußerungen“<br />
von Washoe <strong>und</strong> Koko, so eindrucksvoll sie auch waren,<br />
nicht als Sprache gelten können, weil sie wenig Hinweise auf<br />
syntaktische Strukturen enthielten (Terrace et al. 1979; Wallman<br />
1992).<br />
Der erfolgreichste Zeichen-lernende Nichtmensch war<br />
Kanzi, ein großer Bonobo-Affe. Kanzi begann, Zeichen zu lernen,<br />
nachdem er beobachtet hatte, wie seine Mutter mit Forschern<br />
über eine speziell entwickelte Tastatur kommunizierte,<br />
auf der sich zahlreiche Symbole für best<strong>im</strong>mte Objekte <strong>und</strong><br />
Handlungen (wie „geben“, „essen“, „Banane“, „umarmen“ etc.)<br />
befanden (Savage-Rumbaugh et al. 1993). Kanzis Mutter kapierte<br />
es nicht, aber ihr Nachwuchs bekam es mit, <strong>und</strong> <strong>im</strong> Laufe<br />
der Jahre wuchs sein Wortschatz von sechs auf 350 Wörter. Er<br />
entwickelte einiges Geschick darin, die Tastatur zur Beantwortung<br />
von Fragen, für Aufforderungen <strong>und</strong> selbst für eigene Kommentare<br />
zu nutzen. Zudem kombinierte Kanzi oft Zeichen, aber<br />
es ist nicht klar, ob man diese Kombinationen als regelbasierte<br />
Sätze betrachten kann.<br />
..<br />
Kanzi, ein Bonobo, kommuniziert mit seinen Pflegern, indem er ein<br />
speziell entworfenes Set von Symbolen verwendet, die für eine Vielzahl von<br />
Gegenständen, Menschen <strong>und</strong> Handlungen stehen. (© Laurentiu Garofeano/<br />
Barcroft Media/Landov)<br />
Es gibt darüber hinaus einige weitere gut dokumentierte Beispiele<br />
für Nichtpr<strong>im</strong>aten, die lernen konnten, auf gesprochene Sprache<br />
zu antworten. Kaminski et al. (2004) berichteten von einem<br />
Collie-H<strong>und</strong> namens Rico, der mehr als 200 Wörter kannte <strong>und</strong><br />
neue Wörter lernen <strong>und</strong> behalten konnte, indem er dieselben<br />
Prozesse ausnutzte wie menschliche Kleinkinder (wir kommen<br />
auf diese Prozesse noch in diesem Kapitel zurück). Auch der<br />
afrikanische Graupapagei Alex lernte es, elementare Sprache<br />
zu produzieren <strong>und</strong> zu verstehen – wobei seine Kenntnisse <strong>im</strong><br />
Niveau über das Englisch von Kleinkindern nicht hinauskamen<br />
(Pepperberg 2009).<br />
Wie auch <strong>im</strong>mer die Entscheidung ausfällt, in welchem Ausmaß<br />
man Kanzi oder anderen nichtmenschlichen Tieren ein<br />
Sprachvermögen zuerkennt, so werden doch mehrere Dinge<br />
deutlich. Selbst die einfachsten sprachlichen Leistungen stellen<br />
sich erst nach umfangreichem <strong>und</strong> konzentriertem Training<br />
durch Menschen ein, während menschliche Kinder die Gr<strong>und</strong>züge<br />
ihrer Sprache fast ohne explizite Unterweisung erwerben.<br />
Und selbst wenn diese nichtmenschlichen Zeichengeber Symbole<br />
zur Kommunikation kombinieren, gibt es in ihren Äußerungen<br />
kaum Hinweise auf eine syntaktische Struktur, wie sie als definierendes<br />
Merkmal von Sprache gelten kann (Tomasello 1994).<br />
Kurzum, nur das menschliche Gehirn erreicht ein Kommunikationssystem,<br />
das die Komplexität, Struktur <strong>und</strong> Generativität
202<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
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von Sprache aufweist. Umgekehrt sind wir Menschen notorisch<br />
schlecht be<strong>im</strong> Lernen der Kommunikationssysteme von Tieren<br />
(wenn wir einmal von Harry Potters Fähigkeiten bei der Schlangensprache<br />
Parsel absehen). Es gibt <strong>im</strong> Hinblick auf die Kommunikationssysteme<br />
keine gute Passung zwischen den Gehirnen<br />
von Tier <strong>und</strong> Mensch.<br />
Beziehungen zwischen Sprache <strong>und</strong> Gehirn<br />
In umfangreichen Forschungen wurden die Beziehungen zwischen<br />
Sprache <strong>und</strong> Gehirn untersucht. Man weiß heute, dass<br />
die Sprachverarbeitung in beträchtlichem Ausmaß funktional<br />
<strong>im</strong> Gehirn lokalisiert ist. Auf der allgemeinsten Ebene gibt es<br />
Hemisphärenunterschiede bei den Sprachfunktionen, die wir in<br />
gewissem Umfang bereits in ▶ Kap. 3 bei der funktionalen Lateralisierung<br />
behandelt haben. Bei 90 % der Rechtshänder ist Sprache<br />
vorwiegend in der linken Hemisphäre des cerebralen Cortex<br />
repräsentiert <strong>und</strong> wird von dort gesteuert.<br />
Die Spezialisierung der linken Hemisphäre scheint sich sehr<br />
früh in der Entwicklung auszubilden. Wie Untersuchungen mit<br />
bildgebenden Verfahren gezeigt haben, ist sowohl bei Neugeborenen<br />
als auch bei drei Monate alten Kindern be<strong>im</strong> Hören von<br />
normal gesprochener Sprache die elektrische Aktivität in der<br />
linken Gehirnhälfte erhöht gegenüber der Aktivität, die dort bei<br />
rückwärts gesprochener Sprache oder Ruhe zu verzeichnen ist<br />
(Bortfeld et al. 2009; Dehaene-Lambertz et al. 2002; Pena et al.<br />
2003). Darüber hinaus ergaben EEG-Studien, dass Kleinkinder<br />
eine stärkere linkshemisphärische Aktivität zeigen, wenn sie gesprochene<br />
Sprache hören, aber auf nichtsprachliche Geräusche<br />
mit stärkerer rechtshemisphärischer Aktivität reagieren (Molfese<br />
<strong>und</strong> Betz 1988). Eine Ausnahme von diesem Lateralisierungsmuster<br />
ist bei der Tonhöhe, in der gesprochen wird, zu verzeichnen:<br />
Hier ist bei Kindern wie Erwachsenen eher die rechte Hirnhemisphäre<br />
beteiligt (Homae et al. 2006).<br />
Auch wenn klar ist, dass von Geburt an vor allem die linke<br />
Hirnhemisphäre für die Sprachverarbeitung zuständig ist, bleibt<br />
die Frage ungeklärt, warum das so ist. Ein möglicher Gr<strong>und</strong><br />
könnte darin liegen, dass diese Hemisphäre für die Verarbeitung<br />
gesprochener Sprache prädisponiert ist, nicht aber für andere<br />
auditive St<strong>im</strong>ulation. Eine andere Möglichkeit wäre, dass die<br />
Sprache wegen ihrer akustischen Merkmale in der linken Hemisphäre<br />
lokalisiert ist. So betrachtet wäre der auditive Cortex der<br />
linken Hemisphäre darauf abgest<strong>im</strong>mt, kleine Unterschiede <strong>im</strong><br />
Zeitablauf der Reize zu entdecken, während die rechte Gehirnhälfte<br />
auf Unterschiede in der Tonhöhe abgest<strong>im</strong>mt wäre (z. B.<br />
Zatorre et al. 1992; Zatorre <strong>und</strong> Belin 2001; Zatorre et al. 2002).<br />
Da Sprache mit kleinen Differenzen in der Tonhöhe einsetzt (wie<br />
wir unten <strong>im</strong> Zusammenhang mit der kategorialen Wahrnehmung<br />
von sprachlichen Lauten sehen werden), scheint die linke<br />
Hirnhälfte auf natürliche Weise für die Sprachverarbeitung besonders<br />
geeignet zu sein.<br />
Eine kritische Phase für die Sprachentwicklung<br />
Wenn Sie sich Ihre Klassenkameraden vor Augen halten,<br />
während sie eine Fremdsprache gelernt haben, so werden Sie<br />
Folgendes feststellen: Diejenigen, die erst <strong>im</strong> <strong>Jugendalter</strong> mit<br />
dem Erlernen der Fremdsprache begannen, werden darin eine<br />
schwierigere Aufgabe sehen als Klassenkameraden, die die<br />
Fremdsprache bereits in der frühen Kindheit zu lernen begannen.<br />
Es gibt zahlreiche Hinweisen darauf, dass die frühen<br />
Lebensjahre eine kritische Phase für den Spracherwerb darstellen,<br />
in der sich Sprache leicht entwickelt. Nach dieser Phase<br />
(irgendwann zwischen fünf Jahren <strong>und</strong> der Pubertät) wird ist<br />
der Spracherwerb viel schwerer möglich <strong>und</strong> letztlich auch weniger<br />
erfolgreich.<br />
Kritische Phase für den Spracherwerb – Die Zeitspanne zwischen dem fünften<br />
Lebensjahr <strong>und</strong> der Pubertät, in der Sprache leicht erlernt wird <strong>und</strong> nach<br />
deren Verstreichen der Spracherwerb wesentlich schwieriger <strong>und</strong> letztlich weniger<br />
erfolgreich ist.<br />
Für diese Annahme sprechen mehrere Berichte über Kinder,<br />
denen es nicht gelang, Sprache zu entwickeln, nachdem ihnen<br />
ein früher sprachlicher Input fehlte. Zu den bekanntesten Fällen<br />
gehören das „Wolfskind“ Viktor, der von seinen Eltern wohl<br />
ausgesetzt worden war <strong>und</strong> viele Jahre lang in den Wäldern in<br />
der Nähe von Aveyron in Frankreich gelebt hatte <strong>und</strong> <strong>im</strong> Jahre<br />
1800 entdeckt wurde, sowie das Mädchen, Genie, die 1970 in Los<br />
Angeles in den USA gef<strong>und</strong>en wurde. Ab etwa 18 Monaten bis zu<br />
ihrer Rettung mit 13 Jahren hatten Genies Eltern sie allein in einem<br />
Z<strong>im</strong>mer eingeschlossen, wo sie Tag <strong>und</strong> Nacht angeb<strong>und</strong>en<br />
war. Niemand sprach zu ihr während ihrer Gefangenschaft; wenn<br />
ihr Vater ihr etwas zu essen brachte, knurrte er sie an wie ein<br />
Tier. Zum Zeitpunkt ihrer Rettung war Genie körperlich, motorisch<br />
<strong>und</strong> emotional völlig unterentwickelt, <strong>und</strong> sie konnte kaum<br />
sprechen. Mit intensivem Training machte sie einige Fortschritte,<br />
aber ihre Sprachfähigkeit entwickelte sich nicht über die eines<br />
Kleinkindes hinaus: „Father take piece wood. Hit. Cry.“ (Curtiss<br />
1977, 1989; Rymer 1993).<br />
Sprechen die außergewöhnlichen Fälle dieser beiden Kinder<br />
für die Hypothese der kritischen Phase? Möglicherweise ja, aber<br />
man kann sich nicht wirklich sicher sein. Es könnte auch sein,<br />
dass Viktor schon von Kindheit an zurückgeblieben war <strong>und</strong> dass<br />
er eben deshalb ausgesetzt wurde. Die Tatsache, dass Genie keine<br />
Sprache entwickelt hat, könnte aus der bizarren <strong>und</strong> unmenschlichen<br />
Behandlung, die sie erleiden musste, genauso gut resultieren<br />
wie aus der kommunikativen Deprivation.<br />
Aus ganz anderen Bereichen der Forschung kommen weit<br />
aussagekräftigere Belege für die Existenz der kritischen Phase.<br />
In ▶ Kap. 3 wurde bereits berichtet, dass Erwachsene, die sich<br />
eindeutig jenseits der kritischen Phase befinden, nach einer Gehirnschädigung<br />
mit größerer Wahrscheinlichkeit unter einer<br />
permanenten sprachlichen Beeinträchtigung leiden als Kinder<br />
– vermutlich weil andere Bereiche des jungen, nicht aber des älteren<br />
Gehirns in der Lage sind, die Sprachfunktionen der lädierten<br />
Bereiche zu übernehmen (Johnson 1998). (Die Rolle des Zeitverlaufs<br />
bei den langfristigen Auswirkungen von Hirnschädigungen<br />
wurde in ▶ Kap. 3 <strong>im</strong> Zusammenhang mit kritischen Phasen eingehend<br />
behandelt.) Außerdem nutzen Erwachsenen, die vor der<br />
Pubertät eine Zweitsprache erlernten, andere Mechanismen bei<br />
der Verarbeitung dieser Sprache als Erwachsene, die die fremde<br />
Sprache erst nach der Pubertät erwarben (z. B. K<strong>im</strong> et al. 1997;<br />
Pakulak <strong>und</strong> Neville 2011). Diese Bef<strong>und</strong>e zeigen, dass die neuronalen<br />
Verschaltungen, die den Spracherwerb unterstützen, in<br />
jungen Jahren anders (<strong>und</strong> besser) funktionieren.
Sprachentwicklung<br />
203 6<br />
In einer sehr wichtigen Untersuchung testeten Johnson <strong>und</strong><br />
Newport (1989) die Englischkenntnisse von japanischen <strong>und</strong> koreanischen<br />
Emigranten, die in die USA gekommen waren <strong>und</strong><br />
dort als Kinder oder als Erwachsene damit begannen, Englisch<br />
zu lernen. Die in . Abb. 6.1 dargestellten Ergebnisse lassen erkennen,<br />
dass die Kenntnisse über die Feinheiten der englischen<br />
Grammatik mit dem Alter zusammenhängen, in dem diese Personen<br />
begannen, Englisch zu lernen, aber nicht damit, wie lange<br />
sie mit der Sprache bereits konfrontiert waren (d. h., wie lange<br />
sie bereits in Amerika waren). Die besten Leistungen erbrachten<br />
diejenigen, die <strong>im</strong> Alter von weniger als sieben Jahren mit dem<br />
Englischlernen begonnen hatten.<br />
Ein ähnliches Ergebnismuster wurde für das Erlernen der<br />
Erstsprache bei Gehörlosen beschrieben: Auch die Leistungsfähigkeit<br />
gehörloser Erwachsener in der Gebärdensprache American<br />
Sign Language (ASL) erwies sich als abhängig vom Alter<br />
des Erstspracherwerbs – je früher sie begonnen hatten, desto<br />
versierter waren sie als Erwachsene (Newport 1990). Johnson<br />
<strong>und</strong> Newport beobachteten außerdem große Unterschiede zwischen<br />
den späten Lernern, die eine zweite Sprache oder eine Gebärdensprache<br />
als Erstsprache während oder nach der Pubertät<br />
erwarben. Wie wir es in unserem Beispiel der Klassenkameraden<br />
mit ihren unterschiedlichen Sprachfertigkeiten vermutet hatten,<br />
erreichten einige der untersuchten Erwachsenen fast die gleichen<br />
Fertigkeiten wie Muttersprachler, während andere die später gelernte<br />
Sprache nur schlecht beherrschten.<br />
Newport (1990) hat versucht zu erklären, warum Kinder <strong>im</strong><br />
Allgemeinen bessere Sprachenlerner sind als Erwachsene. Nach<br />
ihrem Weniger-ist-mehr-Ansatz bedingen wahrnehmungs- <strong>und</strong><br />
gedächtnisbezogene Beschränkungen, dass jüngere Kinder kleinere<br />
Portionen von der Sprache, die sie hören, entnehmen <strong>und</strong><br />
speichern können als Erwachsene. Da es weitaus einfacher ist, die<br />
zugr<strong>und</strong>e liegende Struktur einer Sprache anhand kürzerer als<br />
anhand längerer Phrasen zu erkennen, könnten jüngere Kindern<br />
be<strong>im</strong> Spracherwerb also sogar von ihren begrenzten kognitiven<br />
Fähigkeiten profitieren.<br />
Die Belege zugunsten einer kritischen Phase des Spracherwerbs<br />
bringen einige sehr deutliche praktische Implikationen mit<br />
sich. Zum einen lässt sich ableiten, dass man gehörlose Kinder<br />
so früh wie möglich mit einer Gebärdensprache vertraut machen<br />
sollte. Zum anderen sollte das schulische Training von Fremdsprachen<br />
schon in den ersten Klassen beginnen (dies wird in<br />
▶ Exkurs 6.1 diskutiert), denn wenn die Schüler in die weiterführenden<br />
Schulen kommen, ist ihre Fähigkeit zum Erlernen einer<br />
Sprache bereits rückläufig.<br />
Eine menschliche Umwelt<br />
Um eine Sprache zu entwickeln, genügt es nicht, ein menschliches<br />
Gehirn zu besitzen. Kinder müssen auch mit anderen Menschen<br />
in Kontakt kommen <strong>und</strong> die Sprache verwenden – gleich<br />
ob gesprochene oder gebärdete Sprache. Die angemessene Erfahrung,<br />
andere sprechen zu hören, ist in der Umgebung von<br />
fast allen Kindern auf der Welt leicht verfügbar Häufig werden<br />
Kinder <strong>im</strong> Kontext täglicher Routinen angesprochen – während<br />
tausendfach wiederholter Routinen wie Essen, Windeln wechseln,<br />
Baden <strong>und</strong> Zubettgehen sowie in zahllosen Spielen wie<br />
Guck-guck oder Hoppe-hoppe-Reiter.<br />
..<br />
Abb. 6.1 Die Annahme einer kritischen Phase des Spracherwerbs <strong>im</strong> Test.<br />
Untersucht wurden Einwanderer aus Korea <strong>und</strong> China auf ihre Kenntnisse der<br />
englischen Grammatik; die Leistung hing direkt mit dem Alter zusammen, in<br />
dem sie in die Vereinigten Staaten gekommen <strong>und</strong> erstmals mit der englischen<br />
Sprache konfrontiert waren. Die Testergebnisse von Erwachsenen, die vor dem<br />
siebten Lebensjahr eingewandert waren, unterschieden sich nicht von denen<br />
muttersprachlicher Amerikaner. (Nach Johnson <strong>und</strong> Newport 1989)<br />
Säuglinge identifizieren gesprochene Sprache offensichtlich<br />
sehr früh als etwas Wichtiges: Bereits Neugeborene schenken<br />
Sprachlauten länger Aufmerksamkeit als anderen Geräuschen<br />
(Vouloumanos et al. 2010). Interessanterweise bevorzugen sie<br />
auch Laute nichtmenschlicher Pr<strong>im</strong>aten (Rhesusaffen) gegenüber<br />
nichtsprachlichen Geräuschen <strong>und</strong> zeigen erst ab einem Alter<br />
von drei Monaten eindeutige Präferenzen für gesprochene Sprache<br />
gegenüber den Lauten der Rhesusaffen (Vouloumanos et al.<br />
2010). Diese Ergebnisse zeigen, dass die auditiven Präferenzen<br />
von Säuglingen durch Erfahrungen mit menschlicher Sprache<br />
in den ersten Lebensmonaten feinjustiert werden.<br />
Kindzentrierte Sprache<br />
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen <strong>im</strong> Bus, <strong>und</strong> hinter Ihnen spricht<br />
jemand zu einer anderen Person. Könnten Sie erraten, ob diese<br />
Person zu einem kleinen Kind oder zu einem Erwachsenen spricht?<br />
Zweifellos könnten Sie das wie jeder andere auch, selbst wenn Sie<br />
in einem anderen Land wären, dessen Sprache Sie selbst nicht sprechen.<br />
Der Gr<strong>und</strong> dafür liegt darin, dass in praktisch allen Gesellschaften<br />
Erwachsene eine besondere Art des Sprechens annehmen,<br />
wenn sie zu Babys <strong>und</strong> sehr kleinen Kindern sprechen. Diese spezielle<br />
Art des Sprechens wurde ursprünglich als Ammensprache,<br />
Babytalk oder auch Mutterisch (Motherese) bezeichnet (Newport<br />
et al. 1977); der heutige Begriff Kindzentrierte Sprache (infantdirected<br />
talk, IDT) trägt dem Umstand Rechnung, dass dieser spezielle<br />
Sprachstil nicht ausschließlich von Ammen beziehungsweise<br />
Müttern verwendet wird. Tatsächlich reden sogar schon jüngere<br />
Kinder so, wenn sie Babys ansprechen (Shatz <strong>und</strong> Gelman 1973).<br />
Kindzentrierte Sprache (infant-directed talk, IDT) – Der besondere Sprachmodus,<br />
den Erwachsene annehmen, wenn sie zu Babys <strong>und</strong> Kleinkindern sprechen.
204<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
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Exkurs 6.1: Anwendungen: Zwei Sprachen sind besser als eine | |<br />
Das Thema Bilingualismus, die Fähigkeit, zwei<br />
Sprachen zu verwenden, erhielt in den vergangenen<br />
Jahren sehr viel Aufmerksamkeit, weil<br />
<strong>im</strong>mer mehr Kinder zweisprachig aufwachsen.<br />
Fast die Hälfte aller Kinder weltweit ist regelmäßig<br />
mit mehr als einer Sprache konfrontiert,<br />
<strong>und</strong> manche Kinder beginnen schon sehr früh<br />
in ihrem Leben, zwei Sprachen zu lernen, oft<br />
weil ihre Eltern oder andere Familienmitglieder<br />
verschiedene Sprachen sprechen. Ungeachtet<br />
der Tatsache, dass bilinguale Kinder<br />
sprachlich doppelt so viel lernen müssen wie<br />
monolinguale, bringen sie die Sprachen bemerkenswert<br />
wenig durcheinander <strong>und</strong> zeigen<br />
kaum eine Verzögerung in der Sprachentwicklung.<br />
Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass<br />
bilinguales Aufwachsen auch einige kognitive<br />
Funktionen in der Kindheit <strong>und</strong> darüber hinaus<br />
verbessert. Bilinguales Lernen kann schon<br />
<strong>im</strong> Mutterleib beginnen. Neugeborene, die<br />
pränatal nur einer Muttersprache ausgesetzt<br />
waren, bevorzugen diese Sprache gegenüber<br />
allen anderen Sprachen. Und Neugeborene,<br />
deren Mütter während der Schwangerschaft in<br />
zwei Sprachen redeten, zeigten jeweils gleiche<br />
Präferenzen für diese beiden Sprachen (Byers-<br />
Heinlein et al. 2010). Bilinguale Kinder lernen<br />
ungefähr <strong>im</strong> gleichen Entwicklungstempo,<br />
die Sprachlaute in ihren beiden Sprachen<br />
zu unterscheiden, in dem es monolinguale<br />
Kinder bei ihrer einzigen Sprache tun (z. B.<br />
Albareda-Castellot et al. 2011; S<strong>und</strong>ara et al.<br />
2008). Wie kann das sein, obwohl bilinguale<br />
Kinder doppelt so viel zu lernen haben? Eine<br />
Möglichkeit wäre, dass bilinguale Kinder <strong>im</strong><br />
Vergleich zu monolingualen Kindern den<br />
sprachlichen Hinweisen ein relativ hohes Maß<br />
an Aufmerksamkeit schenken. Beispielsweise<br />
können sie die rein visuelle Information (etwa<br />
eines lautlos sprechenden Gesichts) besser<br />
nutzen als monolinguale Kinder, um zwischen<br />
unbekannten Sprachen zu unterscheiden<br />
(Sebastián-Gallés et al. 2012).<br />
Bilingualismus – Die Fähigkeit, zwei Sprachen<br />
zu sprechen.<br />
Kinder, die zwei Sprachen erwerben, scheinen<br />
diese meist nicht durcheinanderzubringen;<br />
tatsächlich sieht es so aus, als ob sie zwei<br />
getrennte sprachliche Systeme aufbauen. Sie<br />
nutzen nicht fälschlicherweise das phonologische<br />
System der einen Sprache, um Wörter der<br />
anderen Sprache auszusprechen. Zwar mag es<br />
vorkommen, dass ein Wort aus der einen Sprache<br />
gelegentlich in einen Satz der anderen<br />
Sprache hineingerät, doch halten Kinder die<br />
grammatischen Regeln der beiden Sprachen<br />
getrennt (z. B. Deuchar <strong>und</strong> Quay 1999; Paradis<br />
et al. 2000).<br />
Kinder, die sich zweisprachig entwickeln, bleiben<br />
am Anfang vielleicht in beiden Sprachen<br />
ein wenig zurück, weil ihr Wortschatz sich<br />
auf zwei Sprachen aufteilt (Oller <strong>und</strong> Pearson<br />
2002). So kann es sein, dass ein bilinguales<br />
Kind weiß, wie es ein Konzept in einer seiner<br />
Sprachen ausdrücken kann, ohne dies auch in<br />
seiner zweiten Sprache zu können. Jedoch sind<br />
sowohl der Verlauf als auch die Geschwindigkeit<br />
der Entwicklung bei bilingualen <strong>und</strong> monolingualen<br />
Kindern <strong>im</strong> Allgemeinen sehr ähnlich<br />
(Genesee <strong>und</strong> Nicoladis 2009). Und der Bilingualismus<br />
bringt, wie bereits erwähnt, kognitive<br />
Vorteile mit sich: Kinder, die in zwei Sprachen<br />
kompetent sind, schneiden bei einer Vielzahl<br />
von kognitiven Tests zu exekutiven Funktionen<br />
<strong>und</strong> zur kognitiven Kontrolle besser ab als<br />
monolinguale Kinder (Bialystok <strong>und</strong> Craik 2010;<br />
Costa et al. 2008). Neuere Bef<strong>und</strong>e bestätigen<br />
ähnliche Effekte bei bilingualen Kleinkindern<br />
(Poulin-Dubois et al. 2011). Selbst bilinguale<br />
Säuglinge scheinen bei Lernaufgaben bereits<br />
eine größere kognitive Flexibilität zu zeigen<br />
(Kovács <strong>und</strong> Mehler 2009a, 2009b). Der Zusammenhang<br />
zwischen Bilingualität <strong>und</strong> kognitiver<br />
Flexibilität ergibt sich wahrscheinlich aus der<br />
Tatsache, dass bilinguale Kinder sehr früh<br />
lernen müssen, von einer Sprache in die andere<br />
umzuschalten, <strong>und</strong> zwar be<strong>im</strong> Sprachverstehen<br />
ebenso wie bei der Sprachproduktion.<br />
Größere Schwierigkeiten treten hinsichtlich<br />
des formalen Erwerbs einer Zweitsprache<br />
später in der Schule auf. In einigen Ländern<br />
mit verschiedenen Landessprachen wie Kanada<br />
wird ein bilingualer Unterricht begrüßt,<br />
während andere Länder wie die Vereinigten<br />
Staaten dies nicht tun. Die Debatte um Bilingualismus<br />
<strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer hängt dabei mit<br />
vielen politischen, ethnischen <strong>und</strong> kulturellen<br />
Einflüssen zusammen. Eine Seite dieser Diskussion<br />
spricht sich für die totale Integration<br />
aus, bei der mit Kindern ausschließlich die<br />
Landessprache gesprochen wird <strong>und</strong> sie auch<br />
ausschließlich in dieser Sprache unterrichtet<br />
werden, wobei das Ziel darin besteht, ihre<br />
Sprachkenntnisse so schnell wie möglich zu<br />
verbessern. Die andere Seite empfiehlt, den<br />
Kindern fachliche Gr<strong>und</strong>kenntnisse zunächst<br />
in ihrer Muttersprache zu vermitteln <strong>und</strong> den<br />
Anteil des Unterrichts, der in der jeweiligen<br />
Landessprache erfolgt, erst nach <strong>und</strong> nach zu<br />
steigern (Castro et al. 2011).<br />
Für die zweite Sichtweise sprechen Belege,<br />
die zeigen, dass (1) es Kindern oft nicht gelingt,<br />
fachliche Gr<strong>und</strong>kenntnisse zu erwerben,<br />
wenn diese in einer Sprache vermittelt werden,<br />
die sie nicht vollständig verstehen, <strong>und</strong><br />
dass (2) bei einer Integration beider Sprachen<br />
<strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer die Kinder die Zweitsprache<br />
leichter lernen, sich aktiver beteiligen<br />
<strong>und</strong> weniger frustriert <strong>und</strong> gelangweilt sind<br />
(August <strong>und</strong> Hakuta 1998; Crawford 1997;<br />
Hakuta 1999). Dieser Ansatz trägt auch dazu<br />
bei, einem Semilingualismus vorzubeugen –<br />
einer unvollständigen Beherrschung beider<br />
Sprachen. Das kann passieren, wenn die Kinder<br />
ihre ursprüngliche Sprache mit der Zeit<br />
<strong>im</strong>mer weniger beherrschen, weil sie in der<br />
Schule in einer zweiten Sprache unterrichtet<br />
werden.<br />
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..<br />
Die an Kinder gerichtete Sprache weckt die Aufmerksamkeit eines Babys<br />
<strong>und</strong> erhält sie aufrecht. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Die vielleicht auffälligste Eigenschaft Kindzentrierte Sprache<br />
ist der emotionale Tonfall. Darwin (1877) nannte sie „die<br />
süße Musik der Spezies“, eine von Zuneigung durchflutete<br />
Sprache. Eine weitere erkennbare Eigenschaft der an Kinder<br />
gerichteten Sprache ist die Übertreibung. Menschen sprechen<br />
mit Babys mit einer viel höheren St<strong>im</strong>me, als sie dies jemals<br />
gegenüber einem Erwachsenen tun würden (ausgenommen<br />
vielleicht gegenüber einem geliebten Menschen), <strong>und</strong> ihr Intonationsmuster<br />
weist extreme Schwankungen auf <strong>und</strong> stürzt<br />
abrupt von sehr hohen Tönen zu sehr niedrigen Tönen. Auch<br />
werden die Vokale deutlicher artikuliert (Kuhl et al. 1997).<br />
Dieser ganze übertriebene Sprachgebrauch geht mit ebenso<br />
übertriebenen Gesichtsausdrücken einher. Viele dieser Kennzeichen<br />
wurden bei Erwachsenen bemerkt, die ganz unterschiedliche<br />
Sprachen sprechen, beispielsweise Arabisch, Französisch,<br />
Italienisch, Japanisch, Mandarin <strong>und</strong> Spanisch (vgl.
Sprachentwicklung<br />
205 6<br />
de Boysson-Bardies 1996/1999). Dasselbe gilt für gehörlose<br />
Mütter be<strong>im</strong> Gebärden gegenüber ihren Säuglingen (Masataka<br />
1992).<br />
Auch wenn der vorherrschende emotionale Tonfall der kindzentrierte<br />
Sprache warm <strong>und</strong> liebevoll ist, variieren die Eltern<br />
älterer Kinder ihren emotionalen Ton, um wichtige Information<br />
zu vermitteln. Zum Beispiel zeigt ein mit scharf fallender Intonation<br />
geäußertes Wort dem Baby deutlich, dass sein Gegenüber<br />
etwas missbilligt, während eine gurrende St<strong>im</strong>mlage Zust<strong>im</strong>mung<br />
erkennen lässt. Dieselben Intonationsmuster werden in<br />
ganz unterschiedlichen Sprachgemeinschaften angewandt, um<br />
Zust<strong>im</strong>mung <strong>und</strong> Missbilligung zu signalisieren, vom Englischen<br />
über das Italienische bis zum Japanischen (Fernald et al.<br />
1989). Erstaunlicherweise reagieren Säuglinge auch dann auf<br />
diese Intonationsmuster mit einem jeweils dazu passenden Gesichtsausdruck,<br />
wenn ihnen die gehörte Sprache nicht vertraut<br />
ist (Fernald 1993).<br />
Kindzentrierte Sprache scheint zudem die Sprachentwicklung<br />
der Kinder zu fördern. Zunächst einmal lenkt sie<br />
die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Sprache als solche. So<br />
bevorzugen Kinder die an sie gerichtete Sprache gegenüber<br />
der an Erwachsene gerichteten Sprache (Cooper <strong>und</strong> Aslin<br />
1994; Pegg et al. 1992), <strong>und</strong> zwar selbst dann, wenn eine andere<br />
Sprache als ihrer eigene produziert wird. Beispielsweise<br />
hörten sowohl chinesische als auch amerikanische Säuglinge<br />
länger zu bei einer St<strong>im</strong>maufnahme einer chinesischen Frau,<br />
die Kantonesisch sprach, wenn diese Frau an ein Baby gerichtet<br />
sprach, als wenn dieselbe Frau einen erwachsenen Fre<strong>und</strong><br />
ansprach (Werker et al. 1994). Einige Studien lassen vermuten,<br />
dass die Präferenz der Kinder für speziell an sie gerichtete<br />
Sprache damit zusammenhängt, dass sie fröhlich klingt; wenn<br />
die emotionale St<strong>im</strong>mung des Sprechers unverändert bleibt,<br />
verschwindet die Präferenz für diese Art des Sprechens (Singh<br />
et al. 2002). Kinder lernen Wörter vielleicht auch deshalb besser,<br />
wenn sie <strong>im</strong> Tonfall kindzentrierter Sprache <strong>und</strong> nicht an<br />
Erwachsene gerichteter Sprache ausgesprochen werden, weil<br />
sie kindzentrierter Sprache insgesamt mehr Aufmerksamkeit<br />
schenken (Ma et al. 2011; Singh et al. 2009; Thiessen et al.<br />
2005).<br />
Auch wenn, wie schon erwähnt, die Kindzentrierte Sprache<br />
weltweit sehr häufig auftritt, ist sie doch nicht universell.<br />
Bei den Kwara’ae auf den Salomon-Inseln <strong>im</strong> Südpazifik, den<br />
Kaluli in Neuguinea, den Ifalok in Mikronesien <strong>und</strong> den Kaluli<br />
in Papua-Neuguinea glauben die Erwachsenen, dass den<br />
Kindern jegliche Fähigkeit zum Sprachverstehen fehlt, sodass<br />
es keinen Gr<strong>und</strong> gibt, mit ihnen zu sprechen (Le 2000;<br />
Schieffelin <strong>und</strong> Ochs 1987; Watson-Gegeo <strong>und</strong> Gegeo 1986).<br />
Beispielsweise werden die Kinder der Kaluli so getragen, dass<br />
ihr Gesicht der Umgebung zugewandt ist <strong>und</strong> sie mit anderen<br />
Menschen Blickkontakt aufnehmen können, aber nicht<br />
mit der Person, die sie gerade trägt; <strong>und</strong> wenn sie von älteren<br />
Geschwistern angesprochen werden, antwortet die Mutter für<br />
sie (Schieffelin <strong>und</strong> Ochs 1987). Auf diese Weise nehmen die<br />
Kinder, auch wenn sie noch nicht von ihren Betreuern direkt<br />
angesprochen werden, zumindest passiv am Sprachgeschehen<br />
in ihrer Umgebung teil.<br />
..<br />
In manchen Kulturen sprechen Eltern direkt zu ihren Babys, in anderen<br />
Kulturen nicht. Beinahe überall gebrauchen Erwachsene <strong>und</strong> ältere Kinder<br />
eine Form der „Babysprache“, wenn sie sich an Kleinkinder wenden. (© John<br />
Warburton-Lee/DanitaDel<strong>im</strong>ont.com)<br />
Dass Kinder am Beginn ihres Lebens mit zwei gr<strong>und</strong>legenden<br />
Notwendigkeiten für den Spracherwerb ausgestattet sind, einem<br />
menschlichen Gehirn <strong>und</strong> einer menschlichen Umwelt, ist natürlich<br />
nur der Anfang der Geschichte. Von all den Dingen, die<br />
wir als Menschen lernen, gehört die Sprache zu den komplexesten<br />
Phänomenen – Sprache ist so komplex, dass es bislang nicht<br />
gelungen ist, Computer so zu programmieren, dass sie Sprache<br />
erlernen können. Diese überwältigende Komplexität zeigt sich<br />
auch daran, dass Menschen meist große Schwierigkeiten haben,<br />
nach der Pubertät eine neue Fremdsprache zu lernen. Wie schaffen<br />
es Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder, ihre Muttersprache so erfolgreich<br />
zu erwerben? Wir wenden uns nun den vielen Schritten zu,<br />
die diese bemerkenswerte Lernentwicklung durchläuft.<br />
Der Prozess des Spracherwerbs<br />
Am Erwerb einer Sprache sind sowohl das Zuhören als auch das<br />
Sprechen (bzw. das Zuschauen <strong>und</strong> das Gebärden) beteiligt: Man<br />
muss verstehen, was andere Menschen einem sagen wollen, <strong>und</strong><br />
selbst Verständliches produzieren. Kinder achten von Anfang<br />
an darauf, was andere Menschen sagen oder gebärden, <strong>und</strong> sie<br />
wissen eine ganze Menge über Sprache, lange bevor sie selbst<br />
Sprache produzieren.
206<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
..<br />
Abb. 6.2 Die kategoriale Wahrnehmung<br />
von Sprachlauten bei<br />
Erwachsenen. Wenn Erwachsene<br />
Tonbandaufnahmen künstlicher<br />
Sprachlaute anhören, die allmählich<br />
von einem Laut in einen anderen<br />
übergehen, etwa von /ba/ zu /pa/<br />
oder umgekehrt, dann kippt ihre<br />
Wahrnehmung plötzlich von einem<br />
Laut zum anderen. (Wood 1976)<br />
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St<strong>im</strong>meinsatz VOT (ms)<br />
Sprachwahrnehmung<br />
Der erste Schritt be<strong>im</strong> Erkennen einer Sprache besteht darin, die<br />
Laute der eigenen Muttersprache wahrzunehmen. Wir haben in<br />
▶ Kap. 2 gesehen, dass die Aufgabe des Spracherwerbs schon <strong>im</strong><br />
Mutterleib beginnt, wo der Fetus die Präferenz für die St<strong>im</strong>me<br />
seiner Mutter <strong>und</strong> die Sprache, die sie spricht, entwickelt. Die<br />
Basis für dieses sehr frühe Lernen ist die Prosodie, das heißt die<br />
charakteristischen Muster, mit denen eine Sprache gesprochen<br />
wird: Rhythmus, Tempo, Tonfall, Melodie, Intonation <strong>und</strong> so<br />
weiter. Unterschiede in der Prosodie sind zum großen Teil dafür<br />
verantwortlich, dass Sprachen – vom Japanischen über das Französische<br />
bis zum Suaheli – so unterschiedlich klingen.<br />
Prosodie – Die charakteristischen Muster, mit denen eine Sprache gesprochen<br />
wird: Rhythmus, Tempo, Tonfall, Melodie, Intonation <strong>und</strong> so weiter.<br />
Außer der Prosodie schließt die Sprachwahrnehmung auch die<br />
Unterscheidung zwischen den Sprachlauten ein, die in der jeweiligen<br />
Sprache unterschiedliche Bedeutung haben. Um zum<br />
Beispiel Deutsch zu lernen, muss man zwischen Rippe <strong>und</strong> Lippe,<br />
Bulle <strong>und</strong> Pulle, Deich <strong>und</strong> Teich unterscheiden. Bemerkenswerterweise<br />
müssen Kinder nicht lernen, diese Unterschiede zu<br />
hören; Säuglinge nehmen sprachliche Laute bereits in derselben<br />
Weise wahr wie Erwachsene.<br />
Die kategoriale Wahrnehmung von sprachlichen<br />
Lauten<br />
Sowohl Erwachsene als auch Säuglinge nehmen sprachliche<br />
Laute so wahr, als ob sie diskreten Klassen angehören. Dieses<br />
Phänomen wird kategoriale Wahrnehmung genannt. Es wurde<br />
durch die Untersuchung der Reaktionen auf künstliche Sprachlaute<br />
nachgewiesen. Bei diesen Forschungen wurde ein Sprachsynthesizer<br />
eingesetzt, um einen Sprachlaut, beispielsweise ein<br />
/b/, allmählich <strong>und</strong> kontinuierlich in einen ähnlichen Sprachlaut,<br />
beispielsweise ein /p/, zu verwandeln. Diese beiden Phoneme<br />
befinden sich auf einem akustischen Kontinuum; sie werden in<br />
exakt derselben Weise produziert, mit Ausnahme eines entscheidenden<br />
Unterschieds – der Zeitdauer zwischen dem Freilassen<br />
des Luftstroms durch die Lippen <strong>und</strong> dem Einsetzen der Vibration<br />
der St<strong>im</strong>mbänder. Diese zeitliche Verzögerung nennt man<br />
die St<strong>im</strong>meinsatzzeit (Voice Onset T<strong>im</strong>e, VOT). Sie ist bei einem<br />
/b/ (15 ms) viel kürzer als bei einem /p/ (100 ms). (Versuchen Sie<br />
einmal, mehrmals hintereinander abwechselnd „ba“ <strong>und</strong> „pa“ zu<br />
sagen; Sie werden dann vermutlich erleben, was mit St<strong>im</strong>meinsatzzeitgemeint<br />
ist.)<br />
Kategoriale Wahrnehmung – Im neurologischen System des Menschen verankerte<br />
Tendenz, bei der Wahrnehmung von Reizen, die auf einer kontinuierlichen<br />
D<strong>im</strong>ension variieren, kategorial unterschiedliche Qualitäten wahrzunehmen.<br />
St<strong>im</strong>meinsatzzeit (Voice Onset T<strong>im</strong>e, VOT) – Wichtiger Parameter zur Beschreibung<br />
menschlicher Sprachlaute: Zeitdauer zwischen der Freilassung des<br />
Luftstroms durch die Lippen bis zum Einsetzen der Vibration der St<strong>im</strong>mbänder.<br />
Die Forscher stellten Tonbandaufnahmen her, auf denen künstliche<br />
Sprachlaute auf diesem Kontinuum variieren, sodass sich<br />
jeder Laut vom vorhergehenden ein wenig unterscheidet <strong>und</strong><br />
insgesamt ein /b/ nach <strong>und</strong> nach in ein /p/ übergeht. Erstaunlicherweise<br />
nehmen erwachsene Hörer diesen kontinuierlichen<br />
Übergang zwischen den Lauten jedoch nicht als kontinuierlich<br />
wahr (. Abb. 6.2). Stattdessen hören sie eine mehrfache Wiederholung<br />
von /b/ <strong>und</strong> dann einen abrupten Wechsel zu /p/. Alle<br />
Laute auf diesem Kontinuum mit einer St<strong>im</strong>meinsatzzeit von weniger<br />
als 25 ms werden als /b/ wahrgenommen, <strong>und</strong> alle Laute<br />
mit einer St<strong>im</strong>meinsatzzeit über 25 ms werden als /p/ wahrgenommen.<br />
Erwachsene trennen das kontinuierliche Signal somit<br />
automatisch in zwei diskontinuierliche Kategorien: /b/ <strong>und</strong> /p/.<br />
Diese Wahrnehmung, bei der ein Kontinuum zwei getrennten<br />
Kategorien zugeordnet wird, ist eine nützliche Fähigkeit, weil sie<br />
es ermöglicht, den in einer Sprache bedeutsamen Lautunterschieden<br />
Aufmerksamkeit zuzuwenden, zum Beispiel bei den Lauten<br />
/b/ <strong>und</strong> /p/, <strong>und</strong> dabei unwichtige Unterschiede zu ignorieren,<br />
wie etwa unterschiedliche St<strong>im</strong>meinsatzzeiten von 10 bzw. 20 ms<br />
bei einem /b/.<br />
Kleine Babys treffen bereits dieselben scharfen Unterscheidungen<br />
zwischen Sprachlauten. Dieser bemerkenswerte Sachverhalt<br />
wurde mithilfe der Habituationstechnik nachgewiesen,<br />
die Sie bereits aus den vorangegangenen Kapiteln kennen. In<br />
der ursprünglichen, klassischen Untersuchung saugten ein <strong>und</strong><br />
vier Monate alte Säuglinge an einem Schnuller, der mit einem<br />
Computer verb<strong>und</strong>en war (E<strong>im</strong>as et al. 1971, eine der 100 am
Sprachentwicklung<br />
207 6<br />
häufigsten zitierten psychologischen Untersuchungen). Das<br />
Saugen führte dazu, dass ihnen sprachliche Laute eingespielt<br />
wurden, denen sie zuhören konnten. Nachdem sie denselben<br />
Laut wiederholt gehört hatten, saugten die Babys nach <strong>und</strong> nach<br />
weniger begeistert (Habituation). Dann wurde ein neuer Laut<br />
vorgespielt. Wenn die Saugreaktion der Kinder auf den neuen<br />
Laut hin anstieg, konnte daraus geschlossen werden, dass die<br />
Kinder den neuen Laut von dem alten unterscheiden konnten<br />
(Dishabituation).<br />
Der entscheidende Faktor in dieser Untersuchung war die<br />
Beziehung zwischen den alten <strong>und</strong> den neuen Lauten – insbesondere<br />
kam es darauf an, ob sie aus derselben oder aus unterschiedlichen<br />
Phonemkategorien Erwachsener stammten. Bei einer<br />
Gruppe von Babys gehörte der neue Laut aus einer anderen<br />
Kategorie. Sie hörten nach der Habituation auf eine Reihe von<br />
Lauten, die Erwachsene als /b/ wahrnehmen, bei verstärktem<br />
Saugen nun einen Laut, den Erwachsene als /p/ identifizieren. Bei<br />
der zweiten Gruppe stammte der alte wie der neue Laut aus derselben<br />
Kategorie (d. h., Erwachsene würden beide Laute als /b/<br />
wahrnehmen). In beiden Gruppen unterschieden sich der neue<br />
<strong>und</strong> der alte Laut in den St<strong>im</strong>meinsatzzeiten in gleichem Ausmaß<br />
– ein entscheidender Punkt bei diesem Untersuchungsdesign.<br />
. Abbildung 6.3 zeigt, dass die Säuglinge ihre Saugrate nach<br />
der Habituation auf /b/ erhöhten, wenn der neue Laut aus einer<br />
anderen Phonemklasse stammte (/p/ statt /b/). Die Habituation<br />
setzte sich jedoch fort, wenn der neue Laut in dieselbe Lautklasse<br />
fiel wie der ursprüngliche. Seit der Veröffentlichung dieser klassischen<br />
Untersuchung konnten Forscher nachweisen, dass Säuglinge<br />
genauso wie Erwachsene eine Vielzahl sprachlicher Laute<br />
kategorial wahrnehmen (Aslin et al. 1998).<br />
Ein faszinierendes Ergebnis dieser Forschung ist der Bef<strong>und</strong>,<br />
dass Babys tatsächlich mehr Unterscheidungen treffen als Erwachsene.<br />
Diese ziemlich überraschende Beobachtung hängt damit<br />
zusammen, dass alle Sprachen nur eine Teilmenge der großen<br />
Vielfalt an Phonemklassen verwenden, die es gibt. Wir haben bereits<br />
darauf hingewiesen, dass die Laute /r/ <strong>und</strong> /l/ <strong>im</strong> Deutschen<br />
<strong>und</strong> Englischen, aber nicht <strong>im</strong> Japanischen einen Unterschied<br />
bedeuten. In ähnlicher Weise nehmen Sprecher des Arabischen,<br />
aber nicht des Deutschen, einen Unterschied zwischen dem<br />
/k/-Laut in „Kiemen“ <strong>und</strong> „Kuchen“ wahr. Erwachsene nehmen<br />
einfach die meisten Unterschiede der sprachlichen Laute nicht<br />
wahr, die in ihrer Muttersprache keine Bedeutung besitzen, was<br />
zum Teil erklärt, warum es für Erwachsene so schwierig ist, eine<br />
zweite Sprache zu erlernen.<br />
Im Gegensatz dazu können Kleinkinder phonemische Kontraste<br />
aller Sprachen dieser Welt unterscheiden – über 600 Konsonanten<br />
<strong>und</strong> 200 Vokale. Zum Beispiel zeigen die Forschungen,<br />
dass die Kinder der Kikuyu in Afrika genauso gut wie amerikanische<br />
Kinder sind, wenn es darum geht, englische Phonemkontraste<br />
zu entdecken, die in der Sprache der Kikuyu nicht<br />
vorkommen (Streeter 1976). Untersuchungen an Kleinkindern<br />
aus Englisch sprechenden Familien haben gezeigt, dass sie Unterschiede<br />
entdecken, die nicht <strong>im</strong> Englischen, aber in Sprachen wie<br />
Deutsch <strong>und</strong> Spanisch, aber auch Thai, Hindi <strong>und</strong> Zulu bestehen<br />
(Jusczyk 1997).<br />
Diese Forschungen lassen eine Fähigkeit erkennen, die sowohl<br />
angeboren ist in dem Sinne, dass sie bei der Geburt bereits<br />
Entwicklungsveränderungen<br />
bei der Sprachwahrnehmung<br />
In den letzten Monaten ihres ersten Lebensjahres richten sich<br />
die Kinder zunehmend auf die Laute ihrer Muttersprache ein<br />
<strong>und</strong> haben mit zwölf Monaten die Fähigkeit „verloren“, Sprachlaute<br />
wahrzunehmen, die nicht dazugehören. Anders gesagt, die<br />
Lautwahrnehmung ist jetzt ähnlich wie bei Erwachsenen. Der<br />
ursprüngliche Nachweis dieser Veränderung wurde von Werker<br />
<strong>und</strong> ihren Mitautoren (Werker 1989; Werker <strong>und</strong> Lalonde 1988;<br />
Werker <strong>und</strong> Tees 1984) erbracht, die die Fähigkeit von Kindern<br />
unterschiedlichen Alters zwischen sechs <strong>und</strong> zwölf Monaten testeten,<br />
sprachliche Laute zu unterscheiden. Die Kinder stammten<br />
alle aus Englisch sprechenden Familien <strong>und</strong> wurden mit Lautkontrasten<br />
getestet, die <strong>im</strong> Englischen keine Rolle spielen, aber<br />
in zwei anderen Sprachen wichtig sind – Hindi <strong>und</strong> Nthlakapmx<br />
(einer Sprache, die von nordamerikanischen Indianern <strong>im</strong> Pazifia<br />
b c d<br />
..<br />
Abb. 6.3 Die kategoriale Wahrnehmung von Sprachlauten bei Säuglingen.<br />
Ein <strong>und</strong> vier Monate alte Babys wurden auf eine Tonbandaufnahme mit<br />
künstlichen Lauten habituiert. a Eine Gruppe hörte wiederholt einen /ba/-<br />
Laut mit einer St<strong>im</strong>meinsatzzeit (VOT) von 20 ms <strong>und</strong> habituierte allmählich<br />
darauf. b Wenn sich der Laut /pa/ mit einer Einsatzzeit von 40 ms änderte,<br />
erfolgte eine Dishabituation, was darauf schließen lässt, dass sie den Unterschied<br />
zwischen den beiden Lauten ebenso wahrnahmen wie Erwachsene.<br />
c Eine andere Gruppe wurde auf einen /pa/-Laut mit einer St<strong>im</strong>meinsatzzeit<br />
von 60 ms habituiert. d Wenn sich der Laut zu einem anderen /pa/-Laut mit<br />
einer Einsatzzeit von 80 ms veränderte, blieben die Säuglinge habituiert; das<br />
legt nahe, dass sie ebenso wie Erwachsene keinen Unterschied zwischen<br />
diesen Lauten wahrnahmen. (E<strong>im</strong>as et al. 1971)<br />
vorhanden ist, als auch unabhängig von Erfahrungen, weil Kinder<br />
sprachliche Laute unterscheiden können, die sie zuvor noch<br />
niemals gehört haben. Wahrscheinlich ist diese von Geburt an<br />
vorhandene Fähigkeit zur Unterscheidung sprachlicher Laute für<br />
die Kinder enorm hilfreich, weil sie sie wesentlich darauf vorbereitet,<br />
jede beliebige Sprache auf der Welt, die sie hören, zu<br />
lernen. Die entscheidende Rolle der frühen Sprachwahrnehmung<br />
für den Spracherwerb spiegelt sich in der Beziehung zwischen<br />
den Sprachwahrnehmungsfähigkeiten der Säuglinge <strong>und</strong> ihren<br />
späteren Sprachfähigkeiten wider. Babys, die mit sechs Monaten<br />
Unterschiede zwischen Sprachlauten besser heraushörten als<br />
Gleichaltrige, schnitten mit 13 <strong>und</strong> 24 Monaten besser in einem<br />
Wortschatz- <strong>und</strong> Grammatiktest ab (Tsao et al. 2004).
208<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
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Abb. 6.4 Sprachwahrnehmung. Dieses Kind n<strong>im</strong>mt <strong>im</strong> Labor von Janet Werker an einer Untersuchung zur Sprachwahrnehmung teil. Das Baby hat gelernt,<br />
seinen Kopf in Richtung der Geräuschquelle zu drehen, sobald es be<strong>im</strong> Übergang von einem Laut zum nächsten eine Veränderung hört. Eine korrekte Kopfdrehung<br />
wird mit einer interessanten optischen Darbietung belohnt sowie mit dem Beifall <strong>und</strong> Lob der Versuchsleiterin. Um sicherzustellen, dass weder die<br />
Mutter noch die Versuchsleiterin das Verhalten des <strong>Kindes</strong> beeinflussen, tragen die beiden Erwachsenen Gehörschützer, sodass sie nicht hören können, was<br />
das Baby hört. (Aus: © Werker 1989, S. 59; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung von American Scientist, Journal of Sygma Xi, The Scientific Research Society; Photos<br />
Courtesy of Peter Mcleod, Acadia University)<br />
schen Nordwesten gesprochen wird). Die Forscherinnen verwendeten<br />
dabei ein einfaches Konditionierungsverfahren (. Abb. 6.4).<br />
Die Kinder lernten, dass sie sich einen interessanten Anblick auf<br />
einem Sichtschirm verschaffen konnten, wenn sie ihren Kopf zur<br />
Seite drehten, sobald sie in einer Serie von Lauten, die ihnen<br />
vorgespielt wurde, eine Veränderung hörten. Man schloss also<br />
auf die Fähigkeit zur Unterscheidung sprachlicher Laute, wenn<br />
die Kinder ihren Kopf schnell in die richtige Richtung drehten,<br />
nachdem eine Lautveränderung aufgetreten war.<br />
. Abbildung 6.5 zeigt, dass die Kinder mit sechs bis acht Monaten<br />
die gehörten Laute leicht unterscheiden konnten; sie konnten<br />
zwei Silben auf Hindi gut auseinanderhalten <strong>und</strong> ebenso zwei<br />
Laute in Nthlakapmx unterscheiden. Mit zwölf Monaten hörten<br />
die Kinder jedoch die Unterschiede, die sie ein paar Monate<br />
früher noch entdeckt hatten, nicht mehr. Zwei Silben auf Hindi,<br />
die sie anfangs unterschieden hatten, hörten sie nun als gleich.<br />
Eine ähnliche Veränderung tritt bei Vokalen ein, jedoch schon in<br />
etwas früherem Alter (Kuhl et al. 1992; Polka <strong>und</strong> Werker 1994).<br />
Interessanterweise scheint diese Wahrnehmungsverengung kein<br />
vollständig passiver Prozess zu sein. Kuhl et al. (2003) fanden<br />
heraus, dass die Kinder in direkter Interaktion mit einem chinesischen<br />
Sprecher mehr über die phonetische Struktur des Mandarin<br />
lernten als be<strong>im</strong> Ansehen eines Videos.<br />
Ist dieser Prozess der Wahrnehmungsverengung auf die<br />
Sprache beschränkt? Um diese Frage zu beantworten, wurde<br />
kürzlich untersucht, inwieweit diese Verengung auch bei der<br />
amerikanischen Gebärdensprache (ASL) auftritt (Palmer et al.<br />
2012). Zunächst wurde untersucht, inwieweit Säuglinge, die nie<br />
zuvor Gebärdensprache erlebt hatten, zwischen sehr ähnlichen<br />
ASL-Gebärden mit deutlich unterschiedlichen Handhaltungen<br />
unterscheiden konnten. Wie sich zeigte, können vier Monate alte<br />
Babys tatsächlich den Unterschied zwischen diesen Zeichen der<br />
Gebärdensprache wahrnehmen. Allerdings konnten <strong>im</strong> Alter von<br />
14 Monaten nur noch diejenigen Kinder den Unterschied der<br />
Handzeichen feststellen, die Gebärdensprache lernten – die Kinder,<br />
die nicht mit der Gebärdensprache aufwuchsen, hatten ihre<br />
Diskr<strong>im</strong>inierungsfähigkeit jedoch verloren. Das Phänomen der<br />
Wahrnehmungsverengung betrifft also nicht nur die gesprochene<br />
Sprache. Tatsächlich kann dieser Prozess breite Bereiche<br />
betreffen, wie die Diskussion in ▶ Kap. 5 zur Verengung be<strong>im</strong><br />
Wahrnehmen von Gesichtern bzw. des Rhythmus in der Musik<br />
verdeutlicht.<br />
Kinder beginnen <strong>im</strong> Alter von etwa acht Monaten damit, sich<br />
bei der Unterscheidung der Sprachlaute zu spezialisieren, wobei<br />
sie ihre Sensibilität für Laute ihrer Muttersprache, die sie ständig<br />
in ihrer Umgebung hören, aufrechterhalten, während sie für<br />
nichtmuttersprachliche Laute ihre Sensibilität verlieren. Tatsächlich<br />
gehört es <strong>im</strong> ersten Lebensjahr für ein Kind zu den größten<br />
Leistungen, die Muttersprache wahrzunehmen.<br />
Wahrnehmungsverengung (perceptual narrowing) – Anpassungsprozess an<br />
die jeweilige Umwelt, bei dem nach Beendigung einer sensiblen Lernphase nur<br />
noch best<strong>im</strong>mte bedeutsame Reizqualitäten unterschieden werden.<br />
Wortsegmentierung<br />
Wenn kleine Kinder sich auf die sprachlichen Laute ihrer Muttersprache<br />
einzustellen beginnen, fangen sie auch an, eine andere<br />
gr<strong>und</strong>legende Struktur zu entdecken: die Wörter. Das ist keine<br />
einfache Sache. Anders als bei den gedruckten Wörtern auf dieser<br />
Seite gibt es zwischen gesprochenen (oder gebärdeten) Wörtern<br />
keine Lücken. Das heißt, Babys hören einen ununterbrochenen<br />
Wortstrom wie vielleicht den folgenden: „Wasfüreinhübsches-<br />
Baby.SoeinhübschesKindhabeichjanochniegesehen.“ 1 Sie müs-<br />
1 Die englischen Kunstwörter, die bei den Untersuchungen verwendet wurden,<br />
sind hier durch deutsche Pendants wiedergegeben. Anm. d. Red.
Sprachentwicklung<br />
209 6<br />
..<br />
Abb. 6.5 Prozentsatz von Säuglingen, die fremdsprachliche Sprachlaute<br />
unterscheiden können. Die Fähigkeit von Säuglingen, Sprachlaute einer<br />
anderen als ihrer Muttersprache zu unterscheiden, n<strong>im</strong>mt zwischen dem<br />
sechsten <strong>und</strong> dem zwölften Lebensmonat ab. Die meisten sechs Monate<br />
alten Kinder aus Englisch sprechenden Familien unterscheiden zwischen Silben<br />
in Hindi (blaue Balken) <strong>und</strong> Nthlakapmx (grüne Balken), die meisten zehn<br />
bis zwölf Monate alten Kinder aber nicht. (Nach Werker 1989)<br />
sen erst herausfinden, wo ein Wort beginnt oder endet. Dieser<br />
Prozess der Wortsegmentierung beginnt bei den Kindern in der<br />
zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres.<br />
Wortsegmentierung – Das Erkennen von Anfang <strong>und</strong> Ende eines Wortes <strong>im</strong><br />
Sprachstrom.<br />
Die kindliche Wortsegmentierung wurde erstmals in einer Untersuchung<br />
gezeigt, bei der Jusczyk <strong>und</strong> Aslin (1995) das Kopf-<br />
Dreh-Paradigma anwenden, um die auditiven Präferenzen festzustellen.<br />
Bei dieser Studie hörten sieben Monate alte Kinder<br />
zunächst gesprochene Satzfolgen, in denen ein best<strong>im</strong>mtes Wort<br />
in jedem Satz wiederkehrte wie in der folgenden Textpassage:<br />
„The cup was bright and shiny. A clown drank from the red cup.<br />
His cup was filled with milk.“ („Die Tasse war hell <strong>und</strong> glänzte;<br />
ein Clown trank aus der roten Tasse; seine Tasse war mit Milch<br />
gefüllt.“) Nachdem die Kinder diese Satzfolgen mehrfach gehört<br />
hatten, wurden sie anhand der Präferenz be<strong>im</strong> Kopfdrehen darauf<br />
getestet, ob sie die sich wiederholenden Wörter in den Sätzen<br />
entdecken konnten. Bei diesem Paradigma sind links <strong>und</strong> rechts<br />
von den Kindern Lautsprecher in die Wand eingelassen, in deren<br />
Nähe sich ein Blinklicht befindet, das die Aufmerksamkeit<br />
der Kinder auf die eine oder die andere Seite richtet. Sobald das<br />
Kind sein Gesicht zu einem der Blinklichter hindreht, wird ein<br />
akustischer Reiz durch den Lautsprecher vorgespielt, der so lange<br />
anhält, wie das Baby in diese Richtung blickt. Die Zeitspanne, in<br />
der das Kind das Licht betrachtet – <strong>und</strong> damit auf den Laut hört<br />
–, wird als Maß dafür genommen, wie sehr sich das Kind durch<br />
diesen Laut angezogen fühlt.<br />
Bei dieser Untersuchung wurde die Präferenz für Wörter<br />
getestet, die sich in den zuvor gehörten Satzfolgen wiederholt<br />
hatten, wie cup, oder nicht vorgekommen waren. Es zeigte sich,<br />
dass die Kinder solche Wörter länger anhörten, die wiederholt<br />
in den zuvor präsentierten Satzfolgen vorgekommen waren, als<br />
Wörter, die nie dort aufgetaucht waren. Dieser Bef<strong>und</strong> zeigt, dass<br />
die Kinder einzelne Wörter aus dem Sprachstrom herausziehen<br />
konnten – eine Aufgabe, an der auch hochentwickelte Software<br />
zur Spracherkennung oft scheitert.<br />
Wie können Kinder in einem ununterbrochenen Sprachstrom<br />
Wörter entdecken? Sie scheinen erstaunlich gut darin zu<br />
sein, Regelmäßigkeiten in ihrer Muttersprache aufzugreifen, die<br />
ihnen be<strong>im</strong> Herausfinden der Wortgrenzen weiterhelfen. Zu<br />
diesen Regelmäßigkeiten gehören das Betonungsmuster <strong>und</strong> die<br />
Prosodie. Im Englischen <strong>und</strong> Deutschen liegt bei zweisilbigen<br />
Wörtern die Betonung meist auf der ersten Silbe (wie bei englisch,<br />
öfter, zweitens). Mit acht Monaten erwarten englischsprachige<br />
Kinder betonte Silben zu Beginn eines Wortes <strong>und</strong> können diese<br />
Information nutzen, um Wörter aus dem Sprachstrom herauszuziehen<br />
(Curtin et al. 2005; Johnson <strong>und</strong> Jucszyk 2001; Jusczyk<br />
et al. 1999; Thiessen <strong>und</strong> Saffran 2003).<br />
Eine weitere Regelhaftigkeit, für die die Kinder überraschend<br />
sensibel sind, betrifft die Verteilungscharakteristik in der Sprache,<br />
die sie hören. In jeder Sprache treten best<strong>im</strong>mte Laute mit<br />
größerer Wahrscheinlichkeit zusammen auf als andere. Die Sensibilität<br />
für eine derartige Regelhaftigkeit <strong>im</strong> Sprachstrom wurde<br />
durch eine elegante Reihe von Exper<strong>im</strong>enten zum statistischen<br />
Lernen nachgewiesen, bei der die Babys neue Wörter allein auf<br />
der Basis der Regelhaftigkeit lernten, mit der ein best<strong>im</strong>mter Laut<br />
auf einen anderen folgt (Aslin et al. 1998; Saffran et al. 1996). Die<br />
Säuglinge in dieser Untersuchung hörten 2 min lang ein Band mit<br />
vier verschiedenen dreisilbigen „Wörtern“ (z. B. tupiro, golabu,<br />
bidaku, padoti), die in zufälliger Abfolge ohne Pausen zwischen<br />
den „Wörtern“ wiederholt wurden. Nach einer Reihe von Testdurchgängen<br />
wurden den Babys manchmal die „Wörter“, die sie<br />
gehört hatten, <strong>und</strong> manchmal „Nichtwörter“ vorgespielt – die<br />
gleichen Silben, aber in anderer Kombination über Wortgrenzen<br />
hinweg wie beispielsweise kupadu, das aus dem Ende von bidaku<br />
<strong>und</strong> dem Anfang von padoti besteht.<br />
Verteilungscharakteristik – Das Phänomen, dass in jeder Sprache best<strong>im</strong>mte<br />
Laute mit höherer Wahrscheinlichkeit zusammen auftreten als andere.<br />
Die Kinder achteten bei dieser Untersuchung mit dem bereits<br />
bei der Studie von Jusczyk <strong>und</strong> Aslin (1995) beschriebenen<br />
Kopfdrehen als Indikator für die Präferenz länger auf die neuartigen<br />
„Nichtwörter“. Entsprechend müssen die Babys registriert<br />
haben, dass best<strong>im</strong>mte Silben in dem von ihnen gehörten<br />
Sprachbeispiel häufig zusammen auftraten; sie hörten, dass auf<br />
„bi“ <strong>im</strong>mer „da“ <strong>und</strong> auf „da“ <strong>im</strong>mer „ku“ folgt, dass aber auf<br />
„ku“ drei unterschiedliche Silben folgen können („tu“, „go“ oder<br />
„pa“). Die Kinder nutzen also die sich wiederholenden Sprachmuster,<br />
um Wörter aus dem kontinuierlichen sprachlichen<br />
Strom herauszuhören. Diese Fähigkeit, aus Verteilungsmustern<br />
zu lernen, schließt auch die gewöhnlichen Sprachen ein; so können<br />
englischsprachige Kinder ähnliche statistische Muster in der<br />
italienischen Gebärdensprache (IDS) nachverfolgen (Pelucchi<br />
et al. 2009).
210<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
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11<br />
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20<br />
21<br />
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23<br />
..<br />
Wie schnell könnten Sie aus dem hier gezeigten Sprachstrom ein Wort<br />
heraushören? Acht Monate alte Babys brauchen dafür gerade mal 2 min<br />
Das Entdecken der Regelmäßigkeiten <strong>im</strong> Verteilungsmuster<br />
der Laute unterstützt das Wortlernen. So lernten 17 Monate<br />
alte Säuglinge rasch, in langen Sprachströmen die sich wiederholenden<br />
neuen „Wörter“ wie t<strong>im</strong>ay oder dobu als Bezeichnungen<br />
für Objekte zu erkennen (Graf Estes et al. 2007). Und<br />
auf ähnliche Weise konnten 17 Monate alte Kinder italienische<br />
Wörter wie mela <strong>und</strong> bici aus einem italienischen Sprachstrom<br />
als Bezeichnungen Objekten zuordnen, obwohl sie zuvor nie<br />
Italienisch gehört hatten (Hay et al. 2011). Die Erfahrung mit<br />
Lautfolgen, aus denen sich Wörter zusammensetzen, erleichtert<br />
es offenbar den Kindern, die Wörter mit best<strong>im</strong>mten Referenten<br />
zu verknüpfen.<br />
Die vielleicht hervorstechendste Regelhaftigkeit in dem, was<br />
Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder hören, ist ihr eigener Name. Schon<br />
mit viereinhalb Monaten achten sie in einem Strom von Sprachlauten,<br />
den sie hören, selektiv auf die Laute ihres eigenen Namens<br />
(Mandel et al. 1995). Wenige Wochen später können sie ihren<br />
eigenen Namen auch aus Gesprächen <strong>im</strong> Hintergr<strong>und</strong> herausfiltern<br />
(Newman 2005). Diese Fähigkeit unterstützt das weitere<br />
Entdecken neuer Wörter <strong>im</strong> Sprachstrom. Nachdem beispielsweise<br />
der sechs Monate alte Jerry <strong>im</strong>mer wieder den Satz „Das<br />
ist Jerrys Tasse“ gehört hat, wird er das Wort Tasse in Verbindung<br />
mit seinem Namen leichter lernen, als wenn es nicht damit assoziiert<br />
aufgetreten wäre (Bortfeld et al. 2009). Im Laufe der Zeit<br />
erkennen die Kinder <strong>im</strong>mer mehr vertraute Wörter <strong>im</strong> Sprachstrom,<br />
was es ihnen zunehmend leichter macht, be<strong>im</strong> Hören von<br />
Sprache neue Wörter zu identifizieren.<br />
Höhle <strong>und</strong> Weissenborn (2000) konnten darüber hinaus zeigen,<br />
dass Deutsch lernende Kleinkinder <strong>im</strong> Verlauf der ersten<br />
18 Lebensmonate auch schon lexikalische Information verarbeiten<br />
<strong>und</strong> zur Identifizierung <strong>und</strong> Kategorisierung von Einheiten<br />
<strong>im</strong> sprachlichen Input heranziehen können. So erkennen sie mit<br />
sieben bis acht Monaten unbetonte Lautfolgen, die Artikelformen<br />
wie der oder Präpositionen wie bei entsprechen, in einem auditiv<br />
dargebotenen Text wieder.<br />
Babys verfügen über enorme Fähigkeiten, in ihrer Sprachumgebung<br />
Muster zu identifizieren. Sie beginnen mit der Fähigkeit,<br />
relevante Unterscheidungen zwischen sprachlichen Lauten zu<br />
treffen, <strong>und</strong> engen ihren Fokus dann auf diejenigen Laute ein,<br />
die sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit hören <strong>und</strong> die in der<br />
Sprache, die sie selbst erwerben, einen Bedeutungsunterschied<br />
wiedergeben. Diese Entwicklungsprozesse bilden die Gr<strong>und</strong>lage<br />
dafür, dass sie nicht nur bei ihrer Muttersprache <strong>im</strong>mer bessere<br />
Hörer werden, sondern selbst zu sprechen beginnen.<br />
Vorbereitung auf die Sprachproduktion<br />
In ihren ersten Monaten bereiten sich Babys auf das Sprechen<br />
vor. Das Lautrepertoire, das sie produzieren können, ist in den<br />
ersten beiden Lebensmonaten noch sehr stark eingeschränkt. Sie<br />
weinen, niesen, seufzen, rülpsen <strong>und</strong> schmatzen mit den Lippen,<br />
aber ihr Vokaltrakt ist noch nicht hinreichend entwickelt,<br />
um damit so etwas wie richtige sprachliche Laute hervorbringen<br />
zu können. Mit etwa sechs bis acht Wochen beginnen die Kinder<br />
dann plötzlich, einfache sprachliche Laute zu produzieren<br />
– lange, anhaltende vokalische Laute wie „oooh“ oder „aaah“<br />
oder Konsonant-Vokal-Kombinationen wie „gu“. Diese Form<br />
des Lautierens wird auch cooing genannt (vom englischen to<br />
coo, das „gurren“ oder „girren“ bedeutet). Die Babys unterhalten<br />
sich selbst mit Vokalgymnastik, wechseln von tiefen Grunzern<br />
zu hohen Schreien, von sanftem Murmeln zu lautem Rufen. Sie<br />
machen Knacklaute <strong>und</strong> produzieren Schmatzer, schnauben,<br />
quietschen <strong>und</strong> kreischen – alles mit offensichtlicher Freude<br />
<strong>und</strong> Faszination. Durch diese Übung gewinnen die Säuglinge<br />
motorische Kontrolle über ihre Vokalisationen.<br />
Zur gleichen Zeit, in der sich ihr Lautrepertoire erweitert,<br />
werden sich die Kinder zunehmend der Tatsache bewusst, dass<br />
ihre Vokalisationen bei anderen Reaktionen hervorrufen, <strong>und</strong><br />
sie beginnen mit ihren Eltern wechselseitige Dialoge von „oooh“<br />
<strong>und</strong> „aaah“, von „uuuh“ <strong>und</strong> „iiih“. Mit verbesserter motorischer<br />
Kontrolle ihrer Vokalisation <strong>im</strong>itieren sie <strong>im</strong>mer mehr die Laute<br />
ihrer „Gesprächspartner“ <strong>und</strong> produzieren sogar höhere Laute,<br />
wenn sie mit ihren Müttern interagieren, <strong>und</strong> tiefere Laute <strong>im</strong><br />
Umgang mit ihren Vätern (de Boysson-Bardies 1996/1999).<br />
Plappern<br />
Irgendwann zwischen dem sechsten <strong>und</strong> zehnten Lebensmonat,<br />
<strong>im</strong> Durchschnitt etwa mit sieben Monaten, erreichen sie einen<br />
wichtigen Meilenstein ihrer Sprachentwicklung: Die Babys beginnen<br />
zu plappern (babbling). Be<strong>im</strong> normalen Plappern werden<br />
Silben produziert, die aus einem Konsonanten <strong>und</strong> einem darauffolgenden<br />
Vokal bestehen („pa“, „ba“, „ma“) <strong>und</strong> wiederholt<br />
aneinandergereiht werden („papapa“). Früher hat man angenommen,<br />
dass Kinder eine große Menge an Lauten aus ihrer eigenen<br />
Sprache <strong>und</strong> aus anderen Sprachen plappern (Jakobson 1941/<br />
1968), aber neuere Forschung ließ erkennen, dass Babys nur mit<br />
einer recht eingeschränkten Menge von Lauten plappern, zu denen<br />
auch einige Laute gehören, die nicht aus ihrer Muttersprache<br />
stammen (de Boysson-Bardies 1996/1999).<br />
Plappern – Das wiederholenden Produzieren von Lautfolgen aus Konsonant-<br />
Vokal-Silben wie „bababa“ be<strong>im</strong> Sprechen oder Handbewegungen be<strong>im</strong> Gebärden,<br />
das in den frühen Phasen der Sprachentwicklung zu beobachten ist.
Sprachentwicklung<br />
211 6<br />
..<br />
Abb. 6.6 Stilles Plappern. Babys, die mit der Zeichensprache ihrer gehörlosen Eltern konfrontiert sind, beteiligen sich am „stillen Plappern“. Ein Teil ihrer<br />
Handbewegungen unterscheidet sich insofern von denen solcher Kinder, die mit gesprochener Sprache aufwachsen, als ihr langsamerer Rhythmus mit dem<br />
rhythmischen Muster des erwachsenen Gebärdens übereinst<strong>im</strong>mt. (Aus: Petitto et al. 2001; © Jeffrey Debelle/Dr. Laura Ann Petitto)<br />
Eine zentrale Komponente bei der Entwicklung des Plapperns<br />
besteht darin, dass die Säuglinge die Laute hören, die sie produzieren.<br />
Von Geburt an gehörlose Kinder produzieren zwar bis<br />
zum Alter von fünf oder sechs Monaten ähnliche Vokalisationen<br />
wie hörende Babys, aber ihr vokales Plappern tritt erst sehr spät<br />
auf <strong>und</strong> bleibt sehr begrenzt (Oller <strong>und</strong> Eilers 1988). Manche<br />
von Geburt an gehörlose Babys „plappern“ jedoch völlig <strong>im</strong> Zeitplan<br />
– diejenigen, die regelmäßig mit Gebärdensprache in Kontakt<br />
stehen. Sie produzieren wiederholte Handbewegungen, die<br />
Komponenten vollständiger Gebärden der verwendeten Zeichensprache<br />
sind, so wie die vokal geplapperten Laute wiederholte<br />
Komponenten von Wörtern darstellen (Petitto <strong>und</strong> Marentette<br />
1991). So wie Kinder eine gesprochene Sprache lernen, scheinen<br />
also auch gehörlose Kinder mit den Elementen herumzuexper<strong>im</strong>entieren,<br />
die in ihrer Muttersprache kombiniert werden, um<br />
sinnvolle Wörter hervorzubringen (. Abb. 6.6).<br />
Das Plappern der Kinder wird mit der Zeit variantenreicher<br />
<strong>und</strong> n<strong>im</strong>mt nach <strong>und</strong> nach die Laute, den Rhythmus <strong>und</strong> das<br />
Intonationsmuster der Sprache an, die die Kinder täglich hören.<br />
In einem einfachen, aber gut durchdachten Exper<strong>im</strong>ent hörten<br />
französische Erwachsene das Plappern eines acht Monate alten<br />
französischen <strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> eines acht Monate alten <strong>Kindes</strong> aus<br />
entweder einer Arabisch oder einer Kantonesisch sprechenden<br />
Familie. Wenn sie angeben sollten, welches von zwei Babys jeweils<br />
das französische war, wählten die Erwachsenen in 70 % der<br />
Fälle korrekt (de Boysson-Bardies et al. 1984). Auch bevor sie<br />
ihre ersten sinnvollen Wörter äußern, plappern Kinder sozusagen<br />
bereits in ihrer Muttersprache.<br />
Frühe Interaktionen<br />
Bevor wir uns dem nächsten großen Schritt bei der Sprachproduktion<br />
zuwenden – dem Äußern erkennbarer Wörter<br />
–, müssen wir den sozialen Kontext berücksichtigen, der die<br />
Sprachentwicklung in den meisten Gesellschaften fördert <strong>und</strong><br />
voranbringt. Schon bevor Kinder mit dem Sprechen beginnen,<br />
legen sie Anfänge kommunikativer Kompetenz an den Tag; das<br />
ist die Fähigkeit, intendiert mit einer anderen Person zu kommunizieren.<br />
Das erste Anzeichen dieser kommunikativen Kompetenz besteht<br />
<strong>im</strong> Abwechseln, dem sogenannten Turn-taking. In einem<br />
Gespräch wechseln sich Erwachsene in ihrer Rolle als Sprecher<br />
<strong>und</strong> Hörer ab. Jerome Bruner <strong>und</strong> seine Koautoren (Bruner<br />
1977; Ratner <strong>und</strong> Bruner 1978) haben die Annahme vertreten,<br />
dass Spiele zwischen Eltern <strong>und</strong> ihren Kindern das Lernen<br />
unterstützen, wie man sich in sozialen Interaktionen abwechselt.<br />
Solche Spiele sind beispielsweise Guck-guck- <strong>und</strong> N<strong>im</strong>m<strong>und</strong>-gib-Spiele,<br />
bei denen sich die Beteiligten wiederholt <strong>und</strong><br />
wechselseitig Objekte geben <strong>und</strong> dann wieder entgegennehmen.<br />
(Kleinen Kindern fällt es am Anfang viel leichter, ein Objekt<br />
anzubieten, als es dann auch tatsächlich loszulassen.) In diesen<br />
„Handlungsdialogen“ wechselt das Kind zwischen aktiven <strong>und</strong><br />
passiven Rollen hin <strong>und</strong> her, so wie man in Gesprächen zwischen<br />
dem Sprechen <strong>und</strong> dem Zuhören abwechselt. Diese frühen Interaktionen<br />
verschaffen dem Kind ein Gerüst, um Wörter für die<br />
Kommunikation mit anderen in sich aufzunehmen. Tatsächlich<br />
bestätigt die neuere Forschung, dass das Antworten von Betreuern<br />
auf das Plappern des <strong>Kindes</strong> eine ähnliche Funktion erfüllen<br />
könnte. Wenn ein Erwachsener ein Objekt für das Kind benennt,<br />
nachdem es gerade geplappert hat, verstärkt sich der Lerneffekt<br />
enorm <strong>im</strong> Vergleich zu dem, was das Kind ohne eigenes Plappern<br />
lernt, wenn Erwachsene ihm Wörter zum Benennen von Objekten<br />
vorsprechen (Goldstein et al. 2010). Die Bef<strong>und</strong>e dieser Studie<br />
lassen vermuten, dass das Plappern dem Betreuer signalisiert,<br />
dass das Kind aufmerksam <strong>und</strong> lernbereit ist. Dieses frühe Hin<br />
<strong>und</strong> Her verhilft den Kindern offenbar zu ersten Erfahrungen für<br />
das Turn-taking bei Gesprächen.<br />
Wie in ▶ Kap. 4 diskutiert, setzt erfolgreiche Kommunikation<br />
auch Intersubjektivität voraus, bei der zwei Interaktionspartner<br />
ein gegenseitiges Verständnis teilen. Die Gr<strong>und</strong>lage der Intersubjektivität<br />
ist die geteilte Aufmerksamkeit, die sich von früh auf<br />
bildet, indem die Eltern sich von ihrem Baby führen lassen <strong>und</strong><br />
<strong>im</strong>mer dorthin schauen <strong>und</strong> das kommentieren, was ihr Kind
212<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
1<br />
2<br />
3<br />
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gerade betrachtet. Mit etwa zwölf Monaten sind Kinder dann in<br />
der Lage, die Bedeutung des Zeigens für die Kommunikation zu<br />
verstehen <strong>und</strong> vielfach bereits selbst auf etwas Bedeutsames zu<br />
zeigen (Behne et al. 2012).<br />
..<br />
Dieses kleine Mädchen zeigt auf etwas, um seinen Vater dazu zu bewegen,<br />
seine Aufmerksamkeit zu teilen – um Intersubjektivität herzustellen. Hat der<br />
Vater erst einmal identifiziert, was <strong>im</strong> Zentrum des Interesses seiner Tochter<br />
steht, ist er womöglich sogar willens, diesen Gegenstand mit in den Einkaufswagen<br />
zu legen. (© Tony Freeman/Photoedit)<br />
Wir haben nun gesehen, dass sich Säuglinge Zeit nehmen, um<br />
sich auf das Sprechen vorzubereiten. Durch das Plappern gewinnen<br />
sie ein best<strong>im</strong>mtes anfängliches Maß an Kontrolle über<br />
die Produktion von Lauten, die für die Produktion wiedererkennbarer<br />
Wörter notwendig sind. Dabei fangen sie schon an,<br />
so wie ihre Eltern zu klingen. Durch die frühen Interaktionen<br />
mit ihren Eltern entwickeln sie ähnliche interaktive Routinen,<br />
wie sie auch für den kommunikativen Gebrauch der Sprache<br />
benötigt werden.<br />
Die ersten Wörter<br />
Kinder lernen zunächst einfach, Wörter als vertraute Lautmuster<br />
<strong>im</strong> Sprachstrom zu segmentieren, ohne ihnen eine Bedeutung<br />
zuzuschreiben; aber dann beginnen die Kinder in einer wichtigen<br />
Revolution zu erkennen, dass Wörter eine Bedeutung haben.<br />
Der erste Schritt be<strong>im</strong> Erlernen der Wortbedeutung besteht<br />
darin, das Problem der Referenz anzugehen <strong>und</strong> eine Zuordnung<br />
von Wort <strong>und</strong> Bedeutung zu finden. Der Philosoph Willard<br />
Quine (1960) hat darauf hingewiesen, wie kompliziert es ist, aus<br />
der Vielzahl der möglichen Referenten jenen herauszufinden,<br />
welcher für ein best<strong>im</strong>mtes Wort der richtige ist. Wenn ein Kind<br />
in Gegenwart eines Hasen hört, wie jemand „Hase“ sagt, wie<br />
kann es dann wissen, ob dieses neue Wort sich auf den Hasen<br />
selbst bezieht, auf dessen Stummelschwanz, auf die Schnurrhaare<br />
links <strong>und</strong> rechts von seiner Nase oder auf die mümmelnden<br />
Bewegungen, die der Hase mit seiner Nase macht? Dass das<br />
Problem der Referenz ein wirkliches Problem darstellt, lässt sich<br />
am Fall eines Säuglings illustrieren, der dachte, „oh je!“ sei eine<br />
Begrüßung, weil es das Erste war, was seine Mutter jeden Morgen<br />
sagte, wenn sie das Kinderz<strong>im</strong>mer betrat (Ferrier 1978).<br />
Referenz – In der Linguistik die Beziehung zwischen Wörtern <strong>und</strong> dem, was<br />
sie bedeuten.<br />
Frühe Worterkennung<br />
Kinder beginnen überraschend früh damit, sehr vertraute Wörter<br />
mit ihren Referenten zu assoziieren. Wenn ein sechs Monate altes<br />
Kind „Mama“ oder „Papa“ hört, schaut es die zutreffende Person<br />
an (Tincoff <strong>und</strong> Jusczyk 1999). Mit der Zeit verstehen Kinder<br />
auch die Bedeutung von Wörtern, die sie weniger häufiger gehört<br />
haben, wobei das Tempo, in dem sie ihren Wortschatz aufbauen,<br />
von Kind zu Kind sehr stark variiert. Erstaunlich oft sind sich die<br />
Eltern gar nicht <strong>im</strong> Klaren darüber, wie viele Wörter ihre Kinder<br />
bereits erkennen. Mithilfe eines Computerbildschirmes präsentierten<br />
Bergelson <strong>und</strong> Swingley (2012) paarweise Bilder von allgemein<br />
verbreiteten Lebensmitteln zusammen mit Körperteilen<br />
<strong>und</strong> zeichneten die Blickrichtung der Kinder auf, während zu<br />
einem der Bilder der Name genannt wurde. Dabei zeigte sich,<br />
dass die Kinder <strong>im</strong> Alter von sechs Monaten bereits signifikant<br />
häufiger das zur jeweiligen Bezeichnung passende Bild anschauten,<br />
als es nach dem Zufall zu erwarten wäre. Das zeigt, dass sie<br />
offenbar jeweils den Namen korrekt zuordnen konnten. Allerdings<br />
hatten die Eltern in den meisten Fällen angegeben, dass<br />
ihre Kinder die Bedeutung der Wörter noch nicht verstünden.<br />
Mithin verstehen Kleinkinder nicht nur sehr viel mehr Wörter<br />
als sie produzieren können, sondern sie verstehen auch mehr<br />
Wörter, als ihre Betreuer vermuten.<br />
..<br />
Wenn dieses kleine Mädchen das Wort M<strong>und</strong> hört, wird es dann auf das<br />
Bild des M<strong>und</strong>es oder des Apfels schauen? Die Geschwindigkeit <strong>und</strong> Genauigkeit,<br />
mit der sie nach dem Hören des Wortes ihren Blick auf den jeweiligen<br />
Gegenstand richtet, ist ein nützlicher Indikator für ihre Vokabelkenntnis. (©<br />
Elika Bergelson; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Besonders eindrucksvoll ist be<strong>im</strong> frühen Worterkennen der<br />
Kinder, wie schnell sie verstehen, was sie zu hören bekommen.<br />
Um die altersabhängige Dynamik dieses Verstehens zu demonstrieren,<br />
präsentierten Fernald <strong>und</strong> ihre Koautoren den Kindern<br />
Bildpaare mit vertrauten Objekten wie H<strong>und</strong> <strong>und</strong> Baby <strong>und</strong> beobachteten,<br />
wohin die Kinder ihren Blick wendeten, sobald sie<br />
eine Bezeichnung hörten wie in der Frage „Wo ist das Baby?“<br />
Wie sich zeigte, blickten 15 Monate alte Kinder erst dann auf das<br />
Zielobjekt, wenn sie die Bezeichnung vollständig gehört hatten,<br />
während 24 Monate alte Kinder bereits nach Hören der ersten<br />
Silbe auf das zugehörige Objekt blickten, so wie Erwachsene (Fernald<br />
et al. 1998; Fernald et al. 2001, 2006). Ältere Kinder können
Sprachentwicklung<br />
213 6<br />
auch den Kontext heranziehen, um Wörter leichter zu erkennen.<br />
Wenn sie beispielsweise eine Sprache wie Französisch oder Spanisch<br />
lernen, in der es wie <strong>im</strong> Deutschen verschiedene Artikel für<br />
das Geschlecht des Nomens gibt (la versus le oder la versus el),<br />
dann beschleunigt sich durch den Artikel das Wiedererkennen<br />
der Nomina (Lew-Williams <strong>und</strong> Fernald 2007; Van Heugten <strong>und</strong><br />
Shi 2009). Andere Untersuchungen zeigten anhand der Blickfixierung,<br />
dass ältere Kinder vertraute Wörter auch bei falscher<br />
Artikulation erkennen (etwa Baby aus vaby richtig heraushören<br />
oder Ball aus Gall <strong>und</strong> so weiter); allerdings brauchen sie dann<br />
etwas länger als bei korrekt artikulierten Wörtern (Swingley <strong>und</strong><br />
Aslin 2000).<br />
Frühe Wortproduktion<br />
Mit der Zeit beginnen die Kinder, einige der Wörter zu sagen, die<br />
sie verstehen. Die meisten produzieren ihre ersten Wörter zwischen<br />
zehn <strong>und</strong> 15 Monaten. Der Ausdruck produktiver (oder aktiver)<br />
Wortschatz bezieht sich auf die Wörter, die ein Kind selbst<br />
zu sagen in der Lage ist.<br />
Was kann als „erstes Wort“ gelten? Es kann sich um jede spezifische<br />
Äußerung handeln, die das Kind konsistent macht, um<br />
etwas zu bezeichnen oder etwas auszudrücken. Selbst mit diesem<br />
vagen Kriterium kann es problematisch sein, die ersten Wörter<br />
eines <strong>Kindes</strong> zu identifizieren. Zum einen interpretieren begeisterte<br />
Eltern oft zu viel in das Plappern ihrer Kinder hinein. Zum<br />
anderen können sich die ersten Wörter von der entsprechenden<br />
Wortform der Erwachsenen unterscheiden. Zum Beispiel war<br />
Woof eines der ersten Wörter des Jungen, dessen sprachlicher<br />
Fortschritt am Anfang dieses Kapitels illustriert wurde. Mit diesem<br />
Wort bezog sich der Junge auf den Nachbarh<strong>und</strong> – sowohl,<br />
um das Tier begeistert zu bezeichnen, wenn es <strong>im</strong> Garten des<br />
Nachbarn erschien, als auch, um die Anwesenheit des H<strong>und</strong>es<br />
wehmütig zu erbitten, wenn er gerade nicht da war.<br />
Am Anfang ist die frühe Wortproduktion der Kinder durch<br />
ihre Fähigkeit begrenzt, die Wörter, die sie bereits kennen, auch<br />
so gut auszusprechen, dass ein aufmerksamer Erwachsener ihre<br />
Bedeutung erschließen kann. Um sich das Leben leichter zu machen,<br />
übernehmen Kinder eine Vielzahl von Vereinfachungsstrategien<br />
(Gerken 1994). Zum Beispiel lassen sie die schwierigen<br />
Teile von Wörtern aus (<strong>und</strong> machen Banane zu „nane“) oder<br />
sie ersetzen schwer auszusprechende Laute durch leichtere (<strong>und</strong><br />
machen Krokodil zu „gogil“). Manchmal bringen sie Teile eines<br />
Wortes auch in eine andere Reihenfolge, um einen leichteren<br />
Laut an den Wortanfang zu bringen, etwa bei „Pasketti“ für Spaghetti.<br />
(Ein eher idiosynkratisches Beispiel ist die Bezeichnung<br />
„Cagoshin“ für Chicago, wie der Junge, dessen Sprachentwicklung<br />
am Beginn dieses Kapitels illustriert wurde, viele Jahre lang diese<br />
Stadt nannte). Einige dieser Faktoren werden in ▶ Exkurs 6.2 diskutiert.<br />
Wenn Kinder gegen Ende des ersten Jahres mit dem Sprechen<br />
beginnen, worüber sprechen sie dann? Zu dem frühen Produktionswortschatz<br />
von Kindern in den USA gehören die Namen für<br />
Menschen, Gegenstände <strong>und</strong> Ereignisse aus dem Alltag der Kinder<br />
(Clark 1979; Nelson 1973). Sie benennen ihre Eltern, ihre Geschwister,<br />
Haustiere <strong>und</strong> sich selbst sowie wichtige Gegenstände<br />
ihrer Umwelt wie Kekse, Saft <strong>und</strong> Bälle. Häufige Ereignisse <strong>und</strong><br />
Routinen werden ebenso bezeichnet – „(r)auf “, „winke-winke“,<br />
..<br />
Tab. 6.1 Rangordnungsliste der frühesten Wörter in drei Sprachen*.<br />
(Tardif et al. 2008)<br />
Englisch<br />
(Vereinigte Staaten)<br />
Putonghua (Beijing)<br />
Kantonesisch<br />
(Hongkong)<br />
Daddy Daddy Mommy<br />
Mommy Aah Daddy<br />
BaaBaa Mommy Grandma (paternal)<br />
Bye YumYum Grandpa (paternal)<br />
Hit Sister (älter) Hello / Wei?<br />
UhOh UhOh (Aiyou) Hit<br />
Grr Hit Uncle (paternal)<br />
Bottle Hello / Wei Grab / grasp<br />
YumYum Milk Auntie (maternal)<br />
Dog Naughty Bye<br />
No Brother (älter) UhOh (Aiyou)<br />
WoofWoof Grandma (maternal) Ya / Wow<br />
* Wörter in Fettdruck waren in allen drei Sprachen verbreitet; kursiv<br />
gesetzte Wörter waren in zwei der drei Sprachen verbreitet.<br />
„happa-happa“. Auch werden wichtige Modifikatoren verwendet<br />
– „mein“, „heiß“, „ist alle“. . Tabelle 6.1 verzeichnet wichtige<br />
sprachübergreifende Übereinst<strong>im</strong>mungen <strong>im</strong> Inhalt der ersten<br />
zehn Wörter von Kindern in den Vereinigten Staaten, in Hongkong<br />
<strong>und</strong> Peking <strong>und</strong> zeigt, dass sich die ersten Wörter vieler<br />
Kinder aus allen drei Gesellschaften auf best<strong>im</strong>mte Menschen bezogen<br />
oder es sich um Lautmalereien handelte (Tardif et al. 2008).<br />
Im frühen Produktionswortschatz von Kindern, die Englisch,<br />
Deutsch <strong>und</strong> verwandte Sprachen lernen, überwiegen Nomen.<br />
Das könnte unter anderem darauf beruhen, dass Nomen Objekte<br />
oder Sachverhalte bezeichnen, während Verben Beziehungen<br />
zwischen Sachverhalten darstellen, was dazu führt, dass die<br />
Bedeutungen, die Nomen repräsentieren, durch Beobachtung<br />
leichter erschlossen werden können als die Bedeutungen von<br />
Verben(Gentner 1982). Auf ähnliche Weise sind Wörter, die<br />
sich auf bildlich vorstellbare Referenten beziehen, vergleichsweise<br />
leicht für Babys <strong>und</strong> Kleinkinder erlernbar (McDonough<br />
et al. 2011). Außerdem überschütten amerikanische Mütter<br />
aus der Mittelschicht (der am häufigsten untersuchten Gruppe;<br />
▶ Exkurs 6.2) <strong>und</strong> auch viele deutsche Mütter ihre Kinder mit<br />
Objektbezeichnungen, beispielsweise mit Hinweisen wie „Schau<br />
mal, das ist eine Schildkröte; siehst du die Schildkröte?“ (Fernald<br />
<strong>und</strong> Morikawa 1993). Nun hängt der Anteil der Nomen <strong>im</strong><br />
Wortschatz sehr kleiner Kinder vom Anteil der Nomen in der<br />
an sie gerichteten Sprache ihrer Mutter ab (Pine 1994), <strong>und</strong> das<br />
Muster der Objektbenennung ist bei Müttern in unterschiedlichen<br />
Kulturen <strong>und</strong> Kontexten deutlich verschieden. So benennen<br />
die Mütter in Japan einen Gegenstand generell viel seltener als<br />
amerikanische Mütter (Fernald <strong>und</strong> Morikawa 1993). Bei Spielzeugen<br />
verwenden koreanische Mütter öfter Verben als Nomen<br />
– ein ganz anderes Sprachmuster als bei amerikanischen Müttern<br />
(Choi 2000). Und entsprechend lernen koreanische Kinder
214<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
Exkurs 6.2: Individuelle Unterschiede: Die Rolle von Familie, Kindergarten <strong>und</strong> Schule bei der Sprachentwicklung | |<br />
Eltern stellen oft bemerkenswerte Unterschiede<br />
zwischen ihren Kindern fest. Und in<br />
best<strong>im</strong>mten sozialen Gruppen können sich<br />
solche Differenzen oft erheblich verstärken.<br />
So kann sich innerhalb derselben Kindergartengruppe<br />
die Anzahl der Wörter, die die<br />
Kinder jeweils verwenden, um das Zehnfache<br />
unterscheiden. Woher kommen diese<br />
Unterschiede?<br />
Die Anzahl der Wörter, die Kinder kennen,<br />
hängt eng mit der Anzahl der Wörter zusammen,<br />
die sie hören, wobei diese Anzahl<br />
wiederum eng mit dem Wortschatz ihrer Betreuer<br />
zusammenhängt. Einer der wichtigsten<br />
Einflussfaktoren bei der Sprache, die Kinder<br />
hören, ist der sozioökonomische Status<br />
ihrer Eltern. In einer gr<strong>und</strong>legenden Studie<br />
nahmen Hart <strong>und</strong> Risley (1995) bei 42 Eltern<br />
über zweieinhalb Jahre die gesprochene<br />
Sprache auf, beginnend zu einem Zeitpunkt,<br />
an dem die Kinder noch nicht sprachen,<br />
bis zum Alter von drei Jahren. Einige Eltern<br />
gehörten der oberen Mittelschicht an,<br />
andere stammten aus der Arbeiterschaft,<br />
<strong>und</strong> wieder andere waren Sozialhilfeempfänger.<br />
Die Ergebnisse waren überraschend:<br />
Die Wortzahl, die ein Kind <strong>im</strong> Durchschnitt<br />
von Eltern mit Sozialhilfe hörten, war (mit<br />
616 Wörtern pro St<strong>und</strong>e) nur halb so hoch<br />
wie bei den Eltern aus der Arbeiterschaft<br />
(mit 1251 Wörter pro St<strong>und</strong>e) <strong>und</strong> entsprach<br />
weniger als einem Drittel dessen, was Kinder<br />
von Eltern der oberen Mittelschicht hörten<br />
(2153 Wörter pro St<strong>und</strong>e). Hart <strong>und</strong> Risley<br />
rechneten nach, wie viele Wörter ein Kind <strong>im</strong><br />
Mittel <strong>im</strong> Zeitraum von vier Jahren zu hören<br />
bekam: In der oberen Mittelschicht waren es<br />
nahezu 45 Mio. Wörter, bei den Arbeiterfamilien<br />
noch 26 Mio. <strong>und</strong> bei den Sozialhilfeempfängern<br />
13 Mio. Wörter.<br />
Welche Auswirkung haben diese Unterschiede<br />
auf die Sprachentwicklung? Wenig<br />
überraschend erweist sich der Wortschatz<br />
von Kindern aus Familien mit hohem sozioökonomischen<br />
Status als größer <strong>im</strong> Vergleich<br />
zu den Kindern aus Gruppen mit niedrigerem<br />
sozioökonomischem Status (Fenson<br />
et al. 1994; Huttenlocher et al. 1991). Tatsächlich<br />
zeigte sich in einer Untersuchung<br />
mit zwei Jahre alten Kindern von Müttern<br />
mit hohem bzw. mittlerem sozioökonomischem<br />
Status, dass sich aus den Unterschieden<br />
<strong>im</strong> Sprechverhalten der Mütter (z. B.<br />
Länge <strong>und</strong> Häufigkeit ihrer Äußerungen,<br />
Umfang des Wortschatzes <strong>und</strong> Komplexität<br />
des Satzbaus) die Unterschiede <strong>im</strong> Vokabular<br />
vorhersagen lassen, das die Kinder be<strong>im</strong><br />
Sprechen verwenden (Hoff 2003). Beispielsweise<br />
verwenden Mütter mit höherem<br />
sozioökonomischem Status tendenziell<br />
längere Äußerungen in der Kommunikation<br />
mit ihren Kindern als Mütter mit niedrigerem<br />
sozioökonomischem Status, wobei sie ihnen<br />
nicht nur mehr Wörter anbieten, sondern<br />
auch komplexere grammatische Strukturen<br />
(Hoff 2003). Die unterschiedliche Sprechweise<br />
der Mütter hat sogar Einfluss darauf,<br />
wie schnell Kleinkinder geläufige Wörter<br />
wiedererkennen. Kinder, denen <strong>im</strong> Alter<br />
von 18 Monaten von ihren Müttern mehr<br />
Sprachmaterial geboten wurde, konnten<br />
<strong>im</strong> Alter von 24 Monaten Wörter schneller<br />
wiedererkennen als Kinder, deren Mütter<br />
weniger sprachlichen Input gegeben hatten<br />
(Hurtado et al. 2008).<br />
Ähnliche Bef<strong>und</strong>e ergeben sich <strong>im</strong> Kontext<br />
von Kindergarten <strong>und</strong> Schule. Wenn beispielsweise<br />
Vorschulkinder mit geringen<br />
Sprachfertigkeiten <strong>im</strong>mer neben Gleichaltrigen<br />
mit ebenfalls geringen Sprachfertigkeiten<br />
sitzen, nehmen ihre Sprachfertigkeiten<br />
langsamer zu als bei Gleichaltrigen mit<br />
ähnlich niedrigen Fertigkeiten, die <strong>im</strong>mer<br />
neben sprachgewandteren Kindern sitzen<br />
(Justice et al. 2011). Dieser Einfluss von<br />
Gleichaltrigen hat bedeutende Auswirkungen<br />
auf Förderprogramme, die entwickelt<br />
wurden, um die Sprachentwicklung <strong>und</strong><br />
frühe Lesefähigkeiten bei Kindern aus armen<br />
Elternhäusern zu fördern, zum Beispiel Head<br />
Start, das wir in ▶ Kap. 8 genauer diskutieren.<br />
Wenn in Kindergartengruppen nur<br />
Kinder aus niedrigen sozioökonomischen<br />
Schichten zusammenkommen, kann sich<br />
dies nachteilig auf ihr Fortkommen auswirken.<br />
Andererseits können diese ungünstigen<br />
Einflüsse der Gleichaltrigen durch die<br />
Fördermöglichkeiten der Erzieher kompensiert<br />
werden. Beispielsweise zeigte sich in<br />
einer Studie, dass Kindergartenkinder, deren<br />
Erzieher <strong>im</strong> Umgang mit ihnen ein reiches<br />
Vokabular benutzten, später <strong>im</strong> letzten<br />
Gr<strong>und</strong>schuljahr ein besseres Textverstehen<br />
be<strong>im</strong> Lesen zeigten als Gleichaltrige, deren<br />
Erzieher <strong>im</strong> Kindergarten ein eingeschränkteres<br />
Vokabular verwendeten (Dickinson <strong>und</strong><br />
Porche 2011).<br />
Diese Bef<strong>und</strong>e lassen vermuten, dass aus<br />
vielfältigen Gründen der sozioökonomische<br />
Status best<strong>im</strong>mt, wie Eltern mit ihren Kindern<br />
sprechen, wobei die individuellen Unterschiede<br />
umgekehrt die Art, wie die Kinder<br />
sprechen, entscheidend beeinflussen. Diese<br />
Unterschiede können durch die Sprachfertigkeiten<br />
der Spiel- <strong>und</strong> Schulkameraden<br />
<strong>und</strong> ebenso der Erzieher <strong>und</strong> Lehrer verstärkt<br />
werden. Für Kinder aus einem Umfeld<br />
mit niedrigem sozioökonomischem Status<br />
lässt sich die ungünstige Wirkung solcher<br />
Faktoren durch gezielte Interventionen mildern<br />
– vom Bereitstellen kindgerechter Bücher<br />
(die ein reicheres sprachliches Umfeld<br />
bieten) bis hin zu verstärkter pädagogischer<br />
Ausbildung der Erzieher in Kindergärten mit<br />
einkommensschwachen Einzugsbereichen<br />
(Dickinson 2011). Ungeachtet der Quelle<br />
gilt: Wie man in den Wald ruft, so schallt es<br />
zurück. Wir können nur diejenigen Wörter<br />
<strong>und</strong> grammatischen Strukturen lernen, die<br />
wir zuvor in unserem sprachlichen Umfeld<br />
gehört (oder gebärdet gesehen oder gelesen)<br />
haben.<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Verben <strong>und</strong> Nomen gleich schnell, anders als englischsprachige<br />
Kinder (Choi <strong>und</strong> Gopnik 1995).<br />
Kinder verwenden die Wörter ihres kleinen Produktionswortschatzes<br />
am Anfang nur Wort für Wort. Diese Phase von<br />
Einwortäußerungen nennt man holophrasische Phase, weil<br />
das Kind typischerweise mit einem einzigen Wort eine „ganze<br />
Phrase“ – eine ganze Idee – zum Ausdruck bringt. „Trinken“<br />
kann sich auf den Wunsch des <strong>Kindes</strong> beziehen, dass seine<br />
Mutter ihm ein Glas Orangensaft eingießt. Kinder, die nur Einwortäußerungen<br />
produzieren, sind nicht auf einzelne Ideen<br />
beschränkt; es gelingt ihnen, sich auszudrücken, indem sie<br />
mehrere Einwortäußerungen aneinanderreihen. Ein Beispiel ist<br />
ein kleines Mädchen mit einer Entzündung <strong>im</strong> Auge, die auf<br />
ihr Auge zeigte, „au“ sagte <strong>und</strong> dann, nach einer Pause, „Auge“<br />
(Hoff 2001).<br />
Holophrastische Phase – Die Phase, in der Kinder die Wörter ihres begrenzten<br />
Produktionswortschatzes so gebrauchen, dass ihre Äußerungen aus einem<br />
einzigen Wort bestehen.<br />
Was kleine Kinder sagen wollen, übertrifft schnell die Anzahl<br />
der Wörter in ihrem begrenzten Wortschatz, deshalb nehmen<br />
sie die Wörter, die sie kennen, doppelt in die Pflicht. Zum einen<br />
tun sie das durch Überdehnung – die Verwendung eines best<strong>im</strong>men<br />
Wortes in einem breiteren Kontext, als es angemessen<br />
wäre, beispielsweise wenn Kinder H<strong>und</strong> für jedes vierbeinige Tier<br />
verwenden, Papa für jeden Mann, Mond für den Einstellknopf<br />
des Geschirrspülers oder heiß für jedes reflektierende Metall<br />
(. Tab. 6.2). Die meisten Überdehnungen stellen die Bemühung<br />
dar zu kommunizieren <strong>und</strong> weniger einen Mangel an Wissen, wie<br />
sich durch Forschungen zeigen lässt, bei denen Kinder, die einige
Sprachentwicklung<br />
215 6<br />
..<br />
Tab. 6.2 Beispiele für die Überdehnung der Wortbedeutung bei<br />
kleinen Kindern<br />
33<br />
30<br />
Wort<br />
Referenten<br />
27<br />
ball [Ball]<br />
cat [Katze]<br />
Ball, Ballon, Murmel, Apfel, Ei, kugelförmiger<br />
Wasserkessel (Rescorla 1980)<br />
Katze, der übliche Ort der Katze oben auf dem<br />
Fernsehgerät, wenn sie selbst nicht da ist (Rescorla<br />
1980)<br />
Alter (in Monaten)<br />
24<br />
21<br />
18<br />
moon [Mond]<br />
Mond, Zitronenscheibe in Form eines Halbmondes,<br />
r<strong>und</strong>er Einstellknopf aus Chrom am Geschirrspüler,<br />
ein halbes Cornflake (Bowerman 1978)<br />
15<br />
12<br />
snow [Schnee]<br />
baby [Baby]<br />
Schnee, weißer Bettbezug aus Flanell, verschüttete<br />
Milch auf dem Fußboden (Bowerman 1978)<br />
Das eigene Spiegelbild <strong>im</strong> Spiegel, ein gerahmtes<br />
Foto von sich selbst, gerahmte Fotos von anderen<br />
(Hoff 2001)<br />
Wörter überdehnten, Verstehenstests bearbeiten sollten (Naigles<br />
<strong>und</strong> Gelman 1995). In einer Untersuchung beispielsweise wurden<br />
den Kindern Bilderpaare von Sachverhalten gezeigt, für die sie <strong>im</strong><br />
Allgemeinen dieselbe Bezeichnung verwendeten, zum Beispiel<br />
ein H<strong>und</strong> <strong>und</strong> ein Schaf, die von dem Kind normalerweise beide<br />
als „H<strong>und</strong>“ bezeichnet wurden. Wenn die Kinder jedoch auf das<br />
Schaf zeigen sollten, wählten sie das korrekte Tier. Diese Kinder<br />
verstanden also die Bedeutung des Wortes „Schaf “, aber weil sich<br />
das Wort nicht in ihrem produktiven Wortschatz befand, verwendeten<br />
sie ein verwandtes Wort, das sie bereits sagen konnten,<br />
um über das Tier zu sprechen.<br />
Überdehnung – Die Verwendung eines best<strong>im</strong>mten Wortes in einem weiteren<br />
Kontext, als es der Bedeutung angemessen wäre.<br />
Das Lernen von Wörtern<br />
Nach dem Auftreten ihrer ersten Wörter arbeiten sich die Kinder<br />
typischerweise langsam voran <strong>und</strong> erreichen mit ungefähr<br />
18 Monaten einen produktiven Wortschatz von etwa 50 Wörtern.<br />
Aber dann ist ein Punkt erreicht, an dem sich die Lerngeschwindigkeit<br />
zu steigern scheint <strong>und</strong> eine Wortschatzexplosion,<br />
auch Vokabelspurt genannt, einsetzt (z. B. Bloom 1973;<br />
McMurray 2007). Zwar sind sich die Wissenschaftler nicht einig,<br />
ob hier tatsächlich die Lerngeschwindigkeit bei allen oder den<br />
meisten Kindern zun<strong>im</strong>mt (Bloom 2000), aber es ist klar, dass<br />
die Kommunikationsfähigkeiten der Kinder rapide zunehmen<br />
(. Abb. 6.7).<br />
Wortschatzexplosion / Vokabelspurt – Phase gegen Ende des zweiten Lebensjahres,<br />
in der das Repertoire aktiv gesprochener Wörter bei Kleinkindern in der<br />
Regel massiv steigt.<br />
Worauf beruht die Fähigkeit der Kinder, Wörter zu lernen? Bei<br />
genauerem Hinsehen kann man erkennen, dass es für das Erlernen<br />
neuer Wörter mehrere Quellen der Unterstützung gibt:<br />
Manche kommen von den Menschen ihrer Umgebung, andere<br />
werden von den Kindern selbst generiert.<br />
9<br />
Erste Wörter<br />
Vokabelspurt<br />
Sprachliche Leistung<br />
Sätze<br />
..<br />
Abb. 6.7 Sprachliche Meilensteine. US-amerikanische Kinder sagen ihr<br />
erstes Wort mit durchschnittlich 13 Monaten, erleben mit circa 19 Monaten<br />
einen „Vokabelspurt“ <strong>und</strong> fangen mit etwa 24 Monaten an, einfache Sätze zu<br />
bilden. Die Balken ober- <strong>und</strong> unterhalb dieser Mittelwerte zeigen jedoch eine<br />
beträchtliche Variabilität <strong>im</strong> Zeitpunkt, an dem unterschiedliche Kinder jeden<br />
dieser Meilensteine erreichen. (Nach Bloom 1998)<br />
Einflüsse der Erwachsenen auf Wörterlernen<br />
Zusätzlich zur Verwendung kindgerichteter Sprache, die das<br />
Wörterlernen erleichtert, unterstützen Erwachsene das Wörterlernen,<br />
indem sie neue Wörter besonders hervorheben. Zum<br />
Beispiel sprechen sie neue Wörter mit besonderer Betonung aus<br />
<strong>und</strong> stellen sie in betonter Position ans Satzende. Darüber hinaus<br />
neigen Erwachsene dazu, diejenigen Objekte zu benennen, die<br />
sich bereits <strong>im</strong> Zentrum der Aufmerksamkeit des <strong>Kindes</strong> befinden,<br />
wodurch sie Unsicherheit über den Referenten reduzieren<br />
(Masur 1982; Tomasello 1987; Tomasello <strong>und</strong> Farrar 1986).<br />
Auch die Wiederholung von Wörtern hilft; kleine Kinder lernen<br />
Wörter, die ihre Eltern <strong>im</strong>mer wieder verwenden, tendenziell<br />
leichter (Huttenlocher et al. 1991). Ein weiterer Anreiz zum<br />
Wörterlernen ergibt sich aus den Benennungsspielen, die viele<br />
Familien mit ihren Kleinkindern spielen, indem sie das Kind<br />
auf eine Reihe von benannten Elementen zeigen lassen – „Wo<br />
ist deine Nase?“, „Wo ist dein Ohr?“, „Wo ist dein Bauch?“ Es<br />
gibt auch einige Hinweise darauf, dass Eltern ihren Kindern das<br />
Wörterlernen erleichtern können, indem sie die räumlichen Beziehungen<br />
zu den jeweils benannten Objekten aufrechterhalten.<br />
So lernten die Kleinkinder in einer Untersuchung, bei der die<br />
Eltern ihnen wiederholt den Namen neuer Objekte sagten, die<br />
Wörter schneller, wenn sich diese Objekte bei jeder Benennung<br />
am selben Ort befanden (Samuelson et al. 2011). Vermutlich hilft<br />
die Konsistenz der visuellen Umgebung dem Kind, Wörter den<br />
Objekten <strong>und</strong> Ereignissen in dieser Umgebung als Bezeichnung<br />
zuzuordnen. In ▶ Exkurs 6.3 werden neuere Forschungsergebnisse<br />
zu einer derzeit populären Methode elterlichen „Outsourcings“<br />
be<strong>im</strong> Wörterlernen diskutiert: Technik ohne sprachlichen<br />
Input von Erwachsenen.
216<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
Dieses kleine Inuit-Mädchen spielt ein Benennungsspiel. Ihre Mutter hat<br />
sie gerade gefragt, wo ihre Nase ist. (© Jean Briggs, Memorial University of<br />
Newfo<strong>und</strong>land, St. John’s; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Beiträge von Kindern zum Wörterlernen<br />
Wenn Kinder neuen Wörtern begegnen, deren Bedeutung<br />
sie nicht kennen, nutzen sie aktiv den Kontext aus, in dem<br />
das neue Wort verwendet wurde, um auf seine Bedeutung zu<br />
schließen. Eine klassische Untersuchung von Carey <strong>und</strong> Bartlett<br />
(1978) zeigte diesen Prozess der schnellen Bedeutungsbildung<br />
durch Mapping (Zuordnen) <strong>im</strong> Wortinventar, bei dem<br />
aus der kontrastiven Verwendung eines bekannten <strong>und</strong> eines<br />
unbekannten Wortes sehr rasch ein neues Wort gelernt wird.<br />
Im Rahmen der Alltagsaktivitäten in einem Kindergarten richtete<br />
die Versuchsleiterin die Aufmerksamkeit eines <strong>Kindes</strong> auf<br />
zwei Tabletts <strong>und</strong> bat das Kind, „das chromerne Tablett, nicht<br />
das rote“ zu bringen. Das Kind wurde also mit einem Kontrast<br />
zwischen einem bekannten Ausdruck (rot) <strong>und</strong> einem<br />
unbekannten (chromern) konfrontiert. Aus diesem einfachen<br />
Kontrast konnte das Kind schließen, welches Tablett es bringen<br />
sollte <strong>und</strong> dass der Name für die Farbe des gewünschten<br />
Objekts „chromern“ war. Nach dieser einmaligen Begegnung<br />
mit einem neuen Wort zeigte etwa die Hälfte der Kinder noch<br />
eine Woche später, dass sie etwas über seine Bedeutung wussten,<br />
indem sie aus einer Reihe von farbigen Spielmarken die<br />
chromerne korrekt herausgriffen.<br />
Schnelle Bedeutungsbildung durch Mapping – Der Prozess, bei dem ein<br />
neues Wort nur dadurch schnell gelernt wird, dass das Kind hört, wie ein bekanntes<br />
<strong>und</strong> ein unbekanntes Wort kontrastiv gebraucht werden.<br />
Einige Theoretiker haben behauptet, dass die vielen Schlussfolgerungen,<br />
die Kinder be<strong>im</strong> Lernen von Wörtern ziehen, durch eine<br />
Reihe von Annahmen (auch Prinzipien, Beschränkungen oder<br />
Vorlieben genannt) gelenkt werden, die die möglichen Bedeutungen<br />
eingrenzen, die Kinder für ein neues Wort in Erwägung<br />
ziehen. Zum Beispiel erwarten Kinder, dass ein best<strong>im</strong>mtes Ding<br />
nur einen einzigen Namen hat; Woodward <strong>und</strong> Markman (1998)<br />
nennen dies die Annahme der wechselseitigen Exklusivität. Frühe<br />
Belege für diese Annahme stammen aus einer Untersuchung,<br />
bei der drei Jahre alte Kinder Objektpaare sahen – ein vertrautes<br />
Objekt, für das die Kinder einen Namen hatten, <strong>und</strong> ein unbekanntes<br />
Objekt, für das sie keine Bezeichnung kannten. Wenn<br />
die Versuchsleiterin sagte: „Show me the blicket“ (wobei blicket<br />
<strong>im</strong> Englischen keine Bedeutung besitzt, sondern ein Nichtwort<br />
ist), dann wählten die Kinder das Objekt aus, für das sie bislang<br />
noch keinen Namen hatten (Markman <strong>und</strong> Wachtel 1988). Selbst<br />
16 Monate alte Kinder machen das so (Graham et al. 1998), wie<br />
. Abb. 6.8a verdeutlicht. Interessanterweise scheinen bilinguale<br />
<strong>und</strong> trilinguale Kinder, die daran gewöhnt sind, mehr als einen<br />
Namen für ein best<strong>im</strong>mtes Objekt zu hören, dem Prinzip der<br />
wechselseitigen Exklusivität eher weniger zu folgen (Byers-Heinlein<br />
<strong>und</strong> Werker 2009).<br />
Markman (1989) sowie Woodward <strong>und</strong> Markman (1998)<br />
zufolge erwarten Kinder von einem neuen Wort, dass es sich<br />
auf ein Objekt als Ganzes bezieht <strong>und</strong> nicht auf einen Teil, eine<br />
Eigenschaft, eine Handlung oder einen anderen Aspekt <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit diesem Objekt. Im Fall des oben erwähnten<br />
Referenzproblems von Quine führte die Annahme vom ganzen<br />
Objekt also dazu, dass die Kinder das Wort „Hase“ auf das ganze<br />
Tier anwenden <strong>und</strong> nicht auf seinen Schwanz oder auf das Mümmeln<br />
seiner Nase.<br />
Wenn Kinder auf neue Wörter stoßen, nutzen sie auch eine<br />
Vielzahl von pragmatischen Hinweisen auf die jeweilige Bedeutung,<br />
indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die sozialen Kontexte<br />
richten, in denen Sprache verwendet wird. Zum Beispiel verwenden<br />
Kinder die Aufmerksamkeitsrichtung eines Erwachsenen<br />
als Hinweis auf die Wortbedeutung. In einer Untersuchung von<br />
Baldwin (1993) zeigte eine Versuchsleiterin 18 Monate alten<br />
Kindern zwei neuartige Objekte <strong>und</strong> verbarg diese dann in getrennten<br />
Behältern. Dann schaute die Versuchsleiterin in einen<br />
der Behälter <strong>und</strong> bemerkte: „Hier drin ist ein Modi.“ Dann holte<br />
die Erwachsene die beiden Objekte wieder heraus <strong>und</strong> gab sie<br />
dem Kind. Bei der Frage nach dem „Modi“ nahm das Kind den<br />
Gegenstand, den die Versuchsleiterin angesehen hatte, als sie die<br />
Benennung ausgesprochen hatte. Die Kinder verwendeten also<br />
die Beziehung zwischen dem Blick <strong>und</strong> der Bezeichnung, um<br />
einen neuen Namen für ein Objekt zu lernen, das sie noch gar<br />
nicht gesehen hatten (. Abb. 6.8b).<br />
Pragmatische Hinweise – Aspekte des sozialen Kontexts, die für das Lernen<br />
von Wörtern herangezogen werden.
Sprachentwicklung<br />
217 6<br />
Exkurs 6.3: Näher betrachtet: iBabys – Technik <strong>und</strong> Sprachenlernen | |<br />
Wenn Erwachsene in einen neuen Sprachraum<br />
kommen, nutzen sie oft technische<br />
Hilfsmittel – vom Taschenwörterbuch bis zur<br />
Übersetzungs-App auf ihrem Smartphone,<br />
um sich anderen in der fremden Sprache<br />
verständlich zu machen <strong>und</strong> die Information<br />
zu bekommen, die sie brauchen. Sie können<br />
auch digitale Lernprogramme nutzen,<br />
seien es Sprachlabore oder kommerzielle<br />
Sprachtrainer.<br />
Wie sieht es bei kleinen Kindern damit aus?<br />
Auch sie sind oft von vielfältiger Technik<br />
umgeben. Und es hat in den letzten beiden<br />
Dekaden nachgerade einen „Kluges-Baby“-<br />
Wahn gegeben, an dem Anbieter von allen<br />
möglichen elektronischen Spielen, Spielzeugen<br />
<strong>und</strong> DVDs zur Intelligenzsteigerung bei<br />
Babys H<strong>und</strong>erte Millionen Dollar verdient<br />
haben. Einige Behauptungen in diesem<br />
Zusammenhang sind einfach lachhaft. So las<br />
eine der Autorinnen, als sie einen Beißring<br />
für ihr Baby kaufte, auf der Verpackung<br />
den Hinweis, dass der Ring angeblich die<br />
Sprachentwicklung des <strong>Kindes</strong> fördern<br />
würde, indem die frühen oral-motorischen<br />
Fähigkeiten verstärkt würden. Andere<br />
Behauptungen schienen vielleicht plausibler,<br />
wurden aber durch die Entwicklungsforschung<br />
später gr<strong>und</strong>sätzlich infrage gestellt<br />
– <strong>und</strong> mussten von den Anbietern derartiger<br />
Produkte zurückgenommen werden, die (wie<br />
beispielsweise „Baby Einstein“) ihre Werbung<br />
mit dem angeblichen pädagogischen Wert<br />
zurücknehmen mussten.<br />
Allerdings gibt es <strong>im</strong>mer noch Anlass zur<br />
Sorge bei technischen Spielzeugen, die für<br />
Kinder unter zwei Jahren angeboten werden,<br />
wenn dadurch die Zeit reduziert wird, die die<br />
Kinder aktiv mit Betreuern <strong>und</strong> Gegenständen<br />
ihrer Umgebung verbringen – ihren<br />
besten Lernquellen. In einer großen Studie<br />
mit mehr als 1000 Kindern unter zwei Jahren<br />
wurde untersucht, wie das Betrachten von<br />
TV- oder DVD-Programmen für Kleinkinder<br />
<strong>und</strong> die Entwicklung des Wortschatzes<br />
zusammenhängen (Z<strong>im</strong>merman et al. 2007).<br />
Dabei wurden – <strong>und</strong> das ist entscheidend –<br />
die demografischen Faktoren (wie Bildungsstand<br />
der Eltern, Familieneinkommen,<br />
ethnische Gruppen <strong>und</strong> dergleichen), die<br />
den Medienkonsum beeinflussen könnten,<br />
bei allen Familien sorgfältig kontrolliert.<br />
Bei acht bis 16 Monate alten Babys ergab<br />
sich eine negative Korrelation zwischen der<br />
Zeit, die sie DVDs gesehen hatten, <strong>und</strong> dem<br />
Wortschatz, den die Eltern berichteten: Je<br />
mehr die Babys DVD sahen, desto geringer<br />
war ihr Wortschatz. Man beachte, dass dieser<br />
negative Zusammenhang nur bei DVDs<br />
beobachtet wurde, die als pädagogisch<br />
wertvoll für Babys vermarktet worden waren;<br />
bei anderen Arten von Programmen (darunter<br />
pädagogisch wie nichtpädagogisch<br />
angelegte Kinderprogramme) ergab sich<br />
kein Zusammenhang zwischen dem Betrachten<br />
<strong>und</strong> dem Wortschatz. Bei den älteren<br />
Kleinkindern (zwischen 18 <strong>und</strong> 24 Monaten)<br />
verschwand die negative Korrelation. Und<br />
entgegen den Erwartungen vieler Eltern<br />
hatte die Zeit, die die Eltern gemeinsam mit<br />
den Kindern vor dem Bildschirm verbracht<br />
hatten, keinen Einfluss auf den Wortschatz<br />
der Kinder. Diese Bef<strong>und</strong>e entsprechen dem,<br />
was die American Academy der Kinderärzte<br />
empfiehlt: Man sollte die Bildschirmzeit bei<br />
Kindern unter zwei Jahren möglichst gering<br />
halten.<br />
In der bislang gründlichsten Studie verwendeten<br />
<strong>DeLoache</strong> et al. (2010) zufällige<br />
Bezeichnungen <strong>und</strong> einen objektiven<br />
Vokabeltest, um herauszufinden, inwieweit<br />
ein Bestseller unter den „pädagogischen“<br />
DVDs die Sprachentwicklung beeinflusst.<br />
Die DVD wurde vom Anbieter für Kinder ab<br />
zwölf Monaten empfohlen. Bei der Studie<br />
wurden die teilnehmenden Kinder <strong>im</strong> Alter<br />
zwischen zwölf <strong>und</strong> 18 Monaten nach dem<br />
Zufallsprinzip vier Gruppen zugewiesen. In<br />
einer Video-mit-Interaktion-Gruppe sahen<br />
die Kinder über einen Zeitraum von vier<br />
Wochen jeweils fünfmal in der Woche das<br />
Video zusammen mit einem Elternteil, wobei<br />
die Eltern aufgefordert waren, während des<br />
Videosehens aktiv mit dem Kind in seiner<br />
natürlichen Umgebung zu interagieren. Bei<br />
der Video-ohne-Interaktion-Gruppe sahen die<br />
Kinder das gleiche Video nach dem gleichen<br />
Zeitplan, aber ohne dass ein Elternteil dabei<br />
mit ihm gemeinsam das Video anschaute.<br />
Diese Bedingung spiegelt eine alltägliche<br />
Situation wider, in der Eltern zwar <strong>im</strong> selben<br />
Raum anwesend, aber mit etwas anderem<br />
beschäftigt sind. In der Lernen-mit-den-<br />
Eltern-Gruppe sahen die Kinder überhaupt<br />
kein Video. Stattdessen bekamen ihre Eltern<br />
eine Liste mit den 25 Wörtern aus dem Video,<br />
die sie ihren Kindern auf eine aus ihrer<br />
Sicht möglichst natürliche Weise beibringen<br />
sollten. Bei den Kindern in der vierten<br />
Gruppe, der Kontrollgruppe, gab es keine<br />
Intervention – ihre Wortschatzentwicklung<br />
diente als Referenz (Baseline).<br />
Zu Beginn <strong>und</strong> am Ende der Studie wurden<br />
die Kinder mit einem Teil des DVD-Wortschatzes<br />
getestet. Die Kinder in den beiden<br />
Gruppen, die das Video gesehen hatten,<br />
zeigten keine größeren Fortschritte <strong>im</strong> Wortschatz<br />
als die Kinder der Kontrollgruppe. Die<br />
Kinder mit den größten Zuwächsen <strong>im</strong> Wortschatz<br />
kamen aus der Lernen-mit-den-Eltern-<br />
Gruppe. Allerdings gab es eine Korrelation<br />
zwischen den elterlichen Bewertungen des<br />
Videos <strong>und</strong> des Lernerfolgs: Je besser den<br />
Eltern das Video selbst gefiel, desto eher<br />
überschätzten sie die positiven Wirkungen<br />
bei den Kindern.<br />
Auch wenn diese Forschung noch neu ist,<br />
zeigen die bisherigen Bef<strong>und</strong>e, dass ein<br />
Auslagern der kindlichen Wortschatzentwicklung<br />
in Form passiven Zuschauens<br />
bei pädagogischen Medien nicht mit dem<br />
unmittelbaren kindlichen Lernen mithalten<br />
kann. Selbst das beste Lernprogramm kann<br />
einen Betreuer, der mit dem Kind interagiert,<br />
nicht ersetzen. Wie wichtig eine solche Interaktion<br />
ist, zeigte sich in einer Studie, bei der<br />
Kleinkinder Wörter von einem Erwachsenen<br />
lernten, <strong>und</strong> zwar unter drei Bedingungen:<br />
(1) persönliche Interaktion mit dem Erwachsenen,<br />
(2) Interaktion mit dem Erwachsenen<br />
via Videoverbindung <strong>und</strong> (3) Anschauen<br />
eines Videos, in dem ein Erwachsener mit<br />
einem anderen Erwachsenen interagiert. Unter<br />
den ersten beiden Bedingungen waren<br />
die Lernergebnisse gleich – <strong>und</strong> der gelernte<br />
Wortschatz größer als bei den Kindern,<br />
die nur passive Zuschauer gewesen waren<br />
(O’Doherty et al. 2011). Die Frage nach dem<br />
Umgang mit elektronischen Medien stellt<br />
sich bei kleinen Kindern zunehmend dringlich<br />
angesichts der Begeisterung, die Kinder<br />
für die Apps auf den Smartphones <strong>und</strong><br />
iPads ihrer Eltern entwickeln. Wie bei allen<br />
Aktivitäten ist ein wenig davon vermutlich<br />
nicht schädlich. Aber es ist wichtig, all den<br />
Behauptungen zum pädagogischen Wert mit<br />
großer Skepsis zu begegnen.<br />
Anteil korrekter Worterkennung (%)<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Eltern<br />
als<br />
Lehrer<br />
Video Video<br />
mit ohne<br />
Interaktion Interaktion<br />
Bedingung<br />
Kontrolle<br />
..<br />
Die Ergebnisse von <strong>DeLoache</strong> et al. (2010)<br />
verdeutlichen, dass Kinder, die eine Wortliste<br />
von ihren Eltern gelernt hatten, <strong>im</strong> Vokabeltest<br />
besser abschnitten (links) als die Kinder in den<br />
Videogruppen (Mitte), die ihrerseits über die<br />
Leistungen der Kontrollgruppe (rechts) nicht<br />
signifikant hinauskamen
218<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
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23<br />
..<br />
Abb. 6.8 Pragmatische Hinweise für das Lernen von Wörtern. a Weil dieses Kind schon die Bezeichnung für einen Gegenstand auf dem Tisch kennt, wird<br />
es den neuartigen Gegenstand ergreifen, wenn man es bittet, den „blicket“ herzuzeigen. b Dieses Mädchen hört die Versuchsleiterin ein neues Wort sagen; es<br />
wird annehmen, dass dieses Wort zu dem neuartigen Gegenstand gehört, den die Versuchsleiterin anschaut, selbst wenn es den Gegenstand nicht sehen kann<br />
<strong>und</strong> einen anderen neuartigen Gegenstand betrachtet, während es das Wort hört. c, d Das Kind hier wird das Wort „Gucker“ als die Bezeichnung für einen neuen<br />
Gegenstand lernen, den die Erwachsene mit triumphierendem Lächeln findet, nachdem sie zuvor angekündigt hat, dass sie den „Gucker“ finden möchte. (©<br />
Judy <strong>DeLoache</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Ein weiterer pragmatischer Hinweis, mit dessen Hilfe Kinder<br />
Schlussfolgerungen über die Bedeutung eines Wortes ziehen,<br />
ist die Intentionalität (Tomasello 2008). In einer Untersuchung<br />
beispielsweise hörten zweijährige Kinder Ankündigungen der<br />
folgenden Art: „Wir dazzen jetzt die Mickey Mouse!“ Die Versuchsleiterin<br />
führte dann mit einer Mickey-Mouse-Puppe zwei<br />
Handlungen durch, eine in koordinierter <strong>und</strong> offenbar absichtlicher<br />
Weise, gefolgt von einem zufriedenen Kommentar (entsprechend<br />
dem deutschen so), während die andere Handlung in<br />
umständlicher <strong>und</strong> scheinbar unbeabsichtigter Weise ausgeführt<br />
wurde, gefolgt von einem überraschten Ausruf (wie ups). Die<br />
Kinder interpretierten das neue Verb dazzen in Referenz auf die<br />
Handlung, die der Erwachsene offenbar intendiert hatte (Tomasello<br />
<strong>und</strong> Barton 1994). Kleinkinder können aus der emotionalen<br />
Reaktion eines Erwachsenen sogar dann Rückschlüsse auf den<br />
Namen eines neuen Gegenstands ziehen, wenn sie diesen Gegenstand<br />
gar nicht sehen können (Tomasello et al. 1996). In einer Untersuchung,<br />
die dies bewies, äußerte eine Erwachsene die Absicht,<br />
den Gucker zu finden. Nun hob sie einen von zwei Gegenständen<br />
auf <strong>und</strong> zeigte sich offenk<strong>und</strong>ig enttäuscht. Als sie vergnügt einen<br />
zweiten Gegenstand ergriff, schlossen die Kinder daraus, dass dies<br />
der „Gucker“ war. (. Abbildung 6.8c zeigt einen anderen Fall, in<br />
dem ein Kind aus dem emotionalen Ausdruck einer Erwachsenen<br />
auf den Namen eines nicht sichtbaren Gegenstands schließt.)<br />
Das Ausmaß, in dem Vorschulkinder die Absicht eines Sprechers<br />
berücksichtigen, zeigt sich dann, wenn ein Erwachsener<br />
für einen Gegenstand eine Bezeichnung verwendet, die ihrem<br />
Wissen über den Gegenstand widerspricht; dann akzeptieren<br />
die Kinder diese Bezeichnung, sofern der Erwachsene sie offensichtlich<br />
mit Absicht gebraucht hat (Jaswal 2004). Wenn der<br />
Versuchsleiter für das Bild eines katzenähnlichen Tieres nur die<br />
Bezeichnung „H<strong>und</strong>“ gebrauchte, zögerten Vorschulkinder, das<br />
Wort auf andere katzenähnliche Reize anzuwenden. Sie waren<br />
eher dazu bereit, wenn der Versuchsleiter klarmachte, dass er<br />
diese unerwartete Bezeichnung wirklich anwenden wollte, indem<br />
er sagte: „Ihr werdet es nicht glauben, aber das ist wirklich ein<br />
H<strong>und</strong>.“ Auf ähnliche Weise zögern Kinder, von einem „wenig<br />
vertrauenswürdigen“ Erwachsenen, der eine Katze als „H<strong>und</strong>“
Sprachentwicklung<br />
219 6<br />
..<br />
Abb. 6.9 Sprachlicher<br />
Kontext. Je nachdem, ob Roger<br />
Brown, ein Pionier bei der Erforschung<br />
der Sprachentwicklung,<br />
dieses Bild als „sibbing“, „a sib“<br />
oder „some sib“ bezeichnete,<br />
gelangten Vorschulkinder zu unterschiedlichen<br />
Annahmen über<br />
die Bedeutung des Wortes „sib“<br />
Beispiel<br />
0,50<br />
bezeichnet hat, anschließend neue Wörter zu übernehmen (z. B.<br />
Koenig <strong>und</strong> Harris 2005; Koenig <strong>und</strong> Woodward 2010; Sabbagh<br />
<strong>und</strong> Shafman 2009).<br />
Eine andere Möglichkeit, die Bedeutung neuer Wörter zu<br />
erschließen, besteht darin, Hinweise aus dem sprachlichen Kontext<br />
heranzuziehen, in dem neue Wörter auftreten. In einem der<br />
ersten Exper<strong>im</strong>ente zum Spracherwerb konnte Brown (1957)<br />
nachweisen, dass die grammatische Form eines neuen Wortes<br />
dessen Interpretation beeinflusst. Er zeigte Kindergartenkindern<br />
ein Bild mit einem Händepaar, das eine Menge einer Substanz<br />
in einem Behältnis knetet oder durchmischt (. Abb. 6.9). Das<br />
Bild wurde einer Gruppe von Kindern als „sibbing“ („sibben“)<br />
beschrieben (also als ein Vorgang), einer zweiten Gruppe gegenüber<br />
als „a sib“ („ein Sib“ als ein einziger Gegenstand oder eine<br />
Sache) <strong>und</strong> einer dritten Gruppe gegenüber als „some sib“ („etwas<br />
Sib“ als eine hinsichtlich der Anzahl ihrer Elemente nicht<br />
näher beschriebene Menge oder Masse). In der Folge interpretierten<br />
die Kinder das neue Wort sib in Bezug auf die Handlung,<br />
den Behälter oder das Material als Referenten, je nachdem, welche<br />
grammatische Form des Wortes (Verb, zählbares Nomen<br />
oder Mengen- beziehungsweise Massebezeichnung) sie vorher<br />
gehört hatten.<br />
Zwei <strong>und</strong> drei Jahre alte Kinder ziehen auch die grammatische<br />
Klasse neuer Wörter heran, um ihre Bedeutung zu interpretieren<br />
(z. B. Hall 1994; Hall et al. 1993; Markman <strong>und</strong> Hutchinson 1984;<br />
Waxman 1990). Wenn sie die Äußerung „Dies ist ein Daz“ hören,<br />
nehmen sie an, dass sich Daz auf ein Objekt bezieht <strong>und</strong> auch auf<br />
weitere Mitglieder derselben Objektklasse. Hören sie dagegen<br />
„Dies ist ein dazzes Ding“, nehmen sie an, dass daz sich auf eine<br />
Eigenschaft des Objekts bezieht (beispielsweise seine Farbe oder<br />
seine Oberflächenbeschaffenheit), während in dem Satz „Dies ist<br />
ein Daz“ das Wort Daz als korrektes Nomen ein Objekt bezeichnet.<br />
Diese Verknüpfungen von Nomen mit Klasse <strong>und</strong> Adjektiv<br />
mit Eigenschaft findet sich schon bei Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern<br />
(z. B. Booth <strong>und</strong> Waxman 2009; Waxman <strong>und</strong> Hall 1993;<br />
Waxman <strong>und</strong> Markow 1995, 1998).<br />
Die kindliche Deutung neuer Wörter in Bezug auf Objekte<br />
orientiert sich insbesondere an Form <strong>und</strong> Gestalt der Objekte –<br />
möglicherweise deshalb, weil die Form ein guter Hinweis auf die<br />
Klassenzugehörigkeit der Objekte ist. Kinder können ein neues<br />
Nomen leicht auf neuartige Objekte derselben Form übertragen,<br />
selbst wenn sich diese Objekte hinsichtlich ihrer Größe, Farbe<br />
<strong>und</strong> Textur stark unterscheiden (Graham <strong>und</strong> Poulin-Dubois<br />
1999; Landau et al. 1988; Smith et al. 1992). Wenn ein Kind also<br />
hört, dass ein U-förmiger Holzklotz „Daz“ genannt wird, wird<br />
Formänderung<br />
Texturänderung<br />
Größenänderung<br />
0,76<br />
0,82<br />
..<br />
Abb. 6.10 Bevorzugung der Form. In einer der vielen Untersuchungen zur<br />
Bevorzugung der Form zeigte man Kindern die ganz oben abgebildete Figur<br />
<strong>und</strong> sagte ihnen, das sei ein „Daz“ (oder man nannte ein anderes Nonsenswort).<br />
Dann fragte man sie, welcher der darunter abgebildeten Gegenstände<br />
ein „Daz“ ist. Wie man sieht, glaubten die Kinder meistens, dass sich das Wort<br />
auf einen Gegenstand von derselben Form wie den zuerst gezeigten bezog,<br />
selbst wenn er von anderer Oberflächenbeschaffenheit oder Größe war.<br />
(Nach Landau et al. 1988)<br />
es annehmen, dass Daz ebenso ein U-förmiges Objekt bezeichnet,<br />
das in ein blaues Fell eingehüllt ist, oder ein U-förmiges<br />
Stück roten Drahtes, aber nicht einen Holzklotz anderer Form<br />
(. Abb. 6.10). Eine Bevorzugung der Form geht auch aus den<br />
spontanen Erweiterungen vertrauter Wörter auf Nonsensobjekte<br />
hervor, die den vertrauten Dingen vage ähneln (z. B. könnte ein<br />
Kegel als „Berg“ bezeichnet werden; Samuelson <strong>und</strong> Smith 2005).<br />
Ein weiterer nützlicher Hinweis auf die Wortbedeutung ist die<br />
wiederkehrende Korrespondenz zwischen den gehörten Wörtern<br />
<strong>und</strong> den in der Umgebung wahrgenommenen Objekten. Dabei<br />
ist jede einzelne visuelle Szene vieldeutig. Beispielsweise sieht ein<br />
Kind vielleicht vier neue Objekte <strong>und</strong> hört gleichzeitig die Benennung<br />
„Daz“, sodass es nicht wissen kann, welches dieser Objekte<br />
ein Daz ist (entsprechend dem Referenzproblem von Quine mit<br />
dem Hasen). Aber nach allen Erfahrungen zusammengenommen<br />
kann das Kind feststellen, dass dann, wenn „Dax“ gesagt wird,<br />
<strong>im</strong>mer eines der vier neuen Objekte zu sehen ist <strong>und</strong> dass dieses<br />
Objekt vermutlich der Dax sein muss. In einem Prozess des situationsübergreifenden<br />
Wörterlernens können schon kleine Kinder<br />
die möglichen Bedeutungen neuer Wörter eingrenzen (z. B. Smith<br />
<strong>und</strong> Yu 2008; Vouloumanos <strong>und</strong> Werker 2009).<br />
Kinder nutzen auch die grammatische Struktur ganzer Sätze,<br />
um die Bedeutung herauszufinden – eine Strategie, die man als<br />
syntaktische Selbsthilfe (syntactic bootstrapping) bezeichnen<br />
könnte (Fisher 1999; Fisher et al. 1991; Gertner et al. 2006; Yuan<br />
<strong>und</strong> Fisher 2009). Bei einem frühen Nachweis dieses Phänomens<br />
wurde zwei Jahre alten Kindern ein Videoband mit einer Ente gezeigt,<br />
die mit ihrem linken Flügel einen Hasen in eine zusammen-
220<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
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Abb. 6.11 Syntaktische Selbsthilfe. Als die Kinder in Naigles’ Untersuchung<br />
(1990) diese Filmszene von einem Erwachsenen mit der Beschreibung<br />
„The duck is kradding the rabbit“ („Die Ente kraddet den Hasen“) hörten,<br />
gebrauchten sie die syntaktische Struktur des Satzes <strong>und</strong> schlossen daraus,<br />
dass kradding das ist, was die Ente mit dem Hasen tut. (© Letitia R. Naigles,<br />
University of Connecticut; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
gekauerte Position auf den Boden drückt, während beide Tiere mit<br />
ihrem jeweils rechten Flügel bzw. Vorderbein Kreise beschreiben<br />
(. Abb. 6.11; Naigles 1990). (Die Rollen des Hasen <strong>und</strong> der Ente<br />
wurden von kostümierten Erwachsenen gespielt.) Während sie zusahen,<br />
hörten die Kinder in zwei getrennten Gruppen verschieden<br />
formulierte Beschreibungen wie „Die Ente kraddet den Hasen“<br />
(„The duck is kradding the rabbit“) bzw. „Der Hase <strong>und</strong> die Ente<br />
kradden“ („The rabbit and the duck are kradding“). Danach sahen<br />
alle Kinder zwei Videos parallel, wobei auf dem einen eine Ente<br />
zu sehen ist, die den Hasen niederdrückt, während das andere<br />
zeigt, wie beide Tiere ihren Flügel bzw. das Bein in der Luft kreisen<br />
lassen. Bei der Aufgabe, das „kradden“ zu finden, schauten<br />
die beiden Gruppen auf dasjenige Ereignis, das mit der Syntax<br />
übereinst<strong>im</strong>mte, die sie gehört hatten, während das Anfangsvideo<br />
lief. Diejenigen Kinder, die den ersten Satz gehört hatten, hatten<br />
offenbar „kradden“ als das verstanden, was die Ente mit dem Hasen<br />
tat, während diejenigen Kinder, die den zweiten Satz gehört<br />
hatten, dachten, „kradden“ beziehe sich auf die gemeinsame Tätigkeit<br />
beider Tiere. Die Kinder waren also zu unterschiedlichen<br />
Interpretationen des neuen Verbs gelangt, die von der Struktur<br />
der Sätze abhingen, in die die neuen Verben eingebettet waren.<br />
Syntaktische Selbsthilfe – Die Strategie, die grammatische Struktur ganzer<br />
Sätze zu verwenden, um die Bedeutung herauszufinden.<br />
Wir sehen also, dass Säuglinge <strong>und</strong> kleine Kinder eine bemerkenswerte<br />
Fähigkeit besitzen, neue Wörter als Namen für Objekte<br />
zu lernen. Interessanterweise sind sie unter best<strong>im</strong>mten<br />
Bedingungen auch in der Lage, nichtsprachliche „Bezeichnungen“<br />
für Objekte zu lernen. Kinder zwischen 13 <strong>und</strong> 18 Monaten<br />
können Gesten oder nichtsprachliche Laute (z. B. Quietsch- <strong>und</strong><br />
Pfeiftöne) genauso leicht auf neue Objekte beziehen wie Wörter<br />
(Namy 2001; Namy <strong>und</strong> Waxman 1998; Woodward <strong>und</strong> Hoyne<br />
1999). Später, mit 20 bis 26 Monaten, akzeptieren sie nur noch<br />
Wörter als Namen für Objekte. Und wenn neue Wörter mithilfe<br />
eines Computers präsentiert werden statt durch Interaktion<br />
mit einem Erwachsenen, akzeptieren bereits zwölf Monate alte<br />
Kinder nur noch Wörter als Namen von Objekten, jedoch keine<br />
anderen nichtsprachlichen Geräusche (MacKenzie et al. 2011).<br />
Kinder lernen also ziemlich früh, dass Phonemfolgen mit höherer<br />
Wahrscheinlichkeit eine Bedeutung ausdrücken als andere<br />
Arten von akustischen Signalen.<br />
Das Zusammenfügen von Wörtern<br />
Eine wichtige Station in der frühen Sprachentwicklung ist erreicht,<br />
wenn die Kinder damit beginnen, einzelne Wörter zu<br />
Sätzen zusammenzufügen; dieser Fortschritt versetzt sie in die<br />
Lage, zunehmend komplexere Vorstellungen auszudrücken. Das<br />
Ausmaß, in dem Kinder Syntax entwickeln, <strong>und</strong> die Geschwindigkeit,<br />
mit der dies erfolgt, unterscheiden ihre sprachlichen Fähigkeiten<br />
am stärksten von denen nichtmenschlicher Pr<strong>im</strong>aten.<br />
Erste Sätze<br />
Die meisten Kinder beginnen gegen Ende des zweiten Lebensjahres,<br />
Wörter zu einfachen Sätzen zu verknüpfen. Allerdings<br />
wissen Kinder, bereits bevor sie irgendwelche Wortkombinationen<br />
bilden, einiges über die Kombination der Wörter – dies<br />
ist ein weiteres Beispiel dafür, dass das Sprachverstehen der<br />
Sprachproduktion vorausgeht. Zu den frühesten Nachweisen<br />
der kindlichen Sensitivität für die Wortreihenfolge gehört die<br />
Untersuchung von Hirsh-Pasek <strong>und</strong> Golinkoff (1991), bei der<br />
Kleinkinder zwei Videoaufnahmen sahen: In einer küsst eine<br />
Frau ein paar Schlüssel <strong>und</strong> hält dabei einen Ball in die Höhe, in<br />
der anderen hält die Frau die Schlüssel in die Höhe, während sie<br />
den Ball küsst. Dieselben drei Elemente – küssen, Schlüssel <strong>und</strong><br />
ein Ball – kamen also in beiden Szenen vor. Wenn die Kinder<br />
nun den Satz „Sie küsst die Schlüssel“ oder „Sie küsst den Ball“<br />
hörten, blickten sie bevorzugt auf die jeweils zugehörige Szene.<br />
Bei den ersten Sätzen von Kindern handelt es sich um<br />
Zweiwortkombinationen; aus ihren einzelnen Äußerungen von<br />
„mehr“, „Saft“ <strong>und</strong> „trinken“ wird „mehr Saft“ <strong>und</strong> „Saft trinken“.<br />
Diese Zweiwortäußerungen wurden als Telegrammstil beschrieben,<br />
weil unwesentliche Elemente, genauso wie in Telegrammen,<br />
fehlen (Brown <strong>und</strong> Fraser 1963). Hier sind einige Beispiele für<br />
normale Zweiwortäußerungen (aus Gr<strong>im</strong>m <strong>und</strong> Weinert 2002):<br />
„Mama Arm“, „mehr habe“, „Auge zu“, „Tür auf “, „Papa Hut“,<br />
„Maxe weg“; Beispiele englischer Zweiwortäußerungen in Braine<br />
(1976). In diesen einfachen Sätzen ist eine Reihe von Elementen<br />
nicht enthalten, die in den Sätzen von Erwachsenen vorkommen<br />
würden; dazu gehören Funktionswörter (wie Artikel <strong>und</strong> Präpositionen),<br />
Hilfsverben (ist, war, wird) <strong>und</strong> Wortendungen (als<br />
Markierung von Plural oder Kasus bei Nomen oder Tempus bei<br />
Verben). Die ersten Sätze von Kindern besitzen diese telegrammartigen<br />
Eigenschaften in ganz unterschiedlichen Sprachen; beispielsweise<br />
auch <strong>im</strong> Englischen, Finnischen, Luo (Kenia) <strong>und</strong>
Sprachentwicklung<br />
221 6<br />
Kaluli (Neuguinea) (de Boysson-Bardies 1996/1999). Für Kinder,<br />
die Englisch lernen, kommt noch eine Besonderheit hinzu: Da<br />
<strong>im</strong> Englischen die Wortstellung für die Bedeutung entscheidend<br />
ist, folgen die ersten, einfachen Sätze Englisch lernender Kinder<br />
einer einheitlichen Wortstellung. Ein Kind sagt vielleicht „eat<br />
cookie“ („essen Keks“), würde aber wahrscheinlich niemals sagen<br />
„cookie eat“ („Keks essen“).<br />
Telegrammstil – Ein Begriff, der die ersten Sätze von Kindern, die meist Zweiwortkombinationen<br />
sind, beschreibt.<br />
Viele Kinder produzieren Ein- <strong>und</strong> Zweiwortäußerungen noch<br />
eine Zeitlang weiter, während andere schnell zu Dreiwortsätzen<br />
<strong>und</strong> längeren Sätzen übergehen. . Abbildung 6.12 zeigt das rapide<br />
Anwachsen der mittleren Äußerungslänge dreier Kinder aus Roger<br />
Browns (1973) klassischer Untersuchung der Sprachentwicklung.<br />
Wie man der Abbildung entnehmen kann, begann Eve mit ihrem<br />
explosiven Anstieg der Satzlänge viel früher als die beiden anderen<br />
Kinder. Die Äußerungen der Kinder werden zum Teil deshalb<br />
länger, weil sie anfangen, systematisch einige der Elemente, die in<br />
ihrer telegrammartigen Sprache fehlten, mit einzubeziehen.<br />
Wenn die Kinder erst einmal in der Lage sind, Vierwortsätze<br />
zu bilden, was typischerweise mit etwa zweieinhalb Jahren der<br />
Fall ist, dann beginnen sie auch damit, komplexere Sätze zu produzieren,<br />
also Sätze, die mehr als eine Phrase enthalten (Bowerman<br />
1979): „Can I do it when we get home?“ („Darf ich das, wenn<br />
wir zu Hause sind?“) oder „I want this doll because she’s big“<br />
(„Ich will diese Puppe, weil sie groß ist“) (L<strong>im</strong>ber 1973).<br />
Grammatik: Ein Werkzeug zur Wort- <strong>und</strong> Satzbildung<br />
Wie zu Beginn dieses Kapitels erwähnt sind die menschlichen<br />
Sprachen generativ: Mit einer beschränkten Anzahl von Wörtern<br />
<strong>und</strong> Morphemen <strong>im</strong> muttersprachlichen Wortschatz können wir<br />
eine unbeschränkte Zahl von Sätzen erzeugen <strong>und</strong> eine unbeschränkte<br />
Zahl von Aussagen produzieren. Dabei hat jede Sprache<br />
ihre eigenen Regeln (<strong>und</strong> Ausnahmen), die festlegen, wie Sprachelemente<br />
kombiniert werden können. Die Macht der Sprache<br />
beruht auf der Anwendung dieser Regeln, deren Beherrschung es<br />
jedem Einzelnen erlaubt, Sprache zu produzieren <strong>und</strong> zu verstehen,<br />
die weit über die Wörter oder Sätze hinausgeht, mit denen<br />
er bereits konfrontiert wurde. Wie kommt diese Beherrschung<br />
der Sprache zustande, insbesondere in den ersten Lebensjahren?<br />
In diesem Zusammenhang wurden vor allem Morpheme untersucht,<br />
die Verben oder Nomen hinzugefügt werden. So kann<br />
<strong>im</strong> Deutschen bei Nomen ein Plural-s angehängt werden oder<br />
bei einem Verb die Vergangenheitsform mit einem angehängten<br />
-te/-ten gebildet werden (neben anderen Möglichkeiten). Kleine<br />
Kinder erkennen diese Regeln <strong>und</strong> können sie auf neue Wörter<br />
anwenden. Dies wurde beispielsweise in einem klassischen Exper<strong>im</strong>ent<br />
von Berko (1958) nachgewiesen, in dem ihnen ein Bild<br />
mit einem Fantasietier gezeigt wurde, das die Exper<strong>im</strong>entatorin<br />
ein „Wug“ nannte. Dann wurde ein Bild mit zwei dieser Kreaturen<br />
vorgelegt, <strong>und</strong> die Exper<strong>im</strong>entatorin sagte: „Here are two of<br />
them, what are they?“ („Hier sind zwei davon; was sind das?“)<br />
Schon vierjährige Kinder antworteten problemlos „Wugs“. Diese<br />
Kinder hatten das Wort Wug zuvor noch nie gehört <strong>und</strong> generierten<br />
also die korrekte Pluralform für ein völlig neues Wort.<br />
..<br />
Abb. 6.12 Äußerungslänge. Der Zusammenhang zwischen dem Alter <strong>und</strong><br />
der mittleren Äußerungslänge von drei Kindern – Eve, Adam <strong>und</strong> Sarah –,<br />
untersucht von Roger Brown. (Brown 1973)<br />
Das heißt, sie konnten eine Generalisierung der zuvor gehörten<br />
Pluralbildungen vornehmen. Die Bef<strong>und</strong>e aus dieser Studie gelten<br />
als Beleg dafür, dass die teilnehmenden Kinder verstanden<br />
hatten, wie die Pluralbildung <strong>im</strong> Englischen funktioniert.<br />
Weitere Belege für eine Generalisierung ergaben sich daraus,<br />
wie Kinder mit Wortbildungen umgehen, die Ausnahmen von<br />
den Standardregeln sind. Im Englischen werden beispielsweise<br />
der Plural von man <strong>und</strong> die Vergangenheitsform von to go unregelmäßig<br />
gebildet. Kinder verwenden die korrekten unregelmäßigen<br />
Formen dieser Wörter <strong>und</strong> sagen „men“ als Plural von<br />
man <strong>und</strong> „went“ als Vergangenheitsform von go. Nachdem sie<br />
die passenden regelmäßigen Endungen gelernt haben, unterlaufen<br />
ihnen jedoch gelegentliche Übergeneralisierungen; das sind<br />
Fehler, bei denen sie unregelmäßige Formen so behandeln, als ob<br />
sie regelmäßig wären. Ein Kind, das zuvor bereits korrekterweise<br />
„men“ <strong>und</strong> „went“ sagte, produziert nun manchmal neue Formen<br />
wie „mans“ <strong>und</strong> „goed“ (Berko 1958; Kuczaj 1977; Xu <strong>und</strong> Pinker<br />
1995); <strong>im</strong> Deutschen findet sich analog statt „kam“ <strong>und</strong> „ging“<br />
plötzlich „kommte“, „kamte“ oder „gehte“. Bevor die Kinder die<br />
unregelmäßigen Formen endgültig beherrschen, wechseln sie<br />
manchmal zwischen Übergeneralisierung <strong>und</strong> korrekter unregelmäßiger<br />
Form hin <strong>und</strong> her (Marcus 1996, 2004). Der folgende<br />
(hier strukturanalog übersetzte) Dialog zwischen einem zweieinhalbjährigen<br />
Kind <strong>und</strong> seinem Vater illustriert diese Fehlerart<br />
sowie die Schwierigkeit einer Korrektur:<br />
Kind: Ich habe früher Windeln getragen. Als ich dann größer werdete<br />
(Pause)<br />
Vater: Als du größer wurdest?<br />
Kind: Als ich größer wurdete, trug ich Unterhosen.<br />
(Clark 1993)
222<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
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Übergeneralisierung – Sprachliche Fehler, bei denen Kinder unregelmäßige<br />
Wortformen so behandeln, als wären sie regelmäßig.<br />
Eltern spielen bei der grammatischen Entwicklung ihrer Kinder<br />
eine Rolle, obwohl diese begrenzter ist, als man vielleicht erwartet.<br />
Natürlich liefern die Eltern ein Modell der grammatikalisch<br />
korrekten Sprache. Außerdem ergänzen die Eltern häufig die fehlenden<br />
Teile der unvollständigen kindlichen Äußerungen, beispielsweise<br />
wenn auf das „nein Bett gehen“ eines <strong>Kindes</strong> reagiert<br />
wird mit „So, du willst jetzt also nicht ins Bett gehen?“<br />
Man könnte annehmen, dass Eltern auch zur Sprachentwicklung<br />
ihrer Kinder beitragen, indem sie die häufigen sprachlichen<br />
Fehler, die ihre Kinder machen, korrigieren. Tatsächlich ignorieren<br />
Eltern <strong>im</strong> Allgemeinen selbst die wildesten grammatikalischen Fehler<br />
<strong>und</strong> Äußerungen, die in der jeweiligen Sprache eigentlich gar<br />
nicht gebildet werden können (Bryant <strong>und</strong> Polkosky 2001; Brown<br />
<strong>und</strong> Hanlon 1970). Alles andere wäre auch anstrengend, weil ein<br />
Großteil des kindlichen Sprechens so beschaffen ist. Und wie bei<br />
dem Elternteil, der versuchte, bei seinem Sohn die Verwendung von<br />
„werdete“ zu korrigieren, sind solche Bemühungen ohnehin wenig<br />
effektiv. Im Allgemeinen neigen Eltern jedoch eher dazu, sachliche<br />
Irrtümer ihrer Kinder richtigzustellen als grammatikalische Fehler<br />
zu verbessern.<br />
Angesichts der wenigen elterlichen Grammatikkorrekturen<br />
stellt sich die Frage, wie die Kinder herausfinden, nach welchen<br />
Regeln die Syntax ihrer Muttersprache funktioniert. Eine Herangehensweise<br />
zur Beantwortung dieser Frage besteht darin,<br />
Miniatursprachen zu entwickeln – die sogenannten künstlichen<br />
Grammatiken – <strong>und</strong> zu untersuchen, welche Typen linguistischer<br />
Muster die Kinder lernen können. Schon nach kurzer Erfahrung<br />
mit einer Miniatursprache können Kinder bereits mit acht Monaten<br />
ziemlich komplexe Sprachmuster lernen <strong>und</strong> über die<br />
jeweils gehörten Sprachelemente hinausgehend generalisieren<br />
(z. B. Gerken et al. 2005; Gómez 2002; Lany <strong>und</strong> Saffran 2010;<br />
Marcus et al. 1999; Saffran et al. 2008). Beispielsweise konnten<br />
Babys nach dem Hören von Dreiwortsequenzen, in denen das<br />
zweite Wort wiederholt wird wie bei „le di di, wi je je, de li li …“,<br />
das Muster auch bei neuen Sequenzen wie „ko ga ga“ wiedererkennen<br />
(Marcus et al. 1999). Die weitere Forschung konzentriert<br />
sich auf die Frage, inwieweit diese Laboruntersuchungen Einblick<br />
in die Prozesse bieten, die Kinder be<strong>im</strong> Erwerb ihrer Muttersprache<br />
verwenden.<br />
Miniatursprache – Künstlich entwickelte Sprache, um den Erwerb von Grammatik<br />
bei Kindern zu untersuchen.<br />
Die krönende Leistung be<strong>im</strong> Spracherwerb ist die Fähigkeit,<br />
Wörter so zusammenzufügen, dass interpretierbare Sätze entstehen.<br />
Keine sprachliche Entwicklung dürfte so atemberaubend<br />
sein wie der Fortschritt, den Kinder binnen weniger Jahre von<br />
einfachen Zweiwortäußerungen bis hin zu komplexen Sätzen<br />
machen, die den Grammatikregeln der eigenen Muttersprache<br />
entsprechen. Selbst ihre Fehler lassen eine <strong>im</strong>mer differenziertere<br />
Repräsentation der grammatischen Struktur erkennen. Diese<br />
Leistung erscheint umso eindrucksvoller, als das elterliche Feedback<br />
großenteils fehlt. Die Art, wie sich dieses Lernen vollzieht,<br />
steht <strong>im</strong> Mittelpunkt der aktuellen Forschung.<br />
Gesprächsfähigkeit<br />
Kleine Kinder sind darauf erpicht, an Gesprächen mit anderen<br />
teilzunehmen, doch hinken ihre diesbezüglichen Kompetenzen<br />
am Anfang sehr hinter ihren aufke<strong>im</strong>enden sprachlichen<br />
Fähigkeiten her. Zum einen richtet sich ein Großteil des Sprechens<br />
sehr kleiner Kinder an sie selbst <strong>und</strong> nicht an andere<br />
Personen. Das gilt nicht nur dann, wenn ein Kind allein spielt:<br />
Die Hälfte der Äußerungen, die ein Kind in Gegenwart anderer<br />
Kinder oder Erwachsener ausspricht, sind an es selbst gerichtet<br />
(Schoeber-Peterson <strong>und</strong> Johnson 1991). Wygotski (1934/2002)<br />
glaubte, dass diese Selbstgespräche kleiner Kinder eine wichtige<br />
regulative Funktion besitzen: Kinder sprechen zu sich selbst,<br />
um ihre Handlungen zu organisieren (Behrend et al. 1992). Mit<br />
der Zeit wird das Selbstgespräch als Denken internalisiert, <strong>und</strong><br />
die Kinder werden fähig, ihr Verhalten mit geistigen Mitteln zu<br />
organisieren, sodass sie nicht mehr laut zu <strong>und</strong> mit sich selbst<br />
sprechen müssen.<br />
In ▶ Kap. 4 wurde bereits darauf hingewiesen, dass Kinder <strong>im</strong><br />
Gespräch mit anderen Kindern dazu neigen, sich kommunikativ<br />
egozentrisch zu verhalten. Piaget (1923/1983) bezeichnete dieses<br />
Sprechen von Kindern mit Gleichaltrigen als kollektive Monologe.<br />
Selbst wenn sie sich bei ihren Gesprächsbeiträgen abwechseln,<br />
entsteht insgesamt kaum ein logischer Zusammenhang,<br />
sondern die Inhalte der jeweiligen Redebeiträge haben wenig<br />
oder nichts damit zu tun, was ein anderes Kind jeweils unmittelbar<br />
zuvor gesagt hat. Die folgende Unterhaltung zwischen zwei<br />
amerikanischen Vorschulkindern vermittelt eine Vorstellung von<br />
Piagets Beobachtungen:<br />
Jenny: Meine Hasenhausschuhe […] sind braun <strong>und</strong> rot <strong>und</strong> so was<br />
wie gelb <strong>und</strong> weiß. Und sie haben Augen <strong>und</strong> Ohren <strong>und</strong> solche<br />
Nasen, die sich auf die Seite biegen, wenn sie sich küssen.<br />
Chris: Ich habe ein Stück Zucker in einem roten Stück Papier. Ich<br />
würde es essen, aber vielleicht ist es für ein Pferd.<br />
Jenny: Wir haben sie gekauft. Meine Mama hat sie gekauft. Wir konnten<br />
die alten nicht mehr finden. Die jetzt sind genauso wie die alten.<br />
Sie waren nicht <strong>im</strong> Kofferraum.<br />
Chris: Das Stück Zucker kann man nicht essen, wenn man das Papier<br />
nicht wegmacht.<br />
(Stone <strong>und</strong> Church 1957, S. 146 f.)<br />
Kollektiver Monolog – Gespräch unter Kindern, bei dem der Inhalt dessen, was<br />
das eine Kind sagt, wenig oder gar nichts mit dem zu hat, was das andere Kind<br />
gerade gesagt hat. Die Äußerungen weisen inhaltlich keinen wechselseitigen<br />
Bezug auf.<br />
Nach <strong>und</strong> nach wächst die Fähigkeit von Kindern, ein Gespräch<br />
aufrechtzuerhalten. In einer Längsschnittstudie der Eltern-Kind-<br />
Gespräche von vier Kindern <strong>im</strong> Alter von 21 bis zu 36 Monaten<br />
fanden Bloom et al. (1976), dass sich der Anteil kindlicher Äußerungen,<br />
die sich auf dasselbe Thema bezogen, zu dem ein Erwachsener<br />
gerade etwas gesagt hatte, <strong>im</strong> Beobachtungszeitraum<br />
mehr als verdoppelte (von etwa 20 auf über 40 %). Im Gegensatz<br />
dazu fiel der Anteil der Folgeäußerungen, die sich auf andere<br />
Themen bezogen, von etwa 20 % auf praktisch 0.<br />
In den Gesprächen jüngerer Kinder ändert sich ein Merkmal<br />
<strong>im</strong> Vorschulalter besonders drastisch: das Ausmaß, in dem sie über
Sprachentwicklung<br />
223 6<br />
Vergangenes sprechen. Die Gespräche von Dreijährigen enthalten<br />
höchstens ab <strong>und</strong> zu kurze Beiträge, die sich auf vergangene Ereignisse<br />
beziehen. Im Gegensatz dazu produzieren Fünfjährige bereits<br />
Erzählungen – Beschreibungen zurückliegender Ereignisse,<br />
die die Gr<strong>und</strong>struktur einer Geschichte aufweisen (Miller <strong>und</strong><br />
Sperry 1988; Nelson 1993). Die längeren, zusammenhängenderen<br />
Erzählungen werden unter anderem deshalb möglich, weil die<br />
Gr<strong>und</strong>struktur einer Geschichte von den Kindern besser verstanden<br />
wird (Peterson <strong>und</strong> McCabe 1988; Shapiro <strong>und</strong> Hudson 1991;<br />
Stein 1988).<br />
Erzählungen – Beschreibungen zurückliegender Ereignisse, die der Gr<strong>und</strong>struktur<br />
einer Geschichte folgen.<br />
Eltern helfen ihren Kindern aktiv bei der Entwicklung der Fähigkeit,<br />
vergangene Ereignisse in zusammenhängender Weise zu<br />
reproduzieren, indem sie die in ▶ Kap. 4 bereits erwähnte soziale<br />
Stützung auch für die Erzählungen ihrer Kinder gewähren<br />
(Bruner 1975). Eine effektive Art, die kindlichen Redebeiträge<br />
über Vergangenes zu strukturieren, besteht darin, elaborierende<br />
Fragen zu stellen – Fragen, die sie in die Lage versetzen, etwas<br />
zu sagen <strong>und</strong> auszuarbeiten, was die Geschichte vorantreibt <strong>und</strong><br />
weiterbringt.<br />
Elaborierende Fragen – Fragen von Erwachsenen, die das Kind dazu anregen,<br />
eine Geschichte genauer zu erzählen.<br />
Mutter: Und was passierte bei der Feier noch?<br />
Kind: Ich weiß nicht.<br />
Mutter: Wir haben mit allen anderen Kindern etwas ganz Besonderes<br />
gemacht.<br />
Kind: Was war das?<br />
Mutter: Es waren ganz viele Leute am Strand, <strong>und</strong> alle taten etwas<br />
<strong>im</strong> Sand.<br />
Kind: Was war das?<br />
Mutter: Kannst du dich nicht daran erinnern, was wir <strong>im</strong> Sand gemacht<br />
haben? Wir haben nach etwas gesucht.<br />
Kind: Hm, ich weiß nicht.<br />
Mutter: Wir haben <strong>im</strong> Sand gegraben.<br />
Kind: Hm, <strong>und</strong> das war, äh, als die gelbe Schaufel kaputt gegangen ist.<br />
Mutter: Gut! Das hatte ich ganz vergessen. Ja, die gelbe Schaufel ging<br />
kaputt, <strong>und</strong> was passierte dann?<br />
Kind: Hm, wir mussten, äh, mit dem anderen Ende von dem abgebrochenen<br />
gelben Stück graben.<br />
Mutter: Richtig. Wir haben das abgebrochene Stück genommen.<br />
Kind: Jaah.<br />
(Farrant <strong>und</strong> Reese 2002)<br />
Das Kind sagt in dieser Unterhaltung nicht wirklich viel, aber<br />
die Fragen helfen dem Kind, über das Geschehen nachzudenken,<br />
<strong>und</strong> die Mutter liefert außerdem ein Gesprächsmodell. Kleinkinder,<br />
deren Eltern ihre frühen Gespräche unterstützen, indem sie<br />
sinnvolle, elaborative Fragen stellen, können ein paar Jahre später<br />
selbst bessere Erzählungen produzieren (Fivush 1991; McCabe<br />
<strong>und</strong> Peterson 1991; Reese <strong>und</strong> Fivush 1993).<br />
..<br />
Eltern helfen ihren jüngeren Kindern normalerweise be<strong>im</strong> Sprechen über<br />
zurückliegende Ereignisse. Solche Unterhaltungen tragen zur frühen Sprachentwicklung<br />
bei. (© D<strong>im</strong>itry Ersler/fotolia.com)<br />
Ein entscheidender Faktor auf dem Weg, ein guter Konversationspartner<br />
zu werden, ist die Entwicklung der Sprachpragmatik, die<br />
es den Kindern ermöglicht zu verstehen, wie Sprache kommunikativ<br />
eingesetzt werden kann. Dieses Verständnis ist bei Äußerungen<br />
entscheidend, bei denen die nicht explizit in Worten ausgedrückte<br />
Botschaften vom Hörer verstanden werden müssen – etwa wenn<br />
rhetorische Fragen, sarkastische oder ironische Bemerkungen,<br />
Übertreibungen oder auch Untertreibungen <strong>und</strong> Tiefstapelei eingesetzt<br />
werden, um etwas auf den Punkt zu bringen.<br />
Sprachpragmatik – Wissen darüber, welche Äußerungen in einem best<strong>im</strong>mten<br />
sozialen Kontexten passend sind oder wie Äußerungen in einem best<strong>im</strong>mten<br />
Kontext zu interpretieren ist.<br />
Die sprachpragmatischen Fähigkeiten der Kinder entwickeln sich<br />
<strong>im</strong> Laufe der Vorschulzeit <strong>und</strong> erleichtern die Kommunikation<br />
mit anderen Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen. Insbesondere wird nun<br />
gelernt, die Perspektive des Gesprächspartners zu übernehmen<br />
– etwas, das in der oben zitierten „Konversation“ zwischen Jenny<br />
<strong>und</strong> Chris völlig fehlt. Im Kindergartenalter wird die Perspektive<br />
des Gesprächspartners genutzt (beispielsweise ob der Gesprächspartner<br />
eine wichtige Information schon kennt oder noch nicht),<br />
um herauszufinden, was der andere meint, <strong>und</strong> eine passende<br />
Antwort zu geben (Nadig <strong>und</strong> Sedivy 2002; Nilsen <strong>und</strong> Graham<br />
2009). Die Entwicklung dieser Fähigkeit hängt mit dem Grad der<br />
exekutiven Kontrolle zusammen. In dem Maße, in dem Kinder<br />
ihre Neigung, dem anderen die eigene Perspektive zu unterstellen,<br />
kontrollieren können, wird es für sie leichter, die Perspektive<br />
des Gesprächspartners zu übernehmen.<br />
Kinder lernen zudem, be<strong>im</strong> Verstehen der Bedeutung nicht<br />
nur Wörter als Information heranzuziehen. So können Kindergartenkinder<br />
die Intention des Sprechers bei mehrdeutigen<br />
Formulierungen anhand der emotionalen Tonlage herausfinden<br />
(Berman et al. 2010). Als ihnen zwei Puppen – eine intakte <strong>und</strong><br />
eine defekte – mit dem Hinweis „Look at the doll“ („Schau auf<br />
die Puppe“) gezeigt wurden, wandten sich die Vierjährigen (aber<br />
nicht die Dreijährigen) dann der intakten Puppe zu, wenn der<br />
Hinweis in fre<strong>und</strong>lichem Ton gegeben wurde, während sie bei<br />
negativem Affekt in der Instruktion zur defekten Puppe schauten.
224<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
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Wir sehen also, dass jüngere Kinder ihre wachsenden sprachlichen<br />
Fähigkeiten gut zum Einsatz bringen <strong>und</strong> so <strong>im</strong> Gespräch<br />
mit anderen Menschen <strong>im</strong>mer bessere Kommunikationspartner<br />
werden. Am Anfang brauchen sie noch beträchtliche Unterstützung<br />
durch einen kompetenten Partner, aber ihre Gesprächskompetenz<br />
macht stetige Fortschritte. Bei dieser Entwicklung<br />
der Konversationsfähigkeiten sind das zunehmende Verstehen<br />
von narrativen Strukturen <strong>und</strong> die Übernahme der Perspektive<br />
anderer entscheidende Komponenten.<br />
Die spätere Entwicklung<br />
Ab einem Alter von fünf oder sechs Jahren entwickeln Kinder<br />
ihre sprachlichen Fähigkeiten zwar weiter, aber sie zeigen dabei<br />
weniger drastische Neuleistungen. Beispielsweise erweitert sich<br />
ihre Fähigkeit, ein Gespräch zu führen, nachdem sie sich in den<br />
Vorschuljahren so dramatisch verbessert, über viele Jahre bis ins<br />
Erwachsenenalter ständig. Im Schulalter können die Kinder zunehmend<br />
besser Sprache analysieren <strong>und</strong> reflektieren, <strong>und</strong> sie<br />
beherrschen komplexere grammatische Regeln wie beispielsweise<br />
den Gebrauch von Passivkonstruktionen.<br />
Eine Folge der reflektierenden Sprachfähigkeiten von Kindern<br />
<strong>im</strong> Schulalter besteht in ihrem zunehmenden Verständnis<br />
der mehrfachen Bedeutungen von Wörtern, was eine endlose<br />
Reihe von Wortspielen, Rätseln <strong>und</strong> Witzchen nach sich zieht,<br />
an denen sich Gr<strong>und</strong>schulkinder erfreuen <strong>und</strong> mit denen sie<br />
ihre Eltern quälen (Ely <strong>und</strong> McCabe 1994). Auch können sie die<br />
Bedeutung neuer Wörter einfach dadurch erlernen, dass sie eine<br />
Umschreibung hören (Pressley et al. 1987); dadurch erweitert sich<br />
ihr passiver Wortschatz – von den 10.000 Wörtern, die Sechsjährige<br />
durchschnittlich kennen, zu den 40.000 Wörtern, die für<br />
Fünftklässler geschätzt werden (Anglin 1993), <strong>und</strong> schließlich<br />
dem Wortschatz von amerikanischen College-Studenten, der auf<br />
durchschnittlich 150.000 Wörter geschätzt wird (Miller <strong>und</strong> Gildea<br />
1987).<br />
Theoriefragen der Sprachentwicklung<br />
Wie sich in diesem Kapitel <strong>im</strong>mer wieder gezeigt hat, gibt es bei<br />
der Sprachentwicklung zahlreiche Hinweise auf Einflüsse von<br />
Natur <strong>und</strong> Umwelt. Zwei entscheidende Voraussetzungen für<br />
den Spracherwerb sind (1) das menschliche Gehirn <strong>und</strong> (2) die<br />
Erfahrung mit menschlicher Sprache. Die erste Voraussetzung<br />
betrifft klarerweise die Natur, die zweite die Umwelt. Ungeachtet<br />
der unübersehbaren Interaktion zwischen beiden Faktoren geht<br />
die Anlage-Umwelt-Debatte auf dem Gebiet der Sprachentwicklung<br />
mit erbitterter Heftigkeit weiter. Warum?<br />
Chomsky <strong>und</strong> die nativistischen Positionen<br />
Die Forschung zur Sprachentwicklung entstand aus einer theoretischen<br />
Diskussion darüber, welche Prozesse dem Spracherwerb<br />
zugr<strong>und</strong>e liegen. In den 1950er Jahren schrieb B. F. Skinner<br />
(1957) ein Buch mit dem Titel Verbal Behavior, in dem er eine<br />
behavioristische Theorie der Sprachentwicklung vorstellte. Wie<br />
in ▶ Kap. 1 erwähnt, betrachteten die Behavioristen Entwicklung<br />
als eine Funktion des Lernens durch Belohnung (Verstärkung)<br />
<strong>und</strong> Bestrafung overten Verhaltens. Skinner meinte, dass Eltern<br />
Kindern mit den gleichen Methoden der Verstärkung das<br />
Sprechen beibringen, mit denen man Tiere auf neues Verhalten<br />
trainiert.<br />
23<br />
..<br />
Dem Sprachtheoretiker Noam Chomsky zufolge verlassen sich alle diese Kinder be<strong>im</strong> Erwerb ihrer verschiedenen Sprachen auf dieselben angeborenen<br />
syntaktischen Strukturen. (oben li. © Photos.com, oben re. © Dave Bartruff/Danitadel<strong>im</strong>ont.com, unten li. Courtesy of © Kate Nurre, unten re. © Richard Lords/<br />
The Image Works)
Sprachentwicklung<br />
225 6<br />
In einer der wohl einflussreichsten jemals publizierten<br />
Buchrezension veröffentlichte Noam Chomsky (1959) eine Erwiderung<br />
gegen Skinner, in der er einige Gründe dafür angab,<br />
warum Sprache nicht durch Verstärkung <strong>und</strong> Bestrafung gelernt<br />
werden kann. Ein solcher Gr<strong>und</strong> wurde bereits in diesem Kapitel<br />
erwähnt: Wir können Sätze verstehen oder produzieren,<br />
die wir nie zuvor gehört haben (Generativität). Wenn Sprachenlernen<br />
durch Verstärkung <strong>und</strong> Bestrafung vorangetrieben<br />
würde, wie können wir dann wissen, dass ein Satz wie „Farblose<br />
grüne Ideen schlafen wild“ grammatisch ist, während „Grüne<br />
schlafen farblose wild Ideen“ nicht grammatisch ist (Chomsky<br />
1959)? Und wie könnten Kinder Wörter wie gehte oder Kuhs<br />
produzieren, die sie nie zuvor gehört haben? Die Erklärung für<br />
solche Beispiele kann nur darin liegen, dass wir Einzelheiten<br />
über die Struktur unserer Muttersprache kennen, die uns nicht<br />
beigebracht wurden – etwas, das sich nicht beobachten lässt <strong>und</strong><br />
mithin nicht verstärkt werden kann, <strong>im</strong> Gegensatz zu Skinners<br />
Annahme.<br />
Bei seiner eigenen Erklärung der Sprachentwicklung ging<br />
Chomsky davon aus, dass Menschen über eine angeborene Universalgrammatik<br />
verfügen, ein fest verschaltetes System von<br />
Regeln <strong>und</strong> Prinzipien, dem die Grammatiken aller Sprachen<br />
folgen. Chomskys Darstellung hat zentrale Bedeutung für die<br />
Entwicklung der modernen Linguistik als Disziplin <strong>und</strong> steht mit<br />
der Tatsache <strong>im</strong> Einklang, dass die gr<strong>und</strong>legenden Strukturen der<br />
Weltsprachen wesentliche Ähnlichkeiten aufweisen. Seine stark<br />
nativistische Darstellung liefert außerdem eine Erklärung dafür,<br />
dass die meisten Kinder Sprache ungemein schnell erwerben,<br />
während das bei Nichtmenschen (denen eine Universalgrammatik<br />
vermutlich fehlt) nicht der Fall ist. Die Annahme einer<br />
Universalgrammatik hat bei der Erforschung neu entstehender<br />
Sprachen wie der nicaraguanischen Gebärdensprache eine wichtige<br />
Rolle gespielt, bei der Kinder neue grammatische Strukturen<br />
schaffen (▶ Exkurs 6.4).<br />
Universalgrammatik – Eine Reihe hochabstrakter, unbewusster Regeln, die<br />
allen Sprachen gemeinsam sind.<br />
Die aktuelle Debatte zur Sprachentwicklung<br />
Einige der gr<strong>und</strong>legenden Beobachtungen Chomskys werden<br />
heute von allen Theorien als gültig angenommen. Um die Sprachentwicklung<br />
zu erklären, muss man auch der Tatsache Rechnung<br />
tragen, warum alle menschlichen Sprachen so viele gemeinsame<br />
Merkmale aufweisen. Theorien müssen zudem erklären, wodurch<br />
Kinder <strong>und</strong> Erwachsenen die Fähigkeit gewinnen, be<strong>im</strong><br />
Verwenden von Sprache Generalisierungen zu bilden, die über<br />
die zuvor bereits wahrgenommenen Wörter <strong>und</strong> Sätze hinausgehen.<br />
Allerdings unterscheiden sich die Darstellungen dieser<br />
Tatsache in zwei wichtigen Hinsichten: Zum einen geht es darum,<br />
in welchem Ausmaß die Natur des <strong>Kindes</strong> (interne Faktoren)<br />
bzw. die Umwelt (externe Faktoren) als Erklärung herangezogen<br />
wird, zum anderen um die Beiträge des <strong>Kindes</strong>: Haben sich die<br />
kognitiven <strong>und</strong> neuronalen Mechanismen, die dem Sprachenlernen<br />
zugr<strong>und</strong>e liegen, evolutionär bereichsspezifisch nur für das<br />
Sprachenlernen entwickelt, oder werden sie bereichsübergreifend<br />
zum Lernen vieler verschiedener Kenntnisse <strong>und</strong> Fähigkeiten<br />
genutzt?<br />
In Bezug auf Umwelt <strong>und</strong> Natur haben die Theoretiker<br />
Chomskys Argument von der Universalität der Sprache widersprochen<br />
<strong>und</strong> darauf hingewiesen, dass es auch Universalien in<br />
den Umgebungen von Kindern gibt. Überall auf der Welt müssen<br />
Eltern mit ihren Kindern über gewisse Dinge kommunizieren,<br />
<strong>und</strong> dies sollte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in<br />
der Sprache, die Kinder lernen, widerspiegeln. Betrachten Sie<br />
beispielsweise noch einmal . Tab. 6.1, die eine bemerkenswerte<br />
Überschneidung bei den ersten Wörtern zeigt, die Kinder dreier<br />
sehr verschiedener Kulturen erwerben (Tardif et al. 2008). Diese<br />
Ähnlichkeiten geben wieder, worüber Eltern mit ihren Kindern<br />
reden wollen <strong>und</strong> was Kinder sagen wollen.<br />
Tatsächlich gehen Erklärungen, die sich auf die soziale Interaktion<br />
stützen, von der Annahme aus, dass bei der Sprachentwicklung<br />
praktisch alles durch die kommunikative Funktion<br />
beeinflusst wird. Die Kinder werden motiviert, mit anderen zu<br />
interagieren, ihre eigenen Gedanken <strong>und</strong> Gefühle mitzuteilen<br />
<strong>und</strong> zu verstehen, was andere Menschen mitzuteilen versuchen<br />
(Bloom 1991; Bloom <strong>und</strong> Tinker 2001; Snow 1999). Von diesem<br />
Standpunkt aus betrachtet entdecken Kinder allmählich die<br />
gr<strong>und</strong>legenden Regelmäßigkeiten in der Sprache <strong>und</strong> ihrer Verwendung,<br />
indem sie sehr aufmerksam auf die vielfältigen Hinweise<br />
in der jeweils gehörten Sprache, dem sozialen Kontext des<br />
Sprachverwendens <strong>und</strong> den Intentionen des Sprechers achten<br />
(z. B. Tomasello 2008). Einige dieser Konventionen könnten anhand<br />
der gleichen Methoden der Verstärkung gelernt werden, die<br />
Skinner ursprünglich vorgeschlagen hatte. So haben Goldstein<br />
<strong>und</strong> Koautoren (Goldstein et al. 2003; Goldstein <strong>und</strong> Schwade<br />
2008) festgestellt, dass bei Kindern die Laute be<strong>im</strong> Plappern<br />
<strong>und</strong> die Zahl der in einem gegebenen Zeitintervall produzierten<br />
Plapperlaute dadurch beeinflusst werden können, dass Eltern<br />
auf dieses Plappern mit Verstärkung wie Lächeln <strong>und</strong> Streicheln<br />
reagieren. Inwieweit diese Art sozialen Verhaltens weniger offen<br />
erkennbare Aspekte der Sprachentwicklung wie den Erwerb der<br />
Syntax beeinflussen, bleibt jedoch unklar.<br />
Wie sieht nun die Erklärung des Spracherwerbs aus, die bereichsspezifische<br />
Prozesse als Gr<strong>und</strong>lage vermutet? Gemäß der<br />
streng nativistischen Sicht, wie sie Chomsky unterstützte, sind<br />
die kognitiven Fähigkeiten, die die Sprachentwicklung fördern,<br />
hochgradig sprachspezifisch. Steven Pinker (1996, S. 21) beschreibt<br />
Sprache als einen klar umrissenen Teil der biologischen<br />
Ausstattung unseres Gehirns, der von allgemeineren Fähigkeiten<br />
wie dem Verarbeiten von Informationen oder intelligentem Verhalten<br />
zu trennen sei. Diese Behauptung wird von der Modularitätshypothese<br />
noch einen Schritt weitergeführt, der zufolge<br />
das menschliche Gehirn ein angeborenes, unabhängiges Modul<br />
enthält, das von anderen Aspekten des kognitiven Funktionierens<br />
getrennt ist (Fodor 1983). Die Vorstellung spezialisierter geistiger<br />
Module bleibt nicht auf Sprache beschränkt. Wie in ▶ Kap. 7 ausgeführt<br />
wird, werden Module für spezifische Zwecke als Gr<strong>und</strong>lage<br />
einer Vielzahl von Funktionsbereichen angenommen – so<br />
etwa als Gr<strong>und</strong>lage der Wahrnehmung, räumlicher Fähigkeiten<br />
oder des sozialen Verstehens.<br />
Modularitätshypothese – Die Vorstellung, dass das menschliche Gehirn ein<br />
angeborenes, unabhängiges Sprachmodul enthält, das von anderen Aspekten<br />
des kognitiven Funktionierens getrennt ist.
226<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
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Exkurs 6.4: Näher betrachtet: „Ohne meine Hände kann ich nicht reden“ – Was uns Gesten über unsere Sprache verraten | |<br />
Überall auf der Welt begleiten Menschen ihr<br />
Sprechen mit spontanen Gesten. Die Natürlichkeit<br />
des Gestikulierens zeigt sich daran,<br />
dass blinde Menschen be<strong>im</strong> Sprechen genauso<br />
viel gestikulieren wie sehende, selbst<br />
wenn sie wissen, dass ihr Zuhörer ebenfalls<br />
blind ist (Iverson <strong>und</strong> Goldin-Meadow 1998).<br />
Das Gestikulieren entsteht früh: Kleinkinder<br />
produzieren erkennbare Gesten oft vor<br />
erkennbaren Wörter. Nach Acredolo <strong>und</strong><br />
Goodwyn (1990) werden viele „Babyzeichen“<br />
von den Kindern selbst erf<strong>und</strong>en. Eine ihrer<br />
Versuchspersonen zeigte „Krokodil“, indem<br />
sie die Hände aneinanderlegte <strong>und</strong> wie zwei<br />
zuschnappende Kiefer auf- <strong>und</strong> zuklappte;<br />
eine andere machte eine Geste für „H<strong>und</strong>“,<br />
indem sie ihre Zunge wie be<strong>im</strong> Hecheln<br />
herausstreckte; wieder eine andere signalisierte<br />
„Blume“ durch Riechbewegungen.<br />
Kleinkinder gewinnen früher die motorische<br />
Kontrolle über ihre Hände als über ihren<br />
Vokaltrakt.<br />
Es gibt einen interessanten Zusammenhang<br />
von frühem Gestikulieren <strong>und</strong> späterem<br />
Wortschatz (Rowe et al. 2008). Je mehr<br />
Gebrauch die Kinder mit 14 Monaten von<br />
Gesten gemacht hatten, desto größer war<br />
mit 42 Monaten ihr Wortschatz. Überdies<br />
ist die unterschiedliche Ausprägung des<br />
Gestikulierens in Familien mit niedrigem<br />
bzw. hohem sozioökonomischem Status ein<br />
wichtiger Faktor, der zu den in ▶ Exkurs 6.2<br />
diskutierten Unterschieden bei der Entwicklung<br />
von Sprachfertigkeiten beiträgt (Rowe<br />
<strong>und</strong> Goldin-Meadow 2009).<br />
Besonders gewichtige Belege für die engen<br />
Beziehungen zwischen Gestik <strong>und</strong> Sprache<br />
stammen aus der Untersuchung von<br />
Kindern, die ihre eigenen gestenbasierten<br />
Sprachen selbst kreiert haben. Goldin-<br />
Meadow <strong>und</strong> ihre Mitautoren (Feldman<br />
et al. 1978; Goldin-Meadow 2003; Goldin-<br />
Meadow <strong>und</strong> Mylander 1998) untersuchten<br />
von Geburt an gehörlose amerikanische<br />
<strong>und</strong> chinesische Kinder, deren Eltern kaum<br />
oder keine Kenntnisse irgendeiner offiziellen<br />
Gebärdensprache besaßen. Diese Kinder<br />
<strong>und</strong> ihre Eltern erfanden sich „Hauszeichen“,<br />
um sich miteinander zu verständigen. Das<br />
Gestenvokabular der Kinder übertraf jedoch<br />
schnell das ihrer Eltern.<br />
Wichtiger noch ist, dass die Kinder (aber<br />
nicht die Eltern) ihre Gesten spontan mit einer<br />
Struktur – einer rud<strong>im</strong>entären Grammatik<br />
– versahen. Beide Gruppen von Kindern<br />
verwendeten eine grammatische Struktur,<br />
die in manchen Sprachen vorkommt, aber<br />
weder <strong>im</strong> Englischen noch <strong>im</strong> Mandarin<br />
ihrer jeweiligen Eltern. Im Ergebnis waren<br />
die Zeichensysteme der Kinder einander<br />
ähnlicher als denen ihrer Eltern. Auch waren<br />
die Zeichen der Kinder komplexer als die<br />
ihrer Eltern. Ein ähnliches Phänomen kann<br />
man bei gehörlosen Kindern beobachten,<br />
die das Gebärden von ihren Eltern anhand<br />
einer gebräuchlichen Gebärdensprache lernen,<br />
die jedoch von den Eltern grammatisch<br />
fehlerhaft verwendet wird (etwa weil sie<br />
erst spät <strong>im</strong> Leben das Gebärden erlernten).<br />
In solchen Fällen hat man bei gehörlosen<br />
Kindern beobachtet, dass sie spontan ihre<br />
Gebärden mit einer Struktur versehen, die<br />
konsistenter ist als bei den von den Eltern<br />
produzierten Gebärden (Singleton <strong>und</strong><br />
Newport 2004).<br />
Das umfassendste <strong>und</strong> außergewöhnlichste<br />
Beispiel einer von Kindern geschaffenen<br />
Sprache stammt aus der Erfindung der<br />
Nicaraguanischen Zeichensprache (Nicaraguan<br />
Sign Language, NSL), einer vollständig<br />
neuen Sprache, die sich <strong>im</strong> Verlauf der<br />
letzten 30 Jahre herausgebildet hat. 1979<br />
begann ein groß angelegtes Bildungsprogramm<br />
für Gehörlose in dem mittelamerikanischen<br />
Land Nicaragua (Senghas <strong>und</strong><br />
Coppola 2001). Dieses Programm führte<br />
H<strong>und</strong>erte gehörloser Kinder in der Stadt<br />
Managua in zwei Schulen zusammen. Für<br />
die meisten der Kinder war es das erste Mal,<br />
dass sie mit anderen gehörlosen jungen<br />
Menschen zu tun hatten.<br />
Weder die Lehrer in den Schulen konnten<br />
eine offizielle Gebärdensprache noch die<br />
Kinder, die nur über die einfachen Hauszeichen<br />
verfügten, mit denen sie sich mit<br />
ihren Familien verständigt hatten. Die Kinder<br />
fingen bald damit an, wechselseitig ihre bestehenden<br />
informellen Zeichen auszubauen,<br />
<strong>und</strong> konstruierten eine „Pidgin“-Gebärdensprache<br />
– ein relativ pr<strong>im</strong>itives, begrenztes<br />
Kommunikationssystem. (Eine Pidgin-Sprache<br />
muss man sich so ähnlich wie das bei<br />
uns bekannte „Gastarbeiterdeutsch“ vorstellen.)<br />
Die Schüler gebrauchten diese Sprache<br />
sowohl innerhalb als auch außerhalb der<br />
Schule, <strong>und</strong> neu hinzukommende Gruppen<br />
von Kindern lernten diese Sprache.<br />
Was als Nächstes passierte, war erstaunlich.<br />
Als neue, jüngere Schüler in die Schulen kamen,<br />
verwandelten sie das von den älteren<br />
Schülern verwendete rud<strong>im</strong>entäre System<br />
in eine komplexe, völlig konsistente Sprache<br />
mit ihrer eigenen Grammatik, die Nicaraguanische<br />
Zeichensprache (Idioma de Signos Nicaragüense,<br />
ISN). Die flüssigsten Gebärdenproduzenten<br />
waren die jüngsten Kinder, weil<br />
sich die Nicaraguanische Zeichensprache zu<br />
einer vollgültigen Sprache herausgebildet<br />
hatte <strong>und</strong> weil sie diese Sprache in jungen<br />
Jahren erworben hatten.<br />
Vor kurzem wurde eine weitere Gebärdensprache<br />
in der Negev-Wüste in Israel<br />
entdeckt (Sandler et al. 2005). Die Al-Sayyid-<br />
Beduinen-Zeichensprache (ABSL) wird<br />
derzeit in der dritten Generation verwendet<br />
<strong>und</strong> ist schon 75 Jahre alt. Anders als die<br />
Nicaraguanische Gebärdensprache wird die<br />
Gebärdensprache der Beduinen von Geburt<br />
an erworben, weil gehörlose Kinder in ihrer<br />
weiteren Familie normalerweise mindestens<br />
einen erwachsenen Verwandten haben, der<br />
ebenfalls gehörlos ist. Die grammatische<br />
Struktur dieser Gebärdensprache ähnelt<br />
nicht den Umgangssprachen dieser Region,<br />
dem Arabischen <strong>und</strong> Hebräischen.<br />
Die Berichte über die Einführung neuer Sprachen<br />
durch gehörlose Kinder ist nicht nur<br />
eine faszinierende Geschichte, sondern sie<br />
belegen den Beitrag der Kinder be<strong>im</strong> Sprachenlernen.<br />
Über mehrere Generationen<br />
haben Kinder <strong>im</strong>provisierte, einfache <strong>und</strong><br />
wenig konsistente Gebärden aufgenommen<br />
<strong>und</strong> in Strukturen so transformiert, dass sie<br />
etablierten Sprachen <strong>im</strong>mer näherkamen. Inwieweit<br />
dieser Prozess das Wirken einer Universalgrammatik<br />
<strong>im</strong> Sinne Chomskys oder<br />
allgemeinere Lernmechanismen widerspiegelt,<br />
wissen wir nicht. Die Entdeckung, dass<br />
Kinder über den sprachlichen Input, den<br />
sie erhalten, hinausgehen <strong>und</strong> von sich aus<br />
ihre Sprache verfeinern <strong>und</strong> systematisieren,<br />
gehört zu den wichtigsten Entdeckungen <strong>im</strong><br />
Bereich der Sprachentwicklung.<br />
..<br />
Dieses kleine Mädchen aus der Untersuchung<br />
von Acredolo <strong>und</strong> Goodwyn (1990)<br />
gebärdet in einer „Babysprache“ ein idiosynkratisches<br />
Zeichen für das Schwein. (© Susan<br />
Goodwyn)
Sprachentwicklung<br />
227 6<br />
Exkurs 6.4 (Fortsetzung) | |<br />
..<br />
Gehörlose nicaraguanische Kinder gebärden<br />
gemeinsam in der Sprache, die in ihrer Schule<br />
erf<strong>und</strong>en wurde. (© Ann Senghas; mit fre<strong>und</strong>licher<br />
Genehmigung)<br />
Eine andere Position n<strong>im</strong>mt an, dass die gr<strong>und</strong>legenden Lernmechanismen<br />
be<strong>im</strong> Spracherwerb tatsächlich sehr allgemein sind.<br />
Zwar könnten diese Mechanismen angeboren sein, aber ihre<br />
evolutionäre Entwicklung war nicht auf den Spracherwerb beschränkt.<br />
Beispielsweise helfen die bereits in diesem Kapitel beschriebenen<br />
Mechanismen des verteilten Lernens den Kindern,<br />
Tonsequenzen, visuelle Formen <strong>und</strong> menschliche Tätigkeiten zu<br />
verfolgen, wie einige Forscher gezeigt haben (z. B. Fiser <strong>und</strong> Aslin<br />
2001; Kirkham et al. 2002; Roseberry et al. 2011; Saffran et al.<br />
1999). Auf ähnliche Weise wird der Mechanismus des schnellen<br />
Zuordnens, der das schnelle Lernen von Wörtern unterstützt,<br />
ebenso für das Lernen von Objekten <strong>und</strong> ihren Eigenschaften<br />
verwendet (Markson <strong>und</strong> Bloom 1997). Auch die Weniger-istmehr-Hypothese<br />
zur kritischen Phase des Spracherwerbs, die<br />
wir bereits in diesem Kapitel erwähnt haben, ist nicht sprachspezifisch<br />
(Newport 1990). Die Fähigkeit, kleine Informationseinheiten<br />
extrahieren zu können, ist vermutlich ebenso in anderen<br />
Bereichen wie Musik nützlich, bei der Elemente wie Töne oder<br />
Akkorde auf höheren Ebenen zu Strukturen wie Melodien <strong>und</strong><br />
Harmonien organisiert sind. Und schließlich befassen sich aktuelle<br />
Theorien zu verschiedenen Störungen in der Sprachentwicklung<br />
(▶ Exkurs 6.5) mit Aspekten der allgemeinen kognitiven<br />
Funktionen, die nicht nur Sprache betreffen.<br />
Wie in anderen Bereichen der <strong>Kindes</strong>entwicklung haben<br />
Computermodelle eine wichtige Rolle bei der Ausbildung theoretischer<br />
Ansätze gespielt. Anhand von Computermodellen<br />
lässt sich spezifizieren, welche internen Strukturen ein lernender<br />
Computer aufweisen <strong>und</strong> welchen externen Input er<br />
insbesondere bei der Sprachverarbeitung erhalten muss, um<br />
kindlichen Spracherwerb s<strong>im</strong>ulieren <strong>und</strong> verstehen zu können.<br />
Ein wichtiger Ansatz, der sich an der Computermodellierung<br />
orientiert, ist der Konnektionismus, ein Typ von Informationsverarbeitungstheorie,<br />
der die gleichzeitige Parallelverarbeitung<br />
in zahlreichen miteinander verb<strong>und</strong>enen Prozessoren betont.<br />
Konnektionistische Forscher entwickelten Computers<strong>im</strong>ulationen<br />
für zahlreiche Aspekte der kognitiven Entwicklung, auch<br />
des Spracherwerbs (z. B. Elman et al. 1996). Die Software lernt<br />
dabei aus Erfahrung, indem sie bei der Verarbeitung sich wiederholender<br />
Eingaben schrittweise best<strong>im</strong>mte Verbindungen<br />
zwischen den einzelnen Prozessoren verstärkt aktiviert – ein<br />
Prozess, der die Entwicklungsfortschritte von Kindern s<strong>im</strong>uliert.<br />
Mit konnektionistischen Ansätzen wurden eindrucksvolle<br />
Erfolge be<strong>im</strong> Modellieren best<strong>im</strong>mter Aspekte der Sprachentwicklung<br />
erzielt, einschließlich der S<strong>im</strong>ulation des Erlernens<br />
der Vergangenheitsform <strong>im</strong> Englischen <strong>und</strong> des Auftretens<br />
von Wortbildungsfehlern be<strong>im</strong> Wörterlernen (z. B. Rumelhart<br />
<strong>und</strong> McClelland 1986; Samuelson 2002). Allerdings gibt es bei<br />
konnektionistischen Modellen <strong>im</strong>mer eine offene Flanke für<br />
Kritik bei den Merkmalen, die von vornherein in die Modelle<br />
eingebaut wurden <strong>und</strong> zum Beispiel die Frage aufwerfen, ob <strong>im</strong><br />
Computermodell dieselben „angeborenen“ Einschränkungen<br />
vorliegen wie bei Kindern. Auch be<strong>im</strong> Input, der einem lernenden<br />
Computersystem dargeboten wird, stellt sich die Frage,<br />
inwieweit dieser Input dem entspricht, was Kinder tatsächlich<br />
aufnehmen.<br />
Konnektionismus – Ein Typ von Informationsverarbeitungstheorie, der die<br />
gleichzeitige Aktivität zahlreicher miteinander verb<strong>und</strong>ener Verarbeitungseinheiten<br />
betont.<br />
In Kürze | |<br />
Der Prozess des Verstehens <strong>und</strong> Produzierens von Sprache,<br />
ob gesprochen oder gebärdet, umfasst die Entwicklung vieler<br />
verschiedener Arten von Wissen <strong>und</strong> Fähigkeiten. Innerhalb<br />
von wenigen Jahren machen Kinder riesige Schritte bei der<br />
Beherrschung der Phonologie, der Semantik, der Syntax<br />
<strong>und</strong> Pragmatik ihrer Muttersprache. Diese bemerkenswerte
228<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
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8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
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14<br />
15<br />
Exkurs 6.5: Anwendungen: Störungen der Sprachentwicklung | |<br />
In diesem Kapitel haben wir <strong>im</strong>mer wieder<br />
betont, was <strong>im</strong> Verlauf der Sprachentwicklung<br />
bei verschiedenen Kindern <strong>und</strong> verschiedenen<br />
Kulturen ähnlich oder aber unterschiedlich ist.<br />
Die auffälligsten individuellen Unterschiede<br />
finden sich <strong>im</strong> Bereich der Sprachentwicklungsstörungen.<br />
Diese Störungen reichen<br />
von Entwicklungsverzögerungen, die sich <strong>im</strong><br />
Schulalter verlieren, bis hin zu lebenslangen<br />
Herausforderungen.<br />
Die Schätzungen zur Häufigkeit von Sprachstörungen<br />
bei Kindergartenkindern variieren<br />
zwischen 2 <strong>und</strong> 19 % (Nelson et al. 2006).<br />
Diese hohe Schwankungsbreite spiegelt auch<br />
die Tatsache wider, dass Sprachbeeinträchtigungen<br />
oft auf die Diagnosen be<strong>im</strong> Schuleintritt<br />
der Kinder bezogen werden <strong>und</strong> dass die<br />
Übergänge zwischen Entwicklungsverzögerungen,<br />
Beeinträchtigungen <strong>und</strong> Störungen<br />
der Sprachfähigkeiten fließend sein können.<br />
(In Deutschland wird die Sprachentwicklung<br />
der Kinder <strong>im</strong> Alter zwischen zwei <strong>und</strong> fünf<br />
Jahren in den Vorsorgeuntersuchungen<br />
be<strong>im</strong> Kinderarzt mit untersucht.) Viele Kinder<br />
fallen in die Gruppe der Spätsprecher. Diese<br />
Bezeichnung wird bei Kindern verwendet,<br />
die in der Wortschatzentwicklung hinter 90 %<br />
der Kinder liegen, aber ansonsten in anderen<br />
Bereichen eine normale Entwicklung zeigen.<br />
Manche von ihnen sind „Spätentwickler“, die<br />
später Sprachfertigkeiten auf normalem oder<br />
nahezu normalem Niveau erreichen. Neuere<br />
Untersuchungen lassen vermuten, dass<br />
spät sprechende Kleinkinder, die aber be<strong>im</strong><br />
Wortverstehen besser sind, mit relativ hoher<br />
Wahrscheinlichkeit entsprechende Defizite<br />
aufholen (Fernald <strong>und</strong> Marchman 2012).<br />
Kinder, die nicht mitkommen, aber keine<br />
allgemeinen kognitiven Defizite aufweisen –<br />
ungefähr 7 % der amerikanischen Kinder, die<br />
<strong>im</strong> Alter von sechs Jahren eingeschult werden<br />
–, fallen unter die Diagnose einer spezifischen<br />
Sprachentwicklungsstörung. Diese Kinder<br />
zeigen bei verschiedenen sprachbezogenen<br />
Aufgaben, etwa bei der Sprachwahrnehmung,<br />
bei der Wortsegmentierung <strong>und</strong> be<strong>im</strong><br />
Grammatikverständnis Defizite (z. B. Evans<br />
et al. 2009; Fonteneau <strong>und</strong> van der Lely 2008;<br />
Rice 2004; Ziegler et al. 2005). Es können auch<br />
kognitive Defizite be<strong>im</strong> Arbeitsgedächtnis, Sequenzlernen<br />
<strong>und</strong> der Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />
auftreten, die sich insbesondere auf die<br />
Sprachentwicklung auswirken (z. B. Leonard<br />
et al. 2007; Tomblin et al. 2007).<br />
Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES)<br />
– Entwicklungsstörung, bei der keine anderweitigen<br />
Pr<strong>im</strong>ärbeeinträchtigungen (Wahrnehmung,<br />
neurologische Anomalie, starke IQ Minderung,<br />
tiefgreifende psychosoziale Störung) vorliegen.<br />
Kinder mit Down-Syndrom, Fragiles-X-Syndrom<br />
oder einer autistischen Störung sind<br />
meist in allen Bereichen der Intelligenz- <strong>und</strong><br />
der Sprachentwicklung zurückgeblieben,<br />
<strong>und</strong> weisen Defizite sowohl be<strong>im</strong> Produzieren<br />
aus auch be<strong>im</strong> Verstehen von Sprache<br />
auf. Tatsächlich sind Beeinträchtigungen in<br />
der sprachlichen Kommunikation auch ein<br />
Diagnosekriterium für autistische Störungen.<br />
Bei Kindern mit autistischen Störungen sind<br />
die frühen Sprachfähigkeiten ein entscheidender<br />
Prädiktor für spätere Leistungen <strong>und</strong><br />
insbesondere die Wirkungen therapeutischer<br />
Intervention (z. B. Stone <strong>und</strong> Yoder 2001; Szatmari<br />
et al. 2003). Interessanterweise tritt bei<br />
jüngeren Geschwister von autistisch gestörten<br />
Kindern öfter eine Verzögerung in der Sprachentwicklung<br />
auf als sonst in ihrer Altersgruppe<br />
(Gamliel et al. 2009).<br />
Eine weitere Gruppe von Kindern, die Sprachstörungen<br />
entwickeln können, sind gehörlose<br />
Kinder. Wie schon erwähnt, werden solche<br />
Kinder eine normale Sprachentwicklung<br />
durchlaufen, wenn sie von klein auf mit einer<br />
Gebärdensprache aufwachsen. Allerdings<br />
haben 90 % der gehörlosen Kinder Eltern,<br />
die hören können, <strong>und</strong> viele davon kommen<br />
nicht mit einer regulären Gebärdensprache in<br />
Kontakt. Ohne Hörfähigkeit ist es sehr schwer,<br />
gesprochene Sprache zu lernen. Eine zunehmend<br />
verbreitete Behandlung von gehörgeschädigten<br />
Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen sind<br />
Cochlea-Implantate, die chirurgisch eingesetzt<br />
werden. Diese Implantate wandeln den am<br />
Ohr ankommenden Schall in elektrische<br />
Impulse um, durch die der Hörnerv st<strong>im</strong>uliert<br />
wird. Das Signal eines Cochlea-Implantats ist<br />
zwar gegenüber dem, was be<strong>im</strong> typischen<br />
Hören vorgeht, deutlich unterlegen, aber<br />
gleichwohl lernen viele gehörlose Kinder<br />
mithilfe des Implantats gesprochene Sprache<br />
zu verstehen – wenn auch mit individuell sehr<br />
unterschiedlichem Erfolg. Entsprechend den<br />
Bef<strong>und</strong>en zur kritischen Phase des Spracherwerbs<br />
führt eine frühe Implantation (bei<br />
einem Alter unter drei Jahren) zu besseren<br />
Erfolgen als eine Implantation bei einem<br />
höheren Alter (z. B. Houston <strong>und</strong> Miyamoto<br />
2010). Selbst dann, wenn gehörlose Säuglinge<br />
<strong>und</strong> Kinder seit Beginn der Lernentwicklung<br />
Sprache mithilfe eines Implantats wahrnehmen,<br />
können sie Wörter nicht so genau erkennen<br />
wie hörende Gleichaltrige <strong>und</strong> brauchen<br />
dafür auch länger (Grieco-Calub et al. 2009).<br />
Vielleicht bietet eine bilinguale Sprachförderung<br />
mit Gebärdensprache als zweiter Sprache<br />
zusätzlich zum Implantathören gesprochener<br />
Sprache diesen Kindern die besten Möglichkeiten<br />
zum Spracherwerb.<br />
16<br />
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22<br />
23<br />
Leistung wird erst durch zwei Voraussetzungen möglich: die<br />
Existenz eines menschlichen Gehirns <strong>und</strong> den Kontakt mit<br />
menschlicher Kommunikation.<br />
Die aktuellen theoretischen Erklärungsansätze der Sprachentwicklung<br />
unterscheiden sich darin, wie sehr sie Anlage- oder<br />
Umwelteinflüsse betonen. Nativisten wie Chomsky betonen<br />
deutlich das angeborene sprachliche Wissen <strong>und</strong> sprachspezifische<br />
Lernmechanismen, während andere Theoretiker<br />
behaupten, dass das Erlernen von Sprache aus universellen<br />
Lernprinzipien hervorgehen kann. Viele Theorien legen zentralen<br />
Wert auf die kommunikative Funktion der Sprache <strong>und</strong><br />
die Motivation von Kindern, andere Menschen zu verstehen<br />
<strong>und</strong> mit ihnen zu interagieren. Die umfangreiche Literatur<br />
zur Sprachentwicklung erlaubt eine gewisse Unterstützung<br />
für jede dieser Perspektiven, aber keine von ihnen liefert die<br />
ganze Wahrheit über den kindlichen Erwerb der Sprache –<br />
dieser unüberschaubar komplexen <strong>und</strong> wohl einzigartigen<br />
Fähigkeit des Menschen.<br />
Nichtsprachliche Symbole <strong>und</strong> Entwicklung<br />
Auch wenn die Sprache unser herausragendes Symbolsystem<br />
ist, hat die Menschheit eine Fülle anderer Arten von Symbolen<br />
erf<strong>und</strong>en, um sich zu verständigen. Praktisch jedes Ding<br />
kann als nichtsprachliches Symbol dienen, solange jemand ihm<br />
die Eigenschaft zuschreibt, für etwas anderes zu stehen als es<br />
selbst (<strong>DeLoache</strong> 2002, 2004). Die Liste der Symbole, mit denen<br />
wir regelmäßig zu tun haben, ist lang <strong>und</strong> vielfältig <strong>und</strong> reicht<br />
von den geschriebenen Wörtern, Zahlen, Grafiken, Fotos <strong>und</strong><br />
Zeichnungen in den Lehrbüchern bis zu Tausenden von alltäglichen<br />
Dingen wie Fernsehen, Filme, Computer-Icons, Landkarten,<br />
Uhren <strong>und</strong> so weiter. Weil Symbole in unserem Alltagsleben<br />
eine so zentrale Rolle spielen, liegt in der Beherrschung<br />
der verschiedenen Symbolsysteme, die in der jeweiligen Kultur<br />
von Bedeutung sind, eine entscheidende Entwicklungsaufgabe<br />
für alle Kinder.<br />
Zur Kompetenz <strong>im</strong> Umgang mit Symbolen gehört sowohl die<br />
Beherrschung der Symbole, die andere geschaffen haben, als auch<br />
die Bildung neuer symbolischer Repräsentationen. Wir behan-
Nichtsprachliche Symbole <strong>und</strong> Entwicklung<br />
229 6<br />
deln zunächst die frühen Symbolfunktionen <strong>und</strong> beginnen mit<br />
Forschungen zur Fähigkeit sehr kleiner Kinder, den Informationsgehalt<br />
symbolischer Objekte auszuwerten. Danach konzentrieren<br />
wir uns auf die Symbolbildung von Kindern in Zeichnungen.<br />
In ▶ Kap. 7 werden wir das Erschaffen von symbolischen<br />
Beziehungen in Als-ob-Spielen untersuchen <strong>und</strong> in ▶ Kap. 8 bei<br />
älteren Kindern die Entwicklung von zwei der wichtigsten symbolischen<br />
Aktivitäten: Lesen <strong>und</strong> Rechnen.<br />
Der Symbolgebrauch als Information<br />
Zu den entscheidenden Funktionen vieler Symbole gehört, dass<br />
sie uns nützliche Informationen vermitteln. Eine Karte beispielsweise<br />
– gleich ob eine grobe Bleistiftskizze auf der Rückseite<br />
eines Briefumschlags oder eine mehrfarbige Landkarte in<br />
einem teuren Weltatlas – kann entscheidend sein, um einen<br />
best<strong>im</strong>mten Ort zu finden. Die Nutzung eines symbolischen<br />
Gebrauchsgegenstands wie einer Karte erfordert eine zweifache<br />
(duale) Repräsentation: Das Artefakt muss <strong>im</strong> Geiste gleichzeitig<br />
in zweierlei Weise repräsentiert sein: als reales Objekt <strong>und</strong> als<br />
Symbol, das für etwas anderes als sich selbst steht (<strong>DeLoache</strong><br />
2002, 2004).<br />
Duale Repräsentation – Fähigkeit, ein Artefakt gleichzeitig als reales Objekt<br />
<strong>und</strong> als Symbol zu repräsentieren (z. B. Spielzeug-Auto).<br />
Sehr kleine Kinder können mit der dualen Repräsentation<br />
noch beträchtliche Schwierigkeiten haben, was ihre Fähigkeit,<br />
Informationen aus symbolischen Objekten zu nutzen, sehr einschränkt<br />
(<strong>DeLoache</strong> 2004). Dies wurde durch Forschungsarbeiten<br />
nachgewiesen, in denen ein Kleinkind zusieht, wie die Versuchsleiterin<br />
ein Miniaturspielzeug in einem maßstabgetreuen<br />
Modell eines Z<strong>im</strong>mers versteckt, das sich in Originalgröße<br />
nebenan befindet (. Abb. 6.13; <strong>DeLoache</strong> 1987). Das Kind soll<br />
dann eine größere Version dieses Spielzeugs finden, wobei dem<br />
Kind gesagt wird, das Spielzeug sei „in dem großen Z<strong>im</strong>mer an<br />
derselben Stelle versteckt“. Dreijährige können ihr Wissen um<br />
den Ort des Miniaturspielzeugs in dem Modell leicht dafür verwenden<br />
herauszufinden, wo sich das Original des Spielzeugs<br />
<strong>im</strong> großen Z<strong>im</strong>mer befindet. Den meisten zweieinhalbjährigen<br />
Kindern dagegen gelingt es nicht, das große Spielzeug dort zu<br />
finden; sie scheinen keine Ahnung davon zu haben, dass ihnen<br />
das Modell irgendetwas über das Z<strong>im</strong>mer verrät. Weil das Modell<br />
als dreid<strong>im</strong>ensionales Objekt selbst so auffällig <strong>und</strong> interessant<br />
ist, fällt es sehr kleinen Kindern schwer, mit einer zweifachen<br />
Repräsentation zurechtzukommen, <strong>und</strong> sie übersehen die symbolische<br />
Beziehung zwischen dem Modell des Z<strong>im</strong>mers <strong>und</strong> dem<br />
Z<strong>im</strong>mer, für das es steht.<br />
..<br />
Abb. 6.13 Aufgabe mit maßstabgetreuem Modell. Bei einem Test der<br />
Fähigkeit jüngerer Kinder, ein Symbol als Informationsquelle zu nutzen,<br />
beobachtet eine Dreijährige, wie die Versuchsleiterin Judy <strong>DeLoache</strong> ein<br />
Troll-Figürchen unter einem Kissen <strong>im</strong> maßstabgetreuen Modell des angrenzenden<br />
Raumes versteckt. Das Kind sucht erfolgreich nach der größeren<br />
Troll-Puppe, die am korrespondierenden Ort des Raumes verborgen war, was<br />
erkennen lässt, dass es den Zusammenhang zwischen dem Modell <strong>und</strong> dem<br />
Raum verstanden hat. Das Kind findet auch das kleine Spielzeug wieder, bei<br />
dem es beobachtet hatte, wie es ursprünglich <strong>im</strong> Modell versteckt worden<br />
war. (© Judy <strong>DeLoache</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Diese Interpretation wurde durch eine Untersuchung erhärtet,<br />
bei der es keiner dualen Repräsentation bedurfte, um von einem
230<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
1<br />
2<br />
3<br />
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Modell auf eine größere Raumanordnung zu schließen (<strong>DeLoache</strong><br />
et al. 1997). Ein Versuchsleiter zeigte zweieinhalbjährigen<br />
Kindern eine „Schrumpfmaschine“ (ein Oszilloskop mit vielen<br />
Knöpfen <strong>und</strong> Lichtern) <strong>und</strong> erklärte ihnen, dass die Maschine<br />
„Dinge kleiner machen“ kann. Die Kinder sahen dann, wie eine<br />
Troll-Puppe in einem beweglichen, zeltartigen Raum von etwa<br />
2 auf 3 m Größe versteckt wurde, <strong>und</strong> die Schrumpfmaschine<br />
wurde angestellt. Während die Schrumpfmaschine arbeitete,<br />
warteten die Kinder <strong>und</strong> der Versuchsleiter in einem anderen<br />
Raum. Bei ihrer Rückkehr in das „Schrumpfz<strong>im</strong>mer“ stand ein<br />
maßstabgetreu verkleinertes Modell des zeltartigen Raumes an<br />
der Stelle des Originals. (Mitarbeiter hatten das Originalzelt entfernt<br />
<strong>und</strong> durch das verkleinerte Modell ersetzt.) Es gelang den<br />
Kindern, den Troll in dem verkleinerten Zelt zu finden.<br />
Warum sollte die Idee einer Schrumpfmaschine diese zweieinhalbjährigen<br />
Kinder in die Lage versetzen, mit der Aufgabe<br />
besser zurechtzukommen? Die Antwort besteht darin, dass –<br />
sofern das Kind die Behauptungen des Versuchsleiters über die<br />
Schrumpfmaschine glaubt – <strong>im</strong> Geiste des <strong>Kindes</strong> das Modell<br />
einfach <strong>im</strong>mer noch der ursprüngliche Raum ist. Es gibt hier<br />
also keine symbolische Beziehung zwischen den beiden Räumen,<br />
weshalb eine duale Repräsentation auch nicht benötigt wird.<br />
Die Schwierigkeit, die kleine Kinder mit dualen Repräsentationen<br />
<strong>und</strong> Symbolen haben, wird auch in anderen Zusammenhängen<br />
sichtbar. Beispielsweise verwenden die Untersucher<br />
oft anatomisch geformte Puppen, um jüngere Kinder in Fällen<br />
vermuteten sexuellen Missbrauchs zu befragen, in der Annahme,<br />
dass den Kindern die Beziehung zwischen der Puppe <strong>und</strong> ihnen<br />
selbst offensichtlich würde. Kindern unter fünf Jahren gelingt es<br />
jedoch oft nicht, irgendeine Beziehung zwischen sich selbst <strong>und</strong><br />
der Puppe herzustellen, sodass die Hinzuziehung einer Puppe<br />
ihre Berichte über ihre Erinnerungen nicht verbessert, sondern<br />
sie vielleicht eher weniger zuverlässig macht (Bruck et al. 1995;<br />
<strong>DeLoache</strong> <strong>und</strong> Marzolf 1995; Goodman <strong>und</strong> Aman 1990).<br />
Die zunehmende Fähigkeit zur dualen Repräsentation ermöglicht<br />
es Kindern, die abstrakte Beschaffenheit vielfältiger<br />
symbolischer Artefakte zu entdecken. Schulkinder beispielsweise<br />
erkennen <strong>im</strong> Gegensatz zu jüngeren Kindern, dass eine rote Linie<br />
auf einer Straßenkarte nicht bedeutet, dass die damit bezeichnete<br />
Straße ebenfalls rot wäre (Liben <strong>und</strong> Myers 2007). Ältere Kinder<br />
sind, sofern sie angemessen instruiert werden, auch in der Lage,<br />
Objekte wie Stäbe oder Klötze unterschiedlicher Größe, die unterschiedliche<br />
Zahlenmengen darstellen, dazu zu verwenden, um<br />
Rechenoperationen zu lernen <strong>und</strong> einzuüben (Uttal et al. 2006).<br />
Zeichnen<br />
Bilder malen ist eine häufige symbolische Tätigkeit, zu der Eltern<br />
in vielen Gesellschaften ihre Kinder ermutigen (Goodnow 1977).<br />
Wenn Kleinkinder erstmals gezeichnete Spuren auf dem Papier<br />
hinterlassen, sind sie fast ausschließlich auf die Tätigkeit selbst<br />
konzentriert <strong>und</strong> versuchen nicht, irgendwelche erkennbaren<br />
Bilder zu produzieren. Mit etwa drei oder vier Jahren fangen die<br />
meisten Kinder damit an, Bilder von etwas zu zeichnen (oder dies<br />
zu versuchen): Sie produzieren darstellende Kunst (Callaghan<br />
1999). Dabei beeinflusst der Kontakt mit Symboldarstellungen,<br />
wie früh Kinder beginnen, eigene symbolische Darstellungen zu<br />
produzieren. Bei einer neueren Untersuchung (Callaghan et al.<br />
2011) zeigte sich, dass Kinder (einer kanadischen Gruppe), die in<br />
ihren Elternhäusern viele bildliche Darstellungen gesehen hatten,<br />
früher selbst solche Bilder <strong>und</strong> auch mehr Bilder produzierten<br />
als Kinder (aus indischen <strong>und</strong> peruanischen Gruppen), die zu<br />
Hause mit nur wenigen derartigen Bildern konfrontiert waren.<br />
Anfangs übersteigen die künstlerischen Impulse der Kinder oft<br />
ihre motorischen <strong>und</strong> planerischen Fähigkeiten (Yamagata 1997).<br />
. Abbildung 6.14 zeigt, was zunächst wie ein typisches Gekritzel<br />
erscheint. Der zweieinhalbjährige Schöpfer dieses Bildes erzählte<br />
be<strong>im</strong> Malen jedoch von seinen Bemühungen, <strong>und</strong> eine Aufzeichnung<br />
seiner Äußerungen macht deutlich, dass er jedes einzelne<br />
Element seines Bildes ziemlich gut darzustellen wusste, aber das<br />
Ganze auf dem Papier nicht räumlich zu koordinieren vermochte.<br />
Sturm<br />
Segelboot<br />
Person<br />
Wasser<br />
..<br />
Abb. 6.14 Erste Zeichnungen. Entgegen dem ersten Anschein handelt es<br />
sich hier nicht um ein Zufallsgekritzel, wie aus den Äußerungen des Zweijährigen,<br />
der das Bild produzierte, erkennbar wird. Als der Junge eine annähernd<br />
dreieckige Form zeichnete, sagte er, das sei ein „Segelboot“. Eine Reihe von Wellenlinien<br />
nannte er „Wasser“. Einige hingekritzelte Linien unter dem „Segelboot“<br />
waren „jemand, der mit dem Boot fährt“. Und das wilde Gekritzel drumherum<br />
stellte einen „Sturm“ dar. Jedes Element repräsentierte somit in gewissem Ausmaß<br />
etwas Gegenständliches, wenn auch nicht das Bild als Ganzes<br />
Der häufigste Gegenstand für kleinere Kinder sind menschliche<br />
Figuren (Goodnow 1977). So wie Kinder be<strong>im</strong> Beginn des<br />
Sprechens die Wörter, die sie produzieren, vereinfachen, so vereinfachen<br />
Kinder auch ihre Zeichnungen menschlicher Figuren<br />
(. Abb. 6.15). Man beachte, dass das Kind die Zeichnung planen<br />
<strong>und</strong> die einzelnen Elemente räumlich koordinieren muss,<br />
um diese groben, einfachen Formen hervorzubringen. Selbst die<br />
frühen „Kopffüßler-Menschen“ haben ihre Füße unten <strong>und</strong> die<br />
Arme an der Seite, wenn sie auch häufig dem Kopf entspringen.<br />
. Abbildung 6.16 lässt einige der Strategien erkennen, mit deren<br />
Hilfe Kinder komplexere Zeichnungen anfertigen. In diesem<br />
Fall hat das Kind ein Bild gezeichnet, auf dem das Haus, in dem
Zusammenfassung<br />
231 6<br />
es wohnt, seine Schule, die Straße zwischen beiden <strong>und</strong> weitere<br />
Häuser entlang der Straße vorkommen. Eine Strategie, auf die<br />
es sich dabei verließ, war die gut geübte Formel, wie man ein<br />
Haus darstellt: ein Fünfeck mit einer Tür <strong>und</strong> einer Dachkante.<br />
Eine andere Strategie bestand darin, die Gr<strong>und</strong>linie eines Hauses<br />
mit der Straße zu koordinieren, auch wenn dies zu Lasten<br />
der Gesamtkoordination der Häuser ging. Mit der Zeit werden<br />
manche Kinder sehr geübt darin, die Beziehungen zwischen den<br />
verschiedenen Elementen in ihren Bildern geeignet darzustellen.<br />
..<br />
Abb. 6.15 Kopffüßler. Die ersten Zeichnungen kleiner Kinder, die Menschen<br />
darstellen, weisen typischerweise die Form von „Kopffüßlern“ auf<br />
zuhause<br />
Laden<br />
..<br />
Abb. 6.16 Komplexere Zeichnungen. Diese Kinderzeichnung – der Weg<br />
zwischen Wohnung <strong>und</strong> Schule – setzt einige gut geübte Strategien ein,<br />
wobei das Kind aber noch nicht erkannt hat, wie sich komplexere räumliche<br />
Beziehungen darstellen lassen<br />
In Kürze | |<br />
Nichtsprachliche Symbole spielen <strong>im</strong> Leben jüngerer Kinder<br />
eine wichtige Rolle. Mit zunehmendem Bewusstsein für den<br />
Informationsgehalt symbolischer Gegenstände, die von<br />
anderen erzeugt wurden, machen Kinder einen wichtigen<br />
Schritt auf dem Weg zur geschickten Verwendung der vielen<br />
Symbolsysteme, die der Schlüssel zum modernen Leben<br />
sind. Ein entscheidender Faktor für das Verständnis <strong>und</strong> den<br />
Gebrauch von Symbolen, die andere geschaffen haben, ist<br />
die duale Repräsentation – die Fähigkeit, ein symbolisches<br />
Objekt wie eine Landkarte oder ein Modell <strong>und</strong> zugleich<br />
auch das, wofür es steht, mental zu repräsentieren. Die<br />
Fähigkeit, Symbole zu erschaffen, zeigt sich deutlich in den<br />
Zeichnungen kleiner Kinder.<br />
Zusammenfassung<br />
Ein entscheidendes Merkmal des Menschseins ist der kreative<br />
<strong>und</strong> flexible Gebrauch einer Vielzahl sprachlicher <strong>und</strong> anderer<br />
Symbole. Die enorme Kraft der Sprache rührt von ihrer Generativität<br />
her – der Tatsache, dass sich aus einer endlichen Menge von<br />
Wörtern eine schier unendliche Anzahl von Sätzen erzeugen lässt.<br />
-<br />
Sprachentwicklung<br />
Eine Sprache zu erwerben bedeutet, ein komplexes System<br />
aus phonologischen, semantischen, syntaktischen <strong>und</strong> pragmatischen<br />
Regeln zu lernen, welche die Laute, Bedeutungen,<br />
grammatischen Strukturen <strong>und</strong> Verwendungsmöglichkeiten<br />
der Sprache leiten. Die einzige Ausnahme bei Zeichen- oder<br />
Gebärdensprachen besteht darin, dass sie als ihre elementaren<br />
Einheiten Gebärden <strong>und</strong> nicht Laute verwenden.<br />
-<br />
Die Sprachfähigkeit ist artspezifisch. Die erste Voraussetzung<br />
für ihre voll ausgeprägte Entwicklung ist ein menschliches<br />
Gehirn. Forscher haben nichtmenschliche Pr<strong>im</strong>aten<br />
erfolgreich bemerkenswerte Fähigkeiten <strong>im</strong> Symbolgebrauch<br />
lehren können, aber keine voll ausgebildete Sprache.<br />
-<br />
Die ersten Jahre des menschlichen Lebens bilden eine<br />
kritische Phase für den Spracherwerb; Viele Aspekte der<br />
-<br />
Sprache lassen sich danach schwerer erlernen.<br />
Eine zweite Voraussetzung für die Sprachentwicklung ist<br />
der Kontakt mit Sprache. Alle hörenden Kinder werden<br />
vor allem mit an Kinder gerichteter Sprache angesprochen,<br />
die sich durch eine höhere Tonlage, extreme Intonationsschwankungen,<br />
einen warmen, liebevollen Tonfall <strong>und</strong><br />
-<br />
übertriebene M<strong>im</strong>ik auszeichnet.<br />
Säuglinge besitzen bemerkenswerte Sprachverstehensfähigkeiten.<br />
Sie legen wie Erwachsene eine kategoriale Wahrnehmung<br />
von Sprachlauten an den Tag <strong>und</strong> ordnen Laute<br />
diskreten Kategorien zu, auch wenn diese Laute physikalisch<br />
ähnlich sind.<br />
-<br />
Bei der Unterscheidung sprachlicher Laute außerhalb der<br />
eigenen Muttersprache sind Kleinstkinder Erwachsenen<br />
sogar überlegen. Wenn sie die Laute, die in ihrer Sprache<br />
wichtig sind, lernen, verringert sich ihre Fähigkeit, Laute in<br />
-<br />
anderen Sprachen zu unterscheiden.<br />
Neuere Studien haben gezeigt, dass Säuglinge für die Verteilungscharakteristika<br />
der Sprache höchst sensibel sind;<br />
sie bemerken eine Vielzahl subtiler Regelhaftigkeiten in der<br />
Sprache, die sie hören, <strong>und</strong> nutzen diese Regelhaftigkeiten,<br />
um Wörter aus dem vorbeirauschenden Sprachstrom herauszugreifen.<br />
-<br />
Mit etwa sieben Monaten beginnen Kinder zu plappern. Hörende<br />
Kinder produzieren repetitive Lautfolgen wie „bababa“;<br />
manche gehörlose Kinder, die mit einer Gebärdensprache in<br />
Kontakt stehen, produzieren Handbewegungen mit derselben<br />
Art von Wiederholungsmustern. Mit der Zeit klingt das vokale<br />
Plappern <strong>im</strong>mer mehr wie die Muttersprache des Babys.<br />
-<br />
Die zweite Hälfte des ersten Lebensjahres ist auch dadurch<br />
gekennzeichnet, dass das Kind lernt, wie es mit anderen<br />
Menschen interagieren <strong>und</strong> kommunizieren kann. Dazu<br />
gehört die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit mit anderen<br />
Menschen zu koordinieren.
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23<br />
232<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
-<br />
Das Erkennen von Wortbedeutungen (die Assoziation<br />
vertrauter Wörter mit ihren Referenten) beginnt mit etwa<br />
-<br />
sechs Monaten.<br />
Die Produktion erkennbarer Wörter beginnt mit etwa<br />
einem Jahr. In der holophrasischen Phase sagen Kinder jeweils<br />
nur ein Wort. Mit ihrem sehr eingeschränkten Wortschatz<br />
machen Kinder oft Überdehnungsfehler, bei denen<br />
ein best<strong>im</strong>mtes Wort in einem weiteren Kontext verwendet<br />
wird, als es der Wortbedeutung angemessen wäre. Die Kinder<br />
nutzen darüber hinaus nun eine Fülle von Strategien,<br />
-<br />
um die Bedeutungen neuer Wörter herauszufinden.<br />
Gegen Ende des zweiten Lebensjahres produzieren Kinder<br />
kurze Sätze. Die Länge <strong>und</strong> Komplexität ihrer Äußerungen<br />
n<strong>im</strong>mt nach <strong>und</strong> nach zu, <strong>und</strong> sie üben die entstehenden<br />
-<br />
sprachlichen Fähigkeiten von sich aus.<br />
Im Kindergartenalter unterlaufen Kindern <strong>im</strong> Englischen<br />
wie <strong>im</strong> Deutschen Übergeneralisierungsfehler, bei denen<br />
unregelmäßige Formen so behandelt werden, als ob sie<br />
-<br />
regelmäßig gebildet würden.<br />
Kinder entwickeln ihre aufke<strong>im</strong>enden sprachlichen Fähigkeiten,<br />
indem sie von kollektiven Monologen zu längeren<br />
Gesprächen übergehen – der Fähigkeit, zusammenhängend<br />
-<br />
von ihren Erlebnissen zu erzählen.<br />
Praktisch alle aktuellen Theorien der Sprachentwicklung<br />
erkennen an, dass dabei angeborene (interne) Faktoren <strong>und</strong><br />
-<br />
Erfahrung (extern) zusammenwirken.<br />
Nativisten, beispielsweise der einflussreiche Linguist Noam<br />
Chomsky, postulieren angeborenes Wissen in Form einer<br />
Universalgrammatik, einem Satz hochabstrakter Regeln,<br />
die allen Sprachen gemeinsam sind. Die Nativisten nehmen<br />
an, dass das Erlernen von Sprache durch sprachspezifische<br />
-<br />
Fähigkeiten unterstützt wird.<br />
Interaktionistische Theoretiker betonen den kommunikativen<br />
Kontext der Sprachentwicklung <strong>und</strong> des Sprachgebrauchs. Sie<br />
weisen auf das eindrucksvolle Ausmaß hin, in dem Säuglinge<br />
<strong>und</strong> Kleinkinder eine Vielzahl von pragmatischen Hinweisen<br />
-<br />
nutzen, um herauszufinden, was andere sagen.<br />
Andere theoretische Ansätze setzen voraus, dass sich Sprache<br />
auch ohne angeborenes Wissen entwickeln kann <strong>und</strong><br />
dass ihr Erwerb lediglich leistungsfähige kognitive Allzweckmechanismen<br />
erfordert. Konnektionistische Modelle<br />
werden herangezogen, um diese Ansätze zu unterstützen.<br />
-<br />
Nichtsprachliche Symbole <strong>und</strong> Entwicklung<br />
Symbolische Artefakte (wie Karten oder Modelle) erfordern<br />
eine zweifache (duale) Repräsentation. Um sie zu verwenden,<br />
müssen Kinder <strong>im</strong> Geiste sowohl das Symbolobjekt<br />
selbst als auch seine symbolische Beziehung zum Referenten<br />
repräsentieren. Kleinkinder werden <strong>im</strong>mer besser<br />
darin, duale Repräsentationen aufzubauen <strong>und</strong> symbolische<br />
Artefakte als Informationsquelle zu nutzen. Kleinkinder<br />
werden <strong>im</strong>mer geschickter be<strong>im</strong> dualen Repräsentieren <strong>und</strong><br />
-<br />
<strong>im</strong> Umgang mit Symbolen als Informationsquelle.<br />
Zeichnen ist eine verbreitete symbolische Tätigkeit. Die<br />
frühen Kritzeleien der kleinen Kinder weichen bald der Absicht,<br />
Bilder von etwas zu zeichnen, wobei die Darstellung<br />
des menschlichen Körpers ein beliebtes Thema darstellt.<br />
Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />
1. Im vorliegenden Kapitel wurden vielfach elterliche Verhaltensweisen<br />
erwähnt <strong>und</strong> diskutiert, die für die Sprachentwicklung<br />
relevant sind. Nennen Sie einige Beispiele dafür,<br />
wie – nach aktuellem Kenntnisstand – Eltern die Sprachentwicklung<br />
ihrer Kinder beeinflussen.<br />
2. Die Sprachentwicklung ist ein besonders komplizierter<br />
Aspekt der <strong>Kindes</strong>entwicklung, <strong>und</strong> keine einzelne Theorie<br />
kann all das, was wir über den kindlichen Spracherwerb<br />
wissen, erfolgreich erklären. Würden Sie die Einflüsse des<br />
<strong>Kindes</strong> (Natur) oder der Umwelt als vorrangig einschätzen?<br />
3. Was sind Übergeneralisierungsfehler, <strong>und</strong> warum liefern<br />
sie einen starken Beleg dafür, dass Kinder Grammatikregeln<br />
erworben haben?<br />
4. Es wurden viele Parallelen gezogen zwischen den Prozessen<br />
des Erwerbs gesprochener Sprache <strong>und</strong> des Erwerbs<br />
gebärdeter Sprache. Was sagen uns diese Ähnlichkeiten<br />
über die Gr<strong>und</strong>lagen der menschlichen Sprache?<br />
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4<br />
5<br />
6<br />
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8<br />
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238<br />
Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
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16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
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239 7<br />
Die Entwicklung von Konzepten<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Die Dinge verstehen: Wer oder was – 241<br />
Objekte in Klassen einteilen – 241<br />
Das Wissen über sich selbst <strong>und</strong> andere – 244<br />
Das Wissen über lebende Dinge – 250<br />
Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel – 255<br />
Kausalität – 255<br />
Raum – 257<br />
Zeit – 261<br />
Zahl – 263<br />
Die Beziehungen zwischen den Konzepten von Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl – 266<br />
Zusammenfassung – 267<br />
Literatur – 268<br />
S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />
DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
240<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
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15<br />
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22<br />
23<br />
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© logom/fotolia.com<br />
Shawna, ein Mädchen von acht Monaten, krabbelt ins Schlafz<strong>im</strong>mer<br />
ihres sieben Jahre alten Bruders. Das Z<strong>im</strong>mer enthält<br />
viele Gegenstände: ein Bett, eine Kommode, einen H<strong>und</strong>, einen<br />
Baseball samt Fanghandschuh, Bücher, Hefte, Schuhe, schmutzige<br />
Socken <strong>und</strong> dergleichen mehr. Für Shawnas Bruder enthält<br />
der Raum Möbel, Kleidung, Gedrucktes <strong>und</strong> Sportsachen. Aber<br />
wie sieht der Raum für Shawna aus?<br />
Babys besitzen noch keine Konzepte von Möbeln, Druckerzeugnissen,<br />
Sportsachen <strong>und</strong> Ähnlichem <strong>und</strong> auch keine spezifischeren,<br />
einschlägigen Konzepte wie Fanghandschuhe <strong>und</strong> Bücher.<br />
Shawna versteht die Szenerie also nicht in derselben Weise wie<br />
ihr Bruder. Die Frage, ob ein so kleines Baby wie Shawna vielleicht<br />
andere Konzepte bildet, die für das Verständnis der Szenerie<br />
bedeutsam sind, lässt sich nicht beantworten, ohne die Bef<strong>und</strong>e<br />
der Entwicklungsforschung heranzuziehen. Besitzt sie schon ein<br />
Konzept für lebende <strong>und</strong> unbelebte Dinge, mit deren Hilfe sie<br />
verstehen kann, warum der H<strong>und</strong> von selbst herumläuft <strong>und</strong> die<br />
Bücher nicht? Besitzt sie schon eine Vorstellung von Leichtem gegenüber<br />
Schwerem, mit deren Hilfe sie verstehen kann, warum sie<br />
eine Socke, aber nicht die Kommode hochheben kann? Besitzt sie<br />
schon ein Konzept von Vorher <strong>und</strong> Nachher, um zu verstehen, dass<br />
ihr Bruder <strong>im</strong>mer zuerst die Socken anzieht <strong>und</strong> dann die Schuhe<br />
anstatt umgekehrt? Oder ist das alles ein Durcheinander für sie?<br />
..<br />
Was sieht dieses Kind, wenn es den Raum betrachtet? (© Hannah <strong>und</strong><br />
Valentin Neuser; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
Wie diese hypothetische Szene zeigt, sind Konzepte entscheidende<br />
Voraussetzungen dafür, dass einem die Welt sinnvoll<br />
erscheint. Was genau sind aber Begriffe, <strong>und</strong> wie tragen sie zu<br />
unserem Verstehen bei?<br />
Konzepte sind allgemeine Vorstellungen, die Gegenstände,<br />
Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen auf der Basis von<br />
Ähnlichkeit strukturieren. Es gibt eine unendliche Anzahl möglicher<br />
Konzepte, weil es unendlich viele Aspekte gibt, unter denen<br />
Gegenstände oder Ereignisse einander ähnlich sein können<br />
<strong>und</strong> sich in Kategorien zusammenfassen lassen. Zum Beispiel<br />
können Gegenstände ähnliche Formen haben (alle Fußballfelder<br />
sind rechteckig), sie können aus ähnlichen Materialien<br />
bestehen (alle Diamanten bestehen aus kompr<strong>im</strong>iertem Kohlenstoff),<br />
von ähnlicher Größe sein (alle Wolkenkratzer sind hoch),<br />
ähnliche Geschmacksrichtungen aufweisen (alle Zitronen sind<br />
sauer), von ähnlicher Farbe sein (alle Colas sind braun), ähnliche<br />
Funktionen erfüllen (alle Messer sind zum Schneiden da) <strong>und</strong><br />
so weiter.<br />
Konzepte – Allgemeine Vorstellungen oder Auffassungen, mit deren Hilfe man<br />
Gegenstände, Ereignisse, Eigenschaften oder abstrakte Sachverhalte, die sich<br />
auf irgendeine Art ähnlich sind oder etwas gemeinsam haben, zu Klassen zusammenfassen<br />
kann.<br />
Konzepte helfen uns, die Welt zu verstehen <strong>und</strong> effizient in ihr<br />
zu handeln, indem sie uns ermöglichen, aus vorangehenden Erfahrungen<br />
zu verallgemeinern. Wenn wir den Geschmack einer<br />
best<strong>im</strong>mten Mohrrübe mögen, werden wir wahrscheinlich auch<br />
den Geschmack anderer Exemplare mögen, sofern wir erkennen,<br />
dass sie ebenfalls zur Kategorie der Mohrrüben gehören. Konzepte<br />
sagen uns auch, wie wir emotional auf neue Erfahrungen<br />
reagieren können, beispielsweise wenn wir mit allen fremden<br />
H<strong>und</strong>en sehr vorsichtig umgehen, weil wir sie als H<strong>und</strong>e klassifiziert<br />
haben <strong>und</strong> einmal von einem Mitglied dieser Kategorie gebissen<br />
wurden. Ein Leben ohne Konzepte wäre <strong>und</strong>enkbar; jede<br />
Situation wäre neuartig, <strong>und</strong> wir hätten keine Ahnung, welche<br />
frühere Erfahrung in der neuen Situation relevant wäre.<br />
Wie Sie in diesem Kapitel sehen werden, treten bei der Erforschung<br />
der Konzeptentwicklung einige Themen besonders<br />
hervor. Eines davon betrifft Anlage <strong>und</strong> Umwelt; die Begriffe von<br />
Kindern spiegeln die Interaktion ihrer spezifischen Erfahrungen<br />
mit ihrer biologischen Prädisposition wider, Informationen<br />
auf best<strong>im</strong>mte Weise zu verarbeiten. Ein weiteres wiederholt<br />
auftretendes Thema ist das aktive Kind: Schon ab der frühesten<br />
Kindheit spiegeln viele Konzepte die aktiven Versuche der Kinder<br />
wider, der Welt Bedeutung zu verleihen. Ein drittes wichtiges<br />
Thema betrifft die Mechanismen der Veränderung: Forscher<br />
untersuchen die Konzeptentwicklung nicht nur um der Begriffe<br />
willen, die Kinder bilden, sondern auch, um die Prozesse zu<br />
verstehen, mit deren Hilfe sie die Konzepte bilden. Ein vierter<br />
Aspekt ist schließlich der soziokulturelle Kontext: Die Konzepte,<br />
die wir bilden, ergeben sich unter dem Einfluss der Gesellschaft,<br />
in der wir leben.<br />
Weitgehende Übereinst<strong>im</strong>mung herrscht darüber, dass<br />
die Begriffsentwicklung das Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong><br />
Umwelt widerspiegelt; wie das <strong>im</strong> Einzelnen funktioniert, ist<br />
jedoch heiß umstritten. Die Kontroverse verläuft analog zur
Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />
241 7<br />
Kontroverse der Nativisten <strong>und</strong> der Empiristen, die wir <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit der Wahrnehmungsentwicklung (▶ Kap. 5)<br />
<strong>und</strong> der Sprachentwicklung (▶ Kap. 6) bereits beschrieben haben.<br />
Nativisten wie Liz Spelke, Alan Leslie <strong>und</strong> Karen Wynn<br />
glauben, dass ein angeborenes Verständnis gr<strong>und</strong>legender<br />
Konzepte eine zentrale Rolle in der Entwicklung spielt. Sie argumentieren,<br />
dass Säuglinge mit einem Sinn für f<strong>und</strong>amentale<br />
Konzepte wie Zeit, Raum, Kausalität, Zahl sowie menschliches<br />
Denken <strong>und</strong> Fühlen zur Welt kommen oder auch mit spezialisierten<br />
Lernmechanismen, die sie dazu befähigen, ein rud<strong>im</strong>entäres<br />
Verständnis dieser Konzepte ungewöhnlich schnell<br />
<strong>und</strong> leicht zu erwerben. In nativistischer Sicht ist die Umwelt<br />
für die Weiterentwicklung dieser Konzepte über das anfängliche<br />
Niveau hinaus von Bedeutung, nicht aber für die Bildung<br />
des Ausgangsverständnisses.<br />
Im Unterschied dazu argumentieren Empiristen wie Vlad<strong>im</strong>ir<br />
Sloutsky, Scott Johnson, David Rakison <strong>und</strong> Marianella Casasola,<br />
dass die Erbanlage Säuglinge nur mit allgemeinen Lernmechanismen<br />
ausstattet, etwa mit der Fähigkeit, wahrzunehmen,<br />
zu assoziieren, zu verallgemeinern <strong>und</strong> sich zu erinnern. In empiristischer<br />
Perspektive erwächst die schnelle <strong>und</strong> universelle<br />
Bildung f<strong>und</strong>amentaler Konzepte wie Zeit, Raum, Kausalität,<br />
Zahl <strong>und</strong> Bewusstsein daraus, dass das Kind massiv mit Erfahrungen<br />
konfrontiert wird, die für diese Konzepte bedeutsam<br />
sind. Empiristen behaupten zudem, dass die Daten, auf denen<br />
viele nativistische Argumente fußen – etwa die Fixationszeit von<br />
Säuglingen in Untersuchungen zur Habituation <strong>und</strong> Dishabituation<br />
– nicht hinreichen, um die nativistische Schlussfolgerung<br />
zu stützen, dass Säuglinge die fraglichen Konzepte verstünden<br />
(Campos et al. 2008; Kagan 2008). Die anhaltende Debatte zwischen<br />
Nativisten <strong>und</strong> Empiristen verweist auf eine gr<strong>und</strong>legende,<br />
ungelöste Frage über das Wesen des Menschen: Bilden Kinder<br />
alle Konzepte mit denselben Lernmechanismen, oder besitzen<br />
sie auch spezielle Mechanismen, um einige wenige besonders<br />
wichtige Konzepte zu formen?<br />
Im Zentrum des vorliegenden Kapitels steht die Entwicklung<br />
der gr<strong>und</strong>legendsten Begriffe, die sich in den allermeisten Situationen<br />
als nützlich erweisen. Diese Konzepte gliedern sich in<br />
zwei Gruppen. Die eine Gruppe wird verwendet, um Dinge zu<br />
klassifizieren, die in der Welt vorkommen: Menschen, Lebewesen<br />
insgesamt <strong>und</strong> unbelebte Objekte. Die andere Gruppe f<strong>und</strong>amentaler<br />
Konzepte umfasst die D<strong>im</strong>ensionen, mit deren Hilfe wir<br />
unsere Erfahrungen repräsentieren: Raum (wo etwas auftrat),<br />
Zeit (wann es auftrat), Kausalität (warum es passierte) <strong>und</strong> Zahl<br />
(wie oft es passierte).<br />
Vielleicht haben Sie bemerkt, dass diese Gr<strong>und</strong>begriffe eng<br />
mit den Fragen übereinst<strong>im</strong>men, die jeder Bericht über neue<br />
Ereignisse beantworten muss: Wer oder was? Wo? Wann? Warum?<br />
Wie viele? Diese Ähnlichkeit zwischen den Begriffen, die<br />
für Kinder gr<strong>und</strong>legend sind, <strong>und</strong> den wichtigsten Aspekten von<br />
Nachrichten ist nicht zufällig. Für das Verstehen fast jedes Ereignisses<br />
ist es wesentlich zu wissen, wer oder was wo, wann, warum<br />
<strong>und</strong> wie oft aktiv war.<br />
Weil die frühe Begriffsentwicklung so entscheidend ist, konzentrieren<br />
wir uns in diesem Kapitel auf die Entwicklung in den<br />
ersten fünf Jahren. Das bedeutet natürlich nicht, dass die konzeptuelle<br />
Entwicklung mit fünf Jahren zum Stillstand kommt.<br />
Das kindliche Verständnis der Gr<strong>und</strong>begriffe vertieft sich auch<br />
danach noch viele weitere Jahre, <strong>und</strong> ältere Kinder erwerben<br />
eine große Anzahl zusätzlicher, speziellerer Konzepte. Die Konzentration<br />
auf die Begriffsentwicklung in den ersten fünf Jahren<br />
spiegelt vielmehr die Tatsache wider, dass Kinder in dieser Phase<br />
ein gr<strong>und</strong>legendes Verständnis derjenigen Konzepte entwickeln,<br />
die über Gesellschaften hinweg universell sind, mit deren Hilfe<br />
Kinder ihre eigenen Erfahrungen <strong>und</strong> die anderer Menschen<br />
verstehen können <strong>und</strong> die eine Gr<strong>und</strong>lage für die nachfolgende<br />
Begriffsentwicklung bilden.<br />
Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />
Objekte in Klassen einteilen<br />
Schon früh in ihrer Entwicklung versuchen Kinder zu verstehen,<br />
welche Arten von Dingen es auf der Welt gibt. Zunächst<br />
einmal teilen sie die Dinge, die sie wahrnehmen, in die drei<br />
allgemeine Kategorien ein: unbelebte Objekte, Menschen <strong>und</strong><br />
andere Lebewesen (dabei sind sie jedoch noch einige Jahre unsicher,<br />
ob Pflanzen eher den Tieren oder den unbelebten Objekten<br />
ähneln) (Gelman <strong>und</strong> Kalish 2006). Die Ausbildung dieser<br />
groben Unterscheidungen ist ein wichtiger Entwicklungsschritt,<br />
weil bei unterschiedlichen Objekttypen unterschiedliche Konzepttypen<br />
gelten (Keil 1979). Manche Konzepte treffen auf alles<br />
zu – alle Dinge besitzen Höhe, Gewicht, Farbe, Größe <strong>und</strong><br />
so weiter. Andere Begriffe lassen sich nur auf Lebewesen anwenden;<br />
beispielsweise können nur Lebewesen essen, trinken,<br />
wachsen <strong>und</strong> atmen. Wieder andere Begriffe – lesen, einkaufen,<br />
nachdenken <strong>und</strong> sprechen – passen auf Menschen. Die Unterscheidung<br />
dieser Klassen ist wichtig, weil sie den Kindern<br />
dabei hilft, zutreffende Schlüsse über unbekannte Objekte zu<br />
ziehen. Wenn man ihnen sagt, dass ein Rhinozeros eine Tierart<br />
ist, dann wissen sie sofort, dass es sich bewegen kann, frisst,<br />
wächst, Nachwuchs hat <strong>und</strong> so weiter.<br />
Einige Forscher vermuten, dass Kinder ihre Beobachtungen<br />
zu diesen Kategorien anhand informeller Theorien organisieren<br />
(z. B. Carey 2009; Murphy <strong>und</strong> Medin 1985; Vamvakoussi <strong>und</strong><br />
Vosniadou 2010). Wellman <strong>und</strong> Gelman (1998) schlugen drei<br />
solcher Theorien vor, mit deren Hilfe kleine Kinder ihr Wissen<br />
über die Welt ordnen: eine Theorie der Physik (unbelebte Objekte),<br />
eine Theorie der Psychologie (Menschen) <strong>und</strong> eine Theorie<br />
der Biologie (andere Lebewesen). Diesen Theorien wird ein<br />
angeborener Kern zugeschrieben, aber es wird zugleich davon<br />
ausgegangen, dass auch Lernprozesse in diese Theorien eingebaut<br />
werden – <strong>und</strong> sie transformieren: Prozesse wie Assoziation, Beobachtung<br />
<strong>und</strong> Feststellungen über andere Menschen (Gelman<br />
<strong>und</strong> Kalish 2006). Die formlosen Theorien sind rud<strong>im</strong>entär, aber<br />
sie haben drei wichtige Merkmale gemeinsam, durch die sich<br />
auch wissenschaftliche Theorien auszeichnen:<br />
1. Sie spezifizieren gr<strong>und</strong>legende Einheiten, um Objekte <strong>und</strong><br />
Ereignisse in gr<strong>und</strong>legende Kategorien einzuordnen.<br />
2. Sie erklären viele Phänomene anhand weniger Gr<strong>und</strong>prinzipien.<br />
3. Sie erklären Ereignisse anhand nicht beobachtbarer Kausalzusammenhänge.
242<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
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..<br />
Tab. 7.1 Objekthierarchien<br />
Ebene<br />
Objekttyp<br />
Ontologische Ebene Unbelebte Dinge Menschen Lebewesen<br />
Übergeordnete Ebene Möbel, Fahrzeuge … Europäer, Asiaten … …<br />
Basisebene Stühle, Tische … Spanier, Finnen … Katzen, H<strong>und</strong>e …<br />
Untergeordnete Ebene Barhocker, Sessel … Picasso, Cervantes … Löwen, Luchse …<br />
Jedes dieser Merkmale ist <strong>im</strong> Kindergartenalter deutlich ausgeprägt<br />
(Evans 2008; Gelman 2003; Inagaki <strong>und</strong> Hatano 2008).<br />
Dem ersten Merkmal entspricht, dass Kindergartenkinder alle<br />
Objekte in Menschen, andere Tiere, Pflanzen <strong>und</strong> unbelebte Objekte<br />
kategorisieren. Entsprechend dem zweiten Merkmal verstehen<br />
Kindergartenkinder breit anwendbare Prinzipien, zum<br />
Beispiel dass viele Verhalten von Tieren auf Hunger <strong>und</strong> Durst<br />
nach Nahrung beruhen. Und dem dritten Prinzip entspricht das<br />
Wissen von Kindergartenkindern, dass viele Lebensfunktionen<br />
von Tieren wie Bewegung oder auch das Heilen von W<strong>und</strong>en<br />
durch interne Ursachen entstehen, die <strong>im</strong> Tier liegen – <strong>im</strong> Gegensatz<br />
zu externen Einflüssen wie äußeren Kräften, die die Bewegungen<br />
unbelebter Objekte best<strong>im</strong>men.<br />
Wann bilden Kinder erstmals solche rud<strong>im</strong>entären Theorien?<br />
Spelke (2003) mutmaßt, dass Kinder von Beginn an über eine<br />
pr<strong>im</strong>itive Theorie der Physik verfügen, die für unbelebte Objekte<br />
gilt. Diese Theorie schließt das Wissen ein, dass es in der Welt<br />
physikalische Objekte gibt, die Raum einnehmen <strong>und</strong> nur infolge<br />
äußerer Krafteinwirkungen in Bewegung versetzt werden,<br />
dass sie sich kontinuierlich durch den Raum bewegen, statt von<br />
einer Position zur nächsten zu springen, <strong>und</strong> schließlich, dass<br />
verschiedene physikalische Objekte nicht denselben Raum einnehmen<br />
können.<br />
Wellman <strong>und</strong> Gelman (1998) vermuten, dass die Theorie<br />
der Psychologie <strong>im</strong> Aller von ungefähr 18 Monaten auftritt <strong>und</strong><br />
die erste Theorie der Biologie <strong>im</strong> Alter von etwa drei Jahren.<br />
Die erste Theorie der Psychologie entsteht <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit dem Verständnis dafür, dass das Verhalten anderer Menschen<br />
deren Bedürfnisse widerspiegelt. So erkennt ein zweijähriger<br />
Junge, dass seine Mutter, wenn sie hungrig ist, etwas<br />
essen möchte, unabhängig davon, ob er selbst ebenfalls gerade<br />
hungrig ist. Die Theorie der Biologie organisiert sich aus dem<br />
Kernwissen, dass Menschen <strong>und</strong> andere Tiere Lebewesen sind,<br />
die sich von unbelebten Objekten <strong>und</strong> von Pflanzen unterscheiden.<br />
Beispielsweise erkennen Drei- <strong>und</strong> Vierjährige, dass sich<br />
Tiere aus eigener Kraft bewegen, unbelebte Objekte jedoch<br />
nicht (Gelman 2003).<br />
Natürlich findet zudem eine weit über diese Theorien hinausgreifende<br />
Entwicklung statt. Zum Teil stützt sich diese Entwicklung<br />
auf die ursprüngliche Organisation <strong>und</strong> ergänzt Details. Wie<br />
in ▶ Kap. 5 erwähnt, verstehen beispielsweise schon drei Monate<br />
alte Säuglinge, dass ein Objekt (wie etwa ein Glas) zu Boden fallen<br />
wird, wenn es nicht durch ein anderes Objekt (etwa einen<br />
Tisch) unterstützt wird; allerdings dauert es bis zum Alter von<br />
fünf Monaten, bis die Säuglinge auch verstehen, dass ein Objekt<br />
dann herunterfallen wird, wenn nur ein kleiner Teil des Objekts<br />
gestützt wird (Baillargeon 1994). Bisweilen werden Kinder ihre<br />
rud<strong>im</strong>entären Theorien durch weiter entwickelte ersetzen. So<br />
unterscheiden sie zunächst in ihrer Theorie der Biologie Tiere<br />
von unbelebten Objekten <strong>und</strong> Pflanzen; aber erst <strong>im</strong> Alter von<br />
etwa sieben Jahren sind sie davon überzeugt, dass die Kategorie<br />
der Lebewesen Pflanzen ebenso einschließt wie Tiere (Inagaki<br />
<strong>und</strong> Hatano 2008).<br />
Ähnlich wie diese Theorien den Kindern helfen, Objekte<br />
allgemeinen Kategorien zuzuordnen, trägt die Entwicklung von<br />
Klassenhierarchien – d. h. Klassen oder Mengen von Objekten,<br />
die durch Ober-/Unterbegriff-Relationen verknüpft sind – dazu<br />
bei, dass Kinder Objekte innerhalb einer Kategorie unterscheiden<br />
können. Ein Beispiel aus . Tab. 7.1 ist die Beziehung Möbel –<br />
Stuhl – Barhocker. Zur Kategorie „Möbel“ gehören alle Stühle;<br />
die Kategorie „Stuhl“ umfasst alle Barhocker. Die Bildung solcher<br />
Klassenhierarchien vereinfacht die Welt für Kinder wiederum<br />
sehr stark, indem sie mit ihrer Hilfe zutreffende Schlüsse ziehen<br />
können. Wenn Kinder erfahren, dass ein Barhocker eine Art von<br />
Stuhl ist, dann können sie aus ihrem allgemeinen Wissen über<br />
Stühle schließen, dass Menschen auf Barhockern sitzen <strong>und</strong> dass<br />
mit Barhocker nicht – analog zu Stubenhocker oder Nesthocker<br />
– ein Lebewesen gemeint ist.<br />
Klassenhierarchie – Klassen oder Kategorien, die durch Ober-/Unterbegriff-<br />
Relationen verknüpft sind wie zum Beispiel Tier – H<strong>und</strong> – Pudel.<br />
Natürlich kommen Kinder nicht mit Wissen über Stühle <strong>und</strong><br />
Barhocker auf die Welt, auch nicht mit Wissen über die anderen<br />
Kategorien in . Tab. 7.1. Eine wichtige Frage lautet daher: Wie<br />
bilden Kinder Kategorien, die für alle Arten von Objekten – belebte<br />
<strong>und</strong> unbelebte – gelten?
Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />
243 7<br />
Kategorienbildung von Objekten<br />
in der frühen Kindheit<br />
Schon in den ersten Monaten ihres Lebens bilden Kinder Klassen<br />
von Objekten. Zum Beispiel fanden Quinn <strong>und</strong> E<strong>im</strong>as (1996),<br />
dass Kinder <strong>im</strong> Alter von drei <strong>und</strong> vier Monaten habituierten,<br />
wenn man ihnen Fotos von Katzen verschiedener Rassen zeigte<br />
– sie betrachteten die nacheinander folgenden Fotos einer neuen<br />
Katzenrasse <strong>im</strong>mer kürzer. Zeigte man den Kindern anschließend<br />
jedoch ein Foto von einem H<strong>und</strong>, einem Löwen oder einem<br />
anderen Tier, dann dishabituierten sie, schauten also wieder<br />
länger hin. Ihre Habituation auf die Katzenfotos lässt darauf<br />
schließen, dass sie alle Katzen trotz der Unterschiede als Mitglied<br />
einer einzigen Kategorie wahrnahmen; die anschließende Dishabituation<br />
auf das Foto eines H<strong>und</strong>es oder eines anderen Tieres<br />
deutet darauf hin, dass sie diese Lebewesen als Mitglieder einer<br />
anderen Kategorie als „Katzen“ betrachteten.<br />
Kleine Kinder können auch allgemeinere Kategorien als<br />
„Katzen“ bilden. Behl-Chadha (1996) fand, dass sechs Monate<br />
alte Kinder habituierten, wenn man ihnen mehrmals hintereinander<br />
Bilder von verschiedenen Arten von Säugetieren (H<strong>und</strong>e,<br />
Zebras, Elefanten usw.) zeigte, <strong>und</strong> dishabituierten, wenn man<br />
ihnen anschließend das Bild eines Vogels oder eines Fisches<br />
zeigte. Offenbar konnten die Kinder Ähnlichkeiten zwischen den<br />
verschiedenen Säugetieren wahrnehmen, was dazu führte, dass<br />
sie schließlich ihr Interesse an ihnen verloren. Auch schienen die<br />
Kinder Unterschiede zwischen den Säugetieren <strong>und</strong> dem Vogel<br />
oder dem Fisch wahrgenommen zu haben, was bei ihnen erneut<br />
Interesse <strong>und</strong> damit Zuwendung zu dem Reiz auslöste.<br />
Dieses Beispiel lässt erkennen, dass die wahrnehmungsbasierte<br />
Klassifikation – die Gruppierung von Objekten mit ähnlichem<br />
Erscheinungsbild – ein zentrales Element der Kategorisierungsfähigkeiten<br />
des <strong>Kindes</strong> darstellt (Cohen <strong>und</strong> Cashon 2006;<br />
Madole <strong>und</strong> Oakes 1999). Wenn überhaupt, hatten wohl nur<br />
wenige der Kinder, die an der Untersuchung von Behl-Chadha<br />
(1996) teilnahmen, zuvor bereits irgendwelche Erfahrungen mit<br />
Zebras oder Elefanten. Die Unterscheidung zwischen den großen<br />
vierbeinigen Säugetieren <strong>und</strong> den Vögeln <strong>und</strong> Fischen konnte<br />
nur auf der Wahrnehmung des unterschiedlichen Erscheinungsbildes<br />
der Tiere beruhen.<br />
Wahrnehmungsbasierte Klassifikation – Die Gruppierung von Objekten mit<br />
ähnlichem Erscheinungsbild.<br />
Kinder klassifizieren Objekte anhand vieler Wahrnehmungsd<strong>im</strong>ensionen<br />
wie Farbe, Größe <strong>und</strong> Bewegung. Oft stützt sich ihre<br />
Klassifikation in hohem Maße auf spezifische Teile der Objekte<br />
<strong>und</strong> nicht auf die Objekte als Ganzes; beispielsweise verlassen<br />
sich Kinder unter 18 Monaten sehr stark auf das Vorhandensein<br />
von Beinen, um Objekte als Tiere zu klassifizieren, <strong>und</strong> sie beziehen<br />
sich auf das Vorhandensein von Rädern, um Objekte als<br />
Fahrzeuge zu klassifizieren (Rakison <strong>und</strong> Lupyan 2008; Rakison<br />
<strong>und</strong> Poulin-Dubois 2001).<br />
Wenn der zweite Geburtstag näher rückt, klassifizieren Kinder<br />
Objekte zunehmend auf der Basis ihrer Gesamtform. Zeigt<br />
man ihnen ein unbekanntes Objekt <strong>und</strong> sagt, dass es sich dabei<br />
um ein Daz handelt (. Abb. 6.10), dann nehmen sie an, dass andere<br />
Objekte mit derselben Form ebenfalls Daz heißen, selbst<br />
wenn sie sich hinsichtlich ihrer Größe, ihrer Textur <strong>und</strong> ihrer<br />
Farbe unterscheiden (Landau et al. 1998). Dies ist eine nützliche<br />
Annahme, weil bei vielen Objekten tatsächlich die Form über<br />
die verschiedenen Mitglieder einer Kategorie hinweg ähnlich ist.<br />
Wenn wir den Umriss einer Katze, eines Hammers oder eines<br />
Stuhles sehen, können wir anhand der Form angeben, worum es<br />
sich handelt. Dasselbe ist jedoch selten möglich, wenn wir nur die<br />
Farbe, die Größe oder die Oberflächenbeschaffenheit des Objekts<br />
kennen.<br />
Kategorienbildung nach der frühen Kindheit<br />
Mit dem Hinauswachsen aus der frühen Kindheit erfassen Kinder<br />
zunehmend nicht nur Einzelkategorien, sondern auch hierarchische<br />
<strong>und</strong> kausale Beziehungen zwischen Kategorien.<br />
Klassenhierarchien<br />
Die Klassenhierarchien, die kleine Kinder bilden, besitzen oft<br />
drei der in . Tab. 7.1 aufgeführten Hauptebenen: eine allgemeine<br />
Ebene, die übergeordnete Ebene oder Oberbegriffsebene genannt<br />
wird,; eine sehr spezielle Ebene, die untergeordnete<br />
Ebene oder Unterbegriffsebene; <strong>und</strong> eine Ebene dazwischen, die<br />
sogenannte Basisebene (Rosch et al. 1976). Wie der Name schon<br />
sagt, ist die Basisebene diejenige, die Kinder normalerweise<br />
zuerst lernen, wenn sie anfangen zu sprechen. Sie verwenden<br />
sprachlich normalerweise Begriffe mittleren Allgemeinheitsgrades,<br />
zum Beispiel „Baum“, bevor sie allgemeinere Begriffe, wie<br />
„Pflanze“, oder spezifischere Klassen, wie „Eiche“, benutzen.<br />
Übergeordnete Ebene – Die allgemeinste Ebene einer Klassenhierarchie, so<br />
wie „Tier“ <strong>im</strong> Beispiel Tier – H<strong>und</strong> – Pudel.<br />
Untergeordnete Ebene – Die niedrigste Ebene einer Klassenhierarchie, so wie<br />
„Pudel“ <strong>im</strong> Beispiel Tier – H<strong>und</strong> – Pudel.<br />
Basisebene – Die mittlere <strong>und</strong> oft zuerst gelernte Ebene einer Klassenhierarchie,<br />
so wie „H<strong>und</strong>“ <strong>im</strong> Beispiel Tier – H<strong>und</strong> – Pudel.<br />
Die Gründe dafür, dass Kinder die Basisebene <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
zuerst bilden, sind leicht einzusehen. Ein Konzept der Basisebene,<br />
so wie „Baum“, beschreibt Exemplare, die alle eine Reihe<br />
gleichbleibender Eigenschaften besitzen: Rinde, Zweige, Höhenwachstum<br />
<strong>und</strong> so weiter. Im Gegensatz dazu besitzen die Mitglieder<br />
der allgemeineren Kategorie „Pflanze“ weniger einheitliche<br />
Eigenschaften: Pflanzen haben sehr unterschiedliche Formen,<br />
Größen <strong>und</strong> Farben. (Man denke an eine Eiche, eine Rose <strong>und</strong><br />
einen Grashalm.) Die Mitglieder der untergeordneten Ebene<br />
besitzen dieselben durchgängigen Eigenschaften wie die der zugehörigen<br />
Basisebene <strong>und</strong> einige zusätzliche Merkmale: Alle Eichen,<br />
aber nicht alle Bäume haben beispielsweise eine raue Rinde<br />
<strong>und</strong> gelappte Blätter. Es ist jedoch relativ schwer, die Mitglieder<br />
der untergeordneten Kategorienebene von denen der Basisebene<br />
zu unterscheiden (z. B. Eiche gegenüber Ahorn). So überrascht<br />
es nicht, dass Kinder dazu neigen, sprachliche Kategorien auf<br />
Basisebene zuerst zu bilden.<br />
Zu beachten ist, dass die Basiskategorien sehr kleiner Kinder<br />
nicht <strong>im</strong>mer mit denen Erwachsener übereinst<strong>im</strong>men. Anstatt<br />
getrennte Klassen für Autos, Motorräder <strong>und</strong> Busse zu bilden,<br />
scheinen kleine Kinder diese Objekte zusammen in eine Kategorie<br />
„Objekte mit Rädern“ zu gruppieren (Mandler <strong>und</strong> McDonough
244<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
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22<br />
23<br />
“Wug”<br />
“Gilly”<br />
..<br />
Abb. 7.1 Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Vorschulkinder konnten<br />
neuartige Bilder wie diese besser als Wugs oder Gillies klassifizieren, wenn sie<br />
vorher erklärt bekamen, dass Wugs zum Kämpfen <strong>und</strong> Gillies zum Flüchten<br />
ausgestattet sind (Krascum <strong>und</strong> Andrews 1998). Allgemein hilft das Verstehen<br />
von Ursache-Wirkungs-Beziehungen Menschen jeden Alters be<strong>im</strong> Lernen<br />
<strong>und</strong> Behalten<br />
1998). Doch selbst in solchen Fällen sind die ursprünglichen<br />
Kategorien weniger allgemein als Kategorien wie „bewegliche<br />
Dinge“ <strong>und</strong> zugleich allgemeiner als Kategorien wie „Toyotas“.<br />
Wenn Kinder bereits Kategorien <strong>und</strong> sprachliche Begriffe auf<br />
dem Niveau der Basisebene gebildet haben, wie gelangen sie weiter<br />
zu übergeordneten <strong>und</strong> untergeordneten Kategorien? Ein Teil der<br />
Antwort liegt darin, dass Eltern <strong>und</strong> andere Personen die Basisebenenkategorien<br />
als Gr<strong>und</strong>lage für das Erklären spezifischerer <strong>und</strong><br />
allgemeinerer Kategorien nutzen (Gelman et al. 1998). Wenn Eltern<br />
ihren Kindern Oberbegriffe wie Säugetiere erklären <strong>und</strong> vermitteln,<br />
illustrieren sie diese typischerweise mit Beispielen der Basisebene,<br />
die das Kind bereits kennt (Callanan 1990). Sie sagen vielleicht:<br />
„Säugetiere sind Tiere wie zum Beispiel Füchse, Bären <strong>und</strong> Kühe,<br />
die von ihren Müttern Milch bekommen, wenn sie Babys sind.“<br />
Auch bei der Erläuterung von Begriffen der untergeordneten<br />
Ebene beziehen sich Eltern auf Basisbegriffe (Callanan <strong>und</strong><br />
Sabbagh 2004; Waxman <strong>und</strong> Senghas 1992). Beispielsweise sagen<br />
sie: „Belugas sind Wale.“ Kindergartenkinder sind sehr sensitiv<br />
für die Nuancierungen in solchen Aussagen. So generalisieren sie<br />
viel häufiger bei kategoriale Aussagen wie „Belugas sind Wale“<br />
als bei Einzelaussagen wie „Dieser Beluga ist ein Wal“ (C<strong>im</strong>pian<br />
<strong>und</strong> Scott 2012). Solche Aussagen über spezifische Beziehungen<br />
zwischen Kategorien ermöglichen es Kindern, ihr bereits vorhandenes<br />
Wissen über Begriffe auf der Basisebene heranzuziehen,<br />
um Ober- <strong>und</strong> Unterbegriffskategorien zu bilden.<br />
Bisweilen kann man aber auch beobachten, dass Kinder ihr bisheriges<br />
Begriffsverständnis auf höchst amüsante <strong>und</strong> kreative Weise<br />
nutzen, um eigene Differenzierungen vorzunehmen. So verwendete<br />
die vierjährige Tochter der Herausgeberin das Wort „reparieren“<br />
stets in zwei verschiedenen Varianten: Sie sprach von „mammarieren“,<br />
wenn es um das Flicken ihrer Kleidung ging, <strong>und</strong> von „paparieren“,<br />
wenn der Computer in Ordnung gebracht werden musste.<br />
Kausales Verstehen <strong>und</strong> Kategorisierung<br />
Vorschulkinder sind berüchtigt für ihre endlosen Fragen nach<br />
Gründen <strong>und</strong> Ursachen: „Warum bellen H<strong>und</strong>e?“ „Wie weiß das<br />
Handy, wo es anrufen soll?“ „Wo kommt der Regen her?“ Wenn<br />
solche Fragen die Eltern auch manchmal zur Verzweiflung treiben,<br />
so hilft es den Kindern be<strong>im</strong> Lernen, wenn man diese Fragen<br />
ernst n<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> beantwortet (Chouinard 2007).<br />
Für die Bildung vieler Begriffsklassen ist das Verstehen von<br />
Kausalbeziehungen unerlässlich. Wie sollten Kinder beispielsweise<br />
die Kategorie „Lichtschalter“ bilden, wenn sie nicht verstünden,<br />
dass Lichtschalter der Auslöser dafür sind, dass das Licht<br />
an- <strong>und</strong> ausgeht? Um zu untersuchen, wie das Verstehen von Ursachen<br />
die Kategorienbildung beeinflusst, erzählten Krascum <strong>und</strong><br />
Andrews (1998) zwei Gruppen von vier <strong>und</strong> fünf Jahre alten Kindern<br />
von zwei Klassen von Fantasietieren, den Wugs <strong>und</strong> den Gillies.<br />
Einigen der Vorschulkinder beschrieb man nur das Äußere<br />
dieser Tiere; man erklärte ihnen, dass die Wugs normalerweise<br />
Krallen an den Füßen haben, Stacheln an der Schwanzspitze, Hörner<br />
auf dem Kopf <strong>und</strong> einen Rückenpanzer; die Gillies, so hieß es,<br />
haben typischerweise große Ohren, Flügel, einen langen Schwanz<br />
<strong>und</strong> lange Zehen. Andere Kinder erhielten dieselbe äußerliche<br />
Beschreibung zusammen mit einer einfachen Erklärung, warum<br />
die Wugs <strong>und</strong> die Gillies so sind, wie sie sind. Ihnen wurde gesagt,<br />
dass die Wugs Krallen, Stacheln, Hörer <strong>und</strong> Panzer haben, weil sie<br />
gerne kämpfen; die Gillies dagegen kämpfen nicht gern <strong>und</strong> verstecken<br />
sich lieber in Bäumen. Mit ihren großen Ohren können<br />
sie hören, wenn sich ein Wug nähert, mit ihren Flügeln können<br />
sie hoch auf die Bäume fliegen, <strong>und</strong> so weiter. Nachdem man nun<br />
beiden Kindergruppen Informationen über diese Tiere gegeben<br />
hatte, zeigte man ihnen die Bilder von . Abb. 7.1 <strong>und</strong> fragte sie,<br />
welches der Tiere ein Wug ist <strong>und</strong> welches ein Gillie.<br />
Die Kinder, denen man erklärt hatte, warum Wugs <strong>und</strong><br />
Gillies ihre jeweiligen Merkmale besitzen, konnten die Bilder<br />
besser der zutreffenden Kategorie zuordnen. Bei einem Test am<br />
nächsten Tag erinnerten diese Kinder sich auch besser an die<br />
Kategorien als die Kinder, die keine Erklärung erhalten hatten.<br />
Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu verstehen, hilft Kindern also,<br />
neue Begriffsklassen zu lernen <strong>und</strong> zu behalten.<br />
Das Wissen über sich selbst <strong>und</strong> andere<br />
Auch wenn wir uns in unseren Kenntnissen über uns selbst<br />
<strong>und</strong> andere Menschen enorm unterscheiden, gibt es doch einen<br />
allgemeinen Grad an Menschenkenntnis, über den praktisch<br />
jeder verfügt. Wie in ▶ Kap. 4 bereits angesprochen, ist diese<br />
Alltagspsychologie bei Kindern schon ab drei Jahren erkennbar.<br />
Diese naive Psychologie ist unabdingbar für die normale Lebenstüchtigkeit<br />
von Menschen <strong>und</strong> gehört zu den entscheidenden<br />
Fähigkeiten, die uns als Menschen auszeichnen. Bei vielen<br />
Aufgaben, die physikalisches Schlussfolgern erfordern, erreichen<br />
erwachsene Sch<strong>im</strong>pansen durchaus ähnliche Leistungen wie<br />
zweieinhalbjährige Menschen, wenn es etwa darum geht, Werkzeuge<br />
zu nutzen, um an Nahrung heranzukommen. Müssen bei<br />
einer Aufgabe aber Rückschlüsse auf soziale Ursachen gezogen<br />
werden, wenn es beispielsweise darum geht, die Intentionen eines<br />
Menschen aus seinem Verhalten zu erschließen, liegen ihre<br />
Leistungen weit hinter denen von Kleinkindern (Herrmann et al.<br />
2007; Tomasello 2008).<br />
Naive Psychologie – Das Alltagsverständnis von sich selbst <strong>und</strong> anderen Menschen.
Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />
245 7<br />
Im Zentrum der naiven Psychologie stehen drei Konzepte, die<br />
wir alle normalerweise heranziehen, um das menschliche Verhalten<br />
zu verstehen: Wünsche, Überzeugungen <strong>und</strong> Handlungen.<br />
Wir wenden diese Konzepte fast <strong>im</strong>mer an, wenn wir uns<br />
fragen, warum jemand etwas tat. Warum zum Beispiel ging Kevin<br />
zu Josefs Wohnung? Er wollte mit Josef spielen (ein Wunsch);<br />
er glaubte, Josef sei zu Hause (eine Annahme). Warum hat Ursula<br />
am Samstagmorgen um acht den Fernseher eingeschaltet?<br />
Sie wollte die Sendung Akte X sehen (ein Wunsch); sie dachte,<br />
dass sie um diese Zeit läuft (eine Annahme). Und sie schaltete<br />
zur passenden Zeit den entsprechenden Fernsehkanal ein (eine<br />
Handlung).<br />
Drei Eigenschaften naiver psychologischer Konzepte sind zu<br />
beachten. Erstens beziehen sie sich auf nicht sichtbare mentale<br />
Zustände. Niemand kann einen Wunsch, eine Überzeugung, eine<br />
Wahrnehmung, eine Erinnerung oder einen physiologischen<br />
Zustand <strong>und</strong> Ähnliches sehen. Wir können nur die Verhaltensweisen<br />
sehen, die mit den nicht sichtbaren psychologischen Zuständen<br />
zusammenhängen, etwa wenn Kevin bei Josef an der Tür<br />
klingelt, aber den zugr<strong>und</strong>e liegenden mentalen Zustand – etwa<br />
Kevins Wunsch, Josef zu sehen – können wir nur erschließen.<br />
Zweitens sind psychologische Konzepte durch Ursache-Wirkungs-Beziehungen<br />
miteinander verknüpft. Zum Beispiel fühlt<br />
sich Kevin vielleicht frustriert, wenn Josef nicht zu Hause ist, weil<br />
er einen anderen Fre<strong>und</strong> besuchen ging, was Kevin später dazu<br />
veranlassen könnte, seine Laune an seinem kleinen Bruder auszulassen.<br />
Die dritte bemerkenswerte Eigenschaft solcher naiver<br />
psychologischer Konzepte besteht darin, dass sie sich – wie wir<br />
gleich sehen werden – früh <strong>im</strong> Leben entwickeln.<br />
Mental – Bezieht sich gleichermaßen auf Geist <strong>und</strong> Psyche, also alle psychologischen<br />
Aspekte des Erlebens <strong>und</strong> Verhaltens.<br />
Über die Ursprünge dieses frühen psychologischen Verständnisses<br />
gehen die Meinungen zwischen Nativisten <strong>und</strong> Empiristen<br />
stark auseinander. Nativisten (z. B. Leslie 2000) vertreten<br />
den Standpunkt, das frühe Verständnis sei nur möglich, weil<br />
Kinder mit einem angeborenen gr<strong>und</strong>legenden Verständnis für<br />
die menschliche Psyche zur Welt kommen. Im Gegensatz dazu<br />
sind Empiristen (z. B. Frye et al. 1996; Ruffman et al. 2002) der<br />
Überzeugung, dass das frühe Verstehen anderer Menschen <strong>im</strong><br />
Wesentlichen auf die Erfahrungen mit anderen <strong>und</strong> die allgemeinen<br />
Informationsverarbeitungskapazitäten zurückgeht. Beide<br />
Sichtweisen können sich auf Belege stützen.<br />
Naive Psychologie in der frühen Kindheit<br />
Wie wir in ▶ Kap. 5 gesehen haben, finden Säuglinge andere<br />
Menschen interessant, richten sehr viel Aufmerksamkeit auf sie<br />
<strong>und</strong> lernen <strong>im</strong> Verlauf des ersten Lebensjahres beeindruckend<br />
viel über sie. Selbst sehr kleine Kinder betrachten lieber menschliche<br />
Gesichter als andere Objekte. Auch machen sie Gesichtsbewegungen<br />
von Menschen nach <strong>und</strong> strecken beispielsweise<br />
die Zunge heraus, aber die Bewegungen unbelebter Gegenstände<br />
<strong>im</strong>itieren sie nicht. Und nicht allein das Gesicht interessiert Säuglinge;<br />
auch sich bewegende Menschenkörper beobachten sie lieber<br />
als andere ähnliche Bewegungen nichtmenschlicher Objekte<br />
(Bertenthal 1993).<br />
Dieses frühe Interesse an den Gesichtern <strong>und</strong> Körpern anderer<br />
Menschen macht es den Babys leicht, etwas über das Verhalten<br />
anderer Menschen zu lernen. Andere Menschen nachzumachen<br />
<strong>und</strong> emotionale Bindungen mit ihnen einzugehen, regt<br />
diese Menschen dazu an, mehr mit dem Kind zu interagieren <strong>und</strong><br />
ihm dadurch zusätzliche Möglichkeiten zu verschaffen, psychologisches<br />
Verstehen zu entwickeln.<br />
Wie bereits erwähnt, treten viele wichtige Aspekte psychologischen<br />
Verständnisses gegen Ende des ersten <strong>und</strong> zu Beginn<br />
des zweiten Lebensjahres hervor. Einer davon ist ein Verstehen<br />
der Absicht, also des Wunsches, auf best<strong>im</strong>mte Weise zu handeln.<br />
Weitere wichtige psychologische Konzepte, die sich zur selben<br />
Zeit zeigen, sind die geteilte Aufmerksamkeit, bei der zwei oder<br />
mehr Menschen sich bewusst auf denselben Referenten konzentrieren,<br />
<strong>und</strong> die Intersubjektivität, das wechselseitige Verständnis,<br />
das Menschen be<strong>im</strong> Kommunizieren teilen (▶ Kap. 4).<br />
Zum Verständnis für andere Menschen gehört bei Einjährigen<br />
ein Verstehen ihrer Emotionen. Betrachten wir folgende<br />
Spielszene:<br />
» Michael, 15 Monate alt, streitet sich mit seinem Fre<strong>und</strong> Paul<br />
um ein Spielzeug. Paul fängt an zu weinen. Michael scheint<br />
betroffen <strong>und</strong> lässt das Spielzeug los; nun hat es Paul. Paul<br />
weint weiter. Michael hält inne, dann gibt er Paul seinen eigenen<br />
Teddybären; Paul weint <strong>im</strong>mer noch. Wieder hält Michael<br />
inne, läuft ins Nebenz<strong>im</strong>mer, holt Pauls Kuscheldecke <strong>und</strong><br />
reicht sie ihm hin. Paul hört auf zu weinen (Hoffman 1976,<br />
S. 129 f.).<br />
Solche Anekdoten zu interpretieren, ist <strong>im</strong>mer schwierig, aber<br />
vermutlich verstand Michael, dass Paul sich vielleicht besser fühlen<br />
würde (oder wenigstens aufhören würde zu weinen), wenn<br />
er ihm etwas gibt, das Paul sich wünscht. Dass Michael das Z<strong>im</strong>mer<br />
verließ, Pauls Kuscheldecke holte <strong>und</strong> sie ihm brachte, lässt<br />
vermuten, dass Michael darüber hinaus die beruhigende Wirkung<br />
von Pauls Decke begriff. Diese Interpretation st<strong>im</strong>mt mit<br />
einer Vielzahl von Belegen dafür überein, dass Einjährige ihre<br />
unglücklichen Spielkameraden häufig mit körperlicher Zuwendung<br />
(Umarmungen, Küsschen, Tätscheln) <strong>und</strong> Zuspruch („Du<br />
bist lieb“) trösten. Wahrscheinlich hilft den Kleinkindern ihre<br />
Erfahrung mit eigenen Emotionen <strong>und</strong> den dazugehörigen Verhaltensweisen<br />
dabei, die Emotionen anderer zu verstehen, wenn<br />
diese sich ähnlich verhalten (Harris 2006).<br />
Entwicklung <strong>im</strong> späteren <strong>Kindes</strong>alter<br />
Im Kleinkind- <strong>und</strong> Vorschulalter bauen Kinder auf ihren früh<br />
entstandenen psychologischen Gr<strong>und</strong>kenntnissen auf, um ein<br />
<strong>im</strong>mer differenzierteres Verständnis von sich selbst <strong>und</strong> anderen<br />
Menschen zu entwickeln <strong>und</strong> auf <strong>im</strong>mer komplexere Weise mit<br />
anderen zu interagieren. In zwei Bereichen ist diese Entwicklung<br />
besonders eindrucksvoll: bei den Spielaktivitäten <strong>und</strong> be<strong>im</strong> Verstehen<br />
des menschlichen Erlebens <strong>und</strong> Verhaltens.<br />
Die Entwicklung einer alltagspsychologischen Theorie<br />
Ihre naive Psychologie zusammen mit ihrem starken Interesse<br />
an anderen Menschen liefert Klein- <strong>und</strong> Vorschulkindern das<br />
F<strong>und</strong>ament für die Entwicklung einer alltagspsychologischen
246<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
1<br />
2<br />
Was glaubst du, was in der Schachtel ist?<br />
Mach doch mal auf <strong>und</strong> sieh nach!<br />
Machen wir die Schachtel wieder zu.<br />
Was glaubst du: Was würde deine<br />
Fre<strong>und</strong>in Jenny sagen, was in der<br />
Schachtel ist, wenn sie sie sieht?<br />
3<br />
Smarties!<br />
Oh, es sind Bleistifte.<br />
Bleistifte!<br />
4<br />
5<br />
6<br />
SMARTIES<br />
SMARTIES<br />
SMARTIES<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
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18<br />
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20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
Abb. 7.2 Das Testen der kindlichen Theory of Mind. Die Smarties-Aufgabe wird häufig verwendet, um das Verständnis falscher Überzeugungen bei Vorschulkindern<br />
zu untersuchen. Die meisten Dreijährigen antworten wie das Kind in der Zeichnung, was auf einen Mangel an Verständnis dafür schließen lässt,<br />
dass die Handlungen von anderen Menschen auf deren eigenen Überzeugungen basieren, auch wenn diese Überzeugungen von dem abweichen, was das<br />
Kind bereits sicher weiß<br />
Theorie, die als Theory of Mind (TOM) bezeichnet wird, weil sie<br />
ein strukturiertes <strong>und</strong> integriertes Verständnis darüber bietet,<br />
wie mentale Prozesse – Intentionen, Wünsche, Überzeugungen,<br />
Wahrnehmungen <strong>und</strong> Emotionen – das Verhalten beeinflussen.<br />
Zur Theory of Mind von Vorschulkindern gehört zum Beispiel<br />
das Wissen, dass Überzeugungen häufig auf Wahrnehmungen<br />
beruhen, auf dem, was man selbst sieht oder erzählt bekommt;<br />
dass Wünsche physiologisch bedingt sein können wie Hunger<br />
oder Schmerz oder psychisch wie das Bedürfnis, einen Fre<strong>und</strong><br />
zu sehen; <strong>und</strong> dass Wünsche <strong>und</strong> Überzeugungen Handlungen<br />
hervorbringen (Miller 2012).<br />
Theory of Mind (TOM) – Ein gr<strong>und</strong>legendes Verständnis davon, wie Geist <strong>und</strong><br />
Psyche das Erleben <strong>und</strong> Verhalten beeinflussen – <strong>im</strong> Gegensatz zu einer Theorie<br />
des Geistes, die nur geistige Einflüsse auf das Bewusstsein beschreibt.<br />
Ein wichtiger Bestandteil einer solchen Theory of Mind, das<br />
Verstehen der Verbindung zwischen den Wünschen anderer<br />
Menschen <strong>und</strong> ihren Handlungen, taucht gegen Ende des ersten<br />
Lebensjahres auf. In einer Studie von Phillips et al. (2002)<br />
sahen zwölf Monate alte Kinder, wie die Versuchsleiterin<br />
auf eines von zwei Stoffkätzchen schaute <strong>und</strong> mit fröhlicher<br />
St<strong>im</strong>me rief: „Oh, schaut nur, das Kätzchen!“ Dann senkte sich<br />
ein Wandschirm, <strong>und</strong> als er sich 2 s später wieder hob, hielt<br />
die Versuchsleiterin entweder das Kätzchen <strong>im</strong> Arm, auf das<br />
sich ihr Ausruf bezog, oder aber das andere Kätzchen. Kinder<br />
<strong>im</strong> Alter von zwölf Monaten schauten länger hin, wenn sie<br />
das andere Kätzchen <strong>im</strong> Arm hielt; sie vermuteten offenbar,<br />
dass die Versuchsleiterin dasjenige Kätzchen <strong>im</strong> Arm halten<br />
wollte, das sie so begeistert hatte, <strong>und</strong> waren überrascht, dass<br />
sie das andere Kätzchen <strong>im</strong> Arm hielt. Kinder von acht Monaten<br />
schauten gleich lange hin, egal welches Kätzchen die Versuchsleiterin<br />
hielt; gegen Ende des ersten Lebensjahres – so<br />
vermutete man daraufhin – entwickelt sich das Verständnis dafür,<br />
dass die Wünsche eines Menschen seine Handlungen leiten<br />
(Philips et al. 2002). Diese Schlussfolgerung steht <strong>im</strong> Einklang<br />
damit, dass Kinder <strong>im</strong> Alter von zehn Monaten Informationen<br />
über die früheren Wünsche eines Menschen nutzen können,<br />
um die späteren Wünsche desselben Menschen vorherzusagen,<br />
allerdings nur dann, wenn die Begleitumstände identisch sind<br />
(Sommerville <strong>und</strong> Crane 2009).<br />
Im Alter von zwei Jahren hat sich das Verständnis der Kinder<br />
fest verankert, dass Wünsche zu Handlungen führen. Zum<br />
Beispiel können zweijährige Kinder vorhersagen, dass die Personen<br />
in Geschichten in Übereinst<strong>im</strong>mung mit ihren eigenen<br />
Wünschen handeln werden, auch wenn sich diese Wünsche<br />
von denen der Kinder unterscheiden (Gopnik <strong>und</strong> Slaughter<br />
1991; Lillard <strong>und</strong> Flavell 1992). Wenn also das zweijährige<br />
Kind selbst lieber mit Autos als mit Puppen spielen würde, ihm<br />
aber erzählt wird, dass eine Figur in einer Geschichte lieber mit<br />
Puppen als mit Autos spielen würde, dann sagen sie voraus,<br />
dass sich die Person in der Geschichte für Puppen entscheiden<br />
wird, wenn sie wählen kann, ob sie mit Autos oder mit Puppen<br />
spielen will.<br />
Die meisten Zweijährigen verstehen zwar, dass Wünsche<br />
das Verhalten beeinflussen können; sie wissen aber wenig darüber,<br />
dass auch Überzeugungen einflussreich sind. Wenn man<br />
Zweijährigen also sagt, in einer Geschichte gebe es eine Person<br />
namens Sam, die glaubt, dass Bananen nur <strong>im</strong> Küchenschrank<br />
zu finden sind, während die Kinder selbst wissen, dass auch <strong>im</strong><br />
Kühlschrank Bananen liegen, dann sagen sie gleich oft beides<br />
vorher, dass Sam – seiner Annahme entsprechend – <strong>im</strong> Küchenschrank<br />
suchen wird, wie sie vorhersagen, dass er <strong>im</strong> Kühlschrank<br />
nachsehen wird (Wellman <strong>und</strong> Woolley 1990).<br />
Mit drei Jahren bringen Kinder ein gewisses Verständnis<br />
für den Zusammenhang von Überzeugungen <strong>und</strong> Handlungen<br />
auf. So beantworten sie zum Beispiel Fragen wie „Warum sucht<br />
Billy nach seinem H<strong>und</strong>?“ mit dem Verweis auf Überzeugungen<br />
beziehungsweise Wissensmodalitäten („Er glaubt, der H<strong>und</strong> sei<br />
ihm weggelaufen.“) wie auch mit Bezug zu Wünschen („Er will<br />
ihn bei sich haben.“) (Bartsch <strong>und</strong> Wellman 1995). Auch wissen<br />
Dreijährige einiges darüber, wie Überzeugungen entstehen. Sie<br />
wissen beispielsweise, dass das eigene Zusehen bei einem best<strong>im</strong>mten<br />
Ereignis eine Überzeugung von diesem Ereignis her-
Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />
247 7<br />
vorruft, die aber nicht zustande kommt, wenn man nur neben<br />
jemandem steht, der das Ereignis sieht (Pillow 1988).<br />
Gleichzeitig ist bei Dreijährigen das Verständnis des Zusammenhangs<br />
zwischen den Überzeugungen anderer Menschen <strong>und</strong><br />
deren Handlungen – einem zentralen Teil ihrer Theory of Mind,<br />
auf entscheidende Weise begrenzt. Diese Einschränkungen werden<br />
erkennbar, wenn man Kindern Aufgaben vom Typ falsche<br />
Überzeugungen vorgibt; in diesen Aufgaben hält ein anderer<br />
Mensch etwas für wahr, von dem das Kind weiß, dass es falsch<br />
ist. Die Frage ist, ob das Kind meint, dass der andere Mensch sich<br />
gemäß seiner falschen Überzeugung verhalten wird oder so, wie<br />
es der tatsächlichen Situation <strong>im</strong> Verständnis des <strong>Kindes</strong> entspricht.<br />
In Untersuchungen solcher Situationen zeigt sich, ob die<br />
Kinder verstehen, dass die Handlungen anderer Menschen von<br />
deren Verständnis best<strong>im</strong>mt sind <strong>und</strong> nicht von der objektiven<br />
Wahrheit oder dem Wissen des <strong>Kindes</strong>.<br />
Aufgabentyp „falsche Überzeugung“ – Aufgaben, mit denen getestet wird,<br />
ob ein Kind versteht, dass andere Menschen in Übereinst<strong>im</strong>mung mit ihren<br />
eigenen Überzeugungen handeln, auch wenn das Kind weiß, dass diese Annahmen<br />
falsch sind.<br />
Be<strong>im</strong> Aufgabentyp „falsche Überzeugungen“ zeigt man Vorschulkindern<br />
beispielsweise eine Schachtel mit Smarties, die auf<br />
dem Deckel der Schachtel auch abgebildet sind (. Abb. 7.2). Die<br />
Kinder sollen angeben, was sich in der Schachtel befindet. Logischerweise<br />
sagen sie „Smarties“. Danach öffnet der Versuchsleiter<br />
die Schachtel, <strong>und</strong> es kommen Bleistifte zum Vorschein. Die<br />
meisten Fünfjährigen müssen lachen <strong>und</strong> zeigen sich überrascht.<br />
Wenn man sie danach fragt, was ein anderes Kind sagen würde,<br />
wenn es die geschlossene Schachtel sieht <strong>und</strong> ihren Inhalt erraten<br />
soll, sagen sie, dass das Kind „Smarties“ sagen würde, so wie sie<br />
selbst zunächst gedacht hatten. Anders aber Dreijährige! Mehrheitlich<br />
behaupten sie, sie hätten <strong>im</strong>mer schon gewusst, was sich<br />
in der Schachtel befindet, <strong>und</strong> sie geben an, dass andere Kinder,<br />
denen man die Schachtel zeigt, ebenso glauben würden, dass die<br />
Schachtel Bleistifte enthält (Gopnik <strong>und</strong> Astington 1988). Die<br />
Antworten der Dreijährigen zeigen, dass es ihnen schwerfällt zu<br />
verstehen, dass andere Menschen entsprechend ihren eigenen<br />
Überzeugungen handeln, auch dann, wenn diese Überzeugungen<br />
falsch sind.<br />
Dieser Bef<strong>und</strong> erweist sich als überaus robust. Ein Überblick<br />
über 178 Studien zum kindlichen Verständnis von falschen<br />
Überzeugungen zeigte, dass ähnliche Ergebnisse auch bei anderen<br />
Formen dieser Aufgabe, bei anderen Fragen <strong>und</strong> in anderen<br />
Gesellschaften auftauchen (Wellman et al. 2001). In einer<br />
bemerkenswerten kulturvergleichenden Studie präsentierte man<br />
Vorschulkindern in Kanada, Indien, Peru, Thailand <strong>und</strong> Samoa<br />
Aufgaben mit falschen Überzeugungen (Callaghan et al. 2005).<br />
In allen fünf Gesellschaften verbesserte sich die Leistung vom<br />
dritten bis zum fünften Lebensjahr bedeutend: von 14 % korrekter<br />
Antworten bei Dreijährigen zu 85 % korrekter Antworten bei<br />
Fünfjährigen. Besonders verblüffend war die Übereinst<strong>im</strong>mung<br />
der Leistungen über die sehr verschiedenartigen Gesellschaften<br />
hinweg: In keinem der Länder beantworteten mehr als 25 % der<br />
Dreijährigen die Fragen korrekt, <strong>und</strong> in keinem gaben weniger<br />
als 72 % der Fünfjährigen korrekte Antworten.<br />
..<br />
Auch wenn sie ein sehr unterschiedliches Leben führen, reagieren afrikanische<br />
Pygmäenkinder <strong>und</strong> gleichaltrige Kinder in den Industrienationen<br />
Nordamerikas <strong>und</strong> Europas in gleicher Weise bei Aufgaben vom Typ „falsche<br />
Überzeugung“. (© Superstock)<br />
Dreijährige irren zwar in aller Regel bei Aufgaben mit falschen<br />
Überzeugungen; aber vielen Dreijährigen gelingt die richtige Lösung,<br />
wenn die Aufgabe so dargeboten wird, dass sie das Verständnis<br />
erleichtert. Erklärt eine Versuchsleiterin einem dreijährigen<br />
Kind zum Beispiel, dass sie beide sich zusammentun werden, um<br />
einem anderen Kind einen Streich zu spielen, indem sie Bleistifte in<br />
der Süßigkeitenschachtel verstecken, <strong>und</strong> fordert sie das Kind dazu<br />
auf, be<strong>im</strong> Füllen der Schachtel mit Bleistiften zu helfen, dann sagen<br />
die meisten Dreijährigen richtig vorher, dass das andere Kind angeben<br />
wird, die Schachtel enthalte Smarties (Sullivan <strong>und</strong> Winner<br />
1993). Vermutlich half es den dreijährigen Kindern, die Rolle des<br />
„Betrügers“ einzunehmen <strong>und</strong> die Stifte in der Süßigkeitenschachtel<br />
zu verstecken, um die Situation aus der Perspektive des anderen<br />
<strong>Kindes</strong> zu sehen. Dennoch ist es verblüffend, welche Schwierigkeiten<br />
drei Jahre alte Kinder mit normalen Aufgaben vom Typ „falsche<br />
Überzeugung“ haben. Bislang hat noch keine Versuchsanordnung<br />
Dreijährige befähigt, die Standardfragen zu falschen Überzeugungen<br />
öfter als zufällig richtig zu lösen (Harris 2006).
248<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
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23<br />
Exkurs 7.1: Individuelle Unterschiede: Kinder mit autistischen Störungen | |<br />
Mit fünf Jahren kommen die meisten Kinder<br />
mit Aufgaben zu falschen Überzeugungen<br />
leicht zurecht; aber für einige bleiben<br />
diese Aufgaben noch bis ins Teenageralter<br />
sehr schwierig, zum Beispiel für Kinder mit<br />
autistischen Störungen. Wie in ▶ Exkurs 3.1<br />
dargestellt, ist be<strong>im</strong> autistischen Störungsspektrum<br />
in den USA grob geschätzt eines von<br />
100 Kindern betroffen, meist Jungen (Centers<br />
for Disease Control and Prevention 2012); die<br />
autistischen Störungen führen zu Schwierigkeiten<br />
bei der sozialen Interaktion <strong>und</strong><br />
Kommunikation sowie bei weiteren geistigen<br />
<strong>und</strong> emotionalen Funktionen.<br />
Von einer ausgeprägten Form der autistischen<br />
Störung ist etwa in Kind von 100 in den USA<br />
betroffen. In Deutschland ging man zunächst<br />
von einer Autismushäufigkeit von vier bis fünf<br />
Fällen auf 10.000 Kinder oder Neugeborene<br />
aus. Inzwischen gibt es Experten, die von 15–<br />
40 Autisten auf 10.000 Kinder ausgehen. Autistische<br />
Kinder wiederholen oft ein best<strong>im</strong>mtes<br />
Verhalten, das sie für sich allein ausführen;<br />
zum Beispiel schaukeln sie fortgesetzt vor <strong>und</strong><br />
zurück oder hüpfen endlos <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer umher.<br />
Mit anderen Kindern <strong>und</strong> mit Erwachsenen<br />
interagieren sie kaum, entwickeln selten enge<br />
Beziehungen <strong>und</strong> neigen dazu, sich mehr für<br />
Gegenstände als für Menschen zu interessieren<br />
(Willis 2009). Diese <strong>und</strong> andere Verhaltensauffälligkeiten<br />
führten einige Forscher<br />
zu der Vermutung, dass der eingeschränkten<br />
Anteilnahme dieser Kinder an ihrer sozialen<br />
Umwelt ein Manko be<strong>im</strong> Verstehen anderer<br />
Menschen zugr<strong>und</strong>e liegen könnte.<br />
Neuere Forschungsergebnisse stützen diese<br />
Hypothese. Autistische Kinder haben Defizite,<br />
mit anderen Menschen geteilte Aufmerksamkeit<br />
aufzubauen; wenig spricht dafür, dass<br />
sie das tun (Klin et al. 2004). Im Vergleich zu<br />
normalen <strong>und</strong> geistig retardierten Kindern<br />
Die Theory of Mind eines <strong>Kindes</strong> entwickelt sich später noch<br />
weit länger als in dieser frühen Phase weiter, wobei zumindest einige<br />
Aspekte dieser Entwicklung von spezifischen Erfahrungen abhängen.<br />
So zeigten 14-jährige amerikanische Teenager, die in der<br />
Schule Erfahrungen be<strong>im</strong> Theaterspielen gesammelt hatten, am<br />
Ende eines einjährigen Kurses ein besseres Verständnis für die Gedanken<br />
anderer Menschen als zu Beginn des Kurses (Goldstein <strong>und</strong><br />
Winner 2011). Hingegen ließen sich bei Kindern, die Kurse in anderen<br />
Kunstfächern (Musik oder bildende Kunst) absolviert hatten,<br />
keine Gewinne be<strong>im</strong> Verständnis des Denkens anderer beobachten.<br />
Erklärungen für die Entwicklung einer Theory of Mind<br />
Ohne eine vernünftig durchdachte alltagspsychologische Theorie<br />
würden Menschenleben sicherlich sehr anders verlaufen. Allerdings<br />
sagen uns die Bef<strong>und</strong>e zur Verbesserung dieser Theorie<br />
bei Kindern zwischen dem dritten <strong>und</strong> dem fünften Lebensjahr<br />
noch nichts über die Ursachen dieser Verbesserung. Diese Frage<br />
hat eine heftige Kontroverse hervorgerufen, <strong>und</strong> zurzeit besteht<br />
große Uneinigkeit darüber, wie sie zu beantworten ist.<br />
zeigen autistische Kinder weniger Betroffenheit,<br />
wenn andere Menschen Schmerz erleiden<br />
(Sigman <strong>und</strong> Ruskin 1999) oder Lebensumstände<br />
erfahren, die den meisten Menschen<br />
Schmerz bereiten (Hobson et al. 2009). Zudem<br />
haben autistische Kinder tendenziell schlechtere<br />
Sprachfähigkeiten (Tager-Flusberg <strong>und</strong><br />
Joseph 2005), was zum einen ihre fehlende<br />
Aufmerksamkeit für andere Menschen widerspiegelt<br />
<strong>und</strong> zum anderen ihre Gelegenheiten<br />
einschränkt, durch Gespräche mehr über die<br />
Gedanken <strong>und</strong> Gefühle von Menschen zu erfahren.<br />
Entsprechend diesen Mustern werden<br />
autistische Kinder durch Fragen zu falschen<br />
Überzeugungen in bemerkenswertem Maße<br />
verwirrt (Baron-Cohen 1991). Beispielsweise<br />
findet nicht einmal die Hälfte der sechs- bis<br />
14-jährigen Autisten die richtige Lösung<br />
für solche Aufgaben, die normalerweise für<br />
Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige einfach zu lösen sind<br />
(Peterson et al. 2005). Autistische Kinder<br />
verstehen zwar, wie Wünsche das Verhalten<br />
beeinflussen, aber auf welche Art sich Überzeugungen<br />
auf das Verhalten auswirken, bleibt<br />
ihnen weitgehend unverständlich (Harris 2006;<br />
Tager-Flusberg 2007).<br />
Beeinträchtigungen be<strong>im</strong> Umsetzen alltagspsychologischer<br />
Theorien sind nicht die einzigen<br />
Schwierigkeiten, die autistische Kinder<br />
be<strong>im</strong> Verstehen anderer Menschen <strong>im</strong> Wege<br />
stehen. Auch Defizite be<strong>im</strong> Planen, bei der Anpassung<br />
an veränderte Situationen <strong>und</strong> be<strong>im</strong><br />
Regulieren des Arbeitsgedächtnisses tragen<br />
zu den kommunikativen Beeinträchtigungen<br />
bei (Ozonoff et al. 2004). Gleichwohl scheint<br />
die Beeinträchtigung der TOM-Mechanismen<br />
eine Quelle der Verständnisschwierigkeiten in<br />
Situationen zu sein, in denen die Überzeugungen<br />
anderer Menschen nicht der Wirklichkeit<br />
entsprechen (Baron-Cohen 1993; Tager-Flusberg<br />
2007).<br />
Glücklicherweise lassen sich viele Schwierigkeiten,<br />
die durch Autismus entstehen,<br />
abschwächen, wenn man die Kinder früh <strong>und</strong><br />
nachhaltig behandelt. Dawson et al. (2010)<br />
verglichen zwei randomisierte Gruppen<br />
von ein <strong>und</strong> zwei Jahre alten autistischen<br />
Kindern, die in einer Gruppe nach dem<br />
Early Start Denver Model (ESDM) gefördert<br />
wurden, während die Kontrollgruppe ein<br />
kommunales Förderprogramm durchlief. Die<br />
ESDM-Intervention bestand darin, dass die<br />
Kinder in etwa 15 h pro Woche mit speziell<br />
ausgebildeten Therapeuten alltägliche<br />
Aktivitäten wie essen <strong>und</strong> spielen einübten<br />
<strong>und</strong> mithilfe von Methoden der operanten<br />
Konditionierung an erwünschte Verhaltensweisen<br />
herangeführt wurden. Dabei handelte<br />
es sich um ein Training von Verhalten, die die<br />
Eltern als wünschenswert best<strong>im</strong>mt hatten.<br />
Die Eltern wurden ebenfalls darin geschult,<br />
den Therapieansatz zu nutzen, <strong>und</strong> dazu<br />
ermutigt, ihn bei gemeinsamen Unternehmungen<br />
mit dem Kind – etwa be<strong>im</strong> Spielen<br />
oder Baden – anzuwenden. Die Wirkungen<br />
der ESDM-Intervention wurden mit denen der<br />
kommunalen Förderung verglichen, die unter<br />
anderem mit diagnostischen Tests, Informationsmaterial<br />
<strong>und</strong> Hilfsmaterialien arbeitete<br />
<strong>und</strong> den Eltern Vorträge zu verschiedenen<br />
Therapieformen anbot.<br />
Nach zwei Jahren erreichten die Kinder, die<br />
die ESDM-Intervention durchlaufen hatten,<br />
signifikant größere Leistungsverbesserungen<br />
<strong>im</strong> Intelligenztest, in ihrer Sprache <strong>und</strong> den<br />
Fähigkeiten <strong>im</strong> Alltagsleben als die Kinder<br />
der Kontrollgruppe nach dem kommunalen<br />
Förderprogramm. Diese <strong>und</strong> andere Studien<br />
(z. B. Voss et al. 2012) zeigen, dass ein frühes<br />
intensives Förderprogramm bei autistischen<br />
Kindern enorm helfen kann.<br />
Forscher, die eine nativistische Position vertreten, nehmen<br />
an, dass es ein eigenes Modul – ein Theory-of-Mind-Modul<br />
(TOMM) gibt, d. h. einen hypothetischen Gehirnmechanismus,<br />
der speziell zum Verstehen anderer Menschen best<strong>im</strong>mt ist<br />
(Baron-Cohen 1995; Leslie 2000). Anhänger dieser Position behaupten,<br />
dass dieses Modul bei normalen Kindern, die in einer<br />
typischen Umwelt aufwachsen, <strong>im</strong> Verlauf der ersten fünf Lebensjahre<br />
reift <strong>und</strong> ein zunehmend differenziertes Verstehen der<br />
inneren Funktionen anderer Menschen mit sich bringt. Diese<br />
Forscher berufen sich auf Belege aus Untersuchungen des Gehirns<br />
mit bildgebenden Verfahren, die zeigen, dass best<strong>im</strong>mte<br />
Gehirnregionen be<strong>im</strong> Repräsentieren von Überzeugungen über<br />
unterschiedliche Aufgaben hinweg durchgängig aktiv sind <strong>und</strong><br />
dass dies andere Gehirnregionen sind als diejenigen, die an anderen<br />
komplexen kognitiven Prozessen wie dem Grammatikverständnis<br />
beteiligt sind (Saxe <strong>und</strong> Powell 2006).<br />
Theory-of-Mind-Modul (TOMM) – Ein hypothetischer Gehirnmechanismus,<br />
der das Verstehen anderer Menschen ermöglichen soll.
Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />
249 7<br />
Weitere Belege, die man oft heranzieht, um den Gedanken eines<br />
TOM-Moduls zu stützen, stammen von autistischen Kindern.<br />
Wie ▶ Exkurs 7.1 darlegt, tun sich diese Kinder mit Aufgaben<br />
zu falschen Überzeugungen besonders schwer, eine Schwierigkeit,<br />
die eng mit einer großen Bandbreite von Begrenztheiten<br />
ihrer sozialen Interaktionen verb<strong>und</strong>en ist. Ein Gr<strong>und</strong> für diese<br />
Schwierigkeiten be<strong>im</strong> Verstehen der sozialen Umwelt scheint in<br />
der atypischen Größe best<strong>im</strong>mter Gehirnbereiche zu liegen, die<br />
für das Verstehen anderer Menschen entscheidend sind (Amaral<br />
et al. 2008) – ein Bef<strong>und</strong>, der zur Annahme eines TOM-Moduls<br />
passen würde.<br />
..<br />
Das Kind auf dem Schoß seiner Mutter zeigt Desinteresse an ihrer Zuneigung.<br />
Ein solches Desinteresse an anderen Menschen kommt bei autistischen<br />
Kindern häufig vor <strong>und</strong> scheint mit ihren sehr schlechten Leistungen bei<br />
Aufgaben zusammenzuhängen, bei denen man das Innenleben anderer<br />
Menschen verstehen muss. (© Jan Sonnenmayr/Aurora)<br />
Eine andere Erklärung als die Nativisten schlagen die Vertreter<br />
eines empiristischen Standpunktes für die Entwicklung der Theory<br />
of Mind vor. Diese Theoretiker gehen davon aus, dass alltagspsychologisches<br />
Verständnis aus den Interaktionen mit anderen<br />
Menschen erwächst (Jenkins <strong>und</strong> Astington 1996; Ruffman et al.<br />
2002). Sie berufen sich auf Bef<strong>und</strong>e, nach denen Vorschulkinder<br />
mit Geschwistern bei Aufgaben über falsche Überzeugungen<br />
besser abschneiden als Kinder ohne Geschwister. Dieser Bef<strong>und</strong><br />
scheint besonders ausgeprägt zu sein, wenn die Geschwister älter<br />
oder vom anderen Geschlecht sind, vermutlich weil der Umgang<br />
mit Menschen, deren Interessen, Wünsche <strong>und</strong> Motive sich von<br />
den eigenen unterscheiden, das Verständnis der Kinder für die<br />
mentalen Vorgänge in anderen Menschen erweitert (Jenkins <strong>und</strong><br />
Astington 1996; Miller 2012). So gesehen trägt die Tendenz autistischer<br />
Kinder, nicht mit anderen Menschen zu interagieren,<br />
wesentlich zu ihrer Schwierigkeit be<strong>im</strong> Verstehen anderer Menschen<br />
bei.<br />
Eine dritte Gruppe von Forschern, die den empiristischen<br />
Standpunkt einnehmen, hebt die Entwicklung der allgemeinen<br />
Informationsverarbeitungsfähigkeiten als entscheidend für das<br />
Verstehen der mentalen Vorgänge bei anderen Menschen hervor.<br />
Sie berufen sich auf Hinweise darauf, dass das Verständnis<br />
von Aufgaben über falsche Überzeugungen wesentlich mit den<br />
Fähigkeiten zusammenhängt, komplizierte wahrheitswidrige<br />
Behauptungen logisch zu durchdenken (German <strong>und</strong> Nichols<br />
2003), <strong>und</strong> die eigenen relativ automatischen Verhaltensreaktionen<br />
zu unterdrücken (Carlson et al. 2004; Frye et al. 1996).<br />
Die Fähigkeit, sachlich falsche Behauptungen logisch zu durchdenken,<br />
ist deswegen wichtig, weil Aufgaben vom Typ „falsche<br />
Überzeugungen“ voraussetzen, dass die Kinder vorhersagen, was<br />
eine andere Person aufgr<strong>und</strong> ihrer falschen Überzeugung tun<br />
würde. Die Fähigkeit zur Unterdrückung weitgehend automatischer<br />
Reaktionen ist deswegen wichtig, weil Kinder bei Aufgaben<br />
vom Typ „falsche Überzeugungen“ auch die Annahme aufgeben<br />
müssen, dass die andere Person entsprechend der wahren Sachlage<br />
handeln würde. Vertreter dieser Richtung argumentieren,<br />
dass normalen Kindern unter vier Jahren <strong>und</strong> autistischen Kindern<br />
die nötigen Informationsverarbeitungsfähigkeiten fehlen,<br />
um die mentalen Vorgänge in anderen Menschen zu verstehen,<br />
wohingegen viele normale ältere Kinder diese Verarbeitungsprozesse<br />
bewältigen.<br />
Alle drei Erklärungsansätze scheinen ihre Vorzüge zu haben.<br />
Die Reifung von Gehirnregionen, die für das Verstehen anderer<br />
Menschen besonders wichtig sind, die wachsende Erfahrung mit<br />
anderen Menschen, eine erhöhte Informationsverarbeitungskapazität<br />
– all dies trägt zur Entwicklung des psychologischen Verstehens<br />
<strong>im</strong> Verlauf der Vorschuljahre bei. Zusammengenommen<br />
ermöglichen sie fast allen Kindern, mit ungefähr fünf Jahren zu<br />
einer zwar noch anfängerhaften, aber nützlichen Theory of Mind<br />
zu gelangen.<br />
Die Entwicklung des Spieles<br />
Als Spiel werden Tätigkeiten bezeichnet, denen man um ihrer<br />
selbst willen nachgeht, ohne andere Motivation als das Vergnügen<br />
an der Betätigung als solcher. Die frühesten spielerischen Aktivitäten,<br />
beispielsweise den Löffel auf die Tischplatte schlagen,<br />
werden für gewöhnlich allein durchgeführt. In den folgenden<br />
Jahren trägt das zunehmende Verstehen anderer Menschen jedoch<br />
dazu bei, dass das Spiel sowohl sozialer als auch komplexer<br />
wird.<br />
Ein früher Meilenstein in der Spielentwicklung ist das Alsob-Spiel,<br />
das mit etwa 18 Monaten auftritt <strong>und</strong> sich dadurch<br />
auszeichnet, dass Aktivitäten nur dem Anschein nach ausgeführt<br />
werden. Dabei schaffen die Kinder symbolische Beziehungen. Sie<br />
handeln so, als ob sie sich in einer anderen als der tatsächlichen<br />
Situation befänden. Häufig benutzen sie Gegenstände so, als wären<br />
sie etwas anderes <strong>und</strong> lassen bei dieser Objektsubstitution<br />
viele der Merkmale des Gegenstands außer Acht. Ein typisches<br />
Beispiel für eine solche Objektsubstitution wäre, wenn ein Kind<br />
einen Holzstab wie eine Trinkflasche verwenden <strong>und</strong> so tun<br />
würde, als ob es daraus trinke, oder wenn es einen Seifenbehälter<br />
aus Kunststoff wie ein Boot <strong>im</strong> Badewasser schw<strong>im</strong>men lässt.<br />
Als-ob-Spiel – Spiel, bei dem Kinder neue symbolische Beziehungen erfinden<br />
<strong>und</strong> handeln, als ob sie sich in einer anderen als der tatsächlichen Situation<br />
befänden.<br />
Objektsubstitution – Eine Form des Als-ob, bei der ein Objekt dem Anschein<br />
nach als etwas anderes verwendet wird, als es tatsächlich ist. So kann auf einem<br />
Besen als Repräsentanten eines Pferdes geritten werden.<br />
Etwa ein Jahr später fangen Kleinkinder damit an, sich an sozialen<br />
Rollenspielen zu beteiligen, bei denen sie mit anderen<br />
Kindern oder mit Erwachsenen kleine soziale Situationen nach-
250<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
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spielen, wie „Mutter tröstet ihr Baby“ oder „Doktor hilft krankem<br />
Kind“ (O’Reilly <strong>und</strong> Bornstein 1993). Soziale Rollenspiele sind<br />
komplexer <strong>und</strong> sozialer als die Objektsubstitution <strong>im</strong> einfachen<br />
Als-ob-Spiel. Man denke etwa an die Rituale bei einer „Einladung<br />
zum Tee“, bei der das Kind <strong>und</strong> ein Elternteil einander aus<br />
<strong>im</strong>aginären Teekannen „Tee einschenken“, geziert daran „nippen“,<br />
<strong>im</strong>aginäre Küchlein „verzehren“ <strong>und</strong> sich darüber unterhalten,<br />
wie lecker alles doch schmeckt.<br />
Soziale Rollenspiele – Das Nachspielen sozialer Alltagserfahrungen in Spielszenen,<br />
bei denen Kinder mit anderen Kindern oder mit Erwachsenen verschiedene<br />
soziale Rollen darstellen, zum Beispiel „Mutter tröstet Baby“.<br />
..<br />
Rollenspiele, bei denen Kinder auf der Gr<strong>und</strong>lage ihrer eigenen Erfahrungen<br />
kleine Situationen nachspielen, spiegeln das kindliche Verstehen der<br />
jeweiligen Situation wider <strong>und</strong> helfen den Kindern auch dabei, ihr Verstehen<br />
zu erweitern. (© Lisa Eastman/fotolia)<br />
Die sozialen Rollenspiele kleiner Kinder sind normalerweise<br />
anspruchsvoller, wenn sie mit einem Elternteil oder einem älteren<br />
Geschwister spielen, die die Spielabfolge stützen können,<br />
als wenn sie mit einem Gleichaltrigen spielen (Bornstein 2006;<br />
Lillard 2007). Derartige soziale Stützung be<strong>im</strong> Spiel verschafft<br />
Kindern Gelegenheiten zum Lernen, insbesondere zum Verbessern<br />
ihrer Fähigkeiten <strong>im</strong> Geschichtenerzählen (Nicolopoulou<br />
2007). Betrachten wir den Kommentar einer Mutter, während<br />
ihr zweijähriges Kind mit zwei Action-Figuren spielt:<br />
» Sieh nur, der Bösewicht jagt den Spiderman. O nein, jetzt<br />
stößt er ihn zu Boden. Der Spiderman ruft: „Hilfe, der Schurke<br />
greift mich an!“ Schau, der Spiderman läuft davon (Kavanaugh<br />
<strong>und</strong> Engel 1998, S. 88).<br />
Solche expliziten Erläuterungen der Erwachsenen zu <strong>im</strong>pliziten<br />
Geschichten <strong>im</strong> Spiel vermitteln den Kindern ein nützliches<br />
Modell für Als-ob-Spiele, die sie später allein oder mit anderen<br />
Kindern spielen.<br />
In der Gr<strong>und</strong>schulzeit werden die Spiele noch komplexer <strong>und</strong><br />
sozialer. Sie schließen zunehmend Sport- oder Brettspiele ein, bei<br />
denen es vorgegebene Regeln gibt, die für alle Mitspieler gelten.<br />
Die kognitiven <strong>und</strong> emotionalen Anforderungen, die diese Spiele<br />
stellen, zeigen sich daran, dass es zwischen kleinen Gr<strong>und</strong>schulkindern<br />
bei aufflammenden Streitigkeiten meist darum geht, wer sich<br />
an die Regeln hält <strong>und</strong> fair spielt <strong>und</strong> wer nicht (Rubin et al. 1983).<br />
Das Als-ob-Spiel wird zwar oft als ein Verhalten betrachtet,<br />
das auf die frühe Kindheit beschränkt ist, tatsächlich hält es aber<br />
weit darüber hinaus an. Bei einer Befragung von College-Studenten<br />
gab die Mehrzahl von ihnen an, noch <strong>im</strong> Alter von zehn oder<br />
elf Jahren mindestens einmal pro Woche ein Als-ob-Spiel gespielt<br />
zu haben, <strong>und</strong> die meisten gaben an, das <strong>im</strong> Alter von zwölf oder<br />
13 Jahren mindestens einmal <strong>im</strong> Monat getan zu haben (Smith<br />
<strong>und</strong> Lillard 2011). Bei Jungen <strong>und</strong> Einzelkindern wurden tendenziell<br />
Als-ob-Spiele in höherem Alter berichtet als bei Mädchen<br />
<strong>und</strong> Kindern mit einem oder mehreren Geschwistern.<br />
Außer dem Spaß, den die Als-ob-Spiele den Kindern bereiten,<br />
können sie zur Erweiterung des sozialen Wissens beitragen.<br />
Kinder, die sich häufiger mit Als-ob-Spielen beschäftigen, zeigen<br />
tendenziell ein größeres Verständnis für das Denken (Lillard<br />
2007) <strong>und</strong> Fühlen anderer Menschen (Youngblade <strong>und</strong> Dunn<br />
1995). Auch der Typ der Als-ob-Spiele, die Kinder spannend<br />
finden, spielt eine Rolle: Soziale Als-ob-Spiele hängen enger mit<br />
dem Verstehen der Denkweisen anderer Menschen zusammen<br />
als nichtsoziale Als-ob-Spiele (Harris 2000). Kindergartenkinder<br />
lernen auch vom Zusehen be<strong>im</strong> Als-ob-Spielen anderer Kinder<br />
(Sutherland <strong>und</strong> Friedman 2012). Aus diesen Bef<strong>und</strong>en haben einige<br />
Spezialisten auf diesem Gebiet (z. B. Hirsh-Pasek et al. 2009;<br />
Tomlinson 2009) den Schluss gezogen, dass ein hohes Maß an<br />
Als-ob-Spielen in kausalem Zusammenhang mit einem hohen<br />
Maß an sozialem Verständnis stünde. Allerdings zeigte eine umfassende<br />
neue Sichtung der Untersuchungen zum Als-ob-Spiel,<br />
dass es nur sehr eingeschränkte Hinweise auf solch einen Kausalzusammenhang<br />
gibt (Lillard et al. 2013). Es scheint vielmehr<br />
so zu sein, dass häufiges Als-ob-Spiel <strong>und</strong> hohes soziales Verständnis<br />
gleichermaßen durch Eltern bewirkt werden, die beides<br />
fördern. Einige Kinder mit hohem sozialen Verständnis spielen<br />
einfach gern <strong>und</strong> oft Als-ob-Spiele. Es lässt sich noch nicht beurteilen,<br />
ob Als-ob-Spiele die kausale Ursache des sozialen Verständnisses<br />
sind, aber es steht außer Zweifel, dass diese Spiele<br />
unbedenklich sind <strong>und</strong> von vielen Kinder als Bereicherung erlebt<br />
werden.<br />
Das Wissen über lebende Dinge<br />
Kinder finden lebende Dinge faszinierend, vor allem Tiere. Ein<br />
Zeichen ihrer Faszination ist die Häufigkeit, mit der sie sich auf<br />
Lebewesen beziehen, wenn sie anfangen zu sprechen. In einer<br />
Untersuchung der ersten 50 Wörter, die Kinder verwenden, waren<br />
– außer „Mama“, „Papa“ oder „dada“ – die Wörter für Katze<br />
<strong>und</strong> H<strong>und</strong> (einschließlich ihrer Verniedlichungsvarianten) die<br />
meist genannten (Nelson 1973). Auch Wörter für Ente, Pferd,<br />
Bär, Vogel <strong>und</strong> Kuh fanden sich unter den häufigsten früh verwendeten<br />
Ausdrücken. Im Alter von vier oder fünf Jahren mündet<br />
die Faszination für Lebewesen in ein überraschendes Ausmaß<br />
an Wissen über sie, einschließlich des Wissens über nicht beobachtbare<br />
biologische Vorgänge wie Vererbung, Krankheit <strong>und</strong><br />
Genesung (Gelman 2003).<br />
Neben diesen vergleichsweise fortgeschrittenen Wissensbeständen<br />
existieren jedoch eine Vielzahl unreifer Überzeugungen
Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />
251 7<br />
Exkurs 7.2: Individuelle Unterschiede: Fiktive Begleiter | |<br />
Viele Kinder haben einen <strong>im</strong>aginären Gefährten,<br />
den sie anscheinend als ein reales Wesen<br />
betrachten. Marjorie Taylor (1999) fand, dass<br />
63 % der Kinder, die sie mit drei oder vier<br />
Jahren <strong>und</strong> dann noch einmal mit sieben oder<br />
acht Jahren interviewte, in einem oder in beiden<br />
Altersabschnitten angaben, einen fiktiven<br />
Begleiter zu haben. In einer weiteren Untersuchung<br />
fanden Taylor et al. (2004), dass annähernd<br />
genauso viele Sechs- <strong>und</strong> Siebenjährige<br />
von einem <strong>im</strong>aginären Gefährten berichteten<br />
wie Drei- <strong>und</strong> Vierjährige: 31 % der größeren<br />
<strong>und</strong> 28 % der kleineren Kinder. Manche Eltern<br />
sorgen sich um die geistige Ges<strong>und</strong>heit ihrer<br />
Kinder, wenn sie diese über ihre unsichtbaren<br />
Fre<strong>und</strong>e sprechen hören; aber wie diese Statistiken<br />
zeigen, ist es völlig normal, wenn sich<br />
Kinder solche Begleiter erfinden.<br />
Die meisten dieser fiktiven Spielgefährten waren<br />
normale Jungen <strong>und</strong> Mädchen, die zufällig<br />
unsichtbar waren, aber einige waren schillerndere<br />
Figuren. Da gab es Derek, einen 91-jährigen<br />
Mann, der angeblich nur einen guten halben<br />
Meter groß war, aber Bären besiegen konnte;<br />
„das Mädchen“, eine Vierjährige, die <strong>im</strong>mer Pink<br />
trug <strong>und</strong> „eine bildhübsche Person“ war; Joshua,<br />
ein Opossum, das in San Francisco lebte; <strong>und</strong><br />
Nobby, einen 160 Jahre alten Geschäftsmann.<br />
Andere fiktive Begleiter waren best<strong>im</strong>mten<br />
Menschen nachempf<strong>und</strong>en, beispielsweise<br />
MacKenzie, ein fiktiver Spielgenosse, der einem<br />
Cousin gleichen Namens glich, den das Kind<br />
tatsächlich hatte, oder die „falsche Rachel“, die<br />
der richtigen Fre<strong>und</strong>in Rachel ähnlich war.<br />
Wie an wirklichen Fre<strong>und</strong>en haben Kinder an<br />
ihren fiktiven Begleitern einiges auszusetzen.<br />
In einer Untersuchung an 36 Vorschulkindern<br />
mit <strong>im</strong>aginären Gefährten hatte nur eines der<br />
Kinder keine Klagen; die übrigen 35 Kinder<br />
beschwerten sich, dass ihr fiktiver Begleiter<br />
mit ihnen stritt, sich weigerte, mit ihnen zu<br />
teilen, sie versetzte, wenn sie ihn eingeladen<br />
hatten, <strong>und</strong> nicht rechtzeitig wieder ging,<br />
wenn er nicht länger willkommen war (Taylor<br />
<strong>und</strong> Mannering 2007). Hinsichtlich ihres Eigenlebens,<br />
das fiktive Begleiter unabhängig von<br />
ihrem Schöpfer haben, ähneln sie den Charakteren,<br />
die Schriftsteller erfinden. Oft berichten<br />
Autoren davon, dass ihre Figuren zuweilen aus<br />
eigenem Willen zu handeln scheinen <strong>und</strong> dass<br />
sie auch mit ihrem Erfinder streiten <strong>und</strong> ihn<br />
kritisieren (Taylor <strong>und</strong> Mannering 2007).<br />
Im Gegensatz zu der allgemeinen Vermutung<br />
fand Taylor (1999), dass sich Kinder, die fiktive<br />
Spielgefährten erfinden, nicht von ihren Altersgenossen<br />
ohne fiktiven Begleiter unterscheiden,<br />
was allgemeine Eigenschaften wie Persönlichkeit,<br />
Intelligenz <strong>und</strong> Kreativität betrifft. Jedoch<br />
konnte sie wie auch andere Forscher ein paar<br />
relativ spezifische Unterschiede feststellen.<br />
Kinder, die fiktive Spielgefährten erfinden, sind<br />
mit größerer Wahrscheinlichkeit (1) Erstgeborene<br />
oder Einzelkinder, (2) schauen relativ wenig<br />
fern, (3) sind verbal geschickt <strong>und</strong> (4) besitzen<br />
eine fortgeschritten entwickelte Theory of Mind<br />
(Carlson et al. 2003; Taylor <strong>und</strong> Carlson 1997; Taylor<br />
et al. 2004). Diese Zusammenhänge ergeben<br />
Sinn: Keine Geschwister zu haben, kann manche<br />
Erstgeborene <strong>und</strong> Einzelkinder dazu anregen,<br />
sich Fre<strong>und</strong>e zu erfinden, die ihnen Gesellschaft<br />
leisten; wenig Fernsehen schafft Freizeit für fantasievolles<br />
Spiel; <strong>und</strong> verbales Geschick <strong>und</strong> eine<br />
entwickelte Theorie zum psychologischen Funktionieren<br />
anderer Menschen könnte Kinder in<br />
die Lage versetzen, sich besonders interessante<br />
Begleiter vorzustellen, mit denen sie besonders<br />
interessante Abenteuer erleben.<br />
Gesellschaft, Unterhaltung <strong>und</strong> Vergnügen an<br />
der Fantasie sind nicht die einzigen Gründe,<br />
warum Kinder fiktive Begleiter erfinden. Mit<br />
ihrer Hilfe kann man Schuld von sich abweisen<br />
(„Ich war es nicht; Blebbi Ussi hat es getan“),<br />
Wut abreagieren („Ich hasse dich, Blebbi Ussi“)<br />
<strong>und</strong> Informationen vermitteln, die man ungern<br />
direkt geben möchte („Blebbi Ussi hat Angst,<br />
ins Töpfchen zu fallen“). Taylor (1999, S. 63)<br />
sagt es so: „Fiktive Begleiter mögen dich, wenn<br />
du dich von anderen zurückgewiesen fühlst,<br />
sie hören dir zu, wenn du mit jemandem sprechen<br />
willst, <strong>und</strong> sie sagen das, was du ihnen<br />
sagst, best<strong>im</strong>mt nicht weiter.“ So ist es kein<br />
W<strong>und</strong>er, dass so viele Kinder einen erfinden.<br />
..<br />
Seinem Kind dabei zuzusehen, wie es jemanden versorgt, der gar nicht da ist, löst bei manchen Eltern<br />
Besorgnis aus, aber die Erfindung fiktiver Fre<strong>und</strong>e ist völlig normal, <strong>und</strong> die meisten Kinder freuen sich<br />
irgendwann in ihrer frühen Kindheit an der Gesellschaft erf<strong>und</strong>ener Begleiter. (Foto: Bernadette Berg)<br />
<strong>und</strong> Denkweisen. So scheitern sie oft an der Unterscheidung zwischen<br />
Gegenständen, die wie Stühle oder Autos von Menschen zu<br />
einem best<strong>im</strong>mten Zweck hergestellt werden, <strong>und</strong> Lebewesen wie<br />
Affen, die nicht mit einer best<strong>im</strong>mten Zwecksetzung von Menschen<br />
geschaffen wurden. Als beispielsweise Kelemen <strong>und</strong> DiYanni<br />
(2005) sechs- bis zehnjährige Kinder fragten, warum der erste Affe<br />
entstand, brachten sie oft Antworten vor wie „Der Zoodirektor<br />
wollte welche haben“ oder „Damit da einer auf die Bäume klettert“.<br />
Kleine Kinder irren sich auch oft be<strong>im</strong> Best<strong>im</strong>men, welche<br />
Dinge lebendig sind <strong>und</strong> welche nicht. Die meisten Fünfjährigen<br />
sagen beispielsweise, dass Pflanzen nicht lebendig sind, <strong>und</strong> einige<br />
von ihnen sagen, der Mond <strong>und</strong> die Berge seien lebendig (Hatano<br />
et al. 1993; Inagaki <strong>und</strong> Hatano 2002). Irrtümer wie diese ließen<br />
manche Forscher schließen, dass Kinder nur ein oberflächliches<br />
<strong>und</strong> bruchstückhaftes Verständnis von Lebewesen haben, bevor sie<br />
sieben bis zehn Jahre alt sind (Carey 1999; Slaughter et al. 1999).<br />
Andere sehen das anders <strong>und</strong> nehmen an, dass Kinder mit fünf<br />
Jahren die wesentlichen Eigenschaften von Lebewesen <strong>und</strong> das,<br />
was sie von unbelebten Objekten unterscheidet, durchaus verstehen,<br />
wenngleich sie bei einigen Punkten noch etwas durcheinanderkommen<br />
(Gelman 2003). Eine dritte Ansicht besteht darin,<br />
dass kleine Kinder sowohl über reife als auch über unreife Theorien<br />
von lebenden <strong>und</strong> unbelebten Dingen verfügen (Inagaki <strong>und</strong><br />
Hatano 2008). Mit dieser Kontroverse <strong>im</strong> Hinterkopf wenden wir<br />
uns nun der Frage zu, was kleine Kinder über lebende Dinge wissen<br />
<strong>und</strong> was nicht <strong>und</strong> wie sie zu diesem Wissen kommen.
252<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
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Die Unterscheidung lebender <strong>und</strong><br />
unbelebter Dinge<br />
Wie bereits erwähnt, interessieren sich Kinder schon <strong>im</strong> ersten<br />
Lebensjahr für Menschen <strong>und</strong> unterscheiden sie von unbelebten<br />
Dingen (. Abb. 7.3). Auch Tiere ziehen das Interesse von Kindern<br />
auf sich, wobei diese sich gegenüber Tieren anders verhalten<br />
als gegenüber Menschen. Kinder mit neun Monaten beachten<br />
beispielsweise Kaninchen stärker als unbelebte Objekte, aber sie<br />
lächeln Kaninchen nicht so häufig an wie Menschen (Poulin-<br />
Dubois 1999; Ricard <strong>und</strong> Allard 1993).<br />
Diese Verhaltensreaktionen deuten darauf hin, dass Säuglinge<br />
<strong>im</strong> ersten Lebensjahr zwischen Menschen <strong>und</strong> Tieren <strong>und</strong> diese<br />
beiden Gruppen lebender Organs<strong>im</strong>en von unbelebten Objekten<br />
unterscheiden. Die Reaktionen zeigen jedoch nicht, wann die<br />
Kinder eine allgemeine Klasse „Lebewesen“ aufbauen, die sowohl<br />
Pflanzen als auch Tiere umfasst, oder ab wann sie Menschen als<br />
eine besondere Art von Tieren begreifen. Es ist schwer, das Wissen<br />
der Kinder zu diesen <strong>und</strong> vielen anderen Merkmalen lebender<br />
oder unbelebter Objekte einzuschätzen, bevor die Kinder drei<br />
oder vier Jahre alt sind <strong>und</strong> ihre Sprachentwicklung so weit fortgeschritten<br />
ist, dass sie entsprechende Fragen über diese Kategorien<br />
verstehen <strong>und</strong> beantworten können. In diesem Alter wissen<br />
sie definitiv einiges über die Ähnlichkeiten zwischen Lebewesen<br />
<strong>und</strong> über ihre Unterschiede gegenüber unbelebten Objekten.<br />
Diese Kenntnisse umfassen nicht nur wahrnehmbare Eigenschaften<br />
wie das Vorhandensein von Beinen, die Fortbewegung oder<br />
die Produktion einschlägiger Geräusche; sie erstrecken sich auch<br />
auf biologische Prozesse wie Verdauung <strong>und</strong> Vererbung (Gelman<br />
2003). Jedoch bestreiten viele Kinder zumindest bis ins Alter von<br />
fünf Jahren, dass Menschen zu den Tieren zählen (Carey 1985).<br />
Auch die Beantwortung der Frage, wie man sich den Lebensstatus<br />
von Pflanzen vorstellen soll, ist für kleine Kinder eine Herausforderung.<br />
Einerseits wissen die meisten Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter,<br />
dass Pflanzen – so wie Tiere, aber anders als unbelebte Dinge<br />
– wachsen (Hickling <strong>und</strong> Gelman 1995; Inagaki <strong>und</strong> Hatano 1996),<br />
sich selbst heilen (Backscheider et al. 1993) <strong>und</strong> sterben (Springer<br />
et al. 1996). Andererseits glauben die meisten Kinder in diesem<br />
Alter, dass Pflanzen nicht lebendig sind; erst mit sieben bis neun<br />
Jahren beurteilt die deutliche Mehrheit der Kinder Pflanzen als<br />
..<br />
Abb. 7.3 Die Unterscheidung<br />
zwischen Menschen <strong>und</strong> unbelebten<br />
Dingen. Diese Fotos zeigen eine<br />
Aufgabe, die Poulin-Dubois (1999)<br />
einsetzte, um die Reaktionen von<br />
Kleinkindern zu untersuchen, wenn<br />
sie Menschen <strong>und</strong> unbelebte Objekte<br />
(in diesem Fall einen Roboter) bei<br />
denselben Handlungen beobachten.<br />
Sowohl mit neun als auch mit zwölf<br />
Monaten zeigen sie sich überrascht,<br />
wenn sie sehen, wie sich unbelebte<br />
Objekte von selbst bewegen, was darauf<br />
schließen lässt, dass sie verstehen,<br />
dass Eigenbewegung eine exklusive<br />
Eigenschaft von Menschen <strong>und</strong> Tieren<br />
darstellt. (© Diane Poulin-Dubois;<br />
mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
lebende Wesen (Hatano et al. 1993). Ein Teil der Ursache, warum<br />
sich diese Erkenntnis über Pflanzen erst so spät entwickelt, besteht<br />
darin, dass Kinder das Lebendigsein mit der Fähigkeit gleichsetzen,<br />
sich in Anpassung an die Umwelt so bewegen zu können, dass<br />
es das Überleben fördert <strong>und</strong> dass die adaptiven Bewegungen von<br />
Pflanzen (z. B. das Sich-dem-Sonnenlicht-Zuwenden) schwer zu<br />
beobachten sind, weil sie zu langsam vor sich gehen (Opfer <strong>und</strong><br />
Gelman 2001). Wenn man – dieser Interpretation folgend – fünfjährigen<br />
Kindern erklärt, dass sich Pflanzen zum Sonnenlicht <strong>und</strong><br />
ihre Wurzeln zum Wasser hinbewegen, damit sie leben können,<br />
gelangen auch sie zu dem Schluss, dass Pflanzen ebenso wie Tiere<br />
lebende Wesen sind (Opfer <strong>und</strong> <strong>Siegler</strong> 2004).<br />
Allgemeiner gesprochen, beeinflussen Kultur <strong>und</strong> unmittelbare<br />
Erfahrung das Alter, in dem Kinder verstehen, dass Pflanzen<br />
tatsächlich lebendig sind. Kinder beispielsweise, die in ländlichen<br />
Gebieten aufwachsen, begreifen früher als Kinder, die in Städten<br />
aufwachsen, dass Pflanzen Lebewesen sind (Coley 2000; Ross<br />
et al. 2003).<br />
..<br />
Kinder interessieren sich für lebende Dinge, für Pflanzen wie für Tiere –<br />
besonders, wenn die Pflanzen auch noch gut schmecken. (© Suwanna <strong>und</strong><br />
David <strong>Siegler</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)
Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />
253 7<br />
Das Verstehen biologischer Prozesse<br />
Vorschulkinder verstehen, dass sich biologische Eigenschaften wie<br />
Wachstum, Verdauung <strong>und</strong> Genesung von psychischen <strong>und</strong> physikalischen<br />
Prozessen unterscheiden (Wellman <strong>und</strong> Gelman 1998).<br />
Während Drei- <strong>und</strong> Vierjährige also erkennen, dass psychische<br />
Prozesse wie beispielsweise Wünsche das Handeln von Menschen<br />
beeinflussen, erkennen sie auch, dass es rein biologische Prozesse<br />
gibt, die unabhängig von den eigenen Wünschen ablaufen. Diese<br />
Unterscheidung psychologischer <strong>und</strong> biologischer Prozesse führt<br />
Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter zu der Vorhersage, dass Menschen, die abnehmen<br />
wollen, aber viel essen, nicht ans Ziel ihrer Wünsche gelangen<br />
werden (Inagaki <strong>und</strong> Hatano 1993; Schult <strong>und</strong> Wellman 1997).<br />
Vorschulkinder erkennen auch, dass die Eigenschaften von<br />
Lebewesen oft wichtige Funktionen für den Organismus besitzen,<br />
was für die Eigenschaften unbelebter Objekte nicht gilt. Mit<br />
fünf Jahren erkennen Kinder, dass für Pflanzen ihre grüne Farbe<br />
wichtig ist, um sich zu ernähren, während die grüne Farbe von<br />
Smaragden für die Smaragde selbst keine Funktion besitzt (Keil<br />
1992). Das Ausmaß, in dem Kinder in diesem Alter biologische<br />
Prozesse verstehen, lässt sich deutlicher erkennen, wenn man<br />
die spezifischen Vorstellungen über Vererbung, Wachstum <strong>und</strong><br />
Krankheit untersucht.<br />
Vererbung<br />
Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter wissen zwar nichts über DNA oder<br />
Vererbungsmechanismen, aber sie wissen sehr wohl, dass körperliche<br />
Eigenschaften in der Regel von den Eltern an ihren<br />
Nachwuchs weitergegeben werden. Wenn sie erfahren, dass die<br />
Herzen von Herrn <strong>und</strong> Frau Bull eine ungewöhnliche Farbe aufweisen,<br />
dann erwarten sie, dass auch Baby Bull ein ungewöhnlich<br />
gefärbtes Herz haben wird (Springer <strong>und</strong> Keil 1991). In gleicher<br />
Weise glauben sie, dass ein Mäusebaby Haare in der gleichen<br />
Farbe wie seine Eltern bekommen wird, auch wenn es <strong>im</strong> Moment<br />
noch keine Haare besitzt.<br />
Ältere Vorschulkinder wissen auch, dass best<strong>im</strong>mte Aspekte<br />
der Entwicklung angeboren sind <strong>und</strong> nicht von der Umwelt best<strong>im</strong>mt<br />
werden. So erkennen Kinder mit fünf Jahren, dass ein<br />
Tier, das von Eltern einer anderen Spezies aufgezogen wurde,<br />
als Erwachsener dennoch der eigenen Art angehören wird (Solomon<br />
2002).<br />
Neben diesem Verständnis existiert gleichzeitig eine ganze<br />
Reihe von irreführenden Annahmen über Vererbung. Viele Vorschulkinder<br />
glauben, dass die Wünsche der Mütter eine Rolle<br />
dabei spielen können, welche körperlichen Eigenschaften Kinder<br />
erben, beispielsweise blaue Augen (Weissman <strong>und</strong> Kalish 1999).<br />
Auch glauben viele Vorschulkinder, dass Adoptivkinder wahrscheinlich<br />
ihren Adoptiveltern mindestens ebenso stark ähneln<br />
wie ihren leiblichen Eltern (Solomon et al. 1996). In anderen Situationen<br />
ist der Glaube an die Vererbung bei Vorschulkindern<br />
zu stark ausgeprägt, sodass sie auch den geringsten Einfluss der<br />
Umwelt abstreiten. So neigen sie zu der Annahme, dass die Unterschiede<br />
zwischen Jungen <strong>und</strong> Mädchen, was die bevorzugten<br />
Spiele <strong>und</strong> die vorhandenen Fähigkeiten betrifft, vollständig auf<br />
Vererbung zurückgehen (Taylor 1993).<br />
Mit diesem allgemeinen Glauben an die Bedeutsamkeit der<br />
Vererbung hängt einer der gr<strong>und</strong>legendsten Aspekte der biologischen<br />
Überzeugungen von Kindern zusammen: ihr Essenzialismus,<br />
die Annahme, dass jedes lebende Ding <strong>im</strong> Inneren ein<br />
Wesen (eine Essenz) besitzt, das (die) es zu dem macht, was es ist<br />
(Gelman 2003). So glauben die meisten Vorschulkinder (genauso<br />
wie die meisten größeren Kinder <strong>und</strong> die meisten Erwachsenen),<br />
dass Welpen etwas „H<strong>und</strong>haftes“ innewohnt, Kätzchen etwas<br />
„Katzenhaftes“, Rosen eine best<strong>im</strong>mte „Rosenhaftigkeit“ <strong>und</strong> so<br />
weiter. Dieser gemeinsame Wesenskern ist das, was alle Mitglieder<br />
einer Klasse einander ähnlich macht <strong>und</strong> sie von Mitgliedern<br />
anderer Klassen unterscheidet; beispielsweise ist es ihre innere<br />
„H<strong>und</strong>haftigkeit“, die H<strong>und</strong>e bellen <strong>und</strong> Katzen jagen lässt, sie<br />
dazu bringt, gestreichelt werden zu wollen, <strong>und</strong> so weiter. Dieser<br />
Wesenskern wird als von den Eltern geerbt betrachtet <strong>und</strong><br />
bleibt das ganze Leben des Organismus hindurch bestehen. Dieses<br />
Denken in essenziellen Begriffen scheint es sowohl Kindern<br />
als auch vielen Erwachsenen schwerzumachen, die biologische<br />
Evolution zu verstehen <strong>und</strong> anzuerkennen (Evans 2008). Wenn<br />
Tiere ein unwandelbares Wesen von ihren Eltern erben, wie – so<br />
mag man sich fragen – sollte es möglich sein, dass, sagen wir,<br />
Mäuse <strong>und</strong> Wale gemeinsame Vorfahren haben?<br />
Essenzialismus – Die Ansicht, dass lebende Dinge <strong>im</strong> Inneren ein Wesen besitzen,<br />
das sie zu dem macht, was sie sind.<br />
Wachstum, Krankheit <strong>und</strong> Genesung<br />
Im vorschulischen Alter erkennen Kinder, dass Wachstum wie<br />
die Vererbung ein Produkt innerer Prozesse ist. Sie erkennen beispielsweise,<br />
dass Pflanzen <strong>und</strong> Tiere <strong>im</strong> Lauf der Zeit aufgr<strong>und</strong><br />
von irgendetwas, das <strong>im</strong> Inneren passiert (wobei sich die Kinder<br />
nicht sicher sind, was das ist), größer <strong>und</strong> komplexer werden<br />
(Rosengren et al. 1991). Drei- <strong>und</strong> Vierjährige erkennen auch,<br />
dass das Wachstum von Lebewesen nur in eine Richtung verläuft<br />
(von klein zu groß), jedenfalls bis zum höheren Alter, während<br />
unbelebte Objekte, beispielsweise Ballons, zu jedem beliebigen<br />
Zeitpunkt kleiner oder größer werden können.<br />
Vorschulkinder zeigen auch ein Gr<strong>und</strong>verständnis von<br />
Krankheit. Mit drei Jahren haben sie von Ke<strong>im</strong>en <strong>und</strong> Erregern<br />
gehört <strong>und</strong> haben eine allgemeine Vorstellung, wie diese wirken.<br />
Sie wissen, dass man krank werden kann, wenn man Nahrung<br />
zu sich n<strong>im</strong>mt, die mit Krankheitserregern verseucht ist, selbst<br />
wenn man sich der Erreger nicht bewusst ist (Kalish 1997). Umgekehrt<br />
erkennen sie, dass psychische Prozesse – beispielsweise<br />
die Tatsache, dass man weiß, dass das Essen Erreger enthält –<br />
keine Krankheiten verursachen.<br />
Schließlich wissen Vorschulkinder auch, dass Pflanzen <strong>und</strong><br />
Tiere, aber nicht unbelebte Objekte, über innere Prozesse verfügen,<br />
die es ihnen ermöglichen, einen vorangehenden Zustand<br />
oder frühere Merkmale wiederzugewinnen. Zum Beispiel erkennen<br />
vier Jahre alte Kinder, dass eine Katze oder eine Tomatenpflanze,<br />
die einen Kratzer aufweist, sich selbst reparieren kann,<br />
was ein zerkratztes Auto oder ein zerkratzter Stuhl nicht vermag.<br />
Auch wissen sie, dass die Haare eines Tieres, die man abschneidet,<br />
wieder nachwachsen, nicht aber die Haare, die man einer Puppe<br />
abschneidet (Backscheider et al. 1993). Sie erkennen andererseits<br />
die Grenzen dieser ges<strong>und</strong>heitlichen Wiederherstellung: Sie verstehen,<br />
dass sowohl Krankheit als auch Lebensalter zum Tod führen<br />
können, einem Zustand, von dem sie wissen, dass sich nichts<br />
<strong>und</strong> niemand mehr davon erholt (Nguyen <strong>und</strong> Gelman 2002).
254<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
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Wie erwerben Kinder biologisches Wissen?<br />
Ebenso wie bei anderen Aspekten der begrifflichen Entwicklung<br />
haben Nativisten <strong>und</strong> Empiristen sehr unterschiedliche<br />
Vorstellungen davon, wie das biologische Verständnis von Kindern<br />
entsteht. Nativisten nehmen an, dass Menschen mit einem<br />
„Biologiemodul“ geboren werden, ganz ähnlich dem Theory-of-<br />
Mind-Modul, das wir bereits beschrieben haben. Diese Gehirnstruktur<br />
oder dieser neuronale Mechanismus verhilft Kindern<br />
dazu, schnell etwas über Lebewesen zu lernen (Atran 1990,<br />
2002). Nativisten verfechten die Vorstellung von einem Biologiemodul<br />
– mit drei Hauptargumenten:<br />
-<br />
Im Verlauf früherer Perioden unserer Evolution war es<br />
für das menschliche Überleben entscheidend, dass Kinder<br />
schnell etwas über Tiere <strong>und</strong> Pflanzen lernen.<br />
Weltweit sind Kinder von Pflanzen <strong>und</strong> Tieren fasziniert<br />
-<br />
<strong>und</strong> lernen schnell <strong>und</strong> leicht etwas über sie.<br />
Weltweit strukturieren Kinder Informationen über Pflanzen<br />
<strong>und</strong> Tiere auf sehr ähnliche Weise (nach Wachstum,<br />
Fortpflanzung, Vererbung, Krankheit <strong>und</strong> Genesung).<br />
Die empiristische Gegenposition besagt, dass Erfahrung zum<br />
biologischen Verständnis von Kindern führt, weil sie aus ihren<br />
eigenen Beobachtungen <strong>und</strong> aus Informationen, die sie von<br />
Eltern, Lehrern <strong>und</strong> der jeweiligen Kultur insgesamt erhalten,<br />
lernen (Callanan 1990). Wenn Mütter ihren ein <strong>und</strong> zwei Jahre<br />
alten Kindern beispielsweise Bücher über Tiere vorlesen, legen<br />
viele der mütterlichen Kommentare <strong>und</strong> Fragen nahe, dass<br />
Tiere Absichten <strong>und</strong> Ziele haben, dass verschiedene Mitglieder<br />
derselben Spezies sehr viel gemeinsam haben <strong>und</strong> dass sich<br />
Tiere stark von unbelebten Dingen unterscheiden (Gelman<br />
et al. 1998). Solche Unterweisungen durch die Eltern werden oft<br />
durch Fragen der Kinder ausgelöst: Wenn drei- bis fünfjährige<br />
Kinder etwas Neuem begegnen, fragen sie bei Dingen, die anscheinend<br />
von Menschen gemacht wurden, etwas häufiger nach<br />
den Funktionen, während sie umgekehrt bei etwas, das wie ein<br />
Tier oder eine Pflanze aussieht, häufiger Fragen zu biologischen<br />
Eigenschaften stellen (Margett <strong>und</strong> Witherington 2011). Solche<br />
Fragen spiegeln das biologische Wissen wider <strong>und</strong> tragen zu<br />
dessen Erweiterung bei.<br />
Die Empiristen halten ebenfalls fest, dass das biologische<br />
Verständnis von Kindern die Sichtweisen ihrer Kultur<br />
widerspiegelt. Beispielsweise schreiben Fünfjährige in Japan<br />
unbelebten Objekten <strong>und</strong> Pflanzen körperliche Empfindungen<br />
wie Schmerz- <strong>und</strong> Kältewahrnehmungen mit größerer<br />
Wahrscheinlichkeit zu als Kinder gleichen Alters in den USA<br />
oder in Israel (Hatano et al. 1993). Die Neigung japanischer<br />
Kinder zu der Annahme, unbelebte Objekte besäßen solche<br />
Eigenschaften, kann als Widerhall der in der japanischen<br />
Gesellschaft <strong>im</strong>mer noch einflussreichen buddhistischen Tradition<br />
gelten, der zufolge alle Objekte best<strong>im</strong>mte psychische<br />
Eigenschaften besitzen.<br />
Wie bei den Ursprüngen des psychologischen Verständnisses<br />
spielt be<strong>im</strong> Erwerb biologischen Wissens zweifellos beides,<br />
Anlage <strong>und</strong> Umwelt, eine wichtige Rolle. Kleine Kinder sind von<br />
Natur aus fasziniert von Tieren <strong>und</strong> lernen viel schneller etwas<br />
über sie als über andere Aspekte ihrer Umwelt, die sie weniger<br />
interessieren. Gleichzeitig werden die Besonderheiten dessen,<br />
was Kinder lernen, offensichtlich durch Informationen, Überzeugungen<br />
<strong>und</strong> Werte beeinflusst, die Eltern <strong>und</strong> die jeweilige<br />
Gesellschaft vermitteln. Und wie <strong>im</strong>mer reagiert die Umwelt auf<br />
die Anlagen der Kinder, etwa wenn Eltern auf die vielen Fragen<br />
informativ beantworten, die ihre Kinder zu Lebewesen haben<br />
<strong>und</strong> die zugleich Ausdruck des Interesses der Kinder an Lebewesen<br />
sind.<br />
In Kürze | |<br />
Von frühester Kindheit an bilden Kinder Kategorien ähnlicher<br />
Objekte. Mithilfe solcher Klassifikationen können sie<br />
die Eigenschaften unbekannter Objekte innerhalb einer<br />
Kategorie besser erschließen. Wenn Kinder beispielsweise<br />
lernen, dass es sich bei einem neuen Objekt um ein Tier<br />
handelt, dann wissen sie bereits, dass es wächst, sich bewegt<br />
<strong>und</strong> frisst. Kinder bilden neue Kategorien – <strong>und</strong> weisen<br />
neue Objekte bestehenden Kategorien zu – auf der Basis<br />
von Ähnlichkeiten in Aussehen <strong>und</strong> Funktion des neuen<br />
Objekts mit anderen Objekten, deren Klassenzugehörigkeit<br />
sie bereits kennen.<br />
Eine besonders wichtige Kategorie sind Menschen. Von den<br />
ersten Tagen ihres Lebens an interessieren sich Kinder für<br />
andere Menschen <strong>und</strong> verwenden sehr viel Zeit darauf, sie<br />
anzusehen. Mit drei Jahren bilden sie eine einfache alltagspsychologische<br />
Theory of Mind, die ein gewisses Verständnis<br />
der Kausalbeziehungen zwischen Intentionen, Wünschen,<br />
Überzeugungen <strong>und</strong> Handlungen einschließt. Aber<br />
erst mit vier oder fünf Jahren können die meisten Kinder<br />
Aufgaben vom Typ „falsche Überzeugung“ erfolgreich meistern,<br />
die ein Verständnis dafür voraussetzen, dass andere<br />
Menschen entsprechend ihren Überzeugungen handeln,<br />
<strong>und</strong> zwar auch dann, wenn diese Überzeugungen aus der<br />
Sicht des <strong>Kindes</strong> falsch sind. Die Entwicklung des Verstehens<br />
der psychischen Funktionen anderer Menschen <strong>im</strong> Verlauf<br />
der Vorschuljahre wurde der biologischen Reifung eines<br />
Theory-of-Mind-Moduls zugeschrieben, alternativ aber auch<br />
der Erfahrung <strong>im</strong> Umgang mit anderen Menschen oder der<br />
Entwicklung der Informationsverarbeitungsfähigkeiten, mit<br />
deren Hilfe Kinder <strong>im</strong>mer komplexere soziale Situationen<br />
verstehen können.<br />
Eine weitere wichtige Kategorie betrifft Lebewesen. Im<br />
Vorschulalter gewinnen Kinder ein Gr<strong>und</strong>verständnis von<br />
den Eigenschaften biologischer Sachverhalte wie Wachstum,<br />
Vererbung, Krankheit <strong>und</strong> Genesung. Aber erst <strong>im</strong><br />
Schulalter zählen die meisten Kinder Pflanzen zur Klasse<br />
der lebenden Dinge. Erklärungen für den relativ schnellen<br />
Erwerb biologischen Wissens beziehen sich auf die<br />
ausgiebige Konfrontation mit biologischen Informationen<br />
vonseiten der Familien <strong>und</strong> der umgebenden Kultur ihrer<br />
Gesellschaft ebenso wie auf ihrem eigenen Frageverhalten,<br />
das informative Antworten auslöst, <strong>und</strong> schließlich die<br />
Existenz von Gehirnmechanismen, die Kinder dahin führen,<br />
an Lebewesen interessiert zu sein <strong>und</strong> schnell <strong>und</strong> leicht<br />
mehr über sie zu lernen.
Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />
255 7<br />
..<br />
Das Gefühl von Ehrfurcht, das viele Kinder (<strong>und</strong> Erwachsene) be<strong>im</strong> Anblick der Überreste von großen Tieren aus der Vergangenheit <strong>und</strong> der Gegenwart ergreift<br />
– Dinosaurier, Elefanten oder Wale –, bildete einen wichtigen Anlass für die Gründung naturhistorischer Museen. Trotz aller Darstellungen von Monstern<br />
<strong>und</strong> Superhelden <strong>im</strong> Fernsehen, in Filmen <strong>und</strong> in Computerspielen lösen diese Fossile <strong>und</strong> Modelle bei Kindern, die heute aufwachsen, <strong>im</strong>mer noch dasselbe<br />
Gefühl des Staunens aus. (© James Mccormick Getty Images)<br />
Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum<br />
<strong>und</strong> wie viel<br />
Um in den Dingen <strong>und</strong> Abläufen des Lebens einen Sinn zu erkennen,<br />
muss man nicht nur genau repräsentieren, wer oder was<br />
an einem Ereignis beteiligt war, sondern auch, wo, wann, warum<br />
<strong>und</strong> wie oft das Ereignis auftrat. Um die Bedeutung dieser Aspekte<br />
begreifen zu können, stellen wir uns vor, wie das Leben aussähe,<br />
wenn wir unsere Auffassung von irgendeinem dieser Konzepte<br />
verlören, beispielsweise unser Gefühl für Zeit. Ohne Zeitgefühl<br />
wüssten wir nicht einmal die Reihenfolge, in der die Ereignisse<br />
eintraten. Haben wir uns zuerst angezogen <strong>und</strong> dann gefrühstückt,<br />
oder war es umgekehrt? Unser gesamter Eindruck vom<br />
Leben als einem kontinuierlichen Strom von Ereignissen wäre<br />
erschüttert. Ähnliche Probleme entstünden, wenn wir den Sinn<br />
für Raum oder Kausalität oder Zahl verlieren würden. Die Wirklichkeit<br />
erschiene uns wie ein Albtraum, in dem Ordnung <strong>und</strong><br />
Vorhersagbarkeit außer Kraft gesetzt sind <strong>und</strong> das Chaos regiert.<br />
Im vorigen Abschnitt wurde bereits beschrieben, dass Kinder<br />
die Kategorien, die sie zur Beantwortung der Frage nach dem<br />
Wer oder Was benötigen, schon früh in ihrer Entwicklung bilden,<br />
wobei sich das Verständnis noch viele Jahre lang vertieft. Die Entwicklung<br />
des Verstehens von Kausalität, Raum, Zeit, <strong>und</strong> Zahl<br />
beschreibt einen ähnlichen Weg. In jedem der Fälle beginnt die<br />
Entwicklung in frühester Kindheit, aber wichtige Verbesserungen<br />
ergeben sich während der gesamten Kindheit <strong>und</strong> Jugend.<br />
Kausalität<br />
Der berühmte schottische Philosoph des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts David<br />
Hume beschrieb Kausalität als den „Kitt des Universums“. Ihm<br />
ging es darum, dass kausale Zusammenhänge eigenständige Er-<br />
eignisse zu einem Ganzen verknüpfen. Übereinst<strong>im</strong>mend mit<br />
Humes Sicht verlassen sich Kinder ab einem frühen Zeitpunkt<br />
in ihrer Entwicklung sehr stark auf ihr Verständnis kausaler<br />
Mechanismen, um zu erschließen, warum physikalische <strong>und</strong><br />
psychologische Ereignisse eintreten. Wenn Kinder ein Spielzeug<br />
auseinandernehmen, um herauszufinden, wie es funktioniert,<br />
oder wenn sie fragen, warum das Licht angeht, wenn man den<br />
Schalter umlegt, oder auch wenn sie wissen wollen, warum ihre<br />
Mutter verärgert ist, dann versuchen sie, kausale Mechanismen<br />
zu verstehen.<br />
Nativisten <strong>und</strong> Empiristen erklären die Ursprünge des Verständnisses<br />
für physikalische Ursachen auf gr<strong>und</strong>legend unterschiedliche<br />
Weise. Die Nativisten gehen von der Tatsache<br />
aus, dass sich die Welt ohne ein elementares Verständnis der<br />
Kausalität nicht in einen sinnvollen Zusammenhang bringen<br />
ließe <strong>und</strong> dass Kinder bereits in frühester Kindheit ein entsprechendes<br />
Verständnis zeigen; daraus leiten sie die Annahme ab,<br />
dass Säuglinge ein angeborenes Kausalmodul oder eine Kerntheorie<br />
der Kausalität besitzen, mit deren Hilfe sie aus den Ereignissen,<br />
die sie beobachten, Kausalbeziehungen extrahieren<br />
können (z. B. Leslie 1986; Spelke 2003). Dagegen schlugen die<br />
Empiristen vor, dass das Verständnis von Säuglingen für Kausalität<br />
aus ihren Beobachtungen unzähliger Ereignisse in der<br />
Umwelt hervorgeht (z. B. Cohen <strong>und</strong> Cashon 2006; Rogers <strong>und</strong><br />
McClelland 2004). In einem Punkt sind sich beide jedoch einig:<br />
Kinder lassen von klein auf eindrucksvolle kausale Schlussfolgerungen<br />
erkennen.<br />
Kausales Schlussfolgern in der frühen Kindheit<br />
Mit ungefähr sechs Monaten nehmen Kinder kausale Verknüpfungen<br />
zwischen einigen physikalischen Ereignissen wahr<br />
(Cohen <strong>und</strong> Cashon 2006; Leslie 1986). In einem typischen<br />
Exper<strong>im</strong>ent zum Nachweis der Fähigkeit von Säuglingen, sol-
256<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
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..<br />
Abb. 7.4 Die Nachahmung von Handlungssequenzen. Es hilft Kindern, die Handlungen, die sie nachahmen, zu verstehen, um sie in der richtigen Reihenfolge<br />
auszuführen. In dieser Illustration eines Verfahrens von Bauer (1995) <strong>im</strong>itiert das Kind eine zuvor beobachtete Sequenz aus drei Handlungsschritten, um<br />
eine Rassel zu bauen. Das Kind (a) n<strong>im</strong>mt den Holzklotz, (b) legt ihn in die untere Hälfte des Behälters, (c) setzt die obere Hälfte des Behälters auf die untere<br />
Hälfte, womit die Rassel fertig ist, <strong>und</strong> (d) schüttelt sie. (© Patricia Bauer; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
che Verknüpfungen wahrzunehmen, zeigten Oakes <strong>und</strong> Cohen<br />
(1995) Kindern zwischen sechs <strong>und</strong> zehn Monaten eine Reihe<br />
von Videoclips, in denen ein sich bewegendes Objekt mit einem<br />
ruhenden Objekt zusammenstößt, worauf sich das ruhende Objekt<br />
sofort in die physikalisch zu erwartende Richtung zu bewegen<br />
beginnt. In jedem Clip wurden andere sich bewegende <strong>und</strong><br />
ruhende Objekte verwendet, aber der Ablauf als solcher blieb<br />
derselbe. Nachdem die Kinder einige dieser Videoclips gesehen<br />
hatten, habituierten sie auf die Zusammenstöße. Dann zeigte man<br />
ihnen einen leicht veränderten Clip, in dem das ruhende Objekt<br />
sich in Bewegung setzte, bevor das andere Objekt es anstieß. Die<br />
Kinder betrachteten das ungewöhnliche Ereignis länger, als sie<br />
die vorangegangenen Durchgänge betrachtet hatten, vermutlich<br />
weil der neue Videoclip ihrer Auffassung widersprach, dass sich<br />
unbelebte Objekte nicht von selbst bewegen.<br />
Das Verständnis von Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern von physikalischer<br />
Kausalität beeinflusst nicht nur, was sie von unbelebten<br />
Objekten erwarten, sondern auch ihre Fähigkeit, sich an<br />
Handlungssequenzen zu erinnern <strong>und</strong> sie zu <strong>im</strong>itieren. Zeigt<br />
man neun bis elf Monate alten Kindern kausal verknüpfte Handlungen<br />
(z. B. wenn man einen kleinen Gegenstand <strong>und</strong> zwei zusammenschraubbare<br />
Becher zu einer Klapper zusammenbaut),<br />
so können sie diese Handlungen für gewöhnlich nachmachen<br />
(. Abb. 7.4). Zeigt man ihnen hingegen kausal unverb<strong>und</strong>ene<br />
Handlungen, so <strong>im</strong>itieren sie diese verlässlich erst mit 20 bis<br />
22 Monaten (Bauer 2007).<br />
Gegen Ende des zweiten Lebensjahres <strong>und</strong> manchmal sogar<br />
früher können Kinder die verursachende Wirkung einer Variable<br />
anhand von indirekten relevanten Informationen über eine<br />
andere Variable erschließen. Zum Beispiel präsentierten Sobel<br />
<strong>und</strong> Kirkham (2006) 19 bis 24 Monate alten Kindern einen Kasten,<br />
den sie den „Blicket-Detektor“ nannten <strong>und</strong> der, wie der<br />
Versuchsleiter erklärte, Musik spielt, wenn man einen „Blicket“<br />
genannten Gegenstand daraufsetzt. Dann setzte der Exper<strong>im</strong>entator<br />
zwei Gegenstände, A <strong>und</strong> B, auf den „Blicket-Detektor“, <strong>und</strong><br />
es war Musik zu hören. Als er nur Gegenstand A auf den Kasten<br />
setzte, ertönte keine Musik. Nun forderte er die Kinder auf,<br />
den „Blicket-Detektor“ anzuschalten. Durchgängig wählten die<br />
24 Monate alten Kinder Gegenstand B <strong>und</strong> ließen so erkennen,<br />
dass sie aus der Unwirksamkeit von Gegenstand A geschlossen<br />
hatten, dass Gegenstand B den Detektor aktiviert. Im Unterschied<br />
dazu wählten die 19 Monate alten Kinder Gegenstand A
Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />
257 7<br />
..<br />
Abb. 7.5 Problemlösen bei Kleinkindern. Diese Aufgabe verwendeten<br />
Chen <strong>und</strong> <strong>Siegler</strong> (2000) bei der Untersuchung des Kausaldenkens <strong>und</strong> Problemlösens<br />
von Kleinkindern. Um das geeignete Werkzeug auszuwählen, mit<br />
dem man an das Spielzeug herankommt, mussten die Kinder die Bedeutung<br />
sowohl der Länge des Stieles als auch des Winkels des Kopfteils relativ zum<br />
Stiel erkennen. Das größere Verständnis älterer Kinder für solche kausalen<br />
Relationen führte dazu, dass sie häufiger überhaupt Werkzeuge verwenden<br />
<strong>und</strong> nicht nur nach dem Spielzeug greifen <strong>und</strong> dass sie häufiger das für die<br />
Problemlösung geeignete Werkzeug wählen<br />
genauso häufig wie Gegenstand B, zogen diese Schlussfolgerung<br />
also offenbar nicht.<br />
Diese Weiterentwicklung verdeutlicht eine Untersuchung<br />
von Chen <strong>und</strong> <strong>Siegler</strong> (2000) über den Werkzeuggebrauch von<br />
Ein- <strong>und</strong> Zweijährigen. Sie präsentierten den Kleinkindern ein<br />
attraktives Spielzeug, das auf einem Tisch etwa 30 cm außerhalb<br />
ihrer Reichweite lag. Zwischen dem Kind <strong>und</strong> dem Spielzeug<br />
befanden sich sechs potenzielle Werkzeuge unterschiedlicher<br />
Länge <strong>und</strong> unterschiedlicher Formgebung am Ende ihres Stieles<br />
(. Abb. 7.5). Um bei dieser Aufgabe Erfolg zu haben, mussten<br />
die Kinder die kausale Beziehung erkennen, die eines der Werkzeuge<br />
gegenüber den anderen geeigneter macht, das Spielzeug<br />
heranzuziehen. Insbesondere mussten sie erkennen, dass ein<br />
hinreichend langer Stiel <strong>und</strong> ein geeignet gebogenes Kopfende<br />
entscheidend sind.<br />
Die zweijährigen Kinder lösten das Problem, an das Spielzeug<br />
heranzukommen, deutlich häufiger erfolgreich als die einjährigen,<br />
<strong>und</strong> zwar sowohl bei ihren anfänglichen eigenen Bemühungen<br />
als auch, nachdem ihnen der Versuchsleiter gezeigt hatte,<br />
wie sie das opt<strong>im</strong>ale Werkzeug einsetzen konnten. Ein Gr<strong>und</strong><br />
für den größeren Erfolg der älteren Kinder lag darin, dass sie<br />
überhaupt häufiger die Werkzeuge verwendeten <strong>und</strong> nicht nur<br />
mit den Händen über den Tisch zu greifen versuchten oder ihre<br />
Mütter um Hilfe baten. Ein weiterer Gr<strong>und</strong> bestand darin, dass<br />
die größeren Kinder, sofern sie ein Werkzeug einsetzten, häufiger<br />
das opt<strong>im</strong>al geeignete Werkzeug wählten. Auch konnten die<br />
älteren Kinder das, was sie bei der ersten Aufgabe dieser Art gelernt<br />
hatten, häufiger auf neue, auf den ersten Blick andersartige<br />
Aufgaben übertragen, zu denen Werkzeuge <strong>und</strong> Spielzeuge mit<br />
anderen Formen, Farben <strong>und</strong> Musterungen gehörten. Alle diese<br />
Ergebnisse weisen darauf hin, dass die älteren Kleinkinder ein<br />
tieferes Verständnis von den Kausalbeziehungen zwischen den<br />
Merkmalen der Werkzeuge <strong>und</strong> ihrer Nützlichkeit zum Spielzeugheranziehen<br />
besaßen.<br />
Die Entwicklung des Kausaldenkens<br />
<strong>im</strong> Kindergartenalter<br />
Das kausale Schlussfolgern entwickelt sich <strong>im</strong> Kindergartenalter<br />
weiter. Vorschulkinder erwarten offenbar, dass eine Variable,<br />
die eine Wirkung verursacht, dies durchgängig tut (Schulz <strong>und</strong><br />
Sommerville 2006). Wenn Vierjährige sehen, dass eine mögliche<br />
Ursache eine best<strong>im</strong>mte Wirkung nur manchmal auslöst, dann<br />
schließen sie daraus, dass irgendeine andere Variable, die sie<br />
nicht sehen können, die Wirkung verursachen muss; wenn aber<br />
dieselbe Wirkung bei derselben Ursache <strong>im</strong>mer eintritt, dann<br />
schließen sie nicht darauf, dass eine verborgene Variable wichtig<br />
wäre. Wenn Vierjährige beispielsweise gesehen haben, wie<br />
einige H<strong>und</strong>e auf Gestreicheltwerden mit eifrigem Schwanzwedeln<br />
reagieren, während andere jedoch knurren, dann dürften sie<br />
daraus den Schluss ziehen, dass ein anderer Einfluss als nur das<br />
Gestreicheltwerden die Wirkung mit verursachte, zum Beispiel<br />
die H<strong>und</strong>erasse.<br />
Die Erkenntnis, dass Ereignisse Ursachen haben müssen,<br />
scheint auch die Reaktionen von Kindern auf Zauberkunststücke<br />
zu beeinflussen. Die meisten Drei- <strong>und</strong> Vierjährigen erkennen<br />
die Pointe eines Zaubertricks nicht; sie verstehen, dass irgendetwas<br />
Merkwürdiges geschehen ist, aber finden den Trick nicht<br />
witzig <strong>und</strong> versuchen auch nicht, dem seltsamen Phänomen<br />
aktiv auf den Gr<strong>und</strong> zu gehen (Rosengren <strong>und</strong> Hickling 2000).<br />
Mit ungefähr fünf Jahren sind Kinder von Zaubertricks jedoch<br />
fasziniert, gerade weil die Effekte nicht von offensichtlichen Kausalmechanismen<br />
hervorgerufen werden (▶ Exkurs 7.3), <strong>und</strong> viele<br />
wollen den Zauberhut oder andere Utensilien durchsuchen, um<br />
zu sehen, wie ein solches Kunststück möglich war. Diese zunehmende<br />
Erkenntnis, dass selbst merkwürdige Ereignisse eine Ursache<br />
haben müssen, zusammen mit dem wachsenden Verstehen<br />
der Mechanismen, die Ursachen <strong>und</strong> ihre Wirkungen verknüpfen,<br />
spiegeln die Weiterentwicklung des kausalen Schlussfolgerns<br />
wider.<br />
Raum<br />
Die Debatte zwischen Nativisten <strong>und</strong> Empiristen entzündete sich<br />
besonders heftig bei der Erklärung des räumlichen Denkens. Die<br />
Nativisten behaupten, dass Kinder ein angeborenes Modul besitzen,<br />
das auf die Repräsentation des Raumes <strong>und</strong> das räumliche<br />
Lernen spezialisiert ist <strong>und</strong> räumliche Informationen getrennt<br />
von allen anderen Informationsarten verarbeitet (Hermer <strong>und</strong><br />
Spelke 1996; Hespos <strong>und</strong> Spelke 2004). Auf der anderen Seite<br />
behaupten die Empiristen, dass Kinder räumliche Repräsentationen<br />
durch dieselben Lernmechanismen <strong>und</strong> Erfahrungen erwerben,<br />
die ganz allgemein zur kognitiven Entwicklung führen;<br />
dass Kinder außerdem räumliche <strong>und</strong> nichträumliche Informationen<br />
anpassend verbinden, um ihre Ziele zu erreichen, indem<br />
sie sich in der Umwelt bewegen; <strong>und</strong> schließlich, dass Sprache<br />
<strong>und</strong> weitere Kulturwerkzeuge die Entwicklung des räumlichen<br />
Denkens formen (Gentner <strong>und</strong> Boroditsky 2001; Levine et al.<br />
2012; Newcombe <strong>und</strong> Huttenlocher 2006).<br />
In einigen Punkten besteht jedoch Einvernehmen. So zeigen<br />
Kinder nach allgemein akzeptierten Bef<strong>und</strong>en von früher Kindheit<br />
an ein beeindruckendes Verständnis räumlicher Konzepte
258<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
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Exkurs 7.3: Näher betrachtet: Magisches Denken <strong>und</strong> Fantasie | |<br />
Falls Sie jetzt denken, das kausale Schlussfolgern<br />
fünfjähriger Kinder gleiche dem von<br />
Erwachsenen, betrachten Sie die folgende<br />
Unterhaltung zwischen zwei Kindergartenkindern<br />
<strong>und</strong> ihrer Erzieherin:<br />
Lisa: Wünschen sich Pflanzen kleine Babypflanzen?<br />
Deana: Ich glaube, nur Menschen können<br />
Wünsche haben. Aber Gott könnte einen<br />
Wunsch in eine Pflanze tun. […]<br />
Erzieherin: Ich stelle mir Menschen <strong>im</strong>mer so<br />
vor, dass sie Ideen haben.<br />
Deana: Das ist doch dasselbe. Gott tut eine<br />
kleine Idee in die Pflanze, die ihr sagt, was sie<br />
sein soll.<br />
Lisa: Meine Mutter wünschte sich mich, <strong>und</strong><br />
ich kam an meinem Geburtstag auf die Welt.<br />
(Paley 1981, S. 79 f.)<br />
Dieses Gespräch würde mit zwei Zehnjährigen<br />
so nicht stattgef<strong>und</strong>en haben. Vielmehr spiegelt<br />
es, so der Psychologe Jacqui Woolley, der<br />
die Fantasien von Vorschulkindern untersucht<br />
hat, eine der bezauberndsten Seiten der frühen<br />
Kindheit wider: Vorschulkinder <strong>und</strong> Schulanfänger<br />
„leben in einer Welt, in der Fantasie<br />
<strong>und</strong> Realität stärker miteinander verwoben<br />
sind als bei Erwachsenen“ (Woolley 1997).<br />
Dass kleinere Kinder an Fantasie <strong>und</strong> Magie,<br />
aber auch an normale Ursachen glauben, ist<br />
auf vielerlei Art erkennbar. Die meisten Vierbis<br />
Sechsjährigen glauben, dass sie andere<br />
Menschen beeinflussen können, indem sie<br />
sie durch eigenes Wünschen dazu bringen,<br />
etwas zu tun, beispielsweise ein best<strong>im</strong>mtes<br />
Geburtstagsgeschenk zu kaufen (Vikan <strong>und</strong><br />
Clausen 1993). Sie glauben, dass wirksames<br />
Wünschen große Fähigkeiten, vielleicht sogar<br />
Zauberkraft erfordert, aber dass es möglich<br />
ist. In ähnlichem Zusammenhang steht die<br />
Überzeugung mancher Kinder, dass ihre<br />
Wünsche wahr werden, wenn sie sich mit<br />
dem Nikolaus gutstellen. Solche kindlichen<br />
Fantasien können auch eine dunkle Seite<br />
haben, etwa wenn sich Kinder vor Monstern<br />
fürchten, die ihnen nachts etwas antun<br />
könnten (Woolley 1997). Forschungsarbeiten<br />
haben gezeigt, dass kleinere Kinder nicht nur<br />
an Zauberei glauben; sie handeln auch ihrem<br />
Glauben entsprechend. In einem Exper<strong>im</strong>ent<br />
wurde Vorschulkindern gesagt, dass eine<br />
best<strong>im</strong>mte Schachtel eine Zauberschachtel<br />
sei; wenn man eine Zeichnung hineinlege <strong>und</strong><br />
einen Zauberspruch sage, dann werde das auf<br />
der Zeichnung dargestellte Objekt erscheinen.<br />
Dann ließ der Versuchsleiter das Kind mit der<br />
Schachtel <strong>und</strong> einer Reihe von Zeichnungen<br />
allein. Die Kinder legten Zeichnungen der<br />
attraktivsten Gegenstände in die Schachtel,<br />
sagten die „Zauberformel“ <strong>und</strong> waren deutlich<br />
enttäuscht, als sie die Schachtel wieder<br />
öffneten <strong>und</strong> nur die Zeichnungen vorfanden<br />
(Subbotsky 1993, 1994).<br />
Wie lassen sich die Fähigkeiten von Vorschulkindern<br />
zum logischen kausalen Denken<br />
mit dem Glauben an Zauberei, an die Kraft<br />
des Wünschens <strong>und</strong> an den Nikolaus in<br />
Einklang bringen? Im Wesentlichen muss<br />
man erkennen, dass Kinder hier wie in vielen<br />
anderen Situationen eine Vielzahl von ziemlich<br />
widersprüchlichen Vorstellungen gleichzeitig<br />
besitzen <strong>und</strong> für wahr halten. Sie glauben<br />
vielleicht, dass Zauberei oder ihre Vorstellungskraft<br />
Dinge verursacht <strong>und</strong> geschehen<br />
lässt, aber verlassen sich nicht darauf, wenn<br />
es sie in Verlegenheit bringen könnte. In einer<br />
Demonstration dieses begrenzten Glaubens<br />
an die Magie (Woolley <strong>und</strong> Phelps 1994) zeigte<br />
der Versuchsleiter Vorschulkindern eine leere<br />
Schachtel, schloss sie <strong>und</strong> forderte sie dann<br />
auf, sich darin einen Bleistift vorzustellen.<br />
Dann fragte er die Kinder, ob jetzt ein Bleistift<br />
in der Schachtel ist; viele sagten „ja“. Dann<br />
betrat eine erwachsene Person den Raum <strong>und</strong><br />
sagte, sie brauche einen Bleistift für ihre Arbeit.<br />
Nur sehr wenige der Kinder öffneten die<br />
Schachtel oder gaben sie dem Erwachsenen.<br />
Wenn es also keine weiteren Folgen hatte, dass<br />
sie sich möglicherweise irrten, sagten viele<br />
Kinder, dass die Schachtel einen Bleistift enthalte,<br />
aber sie glaubten es nicht stark genug,<br />
um so zu handeln, dass es einem Erwachsenen<br />
dumm erscheinen könnte.<br />
Wie überwinden Kinder ihren Glauben an<br />
Zauberkraft <strong>und</strong> Magie? Ein Mittel dazu besteht<br />
darin, mehr über wirkliche Ursachen zu<br />
erfahren; je mehr Kinder über die tatsächlichen<br />
Ursachen von Ereignissen wissen, umso<br />
unwahrscheinlicher ist es, dass sie magische<br />
Erklärungen heranziehen (Woolley 1997).<br />
Ein weiteres Mittel betrifft Erfahrungen, die<br />
den ursprünglichen Glauben untergraben,<br />
etwa wenn Gleichaltrige das Glauben an den<br />
Nikolaus belächeln oder wenn man selbst zwei<br />
Nikoläuse sieht, die einander auf der Straße<br />
begegnen. Manchmal jedoch retten Kinder<br />
ihre Hoffnungen, indem sie zwischen falschen<br />
<strong>und</strong> echten Zauberwesen unterscheiden. Zum<br />
Beispiel können sie leidenschaftlich zwischen<br />
dem wirklichen Nikolaus <strong>und</strong> Schwindlern<br />
unterscheiden, die sich nur als Nikolaus<br />
verkleiden.<br />
Der Glaube an Zauberwesen <strong>und</strong> Fantasiegeschöpfe<br />
ist bei Zwei- bis Fünfjährigen<br />
besonders augenscheinlich, aber er bleibt oft<br />
auch Jahre später erkennbar. In einer Studie,<br />
die das Anhalten magischen Denkens nachwies,<br />
ließen sich viele Neunjährige <strong>und</strong> auch<br />
einige Erwachsene auf magische Erklärungen<br />
für einen Zaubertrick ein, der sich physikalisch<br />
nicht leicht erklären ließ (Subbotsky 2005).<br />
Bei einer neueren Meinungsumfrage in einer<br />
repräsentativen Stichprobe gaben 31 % der<br />
amerikanischen Erwachsenen an, an Geister<br />
<strong>und</strong> Spukhäuser zu glauben (Rasmussen<br />
2011). Diese Einstellungen lassen sich nicht<br />
mit dem Argument wegwischen, dass sie einen<br />
Mangel an Bildung widerspiegeln würden.<br />
Subbotsky (2005) berichtet, dass von 17 an der<br />
Untersuchung teilnehmenden College-Studenten<br />
niemand bereit war, einer als Hexe beschriebenen<br />
Person zu erlauben, einen Fluch<br />
über sie auszusprechen. Unzählige weitere<br />
Erwachsene geben sich dem Aberglauben hin,<br />
nicht unter Leitern durchzugehen, auf Holz zu<br />
klopfen <strong>und</strong> nicht auf die Ritzen zwischen den<br />
Gehwegplatten zu treten. So sind viele von<br />
uns, vielleicht wir alle, dem magischen Denken<br />
niemals völlig entwachsen.<br />
wie „über“, „unter“, „rechts“ <strong>und</strong> „links“ von einem Bezugspunkt<br />
(Casasola 2008; Quinn 2005). Außerdem wird allgemein angenommen,<br />
dass selbst erzeugte Bewegung in der Umgebung die<br />
Verarbeitung räumlicher Information st<strong>im</strong>uliert. Eine dritte gemeinsame<br />
Annahme besagt, dass best<strong>im</strong>mte Gehirnbereiche für<br />
die Codierung best<strong>im</strong>mter Arten von räumlicher Information<br />
verantwortlich sind, zum Beispiel scheint die Entwicklung des<br />
Hippocampus zu Verbesserungen be<strong>im</strong> Ortslernen zu führen<br />
(Sluzenski et al. 2004; Sutton et al. 2010). Eine vierte übereinst<strong>im</strong>mende<br />
Schlussfolgerung beinhaltet, dass geometrische Information<br />
– Information über Längen, Winkel <strong>und</strong> Richtungen<br />
– für die räumliche Verarbeitung äußerst wichtig sind. Wenn<br />
Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder Hinweise auf den Ort bekommen,<br />
an dem sich ein Objekt befindet, dann ziehen sie diese geometrische<br />
Information oft stärker in Erwägung als scheinbar einfachere<br />
Hinweise wie die Beschreibung, dass sich das Objekt vor<br />
der einen blauen Wand <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer befindet (Hermer <strong>und</strong> Spelke<br />
1996; Newcombe <strong>und</strong> Ratliff 2007).<br />
Erfolgreiches räumliches Denken setzt voraus, dass der Raum<br />
relativ zur jeweils eigenen Position <strong>und</strong> relativ zur äußeren Umgebung<br />
codiert wird. In den folgenden Abschnitten behandeln<br />
wir diese beiden Arten der Codierung.<br />
Die Repräsentation des Raumes<br />
relativ zu sich selbst<br />
Von früher Kindheit an codieren Kinder die Orte von Objekten<br />
in Beziehung zu ihrem eigenen Körper. In ▶ Kap. 5 wurde bereits<br />
erwähnt, dass kleine Kinder dazu neigen, nach dem näheren von
Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />
259 7<br />
zwei Objekten zu greifen (van Wermeskerken et al. 2013). Dies<br />
zeigt, dass sie erkennen können, welches Objekt näher ist, <strong>und</strong><br />
dass sie auch die allgemeine Richtung dieses Objekts relativ zu<br />
sich selbst erkennen.<br />
Im Verlauf der folgenden Monate wird die raumbezogene<br />
Repräsentation der Kinder <strong>im</strong>mer dauerhafter, sodass sie Objekte<br />
lokalisieren können, die einige Sek<strong>und</strong>en zuvor vor ihren Augen<br />
versteckt wurden. Wie in ▶ Kap. 4 erörtert, greifen die meisten<br />
Kinder <strong>im</strong> Alter von sieben Monaten zielgenau nach Objekten,<br />
die 2 s vorher unter einer von zwei identisch aussehenden Decken<br />
versteckt wurden, aber nicht nach Objekten, deren Verstecken<br />
bereits 4 s zurückliegt. Mit zwölf Monaten greifen die meisten<br />
Kinder dann zielgenau nach Objekten, die schon 10 s vorher unter<br />
einer der beiden Decken versteckt worden waren (Diamond<br />
1985). Diese <strong>im</strong>mer dauerhafteren Objektrepräsentationen spiegeln<br />
zum Teil die Gehirnreifung wider, insbesondere die Reifung<br />
des dorsolateralen präfrontalen Cortex, einer Region <strong>im</strong> Frontallappen,<br />
die an der Bildung <strong>und</strong> Aufrechterhaltung von Plänen<br />
<strong>und</strong> an der Integration neuer <strong>und</strong> früher gelernter Informationen<br />
beteiligt ist (Diamond <strong>und</strong> Goldman-Rakic 1989; Nelson<br />
2005). Diese verbesserten Objektrepräsentationen spiegeln jedoch<br />
ebenso Lernprozesse wider. Wenn man Säuglingen in einer<br />
Situation Lernerfahrungen mit einem versteckten Gegenstand<br />
ermöglicht, so zeigen sie in anderen Situationen eine bessere Lokalisierung<br />
der versteckten Gegenstände (Johnson et al. 2003).<br />
Man beachte, dass in allen bisherigen Beispielen das Kind<br />
selbst am gleichen Ort blieb <strong>und</strong> die Orte relativ zu seinem Körper<br />
codierte. Piaget (1998) behauptete, dass dies die einzige Art<br />
räumlicher Codierung sei, die Kinder beherrschen. Der Gr<strong>und</strong><br />
dafür liegt seiner Theorie gemäß darin, dass während der sensumotorischen<br />
Phase die einzig möglichen räumlichen Repräsentationen<br />
egozentrische Repräsentationen sind, bei denen der<br />
Ort von Objekten relativ zur eigenen Position <strong>im</strong> Moment der<br />
Encodierung dieses Ortes erinnert wird. Als Beleg dafür berichtete<br />
Piaget über Exper<strong>im</strong>ente, denen zufolge sich Kinder, die ein<br />
Spielzeug mehrere Male rechts von sich fanden, weiterhin nach<br />
rechts drehen, um es zu finden, auch nachdem man sie so umgedreht<br />
hatte, dass sich das Objekt nun links von ihnen befand.<br />
Spätere Untersuchungen haben diesen Bef<strong>und</strong> bestätigt (z. B.<br />
Acredolo 1978; Bremner 1978).<br />
Egozentrische Repräsentation – Die Codierung eines Ortes relativ zum eigenen<br />
Körper, unabhängig von der Umgebung.<br />
Dieser frühkindliche Egozentrismus bei der räumlichen Repräsentation<br />
ist nicht absolut. Wird ein Spielzeug rechts neben<br />
einem auffallenden Orientierungspunkt – beispielsweise einem<br />
großen Turm aus Bauklötzen – versteckt, dann finden Kinder das<br />
Spielzeug trotz einer Veränderung ihrer eigenen Position (Lew<br />
2011). Doch es bleibt die Frage: Wie erwerben Kinder die Fähigkeit,<br />
Objekte zu finden, wenn sich ihre eigene Position geändert<br />
hat <strong>und</strong> wenn keine Orientierungspunkte vorhanden sind, die<br />
ihnen bei der Suche helfen?<br />
Die Fähigkeit zur eigenen Fortbewegung scheint ein wichtiger<br />
Faktor zu sein, wenn es darum geht, ein Raumgefühl unabhängig<br />
von der eigenen Position zu entwickeln. Deshalb können<br />
Kinder, die krabbeln oder mit der eigenen Fortbewegung in einem<br />
Laufstuhl Erfahrung haben, den Ort von Objekten bei der<br />
Aufgabe zur Objektpermanenz häufiger erinnern als gleichaltrige<br />
Kinder ohne solche Fortbewegungserfahrungen (Bertenthal et al.<br />
1994; Campos et al. 2000). Kinder, die sich aus eigener Kraft in<br />
Räumen umherbewegt haben, können <strong>im</strong> Vergleich zu anderen<br />
Kindern, denen solche Erfahrungen noch fehlen, auch räumliche<br />
Tiefe <strong>und</strong> abschüssige Stellen in den überquerten Oberflächen<br />
besser repräsentieren, was sich an Veränderungen ihrer Herzfrequenz<br />
bei der Annäherung an eine visuelle Klippe (▶ Exkurs 5.5)<br />
ablesen lässt.<br />
Die Gründe dafür, warum selbst herbeigeführte Fortbewegung<br />
die räumliche Codierung bei Kindern verbessert, dürften jedem<br />
vertraut sein, der selbst Auto fährt, aber auch schon einmal Beifahrer<br />
war. So wie das Selbstfahren die permanente Aktualisierung<br />
der Umgebungsinformation erfordert, so ergeht es dem Kind auch<br />
be<strong>im</strong> Krabbeln oder Laufen. Ist man dagegen nur Beifahrer, muss<br />
man die eigene Raumposition nicht permanent aktualisieren, was<br />
ebenso gilt, wenn man als Kind lediglich umhergetragen wird.<br />
Wie nach dieser Analyse zu erwarten ist, erweitert Selbstbewegung<br />
auch die räumliche Codierung bei älteren Kindern.<br />
Einen überzeugenden Beleg für diese Folgerung erbrachte eine<br />
Studie an Kindergartenkindern der Vorschulstufe, die in den<br />
Küchen ihres jeweiligen Zuhauses getestet wurden (Rieser et al.<br />
1994). Man bat einige der Vorschulkinder, stillzustehen <strong>und</strong> sich<br />
vorzustellen, wie sie von ihrem Platz <strong>im</strong> Unterrichtsz<strong>im</strong>mer zum<br />
Stuhl der Lehrerin gehen <strong>und</strong> sich dann mit dem Gesicht zur<br />
Klasse drehen. Nun bat man sie, von diesem <strong>im</strong>aginierten Ort<br />
aus dorthin zu zeigen, wo sich <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer diverse Gegenstände<br />
befanden – das Goldfischglas, die Tafel mit dem Alphabet,<br />
die Tür zur Garderobe <strong>und</strong> so weiter. Unter diesen Bedingungen<br />
zeigten die Fünfjährigen nur sehr ungenau die tatsächlichen<br />
Positionen an. Andere Kinder wurden bei dieser Untersuchung<br />
zusätzlich instruiert, durch die Küche zu gehen <strong>und</strong> sich umzudrehen,<br />
während sie sich vorstellten, zum Lehrerpult zu gehen<br />
<strong>und</strong> sich dann mit dem Gesicht zur Klasse zu wenden. Unter<br />
diesen Bedingungen zeigten die Kinder wesentlich genauer in die<br />
Richtung der vorgestellten Gegenstände <strong>im</strong> vorgestellten Klassenz<strong>im</strong>mer.<br />
Dieses Ergebnis beleuchtet ebenso wie die Bef<strong>und</strong>e<br />
bei Säuglingen die Vernetzung des Systems, das Eigenbewegungen<br />
hervorbringt, mit dem System, das mentale Repräsentationen<br />
des Raumes produziert (Adolph <strong>und</strong> Berger 2006).<br />
Eine weitere Erfahrung, die zur Entwicklung des räumlichen<br />
Vorstellens über das Kleinkindalter hinaus beiträgt, ist das Zusammenfügen<br />
von Puzzles. Kinder, die <strong>im</strong> Alter zwischen einem<br />
<strong>und</strong> vier Jahren häufiger puzzelten als Gleichaltrige, konnten mit<br />
viereinhalb Jahren die in . Abb. 7.6 gezeigte Aufgabe zur räumlichen<br />
Transformation besser lösen (Levine et al. 2012). Der Zusammenhang<br />
zwischen Puzzlespiel <strong>und</strong> anschließendem räumlichen<br />
Schlussfolgern ergab sich unabhängig vom Erziehungsstil<br />
der Eltern, von ihrem Einkommen oder auch der elterlichen Verwendung<br />
von räumlichen Bezeichnungen <strong>im</strong> Umgang mit ihren<br />
Kindern. Der Zusammenhang zwischen dem Zusammensetzen<br />
von Puzzles <strong>und</strong> dem räumlichen Schlussfolgern ergibt Sinn.<br />
Be<strong>im</strong> Zusammensetzen von Puzzles müssen die passenden Teile<br />
für die richtigen Positionen identifiziert <strong>und</strong> in die richtige Orientierung<br />
gedreht werden; wenn man die Teile mental rotieren<br />
kann, um für eine Lücke das passende Teil zu identifizieren, kann
260<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
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..<br />
Abb. 7.6 Zur Messung des frühen räumlichen Schließens. Diese Vorlagen<br />
verwendeten Levine et al. (2012) bei der Untersuchung zum Einfluss des<br />
Puzzlespieles auf die räumlichen Fähigkeiten von Vorschulkindern. Die Aufgabe<br />
bestand darin anzugeben, welche der vier oberen Figuren sich aus den<br />
beiden unten gezeigten Teilfiguren zusammensetzen lässt<br />
man das Puzzle leichter lösen. Die Übung des mentalen Rotierens<br />
führt vermutlich zum Aufbau von Fähigkeiten des räumlichen<br />
Schlussfolgerns, die in vielen späteren Situationen angewandt<br />
werden können.<br />
Die Entwicklung räumlicher Konzepte<br />
bei Blinden <strong>und</strong> Sehbehinderten<br />
Oft wird das räumliche Denken mit dem Sehen gleichgesetzt,<br />
<strong>und</strong> man n<strong>im</strong>mt an, dass wir aufgr<strong>und</strong> der räumlichen Anordnungen,<br />
die wir gesehen haben, räumlich denken könnten. Aber<br />
selbst in der frühen Kindheit kann bereits räumliches Denken<br />
aufgr<strong>und</strong> anderer Sinnesmodalitäten als dem Gesichtssinn entstehen.<br />
Bringt man drei Monate alte Babys in einen vollkommen<br />
dunklen Raum, in dem sie gar nichts sehen können, dann<br />
nutzen sie Geräusche, die von Objekten in der Nähe ausgehen,<br />
um diese Objekte zu orten <strong>und</strong> danach zu greifen (Keen <strong>und</strong><br />
Berthier 2004).<br />
Säuglinge können zwar unter anderem ihren Hörsinn benutzen,<br />
um räumliche Repräsentationen zu bilden, aber die visuellen<br />
Erfahrungen spielen in der frühen Kindheit eine wichtige Rolle<br />
für das räumliche Denken. Das belegen Fälle, in denen ein chirurgischer<br />
Eingriff das Sehvermögen sehbehinderter Menschen<br />
wiederhergestellt hatte, die blind geboren waren (Carlson et al.<br />
1986) oder durch Katarakte (Linsentrübungen) von frühester<br />
Kindheit an beeinträchtigt waren, weil die variierenden Lichtreize<br />
die Netzhaut nicht erreichten (Le Grand et al. 2001, 2003).<br />
Man operierte frühzeitig, durchschnittlich <strong>im</strong> vierten Lebensmonat,<br />
<strong>und</strong> testete die Raumcodierung erst neun bis 21 Jahre nach<br />
der Operation. Trotz dieser langen Seherfahrungen nach dem<br />
korrigierenden Eingriff konnten diese Menschen visuelle Informationen<br />
nicht so gut wie andere Menschen für die räumliche<br />
Repräsentation nutzen. Probleme zeigten sich insbesondere bei<br />
der Repräsentation von Gesichtern, <strong>und</strong> das sogar noch 20 Jahre<br />
nach der Operation (also nach 20 Jahren visueller Erfahrung).<br />
Der Mangel an Seherfahrung während weniger Monate <strong>im</strong> Säuglingsalter<br />
schränkte die weitere visuelle Entwicklung ein.<br />
Diese Bef<strong>und</strong>e bedeuten nicht, dass blind geborene Kinder<br />
Räumliches nicht repräsentieren können. Sie haben <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
ein erstaunlich gutes Raumgefühl. Bei Aufgaben, die eine<br />
Repräsentation sehr kleiner Raumausschnitte erfordern, sind<br />
blind geborene Kinder genauso gut wie sehende Kinder, denen<br />
man die Augen verb<strong>und</strong>en hat, beispielsweise wenn man ihnen<br />
be<strong>im</strong> Zeichnen zweier Kanten eines Dreiecks die Hand führt <strong>und</strong><br />
sie den dritten Schenkel des Dreiecks dann freihändig vervollständigen<br />
sollen (Thinus-Blanc <strong>und</strong> Gaunet 1997). Bei Aufgaben,<br />
die auf die Repräsentation größerer Raumausschnitte zurückgreifen,<br />
beispielsweise wenn man ein unbekanntes Z<strong>im</strong>mer erk<strong>und</strong>en<br />
muss, sind die räumlichen Repräsentationen von Blindgeborenen<br />
ebenfalls überraschend gut – fast so gut wie die Repräsentationen<br />
sehender Menschen, denen während der Erk<strong>und</strong>ungsphase die<br />
Augen verb<strong>und</strong>en wurden. Obwohl unsere Repräsentation größerer<br />
Raumausschnitte also von frühen visuellen Erfahrungen<br />
zu profitieren scheint, entwickeln viele blinde Menschen eine<br />
beeindruckende Raumorientierung, ohne die Welt jemals gesehen<br />
zu haben.<br />
..<br />
Blinde Jugendliche <strong>und</strong> Erwachsene, selbst wenn sie von Geburt an blind<br />
sind, besitzen meistens ein recht genaues Raumgefühl, mit dem sie sich<br />
geschickt in ihrer Umwelt bewegen können. (© Karin Lau/fotolia.com)<br />
Die Repräsentation des Raumes<br />
relativ zur äußeren Umwelt<br />
Wie bereits angeführt, können Babys schon mit sechs Monaten<br />
den Ort von Objekten, die vor ihren Augen versteckt werden,<br />
anhand von Orientierungspunkten codieren (Lew 2011). Damit<br />
so kleine Kinder einen Orientierungspunkt erfolgreich einsetzen<br />
können, muss es sich jedoch um den einzigen auffälligen Punkt
Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />
261 7<br />
in der Umgebung handeln, der sich zudem in der unmittelbaren<br />
Nähe des versteckten Objekts befinden sollte.<br />
Im Verlauf der Entwicklung steigt die Fähigkeit von Kindern,<br />
sich aus mehreren möglichen Bezugspunkten einen auszuwählen.<br />
In einer Untersuchung an zwölf Monate alten Kindern, die ein einzelnes<br />
gelbes Kissen, ein einzelnes grünes Kissen <strong>und</strong> eine große<br />
Anzahl blauer Kissen sahen, hatten diese kein Problem damit, ein<br />
Objekt zu finden, das unter dem gelben oder dem grünen Kissen<br />
versteckt war (Bushnell et al. 1995). Mit 22 Monaten, aber noch<br />
nicht mit 16 Monaten, verbesserten solche Orientierungspunkte die<br />
Fähigkeit der Kinder, auch Objekte zu orten, die nicht unmittelbar<br />
an diesem Orientierungspunkt versteckt wurden (Newcombe et al.<br />
1998). Mit etwa fünf Jahren können Kinder die Position eines Objekts<br />
auch relativ zu mehreren Bezugspunkten repräsentieren, beispielsweise<br />
wenn es sich auf halbem Weg zwischen einem Baum <strong>und</strong><br />
einer Straßenlaterne befindet (Newcombe <strong>und</strong> Huttenlocher 2006).<br />
Schwieriger für den Aufbau räumlicher Repräsentationen<br />
sind für Kinder ebenso wie für Erwachsene Situationen, in denen<br />
sie sich in einer Umgebung ohne besondere Orientierungspunkte<br />
bewegen oder in denen solche Bezugspunkte weit von<br />
der Zielposition entfernt sind. Um die Herausforderung solcher<br />
Aufgaben zu verstehen, stelle man sich vor, sich irgendwo in einem<br />
Wald abseits von Wegen wiederzufinden, ohne sich daran<br />
erinnern zu können, wie man dorthin gelangt ist. Fiele es Ihnen<br />
leicht, den Weg zurück zum Ausgangspunkt zu finden?<br />
Selbst Kleinkinder zeigen in einem gewissen Grad die erforderliche<br />
Navigationsfähigkeit, die <strong>im</strong>merhin gut genug ist, um die<br />
richtige allgemeine Richtung einzuschlagen (Loomis et al. 1993). In<br />
einem Exper<strong>im</strong>ent sahen Ein- <strong>und</strong> Zweijährige zuerst, wie ein kleines<br />
Spielzeug in einem langen rechteckigen Sandkasten versteckt wurde,<br />
<strong>und</strong> dann, wie sich ein Vorhang r<strong>und</strong> um den Sandkasten senkte <strong>und</strong><br />
das Spielzeug den Blicken entzog. Nun gingen die Kinder anderswohin,<br />
<strong>und</strong> danach bat man sie, das Spielzeug zu finden. Obwohl<br />
es keine Orientierungspunkte gab, hatten sie sich den Ort, an dem<br />
das Spielzeug versteckt war, gut genug gemerkt, um mit mehr als<br />
zufälliger Genauigkeit nach ihm zu suchen (Newcombe et al. 1998).<br />
Andererseits bleibt der Aufbau einer relativ präzisen Positionscodierung<br />
in Abwesenheit eindeutiger Orientierungspunkte<br />
auch für Menschen, die weit älter als zwei Jahre sind, eine schwierige<br />
Angelegenheit (Bremner et al. 1994). Sechs- <strong>und</strong> Siebenjährige<br />
können das nicht besonders gut (Overman et al. 1996), <strong>und</strong><br />
Erwachsene unterscheiden sich enorm in ihrer Fähigkeit, diesen<br />
Typ von Navigation zu bewältigen. Wenn Erwachsene beispielsweise<br />
die Aufgabe erhalten, um das Gelände eines ihnen fremden<br />
Universitätscampus herumzugehen <strong>und</strong> dann direkt zum Ausgangspunkt<br />
zurückzukehren, finden sich zwar einige ganz gut<br />
zurecht, aber viele wählen eine Route, die sie nicht einmal in die<br />
Nähe des tatsächlichen Startpunktes bringt (Cornell et al. 1996).<br />
Das Ausmaß, in dem Menschen räumliche Fähigkeiten entwickeln,<br />
ist stark dadurch beeinflusst, wie wichtig diese Fähigkeiten<br />
in der jeweiligen Kultur sind. Um diesen Zusammenhang<br />
nachzuweisen, verglich Kearins (1981) die räumlichen Fähigkeiten<br />
von Kindern der halbnomadischen Aborigines, die in der<br />
australischen Wüste aufwachsen, mit denen gleichaltriger Euro-<br />
Australier aus australischen Städten. In der Kultur der Aborigines<br />
sind räumliche Fähigkeiten entscheidend, weil ein Großteil des<br />
Lebens in dieser Kultur aus langen Märschen zwischen weit auseinanderliegenden<br />
Wasserlöchern besteht. Es muss nicht eigens<br />
erwähnt werden, dass sich die Aborigines dabei nicht auf Straßenschilder<br />
verlassen können; sie müssen sich auf ihre Raumorientierung<br />
verlassen, um das Wasser zu finden. In Übereinst<strong>im</strong>mung<br />
mit der Bedeutung räumlicher Fähigkeiten in ihrem<br />
täglichen Leben sind die Kinder der Aborigines den Stadtbewohnern<br />
bei der Gedächtnisleistung für Raumpositionen überlegen,<br />
<strong>und</strong> das selbst bei Brettspielen, die eher für die Stadtkinder einen<br />
vertrauten Kontext darstellen (Kearins 1981). In Einklang mit der<br />
allgemeinen Bedeutsamkeit des soziokulturellen Kontexts wirkt<br />
sich also die Art <strong>und</strong> Weise, in der Menschen räumliches Denken<br />
bei ihren täglichen Aktivitäten einsetzen, stark auf die Qualität<br />
ihres räumlichen Denkens aus.<br />
..<br />
Räumliche Orientierungsfähigkeiten sind in Kulturen, in denen sie<br />
überlebenswichtig sind, besonders gut entwickelt. (© Penny Tweedy/Panos<br />
Pictures)<br />
Zeit<br />
» Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti<br />
explicare vel<strong>im</strong>, nescio. (Was ist also die Zeit? Wenn mich<br />
niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem,<br />
der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht.) (Aurelius<br />
Augustinus, Confessiones XI, 14)<br />
Das Zitat zeigt, dass sich selbst die tiefgründigsten Denker – von<br />
Augustinus, der seine Confessiones <strong>im</strong> vierten nachchristlichen<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert schrieb, bis zu Albert Einstein, der seine Schriften<br />
<strong>im</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert verfasste – vom Wesen der Zeit vor ein Rätsel<br />
gestellt sahen. Und dennoch besitzen Säuglinge schon <strong>im</strong> ersten<br />
halben Lebensjahr ein rud<strong>im</strong>entäres Zeitgefühl, das es ihnen ermöglicht,<br />
sowohl die Aufeinanderfolge als auch die Dauer von<br />
Ereignissen wahrzunehmen (Friedman 2008).<br />
Das Erleben der Zeit<br />
Der vielleicht gr<strong>und</strong>legendste Aspekt des Zeitgefühls betrifft das<br />
Wissen um die zeitliche Abfolge, also zu wissen, was zuerst passierte,<br />
was als Nächstes geschah, <strong>und</strong> so weiter. Führt man sich<br />
vor Augen, wie verwirrend das Leben ohne ein solches gr<strong>und</strong>legendes<br />
Zeitgefühl wäre, so überrascht es nicht, dass Säuglinge die<br />
Reihenfolge, in der Ereignisse geschehen, schon zum frühesten<br />
Zeitpunkt repräsentieren, zu dem diese Fähigkeit effektiv mess-
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Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
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bar ist. In einer Untersuchung sahen drei Monate alte Kinder<br />
interessante Fotos zuerst zu ihrer Linken, dann zu ihrer Rechten,<br />
dann wieder zu ihrer Linken <strong>und</strong> so weiter. Innerhalb von<br />
20 s begannen sie zu der Seite hinzublicken, auf der das nächste<br />
Foto erscheinen würde, schon bevor es tatsächlich gezeigt wurde<br />
(Adler et al. 2008; Haith et al. 1993). Dieses Blickmuster ließ<br />
erkennen, dass die Kinder mit ihren drei Monaten die sich <strong>im</strong><br />
Zeitverlauf wiederholende Ereignisfolge entdeckten <strong>und</strong> diese<br />
Information dazu benutzten, Erwartungen darüber zu bilden, wo<br />
das nächste Foto erscheinen würde. Mit anderen exper<strong>im</strong>entellen<br />
Methoden ergaben sich dieselben Schlussfolgerungen: Vier<br />
Monate alte Kinder beispielsweise, die darauf habituierten, dass<br />
drei Gegenstände in gleichbleibender Reihenfolge hinunterfielen<br />
<strong>und</strong> auf eine Oberfläche prallten, dishabituierten, wenn sich<br />
die Reihenfolge, in der die Gegenstände hinunterfielen, änderte<br />
(Lewkowicz 2004).<br />
Säuglinge besitzen auch ein ungefähres Gefühl für die Dauer<br />
von Ereignissen. In einer Untersuchung sahen vier Monate alte<br />
Kinder Helligkeits- <strong>und</strong> Dunkelheitsphasen, die sich über acht<br />
Zyklen alle 5 s abwechselten, bis die Ereignisabfolge nach dem<br />
achten Durchgang abbrach <strong>und</strong> das Licht ausgeschaltet blieb. Innerhalb<br />
einer halben Sek<strong>und</strong>e nach dem Abbruch verlangsamte<br />
sich der Herzschlag der Kinder – ein Anzeichen für erhöhte Aufmerksamkeit.<br />
In diesem Fall ließ die Verlangsamung des Herzschlages<br />
vermuten, dass die Säuglinge ein ungefähres Gefühl für<br />
das 5-s-Intervall hatten, am Ende des Intervalls das Angehen des<br />
Lichtes erwarteten <strong>und</strong>, als das nicht geschah, mit einem plötzlichen<br />
Anstieg der Aufmerksamkeit reagierten (Colombo <strong>und</strong><br />
Richman 2002).<br />
Auch zwischen längerer <strong>und</strong> kürzerer Zeitdauer können<br />
Säuglinge unterscheiden. Ausschlaggebend für diese Diskr<strong>im</strong>inationsleistungen<br />
sind nicht die absoluten Unterschiede, sondern<br />
das Verhältnis der Zeiträume (Brannon et al. 2007). Kinder<br />
von sechs Monaten unterschieden beispielsweise zwischen<br />
Zeiträumen, wenn sie <strong>im</strong> Verhältnis 2:1 standen (1 versus 0,5 s<br />
oder 3 versus 1,5 s), nicht aber bei einem Verhältnis von 1,5:1<br />
(1,5 versus 1 s oder 4,5 versus 3 s). Im Verlauf des ersten Lebensjahres<br />
wächst die Präzision dieser Unterscheidungen. Anders als<br />
mit sechs Monaten unterscheiden Kinder mit zehn Monaten ein<br />
Verhältnis von Zeiträumen von 1,5:1 (allerdings kein Verhältnis<br />
von 1,33:1).<br />
Wie steht es mit längeren Zeitphasen – Wochen, Monaten<br />
oder Jahren? Ob Säuglinge ein Gefühl für so lange Zeiträume<br />
haben, ist unbekannt, aber Vorschulkinder wissen einiges darüber.<br />
Fragte man zum Beispiel Vierjährige, welches von zwei<br />
Ereignissen kürzer zurückliegt, wussten die meisten, dass ein<br />
best<strong>im</strong>mtes Ereignis, beispielsweise der Valentinstag, der vor<br />
einer Woche stattfand, noch nicht so lange zurücklag wie ein<br />
Ereignis, das bereits vor sieben Wochen stattfand, beispielsweise<br />
Weihnachten (Friedman 1991). Jedoch können Vorschulkinder<br />
solche Fragen nur dann richtig beantworten, wenn das kürzer<br />
zurückliegende Ereignis noch nicht lange her ist <strong>und</strong> viel näher<br />
am Jetzt liegt als das weiter zurückliegende. Die Fähigkeit,<br />
präziser zwischen den Zeitpunkten vergangener Ereignisse<br />
zu unterscheiden, entwickelt sich allmählich in der mittleren<br />
Kindheit (Friedman 2003). Wenn man Kinder beispielsweise<br />
drei Monate später nach dem Monat fragte, in dem man ihnen<br />
<strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer ein besonderes Ereignis dargeboten hatte,<br />
so lag der Prozentsatz richtiger Antworten für Fünfjährige bei<br />
20 %, für Siebenjährige bei 46 % <strong>und</strong> für Neunjährige bei 64 %<br />
(Friedman <strong>und</strong> Lyon 2005).<br />
In dieser Altersspanne wächst ebenso das Verständnis für den<br />
zeitlichen Ablauf zukünftiger Ereignisse (Friedman 2000, 2003).<br />
Vorschüler verwechseln häufig Vergangenheit <strong>und</strong> Zukunft. Eine<br />
Woche nach dem Valentinstag sagen beispielsweise Fünfjährige<br />
vorher, dass der nächste Valentinstag früher stattfinden wird als<br />
das nächste Erntedankfest oder das nächste Weihnachtsfest; <strong>und</strong><br />
sie sagen eine gleich lange Zeitspanne bis zum nächsten Mittagessen<br />
vorher – unabhängig davon, ob man sie kurz vor oder kurz<br />
nach dem Mittagessen testet. Im Unterschied dazu treffen Sechsjährige<br />
bei beiden Fragen in der Regel korrekte Vorhersagen.<br />
Diese Verbesserung des kindlichen Zeitgefühls für die Zukunft<br />
zwischen dem fünften <strong>und</strong> dem sechsten Lebensjahr könnte von<br />
den Erfahrungen der Fünfjährigen in den Vorschulgruppen beeinflusst<br />
sein, in denen die Abläufe von Schulhalbjahren, Ferien<br />
<strong>und</strong> Alltagsroutinen besonders <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong> stehen.<br />
Kinder erliegen ebenso wie Erwachsene best<strong>im</strong>mten Täuschungen<br />
hinsichtlich der Zeit, teilweise wegen der Rolle, die<br />
die Aufmerksamkeit für die Zeitwahrnehmung spielt. Wenn sich<br />
die Aufmerksamkeit von Achtjährigen auf das Vergehen der Zeit<br />
konzentriert (weil sie beispielsweise nach einem 2-min-Intervall<br />
eine Belohnung erwarten), dann erleben sie die Zeitdauer als<br />
länger, nicht aber, wenn sie <strong>im</strong> selben Zeitintervall keine Belohnung<br />
antizipieren. Sie erleben die Zeitdauer umgekehrt als<br />
kürzer, wenn sie sehr beschäftigt sind, als dann, wenn sie wenig<br />
zu tun haben (Zakay 1992, 1993). So hat die Redewendung, dass<br />
einem be<strong>im</strong> Warten die Zeit lang wird, ihre psychologische Berechtigung.<br />
Zeitliches Schlussfolgern<br />
In den mittleren Jahren ihrer Kindheit werden Kinder <strong>im</strong>mer<br />
besser darin, zeitliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Insbesondere<br />
können sie den Schluss ziehen, dass von zwei Ereignissen,<br />
die gleichzeitig anfingen, von denen aber das eine später endete<br />
als das andere, dasjenige Ereignis, das später endete, länger gedauert<br />
hat.<br />
Schon mit fünf Jahren gelingen Kindern solche Schlussfolgerungen<br />
über die Zeit, aber nur dann, wenn die Situation einfach<br />
<strong>und</strong> eindeutig (ohne ablenkende Alternativen) ist. Erzählt man<br />
ihnen, dass zwei Puppen zum gleichen Zeitpunkt eingeschlafen<br />
sind <strong>und</strong> dass die eine Puppe vor der anderen aufgewacht ist,<br />
kommen Fünfjährige zu dem korrekten Schluss, dass die Puppe,<br />
die später noch schlief, als die andere schon wach war, auch länger<br />
schlief (Levin 1982). Wenn aber Fünfjährige zwei Spielzeugzüge<br />
auf parallelen Geleisen in dieselbe Richtung fahren sehen<br />
<strong>und</strong> der eine Zug hält an einer weiter entfernten Stelle als der<br />
andere, sagen sie in der Regel, dass der Zug, der weiter hinten erst<br />
angehalten hat, auch längere Zeit gefahren ist, unabhängig davon,<br />
wann die Züge losfuhren <strong>und</strong> wann sie anhielten (Acredolo <strong>und</strong><br />
Schmid 1981). Das Problem liegt darin, dass die Aufmerksamkeit<br />
der fünfjährigen Kinder von dem einen Zug in Anspruch genommen<br />
ist, der weiter hinten angehalten hat, was sie dazu bringt,<br />
sich auf die räumliche Position der Züge zu konzentrieren statt<br />
auf ihre relative Start- <strong>und</strong> Stoppzeiten. Dies erinnert an Piagets
Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />
263 7<br />
Konzept der Zentrierung (Piaget 1974). Seine Beobachtungen<br />
der Leistungen bei dieser Aufgabe führten ihn zu der Schlussfolgerung,<br />
dass sich Kinder in der präoperationalen Phase oft auf<br />
eine einzelne D<strong>im</strong>ension konzentrieren <strong>und</strong> andere, relevantere<br />
D<strong>im</strong>ensionen nicht beachten.<br />
Zahl<br />
Der Konzept der Zahl ist ebenso wie das des Raumes, der Zeit<br />
<strong>und</strong> der Kausalität eine zentrale D<strong>im</strong>ension der menschlichen<br />
Erfahrung. Man kann sich kaum vorstellen, wie die Welt erscheinen<br />
würde, wenn wir nicht eine zumindest grobe Vorstellung<br />
von Anzahlen hätten; wir wüssten zum Beispiel nicht, wie viele<br />
Finger wir besitzen. Wie zu erwarten, debattieren Nativisten <strong>und</strong><br />
Empiristen auch über das Konzept der Zahl. Dabei behaupten<br />
die Nativisten, dass Kinder mit einem Kernkonzept der Zahl zur<br />
Welt kommen <strong>und</strong> über spezielle angeborene Mechanismen für<br />
die Repräsentation <strong>und</strong> das Erlernen der relativen Häufigkeiten<br />
in Objektmengen, des Zählens sowie einfacher Addition <strong>und</strong><br />
Subtraktion verfügen (Wynn 2000). Auch verweisen sie auf best<strong>im</strong>mte<br />
Gehirnregionen, insbesondere die intraparietale Furche,<br />
die be<strong>im</strong> Repräsentieren numerischer Größen stark beteiligt sind<br />
(Ansari 2008; Nieder <strong>und</strong> Dehaene 2009), <strong>und</strong> auf spezifische<br />
Neurone, die auf eine best<strong>im</strong>mte Zahl von Objekten (z. B. fünf<br />
Objekte) besonders stark ansprechen (Nieder 2012). Im Gegensatz<br />
dazu behaupten die Empiristen, dass Kinder ihr Zahlkonzept<br />
durch dieselben Lernmechanismen <strong>und</strong> Arten von Erfahrung<br />
erlernen wie bei anderen Konzepten <strong>und</strong> dass die numerische<br />
Kompetenz von Säuglingen bei Weitem nicht so hoch ist, wie<br />
die Nativisten annehmen (Clearfield 2006; Mix et al. 2002). Sie<br />
verweisen zudem auf die großen Unterschiede <strong>im</strong> numerischen<br />
Verständnis von Kindern unterschiedlicher Kulturen <strong>und</strong> belegen<br />
den Einfluss von Anleitung, Sprache <strong>und</strong> kulturellen Werten<br />
auf diese Unterschiede (Geary 2006; Miller et al. 1995). Im folgenden<br />
Abschnitt erläutern wir neuere Bef<strong>und</strong>e zur Entwicklung<br />
des Konzepts der Zahl <strong>und</strong> auch die jeweiligen Sichtweisen der<br />
Nativisten <strong>und</strong> der Empiristen.<br />
Numerische Gleichheit<br />
Das wohl gr<strong>und</strong>legendste numerische Verständnis betrifft die<br />
numerische Gleichheit, die Erkenntnis, dass alle Mengen, die<br />
N Objekte enthalten, ein gemeinsames Merkmal besitzen. Wenn<br />
Kinder zum Beispiel erkennen, dass zwei H<strong>und</strong>e, zwei Tassen,<br />
zwei Bälle <strong>und</strong> zwei Schuhe alle die Eigenschaft der „Zweiheit“<br />
teilen, besitzen sie ein elementares Verständnis der numerischen<br />
Gleichheit.<br />
Numerische Gleichheit – Die Erkenntnis, dass alle Mengen mit gleicher Anzahl<br />
N an Elementen etwas gemeinsam haben.<br />
Schon <strong>im</strong> Alter von fünf Monaten scheinen Kinder eine solche<br />
Ahnung der numerischen Gleichheit zu besitzen, zumindest was<br />
Mengen von bis zu drei Objekten betrifft. Wir wissen das aus<br />
Untersuchungen mit dem bekannten Habituationsparadigma, in<br />
denen Säuglinge eine Folge von Bildern sahen, die alle dieselbe<br />
Anzahl von Objekten enthielten, welche sich jedoch auf andere<br />
Weise von Bild zu Bild unterschieden. Zum Beispiel wurden den<br />
Kindern drei senkrecht angeordnete Sterne gezeigt, dann drei<br />
waagerecht angeordnete Kreise, dann drei Rauten in diagonaler<br />
Anordnung <strong>und</strong> so weiter. Nach eingetretener Habituation auf<br />
die Bilder mit drei Objekten kam ein Bild mit einer anderen Anzahl<br />
von Objekten (z. B. zwei Quadrate). Diese Untersuchungen<br />
lassen erkennen, dass Kinder mit fünf Monaten <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
ein Objekt von zwei Objekten <strong>und</strong> zwei Objekte von drei Objekten<br />
unterscheiden können (van Loosbroek <strong>und</strong> Smitsman 1990).<br />
Diese Tendenz ist jedoch schwach: Die Unterscheidungen der<br />
Kinder beruhen häufig auf der Gesamtfläche, welche die Objekte<br />
einnehmen, oder auf der Länge ihrer Konturen statt auf ihrer<br />
Anzahl, wenn man beide Parameter variiert (Clearfield <strong>und</strong> Mix<br />
1999; Feigenson et al. 2002a). Die Tatsache jedoch, dass Kinder<br />
auch kleine Anzahlen von Ereignissen unterscheiden, bei denen<br />
keine Flächen <strong>und</strong> Konturen <strong>im</strong> Spiel sind, weist darauf hin, dass<br />
sie unabhängig von Fläche <strong>und</strong> Kontur ein Zahlgefühl besitzen.<br />
Dieses elementare Zahlenverstehen wies Wynn (1995) nach,<br />
indem er sechs Monate alten Babys eine Puppe zeigte, die wiederholt<br />
genau zwe<strong>im</strong>al hochsprang. Nach erfolgter Habituation<br />
sahen die Kinder, wie die Puppe entweder einmal oder dre<strong>im</strong>al<br />
hochsprang. Die Blickdauer der Kinder erhöhte sich, woraus man<br />
schließen kann, dass die Halbjährigen den Unterschied zwischen<br />
zwei Sprüngen <strong>und</strong> einem oder drei Sprüngen erkannten.<br />
Wie bei der Unterscheidung von Zeitspannen hängt die Diskr<strong>im</strong>inationsfähigkeit<br />
von Säuglingen zwischen numerisch ungleichen<br />
Mengen vom Verhältnis der Elementzahlen dieser Mengen<br />
ab. Sechs Monate alte Kinder können zum Beispiel Mengen aus<br />
Punkten oder Tönen unterscheiden, deren Elementzahlen in einem<br />
Verhältnis von 2:1 stehen (z. B. 16 versus 8 Punkte oder Töne),<br />
nicht aber zwischen Mengen mit einem Verhältnis von 1,5:1 (z. B.<br />
12 versus 8 Elemente) (Brannon 2002; Lipton <strong>und</strong> Spelke 2003).<br />
Wie die Unterscheidungen zwischen Zeitspannen werden auch die<br />
Unterscheidungen von numerisch ungleichen Mengen mit wachsendem<br />
Alter präziser; sechs Monate alte Kinder können nicht<br />
zwischen Mengenverhältnissen von 1,5:1 unterscheiden, neun<br />
Monate alte Kinder können das (Wood <strong>und</strong> Spelke 2005). Be<strong>im</strong><br />
Unterscheiden zwischen unterschiedlicher Anzahl von Objekten<br />
spielt jedoch auch die absolute Anzahl der Elemente eine Rolle; bei<br />
einigen Aufgaben unterscheiden neun <strong>und</strong> elf Monate alte Kinder<br />
zwischen einem <strong>und</strong> zwei Objekten <strong>und</strong> zwischen zwei <strong>und</strong> drei<br />
Objekten, nicht aber zwischen zwei <strong>und</strong> vier oder zwischen drei<br />
<strong>und</strong> sechs Objekten (Feigenson et al. 2002b).<br />
Rechnen in der frühen Kindheit<br />
Einige Experten des kindlichen Zahlverstehens kamen zu dem<br />
Schluss, dass Kleinkinder bereits über Gr<strong>und</strong>kenntnisse <strong>im</strong><br />
Rechnen verfügen (Gelman <strong>und</strong> Williams 1998; Wynn 1992).<br />
Ihre Schlussfolgerungen beruhen auf Belegen der folgenden Art<br />
(. Abb. 7.7): Ein fünf Monate altes Kind sieht eine Puppe auf einer<br />
Bühne. Ein Schirm fährt hoch, der die Puppe verbirgt. Dann sieht<br />
das Kind, wie eine Hand eine zweite Puppe hinter den Schirm<br />
stellt <strong>und</strong> sich ohne die Puppe wieder zurückzieht, sodass es den<br />
Anschein hat, als habe sie die zweite Puppe bei der ersten Puppe<br />
auf der Bühne gelassen. Schließlich bewegt sich der Sichtschirm<br />
wieder nach unten <strong>und</strong> gibt den Blick entweder auf eine oder auf<br />
zwei Puppen frei. Die meisten Kinder in diesem Alter schauen
264<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
1. Objekt erscheint<br />
Reihenfolge der Ereignisse: 1 + 1 = 1 oder 2<br />
2. Wandschirm erscheint 3. 2. Objekt erscheint 4. Leere Hand verschwindet<br />
5<br />
6<br />
7<br />
Dann entweder (a) mögliches Ereignis<br />
oder (b) unmögliches Ereignis<br />
5. Wandschirm fällt.<br />
6. 2 Objekte vorhanden 7. Wandschirm fällt 8. 1 Objekt vorhanden<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
..<br />
Abb. 7.7 Das Verständnis der Addition bei Kleinkindern. Bei dieser Aufgabe, die Wynn (1992) einsetzte, um zu untersuchen, ob Säuglinge ein elementares<br />
Verständnis der Addition besitzen, sahen fünf Monate alte Kinder, (1) wie eine Puppe auf die Bühne gestellt wurde. (2) Ein Wandschirm verdeckte die Sicht auf<br />
die Puppe. (3) Eine Hand, die eine weitere Puppe hielt, bewegte sich auf die Bühne <strong>und</strong> hinter den Schirm, (4) <strong>und</strong> die leere Hand bewegte sich wieder zurück.<br />
Dann fiel der Wandschirm <strong>und</strong> ließ entweder das mögliche Ereignis mit zwei Puppen auf der Bühne (5 <strong>und</strong> 6) oder das anscheinend unmögliche Ereignis mit<br />
einer Puppe auf der Bühne (7 <strong>und</strong> 8) erkennen. Kinder unter sechs Monaten blickten länger auf das anscheinend unmögliche Ereignis, was ihre Überraschung<br />
be<strong>im</strong> Anblick nur einer Puppe erkennen lässt<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
länger hin, wenn nur ein Objekt erscheint <strong>und</strong> nicht zwei Objekte;<br />
sie erwarteten offenbar, dass ein Objekt plus ein weiteres<br />
Objekt zwei Objekte ergeben sollte, sodass sie Überraschung<br />
zeigten, wenn sie am Ende nur eine Puppe sahen. Ähnliche Ergebnisse<br />
erhält man für die Subtraktion: Fünf Monate alte Kinder<br />
schauen länger hin, wenn von zwei Objekten eines weggenommen<br />
wurde <strong>und</strong> <strong>im</strong>mer noch zwei Objekte vorhanden sind, als<br />
wenn nach dem Wegnehmen eines Objekts nur noch eines übrig<br />
bleibt (Wynn 1992).<br />
Aber zeigen diese Ergebnisse wirklich, dass Kleinkinder Rechenoperationen<br />
verstehen? Die entsprechende Behauptung hat<br />
heftige Diskussionen <strong>und</strong> Kontroversen ausgelöst. Das liegt zum<br />
Teil daran, dass Versuche, die Originalergebnisse zu replizieren,<br />
nur zum Teil Erfolg hatten: Manche Untersuchungen konnten die<br />
Bef<strong>und</strong>e replizieren (S<strong>im</strong>on et al. 1995), andere nicht (Wakeley<br />
et al. 2000). Ein allgemeiner Gr<strong>und</strong> für die Kontroverse hat damit<br />
zu tun, dass die Kinder wie schon bei den <strong>im</strong> vorangegangenen<br />
Abschnitt beschriebenen Aufgaben nur in solchen Situationen<br />
arithmetische Kompetenzen erkennen ließen, in denen die Gesamtzahl<br />
der Objekte max<strong>im</strong>al 3 betrug. Ein ähnliches Verständnis<br />
der Effekte, wenn man zwei Objekte zu zwei weiteren Objekten<br />
hinzuaddiert, zeigen Kinder erst in weit höherem Alter – mit<br />
drei bis fünf Jahren (Huttenlocher et al. 1994; Starkey 1992).<br />
Die Tatsache, dass die Kompetenz kleiner Kinder auf Mengen<br />
von drei oder weniger Objekten begrenzt bleibt, führte eine<br />
zweite Gruppe von Experten (Clearfield <strong>und</strong> Mix 1999; Cohen<br />
<strong>und</strong> Marks 2002; S<strong>im</strong>on 1997) zu dem Schluss, dass die Reaktionen<br />
der Kinder auf solche Rechentests nicht auf ihrem Verstehen<br />
arithmetischer Operationen beruhen, sondern auf Wahrnehmungsprozessen.<br />
Zum Beispiel nehmen Haith <strong>und</strong> Benson<br />
(1998) an, dass Kinder auf einen Wahrnehmungsprozess zurückgreifen,<br />
über den auch Erwachsene verfügen, <strong>und</strong> der be<strong>im</strong> Anblick<br />
von einem, zwei oder drei Objekten sofort <strong>und</strong> unmittelbar<br />
erkennen lässt, um wie viele Objekte es sich handelt: das Auf-einen-Blick-Erfassen.<br />
(Im Englischen wurde für diesen Prozess der<br />
Ausdruck subitizing geprägt.) Nach dieser Interpretation bilden<br />
Kinder eine bildliche Repräsentation der zu Beginn vorhandenen<br />
Objekte sowie derjenigen Objekte, die später hinzugefügt oder<br />
weggenommen werden, <strong>und</strong> sie zeigen längeres Blickverhalten,<br />
wenn die Objekte, die sie zum Schluss sehen, mit ihrer mentalen<br />
Repräsentation nicht übereinst<strong>im</strong>men. Dieser Interpretation<br />
entspricht die Beobachtung bei fünf Monate alten Kindern unter<br />
Bedingungen, in denen die Schwierigkeit des Aufbaus eines<br />
mentalen Bildes erhöht wurde – etwa wenn sie eine Hand sehen,<br />
die ein Objekt hinter dem hochgezogenen Schirm abstellt <strong>und</strong><br />
dann ein weiteres, wobei aber <strong>im</strong> Unterschied zum üblichen Verfahren<br />
bis zum Ende kein Hinweis auf den Verbleib der Objekte<br />
zu sehen ist. Unter diesen erschwerten Bedingungen zeigen fünf<br />
Monate alte Kinder keine Überraschung, wenn am Ende 1 + 1 = 1<br />
ist (Uller et al. 1999). Demnach zeigen Kinder unter best<strong>im</strong>mten<br />
Umständen numerische Kompetenzen bei kleinen Objektmengen,<br />
aber diese Kompetenz könnte auf der Fähigkeit beruhen,<br />
mentale Bilder zu erzeugen, <strong>und</strong> weniger mit einem Verständnis<br />
für Arithmetik zusammenhängen.
Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />
265 7<br />
a<br />
b<br />
Fehlerhaftes Zählen<br />
Gesagte Zahl:<br />
Gezeigt auf:<br />
Objekte:<br />
Unübliches, aber korrektes Zählen<br />
Gesagte Zahl:<br />
Gezeigt auf:<br />
Objekte:<br />
Zählen<br />
Mit drei Jahren erwerben die meisten Kinder die Fähigkeit zu zählen;<br />
das ermöglicht es ihnen, die Anzahl von Objekten in Mengen,<br />
die mehr als drei Elemente enthalten, präzise anzugeben, sofern<br />
die Objekte sichtbar sind. Die meisten Dreijährigen können fehlerfrei<br />
bis zu zehn Objekte abzählen. Zusätzlich zu Zählverfahren<br />
lernen Vorschulkinder auch die Gr<strong>und</strong>prinzipien, die dem Zählen<br />
zugr<strong>und</strong>e liegen. Sie werden <strong>im</strong> Einzelnen mit den folgenden fünf<br />
Prinzipien des Zählens vertraut (Gelman <strong>und</strong> Gallistel 1978):<br />
1. Eins-zu-eins-Korrespondenz: Jedes Objekt soll mit genau einem<br />
Zahlwort bezeichnet werden.<br />
2. Stabile Reihenfolge: Die Zahlen sollen <strong>im</strong>mer in derselben<br />
Reihenfolge aufgesagt werden.<br />
3. Kardinalzahlprinzip: Die Anzahl der Objekte in der Menge<br />
entspricht der letzten genannten Zahl.<br />
4. Irrelevanz der Reihenfolge: Die Objekte können von links<br />
nach rechts, von rechts nach links oder in jeder beliebigen<br />
anderen Reihenfolge abgezählt werden.<br />
5. Abstraktion: Jede (endliche) Menge diskreter Objekte oder<br />
Ereignisse kann gezählt werden.<br />
Viele Belege dafür, dass Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter diese Prinzipien<br />
verstehen, ergeben sich aus ihrer Beurteilung von zwei Arten von<br />
Zählverfahren: falsche Zählweisen <strong>und</strong> unübliche, aber korrekte<br />
Zählweisen. Wenn Vier- oder Fünfjährige sehen, wie eine Puppe<br />
in einer Weise zählt, die das Prinzip der Eins-zu-eins-Korrespondenz<br />
verletzt, zum Beispiel, indem dasselbe Objekt mit zwei<br />
Zahlwörtern bezeichnet wird (. Abb. 7.8a), sagen sie einheitlich,<br />
dass falsch gezählt wurde (Frye et al. 1989; Gelman et al. 1986).<br />
Sehen sie dagegen, wie die Puppe zwar auf ungewohnte Weise<br />
zählt, dabei aber keines der Prinzipien verletzt, zum Beispiel, indem<br />
sie in der Mitte einer Reihe mit dem Zählen beginnt, aber<br />
dennoch alle Objekte mitzählt (. Abb. 7.8b), beurteilen sie den<br />
Zählvorgang auch dann als korrekt, wenn sie selbst, wie sie sagen,<br />
anders zählen würden. Die Fähigkeit zu erkennen, dass Verfahren,<br />
die sie selbst nicht anwenden würden, dennoch korrekt sind,<br />
zeigt, dass sie die Prinzipien verstehen, die korrektes Zählen von<br />
fehlerhaftem Zählen unterscheiden.<br />
Überall auf der Welt lernen Kinder Zahlwörter, aber die<br />
Geschwindigkeit der betreffenden Lernprozesse hängt von dem<br />
1<br />
2 3 4<br />
3 1 2<br />
..<br />
Abb. 7.8 Zählweisen. Zählweisen, wie sie bei Frye et al. (1989) sowie Gelman<br />
et al. (1986) verwendet wurden. a Ein fehlerhaftes Zählverfahren. b Ein<br />
unübliches, aber korrektes Zählverfahren<br />
Höchste gezählte Zahl<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
0<br />
3<br />
China<br />
USA<br />
Alter (Jahre)<br />
..<br />
Abb. 7.9 Wie weit Kinder zählen können. Mit drei Jahren können Kinder in<br />
China <strong>und</strong> in den USA etwa gleich weit zählen, aber mit vier <strong>und</strong> fünf Jahren<br />
können chinesische Kinder viel weiter zählen als ihre amerikanischen Altersgenossen.<br />
Ein Gr<strong>und</strong> für die schnellere Entwicklung des Zählvermögens bei<br />
chinesischen Kindern dürfte darin liegen, dass die chinesischen Zahlwörter<br />
<strong>im</strong> Zehnerbereich einem einheitlichen, leicht erkennbaren Muster folgen,<br />
während die englischen Zahlwörter zwischen 10 <strong>und</strong> 20 praktisch einzeln<br />
gelernt werden müssen. (Daten aus Miller et al. 1995)<br />
System der Zahlwörter in ihrer Kultur ab. Zum Beispiel bemerkten<br />
Miller et al. (1995), dass die meisten Fünfjährigen in China<br />
bis 100 oder weiter zählen können, während die meisten ihrer<br />
Altersgenossen in den USA nicht annähernd so weit zählen können.<br />
Die höheren Zählleistungen der chinesischen Kinder dürften<br />
zum Teil daran liegen, dass ihr Zahlensystem regelmäßiger<br />
ist, insbesondere zwischen 10 <strong>und</strong> 20. Im Chinesischen wie <strong>im</strong><br />
Englischen werden die Zahlen über 20 nach einer Regel gebildet:<br />
zuerst der Name der Zehnerstelle, dann der Name der Einerstelle<br />
(also z. B. twenty-one, twenty-two). Im Deutschen ist es übrigens<br />
gerade andersherum; wir nennen – auch anders als <strong>im</strong> Französischen<br />
oder Italienischen – bei Zahlen über 20 zuerst die Einer-<br />
<strong>und</strong> dann die Zehnerstelle („ein-<strong>und</strong>-zwanzig“, „zwei-<strong>und</strong>zwanzig“),<br />
was nicht mit der Schreibweise der Zahlzeichen von<br />
links nach rechts korrespondiert <strong>und</strong> zu Zahlendrehern führen<br />
kann. Im Chinesischen folgen jedoch, anders als <strong>im</strong> Englischen,<br />
auch die Zahlen zwischen 11 <strong>und</strong> 19 der genannten Regel (also in<br />
der Art von „zehn-eins“, „zehn-zwei“ etc.). Im Englischen gibt es<br />
keine Regel, nach der sich alle Zahlen zwischen 11 <strong>und</strong> 19 bilden<br />
lassen, sodass man praktisch jede Zahl einzeln lernen muss. In<br />
diesem Zahlenbereich st<strong>im</strong>men das Deutsche <strong>und</strong> das Englische<br />
überein, sowohl hinsichtlich der Sonderwörter für 11 <strong>und</strong> 12 als<br />
auch hinsichtlich des weiteren Wortbildungsprinzips der Zahlen<br />
von 13 bis 19 (z. B. „vier-zehn“, four-teen).<br />
. Abbildung 7.9 illustriert den offenk<strong>und</strong>igen Einfluss dieses<br />
kulturellen Unterschieds der Zahlensysteme. Dreijährige zählen<br />
in den USA <strong>und</strong> in China vergleichbar weit – beide können<br />
von 1 bis 10 zählen, deren Zahlnamen weder in der englischen<br />
noch in der chinesischen Sprache irgendeiner ersichtlichen Regel<br />
folgen. Chinesische Vierjährige lernen dann jedoch schnell die<br />
Zehnerzahlen <strong>und</strong> die folgenden Zehnerschritte, während die<br />
4<br />
5
266<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
1<br />
Habituationsphase<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
a<br />
Kongruente Bedingung<br />
Testphase<br />
Inkongruente Bedingung<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
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18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
b<br />
..<br />
Abb. 7.10 Die allgemeine Repräsentation von Größe bei Säuglingen. Um zu prüfen, ob Säuglinge über ein allgemeines Gefühl für Größe verfügen, zeigten<br />
Lourenco <strong>und</strong> Longo (2010) ihnen Bildpaare (a), bei denen die Dekorationsmuster mit einer quantitativen Größe verknüpft waren – hier das Muster weißer<br />
Streifen auf schwarzem Gr<strong>und</strong> mit der größeren Länge <strong>und</strong> Breite von Objekten. b Nach der Habituationsphase sahen die Kinder das Muster weißer Streifen<br />
auf schwarzem Gr<strong>und</strong> nun entweder bei der größeren Zahl von Objekten (kongruente Bedingung) oder aber bei der geringeren Zahl von Objekten (inkongruente<br />
Bedingung), wobei statt der Länge <strong>und</strong> Breite als Größend<strong>im</strong>ension die Zahl ausschlaggebend war. Bei den inkongruenten Bildpaaren schauten<br />
die Kinder länger hin <strong>und</strong> ließen damit ihre Erwartung erkennen, dass das Muster, das bei der Habituierung mit der größeren Quantität in einer D<strong>im</strong>ension<br />
verb<strong>und</strong>en war, auch be<strong>im</strong> Test weiterhin mit der größeren Quantität in einer anderen D<strong>im</strong>ension einhergehen sollte. Dabei ergab sich der gleiche Bef<strong>und</strong> bei<br />
wechselnden Kombinationen der D<strong>im</strong>ensionen Zahl, räumlicher Ausdehnung oder Zeit während der Habituations- bzw. Testphase<br />
Gleichaltrigen in den USA mit den Zehnerzahlen noch längere<br />
Zeit Schwierigkeiten haben. Der Unterschied <strong>im</strong> Sprachsystem<br />
ist aber nicht der einzige Gr<strong>und</strong>, warum das Zählvermögen amerikanischer<br />
Kinder hinter dem der chinesischen Kinder zurückbleibt.<br />
Die chinesische Kultur legt viel mehr Wert auf mathematische<br />
Fertigkeiten als die US-amerikanische, <strong>und</strong> chinesische<br />
Vorschulkinder sind demzufolge <strong>im</strong> allgemeinen Umgang mit<br />
Zahlen fortgeschrittener als ihre amerikanischen Altersgenossen,<br />
sowohl was das Rechnen als auch was das Zahlenstrahlschätzen<br />
anbetrifft (<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Mu 2008). Gleichwohl scheint die größere<br />
Einfachheit des chinesischen Zahlwörtersystems <strong>im</strong> Bereich der<br />
Zehnerzahlen dazu beizutragen, dass Kinder das Zählen früher<br />
beherrschen.<br />
Die Beziehungen zwischen den Konzepten<br />
von Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl<br />
Piaget (1941/1994) ging davon aus, dass Säuglinge nur über einen<br />
allgemeinen, <strong>und</strong>ifferenzierten Begriff von Größe verfügen<br />
<strong>und</strong> noch keine spezifischen Konzepte von Raum, Zahl <strong>und</strong> Zeit<br />
entwickelt haben. Er nahm an, dass sie zwar wissen, wenn etwas<br />
groß ist, aber das, was größere Ausdehnung, größere Zahl <strong>und</strong><br />
größere Zeitdauer ausmacht, in ihrem Konzept von Größe oder<br />
Menge nicht unterscheiden. Wie die spätere Forschung gezeigt<br />
hat, unterscheiden Säuglinge durchaus zwischen Ausdehnung,<br />
Zahl <strong>und</strong> Zeit. Wenn man ihnen wiederholt Anordnungen aus<br />
gleich vielen Objekten zeigt, dann aber die Anzahl der Objekte<br />
ändert, dishabituieren die Kinder, auch wenn die Darbietungszeit<br />
<strong>und</strong> die räumliche Ausdehnung der Objekte unverändert bleibt<br />
(Xu <strong>und</strong> Arriaga 2007; Xu <strong>und</strong> Spelke 2000).<br />
Die Tatsache, dass die Säuglinge bereits über spezifische<br />
Raum-, Zeit- <strong>und</strong> Zahlkonzepte verfügen, bedeutet allerdings<br />
nicht, dass sie kein allgemeines <strong>und</strong>ifferenziertes Größen- oder<br />
Mengenkonzept hätten, wie es Piaget angenommen hat. Tatsächlich<br />
fanden Lourenco <strong>und</strong> Longo (2010), dass neun Monate<br />
alte Säuglinge ein allgemeines Konzept von Größe in Bezug auf<br />
Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl zeigen. Die Kinder wurde bei dieser Untersuchung<br />
auf Dekorationsmuster bei zwei unterschiedlichen<br />
Objektgrößen habituiert (. Abb. 7.10a), wobei jedes Dekorationsmuster<br />
(z. B. schwarz mit weißen Streifen) stets bei dem kleineren<br />
bzw. größeren Objekt auftrat (größere Länge <strong>und</strong> Breite<br />
als D<strong>im</strong>ension der räumlichen Ausdehnung). Anschließend<br />
wurden Objekte gezeigt, bei denen die Beziehung zwischen Dekorationsmuster<br />
<strong>und</strong> relativer Objektgröße in einer anderen D<strong>im</strong>ension<br />
übernommen oder aber geändert wurde (. Abb. 7.10b).<br />
Beispielsweise konnten Kinder, die auf einen Zusammenhang<br />
zwischen dem Muster aus weißen Streifen auf schwarzem Gr<strong>und</strong><br />
<strong>und</strong> räumlicher Größe des Objekts habituiert hatten, anschließend<br />
dieses Muster bei einer relativ viele Objekte umfassenden<br />
Anordnung (kongruente Bedingung) oder aber bei einer Anordnung<br />
von weniger Objekten (inkongruente Bedingung) sehen.<br />
Laurenco <strong>und</strong> Longo stellten fest, dass die Säuglinge dishabituierten,<br />
wenn das Dekorationsmuster, das zuvor mit dem größeren<br />
St<strong>im</strong>ulus assoziiert gewesen war, nun mit dem in der neuen<br />
D<strong>im</strong>ension kleineren St<strong>im</strong>ulus einherging; allerdings trat keine<br />
Dishabituierung ein, solange das Muster in Verbindung mit dem<br />
größeren St<strong>im</strong>ulus in der neuen D<strong>im</strong>ension auftrat. Ähnliche<br />
Bef<strong>und</strong>e ergaben sich unabhängig davon, ob die zuerst habituierte<br />
D<strong>im</strong>ension die räumliche Ausdehnung, die Zahl oder die<br />
Zeit betraf, <strong>und</strong> zu welcher der drei D<strong>im</strong>ensionen anschließend<br />
gewechselt wurde.
Zusammenfassung<br />
267 7<br />
Andere Studien führten zum gleichen Schluss (de Hevia <strong>und</strong><br />
Spelke 2010; Srinivasan <strong>und</strong> Carey 2010). Beispielsweise müssen<br />
bei solchen Diskr<strong>im</strong>inierungsaufgaben die relativen Größen der<br />
St<strong>im</strong>uli ein best<strong>im</strong>mtes Verhältnis aufweisen, damit Kinder eines<br />
best<strong>im</strong>mten Alters sie unterscheiden können – <strong>und</strong> das gilt unabhängig<br />
davon, ob Raum, Zeit oder Zahl jeweils als Größend<strong>im</strong>ension<br />
verglichen wird (Brannon et al. 2006, 2007). Außerdem<br />
sind überlappende Gehirnbereiche der intraparietalen Furche bei<br />
der Repräsentation aller drei D<strong>im</strong>ensionen beteiligt (Dehaene<br />
<strong>und</strong> Brannon 2011). Offenbar haben Säuglinge beides, ein allgemeines<br />
Konzept von Größe, wie es Piaget vermutet hat, <strong>und</strong><br />
zusätzlich spezifische Konzepte von Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl, von<br />
denen Piaget angenommen hat, dass sie Säuglingen noch fehlen.<br />
In Kürze | |<br />
Das Gr<strong>und</strong>verständnis für Kausalität tritt extrem früh in der<br />
Entwicklung auf. In ihrem ersten Lebensjahr unterscheiden<br />
Kinder zwischen physikalischen Ursachen, bei denen Bewegungen<br />
durch direkten Kontakt entstehen, <strong>und</strong> psychischen<br />
Ursachen, bei denen Handlungen durch Aufforderung,<br />
psychologische Bedürfnisse, Überzeugungen <strong>und</strong> Wünsche<br />
entstehen. Im Verlauf der Vor- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schulzeit werden<br />
Kinder zunehmend versierter <strong>im</strong> Erschließen von Kausalbeziehungen,<br />
auch wenn diese Beziehungen komplexer sind <strong>und</strong><br />
ein tieferes Verständnis von Ursachen, Wirkungen <strong>und</strong> den<br />
sie verbindenden Mechanismen erfordern. Jedoch existiert<br />
der Glaube an Zauberei <strong>und</strong> Übernatürliches gleichzeitig mit<br />
dem wachsenden Verständnis kausaler Mechanismen weiter,<br />
insbesondere in der Zeit vor dem Schuleintritt.<br />
Menschen sind, ebenso wie Tiere, biologisch darauf vorbereitet,<br />
best<strong>im</strong>mte Arten räumlicher Information in speziellen Bereichen<br />
des Gehirns zu codieren. Ab ihrem ersten Lebensjahr<br />
repräsentieren Kinder räumliche Positionen relativ zu ihrem<br />
eigenen Körper <strong>und</strong> auch relativ zu anderen Merkmalen der<br />
Umgebung, zum Beispiel auffälligen Orientierungspunkten.<br />
Eigene Fortbewegung scheint für die Entwicklung räumlicher<br />
Repräsentationen entscheidend zu sein.<br />
Ein elementares Zeitgefühl ist ebenfalls schon sehr früh vorhanden;<br />
mit drei Monaten, wenn nicht schon früher, besitzen<br />
Kinder ein Gefühl für die Reihenfolge, in der Ereignisse auftraten.<br />
Es dauert jedoch bis zum Alter von drei bis fünf Jahren,<br />
ein akkurates Gefühl für die Zeitdauer zu entwickeln, <strong>und</strong> die<br />
Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken über Zeit wird noch<br />
später erworben.<br />
Ein gr<strong>und</strong>legendes Erkennen von Unterschieden zwischen<br />
Mengen mit einem, zwei oder drei Elementen oder Ereignissen<br />
ist <strong>im</strong> ersten Lebensjahr vorhanden. Für auch nur geringfügig<br />
größere Mengen bringen Kinder ein vergleichbares Verständnis<br />
erst mit drei oder vier Jahren auf. In der Vorschulzeit<br />
lernen Kinder auch die Prinzipien, die dem Zählen zugr<strong>und</strong>e<br />
liegen, zum Beispiel, dass jedes Objekt nur genau einmal<br />
gezählt werden darf. Mit fünf Jahren lernen die meisten das<br />
Zählsystem ihrer Sprache. Beeinflusst wird das Zählenlernen<br />
sowohl von der Regelhaftigkeit des Zahlensystems in der<br />
jeweiligen Muttersprache als auch davon, welchen Wert die<br />
jeweilige Kultur auf mathematische Fähigkeiten legt.<br />
Zusätzlich zu den spezifischen Repräsentationen von Raum,<br />
Zeit <strong>und</strong> Zahl verfügen Säuglinge über eine allgemeine Repräsentation<br />
von Größe, die alle drei D<strong>im</strong>ensionen umspannt.<br />
Wenn ein Dekorationsmuster mit einem größeren Wert in<br />
einer der drei D<strong>im</strong>ensionen assoziiert ist, erwarten die Kinder,<br />
dass dieses Muster auch bei einer anderen D<strong>im</strong>ension mit<br />
dem größeren Wert einhergeht. Möglicherweise trägt die<br />
Überlappung der Gehirnbereiche, die an der Repräsentation<br />
dieser drei D<strong>im</strong>ensionen beteiligt sind, zur allgemeinen<br />
Repräsentation von Größe oder Menge bei.<br />
Zusammenfassung<br />
-<br />
Um zu verstehen, was sie erleben, müssen Kinder lernen,<br />
dass die Welt verschiedenartige Typen von Objekten enthält:<br />
Menschen, andere Lebewesen <strong>und</strong> unbelebte Gegenstände.<br />
Auch benötigen Kinder ein Gr<strong>und</strong>verständnis von<br />
Kausalität, Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl, sodass sie in der Lage<br />
sind, ihre Erfahrungen danach zu codieren, warum, wo,<br />
wann <strong>und</strong> wie oft Ereignisse auftreten.<br />
-<br />
Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />
Die ersten Objektkategorien von Kindern beruhen größtenteils<br />
auf perzeptueller Ähnlichkeit, insbesondere auf<br />
Formähnlichkeit. Zum Ende des ersten Lebensjahres bilden<br />
-<br />
sie auch Klassen von Objekten mit gleicher Funktion.<br />
Im Alter von zwei oder drei Jahren bilden Kinder Klassenhierarchien<br />
vom Typ Tier – H<strong>und</strong> – Pudel oder Möbel –<br />
-<br />
Stuhl – Barhocker.<br />
Ab der frühen Kindheit verhalten sich Kinder gegenüber<br />
Menschen anders als gegenüber Tieren oder unbelebten<br />
Objekten. Zum Beispiel lächeln sie Menschen mehr an als<br />
-<br />
Kaninchen oder Roboter.<br />
Mit vier oder fünf Jahren entwickeln Vorschulkinder eine<br />
elementare, aber wohlorganisierte alltagspsychologische<br />
Theory of Mind, in der sie ihr Verständnis von menschlichem<br />
Verhalten strukturieren. Eine wichtige Prämisse besteht<br />
darin, dass Wünsche <strong>und</strong> Überzeugungen best<strong>im</strong>mte<br />
-<br />
Handlungsweisen motivieren.<br />
Dreijährigen fällt es sehr schwer zu begreifen, dass andere<br />
Menschen aufgr<strong>und</strong> ihrer Überzeugungen handeln, insbesondere<br />
auch dann, wenn diese Überzeugungen falsch sind;<br />
viele Kinder verstehen das vor dem fünften Lebensjahr noch<br />
-<br />
nicht.<br />
Tiere <strong>und</strong> Pflanzen, besonders aber Tiere, sind für kleine<br />
Kinder von größtem Interesse. Wenn Tiere anwesend sind,<br />
-<br />
werden sie mit großer Aufmerksamkeit betrachtet.<br />
Mit vier Jahren haben Kinder ein recht differenziertes<br />
Verständnis von Lebewesen entwickelt, das kohärente<br />
Vorstellungen über unsichtbare Prozesse wie Wachstum,<br />
Vererbung, Krankheit <strong>und</strong> Heilung einschließt. Sowohl<br />
ihre natürliche Begeisterung für Lebewesen als auch der<br />
Informationsinput, den sie aus der Umwelt erhalten, trägt<br />
zur Erweiterung ihres Wissens über Pflanzen <strong>und</strong> Tiere bei.
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
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268<br />
Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
-<br />
Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />
Die Entwicklung des kausalen Denkens beginnt bei physikalischen<br />
Ereignissen ebenfalls in der frühen Kindheit.<br />
Zwischen sechs <strong>und</strong> zwölf Monaten verstehen Kinder, was<br />
vermutlich passieren wird, wenn zwei Objekte kollidieren.<br />
Das Verständnis der kausalen Beziehungen zwischen<br />
Handlungen hilft einjährigen Kindern, diese Handlungen<br />
-<br />
<strong>im</strong> Gedächtnis zu behalten.<br />
Mit vier oder fünf Jahren scheinen Kinder zu erkennen, dass<br />
Ursachen notwendig sind, damit Ereignisse eintreten. Wenn<br />
keine Ursache offensichtlich ist, suchen sie nach einer. Im<br />
Vorschulalter glauben Kinder jedoch sowohl an Magie <strong>und</strong><br />
-<br />
Zauberei als auch an Ursache-Wirkungs-Beziehungen.<br />
Menschen sind, wie andere Tiere auch, biologisch darauf<br />
vorbereitet, räumliche Sachverhalte zu codieren. In frühester<br />
Kindheit codieren sie die Orte anderer Objekte hauptsächlich<br />
relativ zu ihrer eigenen Position <strong>und</strong> zu externen<br />
Orientierungspunkten. Mit dem Erwerb der Fähigkeit, sich<br />
aus eigener Kraft fortzubewegen, bekommen sie ein Gefühl<br />
für Raumpositionen relativ zur allgemeinen Umgebung wie<br />
-<br />
auch relativ zu ihrer aktuellen Position.<br />
Blind geborene Kinder besitzen überraschend gute räumliche<br />
Repräsentationen; einige Aspekte ihrer Verarbeitung<br />
von räumlichen Informationen, insbesondere die Verarbeitung<br />
von Gesichtern, erreichen jedoch nicht das normale<br />
Maß, selbst wenn in früher Kindheit chirurgisch eingegriffen<br />
wurde, um die Sehbehinderung zu korrigieren.<br />
-<br />
So wie Kinder mit der Fähigkeit auf die Welt kommen,<br />
best<strong>im</strong>mte Aspekte des Raumes zu codieren, so sind sie<br />
auch mit der Fähigkeit geboren, best<strong>im</strong>mte Aspekte der<br />
Zeit zu codieren. Schon mit drei Monaten codieren sie die<br />
Reihenfolge, in der Ereignisse auftreten. Säuglinge dieses<br />
Alters können auch anhand von regelmäßigen Abfolgen<br />
-<br />
vergangener Ereignisse zukünftige Ereignisse antizipieren.<br />
Mit fünf Jahren können Kinder in gewissem Sinn logisch<br />
über Zeit nachdenken; wenn zwei Ereignisse gleichzeitig<br />
begannen <strong>und</strong> eines später endete als das andere, können<br />
sie erschließen, dass das später endende länger gedauert haben<br />
muss. Kinder sind zu solchen Schlüssen aber nur in der<br />
Lage, wenn sie in ihrer Wahrnehmung nicht durch störende<br />
-<br />
Reize abgelenkt sind.<br />
Ein elementares Verstehen von sehr kleinen Zahlen existiert<br />
schon in frühester Kindheit. Säuglinge bemerken Unterschiede<br />
in der Anzahl sehr kleiner Mengen von Objekten<br />
<strong>und</strong> zwischen Ereignissen, die unterschiedlich oft wiederholt<br />
werden. Sie erkennen auch bereits Unterschiede zwischen<br />
Mengen von Objekten oder Ereignissen, wenn die Anzahlen<br />
der Mengenelemente relativ zueinander stark abweichen,<br />
-<br />
also in einem großen Verhältnis zueinander stehen.<br />
Im Alter von drei Jahren lernen die meisten Kinder, bis zu<br />
zehn Objekte abzuzählen. Ihr Zählen scheint ein Verständnis<br />
der Prinzipien widerzuspiegeln, die dem Zählen zugr<strong>und</strong>e<br />
liegen, beispielsweise dass jedes gezählte Objekt nur mit einem<br />
einzigen Zahlwort bezeichnet werden darf. Wie schnell Dreijährige<br />
dann über 10 hinaus zählen lernen, ist auch ein Spiegel<br />
kultureller Einflüsse durch die sprachliche Struktur von Zahlwörtern<br />
<strong>und</strong> die Wertschätzung mathematischen Wissens.<br />
-<br />
Kinder<br />
verfügen in einem Alter von neun Monaten über<br />
eine allgemeine Repräsentation von Größe in Bezug auf die<br />
D<strong>im</strong>ensionen Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl.<br />
Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />
1. Warum ist es nützlich für Menschen, ihre Begriffskategorien<br />
hierarchisch zu strukturieren in der Art Tier – H<strong>und</strong> –<br />
Pudel oder Fahrzeug – Auto – Ferrari?<br />
2. Hatten Sie als Kind einen fiktiven Begleiter, oder kennen<br />
Sie jemanden, der einen solchen hatte? Welche Funktionen<br />
erfüllte der unsichtbare Fre<strong>und</strong>, <strong>und</strong> warum, glauben<br />
Sie, haben Sie oder dieser andere Mensch aufgehört, sich<br />
einen Begleiter vorzustellen?<br />
3. Warum sind Ihrer Meinung nach Fünfjährige so viel besser<br />
als Dreijährige, wenn es um Aufgaben zu falschen Überzeugungen<br />
geht?<br />
4. Eigene Fortbewegung verbessert die räumliche Repräsentation.<br />
Welcher evolutionäre Sinn könnte dahinterstecken?<br />
5. Beschreiben Sie die Gedanken, die einem fünfjährigen<br />
Kind durch den Kopf gehen mögen, wenn es zwei Nikoläuse<br />
aneinander vorbeigehen sieht.<br />
6. Meinen Sie, dass Säuglinge ein elementares Verständnis<br />
vom Rechnen haben? Warum sind Sie dieser Meinung –<br />
beziehungsweise warum nicht?<br />
7. Welchen Vorteil könnte es für Kinder haben, über eine allgemeine<br />
Repräsentation von Größe zu verfügen <strong>und</strong> nicht<br />
nur spezifische Repräsentationen von Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl?<br />
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Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
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1<br />
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3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
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275 8<br />
Intelligenz <strong>und</strong> schulische<br />
Leistungen<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Was ist Intelligenz? – 277<br />
Intelligenz als einheitliche Persönlichkeits eigenschaft – 277<br />
Intelligenz als Kombination weniger gr<strong>und</strong>legender Fähigkeiten – 277<br />
Intelligenz als Zusammenspiel vieler Prozesse – 278<br />
Ein Lösungsvorschlag – 278<br />
Intelligenzmessung – 279<br />
Die Inhalte von Intelligenztests – 279<br />
Der Intelligenzquotient (IQ) – 280<br />
IQ-Werte als Prädiktoren von Lebenserfolg – 283<br />
Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung – 284<br />
Eigenschaften des <strong>Kindes</strong> – 284<br />
Der Einfluss der unmittelbaren Umwelt – 285<br />
Der Einfluss der Gesellschaft – 287<br />
Alternative Ansätze zur Intelligenz – 293<br />
Der Erwerb schulischer Fähigkeiten:<br />
Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik – 294<br />
Lesen – 294<br />
Individuelle Unterschiede – 298<br />
Schreiben – 299<br />
Mathematik – 300<br />
Angstfach Mathematik – 303<br />
Zusammenfassung – 305<br />
Literatur – 306<br />
S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />
DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
276<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
© Sabina Pauen<br />
Im Jahre 1904 sah sich der französische Minister für Bildung<br />
<strong>und</strong> Erziehung einem Problem gegenüber. Frankreich hatte<br />
1882 die allgemeine Schulpflicht eingeführt, wie damals viele<br />
andere Staaten in Westeuropa <strong>und</strong> Nordamerika; in Deutschland<br />
war die Schulpflicht bereits 1592 <strong>im</strong> Herzogtum Pfalz-<br />
Zweibrücken weltweit zum ersten Mal proklamiert <strong>und</strong> von<br />
Friedrich dem Großen bereits Mitte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>im</strong><br />
Zuge der Aufklärung eingeführt worden, bevor sie 1917 Eingang<br />
in die We<strong>im</strong>arer Verfassung fand. Das Problem bestand<br />
darin, dass manche Kinder <strong>im</strong> Schulunterricht nicht gut lernten.<br />
Deshalb drängte der Minister auf ein Mittel, mit dem sich<br />
Kinder identifizieren lassen, die bei dem normalen Unterricht<br />
Schwierigkeiten haben mitzukommen <strong>und</strong> besondere Maßnahmen<br />
erforderlich machen. Sein Problem war: Wie konnte man<br />
solche Kinder identifizieren?<br />
Ein offensichtlicher Weg bestand darin, Lehrer diejenigen<br />
Schüler aus ihren Klassen angeben zu lassen, die besondere<br />
Schwierigkeiten hatten. Der Minister machte sich Gedanken darüber,<br />
dass die Lehrer voreingenommene Bewertungen abgeben<br />
könnten. Insbesondere befürchtete er, dass einige der Lehrer Vorurteile<br />
gegenüber armen Kindern haben könnten <strong>und</strong> deshalb<br />
auch solchen Kindern Lernschwierigkeiten attestieren würden,<br />
die sehr wohl lernfähig waren. Er beauftragte daher Alfred Binet,<br />
einen französischen Psychologen, der sich seit 15 Jahren mit<br />
Intelligenz befasste, einen leicht anwendbaren, objektiven Intelligenztest<br />
zu entwickeln.<br />
Zur damaligen Zeit herrschte allgemein die Ansicht, dass<br />
Intelligenz auf einfachen Fähigkeiten beruhe: beispielsweise auf<br />
der Fähigkeit, Objekte mit den von ihnen produzierten Geräuschen<br />
zu assoziieren (etwa Enten mit Quaken, Glocken mit Läuten<br />
usw.), auf einer schnellen Reaktionsfähigkeit auf Reize <strong>und</strong><br />
auf der Fähigkeit herauszufinden, ob zwei Objekte gleich oder<br />
verschieden sind. Entsprechend dieser Sichtweise lernen Kinder,<br />
die bei solchen einfachen Aufgaben besser abschneiden als<br />
ihre Altersgenossen, schneller <strong>und</strong> werden deshalb intelligenter.<br />
Die Theorie war plausibel, aber falsch. Inzwischen ist klar, dass<br />
einfache Fähigkeiten nur schwach mit den breiteren, alltäglichen<br />
Indikatoren der Intelligenz zusammenhängen, beispielsweise mit<br />
der schulischen Leistung.<br />
Binets Theorie wich von den allgemeinen Lebensweisheiten<br />
seiner Zeit ab. Er glaubte, dass die zentralen Komponenten der<br />
Intelligenz höhere <strong>und</strong> komplexere Fähigkeiten seien, wie etwa<br />
Problemlösen, schlussfolgerndes Denken <strong>und</strong> Urteilsfähigkeit,<br />
<strong>und</strong> er behauptete, dass Intelligenztests solche Fähigkeiten direkt<br />
bewerten könnten. Deshalb sollten die Kinder in dem Test,<br />
den er <strong>und</strong> sein Mitarbeiter Théophile S<strong>im</strong>on entwickelte – dem<br />
Binet-S<strong>im</strong>on-Intelligenztest –, unter anderem Sprichwörter interpretieren,<br />
Rätsel lösen, Objekte benennen <strong>und</strong> Einzelbilder von<br />
Bildergeschichten so anordnen, dass die Abfolge einen Sinn ergab.<br />
Binets Ansatz war insofern erfolgreich, als er Kinder identifizieren<br />
konnte, die <strong>im</strong> normalen Unterricht <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer<br />
Lernschwierigkeiten haben würden. Allgemeiner gesprochen,<br />
korrelierte die Leistung der Kinder <strong>im</strong> Binet-S<strong>im</strong>on-Test nicht<br />
nur hoch mit ihren Schulnoten zum Zeitpunkt der Testung,<br />
sondern auch mit ihren Noten in späteren Jahren. Der Test war<br />
insofern ein Erfolg, als er das angestrebte Ziel von Intelligenztests<br />
erreichte – ein objektives Messinstrument der schulischen<br />
Eignung bereitzustellen, das gerechtere Entscheidungen über<br />
die Bildungsangebote ermöglicht <strong>und</strong> vorhersagt, welche Kinder<br />
ausgezeichnete Schulleistungen erbringen können, welche<br />
Kinder Förderunterricht brauchen werden <strong>und</strong> welche für die<br />
hochgradig selektive Auswahl für weiterführende Schulen <strong>und</strong><br />
Hochschulen zugelassen werden sollten.<br />
Über die praktische Bedeutung seines Tests hinaus beeinflusst<br />
Binets Ansatz zur Intelligenzmessung die Forschung auf<br />
diesem Gebiet bis heute. In den meisten Bereichen der kognitiven<br />
Entwicklung – Wahrnehmung, Sprache, Begriffsverstehen <strong>und</strong> so<br />
weiter – werden heute altersbezogene Veränderungen geprüft;<br />
man fragt danach, wie sich jüngere Kinder von älteren Kindern<br />
unterscheiden. Aber die Intelligenzforschung folgt insofern<br />
weiterhin Binet, als sie sich auch auf individuelle Unterschiede<br />
konzentriert – also auf die Frage, wie <strong>und</strong> warum sich Kinder<br />
<strong>im</strong> gleichen Alter voneinander unterscheiden <strong>und</strong> inwieweit die<br />
individuellen Unterschiede <strong>im</strong> Zeitverlauf eine Kontinuität aufweisen.<br />
Das Wesen individueller Unterschiede ist ein durchgängiges<br />
Thema <strong>im</strong> Bereich der <strong>Kindes</strong>entwicklung, aber nirgends<br />
ist die Konzentration auf individuelle Unterschiede intensiver als<br />
bei der Untersuchung der Intelligenz.<br />
Fragen, die die Entwicklung der Intelligenz betreffen, erhitzen<br />
die Gemüter, was nicht weiter verw<strong>und</strong>ert. Schließlich wirft<br />
die Forschung auf diesem Gebiet viele der gr<strong>und</strong>legendsten Fragen<br />
über das Wesen des Menschen auf: die Rolle von Vererbung<br />
<strong>und</strong> Umwelt, den Einfluss ethnischer Unterschiede, die Effekte<br />
von Reichtum <strong>und</strong> Armut <strong>und</strong> die Möglichkeit zu Fortschritten.<br />
Fast jeder vertritt – oft aus tiefster Überzeugung – eine eigene<br />
Meinung dazu, warum manche Menschen intelligenter sind als<br />
andere.<br />
Die Intelligenzforschung hat stark zum Verständnis aller<br />
Leitthemen dieses Buches beigetragen: des Wesens <strong>und</strong> der Ursprünge<br />
von individuellen Unterschieden, der Beiträge des aktiven<br />
<strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> des soziokulturellen Kontexts, der Art, wie Anlage <strong>und</strong><br />
Umwelt gemeinsam die Entwicklung formen, des Ausmaßes der<br />
Kontinuität bei Persönlichkeit <strong>und</strong> Charakter, der Mechanismen<br />
der Veränderung <strong>und</strong> schließlich des Zusammenhangs zwischen<br />
Forschung <strong>und</strong> <strong>Kindes</strong>wohl. Bevor wir jedoch Forschungsarbeiten<br />
zur Entwicklung der Intelligenz eingehender betrachten, wollen<br />
wir zuerst eine Frage aufwerfen, die einfach klingt, aber <strong>im</strong> Zentrum<br />
vieler Kontroversen steht: Was ist Intelligenz?
Was ist Intelligenz?<br />
277 8<br />
Was ist Intelligenz?<br />
Intelligenz ist bekannt dafür, dass sie sich schwer definieren lässt.<br />
Aber das hält die wenigsten Menschen davon ab, es trotzdem zu<br />
versuchen. Die Schwierigkeit besteht zum Teil darin, dass sich Intelligenz<br />
auf drei Analyseebenen beschreiben lässt: als einheitliches<br />
Merkmal, als zusammengesetzte Eigenschaft aus wenigen Komponenten<br />
<strong>und</strong> als komplexere Eigenschaft aus vielen Komponenten.<br />
Intelligenz als einheitliche Persönlichkeitseigenschaft<br />
Manche Forscher betrachten Intelligenz als eine einzige Eigenschaft,<br />
die alle Aspekte von kognitiven Funktionen beeinflusst.<br />
Für diese Vorstellung spricht die Tatsache, dass die Leistungen<br />
fast aller geistigen Aufgaben positiv miteinander korrelieren.<br />
Kinder, die bei einer intellektuellen Aufgabe gut abschneiden,<br />
sind <strong>im</strong> Allgemeinen auch bei anderen Aufgaben gut (Geary<br />
2005). Diese positiven Korrelationen treten sogar zwischen<br />
recht unähnlichen intellektuellen Aufgaben auf, zum Beispiel<br />
zwischen dem Behalten von Zahlenfolgen <strong>und</strong> dem Falten von<br />
Papier nach einer Mustervorlage. Die allgegenwärtigen positiven<br />
Korrelationen führten zu der Hypothese, dass jeder von uns<br />
über ein best<strong>im</strong>mtes Ausmaß an allgemeiner Intelligenz verfügt.<br />
Diese allgemeine Intelligenz wird in der Psychologie kurz als g<br />
(von general) bezeichnet. Es wird angenommen, dass g unsere<br />
Denk- <strong>und</strong> Lernfähigkeit bei allen geistigen Aufgaben beeinflusst<br />
(Jensen 1998; Spearman 1927).<br />
Allgemeine Intelligenz (g) – Der Teil der Intelligenz, der allen geistigen Aufgaben<br />
gemeinsam ist.<br />
Zahlreiche Quellen belegen die Nützlichkeit, Intelligenz als eine<br />
einheitliche Persönlichkeitseigenschaft zu betrachten. Maße der<br />
allgemeinen Intelligenz g, so wie sie die Gesamtwerte von Intelligenztests<br />
liefern, korrelieren positiv mit dem Schulabschluss <strong>und</strong><br />
dem Abschneiden bei Leistungstests (Gottfredson 2011). Auf der<br />
Ebene kognitiver Prozesse <strong>und</strong> Gehirnmechanismen korreliert g<br />
mit der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung (Coyle<br />
et al. 2012; Deary 2000), mit der Übertragungsgeschwindigkeit<br />
von Nerven<strong>im</strong>pulsen (Vernon et al. 2000) <strong>und</strong> mit dem Gehirnvolumen<br />
(McDaniel 2005). Auch korrelieren Maße von g sehr<br />
hoch mit dem Wissen von Menschen über Sachgebiete, die sie<br />
nicht in der Schule gelernt haben, beispielsweise Medizin, Recht,<br />
Kunstgeschichte, die Bibel <strong>und</strong> so weiter (Lubinski <strong>und</strong> Humphreys<br />
1997). Es gibt somit gute Gründe, Intelligenz als einheitliche<br />
Persönlichkeitseigenschaft anzusehen, die unsere Fähigkeit<br />
zu denken <strong>und</strong> zu lernen umfasst.<br />
Intelligenz als Kombination<br />
weniger gr<strong>und</strong>legender Fähigkeiten<br />
Es gibt aber auch gute Gründe dafür, Intelligenz als eine aus mehreren<br />
Komponenten zusammengesetzte Eigenschaft zu betrachten.<br />
Die einfachste Annahme dieser Art geht davon aus, dass es<br />
zwei Typen von Intelligenz gibt: flüssige Intelligenz <strong>und</strong> kristalline<br />
-<br />
Intelligenz (Cattell 1987).<br />
Flüssige Intelligenz bezeichnet die Fähigkeit zu spontanem<br />
Denken, beispielsweise Schlussfolgerungen zu ziehen <strong>und</strong><br />
Beziehungen zwischen Konzepten zu verstehen, mit denen<br />
man zuvor noch nie etwas zu tun hatte. Sie ist eng verb<strong>und</strong>en<br />
mit der Fähigkeit, sich auf neue Aufgaben einzustellen,<br />
mit der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, mit der<br />
Kapazität des Arbeitsgedächtnisses <strong>und</strong> mit der Fähigkeit<br />
zur Aufmerksamkeitssteuerung (Blair 2006; Geary 2005).<br />
Flüssige Intelligenz – Die Fähigkeit zu spontanen Denkleistungen, um neuartige<br />
Probleme zu lösen.<br />
-<br />
Kristalline Intelligenz ist Faktenwissen über die Welt:<br />
Wissen über Wortbedeutungen, Rechenoperationen,<br />
Hauptstädte etc. Sie spiegelt das Langzeitgedächtnis für vorangegangene<br />
Erfahrungen wider <strong>und</strong> ist eng mit verbalen<br />
Fähigkeiten verknüpft.<br />
Kristalline Intelligenz – Das Faktenwissen über die Welt.<br />
Die Unterscheidung zwischen flüssiger <strong>und</strong> kristalliner Intelligenz<br />
wird durch die Tatsache unterstützt, dass Tests des einen<br />
Intelligenztyps untereinander höher korrelieren als mit Tests<br />
des jeweils anderen Intelligenztyps (Horn <strong>und</strong> McArdle 2007).<br />
Kinder, die bei einem Test der flüssigen Intelligenz gut abschneiden,<br />
werden dies also <strong>im</strong> Allgemeinen auch bei anderen Tests der<br />
flüssigen Intelligenz tun, aber nicht notwendigerweise auch bei<br />
Tests zur kristallinen Intelligenz. Außerdem folgen die beiden<br />
Intelligenztypen unterschiedlichen Entwicklungsverläufen. Die<br />
kristalline Intelligenz wächst kontinuierlich von frühen Lebensphasen<br />
bis ins hohe Alter, während die flüssige Intelligenz ihren<br />
Höhepunkt <strong>im</strong> frühen Erwachsenenalter <strong>im</strong> Alter von ungefähr<br />
20 Jahren erreicht <strong>und</strong> sich danach langsam verringert (Salthouse<br />
2009). Außerdem unterscheiden sich die Gehirnregionen, die bei<br />
den beiden Typen von Intelligenz jeweils erhöhte Aktivität zeigen:<br />
Der präfrontale Cortex ist besonders aktiv, wenn ein hohes<br />
Maß an fluider Intelligenz zu beobachten ist, <strong>und</strong> weniger aktiv<br />
bei einem höheren Maß an kristalliner Intelligenz (Blair 2006;<br />
Jung <strong>und</strong> Haier 2007).<br />
Eine etwas kompliziertere Betrachtungsweise der Intelligenz<br />
geht davon aus, dass sich die menschliche Intelligenz aus<br />
sieben pr<strong>im</strong>ären geistigen Fähigkeiten zusammensetzt, den<br />
Pr<strong>im</strong>ärfaktoren der Intelligenz (Thurstone 1938): Wortflüssigkeit,<br />
Sprachverständnis, schlussfolgerndes Denken, räumliches<br />
Vorstellungsvermögen, Rechenfertigkeit, Merkfähigkeit<br />
<strong>und</strong> Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Der wichtigste Beleg für<br />
die Zweckmäßigkeit dieser Aufteilung der Intelligenz in sieben<br />
Pr<strong>im</strong>ärfaktoren ähnelt dem Gr<strong>und</strong> für die Unterscheidung<br />
zwischen kristalliner <strong>und</strong> flüssiger Intelligenz: Die Leistungen<br />
bei verschiedenen Tests zur selben Fähigkeit korrelieren in der<br />
Regel stärker als be<strong>im</strong> Vergleich zu Tests einer der anderen Intelligenzfaktoren.<br />
Zum Beispiel sind die Faktoren „räumliches<br />
Vorstellungsvermögen“ <strong>und</strong> „Wahrnehmungsgeschwindigkeit“<br />
beides Maße der flüssigen Intelligenz, doch Kinder erbringen bei<br />
zwei Tests zum räumlichen Vorstellungsvermögen ähnlichere
278<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
Allgemeine Intelligenz g<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
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20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Flüssige<br />
Intelligenz<br />
• Sequenzielles<br />
Schlussfolgern<br />
• Induktives<br />
Schließen<br />
• Qualitatives<br />
Schließen<br />
Kristalline<br />
Intelligenz<br />
• Geschriebene<br />
Sprache<br />
• Sprachverstehen<br />
• Wortschatz<br />
Leistungen als bei einem Test zum räumlichen Vorstellungsvermögen<br />
<strong>und</strong> einem Test zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit.<br />
Im Vergleich der beiden Perspektiven geht die Einfachheit der<br />
Unterscheidung (die bei kristallin versus flüssig größer ist) zu<br />
Lasten der Genauigkeit (die bei den sieben Pr<strong>im</strong>ärfaktoren größer<br />
ist) <strong>und</strong> umgekehrt.<br />
Pr<strong>im</strong>ärfaktoren der Intelligenz – Sieben Fähigkeiten, die nach Thurstone entscheidend<br />
zur Intelligenz beitragen.<br />
Intelligenz als Zusammenspiel vieler Prozesse<br />
Einem dritten Ansatz zufolge umfasst Intelligenz zahlreiche<br />
voneinander getrennte Prozesse. Analysen der Informationsverarbeitungsprozesse<br />
be<strong>im</strong> Lösen von Intelligenztest-Items<br />
<strong>und</strong> bei alltäglichen geistigen Tätigkeiten wie Lesen, Schreiben<br />
<strong>und</strong> Rechnen lassen erkennen, dass viele unterschiedliche Prozesse<br />
beteiligt sind (z. B. Geary 2005). Dazu gehören Erinnern,<br />
Wahrnehmen, Aufmerksamkeit, Verstehen, Encodieren, Assoziieren,<br />
Generalisieren, Planen, schlussfolgerndes Denken,<br />
Konzeptbildung, Problemlösen, Entwickeln <strong>und</strong> Anwenden<br />
von Strategien <strong>und</strong> so weiter. Wenn man Intelligenz als vielschichtige<br />
Eigenschaft begreift, lassen sich die Prozesse, die an<br />
intelligentem Verhalten beteiligt sind, genauer beschreiben als<br />
mit Ansätzen, die Intelligenz als eine einzige Eigenschaft oder<br />
als eine aus wenigen Teilkomponenten zusammengesetzte Eigenschaft<br />
betrachten.<br />
Ein Lösungsvorschlag<br />
Lernen <strong>und</strong><br />
Gedächtnis<br />
(allgemein)<br />
• Gedächtnisspanne<br />
• Assoziatives<br />
Gedächtnis<br />
Visuelle<br />
Wahrnehmung<br />
(allgemein)<br />
• Visuelle<br />
Vorstellung<br />
• Raumrelation<br />
• Geschwindigkeit<br />
der Gestaltbildung<br />
Wie lassen sich diese widersprüchlichen Ansätze zur Intelligenz<br />
miteinander in Einklang bringen? Nach mehr als einem halben<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert des Studiums der Intelligenz gelang John B. Carroll<br />
(1993, 2005) eine große hierarchische Integration: das Drei-<br />
Schichten-Modell der Intelligenz (. Abb. 8.1). An der Spitze der<br />
Hierarchie steht g; in der Mitte befinden sich acht Fähigkeiten<br />
Auditive<br />
Wahrnehmung<br />
(allgemein)<br />
• Diskr<strong>im</strong>ination<br />
sprachlicher<br />
Laute<br />
• Allgemeine<br />
Diskr<strong>im</strong>ination<br />
von Geräuschen<br />
Gedächtnisabruf<br />
(allgemein)<br />
• Kreativität<br />
• Ideenflüssigkeit<br />
• Benennungsgeschwindigkeit<br />
mittlerer Allgemeinheit (welche sowohl flüssige <strong>und</strong> kristalline<br />
Intelligenz als auch spezifischere Fähigkeiten ähnlich der sieben<br />
von Thurstone vorgeschlagenen Pr<strong>im</strong>ärfaktoren umfassen); am<br />
unteren Ende der Hierarchie sind viele spezifische Prozesse angeordnet.<br />
Die allgemeine Intelligenz beeinflusst alle Fähigkeiten<br />
von mittlerem Allgemeinheitsgrad, <strong>und</strong> diese beeinflussen zusammen<br />
mit der allgemeinen Intelligenz die spezifischen Prozesse.<br />
Wenn man beispielsweise die allgemeine Intelligenz einer<br />
Person kennt, kann man ihre allgemeine Gedächtnisfähigkeit<br />
recht zuverlässig vorhersagen; kennt man beide Ausprägungen,<br />
ist eine recht gute Vorhersage der Gedächtnisspanne dieser Person<br />
möglich; mit der Kenntnis aller drei Ausprägungen kann<br />
man die Gedächtnisspanne dieser Person für den Umgang mit<br />
best<strong>im</strong>mten Inhaltstypen wie Wörtern, Buchstaben oder Zahlen<br />
sehr exakt vorhersagen.<br />
Drei-Schichten-Modell der Intelligenz – Ein Intelligenzstrukturmodell von<br />
Carroll mit der allgemeinen Intelligenz g an der Spitze, acht Fähigkeiten mittlerer<br />
Allgemeinheit in der Mitte <strong>und</strong> vielen spezifischen Prozessen am unteren<br />
Ende der Hierarchie.<br />
Carrolls umfassende Analyse der Forschungsliteratur weist darauf<br />
hin, dass alle drei Analyseebenen nötig sind, um die Gesamtheit aller<br />
bekannten Fakten über Intelligenz zu erklären. Die zutreffende<br />
Antwort auf die Frage „Ist Intelligenz eine einheitliche oder eine<br />
aus wenigen beziehungsweise vielen Komponenten zusammengesetzte<br />
Eigenschaft?“ scheint also „sowohl als auch“ zu lauten.<br />
In Kürze | |<br />
Kognitive<br />
Schnelligkeit<br />
(allgemein)<br />
• Bearbeitungstempo<br />
von Tests<br />
• Zahlengewandtheit<br />
• Wahrnehmungsgeschwindigkeit<br />
Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />
• Einfache<br />
Reaktionszeit<br />
• Reaktionszeit<br />
bei Wahlreaktion<br />
• Semantische<br />
Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />
..<br />
Abb. 8.1 In Carrolls Drei-Schichten-Modell der Intelligenz beeinflusst die allgemeine Intelligenz (g) mehrere Fähigkeiten auf mittlerer Ebene, die wiederum<br />
jeweils eine Vielzahl spezifischer Prozesse beeinflussen. Wie dieses Modell erkennen lässt, kann man Intelligenz sinnvoll als ein einheitliches Konstrukt, als ein<br />
kleines Konglomerat von Fähigkeiten <strong>und</strong> als eine sehr große Anzahl spezifischer Prozesse auffassen<br />
Intelligenz lässt sich als eine allgemeine Fähigkeit zu<br />
denken <strong>und</strong> zu lernen, als eine Kombination aus mehreren<br />
allgemeinen Fähigkeiten wie fluider <strong>und</strong> kristalliner<br />
Intelligenz oder auch als Zusammenspiel von zahlreichen<br />
spezifischen Fertigkeiten, Prozessen <strong>und</strong> Inhaltswissen<br />
verstehen. Alle drei Ebenen tragen zum Verständnis der<br />
Intelligenz bei.
Intelligenzmessung<br />
279 8<br />
Intelligenzmessung<br />
Auch wenn Intelligenz normalerweise als eine unsichtbare Fähigkeit<br />
des Denkens <strong>und</strong> Lernens betrachtet wird, muss jedes Intelligenzmaß<br />
auf beobachtbarem Verhalten beruhen. Wenn wir also<br />
sagen, eine Person sei intelligent, dann meinen wir, dass sich diese<br />
Person auf intelligente Weise verhält. Eine prof<strong>und</strong>e Erkenntnis<br />
Binets war, dass der beste Weg, Intelligenz zu messen, darin besteht,<br />
das Verhalten von Menschen bei Aufgaben zu beobachten,<br />
die viele unterschiedliche Typen von Intelligenz erfordern: Problemlösen,<br />
Gedächtnis, Sprachverstehen, räumliches Denken <strong>und</strong><br />
so weiter. Auch heutige Intelligenztests setzen den Gedanken fort,<br />
anhand von Stichproben aus Aufgaben unterschiedlichen Typs die<br />
verschiedenen Aspekte der Intelligenz zu erfassen.<br />
Intelligenztests werden sehr kontrovers diskutiert. Kritiker<br />
wie Ceci (1996) <strong>und</strong> Sternberg (2008) argumentieren, dass be<strong>im</strong><br />
Messen einer so komplexen <strong>und</strong> facettenreichen Qualität wie der<br />
Intelligenz ein wesentlich breiteres Spektrums von Fähigkeiten<br />
einbezogen werden müsste, als es bei derzeitigen Intelligenztests<br />
der Fall ist, dass die derzeitigen Intelligenztests kulturell verzerrt<br />
sowie vereinfachend <strong>und</strong> ethisch fragwürdig sind, weil sie die<br />
Intelligenz eines Menschen auf eine Zahl (den IQ) reduzieren.<br />
Auf der Gegenseite argumentieren die Befürworter der Intelligenztests<br />
(z. B. Gottfredson 1997; Horn <strong>und</strong> McArdle 2007),<br />
dass diese Tests besser als jede andere Methode Schulabschlüsse,<br />
Leistungsbenotung <strong>und</strong> beruflichen Erfolg vorhersagen können,<br />
dass sie wichtige Anhaltspunkte für die Entscheidungen liefern,<br />
welche schulische Förderung ein Kind erhalten sollte, <strong>und</strong> dass<br />
sie anderen Leistungsbewertungen wie der Benotung durch Lehrer<br />
oder den Einschätzungen von Psychologen überlegen sind,<br />
die noch größere Risiken kulturell beeinflusster Fehlurteile in<br />
sich bergen dürften. Um über die Stärken <strong>und</strong> Schwächen von<br />
Intelligenztests urteilen zu können, muss man die Fakten kennen<br />
<strong>und</strong> die Probleme bei der Anwendung dieser Tests verstehen.<br />
Die Inhalte von Intelligenztests<br />
Intelligenz spiegelt sich auf unterschiedlichen Altersstufen in unterschiedlichen<br />
Fähigkeiten wider. Zum Beispiel sind sprachliche<br />
Fähigkeiten <strong>im</strong> Alter von sechs Monaten kein Teil der Intelligenz,<br />
weil so kleine Kinder Wörter weder verwenden noch verstehen,<br />
aber mit sechs Jahren bilden sie einen wichtigen Teil der Intelligenz.<br />
Die Aufgaben der Tests, die zur Messung der Intelligenz in<br />
verschiedenen Altersabschnitten entwickelt wurden, berücksichtigen<br />
diese Entwicklungsaspekte von Intelligenz. Zum Beispiel sollen<br />
be<strong>im</strong> Stanford-Binet-Intelligenztest (einer Weiterentwicklung des<br />
Binet-S<strong>im</strong>on-Tests) zweijährige Kinder Objekte identifizieren, die<br />
als Strichzeichnungen dargestellt sind (ein Test für Objekterkennung),<br />
sie sollen ein Objekt finden, das vorher vor ihren Augen versteckt<br />
wurde (ein Test für Lernen <strong>und</strong> Gedächtnis), <strong>und</strong> sie sollen<br />
drei unterschiedlich geformte Gegenstände in Löcher mit dem jeweils<br />
passenden Ausschnitt stecken (ein Test für Wahrnehmungsfähigkeit<br />
<strong>und</strong> motorische Koordination). In der Version des Stanfort-<br />
Binet-Tests für Zehnjährige müssen sie für vorgegebene Wörter<br />
die Bedeutungen definieren (ein Test für verbale Fähigkeiten), sie<br />
müssen erklären, warum best<strong>im</strong>mte Institutionen existieren (ein<br />
Test für allgemeine Informiertheit <strong>und</strong> verbales Schlussfolgern),<br />
<strong>und</strong> sie müssen die Bauklötze auf einem Bild zählen, auf dem die<br />
Existenz einiger Blöcke nur erschlossen werden kann (ein Test für<br />
Problemlösen <strong>und</strong> räumliches Schlussfolgern).<br />
Intelligenztests werden am häufigsten <strong>und</strong> erfolgreichsten bei<br />
Kindern von mindestens fünf oder sechs Jahren angewendet. Von<br />
Test zu Test werden <strong>im</strong> Detail jeweils andere Fähigkeiten untersucht,<br />
<strong>und</strong> auch die Aufgaben dafür variieren ein wenig, aber<br />
zwischen den führenden Tests bestehen letztlich beträchtliche<br />
Übereinst<strong>im</strong>mungen.<br />
Das am häufigsten eingesetzte Messinstrument für Kinder ab<br />
sechs Jahren ist <strong>im</strong> englischen wie <strong>im</strong> deutschen Sprachraum der<br />
Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder. Die derzeitige USamerikanische<br />
Ausgabe dieses Tests WISC-IV, auf dem der HAWIK-<br />
IV basiert, wurde 2003 revidiert, um die aktuellen theoretischen<br />
Konzeptionen von Intelligenz <strong>und</strong> die derzeitige Kinderpopulation<br />
in den Vereinigten Staaten zugr<strong>und</strong>e zu legen, die kulturell <strong>und</strong><br />
sprachlich wesentlich vielgestaltiger ist als zum Zeitpunkt der Revision<br />
in den 1990er Jahren. Ausgehend von dieser Vorlage wurde<br />
inzwischen auch <strong>im</strong> deutschen Sprachraum eine neue Version des<br />
WISC-IV publiziert (Petermann <strong>und</strong> Petermann 2011).<br />
Das Intelligenzkonzept, das diesem Test zugr<strong>und</strong>e liegt, entspricht<br />
dem Drei-Schichten-Modell von Carroll <strong>und</strong> geht davon<br />
aus, dass Intelligenz einen allgemeinen Faktor g enthält, mehrere<br />
Fähigkeiten auf einer mittleren Ebene <strong>und</strong> zahlreiche spezifische<br />
Fertigkeiten. Der Test erbringt nicht nur einen Gesamtwert, sondern<br />
auch getrennte Leistungsindizes für vier Fähigkeiten auf<br />
der mittleren Ebene: Sprachverständnis, wahrnehmungsbasiertes<br />
schlussfolgerndes Denken, Arbeitsgedächtnis <strong>und</strong> Bearbeitungsgeschwindigkeit.<br />
Diese Fähigkeiten misst der Test, weil sie<br />
Fertigkeiten widerspiegeln, die in Informationsverarbeitungstheorien<br />
wichtig sind, weil sie positiv mit anderen Aspekten von<br />
Intelligenz korrelieren <strong>und</strong> mit bedeutsamen Ergebnissen wie<br />
den Schulabschlüssen <strong>und</strong> dem späteren beruflichen Erfolg zusammenhängen<br />
(Flanagan <strong>und</strong> Kaufman 2004).<br />
Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder (HAWIK-IV)/Wechsler-Intelligence-Scale<br />
(WISC-IV) – Ein weitverbreiteter Intelligenztest für Kinder zwischen<br />
sechs <strong>und</strong> 16 Jahren.<br />
Der Test ist in vier Hauptabschnitte untergliedert. Der Abschnitt<br />
zum Sprachverständnis (SV) ist auf allgemeines Weltwissen <strong>und</strong><br />
sprachliche Fähigkeiten gerichtet; der Abschnitt zum Wahrnehmungsbasierten<br />
logischen Denken untersucht das räumliche <strong>und</strong><br />
logische Denken; der Abschnitt zum Arbeitsgedächtnis misst die<br />
Fähigkeit, Informationen <strong>im</strong> Kurzzeitgedächtnis zu behalten <strong>und</strong><br />
zu verarbeiten; <strong>und</strong> der Abschnitt zur Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />
schätzt die Fähigkeit ein, die Aufmerksamkeit zu zentrieren<br />
<strong>und</strong> visuelle Informationen schnell zu überblicken, zu<br />
unterscheiden <strong>und</strong> zu ordnen. Der HAWIK-IV umfasst in der<br />
deutschen Version 15 Untertests, von denen fünf optional sind<br />
<strong>und</strong> eingesetzt werden können, um das Gesamtbild abzur<strong>und</strong>en<br />
– wenn Zweifel daran bestehen, dass die anderen Tests die<br />
Fähigkeiten des <strong>Kindes</strong> angemessen widerspiegeln. (Falls beispielsweise<br />
die Aufmerksamkeit eines <strong>Kindes</strong> während eines best<strong>im</strong>mten<br />
Untertests abschweifte oder das Kind einige der Fragen<br />
nicht verstand, kann der Testleiter die Ergebnisse dieses Unter-
280<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
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19<br />
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21<br />
22<br />
23<br />
Typische Testfragen zum Sprachverständnis<br />
Wortschatztest: „Was ist ein Helikopter?“<br />
Gemeinsamkeitenfinden „Was haben ein Berg <strong>und</strong> ein Fluss<br />
gemeinsam?“<br />
Typische Testaufgaben zum wahrnehmungsbasierten<br />
logischen Denken<br />
Mosaiktest: „Leg diese neun Klötzchen so, dass sie genau wie<br />
die Vorlage aussehen.“<br />
Bildkonzepte: „Wähle aus jedem Kasten ein Ding aus <strong>und</strong><br />
mach daraus eine Gruppe von zusammengehörigen Dingen.“<br />
Typische Testaufgaben zum Arbeitsgedächtnis<br />
Zahlennachsprechen: „Wiederhole die folgenden Zahlen in derselben<br />
Reihenfolge, wenn ich sie vorgelesen habe: 5, 3, 7, 4, 9.“<br />
„Nun sag diese Zahlen von hinten nach vorn: 2, 9, 5, 7, 3.“<br />
Buchstaben-Zahlen-Folgen: „Wiederhole die Zahlen <strong>und</strong> fang mit<br />
der kleinsten Zahl an, <strong>und</strong> wiederhole dann die Buchstaben <strong>und</strong><br />
fang mit dem Buchstaben an, der <strong>im</strong> Alphabet am weitesten vorn<br />
steht: 4, D, 2, G, 7.“<br />
Typische Testaufgaben zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit<br />
Codieren: „Schreib unter jedes Quadrat ein Pluszeichen, unter<br />
jeden Kreis ein Minuszeichen <strong>und</strong> unter jedes Dreieck ein X.“<br />
Symbolsuche: „Erscheint die Figur, die du links von der Linie siehst,<br />
auch rechts von der Linie?“<br />
Ja<br />
Nein<br />
..<br />
Abb. 8.2 Beispiele für die Aufgabentypen, die der HAWIK-IV einsetzt,<br />
um die Intelligenz von Kindern zu messen. Bei den meisten Untertests<br />
wird die Leistung einfach danach bemessen, ob die richtigen Antworten<br />
gegeben wurden oder nicht, aber bei einigen Leistungsmaßen wie etwa der<br />
Wahrnehmungsgeschwindigkeit ist die Zahl der in einer best<strong>im</strong>mten Zeit<br />
produzierten richtigen Antworten ausschlaggebend. Die Aufgaben sind nicht<br />
genau dieselben wie <strong>im</strong> Test, sondern es sind Aufgaben desselben Typs; aus<br />
urheber- <strong>und</strong> berufsrechtlichen Gründen dürfen wir die <strong>im</strong> Test verwendeten<br />
Aufgaben nicht abbilden<br />
tests verwerfen <strong>und</strong> durch einen der optionalen Tests ersetzen.)<br />
. Abbildung 8.2 zeigt Beispiele für den Typ der Aufgaben, die in<br />
dem Test gestellt werden. (Die tatsächlichen Items sind aus verlagsrechtlichen<br />
<strong>und</strong> testdiagnostischen Gründen geschützt <strong>und</strong><br />
können deshalb nicht <strong>im</strong> Original wiedergegeben werden.)<br />
Der Intelligenzquotient (IQ)<br />
Intelligenztests wie der WISC-IV oder der Stanford-Binet-Test<br />
liefern ein quantitatives Gesamtmaß der Intelligenz eines <strong>Kindes</strong><br />
relativ zu anderen Kindern gleichen Alters. Dieses Gesamtmaß<br />
wird als der Intelligenzquotient (IQ) des <strong>Kindes</strong> bezeichnet. (Der<br />
Wortbestandteil „-quotient“ rührt daher, dass ursprünglich das<br />
sogenannte Intelligenzalter eines <strong>Kindes</strong> durch sein Lebensalter<br />
geteilt <strong>und</strong> mit 100 multipliziert wurde; nach heutiger Definition<br />
ist der IQ jedoch ein reines Abweichungsmaß.)<br />
Intelligenzquotient (IQ) – Ein Gesamtmaß, mit dem die Intelligenz eines <strong>Kindes</strong><br />
relativ zu der eines anderen <strong>Kindes</strong> gleichen Alters angegeben wird.<br />
Man braucht ein wenig Hintergr<strong>und</strong>wissen, um zu verstehen,<br />
wie IQ-Werte <strong>und</strong> warum sie auf diese Art <strong>und</strong> Weise berechnet<br />
werden. Die ersten Entwickler von Intelligenztests beobachteten,<br />
dass viele der leicht zu messenden Eigenschaften des Menschen,<br />
beispielsweise die Körpergröße <strong>und</strong> das Gewicht von Männern<br />
beziehungsweise von Frauen, eine Normalverteilung aufweisen.<br />
Wie . Abb. 8.3 zeigt, sind Normalverteilungen in Bezug auf einen<br />
Mittelwert symmetrisch, wobei die meisten Messwerte relativ<br />
nahe am Mittelwert liegen. Je weiter ein Messwert vom Mittelwert<br />
entfernt liegt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass ein Mensch diesen Messwert aufweist. Zum Beispiel beträgt<br />
die durchschnittliche Körpergröße von Männern etwa 1,78 m.<br />
Viele Männer sind 1,75 oder 1,80 m groß, aber wenige 1,60 oder<br />
1,98 m. Je weiter eine Körpergröße vom Mittelwert abweicht,<br />
desto weniger Männer mit dieser Körpergröße gibt es.<br />
Normalverteilung – Eine Verteilung der relativen Häufigkeiten von Messwerten,<br />
bei der alle Messwerte symmetrisch um einen Mittelwert verteilt sind. Die<br />
meisten Messwerte liegen in der Nähe des Mittelwertes, <strong>und</strong> mit zunehmender<br />
Entfernung vom Mittelwert treten die Messwerte <strong>im</strong>mer seltener auf.<br />
Eine ähnliche Verteilung findet sich bei den Intelligenztestmesswerten<br />
großer, repräsentativer Gruppen von Kindern eines best<strong>im</strong>mten<br />
Alters. Diese Normalverteilung bedeutet, dass die meisten IQ-Werte<br />
recht nahe am jeweiligen Mittelwert liegen <strong>und</strong> wenige Kinder sehr<br />
hohe oder sehr niedrige Messwerte erzielen. Die historisch frühen
Intelligenzmessung<br />
281 8<br />
0,13% 2,14% 13,59% 34,13% 34,13% 13,59% 2,14% 0,13%<br />
55 70 85 100 115 130 145<br />
–3 SD –2 SD –1 SD Mittelwert +1 SD +2 SD +3 SD<br />
..<br />
Abb. 8.3 Eine Normalverteilung der IQ-Werte mit den zugehörigen Standardabweichungen<br />
(standard deviations, SDs). IQ-Werte sind normalverteilt.<br />
Die obere Zahlenreihe unter der Abbildung entspricht den IQ-Werten. Darunter<br />
ist angegeben, um wie viele Standardabweichungen (SDs) der IQ über<br />
oder unter dem Mittelwert liegt; ein IQ von 55 beispielsweise liegt drei SDs<br />
unter dem Mittelwert. Die Prozentzahlen innerhalb der SD-Intervalle geben<br />
an, wie groß der Anteil der Kinder mit einem IQ-Wert in diesem Intervall ist;<br />
beispielsweise haben deutlich weniger als 1 % der Kinder IQ-Werte unter 55,<br />
<strong>und</strong> etwas mehr als 2 % haben Werte zwischen 55 <strong>und</strong> 70<br />
Entwickler von Intelligenztests trafen eine willkürliche Entscheidung,<br />
die bis heute beibehalten wurde: Ein Kind, dessen Leistung<br />
exakt dem Mittelwert seiner Altersgruppe (zum Zeitpunkt der<br />
Testentwicklung) entspricht, erhält den Messwert 100. (Der Gruppenmittelwert<br />
kann sich in den Jahren nach der Testentwicklung<br />
nach oben oder unten verändern, <strong>und</strong> tatsächlich ergaben sich in<br />
der industrialisierten Welt in den vergangenen 75 Jahren solche<br />
Veränderungen des mittleren IQ; wir kommen darauf zurück.)<br />
IQ-Werte sind nicht nur Ausdruck des Testmittelwertes, sondern<br />
auch seiner Standardabweichung. Dabei handelt es sich um<br />
ein Maß für die Variabilität der Messwerte in einer Verteilung. Eine<br />
Normalverteilung ist so definiert, dass 68 % der Messwerte <strong>im</strong> Bereich<br />
zwischen einer Standardabweichung oberhalb <strong>und</strong> unterhalb<br />
des Mittelwerts liegen; 95 % der Messwerte liegen <strong>im</strong> Bereich zwischen<br />
zwei Standardabweichungen über <strong>und</strong> unter dem Mittelwert.<br />
Standardabweichung – Ein Maß für die Variabilität von Messwerten in einer<br />
Verteilung. Bei einer Normalverteilung liegen 68 % der Messwerte innerhalb<br />
einer Standardabweichung links <strong>und</strong> rechts vom Mittelwert <strong>und</strong> 95 % der Messwerte<br />
innerhalb von zwei Standardabweichungen.<br />
Bei den meisten Intelligenztests beträgt eine Standardabweichung<br />
15 Punkte. (Dies ist genauso willkürlich gesetzt wie der<br />
Wert 100 für den Mittelwert.) Ein Kind, dessen Intelligenz eine<br />
Standardabweichung über dem seinem Alter gemäßen Mittelwert<br />
liegt, erzielt somit einen IQ-Wert von 115, nämlich den<br />
Mittelwert von 100 plus 15 für eine Standardabweichung. Dieser<br />
Wert von 115 bedeutet, dass 84 % der Kinder, die zu derselben<br />
Verteilung gehören, einen niedrigeren IQ besitzen (. Abb. 8.3).<br />
Analog erzielt ein Kind, dessen Messwert eine Standardabweichung<br />
unter dem Mittelwert liegt, einen IQ von 85 (100 minus<br />
15); dieser Wert bedeutet, dass nur 16 % der Vergleichsgruppe<br />
einen niedrigeren Wert erzielen. Aus . Abb. 8.3 wird außerdem<br />
erkennbar, dass bei etwa 95 % der Kinder die IQ-Werte innerhalb<br />
von zwei Standardabweichungen über <strong>und</strong> unter dem Mittelwert<br />
liegen, also zwischen 70 <strong>und</strong> 130.<br />
..<br />
Die IQ-Werte von Kindern, deren Eltern sich für ihren schulischen Erfolg<br />
interessieren, steigen häufig <strong>im</strong> Verlauf der Zeit. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Ein Vorteil dieses Messwertsystems besteht darin, dass sich IQ-<br />
Werte in verschiedenen Altersstufen trotz der großen Wissenszuwächse,<br />
die bei allen Kindern die Entwicklung begleiten, leicht<br />
miteinander vergleichen lassen. Ein Wert von 130 <strong>im</strong> Alter von fünf<br />
Jahren bedeutet, dass die Leistung des <strong>Kindes</strong> r<strong>und</strong> 98 % der Altersgenossen<br />
übertrifft; ein IQ von 130 <strong>im</strong> Alter von zehn Jahren bedeutet<br />
genau dasselbe. Diese Eigenschaft der heutigen Definition des Intelligenzquotienten<br />
hat die Analyse der Stabilität von IQ-Werten <strong>im</strong><br />
Zeitverlauf sehr erleichtert; diesem Thema wenden wir uns nun zu.<br />
Die Kontinuität von IQ-Werten<br />
Wenn der IQ eine gleichbleibende Eigenschaft einer Person ist,<br />
dann sollten die IQ-Werte, die jemand in unterschiedlichem<br />
Alter erzielt, hoch miteinander korrelieren. Langzeitstudien, in<br />
denen der IQ derselben Kinder in unterschiedlichem Alter gemessen<br />
wurde, haben tatsächlich eine beeindruckende Kontinuität<br />
ab dem fünften Lebensjahr gezeigt. In einer Untersuchung<br />
beispielsweise ergab sich eine Korrelation von 0,67 zwischen dem<br />
IQ mit fünf Jahren <strong>und</strong> dem IQ mit 15 Jahren (Humphreys 1989).<br />
Dies zeigt ein recht bemerkenswertes Ausmaß an Kontinuität<br />
über zehn Jahre hinweg. (Eine Korrelation von 1.00 bedeutet, wie<br />
in ▶ Kap. 1 erläutert, eine vollkommene Korrelation zwischen<br />
zwei Variablen.) Der IQ dürfte die stabilste aller psychologischen<br />
Persönlichkeitseigenschaften sein (Brody 1992).
282<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
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3<br />
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23<br />
Als KyLee gerade 18 Monate alt war, war er<br />
schon von Zahlen fasziniert: Sein Lieblingsspielzeug<br />
waren Plastikzahlen <strong>und</strong> Bauklötze<br />
mit Zahlen darauf. Be<strong>im</strong> Spielen mit diesen<br />
Gegenständen sagte er <strong>im</strong>mer wieder die<br />
Namen der Zahlen. Mit zwei Jahren sah er ein<br />
Autokennzeichen, auf dem zwe<strong>im</strong>al die 8 zu<br />
sehen war, <strong>und</strong> sagte: „8 + 8 = 16“; weder er<br />
noch seine Eltern konnten erklären, wie er das<br />
wissen konnte. Mit drei Jahren spielte KyLee<br />
täglich Mathematikspiele auf dem Computer.<br />
Dabei entdeckte er den Begriff der Pr<strong>im</strong>zahlen<br />
<strong>und</strong> war von nun an in der Lage, neue Pr<strong>im</strong>zahlen<br />
zu erkennen. Wiederum wussten weder<br />
er noch seine Eltern, wie ihm das gelang.<br />
Schon vor Eintritt in den Kindergarten konnte<br />
er addieren, subtrahieren, multiplizieren, dividieren,<br />
Überschlagsrechnungen durchführen<br />
<strong>und</strong> komplizierte Textaufgaben lösen. Auf die<br />
Frage, ob er der Zahlen jemals müde werde,<br />
sagte er „Nein, niemals“; er sei ein „Zahlenjunge“<br />
(Winner 1996, 38 f.). Er stellte dann<br />
be<strong>im</strong> nationalen Mathematikwettbewerb<br />
MATHCOUNTS als Siebtklässler seinen Wissensstand<br />
unter Beweis <strong>und</strong> studiert inzwischen<br />
Computerwissenschaft an der Ivy League<br />
University; seine berufliche Karriere sieht er in<br />
der Entwicklung von Algorithmen, mit denen<br />
sich die Effizienz <strong>im</strong> Alltagsleben verbessern<br />
lässt (E. Winner, persönliche Mitteilung 26. Dezember<br />
2012).<br />
Ellen Winner, eine Psychologin, die intellektuell<br />
<strong>und</strong> künstlerisch hochbegabte Kinder<br />
untersucht, bemerkte, dass manche Kinder wie<br />
KyLee erstaunlich frühe Fähigkeiten auf einem<br />
best<strong>im</strong>mten Gebiet aufweisen, z. B. Zahlen,<br />
Zeichnen, Lesen, Musik. Eine kleinere Anzahl<br />
von Kindern bringt in einem breiten Spektrum<br />
intellektueller Bereiche außergewöhnliche<br />
Leistungen. Diese universell begabten Kinder<br />
zeigten meistens mehrere der folgenden<br />
Anzeichen für Hochbegabung schon sehr früh<br />
in ihrer Entwicklung (Robinson <strong>und</strong> Robinson<br />
1992):<br />
ungewöhnliche Aufmerksamkeit <strong>und</strong><br />
- lange Aufmerksamkeitsspanne in der<br />
frühen Kindheit,<br />
schnelle Sprachentwicklung,<br />
-<br />
Es gibt mehrere Variablen, die das Ausmaß an Stabilität zwischen<br />
den IQ-Werten <strong>im</strong> Zeitverlauf beeinflussen. Je näher die<br />
IQ-Tests zeitlich beieinanderliegen, desto mehr Stabilität sollte<br />
man erwarten. Tatsächlich fand sich in derselben Untersuchung,<br />
in der die IQ-Werte <strong>im</strong> Alter von fünf <strong>und</strong> 15 Jahren mit 0,67 korrelierten,<br />
eine Korrelation von 0,79 zwischen den IQs bei fünf <strong>und</strong><br />
neun Jahren sowie eine Korrelation von 0,87 zwischen den IQs bei<br />
fünf <strong>und</strong> sechs Jahren. Überdies sind bei allen Zeitintervallen zwischen<br />
zwei Testungen die Werte <strong>im</strong> höheren Alter stabiler. In einer<br />
Untersuchung beispielsweise korrelierten die IQ-Werte <strong>im</strong> Alter<br />
von vier <strong>und</strong> fünf Jahren mit 0,80, bei sechs <strong>und</strong> sieben Jahren mit<br />
0,87 <strong>und</strong> zwischen acht <strong>und</strong> neun Jahren mit 0,90 (Brody 1992).<br />
Neugier – tiefgehende Verständnisfragen<br />
- stellen <strong>und</strong> mit oberflächlichen Antworten<br />
nicht zufrieden sein,<br />
hohes Energieniveau, oft an der Grenze<br />
zur Hyperaktivität,<br />
intensive Reaktionen auf Frustration,<br />
sehr frühes Lesenkönnen <strong>und</strong> Interesse an<br />
Zahlen,<br />
außergewöhnliche logische <strong>und</strong> abstrakte<br />
Denkfähigkeit,<br />
ungewöhnlich gutes Gedächtnis,<br />
Vergnügen be<strong>im</strong> Alleinspielen.<br />
Außergewöhnliche - frühe Fähigkeiten kündigen<br />
oft (aber keineswegs <strong>im</strong>mer) herausragende<br />
spätere Leistungen an. Betrachten wir<br />
eine Langzeituntersuchung an 320 Kindern,<br />
die mit 13 Jahren <strong>im</strong> Rahmen einer nationalen<br />
Talentsuche ihren Studieneignungstest (SAT)<br />
für das College ablegten <strong>und</strong> in sprachlichen<br />
sowie mathematischen Fähigkeiten Werte<br />
erreichten, die nur einer von 10.000 Menschen<br />
erbringt. Zehn Jahre später gehörte zu den besonderen<br />
Leistungen einiger Untersuchungsteilnehmer<br />
beispielsweise ein Arrangement<br />
von Pink Floyds The Wall in einer mult<strong>im</strong>edialen<br />
Rockoper, die Entwicklung eines der<br />
bekanntesten Videospiele in den Vereinigten<br />
Staaten <strong>und</strong> die Entwicklung eines Navigationssystems<br />
für die Landung einer Marsrakete<br />
(Lubinski et al. 2001). Als Gruppe hatten sie<br />
damals elf Artikel in wissenschaftlichen <strong>und</strong><br />
medizinischen Zeitschriften veröffentlicht <strong>und</strong><br />
individuelle Auszeichnungen in verschiedenen<br />
Bereichen zwischen Physik <strong>und</strong> kreativem<br />
Schreiben bekommen.<br />
Als man die Teilnehmer mit 33 Jahren erneut<br />
kontaktierte, hatten über die Hälfte der<br />
ursprünglichen Stichprobe ihre Hochschulabschlüsse<br />
als Doktor der Philosophie, der Medizin<br />
oder der Rechtswissenschaften gemacht<br />
(Lubinski et al. 2006). Der Anteil der Promovierten<br />
unter den Teilnehmern lag über 50-mal<br />
so hoch wie in der Gesamtbevölkerung, <strong>und</strong><br />
der Anteil derer, die ein Patent angemeldet<br />
hatten, war elfmal so hoch. Innerhalb dieser<br />
Elitestichprobe sagten hohe Ausgangswerte in<br />
Mathematik hohe Leistungen vorher. Je höher<br />
der Wert mit 13 Jahren be<strong>im</strong> Aufnahmetest<br />
für das College gewesen war, desto höher war<br />
Exkurs 8.1: Individuelle Unterschiede: Begabte Kinder | |<br />
mit 33 Jahren beispielsweise die Anzahl der<br />
Patente <strong>und</strong> der Publikationen in wissenschaftlichen<br />
Fachzeitschriften, insbesondere<br />
<strong>im</strong> Bereich der Naturwissenschaften, der<br />
Ingenieurwissenschaften <strong>und</strong> der Mathematik<br />
(Park et al. 2008).<br />
Außergewöhnliche Fähigkeiten, die ein Kind<br />
schon früh in einem best<strong>im</strong>mten Bereich zeigt,<br />
sind jedoch keine Garantie dafür, dass auch <strong>im</strong><br />
Erwachsenenalter die Leistungen auf diesem<br />
Gebiet hervorragend sind. Entscheidend sind<br />
hier auch Faktoren wie das Ausmaß des Interesses<br />
an einem Fachgebiet, die Bereitschaft zu<br />
langen Arbeitszeiten, Kreativität <strong>und</strong> Durchhaltevermögen<br />
angesichts von Schwierigkeiten<br />
(Lubinski <strong>und</strong> Benbow 2006; Wai et al.<br />
2010). Allerdings ist es beeindruckend, wie gut<br />
die Werte eines einzigen Tests, durchgeführt<br />
an 13-Jährigen, vorhersagen, dass zehn <strong>und</strong><br />
20 Jahre später außergewöhnliche Leistungen<br />
auftreten.<br />
..<br />
Außergewöhnlich frühe Leser wie dieses<br />
dreieinhalbjährige Kind behalten <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
während ihres ganzen Lebens eine exzellente<br />
Lesefähigkeit. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Zwar sind die IQ-Werte einer Person in unterschiedlichem Alter<br />
meistens ähnlich, aber identisch sind sie selten. Kinder, die mit<br />
vier <strong>und</strong> dann wieder mit 17 Jahren einen IQ-Test machen, zeigen<br />
eine Veränderung von durchschnittlich 13 Punkten nach oben oder<br />
nach unten; zwischen der Testung mit acht <strong>und</strong> mit 17 Jahren beträgt<br />
die durchschnittliche Veränderung neun Punkte; zwischen<br />
zwölf <strong>und</strong> 17 Jahren sieben Punkte (Brody 1992). Diese Veränderungen<br />
beruhen zum Teil auf Zufallsvariation, zum Beispiel hinsichtlich<br />
der Tagesform des <strong>Kindes</strong> während der Testung. Veränderungen<br />
in der Umwelt des <strong>Kindes</strong>, beispielsweise durch Scheidung<br />
der Eltern oder durch Umzug in eine bessere Wohngegend, können<br />
ebenfalls Auswirkungen auf den IQ haben (Sameroff et al. 1993).
IQ-Werte als Prädiktoren von Lebenserfolg<br />
283 8<br />
Eine Frage, die Wissenschaftler <strong>und</strong> Eltern gleichermaßen<br />
beschäftigt, lautet, ob es bereits bei kleinen Kindern möglich<br />
ist, diejenigen herauszufinden, die eine höhere Intelligenz oder<br />
besondere intellektuelle oder künstlerische Fähigkeiten haben.<br />
Forschung an Kindern, die oft als besonders begabt beschrieben<br />
werden, stellen wir in ▶ Exkurs 8.1 vor.<br />
In Kürze | |<br />
Intelligenztests untersuchen eine Bandbreite von Fähigkeiten<br />
<strong>und</strong> Wissenstypen, zum Beispiel Wortschatz, Sprachverstehen,<br />
Rechnen, Gedächtnis <strong>und</strong> räumliches Schlussfolgern.<br />
Mithilfe der Tests erhält man ein allgemeines Maß<br />
für die Intelligenz, den IQ-Wert. IQ-Tests sind so gestaltet,<br />
dass ihr Durchschnittswert bei 100 liegt <strong>und</strong> höhere Werte<br />
überdurchschnittliche, niedrigere Werte unterdurchschnittliche<br />
Intelligenz bedeuten. Nach dem fünften oder sechsten<br />
Lebensjahr bleiben die IQ-Werte einzelner Kinder auch<br />
über lange Zeitintervalle hinweg in der Regel sehr stabil,<br />
wobei sie dennoch von einer Testung zur anderen ein wenig<br />
variieren können.<br />
IQ-Werte als Prädiktoren von Lebenserfolg<br />
Die Behauptung, dass der IQ einen starken Prädiktor für akademischen,<br />
ökonomischen <strong>und</strong> beruflichen Erfolg darstellt, ist<br />
wohlbegründet (Sackett et al. 2008; Schmidt <strong>und</strong> Hunter 2004).<br />
Wie schon dargelegt, korrelieren IQ-Werte positiv <strong>und</strong> ziemlich<br />
hoch mit Schulnoten <strong>und</strong> dem Ergebnis bei Leistungstests, <strong>und</strong><br />
zwar sowohl zum Zeitpunkt der IQ-Messung als auch in späteren<br />
Jahren (Geary 2005). So korrelieren der IQ <strong>und</strong> Leistungstestwerte<br />
normalerweise mit 0,50 bis 0,60 (Deary et al. 2007). Auch<br />
korrelieren IQ-Werte positiv mit längerfristigen Schul- <strong>und</strong> Ausbildungsleistungen.<br />
In den USA korreliert die Intelligenz in der<br />
sechsten Klasse etwa mit 0,60 mit der Anzahl an Ausbildungsjahren,<br />
welche die betreffende Person letztendlich absolvieren wird<br />
(Jencks 1979). Beträchtliche Zusammenhänge zwischen dem IQ<br />
<strong>und</strong> der Arbeitsleistung in hochkomplexen Berufen existieren<br />
mindestens noch zehn Jahre nach dem Berufseinstieg (Sackett<br />
et al. 2008).<br />
Zum Teil geht der positive Zusammenhang zwischen IQ <strong>und</strong><br />
Berufserfolg einschließlich Einkommen auf die Tatsache zurück,<br />
dass standardisierte Testleistungen als Türöffner wirken, also darüber<br />
best<strong>im</strong>men, welche Schüler Zugang zu Ausbildungsgängen<br />
<strong>und</strong> Abschlüssen bekommen, die für lukrative Positionen<br />
benötigt werden. Aber selbst von den Menschen, die am Anfang<br />
denselben Beruf haben, neigen diejenigen mit höherem IQ zu<br />
besseren Leistungen, verdienen mehr Geld <strong>und</strong> werden eher befördert<br />
(Schmidt <strong>und</strong> Hunter 2004; Wilk et al. 1995).<br />
Der IQ eines <strong>Kindes</strong> hängt enger mit seinem späteren Berufserfolg<br />
zusammen als der sozioökonomische Status der Familie,<br />
in der es aufwächst, die Schule, die das Kind besucht, oder<br />
irgendeine andere untersuchte Variable (Ceci 1993). Diese Zusammenhänge<br />
bestätigen sich auch für den obersten Verteilungsbereich<br />
der Testwerte. Zwar wird in einigen populären Büchern<br />
wie Überflieger (Gladwell 2009) behauptet, dass Menschen mit<br />
relativ hohen Testleistungen ähnlich gute Abschlüsse <strong>und</strong> Berufserfolge<br />
erzielen wie Personen mit extrem hohen Testwerten,<br />
aber die empirische Forschung zeigt, das auch in diesem obersten<br />
Verteilungsbereich mit zunehmenden Testleistungen auch zunehmende<br />
Leistungsniveaus wahrscheinlicher werden.<br />
So starke Vorhersagekraft der IQ auch für den akademischen,<br />
ökonomischen <strong>und</strong> beruflichen Erfolg haben mag, er ist keineswegs<br />
der einzige Einflussfaktor. Andere Eigenschaften eines <strong>Kindes</strong><br />
wie Erfolgsmotivation, Gewissenhaftigkeit, intellektuelle Neugier,<br />
Kreativität, körperliche <strong>und</strong> geistige Ges<strong>und</strong>heit sowie soziale<br />
Fähigkeiten sind ebenso wichtige Einflüsse (Roberts et al. 2007;<br />
Sternberg 2004; von Stumm et al. 2011). Selbstkontrolle, d. h. die<br />
Fähigkeit, Handlungen zu steuern, Regeln einzuhalten <strong>und</strong> <strong>im</strong>pulsive<br />
Reaktionen zu vermeiden, ist ein besserer Prädiktor für<br />
die Veränderungen der Zeugnisnoten zwischen der fünften <strong>und</strong><br />
achten Klasse als der IQ, obwohl der IQ die Veränderungen bei<br />
Leistungstests innerhalb des gleichen Zeitraumes besser vorhersagt<br />
(Duckworth et al. 2012). Ähnlich einflussreich für den Erfolg<br />
in vielen Situationen ist die „praktische Intelligenz“, die wichtige<br />
mentale Fähigkeiten umfasst, die in traditionellen IQ-Tests nicht<br />
gemessen werden: das Erkennen der Emotionen <strong>und</strong> Absichten<br />
anderer Menschen <strong>und</strong> das Motivieren anderer, in einem Team<br />
effektiv zusammenzuarbeiten. Die praktische Intelligenz sagt den<br />
beruflichen Erfolg auch dann vorher, wenn man den Einfluss des<br />
IQ herausrechnet (Cianciolo et al. 2006; Sternberg 2003). Ähnlich<br />
einflussreich sind Umweltmerkmale: Wenn Eltern ihre Kinder ermutigen<br />
<strong>und</strong> produktive Berufswege entwerfen, so ist auch dies ein<br />
Prädiktor für den beruflichen Erfolg der Kinder (Kalil et al. 2005).<br />
Selbstkontrolle – Die Fähigkeit, Handlungen kontrolliert zu steuern, Regeln<br />
einzuhalten <strong>und</strong> <strong>im</strong>pulsive Reaktionen zu vermeiden.<br />
. Abbildung 8.4 illustriert, wie derselbe Datensatz Nachweise für<br />
die Bedeutung sowohl des IQ als auch anderer Faktoren bringen<br />
kann. In Übereinst<strong>im</strong>mung mit der hervorgehobenen Bedeutung<br />
des IQ zeigt die Grafik, dass bei Menschen mit demselben Ausbildungsniveau<br />
diejenigen mehr Geld verdienen, die den höheren<br />
IQ besitzen. In Übereinst<strong>im</strong>mung mit der hervorgehobenen<br />
Bedeutung anderer Faktoren zeigt die Grafik aber auch, dass bei<br />
Menschen mit vergleichbarem IQ diejenigen mehr Geld verdienen,<br />
die eine längere Ausbildungszeit hatten. Während der IQ<br />
also einen zentralen Beitrag zum Erfolg in Schule, Ausbildung,<br />
Beruf <strong>und</strong> Einkommen leistet, sind andere Faktoren hier ebenfalls<br />
einflussreich.<br />
In Kürze | |<br />
IQ-Werte hängen positiv mit Schulnoten <strong>und</strong> dem Abschneiden<br />
bei Leistungstests zusammen, sowohl zum gleichen<br />
Messzeitpunkt als auch in späteren Jahren. Auch hängen sie<br />
positiv mit dem Berufserfolg als Erwachsener zusammen.<br />
Der IQ ist jedoch nicht der einzige Einflussfaktor. Motivation,<br />
Kreativität, Selbstkontrolle, soziale Fähigkeiten <strong>und</strong> eine<br />
Vielzahl anderer Faktoren leisten ebenfalls ihren Beitrag zu<br />
dem, was man <strong>im</strong> Leben erreicht.
284<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Wocheneinkommen 1992 in Dollar<br />
650<br />
600<br />
550<br />
500<br />
450<br />
400<br />
350<br />
300<br />
250<br />
200<br />
IQ-Quintil IQ-Quintil IQ-Quintil<br />
Highschool 2-jähriges Studium 4-jähriges Studium<br />
..<br />
Abb. 8.4 Effekte von IQ <strong>und</strong> Ausbildung auf das Einkommen. Diese<br />
erhobenen Daten zeigen die Zusammenhänge für das Durchschnittseinkommen<br />
von Menschen mit unterschiedlichem Ausbildungsniveau, deren IQ-<br />
Testwerte in unterschiedlichen Quintilen der IQ-Verteilung (fünf Quintile von<br />
jeweils 20-%-Intervallen) liegen. Auf jedem Ausbildungsniveau verdienten<br />
Menschen mit höherem IQ mehr. Unter denjenigen, die nur den Highschool-<br />
Abschluss hatten, verdienten diejenigen, die in einem Intelligenztest Werte<br />
<strong>im</strong> Bereich der untersten 20 % erzielten (blauer Balken), durchschnittlich<br />
kaum mehr als 250 US-Dollar in der Woche, während diejenigen, die Werte<br />
<strong>im</strong> Bereich der obersten 20 % erzielten (violetter Balken), durchschnittlich<br />
fast 450 US-Dollar in der Woche verdienten. Wie die violetten Balken zeigen,<br />
verdienten Menschen, deren IQ-Werte zu den obersten 20 % gehören, die<br />
aber nur den Highschool-Abschluss hatten, durchschnittlich ungefähr<br />
450 US-Dollar in der Woche, während diejenigen mit vergleichbarem IQ, aber<br />
vierjährigem Studium, fast 650 US-Dollar in der Woche verdienten. (Daten aus<br />
Ceci 1996)<br />
Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />
Keine Fragestellung hat in der Psychologie eine längere oder heftigere<br />
Debatte ausgelöst als die Frage, wie Vererbung <strong>und</strong> Umwelt<br />
die Intelligenz beeinflussen. Selbst Personen, die erkennen, dass<br />
die Intelligenz, wie alle menschlichen Eigenschaften, durch die<br />
fortwährende Interaktion zwischen Genen <strong>und</strong> Umwelt entsteht,<br />
vergessen diese Tatsache häufig <strong>und</strong> vertreten extreme Positionen,<br />
die mehr auf Emotionen <strong>und</strong> Ideologien gegründet sind<br />
denn auf Fakten.<br />
Einen nützlichen Ausgangspunkt für die Beurteilung der<br />
Einflüsse von Genen <strong>und</strong> Umwelt auf die Intelligenz bietet das<br />
bioökologische Entwicklungsmodell von Bronfenbrenner (1993),<br />
das in ▶ Kap. 9 eingehend behandelt wird. Nach diesem Modell<br />
ist das Leben von Kindern in eine Reihe von zunehmend umfassenderen<br />
Umwelten eingebettet. Im Mittelpunkt steht das Kind<br />
mit seinen einzigartigen Eigenschaften einschließlich seiner genetischen<br />
Ausstattung <strong>und</strong> seiner persönlichen Erfahrung. Zur<br />
unmittelbaren Umgebung des <strong>Kindes</strong> gehören insbesondere<br />
Menschen <strong>und</strong> Institutionen, mit denen das Kind direkt zu tun<br />
hat: Familie, Schule, Klassenkameraden, Lehrern, Nachbarn <strong>und</strong><br />
so weiter. Jenseits der unmittelbaren Umgebung befinden sich die<br />
entfernteren, weniger greifbaren Umwelten, die sich ebenfalls<br />
auf die Entwicklung auswirken: kulturelle Einstellungen, das Sozial-<br />
<strong>und</strong> Wirtschaftssystem, die Massenmedien, die Regierung<br />
<strong>und</strong> so weiter. Wir werden <strong>im</strong> Folgenden untersuchen, wie die<br />
Eigenschaften des <strong>Kindes</strong>, seine unmittelbare Umwelt <strong>und</strong> die<br />
weiter abgesteckte Umgebung zur Entwicklung der Intelligenz<br />
beitragen.<br />
Varianzkomponente<br />
1,0<br />
0,8<br />
0,6<br />
0,4<br />
0,2<br />
0,0<br />
4 bis 6 6 bis 12 12 bis 16 16 bis 20 Ewachsener<br />
Altersgruppe<br />
Genetisch<br />
Eigenschaften des <strong>Kindes</strong><br />
Geteilte Umwelt<br />
..<br />
Abb. 8.5 Varianzaufklärung des IQ durch Gene <strong>und</strong> Umwelt <strong>im</strong> Entwicklungsverlauf.<br />
Mit zunehmendem Alter lässt sich die Varianz der IQ-Werte <strong>im</strong>mer<br />
mehr durch genetische Einflüsse erklären, während der Varianzanteil aufgr<strong>und</strong><br />
geteilter Umwelt sinkt. In der Altersgruppe der Vier- bis Sechsjährigen tragen<br />
beide Faktoren noch fast gleich stark zur Varianzaufklärung bei, <strong>und</strong> <strong>im</strong> Erwachsenenalter<br />
dominiert der genetische Faktor. (Daten aus McGue et al. 1993)<br />
Kinder tragen viel zu ihrer eigenen intellektuellen Entwicklung<br />
bei. Der Beitrag ergibt sich aus ihrer genetischen Ausstattung, aus<br />
den Reaktionen, die sie bei anderen Menschen hervorrufen, <strong>und</strong><br />
aus der Wahl ihrer Umgebungen.<br />
Genetische Beiträge zur Intelligenz<br />
Wie in ▶ Kap. 3 dargestellt, haben die Gene einen beträchtlichen<br />
Einfluss auf die Intelligenz. Dieser genetische Einfluss variiert stark<br />
mit dem Alter (. Abb. 8.5): In der frühen Kindheit ist er relativ<br />
mäßig <strong>und</strong> wird in der Pubertät <strong>und</strong> <strong>im</strong> Erwachsenenalter sehr<br />
groß (Bouchard 2004; Plomin et al. 2008). Die Korrelationen zwischen<br />
den IQ-Werten eineiiger Zwillinge, die sich in allen ihren<br />
Genen gleichen, steigen vom Vorschulalter zum Erwachsenenalter,<br />
wohingegen die Korrelationen zwischen den IQ-Werten zweieiiger<br />
Zwillinge (mit nichtidentischen Genen) sinken (Plomin et al. 1997).<br />
Ein Gr<strong>und</strong> für diesen wachsenden genetischen Einfluss besteht<br />
darin, dass bei einigen der genetischen Prozesse die Auswirkungen<br />
auf den IQ erst ab der späteren Kindheit <strong>und</strong> dem <strong>Jugendalter</strong> sichtbar<br />
werden. Zum Beispiel sind einige der Verbindungen zwischen<br />
best<strong>im</strong>mten, weit voneinander entfernten Gehirnbereichen erst <strong>im</strong><br />
<strong>Jugendalter</strong> ausgebildet, <strong>und</strong> das Ausmaß solcher Verbindungen<br />
spiegelt genetische Einflüsse wider (Thatcher 1992). Ein weiterer<br />
Gr<strong>und</strong> besteht darin, dass die mit dem Alter zunehmende Unabhängigkeit<br />
der Kinder ihnen größere Freiheiten gibt, sich solche<br />
Umgebungen auszusuchen, die zu ihren eigenen, genetisch basierten<br />
Präferenzen passen, aber nicht notwendigerweise zu denen der<br />
sozialen Eltern, die sie großziehen (McAdams <strong>und</strong> Olson 2010).<br />
Die Fortschritte in der Genetik haben Forschungen angeregt,<br />
bei denen eine kleine Gruppe von Genen identifiziert werden soll,<br />
um die individuellen Unterschiede in der Intelligenz auf diese Gene<br />
zurückzuführen. So wurden nahezu 300 Gene identifiziert, die mit<br />
mentalen Beeinträchtigungen einhergehen (Inlow <strong>und</strong> Restifo
Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />
285 8<br />
2004). Allerdings wurde kein Gen gef<strong>und</strong>en, das die Variation der<br />
Intelligenz konsistent erklären könnte (Butcher et al. 2008; Chabris<br />
et al. 2012). Die wohl wahrscheinlichste Erklärung lautet, dass der<br />
genetische Einfluss auf die Intelligenz durch eine Vielzahl von Genen<br />
zustande kommt, die jeweils einen kleinen Beitrag liefern <strong>und</strong><br />
auf komplexe Weise zusammenwirken (Nisbett et al. 2012).<br />
Interaktionen zwischen Genotyp <strong>und</strong> Umwelt<br />
Wie in ▶ Kap. 3 dargestellt, hängt es zum Teil vom Genotyp der<br />
Kinder ab, mit welchen Umwelttypen sie in Berührung kommen.<br />
Sandra Scarr (1992) nahm an, dass an diesen Beziehungen zwischen<br />
Genotyp <strong>und</strong> Umwelt drei Arten von Wirkungen beteiligt<br />
-<br />
sind: passive, evozierende <strong>und</strong> aktive Wirkungen.<br />
Passive Wirkungen des Genotyps entstehen, wenn Kinder bei<br />
ihren biologischen Eltern aufwachsen. Diese Wirkungen treten<br />
nicht ein, weil die Kinder irgendetwas tun, sondern weil<br />
sich ihre eigenen Gene <strong>und</strong> die ihrer Eltern überlappen. Kinder,<br />
deren Genotyp sie dazu veranlagt, gern zu lesen, wachsen<br />
wahrscheinlich in einem Haus mit Büchern, Zeitschriften<br />
<strong>und</strong> Zeitungen auf, weil ihre Eltern ebenfalls gern lesen. Die<br />
passiven Effekte des Genotyps erklären zumindest teilweise,<br />
warum die Intelligenzquotienten von leiblichen Eltern <strong>und</strong><br />
ihren Kindern höher korrelieren, wenn die Kinder bei ihren<br />
-<br />
leiblichen Eltern leben, als wenn sie bei Adoptiveltern leben.<br />
Evozierende Wirkungen des Genotyps ergeben sich daraus,<br />
dass Kinder ein best<strong>im</strong>mtes Verhalten anderer Menschen hervorrufen<br />
oder deren Verhalten beeinflussen. Selbst wenn die<br />
Eltern eines kleinen Mädchens beispielsweise keine begeisterten<br />
Leser sind, werden sie ihr dennoch mehr Gutenachtgeschichten<br />
vorlesen, wenn sie an den Geschichten Interesse<br />
-<br />
zeigt, als wenn sie einen gelangweilten Eindruck macht.<br />
Aktive Wirkungen des Genotyps bestehen unter anderem darin,<br />
dass Kinder sich Umgebungen wählen, die ihnen gefallen.<br />
Ein Gymnasiast, der gern liest, wird sich Bücher aus der Bibliothek<br />
ausleihen <strong>und</strong> anderweitig besorgen, gleich ob seine<br />
Eltern ihm, als er klein war, vorgelesen haben oder nicht.<br />
Mithilfe der evozierenden <strong>und</strong> aktiven Effekte des Genotyps lässt<br />
sich erklären, wie der IQ von Kindern sich dem seiner biologischen<br />
Eltern angleicht, selbst wenn die Kinder adoptiert wurden<br />
<strong>und</strong> ihre leiblichen Eltern nie gesehen haben.<br />
Robert Bradley <strong>und</strong> Bettye Caldwell (1979) nahmen dieses<br />
komplizierte Problem in Angriff, indem sie ein Maß entwickelten,<br />
das als HOME bekannt ist (Home Observation for Measurement<br />
of the Environment). Dieses Maß vereinigt verschiedene Aspekte<br />
des häuslichen Lebens von Kindern, zum Beispiel die Ordnung<br />
<strong>und</strong> Sicherheit des Lebensraumes, die intellektuelle St<strong>im</strong>ulation<br />
durch die Eltern, ob die Kinder eigene Bücher besitzen oder nicht,<br />
wie viel Interaktion zwischen Eltern <strong>und</strong> Kind stattfindet, die elterliche<br />
emotionale Unterstützung für das Kind <strong>und</strong> dergleichen<br />
mehr. . Tabelle 8.1 zeigt die Items <strong>und</strong> Unterskalen, die in der<br />
Originalversion von HOME verwendet werden; sie wurde für die<br />
Beurteilung der familiären Umwelt von Kindern von der Geburt<br />
bis zum Alter von drei Jahren entwickelt. Folgeversionen von<br />
HOME wurden für die Anwendung bei Kindern <strong>im</strong> Vorschulalter,<br />
bei Schulkindern <strong>und</strong> bei Jugendlichen entwickelt (Bradley 1994).<br />
Während der gesamten Kindheit korrelieren die IQ-Werte<br />
<strong>und</strong> auch die Rechen- <strong>und</strong> Leseleistungen von Kindern positiv<br />
mit der Qualität ihrer familiären Umwelt, gemessen mit HOME<br />
(Bradley et al. 2001). Die HOME-Werte von Familien mit sechs<br />
Monate alten Kindern korrelieren positiv mit dem IQ der Kinder<br />
<strong>im</strong> Alter von vier Jahren, <strong>und</strong> die HOME-Werte von Zweijährigen<br />
korrelieren positiv mit den später gemessenen IQ-Werten <strong>und</strong><br />
Schulleistungen der Kinder <strong>im</strong> Alter von elf Jahren (Olson et al.<br />
1992). Wenn die mit HOME gemessenen Werte <strong>im</strong> Zeitverlauf relativ<br />
stabil bleiben, sind auch die IQ-Werte <strong>im</strong> Allgemeinen stabil;<br />
wenn sich die HOME-Werte ändern, ändern sich häufig auch die<br />
IQ-Werte in dieselbe Richtung (Bradley 1989). Die Beurteilung<br />
unterschiedlicher Aspekte der familiären Umwelt eines <strong>Kindes</strong><br />
erlaubt somit eine gute Vorhersage seiner gemessenen Intelligenz.<br />
Angesichts dieser Bef<strong>und</strong>e wäre der Schluss verlockend, dass<br />
häusliche Umwelten von höherer Qualität einen höheren IQ der<br />
Kinder verursachen. Noch weiß man jedoch nicht, ob dies tatsächlich<br />
der Fall ist. Die Unsicherheit darüber spiegelt sich in<br />
zwei Faktoren wider: Erstens dürfte die Art der häuslichen intellektuellen<br />
Umwelt, die Eltern einrichten, mit Sicherheit auch von<br />
ihrer genetischen Ausstattung beeinflusst sein. Zweitens haben<br />
sich fast alle Untersuchungen, in denen HOME eingesetzt wurde,<br />
auf Familien konzentriert, in denen Kinder mit ihren biologischen<br />
Eltern zusammenleben.<br />
Der Einfluss der unmittelbaren Umwelt<br />
Der Einfluss der Umwelt auf die Entwicklung der Intelligenz beginnt<br />
mit der unmittelbaren Umgebung in Familie <strong>und</strong> Schule.<br />
Familieneinflüsse<br />
Auf die Frage, was der wichtigste Umwelteinfluss auf ihre Intelligenz<br />
gewesen sei, würden die meisten Menschen wahrscheinlich auf ihre<br />
Familie verweisen. Um den Einfluss der familiären Umwelt auf die<br />
Intelligenz des <strong>Kindes</strong> zu testen, bedarf es jedoch einiger Mittel, um<br />
die Beschaffenheit der familiären Umwelt zu best<strong>im</strong>men. Wie können<br />
wir etwas so Komplexes <strong>und</strong> Facettenreiches wie ein familiäres<br />
Umfeld messen, zumal dieses Umfeld schon für die verschiedenen<br />
Kinder innerhalb derselben Familie unterschiedlich sein kann?<br />
..<br />
Eine anregende häusliche Umwelt, in der Erwachsene <strong>und</strong> Kinder<br />
gemeinsam etwas unternehmen, stehen mit hohen IQ-Werten <strong>und</strong> hohen<br />
schulischen Leistungen in Zusammenhang. (© somenski/fotolia)
286<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
Tab. 8.1 Auswahl von Items <strong>und</strong> Unterskalen von HOME (Kleinkindversion).<br />
(Aus Bradley <strong>und</strong> Caldwell 1984, S. 7 f.)<br />
I. Emotionale <strong>und</strong> verbale Reaktivität der Mutter<br />
1. Mutter spricht während des Besuchs mindestens zwe<strong>im</strong>al zu<br />
dem Kind (außer sch<strong>im</strong>pfen).<br />
2. Mutter reagiert auf die Vokalisationen des <strong>Kindes</strong> mit einer<br />
verbalen Reaktion.<br />
3. Mutter nennt dem Kind während des Besuchs den Namen<br />
eines Objekts oder sagt den Namen einer Person oder eines<br />
Objekts in einem „Lehrerinnen-Stil“.<br />
II.<br />
Vermeidung von Einschränkung <strong>und</strong> Bestrafung<br />
4. Mutter schreit das Kind während des Besuchs nicht an.<br />
5. Mutter bringt keinen offenen Ärger über das Kind oder Feindseligkeit<br />
zum Ausdruck.<br />
6. Nicht mehr als dre<strong>im</strong>al während des Besuchs unterbricht<br />
die Mutter die Handlungen des <strong>Kindes</strong> oder schränkt seine<br />
Bewegungen ein.<br />
III.<br />
Organisation der materiellen <strong>und</strong> zeitlichen Umwelt<br />
7. Wenn die Mutter abwesend ist, erfolgt die Versorgung durch<br />
einen von drei regelmäßigen Vertretern.<br />
8. Kind wird regelmäßig dem Arzt vorgestellt.<br />
9. Kind hat einen best<strong>im</strong>mten Platz für seine Spielsachen <strong>und</strong><br />
„Schätze“.<br />
IV.<br />
Bereitstellung angemessener Spielmaterialien<br />
10. Kind besitzt Spielsachen oder Gerätschaften, die Muskelkraft<br />
erfordern.<br />
11. Kind besitzt ein Laufgestell, einen Bobbycar, einen Roller oder<br />
ein Dreirad.<br />
12. Altersgemäße Ausstattung mit Lernmöglichkeiten vorhanden<br />
– Kuscheltier oder Spielzeug für Rollenspiele.<br />
V. Mütterliche Beteiligung an dem Kind<br />
13. Mutter hält das Kind meistens in Blickweite <strong>und</strong> schaut öfter<br />
nach ihm.<br />
14. Mutter „spricht“ zu dem Kind, während sie ihre Arbeit tut.<br />
15. Mutter strukturiert die Spielphasen des <strong>Kindes</strong>.<br />
VI.<br />
Gelegenheit zu vielfältigen Anregungen <strong>im</strong> Alltag<br />
16. Mutter liest mindestens dre<strong>im</strong>al in der Woche eine Geschichte<br />
vor.<br />
17. Kind n<strong>im</strong>mt mindestens eine Mahlzeit am Tag mit beiden<br />
Eltern ein.<br />
18. Kind besitzt drei oder mehr eigene Bücher.<br />
Diese beiden Umstände könnten bedeuten, dass die Gene der<br />
Eltern sowohl die intellektuelle Qualität der häuslichen Umwelt<br />
als auch den IQ der Kinder beeinflussen; demnach wäre es nicht<br />
die häusliche Umwelt als solche, die den höheren oder niedrigeren<br />
IQ der Kinder verursacht. Zu dieser Möglichkeit passen die<br />
Bef<strong>und</strong>e weniger Studien, in denen mit HOME Adoptivfamilien<br />
untersucht wurden. Die Korrelationen zwischen den HOME-<br />
Werten <strong>und</strong> dem IQ war bei den Studien mit Adoptivkindern<br />
niedriger als in den Studien mit Kindern, die bei ihren leiblichen<br />
Eltern lebten (Plomin et al. 1997). Obwohl die Messwerte<br />
von HOME eindeutig mit dem IQ der Kinder korrelieren, bleibt<br />
unklar, ob es kausale Zusammenhänge zwischen den Maßen für<br />
Intelligenz <strong>und</strong> der Qualität der familiären Umgebung gibt.<br />
Gemeinsame <strong>und</strong> nicht gemeinsame familiäre<br />
Umgebung<br />
Wenn wir uns das intellektuelle Umfeld einer Familie vorstellen,<br />
dann denken wir normalerweise an Merkmale, die für alle<br />
Kinder einer Familie gleich sind: die Bedeutung der Bildung für<br />
die Eltern, die Anzahl vorhandener Bücher, die Häufigkeit anspruchsvoller<br />
Diskussionen am Esstisch <strong>und</strong> so weiter. Wie wir<br />
in ▶ Kap. 3 jedoch bereits dargelegt haben, kommt jedes Kind<br />
einer best<strong>im</strong>mten Familie auch mit speziellen, nicht allen gemeinsamen<br />
Umgebungsfaktoren in Kontakt. So kann in jeder<br />
Familie nur ein Kind das Erstgeborene sein <strong>und</strong> zu Beginn seines<br />
Lebens die intensive, ungeteilte Aufmerksamkeit erhalten, die<br />
dieser Status oft mit sich bringt. Genauso kann ein Kind, das<br />
Interessen oder Persönlichkeitseigenschaften besitzt, die denen<br />
eines Elternteils oder beider Elternteile gleichen, mehr positive<br />
Aufmerksamkeit erhalten als andere Kinder der Familie. Schließt<br />
man besonders unzureichende häusliche Umgebungen aus der<br />
Betrachtung aus, so scheinen sich die Unterschiede innerhalb<br />
von Familien stärker auf die Intelligenzentwicklung auszuwirken<br />
als die Unterschiede zwischen Familien (Petrill et al. 2004).<br />
Hinzu kommt, dass sich der Einfluss nicht geteilter Umwelten<br />
mit zunehmendem Alter erhöht <strong>und</strong> der Einfluss geteilter Umwelten<br />
mit zunehmendem Alter sinkt, während die Kinder ihre<br />
Umwelten – Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Aktivitäten – in wachsendem Maße<br />
selbst wählen können (Bouchard 2004; Segal et al. 2007).<br />
Der Einfluss geteilter Umwelt <strong>im</strong> Verhältnis zum Einfluss der<br />
Gene variiert mit dem Familieneinkommen. Bei Kindern <strong>und</strong><br />
Jugendlichen aus Familien mit geringem Einkommen erklärt<br />
die geteilte Umwelt einen größeren Anteil der Varianz bei den<br />
IQ-Werten als die Gene. Bei Familien mit mittlerem oder hohem<br />
Einkommen kehrt sich der relative Einfluss von geteilter<br />
Umwelt <strong>und</strong> Genen bei Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen um (Harden<br />
et al. 2007; Rowe et al. 1999; Turkhe<strong>im</strong>er et al. 2003). Diese abweichenden<br />
Muster finden sich bereits bei Kindern <strong>im</strong> Alter von<br />
zwei Jahren (Tucker-Drob et al. 2011). Die Erklärung für diese<br />
Unterschiede steht noch aus.<br />
Einflüsse des Schulbesuchs<br />
Kinder werden klüger, wenn sie zur Schule gehen. Ein Beleg für<br />
diese Annahme stammt aus einer Studie, in der die IQ-Werte von<br />
älteren <strong>und</strong> jüngeren israelischen Kindern in der vierten, fünften<br />
<strong>und</strong> sechsten Klasse untersucht wurden (Cahan <strong>und</strong> Cohen<br />
1989). Wie die leichten Aufwärtstrends der einzelnen Linien in<br />
. Abb. 8.6 erkennen lassen, erzielten in beiden Testteilen innerhalb<br />
jeder Klassenstufe die älteren Kinder etwas bessere Leistungen<br />
als die jüngeren Kinder. Die Sprünge zwischen den Klassenstufen<br />
zeigen jedoch, dass die nur wenig älteren Kinder, die bereits ein<br />
Jahr länger in der Schule waren, viel besser abschnitten als die<br />
nur wenig jüngeren Kinder in der Klasse darunter. Zum Beispiel<br />
zeigen die Ergebnisse <strong>im</strong> Untertest „kuriose Wörter“ (bei dem<br />
man angeben soll, welches Wort aus einer Reihe von Wörtern<br />
nicht zu den anderen passt) einen kleinen Abstand zwischen 123<br />
<strong>und</strong> 124 Monate alten Viertklässlern, aber einen großen Abstand
Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />
287 8<br />
Kuriose Wörter<br />
Textaufgaben<br />
60<br />
Standardisierter Wert<br />
1,00<br />
0,75<br />
0,50<br />
0,25<br />
0<br />
−0,25<br />
112 120 128 136 144 112 120 128 136 144<br />
Alter (in Monaten)<br />
IQ-Test, Rohwerte<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
Klasse 4 Klasse 5 Klasse 6<br />
..<br />
Abb. 8.6 Die Beziehung zwischen Alter <strong>und</strong> Klassenstufe bei der Leistung<br />
in zwei IQ-Teiltests. Die Sprünge zwischen den Klassenstufen lassen erkennen,<br />
dass der Schulbesuch einen Einfluss auf die Leistung in Intelligenztests<br />
hat, der über den des Alters hinausgeht. (Daten aus Cahan <strong>und</strong> Cohen 1989)<br />
0<br />
1942 1947 1952 1957 1968 1980<br />
Geburtsjahr<br />
10. Perzentil 90. Perzentil<br />
zwischen diesen Viertklässlern <strong>und</strong> den 125 Monate alten Fünftklässlern.<br />
Ein anderer Typ von Belegen dafür, dass Kinder durch den<br />
Schulbesuch klüger werden, besteht darin, dass die durchschnittlichen<br />
Werte bei IQ <strong>und</strong> Leistungstests während des Schuljahres<br />
steigen, aber nicht während der Sommerferien (Ceci 1991;<br />
Huttenlocher et al. 1998). Und diese Veränderungen hängen<br />
zudem mit dem Familienhintergr<strong>und</strong> von Kindern zusammen,<br />
<strong>und</strong> zwar auf eine Weise, die ebenfalls die Annahme stützt, dass<br />
der Schulbesuch die Kinder klüger macht. Kinder aus Familien<br />
mit niedrigem sozioökonomischem Status <strong>und</strong> aus Familien<br />
mit hohem sozioökonomischem Status erzielen während des<br />
Schuljahres vergleichbare Zuwächse bei ihren Schulleistungen.<br />
Im schulfreien Sommer sinken die Leistungstestwerte bei den<br />
Kindern mit niedrigem sozioökonomischem Status jedoch ab,<br />
während die Werte der Kinder mit hohem sozioökonomischem<br />
Status gleich bleiben oder leicht ansteigen (Alexander et al. 2007;<br />
Burkam et al. 2004). Eine wahrscheinliche Erklärung könnte lauten,<br />
dass die Schule <strong>im</strong> Verlauf des Schuljahres allen Kindern eine<br />
relativ anregende intellektuelle Umgebung bietet, aber Kinder aus<br />
Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status während der<br />
Ferien viel weniger anregende Erfahrungen machen können, um<br />
das, was sie gelernt haben, auszubauen <strong>und</strong> ihre intellektuellen<br />
Leistungen zu steigern.<br />
Der Einfluss der Gesellschaft<br />
Die intellektuelle Entwicklung wird nicht nur durch Eigenschaften<br />
der Kinder, ihre Familien <strong>und</strong> ihre Schulen beeinflusst, sondern<br />
auch durch die allgemeinen Einflüsse der Gesellschaft, in<br />
der sich Kinder entwickeln. Diese Einflüsse zeigen sich daran,<br />
dass der durchschnittliche IQ in vielen Ländern auf der Welt<br />
<strong>im</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert stetig gestiegen ist – ein Effekt, den man zu<br />
Ehren seines Entdeckers den Flynn-Effekt nennt (Flynn 1987,<br />
2009). In manchen Ländern, zum Beispiel in den Niederlanden<br />
<strong>und</strong> in Israel, betrugen die IQ-Zugewinne insgesamt 20 Punkte;<br />
in den Vereinigten Staaten liegt der Anstieg bei r<strong>und</strong> zehn Punkten<br />
(Dickens <strong>und</strong> Flynn 2001; Flynn <strong>und</strong> Weiss 2007). Setzt man<br />
..<br />
Abb. 8.7 Veränderungen des IQ über längere Zeiträume bei erwachsenen<br />
Dänen mit relativ niedrigem (10. Perzentil) <strong>und</strong> mit relativ hohem<br />
IQ-Wert (90. Perzentil). Wie diese Daten zeigen, haben sich die IQ-Werte von<br />
Menschen am unteren Ende der Verteilung <strong>im</strong> Lauf der Jahre beträchtlich<br />
verbessert, während sie bei Menschen am oberen Ende praktisch konstant<br />
geblieben sind. (Nach Geary 2005)<br />
voraus, dass sich der Genpool während dieser Zeitspanne nicht<br />
bemerkenswert verändert hat, dann muss der Anstieg der IQ-<br />
Werte auf Veränderungen der Gesellschaft zurückzuführen sein.<br />
Flynn-Effekt – Der Anstieg der durchschnittlichen IQ-Werte, der in vielen Ländern<br />
<strong>im</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert aufgetreten ist.<br />
Die Ursachen des Flynn-Effekts sind umstritten. Einige Forscher<br />
halten die Verbesserungen der Lebensumstände von Familien<br />
mit niedrigem Einkommen für einen entscheidenden Faktor,<br />
insbesondere bei der Ernährung (Lynn 2009), der Ges<strong>und</strong>heit<br />
(Eppig et al. 2010) <strong>und</strong> der schulischen Bildung (Blair et al. 2005).<br />
Diese Forscher verweisen darauf, dass der Anstieg bei Menschen<br />
<strong>im</strong> unteren Verteilungsbereich von IQ <strong>und</strong> Einkommen am größten<br />
ist. Wie . Abb. 8.7 zeigt, änderten sich beispielsweise bei Dänen<br />
der Geburtsjahrgänge zwischen 1942 <strong>und</strong> 1980 IQ-Werte der<br />
untersten 10 % in der Verteilung erheblich, während sie bei den<br />
obersten 10 % gleich blieben (Geary 2005). In anderen Ländern<br />
wie Spanien <strong>und</strong> Norwegen zeigen die Veränderungen des IQ<br />
ein ähnliches Muster. Und in Ländern wie den USA, Frankreich<br />
<strong>und</strong> Großbritannien ziehen sich die Anstiege durch die gesamte<br />
Verteilung des IQ bzw. der Einkommen (Nisbett et al. 2012). So<br />
war in den USA auch bei den obersten 5 % der Bevölkerung ein<br />
Zugewinn be<strong>im</strong> IQ zu verzeichnen (Wai et al. 2012).<br />
Eine andere plausible Erklärung für den Anstieg der IQ-<br />
Werte könnte in der zunehmenden gesellschaftlichen Fokussierung<br />
auf abstraktes Problemlösen <strong>und</strong> Schlussfolgern liegen<br />
(Flynn 2009). Für diese Erklärung spricht die Tatsache, dass Leistungen<br />
bei Tests der flüssigen Intelligenz (die sich <strong>im</strong> abstrakten<br />
Problemlösen <strong>und</strong> Schlussfolgern zeigt) sehr viel stärker anstiegen<br />
als bei den Tests der kristallinen Intelligenz (Nisbett et al.<br />
2012). Eine Ursache dieses Anstiegs be<strong>im</strong> Leistungswert für die<br />
flüssige Intelligenz könnten neue Technologien wie Videospiele<br />
sein. Haier et al. (2009) fanden heraus, dass bei heranwachsenden
288<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Richtiglösungen in Prozent<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
0 25 50 75 100<br />
Status des väterlichen Berufs<br />
Kanada<br />
Japan<br />
USA<br />
..<br />
Abb. 8.8 Die Beziehung zwischen dem beruflichen Status des Vaters <strong>und</strong><br />
der Mathematikleistung der Kinder in drei Ländern. US-amerikanische Kinder,<br />
deren Väter Berufe mit niedrigem sozioökonomischem Status ausüben,<br />
erbringen bei einem mathematischen Leistungstest weit schlechtere Leistungen<br />
als Kinder, deren Väter vergleichbare Tätigkeiten in Kanada oder Japan<br />
ausüben. Im Gegensatz dazu schneiden Kinder mit Vätern in Berufen mit<br />
hohem sozioökonomischem Staus genauso gut ab wie Kinder von Vätern mit<br />
vergleichbarem beruflichem Status in Kanada <strong>und</strong> fast so gut wie japanische<br />
Kinder mit ähnlichem familiärem Hintergr<strong>und</strong>. (Daten aus Case et al. 1999)<br />
Mädchen ein Videospiel (Tetris), das sie über drei Monate spielten,<br />
zu einer Verdickung des Cortex in Gehirnbereichen führte,<br />
die be<strong>im</strong> Spielen von Tetris spezifische Aktivierung zeigen <strong>und</strong><br />
auch bei solchen Aufgaben aktiviert werden, wie sie zur Messung<br />
der flüssigen Intelligenz verwendet werden.<br />
Ein Fazit, das außer Diskussion steht, lautet: Armut kann<br />
sich stark auf die Intelligenzentwicklung auswirken. In den folgenden<br />
Abschnitten betrachten wir zunächst, wie sich Armut in<br />
unterschiedlichen Gesellschaften auf die <strong>Kindes</strong>entwicklung auswirkt,<br />
<strong>und</strong> untersuchen dann, wie sie zu Intelligenz- <strong>und</strong> Schulleistungsunterschieden<br />
zwischen ethnischen Gruppen beiträgt.<br />
Danach betrachten wir weitere mit Armut einhergehende Faktoren,<br />
die die intellektuelle Entwicklung gefährden. Abschließend<br />
behandeln wir Programme, die auf eine Förderung der intellektuellen<br />
Entwicklung benachteiligter Kinder gerichtet sind.<br />
Auswirkungen von Armut<br />
Die negativen Auswirkungen von Armut auf die IQ-Werte von<br />
Kindern sind unbestreitbar. Selbst wenn man solche Faktoren<br />
herausrechnet wie den Bildungsstand der Mutter, die Zugehörigkeit<br />
zu einer ethnischen Gruppe oder alleinerziehende Mütter als<br />
Haushaltsvorstand, hängt die Angemessenheit des Familieneinkommens<br />
für die Befriedigung der familiären Bedürfnisse mit<br />
dem IQ der Kinder zusammen (Duncan et al. 1998). Es kommt<br />
hinzu, dass der IQ der Kinder meistens umso niedriger ist, je<br />
mehr Jahre sie in Armut verbringen.<br />
Armut kann sich auf vielerlei Weise negativ auf die intellektuelle<br />
Entwicklung auswirken. Zum Beispiel kann eine chronisch<br />
unzureichende Ernährung in den ersten Lebensjahren die Gehirnentwicklung<br />
nachhaltig stören, <strong>und</strong> fehlende Mahlzeiten an<br />
einem best<strong>im</strong>mten Tag (z. B. einem Leistungstesttag) können<br />
die Tagesform bei intellektuellen Aufgaben beeinträchtigen.<br />
Eine schlechte Ges<strong>und</strong>heit durch unzulängliche medizinische<br />
Versorgung kann zu vielen Fehltagen in der Schule führen; Konflikte<br />
zwischen den Erwachsenen, in deren Haushalt ein Kind<br />
lebt, können es emotional so verstören, dass die Lernfähigkeit<br />
leidet. Unzulängliche geistige Anregung kann dazu führen, dass<br />
das Allgemeinwissen fehlt, das zum Lernen neuer Inhalte gebraucht<br />
wird. Und so fort. Ein Beleg für den Zusammenhang<br />
zwischen Armut <strong>und</strong> IQ ist die Tatsache, dass in allen untersuchten<br />
Ländern Kinder aus einkommensstarken Familien bei Intelligenz-<br />
<strong>und</strong> Leistungstests höhere Werte erzielen als Kinder aus<br />
einkommensschwachen Elternhäusern (Case et al. 1999; Keating<br />
<strong>und</strong> Hertzman 1999). Noch aussagekräftiger ist die Beobachtung,<br />
dass in Ländern wie den USA, in denen die Einkommenskluft<br />
zwischen Arm <strong>und</strong> Reich am größten ist, der intellektuelle Leistungsunterschied<br />
zwischen Kindern aus reichen <strong>und</strong> armen Elternhäusern<br />
weitaus größer ist als in Ländern, in denen diese<br />
Kluft weniger stark ausgeprägt ist, wie in den skandinavischen<br />
Ländern oder, in reduziertem Ausmaß, auch in Deutschland,<br />
Kanada <strong>und</strong> Großbritannien. . Abbildung 8.8 zeigt, dass Kinder<br />
aus einkommensstarken Familien in den USA bei mathematischen<br />
Leistungstests ähnlich hohe Werte erzielen wie Kinder aus<br />
einkommensstarken Familien in anderen Ländern. Im Gegensatz<br />
dazu erreichen Kinder aus armen Familien in den USA weit<br />
geringere Werte als Kinder aus armen Familien in Ländern mit<br />
höherer Einkommensgleichheit. Der entscheidende Unterschied<br />
liegt darin, dass arme Familien in den USA weit ärmer sind als<br />
in anderen wirtschaftlich entwickelten Ländern. 2011 lebten in<br />
den USA 23 % der Kinder in Familien, deren Einkünfte unterhalb<br />
der Hälfte des Einkommensmedians liegen. Dagegen sind in 35<br />
anderen Industrienationen <strong>im</strong> Mittel nur 11 % der Kinder von<br />
Armut <strong>im</strong> Sinne eines Familieneinkommens von weniger als der<br />
Hälfte des Einkommensmedians betroffen (UNICEF 2012). In<br />
Deutschland waren es <strong>im</strong> Jahr 2011 laut Mikrozensus 18,9 % der<br />
unter 18-jährigen, wobei der Anteil in den neuen B<strong>und</strong>esländern<br />
mit 25,7 % deutlich höher ausfiel als mit 17,6 % in den alten B<strong>und</strong>esländern<br />
(▶ www.amtliche-sozialberichterstattung.de).<br />
In den Vereinigten Staaten ist, wie schon in ▶ Kap. 1 erwähnt,<br />
der Prozentsatz von Kindern, die in armen Familien leben, unter<br />
Afroamerikanern <strong>und</strong> Latinos viel höher als unter Amerikanern<br />
europäischer oder asiatischer Herkunft, <strong>und</strong> er ist viel höher in<br />
Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand als in Familien,<br />
an deren Spitze ein verheiratetes Paar steht. Diese ökonomischen<br />
Unterschiede helfen die Gruppenunterschiede be<strong>im</strong> IQ zu<br />
erklären, die wir <strong>im</strong> nächsten Abschnitt untersuchen.<br />
Ethnische Abstammung <strong>und</strong> Intelligenz<br />
Kaum eine Behauptung ruft so leidenschaftliche Reaktionen hervor<br />
wie die, dass ethnische Gruppen unterschiedlich intelligent<br />
seien. Umso wichtiger ist es, die diesbezüglichen Tatsachen zu<br />
kennen <strong>und</strong> zu wissen, was daraus geschlossen werden kann <strong>und</strong><br />
was nicht.<br />
Es ist eine Tatsache, dass sich die durchschnittlichen IQ-<br />
Werte verschiedener ethnischer Gruppen unterscheiden. Beispielsweise<br />
liegt der durchschnittliche IQ euroamerikanischer<br />
Kinder zehn bis elf Punkte über dem afroamerikanischer Kinder<br />
(Dickens <strong>und</strong> Flynn 2006). Die durchschnittlichen IQ-Werte von<br />
Kindern lateinamerikanischer oder indianischer Abstammung<br />
liegen dazwischen, während die Durchschnittswerte amerika-
Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />
289 8<br />
nischer Kinder asiatischer Abstammung um etwa drei Punkte<br />
höher sind als bei euroamerikanischen Kindern (Nisbett et al.<br />
2012). Diese Unterschiede erklären sich zum Teil durch Unterschiede<br />
der sozialen Schichtenzugehörigkeit. Jedoch sind auch<br />
innerhalb jeder sozialen Schicht Unterschiede zwischen den<br />
mittleren IQs von Afro- <strong>und</strong> Euroamerikanern vorhanden, auch<br />
wenn diese Unterschiede innerhalb der gleichen Schicht kleiner<br />
ausfallen als bei unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit (Suzuki<br />
<strong>und</strong> Valencia 1997).<br />
Eine weitere Tatsache besteht darin, dass sich Aussagen<br />
über Gruppenunterschiede des IQ auf statistische Mittelwerte<br />
beziehen <strong>und</strong> nicht auf die Werte best<strong>im</strong>mter Einzelpersonen.<br />
Man muss diese statistische Tatsache verstehen, um die faktischen<br />
Gruppenunterschiede interpretieren zu können. Millionen<br />
afroamerikanischer Kinder besitzen einen höheren IQ als<br />
das durchschnittliche euroamerikanische Kind, <strong>und</strong> Millionen<br />
euroamerikanischer Kinder besitzen einen niedrigeren IQ als<br />
das durchschnittliche afroamerikanische Kind. Es gibt weitaus<br />
mehr Variabilität innerhalb jeder Abstammungsgruppe als zwischen<br />
diesen Gruppen. Die Daten über den IQ-Mittelwert für<br />
irgendeine ethnische Gruppe sagen also nichts über ein einzelnes<br />
Individuum aus.<br />
Eine dritte entscheidende Tatsache ist, dass die Unterschiede<br />
zwischen den IQ-Werten von Kindern aus verschiedenen ethnischen<br />
Gruppen die Leistungen der Kinder nur in der Umgebung<br />
beschreiben, in der die Kinder jeweils leben. Die Bef<strong>und</strong>e<br />
sind keine Indikatoren ihres intellektuellen Potenzials <strong>und</strong> sagen<br />
auch nichts darüber aus, was passieren würde, wenn die Kinder<br />
in einer anderen Umwelt lebten. Tatsächlich haben sich die Unterschiede<br />
bei den Testleistungen von euroamerikanischen <strong>und</strong><br />
afroamerikanischen Kindern <strong>im</strong> Lauf von 40 Jahren, in denen<br />
sich die Diskr<strong>im</strong>inierung <strong>und</strong> Ungleichbehandlung reduziert hat,<br />
deutlich verringert. Eine gründliche Analyse des Wandels von<br />
IQ-Werten über längere Zeiträume hinweg zeigt, dass afroamerikanische<br />
Schulkinder den Abstand zu den euroamerikanischen<br />
Schulkindern von 1972 bis 2002 um vier auf sieben Punkte verringerten<br />
(Dickens <strong>und</strong> Flynn 2006); Leistungstestwerte zeigten<br />
denselben Trend (Brody 1992).<br />
Risikofaktoren <strong>und</strong> intellektuelle Entwicklung<br />
Beiträge in populären Zeitschriften darüber, wie man allen<br />
Kindern helfen kann, ihr intellektuelles Potenzial auszuschöpfen,<br />
konzentrieren sich oft auf einen einzigen Faktor. Manche<br />
Beiträge betonen, dass man die Armut bekämpfen müsse; andere<br />
betonen, wie wichtig es wäre, den Rassismus zu beenden;<br />
wieder andere stellen die Notwendigkeit in den Vordergr<strong>und</strong>,<br />
die Zwei-Eltern-Familie zu erhalten, <strong>und</strong> so weiter. Man kann<br />
jedoch keinen einzelnen Faktor <strong>und</strong> auch keine kleine Gruppe<br />
von Faktoren als den Schlüssel zur Lösung des Problems bezeichnen.<br />
Vielmehr trägt eine Vielzahl von Faktoren gemeinsam zu<br />
dem Problem bei, dass eine beträchtliche Anzahl von Kindern<br />
ihr intellektuelles Potenzial nicht voll ausschöpft.<br />
Um das Ausmaß dieser multiplen Einflussgrößen zu erfassen,<br />
entwickelten Arnold Sameroff et al. (1993) eine Skala der<br />
Entwicklungsrisiken. Diese Skala beruht auf zehn Umweltmerkmalen,<br />
die für Kinder als Risiken für einen niedrigen IQ gelten<br />
können:<br />
IQ<br />
120<br />
110<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
0<br />
1<br />
2<br />
3 4<br />
Anzahl der Risiken<br />
1. Der Haushaltsvorstand ist arbeitslos oder arbeitet in einem<br />
einfachen Beruf.<br />
2. Die Mutter hat die Highschool nicht abgeschlossen.<br />
3. Die Familie umfasst mindestens vier Kinder.<br />
4. Zu Hause gibt es keinen Vater oder Stiefvater.<br />
5. Es handelt sich um eine afroamerikanische Familie.<br />
6. Es gab viele stressreiche Ereignisse in den vergangenen Jahren.<br />
7. Die Eltern haben rigide Überzeugungen hinsichtlich der <strong>Kindes</strong>entwicklung.<br />
8. Die Mutter ist sehr ängstlich.<br />
9. Die geistige Ges<strong>und</strong>heit der Mutter ist eingeschränkt.<br />
10. Es gibt negative Interaktionen zwischen Mutter <strong>und</strong> Kind.<br />
Der Risikowert für jedes Kind ergibt sich einfach aus der Summe<br />
der Hauptrisiken, denen das Kind ausgesetzt ist. Das Kind einer<br />
Mutter, die arbeitslos <strong>und</strong> unverheiratet ist, ängstliche Besorgtheit<br />
zeigt <strong>und</strong> die Highschool vorzeitig verließ, hätte den Risikofaktor<br />
4 (sofern keiner der anderen Risikofaktoren zutrifft).<br />
Sameroff et al. (1993) maßen die IQs <strong>und</strong> die Entwicklungsrisiken<br />
bei mehr als 100 Kindern <strong>im</strong> Alter von vier Jahren <strong>und</strong><br />
dann noch einmal mit 13 Jahren. Sie fanden, dass der IQ eines<br />
<strong>Kindes</strong> tendenziell umso niedriger war, je mehr Risiken seine<br />
Umwelt enthielt. Wie . Abb. 8.9 zeigt, war der Effekt stark ausgeprägt.<br />
Der durchschnittliche IQ derjenigen Kinder, deren Umwelt<br />
keinen einzigen Risikofaktor enthielt, lag bei 115; der durchschnittliche<br />
IQ der Kinder mit sechs oder mehr vorhandenen<br />
Risiken lag bei 85. Die bloße Anzahl der Risiken in der Umwelt<br />
des <strong>Kindes</strong> war ein besserer Prädiktor für den IQ des <strong>Kindes</strong> als<br />
jeder einzelne Risikofaktor. Folgestudien zeigten ähnlich enge<br />
Beziehungen zwischen der Anzahl von Risikofaktoren <strong>und</strong> den<br />
Schulnoten (Gassman-Pines <strong>und</strong> Yoshikawa 2006; Gutman et al.<br />
2003).<br />
Die Untersuchung von Sameroff et al. (1993) lieferte auch<br />
eine interessante Perspektive <strong>im</strong> Hinblick auf die Stabilität der<br />
IQ-Werte bei einzelnen Kindern. Es bleiben nämlich nicht nur<br />
5<br />
4-Jährige<br />
13-Jährige<br />
..<br />
Abb. 8.9 Risikofaktoren <strong>und</strong> IQ. Für die jüngeren <strong>und</strong> die älteren Kinder<br />
gilt: Der durchschnittliche IQ ist umso niedriger, je mehr Risikofaktoren es in<br />
der Umwelt gibt. (Daten aus Sameroff et al. 1993)<br />
6<br />
7–8
290<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
die Gene der Kinder dieselben, sondern auch ihre Umgebung<br />
bleibt häufig ziemlich unverändert. Die Untersuchung ergab bei<br />
den Risikofaktoren, die an den Messzeitpunkten <strong>im</strong> Alter von<br />
vier bzw. 13 Jahren in der Umwelt der Kinder vorhanden waren,<br />
die gleiche Stabilität wie bei den jeweiligen IQ-Werten.<br />
Die Anzahl der Risikofaktoren in der Umwelt eines vierjährigen<br />
<strong>Kindes</strong> korreliert nicht nur hoch mit seinem IQ in diesem<br />
Alter, sondern sagt auch die zu erwartenden Veränderungen des<br />
IQ für das Alter von 13 Jahren voraus. Wenn zwei Kinder also<br />
<strong>im</strong> Alter von vier Jahren denselben IQ besitzen, wobei die Umwelt<br />
des einen <strong>Kindes</strong> mehr Risikofaktoren enthält, dann wird<br />
dieses Kind mit 13 Jahren wahrscheinlich einen niedrigeren IQ<br />
aufweisen als das andere Kind. Umweltrisiken haben also sowohl<br />
unmittelbare als auch langfristige Auswirkungen auf die intellektuelle<br />
Entwicklung von Kindern. Genetische Einflüsse sind nicht<br />
auszuschließen – Ängstlichkeit, schlechte psychische Verfassung<br />
<strong>und</strong> weitere Risikofaktoren können biologisch von den Eltern an<br />
das Kind weitergegeben sein –, aber auch diese Risikofaktoren<br />
sind fraglos mit niedrigen IQ-Werten verb<strong>und</strong>en.<br />
Sameroff <strong>und</strong> Mitarbeiter beschrieben ihr Maß als einen „Risikoindex“,<br />
doch ist es ebenso sehr ein Maß für eine hohe Qualität<br />
der kindlichen Umwelt wie für das Gefährdungspotenzial.<br />
Hohe IQ-Werte sind mit günstigen Umwelten genauso verb<strong>und</strong>en<br />
wie niedrige IQ-Werte mit ungünstigen. Das trifft für Kinder<br />
aus einkommensschwachen Familien genauso zu wie für alle anderen<br />
Kinder: Wenn Eltern in einkommensschwachen Familien<br />
auf ihre Kinder eingehen <strong>und</strong> ihnen sichere Spielmöglichkeiten<br />
<strong>und</strong> Lernmaterial bieten, dann haben sie Kinder mit einem entsprechend<br />
höheren IQ (Bradley et al. 1994). Die Qualität elterlicher<br />
Betreuung kann also dazu beitragen, die armutsbedingten<br />
Risiken zu reduzieren.<br />
Hilfsprogramme für Kinder in Armut<br />
Anfang der 1960er Jahre entwickelte sich in den USA ein politischer<br />
Konsens, dass es nationale Priorität besitzt, Kindern aus armen<br />
Familien zu helfen. Psychologische Forschung trug zu dieser<br />
Konsensbildung bei, indem sie nachwies, dass die Umwelten der<br />
Kinder bedeutsame Auswirkungen auf ihre kognitive Entwicklung<br />
haben (Dennis <strong>und</strong> Najarian 1957; Hunt 1961). In der Folge<br />
wurden <strong>im</strong> Verlauf der darauffolgenden Jahre viele Interventionsprogramme<br />
initiiert, um die intellektuelle Entwicklung von<br />
Vorschulkindern aus verarmten Familien zu fördern.<br />
In einer umfassenden Analyse von elf der profiliertesten ersten<br />
Frühinterventionsprogramme – die sich alle auf zwei- bis<br />
fünfjährige afroamerikanische Kinder aus einkommensschwachen<br />
Familien konzentrierten – fanden Irving Lazar et al. (1982)<br />
ein einheitliches Muster. Die Teilnahme an den Programmen,<br />
die meistens auf ein oder zwei Jahre angelegt waren, erhöhte<br />
die IQ-Werte der Kinder am Anfang beträchtlich – um zehn bis<br />
15 Punkte. Im Verlauf der nächsten zwei oder drei Jahre baute sich<br />
der Zugewinn jedoch wieder ab, <strong>und</strong> vier Jahre nach Beendigung<br />
des Programms waren zwischen den IQ-Werten der Teilnehmer<br />
<strong>und</strong> denjenigen von Kindern aus vergleichbaren Wohnvierteln<br />
<strong>und</strong> Familienhintergründen, die nicht teilgenommen hatten,<br />
keine Unterschiede mehr erkennbar. Ähnliche Muster ergaben<br />
sich in einer Analyse von Programmen, bei denen Rechen- <strong>und</strong><br />
Leseleistungen <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong> standen (McKey et al. 1985).<br />
Glücklicherweise hielten andere Wirkungen dieser exper<strong>im</strong>entellen<br />
Programme länger an. Nur halb so viele Programmteilnehmer<br />
wie Kinder, die an keinem Programm teilgenommen<br />
hatten, wurden später einer Sonderschul- oder Förderklasse<br />
zugewiesen – 14 gegenüber 29 %. Auch blieben die Teilnehmer<br />
in der Schule nicht so oft sitzen, machten später häufiger einen<br />
Highschool-Abschluss, <strong>und</strong> waren <strong>im</strong> Alter von 18 Jahren seltener<br />
verhaftet worden als in der Vergleichsgruppe ohne die Förderung<br />
(Reynolds et al. 2001).<br />
Diese Bef<strong>und</strong>lage wirft Fragen auf. Wenn die Interventionsprogramme<br />
nicht zu lang anhaltenden IQ-Zuwächsen oder<br />
Verbesserungen bei Leistungstests führten, wie konnten sie trotzdem<br />
die geförderten Kinder vor der Sonderschule oder vor dem<br />
Sitzenbleiben bewahren? Wahrscheinlich liegt der Gr<strong>und</strong> in den<br />
langfristigen Auswirkungen der Intervention auf die Motivation<br />
der Kinder <strong>und</strong> auf ihr Verhalten. Diese Effekte könnten Kinder<br />
unabhängig vom unveränderten IQ befähigen, gut genug in der<br />
Klasse zurechtzukommen, um zusammen mit ihren Klassenkameraden<br />
versetzt zu werden, was wiederum den Highschool-Abschluss<br />
wahrscheinlicher <strong>und</strong> ein Abrutschen in die Kr<strong>im</strong>inalität<br />
unwahrscheinlicher macht.<br />
Die Teilnahme an solchen Förderprogrammen wirkte sich<br />
auch nach Beendigung der Schule vorteilhaft aus. Als Erwachsene<br />
nahmen die ehemaligen Teilnehmer solcher Programme<br />
später weniger Sozialfürsorge in Anspruch <strong>und</strong> erreichten höhere<br />
Einkommen <strong>im</strong> Vergleich zu nicht geförderten Kindern des<br />
gleichen sozialen Umfeldes (Haskins 1989; McLoyd 1998). Diese<br />
positiven Effekte lassen vermuten, dass die Frühintervention den<br />
Kindern nicht nur dazu verhelfen kann, ihr Leben erfolgreicher<br />
zu meistern, sondern auch die Kosten sich mehr als bezahlt machen,<br />
indem die Programme den Bedarf an Sozialleistungen um<br />
erheblich höhere Beträge senken. Wie ▶ Exkurs 8.2 zeigt, kann<br />
ein intensives Spezialprogramm zudem nachhaltige Zuwächse<br />
bei IQ <strong>und</strong> Schulleistung bewirken.<br />
Das Projekt Head Start<br />
Als Reaktion auf denselben politischen Konsens aus den 1960er<br />
Jahren, der zu Frühinterventionsprogrammen kleineren Umfangs<br />
führte, initiierte die Regierung der USA ein umfassendes<br />
Interventionsprogramm: das Projekt Head Start (wörtlich<br />
übersetzt: Vorsprung). In den vergangenen 45 Jahren hat dieses<br />
Programm für mehr als 25 Mio. Kinder eine breite Palette an<br />
Leistungen erbracht.<br />
Derzeit hilft Head Start über 900.000 Drei- bis Fünfjährigen<br />
pro Jahr in ungefähr 2000 Zentren überall in den USA. Die<br />
meisten Teilnehmer sind vier Jahre alt. Die Dienstleistungen des<br />
Programms kommen einer Vielfalt von ethnischen Gruppen zugute:<br />
2010 waren 39 % der Head-Start-Kinder Afroamerikaner,<br />
31 % europäischen Ursprungs <strong>und</strong> 34 % lateinamerikanischer<br />
Abstammung – die Summe liegt über 100 %, weil ein kleiner<br />
Anteil der Kinder mehreren Abstammungsgruppen zugeordnet<br />
wurde (Schmit 2011). Fast alle diese Kinder kommen aus Familien<br />
mit Einkünften unterhalb der Armutsgrenze, meistens<br />
handelt es sich um Familien von Alleinerziehenden. In dem<br />
Programm erhalten die Kinder medizinische <strong>und</strong> zahnärztliche<br />
Versorgung <strong>und</strong> nährstoffreiche Mahlzeiten, <strong>und</strong> eine Tagesstätte<br />
bietet ihnen eine sichere <strong>und</strong> anregende Umgebung. Viele Eltern
Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />
291 8<br />
Exkurs 8.2: Anwendungen: Eine äußerst erfolgreiche Frühintervention: Das Carolina-Abecedarian-Projekt | |<br />
Die Schwierigkeit, anhaltende Zugewinne be<strong>im</strong><br />
IQ <strong>und</strong> anderen Leistungstestwerten armer<br />
Kinder zu erzielen, führte einige Begutachter<br />
entsprechender Interventionsprogramme zu<br />
dem Schluss, dass die Intelligenz unveränderbar<br />
wäre (Jensen 1973; Westinghouse Learning<br />
Corporation 1969). Dieselben Ergebnisse motivierten<br />
andere Forscher jedoch zu überprüfen,<br />
ob langjährige Interventionen, die in der<br />
frühesten Kindheit ansetzen <strong>und</strong> versuchen,<br />
viele Aspekte des Lebens von Kindern parallel<br />
zu verbessern, nicht doch zu lang anhaltenden<br />
Steigerungen des IQ führen können, auch<br />
wenn das kürzeren, weniger intensiven <strong>und</strong><br />
später beginnenden Maßnahmen nicht gelungen<br />
war. Ein Programm, das zu einer positiven<br />
Antwort auf diese Frage geführt hat, ist das<br />
Carolina-Abecedarian-Projekt, das anschaulich<br />
demonstriert, wie Forschung zum <strong>Kindes</strong>wohl<br />
beitragen kann (Campbell <strong>und</strong> Ramey 2007;<br />
Ramey <strong>und</strong> Ramey 2004). („Abecedarian“ ist<br />
ein Kunstwort aus den Anfangsbuchstaben des<br />
Alphabets, <strong>im</strong> Deutschen etwa durch ein Wort<br />
wie „ABCler“ nachbildbar.)<br />
Carolina-Abecedarian-Projekt – Ein umfassendes<br />
<strong>und</strong> erfolgreiches Unterstützungsprogramm<br />
für Kinder aus einkommensschwachen Familien<br />
in den USA.<br />
Ausgewählt waren die an dem Programm<br />
teilnehmenden Kinder nach den Kriterien geringes<br />
Familieneinkommen, Abwesenheit des<br />
Vaters <strong>im</strong> häuslichen Leben, geringer IQ <strong>und</strong><br />
Bildungsstand der Mutter <strong>und</strong> anderen Faktoren,<br />
die auf drohende Entwicklungsprobleme<br />
hindeuten. Mehr als 95 % der teilnehmenden<br />
Kinder waren afroamerikanischer Abstammung.<br />
Das Programm basierte auf sieben<br />
Prinzipien (Ramey <strong>und</strong> Ramey 2004):<br />
1. Erk<strong>und</strong>ungsverhalten ermutigen,<br />
2. elementare Fähigkeiten unterstützen,<br />
3. Entwicklungsfortschritte feiern,<br />
4. neue Fähigkeiten üben <strong>und</strong> verallgemeinern,<br />
5. die Kinder vor unangemessener Missbilligung,<br />
Spott <strong>und</strong> Strafe schützen,<br />
6. ausgiebig <strong>und</strong> antwortbereit kommunizieren,<br />
7. Verhalten anleiten <strong>und</strong> Grenzen setzen.<br />
In dem Programm fingen die Kinder mit sechs<br />
Monaten an, eine spezielle Tagesstätte zu<br />
besuchen, <strong>und</strong> setzten dies bis zum Alter von<br />
fünf Jahren fort. Sie waren fünf Jahre lang<br />
den ganzen Arbeitstag über, von 7.45 Uhr bis<br />
17.30 Uhr, in der Tagesstätte, fünf Tage in der<br />
Woche, 50 Wochen <strong>im</strong> Jahr. Das Verhältnis von<br />
Lehrern zu Kindern war opt<strong>im</strong>al: 1:3 für Kinder<br />
bis zu drei Jahren <strong>und</strong> 1:6 für Vierjährige.<br />
Das Programm für Kinder bis zu drei Jahren<br />
betonte die allgemeine soziale, kognitive <strong>und</strong><br />
motorische Entwicklung; für Kinder über drei<br />
Jahre kam systematischer Unterricht in Mathematik,<br />
Naturwissenschaften, Lesen <strong>und</strong> Musik<br />
hinzu. Auf allen Altersstufen betonte das Programm<br />
die Sprachentwicklung <strong>und</strong> stellte eine<br />
ausgiebige verbale Kommunikation zwischen<br />
Lehrern <strong>und</strong> Kindern sicher. Die Beschäftigten<br />
des Programms arbeiteten auch mit den Müttern<br />
der Kinder außerhalb des Zentrums, um<br />
deren Kenntnisse über die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />
zu verbessern. Die Familien der Kinder, die sich<br />
in dem Pilotprogramm befanden, erhielten<br />
Nahrungsergänzungen <strong>und</strong> Zugang zu guter<br />
Ges<strong>und</strong>heitsversorgung. Die Familien von Kindern<br />
einer Kontrollgruppe erhielten dieselben<br />
Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Ernährungsvorteile, aber die<br />
Kinder besuchten nicht die Tagesstätte.<br />
Dieses sorgfältig geplante, vielseitige Programm<br />
erbrachte anhaltende positive Effekte<br />
auf die IQ-Werte <strong>und</strong> Leistungsgrade der Kinder<br />
in der Exper<strong>im</strong>entalgruppe. (Da in den USA<br />
<strong>und</strong> Kanada der Zugang zu weiterführenden<br />
Schulen <strong>und</strong> Ausbildungsgängen stark von<br />
landesweit standardisierten Leistungstests wie<br />
dem GRE oder dem SAT abhängt, werden in<br />
den Programmen neben dem IQ in der Regel<br />
auch diese Art von Leistungsfähigkeitsnachweisen<br />
auf Verbesserungen geprüft.) Im Alter<br />
von 21 Jahren, 15 Jahre nach Beendigung des<br />
Programms, besaßen diese Kinder um fünf<br />
Punkte höhere mittlere IQ-Werte als die Kinder<br />
der Kontrollgruppe: 90 gegenüber 85 (Campbell<br />
et al. 2001). Die Leistungstestwerte in<br />
Mathematik <strong>und</strong> Lesen waren ebenfalls höher.<br />
Wie bei den weniger umfassenden Interventionsprogrammen<br />
blieben weniger Teilnehmer<br />
jemals sitzen oder wurden speziellen Förderoder<br />
Sonderschulklassen zugewiesen. Im<br />
Alter von 30 Jahren lag die die Quote be<strong>im</strong><br />
College-Abschluss in der Interventionsgruppe<br />
bei 26 % der Teilnehmer, gegenüber 6 % in der<br />
Kontrollgruppe (Campbell et al. 2012). Eine<br />
Neuauflage des Programms zeigte, dass der<br />
vom Programm bewirkte Unterschied umso<br />
größer ausfiel, je niedriger der Bildungsstand<br />
der Mutter war (Ramey <strong>und</strong> Ramey 2004).<br />
Was kann man aus dem Abecedarian-Projekt<br />
lernen? Zunächst scheint es von Vorteil zu<br />
sein, Interventionen sehr früh zu beginnen<br />
<strong>und</strong> sie über lange Zeiträume aufrechtzuerhalten.<br />
Eine Version des Programms, die<br />
endete, als die Kinder drei Jahre alt waren,<br />
produzierte genauso wenig Langzeiteffekte<br />
auf die Intelligenz wie ein Programm, das pädagogische<br />
Unterstützung vom Kindergarten<br />
bis zur zweiten Klasse anbot (Burchinal et al.<br />
1997; Ramey et al. 2000). Eine zweite entscheidende<br />
Lehre bezieht sich auf die Notwendigkeit,<br />
dass die Betreuungspersonen<br />
mit den Kindern auf positive, interessierte<br />
Weise interagieren. Eine hohe Quote von<br />
Erwachsenen zu Kindern in den Tagesstätten<br />
macht solche Interaktionen wahrscheinlicher;<br />
auch hilft es, die Mitarbeiter hinsichtlich<br />
der Notwendigkeit solcher Interaktionen<br />
zu schulen. Eine dritte Lehre aus dieser<br />
erfolgreichen Frühförderung besteht darin,<br />
dass die Erfolge vermutlich nachhaltig sind,<br />
<strong>und</strong> zwar bei Verbesserungen der Selbstkontrolle<br />
<strong>und</strong> des Durchhaltevermögens der<br />
Kinder ebenso wie bei den Steigerungen des<br />
IQ (Heckman 2011; Knudsen et al. 2006). Die<br />
vielleicht wichtigste Lehre ist zugleich die<br />
gr<strong>und</strong>legendste: Es ist möglich, Interventionen<br />
so zu gestalten, dass sie erhebliche,<br />
überdauernde positive Effekte auf die<br />
intellektuelle Entwicklung von Kindern aus<br />
einkommensschwachen Familien haben.<br />
..<br />
Die positive Wirkung des Abecedarian-Programms blieb auch 15 Jahre nach Beendigung<br />
der Förderung offenk<strong>und</strong>ig, wie dieser Vergleich der Mathematikleistungen in<br />
der Förder- bzw. Kontrollgruppe veranschaulicht. Im Vergleich zum durchschnittlichen<br />
Leistungsniveau von US-amerikanischen Kindern <strong>im</strong> Fach Mathematik sank die Leistung<br />
zwar in beiden Gruppen zwischen dem achten <strong>und</strong> dem 21. Lebensjahr, aber auf jeder<br />
Altersstufe waren die Leistungen der Kinder, die am Programm teilnahmen, besser als die<br />
Leistungen von Kindern aus vergleichbar benachteiligten Familien, die zur Kontrollgruppe<br />
gehörten
292<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
Punktwerte in Mathematik<br />
105<br />
100<br />
95<br />
90<br />
85<br />
..<br />
Kinder, die wie die hier abgebildeten Jungen an<br />
Head-Start-Programmen teilnehmen, bleiben in<br />
späteren Jahren seltener sitzen <strong>und</strong> erreichen häufiger<br />
den Highschool-Abschluss als Kinder mit ähnlichem<br />
familiären Hintergr<strong>und</strong>, die nicht an diesen Förderprogrammen<br />
teilnehmen. (© Michael Doolittle/The Image<br />
Works)<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
80<br />
8<br />
10<br />
12<br />
der teilnehmenden Kinder arbeiten als Betreuungspersonen in<br />
den Programmzentren, beteiligen sich an der Gremienarbeit, um<br />
die speziellen Richtlinien der jeweiligen Einrichtung zu planen,<br />
<strong>und</strong> erhalten Hilfe hinsichtlich ihrer beruflichen <strong>und</strong> emotionalen<br />
Bedürfnisse.<br />
In Übereinst<strong>im</strong>mung mit den Bef<strong>und</strong>en der kleineren exper<strong>im</strong>entellen<br />
Interventionsprogramme, die ebenfalls auf Drei- <strong>und</strong><br />
Vierjährige zielten, führt die Teilnahme an Head Start zu höheren<br />
IQ-Werten <strong>und</strong> Leistungstestwerten bei Programmende <strong>und</strong> ein<br />
paar Jahre später. Der zwingendste Beleg ergibt sich aus einer<br />
sorgfältigen Studie zur Wirkung des Head-Start-Programms<br />
(U.S. Department of Health and Human Services 2010), an der<br />
5000 drei- <strong>und</strong> vierjährige Kinder aus einkommensschwachen<br />
Familien teilnahmen; es handelte sich dabei um Kinder auf den<br />
Wartelisten für die Head-Start-Förderung, die nach dem Zufallsprinzip<br />
zwei Gruppen zugeteilt wurden: entweder dem Head-<br />
Start-Programm oder einer anderen kommunalen Förderung,<br />
die sie entsprechend der Wahl ihrer Eltern durchliefen. Die<br />
Kinder bildeten eine repräsentative Stichprobe für die einkommensschwache<br />
Bevölkerung in den USA, <strong>und</strong> die Head-Start-<br />
Einrichtungen, in denen die Kinder begleitet wurden, waren <strong>im</strong><br />
Hinblick auf ihre Betreuungsqualität ebenfalls repräsentativ.<br />
Die Kinder, die am Head-Start-Programm teilnahmen, zeigten<br />
nach einem Jahr be<strong>im</strong> frühen Lesen <strong>und</strong> Schreiben (allerdings<br />
nicht <strong>im</strong> Rechnen) bessere Fertigkeiten (U.S. Department<br />
of Health and Human Services 2010). Nach Abschluss des ersten<br />
Schuljahres waren die Leistungen jedoch nicht mehr von den<br />
Leistungen der Kinder unterscheidbar, die nicht an dem Programm<br />
teilnahmen <strong>und</strong> aus ähnlichen familiären Verhältnissen<br />
stammten (U.S. Department of Health and Human Services<br />
2010). Weniger umfassende Evaluationen des Head-Start-Programms<br />
waren zu ähnlichen Ergebnissen gekommen (McKey<br />
et al. 1985; McLoyd 1998).<br />
Andererseits hat die Teilnahme an Head Start eine Reihe<br />
von nachhaltigen positiven Wirkungen, ähnlich wie bei exper<strong>im</strong>entellen<br />
Vorschulprogrammen: bessere soziale Fähigkeiten<br />
14<br />
16<br />
Alter in Jahren<br />
Förderung<br />
18 20<br />
22<br />
Kontrollgruppe<br />
<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit, geringere Häufigkeit des Sitzenbleibens, höhere<br />
Wahrscheinlichkeit, den Highschool-Abschluss zu erreichen <strong>und</strong><br />
das College zu besuchen, geringere Prozentsätze von Drogenabhängigkeit<br />
<strong>und</strong> Kr<strong>im</strong>inalität (Love et al. 2007; Zigler <strong>und</strong> Styfco<br />
2004). Dies sind wichtige Erfolge, die zu der anhaltenden politischen<br />
Popularität von Head Start beigetragen haben. (Ein vergleichbares<br />
überregionales Programm für sozial benachteiligte<br />
Kinder in Deutschland gibt es bis heute noch nicht!)<br />
In Kürze | |<br />
Die Entwicklung der Intelligenz wird durch Eigenschaften<br />
des <strong>Kindes</strong>, seiner unmittelbaren Umgebung <strong>und</strong> der Gesellschaft<br />
<strong>im</strong> weiteren Sinne beeinflusst. Das genetische Erbe<br />
des <strong>Kindes</strong> stellt einen wichtigen Einfluss dar, insbesondere<br />
bei Kindern aus Familienmit mit mittlerem oder gehobenem<br />
Einkommen; dieser Einfluss n<strong>im</strong>mt <strong>im</strong> Entwicklungsverlauf<br />
stetig zu. Auch die intellektuelle Umwelt in der Familie des<br />
<strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> die Erfahrung des Schulbesuchs wirken sich auf<br />
die Intelligenz aus. Allgemeinere Faktoren wie der ökonomische<br />
Status <strong>und</strong> der Bildungsstand der Familie sowie das<br />
Vorhandensein beider Elternteile sind ebenfalls wichtig.<br />
Bei Kindern aus unteren Einkommensschichten sind diese<br />
Umweltgegebenheiten <strong>im</strong> Hinblick auf die intellektuelle<br />
Entwicklung einflussreicher als die Gene. Der gesellschaftliche<br />
Einfluss zeigt sich deutlich be<strong>im</strong> Flynn-Effekt, einer<br />
stetigen Zunahme der IQ-Werte in den hoch entwickelten<br />
Industrieländern.<br />
Förderprogramme wie Head Start zeigen viele positive<br />
Ergebnisse, wobei ihre Wirkung auf den IQ <strong>und</strong> andere<br />
Leistungstestwerte in vielen Fällen mit der Zeit verblasst.<br />
Aber mindestens ein Frühinterventionsprogramm, das<br />
Carolina-Abecedarian-Projekt, berichtet über nachhaltig positive<br />
Effekte auf IQ <strong>und</strong> Leistungsmaße bis ins Jugend- <strong>und</strong><br />
Erwachsenenalter.
Alternative Ansätze zur Intelligenz<br />
293 8<br />
Alternative Ansätze zur Intelligenz<br />
Die Diskussion der intellektuellen Entwicklung hat sich in diesem<br />
Kapitel bislang auf den IQ-Testwert als zentrales Maß der<br />
Intelligenzentwicklung gestützt, <strong>und</strong> die Forschungsarbeiten auf<br />
der Gr<strong>und</strong>lage von IQ-Tests haben sehr viel über die Entwicklung<br />
der Intelligenz zutage gefördert. Aber eine Reihe von Theoretikern<br />
hat darauf hingewiesen, dass viele ebenfalls wichtige<br />
Aspekte der Intelligenz mit IQ-Tests nicht erfasst würden. Solche<br />
Tests erheben verbale, mathematische <strong>und</strong> räumliche Fähigkeiten,<br />
untersuchen jedoch nicht unmittelbar andere Fähigkeiten,<br />
die genauso Teil der Intelligenz sein dürften: Kreativität, soziales<br />
Verstehen, Wissen um die eigenen Stärken <strong>und</strong> Schwächen<br />
<strong>und</strong> so weiter. Diese Sichtweise brachte Howard Gardner <strong>und</strong><br />
Robert Sternberg dazu, Intelligenztheorien zu formulieren, die<br />
einen größeren Bereich menschlicher Fähigkeiten umfassen als<br />
traditionelle Intelligenzkonzeptionen.<br />
Howard Gardner (1993) nannte seinen Ansatz Theorie der<br />
multiplen Intelligenzen. Die Gr<strong>und</strong>annahme besteht darin,<br />
dass Menschen über acht verschiedene Intelligenztypen verfügen:<br />
sprachliche, logisch-mathematische <strong>und</strong> räumliche Fähigkeiten,<br />
wie sie in den Vorgängertheorien bereits betont <strong>und</strong> in<br />
den IQ-Tests erfasst werden, <strong>und</strong> außerdem musikalische, naturalistische,<br />
kinästhetische, intrapersonale <strong>und</strong> interpersonale<br />
Fähigkeiten (. Tab. 8.2).<br />
Theorie multipler Intelligenzen – Gardners Theorie des Intellekts, die auf der<br />
Annahme beruht, dass es mindestens acht Typen von Intelligenz gibt.<br />
..<br />
Tab. 8.2 Gardners Theorie der multiplen Intelligenzen<br />
Intelligenztyp Beschreibung Beispiele<br />
Sprachliche<br />
Intelligenz<br />
Gardner zog mehrere Arten von Belegen <strong>und</strong> Hinweisen heran,<br />
um diese Gruppe von Intelligenzen zu identifizieren. Ein Belegtyp<br />
bezieht sich auf Defizite, die bei Menschen mit Gehirnschädigungen<br />
auftreten. Beispielsweise verfügen einige hirngeschädigte<br />
Patienten zwar in den meisten Bereichen noch über uneingeschränkte<br />
Funktionen, besitzen aber kein Verständnis mehr für<br />
die Belange anderer Menschen (Damasio 1999). Aus diesem<br />
Phänomen schloss Gardner, dass sich die interpersonale Intelligenz<br />
von anderen Typen der Intelligenz unterscheiden lässt.<br />
Eine zweite Kategorie von Belegen, anhand derer Gardner seine<br />
Gruppe von Intelligenzen identifizierte, finden sich bei W<strong>und</strong>erkindern,<br />
die schon sehr früh <strong>im</strong> Leben außergewöhnliche<br />
Fähigkeiten auf einem Gebiet zeigen, aber nicht in anderen Bereichen.<br />
Ein Beispiel hierfür ist Wolfgang Amadeus Mozart, der<br />
schon als Kind musikalisches Genie offenbarte, ansonsten aber<br />
nicht ungewöhnlich war. Die Existenz derart hochspezialisierter<br />
musikalischer Talente wie Mozart kann als Beleg dafür gelten,<br />
musikalische Fähigkeiten als eine separate Form der Intelligenz<br />
zu betrachten. Gardners Intelligenztheorie kann sich nicht auf<br />
so viele Bef<strong>und</strong>e stützen wie traditionelle Intelligenztheorien,<br />
aber sie hat mit ihrer opt<strong>im</strong>istischen Botschaft, dass Kinder viele<br />
Stärken haben, auf denen Lehrer <strong>im</strong> Schulunterricht aufbauen<br />
können, einen starken Einfluss auf die Pädagogik.<br />
Robert Sternberg (1999) behauptet ebenfalls, dass die<br />
Schwerpunktsetzung von IQ-Tests auf den Typ von Intelligenz,<br />
der für Erfolg in der Schule gebraucht wird, zu eng gefasst ist.<br />
Seine alternative Sicht auf die Intelligenz unterscheidet sich aber<br />
von Gardners Vorschlägen. Sternbergs Theorie der Erfolgs-<br />
Logischmathematische<br />
Intelligenz<br />
Räumliche<br />
Intelligenz<br />
Musikalische<br />
Intelligenz<br />
Naturalistische<br />
Intelligenz<br />
Kinästhetische<br />
Intelligenz<br />
Intrapersonale<br />
Intelligenz<br />
Interpersonale<br />
Intelligenz<br />
Gespür für die Bedeutungen<br />
<strong>und</strong> Laute von Wörtern;<br />
Beherrschung der Syntax;<br />
Verständnis dafür, wie sich<br />
die Sprache verwenden lässt<br />
Verstehen von Objekten <strong>und</strong><br />
Symbolen, der Handlungen,<br />
die man mit ihnen ausführen<br />
kann, <strong>und</strong> der Beziehungen<br />
zwischen diesen Handlungen;<br />
Fähigkeit zur Abstraktion;<br />
Fähigkeit, Probleme zu<br />
erkennen <strong>und</strong> nach Erklärungen<br />
zu suchen<br />
Fähigkeit zur akkuraten<br />
Wahrnehmung der sichtbaren<br />
Welt; zur Ausführung<br />
von Transformationen<br />
dieser Wahrnehmungen<br />
<strong>und</strong> zur Wiederherstellung<br />
von Aspekten der visuellen<br />
Erfahrung in Abwesenheit<br />
der physikalischen Reize;<br />
Gespür für Spannung, Ausgewogenheit<br />
<strong>und</strong> Komposition;<br />
Fähigkeit, ähnliche Muster zu<br />
entdecken<br />
Gespür für einzelne musikalische<br />
Töne, Klänge <strong>und</strong><br />
Phrasen; Verständnis für<br />
die Kombination von Tönen<br />
<strong>und</strong> Phrasen zu größeren<br />
musikalischen Rhythmen<br />
<strong>und</strong> Strukturen; Bewusstsein<br />
für emotionale Aspekte der<br />
Musik<br />
Gespür <strong>und</strong> Verstehen von<br />
Pflanzen, Tieren <strong>und</strong> anderen<br />
Aspekten der Natur<br />
Einsatz des eigenen Körpers<br />
in äußerst befähigter Weise<br />
für expressive oder zielgerichtete<br />
Zwecke; Fähigkeit<br />
zum geschickten Umgang<br />
mit Objekten<br />
Zugang zum eigenen<br />
Gefühlsleben; Fähigkeit, sich<br />
be<strong>im</strong> Leiten <strong>und</strong> Verstehen<br />
des eigenen Verhaltens auf<br />
die eigenen Emotionen zu<br />
beziehen<br />
Fähigkeit, die St<strong>im</strong>mungen,<br />
Temperamentseigenschaften,<br />
Motive <strong>und</strong> Absichten<br />
anderer Menschen zu bemerken<br />
<strong>und</strong> zu unterscheiden<br />
<strong>und</strong> nach Möglichkeit<br />
aufgr<strong>und</strong> dieses Wissens zu<br />
handeln<br />
Dichter<br />
Politischer<br />
Redner<br />
Lehrer<br />
Mathematiker<br />
Wissenschaftler<br />
Künstler<br />
Ingenieur<br />
Schachmeister<br />
Musiker<br />
Komponist<br />
Biologe<br />
Tänzer<br />
Athlet<br />
Schauspieler<br />
Romancier<br />
Therapeut<br />
Patient<br />
Politischer<br />
Führer<br />
Religiöser Führer<br />
Eltern, Lehrer<br />
Therapeut
294<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
intelligenz betrachtet Intelligenz als „die Fähigkeit, <strong>im</strong> Leben<br />
erfolgreich zu sein, unter der Voraussetzung der persönlichen<br />
Standards <strong>und</strong> innerhalb des soziokulturellen Kontexts“ (Sternberg<br />
1999, S. 4). Aus seiner Sicht spiegelt Erfolg <strong>im</strong> Leben die<br />
Fähigkeit von Menschen wider, auf ihre Stärken zu setzen, ihre<br />
Schwächen zu kompensieren <strong>und</strong> Umgebungen auszuwählen,<br />
in denen sie erfolgreich sein können. Wenn sich jemand zum<br />
Beispiel für einen Job entscheidet, kann das Erkennen der Bedingungen,<br />
die ihn motivieren, sein Bestes zu geben, für den Erfolg<br />
genauso wichtig sein wie seine sprachlichen, räumlichen <strong>und</strong><br />
mathematischen Fähigkeiten.<br />
Theorie der Erfolgsintelligenz – Sternbergs Theorie der Intelligenz, die die<br />
Fähigkeit, <strong>im</strong> Leben erfolgreich zu sein, betont.<br />
Sternberg behauptet, dass das Ausmaß, in dem Menschen <strong>im</strong><br />
Leben Erfolg haben können, von drei Fähigkeitstypen abhängt:<br />
von analytischen, praktischen <strong>und</strong> kreativen Fähigkeiten. Analytische<br />
Fähigkeiten umfassen die Arten sprachlicher, mathematischer<br />
<strong>und</strong> räumlicher Fähigkeiten, wie sie in traditionellen<br />
Intelligenztests gemessen werden. Praktische Fähigkeiten beziehen<br />
sich auf das vernünftige Nachdenken über Alltagsprobleme,<br />
etwa die Konfliktlösung mit anderen Menschen. Kreative<br />
Fähigkeiten sind geistige Flexibilität <strong>und</strong> Innovationskraft, die<br />
effektives logisches Denken unter neuartigen Umständen ermöglichen.<br />
Die Intelligenztheorien von Gardner <strong>und</strong> Sternberg haben<br />
dazu angeregt, lang gehegte Annahmen zur Intelligenz zu überdenken.<br />
Intelligenz <strong>und</strong> Lebenserfolg umfassen klarerweise ein<br />
breiteres Fähigkeitenspektrum als dasjenige, was traditionelle<br />
Intelligenztests messen, <strong>und</strong> es könnte durchaus sein, dass sich<br />
Intelligenz besser einschätzen lässt, wenn man diesen breiteren<br />
Bereich von Fähigkeiten misst. Es gibt bis dato keine allumfassende<br />
korrekte Intelligenztheorie, <strong>und</strong> es wird vermutlich auch in<br />
Zukunft keine solche geben. Vorstellbar ist dagegen eine Vielfalt<br />
von Theorien <strong>und</strong> darauf aufbauenden Tests, die zusammen die<br />
unterschiedlichen Möglichkeiten identifizieren, wie Menschen<br />
intelligent denken <strong>und</strong> handeln.<br />
In Kürze | |<br />
Howard Gardner <strong>und</strong> Robert Sternberg haben neue Intelligenztheorien<br />
formuliert. Gardners Theorie der multiplen<br />
Intelligenzen n<strong>im</strong>mt acht Intelligenzen an: sprachliche,<br />
logisch-mathematische, räumliche, musikalische, naturalistische,<br />
kinästhetische, intrapersonale <strong>und</strong> interpersonale<br />
Intelligenz. Sternbergs Theorie der Erfolgsintelligenz<br />
n<strong>im</strong>mt an, dass Erfolg <strong>im</strong> Leben von drei Fähigkeitstypen<br />
abhängt: analytischen, praktischen <strong>und</strong> kreativen Fähigkeiten.<br />
Beide Theorien verstehen unter Intelligenz ein<br />
breiteres Spektrum von Fähigkeiten, als es in traditionellen<br />
Theorien der Fall ist.<br />
Der Erwerb schulischer Fähigkeiten:<br />
Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />
Zu den wichtigsten Intelligenzleistungen von Kindern gehört das<br />
Erlernen der Fähigkeiten <strong>und</strong> Begriffe, die in der Schule vermittelt<br />
werden. Weil diese Fähigkeiten <strong>und</strong> Begriffe so entscheidend<br />
sind, um in der heutigen Gesellschaft Erfolg zu haben, <strong>und</strong> weil<br />
sie nicht ganz einfach zu beherrschen sind, verbringen Kinder<br />
von der ersten bis zur zwölften Klasse mehr als 2000 Tage in der<br />
Schule. Ein großer Teil dieser Zeit wird dafür aufgewandt, lesen,<br />
schreiben <strong>und</strong> rechnen zu lernen. In diesem Abschnitt konzentrieren<br />
wir uns darauf, wie Kinder diese Fähigkeiten erwerben<br />
<strong>und</strong> warum manche Kinder solche Schwierigkeiten dabei haben.<br />
Lesen<br />
Viele Kinder lernen mühelos lesen, andere nicht. Wer könnte sich<br />
nicht an die Peinlichkeiten be<strong>im</strong> Lesen erinnern, wenn Klassenkameraden<br />
– oder man selbst – scheinbar ewig brauchten, um<br />
einfache Sätze vorzulesen, <strong>und</strong> das noch in der zweiten <strong>und</strong> dritten<br />
Klasse. Wie kommt es, dass manche Kinder so mühelos lesen<br />
lernen, während andere damit große Schwierigkeit haben? Um<br />
diese Frage zu beantworten, müssen wir den typischen Weg der<br />
Leseentwicklung untersuchen <strong>und</strong> dann sehen, wie <strong>und</strong> warum<br />
Kinder von ihm abweichen.<br />
Chall (1979) beschrieb fünf Stufen der Leseentwicklung.<br />
Diese Stufen bieten einen guten Überblick über den typischen<br />
Weg bis zum Lesenkönnen:<br />
1. Stufe 0 (von der Geburt bis zur Einschulung): In dieser Zeit<br />
erwerben viele Kinder zentrale Voraussetzungen des Lesens.<br />
Dazu gehören die Kenntnis der Buchstaben des Alphabets<br />
<strong>und</strong> der Erwerb phonologischer Bewusstheit; darunter versteht<br />
man die Fähigkeit, lautliche Bestandteile in gesprochenen<br />
Wörtern zu identifizieren.<br />
2. Stufe 1 (erste <strong>und</strong> zweite Klasse): Die Kinder erwerben die<br />
Fähigkeit zur phonologischen Recodierung; das ist die<br />
Fähigkeit, Buchstaben in Laute zu übersetzen <strong>und</strong> diese zu<br />
Wörtern zu verbinden. (In alltäglicher Terminologie ist das<br />
die Fähigkeit, ein Wort laut auszubuchstabieren.)<br />
3. Stufe 2 (zweite <strong>und</strong> dritte Klasse): Die Kinder erreichen Flüssigkeit<br />
be<strong>im</strong> Lesen einfacher sprachlicher Materialien.<br />
4. Stufe 3 (vierte bis achte Klasse): Die Kinder werden fähig, Gedrucktem<br />
recht komplexe neue Informationen zu entnehmen.<br />
Oder mit Chall (1979, S. 24): „In den unteren Klassen lernen die<br />
Kinder lesen, in den höheren Klassen lesen sie, um zu lernen.“<br />
5. Stufe 4 (achte bis zwölfte Klasse): Jugendliche werden fähig,<br />
nicht nur Information, die aus einer Perspektive dargeboten<br />
wird, zu verstehen, sondern auch mehrere Perspektiven zu<br />
koordinieren. Das ermöglicht es ihnen, sich an den Feinsinnigkeiten<br />
in anspruchsvollen Romanen <strong>und</strong> Theaterstücken<br />
zu erfreuen, die fast <strong>im</strong>mer mehrere Sichtweisen enthalten.<br />
Phonologische Bewusstheit – Die Fähigkeit, die lautliche Struktur von Wörtern<br />
zu identifizieren.<br />
Phonologische Recodierung – Die Fähigkeit, Buchstaben in Laute zu übersetzen<br />
<strong>und</strong> diese zu Wörtern zu verbinden.
Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />
295 8<br />
Diese Beschreibung der Entwicklungsstufen erlaubt ein allgemeines<br />
Verständnis des Leselernprozesses <strong>und</strong> bietet einen Erklärungsrahmen<br />
dafür, wie sich spezielle Entwicklungen in das<br />
Gesamtbild einfügen.<br />
Vorläuferfähigkeiten des Lesens<br />
Vor Schuleintritt erwerben Kinder eine best<strong>im</strong>mte Gr<strong>und</strong>information<br />
über das Lesen allein dadurch, dass sie Bücher betrachten<br />
<strong>und</strong> sich von ihren Eltern vorlesen lassen. Sie lernen, dass (<strong>im</strong><br />
Deutschen <strong>und</strong> anderen europäischen Sprachen) Texte von links<br />
nach rechts gelesen werden, dass man bei Erreichen des Zeilenendes<br />
links außen in der nächsten Zeile weiterliest <strong>und</strong> dass<br />
Wörter durch kleine Zwischenräume voneinander getrennt sind.<br />
Kinder gebildeter Eltern lernen oft auch bereits die Namen<br />
der meisten oder aller Buchstaben des Alphabets, bevor sie in<br />
die Schule kommen. Für die Kinder von Eltern mit geringem<br />
Bildungsniveau gilt das <strong>im</strong> Allgemeinen jedoch nicht. In einer<br />
Studie an Kindergartenkindern, zu Beginn der Vorschule, kannten<br />
86 % der Kinder, deren Mütter einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss<br />
hatten, die Buchstaben, aber nur 38 % der<br />
Kinder von Müttern ohne Highschool-Abschluss beherrschten<br />
das Buchstabenerkennen (West et al. 2000).<br />
Die Beherrschung der Buchstabennamen bei Kindergartenkindern<br />
korreliert positiv mit ihrer späteren Leseleistung<br />
zumindest bis zur siebten Klasse (Vellutino <strong>und</strong> Scanlon 1987).<br />
Es besteht jedoch keine kausale Beziehung zwischen beidem; es<br />
erhöht nicht die spätere Leseleistung, wenn man zufällig ausgewählten<br />
Vorschulkindern die Namen der Buchstaben beibringt<br />
(Piasta <strong>und</strong> Wagner 2010). Stattdessen scheinen andere Variable<br />
sowohl das frühe Kennen des Alphabets als auch die spätere hohe<br />
Leseleistung anzuregen, beispielsweise das Interesse des <strong>Kindes</strong><br />
an Büchern <strong>und</strong> das Interesse der Eltern am Lesen ihrer Kinder.<br />
Die phonologische Bewusstheit hingegen ist mit der späteren<br />
Leseleistung nicht nur korreliert, sondern auch eine Ursache<br />
dafür. Um die Bewusstheit der Lautbestandteile in Wörtern zu<br />
messen, fragt man die Kinder bei Tests beispielsweise, ob zwei<br />
Wörter mit demselben Laut beginnen, welche Lautkomponenten<br />
in einem Wort vorkommen <strong>und</strong> was übrig bleibt, wenn man<br />
einen best<strong>im</strong>mten Laut aus dem Wort weglässt. Die Leistung in<br />
solchen Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit <strong>im</strong> Kindergartenalter<br />
ist der stärkste Prädiktor für die Fähigkeit der Kinder<br />
in den ersten Schuljahren, Wörter herauszufinden <strong>und</strong> zu buchstabieren<br />
– stärker noch als der IQ oder die Bildungsschicht, der<br />
ihre Eltern angehören (Nation 2008; Rayner et al. 2001). Dieser<br />
Zusammenhang mit der Leseleistung besteht auch noch elf<br />
Jahre später, neben oder zusätzlich zu dem Einfluss der sozialen<br />
Schicht (MacDonald <strong>und</strong> Cornwall 1995).<br />
Noch eindrucksvoller hat sich bei der Auswertung von 52 gut<br />
kontrollierten exper<strong>im</strong>entellen Untersuchungen gezeigt, dass Kinder,<br />
die als Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige zu phonologischer Bewusstheit<br />
angeleitet worden waren, noch Jahre nach dem Training bessere<br />
Leser <strong>und</strong> Buchstabierer blieben als untrainierte Kinder (National<br />
Reading Panel 2000). Wenn man Kindern beibringt, Wörter in<br />
ihre Lautkomponenten zu zerlegen <strong>und</strong> dann nacheinander die<br />
Buchstaben aufzuschreiben, die am besten zu den aufeinanderfolgenden<br />
Lauten passen, ergeben sich enorme Verbesserungen<br />
<strong>im</strong> Buchstabieren (Levin <strong>und</strong> Aram 2013).<br />
Explizites Training kann die phonologische Bewusstheit mit<br />
fördern, aber die meisten Kinder erhalten kein solches explizites<br />
Training. Wie entsteht dann phonologische Bewusstheit in natürlicher<br />
Umgebung? Eine wichtige Erfahrung ist das Hören von<br />
Kinderre<strong>im</strong>en. Viele Kinderre<strong>im</strong>e heben den Beitrag einzelner<br />
Laute zu den Unterschieden zwischen Wörtern hervor. („Frau<br />
von Hagen, darf ich’s wagen, Sie zu fragen, wie viel Kragen Sie<br />
getragen, als Sie lagen krank am Magen <strong>im</strong> Spital zu Kopenhagen?“).<br />
In Übereinst<strong>im</strong>mung mit dieser Hypothese korreliert<br />
das Kennen von Kinderversen bei Dreijährigen positiv mit ihrer<br />
späteren phonologischen Bewusstheit, über die Einflüsse ihres<br />
IQs <strong>und</strong> des Bildungsstands ihrer Mutter hinaus (Maclean et al.<br />
1987). Weitere Faktoren, die zur Entwicklung der phonologischen<br />
Bewusstheit beitragen, sind unter anderem der zunehmende<br />
Umfang des Arbeitsgedächtnisses, die zunehmend effizientere<br />
Sprachverarbeitung <strong>und</strong> insbesondere das Lesen selbst<br />
(Anthony <strong>und</strong> Francis 2005; McBride-Chang 2004). Kinder mit<br />
höherer phonologischer Bewusstheit lesen mehr <strong>und</strong> besser, was<br />
seinerseits zu weiterem Anwachsen ihrer phonologischen Bewusstheit<br />
sowie der Quantität <strong>und</strong> Qualität ihres Lesens führt.<br />
..<br />
Der Reiz von Kinderre<strong>im</strong>en für kleine Kinder war schon <strong>im</strong>mer offensichtlich,<br />
doch erst kürzlich erkannte man den Nutzen solcher Re<strong>im</strong>e für die<br />
phonologische Bewusstheit <strong>und</strong> das Lesenlernen. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Worterkennung<br />
Das schnelle, mühelose Erkennen von Wörtern ist nicht nur für<br />
das Leseverstehen entscheidend, sondern auch für die Freude<br />
am Lesen. Ein bemerkenswerter Bef<strong>und</strong> bringt es auf den Punkt:<br />
40 % der Viertklässler, die bei der Worterkennung nicht besonders<br />
gut waren, sagten, sie würden lieber ihr Z<strong>im</strong>mer aufräumen<br />
als lesen (Juel 1988). Einer ging so weit zu sagen: „Ich würde<br />
lieber den Sch<strong>im</strong>mel neben der Badewanne wegputzen als zu<br />
lesen.“ Eine schlechte Worterkennung macht den Leseprozess<br />
nicht nur langsam <strong>und</strong> mühselig; sie bringt die Kinder auch dazu,<br />
nicht mehr als das absolut Notwendige zu lesen, was wiederum<br />
die Verbesserung der Lesefähigkeit verhindert.<br />
Wörter kann man hauptsächlich mithilfe von zwei Prozessen<br />
erkennen: durch phonologische Recodierung oder durch direkten<br />
visuell gestützten Abruf. Wie zuvor angedeutet, <strong>im</strong>pliziert phonologische<br />
Recodierung die Umwandlung der visuellen Form
296<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Prozent Fehler<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Lesen<br />
r = ,86<br />
Cherries<br />
White<br />
House Paper<br />
Dig<br />
Now<br />
Cookie<br />
Thumb<br />
Hand Purple Shells<br />
People Pet<br />
Ride Duck<br />
Horse<br />
Pair<br />
Mother Apples Sandwich<br />
Here Game<br />
Foot<br />
Shop<br />
Play<br />
Put<br />
Kitten<br />
Eating<br />
Saw<br />
Bat<br />
Find<br />
Book<br />
She, All Sit<br />
Cake<br />
Wig<br />
Ran Baby Them<br />
Puppy Pie<br />
Eight<br />
Seven<br />
Do<br />
Little Hat Ten<br />
Over<br />
Bird<br />
Your We<br />
Like<br />
Can<br />
Then<br />
Three<br />
It<br />
Green<br />
Got<br />
Blue Not Bed<br />
Dog Five Big Sun<br />
Her<br />
Fish<br />
Black<br />
You Car Nine<br />
Brown<br />
Up<br />
Six Boy Pig At<br />
Look<br />
Red<br />
Zoo Two One<br />
And Box To<br />
Four<br />
On<br />
The Girl<br />
Man<br />
Orange<br />
Cat<br />
In Fox<br />
Yellow<br />
10 20<br />
30 40 50 60 70 80 90<br />
Prozent Verwendung beobachtbarer Strategien<br />
eines Wortes in eine verbale, phonologische Form (als ob man<br />
es aussprechen würde), mit deren Hilfe man die Bedeutung des<br />
Wortes best<strong>im</strong>men kann. Be<strong>im</strong> visuell gestützten Abruf aus dem<br />
Gedächtnis greift man von der wahrgenommenen visuellen Form<br />
des Wortes direkt auf seine Bedeutung zu.<br />
Visuell gestützter Abruf – Das direkte Übergehen von der visuellen Form eines<br />
Wortes zu seiner Bedeutung.<br />
Die meisten kleinen Kinder nutzen beide Wege (Share 2004) <strong>und</strong><br />
wählen schon früh in der ersten Klasse je nach Bedarf zwischen<br />
ihnen. Das tun sie mithilfe eines Strategiewahlprozesses, bei<br />
dem sie den schnelleren Weg wählen, der wahrscheinlich zum<br />
richtigen Ergebnis führen wird. Im Zusammenhang mit dem<br />
Lesen bedeutet das, dass sich die Kinder bei leichten Wörtern<br />
stark auf den schnellen, aber nicht <strong>im</strong>mer akkuraten Ansatz des<br />
visuell gestützten Abrufs verlassen, während sie sich bei schweren<br />
Wörtern auf die langsamere, aber sicherere Strategie der phonologischen<br />
Recodierung stützen. Wie . Abb. 8.10 zeigt, sind Erstklässler<br />
sehr geschickt darin, ihre Strategien an die Schwierigkeit<br />
des jeweiligen Wortes anzupassen.<br />
Strategiewahlprozess – Ein Verfahren für die Wahl zwischen verschiedenen<br />
Wegen, ein Problem zu lösen.<br />
Father<br />
Perform<br />
Parade<br />
..<br />
Abb. 8.10 Die Strategiewahlen<br />
jüngerer Kinder be<strong>im</strong> Lesen. Es besteht<br />
eine starke positive Korrelation<br />
zwischen der Schwierigkeit eines<br />
Wortes, definiert durch die Anzahl<br />
der Fehler, die Kinder be<strong>im</strong> Lesen<br />
dieses Wortes machen, <strong>und</strong> der<br />
Häufigkeit, mit der jüngere Kinder<br />
be<strong>im</strong> Lesen eine beobachtbare<br />
Strategie verwenden, beispielsweise<br />
hörbares phonologisches Recodieren.<br />
Bei leichten Wörtern, die Kinder<br />
fast <strong>im</strong>mer korrekt lesen, etwa bei<br />
dem Wort „in“, verwenden sie selten<br />
beobachtbare Strategien, um das<br />
Wort zu identifizieren. Aber bei<br />
schwierigen Wörtern, die viele Fehler<br />
hervorrufen, etwa bei dem Wort „Parade“,<br />
greifen die Kinder häufig auf<br />
Strategien wie das laute Ausbuchstabieren<br />
zurück. (<strong>Siegler</strong> 1986)<br />
Dieser anpassungsfähigen Strategiewahl liegt unter anderem eine<br />
Form des assoziativen Lernens zugr<strong>und</strong>e, bei dem vorangehendes<br />
Verhalten das künftige Verhalten der Kinder formt (<strong>Siegler</strong><br />
1996). Leseanfänger stützen sich stark auf phonologisches Recodieren,<br />
weil die Assoziationen zwischen der visuellen Wortgestalt<br />
<strong>und</strong> den Lauten zu schwach sind, um den Gedächtnisabruf sinnvoll<br />
nutzen zu können. Richtig angewandt stärkt das phonologische<br />
Recodieren jedoch die Assoziationen zwischen visueller<br />
Wortgestalt <strong>und</strong> den zugehörigen Lauten, was wiederum erlaubt,<br />
den direkten visuell gestützten Abruf zunehmend erfolgreich anzuwenden.<br />
Entsprechend wird am ehesten bei solchen Wörtern<br />
zum direkten Gedächtnisabruf gewechselt, bei denen die Kinder<br />
das phonologische Recodieren am häufigsten richtig anwenden<br />
konnten: bei Wörtern, die kurz sind, die regelmäßige Buchstaben-Laut-Beziehungen<br />
aufweisen <strong>und</strong> die oft vorkommen. Und<br />
– ebenfalls <strong>im</strong> Einklang mit dem Konzept des assoziativen Lernens<br />
– hören Kinder, die das phonologische Recodieren besonders<br />
früh beherrschen, auch besonders früh damit auf, weil ihr<br />
Erfolg mit dieser Strategie sie befähigt, schneller zu visuellem<br />
Gedächtnisabruf überzugehen. Als dritte Konsequenz bestätigte<br />
sich, dass Leseanleitungen, die auf die lautlichen Strukturen <strong>und</strong><br />
die Strategie des phonologischen Recodierens hinweisen, eine<br />
schnelle <strong>und</strong> genaue Wortidentifikation fördern (Adams et al.<br />
1998; Xue <strong>und</strong> Meisels 2004).<br />
Mit fortschreitendem Alter <strong>und</strong> wachsender Erfahrung beeinflusst<br />
auch der bereits gelernte Wortschatz <strong>im</strong>mer stärker die<br />
Wortidentifikation, besonders bei Wörtern mit unregelmäßigen<br />
Laut-Symbol-Entsprechungen (Nation 2008). Jedoch bleibt auch<br />
das phonologische Recodieren bis ins Erwachsenenalter wichtig,
Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />
297 8<br />
Exkurs 8.3: Individuelle Unterschiede: Dyslexie | |<br />
Manche Kinder, die über normale Intelligenz<br />
verfügen <strong>und</strong> mit Eltern groß werden, die sie<br />
zum Lesen anhalten <strong>und</strong> ermutigen, können<br />
dennoch nur schlecht lesen. Diese Unfähigkeit<br />
zu lesen, obwohl keine Intelligenzminderung<br />
vorliegt, wird Dyslexie genannt <strong>und</strong> betrifft<br />
etwa 5–10 % der Kinder in den USA (Anthony<br />
<strong>und</strong> Francis 2005) <strong>und</strong> Europa. Die Ursachen von<br />
Dyslexie kennt man bislang kaum, aber die Gene<br />
gehören sicher dazu. Wenn bei einem eineiigen<br />
Zwilling Dyslexie diagnostiziert wird, dann<br />
beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass man diese<br />
Leseschwäche auch bei dem anderen Zwilling<br />
diagnostiziert, 84 %, bei zweieiigen Zwillingen<br />
hingegen nur 48 % (Kovas <strong>und</strong> Plomin 2007;<br />
Oliver et al. 2004). Das Ausmaß genetischer Einflüsse<br />
unterscheidet sich nach dem elterlichen<br />
Bildungsstand; wie be<strong>im</strong> IQ sind auch bei der<br />
Dyslexie die genetischen Einflüsse bei Kindern<br />
hochgebildeter Eltern stärker als bei Kindern<br />
weniger gebildeter Eltern (Friend et al. 2008).<br />
Dyslexie – Die Unfähigkeit, trotz normal ausgeprägter<br />
Intelligenz flüssig zu lesen.<br />
Auf der Ebene kognitiver Analyse beruht die<br />
Dyslexie vorwiegend auf einer unzureichenden<br />
Fähigkeit der Phonemdiskr<strong>im</strong>inierung, einem<br />
schlechten Kurzzeitgedächtnis für verbales<br />
Material (was sich beispielsweise in einer sehr<br />
lückenhaften Wiedergabe einer Liste beliebig<br />
aneinandergereihter Wörter zeigt) <strong>und</strong> in<br />
einer langsamen Wiedergabe der Namen von<br />
Objekten (Vellutino et al. 1995; W<strong>im</strong>mer et al.<br />
1999). Die Laute zu best<strong>im</strong>men, die mit einem<br />
Vokalbuchstaben einhergehen, ist für dyslexische<br />
Kinder besonders schwer, zumindest<br />
<strong>im</strong> Englischen, wo dasselbe Vokalzeichen auf<br />
mehrerlei Weise ausgesprochen werden kann<br />
(wie beispielsweise das a in „hate“, „hat“, „hall“<br />
<strong>und</strong> „hard“). Wegen dieser eingeschränkten<br />
phonologischen Verarbeitung haben dyslexische<br />
Kinder große Schwierigkeiten damit, die<br />
Buchstaben-Laut-Korrespondenzen zu beherrschen,<br />
die be<strong>im</strong> phonologischen Recodieren<br />
genutzt werden, insbesondere in Sprachen mit<br />
unregelmäßigen Laut-Symbol-Entsprechungen<br />
wie dem Englischen (Sprenger-Charolles 2004).<br />
Zum Beispiel erreichen 13 <strong>und</strong> 14 Jahre alte<br />
Kinder mit Dyslexie bei der Aufgabe, Pseudowörter<br />
vorzulesen, nur das Leistungsniveau,<br />
das normalerweise für Sieben- <strong>und</strong> Achtjährige<br />
typisch ist (Siegel 1993). (Pseudowörter<br />
sind Wörter, die es in einer Sprache nicht<br />
gibt, die aber phonologisch möglich wären;<br />
<strong>im</strong> Deutschen zum Beispiel Pirsel.) Nach dem<br />
oben beschriebenen Strategiewahlmodell<br />
ist zu erwarten, dass diese Schwierigkeit der<br />
phonologischen Verarbeitung bei den meisten<br />
dyslexischen Kindern auch den visuell gestützten<br />
Abruf <strong>und</strong> das laute Lesen von Wörtern<br />
beeinträchtigt (Manis et al. 1996).<br />
Das Problem kann lange anhalten: Kinder mit<br />
schlechten phonologischen Verarbeitungsfähigkeiten<br />
zu Beginn der Gr<strong>und</strong>schule sind<br />
meistens auch als Erwachsene schlechte Leser<br />
(Wagner et al. 1997). Dies gilt besonders für<br />
Kinder aus benachteiligten Familien; dyslexische<br />
Kinder aus günstigeren Familienverhältnissen,<br />
die bessere Schulen besuchen, legen<br />
wahrscheinlicher beträchtliche Verbesserungen<br />
an den Tag (Shaywitz et al. 2006).<br />
Untersuchungen der Gehirnfunktionen unterstützen<br />
die Annahme, dass eine schlechte phonologische<br />
Verarbeitung den Kern der Dyslexie<br />
ausmacht. Wenn dyslexische Kinder lesen, sind<br />
zwei Areale ihres Gehirns weniger aktiv als die<br />
entsprechenden Areale typischer Kinder be<strong>im</strong><br />
Lesen derselben Wörter (Schlaggar <strong>und</strong> Church<br />
2009; Tanaka et al. 2011). Eines dieser Areale<br />
ist direkt an der phonologischen Verarbeitung<br />
beteiligt; das andere Areal ist an der Integration<br />
visueller <strong>und</strong> auditiver Daten beteiligt (in<br />
diesem Fall der Integration der Buchstaben auf<br />
dem Blatt mit den zugehörigen Lauten).<br />
Wie kann man dyslexischen Kindern helfen? Ein<br />
verlockender Schluss wäre, dass diese Kinder wegen<br />
ihrer Schwierigkeiten be<strong>im</strong> Lernen der Laute<br />
besser mit einem Ansatz zurechtkämen, der nicht<br />
so sehr auf die Beziehungen zwischen Buchstaben<br />
<strong>und</strong> Lauten abhebt, sondern stattdessen den<br />
visuell gestützten Abruf oder das Schließen aus<br />
dem Kontext betont. Diese alternativen Methoden<br />
funktionieren jedoch schlecht (Lyon 1995).<br />
Es gibt einfach keinen Ersatz für die Fähigkeit,<br />
die Aussprache unbekannter Wörter lautlich aus<br />
den Buchstaben zusammensetzen zu können.<br />
Was am besten zu funktionieren scheint, ist die<br />
Vermittlung von Strategien, welche die phonologische<br />
Recodierung verbessern (Lovett et al.<br />
1994). Wirksame Strategien sind zum Beispiel<br />
Analogieschlüsse auf bekannte Wörter mit ähnlicher<br />
Schreibweise; die Erzeugung alternativer<br />
Aussprachevarianten der Vokale, wenn der erste<br />
Versuch, das Wort auszusprechen, zu keinem<br />
plausiblen Wort geführt hat, <strong>und</strong> bei langen<br />
Wörtern Vor- <strong>und</strong> Nachsilben erst einmal abzutrennen<br />
<strong>und</strong> den Rest des Wortes zu identifizieren<br />
versuchen. Der Einsatz solcher Strategien hilft<br />
Kindern mit Dyslexie, ihre Lese- <strong>und</strong> Rechtschreibleistungen<br />
zu verbessern (Lovett et al. 1994).<br />
Anzahl korrekt erkannter Pseudowörter<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
7–8 9–10 11–12 13–14<br />
Alter<br />
Kinder mit Lesestörung<br />
Normale Kinder<br />
..<br />
Die Anzahl der korrekt identifizierten Pseudowörter<br />
bei Sieben- bis 14-Jährigen mit <strong>und</strong><br />
ohne Leseschwäche. 13- <strong>und</strong> 14-Jährige mit<br />
einer beeinträchtigten Lesefähigkeit konnten<br />
nicht mehr Wörter korrekt identifizieren als<br />
typische Sieben- <strong>und</strong> Achtjährige. Die schlechte<br />
phonologische Recodierfähigkeit von Kindern<br />
mit Leseschwächen bereitet ihnen besondere<br />
Schwierigkeit mit Pseudowörtern, die man nur<br />
durch phonologische Recodierung aussprechen<br />
kann, weil sie ja völlig unbekannt sind. (Daten<br />
aus Siegel 1993)<br />
wenn wir auf unbekannte Wörter stoßen. ▶ Exkurs 8.3 erläutert<br />
die Beziehung zwischen schwacher phonologischer Recodierfähigkeit<br />
<strong>und</strong> der als Dyslexie bezeichneten Lesestörung.<br />
Verstehen<br />
Einzelne Wörter lernt man lesen, um den längeren Text verstehen<br />
zu können, in dem die einzelnen Wörter vorkommen. Zum Leseverstehen<br />
gehören die Bildung eines mentalen Modells von der<br />
Situation oder Vorstellung, die <strong>im</strong> Text dargestellt wird, <strong>und</strong> das<br />
fortwährende Aktualisieren dieses Modells, wenn neue Information<br />
auftaucht (Oakhill <strong>und</strong> Cain 2000). Alle Arten von geistigen<br />
Handlungen, welche die Entwicklung der allgemeinen Kognition<br />
beeinflussen – Basisprozesse, Strategien, Metakognition (das<br />
Wissen über das Denken von Menschen) <strong>und</strong> Inhaltswissen –,<br />
beeinflussen auch die Entwicklung des Leseverständnisses.<br />
Mentales Modell – Das Ergebnis von Prozessen der Repräsentation einer Situation<br />
oder Ereignisfolge.<br />
Gr<strong>und</strong>legende Prozesse <strong>und</strong> Fähigkeiten wie die Encodierung<br />
(die Identifikation der zentralen Merkmale eines Objekts oder<br />
Ereignisses) <strong>und</strong> Automatisierung (die Ausführung eines Prozesses<br />
mit min<strong>im</strong>alem Bedarf an kognitiven Ressourcen) sind<br />
für das Leseverständnis entscheidend. Der Gr<strong>und</strong> dafür ist ein-
298<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
fach: Kinder, welche die Gr<strong>und</strong>züge einer Geschichte best<strong>im</strong>men<br />
können, verstehen die Geschichte besser, <strong>und</strong> Kinder, die zentrale<br />
Merkmale von Wörtern automatisch identifizieren können,<br />
haben mehr unverbrauchte Ressourcen übrig, die sie für den<br />
Verstehensprozess einsetzen können. Eine schnelle <strong>und</strong> akkurate<br />
Worterkennung korreliert positiv mit dem Leseverständnis<br />
– <strong>und</strong> zwar zu allen Zeitpunkten von der ersten Klasse bis ins<br />
Erwachsenenalter (Cunningham <strong>und</strong> Stanovich 1997).<br />
Auch der Erwerb von Lesestrategien unterstützt die Entwicklung<br />
des Leseverstehens. Gute Leser gehen beispielsweise langsam<br />
vor, wenn sie das schriftliche Material nachher gründlich<br />
beherrschen müssen, <strong>und</strong> lesen schneller, wenn sie nur ungefähr<br />
verstehen müssen, worum es geht (Pressley <strong>und</strong> Hilden 2006).<br />
Der gekonnte Umgang mit solchen strategischen Anpassungsleistungen<br />
entwickelt sich jedoch überraschend spät. Selbst wenn<br />
Kindern <strong>im</strong> Alter von zehn Jahren gesagt wird, dass ein Teil des<br />
Lesestoffs entscheidend ist <strong>und</strong> ein anderer nicht, lesen sie das<br />
gesamte Textmaterial meistens mit gleichbleibender Geschwindigkeit.<br />
Im Gegensatz dazu überfliegen 14-Jährige die unwesentlichen<br />
Teile <strong>und</strong> widmen den wichtigen Abschnitten mehr Zeit<br />
(Kobasigawa et al. 1980).<br />
Zunehmendes metakognitives Wissen trägt ebenfalls zur Verbesserung<br />
des Leseverstehens bei. Mit zunehmendem Alter <strong>und</strong><br />
zunehmender Erfahrung überwachen <strong>und</strong> kontrollieren Leser<br />
in wachsendem Maße ihr Verständnis dessen, was sie lesen, <strong>und</strong><br />
Abschnitte, die sie nicht verstanden haben, lesen sie ein zweites<br />
Mal (Nicholson 1999). Eine solche Verständniskontrolle unterscheidet<br />
gute Leser von schlechten, <strong>und</strong> zwar in jedem Alter von<br />
der ersten Klasse bis über das gesamte Erwachsenenalter. Ansätze<br />
für den Unterricht, die sich auf die Verständniskontrolle <strong>und</strong> andere<br />
metakognitive Fähigkeiten konzentrieren, beispielsweise das<br />
Antizipieren von Fragen, die der Lehrer über den Lesestoff stellen<br />
könnte, erwiesen sich als geeignetes Mittel, um das Leseverstehen<br />
zu verbessern (Magnusson <strong>und</strong> Palincsar 2001; Rosenshine <strong>und</strong><br />
Meister 1994).<br />
Verständniskontrolle – Der Prozess, das eigene Verstehen eines gelesenen<br />
Textes oder gehörter Rede zu kontrollieren.<br />
Ein weiterer wichtiger Einfluss auf die Entwicklung des Leseverstehens<br />
ist das zunehmende Inhaltswissen. Der Zuwachs an<br />
Inhaltswissen setzt kognitive Ressourcen frei, die sich darauf<br />
richten können, was <strong>im</strong> Text neu oder kompliziert ist. Mithilfe<br />
von Inhaltswissen können Leser auch sinnvolle Schlüsse über<br />
Informationen ziehen, die nicht explizit <strong>im</strong> Text stehen. Be<strong>im</strong><br />
Lesen der Überschrift „Gladbacher Fohlen schlagen die roten<br />
Teufel“ erkennen informierte Leser, dass es um Fußball geht; es<br />
ist unklar, wie weniger bewanderte Leser eine solche Überschrift<br />
interpretieren würden.<br />
Die Entwicklung eines guten oder schlechten Leseverständnisses<br />
beginnt schon vor dem Schuleintritt der Kinder. Vorschulkinder,<br />
deren Eltern ihnen Geschichten erzählen <strong>und</strong> vorlesen,<br />
lernen, wie solche Geschichten normalerweise aufgebaut sind,<br />
was ihnen dabei hilft, neue Geschichten zu verstehen, wenn sie<br />
mit dem Lesen beginnen. Dies hebt auch ihr allgemeines Niveau<br />
der Sprachentwicklung (Raikes et al. 2006; Whitehurst <strong>und</strong><br />
Lonigan 1998). Unterschiede in den Fähigkeiten des Leseverständnisses<br />
zwischen Kindern aus Familien mit mittlerem <strong>und</strong><br />
niedrigem Einkommen sind zum Teil darauf zurückzuführen,<br />
wie viel ihre Eltern ihnen in der Zeit vor Schuleintritt vorgelesen<br />
haben. So zeigte eine in Israel durchgeführte Untersuchung, dass<br />
in einem Schulbezirk mit wohlhabenden Bewohnern <strong>und</strong> hohen<br />
Leseleistungstestwerten 96 % der Eltern ihren Vorschulkindern<br />
täglich etwas vorlesen. In einem ärmlichen Bezirk mit niedrigen<br />
Lesetestleistungen war dies nur bei 15 % der Eltern von Vorschulkindern<br />
der Fall (Feitelson <strong>und</strong> Goldstein 1986).<br />
Die einfache Bedeutung dieser Bef<strong>und</strong>e lautet: Würde den Vorschulkindern<br />
aus armen Familien täglich vorgelesen, würden sie<br />
ebenfalls bessere Leser werden. Die Bef<strong>und</strong>lage st<strong>im</strong>mt mit diesem<br />
Schluss überein. Als noch hilfreicher erweist es sich, wenn<br />
man geringverdienende Eltern dazu ermutigt, ihre Kinder in den<br />
Leseprozess einzubeziehen, indem sie die Kinder zum Beispiel danach<br />
fragen, was das Vorgelesene mit ihren eigenen Erfahrungen<br />
verbindet, oder indem sie den Kindern die Ziele <strong>und</strong> Motive der Figuren<br />
erklären (Zevenbergen <strong>und</strong> Whitehurst 2003). Aufgr<strong>und</strong> der<br />
Zeiterfordernisse <strong>und</strong> – in vielen Fällen – des Drucks, die Kinder<br />
allein erziehen zu müssen, ist es nicht leicht, einkommensschwache<br />
Eltern zu überreden, sich an solchen Programmen zu beteiligen<br />
<strong>und</strong> ihren Kindern regelmäßig vorzulesen (Whitehurst et al. 1999),<br />
aber wenn sich die Eltern darauf einlassen, profitieren ihre Kinder.<br />
Bei der Einschulung gibt es enorme Unterschiede <strong>im</strong> Hinblick<br />
darauf, wie viel die Kinder lesen <strong>und</strong> wie das ihr Leseverständnis<br />
beeinflusst. So lesen amerikanische Fünftklässler, deren<br />
Leistungen be<strong>im</strong> Lesetest <strong>im</strong> Bereich der obersten 10 % lagen,<br />
nach eigenen Angaben etwa 200-mal so oft aus eigenem Antrieb<br />
wie ihre Klassenkameraden mit Leistungen <strong>im</strong> Bereich der untersten<br />
10 % (Anderson et al. 1988). Hohe Lesefähigkeiten bringen<br />
Kinder dazu, mehr zu lesen, was seinerseits mit der Zeit zu<br />
größeren Verbesserungen des Leseverständnisses führt als bei<br />
Kindern mit gleichen Lesefähigkeiten, die jedoch weniger Zeit<br />
mit Lesen verbringen (Guthrie et al. 1999).<br />
Individuelle Unterschiede<br />
Die individuellen Unterschiede be<strong>im</strong> Lesen bleiben tendenziell<br />
<strong>im</strong> Lauf der Entwicklung stabil. Kinder, die bereits mit relativ<br />
fortgeschrittenen Lesefertigkeiten in den Kindergarten kommen,<br />
werden auch in der Gr<strong>und</strong>schule <strong>und</strong> den weiterführenden Schulen<br />
bessere Leser sein (Duncan et al. 2007; Harlaar et al. 2007).<br />
Vergleichsuntersuchungen an adoptierten <strong>und</strong> nicht adoptierten<br />
Geschwistern sowie eineiigen <strong>und</strong> zweieiigen Zwillingen weisen<br />
darauf hin, dass diese Kontinuität der individuellen Unterschiede<br />
sowohl mit gemeinsamen Genen als auch mit gemeinsamen<br />
Umwelten zusammenhängen (Petrill et al. 2007; Wadsworth et<br />
al. 2006). Wie schon erwähnt, verstärken sich genetische <strong>und</strong><br />
umweltbedingte Einflüsse wechselseitig: Wenn Eltern selbst gut<br />
<strong>und</strong> häufig lesen, ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass<br />
ihre Kindern sowohl die Gene als auch die Umwelt mitbekommen,<br />
die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für gutes Lesen<br />
in der frühen Kindheit einhergehen. Das wiederum macht es<br />
wahrscheinlicher, dass sich die Kinder selbst Gelegenheiten zum<br />
Lesen suchen, was zusätzlich die Lesefähigkeiten verbessert, <strong>und</strong><br />
so fort (Petrill et al. 2007).
Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />
299 8<br />
..<br />
Abb. 8.11 Der Versuch eines dreieinhalb Jahre alten <strong>Kindes</strong>, eine<br />
Einkaufsliste für einen Teddybären zu schreiben. Die Symbole, die das Kind<br />
verwendet, sind zwar unkonventionell, lassen aber das Verständnis erkennen,<br />
dass jedes Wort ein eigenes Symbol erfordert<br />
Schreiben<br />
Über die kindliche Entwicklung des Schreibens ist viel weniger<br />
bekannt als über die Entwicklung des Lesens; aber das, was man<br />
weiß, lässt interessante Parallelen zwischen beidem erkennen.<br />
Vorläuferfertigkeiten des Schreibens<br />
Die Entwicklung des Schreibens beginnt wie die Entwicklung des<br />
Lesens schon vor der Schulzeit. . Abbildung 8.11 zeigt die „Einkaufsliste“<br />
eines typischen Dreieinhalbjährigen. Die Zeichen sind<br />
keine konventionellen Buchstaben des Alphabets, aber sie besitzen<br />
eine vage Ähnlichkeit mit ihnen <strong>und</strong> stehen waagerecht in einer<br />
Reihe. Mit vier Jahren ist das „Schreiben“ von Kindern so weit<br />
fortgeschritten, dass Erwachsene es problemlos von den Figuren<br />
unterscheiden können, welche die Vierjährigen produzieren, wenn<br />
sie eine Blume oder ein Haus malen sollen (Tolchinsky 2003).<br />
Das „Schreiben“ <strong>im</strong> Vorschulalter lässt die Erwartung der<br />
Kinder erkennen, dass sich in der Schrift Bedeutung widerspiegelt.<br />
Sie verwenden mehr Zeichen, um Wörter darzustellen, die<br />
viele Objekte bezeichnen, beispielsweise „Wald“, als zum Darstellen<br />
von Wörtern, die nur ein einzelnes Objekt bezeichnen, zum<br />
Beispiel „Baum“ (Levin <strong>und</strong> Korat 1993). Wenn sie raten sollen,<br />
welches von mehreren Wörtern ein best<strong>im</strong>mtes Objekt bezeichnet,<br />
wählen sie für größere Objekte <strong>im</strong> Allgemeinen längere Wörter<br />
(Bialystok 2000). Auch wenn die geschriebene Sprache dieser<br />
„Regel“ ganz offenk<strong>und</strong>ig nicht folgt, sind die Vermutungen der<br />
Kinder doch nachvollziehbar.<br />
Die Produktion schriftlicher Texte<br />
Schreiben lernen – <strong>im</strong> Sinne von eine Geschichte schreiben können<br />
– ist wesentlich schwieriger als lesen lernen. Das ist nicht überraschend,<br />
weil man sich be<strong>im</strong> Schreiben gleichzeitig auf mehrere<br />
Ziele konzentrieren muss, hochrangige wie nachgeordnete. Ziele<br />
auf einer niedrigen Hierarchieebene (Low-Level-Ziele) betreffen<br />
die Formung von Buchstaben, die Rechtschreibung der Wörter<br />
sowie eine korrekte Zeichensetzung <strong>und</strong> Groß- <strong>und</strong> Kleinschreibung.<br />
Zu den Zielen auf höherer Hierarchieebene (High-Level-<br />
Ziele) gehört es, seine Aussagen <strong>und</strong> Argumente auch ohne Intonation<br />
<strong>und</strong> Gestik verständlich zu machen, die uns be<strong>im</strong> Sprechen<br />
unterstützen, <strong>und</strong> die einzelnen Punkte zu einem zusammenhängenden<br />
Ganzen anzuordnen sowie Hintergr<strong>und</strong>informationen zu<br />
liefern, die der Leser benötigt, um das Geschriebene zu verstehen<br />
(Berninger <strong>und</strong> Richards 2002). Die Schwierigkeiten, all diesen<br />
Zielen gerecht zu werden, führen zu Schreibversuchen vom Typ<br />
der in . Abb. 8.12 wiedergegebenen Geschichte.<br />
Wie die Entwicklung des Leseverstehens spiegelt auch der<br />
Zuwachs an Schreibkompetenz Fortschritte in gr<strong>und</strong>legenden<br />
..<br />
Abb. 8.12 Eine Geschichte, geschrieben von einem Gr<strong>und</strong>schulkind. Es<br />
handelt sich hier um den Versuch eines <strong>Kindes</strong> aus dem alemannisch-dialektalen<br />
Sprachraum, die Geschichte vom Vater, der seinen H<strong>und</strong> be<strong>im</strong> Baden<br />
nass macht <strong>und</strong> anschließend von ihm selbst nass gespritzt wird, anhand<br />
einer Bildervorlage niederzuschreiben. (Aus Röber-Siekmeyer 2004)<br />
Fähigkeiten, Strategien, Metakognition <strong>und</strong> Inhaltswissen wider.<br />
Die Automatisierung von Low-Level-Fertigkeiten wie Rechtschreibung<br />
<strong>und</strong> Zeichensetzung unterstützt das Schreiben nicht<br />
nur deshalb, weil man das Geschriebene leichter verstehen kann,<br />
wenn es in der üblichen Schreibweise der Wörter <strong>und</strong> mit den<br />
Satzzeichen an der richtigen Stelle geschrieben ist, sondern auch<br />
deshalb, weil automatisierte Low-Level-Prozesse mehr kognitive<br />
Ressourcen übrig lassen, um die High-Level-Ziele des Schreibens<br />
zu verfolgen. Dementsprechend korreliert die Kompetenz von<br />
Kindern <strong>im</strong> Bereich der Low-Level-Fertigkeiten wie Rechtschreibung<br />
positiv mit der Qualität ihrer Aufsätze (Juel 1994).<br />
Auch der Erwerb von Strategien des Schreibens trägt zu<br />
Verbesserungen des Schreibens bei. Eine häufige Strategie besteht<br />
darin, in einer Art Drehbuch oder Skript eine best<strong>im</strong>mte<br />
Standardreihenfolge für einzelne Handlungen <strong>und</strong> Ereignisse<br />
festzulegen, die <strong>im</strong> Alltag wiederholt auftreten. Die Psychologin<br />
Harriet Waters hatte als Kind einen solchen strategischen Ansatz<br />
bei ihrem „Schultagebuch“ herangezogen (Waters 1980), das ihre<br />
Mutter vom zweiten Schuljahr an aufgehoben hat. Wie die Box<br />
„Texte für das Klassentagebuch“ zeigt, gab Waters bei jedem Tagebucheintrag<br />
zuerst das Datum an, beschrieb dann das Wetter <strong>und</strong><br />
berichtet danach über Ereignisse des Schultages; diese Strategie<br />
dürfte die Schreibaufgabe deutlich vereinfacht haben. Bei älteren<br />
Kindern dient die Inhaltsübersicht in Stichwörtern dem gleichen<br />
Zweck, die Schreibaufgabe in überschaubare Teile zu gliedern:<br />
Finde erst heraus, was du sagen willst; finde dann heraus, in welcher<br />
Reihenfolge du die wichtigsten Punkte sagen willst.<br />
Skript – Eine best<strong>im</strong>mte Standardreihenfolge für wiederkehrende Handlungsabläufe<br />
<strong>und</strong> Ereignisse, die das Verstehen oder Gestalten von Abläufen strukturiert.<br />
Beispiele sind Restaurant- oder Arztbesuche oder auch Beschreibungen<br />
<strong>und</strong> Berichte.
300<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
Texte für das Klassentagebuch zu Beginn, in der Mitte <strong>und</strong><br />
am Ende des zweiten Schuljahres (Aus Waters 1980).<br />
24. SEPTEMBER 1956<br />
Heute ist Montag, der 24. September 1956. Es ist ein Regentag.<br />
Wir hoffen, dass die Sonne scheint.<br />
Wir bekamen neue Fibeln. Es wurden Bilder von uns gemacht.<br />
Wir sangen für Barbara ein Geburtstagslied.<br />
22. JANUAR 1957<br />
Heute ist Dienstag, der 22. Januar 1957. Es ist neblig. Wir müssen<br />
aufpassen, wenn wir über die Straße gehen.<br />
Heute Morgen hatten wir Musik. Wir lernten ein neues Lied.<br />
Linda fehlt. Wie hoffen, dass sie bald wiederkommt.<br />
Wir hatten Rechnen. Wir taten so, als ob wir Süßigkeiten<br />
kaufen. Das machte Spaß.<br />
Wir arbeiten in unseren Englischbüchern. Wir lernen, wann<br />
man „ist“ <strong>und</strong> „sind“ sagen muss.<br />
27. MAI 1957<br />
Heute ist Montag, der 27. Mai 1957. Es ist warm <strong>und</strong> bewölkt.<br />
Wir hoffen, dass die Sonne scheint.<br />
Heute Nachmittag hatten wir Musik. Das gefiel uns. Wir gingen<br />
nach draußen zum Spielen.<br />
Carole fehlt. Wir hoffen, dass sie bald wiederkommt.<br />
Wir haben eine St<strong>und</strong>e Buchstabieren, wir lernten, was ein<br />
Dutzend ist.<br />
Morgen haben wir Zeigen <strong>und</strong> Erzählen.<br />
Manche von uns haben Sätze auf, die sie richtig schreiben<br />
müssen.<br />
Danny brachte einen Kokon mit. Er wird sich in einen Schmetterling<br />
verwandeln.<br />
Das metakognitive Verstehen spielt be<strong>im</strong> Schreiben in mehrfacher<br />
Hinsicht eine entscheidende Rolle. Der vielleicht gr<strong>und</strong>legendste<br />
Typ metakognitiven Verstehens ist die Erkenntnis, dass<br />
die Leser vielleicht nicht dasselbe Wissen haben wie der Schreiber<br />
<strong>und</strong> dass man deshalb alle diejenigen Informationen, die<br />
man als Leser braucht, um das Geschriebene zu begreifen, mit<br />
in den Text aufnehmen sollte. Gute Schreiber lassen ein solches<br />
Verständnis spätestens in der Sek<strong>und</strong>arstufe durchgehend erkennen;<br />
schlechten Schreibern fehlt es häufig daran (Berninger<br />
<strong>und</strong> Richards 2002). Ein zweiter wichtiger Typ des metakognitiven<br />
Wissens betrifft die Notwendigkeit, das eigene Schreiben<br />
zu planen <strong>und</strong> nicht einfach nur loszulegen. Gute Schreiber<br />
verbringen viel mehr Zeit als schlechte Schreiber mit der Planung,<br />
was sie sagen wollen, insbesondere mit der Stoffsammlung<br />
<strong>und</strong> Gliederung des Inhalts, bevor sie den eigentlichen Text<br />
zu schreiben beginnen (Kellogg 1994). Die Notwendigkeit der<br />
Überarbeitung ist ein dritter zentraler Typ des metakognitiven<br />
Wissens. Gute Schreiber verwenden mehr Zeit auf die Überarbeitung<br />
ihrer schon recht guten ersten Entwürfe als schlechte<br />
Schreiber mit der Überarbeitung ihrer schlechteren Entwürfe<br />
(Fitzgerald 1992).<br />
Glücklicherweise lassen sich ähnlich wie be<strong>im</strong> Lesen die<br />
Schreibfähigkeiten erhöhen, wenn <strong>im</strong> Unterricht gezielt die<br />
metakognitiven Prozesse eingeübt werden (Graham <strong>und</strong> Harris<br />
1996). Besonders verbessert sich das Schreiben sowohl von<br />
typischen als auch von lernschwachen Kindern, wenn man<br />
ihnen beibringt, die schriftlichen Arbeiten anderer Kinder zu<br />
überarbeiten <strong>und</strong> sich selbst best<strong>im</strong>mte gr<strong>und</strong>legende Fragen<br />
zu stellen: Wer ist in dieser Geschichte die Hauptfigur? Was<br />
macht die Hauptfigur? Wie reagieren die anderen Personen?<br />
Wie reagiert die Hauptfigur auf die Reaktionen der anderen<br />
Personen? Was passiert am Schluss? Das Schreiben kann sich<br />
auch dadurch verbessern, dass man die Kinder anhält, über die<br />
relative Qualität von Aufsätzen anderer Kinder nachzudenken<br />
<strong>und</strong> darüber, warum manche Aufsätze besser sind als andere<br />
(Braaksma et al. 2004).<br />
Schließlich spielt wie be<strong>im</strong> Lesen auch das Inhaltswissen eine<br />
entscheidende Rolle be<strong>im</strong> Schreiben. Kinder schreiben insgesamt<br />
bessere Texte, wenn sie mit dem Thema vertraut sind, als wenn<br />
sie nur wenig darüber wissen (Bereiter <strong>und</strong> Scardamalia 1982).<br />
Der Standardratschlag „Schreib über das, was du kennst“ gilt für<br />
Kinder also genauso wie für angehende Schriftsteller.<br />
Mathematik<br />
In ▶ Kap. 7 wurde bereits angesprochen, dass Kinder schon früh<br />
in ihrem ersten Lebensjahr ein elementares Zahlenverständnis<br />
erkennen lassen <strong>und</strong> mit drei oder vier Jahren die Fähigkeit zu<br />
zählen entwickeln <strong>und</strong> das Wissen um die relative Größe von<br />
einstelligen Zahlen erwerben. Hier geht es um die Entwicklung<br />
der mathematischen Fertigkeiten, die auf beiden Zahlenkonzepten<br />
aufbauen.<br />
Rechnen<br />
Rechnen lernen wird oft als reines Auswendiglernen verstanden,<br />
aber es ist tatsächlich viel komplexer <strong>und</strong> interessanter. Wie gut<br />
Kinder rechnen lernen, hängt davon ab, welche Strategien sie<br />
einsetzen, wie präzise sie numerische Größen repräsentieren <strong>und</strong><br />
wie gut sie gr<strong>und</strong>legende mathematische Konzepte <strong>und</strong> Prinzipien<br />
verstehen.<br />
Strategien<br />
Wenn Kinder <strong>im</strong> Alter von vier oder fünf Jahren anfangen, sich<br />
mit Zahlen auseinanderzusetzen, greifen sie auf vielfältige Problemlösestrategien<br />
zurück. Die am häufigsten zu beobachtenden<br />
ersten Rechenstrategien bestehen darin, von 1 hochzuzählen<br />
(zum Beispiel für die Lösung der Aufgabe 2 + 2 zwei Finger an<br />
jeder Hand auszustrecken <strong>und</strong> „1, 2, 3, 4“ abzuzählen) oder die<br />
Strategie des Abrufs zu verwenden (also die auswendig gelernte<br />
Lösung unmittelbar aus dem Gedächtnis abzurufen). Zunächst<br />
können die Kinder diese beiden Strategien nur bei einigen wenigen<br />
Aufgaben wie 1 + 2 oder 2 + 2 anwenden, aber allmählich<br />
dehnen sie die Anwendung über einen größeren Bereich von<br />
einstelligen Zahlen aus (Geary 2006).<br />
In der ersten Klasse, wenn die Kinder anfangen, jeden Tag<br />
zu rechnen, kommen mehrere neue Strategien hinzu. Die häufigste<br />
ist das Zählen vom größeren Summanden aus (also Aufgaben<br />
wie 3 + 9 zu lösen, indem man „9, 10, 11, 12“ zählt). Eine<br />
andere häufige Strategie ist die Zerlegung, bei der eine Aufgabe<br />
in zwei leichtere Aufgaben aufgeteilt wird (um zum Beispiel<br />
3 + 9 mit „Rechenvorteil“ zu lösen, indem man „3 + 10 = 13“ <strong>und</strong><br />
„13 − 1 = 12“ denkt). Die Kinder wenden die früher entwickelten<br />
Strategien auch später weiterhin an; so nutzen die meisten Erst-
Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />
301 8<br />
Summanden 5<br />
Summe 10<br />
100<br />
90<br />
Addition<br />
50<br />
45<br />
Subtraktion<br />
Prozent Fehler<br />
a<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
r = 0,91<br />
4 + 3<br />
3 + 4<br />
5 + 4<br />
4 + 5<br />
4 + 4<br />
2 + 5<br />
3 + 5<br />
1 + 3 4 + 2 2 + 4<br />
1 + 4<br />
5 + 3<br />
3 + 3<br />
4 + 1 1 + 5<br />
3 + 2<br />
2 + 3<br />
3 + 1 5 + 2<br />
2 + 2 5 + 1<br />
2 + 1<br />
1 + 2<br />
1 + 1<br />
10 20 30 40 50 60 70 80<br />
Prozent Verwendung beobachtbarer Strategien<br />
Prozent Fehler<br />
b<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
0<br />
r = 0,83<br />
6 – 5<br />
7 – 5<br />
8 – 4 8 – 3 9 – 4<br />
9 – 5 8 – 5<br />
7 – 2 7 – 3 7 – 4<br />
4 – 2<br />
6 – 2 6 – 4<br />
5 – 4<br />
6 – 3<br />
4 – 3<br />
10 – 5<br />
6 – 1<br />
3 – 2<br />
5 – 1<br />
5 – 3<br />
5 – 2<br />
3 – 1<br />
2 – 1 4 – 1<br />
10 20 30 40 50 60 70 80<br />
Prozent Verwendung beobachtbarer Strategien<br />
Prozent Fehler<br />
c<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Multiplikation<br />
7 x 9<br />
8 x 9<br />
4 x 5, 5 x 5<br />
9 x 6 8 x 7<br />
9 x 9 9 x 7<br />
r = 0,83<br />
6 x 7 8 x 8<br />
8 x 6<br />
7 x 7 7 x 8 9 x 8<br />
5 x 9<br />
6 x 8<br />
4 x 8 9 x 4<br />
4 x 9<br />
7 x 6<br />
7 x 5 6 x 9 6 x 6<br />
4 x 3 6 x 3 5 x 7 7 x 4<br />
4 x 4<br />
7 x 3<br />
8 x 4<br />
9 x 2<br />
5 x 6<br />
4 x 7<br />
8 x 3<br />
2 x 6<br />
3 x 9<br />
5 x 8<br />
3 x 4<br />
3 x 7<br />
4 x 6<br />
9 x 5<br />
2 x 9<br />
3 x 5 8 x 2<br />
9 x 3<br />
8 x 2<br />
7 x 2 3 x 6<br />
2 x 4<br />
2 x 8 6 x 4<br />
3 x 3, 2 x 7<br />
4 x 2 6 x 2 5 x 3 6 x 5<br />
2 x 3<br />
8 x 5, 3 x 8, 5 x 4<br />
2 x 2<br />
10 20 30 40 50 60 70 80 90<br />
Prozent Verwendung beobachtbarer Strategien<br />
..<br />
Abb. 8.13 Die Strategiewahlen jüngerer Kinder bei der Addition (a), Subtraktion (b) <strong>und</strong> Multiplikation (c). Wie bereits in . Abb. 8.10 für das Lesen gezeigt<br />
wurde, besteht eine starke positive Korrelation zwischen der Schwierigkeit einer Aufgabe, die durch den Prozentsatz der falschen Lösungen definiert ist, <strong>und</strong><br />
der Häufigkeit der jeweils gewählten Strategie wie etwa das Abzählen an den Fingern. Bei Aufgaben wie 2 + 2, die Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige einfach fanden, verwendeten<br />
sie häufig den direkten Gedächtnisabruf (der keine beobachtbare Strategie darstellt). Bei Aufgaben, die sie schwierig fanden, beispielsweise 4 + 3,<br />
verwendeten sie meistens beobachtbare Strategien wie das Zählen von 1 an. (<strong>Siegler</strong> 1986)<br />
klässler drei oder mehr Strategien bei der Addition einstelliger<br />
Zahlen (<strong>Siegler</strong> 1987).<br />
Eine ähnliche Verwendung unterschiedlicher Strategien<br />
kommt bei allen vier Gr<strong>und</strong>rechenartenvor. Um beispielsweise<br />
eine Multiplikationsaufgabe wie 3 × 4 zu lösen, schreiben Kinder<br />
manchmal dre<strong>im</strong>al die 4 auf <strong>und</strong> zählen sie zusammen, manchmal<br />
machen sie drei Bündel aus je vier Strichen <strong>und</strong> zählen diese<br />
ab, <strong>und</strong> manchmal rufen sie die Lösung 12 direkt aus dem Gedächtnis<br />
ab (Mabbott <strong>und</strong> Bisanz 2003). Die Anwendung solcher<br />
Rechenstrategien ist erstaunlich dauerhaft; sogar Studenten benutzen<br />
für 15–30 % der Rechenaufgaben mit einstelligen Zahlen<br />
andere Strategien als den Gedächtnisabruf (LeFevre et al. 1996;<br />
Lemaire 2010).<br />
Ebenso wie die Wahl zwischen den Strategien der Worterkennung<br />
bei Kindern sehr anpassungsfähig ist, sind es auch ihre<br />
Rechenstrategien zum Lösen von Rechenaufgaben mit einstelligen<br />
Zahlen (<strong>Siegler</strong> 1996). Schon Vierjährige wählen auf vernünftige<br />
Weise <strong>und</strong> lösen leichte Aufgaben schnell <strong>und</strong> korrekt<br />
durch direkten Gedächtnisabruf, während sie schwerere Aufgaben<br />
langsamer, aber <strong>im</strong>mer noch richtig durch Abzählen lösen<br />
(. Abb. 8.13). Wenn die Kinder Erfahrungen <strong>im</strong> Rechnen mit<br />
einstelligen Zahlen gewinnen, verschieben sich ihre Strategiewahlen<br />
hin zur häufigeren Verwendung des Gedächtnisabrufs.<br />
Der Lernprozess scheint derselbe zu sein wie bei der analogen<br />
Verschiebung be<strong>im</strong> Lesen hin zum visuell gestützten Abruf. Je<br />
häufiger ein Kind die korrekte Lösung einer Aufgabe hervorbringt,<br />
gleich mit welcher Strategie dies gelungen ist, desto häufiger<br />
wird es in der Lage sein, die Lösung aus dem Gedächtnis abzurufen,<br />
wodurch die Notwendigkeit vermieden wird, auf einen<br />
langsameren Prozess wie den des Abzählens zurückzugreifen.
302<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
a<br />
Median der Positionsschätzungen<br />
b<br />
Median der Positionsschätzungen<br />
c<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
0<br />
0 20 40<br />
60<br />
80<br />
100<br />
Präsentierte Zahl<br />
Median der Positionsschätzungen von Zweitklässlern<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
Zahlenstrahl<br />
0 100<br />
Median der Positionsschätzungen von Kindergartenkindern<br />
0<br />
0 20 40<br />
60<br />
80<br />
100<br />
Präsentierte Zahl<br />
..<br />
Abb. 8.14 Die Aufgabe zur Positionierung von Zahlen auf dem Zahlenstrahl<br />
<strong>und</strong> die typischen entwicklungsbedingten Leistungsänderungen. a Bei jedem<br />
Durchgang müssen die Kinder für eine vorgegebene Zahl die Position auf dem<br />
Zahlenstrahl zwischen 0 <strong>und</strong> 100 einschätzen. b Bei den Kindergartenkindern<br />
verlagerte sich der Median der geschätzten Position einer Zahl auf dem Zahlenstrahl<br />
mit zunehmenden Zahlenwerten in Richtung 100, aber die niedrigen Zahlen<br />
wurden in Bezug auf die Nähe zu 100 überschätzt, die hohen unterschätzt,<br />
was sich in einer logarithmischen Kurve widerspiegelt. Bei den Zweitklässlern<br />
verschieben sich die Mediane der geschätzten Positionen bei dieser Aufgabe<br />
dagegen linear mit den Zahlenwerten <strong>und</strong> liegen ziemlich dicht an den korrekten<br />
Positionen auf einer Geraden. (Nach Daten aus <strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Booth 2004)<br />
Verstehen numerischer Größe<br />
Die Repräsentation von numerischer Größe ist ein mentales<br />
Modell, das quantitative Größen nach niedrigeren <strong>und</strong> höheren<br />
Zahlenwerten in einer D<strong>im</strong>ension einordnet. Unabhän-<br />
Leistung be<strong>im</strong> Mathematiktest (Punkte)<br />
2200<br />
2000<br />
1800<br />
1600<br />
1400<br />
1200<br />
R 2 = 0.74<br />
1000<br />
0 10 20 30 40 50 60<br />
Abweichung von der korrekten Position (Prozent)<br />
..<br />
Abb. 8.15 Die Beziehung zwischen der Genauigkeit von Achtklässlern bei<br />
der Einschätzung von Zahlenpositionen auf dem Zahlenstrahl <strong>und</strong> ihren Leistungen<br />
bei einem mathematischen Leistungstest. Die Genauigkeit der Positionseinschätzungen<br />
korreliert stark mit den allgemeinen mathematischen<br />
Fähigkeiten. Diese Daten geben die Beziehungen zwischen der Genauigkeit<br />
der Positionierung von Brüchen auf dem Zahlenstrahl <strong>und</strong> den Leistungen<br />
in einem Mathematiktest bei amerikanischen Mittelstufenschülern wieder.<br />
Ähnliche Beziehungen ergaben sich bei Gr<strong>und</strong>schülern, die für ganze Zahlen<br />
die Positionen auf dem Zahlenstrahl einschätzten. Die Korrelation ist negativ,<br />
weil die kleineren prozentualen Abweichungen von den korrekten Positionen<br />
auf dem Zahlenstrahl einer besseren Einschätzung der Zahlengröße entsprechen.<br />
(Nach Daten aus <strong>Siegler</strong> et al. 2011)<br />
gig davon, ob sich eine Zahl wie 7 auf eine Länge (7 cm), ein<br />
Gewicht (7 kg), eine Zeitspanne (7 s) oder eine Menge (7 Elemente)<br />
bezieht, repräsentiert 7 etwas Größeres als 6 <strong>und</strong> etwas<br />
Kleineres als 8, sofern diese Ziffern für dieselben Größeneinheiten<br />
(Zent<strong>im</strong>eter, Kilogramm, Sek<strong>und</strong>e oder Anzahlen)<br />
stehen.<br />
Repräsentation numerischer Größe – Ein mentales Modell für die Zuordnung<br />
von kleineren <strong>und</strong> größeren Zahlenwerten in Bezug auf eine Größend<strong>im</strong>ension.<br />
Die Vorstellung, dass Zahlen als Symbole Größe repräsentieren,<br />
mag offensichtlich scheinen, aber das richtige Verknüpfen von<br />
Zahlen <strong>und</strong> der von ihnen repräsentierten Größen erweist sich<br />
als enorme Herausforderung, die über einen langen Entwicklungszeitraum<br />
bestehen bleibt. Dazu einige Beispiele: Viele Vorschulkinder,<br />
die noch nicht von 1 bis 10 zählen können, können<br />
nicht richtig angeben, ob 4 oder 8 für die größere Zahl von Objekten<br />
steht (Le Corre <strong>und</strong> Carey 2007); viele Gr<strong>und</strong>schulkinder<br />
geben als Position der Zahl 150 auf einem Zahlenstrahl zwischen<br />
0 <strong>und</strong> 1000 die Mitte an (<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Opfer 2003); viele Kinder<br />
<strong>und</strong> Erwachsene haben keine Vorstellung davon, ob 3/5 größer<br />
oder kleiner ist als 5/11 (Meert et al. 2010). Was in all diesen<br />
Fällen fehlt, ist eine Repräsentation der numerischen Größe.<br />
Das Mengenverständnis symbolischer Zahlenwerte hängt<br />
eng mit den Verständnis be<strong>im</strong> Rechnen <strong>und</strong> darüber hinausgehenden<br />
mathematischen Fähigkeiten zusammen. Diese Beziehung<br />
zeigt sich deutlich bei Rechenfehlern, wenn die Abweichungen<br />
vom richtigen Ergebnis nur gering sind (8 × 7 = 54) <strong>und</strong> nicht<br />
allzu groß werden (8 × 7 = 24). Wenn man Erwachsene oder Kinder<br />
nach der Richtigkeit von Aufgabenlösungen befragt, erkennen<br />
sie die falschen Antworten schneller, wenn der Fehler groß
Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />
303 8<br />
ist (8 + 4 = 18), als wenn der Fehler klein ist (8 + 4 = 14) (Ashcraft<br />
1982; <strong>Siegler</strong> 1988).<br />
Symbolische Zahlenwerte – Die Größe einer als Symbol wie 7 oder als Wort<br />
wie sieben dargestellten Zahl.<br />
Der Umfang des Zahlenraumes, in dem Kinder die Größen<br />
der Zahlen mit angemessener Genauigkeit bei Zahlenvergleichen<br />
oder Positionierungen auf dem Zahlenstrahl repräsentieren,<br />
variiert enorm mit zunehmendem Alter <strong>und</strong> Erfahrung<br />
(. Abb. 8.14). Bei den Zahlen von 1 bis 10 n<strong>im</strong>mt die Genauigkeit<br />
der Größenrepräsentation <strong>im</strong> Alter zwischen drei <strong>und</strong> sechs<br />
Jahren enorm zu (Bertelletti et al. 2010). Entsprechendes gilt für<br />
Zahlen von 1 bis 100 bei sechs- bis achtjährigen Kindern (Geary<br />
et al. 2007) <strong>und</strong> für die Zahlen von 1 bis 1000 für Acht- bis<br />
Zwölfjährige (<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Opfer 2003).<br />
In allen Altersstufen unterscheiden sich Kinder in ihren<br />
Vorstellungen zur Größe von Zahlen. Diese Vorstellungen<br />
hängen eng mit dem Wissen über Zahlen zusammen. In der<br />
Gr<strong>und</strong>schule schneiden Kinder, die für ganze Zahlen auf dem<br />
Zahlenstrahl die Position genauer angeben können, auch bei<br />
Rechenaufgaben besser ab. In der weiterführenden Schule gilt<br />
Entsprechendes für die Positionierung von Brüchen auf dem<br />
Zahlenstrahl (. Abb. 8.15) (Bailey et al. 2012; Jordan et al. 2013;<br />
<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Pyke 2012).<br />
Diese Zusammenhänge beruhen zum Teil darauf, dass die<br />
genauere Repräsentation der numerischen Größe den Kindern<br />
be<strong>im</strong> Rechnenlernen hilft. Je genauer ein Kind die Zahlengröße<br />
anhand der jeweiligen Position auf dem Zahlenstrahl angeben<br />
kann, desto bessere Rechenleistungen erreicht es (Booth <strong>und</strong><br />
<strong>Siegler</strong> 2006; 2008; Geary et al. 2007). Darüber hinaus fördert<br />
die Anleitung der Kinder zum genaueren Größenverständnis der<br />
symbolischen Zahlenwerte das spätere Rechnenlernen (Booth<br />
<strong>und</strong> <strong>Siegler</strong> 2008; Fuchs et al. 2013; <strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Ramani 2009).<br />
Genaue Repräsentationen der Größe unterstützen das Rechnenlernen<br />
möglicherweise dadurch, dass plausible Lösungen genauer<br />
betrachtet <strong>und</strong> unplausible verworfen werden können.<br />
Verstehen mathematischer Konzepte<br />
Für viele Kinder bedeutet es eine enorme Herausforderung zu<br />
verstehen, warum best<strong>im</strong>mte Rechenverfahren zur richtigen Lösung<br />
führen <strong>und</strong> andere nicht – <strong>und</strong> zwar selbst dann, wenn sie<br />
das jeweils geeignete Verfahren noch <strong>im</strong> Gedächtnis haben. Ein<br />
solches konzeptionelles Verständnis des Rechnens beginnt sich<br />
in den Vorschuljahren zu entwickeln; viele Vierjährige verstehen<br />
zum Beispiel das Kommutativgesetz der Addition, dem zufolge<br />
das Addieren von a + b dasselbe ist wie das Addieren von b + a<br />
(Canobi et al. 2002). Andere arithmetische Konzepte meistern sie<br />
jedoch erst viel später, etwa bei der mathematischen Gleichheit,<br />
die auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens gleiche Zahlenwerte<br />
fordert. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle, in denen jüngere<br />
Kinder einem Gleichheitszeichen begegnen, stehen nur auf<br />
seiner linken Seite Zahlen (z. B. 3 + 4 = _; 3 + 4 + 5 = _). Um solche<br />
Aufgaben zu lösen, kann man das Gleichheitszeichen als eine Art<br />
Startsignal betrachten, um mit dem Addieren anzufangen.<br />
Mathematische Gleichheit – Das Konzept des Gleichheitszeichens besagt,<br />
dass auf beiden Seiten einer Gleichung die gleichen Gesamtwerte stehen.<br />
Irgendwann stoßen Kinder aber auch auf Aufgaben mit Zahlen<br />
auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens wie bei 3 + 4 + 5 = _ + 5.<br />
Noch in der vierten Klasse lösen die meisten Kinder in den USA<br />
solche Aufgaben falsch (Goldin-Meadow et al. 2009). Der häufigste<br />
falsche Lösungsansatz besteht darin, einfach alle Zahlen<br />
links vom Gleichheitszeichen zusammenzuzählen <strong>und</strong> die<br />
Summe als Lösung der Aufgabe zu nehmen, was bei der obigen<br />
Aufgabe zu 12 führen würde. Solche Fehler zeigen nicht nur ein<br />
fehlendes Verständnis dafür, dass bei einem Gleichheitszeichen<br />
die Werte auf beiden Seiten einander entsprechen müssen, sondern<br />
auch einen Störeinfluss des riesigen Erfahrungsschatzes,<br />
den die Kinder mit dem Lösen typischer Additionsaufgaben haben,<br />
bei denen hinter dem Gleichheitszeichen keine Zahl folgt<br />
(McNeil et al. 2011).<br />
In vielen Fällen zeigen die Gesten der Kinder, dass sie die<br />
mathematische Gleichheit besser verstanden haben, als ihre<br />
mündlichen Antworten oder Erklärungen zeigen. Bei der Aufgabe<br />
3 + 4 + 5 = _ + 5 beispielsweise sagen Kinder häufig „12“<br />
<strong>und</strong> erläutern, dass sie die Aufgabe durch Zusammenzählen von<br />
3 + 4 + 5 gelöst haben; aber während sie ihren Lösungsweg erklären,<br />
zeigen sie auf alle vier Zahlen <strong>und</strong> nicht nur auf die drei<br />
Zahlen vor dem Gleichheitszeichen. Dieses Zeigen deutet auf das<br />
<strong>im</strong>plizite Erkennen hin, dass es da eine vierte Zahl gibt, die berücksichtigt<br />
werden muss, obwohl sie diese nicht in ihre Berechnung<br />
mit einbezogen hatten (Goldin-Meadow <strong>und</strong> Alibali 2011).<br />
Kinder, die am Anfang solche Sprache-Gesten-Widersprüche<br />
zeigen, bei denen ihre Gesten andere Informationen vermitteln<br />
als ihre verbalen Aussagen, lernen <strong>im</strong> Unterricht mehr als gleichaltrige<br />
Kinder, deren Gestik <strong>und</strong> Sprache übereinst<strong>im</strong>men (die<br />
also „12“ sagen <strong>und</strong> nur auf die drei Zahlen vor dem Gleichheitszeichen<br />
deuten).<br />
Sprache-Gesten-Widersprüche – Ein Verhalten, bei dem die Handbewegungen<br />
<strong>und</strong> die verbalen Äußerungen unterschiedliche Gedanken vermitteln.<br />
Die Gesten stehen außerdem in einem kausalen Zusammenhang<br />
mit dem Lernen: Kinder, die dazu ermutigt werden, ihre Antworten<br />
bei Aufgaben zur mathematischen Gleichheit auch mit<br />
angemessen Gesten zu erläutern, lernen dabei mehr als Kinder,<br />
die keine Gesten einbeziehen (Goldin-Meadow et al. 2009). Die<br />
positive Korrelation zwischen Sprache-Gesten-Widersprüchen<br />
<strong>und</strong> anschließendem Lernen hat sich bei einer Reihe von Invarianz-<br />
<strong>und</strong> Physikaufgeben sowie Aufgaben zur mathematischen<br />
Gleichheit ergeben. Diese Bef<strong>und</strong>e verdeutlichen einen allgemeingültigen<br />
Schluss: Variabilität <strong>im</strong> Denken <strong>und</strong> Handeln (wie<br />
es sich in Widersprüchen zwischen produzierten Gesten <strong>und</strong> verbalen<br />
Erklärungen oder auch be<strong>im</strong> Entwickeln verschiedener Erklärungen<br />
zum selben Problem – <strong>und</strong> nicht nur einer – zeigt) ist<br />
häufig ein Hinweis auf eine besondere Bereitschaft zum Lernen<br />
(Church 1999; <strong>Siegler</strong> 2006; Thelen <strong>und</strong> Smith 2006).<br />
Angstfach Mathematik<br />
Viele Kinder haben Angst vor Mathematik, <strong>und</strong> dieser negative<br />
emotionale Zustand führt dazu, dass sie die Mathematik meiden<br />
(Ashcraft <strong>und</strong> Ridley 2005). Solche Ängste können sich bereits<br />
in der ersten Klasse zeigen (Ramirez et al. 2012) <strong>und</strong> bleiben bei
304<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
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Exkurs 8.4: Anwendungen: Rechenschwäche | |<br />
Zwischen 5 <strong>und</strong> 8 % der Kinder zeigen <strong>im</strong> Umgang<br />
mit Zahlen so schlechte Leistungen, dass<br />
ihnen eine Rechenschwäche attestiert wird (Shalev<br />
2007). Der Intelligenzquotient dieser Kinder<br />
liegt <strong>im</strong> Normalbereich (mindestens 85), aber<br />
<strong>im</strong> Rechnen sind sie extrem schlecht. Meistens<br />
sind sie langsam <strong>im</strong> Lernen des Zählens <strong>und</strong> der<br />
relativen Größe einstelliger Zahlen <strong>und</strong> <strong>im</strong> richtigen<br />
Lösen von Rechenaufgaben mit einstelligen<br />
Zahlen (Geary et al. 2008; Jordan 2007). Ihre<br />
Leistungen verbessern sich mit zunehmender<br />
Erfahrung, aber selbst als Erwachsene bleiben<br />
die meisten von ihnen langsam be<strong>im</strong> Rechnen<br />
mit einstelligen Zahlen <strong>und</strong> haben mit vielen darauf<br />
aufbauenden mathematischen Fertigkeiten<br />
Probleme, etwa bei Textaufgaben, be<strong>im</strong> Rechnen<br />
mit mehrstelligen Zahlen <strong>und</strong> bei der Algebra<br />
(Geary et al. 2012; Hecht <strong>und</strong> Vagi 2010).<br />
Oft hört man die Meinung, Mathematik sei ein<br />
Wissenstyp, den man in der Schule braucht<br />
<strong>und</strong> dann nie wieder; aber die Aussagen<br />
Erwachsener mit Rechenschwäche bestätigen<br />
die lähmende Auswirkung dieses Problems<br />
über die Schuljahre hinaus:<br />
Ich habe für einen Keksfabrikanten gearbeitet.<br />
Be<strong>im</strong> Mischen muss man das richtige Maß<br />
vielen Menschen lebenslang ein Problem. Mathematik löst mehr<br />
Angst aus als jedes andere Schulfach, vermutlich weil bei vielen<br />
mathematischen Aufgaben eine Lösung eindeutig als richtig oder<br />
falsch bewertet werden kann, weil Mathematik häufig mit Intelligenz<br />
in engen Zusammenhang gebracht wird <strong>und</strong> weil es oft lange<br />
Durststrecken ohne Fortschritte be<strong>im</strong> Mathematiklernen gibt.<br />
Die Angst vor Mathematik tritt bei Mädchen häufiger auf als<br />
bei Jungen (Devine et al. 2012). Sie korreliert mit schlechten Leistungen<br />
in Mathematik, auch wenn einige Personen sie teilen, die<br />
hohe Leistungen in Mathematik erreichen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
kaum Ängste entwickeln (Ashcraft <strong>und</strong> Krause 2007; Maloney<br />
<strong>und</strong> Beilock 2012). Das Gefühl der Bedrohung, die in Bezug auf<br />
Mathematik empf<strong>und</strong>en wird, kann dazu beitragen, dass das gefürchtete<br />
negative Abschneiden in Mathematik eintritt; vermutlich<br />
beruht das darauf, dass die Angst die <strong>im</strong> Arbeitsgedächtnis<br />
verfügbaren Ressourcen für die Lösung der mathematischen<br />
Aufgabe reduziert (Beilock <strong>und</strong> DeCaro 2007). Für diese Erklärung<br />
spricht die Beobachtung, dass Personen mit hoher Mathematikangst<br />
be<strong>im</strong> Lösen von Mathematikaufgaben auffällig hohe<br />
Gehirnaktivität in der rechten Amygdala zeigen, einem Bereich,<br />
der mit den negativen Emotionen zusammenhängt, während die<br />
Aktivität in den für das Arbeitsgedächtnis wichtigen Bereichen<br />
vergleichsweise niedrig ist (Young et al. 2012).<br />
Wodurch bekommen einige Kinder Angst vor der Mathematik?<br />
Die Mechanismen sind noch nicht gut verstanden, aber die<br />
Sicht der Erwachsenen, die für Kinder <strong>im</strong>mer wichtig ist, scheint<br />
eine Rolle zu spielen. Eltern <strong>und</strong> Lehrer, die selbst Angst vor Mathematik<br />
haben, übertragen diese Abneigung <strong>und</strong> Einstellung<br />
auf ihre Kinder. Das ist besonders bei Mädchen ein Problem,<br />
wenn ihre Eltern <strong>und</strong> Lehrer Mädchen nur geringe Fähigkeiten<br />
in Mathematik zutrauen (Beilock et al. 2010; Meece et al. 1990).<br />
<strong>und</strong> die Rezepturen kennen. Immer habe ich<br />
es durcheinandergebracht. Da hat man mich<br />
entlassen (Curry et al. 1996, S. 63).<br />
Das Fast-Food-Unternehmen würde mich gar<br />
nicht erst einstellen, weil ich das Wechselgeld<br />
<strong>im</strong> Kopf nicht ausrechnen kann (Curry et al.<br />
1996, S. 63).<br />
Solange ich denken kann, stand ich mit Zahlen<br />
<strong>im</strong>mer auf Kriegsfuß (Blackburn, zit. nach<br />
McCloskey 2007, S. 415).<br />
Mehrere spezifische Probleme tragen zur<br />
Rechenschwäche bei (Geary et al. 2012). In<br />
schweren Fällen ist die Ursache häufig eine<br />
Schädigung von Teilen des Gehirns, die für das<br />
Verarbeiten von Zahlen unverzichtbar sind, etwa<br />
des intraparietalen Sulcus (Butterworth 2010;<br />
S<strong>im</strong>on <strong>und</strong> Rivera 2007). In weniger schweren<br />
Fällen liegt eine der Hauptursachen darin, dass<br />
die Kinder bis zum Schuleintritt kaum mit Zahlen<br />
zu tun hatten. Kinder, denen bei Schuleintritt die<br />
Kenntnis wichtiger mathematischer Konzepte<br />
<strong>und</strong> Fertigkeiten fehlt, die andere Kinder schon<br />
mitbringen <strong>und</strong> die entscheidend für das weitere<br />
Lernen sind, hinken meist die ganze Schulzeit<br />
hindurch weit hinterher (Duncan et al. 2007).<br />
Andere Variablen, die mit der Rechenschwäche<br />
Der negative Einfluss der Angst vor Mathematik hat inzwischen<br />
Gegenmaßnahmen ausgelöst. Eine dieser Interventionen<br />
ist überraschend einfach: Schüler sollten unmittelbar vor einem<br />
Test ihre Emotionen kurz schriftlich festhalten. Solch eine explizite<br />
Beschreibung reduziert die Angst <strong>und</strong> erhöht die Leistung in<br />
vielen Bereichen wie Mathematik, in denen negative Emotionen<br />
mit dem Lernen interferieren (Ramirez <strong>und</strong> Beilock 2011). Die<br />
negativen Emotionen zu Papier zu bringen, hilft Schülern vermutlich<br />
dabei, die Situation nüchterner zu betrachten <strong>und</strong> sich<br />
ganz auf die mathematischen Aufgaben zu konzentrieren.<br />
Selbst Kinder, die Angst vor Mathematik haben, lernen die<br />
Gr<strong>und</strong>lagen meist ziemlich gut. Allerdings fällt einigen Kindern,<br />
die <strong>im</strong> allgemeinen Umgang mit Zahlen Schwierigkeiten haben,<br />
d. h. an einer Rechenschwäche leiden, das Lernen schwer (▶ Exkurs<br />
8.4).<br />
In Kürze | |<br />
zusammenhängen <strong>und</strong> sie möglicherweise mit<br />
verursachen, sind ein schlechtes Arbeitsgedächtnis<br />
für Zahlen, schwache Exekutivfunktionen,<br />
langsames Verarbeiten numerischer Information<br />
<strong>und</strong> Angst vor Mathematik (Blair <strong>und</strong> Razza<br />
2007; Lyons <strong>und</strong> Beilock 2012; Mazzocco <strong>und</strong><br />
Kover 2007; Raghubar et al. 2010).<br />
Eine Vielzahl von Programmen wurde entwickelt,<br />
um die Fähigkeiten der Kinder mit<br />
Rechenschwäche zu fördern. Ein besonders<br />
erfolgreiches Programm (Fuchs et al. 2013) stellt<br />
den Größenvergleich bei Brüchen in den Mittelpunkt,<br />
indem etwa gefragt wird, ob 1/2 oder 1/5<br />
größer ist <strong>und</strong> die Werte der Brüche auf einem<br />
Zahlenstrahl dargestellt werden (wo steht 1/2<br />
auf dem Zahlenstrahl <strong>und</strong> wo 1/5?). Diese Instruktion<br />
führte bei neun- <strong>und</strong> zehnjährigen Kindern<br />
mit Rechenschwäche nicht nur dazu, dass<br />
sie die Fähigkeit zu solchen Vergleichen lernten,<br />
sondern sie lernten auch das Bruchrechnen<br />
ganz allgemein besser <strong>im</strong> Vergleich zu Kindern,<br />
die zwar <strong>im</strong> Schulunterricht erheblich mehr<br />
Regeln zum Bruchrechnen lernten, aber weniger<br />
Anleitung zum Vergleichen der Größen von Brüchen<br />
bekamen. Die Art der Anleitung kann also,<br />
wie diese Bef<strong>und</strong>e zeigen, die Schwierigkeiten<br />
be<strong>im</strong> Mathematiklernen verringern.<br />
Das Lesenlernen beginnt schon vor Schuleintritt, wenn viele<br />
Kinder die Buchstaben des Alphabets bereits kennen <strong>und</strong><br />
phonologische Bewusstheit erwerben. In der Gr<strong>und</strong>schule<br />
lernen die Kinder früh, Wörter durch zwei wichtige Prozesse<br />
zu erkennen – die phonologische Recodierung <strong>und</strong> den Gedächtnisabruf<br />
auf der Gr<strong>und</strong>lage der visuellen Wortform; <strong>und</strong><br />
sie können je nach Situation die Wahl der Strategie anpassen.<br />
Das Leseverstehen verbessert sich durch Automatisierung der<br />
Worterkennung, durch die Entwicklung von Strategien <strong>und</strong><br />
den Erwerb von Metakognition <strong>und</strong> Inhaltswissen. Die Leseentwicklung<br />
wird auch dadurch beeinflusst, wie viel Kinder<br />
lesen <strong>und</strong> wie viel ihnen ihre Eltern vorlesen.
Zusammenfassung<br />
305 8<br />
Schreiben lernen ist schwer. Es erfordert, sich gleichzeitig<br />
auf mehrere Ziele auf verschiedenen Hierarchieebenen zu<br />
konzentrieren: gr<strong>und</strong>legende Ziele wie Rechtschreibung,<br />
Zeichensetzung, Groß- <strong>und</strong> Kleinschreibung <strong>und</strong> hochrangige<br />
Ziele, wie Aussagen <strong>und</strong> Argumente klar <strong>und</strong> überzeugend zu<br />
formulieren. Viele westliche Kinder wissen bei Schuleintritt,<br />
dass man waagerecht von links nach rechts schreibt, dass der<br />
Text in der jeweils nächsten Zeile weitergeht <strong>und</strong> dass Wörter<br />
durch kleine Zwischenräume getrennt werden. Verbesserungen<br />
des Schreibens mit Alter <strong>und</strong> Erfahrung sind Ausdruck<br />
der Automatisierung von Zielen auf elementaren Ebenen der<br />
Hierarchie, neuer Strategien des Textaufbaus, eines wachsenden<br />
metakognitiven Verständnisses für die Bedürfnisse der<br />
Leser <strong>und</strong> einer Zunahme des Inhaltswissens.<br />
Die mathematische Entwicklung folgt einem ähnlichen allgemeinen<br />
Muster. Die meisten Kinder kommen schon mit nützlichen<br />
Kenntnissen in die Schule <strong>und</strong> können zum Beispiel von<br />
1 an zählen, um Additionsaufgaben zu lösen. In der Schule<br />
lernen Kinder dann ein breites Spektrum an Strategien für die<br />
Lösung von Rechen- <strong>und</strong> anderen mathematischen Aufgaben,<br />
<strong>und</strong> <strong>im</strong> Allgemeinen setzen sie diese Strategien sinnvoll<br />
ein. Außerdem lernen sie, sich in einem zunehmend größeren<br />
Zahlenraum zu bewegen, wobei das Verständnis der Größen<br />
von Zahlen die Rechenfähigkeiten verbessert. Zum Mathematiklernen<br />
muss man vor allem auch gr<strong>und</strong>legende Begriffe<br />
<strong>und</strong> Prinzipien verstehen. Auf der anderen Seite können das<br />
Lernen <strong>und</strong> die Leistungen durch die Angst vor Mathematik<br />
behindert werden, weil die starken Emotionen die verfügbaren<br />
Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses reduzieren.<br />
Zusammenfassung<br />
-<br />
Alfred Binet <strong>und</strong> sein Mitarbeiter Théophile S<strong>im</strong>on entwickelten<br />
den ersten weitverbreiteten Intelligenztest. Sie wollten<br />
damit Kinder identifizieren, die vom normalen Unterricht in<br />
der Klasse wahrscheinlich nicht profitieren würden. Moderne<br />
-<br />
Intelligenztests sind Nachkommen des Binet-S<strong>im</strong>on-Tests.<br />
Eine zentrale Erkenntnis Binets war, dass Intelligenz<br />
verschiedene Teilfähigkeiten umfasst, die man beurteilen<br />
muss, um Intelligenz genau messen zu können.<br />
-<br />
Was ist Intelligenz?<br />
Man kann Intelligenz als eine einzige Eigenschaft betrachten<br />
wie g, als Zusammensetzung aus wenigen verschiedenen<br />
Fähigkeiten wie Thurstones Pr<strong>im</strong>ärfaktoren oder als<br />
große Anzahl spezifischer Prozesse, wie sie in Analysen der<br />
-<br />
Informationsverarbeitung beschrieben werden.<br />
Intelligenz wird oft mit IQ-Tests wie dem Stanford-Binet-<br />
Text oder dem HAWIK gemessen. Diese Tests untersuchen<br />
Allgemeinwissen, Wortschatz, Rechnen, Sprachverstehen,<br />
räumliches Denken <strong>und</strong> eine Vielzahl anderer intellektueller<br />
Fähigkeiten.<br />
-<br />
Intelligenzmessung<br />
Der Gesamtwert einer Person in einem Intelligenztest, der<br />
IQ, ist ein Maß der allgemeinen Intelligenz. Der IQ spiegelt<br />
die geistigen Fähigkeiten der Person <strong>im</strong> Vergleich mit<br />
-<br />
Gleichaltrigen wider.<br />
Die IQ-Werte der meisten Kinder sind über Jahre hinweg<br />
recht stabil, können <strong>im</strong> Zeitverlauf aber etwas schwanken.<br />
IQ-Werte als Prädiktoren von Lebenserfolg<br />
IQ-Werte korrelieren positiv mit langfristigem Bildungs-<br />
-<br />
<strong>und</strong> Berufserfolg.<br />
Andere Faktoren wie soziales Verständnis, Kreativität <strong>und</strong><br />
Motivation beeinflussen ebenfalls den Lebenserfolg.<br />
-<br />
Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />
Die Intelligenzentwicklung wird durch die Eigenschaften<br />
des <strong>Kindes</strong> selbst, durch die unmittelbare Umgebung <strong>und</strong><br />
-<br />
durch den breiteren gesellschaftlichen Kontext beeinflusst.<br />
Ein wichtiger Einfluss auf den IQ ist das genetische Erbe.<br />
Dieser Einfluss vergrößert sich meistens mit dem Alter,<br />
zum Teil, weil Gene erst in der späten Kindheit <strong>und</strong> <strong>im</strong><br />
<strong>Jugendalter</strong> zur Ausprägung kommen, <strong>und</strong> zum Teil, weil<br />
die Gene auch beeinflussen, welche Umgebungen sich das<br />
-<br />
Kind aussucht.<br />
Das familiäre Umfeld eines <strong>Kindes</strong>, wie es mit HOME<br />
gemessen werden kann, hängt mit seinem IQ zusammen.<br />
Dieser Zusammenhang spiegelt Einflüsse innerhalb der<br />
Familie wider, etwa die intellektuelle <strong>und</strong> emotionale<br />
Unterstützung der Eltern für das jeweilige Kind, aber auch<br />
interfamiliäre Einflüsse, beispielsweise Unterschiede hinsichtlich<br />
Bildung <strong>und</strong> Wohlstand der Eltern.<br />
Der Schulbesuch wirkt sich positiv auf den IQ <strong>und</strong> die<br />
-<br />
Schulleistungen aus.<br />
Allgemeine gesellschaftliche Faktoren wie Armut <strong>und</strong> Diskr<strong>im</strong>inierung<br />
ethnischer Minderheiten beeinflussen den IQ<br />
-<br />
von Kindern ebenfalls.<br />
Um die negativen Auswirkungen der Armut zu mindern,<br />
gab es in den USA sowohl kleinere vorschulische Interventionsprogramme<br />
als auch das weit umfangreichere Projekt<br />
Head Start. Beide bewirken zu Anfang positive Veränderungen<br />
von Intelligenz <strong>und</strong> Schulleistung, die mit der<br />
Zeit jedoch verblassen. Langfristig haben die Programme<br />
jedoch anhaltende positive Auswirkungen in dem Sinn,<br />
dass die Wahrscheinlichkeit, nicht sitzenzubleiben <strong>und</strong> die<br />
-<br />
Highschool erfolgreich abzuschließen, steigt.<br />
Intensive Interventionsprogramme wie das Carolina-<br />
Abecedarian-Projekt, die <strong>im</strong> ersten Lebensjahr der Kinder<br />
einsetzen <strong>und</strong> opt<strong>im</strong>ale Bedingungen der <strong>Kindes</strong>betreuung<br />
<strong>und</strong> strukturierte inhaltliche Lehrpläne bereitstellen, haben<br />
Intelligenzzuwächse hervorgerufen, die bis in das Jugend<strong>und</strong><br />
Erwachsenenalter hineinreichen.<br />
-<br />
Alternative Ansätze zur Intelligenz<br />
Neue Ansätze zur Intelligenz, beispielsweise Gardners Theorie<br />
der multiplen Intelligenzen oder Sternbergs Theorie<br />
der Erfolgsintelligenz, sind Versuche, traditionelle Intelligenzkonzepte<br />
zu erweitern.
306<br />
Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
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Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />
-<br />
Viele Kinder lernen die Buchstabenbezeichnungen <strong>und</strong><br />
erwerben phonologische Bewusstheit schon vor Schuleintritt.<br />
Beides korreliert mit der späteren Leseleistung, wobei<br />
die phonologische Bewusstheit einen kausalen Faktor<br />
darstellt.<br />
Die Worterkennung gelingt durch zwei Strategien: phonologische<br />
Recodierung <strong>und</strong> visuell gestützten Gedächtnisabruf.<br />
-<br />
Das Leseverstehen profitiert von der Automatisierung der<br />
Worterkennung, weil dies kognitive Ressourcen für das<br />
Textverstehen freisetzt. Weitere Einflüsse auf das Leseverständnis<br />
sind der Einsatz von Strategien, metakognitives<br />
Verständnis <strong>und</strong> Inhaltswissen, außerdem das Ausmaß, in<br />
dem Eltern ihren Kindern vorlesen, <strong>und</strong> das Ausmaß, in<br />
-<br />
dem die Kinder später selbst lesen.<br />
Auch wenn viele Kinder schon <strong>im</strong> Vorschulalter mit dem<br />
Schreiben anfangen, bleibt gutes Schreiben für die meisten<br />
Kinder noch jahrelang recht schwierig. Ein Großteil der<br />
Schwierigkeit resultiert aus der Tatsache, dass die Kinder<br />
be<strong>im</strong> Schreiben gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit auf<br />
Low-Level-Prozesse wie Rechtschreibung <strong>und</strong> Zeichensetzung<br />
<strong>und</strong> auf High-Level-Prozesse wie die Antizipation<br />
dessen, was der Leser bereits weiß <strong>und</strong> was nicht, richten<br />
-<br />
müssen.<br />
Die Automatisierung der gr<strong>und</strong>legenden Prozesse, der<br />
Einsatz von Strategien, metakognitives Verständnis <strong>und</strong><br />
Inhaltswissen beeinflussen das Schreiben ebenso wie das<br />
-<br />
Lesen.<br />
Die meisten Kinder verwenden, wenn sie rechnen lernen,<br />
mehrere Strategien, beispielsweise das Abzählen von 1<br />
ausgehend <strong>und</strong> den Abruf der fertigen Lösungen aus dem<br />
Gedächtnis. Sie wählen die Strategien je nach Situation <strong>und</strong><br />
verwenden die zeitaufwendigeren <strong>und</strong> mühsameren Strategien<br />
nur bei schwierigeren Aufgaben, bei denen sie diese<br />
-<br />
Strategien für die richtige Lösung brauchen.<br />
Die genaue Repräsentation der unterschiedlichen Zahlengrößen<br />
ist entscheidend be<strong>im</strong> Rechnenlernen wie be<strong>im</strong><br />
-<br />
Erwerb weiterer mathematischer Fertigkeiten.<br />
Im weiteren Umgang mit Mathematik gewinnt das Verständnis<br />
gr<strong>und</strong>legender Begriffe eine wachsende Bedeutung.<br />
So muss man das Konzept der mathematischen Gleichheit<br />
verstehen, um Probleme der Arithmetik <strong>und</strong> Algebra zu<br />
bewältigen, die über bloßes Rechnen hinausgehen.<br />
Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />
1. Intelligenz kann man als einheitliche oder aus mehreren<br />
beziehungsweise vielen Teilkomponenten zusammengesetzte<br />
Eigenschaft verstehen. Machen Sie eine Liste<br />
der nach Ihrer Auffassung wichtigen Komponenten der<br />
Intelligenz <strong>und</strong> erklären Sie deren Bedeutung.<br />
2. Individuelle Intelligenzunterschiede sind stabiler als individuelle<br />
Unterschiede in anderen psychischen Funktionsbereichen,<br />
beispielsweise der emotionalen Regulation oder<br />
der Aggressivität. Warum ist das wohl so?<br />
3. Bei Kindern aus Familien mit mittlerem oder hohem<br />
Einkommen sind die individuellen Intelligenzunterschiede<br />
zu einem größeren Teil auf genetische Einflüsse als auf die<br />
ihnen gemeinsame soziale Umgebung zurückzuführen,<br />
während bei Kindern aus einkommensschwachen Familien<br />
umgekehrt der Umwelteinfluss überwiegt. Warum,<br />
glauben Sie, ist das so?<br />
4. Die Teilnahme an Head Start führt nicht zu einem höheren<br />
IQ oder zu besseren Testleistungen am Ende der Schulzeit,<br />
aber zu geringeren Abbrecherquoten <strong>und</strong> weniger Schulwechseln<br />
in Sonderschulen. Warum ist das der Fall?<br />
5. Erläutern Sie die Aussage von Chall (1979): „In den unteren<br />
Klassen lernen die Kinder lesen, in den höheren Klassen<br />
lesen sie, um zu lernen.“<br />
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Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
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313 9<br />
Theorien der sozialen<br />
Entwicklung<br />
Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />
Psychoanalytische Theorien – 315<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 315<br />
Zentrale Entwicklungsfragen – 315<br />
Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung – 315<br />
Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung – 318<br />
Aktuelle Perspektiven – 320<br />
Lerntheorien – 321<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 321<br />
Zentrale Entwicklungsfragen – 321<br />
Der Behaviorismus von Watson – 321<br />
Das operante Konditionieren von Skinner – 323<br />
Die Theorie des sozialen Lernens – 324<br />
Aktuelle Perspektiven – 327<br />
Theorien der sozialen Kognition – 327<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 327<br />
Zentrale Entwicklungsfragen – 328<br />
Selmans Stufentheorie der Perspektivenübernahme – 328<br />
Dodges Informationsverarbeitungstheorie des sozialen Problemlösens – 329<br />
Dwecks Theorie der Selbstattribution <strong>und</strong> Leistungsmotivation – 330<br />
Aktuelle Perspektiven – 331<br />
Ökologische Entwicklungstheorien – 332<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 332<br />
Zentrale Entwicklungsfragen – 332<br />
Ethologische <strong>und</strong> evolutionsbezogene Theorien – 332<br />
Das bioökologische Modell – 336<br />
Aktuelle Perspektiven – 346<br />
Zusammenfassung – 346<br />
Literatur – 347<br />
S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />
DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
314<br />
Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
1<br />
Ihrem neuen elektronischen Fre<strong>und</strong> kommt Ihnen ganz natürlich<br />
vor. Sie fangen sogar an, ihn liebzugewinnen.<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
© Sabina Pauen<br />
Stellen Sie sich vor, Sie spielen mit einem Säugling. Wie wäre das<br />
wohl? Natürlich lächeln Sie <strong>und</strong> sprechen in gefühlvollem Tonfall,<br />
<strong>und</strong> das Baby lächelt vielleicht zurück <strong>und</strong> antwortet Ihnen, indem<br />
es glücklich gluckst. Wenn Sie aus irgendeinem Gr<strong>und</strong> mit lauter,<br />
harter St<strong>im</strong>me sprechen, wird das Baby verstummen <strong>und</strong> auf der<br />
Hut sein. Wenn Sie nach links schauen, folgt das Kind Ihrem Blick,<br />
als erwarte es, dass in dieser Richtung etwas Interessantes zu sehen<br />
ist. Natürlich reagiert das Baby nicht nur auf das, was Sie tun;<br />
es verhält sich auch unabhängig davon, mustert unterschiedliche<br />
Gegenstände oder verfolgt Ereignisse <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer oder quengelt<br />
aus einem nicht ersichtlichen Gr<strong>und</strong>. Ihr Umgang mit dem Baby<br />
weckt Gefühle in Ihnen – Freude, Zuneigung, Fürsorglichkeit <strong>und</strong><br />
so weiter. Im Lauf der Zeit lernen Sie <strong>und</strong> der Säugling einander<br />
durch wiederholte Interaktionen besser kennen <strong>und</strong> gehen stärker<br />
mit Gesten oder verbal aufeinander ein als auf andere Leute.<br />
Und nun stellen Sie sich vor, dass man Sie auffordert, mit<br />
Kismet, einem Roboter, genauso umzugehen wie mit einem<br />
Menschenbaby. Ein solches Ansinnen mag Ihnen befremdlich<br />
vorkommen, aber weil Kismet gesichtsähnliche Züge hat, sind<br />
Sie dazu bereit, es einmal zu versuchen. Sie lächeln also <strong>und</strong> sagen<br />
in liebevollem Ton: „Hallo, Kismet, wie geht es dir?“ Kismet<br />
lächelt zurück <strong>und</strong> gurgelt glücklich. Sie sagen rau: „Kismet, hör<br />
sofort damit auf.“ Der Roboter sieht erstaunt aus, sogar ein wenig<br />
erschrocken, <strong>und</strong> gibt einen w<strong>im</strong>mernden Laut von sich. Schon<br />
wollen Sie ihn ganz spontan trösten <strong>und</strong> sagen: „Tut mir leid, Kismet,<br />
so habe ich es nicht gemeint.“ Nach wenigen Augenblicken<br />
haben Sie Ihre Befangenheit abgestreift, <strong>und</strong> der Umgang mit<br />
..<br />
Auch zur Interaktion von Kismet <strong>und</strong> seiner Konstrukteurin gehören das<br />
Sprechen, das beidseitige Gurren <strong>und</strong> die Reaktion auf den Gesichtsausdruck<br />
des Gegenübers. (© Sam Ogden/Science Source)<br />
Kismet gibt es wirklich, <strong>und</strong> „er“ verhält sich ziemlich genauso,<br />
wie wir es gerade beschrieben haben. Ein Wissenschaftlerteam<br />
um Cynthia Breazeal hat ihn entworfen; ihr vornehmliches Ziel<br />
bestand darin, einen Roboter herzustellen, der nicht auf best<strong>im</strong>mte<br />
Einzelverhalten programmiert werden sollte, sondern<br />
auf Lernen in sozialen Interaktionen, ähnlich wie es Säuglinge<br />
tun. Entsprechend wurde Kismet als umgänglicher, niedlicher<br />
kindähnlicher Roboter gestaltet, der die Aufmerksamkeit Erwachsener<br />
auf sich lenken <strong>und</strong> von ihnen gleichsam erzogen<br />
werden kann. Kismets Verhalten lässt sich leicht mit Begriffen<br />
versehen, die sich auf Menschen beziehen; er scheint so etwas wie<br />
innere geistige <strong>und</strong> emotionale Zustände <strong>und</strong> sogar eine Persönlichkeit<br />
zu besitzen. Aus den Interaktionen mit Menschen lernt<br />
Kismet auf der Basis ihrer Anleitungen <strong>und</strong> ihrer Reaktionen auf<br />
sein Verhalten. Durch diese Interaktionen mit anderen findet<br />
Kismet heraus, was Gesichtsausdrücke bedeuten, wie man kommuniziert,<br />
welche Verhaltensweisen akzeptabel <strong>und</strong> welche inakzeptabel<br />
sind, <strong>und</strong> so fort. Auf diese Weise entwickelt sich Kismet<br />
<strong>im</strong> Lauf der Zeit durch die Interaktion zwischen den gleichsam<br />
„angeborenen“ eingebauten Strukturen <strong>und</strong> sozial vermittelten<br />
Lernerfahrungen. Genau wie ein Baby!<br />
Die Herausforderung, der sich Kismets Konstrukteure gegenübersahen,<br />
gleicht in vieler Hinsicht der Aufgabe von Entwicklungstheoretikern,<br />
die nachzuweisen versuchen, wie sich<br />
die <strong>Kindes</strong>entwicklung durch Interaktionen mit anderen Menschen<br />
formt. Jeder erfolgreiche Erklärungsversuch der sozialen<br />
Entwicklung muss die vielen Einflussmöglichkeiten berücksichtigen,<br />
die wir aufeinander haben. Es beginnt bereits damit, dass<br />
kein menschlicher Säugling ohne intensive Langzeitpflege durch
Psychoanalytische Theorien<br />
315 9<br />
andere Menschen überlebt. Wir lernen durch die Reaktionen anderer<br />
unser eigenes Verhalten; daraus, wie andere uns behandeln,<br />
lernen wir uns selbst zu verstehen; <strong>und</strong> wir interpretieren andere<br />
Menschen in Analogie zu uns selbst – all dies <strong>im</strong> Kontext sozialer<br />
Interaktion <strong>und</strong> menschlicher Gesellschaft. Inzwischen haben die<br />
Entwickler von Kismet wie andere Pioniere in der Roboterentwicklung<br />
enorme Fortschritte erreicht, sodass ihre Roboterkinder<br />
<strong>im</strong>mer gewandter <strong>und</strong> lernfähiger <strong>im</strong> Umgang mit anderen werden.<br />
Einige Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass es schon<br />
in wenigen Jahren Cyberbabys geben wird, die die kognitiven <strong>und</strong><br />
sozialen Fähigkeiten eines dreijährigen <strong>Kindes</strong> erwerben können.<br />
Wir geben in diesem Kapitel einen Überblick über einige der<br />
wichtigsten <strong>und</strong> einflussreichsten allgemeinen Theorien der sozialen<br />
Entwicklung. Solche Theorien versuchen zu erklären, wie<br />
Menschen <strong>und</strong> soziale Institutionen in der Umwelt von Kindern<br />
auf ihre Entwicklung einwirken. Am Anfang von ▶ Kap. 4 haben<br />
wir <strong>im</strong> Zusammenhang mit Theorien der kognitiven Entwicklung<br />
bereits einige Gründe benannt warum Theorien wichtig<br />
sind. Diese Gründe gelten gleichermaßen für die Theorien der<br />
sozialen Entwicklung.<br />
Theorien der sozialen Entwicklung sind auf die Erklärung<br />
vieler wichtiger Entwicklungsaspekte gerichtet, beispielsweise<br />
Emotion, Persönlichkeit, Bindung, Selbst, Beziehungen zu<br />
Gleichaltrigen, Moral <strong>und</strong> Geschlecht. In diesem Kapitel beschreiben<br />
wir vier gr<strong>und</strong>legende Theorien, die diese Themen<br />
ansprechen – psychoanalytische Theorien, Lerntheorien, sozialkognitive<br />
Theorien <strong>und</strong> ökologische Theorien –, <strong>und</strong> erläutern<br />
die jeweiligen Kernannahmen <strong>und</strong> wichtigsten Bef<strong>und</strong>e.<br />
Alle sieben Leitthemen dieses Buches kommen in diesem Kapitel<br />
wieder vor, wobei drei besonders hervortreten. Vor allem<br />
das Thema individuelle Unterschiede durchzieht das gesamte Kapitel,<br />
wenn wir untersuchen, wie die soziale Umwelt des <strong>Kindes</strong><br />
seine Entwicklung <strong>im</strong> Einzelnen beeinflusst. Am Thema Anlage<br />
<strong>und</strong> Umwelt werden die Unterschiede der Theorien deutlich, die<br />
biologische Einflüsse <strong>und</strong> Umweltfaktoren auf unterschiedliche<br />
Weise betonen. Auch das Thema des aktiven <strong>Kindes</strong> steht <strong>im</strong> Mittelpunkt,<br />
weil einige der Theorien die aktive Beteiligung der Kinder<br />
an ihrer eigenen Sozialisation <strong>und</strong> die daraus entstehenden<br />
Wirkungen hervorheben, während andere Theorien die Entwicklung<br />
eines <strong>Kindes</strong> vor allem auf äußere Einflüsse zurückführen.<br />
Psychoanalytische Theorien<br />
Keine psychologische Theorie hatte mehr Einfluss auf die westliche<br />
Kultur <strong>und</strong> ihr Verständnis der Persönlichkeit <strong>und</strong> der sozialen<br />
Entwicklung als die psychoanalytische Theorie Sigm<strong>und</strong><br />
Freuds (1856–1939). In der Nachfolge von Freuds Theorie, hatte<br />
außerdem die Entwicklungstheorie der Lebensspanne von Erik<br />
Erikson (1902–1994) enormen Einfluss.<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />
Reifung vorangetrieben wird. Für Freud ist Verhalten dadurch<br />
motiviert, dass gr<strong>und</strong>legende Triebe befriedigt werden müssen.<br />
Diese Triebe <strong>und</strong> die verschiedenen Motive, die sich aus ihnen<br />
ergeben, sind weitestgehend unbewusst, sodass Menschen oft<br />
nur dunkel ahnen, warum sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten.<br />
Eriksons Theorie zufolge wird die Entwicklung durch<br />
eine Reihe von Entwicklungskrisen vorangetrieben, die mit dem<br />
Alter <strong>und</strong> der biologischen Reifung zusammenhängen. Um sich<br />
ges<strong>und</strong> zu entwickeln, muss der Mensch diese Krisen erfolgreich<br />
bewältigen.<br />
Zentrale Entwicklungsfragen<br />
Bei der psychoanalytischen Theorie spielen drei der sieben Leitthemen<br />
eine wichtige Rolle: Kontinuität versus Diskontinuität,<br />
individuelle Unterschiede <strong>und</strong> Anlage <strong>und</strong> Umwelt. Bei den Entwicklungsannahmen<br />
von Freud <strong>und</strong> Erikson handelt es sich,<br />
wie bei der in ▶ Kap. 4 dargestellten Theorie Piagets, um Stufentheorien,<br />
die die Diskontinuität der Entwicklung betonen.<br />
Im Rahmen dieser diskontinuierlichen Entwicklung heben die<br />
psychoanalytischen Theorien jedoch auf die Kontinuität individueller<br />
Unterschiede ab, indem sie behaupten, dass die frühen<br />
Erfahrungen von Kindern ihre spätere Entwicklung prägen. Das<br />
Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong> Umwelt ergibt sich bei Freud<br />
<strong>und</strong> Erikson vor allem durch die biologischen Gr<strong>und</strong>lagen der<br />
Entwicklungsstufen <strong>und</strong> ihre Interaktion mit den Erfahrungen<br />
des <strong>Kindes</strong>.<br />
Freuds Theorie der psychosexuellen<br />
Entwicklung<br />
Freud befasste sich ursprünglich als Neurologe mit den Ursprüngen<br />
von Geisteskrankheiten <strong>und</strong> ihrer Behandlung. Dabei<br />
faszinierte ihn besonders die Beobachtung, dass die neurologischen<br />
Symptome seiner Patientinnen <strong>und</strong> Patienten wie die<br />
Gefühlstaubheit einer Hand oder Blindheit manchmal keine erkennbare<br />
körperliche Ursache hatten. Aufgr<strong>und</strong> der Krankenberichte,<br />
die er von diesen Patienten hörte, kam er zu dem Schluss,<br />
dass die unerklärlichen Symptome auf vollständig unbewussten,<br />
aber mächtigen Angst- oder Schuldgefühlen beruhen könnten,<br />
beispielsweise auf der Angst, etwas Verbotenes zu berühren<br />
oder auch nur anzusehen. Freuds Interesse an der psychischen<br />
Entwicklung hing mit seiner zunehmenden Überzeugung zusammen,<br />
dass die Mehrzahl der emotionalen Probleme seiner<br />
Patienten ihren Ursprung in den frühen Beziehungen der Kindheit<br />
hat, insbesondere in den Beziehungen zu den Eltern. Freuds<br />
Beiträge zur <strong>Entwicklungspsychologie</strong> sind gr<strong>und</strong>legend <strong>und</strong><br />
nachhaltig, auch wenn diese Beiträge, wie wir später erläutern<br />
werden, mehr mit best<strong>im</strong>mten allgemeinen psychologischen<br />
Konzepten zu tun hatten als mit den Besonderheiten seiner<br />
Theorie.<br />
Die Theorien von Freud <strong>und</strong> Erikson gehen gleichermaßen<br />
davon aus, dass die Entwicklung sehr stark durch biologische
316<br />
Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
..<br />
Sigm<strong>und</strong> Freud, der Vater der Psychoanalyse, hatte einen nachhaltigen<br />
Einfluss auf die <strong>Entwicklungspsychologie</strong>, vor allem wegen der Betonung des<br />
lebenslangen Einflusses früher emotionaler Beziehungen. (© Corbis)<br />
Bei unserer Diskussion der theoretischen Ansichten Freuds konzentrieren<br />
wir uns vorrangig auf ihre entwicklungsbezogenen<br />
Aspekte, insbesondere auf die allgemeinen Themen, die weiterhin<br />
maßgebend sind.<br />
Gr<strong>und</strong>legende Merkmale der Freud’schen<br />
Theorie<br />
Freuds Entwicklungstheorie wird als eine Theorie der psychosexuellen<br />
Entwicklung bezeichnet, weil er annahm, dass auch sehr<br />
kleine Kinder bereits eine Sexualität haben, die ihr Verhalten motiviert<br />
<strong>und</strong> ihre Beziehungen zu anderen Menschen beeinflusst.<br />
Er behauptete, dass Kinder eine Reihe von universell auftretenden<br />
Phasen durchlaufen. Nach Freud fokussiert sich dabei die psychische<br />
Energie – die biologisch gegebenen Triebe, die Verhalten,<br />
Gedanken <strong>und</strong> Gefühle in Gang setzen – in den verschiedenen<br />
Entwicklungsphasen auf verschiedene erogene Zonen des Körpers<br />
(z. B. den M<strong>und</strong>, den Anus <strong>und</strong> das Genital), die sinnliche<br />
Lustgefühle auslösen. Freud war der Meinung, dass Kinder in<br />
jeder Entwicklungsphase in Bezug auf eine best<strong>im</strong>mte erogene<br />
Zone auf Konflikte stoßen, wobei sich der Erfolg oder Misserfolg<br />
be<strong>im</strong> Lösen dieser Konflikte lebenslang auf die Entwicklung<br />
auswirkt.<br />
Psychische Energie – Freuds Ausdruck für die Gesamtheit der biologisch begründeten<br />
instinktiven Triebe, die Verhalten, Gedanken <strong>und</strong> Gefühle seiner<br />
Ansicht nach antreiben.<br />
Erogene Zonen – In der Freud’schen Theorie diejenigen Körperbereiche, die<br />
in den einzelnen Entwicklungsphasen erotische Empfindungen (Lustgefühle)<br />
auslösen.<br />
Der Entwicklungsprozess<br />
Nach Ansicht Sigm<strong>und</strong> Freuds beginnt die Entwicklung mit einem<br />
hilflosen Säugling, der von Trieben beherrscht wird, in erster<br />
Linie von Hunger, die Spannung erzeugen. Das kleine Baby<br />
weiß nicht, wie es diese Spannung abbauen kann <strong>und</strong> drückt den<br />
bedrängenden Hunger durch Weinen aus, was die Mutter zum<br />
Stillen veranlasst. (In Freuds Zeit wurden praktisch alle Babys<br />
gestillt.) Die resultierende Befriedigung des Hungers sowie die Erfahrung<br />
des Stillens sind für das Kind eine Quelle intensiver Lust.<br />
Die biologischen Triebe, mit denen das Kind auf die Welt<br />
kommt, bilden das Es – die früheste <strong>und</strong> pr<strong>im</strong>itivste der drei<br />
Persönlichkeitsstrukturen, die Freud postuliert. Das Es ist völlig<br />
unbewusst <strong>und</strong> bildet die Quelle der psychischen Energie. Es ist<br />
der „dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit […] ein<br />
Kessel voll brodelnder Erregungen“, die der Befriedigung bedürfen<br />
(Freud 1933). Das Es wird vom Lustprinzip geleitet – dem<br />
Ziel, schnellstmöglich max<strong>im</strong>ale Befriedigung zu erlangen. Ob<br />
die Erfüllung nun Essen, Trinken, das Beseitigen von etwas oder<br />
Wohlbefinden ist, das Es will es jetzt. Das Es bleibt lebenslang<br />
die Quelle der psychischen Energie. Seine Aktivität ist bei egoistischem<br />
oder <strong>im</strong>pulsivem Verhalten am offensichtlichsten, wenn<br />
die unmittelbare Befriedigung ohne oder mit nur wenig Rücksicht<br />
auf die Folgen angestrebt wird.<br />
Es – In der psychoanalytischen Theorie die früheste <strong>und</strong> pr<strong>im</strong>itivste Persönlichkeitsstruktur.<br />
Das Es ist unbewusst <strong>und</strong> folgt dem Ziel des Lustgewinns.<br />
Im ersten Lebensjahr befindet sich der Säugling in Freuds erster<br />
Phase der psychosexuellen Entwicklung, der oralen Phase.<br />
Diese wird so genannt, weil die pr<strong>im</strong>äre Quelle für Befriedigung<br />
<strong>und</strong> Lust orale Tätigkeiten wie Saugen, Lutschen <strong>und</strong> Essen sind.<br />
„Wenn sich der Säugling selbst ausdrücken könnte, würde er<br />
zweifellos anerkennen, dass das Saugen an der Mutterbrust mit<br />
Abstand das Wichtigste <strong>im</strong> Leben ist“ (Freud 1920). Die mit dem<br />
Stillen assoziierte Lust ist so intensiv, dass andere Tätigkeiten mit<br />
dem M<strong>und</strong> – zum Beispiel am Daumen oder Schnuller zu saugen<br />
– ebenfalls Lust bereiten.<br />
Orale Phase – Die erste Phase in Freuds Theorie <strong>im</strong> ersten Lebensjahr, in der die<br />
pr<strong>im</strong>äre Quelle für Befriedigung <strong>und</strong> Lust in oralen Aktivitäten besteht.<br />
Für Freud sind die Gefühle des Babys für seine Mutter „einzigartig<br />
<strong>und</strong> unvergleichbar“, <strong>und</strong> durch sie ist die Mutter „unverwechselbar<br />
ein Leben lang als das erste <strong>und</strong> stärkste Objekt der<br />
Liebe <strong>und</strong> als Prototyp für alle späteren Liebesbeziehungen eingeführt“<br />
(Freud 1940).<br />
Die Mutter des Säuglings ist auch eine Quelle der Sicherheit.<br />
Diese Sicherheit gibt es jedoch nicht umsonst. Wie <strong>im</strong>mer bei<br />
Freud gibt es auch eine Schattenseite: Säuglinge „bezahlen diese<br />
Sicherheit mit einer Furcht vor Liebesverlust“ (Freud 1940). Für<br />
Freud beruhen die häufigen ängstlichen Reaktionen, wenn man<br />
allein oder <strong>im</strong> Dunkeln ist, darauf, jemanden zu vermissen, den<br />
man liebt <strong>und</strong> nach dem man sich sehnt (Freud 1926).
Psychoanalytische Theorien<br />
317 9<br />
Gegen Ende des ersten Jahres entsteht allmählich die zweite<br />
Persönlichkeitsstruktur, das Ich. Das Ich erwächst aus der Notwendigkeit,<br />
die Konflikte zwischen den ungezügelten Forderungen<br />
nach sofortiger Befriedigung des Es <strong>und</strong> den von der externen<br />
Welt auferlegten Einschränkungen zu versöhnen. „Das Es<br />
steht für die ungezähmten Leidenschaften“, während das Ich „für<br />
Vernunft <strong>und</strong> Verstand steht“ (Freud 1933). Das Ich arbeitet nach<br />
dem Realitätsprinzip <strong>und</strong> versucht Wege zu finden, um das Es in<br />
Einklang mit den Forderungen der Realität zu bringen. Im Lauf<br />
der Zeit, in der das Ich fortwährend die Aussöhnung zwischen<br />
den Anforderungen des Es <strong>und</strong> den Anforderungen der Realität<br />
sucht, wird es stärker <strong>und</strong> differenzierter <strong>und</strong> entwickelt sich<br />
schließlich zu der individuellen Erfahrung des Selbst. Dennoch<br />
übern<strong>im</strong>mt das Ich niemals die vollständige Kontrolle:<br />
» Man könnte das Verhältnis des Ichs zum Es mit dem des Reiters<br />
zu seinem Pferd vergleichen. Das Pferd gibt die Energie<br />
für die Lokomotive her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu<br />
best<strong>im</strong>men, die Bewegung des starken Tieres zu leiten. Aber<br />
zwischen Ich <strong>und</strong> Es ereignet sich allzu häufig der nicht ideale<br />
Fall, daß der Reiter das Roß dahin führen muß, wohin es selbst<br />
gehen will (Freud 1969, S. 514).<br />
Ich – In der psychoanalytischen Theorie die zweite Persönlichkeitsstruktur, die<br />
sich entwickelt. Diese ist die rationale, logische <strong>und</strong> problemlösende Komponente<br />
der Persönlichkeit.<br />
Im Verlauf des zweiten Lebensjahres eines <strong>Kindes</strong> ermöglicht<br />
die Reifung die Entwicklung der Kontrolle über einige Körperprozesse,<br />
zum Beispiel das Urinieren <strong>und</strong> die Darmentleerung.<br />
Zu diesem Zeitpunkt tritt das Kind in Freuds zweite Phase ein,<br />
die anale Phase, die bis zum Alter von etwa drei Jahren andauert.<br />
In dieser Phase konzentriert sich das erotische Interesse des<br />
<strong>Kindes</strong> auf den lustvollen Spannungsabbau be<strong>im</strong> Stuhlgang. Es<br />
ergibt sich ein Konflikt, wenn die Eltern zum ersten Mal spezielle<br />
Anforderungen an das Kind stellen, hauptsächlich wenn sie auf<br />
Sauberkeit bestehen. In den folgenden Jahren werden die Eltern<br />
<strong>und</strong> andere Personen ihre Anforderungen an das Kind erhöhen,<br />
um seine Impulse zu kontrollieren <strong>und</strong> Befriedigungen aufzuschieben.<br />
Anale Phase – Die zweite Phase in Freuds Theorie, etwa zwischen dem ersten<br />
<strong>und</strong> dem dritten Lebensjahr, in der die Körperausscheidungen die pr<strong>im</strong>äre<br />
Lustquelle darstellen.<br />
Freuds dritte Entwicklungsstufe, die phallische Phase, umfasst<br />
das dritte bis sechste Lebensjahr. In dieser Phase verändert sich<br />
der Fokus des Lustempfindens erneut, wenn die Kinder sich für<br />
ihre eigenen Genitalien interessieren <strong>und</strong> neugierig sind, wie es<br />
um die Genitalien ihrer Eltern <strong>und</strong> Spielgefährten bestellt ist.<br />
Sowohl Jungen als auch Mädchen beziehen Lustgefühle aus der<br />
Masturbation – einer Betätigung, die von Eltern zu Zeiten Freuds<br />
in seinem Kulturkreis oft aufs Schwerste bestraft wurde.<br />
Phallische Phase – Die dritte Phase in Freuds Theorie zwischen dem dritten<br />
<strong>und</strong> dem sechsten Lebensjahr, in der sich der sexuelle Lustgewinn auf die Genitalien<br />
richtet.<br />
Freud war der Meinung, dass sich Kinder während der phallischen<br />
Phase mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil identifizieren<br />
<strong>und</strong> auf diese Weise Geschlechterunterschiede in Einstellungen<br />
<strong>und</strong> Verhalten entstehen. Diese Identifikation beginnt,<br />
wenn die Kinder den entscheidenden Unterschied bemerken,<br />
einen Penis zu haben oder keinen. In dieser Zeit interessiert sich<br />
ein Junge sehr für seinen Penis, der „so leicht erregbar <strong>und</strong> veränderbar<br />
ist <strong>und</strong> so reich an Empfindungen“ (Freud 1933, S. 77).<br />
Nach Freuds Meinung bemerken Mädchen die Tatsache, dass<br />
sie keinen Penis haben, <strong>und</strong> empfinden Penisneid, wie es Freud<br />
nannte.<br />
Freud nahm weiterhin an, dass kleine Kinder während der<br />
phallischen Phase intensive sexuelle Wünsche erleben, <strong>und</strong> ihre<br />
Anstrengungen, mit diesen Wünschen klarzukommen, sind es<br />
seiner Meinung nach, die zum Auftauchen der dritten Persönlichkeitsstruktur<br />
führen: des Über-Ich. Das Über-Ich ist <strong>im</strong> Wesentlichen<br />
das, was wir uns als Gewissen vorstellen. Mit seiner<br />
Hilfe kann das Kind sein eigenes Verhalten auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />
seiner Überzeugungen zu dem, was richtig <strong>und</strong> was falsch ist,<br />
steuern. Das Über-Ich beruht auf der Internalisierung (oder<br />
Übernahme) der Regeln <strong>und</strong> Normen, welche die Eltern für<br />
akzeptables <strong>und</strong> unangemessenes Verhalten setzen. Das Über-<br />
Ich leitet das Kind bei der Vermeidung von Handlungen, die zu<br />
Schuldgefühlen führen würden, wenn das Kind diese verinnerlichten<br />
Regeln <strong>und</strong> Normen verletzt.<br />
Über-Ich – In der psychoanalytischen Theorie die dritte Persönlichkeitsstruktur,<br />
die verinnerlichte moralische Normen umfasst.<br />
Internalisierung – Der Prozess der Übernahme (Verinnerlichung) der Eigenschaften,<br />
Überzeugungen <strong>und</strong> Normen einer anderen Person.<br />
Bei Jungen führt der Weg zum Über-Ich über den Ödipus-Komplex<br />
<strong>und</strong> seine Überwindung. Dabei handelt es sich um einen<br />
psychosexuellen Konflikt, in dem ein Junge eine Form des sexuellen<br />
Begehrens seiner Mutter empfindet <strong>und</strong> sie ausschließlich<br />
für sich haben möchte. Dieser Gedanke kindlicher sexueller<br />
Wünsche mutet fremdartig an, st<strong>im</strong>mt aber mit vielen Episoden<br />
überein, die Familien berichten. Als beispielsweise einer unserer<br />
Söhne fünf Jahre alt war, teilte er seiner Mutter mit, dass er sie irgendwann<br />
einmal heiraten wolle. Sie sagte, es tue ihr leid, aber sie<br />
sei bereits mit Papa verheiratet, <strong>und</strong> er müsse sich zum Heiraten<br />
wohl eine andere suchen. Darauf antwortete der Junge: „Ich habe<br />
eine gute Idee! Ich stecke Papa in eine große Kiste <strong>und</strong> schicke<br />
ihn mit der Post irgendwohin. Dann können wir heiraten!“<br />
Ödipus-Komplex – Freuds Ausdruck für den Konflikt, den Jungen in der phallischen<br />
Phase erleben, weil sie ihr sexuelles Verlangen auf ihre Mutter richten<br />
<strong>und</strong> sich vor der Vergeltung des Vaters fürchten. (Der Komplex ist nach dem<br />
König der griechischen Mythologie benannt, der unwissentlich seinen Vater<br />
schlug <strong>und</strong> seine Mutter heiratete.)<br />
In Freuds Version des Ödipus-Konflikts erlebt der Sohn sein Verlangen<br />
nach seiner Mutter <strong>und</strong> seine Feindseligkeit gegenüber<br />
dem Vater als so bedrohlich, dass ihn sein Ich durch Verdrängung<br />
davor schützt <strong>und</strong> die gefährlichen Gefühle ins Unbewusste verbannt,<br />
den Aufbewahrungsort für angsterzeugende Gedanken<br />
<strong>und</strong> Impulse, die vor dem Bewusstsein verborgen werden. Eine<br />
Folge dieser weitverbreiteten Verdrängung ist Freud zufolge die
318<br />
Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
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infantile Amnesie – der Verlust der Erinnerungen an unsere ersten<br />
Lebensjahre, unter dem wir alle leiden. Zusätzlich verstärkt<br />
der Junge seine Identifizierung mit dem Vater: Indem er danach<br />
strebt, so wie sein Vater zu werden, internalisiert der Junge die<br />
Werte, Überzeugungen <strong>und</strong> Einstellungen des Vaters, was zur<br />
Entwicklung eines starken Gewissens führt. Freud meinte, dass<br />
Mädchen einen ähnlichen, aber weniger intensiven Konflikt erleben<br />
– der bisweilen Elektra-Komplex genannt wird <strong>und</strong> bei dem<br />
sich erotische Gefühle auf den Vater richten; bei Mädchen führt<br />
der Elektra-Komplex dazu, dass sie ein Gewissen entwickeln, das<br />
schwächer als das der Jungen ist.<br />
..<br />
Durch die Identifikation mit seinem Vater sollte dieser Junge nach der<br />
Theorie Freuds ein starkes Über-Ich entwickeln. (Foto: Bernadette Berg)<br />
Elektra-Komplex – Der Konflikt, den Mädchen in der phallischen Phase erleben,<br />
wenn sie nicht akzeptable romantische Gefühle für ihren Vater entwickeln<br />
<strong>und</strong> ihre Mutter als Rivalin betrachten. (Der Komplex ist nach der griechischen<br />
Sagengestalt Elektra benannt, die bei dem Rachemord an ihrer Mutter Klyta<strong>im</strong>nestra<br />
half, nachdem diese den Vater umgebracht hatte.)<br />
Der vierte Entwicklungsabschnitt, die Latenzphase, dauert etwa<br />
vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr. Wie der Name schon<br />
andeutet, ist diese Phase eine Zeit äußerlicher Ruhe, in der die<br />
inneren Veränderungen verborgen bleiben. Sexuelle Wünsche<br />
werden sicher <strong>im</strong> Unbewussten verborgen, <strong>und</strong> die psychische<br />
Energie kanalisiert sich in konstruktiven, sozial akzeptablen<br />
Handlungen intellektueller <strong>und</strong> sozialer Art.<br />
Latenzphase – Die vierte Phase in Freuds Theorie zwischen dem sechsten <strong>und</strong><br />
dem zwölften Lebensjahr, in der sich sexuelle Energie zu sozial akzeptablen<br />
Handlungen kanalisiert.<br />
Die fünfte <strong>und</strong> letzte Phase, die genitale Phase, beginnt mit dem<br />
Eintreten der sexuellen Reifung. Die sexuelle Energie, die viele<br />
Jahre lang unter Kontrolle gehalten wurde, kommt mit voller<br />
Kraft wieder zur Geltung, wobei sie sich nun auf Angehörige des<br />
jeweils anderen Geschlechts richtet. Im Idealfall hat das Individuum<br />
ein starkes Ich entwickelt, welches das Zurechtkommen<br />
mit der Realität erleichtert, <strong>und</strong> ein Über-Ich, das weder zu stark<br />
noch zu schwach ausgeprägt ist.<br />
Genitale Phase – Die fünfte <strong>und</strong> letzte Phase in Freuds Theorie. Sie beginnt <strong>im</strong><br />
<strong>Jugendalter</strong>, wenn die sexuelle Reifung abgeschlossen ist <strong>und</strong> Geschlechtsverkehr<br />
zu einem Hauptziel wird.<br />
Freud glaubte, dass eine ges<strong>und</strong>e Entwicklung letztlich in der<br />
Fähigkeit kulminiert, sich sowohl in Liebe als auch in Arbeit zu<br />
verausgaben <strong>und</strong> daraus Lust zu ziehen. Diese Entwicklung kann<br />
jedoch in vielfacher Hinsicht beeinträchtigt werden. Wenn in<br />
einer der Phasen psychosexueller Entwicklung gr<strong>und</strong>legende<br />
Bedürfnisse nicht erfüllt werden, kann das Kind auf diese Bedürfnisse<br />
fixiert bleiben <strong>und</strong> permanent versuchen, sie zu befriedigen<br />
<strong>und</strong> die begleitenden Fragen <strong>und</strong> Konflikte zu lösen.<br />
Freud zufolge sind diese unbefriedigten Bedürfnisse <strong>und</strong> die<br />
fortdauernden Versuche, sie zu erfüllen, unbewusst <strong>und</strong> kommen<br />
auf indirekte oder symbolische Weise zum Ausdruck. Wenn<br />
eine Mutter beispielsweise den Bedürfnissen ihres <strong>Kindes</strong> nach<br />
oraler Befriedigung nicht angemessen nachkommt, sucht sich<br />
das Kind <strong>im</strong> späteren Lebensverlauf vielleicht andauernd orale<br />
Ersatzhandlungen wie übermäßiges Essen, Nägelkauen, Rauchen<br />
<strong>und</strong> so weiter. Kleinkinder, die in der analen Phase einer sehr<br />
harten Sauberkeitserziehung ausgesetzt waren, bleiben vielleicht<br />
auf Fragen der Sauberkeit fixiert <strong>und</strong> werden entweder zwanghaft<br />
ordentlich <strong>und</strong> rigide oder aber besonders schlampig <strong>und</strong><br />
nachlässig. Nach Ansicht Freuds formt also die Art, in der das<br />
Kind die Phasen der psychosexuellen Entwicklung durchlaufen<br />
hat, die Persönlichkeit des Individuums ein Leben lang. (Hinsichtlich<br />
der oralen <strong>und</strong> analen Fixierungen ist interessant, dass<br />
Freud über 50 Jahre lang 20 Zigarren täglich rauchte – ihm war<br />
es unmöglich, ohne Rauchen zu arbeiten – <strong>und</strong> über den selben<br />
Zeitraum hinweg nahezu täglich demselben ritualisierten Tagesablaufplan<br />
folgte.)<br />
Eriksons Theorie der psychosozialen<br />
Entwicklung<br />
Von den vielen Nachfolgern Freuds hatte keiner einen größeren<br />
Einfluss auf die <strong>Entwicklungspsychologie</strong> als Erik Erikson.<br />
Erikson übernahm die Gr<strong>und</strong>elemente der Theorie Freuds, bezog<br />
aber auch soziale Faktoren mit ein, zum Beispiel kulturelle<br />
Einflüsse <strong>und</strong> aktuelle Fragen wie Jugendkr<strong>im</strong>inalität, veränderte<br />
Geschlechterrollen <strong>und</strong> die Generationsunterschiede. Man betrachtet<br />
seine Theorie folglich als eine Theorie der psychosozialen<br />
Entwicklung.
Psychoanalytische Theorien<br />
319 9<br />
..<br />
Erik Erikson wurde als Kind dänischstämmiger Eltern in Frankfurt am Main<br />
geboren. Er brauchte einige Jahre, um sich seine berufliche Existenz aufzubauen.<br />
Statt zu studieren, reiste er durch Europa, ging seinem Interesse an<br />
Kunst nach <strong>und</strong> begegnete schließlich in Wien Sigm<strong>und</strong> Freuds Tochter Anna<br />
Freud, die ihm eine Anstellung als Kunstlehrer in ihrer Schule vermittelte<br />
<strong>und</strong> bei der er eine Ausbildung zum Analytiker begann. 1933 wurde er zum<br />
ordentlichen Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft ernannt<br />
<strong>und</strong> wanderte nach der Machtergreifung Hitlers über Dänemark in die USA<br />
aus. (© Ted Streshinsky/Corbis)<br />
Fähigkeit, anderen ein angemessenes Vertrauen entgegenzubringen,<br />
nicht entwickelt, so wird es dem Individuum <strong>im</strong><br />
späteren Leben schwerfallen, enge, vertraute Beziehungen zu<br />
gestalten.<br />
2. Autonomie versus Scham <strong>und</strong> Zweifel (ein bis dreieinhalb<br />
Jahre): Die Herausforderung für Kinder zwischen einem <strong>und</strong><br />
dreieinhalb Jahren (dem Zeitraum von Freuds analer Phase)<br />
besteht darin, ein starkes Gefühl der Autonomie aufzubauen,<br />
während sie sich wachsenden sozialen Anforderungen stellen.<br />
Erikson geht dann aber weit über Freuds Konzentration<br />
auf die Sauberkeitserziehung hinaus <strong>und</strong> weist darauf hin,<br />
dass es <strong>im</strong> Verlauf dieser Phase zu dramatischen Erweiterungen<br />
in jedem Bereich der lebensweltlichen Kompetenz<br />
der Kinder kommt – darunter motorische Fertigkeiten, kognitive<br />
Fähigkeiten <strong>und</strong> insbesondere Sprache, die bei den<br />
Kindern den Wunsch <strong>und</strong> die Fähigkeit fördern, selbst zu<br />
wählen <strong>und</strong> Entscheidungen zu treffen. Die neue Fähigkeit<br />
des Kleinkindes, die Umwelt zu erk<strong>und</strong>en, verändert die<br />
Familiendynamik (wie in ▶ Kap. 5 dargestellt) <strong>und</strong> leitet einen<br />
lang anhaltenden Kampf zwischen dem kindlichen <strong>und</strong><br />
dem elterlichen Willen ein, in dem die Eltern versuchen, den<br />
Freiraum des <strong>Kindes</strong> einzuschränken <strong>und</strong> ihm beizubringen,<br />
welche Verhaltensweisen akzeptabel sind <strong>und</strong> welche nicht.<br />
Sofern die Eltern eine unterstützende Atmosphäre bieten, in<br />
der die Kinder Selbstkontrolle erlangen können, ohne dabei<br />
ihre Selbstachtung zu verlieren, entwickeln die Kinder ein<br />
Gefühl der Autonomie. Sofern Kinder jedoch schwer bestraft,<br />
lächerlich gemacht oder beschämt werden, können sie letztlich<br />
an ihren Fähigkeiten zweifeln oder ein generelles Schamgefühl<br />
empfinden.<br />
Der Entwicklungsprozess<br />
Erikson nahm acht altersabhängige Entwicklungsstufen an, welche<br />
die Zeit von der frühen Kindheit bis zum hohen Alter umspannen.<br />
Jede der Erikson’schen Stufen ist durch eine spezielle<br />
Krise oder eine Reihe von Entwicklungsaufgaben gekennzeichnet,<br />
die das Individuum bewältigen muss. Wenn die dominante<br />
Problemstellung einer Phase nicht erfolgreich gelöst wurde,<br />
bevor Reifungsprozesse <strong>und</strong> sozialer Druck die nächste Phase<br />
einleiten, wird die Person weiterhin mit diesen Problemen zu<br />
kämpfen haben. Im Folgenden werden wir nur die ersten fünf<br />
Phasen nach Erikson besprechen, die die Entwicklung <strong>im</strong> Kleinkindalter,<br />
in der Kindheit <strong>und</strong> in der Adoleszenz betreffen.<br />
1. Urvertrauen versus Misstrauen (erstes Lebensjahr): In Eriksons<br />
erster Phase (die Freuds oraler Phase entspricht) besteht<br />
das entscheidende Problem des <strong>Kindes</strong> in der Entwicklung<br />
eines gr<strong>und</strong>legenden Gefühls des Vertrauens – „sowohl ein<br />
wesenhaftes Zutrauen zu anderen als auch ein f<strong>und</strong>amentales<br />
Gefühl der eigenen Vertrauenswürdigkeit“ (Erikson 1981,<br />
S. 97). Ist die Mutter in ihrer Fürsorge gleichbleibend warm<br />
<strong>und</strong> zuverlässig, lernt das Kind, dass man ihr trauen kann.<br />
Allgemeiner gesprochen lernt das Kind, sich in der Nähe<br />
anderer Menschen wohl <strong>und</strong> sicher zu fühlen. Hat sich die<br />
..<br />
Sollte dieses Kind lernen, sich für solch ein natürliches Explorationsverhalten<br />
zu schämen? (© Hannah <strong>und</strong> Valentin Neuser; mit fre<strong>und</strong>licher<br />
Genehmigung)<br />
3. Initiative versus Schuldgefühl (vier bis sechs Jahre): Wie<br />
schon Freud fasste auch Erikson die Zeit zwischen vier <strong>und</strong><br />
sechs Jahren als eine Phase auf, in der die Kinder begin-
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Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
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nen, sich mit ihren Eltern zu identifizieren <strong>und</strong> von ihnen<br />
zu lernen: „Und dabei greift es gleich nach den Sternen: es<br />
will so werden wie Vater <strong>und</strong> Mutter, die ihm sehr mächtig<br />
<strong>und</strong> sehr schön erscheinen“. In dieser dritten Lebensphase<br />
setzt sich das Kind andauernd Ziele (einen höheren Turm<br />
aus Bauklötzen bauen, das Alphabet lernen) <strong>und</strong> arbeitet auf<br />
diese Ziel hin. Erikson glaubte wie Freud, dass ein entscheidender<br />
Schritt in der Entwicklung des Gewissens besteht,<br />
der Internalisierung der elterlichen Regeln <strong>und</strong> Normen,<br />
<strong>und</strong> <strong>im</strong> Erleben von Schuld, wenn man diesen nicht gerecht<br />
wird. Die Herausforderung für das Kind besteht darin, eine<br />
Balance zwischen Initiative <strong>und</strong> Schuld zu erreichen. Wenn<br />
die Eltern nicht übermäßig kontrollieren oder strafen, können<br />
Kinder hohe normative Standards <strong>und</strong> die Initiative<br />
entwickeln, diesen gerecht zu werden, ohne von den Sorgen<br />
erdrückt zu werden, nicht gut genug zu sein, um diesen Standards<br />
gerecht zu werden.<br />
4. Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl (sechs Jahre bis<br />
zur Pubertät): Eriksons vierte Phase dauert vom sechsten<br />
Lebensjahr bis zur Pubertät <strong>und</strong> entspricht Freuds Latenzphase.<br />
Sie ist entscheidend für die Ich-Entwicklung. Im Verlauf<br />
dieser Phase beherrschen Kinder kognitive <strong>und</strong> soziale<br />
Fähigkeiten, die in ihrer Kultur von Bedeutung sind, <strong>und</strong><br />
lernen, intensiv einer Arbeit nachzugehen <strong>und</strong> mit Gleichaltrigen<br />
zu kooperieren. Erfolgserfahrungen vermitteln dem<br />
Kind ein Gefühl der Kompetenz, aber Misserfolge können<br />
zu übermäßigen Gefühlen der Unzulänglichkeit oder Minderwertigkeit<br />
führen.<br />
5. Identität versus Rollenkonfusion (Pubertät bis frühes Erwachsenenalter):<br />
Erikson sprach der Adoleszenz eine besondere<br />
Bedeutung zu <strong>und</strong> betrachtete sie als eine entscheidende<br />
Phase, um ein Gr<strong>und</strong>gefühl der Identität zu erlangen. Heranwachsende<br />
verändern sich in vielerlei Hinsicht so schnell,<br />
dass sie sich kaum selbst erkennen können, weder <strong>im</strong> Spiegel<br />
noch <strong>im</strong> Geist. Die drastischen körperlichen Veränderungen<br />
der Pubertät <strong>und</strong> das Entstehen starker sexueller Bedürfnisse<br />
gehen mit neuen sozialen Anforderungen <strong>und</strong> Zwängen einher,<br />
beispielsweise der Notwendigkeit, Entscheidungen zu<br />
Ausbildung <strong>und</strong> Beruf zu treffen. Gefangen zwischen ihrer<br />
vorherigen Identität als Kind <strong>und</strong> den vielen Möglichkeiten<br />
<strong>und</strong> Unsicherheiten ihrer Zukunft müssen Heranwachsende<br />
die Frage klären, wer sie wirklich sind <strong>und</strong> welche Rolle sie<br />
als Erwachsene ausfüllen wollen, oder aber sie bleiben sich<br />
darüber <strong>im</strong> Unklaren. Wir werden in ▶ Kap. 11 sehen, dass<br />
Entwicklungsforscher dieser Phase der „Identität versus Rollenkonfusion“<br />
in modernen, multikulturellen Gesellschaften<br />
sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet haben.<br />
Aktuelle Perspektiven<br />
Die wichtigsten Beiträge Freuds zur <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
waren sein Hinweis auf die Bedeutung frühester Lebenserfahrungen<br />
<strong>und</strong> emotionaler Beziehungen <strong>und</strong> auf die besondere<br />
Rolle subjektiver Erfahrungen <strong>und</strong> unbewusster geistiger Aktivität.<br />
Eriksons Fokussierung auf die Suche nach Identität in<br />
der Adoleszenz hatte einen nachhaltigen Einfluss <strong>und</strong> bildet die<br />
Gr<strong>und</strong>lage vielfältiger Forschungsarbeiten zu diesem Aspekt des<br />
<strong>Jugendalter</strong>s. Die eklatante Schwäche beider Theorien besteht<br />
darin, dass ihre zentralen Aussagen oft zu ungenau <strong>und</strong> vage für<br />
eine wissenschaftliche Überprüfung formuliert sind. Manches<br />
gilt, insbesondere in Freuds Theorie, allgemein als fragwürdig.<br />
Dennoch ist Freuds Theorie <strong>im</strong>mer noch sehr einflussreich. Und<br />
in modifizierter Form sind in den letzten Jahren einige der ursprünglichen<br />
Konzepte von Freud <strong>und</strong> Erikson in modifizierter<br />
Form wieder in der psychologischen Forschung <strong>und</strong> den Theorieansätzen<br />
aufgetaucht.<br />
Freuds Beschreibung der infantilen Amnesie zum Beispiel<br />
wurde von einer Vielzahl von Veröffentlichungen gestützt, die<br />
sich mit den frühesten Erinnerungen befassen, die Menschen<br />
abrufen können (Bauer et al. 2002; Hayne 2004; Neisser 2004).<br />
Freuds Feststellung, dass die meisten von uns sich an so gut wie<br />
nichts von all den Erfahrungen unserer ersten Lebensjahre erinnern,<br />
ist zutreffend. Warum diese autobiografischen Erinnerungen<br />
an die ersten drei Lebensjahre fehlen, lässt sich freilich<br />
bislang nicht präzise erklären – <strong>und</strong> praktisch niemand schreibt<br />
die infantile Amnesie wie Freud einer Verdrängung zu.<br />
Auch für die psychosozialen Entwicklungsphasen nach Erikson<br />
liefern Untersuchungen zum autobiografischen Gedächtnis<br />
einige Hinweise. In einer Studie wurden Erwachsene zwischen 62<br />
<strong>und</strong> 89 Jahren nach Erinnerungen an drei Episoden aus jeder Dekade<br />
ihres Lebens gefragt <strong>und</strong> ihre Berichte mit Bezug auf Eriksons<br />
Phasen klassifiziert (Conway <strong>und</strong> Holmes 2004). Die autobiografischen<br />
Berichte dieser älteren Menschen korrespondierten<br />
mit Eriksons Phasen: Beispielsweise handelten die Erinnerungen<br />
aus der zweiten Lebensdekade in erster Linie von Identitätssuche,<br />
der Rollenkonfusion <strong>und</strong> der Festigung der eigenen Identität.<br />
Ein Aspekt der Freud’schen Theorie, der die Psychologie<br />
nachhaltig beeinflusst hat, betrifft den Einfluss früher Erfahrungen<br />
<strong>und</strong> früher Beziehungen, die das Gr<strong>und</strong>thema der heutigen<br />
Bindungsforschung sind (von der Sie in ▶ Kap. 11 mehr erfahren<br />
werden). Diese Forschung bestätigt, dass die Art der frühkindlichen<br />
Beziehungen zu den Eltern nicht nur das Verhalten in<br />
der frühen Kindheit beeinflusst, sondern für das gesamte Leben<br />
wichtige Langzeitwirkungen <strong>im</strong> Hinblick auf enge Bindungen hat<br />
(Allen et al. 2004; Kobak et al. 2006; Main 2000).<br />
Darüber hinaus gehört Freuds bemerkenswerte Einsicht,<br />
dass unser mentales Leben zum großen Teil außerhalb des Bewusstseins<br />
stattfindet, zu den Gr<strong>und</strong>annahmen der modernen<br />
Kognitionspsychologie <strong>und</strong> Neurowissenschaft. Tatsächlich lässt<br />
die moderne Forschung in diesen Bereichen vermuten, dass ein<br />
erstaunlich großer Anteil menschlichen Verhaltens auf unbewussten<br />
Prozessen beruht. Diesen Forschungen zufolge sind wir uns in<br />
überraschend großem Ausmaß selbst fremd, handeln oft auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage unbewusster Prozesse <strong>und</strong> begründen unser Verhalten<br />
erst <strong>im</strong> Nachhinein rational (Wilson 2002). So erleben wir eine<br />
Art „Illusion eines bewussten Willens“, wenn wir glauben, dass<br />
unser Denken unser Verhalten best<strong>im</strong>mt, obwohl das bewusste<br />
Entscheiden oft erst einsetzt, nachdem das Gehirn die Handlung<br />
schon eingeleitet hat (Wegner 2002). Viele von uns schreien bereits<br />
auf <strong>und</strong> springen zurück, bevor wir uns bewusst werden, dass<br />
da eine Schlange unseren Weg kreuzt (Öhman <strong>und</strong> Mineka 2001).<br />
Auch <strong>im</strong>plizite Einstellungen, derer wir uns nicht bewusst<br />
sind, beeinflussen unser Verhalten – Einstellungen, die oft das
Lerntheorien<br />
321 9<br />
genaue Gegenteil dessen sind, was wir bewusst vertreten. Viele<br />
Menschen, die keine ethnischen Vorurteile zu haben meinen,<br />
schreiben Menschen anderer ethnischer Gruppen gleichwohl<br />
eine Vielzahl negativer Eigenschaften zu (Greenwald <strong>und</strong> Banaji<br />
1995; Nosek <strong>und</strong> Banaji 2009). Bereits Sechsjährige zeigen solche<br />
<strong>im</strong>pliziten Vorurteile (Baron <strong>und</strong> Banaji 2006). Um dieses Phänomen<br />
hautnah zu erleben, können Sie unter ▶ https://<strong>im</strong>plicit.harvard.edu/<strong>im</strong>plicit<br />
online einen Impliziten Assoziationstest (IAT)<br />
machen <strong>und</strong> werden sich vielleicht über das Ergebnis w<strong>und</strong>ern<br />
(das Freud allerdings kaum überrascht hätte).<br />
Wie könnten psychoanalytische Theorien den Konstrukteuren<br />
des menschlichen Roboters Kismet helfen? Das Ziel, Kismet<br />
möglichst sozial zu machen, haben sie bereits in Angriff<br />
genommen. Auf der Gr<strong>und</strong>lage von Freuds <strong>und</strong> Eriksons Theorien<br />
wäre der wohl wichtigste nächste Schritt, Kismet so zu programmieren,<br />
dass er einige wenige sehr enge Beziehungen mit<br />
anderen eingeht. Best<strong>im</strong>mte Personen, denen Kismet begegnet,<br />
sollten ihm wesentlich wichtiger werden als andere, mit denen<br />
er ebenfalls interagiert. Im Idealfall sollte er aus diesen Beziehungen<br />
zu wichtigen Interaktionspartnern ein gewisses Gefühl<br />
der Sicherheit <strong>und</strong> des Wohlbefindens entwickeln. Weiterhin<br />
sollten diese Beziehungen einen nachhaltigen Einfluss auf seine<br />
innere Struktur haben <strong>und</strong> sein ganzes weiteres „Leben“ weiter<br />
beeinflussen.<br />
In Kürze | |<br />
Die psychoanalytischen Theorien von Sigm<strong>und</strong> Freud <strong>und</strong><br />
Erik Erikson besagen, dass die soziale <strong>und</strong> emotionale Entwicklung<br />
in einer Folge von Phasen erfolgt, von denen jede<br />
durch eine best<strong>im</strong>mte Aufgabe oder Krise gekennzeichnet<br />
ist, die für eine ges<strong>und</strong>e weitere Entwicklung bewältigt<br />
werden muss. Zu einer ges<strong>und</strong>en Persönlichkeit gehört eine<br />
angemessene Balance der drei Persönlichkeitsstrukturen Es,<br />
Ich <strong>und</strong> Über-Ich. Reifungsprozesse spielen in beiden Theorien<br />
eine wichtige Rolle. Psychische Energie sowie sexuelle<br />
Impulse werden, besonders von Freud, als zentrale Entwicklungsmotoren<br />
angesehen, während Erikson größeres Gewicht<br />
auf soziale Faktoren legt. Beide Theorien behaupten,<br />
dass die frühen Erfahrungen <strong>im</strong> Kontext der Familie einen<br />
nachhaltigen Einfluss auf die Beziehungen eines Individuums<br />
zu anderen Menschen haben. Diese Theorien haben<br />
enormen Einfluss auf die westliche Kultur <strong>und</strong> ihr Denken.<br />
Lerntheorien<br />
» Ich stelle mir den Geist von Kindern als leicht in diese oder<br />
jene Richtung lenkbar vor, dem Wasser gleich (John Locke).<br />
Vielleicht erinnern Sie sich noch an den empiristischen Philosophen<br />
John Locke in ▶ Kap. 1, der behauptete, dass die Erfahrung<br />
das Wesen des menschlichen Geistes formt. Zu den geistigen<br />
Erben Lockes gehören Psychologen, die <strong>im</strong> Lernen aus Erfahrung<br />
den pr<strong>im</strong>ären Faktor bei der sozialen Entwicklung <strong>und</strong> der<br />
Herausbildung der Persönlichkeit sehen.<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />
Im Gegensatz zu Freuds Betonung der inneren Triebkräfte <strong>und</strong><br />
der subjektiven Erfahrung haben die meisten Lerntheoretiker<br />
die Rolle äußerer Faktoren bei der Formung der Persönlichkeit<br />
<strong>und</strong> des Sozialverhaltens <strong>im</strong> Blick. Sie stellen oft sehr kühne Behauptungen<br />
dazu auf, in welchem Ausmaß sich die Entwicklung<br />
steuern ließe, indem man best<strong>im</strong>mte Verhaltensweisen von Kindern<br />
belohnt oder verstärkt <strong>und</strong> andere Verhalten bestraft oder<br />
ignoriert. Neuere Lerntheorien heben die Bedeutung kognitiver<br />
Faktoren hervor <strong>und</strong> betonen die aktive Rolle, die Kinder bei<br />
ihrer eigenen Entwicklung spielen.<br />
Zentrale Entwicklungsfragen<br />
Eine gr<strong>und</strong>legende Entwicklungsfrage, zu der Lerntheorien<br />
eine einheitliche Position beziehen, betrifft Kontinuität versus<br />
Diskontinuität: Alle betonen die Kontinuität <strong>und</strong> nehmen an,<br />
dass dieselben Prinzipien das Lernen <strong>und</strong> Verhalten über die<br />
gesamte Lebensspanne hinweg steuern <strong>und</strong> dass es deshalb<br />
keine qualitativ verschiedenen Entwicklungsstufen gibt. Wie<br />
die Informationsverarbeitungstheoretiker konzentrieren sich<br />
auch Lerntheoretiker auf die Rolle der spezifischen Mechanismen<br />
der Veränderung, zu denen aus ihrer Sicht Lernprinzipien<br />
wie Verstärkung <strong>und</strong> das Beobachtungslernen gehören. So gesehen<br />
unterscheiden sich Kinder vor allem deshalb voneinander,<br />
weil sie <strong>im</strong> Hinblick auf Verstärkung <strong>und</strong> Beobachtungslernen<br />
verschiedene Lernbiografien durchlaufen haben. Das Thema<br />
Forschung <strong>und</strong> <strong>Kindes</strong>wohl ist insofern relevant, als therapeutische<br />
Ansätze auf der Basis von Lernprinzipien in großem Umfang<br />
eingesetzt wurden, um Kinder mit vielfältigen Problemen<br />
zu behandeln.<br />
Der Behaviorismus von Watson<br />
John B. Watson (1878–1958), der Begründer des Behaviorismus,<br />
nahm an, dass die soziale Umwelt die <strong>Kindes</strong>entwicklung best<strong>im</strong>mt<br />
<strong>und</strong> dass das Lernen durch Konditionieren der pr<strong>im</strong>äre<br />
Entwicklungsmechanismus ist (▶ Kap. 5). Er war der Ansicht,<br />
dass Psychologen nur objektiv nachprüfbare Verhaltensweisen<br />
untersuchen sollten <strong>und</strong> nicht den empirischer Beobachtung<br />
unzugänglichen „Geist“.<br />
Wie sehr Watson an die Macht der Konditionierung glaubte,<br />
zeigt seine berühmte Aussage:<br />
» Gebt mir ein Dutzend ges<strong>und</strong>e, gut gebaute Kinder <strong>und</strong><br />
meine eigene spezifizierte Welt, um sie darin großzuziehen,<br />
<strong>und</strong> ich garantiere, daß ich irgendeines aufs Geratewohl<br />
herausnehme <strong>und</strong> es so erziehe, daß es irgendein beliebiger<br />
Spezialist wird, zu dem ich es erwählen könnte – Arzt, Jurist,<br />
Künstler, Kaufmann, ja sogar Bettler <strong>und</strong> Dieb, ungeachtet<br />
seiner Talente, Neigungen, Absichten, Fähigkeiten <strong>und</strong> Herkunft<br />
seiner Vorfahren (Watson 1924, zit. nach ▶ http://www.<br />
lern-psychologie.de/behavior/watson.htm.
322<br />
Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
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Auf wesentlich weniger ambitionierter Ebene demonstrierte<br />
Watson die Macht der klassischen Konditionierung in einem<br />
berühmten – <strong>und</strong> nach den heutigen Maßstäben ethisch unzulässigen<br />
– Exper<strong>im</strong>ent am „kleinen Albert“ (Watson <strong>und</strong> Rayner<br />
1920). Watson bot dem neun Monate alten Albert <strong>im</strong> Labor zunächst<br />
eine gänzlich zahme Ratte dar. Anfangs reagierte Albert<br />
positiv auf die Ratte. In den nächsten Versuchsdurchgängen jedoch<br />
verbanden die Forscher das Erscheinen der Ratte mit einem<br />
lauten Geräusch, das Albert offensichtlich ängstigte. Nach<br />
einigen solcher Versuchsdurchgänge begann sich Albert vor der<br />
Ratte zu fürchten.<br />
..<br />
Um die Macht der Konditionierung zu demonstrieren, konditionierten<br />
John B. Watson <strong>und</strong> seine Assistentin Rosemary Raynor den kleinen Albert<br />
darauf, sich vor einer weißen Ratte zu fürchten. Albert hatte keine Angst vor<br />
der Ratte, bis sie einige Male gepaart mit einem lauten, angsterregenden<br />
Geräusch gezeigt wurde. (© Archives of the History of Psychology, The Drs.<br />
Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology, The<br />
University of Akron)<br />
Unser Alltag ist voller Beispiele für konditionierte Reaktionen.<br />
Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder zeigen beispielsweise be<strong>im</strong> Anblick<br />
eines Arztes oder einer Krankenschwester in weißem Kittel häufig<br />
Furcht, die auf ihrer vorangehenden Assoziation zwischen<br />
Menschen in weißen Kitteln <strong>und</strong> unangenehmen Behandlungen<br />
wie schmerzhaften Injektionen beruhen. (Um diesem Problem<br />
entgegenzuwirken <strong>und</strong> in der Hoffnung, bei ihren kleinen Patienten<br />
positive Reaktionen hervorzurufen, verbinden moderne<br />
Kinderärzte die Behandlung oft mit Gesprächen oder kleinen<br />
Belohnungen.)<br />
Watsons Arbeiten über klassisches Konditionieren legten die<br />
Gr<strong>und</strong>lage für Behandlungsverfahren, die auf dem entgegengesetzten<br />
Prozess beruhen – der Dekonditionierung oder Löschung<br />
von Furcht. Ein Student von Watson (Jones 1924) behandelte den<br />
zwei Jahre alten Peter, der sich entsetzlich vor weißen Kaninchen<br />
fürchtete (wie auch vor weißen Ratten, weißen Pelzmänteln, weißen<br />
Federn <strong>und</strong> einer Vielzahl anderer weißer Dinge). Um die<br />
Furchtkonditionierung zu löschen, gab ihm der Versuchsleiter<br />
zuerst einen kleinen Leckerbissen, den er besonders mochte.<br />
Während Peter aß, wurde ein Kaninchen in einem Käfig ganz<br />
langsam nach <strong>und</strong> nach näher zu ihm gebracht, aber nie so nah,<br />
dass er Angst bekam. Nachdem er das gefürchtete Objekt wiederholt<br />
in einem Kontext erlebte, der ihm selbst keine Angst machte,<br />
sondern eine positive Erfahrung mit einem Leckerbissen bedeutete,<br />
überwand Peter seine Furcht. Schließlich schaffte er es sogar,<br />
das Kaninchen zu streicheln. Dieser Ansatz – heute als systematische<br />
Desensibilisierung bekannt – wurde häufig angewandt,<br />
um Menschen von Ängsten <strong>und</strong> Phobien vor allem Möglichen<br />
zu befreien, von H<strong>und</strong>en bis zu Zahnärzten.<br />
Systematische Desensibilisierung – Eine Therapieform, die auf dem klassischen<br />
Konditionieren aufbaut. Dabei werden positive Reaktionen nach <strong>und</strong><br />
nach auf Reize konditioniert, die anfänglich eine sehr negative Reaktion hervorgerufen<br />
haben. Dieser Ansatz erweist sich insbesondere bei der Behandlung<br />
von Ängsten <strong>und</strong> Phobien als nützlich.<br />
In dem Glauben, er habe die Macht des Lernens bei der Entwicklung<br />
bewiesen, übertrug Watson den Eltern die gesamte Verantwortung<br />
für die <strong>Kindes</strong>entwicklung. In seinem Handbuch der<br />
Kindererziehung (Watson 1928), das schon ein Jahr nach der<br />
Veröffentlichung in deutscher Übersetzung unter dem Titel Psychische<br />
Erziehung <strong>im</strong> frühen <strong>Kindes</strong>alter (1929) erschien, gab er<br />
den Eltern strenge Anweisungen. Ein Element seiner Ratschläge,<br />
das in den USA größtenteils übernommen wurde, bestand darin,<br />
Säuglinge nach einem strengen Zeitplan zu füttern. Die Idee war,<br />
dass das Baby darauf konditioniert würde, die Nahrungszufuhr<br />
in regelmäßigen Intervallen zu erwarten, <strong>und</strong> deshalb in der<br />
Zwischenzeit nicht mehr schreien würde. Um diese <strong>und</strong> andere<br />
strenge Maßnahmen durchzuführen, empfahl Watson den Eltern,<br />
<strong>im</strong> Umgang mit ihrem Nachwuchs zu einer distanzierten<br />
<strong>und</strong> objektiven Haltung zu gelangen (so wie er die Psychologen<br />
ermahnte, bei ihrer Forschung objektiv zu sein):<br />
» Behandeln Sie sie, als wären sie junge Erwachsene. Kleiden<br />
<strong>und</strong> baden Sie sie umsichtig. Seien Sie in Ihrem Verhalten<br />
stets objektiv <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich-fest. Umarmen oder küssen<br />
Sie sie niemals, <strong>und</strong> nehmen Sie sie niemals auf den Schoß.<br />
Wenn es denn unbedingt sein muss, küssen Sie sie be<strong>im</strong><br />
Gute-Nacht-Sagen einmal auf die Stirn. Geben Sie ihnen am<br />
Morgen die Hand. Tätscheln Sie ihren Kopf, wenn sie bei einer<br />
schwierigen Aufgabe in außergewöhnlicher Weise ganze<br />
Arbeit geleistet haben. Probieren Sie es aus. Innerhalb einer<br />
Woche werden Sie herausfinden, wie leicht es ist, Ihrem Kind<br />
gegenüber vollkommen objektiv <strong>und</strong> gleichzeitig fre<strong>und</strong>lich<br />
zu sein. Sie werden sich abgr<strong>und</strong>tief schämen für die rührseligen,<br />
sent<strong>im</strong>entalen Umgangsweisen, die Sie bisher praktiziert<br />
haben (Watson 1929, S. 81 f.).<br />
Watsons übertrieben strenge Ratschläge zur Kinderziehung<br />
verloren allmählich an Popularität, als 1946 in den USA Dr.<br />
Spock’s Baby and Child Care erschien <strong>und</strong> breite Zust<strong>im</strong>mung<br />
fand. (Benjamin Spocks Denkweise war sehr stark von Freud<br />
beeinflusst. Sein Werk wurde in viele Sprachen übersetzt <strong>und</strong><br />
erschien 1958 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Säuglings-<br />
<strong>und</strong> Kinderpflege.) Andererseits blieb Watsons behavioristische<br />
Betonung der Umwelt als entscheidendem verhaltensbest<strong>im</strong>mendem<br />
Faktor weiterhin über das Werk von B. F. Skinner<br />
präsent.
Lerntheorien<br />
323 9<br />
Das operante Konditionieren von Skinner<br />
Burrhus F. Skinner (1904–1990) vertrat genauso strikt wie Watson<br />
die Meinung, dass die Umwelt das Verhalten steuert. Er behauptete<br />
einmal sogar, dass ein Mensch nicht auf die Umwelt<br />
einwirkt, sondern dass die Umwelt auf den Menschen einwirkt<br />
(Skinner 1971, S. 211). Wie in ▶ Kap. 5 beschrieben, lautet eine<br />
wichtige Gr<strong>und</strong>überzeugung in Skinners Theorie des operanten<br />
Konditionierens, dass wir dazu neigen, Verhaltensweisen zu wiederholen,<br />
die zu günstigen Ergebnissen (Verstärkung) führen,<br />
<strong>und</strong> jene zu unterdrücken, die zu ungünstigen Ergebnissen (Bestrafung)<br />
führen. Skinner glaubte, dass alles, was wir <strong>im</strong> Leben<br />
tun – jede einzelne Handlung –, eine operante Reaktion ist, die<br />
von den Folgen früheren Verhaltens beeinflusst sei.<br />
darin, dieses Verhalten <strong>im</strong>mer, wenn es auftritt, zu ignorieren.<br />
Die Auszeit oder zeitweilige Isolierung (aufs Z<strong>im</strong>mer, vor die<br />
Tür gehen etc.), eine beliebte Strategie des Verhaltensmanagements,<br />
enthält den systematischen Entzug von Aufmerksamkeit,<br />
wodurch die Verstärkung für unangemessenes Verhalten aus<br />
der Situation entfernt wird, <strong>und</strong> zwar mit dem Ziel, das Verhalten<br />
zu löschen.<br />
Als der Sohn eines der Autoren, noch <strong>im</strong> Kleinkindalter,<br />
sein erstes „Bett für einen großen Jungen“ bekam, stand er <strong>im</strong>mer<br />
wieder auf <strong>und</strong> musste erneut zu Bett gebracht werden;<br />
er gebrauchte einen Vorwand nach dem anderen, um zu seinen<br />
Eltern zurückzukehren. Innerhalb weniger Nächte schaffte<br />
sein Vater es, dieses unerwünschte Verhalten abzustellen: Er<br />
setzte sich auf einen Stuhl gleich neben der Schlafz<strong>im</strong>mertür,<br />
<strong>und</strong> jedes Mal, wenn das Kind erschien, brachte er den Jungen<br />
fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> sanft, aber entschieden <strong>und</strong> schweigend, ins Bett<br />
zurück. Der Schlüssel zu dieser erfolgreichen Intervention bestand<br />
darin, dass es für das Aus-dem-Bett-Aufstehen keinerlei<br />
Belohnung gab – kein Gespräch, kein Gezeter, keinen Schluck<br />
Wasser, keine Interaktion welcher Art auch <strong>im</strong>mer – kurz gesagt,<br />
keinen der wirksamen Verstärker, die elterliche Aufmerksamkeit<br />
liefert.<br />
Eine zweite wichtige Entdeckung besteht in der großen<br />
Schwierigkeit, Verhaltensweisen zu löschen, die intermittierend<br />
verstärkt wurden; das bedeutet, dass auf das Verhalten manchmal<br />
eine Belohnung folgt <strong>und</strong> manchmal nicht. Skinner entdeckte in<br />
seinen Forschungen an Tieren, dass intermittierende Verstärkung<br />
Verhaltensweisen gegen Löschung <strong>im</strong>munisiert: Wird die<br />
gelegentliche Belohnung nach der intermittierenden Verstärkung<br />
vollständig entzogen, bleibt das Verhalten länger bestehen als bei<br />
vorausgehender kontinuierlicher Verstärkung. Wenn ein Verhalten<br />
nicht konsequent jedes Mal belohnt wird, wird die Wirkung<br />
bei einem Tier darauf hinauslaufen, dass es die Erwartung der<br />
Belohnung nicht so leicht aufgibt <strong>und</strong> mit diesem Verhalten be<strong>im</strong><br />
nächsten Mal die Belohnung zu erreichen versucht.<br />
Intermittierende Verstärkung – Inkonsequentes Reagieren auf das Verhalten<br />
eines anderen Menschen, indem man beispielsweise ein unerwünschtes Verhalten<br />
manchmal bestraft <strong>und</strong> manchmal ignoriert.<br />
..<br />
Burrhus F. Skinner nahm an, dass die Entwicklung von Kindern pr<strong>im</strong>är<br />
eine Frage ihrer Verstärkungsgeschichte sei. In einer Liste der 100 wichtigsten<br />
Menschen der Menschheitsgeschichte, aufgestellt von einer populären<br />
Zeitschrift, erschien er einmal auf dem 40. Platz. (© Corbis)<br />
Skinners Forschungen über das Wesen <strong>und</strong> die Funktion der<br />
Verstärkung führte zu vielen Entdeckungen; zwei davon sind<br />
für Eltern <strong>und</strong> Lehrer besonders interessant. Erstens kann Aufmerksamkeit<br />
als solche einen wirksamen Verstärker darstellen:<br />
Kinder tun Dinge oft allein nur deshalb, um Aufmerksamkeit<br />
zu bekommen (Skinner 1953, S. 78). Die beste Strategie, um<br />
Kinder von weiteren Wutausbrüchen abzuhalten, besteht also<br />
Zum Nachteil ihrer Erziehungsziele setzen Eltern oft unbeabsichtigt<br />
intermittierende Verstärker ein. Sie versuchen tapfer,<br />
die heulend oder aggressiv vorgetragenen Forderungen <strong>und</strong><br />
Wünsche ihrer Kinder nicht zu belohnen, aber manchmal geben<br />
sie – aus reiner Menschlichkeit – dann doch nach. Solche intermittierende<br />
Verstärkung wirkt sich sehr nachhaltig aus: Selbst<br />
wenn ein Elternteil, der gelegentlich be<strong>im</strong> Heulen des <strong>Kindes</strong><br />
nachgegeben hat, dies niemals wieder tut, würde das Kind dennoch<br />
lange Zeit <strong>im</strong>mer wieder zum Mittel des Weinens zurückgreifen<br />
in der Annahme: Was in der Vergangenheit funktionierte,<br />
sollte auch zukünftig wieder funktionieren. Diese Wirkung der<br />
intermittierenden Verstärkung ist eine Ursache dafür, warum die<br />
meisten Eltern Kinder haben, die zumindest ein paar anhaltende<br />
schlechte Gewohnheiten besitzen. Im oben beschriebenen Beispiel<br />
des <strong>Kindes</strong>, das <strong>im</strong>mer wieder aus seinem Bett aufstand,<br />
war das Verhalten des Vaters teilweise deswegen wirksam, weil<br />
es unbeirrbar war.
324<br />
Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
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Das Aussch<strong>im</strong>pfen eines <strong>Kindes</strong> hat zum Ziel, das Kind dazu zu bringen,<br />
mit etwas aufzuhören, das der Elternteil missbilligt, aber es ist auch eine Art<br />
von Aufmerksamkeit gegenüber dem Kind, die unerwünschte Verhaltensweisen<br />
verstärkt oder dazu beiträgt, dass diese fortbestehen. (© Stockdisc<br />
Premium/Getty Images)<br />
Skinners Arbeiten über die Verstärkung führten zu der Therapieform<br />
der Verhaltensmodifikation, die sich bei der Veränderung<br />
unerwünschter Verhaltensweisen als hilfreich erwiesen<br />
hat. Ein einfaches Beispiel für diesen Ansatz betraf ein Vorschulkind,<br />
das zu häufig allein vor sich hin spielte. Beobachter<br />
stellten fest, dass die Betreuungspersonen unwillentlich das<br />
Rückzugsverhalten des Jungen verstärkten: Sie sprachen mit<br />
ihm <strong>und</strong> trösteten ihn, wenn er allein war, aber schenkten ihm<br />
meistens keine Beachtung mehr, wenn er mit anderen Kindern<br />
spielte. Das Rückzugsverhalten des <strong>Kindes</strong> wurde verändert,<br />
indem die Verstärkungskontingenzen umgekehrt wurden: Die<br />
Erzieherinnen schenkten dem Jungen nun <strong>im</strong>mer dann Aufmerksamkeit,<br />
wenn er sich einer Gruppe anschloss, <strong>und</strong> ignorierten<br />
ihn, wenn er sich zurückzog. Bald verbrachte das Kind<br />
den größten Teil seiner Zeit <strong>im</strong> Spiel mit seinen Klassenkameraden<br />
(Harris et al. 1967).<br />
Verhaltensmodifikation – Eine Therapieform, die auf Prinzipien des operanten<br />
Konditionierens beruht. Dabei werden Verstärkungskontingenzen verändert,<br />
um ein angepassteres Verhalten zu fördern.<br />
Die Theorie des sozialen Lernens<br />
Die Theorie des sozialen Lernens versucht wie andere Lerntheorien<br />
auch, die Persönlichkeit <strong>und</strong> andere Aspekte der sozialen<br />
Entwicklung anhand von Lernmechanismen zu erklären.<br />
Um den Einfluss der Umwelt auf die Entwicklung von Kindern<br />
abzuschätzen, betonen soziale Lerntheorien jedoch Beobachtung<br />
<strong>und</strong> Nachahmung – <strong>und</strong> weniger die Verstärkung – als<br />
hauptsächliche Entwicklungsmechanismen. Albert Bandura<br />
(1977, 1986) zum Beispiel behauptet, dass der größte Teil des<br />
menschlichen Lernens dem Wesen nach sozialer Natur ist <strong>und</strong><br />
auf der Beobachtung des Verhaltens anderer Menschen beruht.<br />
Kinder lernen am schnellsten <strong>und</strong> wirksamsten, indem sie einfach<br />
zuschauen, was andere Menschen machen, <strong>und</strong> sie dann<br />
<strong>im</strong>itieren. Verstärkung kann zwar die Wahrscheinlichkeit der<br />
Imitation erhöhen, ist aber zum Lernen nicht notwendig. Weil<br />
Lernen keine unmittelbare Verstärkung erfordert, können Kinder<br />
auch von symbolischen Modellen lernen, also aus dem, was<br />
sie in Büchern lesen oder in Filmen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Fernsehen sehen<br />
(▶ Exkurs 9.1).<br />
Im Laufe der Zeit betonte Bandura <strong>im</strong>mer mehr die kognitiven<br />
Aspekte des Beobachtungslernens <strong>und</strong> bezeichnete seinen<br />
Ansatz schließlich als „sozial-kognitive Lerntheorie“. Das Beobachtungslernen<br />
hängt eindeutig von gr<strong>und</strong>legenden kognitiven<br />
Prozessen ab: der Aufmerksamkeit auf das Verhalten anderer, der<br />
Encodierung des Beobachteten, der Speicherung der Information<br />
<strong>im</strong> Gedächtnis <strong>und</strong> ihrem Abruf zu einem späteren Zeitpunkt,<br />
um das zuvor beobachtete Verhalten zu reproduzieren. Dank des<br />
Beobachtungslernens wissen viele Kinder bereits einiges über<br />
Tätigkeiten wie Autofahren – den Schlüssel ins Zündschloss stecken,<br />
aufs Gaspedal treten, das Lenkrad drehen –, lange bevor<br />
sie sich selbst hinter das Steuer setzen dürfen.<br />
Anders als die meisten anderen Lerntheoretiker betonte Bandura<br />
die aktive Rolle von Kindern bei ihrer eigenen Entwicklung<br />
<strong>und</strong> beschrieb Entwicklung als einen reziproken Determinismus<br />
von Kindern <strong>und</strong> ihrer sozialen Umgebung. Der diesem<br />
Konzept zugr<strong>und</strong>e liegende Gedanke besteht darin, dass jedes<br />
Kind zunächst aufgr<strong>und</strong> charakteristischer Eigenschaften nach<br />
best<strong>im</strong>mten Arten von Wechselwirkungen mit der Außenwelt<br />
strebt, dann aber diese Interaktionen auf das Kind zurück wirken<br />
<strong>und</strong> so beeinflussen, welcher Art von Interaktionen das Kind<br />
künftig anstrebt. Dieses Konzept illustriert . Abb. 9.1, in der dargestellt<br />
wird, wie die aggressiven Neigungen eines <strong>Kindes</strong> seine<br />
Spielkameraden beeinflussen <strong>und</strong> wie es wiederum dadurch geformt<br />
wird, wie diese Spielkameraden reagieren.<br />
Reziproker Determinismus – Nach Bandura die Wechselbeziehung zwischen<br />
Kindern <strong>und</strong> ihrer Umwelt, die Veränderungen auf beiden Seiten best<strong>im</strong>mt:<br />
Kinder werden durch ihre jeweilige Umgebung beeinflusst, haben zugleich<br />
aber auch umgekehrt Einfluss auf diese Umgebung.<br />
Bandura betonte auch die Bedeutsamkeit eines kognitiven Faktors,<br />
den er wahrgenommene Selbstwirksamkeit nannte – die<br />
Selbsteinschätzung eines Menschen, wie wirksam er oder sie<br />
das eigene Verhalten, die Gedanken <strong>und</strong> Gefühle kontrollieren<br />
kann, um gewünschte Ziele zu erreichen (Bandura 1997; Bandura<br />
et al. 2003). So hängt die wahrgenommene Selbstwirksamkeit der<br />
Affektregulierung damit zusammen, wie gut man <strong>im</strong> Leben mit<br />
seinen Gefühlen umgehen kann. Im Hinblick auf positive Affekte<br />
gehört zur wahrgenommenen Selbstwirksamkeit beispielsweise<br />
das Gefühl, Zuneigung zu einem anderen Menschen ausdrücken<br />
<strong>und</strong> darin Erfüllung finden zu können. Im Hinblick auf negative<br />
Affekte gehört dazu, wie gut man nach eigener Einschätzung bei<br />
Bedrohungen <strong>und</strong> Provokationen mit Angst <strong>und</strong> Wut umgehen<br />
<strong>und</strong> Ruhe bewahren kann. Die wahrgenommene Selbstwirksamkeit<br />
in Bezug auf schulische Leistungen betrifft die Fähigkeit, wie<br />
gut Schüler ihre Lernanstrengungen regulieren, ihr Lernpensum
Lerntheorien<br />
325 9<br />
Exkurs 9.1: Näher betrachtet: Bandura <strong>und</strong> die Stehaufpuppe | |<br />
Eine Reihe klassischer Untersuchungen<br />
von Albert Bandura <strong>und</strong> seinen Mitautoren<br />
(Bandura 1965; Bandura et al. 1963) vermittelt<br />
eine gute Vorstellung von den Fragestellungen<br />
<strong>und</strong> Methoden, die für Forschungsarbeiten<br />
<strong>im</strong> Rahmen der sozialen Lerntheorien typisch<br />
sind. Die Forscher fingen damit an, dass sie<br />
Kindern <strong>im</strong> Vorschulalter einzeln einen kurzen<br />
Film zeigten, in dem ein erwachsenes Modell<br />
eine große aufblasbare Stehaufpuppe ungewöhnlich<br />
gewaltsam behandelte. (Wie auf den<br />
Fotos zu sehen, richtet sich die Puppe <strong>im</strong>mer<br />
wieder auf, wenn sie an- beziehungsweise umgestoßen<br />
wird, weil sich in ihrem unteren Teil<br />
ein Gewicht befindet.) Das Modell boxte die<br />
Puppe, schlug sie mit einem Holzhammer <strong>und</strong><br />
rief dabei „sockeroo“, warf mit Bällen nach ihr,<br />
wobei es „bang, bang“ schrie, <strong>und</strong> so weiter.<br />
In einer Untersuchung beobachteten drei<br />
Gruppen von Kindern, wie das Modell<br />
jeweils verschiedene Konsequenzen seines<br />
aggressiven Verhaltens erlebte. Ein Drittel<br />
der Kinder sah, wie das Modell belohnt<br />
wurde (ein Erwachsener gab dem Modell<br />
etwas Süßes <strong>und</strong> ein Getränk <strong>und</strong> lobte die<br />
„Meisterleistung“). Ein zweites Drittel sah,<br />
wie das Modell für das aggressive Verhalten<br />
bestraft (ausgesch<strong>im</strong>pft) wurde. In der Version<br />
für die dritte Gruppe erfuhr das Modell<br />
keine Konsequenzen. Die Frage war, ob sich<br />
stellvertretende Verstärkung – die Beobachtung,<br />
wie jemand anders eine Belohnung oder<br />
Bestrafung erhält – darauf auswirken würde,<br />
inwieweit ein Kind später das beobachtete<br />
Verhalten reproduziert. Nachdem es einen der<br />
Filme gesehen hatte, wurde jedes Kind allein<br />
in einem Spielz<strong>im</strong>mer gelassen, in dem sich<br />
die Stehaufpuppe befand. Es wurde versteckt<br />
beobachtet, ob es nachmacht, was es be<strong>im</strong><br />
Modell zuvor beobachtete hatte. Unabhängig<br />
davon, ob ein Kind das Modell nachgemacht<br />
hatte oder nicht, wurden ihm nachher Saft<br />
<strong>und</strong> ein Geschenk angeboten, wenn es alle<br />
Handlungen des Modells nachmachte, an die<br />
es sich erinnern konnte.<br />
Stellvertretende Verstärkung – Die Beobachtung,<br />
wie jemand anders eine Belohnung oder<br />
Bestrafung erhält.<br />
Die Ergebnisse sind in der Grafik dargestellt.<br />
Die Kinder, die eine Bestrafung des Modells gesehen<br />
hatten, <strong>im</strong>itierten das Verhalten seltener<br />
als die Kinder in den beiden anderen Gruppen.<br />
Doch hatten die Kinder aller drei Gruppen aus<br />
der Beobachtung des Modellverhaltens gelernt<br />
<strong>und</strong> konnten sich erinnern, was sie gesehen<br />
hatten; nachdem man ihnen eine Belohnung<br />
versprochen hatte, wenn sie die aggressiven<br />
Handlungen wiederholten, taten sie dies, auch<br />
wenn sie die Handlungen <strong>im</strong> ersten Teil des<br />
Tests nicht spontan ausgeführt hatten.<br />
Ein besonders interessantes Merkmal dieser<br />
Forschungsarbeit waren die auftretenden<br />
Geschlechterunterschiede: Jungen waren<br />
gegenüber der Puppe körperlich aggressiver<br />
als Mädchen. Die Mädchen hatten jedoch genauso<br />
viel vom Verhalten des Modells gelernt<br />
wie die Jungen, was sich an ihrer erhöhten<br />
Nachahmungsrate zeigt, nachdem ihnen<br />
eine Belohnung versprochen worden war.<br />
Wahrscheinlich lernen Jungen <strong>und</strong> Mädchen<br />
generell viel darüber, welche Verhaltensweisen<br />
für beide Geschlechter als angemessen<br />
betrachtet werden, aber unterdrücken jene<br />
Verhaltensweisen, die nach ihrer Ansicht für<br />
das eigene Geschlecht unpassend sind.<br />
Diese klassische Forschungsarbeit liefert den<br />
Nachweis, dass Kinder neue Verhaltensweisen<br />
schnell durch Beobachten anderer erwerben<br />
können, dass ihre Tendenz, das Gelernte selbst<br />
zu reproduzieren, davon abhängt, ob das Modell<br />
für die jeweils beobachteten Handlungen<br />
belohnt oder bestraft wurde, <strong>und</strong> dass nicht<br />
notwendigerweise alles, was Kinder aus der<br />
Beobachtung anderer lernen, in ihrem eigenen<br />
Verhalten zutage tritt.<br />
5<br />
..<br />
Die durchschnittliche Anzahl der <strong>im</strong>itierten<br />
aggressiven Handlungen, welche die Kinder<br />
bei einem Modell beobachtet hatten, das für<br />
sein Verhalten belohnt oder bestraft wurde<br />
beziehungsweise keine Konsequenzen erlebte.<br />
In dem Test ohne Anreiz blieben die Kinder einfach<br />
in einem Raum mit der Puppe allein, ohne<br />
best<strong>im</strong>mte Anweisungen zu erhalten. In dem<br />
Test mit positivem Anreiz wurde ihnen eine<br />
Belohnung versprochen, wenn sie das nachmachten,<br />
was sie bei dem Modell beobachtet<br />
hatten. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die<br />
Kinder aus dem Beobachteten lernten <strong>und</strong> dass<br />
sie mehr lernten, als sie in der ersten Testphase<br />
zum Ausdruck brachten. (Nach Bandura 1965)<br />
Mittlere Anzahl der <strong>im</strong>itierten Reaktionen<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
0<br />
Jungen Mädchen Jungen Mädchen Jungen Mädchen<br />
Modell belohnt<br />
Modell bestraft Keine Konsequenzen<br />
Kein Anreiz<br />
Positiver Anreiz
326<br />
Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
1<br />
Exkurs 9.1 (Fortsetzung) | |<br />
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9<br />
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12<br />
..<br />
Diese Fotos zeigen, wie ein Erwachsener eine Reihe aggressiver Handlungen an einer aufblasbaren Stehaufpuppe ausführt. Der Junge, der das<br />
Verhalten des Erwachsenen beobachtet hat, <strong>im</strong>itiert es anschließend, während er sich allein in einem Raum mit der Puppe befindet. Das Mädchen<br />
reproduziert die aggressiven Handlungen des Erwachsenen zunächst nicht, aber nachdem ihm dafür eine Belohnung versprochen wurde, wird es<br />
genauso aggressiv. (© Albert Bandura/Stanford University; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />
13<br />
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23<br />
Verhalten des <strong>Kindes</strong><br />
Kind spielt gern Gewalt enthaltende<br />
Computerspiele.<br />
Bei der Interaktion mit Spielgefährten<br />
spielt das Kind <strong>im</strong>mer öfter solche<br />
Computerspiele.<br />
Die wachsenden Fähigkeiten des <strong>Kindes</strong><br />
führen zu gesteigertem Vergnügen bei<br />
solchen Spielen <strong>und</strong> zu mehr Zeit, die<br />
mit den Computerspielgefährten verbracht<br />
wird, <strong>und</strong> zu weniger Zeit, die<br />
mit anderen Fre<strong>und</strong>en verbracht wird.<br />
Das Kind stumpft gegenüber Gewalt<br />
auch in anderen Kontexten ab <strong>und</strong> wird<br />
weniger empathisch.<br />
Das Kind wird aggressiver gegenüber<br />
seiner Bezugsgruppe, was zur Zurückweisung<br />
durch Kinder führt, die der<br />
Gruppe nicht angehören, <strong>und</strong> dadurch<br />
zu stärkerer Bindung an die<br />
Computerspielgruppe.<br />
Soziale Umwelt<br />
Kind regt Spielgfährten dazu an,<br />
gemeinsam Gewalt enthaltende<br />
Computerspiele zu spielen.<br />
Das Kind <strong>und</strong> die anderen spielen<br />
häufiger Gewaltcomputerspiele.<br />
Das Kind <strong>und</strong> andere Gruppenmitglieder<br />
stumpfen gegenüber<br />
der Gewalt in den Spielen ab.<br />
Das Kind <strong>und</strong> die Computerspielgruppe<br />
ermutigen sich wechselseitig<br />
zu generell aggressiverem Verhalten.<br />
..<br />
Abb. 9.1 Reziproker Determinismus.<br />
Ein hypothetisches Beispiel,<br />
das an einem fiktiven Beispiel zeigt,<br />
wie ein Kind seine soziale Umwelt<br />
beeinflusst <strong>und</strong> zugleich von ihr<br />
beeinflusst wird. (Nach Daten von<br />
Anderson <strong>und</strong> Bushman 2001)
Theorien der sozialen Kognition<br />
327 9<br />
bewältigen <strong>und</strong> ihre eigenen Erwartungen sowie die Erwartungen<br />
anderer Menschen erfüllen können. Ein Mensch mit hoher<br />
Selbstwirksamkeit be<strong>im</strong> Lernen wird beispielsweise seine Umwelt<br />
so gestalten, dass sie effektives Lernen ermöglicht, <strong>und</strong> sich<br />
außerdem Informationen <strong>und</strong> Hilfe von Lehrern, Eltern oder<br />
Schulkameraden holen.<br />
Wahrgenommene Selbstwirksamkeit – Die Einschätzung eines Menschen<br />
zur Wirksamkeit des eigenen Verhaltens, eigener Gedanken <strong>und</strong> Gefühle be<strong>im</strong><br />
Erreichen erwünschter Ziele.<br />
Die wahrgenommene Selbstwirksamkeit folgt oft auf verschiedenen<br />
Gebieten demselben Muster (Bandura et al. 2003). So<br />
haben beispielsweise Jugendliche mit geringer Selbstwirksamkeit<br />
bei der Affektregulierung meist auch eine geringe Selbstwirksamkeit<br />
be<strong>im</strong> Erfüllen der Ausbildungsanforderungen. Mit<br />
anderen Worten, Schüler, denen das Vertrauen in die eigene<br />
Fähigkeit fehlt, ihr Gefühlsleben zu regulieren, halten sich auch<br />
für unfähig, ihre schulischen Leistungen <strong>im</strong> Griff zu behalten.<br />
Sie neigen stärker zu Fehlverhalten (lügen, betrügen, stehlen,<br />
tätlich werden etc.), als es bei höherer wahrgenommener Selbstwirksamkeit<br />
der Fall ist – vermutlich deshalb, weil die Einschätzung,<br />
das eigene Verhalten nicht kontrollieren zu können, auch<br />
die Fähigkeit unterminiert, negativem Gruppendruck zu widerstehen.<br />
In Kürze | |<br />
In Lerntheorien wird angenommen, dass sich die soziale<br />
Entwicklung zu großen Teilen auf das zurückführen lässt,<br />
was Kinder durch ihre Interaktionen mit anderen Menschen<br />
lernen. Frühe Behavioristen wie Watson <strong>und</strong> Skinner<br />
betonten die Verstärkungsgeschichte des Individuums <strong>und</strong><br />
glaubten, dass das Sozialverhalten der Kinder durch das<br />
Muster an Belohnungen <strong>und</strong> Bestrafungen geformt wird,<br />
die sie von anderen erhalten. Soziale Lerntheoretiker, allen<br />
voran Albert Bandura, betonen die Rolle der Kognition be<strong>im</strong><br />
sozialen Lernen <strong>und</strong> stellen fest, dass Kinder sehr viel durch<br />
einfaches Beobachten von Verhalten anderer Menschen<br />
lernen. Das schließt auch Beobachtungen von Verhaltenskonsequenzen<br />
wie <strong>im</strong> Fall des Stehaufpuppen-Exper<strong>im</strong>ents<br />
(▶ Exkurs 9.1) ein, bei dem Belohnungen <strong>und</strong> Bestrafungen<br />
beobachtet wurden. Die wahrgenommene Selbstwirksamkeit<br />
beeinflusst das Verhalten von Kindern in vielerlei Weise,<br />
etwa auch durch ihre Selbsteinschätzung <strong>im</strong> Hinblick auf<br />
die Kontrolle ihrer Gefühle oder schulischen Leistungen.<br />
Lernpsychologische Ansätze haben eine Fülle von therapeutischen<br />
Maßnahmen angeregt, die sich für ein breites<br />
Spektrum von Verhaltensproblemen bei Kindern als nützlich<br />
erwiesen haben.<br />
Aktuelle Perspektiven<br />
Im Gegensatz zu den psychoanalytischen Theorien beruhen<br />
Lerntheorien auf Prinzipien, die aus empirischen Forschungsarbeiten<br />
abgeleitet sind. Infolgedessen treffen sie klare, explizite<br />
Vorhersagen, die sich empirisch prüfen lassen. Unter anderem<br />
deshalb haben sie eine Fülle weiterer Forschungsarbeiten angeregt,<br />
die viel zum Verständnis elterlicher Erziehungspraktiken<br />
<strong>und</strong> des Lernens sozialen Verhaltens in vielen Bereichen beigetragen<br />
haben. Zudem ergaben sich wichtige Anwendungsmöglichkeiten,<br />
zum Beispiel die klinisch-psychologischen Verfahren<br />
zur systematischen Desensibilisierung <strong>und</strong> zur Verhaltensmodifikation.<br />
Die Hauptschwäche des lerntheoretischen Ansatzes<br />
liegt in der fehlenden Berücksichtigung biologischer Einflüsse<br />
<strong>und</strong>, abgesehen von Banduras Theorie, der kognitiven Einflüsse<br />
auf das Verhalten.<br />
Kismets Konstrukteure beherzigten von Anfang an die Lerntheorien<br />
<strong>und</strong> verliehen ihrem Roboter die wichtige Fähigkeit,<br />
das zu lernen, was Menschen ihm vermitteln. Die emotionalen<br />
<strong>und</strong> verbalen Reaktionen von Menschen auf sein Verhalten<br />
lehren Kismet, ob das, was er tut, angemessen ist. Der Roboter<br />
besitzt auch die Fähigkeit, neue Verhaltensweisen zu erwerben,<br />
indem er nachahmt, was er Menschen tun „sieht“ <strong>und</strong> „hört“.<br />
Kismets Fähigkeit, von Menschen zu lernen, ist entscheidend,<br />
um ihn wirklich sozial erscheinen zu lassen. Was müsste Kismet<br />
machen, um so etwas wie wahrgenommene Selbstwirksamkeit<br />
in Banduras Sinn zu entwickeln? Könnte Kismet jemals „einschätzen“,<br />
was er kann <strong>und</strong> was nicht, <strong>und</strong> sein Verhalten danach<br />
ausrichten?<br />
Theorien der sozialen Kognition<br />
Entwicklungstheorien der sozialen Kognition befassen sich mit<br />
der Fähigkeit von Kindern, über Gedanken, Gefühle, Motive<br />
<strong>und</strong> Verhaltensweisen, die sie bei sich <strong>und</strong> anderen Menschen<br />
feststellen, nachzudenken <strong>und</strong> daraus Schlüsse zu ziehen. Kinder<br />
verarbeiten soziale Informationen gleichermaßen aktiv wie<br />
Erwachsene. Sie achten darauf, was andere Menschen tun <strong>und</strong><br />
sagen, <strong>und</strong> sie leiten aus dem, was sie beobachten, permanent<br />
Schlüsse <strong>und</strong> Deutungen ab, oder konstruieren Erklärungen<br />
<strong>und</strong> nehmen Zuschreibungen vor. Sie verarbeiten Informationen<br />
zu eigenem Verhalten <strong>und</strong> eigenen Erfahrungen in vergleichbarer<br />
Weise.<br />
Die Komplexität des kindlichen Denkens <strong>und</strong> Schlussfolgerns<br />
über die soziale Welt hängt mit der Komplexität ihrer allgemeinen<br />
Denkprozesse zusammen <strong>und</strong> ist durch diese begrenzt. So ist es<br />
derselbe Denkapparat, der Rechen- <strong>und</strong> Erhaltungsaufgaben löst<br />
<strong>und</strong> auch mit dem Problem umzugehen weiß, wie man Fre<strong>und</strong>e<br />
gewinnt oder wie man moralische Dilemmas löst. Mit Fortschreiten<br />
der allgemeinen kognitiven Entwicklung verändert sich auch<br />
die Art <strong>und</strong> Weise, wie Kinder über ihre eigene Person <strong>und</strong> andere<br />
Menschen nachdenken. Beides wird zunehmend abstrakter.<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />
Theorien der sozialen Kognition stehen in scharfem Kontrast zu<br />
psychoanalytischen Ansätzen <strong>und</strong> zu den Theorien des sozialen<br />
Lernens, was äußere Einflüsse als gr<strong>und</strong>legende Motoren der<br />
Entwicklung betrifft. Sozial-kognitive Theorien heben den Pro-
328<br />
Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
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zess der Selbstsozialisation hervor – der aktiven Gestaltung der<br />
eigenen Entwicklung. Danach motivieren Annahmen über sich<br />
selbst <strong>und</strong> über andere Menschen die Kinder dazu, best<strong>im</strong>mte<br />
Ziele <strong>und</strong> Normen zu übernehmen, die in der Folge ihr eigenes<br />
Verhalten leiten sollen.<br />
Selbstsozialisation – Die Vorstellung, dass Kinder zum Beispiel durch ihre bevorzugten<br />
Tätigkeiten oder ihre Auswahl von Fre<strong>und</strong>en eine sehr aktive Rolle<br />
bei ihrer eigenen Sozialisation spielen.<br />
Zentrale Entwicklungsfragen<br />
Das aktive Kind ist für Theorien der sozialen Kognition das zentrale<br />
Thema. Ein weiteres wichtiges Thema sind die individuellen<br />
Unterschiede – insbesondere <strong>im</strong> Hinblick auf die vielen Vergleiche<br />
zwischen dem Denken <strong>und</strong> Verhalten von Jungen <strong>und</strong> Mädchen,<br />
zwischen aggressiven <strong>und</strong> nicht aggressiven Kindern <strong>und</strong> so weiter.<br />
Die Frage nach Kontinuität versus Diskontinuität ist in einigen<br />
Stufentheorien wichtig, die auf altersabhängige Veränderungen<br />
<strong>im</strong> kindlichen Denken über die soziale Welt abheben. Demgegenüber<br />
unterstreichen Informationsverarbeitungstheorien die<br />
Kontinuität der Prozesse, die zum sozialen Schlussfolgern gehören.<br />
Beide Typen von Theorien der sozialen Kognition werden<br />
wir <strong>im</strong> Folgenden näher betrachten. Den ersten Typ repräsentiert<br />
Selmans Stufentheorie zur Perspektivenübernahme; den zweiten<br />
Typ repräsentieren Dodges Informationsverarbeitungstheorie<br />
zum sozialen Problemlösen <strong>und</strong> Dwecks attributionstheoretischer<br />
Ansatz zur schulischen Leistungsmotivation.<br />
Selmans Stufentheorie<br />
der Perspektivenübernahme<br />
Bei der Formulierung seiner Theorie der sozialen Kognition konzentrierte<br />
sich Robert Selman (Selman 1980; Yeates <strong>und</strong> Selman<br />
1989) auf die Entwicklung der Perspektivenübernahme – der<br />
Fähigkeit, den Blickwinkel einer anderen Person einzunehmen<br />
<strong>und</strong> über einen Sachverhalt aus der Sicht eines anderen nachzudenken.<br />
Er nahm an, dass eine solche Perspektivenübernahme<br />
notwendig ist, um die Gedanken, Gefühle <strong>und</strong> Motive eines anderen<br />
Menschen zu verstehen.<br />
Perspektivenübernahme – Das Beachten der Perspektive einer anderen Person,<br />
durch das sich Verhalten, Denken <strong>und</strong> Fühlen dieser Person besser verstehen<br />
lässt.<br />
Nach Selman ist die soziale Kognition kleiner Kinder sehr begrenzt,<br />
weil ihnen die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme<br />
fehlt. Wie vor ihm schon Piaget, nahm auch Selman an, dass<br />
Kinder bis zum Alter von sechs Jahren praktisch nicht bemerken,<br />
dass es auch andere Perspektiven als ihre eigene geben könnte; sie<br />
glauben, dass andere in allem genauso denken wie sie selbst. Die<br />
Unfähigkeit, die Sichtweise einer anderen Person zu erkennen,<br />
könnte vielleicht den endlosen Streitereien zwischen Geschwistern<br />
zugr<strong>und</strong>e liegen, die sich in dem bekannten Muster erschöpfen:<br />
„Hab ich nicht“ – „Hast du doch“ – „Hab ich nicht“ – „Doch“.<br />
..<br />
Viele Streitereien unter Kindern entstehen deshalb, weil sie Schwierigkeiten<br />
damit haben, sich bewusst zu machen, dass ein anderer Mensch einen<br />
anderen Standpunkt haben kann als man selbst. (© David Young-Wolff/<br />
Photoedit)<br />
Selman behauptete, dass Kinder in ihrem Denken über andere<br />
Menschen vier zunehmend komplexe <strong>und</strong> abstrakte Phasen<br />
-<br />
durchlaufen.<br />
In Phase 1 (etwa zwischen sechs <strong>und</strong> acht Jahren) bemerken<br />
Kinder, dass andere eine Perspektive einnehmen<br />
können, die von der eigenen abweicht, aber sie führen diese<br />
andere Perspektive darauf zurück, dass diese Person nicht<br />
-<br />
über dieselbe Information verfügt wie sie selbst.<br />
In Phase 2 (acht bis zehn Jahre) erkennen die Kinder nicht<br />
nur, dass andere eine andere Perspektive einnehmen können,<br />
sondern sind auch in der Lage, über die Perspektive<br />
-<br />
der anderen Person nachzudenken.<br />
Erst in Phase 3 (zehn bis zwölf Jahre) können Kinder<br />
systematisch ihre eigene Perspektive mit der von anderen<br />
Menschen vergleichen. In dieser Phase können sie auch die<br />
Perspektive einer dritten Partei einnehmen <strong>und</strong> aus dieser<br />
-<br />
die Sichtweisen der beiden anderen Beteiligten bewerten.<br />
In Phase 4 (ab zwölf Jahre) versuchen die Jugendlichen, die<br />
Perspektive einer anderen Person zu verstehen, indem sie<br />
diese mit einer „Generalisierung anderer Perspektiven“ vergleichen,<br />
um einzuschätzen, ob die Sichtweise einer Person
Theorien der sozialen Kognition<br />
329 9<br />
mit der Perspektive der meisten Menschen in ihrer sozialen<br />
Gruppe übereinst<strong>im</strong>mt.<br />
Man beachte, dass Kinder in Selmans Phasen der Perspektivenübernahme<br />
bei ihren Schlussfolgerungen <strong>im</strong>mer weniger egozentrisch<br />
werden <strong>und</strong> zunehmend in der Lage sind, mehrere Perspektiven<br />
gleichzeitig zu berücksichtigen (also beispielsweise ihre<br />
eigene, die einer anderen Person <strong>und</strong> die allgemeine Perspektive<br />
der „meisten Menschen“). Diese beiden Veränderungen bei der sozialen<br />
Kognition spiegeln die von Piaget (in ▶ Kap. 4) identifizierten<br />
kognitiven Veränderungen wider. So ist es nicht überraschend,<br />
dass das Voranschreiten von Kindern durch die Selman’schen Phasen<br />
der Perspektivenübernahme stark mit ihrem Durchlaufen der<br />
Stufen Piagets zusammenhängt (Keating <strong>und</strong> Clark 1980).<br />
Dodges Informationsverarbeitungstheorie<br />
des sozialen Problemlösens<br />
Der Informationsverarbeitungsansatz der sozialen Kognition<br />
betont die entscheidende Rolle kognitiver Prozesse für das Sozialverhalten.<br />
Dieser Ansatz lässt sich am Beispiel von Kenneth<br />
Dodges Analyse des kindlichen Einsatzes von Aggression als Problemlösestrategie<br />
illustrieren (Dodge 1986; Dodge et al. 2006).<br />
Dodges Theorie gründete sich ursprünglich auf Untersuchungen,<br />
in denen die Kinder Geschichten hörten, in denen ein Kind unter<br />
den Handlungen eines anderen <strong>Kindes</strong> leidet, dessen Absichten<br />
jedoch in der Situation nicht eindeutig erkennbar ist. In einer Geschichte<br />
zum Beispiel strengt sich ein Kind sehr an, ein Puzzle<br />
zusammenzulegen, <strong>und</strong> ein anderes Kind stößt gegen den Tisch,<br />
sodass die Puzzleteile in der Gegend herumfliegen, <strong>und</strong> sagt lediglich<br />
„hoppla“. Die Kinder sollten sich vorstellen, in dieser Szene<br />
das Opfer zu sein, <strong>und</strong> beschreiben, was sie tun würden <strong>und</strong> warum.<br />
Manche Kinder interpretierten den Stoß gegen das Puzzle als<br />
Missgeschick <strong>und</strong> ignorierten das Ereignis einfach. Andere kamen<br />
zu dem Schluss, dass das andere Kind absichtlich gegen den Tisch<br />
stieß, <strong>und</strong> verkündeten, dass sie einen Weg finden würden, ihm<br />
das he<strong>im</strong>zuzahlen. (Viele waren der Ansicht, dieses Ziel ließe sich<br />
gut erreichen, indem sie dem Täter einen Schlag versetzen.)<br />
Dodge <strong>und</strong> seine Mitarbeiter fanden heraus, dass einige Kinder<br />
einem feindlichen Attributionsfehler unterliegen, also der<br />
falschen allgemeinen Erwartung, dass andere ihnen feindlich gegenüberstehen.<br />
Diese Erwartungsverzerrung bringt die Kinder<br />
dazu, bei der anderen Person in der Szene nach Anzeichen für<br />
feindliche Absichten zu suchen <strong>und</strong> dem Gegenüber den Wunsch<br />
zu unterstellen, ihnen schaden zu wollen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
gelangen sie zu dem Schluss, dass Vergeltung die angemessene<br />
Reaktion auf das Verhalten des anderen <strong>Kindes</strong> darstellt.<br />
Der feindliche Attributionsfehler wird zur sich selbst erfüllenden<br />
Prophezeiung: Die aggressive Vergeltung eines <strong>Kindes</strong> für den<br />
unterstellten feindlichen Akt eines anderen <strong>Kindes</strong> ruft Gegenangriffe<br />
<strong>und</strong> Zurückweisung durch die Bezugsgruppe hervor, was<br />
dem Glauben des <strong>Kindes</strong> an die Feindseligkeit der anderen weitere<br />
Nahrung gibt.<br />
Feindlicher Attributionsfehler – Nach Dodges Theorie die Fehleinschätzung<br />
mehrdeutiger Handlungen anderer durch Unterstellen feindlicher Absichten.<br />
..<br />
Der Junge, dem der andere Junge Milch übergeschüttet hat, scheint<br />
einem feindlichen Attributionsfehler zu unterliegen. Weil er bereitwillig<br />
ann<strong>im</strong>mt, andere Menschen wollten ihm nur schaden, unterstellt er dem anderen<br />
Jungen eine feindselige Absicht, was seinerseits zu einer aggressiven<br />
Reaktion führt. (© Mary Kate Denny/Photoedit)<br />
Dodge wies darauf hin, dass es in Schulen besondere Probleme<br />
be<strong>im</strong> Umgang mit solchen Kindern gibt. Eine verbreitete Strategie<br />
besteht darin, diese Kinder wegen ihres störenden Verhaltens<br />
aus dem regulären Unterricht auszuschließen <strong>und</strong> sie<br />
zusammen mit anderen Störern in spezielle Unterrichtsräume<br />
zu setzen, in denen sie intensiver beaufsichtigt werden können<br />
(Dodge et al. 2007). Aber diese Lösung bringt Kinder mit dem<br />
feindlichen Attributionsfehler zusammen, was andere negative<br />
Folgen verursacht. Erst einmal liefert dies den jungen Leuten den<br />
Beweis <strong>und</strong> bestärkt sie in ihrer falschen Erwartung, von anderen<br />
Feindseligkeit zu erfahren, <strong>und</strong> es eröffnet ihnen die Möglichkeit,<br />
sich gegenseitig in ihren aggressiven Tendenzen zu verstärken.<br />
Zugleich trennt es sie von besser angepassten Gleichaltrigen, von<br />
denen sie gemäßigtere Einstellungen <strong>und</strong> soziale Strategien lernen<br />
könnten.<br />
Feindliche Attributionsfehler entwickeln Kinder aufgr<strong>und</strong><br />
vielfältiger Ursachen. Allerdings ist bemerkenswert, dass Kinder,<br />
die körperlich misshandelt wurden, besonders dazu neigen,<br />
anderen in neutralen Situationen Ärger zuzuschreiben (Pollak<br />
et al. 2000). Möglicherweise führt die Misshandlung dazu, dass<br />
die Kinder potenzielle Hinweise auf Ärger besonders sensibel<br />
wahrnehmen. Beispielsweise können körperlich misshandelte<br />
Kinder Ärger <strong>im</strong> Gesichtsausdruck besser erkennen als nicht<br />
misshandelte, <strong>und</strong> mit welcher Geschwindigkeit sie den Ärger<br />
wahrnehmen, hängt davon ab, wie viel Wut <strong>und</strong> Feindseligkeit<br />
sie selbst erlebt haben (Pollak et al. 2009). Körperlich misshandelte<br />
Kinder haben oft Schwierigkeiten, aus negativen Emotionen<br />
Schlüsse zu ziehen. So zeigte sich in einer entsprechenden Untersuchung,<br />
dass es misshandelten Kindern schwerfiel zu beurteilen,<br />
welche Situationen bei ihren Eltern Wut auslösen – sie vermuteten<br />
ebenso in positiven wie negativen Ereignissen mögliche Ursachen<br />
von elterlichem Ärger (Perlman et al. 2008). Beispielsweise<br />
stuften misshandelte Kinder, denen fiktive Situationen zwischen<br />
Eltern <strong>und</strong> Kindern gezeigt wurden, positive Ereignisse, bei denen<br />
ein Kind mit einem Schulpreis ausgezeichnet wird oder <strong>im</strong><br />
Haus hilft, als potenzielle Anlässe für elterlichen Ärger ein. Die<br />
Neigung, anderen Ärger zu unterstellen (selbst wenn er nicht
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Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
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vorhanden ist), führt nicht selten zu einem feindlichen Attributionsfehler.<br />
(Wir gehen später noch genauer auf die Misshandlung<br />
von Kindern ein.)<br />
Dwecks Theorie der Selbstattribution<br />
<strong>und</strong> Leistungsmotivation<br />
Stellen Sie sich zwei Schülerinnen der zweiten Klasse vor, Diana<br />
<strong>und</strong> Megan, die beide angestrengt an einer Rechenaufgabe arbeiten<br />
<strong>und</strong> bei der Lösung zunächst beide scheitern. Diana findet<br />
diese Aufgabe recht schwierig <strong>und</strong> fühlt sich herausgefordert, die<br />
Lösung zu finden; sie arbeitet beharrlich daran. Megan hingegen<br />
hat Angst <strong>und</strong> untern<strong>im</strong>mt nur einen halbherzigen Versuch, die<br />
Aufgabe zu lösen. Wie erklärt sich dieser Unterschied der Kinder<br />
in ihren Reaktionen auf das anfängliche Scheitern?<br />
Aus der Perspektive der sozialen Kognition nach Carol<br />
Dweck (2006) lässt sich der Unterschied zwischen beiden Reaktionen<br />
einer unterschiedlichen Leistungsmotivation zuschreiben,<br />
also unterschiedlicher Motivation <strong>im</strong> Hinblick auf Lernziele<br />
<strong>und</strong> Leistungserfolge; <strong>im</strong> Fall der Lernziele geht es um die eigenen<br />
Fähigkeiten <strong>und</strong> das Aneignen neuer Inhalte, während es be<strong>im</strong><br />
Leistungserfolg um gute Noten <strong>und</strong> die Fähigkeit zur Vermeidung<br />
negativer Beurteilungen geht. Aus dieser Sicht hält Diana<br />
die Intelligenz für schrittweise veränderbar <strong>und</strong> glaubt, dass sich<br />
Intelligenz durch Anstrengung entwickeln kann. Sie konzentriert<br />
sich auf das Bewältigen, stellt sich Herausforderungen <strong>und</strong> will<br />
Fehlschläge überwinden, <strong>und</strong> sie erwartet ganz allgemein, dass<br />
ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sein werden. Und wirklich<br />
werden ihre vermehrten Anstrengungen <strong>und</strong> ihre Beharrlichkeit<br />
nach einem anfänglichen Fehlschlag ihre weiteren Leistungen<br />
aller Wahrscheinlichkeit nach verbessern.<br />
Megan hingegen hält Intelligenz für eine unveränderbare Gegebenheit<br />
<strong>und</strong> glaubt, dass ihre Intelligenz insgesamt feststeht.<br />
Ihr Ziel ist es, erfolgreich zu sein, <strong>und</strong> solange sie erfolgreich<br />
ist, steht alles zum Besten. Wenn sie jedoch bei irgendetwas versagt,<br />
fühlt sie sich „hilflos“. Nicht erfolgreich zu sein, bereitet ihr<br />
Unbehagen <strong>und</strong> weckt Zweifel an ihren Fähigkeiten <strong>und</strong> ihrem<br />
Selbstwert.<br />
Diesen beiden Mustern der Leistungsmotivation liegen Unterschiede<br />
in der Selbstattribution der Kinder zugr<strong>und</strong>e, insbesondere<br />
be<strong>im</strong> Selbstwertgefühl. Kinder mit einer Hilflosigkeitsorientierung<br />
neigen dazu, ihr Wesen als unveränderlich zu<br />
betrachten <strong>und</strong> ihr Selbstwertgefühl auf das Lob zu gründen, das<br />
sie von anderen Menschen hinsichtlich ihrer Intelligenz, ihrer<br />
Talente <strong>und</strong> der Qualitäten ihrer Persönlichkeit erhalten (oder<br />
nicht erhalten). Um sich wohl in ihrer Haut zu fühlen, suchen<br />
sie sich Situationen aus, in denen sie sich des Erfolgs <strong>und</strong> des Lobes<br />
sicher sein können, <strong>und</strong> sie meiden Situationen, in denen sie<br />
kritisiert werden könnten. Im Unterschied dazu gründet sich die<br />
Selbstachtung von Kindern mit Bewältigungsorientierung mehr<br />
auf die Veränderbarkeit, die sie mit ihren eigenen Anstrengungen<br />
<strong>und</strong> ihren Lernleistungen erreichen, <strong>und</strong> nicht darauf, wie<br />
andere sie einschätzen. Weil sie das Scheitern an einer Aufgabe<br />
nicht mit einer persönlichen Niederlage gleichsetzen, können<br />
Bewältigungsorientierte die Herausforderung eines schwierigen<br />
Problems spannend finden <strong>und</strong> es beharrlich zu lösen versuchen.<br />
Hilflosigkeitsorientierung – Eine allgemeine Tendenz, Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg<br />
unveränderlichen Aspekten des Selbst zuzuschreiben <strong>und</strong> angesichts von Misserfolgen<br />
aufzugeben.<br />
Bewältigungsorientierung – Eine allgemeine Tendenz, Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg<br />
veränderbarem Anstrengungsaufwand zuzuschreiben <strong>und</strong> angesichts von<br />
Misserfolgen beharrlich zu bleiben.<br />
Diese unterschiedlichen Motivationsmuster treten schon in der<br />
Vorschule zutage (Smiley <strong>und</strong> Dweck 1994). Lässt man vier- <strong>und</strong><br />
fünfjährige Kinder wählen, ob sie an einem Puzzle arbeiten wollen,<br />
das sie schon einmal gelöst haben, oder an einem, an dem<br />
sie zuvor gescheitert sind, so bevorzugen manche eindeutig dasjenige,<br />
das sie bereits lösen können, während andere an dem, das<br />
ihnen misslang, weiterarbeiten wollen.<br />
Bei älteren Kindern folgen ihre Selbstsicht <strong>und</strong> ihre Fähigkeiten<br />
einem ähnlichen Muster, aber beides schließt nun komplexere<br />
Begriffe <strong>und</strong> Schlussfolgerungen ein als bei jüngeren Kindern.<br />
Einige Kinder verfügen über etwas, das Dweck <strong>und</strong> ihre<br />
Mitautoren (Cain <strong>und</strong> Dweck 1995; Dweck 1999; Dweck <strong>und</strong><br />
Leggett 1988) als Unveränderbarkeitstheorie der Intelligenz<br />
bezeichnen. Diese Theorie beruht wie Megans Unveränderlichkeitsauffassung<br />
von Intelligenz auf der Überzeugung, dass das<br />
Intelligenzniveau eines Menschen feststeht <strong>und</strong> unveränderbar<br />
ist. Im Lauf der Zeit kommt die Überzeugung hinzu, dass Erfolg<br />
oder Misserfolg in der Schule davon abhängen, wie klug man ist.<br />
Wenn sie ihre eigene Leistung einschätzen, konzentrieren sich<br />
Kinder mit einer Unveränderbarkeitstheorie auf die Ergebnisse<br />
– Erfolg oder Misserfolg – <strong>und</strong> nicht auf die Bemühungen oder<br />
auf das Lernen aus Fehlern. Wenn sie nun einen Fehlschlag erleiden<br />
(so wie das jedem Menschen zuweilen widerfährt), meinen<br />
sie, dass sie nicht besonders klug seien <strong>und</strong> dass sie daran nichts<br />
ändern können. Sie fühlen sich hilflos.<br />
Unveränderbarkeitstheorie – Die Gr<strong>und</strong>annahme, dass das Intelligenzniveau<br />
eines Menschen unveränderbar fixiert ist.<br />
Andere Kinder sind auf eine Veränderbarkeitstheorie abonniert.<br />
Diese Theorie entspricht Dianas Sicht der Intelligenz<br />
<strong>und</strong> geht davon aus, dass Intelligenz veränderbar ist <strong>und</strong> mit<br />
zunehmender Erfahrung wachsen kann. Kinder, die sich an<br />
eine Veränderbarkeitstheorie halten, glauben, dass der Schulerfolg<br />
durch Anstrengung <strong>und</strong> Beharrlichkeit erreichbar ist.<br />
Wenn sie ihre Leistung einschätzen, konzentrieren sie sich auf<br />
das, was sie gelernt haben, selbst wenn sie bei einzelnen Lernaufgaben<br />
gescheitert sind, <strong>und</strong> sie glauben, dass sie es künftig<br />
besser machen können, wenn sie sich mehr Mühe geben. Sie<br />
sind zuversichtlich.<br />
Veränderbarkeitstheorie – Die Gr<strong>und</strong>annahme, dass sich das Intelligenzniveau<br />
eines Menschen verändern lässt <strong>und</strong> nicht fixiert ist.<br />
Was meinen Sie, welcherart Lob <strong>und</strong> Kritik nach dem, was Sie<br />
gerade gelesen haben, diese beiden Muster verstärkt? Die Antwort<br />
hängt vom Schwerpunkt der Rückmeldung ab. Ein Veränderbarkeits-<br />
<strong>und</strong> Bewältigungsmuster wird dadurch verstärkt, dass man<br />
auf die Anstrengung des <strong>Kindes</strong> abhebt <strong>und</strong> es für die Mühe lobt,<br />
die es sich gegeben hat („Da hast du dir aber wirklich Mühe ge-
Theorien der sozialen Kognition<br />
331 9<br />
geben“, „Es gefällt mir, wie du bei der Sache geblieben bist“), eine<br />
Kritik aber an unzureichendem Bemühen festmacht („Das nächste<br />
Mal musst du dich ein bisschen mehr anstrengen“, „Ich glaube,<br />
wenn du dich mehr bemühen würdest, könntest du es besser machen“).<br />
Ein Unveränderbarkeits- <strong>und</strong> Hilflosigkeitsmuster hingegen<br />
wird durch Lob <strong>und</strong> Tadel verstärkt, die sich auf überdauernde<br />
Charakterzüge oder auf das Kind als Ganzes richten („Bei diesen<br />
Aufgaben stellst du dich sehr klug an. Ich bin stolz auf dich“, „In<br />
Mathematik bist du unfähig. Ich bin enttäuscht von dir“).<br />
Haben diese beiden Gr<strong>und</strong>einstellungen konkrete Auswirkungen<br />
in der realen Welt? Diese Frage wurde vor allem in Zusammenhang<br />
mit der mathematischen Bildung untersucht. In<br />
einer wichtigen Untersuchung an städtischen Schulen in New<br />
York untersuchten Dweck <strong>und</strong> ihre Koautoren (Blackwell et al.<br />
2007) die Mathematikleistungen von Siebtklässlern <strong>und</strong> stellten<br />
fest, dass die Schüler mit einer Veränderbarkeitstheorie der Intelligenz<br />
ihre Mathematikleistungen in den beiden folgenden<br />
Schuljahren steigern konnten, während die Siebtklässler mit<br />
Unveränderbarkeitstheorie nur einen flachen Anstieg in der<br />
Leistungskurve erreichten. Später untersuchten sie ein andere<br />
Gruppe von Siebtklässlern mit Unveränderbarkeitstheorie, denen<br />
in acht Interventionssitzungen erläutert wurde, dass sich<br />
die Intelligenz schrittweise verändern lässt – anhand derselben<br />
Konzepte, wie sie in ▶ Kap. 3 vorgestellt wurden: Das Gehirn ist<br />
plastisch <strong>und</strong> verändert sich ständig, Lernen geht mit der Ausbildung<br />
neuer oder stärkerer Verbindungen zwischen Synapsen<br />
einher <strong>und</strong> so weiter. Eine Kontrollgruppe erhielt in den acht<br />
Sitzungen Unterricht in gr<strong>und</strong>legenden Fähigkeiten des Lernens.<br />
Interessanterweise zeigten die Kinder der Interventionsgruppe<br />
positive Veränderungen in der Motivation <strong>und</strong> ebenso in den<br />
Leistungsbewertungen, während die Kinder der Kontrollgruppe<br />
sich in ihren Noten verschlechterten.<br />
Eine weitere Frage betrifft die Auswirkungen der beiden<br />
Einstellungen zur Veränderbarkeit bzw. Unveränderbarkeit von<br />
Intelligenz auf die Entwicklung der Kinder in außerschulischen<br />
Bereichen. Dafür sprechen neuere Untersuchungen von Yeager<br />
et al. (2013). Der oben beschriebene feindliche Attributionsfehler<br />
tritt bei Jugendlichen mit einer Unveränderbarkeitstheorie in<br />
Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale häufiger auf als bei Jugendlichen<br />
mit einer Veränderbarkeitstheorie. Mit anderen Worten,<br />
wenn sie die Verhalten anderer Menschen vor allem auf fixe Persönlichkeitsmerkmale<br />
(eines guten oder schlechten Menschen)<br />
<strong>und</strong> weniger auf die jeweilige Situation oder äußere Umstände<br />
zurückführen, dann deuten sie schädliches Verhalten anderer<br />
tendenziell eher als feindlich <strong>und</strong> weniger als situationsbedingtes<br />
oder versehentliches Verhalten. Wenn dieser Zusammenhang<br />
tatsächlich besteht, dann sollten sich die feindlichen Attributionsfehler<br />
reduzieren lassen, wenn die Jugendlichen mehr über<br />
die Veränderbarkeit der Persönlichkeit lernen. Tatsächlich war<br />
das bei einem Exper<strong>im</strong>ent der Fall, in dem eine Intervention<br />
(eine kurze Einführung in neurowissenschaftliche Konzepte wie<br />
oben beschrieben, jedoch nichts zur feindlichen Absicht) die<br />
Einstellung der Jugendlichen in Richtung Veränderbarkeitstheorie<br />
verschob: Die feindlichen Attributionsfehler nahmen in der<br />
Interventionsgruppe ab. Die innere Einstellung zur den eigenen<br />
Charakterzügen <strong>und</strong> denen anderer haben also wichtigen Einfluss<br />
auf verschiedene Entwicklungsaspekte.<br />
Woher könnten dabei die individuellen Unterschiede bei den<br />
inneren Theorien kommen? Eine mögliche Ursache liegt offensichtlich<br />
bei den Eltern, die oft sehr viel dafür tun, das Selbstwertgefühl<br />
zu stärken. Leider kann etwas, das ganz <strong>und</strong> gar positiv<br />
erscheint – nämlich das Kind zu loben, weil es etwas gut kann<br />
–, auf lange Sicht die Motivation des <strong>Kindes</strong> unterminieren, sich<br />
zu verbessern. Eine zweite mögliche Ursache sind Lehrer. Wie<br />
eine Studie vor kurzem gezeigt hat, können Lehrer mit Unveränderbarkeitstheorie<br />
die Motivation leistungsschwacher Schüler<br />
<strong>und</strong> deren Erwartungen an sich selbst unterminieren, indem sie<br />
tröstende Kommentare geben wie „Es ist ok, nicht jeder kann gut<br />
in Mathematik sein“ (Rattan et al. 2012). Eltern <strong>und</strong> auch Lehrer<br />
sollten sich darüber <strong>im</strong> Klaren sein, dass einige Arten von Lob<br />
förderlich sind, andere nicht.<br />
Aktuelle Perspektiven<br />
Theorien der sozialen Kognition liefern wichtige Beiträge zur<br />
Erforschung der sozialen Entwicklung. Ein Beitrag besteht <strong>im</strong><br />
Aufweis, dass Kinder aktiv Information über die soziale Welt<br />
suchen. Ein weiterer Beitrag liegt in der Erkenntnis, dass die<br />
Wirkung der sozialen Erfahrungen von Kindern davon abhängt,<br />
wie sie diese Erfahrungen interpretieren. Kinder, die einem best<strong>im</strong>mten<br />
sozialen Ereignis andere Ursachen zuschreiben (z. B.,<br />
dass ihnen jemand Schaden zufügen will) oder ein schulisches<br />
Ereignis anders auslegen (z. B., dass sie bei einer Klassenarbeit<br />
schlecht abschneiden), werden auch anders darauf reagieren. Außerdem<br />
haben sehr viele Forschungsbef<strong>und</strong>e die sozial-kognitive<br />
Position untermauert. Zwar liefern diese Theorien ein wirksames<br />
Gegenmittel gegen soziale Theorien, in denen die Kognitionen<br />
der Kinder keine Rolle spielen, aber auch die sozial-kognitiven<br />
Theorien liefern nur unvollständige Erklärungen. Vor allem sagen<br />
sie wenig über die biologischen Faktoren bei der sozialen<br />
Entwicklung aus.<br />
Kismet wurde so entworfen, dass er seine eigene Entwicklung<br />
gestaltet, indem er das Verhalten der Menschen ihm gegenüber<br />
versteht – eine Form der Selbstsozialisation, wie die<br />
Theoretiker der sozialen Kognition sie betonen. Was würde<br />
geschehen, wenn Kismet weiterginge <strong>und</strong> Schlussfolgerungen<br />
aus den Erkenntnissen, Gefühlen <strong>und</strong> Motivationen der anderen<br />
zöge? Wäre es ihm beispielsweise jemals möglich, zwei<br />
Menschen bei gleichem Verhalten Unterschiedliches zu unterstellen,<br />
indem er subtile Aspekte des sozialen Kontexts seiner<br />
Erfahrungen mit diesen Menschen heranzieht? Und könnte er<br />
– noch anspruchsvoller – eines Tages begreifen, dass Menschen<br />
Standpunkte haben, die sich untereinander <strong>und</strong> vom eigenen<br />
Standpunkt unterscheiden? Und kann Kismet letztendlich ein<br />
gewisses Selbstwertgefühl entwickeln, das sich auf seine Selbstzuschreibungen<br />
auswirkt? Diese Fragen über Kismets Potenzial,<br />
soziale Kognition zu <strong>im</strong>itieren, werfen ein Schlaglicht auf die<br />
enorme Komplexität der sozialen Entwicklung des Menschen<br />
<strong>und</strong> insbesondere auch auf die Herausforderung, die eine Theorie<br />
der sozialen Entwicklung stellt.
332<br />
Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
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23<br />
In Kürze | |<br />
Theorien der sozialen Kognition betonen die Rolle kognitiver<br />
Prozesse – Aufmerksamkeit, Wissen, Interpretieren,<br />
Schlussfolgern, Attribuieren, Erklären – bei der sozialen<br />
Entwicklung von Kindern. Ein zentraler Aspekt dieser Theorien<br />
ist die Selbstsozialisation, durch den Kinder ihre eigene<br />
Umwelt aktiv gestalten. Selmans Theorie der Perspektivenübernahme<br />
geht davon aus, dass Kinder <strong>im</strong> Hinblick auf<br />
ihre Fähigkeit zu verstehen, dass andere Menschen andere<br />
Standpunkte haben können, verschiedenen Phasen durchlaufen.<br />
Der Informationsverarbeitungsansatz von Dodge<br />
bezieht sich auf die Untersuchung der Aggression <strong>und</strong> hebt<br />
die Rolle der Deutung des Verhaltens anderer Menschen<br />
hervor. Aggressive Kinder unterliegen häufig dem feindlichen<br />
Attributionsfehler, der generellen Erwartung, dass sich<br />
andere ihnen gegenüber feindselig verhalten werden. Nach<br />
Dwecks Theorie der Leistungsmotivation hängt die Reaktion<br />
von Kindern auf Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg in schulischen<br />
Situationen davon ab, ob sie die Ergebnisse ihren Anstrengungen<br />
zuschreiben (Bewältigungsorientierung) oder ihrer<br />
Intelligenz (Hilflosigkeitsorientierung).<br />
Ökologische Entwicklungstheorien<br />
Wir wenden uns jetzt einer Reihe von Theorien zu, denen gemeinsam<br />
ist, dass sie eine enorme Bandbreite von Kontexten<br />
bei der sozialen Entwicklung <strong>im</strong> Blick haben. Fast alle psychologischen<br />
Theorien, <strong>und</strong> sicherlich alle, die wir <strong>im</strong> vorliegenden<br />
Kapitel bislang behandelt haben, betonen die Rolle der Umwelt<br />
für die Entwicklung des einzelnen <strong>Kindes</strong>. Die „Umwelt“ wird<br />
in vielen dieser Theorien jedoch häufig recht eng ausgelegt <strong>und</strong><br />
betrifft nur den unmittelbaren Kontext – Familie, Altersgenossen,<br />
Schule. Die ersten beiden Ansätze, die <strong>im</strong> Folgenden dargestellt<br />
werden – das ethologische <strong>und</strong> das evolutionspsychologische<br />
Modell – setzen die <strong>Kindes</strong>entwicklung mit dem Gesamtkontext<br />
der menschlichen Evolutionsgeschichte in Beziehung. Der dritte<br />
Ansatz – das bioökologische Modell – berücksichtigt mehrere<br />
Ebenen der Umwelteinflüsse, die sich gleichzeitig auf die individuelle<br />
Entwicklung auswirken.<br />
Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />
Ethologische <strong>und</strong> evolutionäre Theorien sehen Kinder als die<br />
Erben genetisch basierter Fähigkeiten <strong>und</strong> Veranlagungen. Der<br />
Schwerpunkt der evolutionspsychologischen Verhaltenstheorien<br />
liegt weitgehend auf Verhaltensaspekten, die eine adaptive Funktion<br />
besitzen oder ehemals besaßen.<br />
Zwar hebt das bioökologische Modell die Kontexteinflüsse<br />
auf die Entwicklung eines <strong>Kindes</strong> hervor, doch betont es auch<br />
die aktive Rolle des <strong>Kindes</strong> bei der Auswahl <strong>und</strong> Beeinflussung<br />
dieser Kontexte. Die persönlichen Eigenschaften von Kindern –<br />
Temperament, intellektuelle Fähigkeiten, Sportlichkeit <strong>und</strong> so<br />
weiter – lassen sie best<strong>im</strong>mte Umgebungen aufsuchen <strong>und</strong> auch<br />
Einfluss auf die Menschen in ihrer Umgebung nehmen.<br />
Zentrale Entwicklungsfragen<br />
Die entwicklungsbezogene Fragestellung, die <strong>im</strong> Mittelpunkt<br />
ökologischer Theorien steht, ist die Wechselwirkung zwischen<br />
Anlage <strong>und</strong> Umwelt. Die Bedeutung des soziokulturellen Kontexts<br />
<strong>und</strong> der Kontinuität von Entwicklung sind weitere <strong>im</strong>plizite<br />
Schwerpunkte aller dieser Theorien. Auch die aktive Rolle des<br />
<strong>Kindes</strong> bei seiner eigenen Entwicklung steht <strong>im</strong> Zentrum des<br />
Interesses, insbesondere be<strong>im</strong> bioökologischen Ansatz.<br />
Ethologische <strong>und</strong> evolutionsbezogene<br />
Theorien<br />
Ethologische <strong>und</strong> evolutionsbezogene Theorien befassen sich mit<br />
Aspekten der menschlichen Entwicklung, die gemeinhin dem<br />
evolutionären Erbe zugeschrieben werden. Solche Theorien konzentrieren<br />
sich hauptsächlich auf artspezifisches Verhalten.<br />
Ethologie<br />
Die Ethologie untersucht das Verhalten in einem evolutionären<br />
Kontext <strong>und</strong> versucht es mit Blick auf seinen adaptiven Wert<br />
(seinen Überlebenswert) zu verstehen. Ethologen betrachten eine<br />
Vielzahl angeborener Verhaltensmuster von Tieren genauso als<br />
Ergebnis der Evolution wie ihre körperlichen Merkmale (Crain<br />
1985).<br />
Ethologie – Die Verhaltensforschung, die die evolutionsbiologischen Gr<strong>und</strong>lagen<br />
des Verhaltens untersucht.<br />
Ethologische Ansätze werden häufig auch auf entwicklungsbezogene<br />
Fragen angewandt. Das prototypische <strong>und</strong> bekannteste<br />
Beispiel ist die Verhaltensforschung zur Prägung von Graugänsen<br />
durch Konrad Lorenz (1903–1989), der häufig als der Vater<br />
der modernen Ethologie bezeichnet wird (Lorenz 1935, 1952).<br />
Prägung ist ein Prozess, bei dem frisch geschlüpfte Vögel <strong>und</strong><br />
neugeborene Säugetiere einiger Arten be<strong>im</strong> ersten Anblick an<br />
ihre Mutter geb<strong>und</strong>en werden <strong>und</strong> ihr überallhin folgen; dieses<br />
Verhalten gewährleistet, dass sich das Junge <strong>im</strong>mer in der Nähe<br />
einer Schutz- <strong>und</strong> Nahrungsquelle aufhält. Damit Prägung erfolgt,<br />
muss das Junge seiner Mutter in einer sehr frühen kritischen<br />
Phase begegnen.<br />
Prägung – Eine Form des Lernens, die bei manchen Vogel- <strong>und</strong> Säugetierarten<br />
auftritt <strong>und</strong> insbesondere die Bindung an die Mutter unmittelbar nach der<br />
Geburt beeinflusst; bei der Bindungsprägung binden sich die Neugeborenen<br />
fest an einen erwachsenen Vertreter ihrer Art (meistens ihre Mutter) <strong>und</strong> folgen<br />
ihm überall hin.
Ökologische Entwicklungstheorien<br />
333 9<br />
..<br />
Dieses berühmte Foto zeigt Konrad Lorenz (1952) <strong>und</strong> eine Schar von<br />
Graugänsen, die auf ihn geprägt wurden <strong>und</strong> ihm überall hin folgten. Lorenz<br />
entdeckte, dass Stockenten genauer hinsehen: Sie lassen sich nur auf ihn prägen,<br />
wenn er sich hinkauert <strong>und</strong> in dieser Haltung herumkriecht <strong>und</strong> dabei<br />
die st<strong>und</strong>enlang ununterbrochen schnattert. Lorenz war ein hingebungsvoller<br />
Verhaltensforscher. (© Thomas D. McAvoy/Getty Images)<br />
Die Gr<strong>und</strong>lage der Prägung ist nicht die Mutter an sich; vielmehr<br />
sind die Neugeborenen einiger Spezies genetisch prädisponiert,<br />
dem ersten sich bewegenden Objekt mit best<strong>im</strong>mten<br />
Eigenschaften zu folgen, das sie sehen, nachdem sie zur Welt<br />
gekommen sind. Bei Hühnerküken beispielsweise wird die<br />
Prägung speziell durch den Anblick von Kopf <strong>und</strong> Halsbereich<br />
eines Vogels ausgelöst (Johnson 1992). Welchem Objekt das einzelne<br />
Neugeborene gehorsam hinterherlaufen wird, ist somit<br />
eine Frage der Erfahrung; es handelt sich hier um einen Fall<br />
von erfahrungserwartendem Lernen (▶ Kap. 3). Typischerweise<br />
handelt es sich bei dem ersten sich bewegenden Objekt, das<br />
ein Küken sieht, um seine Mutter, sodass sich alles aufs Beste<br />
zusammenfügt.<br />
Menschliche Neugeborene werden nicht „geprägt“; sie besitzen<br />
jedoch starke Tendenzen, die sie zu Mitgliedern der eigenen<br />
Spezies hinziehen. Zu den in ▶ Kap. 5 genannten Beispielen gehört<br />
eine angeborene visuelle Bevorzugung von Gesichtern, die<br />
sich, näher betrachtet, als ein Hingezogensein zu Gesichtskonturen<br />
erweist, deren obere Hälfte ausdifferenzierter ist. Selbst wenn<br />
es sich nicht um ein spezifisch menschliches Gesichtsmodell handelt,<br />
veranlasst es das Neugeborene, diesen bedeutungsvollsten<br />
Wesen in der Umwelt Aufmerksamkeit zu schenken. Wie andere<br />
Säugetiere auch orientieren sich menschliche Neugeborene an<br />
Geräuschen, Aromen <strong>und</strong> Düften, die ihnen aus dem Mutterleib<br />
vertraut sind – eine Prädisposition, die sie zu ihrer eigenen Mutter<br />
hinzieht (▶ Kap. 5). Eine der einflussreichsten Anwendungen<br />
der Ethologie auf das menschliche Verhalten, das wir in ▶ Kap. 11<br />
darlegen werden, ist Bowlbys (1969) Erweiterung des Prägungsbegriffs<br />
auf den Vorgang, durch den sich Neugeborene emotional<br />
an ihre Mutter binden.<br />
Ein weiteres Beispiel menschlichen Verhaltens, das man aus<br />
ethologischer Perspektive untersucht hat, sind Unterschiede in<br />
den Spielpräferenzen von Mädchen <strong>und</strong> Jungen. (In ▶ Kap. 15<br />
werden Sie mehr darüber erfahren.) Jungen ziehen es beispielsweise<br />
vor, mit Miniaturfahrzeugen zu spielen (Lastwagen, Autos<br />
etc.), die ein handlungsorientiertes Spielen erfordern, während<br />
Mädchen lieber mit Puppen spielen, was ein begleitendes <strong>und</strong><br />
umsorgendes Spielen erfordert. Die landläufigen Erklärungen für<br />
diese Unterschiede, die aus den Theorien des sozialen Lernens<br />
<strong>und</strong> der sozialen Kognition stammen, behaupten, dass Kinder<br />
(insbesondere Jungen) von ihren Eltern dazu ermutigt werden,<br />
mit „geschlechtsangemessenen“ Spielzeugen zu spielen, <strong>und</strong> dass<br />
die Kinder das tun, weil sie so sein wollen wie ihre Geschlechtsgenossen.<br />
Einige Forscher behaupten allerdings, dass dies nicht die<br />
ganze Wahrheit ist <strong>und</strong> evolutionär herausgebildete Prädispositionen<br />
diese geschlechtsspezifischen Vorlieben bewirken. In einer<br />
Untersuchung dazu blickten neugeborene Mädchen tatsächlich<br />
länger auf soziale St<strong>im</strong>uli – menschliche Gesichter – als auf<br />
nichtsoziale wie etwa Mobiles, während die Jungen die nichtsozialen<br />
St<strong>im</strong>uli bevorzugten (Connellan et al. 2000). Ähnlich<br />
schauten einjährige Jungen einem Video mit fahrenden Autos<br />
länger zu als einem menschlichen Gesicht mit lebhafter M<strong>im</strong>ik,<br />
während die Mädchen das Gesicht bevorzugten (Lutchmaya <strong>und</strong><br />
Baron-Cohen 2002).
334<br />
Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
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Evolutionspsychologisch betrachtet haben Geschlechterunterschiede <strong>im</strong> Spielverhalten ihren Ursprung wahrscheinlich in der Entwicklungsgeschichte der<br />
menschlichen Spezies. Jungen sind stärker zu Dominanzverhalten prädisponiert <strong>und</strong> Mädchen stärker zu Fürsorgeverhalten. (Fotos: Bernadette Berg)<br />
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Evolutionspsychologie<br />
Die Evolutionspsychologie ist ein relativ neues Teilgebiet der<br />
Psychologie, das der Ethologie eng verwandt ist; sie wendet die<br />
Darwin’schen Konzepte der natürlichen Selektion <strong>und</strong> Anpassung<br />
auf das menschliche Verhalten an (Bjorkl<strong>und</strong> 2007; Geary<br />
2009). Die Gr<strong>und</strong>idee dieses Ansatzes besteht darin, dass in der<br />
Evolutionsgeschichte unserer Spezies best<strong>im</strong>mte Gene die Individuen<br />
dafür prädisponierten, sich so zu verhalten, dass sie in ihrer<br />
jeweiligen Umwelt die Adaptationsprobleme (Nahrungsgewinnung,<br />
Abwehr von Raubtieren, Herstellen sozialer Bindungen)<br />
lösen <strong>und</strong> dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöhen konnten, zu<br />
überleben, sich zu paaren <strong>und</strong> fortzupflanzen <strong>und</strong> ihre Gene an<br />
ihren Nachwuchs weiterzugeben. Diese adaptiven Gene verbreiteten<br />
sich zunehmend <strong>und</strong> wurden schließlich an den heutigen<br />
Menschen weitergegeben, sodass viele unserer heutigen Verhaltensweisen<br />
ein Vermächtnis unserer prähistorischen Vorfahren<br />
sind (Geary 2009).<br />
Eines der wichtigsten adaptiven Charakteristika der menschlichen<br />
Spezies – eines, das uns eindeutig von anderen Spezies<br />
unterscheidet – ist die (<strong>im</strong> Vergleich zur Körpergröße) beträchtliche<br />
Größe unseres Gehirns. Dafür handelten sich die Menschen<br />
eine verlängerte Phase der kindlichen Unreife <strong>und</strong> Abhängigkeit<br />
ein. Wir sind eine sich langsam entwickelnde, kopflastige<br />
Spezies (Bjorkl<strong>und</strong> <strong>und</strong> Pellegrini 2002), wie . Abb. 9.2 zeigt. In<br />
▶ Kap. 2 haben wir erwähnt, dass die Größe des weiblichen Beckens<br />
die Größe des menschlichen Gehirns bei der Geburt begrenzt.<br />
Als der heutige Mensch entstand, ermöglichte die Geburt<br />
in einem „unreiferen“ Entwicklungsstadium, als dies für andere<br />
Säugetiere charakteristisch ist, die Vergrößerung des Gehirns.<br />
Diese evolutionären Veränderungen wurden durch wachsende<br />
soziale Komplexität möglich, die notwendig ist, um hochgradig<br />
hilflosen Nachwuchs erfolgreich zu versorgen. Eine mit unseren<br />
großen Gehirnen <strong>und</strong> unserer langsamen Entwicklung zusammenhängende<br />
Folge ist unser arttypisch hohes Niveau der neuralen<br />
Plastizität, die unsere beispiellose Kapazität unterstützt,<br />
aus Erfahrungen zu lernen. Bjorkl<strong>und</strong> (1997) beleuchtete die<br />
adaptiven Vorteile unserer verlängerten Unreife <strong>und</strong> wies darauf<br />
hin, dass<br />
Gehirngröße (ml)<br />
1,300<br />
Menschen<br />
1,200<br />
1,100<br />
1,000<br />
900<br />
800<br />
700<br />
600<br />
Gorillas<br />
500<br />
Orang-Utans<br />
400<br />
300<br />
Sch<strong>im</strong>pansen<br />
200<br />
100<br />
Rhesusaffen<br />
Gibbons<br />
Lemuren<br />
0<br />
0 2 4 6 8 10 12 14<br />
Jugendphase in Jahren<br />
..<br />
Abb. 9.2 Vergleich der Gehirngrößen von Pr<strong>im</strong>aten <strong>und</strong> Mensch. Menschen<br />
sind <strong>im</strong> Vergleich zu anderen Pr<strong>im</strong>aten eine sich langsam entwickelnde,<br />
kopflastige Spezies. Je größer das Gehirn der unterschiedlichen Pr<strong>im</strong>aten<br />
ist, desto länger dauert ihre Entwicklung bis zur Geschlechtsreife. (Nach<br />
Bonner 1988)<br />
» eine verlängerte Kindheit mehr als für jede andere Spezies für<br />
Menschen notwendig ist, [die] durch Gewitztheit überleben<br />
müssen; menschliche Gemeinschaften sind komplexer <strong>und</strong><br />
verschiedenartiger als die Gemeinschaften aller anderen<br />
Arten, <strong>und</strong> dies erfordert bei Menschen nicht nur eine flexible<br />
Intelligenz, um die Konventionen ihrer jeweiligen Gesellschaft<br />
zu lernen, sondern auch viel Zeit (Bjorkl<strong>und</strong> 1997, S. 153).<br />
Viele Evolutionspsychologen sehen <strong>im</strong> Spiel, das bei den meisten<br />
Säugern zu den hervorstechendsten Verhaltensformen während<br />
der Unreifephase gehört, eine evolutionär entstandene Bühne<br />
des Lernens (Bjorkl<strong>und</strong> <strong>und</strong> Pellegrini 2002). Kinder entwickeln<br />
motorische Fertigkeiten, wenn sie mit anderen um die Wette<br />
laufen oder balgen, wenn sie Bälle oder Spielzeugpfeile werfen<br />
oder einen Fußball ins Tor schießen. Sie erproben <strong>und</strong> üben eine
Ökologische Entwicklungstheorien<br />
335 9<br />
Leibliche Väter<br />
Stiefväter<br />
500<br />
500<br />
Jährliche Mordopfer pro Million<br />
zusammenlebender Eltern-Kind-Paare<br />
400<br />
300<br />
200<br />
100<br />
400<br />
300<br />
200<br />
100<br />
0<br />
0<br />
0–2 3–5 6–8 9–11 12–14 15–17 0–2 3–5 6–8 9–11 12–14 15–17<br />
Alter des <strong>Kindes</strong> (in Jahren)<br />
..<br />
Abb. 9.3 Geschätzte Häufigkeiten von <strong>Kindes</strong>tötungen durch Stiefväter <strong>im</strong> Vergleich zu leiblichen Vätern in Kanada von 1974 bis 1990. Es wird in schockierender<br />
Weise deutlich, dass Kinder, insbesondere in sehr jungem Alter, mit weit höherer Wahrscheinlichkeit vom Stiefvater ermordet werden als von ihrem<br />
leiblichen Vater. (Nach Daly <strong>und</strong> Wilson 1996)<br />
Vielzahl sozialer Rollen (▶ Kap. 7), indem sie nachspielen, was<br />
es für sie heißt, beispielsweise ein Vater, eine Mutter oder ein<br />
Polizist zu sein. Einer der größten Vorzüge des Spieles besteht<br />
darin, dass Kinder in einer weitgehend folgenlosen Situation exper<strong>im</strong>entieren<br />
können; niemandem geschieht Arges, wenn eine<br />
Babypuppe aus Versehen auf den Kopf fällt oder man mit einer<br />
Spielzeugpistole auf einen Bösewicht zielt.<br />
Um von ihrer verlängerten Kindheit zu profitieren, müssen<br />
die Kinder diese Unreifephase überleben; ihre ges<strong>und</strong>e Entwicklung<br />
erfordert, dass Eltern einen enormen Aufwand an Zeit,<br />
Energie <strong>und</strong> Ressourcen aufwenden (Bjorkl<strong>und</strong> 2007). Warum<br />
sind Eltern bereit, so viel für das Wohl ihres Nachwuchses zu<br />
opfern? Nach der Theorie der elterlichen Investition (Trivers<br />
1972) liegt eine pr<strong>im</strong>äre Motivationsquelle darin, dass die Eltern<br />
so ihre Gene <strong>im</strong> menschlichen Genpool erhalten können: Nur<br />
dann, wenn ihr Nachwuchs lange genug überlebt, werden die<br />
Gene an die nächste Generation weitergegeben.<br />
Theorie der elterlichen Investition – Eine Theorie, welche die evolutionäre<br />
Gr<strong>und</strong>lage vieler Aspekte des elterlichen Verhaltens betont, einschließlich der<br />
umfangreichen Investitionen von Eltern in ihren Nachwuchs.<br />
Die Theorie der elterlichen Investition verweist auch auf eine potenziell<br />
dunkle Stelle des evolutionären Bildes – den sogenannten<br />
Aschenputtel- oder Cinderella-Effekt. Wie . Abb. 9.3 zeigt, liegen<br />
die Schätzungen, wie oft Stiefväter Kinder töten beziehungsweise<br />
ermorden, mit denen sie zusammenleben, um ein H<strong>und</strong>ertfaches<br />
höher als bei Vätern <strong>und</strong> ihren biologischen Kindern. In<br />
Familien, in denen sowohl leibliche als auch Stiefkinder leben,<br />
richtet sich die Misshandlung von Eltern zudem meist gegen ihre<br />
Stiefkinder (Daly <strong>und</strong> Wilson 1996). Außerdem scheinen Todesfälle<br />
(wie Ertrinken) bei Kindern in Familien mit einem Stiefelter<br />
häufiger aufzutreten als bei Familien mit leiblichen Eltern, was<br />
vermuten lässt, dass Kinder in Stieffamilien weniger sorgsam<br />
behütet werden (Tooley et al. 2006). Sicherlich gibt es viele Faktoren,<br />
die zu diesen Bef<strong>und</strong>mustern beitragen; doch st<strong>im</strong>men<br />
sie mit der Theorie der elterlichen Investition gut überein: Weil<br />
die Elternschaft so aufwendig ist, lohnt es sich aus evolutionärer<br />
Sicht nicht, in Kinder zu investieren, die zur Erhaltung der eigenen<br />
Gene nichts beitragen können.<br />
Aus der evolutionstheoretischen Sicht auf Entwicklung ergibt<br />
sich <strong>im</strong>plizit, dass einschneidende Veränderungen der arttypischen<br />
Umwelt negative Folgen für den Nachwuchs haben könnten.<br />
Es gibt gute Belege für die schädlichen Wirkungen auf die<br />
Entwicklung, die durch Umweltreize bei Jungtieren <strong>und</strong> ungeborenen<br />
Tieren unterschiedlicher Arten erzeugt werden, wenn<br />
diese Reize außerhalb der normalen St<strong>im</strong>ulationsbandbreite für<br />
diese Spezies <strong>und</strong> dieses Alter liegt (z. B. Gottlieb 1992; Kenny<br />
<strong>und</strong> Turkewitz 1986). Virginiawachteln zum Beispiel erleben<br />
normalerweise kein Licht, keine visuelle St<strong>im</strong>ulation, während<br />
sie sich <strong>im</strong> Ei entwickeln. Entfernt man ein Stück Eischale, sodass<br />
während der Embryonalentwicklung Licht einfällt, so wird die<br />
normale Entwicklung gestört <strong>und</strong> das arttypische Verhalten der<br />
Jungen verändert (Lickliter 1995).<br />
Könnte dasselbe auch auf Menschen zutreffen? Die Neonatologin<br />
Heideliese Als et al. (2003) meinen, dass wir uns über diese<br />
Frage <strong>im</strong> Hinblick auf Frühgeburten Gedanken machen müssen.<br />
Wie in ▶ Kap. 2 dargelegt, hat die moderne Medizin das Überleben<br />
einer wachsenden Zahl von <strong>im</strong>mer winzigeren Frühgeburten<br />
ermöglicht. Sie verbringen ihre ersten Lebenswochen oder gar<br />
Lebensmonate in einer Umgebung, die sich radikal von der arttypischen<br />
Umwelt <strong>im</strong> Mutterleib unterscheidet. Statt weiterhin<br />
in ihrer dunklen, vergleichsweise ruhigen Umgebung reifen zu<br />
können, finden sich diese Frühchen in oft hell ausgeleuchteten<br />
Brutkästen wieder, in denen es sehr laut zugeht. Zwischen dieser<br />
atypischen Umgebung <strong>und</strong> vielen der neurologischen <strong>und</strong> Verhaltensprobleme<br />
von Frühgeborenen nach dieser Intensivpflege,<br />
sieht Als Zusammenhänge <strong>und</strong> plädiert für radikale Veränderungen<br />
der Neugeborenen-Intensivstationen, die der Umwelt<br />
<strong>im</strong> Mutterleib nachgebildet sein sollten. In den Neugeborenen-<br />
Intensivstationen an Spezialkliniken werden Beleuchtung <strong>und</strong><br />
Geräuschpegel gedämpft <strong>und</strong> die Kontinuität der elterlichen
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Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
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Nähe unterstützt (s. ▶ http://www.klinikum.uni-heidelberg.de/<br />
Fruehgeborenen-Intensivpflegestation-FIPS.102796.0.html).<br />
Im Zusammenhang mit den möglichen negativen Wirkungen<br />
von artenuntypischen Reizumgebungen sei hier an die in<br />
▶ Kap. 2 erwähnte pränatale pädagogische St<strong>im</strong>ulation erinnert.<br />
Unsere Spezies bildete sich mit einem best<strong>im</strong>mten St<strong>im</strong>ulationsgrad<br />
heraus, der dem Fetus <strong>im</strong> Uterus zugänglich ist, <strong>und</strong> ein<br />
beträchtliches Anwachsen der pränatalen St<strong>im</strong>ulation könnte<br />
durchaus negative Folgen haben.<br />
..<br />
Die Umgebung der frühgeborenen Babys auf einer Neugeborenen-<br />
Intensivstation unterscheidet sich radikal von der intrauterinen Umwelt;<br />
das Licht <strong>und</strong> die hohen Geräuschpegel sind Veränderungen, die es in der<br />
evolutionären Vergangenheit des Menschen noch nie gegeben hat <strong>und</strong> die<br />
sich schädlich auf die Entwicklung auswirken könnten. (© Fanfo/fotolia)<br />
Das bioökologische Modell<br />
Das umfassendste Modell des allgemeinen Entwicklungskontexts<br />
ist das bioökologische Modell von Urie Bronfenbrenner<br />
(Bronfenbrenner 1979; Bronfenbrenner <strong>und</strong> Morris 1998). Bronfenbrenner<br />
begreift die Umwelt als „einen Satz verschachtelter<br />
Strukturen, jede innerhalb der nächsten, wie bei russischen Puppen“<br />
(1979, S. 22). Jede Struktur stellt eine andere Ebene des Einflusses<br />
auf die Entwicklung dar (. Abb. 9.4). Das individuelle Kind<br />
mit seiner besonderen Konstellation von Merkmalen <strong>und</strong> Eigenschaften<br />
(Genen, Geschlecht, Alter, Temperament, Ges<strong>und</strong>heit,<br />
Intelligenz, körperlicher Attraktivität <strong>und</strong> so weiter) befindet sich<br />
<strong>im</strong> Zentrum der verschiedenen Einflussebenen.<br />
Im Lauf der Entwicklung interagieren diese individuellen<br />
Merkmale mit den Umwelteinflüssen, die sich auf jeder der Ebenen<br />
finden. Die verschiedenen Ebenen unterscheiden sich in der<br />
Unmittelbarkeit ihrer Wirkungen, wobei Bronfenbrenner darauf<br />
abhebt, dass sich jede Ebene, vom engen Kontext der Kernfamilie<br />
eines <strong>Kindes</strong> bis zur allgemeinen Kultur, in der die Familie lebt,<br />
auf die Entwicklung des <strong>Kindes</strong> auswirkt. Man beachte, dass jede<br />
der in . Abb. 9.4 dargestellten Ebenen als ein „System“ bezeichnet<br />
wird, was die Komplexität <strong>und</strong> Verwobenheit der Abläufe auf<br />
jeder der Ebenen betonen soll. Diese Theorie ist insofern ökologisch,<br />
als sie Einflüsse auf verschiedenen Ebenen betrachtet, so<br />
wie es in der Ökologie bei anderen Lebewesen untersucht wird.<br />
Statt Bodenmikroben oder natürlichen Fressfeinden <strong>im</strong> ökologischen<br />
Kontext anderer Pflanzen- <strong>und</strong> Tierarten geht es hier um<br />
die ökologischen Systeme, die Kinder beeinflussen: von der Familie<br />
über die Nachbarschaft bis hinauf zur Regierung eines Landes.<br />
Die erste Ebene, in die das Kind eingebettet ist, ist das Mikrosystem<br />
– aus Aktivitäten, Rollen <strong>und</strong> Beziehungen, an denen<br />
das Kind <strong>im</strong> Laufe der Zeit direkt teiln<strong>im</strong>mt. Die Familie des<br />
<strong>Kindes</strong> ist eine entscheidende Komponente des Mikrosystems,<br />
deren Einfluss <strong>im</strong> Säuglingsalter <strong>und</strong> in der frühen Kindheit vorherrscht.<br />
Das Mikrosystem wird reicher <strong>und</strong> komplexer, wenn<br />
das Kind älter wird <strong>und</strong> zunehmend häufiger mit Gleichaltrigen,<br />
Lehrern <strong>und</strong> anderen Personen <strong>im</strong> Rahmen von Schule, Nachbarschaft,<br />
Sport- <strong>und</strong> anderen Freizeitvereinen, religiösen Gemeinschaften<br />
<strong>und</strong> so weiter interagiert.<br />
Mikrosystem – Im bioökologischen Modell die unmittelbare Umgebung, die<br />
ein Individuum persönlich erfährt.<br />
Bronfenbrenner betont die bidirektionale Natur aller Beziehungen<br />
innerhalb des Mikrosystems. Zum Beispiel kann sich die<br />
Ehebeziehung zwischen Eltern auf ihre Kinder auswirken, <strong>und</strong><br />
das Verhalten der Kinder kann die eheliche Beziehung beeinflussen.<br />
Eine gute, unterstützende Ehebeziehung hilft den Eltern, mit<br />
ihren Kindern sensibler <strong>und</strong> wirkungsvoller umzugehen (Cowan<br />
et al. 1998; Cox et al. 1989), aber ein chronisch schwieriges Baby<br />
kann Reibungen hervorrufen <strong>und</strong> die Beziehung zwischen den<br />
Eltern sogar beschädigen (Belsky et al. 1995).<br />
Die zweite Ebene in Bronfenbrenners Modell ist das Mesosystem,<br />
das die Verbindungen zwischen den verschiedenen<br />
Mikrosystemen wie Familie, Gleichaltrige <strong>und</strong> Schule umfasst.<br />
Unterstützende Beziehungen zwischen diesen Kontexten können<br />
dem Kind zugutekommen. Zum Beispiel wird der Schulerfolg<br />
eines <strong>Kindes</strong> erleichtert, wenn die Eltern seine Anstrengungen<br />
für die schulischen Belange wertschätzen <strong>und</strong> positiven Kontakt<br />
zu den Lehrern pflegen (Luster <strong>und</strong> McAdoo 1996; Stevenson<br />
et al. 1993) <strong>und</strong> wenn der Fre<strong>und</strong>eskreis schulische Leistungen<br />
gut findet (Steinberg et al. 1995). Wenn die Beziehungen <strong>im</strong> Mesosystem<br />
nicht unterstützend sind, werden negative Ergebnisse<br />
wahrscheinlicher.<br />
Mesosystem – Im bioökologischen Modell die Verbindungen zwischen den<br />
unmittelbaren Rahmenbedingungen des Mikrosystems.<br />
Die dritte Ebene des sozialen Kontexts, das Exosystem, umfasst<br />
Umgebungen, denen die Kinder vielleicht nicht direkt angehören,<br />
die sich aber dennoch auf ihre Entwicklung auswirken können.<br />
Der Arbeitsplatz ihrer Eltern kann Kinder beispielsweise<br />
auf vielerlei Weise beeinflussen, von der Unternehmenspolitik,<br />
was flexible Arbeitszeiten, Elternzeit <strong>und</strong> Kinderbetreuung vor<br />
Ort betrifft, bis hin zu der allgemeinen Atmosphäre, in der die<br />
Eltern arbeiten. Ob die Eltern ihrer Arbeit gern oder nur mit<br />
starker Aversion nachgehen, kann die emotionalen Beziehungen<br />
innerhalb der Familie stark beeinflussen. Selbst etwas vom Kind<br />
scheinbar so Entferntes wie die wirtschaftliche Lage des elterlichen<br />
Arbeitsgebers kann entscheidend sein: Der Verlust des<br />
Arbeitsplatzes steht beispielsweise mit elterlicher Misshandlung<br />
oder elterlicher Vernachlässigung in Zusammenhang (Emery<br />
<strong>und</strong> Laumann-Billings 1998).
Ökologische Entwicklungstheorien<br />
337 9<br />
Makrosystem<br />
Allgemeine, Ideologie, Gesetze <strong>und</strong> Bräuche in<br />
der eigenen Kultur, Subkultur oder sozialen Schicht<br />
Exosystem<br />
Erweiterte<br />
Familie<br />
Mesosystem<br />
Chronosystem<br />
(zeitbedingte<br />
Veränderungen<br />
von Person oder<br />
Umwelt)<br />
Schule<br />
Spielplatz<br />
Fre<strong>und</strong>e oder<br />
Familie<br />
Mikrosystem<br />
Nachbarn<br />
Zeit<br />
Massenmedien<br />
Familie<br />
Kind<br />
Kindertagesstätte,<br />
Kindergarten<br />
Rechtssystem<br />
Kirche, Synagoge,<br />
Moschee<br />
Gleichaltrige,<br />
Fre<strong>und</strong>e<br />
Arztpraxis<br />
Schulbehörde<br />
Arbeitsplatz<br />
Ges<strong>und</strong>heitssystem <strong>und</strong><br />
öffentliche Einrichtungen<br />
..<br />
Abb. 9.4 Das bioökologische Modell. Urie Bronfenbrenner stellt sich die Umwelt des <strong>Kindes</strong> als Zusammensetzung einer Reihe ineinandergeschachtelter<br />
Strukturen vor, zu denen das Mikrosystem (die unmittelbare Umwelt, mit der das Kind direkt interagiert), das Mesosystem (die Verbindungen, die zwischen Mikrosystemen<br />
bestehen), das Exosystem (soziale Rahmenbedingungen, an denen das Kind nicht teilhat, aber die es dennoch beeinflussen) <strong>und</strong> das Makrosystem<br />
(der allgemeine kulturelle Kontext, in den alle anderen Systeme eingebettet sind) gehören. Diese Abbildung illustriert die typische Umwelt eines <strong>Kindes</strong> in<br />
der westlichen Welt. (Nach Bronfenbrenner 1979)<br />
Exosystem – Im bioökologischen Modell Umweltbedingungen, die eine Person<br />
nicht direkt erfährt, welche die Person aber indirekt beeinflussen können.<br />
Die äußere Ebene in Bronfenbrenners Modell ist das Makrosystem,<br />
das aus den allgemeinen Überzeugungen, Werten, Bräuchen<br />
<strong>und</strong> Gesetzen der gesamten Gesellschaft besteht, in die alle<br />
anderen Ebenen eingebettet sind. Es enthält die Hauptgruppen<br />
von Kultur, Subkultur <strong>und</strong> sozialer Schicht, zu denen das Kind<br />
gehört. Kulturelle <strong>und</strong> schichtspezifische Unterschiede durchdringen<br />
nahezu jeden Aspekt des Lebens von Kindern, darunter<br />
auch die unterschiedlichen Überzeugungen, welche Eigenschaften<br />
man bei Kindern fördern sollte <strong>und</strong> auf welche Weise dies<br />
am besten gelingt.<br />
Kulturelle Einflüsse zeigen sich bereits in den frühesten Erinnerungen,<br />
die Erwachsene aus verschiedenen Teilen der Welt<br />
berichten. In einer kulturübergreifenden Studie (Wang 2006)<br />
berichteten euroamerikanische Erwachsene von Erinnerungen<br />
aus einer früheren Altersphase als beispielsweise taiwanesische<br />
Erwachsene, wobei sich diese früheren Erinnerungen auf spezifische<br />
Ereignisse <strong>und</strong> die eigene Rolle dabei zentrierten. Im<br />
Gegensatz dazu konnten die Taiwaner eher von alltäglichen Ereignissen<br />
aus der frühen Kindheit berichten, <strong>und</strong> sie betonten
338<br />
Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
1<br />
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dabei die Rolle anderer Personen bei den erinnerten Ereignissen.<br />
Vermutlich spiegeln diese Unterschiede die kulturellen Werte wider,<br />
unter deren Einfluss Eltern ihre Kinder dazu ermutigen, über<br />
etwas Best<strong>im</strong>mtes zu reden – insbesondere über sich selbst oder<br />
andere Personen.<br />
Makrosystem – Im bioökologischen Modell der größere kulturelle <strong>und</strong> soziale<br />
Kontext, in den die anderen Systeme eingebettet sind.<br />
Schließlich weist Bronfenbrenners Modell auch eine Zeitd<strong>im</strong>ension<br />
auf, die er als Chronosystem bezeichnet. In jeder Gesellschaft<br />
verändern sich die Gr<strong>und</strong>überzeugungen, Werte, Bräuche,<br />
Technologien <strong>und</strong> sozialen Lebensumstände <strong>im</strong> Laufe der Zeit,<br />
was für die Entwicklung von Kindern Folgen nach sich zieht.<br />
Beispielsweise haben Kinder heute, als Ergebnis der technischen<br />
Fortschritte, die das „digitale Zeitalter“ einleiteten, Zugang zu<br />
einer gewaltigen Menge an Information <strong>und</strong> Unterhaltung, die<br />
für frühere Generationen unvorstellbar gewesen wäre. Außerdem<br />
hängen die Wirkungen von Umweltereignissen auch noch von<br />
einer anderen Zeitvariablen ab – dem Alter des <strong>Kindes</strong>. Zum<br />
Beispiel wirkt sich die elterliche Scheidung auf Kleinkinder <strong>und</strong><br />
Pubertierende unterschiedlich aus; in beiden Altersgruppen ist<br />
das für Kinder schl<strong>im</strong>m, aber <strong>im</strong> Allgemeinen müssen nur die<br />
jüngeren Kinder mit der zusätzlichen Belastung zurechtkommen,<br />
dass sie sich selbst die Schuld an der Scheidung geben (Hetherington<br />
<strong>und</strong> Clingempeel 1992). Ein weiterer wichtiger Aspekt<br />
der Zeitd<strong>im</strong>ension, auf den wir schon verschiedentlich hingewiesen<br />
haben, betrifft die Tatsache, dass Kinder mit zunehmendem<br />
Alter eine <strong>im</strong>mer aktivere Rolle bei ihrer Entwicklung einnehmen,<br />
indem sie ihre Fre<strong>und</strong>e, Aktivitäten <strong>und</strong> Umgebungen<br />
selbst wählen. Wie ▶ Exkurs 9.2 über Aufmerksamkeitsstörungen<br />
nahelegt, kann das Chronosystem sogar ein Faktor bei Entwicklungsstörungen<br />
sein.<br />
Chronosystem – Im bioökologischen Modell die historischen Veränderungen,<br />
die sich auf die anderen Systeme auswirken.<br />
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..<br />
Auf welche unterschiedlichen Erfahrungen können Mädchen zurückgreifen,<br />
die in verschiedenen historischen Zeiten geboren wurden? Wie<br />
unterscheiden sich ihre Ausbildungs- <strong>und</strong> Berufsmöglichkeiten? oben: © Anja<br />
Groth, mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung unten: Bernadette Berg)<br />
Um die Reichhaltigkeit des bioökologischen Modells für das<br />
Nachdenken über <strong>Kindes</strong>entwicklung <strong>und</strong> ihre Erforschung zu<br />
illustrieren, werden wir drei ausführliche Beispiele behandeln,<br />
in denen die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen<br />
Ebenen des Modells besonders klar <strong>und</strong> bedeutsam sind: <strong>Kindes</strong>misshandlung,<br />
Kinder <strong>und</strong> Massenmedien sowie sozioökonomischer<br />
Status <strong>und</strong> Entwicklung.
Ökologische Entwicklungstheorien<br />
339 9<br />
Exkurs 9.2: Individuelle Unterschiede: Aufmerksamkeitsstörungen | |<br />
Viele Lern- <strong>und</strong> Verhaltensprobleme lassen<br />
sich mit Gewinn untersuchen, indem man die<br />
unterschiedlichen Ebenen des bioökologischen<br />
Modells <strong>im</strong> Blick behält. Einflüsse <strong>und</strong><br />
Interventionen auf unterschiedlichen Ebenen<br />
können es den Kindern leichter oder auch<br />
schwerer machen, ihre Probleme in den Griff<br />
zu bekommen. Ein gutes Beispiel dafür sind<br />
die Aufmerksamkeitsstörungen (wie ADHS).<br />
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts<br />
störung) – Ein Syndrom, das die Schwierigkeit<br />
mit sich bringt, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten.<br />
Die Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizit-<br />
Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist relativ<br />
neu, die Symptomatik ist schon seit Langem<br />
bekannt; in Deutschland wird gern auf das<br />
Beispiel des Zappelphilipps aus Struwwelpeter<br />
verwiesen. Andere Bezeichnungen sind<br />
Hyperaktivität, min<strong>im</strong>ale cerebrale Dysfunktion<br />
oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS);<br />
die Bezeichnung entstammt dem Klassifikationsmanual<br />
für psychische Störungen DSM-IV<br />
aus dem Jahre 1996. Kinder mit ADHS besitzen<br />
<strong>im</strong> Allgemeinen eine normale Intelligenz<br />
<strong>und</strong> zeigen typischerweise keine schwerwiegenden<br />
emotionalen Störungen. Es fällt<br />
ihnen jedoch schwer, an Plänen festzuhalten,<br />
Regeln <strong>und</strong> Vorschriften einzuhalten <strong>und</strong> bei<br />
Aufgaben durchzuhalten, die anhaltende<br />
Aufmerksamkeit erfordern (besonders, wenn<br />
sie die Aufgaben uninteressant finden).<br />
Viele Betroffene sind hyperaktiv, zappeln<br />
permanent herum, trommeln auf ihre Tische<br />
<strong>und</strong> laufen umher. Kinder mit ADHS haben<br />
typischerweise Probleme be<strong>im</strong> Erwerb schulischer<br />
Fähigkeiten wie Lesen <strong>und</strong> Schreiben,<br />
weil diese Fähigkeiten ihnen abverlangen,<br />
ihre Aufmerksamkeit für längere Zeiträume zu<br />
zentrieren. Vielen fällt es schwer, aggressive<br />
Reaktionen zu unterdrücken, wenn sie<br />
frustriert sind. Alle diese Symptome scheinen<br />
eine zugr<strong>und</strong>e liegende Schwierigkeit zum<br />
Ausdruck zu bringen, Handlungs<strong>im</strong>pulse zu<br />
unterdrücken beziehungsweise zu hemmen<br />
(Barkley 1997). Diese Schwierigkeit ist am<br />
stärksten, wenn interessante Ablenkungsreize<br />
vorhanden sind.<br />
Eine Analyse der Daten des Centers for<br />
Diesease Control für die Jahre 2011 <strong>und</strong> 2012<br />
lässt vermuten, dass 6,4 Mio. Kinder zwischen<br />
vier <strong>und</strong> 17 Jahren in den USA irgendwann<br />
in ihrem Leben die Diagnose ADHS erhielten.<br />
Anders ausgedrückt gab es bei etwa 11 %<br />
der amerikanischen Kinder <strong>im</strong> Schulalter<br />
die Diagnose ADHS. Das entspricht einer<br />
Zunahme von 16 % seit 2007 <strong>und</strong> sogar 41 %<br />
seit 2003. In Deutschland bewegen sich die<br />
Schätzungen zwischen 4,5 <strong>und</strong> 5,4 % (Schlack<br />
et al. 2007). Die Diagnose trifft unter den<br />
amerikanischen Schülern der Highschool<br />
20 % der Jungen <strong>und</strong> 10 % der Mädchen.<br />
Dieser bemerkenswerte Bef<strong>und</strong> ergibt sich<br />
teilweise dadurch, dass sich Jungen mit ADHS<br />
mit höherer Wahrscheinlichkeit störend<br />
verhalten als Mädchen, was dazu führt, dass<br />
sie die entsprechende Diagnose erhalten<br />
(Gaub <strong>und</strong> Carlson 1997). Ähnlich wie be<strong>im</strong><br />
Autismus (▶ Exkurs 3.1) ist unklar, inwieweit<br />
der starke Anstieg bei den ADHS-Diagnosen<br />
eine Zunahme <strong>im</strong> Auftreten dieser Aufmerksamkeitsstörung,<br />
eine wachsende Beachtung<br />
dieser Störung, veränderte Diagnosekriterien<br />
oder alles zusammen widerspiegelt.<br />
Die Ursachen für ADHS sind recht vielfältig.<br />
Eindeutig spielen genetische Faktoren eine<br />
Rolle. Wenn ein eineiiger Zwilling an ADHS<br />
leidet, stehen die Chancen bei 50 %, dass das<br />
auch für den Zwillingspartner gilt – für ihn<br />
ist das Risiko, ungefähr zehnmal höher als für<br />
Kinder allgemein (Silver 1999). Bei adoptierten<br />
Kindern ist ADHS mit ADHS bei einem biologischen<br />
Elternteil assoziiert, nicht aber bei den<br />
Adoptiveltern (Rhee et al. 1999). Tatsächlich ist<br />
die Erblichkeit bei ADHS größer als bei jeder<br />
anderen Entwicklungsstörung außer dem<br />
autistischen Störungsspektrum.<br />
Auch Umweltbedingungen <strong>im</strong> Mikrosystem<br />
beeinflussen die Entwicklung einer Aufmerksamkeitsstörung.<br />
Zum Beispiel gibt es einen<br />
Zusammenhang zwischen pränatalem Kontakt<br />
mit Alkohol, der die Gehirnentwicklung beeinträchtigen<br />
kann, <strong>und</strong> späterer Entwicklung<br />
von ADHS (Milberger et al. 1997). Auch das<br />
elterliche Verhalten ihren Kindern gegenüber<br />
kann zur frühen Entwicklung von ADHS beitragen;<br />
das zeigte sich in einer groß angelegten<br />
Untersuchung an Fünfjährigen, von denen<br />
die Hälfte bei der Geburt untergewichtig<br />
war (Tully et al. 2004). Solche untergewichtig<br />
geborenen Kinder zeigten tendenziell<br />
seltener ADHS-Symptome, wenn ihre Mütter<br />
einen besonders hohen Grad an Wärme ihnen<br />
gegenüber zum Ausdruck brachten („Er ist<br />
mein Sonnenschein“, „Sie ist meine Süße“),<br />
als die Kinder von weniger Wärme zeigenden<br />
Müttern. Allerdings lassen sich hier nur schwer<br />
einzelne Kausalzusammenhänge best<strong>im</strong>men,<br />
denn viele Entwicklungsrisiken treten, wie<br />
wir <strong>im</strong>mer wieder erwähnt haben, tendenziell<br />
gleichzeitig auf.<br />
Die derzeitige Behandlung von ADHS bezieht<br />
Vertreter des Mikrosystems (den Hausarzt), des<br />
Exosystems (die pharmazeutische Industrie)<br />
<strong>und</strong> des Makrosystems (die Regierung) mit ein.<br />
Die häufigste Behandlung von ADHS-Kindern,<br />
die Ärzte durchführen, ist das Verschreiben<br />
anregender Medikamente wie Ritalin. Es<br />
erscheint paradox, dass ein St<strong>im</strong>ulans Kindern<br />
helfen soll, die ohnehin überaktiv sind; aber<br />
Ritalin hilft etwa 70–90 % der Kinder, denen<br />
es verschrieben wird. Das liegt daran, dass <strong>im</strong><br />
Gehirn dieser Kinder tatsächlich die relevanten<br />
Systeme zu wenig Erregung aufweisen; das unruhige<br />
<strong>und</strong> manchmal abrupte Verhalten der<br />
Kinder ist ein Versuch, das Gehirn in Gang zu<br />
bringen. Unter angemessener Medikation können<br />
ADHS-Kinder ihre Aufmerksamkeit besser<br />
bündeln <strong>und</strong> sind nicht so leicht ablenkbar.<br />
Das führt zu einer verbesserten Schulleistung,<br />
besseren Beziehungen zu den Klassenkameraden<br />
<strong>und</strong> einem verringerten Aktivitätsniveau<br />
(Barbaresi et al. 2007a, 2007b).<br />
Es ist wichtig zu wissen, dass die positive<br />
Wirkung von Ritalin nur so lange anhält, wie<br />
es eingenommen wird. Für länger anhaltende<br />
Fortschritte bedarf es nicht nur der Medikation,<br />
sondern auch verhaltenstherapeutischer<br />
Maßnahmen. Dazu ergab eine groß angelegte<br />
Studie, dass die richtige medikamentöse<br />
Einstellung (mit sorgsamer Dosierung <strong>und</strong> extensiver<br />
Überwachung) zusammen mit einer<br />
intensiven Verhaltenstherapie (hier Verhaltensmodifikation<br />
<strong>im</strong> Kontext von Sport <strong>und</strong><br />
sozialen Fähigkeiten) positivere Wirkungen<br />
hatte als Medikation oder Verhaltenstherapie<br />
jeweils für sich genommen (Jensen et al.<br />
2001). Die Disziplinierungsmethoden der<br />
Eltern hatten dabei ebenfalls Einfluss auf die<br />
Wirksamkeit der in dieser Studie untersuchten<br />
Behandlung. Die ADHD-Therapie hatte<br />
insbesondere dann den größten Einfluss<br />
auf das Verhalten der Kinder, wenn deren<br />
Eltern ihr zuvor negatives oder ineffizientes<br />
Verhalten änderten. Dieser Bef<strong>und</strong> verdeutlicht,<br />
wie wichtig multiple Systemeinflüsse bei<br />
der Entwicklung von Verhalten sind. Natürlich<br />
beruht die Verfügbarkeit von Medikamenten,<br />
die ADHS-Kindern helfen, auch darauf, dass<br />
auf Seiten der pharmazeutischen Industrie die<br />
Möglichkeit gesehen wird, diese Medikamente<br />
herstellen, verkaufen <strong>und</strong> davon profitieren<br />
zu können. Entscheidend ist außerdem,<br />
dass das Arzne<strong>im</strong>ittel von den zuständigen<br />
Behörden zugelassen wird, <strong>und</strong> dies geschieht<br />
auf der Basis von klinischen Studien, die die<br />
Wirksamkeit nachweisen <strong>und</strong> die potenziellen<br />
Nebenwirkungen des Mittels best<strong>im</strong>men.<br />
Das Schicksal eines <strong>Kindes</strong>, das Medikamente<br />
braucht, hängt also von Faktoren ab, die weit<br />
außerhalb seines Einflusses <strong>und</strong> desjenigen<br />
seiner Familie liegen.<br />
Aber wären Eingriffe überhaupt vonnöten,<br />
wenn man nicht von jedem Kind erwarten<br />
würde, an den meisten Tagen einen beträchtlichen<br />
Teil der Zeit ruhig auf der Schulbank zu<br />
sitzen <strong>und</strong> sich auf Aufgaben zu konzentrieren,<br />
an denen es vielleicht kaum Interesse hat? Mit<br />
Blick auf die höchste Ebene des bioökologischen<br />
Modells – das Chronosystem – haben<br />
viele nahegelegt, dass ADHS als ein ernst zu<br />
nehmendes Problem vielleicht erst in jüngerer<br />
Zeit auf der Bildfläche erschien, genauer<br />
gesagt, seit Einführung der Schulpflicht.<br />
Vor diesem Zeitpunkt wäre ein Mensch mit<br />
Aufmerksamkeitsstörungen <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer<br />
vielleicht gut <strong>im</strong>stande gewesen, einen<br />
passenderen <strong>und</strong> weniger einengenden<br />
Entfaltungsraum anderswo zu finden, wo die<br />
Defizite keine Folgen hätten <strong>und</strong> sogar unbemerkt<br />
geblieben wären.
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Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
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Exkurs 9.2 (Fortsetzung) | |<br />
<strong>Kindes</strong>misshandlung<br />
Eine der ernstesten Bedrohungen der <strong>Kindes</strong>entwicklung ist<br />
die <strong>Kindes</strong>misshandlung, definiert als willentliches Angreifen<br />
oder Vernachlässigen, welches das Wohlbefinden von jungen<br />
Menschen unter 18 Jahren gefährdet. Im Jahr 2011 wurden in<br />
den USA schätzungsweise 681.000 Kinder gemeldet, die Opfer<br />
von <strong>Kindes</strong>misshandlung waren (U.S. Department of Health<br />
and Human Services Administration for Children and Families<br />
2012). Wie Häuser et al. (2011) berichten, entsprechen retrospektiv<br />
berichtete Häufigkeiten <strong>und</strong> Korrelationen für verschiedene<br />
Formen von Misshandlungen in Kindheit <strong>und</strong> Jugend, die an einer<br />
repräsentativen deutschen Bevölkerungsstichprobe erhoben<br />
wurden, weitgehend den Ergebnissen vergleichbarer früherer<br />
Studien in Deutschland <strong>und</strong> Amerika (Häuser et al. 2011).<br />
In den meisten Fällen geschieht die Misshandlung durch die<br />
Eltern, am häufigsten durch die Mütter. Dabei sind Mädchen <strong>und</strong><br />
Jungen zu annähernd gleichen Anteilen von <strong>Kindes</strong>misshandlung<br />
betroffen. Am höchsten ist die Misshandlungsquote bei Kindern<br />
unter einem Jahr: 2011 lag sie in Amerika bei 21,2 von 1000<br />
Kindern in dieser Altersgruppe. Und besonders tragisch: Über<br />
1500 Kinder, die meist noch keine vier Jahre alt waren, wurden<br />
von einem Elternteil oder beiden Eltern getötet. Die Anzahl der<br />
Kindstötungen in Deutschland fiel laut Todesursachenstatistik<br />
deutlich geringer aus. Im Zeitraum zwischen 2010 <strong>und</strong> 2012<br />
kamen hierzulande jährlich zwischen 32 <strong>und</strong> 52 Kinder unter<br />
10 Jahren durch einen tätlichen Angriff ums Leben. In Übereinst<strong>im</strong>mung<br />
mit dem bioökologischen Modell erwiesen sich eine<br />
Vielzahl von Faktoren als an den Ursachen <strong>und</strong> Folgen de <strong>Kindes</strong>misshandlung<br />
beteiligt: Eigenschaften des <strong>Kindes</strong>, der Eltern<br />
<strong>und</strong> des sozialen Umfelds.<br />
<strong>Kindes</strong>misshandlung – Vernachlässigung oder absichtlicher Missbrauch, die<br />
das Wohlbefinden von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen unter 18 Jahren beeinträchtigen<br />
oder gefährden..<br />
Ursachen von Misshandlung<br />
Auf der Ebene des Mikrosystems erhöhen best<strong>im</strong>mte Merkmale<br />
der Eltern das Misshandlungsrisiko (Emery <strong>und</strong> Laumann-<br />
Billings 1998). Dazu zählen niedrige Selbstachtung, stark negative<br />
Reaktionen auf Stress <strong>und</strong> schlechte Impulskontrolle.<br />
..<br />
Die kurze Aufmerksamkeitsspanne von Kindern mit einer Aufmerksamkeitsstörung<br />
führt sie häufig dazu, nicht nur sich selbst, sondern<br />
auch andere Kinder in der Klasse zu stören. (© David Young-Wolff/<br />
Photoedit)<br />
Auch Alkohol- <strong>und</strong> Drogenabhängigkeit der Eltern erhöhen<br />
die Wahrscheinlichkeit von Misshandlungen, ebenso eine von<br />
Misshandlung gekennzeichnete Ehebeziehung: Mütter, die von<br />
ihren Partnern misshandelt werden, geben die Misshandlung<br />
mit größerer Wahrscheinlichkeit an ihre Kinder weiter. Zusätzlich<br />
machen es best<strong>im</strong>mte Merkmale des <strong>Kindes</strong> wahrscheinlicher,<br />
dass ihre Eltern ihnen gegenüber tätlich werden; zu diesen<br />
Merkmalen gehören niedriges Geburtsgewicht, körperliche oder<br />
geistige Behinderungen <strong>und</strong> ein schwieriges Temperament (z. B.<br />
Bugental <strong>und</strong> Happaney 2004).<br />
Häufig hängt <strong>Kindes</strong>misshandlung mit zusätzlichen Faktoren<br />
<strong>im</strong> Meso- <strong>und</strong> <strong>im</strong> Exosystem zusammen, die den elterlichen<br />
Stress erhöhen. Viele dieser Faktoren sind mit geringem Familieneinkommen<br />
verb<strong>und</strong>en. Zu diesen Faktoren zählen hohe Arbeitslosigkeit,<br />
unangemessene Wohnverhältnisse <strong>und</strong> häusliche<br />
Gewalt <strong>im</strong> Wohnumfeld (Emery <strong>und</strong> Laumann-Billings 1998;<br />
Lynch <strong>und</strong> Cicchetti 1998).<br />
Besonders wichtige Risikofaktoren <strong>im</strong> Exosystem sind bei<br />
der <strong>Kindes</strong>misshandlung oft die soziale Isolation der Familie<br />
<strong>und</strong> der Mangel an sozialer Unterstützung (was in einkommensschwachen<br />
Familien häufiger ist). Eine solche Isolation kann viele<br />
Gründe haben – Misstrauen gegenüber anderen Menschen, Mangel<br />
an sozialen Fähigkeiten, die zum Aufrechterhalten positiver<br />
Beziehungen notwendig sind, häufiges Umziehen von einem Ort<br />
zum anderen aufgr<strong>und</strong> ökonomischer Faktoren <strong>und</strong> das Leben<br />
in einer Gemeinschaft, die von Gewalt <strong>und</strong> Unverbindlichkeit<br />
gekennzeichnet ist. Wie wichtig die soziale Unterstützung ist,<br />
zeigt sich darin, dass verarmte Eltern ihre Kinder weniger wahrscheinlich<br />
misshandeln, wenn sie in einer Nachbarschaft leben,<br />
in der Gemeinschaftsgeist vorherrscht, mit Nachbarn, die sich<br />
umeinander kümmern <strong>und</strong> einander helfen (Belsky 1993; Coulton<br />
et al. 1995; Garbarino <strong>und</strong> Kostelny 1992).<br />
Folgen von Misshandlung<br />
Die Folgen von <strong>Kindes</strong>misshandlung manifestieren sich pr<strong>im</strong>är<br />
<strong>im</strong> Mikrosystem (auch wenn sie sich auch auf Faktoren <strong>im</strong> Mesosystem<br />
<strong>und</strong> manchmal selbst <strong>im</strong> Exosystem ausweiten <strong>und</strong><br />
umgekehrt von Faktoren dieser Systeme moderiert werden, beispielsweise<br />
durch Gesetze <strong>und</strong> Institutionen zum Kinderschutz).<br />
Im Vergleich zu anderen Kindern haben misshandelte Kinder
Ökologische Entwicklungstheorien<br />
341 9<br />
Exkurs 9.3: Anwendungen: Prävention von <strong>Kindes</strong>misshandlung | |<br />
Angesichts der Vielzahl von Faktoren, die<br />
zur <strong>Kindes</strong>misshandlung beitragen, ist die<br />
Prävention oder Abhilfe bei diesem Problem<br />
überaus schwierig. Ein vielversprechendes<br />
Interventionsprogramm wurde in den USA für<br />
die Intervention auf Mikrosystemebene entwickelt,<br />
<strong>im</strong> Rahmen eines aus amerikanischen<br />
B<strong>und</strong>esmitteln auf der Makrosystemebene<br />
geförderten Forschungsprojekts.<br />
Das Programm, das auf einem sozial-kognitiven<br />
Ansatz beruht, wurde von Daphne<br />
Bugental <strong>und</strong> ihrem Team entworfen <strong>und</strong><br />
<strong>im</strong>plementiert, nachdem sie herausgef<strong>und</strong>en<br />
hatten, dass viele misshandelnde Eltern ein<br />
unangemessenes Bild von ihren Beziehungen<br />
zu ihren Kindern haben. Sie neigen dazu, sich<br />
<strong>und</strong> ihre Kinder in einem Machtkampf zu sehen,<br />
bei dem sie sich selbst als die Opfer sehen<br />
(Bugental et al. 1989; Bugental <strong>und</strong> Happaney<br />
2004). So könnten diese Eltern das anhaltende<br />
Schreien ihres Babys als Hinweis deuten, dass<br />
das Baby wütend auf sie ist oder ein vorenthaltenes<br />
Spielzeug oder Leckerli erzwingen will<br />
<strong>und</strong> dabei absichtlich ihre elterliche Autorität<br />
zu untergraben versucht.<br />
Ziel des Programms war es, solchen Eltern,<br />
die Gefahr laufen, ihre Kinder zu misshandeln,<br />
realistischere Erklärungsmodelle für ihre<br />
Schwierigkeiten be<strong>im</strong> Versorgen ihrer Kinder<br />
anzubieten (Bugental et al. 2002). Wie in<br />
▶ Kap. 2 erwähnt, ist das Risiko, misshandelt<br />
zu werden, bei einigen Kindern besonders<br />
hoch, beispielsweise bei Frühgeborenen oder<br />
Kindern, die mit medizinischen Komplikationen<br />
auf die Welt kamen <strong>und</strong> deshalb<br />
besondere Herausforderungen an die Eltern<br />
stellen. Zur Intervention gehörten häufige<br />
Hausbesuche, bei denen man die Eltern nach<br />
Beispielen für jüngst aufgetretene Probleme<br />
mit den Kindern fragte sowie ihre Meinung<br />
nach der Ursache der Auseinandersetzung<br />
einholte. Dann wurden sie angeleitet, Ursachen<br />
zu finden, die keinen Vorwurf an das Kind<br />
enthielten (also etwas anderes als ein absichtliches<br />
Fehlverhalten des <strong>Kindes</strong> beinhalteten),<br />
<strong>und</strong> sich mögliche Strategien zur Lösung des<br />
Problems auszudenken.<br />
Ein besonders wichtiger Faktor bei der Evaluation<br />
dieses Programms war, dass die Risikofamilien<br />
nach dem Zufallsprinzip der Interventionsbedingung<br />
<strong>und</strong> zwei Kontrollbedingungen<br />
zugeordnet wurden, um auszuschließen, dass<br />
unterschiedliche Ergebnisse auf auswahlbedingten<br />
Unterschieden zwischen den Gruppen<br />
beruhen.<br />
Das Programm war bemerkenswert erfolgreich;<br />
in der Interventionsgruppe herrschte körperliche<br />
Misshandlung nur in 4 % der Fälle vor, verglichen<br />
mit r<strong>und</strong> 25 % in den beiden Kontrollgruppen.<br />
Dieses Interventionsprogramm, das<br />
sich auf die Mikrosystemebene richtete, legt<br />
nahe, dass Familienbetreuungsprogramme,<br />
welche die kognitiven Interpretationen der<br />
Eltern gezielt modifizieren, ein hohes Potenzial<br />
zur Prävention körperlicher Misshandlungen<br />
besitzen. Zudem investierten die Eltern mehr<br />
Fürsorge in ihre (frühgeborenen) Risikokinder<br />
(Bugental et al. 2010), was mit der Theorie der<br />
elterlichen Investition in Einklang steht, die wir<br />
in diesem Kapitel in Zusammenhang mit der<br />
Evolutionspsychologie behandelt haben. Je<br />
besser die Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder<br />
verstehen lernten, desto mehr investierten<br />
sie anschließend in ihre Kinder, die daraufhin<br />
ges<strong>und</strong>heitlich besser gediehen.<br />
..<br />
© Bob Kalman /Image Works<br />
weniger sichere Beziehungen zu ihren Eltern, sie zeigen weniger<br />
Einfühlungsvermögen in andere Menschen <strong>und</strong> haben eine<br />
geringere Selbstachtung (Cicchetti <strong>und</strong> Toth 1998; Main <strong>und</strong><br />
George 1985; Smith <strong>und</strong> Walden 1999). In der Gr<strong>und</strong>schule sind<br />
misshandelte Kinder aggressiver <strong>und</strong> haben mehr Konflikte mit<br />
ihren Mitschülern (Bolger <strong>und</strong> Patterson 2001; McCloskey <strong>und</strong><br />
Stuewig 2001). In den folgenden Jahren haben sie mehr Mühe,<br />
Fre<strong>und</strong>schaften aufrechtzuerhalten (Parker <strong>und</strong> Herrera 1996;<br />
Rogosch et al. 1995; Salzinger et al. 2001). In der Schule sind<br />
misshandelte Kinder oft verunsichert <strong>und</strong> unaufmerksam <strong>und</strong><br />
<strong>im</strong> Übermaß abhängig von Lob <strong>und</strong> Unterstützung ihrer Lehrer.<br />
Mehr als doppelt so oft wie andere Kinder verfehlen sie das Klassenziel<br />
(Eckenrode et al. 1993; Erickson et al. 1989).<br />
Wir können die Folgen von Misshandlung auch auf einer<br />
noch tieferen Mikroebene untersuchen. Wir haben <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit dem feindlichen Attributionsfehler bereits erläutert,<br />
dass Kinder, die Opfer von körperlichen Misshandlungen<br />
wurden, tendenziell stärker auf Anzeichen von Ärger reagieren.<br />
Das lässt sich an ihrem Verhalten ebenso beobachten wie an den<br />
Reaktionen des Gehirns, etwa bei ereigniskorrelierten Potenzialen<br />
(z. B. Pollak et al. 1997), oder an körperlichen Reaktionen wie<br />
insbesondere Herzrate <strong>und</strong> Hautwiderstand (Pollak et al. 2005).<br />
Diese Reaktionen auf emotionale Hinweise sind in vielen sozialen<br />
Situationen vielleicht nicht adaptiv, weil die Kinder sie falsch<br />
deuten <strong>und</strong> überreagieren, aber aus ökologischer Sicht könnte<br />
die übermäßige Aufmerksamkeit für negative Emotionen hochgradig<br />
adaptiv sein, wenn Kinder in einer von Bedrohung <strong>und</strong><br />
Gewalt geprägten Umgebung aufwachsen. Wenn man die Reaktionen<br />
der Kinder auf ihre Umgebung jeweils kontextbezogen als<br />
adaptiv bzw. nichtadaptiv betrachtet, kann die ökologische Perspektive<br />
helfen zu verstehen, warum Misshandlung zu einer best<strong>im</strong>mten<br />
Konstellation von Folgen führt <strong>und</strong> welche Interventionen<br />
am wirksamsten sind (z. B. Frankenhuis <strong>und</strong> de Weerth<br />
2013). Natürlich wäre es ideal, wenn sich <strong>Kindes</strong>misshandlung<br />
generell aus der Welt schaffen ließe. Einen vielversprechenden<br />
Ansatz, <strong>Kindes</strong>misshandlung zu verhindern, zeigt ▶ Exkurs 9.3<br />
für ein amerikanisches Interventionsprogramm. In Deutschland<br />
organisiert die Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe entsprechend den Vorgaben<br />
der Sozialgesetzgebung Betreuung von Familien über die<br />
Jugendämter, Familienberatungsstellen <strong>und</strong> Sozialdienste (zur<br />
Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe auch in akuten Notfällen bietet das<br />
B<strong>und</strong>esministerium für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend<br />
<strong>im</strong> Internet über die Broschürenstelle aktuelle Informationen).<br />
Kinder <strong>und</strong> Medien. Das Gute, das Schlechte<br />
<strong>und</strong> das Schreckliche<br />
Ein weiteres gutes Beispiel für die unterschiedlichen bioökonomischen<br />
Ebenen, in die die <strong>Kindes</strong>entwicklung eingebettet ist,<br />
sind die Medieneinflüsse durch Fernsehen, Kinofilme, Computerspiele<br />
<strong>und</strong> Popmusik. Im bioökologischen Modell gehören
342<br />
Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
1<br />
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die Massenmedien zum Exosystem. Sie sind aber, wie bereits<br />
erwähnt, auch Einflüssen des Chronosystems unterworfen <strong>und</strong><br />
unterliegen auch Einflüssen des Makrosystems, zu dem etwa<br />
kulturelle Werte <strong>und</strong> Politik gehören. Schließlich haben Faktoren<br />
des Exosystems (etwa Einkommensverhältnisse) sowie des<br />
Mikrosystems (wie elterliche Kontrolle innerhalb der Familie)<br />
Einfluss darauf, welche Wirkungen Medien entfalten. Alle diese<br />
Faktoren sind jederzeit <strong>im</strong> Spiel, wenn Kinder sie einschalten<br />
oder hochladen.<br />
Früher, als sich die Zeit vor dem Bildschirm größtenteils auf<br />
das Fernsehen beschränkte, erwiesen sich einige pädagogisch<br />
orientierte Fernsehprogramme für kleine Kinder als förderlich<br />
(Huston <strong>und</strong> Wright 1998). Am bemerkenswertesten waren die<br />
Wortschatzzuwächse kleiner Kinder durch die Sendungen der<br />
Sesamstraße, die auf den Schuleintritt vorbereiten. Und einige der<br />
positiven Wirkungen hielten sogar die Highschool-Zeit hindurch<br />
an (Anderson et al. 2001; Rice et al. 1990). Allerdings hat sich bei<br />
einigen neueren Lern-DVDs für Babys eine negative Wirkung auf<br />
die Sprachentwicklung gezeigt (▶ Exkurs 6.3).<br />
Inzwischen sind Bildschirme von den Wohnz<strong>im</strong>mern über<br />
die Schlafz<strong>im</strong>mer bis in die Taschen der Kinder vorgedrungen<br />
<strong>und</strong> die Sorgen über die viele Zeit am Bildschirm gewachsen.<br />
US-amerikanische Kinder verbringen heutzutage mehr Zeit mit<br />
Bildschirmmedien als mit jeder anderen Aktivität außer Schulbesuch<br />
<strong>und</strong> Schlafen. Das ergab eine Umfrage zum Medienkonsum<br />
in Haushalten mit Kindern zwischen zwei <strong>und</strong> 17 Jahren,<br />
die in den USA b<strong>und</strong>esweit von der Kaiser Family Fo<strong>und</strong>ation<br />
durchgeführt wurde (Rideout et al. 2010). Der Medienkonsum<br />
n<strong>im</strong>mt unglaublich schnell zu. So schnellte die tägliche Bildschirmzeit<br />
bei Acht- bis 18-Jährigen von <strong>im</strong> Mittel 6 h 25 min <strong>im</strong><br />
Jahr 2005 auf 7 h 38 min <strong>im</strong> Jahr 2010 hoch. In diesem Zeitraum<br />
stieg die Nutzung bei allen elektronischen Medien an, besonders<br />
durch die sozialen Netzwerke (▶ Exkurs 13.2), die Möglichkeit<br />
zeitversetzten Fernsehens (unabhängig von festen Sendezeiten<br />
<strong>im</strong> Fernsehprogramm) <strong>und</strong> die explosionsartige Vermehrung<br />
mobiler elektronischer Geräte. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts<br />
Pew ergab 2012, dass 37 % der amerikanischen<br />
Teenager Smartphones haben <strong>und</strong> 23 % einen Tablet-Computer<br />
besitzen (Madden et al. 2013). Drei Viertel der Teenager nutzen<br />
ihre mobilen Geräte für den Zugang zum Internet. Auch jüngere<br />
Kinder tauchen in diese Medienwelt ein: Kinder unter sechs<br />
Jahren verbringen mehr Zeit mit Unterhaltungselektronik, als<br />
sie für Lesen, Zuhören be<strong>im</strong> Vorlesen <strong>und</strong> Spielen <strong>im</strong> Freien<br />
zusammengenommen verwenden (Rideout et al. 2010).<br />
Bedenken in Bezug auf den Medienkonsum<br />
von Kindern<br />
Das Wesen <strong>und</strong> das Ausmaß kindlichen Medienkonsums wecken<br />
viele Bedenken, die von möglichen Auswirkungen der in den<br />
Medien gezeigten Gewalt <strong>und</strong> Pornografie bis zu Befürchtungen<br />
<strong>im</strong> Hinblick auf Isolation <strong>und</strong> Untätigkeit reichen.<br />
Gewalt in den Medien Bei den vorgebrachten Bedenken<br />
steht vor allem die Befürchtung <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong>, dass eine regelmäßige<br />
Portion an Gewaltszenen in Fernsehsendungen, Computerspielen<br />
<strong>und</strong> Liedertexten die Kinder gewalttätig machen<br />
könnte. Die Befürchtung entstand ursprünglich aus dem Faktum,<br />
dass es <strong>im</strong> Fernsehen eine Flut von Gewaltszenen gibt. Die<br />
umfassende National Television Violence Study berichtete, dass<br />
61 % aller Fernsehsendungen zwischen 1994 <strong>und</strong> 1997 Gewaltepisoden<br />
enthielten (Wilson et al. 1997). Und die Gewalt hat sich<br />
bei den sechs größten amerikanischen TV-Sendern in den Jahren<br />
2005 <strong>und</strong> 2006 auf ein Niveau von 4,4 Gewaltakten pro St<strong>und</strong>e<br />
während der Hauptsendezeiten erhöht (Parents Television Council<br />
2007). Zudem wird Aggression in Fernsehsendungen meist<br />
glorifiziert oder bagatellisiert, wobei die von den Helden ausgeübte<br />
Gewalt selten bestraft oder verurteilt wird.<br />
Ausführliche Überblicksartikel über die kaum überschaubare<br />
Menge an Forschungsarbeiten zu diesem Thema führten<br />
die Forscher zu dem Schluss, dass die wissenschaftliche Debatte,<br />
ob Gewaltdarstellung in den Medien Aggression <strong>und</strong> Gewalt<br />
anheizt, vorüber ist. Die Bef<strong>und</strong>e belegen klar, dass Gewalt in<br />
den Medien negative Auswirkungen auf die Kinder hat. Dazu<br />
gab die Pressestelle der American Academy of Pediatrics 2009<br />
die folgende Erklärung ab: „Die Forschung über gewalthaltige<br />
Fernsehsendungen <strong>und</strong> Filme, Videospiele <strong>und</strong> Musik lieferte<br />
den eindeutigen Beweis, dass Gewalt in den Medien die Wahrscheinlichkeit<br />
aggressiven <strong>und</strong> gewalttätigen Verhaltens erhöht,<br />
<strong>und</strong> dies sowohl in den unmittelbaren als auch in langfristigen<br />
Kontexten.“<br />
Die Gewalt in den Medien wirkt auf vier verschiedenen Wegen<br />
(Anderson et al. 2003):<br />
1. Das Sehen von Schauspielern, die sich aggressiv betätigen,<br />
lehrt aggressive Verhaltensweisen <strong>und</strong> regt zur Imitation an.<br />
2. Das Zuschauen bei Gewalthandlungen aktiviert <strong>im</strong> Betrachter<br />
eigene aggressive Gedanken, Gefühle <strong>und</strong> Neigungen.<br />
Diese Verstärkung eigener Einstellungen zu Aggression <strong>und</strong><br />
Gewalt macht es wahrscheinlicher, dass ein Zuschauer später<br />
neue Ereignisse als aggressives Verhalten interpretiert<br />
<strong>und</strong> darauf aggressiv reagiert. Wenn Gewaltassoziationen<br />
häufig aktiviert werden, dann können sie Bestandteil des<br />
normalen inneren Zustands des betreffenden Menschen<br />
werden.<br />
3. Gewalt in den Medien wirkt auf die meisten Jugendlichen<br />
aufregend <strong>und</strong> st<strong>im</strong>ulierend, <strong>und</strong> ihr erhöhter physiologischer<br />
Aktiviertheitsgrad lässt sie unmittelbar nach dem Anschauen<br />
von Gewalt in Filmen eher gewalttätig auf Provokationen<br />
reagieren.<br />
4. Das langfristige Konsumieren von Gewalt in den Medien<br />
führt allmählich zu emotionaler Abstumpfung – einem Absinken<br />
des Grades an unangenehmer physiologischer Aktiviertheit,<br />
wie sie die meisten Menschen be<strong>im</strong> Beobachten<br />
von Gewalt empfinden. Weil diese Art des Aktiviertseins<br />
normalerweise gewalttätiges Verhalten hemmen hilft, kann<br />
emotionale Desensibilisierung gewaltförmiges Denken <strong>und</strong><br />
Verhalten wahrscheinlicher machen.
Ökologische Entwicklungstheorien<br />
343 9<br />
..<br />
Die verbreitete Praxis, einen Großteil der Zeit mit Fernsehen zu verbringen<br />
<strong>und</strong> dabei Snacks mit hohem Fettgehalt zu konsumieren, erhöht die Wahrscheinlichkeit<br />
kindlicher Fettleibigkeit. (© Donna Day/Getty Images)<br />
..<br />
Forscher kamen zu dem Schluss, dass das Zuschauen bei Gewalt in den<br />
Medien das Auftreten von Aggression <strong>und</strong> gewalttätigem Verhalten erhöht.<br />
(© Edouard Berne/Getty Images)<br />
Körperliche Untätigkeit Eine weitere Befürchtung hat damit zu<br />
tun, dass ein Kind, das sich vom Fernseh- oder Computerbildschirm<br />
nicht losreißen kann, wenig <strong>im</strong> Freien spielt oder sich<br />
anderweitig körperlich betätigt <strong>und</strong> trainiert. Darüber hinaus<br />
enthalten die Tausende von Werbespots <strong>im</strong> Fernsehen, mit denen<br />
man die Kinder bombardiert (zu Werbungskosten von Milliarden<br />
US-Dollar jährlich), zum Großteil Werbung für zuckerhaltige<br />
Getreideprodukte, Süßigkeiten <strong>und</strong> Fast-Food-Restaurants. Die<br />
mit dem Computergebrauch <strong>und</strong> dem Fernsehen verb<strong>und</strong>ene<br />
sitzende Lebensweise, kombiniert mit dem Ansturm von Werbespots,<br />
die zum Verzehr zucker- <strong>und</strong> fetthaltiger Lebensmittel<br />
ermuntern, hat man mit dem seit Kurzem zu verzeichnenden<br />
Anstieg kindlicher Fettleibigkeit in Zusammenhang gebracht,<br />
den wir in ▶ Kap. 3 diskutiert haben. Und wenn ein Kind einen<br />
Fernsehapparat in seinem Z<strong>im</strong>mer hat – was bei über 70 % der<br />
acht bis 18 Jahre alten Kinder der Fall ist (Rideout et al. 2010) –,<br />
dann steigt das Risiko der Fettleibigkeit um 31 %.<br />
Einfluss auf schulische Leistungen Einer Studie der Kaiser Family<br />
Fo<strong>und</strong>ation zufolge gibt es einen engen Zusammenhang<br />
zwischen dem Umfang des Medienkonsums <strong>und</strong> den schulischen<br />
Leistungsbewertungen (Rideout et al. 2010). Kinder mit extremem<br />
Fernsehkonsum (über mehr als 16 h am Tag) berichten<br />
viel öfter von schlechten Schulabschlüssen (schlechter als C in<br />
der amerikanischen Einstufung) als Kinder mit etwas weniger<br />
Fernsehkonsum (von 3–16 h täglich) oder geringem Fernsehkonsum<br />
(unter 3 h täglich). Natürlich gibt es viele andere Faktoren,<br />
die be<strong>im</strong> Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum <strong>und</strong><br />
Schulabschlüssen <strong>im</strong> Spiel sind: beispielsweise mangelnde elterliche<br />
Betreuung oder ein familiäres Umfeld, in dem Lesen <strong>und</strong><br />
Schularbeiten auch von den Eltern zugunsten von Fernsehen<br />
zurückgestellt werden.<br />
Allerdings gibt es eine raffiniert konzipierte Studie, die einen<br />
kausalen Zusammenhang zwischen Videospielen <strong>und</strong> Schulabschlüssen<br />
nachweisen konnte (Weis <strong>und</strong> Cerankosky 2010).<br />
Dabei wurden Jungen von der ersten bis zur dritten Schulklasse<br />
untersucht, die keine Videospielkonsolen besaßen <strong>und</strong> nach dem<br />
Zufallsprinzip in zwei Gruppen aufgeteilt wurden: eine Gruppe,<br />
die zu Beginn der Untersuchung eine Videokonsole bekam, <strong>und</strong><br />
eine, die die Konsole nach Abschluss der Studie erhielt (aus Gerechtigkeitsgründen).<br />
Die Jungen, die sofort eine Videokonsole<br />
hatten, verbrachten danach außerhalb der Schulzeiten weniger<br />
Zeit mit Schulaufgaben als die Jungen in der Vergleichsgruppe,<br />
<strong>und</strong> sie schnitten nach vier Monaten in Schreiben <strong>und</strong> Lesen<br />
schlechter ab <strong>und</strong> hatten auch nach Angaben der Lehrer mehr<br />
schulische Probleme als die Jungen in der Vergleichsgruppe. Diejenigen<br />
Jungen, die am meisten Zeit mit Videospielen verbracht<br />
hatten, waren in ihren Schulleistungen am schwächsten.<br />
Soziale Ungleichheit Eine weitere Sorge betrifft die sozioökonomischen<br />
Ungleichheiten, die sich durch eine „digitale<br />
Trennung“ vergrößern könnten – weil die ungleichen Zugangsmöglichkeiten<br />
zu Computern <strong>und</strong> ihrer Benutzung eine<br />
Funktion des ungleichen sozioökonomischen Status sind. In der<br />
Schule haben die meisten Kinder in gewissem Umfang Zugang<br />
zu Computern, aber es gibt große Unterschiede zwischen Familien<br />
aus unteren <strong>und</strong> höheren Schichten, was die Verfügbarkeit
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Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />
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von Computern <strong>im</strong> Elternhaus betrifft. Privilegiertere Familien<br />
besitzen häufig neuere, leistungsfähigere Computer <strong>und</strong> mehr als<br />
einen. Kinder aus besser situierten Familien können also viel eher<br />
Computer für die Hausaufgaben <strong>und</strong> den Zugang zum Internet<br />
nutzen als Kinder aus ärmeren Familien. Die Ungleichheit be<strong>im</strong><br />
Zugang zu Computern ist innerhalb der Schulen weniger extrem,<br />
in denen Computer auch in ärmeren Wohnbezirken für Schüler<br />
bereitgestellt werden.<br />
Pornografie Eine ernste Befürchtung vieler Eltern ist, dass<br />
Kinder <strong>im</strong> Fernsehen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Internet mit Pornografie in Berührung<br />
kommen könnten, sei es nun versehentlich oder mit Absicht.<br />
Wegen der leichten Zugänglichkeit ist die Online-Pornografie besonders<br />
problematisch. Amerikanische Kinder kommen <strong>im</strong> Alter<br />
von durchschnittlich elf Jahren erstmals mit Pornografie <strong>im</strong> Netz<br />
in Berührung (Ropelato 2009). Die Forschungsbef<strong>und</strong>e lassen<br />
vermuten, dass das Anschauen von Pornografie bei Kindern <strong>und</strong><br />
Jugendlichen dazu führt, dass sie die Gewalt gegen Frauen eher<br />
tolerieren <strong>und</strong> vor- <strong>und</strong> außerehelichen Geschlechtsverkehr eher<br />
akzeptieren (Greenfield 2004).<br />
Besonders bedenklich ist Pornografie mit Kindern in den<br />
Hauptrollen. Kinderpornografie ist eine Multi-Milliarden-<br />
Dollar-Industrie <strong>und</strong> gehört zu den am schnellsten wachsenden<br />
Kr<strong>im</strong>inalitätsbereichen <strong>im</strong> Internet (Federal Bureau of Investigation,<br />
o.J.). Heutzutage nutzen Pädophile für gewöhnlich das<br />
Internet einschließlich Chatrooms, um gesetzeswidrige Fotos von<br />
Kindern auszutauschen <strong>und</strong> Kinder in sexuelle Beziehungen zu<br />
locken.<br />
Die wirksamsten Waffen gegen die verschiedenen negativen<br />
Wirkungen der Massenmedien auf Kinder bieten sich an auf der<br />
Ebene des Mikrosystems – Eltern können den Zugang ihrer Kinder<br />
zu unerwünschten Medien kontrollieren – <strong>und</strong> auf der Ebene<br />
des Makrosystems – mit Vorschriften <strong>und</strong> Gesetzen lassen sich<br />
die negativen Auswüchse der Massenmedien beschränken, mit<br />
denen Kinder Umgang haben. Die Belange freier Meinungsäußerung<br />
<strong>und</strong>, <strong>im</strong> Fall der Internetpornografie, die globale Struktur<br />
des Problems machen eine wirksame Kontrolle allerdings<br />
schwierig.<br />
Sozioökonomischer Status <strong>und</strong> Entwicklung<br />
Wie schon mehrfach betont, hat der sozioökonomische Status<br />
der Familie eine tiefgreifende Wirkung auf die <strong>Kindes</strong>entwicklung.<br />
Diese Wirkungen entstehen auf jeder Ebene des bioökologischen<br />
Modells. Im Mikrosystem sind die Kinder von Wohnverhältnissen<br />
ihrer Familien <strong>und</strong> von ihrer Nachbarschaft mit<br />
betroffen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Mesosystem vom Zustand ihrer Schule <strong>und</strong><br />
der Qualität ihrer Lehrer. Zu den Exosystemeinflüssen gehört<br />
die Art der elterlichen Arbeitsstelle beziehungsweise Arbeitslosigkeit.<br />
Makrosystemfaktoren sind unter anderem die Regierungspolitik,<br />
die auf den Arbeitsmarkt wirkt <strong>und</strong> Programme<br />
wie Head Start ins Leben ruft, das auf einkommensschwache<br />
Familien abgest<strong>im</strong>mt ist.<br />
Durch die strukturellen Veränderungen, denen der Arbeitsmarkt<br />
<strong>im</strong> Lauf der Zeit unterworfen ist, kommen auch<br />
Chronosystemfaktoren ins Spiel. So sinkt zum Beispiel in den<br />
Vereinigten Staaten seit vielen Jahren die Anzahl gut bezahlter<br />
Fabrikarbeitsplätze, <strong>und</strong> die sprunghaft zunehmende Arbeitslosigkeit<br />
führt zur Verwahrlosung ganzer Kommunen. Wegen der<br />
sinkenden Steuereinnahmen verfügen diese Kommunen über<br />
geringere Mittel für die Ausstattung von Schulen, Spielplätzen<br />
<strong>und</strong> anderen für Kinder in der Entwicklung wichtigen kommunalen<br />
Ressourcen.<br />
Die nachhaltigen Wirkungen der Armut<br />
In vielen Zusammenhängen haben wir in diesem Buch <strong>im</strong>mer<br />
wieder auf einige Faktoren hingewiesen, die für die Entwicklung<br />
von Kindern, die in Armut leben, enorme Auswirkungen haben.<br />
Die von uns erwähnten Faktoren sind jedoch nur die Spitze<br />
des Eisbergs. . Tabelle 9.1 listet ein breites Spektrum der Unterschiede<br />
in der Umwelt armer <strong>und</strong> wohlhabender Kinder in den<br />
Vereinigten Staaten auf (zusammengefasst aus Evans 2004). Viele<br />
der Bereiche in der Tabelle werden Ihnen vertraut sein, andere<br />
haben Sie vielleicht noch nie in Betracht gezogen. Machen Sie<br />
einmal Gedanken darüber, wie diese verschiedenartigen Aspekte<br />
verarmter Umwelten miteinander interagieren <strong>und</strong> was ihre kumulierte<br />
Wirkung sein könnte. Prüfen Sie auch, wie sich die<br />
vielen in der Tabelle aufgelisteten nachteiligen Faktoren auf die<br />
verschiedenen Ebenen des bioökologischen Modells beziehen,<br />
angefangen von den Prioritätensetzungen <strong>und</strong> Maßnahmen der<br />
Regierung bis hin zur körperlichen Ges<strong>und</strong>heit eines einzelnen<br />
<strong>Kindes</strong>, das in Armut aufwächst.<br />
Be<strong>im</strong> Betrachten der Tabelle sollten Sie sich auch zwei Punkte<br />
ins Gedächtnis zurückrufen, die <strong>im</strong> Zusammenhang mit multiplen<br />
Risiken in ▶ Kap. 2 erläutert wurden. Entscheidend ist erstens,<br />
inwieweit mehrere Umweltrisikofaktoren akkumuliert bei<br />
einem Kind wirken (Evans 2004). Ein Kind, das von seinen Eltern<br />
vernachlässigt wird, kann damit vielleicht noch einigermaßen<br />
zurechtkommen; schwieriger wird es, wenn das Kind darüber<br />
hinaus eine schlechte Schule in gefahrenreicher Nachbarschaft<br />
besucht. Zweitens unterscheiden sich Kinder, wie in ▶ Kap. 10<br />
<strong>und</strong> 11 näher erläutert wird, darin, wie stark sie durch Umwelteinflüsse<br />
beeinflussbar sind, seien es nun positive oder negative<br />
Einflüsse (Belsky et al. 2007).<br />
Weil wir innerhalb dieses Buches viele spezifische Auswirkungen<br />
der Armut auf die Entwicklung erörtern, wollen wir sie<br />
hier nicht eingehender beschreiben, sondern einen Effekt des<br />
sozioökonomischen Status diskutieren, der häufig unbemerkt<br />
bleibt: den Preis des Wohlstands.<br />
Der Preis des Wohlstands<br />
Entgegen der landläufigen Meinung kann auch das Aufwachsen<br />
in sehr wohlhabenden Familien negative Wirkungen auf die<br />
Entwicklung haben. Das Stereotyp vom „armen kleinen reichen<br />
Kind“ scheint in der Realität eine gewisse Entsprechung zu finden.<br />
So berichten reiche Jugendliche <strong>im</strong> Vergleich zu ärmeren<br />
von stärkerer Angst, schwereren Depressionen <strong>und</strong> häufigerem<br />
Gebrauch verbotener Substanzen (Zigaretten, Alkohol, Marihuana<br />
<strong>und</strong> anderen Drogen) (Luthar 2003). Zwar ist der Gebrauch<br />
von verbotenen Betäubungsmitteln mit Depressionen<br />
<strong>und</strong> Ängstlichkeit verknüpft, aber er hängt auch mit Beliebtheit<br />
zusammen, was nahelegt, dass die Einflüsse von Gleichaltrigen<br />
dieses Verhalten aktiv fördern.
Ökologische Entwicklungstheorien<br />
345 9<br />
..<br />
Tab. 9.1 Die Umwelt von Kindern in Armut. (Evans 2004)<br />
Einige Faktoren, in denen sich die materiellen <strong>und</strong> sozialen Umwelten von Kindern, die in Armut aufwachsen, von denen der Kinder aus reicherem<br />
Hause unterscheiden<br />
Materielle Umwelt<br />
Das Zuhause<br />
Unzureichende Unterbringung<br />
Strukturelle Mängel<br />
Unzureichende Heizung<br />
Verunreinigtes Trinkwasser<br />
Schlechte Luft <strong>im</strong> Hause (einschließlich elterliches Rauchen)<br />
Ungezieferbefall<br />
Wenige Sicherheitsvorkehrungen (z. B. Rauchmelder)<br />
Überbelegte Wohnungen (Anzahl der Bewohner)<br />
Kleine Höfe (falls überhaupt)<br />
Nachbarschaft<br />
Schadstoffe<br />
– Luftverschmutzung (z. B. in der Nähe von Autobahnen <strong>und</strong> Fabriken)<br />
– Wasser- <strong>und</strong> Bodenverschmutzung (Fabriken, toxische Abfälle)<br />
– Kontaminierungen (Blei, Pestizide)<br />
Kaum Parks oder Freiflächen<br />
Kaum Orte für informelle Zusammenkünfte<br />
Unzureichende kommunale Dienstleistungen (Müllabfuhr, Polizei,<br />
Feuerwehr)<br />
Kaum Läden, Dienstleister, Supermärkte<br />
Geringer öffentlicher Nahverkehr, kaum Taxis<br />
Mehr Bars <strong>und</strong> Kneipen<br />
Mehr physikalische Gefa