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Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter - Siegler, DeLoache,Eisenberg

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Robert <strong>Siegler</strong> · Nancy <strong>Eisenberg</strong><br />

Judy De Loache · Jenny Saffran<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong><br />

Jugend alter<br />

Deutsche Ausgabe<br />

herausgegeben von Sabina Pauen<br />

4. Auflage


<strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>


<br />

Für die, die wir lieben


Robert <strong>Siegler</strong><br />

Nancy <strong>Eisenberg</strong><br />

Judy <strong>DeLoache</strong><br />

Jenny Saffran<br />

<strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>-<br />

<strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong><br />

4. Auflage<br />

Aus dem Amerikanischen übersetzt<br />

von Katharina Neuser-von Oettingen<br />

unter Mitarbeit von Joach<strong>im</strong> Grabowski<br />

<strong>und</strong> Edeltraud Schönfeldt<br />

Deutsche Ausgabe herausgegeben<br />

von Sabina Pauen


<br />

Robert <strong>Siegler</strong><br />

Pittsburgh, USA<br />

Nancy <strong>Eisenberg</strong><br />

Tempe, USA<br />

Judy <strong>DeLoache</strong><br />

Charlottesville, USA<br />

Jenny Saffran<br />

Madison, USA<br />

ISBN 978-3-662-47027-5 ISBN 978-3-662-47028-2 (eBook)<br />

DOI 10.1007/978-3-662-47028-2<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />

Daten sind <strong>im</strong> Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

First published in the United States by W. H. Freeman and Co., New York, © 2014 by W. H. Freeman and Company. All rights reserved.<br />

Erstmals erschienen 2014 bei W. H. Freeman and Company, New York, © 2014 W. H. Freeman and Company. Alle Rechte vorbehalten<br />

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011, 2005, 2016<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz<br />

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Der Verlag, die Autoren <strong>und</strong> die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben <strong>und</strong> Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt<br />

der Veröffentlichung vollständig <strong>und</strong> korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen,<br />

ausdrücklich oder <strong>im</strong>plizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.<br />

Planung: Marion Krämer<br />

Übersetzung: Aus dem Amerikanischen übersetzt von Katharina Neuser-von Oettingen unter Mitarbeit von Joach<strong>im</strong> Grabowski <strong>und</strong><br />

Edeltraud Schönfeldt<br />

Gedruckt auf säurefreiem <strong>und</strong> chlorfrei gebleichtem Papier<br />

Springer-Verlag GmbH Berlin Heidelberg ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)


V<br />

Vorwort zur amerikanischen Auflage<br />

Im Forschungsfeld der <strong>Kindes</strong>entwicklung erleben<br />

wir eine aufregende Zeit. Das vergangene Jahrzehnt<br />

brachte neue Theorien, neue Wege des Denkens,<br />

neue Forschungsbereiche <strong>und</strong> zahllose neue Bef<strong>und</strong>e<br />

auf diesem Gebiet. Wir haben das vorliegende Buch<br />

ursprünglich geschrieben, um dieses stetig wachsende<br />

Wissen über Kinder <strong>und</strong> ihre Entwicklung<br />

zu beschreiben <strong>und</strong> unsere Begeisterung über den<br />

Fortschritt zu vermitteln, der be<strong>im</strong> Verstehen der<br />

Entwicklungsprozesse erzielt wurde. Wir freuen uns,<br />

dieses Bestreben mit Erscheinen der vierten Auflage<br />

von <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong><br />

fortsetzen zu können.<br />

Als Lehrende <strong>im</strong> Bereich <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

sind wir uns der Anforderungen bewusst, die sich<br />

be<strong>im</strong> Versuch stellen, die Fortschritte <strong>und</strong> Entdeckungen<br />

zusammen mit den wichtigsten früheren Vorstellungen<br />

<strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>en <strong>im</strong> Rahmen eines Semesters<br />

darzustellen. Deshalb haben wir nicht enzyklopädische<br />

Vollständigkeit angestrebt, sondern uns darauf<br />

konzentriert, die wichtigsten Entwicklungsphänomene<br />

herauszuarbeiten <strong>und</strong> sie in hinlänglicher Tiefe<br />

zu beschreiben, um sie für Studierende sinnvoll <strong>und</strong><br />

einprägsam zu machen. Kurzum, unser Ziel bestand<br />

darin, ein Lehrbuch zu schreiben, das als Gr<strong>und</strong>lage<br />

einer Lehrveranstaltung zur <strong>Kindes</strong>entwicklung dienen<br />

kann <strong>und</strong> für Studierende <strong>und</strong> Lehrende gleichermaßen<br />

schlüssig <strong>und</strong> unterhaltsam ist.<br />

Klassische Themen<br />

Der Ausgangspunkt für die Konzeption dieses Buches<br />

besteht darin, dass ganz verschiedene Bereiche<br />

der <strong>Kindes</strong>entwicklung von einer kleinen Anzahl<br />

gemeinsamer Themen zusammengehalten werden.<br />

Diese Themen lassen sich in Form von Fragen formulieren,<br />

welche die Forschung zur <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

zu beantworten versucht:<br />

1. Wie formen Anlage <strong>und</strong> Umwelt gemeinsam die<br />

Entwicklung?<br />

2. Wie formen Kinder ihre eigene Entwicklung?<br />

3. In welcher Hinsicht verläuft Entwicklung kontinuierlich,<br />

in welcher diskontinuierlich?<br />

4. Wie ergeben sich Veränderungen?<br />

5. Wie beeinflusst der soziokulturelle Kontext die<br />

Entwicklung?<br />

6. Wie kommt es, dass sich Kinder so stark voneinander<br />

unterscheiden?<br />

7. Wie kann Forschung zur Förderung des <strong>Kindes</strong>wohls<br />

beitragen?<br />

Diese sieben Themen bilden die Kernstruktur des<br />

Buches. Sie werden in ▶ Kap. 1 anschaulich eingeführt<br />

<strong>und</strong> werden in den sich daran anschließenden<br />

14 Kapiteln thematisch <strong>im</strong>mer wieder aufgegriffen,<br />

wenn sie inhaltlich wichtig sind. Im Schlusskapitel<br />

werden diese sieben Themen als Rahmen genutzt,<br />

um die jeweils wichtigen Bef<strong>und</strong>e aus allen Entwicklungsbereichen<br />

einzuordnen. Durch die kontinuierliche<br />

Behandlung der gleichen Fragen können wir<br />

eine Geschichte erzählen, die mit einer Einleitung<br />

beginnt (in der wir die Themen vorstellen), einen<br />

Mittelteil besitzt (in dem wir die themenrelevanten<br />

Bef<strong>und</strong>e darstellen) <strong>und</strong> einen Schluss hat (in dem wir<br />

einen Überblick darüber geben, was die Studierenden<br />

über die einzelnen Themen gelernt haben). Wir sind<br />

überzeugt, dass diese themenbezogene Betonung <strong>und</strong><br />

Strukturierung den Studierenden nicht nur hilft, die<br />

Fragen zur <strong>Kindes</strong>entwicklung zu verstehen, sondern<br />

ihnen – am Ende der Lehreinheit – auch ein stärkeres<br />

Gefühl der Zufriedenheit <strong>und</strong> der Vollständigkeit des<br />

Lehrstoffs vermittelt.<br />

Die aktuelle Perspektive<br />

Das Ziel, eine durchweg zeitgemäße, aktuelle Perspektive<br />

auf die <strong>Kindes</strong>entwicklung zu bieten, hat sowohl<br />

den Aufbau als auch die Inhalte des Buches best<strong>im</strong>mt.<br />

Völlig neue Bereiche <strong>und</strong> Ansätze haben sich herausgebildet,<br />

die zum Teil noch gar nicht existierten, als<br />

die meisten der heute vorliegenden Lehrbücher zur<br />

<strong>Kindes</strong>entwicklung ursprünglich verfasst wurden.<br />

Der Aufbau von <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong><strong>und</strong><br />

<strong>Jugendalter</strong> folgt der Bestrebung, diese neuen<br />

Themen <strong>und</strong> Ansätze <strong>im</strong> Kontext des Forschungsfeldes<br />

entsprechend dem aktuellen Stand vorzustellen<br />

<strong>und</strong> nicht in Aufbauschemata hineinzuzwängen, die<br />

dem Forschungsfeld zwar früher einmal angemessen<br />

waren, es heutzutage aber nicht mehr sind.<br />

Nehmen wir den Fall von Piagets Theorie <strong>und</strong> der dazugehörigen<br />

Forschungen neueren Datums. Meistens<br />

wird die Theorie in einem eigenen Kapitel vorgestellt,<br />

von dem drei Viertel eine ausführliche Beschreibung<br />

der Theorie enthalten <strong>und</strong> der Rest aktuelle Forschungsarbeiten<br />

darstellt, die auf Probleme mit der<br />

Theorie aufmerksam machen. Bei dieser Vorgehensweise<br />

w<strong>und</strong>ern sich die Studenten, warum man der<br />

Theorie so viel Raum gibt, wenn die neuere Forschung<br />

doch zeigt, dass sie in vielerlei Hinsicht nicht zutrifft.<br />

Tatsache ist, dass sich die Forschungsrichtung, die<br />

vor über vierzig Jahren als Versuch begann, Piagets


VI<br />

Vorwort zur amerikanischen Auflage<br />

Theorie in Frage zu stellen, seitdem zu einem wichtigen<br />

eigenständigen Gebiet entwickelt hat – dem<br />

Bereich der Konzeptentwicklung. Forschungen zur<br />

Konzeptentwicklung bieten umfangreiche Einsichten<br />

zu faszinierenden Fragen, beispielsweise wie Kinder<br />

menschliche Wesen, Pflanzen, Tiere <strong>und</strong> die physikalische<br />

Welt verstehen. Wie in anderen Forschungszusammenhängen<br />

zielen die meisten Untersuchungen<br />

auch hier vorrangig darauf ab, Belege für aktuelle<br />

Annahmen zu entdecken – nicht für oder gegen die<br />

Annahmen Piagets.<br />

Wir haben uns in zweifacher Weise der veränderten<br />

Forschungslandschaft angepasst. Erstens beschreibt<br />

unser Kapitel „Theorien der kognitiven Entwicklung“<br />

(▶ Kap. 4) die gr<strong>und</strong>legenden Annahmen Piagets in<br />

aller Ausführlichkeit <strong>und</strong> bringt seinem Vermächtnis<br />

dadurch gebührenden Respekt entgegen, dass<br />

es sich auf diejenigen Aspekte seines Gesamtwerkes<br />

konzentriert, die sich als nachhaltig erwiesen haben.<br />

Zweitens behandelt das Kapitel „Die Entwicklung von<br />

Konzepten“ (▶ Kap. 7) auf neue Art die Fragestellungen,<br />

die von Piagets Theorie angeregt wurden, indem<br />

es sich auf moderne Ansätze <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>e zu diesen<br />

Fragestellungen konzentriert. Durch eine solche Vorgehensweise<br />

können wir den Studierenden einiges<br />

über die zahlreichen interessanten Annahmen <strong>und</strong><br />

Beobachtungen vermitteln, die auf diesem Gebiet entstanden<br />

sind, ohne neue Bef<strong>und</strong>e künstlich als „pro“<br />

oder „kontra“ Piaget kategorisieren zu müssen.<br />

Ein Lehrbuch auf der Gr<strong>und</strong>lage des aktuellen Kenntnisstandes<br />

gibt uns die Chance, wichtige Positionen<br />

innerhalb von Bereichen wie Epigenetik oder Verhaltensgenetik,<br />

Gehirnentwicklung, pränatales Lernen,<br />

das Denken des Säuglings, der Erwerb wissenschaftlicher<br />

Fähigkeiten, die emotionale Entwicklung, prosoziales<br />

Verhalten <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaftsmuster aufzunehmen<br />

– alles Bereiche, die sich rasant entwickeln.<br />

In allen diesen Forschungsgebieten waren in den vergangenen<br />

Jahren wichtige Durchbrüche zu verzeichnen,<br />

<strong>und</strong> ihre wachsende Bedeutung führte in dieser<br />

Auflage zu noch stärkerer Gewichtung.<br />

Zur Sache kommen<br />

Unser Bestreben, eine aktuelle, geradlinige Herangehensweise<br />

zu bieten, führte zu weiteren Abweichungen<br />

vom traditionellen Aufbau eines Lehrbuchs. Nach<br />

unserer Erfahrung belegen die heutigen Studenten<br />

Veranstaltungen zur <strong>Kindes</strong>entwicklung aus ganz unterschiedlichen<br />

praktischen Erwägungen <strong>und</strong> wollen<br />

vor allem etwas über Kinder lernen. In der Lehrbuchtradition<br />

kamen erst nach zwei, drei oder gar vier Kapiteln<br />

– über die Geschichte des Forschungsgebiets,<br />

über die wichtigen Theorien, über Forschungsmethoden,<br />

über Genetik – die Kinder selbst als Forschungsthema<br />

an die Reihe. Wir wollten demgegenüber von<br />

vornherein an die ursprüngliche Motivation der Studentinnen<br />

<strong>und</strong> Studenten anknüpfen.<br />

Statt also das Buch mit einer ausführlichen Darstellung<br />

zur Geschichte des Fachs zu eröffnen, beschränken wir<br />

uns <strong>im</strong> ersten Kapitel auf einen kurzen Überblick über<br />

den sozialen <strong>und</strong> intellektuellen Kontext, aus dem die<br />

wissenschaftliche Beschäftigung mit Kindern entstand;<br />

<strong>und</strong> auch in den nachfolgenden Kapiteln liefern wir<br />

historische Hintergründe <strong>im</strong>mer dann, wenn sie sachdienlich<br />

sind. Statt eines einleitenden „Blockbuster“-<br />

Theoriekapitels, das alle wichtigen kognitiven <strong>und</strong><br />

sozialen Theorien in einem Kapitel sammelt (an einer<br />

Stelle, die weit von den Inhaltskapiteln entfernt liegt, in<br />

denen diese Theorien angewendet werden), erläutern<br />

wir in ▶ Kap. 4 die Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

unmittelbar vor den Kapiteln, die sich auf spezielle<br />

Aspekte der kognitiven Entwicklung konzentrieren,<br />

<strong>und</strong> in ▶ Kap. 5 die Theorien der sozialen Entwicklung<br />

unmittelbar vor den Kapiteln, die sich mit speziellen<br />

Aspekten der sozialen Entwicklung befassen. Statt eines<br />

eigenen Kapitels über Genetik sind die Gr<strong>und</strong>lagen<br />

der Genetik in ▶ Kap. 3 „Biologie <strong>und</strong> Verhalten“ mit<br />

aufgenommen <strong>und</strong> darüber hinaus werden Beiträge<br />

der Genetik zu einigen interindividuellen Unterschieden<br />

<strong>im</strong> weiteren Verlauf des Buches diskutiert. Als wir<br />

uns zu diesem Aufbau entschlossen, wollten wir die<br />

Studierenden schon in den ersten Semesterwochen<br />

dafür begeistern herauszufinden, wie sich Kinder entwickeln.<br />

Nach der überwältigend positiven Resonanz<br />

zu urteilen, die wir von Lernenden ebenso wie von<br />

Lehrenden erhielten, ist uns das gelungen.<br />

Spezielle Merkmale<br />

Das wichtigste Merkmal dieses Buches ist die Art der<br />

Darstellung, die wir so klar, überzeugend <strong>und</strong> interessant<br />

wie möglich zu gestalten versucht haben. Wie<br />

in den früheren Auflagen haben wir besonderes Augenmerk<br />

darauf gelegt, den Stoff einer breiten Gruppe<br />

von Studierenden zugänglich zu machen.<br />

Um den Reiz <strong>und</strong> die Zugänglichkeit des Textes weiter<br />

zu erhöhen, haben wir die drei Arten von Exkursen in<br />

Form von Kästen beibehalten, die Themen von besonderem<br />

Interesse genauer beleuchten. „Anwendungs“-<br />

Kästen richten sich darauf, wie Forschungsarbeiten<br />

über <strong>Kindes</strong>entwicklung nutzbar sind, um das Wohlergehen<br />

der Kinder zu fördern. Zu den Anwendungen,<br />

die in diesen Kästen zusammengefasst dargelegt sind,<br />

zählen Brettspiel-Verfahren, um das Zahlenverständnis<br />

von Vorschulkindern zu verbessern; das Carolina


Vorwort zur amerikanischen Auflage<br />

VII<br />

Abecedarian Project; Maßnahmen zur Reduzierung<br />

von <strong>Kindes</strong>missbrauch; Programme wie PATHS, mit<br />

deren Hilfe Außenseiter bei ihren Altersgenossen<br />

größere Akzeptanz finden können; <strong>und</strong> schnelle Interventionen,<br />

die aggressive Kinder lehren, wie sie mit<br />

ihrer Wut <strong>und</strong> ihren antisozialen Verhaltenstendenzen<br />

besser umgehen können. Kästen über „Individuelle<br />

Unterschiede“ befassen sich mit Bevölkerungsgruppen,<br />

die sich <strong>im</strong> Hinblick auf das jeweilige Thema von<br />

der Norm unterscheiden, oder mit Unterschieden<br />

zwischen Kindern in derselben Bevölkerungsgruppe.<br />

Einige dieser Kästen beleuchten Entwicklungsprobleme<br />

wie Autismus, die Aufmerksamkeitsdefizit- <strong>und</strong><br />

Hyperaktivitätsstörung, Dyslexie, spezifischen Sprach<strong>und</strong><br />

Verhaltensstörungen; andere befassen sich mit<br />

Unterschieden der <strong>Kindes</strong>entwicklung, die mit dem<br />

Bindungsstatus, dem Geschlecht <strong>und</strong> mit kulturellen<br />

Unterschieden zu tun haben. Die Kästen „Näher<br />

betrachtet“ vertiefen wichtige <strong>und</strong> interessante Forschungsarbeiten<br />

eingehender, als dies <strong>im</strong> allgemeinen<br />

Textzusammenhang möglich wäre. Die behandelten<br />

Gebiete reichen von bildgebenden Verfahren in der<br />

Gehirnforschung über die geschlechtsspezifische Sozialisation<br />

in der Familie bis hin zu den Auswirkungen<br />

von Obdachlosigkeit auf die Entwicklung.<br />

Beibehalten haben wir auch eine Reihe anderer Besonderheiten,<br />

die dazu gedacht sind, den Lernprozess<br />

der Studierenden zu verbessern. Zu diesen Besonderheiten<br />

gehören das Hervorheben von Schlüsselbegriffen<br />

durch Fettdruck <strong>und</strong> das Einfügen der Definition<br />

direkt <strong>im</strong> Text sowie <strong>im</strong> Glossar des Anhangs; das Bereitstellen<br />

von Zusammenfassungen am Ende jedes<br />

größeren Abschnitts („In Kürze“) <strong>und</strong> von Gesamtzusammenfassungen<br />

am Kapitelende; <strong>und</strong> ganz am<br />

Ende eines jeden Kapitels das Anfügen weiterführender<br />

Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße, um eine vertiefte Auseinandersetzung<br />

mit wichtigen Themen zu fördern.<br />

Neuer <strong>und</strong> erweiterter Rahmen<br />

Bei der Auswahl, welche der vielen neuen Entdeckungen<br />

über <strong>Kindes</strong>entwicklung wir einbeziehen sollten,<br />

haben wir besonderen Wert auf Studien gelegt, die<br />

uns als die interessantesten <strong>und</strong> wichtigsten erschienen.<br />

Dabei haben wir zum einen den gr<strong>und</strong>legenden<br />

Rahmen beibehalten <strong>und</strong> sorgfältig aktualisiert, zum<br />

anderen haben wir eine Reihe faszinierender Forschungsgebiete<br />

erk<strong>und</strong>et, in denen in den letzten<br />

Jahren große Fortschritte erzielt wurden. Zu den Gebieten<br />

des neuen <strong>und</strong> erweiterten Berichtsumfanges<br />

gehören:<br />

-<br />

Epigenetik,<br />

-<br />

Beziehungen<br />

zwischen Genen <strong>und</strong> Umwelt,<br />

Entwicklung <strong>und</strong> Funktionsweise des Gehirns,<br />

einschließlich Methylierung,<br />

die Rolle spezifischer Genvarianten bei best<strong>im</strong>mten<br />

Verhalten,<br />

unterschiedliche Suszeptibilität für Umwelteinflüsse,<br />

Gehirnentwicklung <strong>und</strong> Gehirnfunktionen,<br />

Mechanismen kindlichen Lernens,<br />

das Verstehen anderer Menschen bei Säuglingen,<br />

exekutive Funktionen,<br />

-<br />

kulturelle Einflüsse auf die Entwicklung,<br />

Zusammenhänge zwischen dem kindlichen<br />

Verständnis von Zeit, Raum <strong>und</strong> Zahl,<br />

der Forschung in der Erziehung,<br />

der zunehmende Einfluss sozialer Medien auf<br />

-<br />

Kinder <strong>und</strong> Jugendliche,<br />

Fördermaßnahmen zur sozialen Anpassung.<br />

-<br />

Mathematik-Angst,<br />

-<br />

Anwendungen<br />

Neu in der vierten Auflage<br />

Wir haben unseren Rahmen um eine Reihe von Forschungsgebieten<br />

erweitert, die in den letzten Jahren<br />

sowohl für Studierende als auch für Lehrende der<br />

<strong>Kindes</strong>entwicklung <strong>im</strong>mer wichtiger wurden. Im Folgenden<br />

umreißen wir einige Schwerpunkte der vierten<br />

Auflage. Wir bedanken uns dafür, dass Sie sich die<br />

Zeit nehmen, die neue Auflage durchzusehen, <strong>und</strong> wir<br />

hoffen, dass die Erweiterungen in der vierten Auflage<br />

der <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong><br />

für Sie nützlich <strong>und</strong> ansprechend sind.


IX<br />

Danksagung<br />

Zu diesem Buch haben so viele Menschen (unmittelbar<br />

oder mittelbar) beigetragen, dass sich nicht sagen<br />

lässt, wo wir mit dem Dank beginnen bzw. enden sollen.<br />

Jeder von uns hat seinem Lebenspartner <strong>und</strong> vielen<br />

anderen für ihre außergewöhnliche Unterstützung<br />

zu danken – Jerry Clore, Jerry Harris, Xiaodong Lin<br />

<strong>und</strong> Seth Pollak – <strong>und</strong> natürlich unseren Kindern –<br />

Benjamin Clore, Michael Harris, Todd, Beth <strong>und</strong> Aron<br />

<strong>Siegler</strong>, Avianna McGhee sowie Eli <strong>und</strong> Nell Pollak –<br />

<strong>und</strong> Eltern, Verwandten <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en sowie allen<br />

anderen, die uns nahe stehen. Unsere Lehrer in College<br />

<strong>und</strong> Universität – Richard Aslin, Ann Brown, Les<br />

Cohen, Harry Hake, Robert Liebert, J<strong>im</strong> Morgan, Paul<br />

Mussen, Ellisa Newport <strong>und</strong> J<strong>im</strong> Port unterstützten<br />

uns zu Beginn unserer Karrieren <strong>und</strong> weckten unsere<br />

Begeisterung für gute Forschung. Darüber hinaus haben<br />

wir natürlich von unseren Mitarbeitern profitiert,<br />

die unsere Wissbegierde für die Kindheitsentwicklung<br />

teilen, <strong>und</strong> von sehr vielen überaus hilfreichen <strong>und</strong><br />

großzügigen Kollegen, darunter Karen Adolph, Martha<br />

Alibali, Renee Baillargeon, Sharon Carver. Zhe<br />

Shen, Richard Fabes, Cindy Fisher, Melanie Jones,<br />

David Klahr, Patrick Lemaire, Angeline Lillard, John<br />

Opfer, Kristin Shutts, Tracy Spinrad, David Uttal <strong>und</strong><br />

Carlos Valiente. Besonderen Dank sagen wir unseren<br />

Assisteninnen Sheri Towe <strong>und</strong> Theresa Treasure, die<br />

auf unzählige Weise bei der Vorbereitung des Buches<br />

geholfen haben.<br />

Wir möchten auf diesem Wege auch all denen danken,<br />

die zur Prüfung des Manuskripts bei dieser <strong>und</strong> vorangehenden<br />

Auflagen des Lehrbuchs beigetragen haben:<br />

Daisuke Akiba, Queens College, City University<br />

of New York; K<strong>im</strong>berly Alkins, Queens College, City<br />

University of New York; Lynne Baker-Ward, North<br />

Carolina State University; Hilary Barth, Wesleyan<br />

University; Christopher Beevers, Texas University;<br />

Martha Bell, Virginia Tech; Cynthia Berg, University<br />

of Utah; Rebecca Bigler, Texas University; Margaret<br />

Borkowski, Saginaw Valley State University; Eric<br />

Buhs, University of Nebraska – Lincoln; G. Leonard<br />

Burns, Washington State University; Wendy Carlson,<br />

Shenandoah University; Kristi Cordell-McNulty, Angelo<br />

State University; Myra Cox, Harold Washington<br />

College; Emily Davidson, Texas A&M University –<br />

Main Campus; Ed de St. Aubin, Marquette University;<br />

Marissa Diener, University of Utah; Sharon Eaves,<br />

Shawnee State University; Urminda Firlan, Grand<br />

Rapids Community College; Dorothy Fragaszy, University<br />

of Georgia; Jeffery Gagne, University of Texas<br />

– Austin; Jennifer Ganger, University of Pittsburg;<br />

Alice Ganzel, Cornell College; Janet Gebelt, Westfield<br />

State University; Jan Gebelt, Westfield State<br />

University; Melissa Ghera, St. John Fischer College;<br />

Susan Graham, University of Calgary; Andrea Greenhood,<br />

University of Kansas; Frederick Grote, Western<br />

Washington University; John Gruszkos, Reynolds<br />

University; Hanna Gustafsson, University of North<br />

Carolina; Alma Guyse, Midland College; Lauren Harris,<br />

Michigan State University; Karen Hartleb, California<br />

State University – Bakerfield; Patricia Hawley,<br />

University of Kansas – Main; Susam Hespos, Northwestern<br />

University; Doris Hiatt, Manmouth University;<br />

Susan Holt, Central Connecticut State University;<br />

Lisa Huffman, Ball State University; Kathryn<br />

Kipp, University of Georgia; Rosemary Krawczyk,<br />

Minnesota State University; Raymond Krukovsky,<br />

Union County College; Tara Kuther, Western Connecticut<br />

State University; Richard Lanthier, George<br />

Washington University; Elida Laski, Boston College;<br />

Kathryn Lemery, Arizona State University; Barbara<br />

Licht, Florida State University; Angeline Lillard, University<br />

of Virginia; Wayne McMillin, Northwestern<br />

State University; Martha Mendes-Baldwin, Manhatten<br />

College; Scott Miller; University of Florida; Keith<br />

Nelson, Pennsylvania State University – Main Campus;<br />

Paul Nicodemus, Austin Peay State University;<br />

Katherine O’Doherty, Vanderbilt University; John<br />

Opfer, The Ohio State University; Ann Repp, Texas<br />

University; Leigh Shaw, Weber State University; Jennifer<br />

S<strong>im</strong>onds, Westminster College; Rebekah Smith,<br />

University of Texas – San Antonio; Mark Strauss,<br />

University of Pittsburgh – Main; Spencer Thompson,<br />

University of Texas – Permian Basin; Lisa Travis,<br />

University of Illinois – Urbana Champaign; Roger<br />

Webb, University of Arkansas – Little Rock; Keri<br />

Weed, University of South Carolina – Aiken; Sherri<br />

Widen, Boston College.<br />

Unser besonderer Dank gilt hier Campbell Leaper,<br />

University of California in Santa Cruz, der umfangreich<br />

zur Revision des ▶ Kap. 15 zur Geschlechterentwicklung<br />

beigetragen hat. Er hat sein Wissen <strong>und</strong><br />

seine Erfahrung auf diesem wichtigen Gebiet eingebracht<br />

<strong>und</strong> ihm verdanken wir viele wichtige Einsichten.<br />

Und natürlich gilt unseren Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Kollegen bei<br />

Worth Publishers ein besonderer Dank: den Lektoren,<br />

Daniel DeBonis <strong>und</strong> Kevin Feyen, die das Buch geplant<br />

bzw. betreut haben, verdanken wir eine überaus<br />

intensive Begleitung <strong>und</strong> einige sehr wertvolle Anregungen.<br />

Hier möchten wir auch Marge Byers danken,<br />

die uns bei der ersten Auflage zugearbeitet <strong>und</strong> geholfen<br />

hat, unsere Vision umzusetzen. Peter Deane, der<br />

die Entwicklung des Manuskripts <strong>im</strong> Lektorat beglei-


X<br />

Danksagung<br />

tet hat, ist eine Klasse für sich, was die Fähigkeiten<br />

<strong>und</strong> Hingabe bei der Manuskriptbearbeitung betrifft.<br />

Sein kreatives Denken <strong>und</strong> sein klarer Sachverstand<br />

hat die inhaltliche Darstellung unendlich verbessert.<br />

Wir sind ihm zutiefst dankbar. Außerdem danken<br />

wir unserer Lektoratsassistentin Nadina Persaud,<br />

der Projektmanagerin Vivian Wiess, der Leiterin der<br />

Entwicklungsabteilung für Druck- <strong>und</strong> elektronische<br />

Publikationen Tracey Kuhn sowie der Artdirektorin<br />

Barbara Rheingold <strong>und</strong> dem Cover- <strong>und</strong> Buchdesigner<br />

Kevin Kall, den Fotoredakteurinnen Bianca Moscatelli<br />

<strong>und</strong> Elyse Rieder für die Bearbeitung <strong>und</strong> Beschaffung<br />

der Fotos, der Herstellerin Sarah Segal <strong>und</strong><br />

der Setzerei Northeastern Graphic für ihre exzellente<br />

Arbeit. Sie haben geholfen, ein Buch zu schaffen, das<br />

unseres Erachtens be<strong>im</strong> Anschauen <strong>und</strong> Lesen Freude<br />

macht. Katherine Nurre hat als Marketingmanagerin<br />

ausgezeichnete Werbematerialien zur Information der<br />

Dozenten entwickelt. Anthony Casciano <strong>und</strong> Stacy<br />

Alexander haben ein w<strong>und</strong>erbares Paket von Zusatzmaterial<br />

geschnürt.<br />

Schließlich wollen wir unserem Buchteam <strong>im</strong> Vertrieb<br />

danken. Tom Kling, Julie Hirshman, Kari Ewalt, Greg<br />

David,, Tom Scotty, Cindy Rabinowitz, Glenn Russell<br />

<strong>und</strong> Matt Dunning haben die Entstehung des Buches<br />

mit Vertriebsperspektiven, wertvollen Vorschlägen<br />

<strong>und</strong> unermüdlichen Enthusiasmus unterstützt.


XI<br />

Vorwort zur deutschen Auflage<br />

Wer <strong>im</strong> Alltag oft mit Kindern zu tun hat, fragt sich,<br />

wann eine Entwicklung „normal“ verläuft, was man<br />

von Kindern in einem gegebenen Alter erwarten kann<br />

<strong>und</strong> wie man ihre Entwicklung auf unterschiedlichen<br />

Ebenen am besten fördert. Das gilt für Eltern, Großeltern<br />

<strong>und</strong> Verwandte genauso wie für Menschen, die<br />

professionell mit der Beratung, Betreuung, Unterrichtung<br />

<strong>und</strong> Behandlung von Kindern betraut sind, wie<br />

etwa Psychologen, Ärzte, Erzieher oder Lehrer. Auch<br />

die Politik hat mittlerweile erkannt, dass die Zukunft<br />

einer Gesellschaft wesentlich davon abhängt, wie gut<br />

sie dafür Sorge trägt, dass ihre Mitglieder von Geburt<br />

an gute Entwicklungsbedingungen vorfinden. Dieses<br />

veränderte gesellschaftliche Bewusstsein stärkt die<br />

Einsicht, dass wir eine moderne entwicklungspsychologische<br />

Forschung <strong>und</strong> Lehre brauchen.<br />

Als Einstiegslektüre zur Prüfungsvorbereitung für das<br />

Vordiplom oder für das Bachelor-Studium, die „Lust<br />

aufs Lernen“ machen sollte, haben wir 2003 gemeinsam<br />

mit führenden Hochschullehrern ein innovatives<br />

Lehrbuch für den deutschen Markt ausgewählt, das<br />

inzwischen zu den internationalen Lehrbuchklassikern<br />

zählt: How Children Develop, dessen Autoren<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong> <strong>und</strong><br />

Jenny R. Saffran zweifellos zu den einflussreichsten<br />

Entwicklungspsychologen unserer Zeit gehören. Der<br />

besondere Charme des Buches liegt darin, dass es von<br />

Wissenschaftlern verfasst wurde, die gleichzeitig Eltern<br />

sind <strong>und</strong> daher neben der Forschung auch die<br />

Anwendung nie aus dem Blick verlieren. So eignet<br />

sich ihr Werk nicht nur für Studenten, sondern auch<br />

als Nachschlagewerk für wissenschaftlich interessierte<br />

Erzieher, Lehrer, Ärzte <strong>und</strong> andere, die beruflich mit<br />

Kindern oder Jugendlichen arbeiten <strong>und</strong> gut über<br />

die Entwicklung Bescheid wissen müssen. Die nun<br />

vorliegende Neuauflage basiert auf der vierten englischen<br />

Ausgabe, die über alle Kapitel hinweg mit Blick<br />

auf neue Forschungsstudien aktualisiert <strong>und</strong> ergänzt<br />

wurde <strong>und</strong> einige kleinere Umstellungen in den Einzelkapiteln<br />

enthält.<br />

Anders als viele Standardwerke verzichtet das Buch<br />

bewusst auf eine strikte Ordnung nach Altersstufen,<br />

Entwicklungstheorien oder Funktionsbereichen.<br />

Stattdessen werden theoretische Überlegungen, empirische<br />

Beobachtungen <strong>und</strong> praktische Implikationen<br />

in jedem einzelnen Kapitel verzahnt. Einige Kapitelüberschriften<br />

beziehen sich auf Theorien (z. B.<br />

▶ Kap. 4: Theorien der kognitiven Entwicklung),<br />

andere auf einen definierten Altersbereich (z. B.<br />

▶ Kap. 5: Die frühe Kindheit) <strong>und</strong> wieder andere auf<br />

einen Funktionsbereich (z. B. ▶ Kap. 6: Die Entwicklung<br />

des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs). Stets werden<br />

dabei die gleichen Leitfragen behandelt (z. B. „Wie<br />

wirken Anlage <strong>und</strong> Umwelt zusammen?“ oder „Wie<br />

kommt es zu Veränderungen?“). Bei der Lektüre des<br />

Textes wird der Leser rasch feststellen, dass diese unkonventionelle<br />

Konzeption den Aufbau eines umfassenden<br />

Wissenssystems erleichtert, weil Sinnbezüge<br />

besonders gut deutlich werden.<br />

Zentrale Begriffe sind dort, wo sie eingeführt werden,<br />

<strong>im</strong> Druck hervorgehoben, näher erläutert <strong>und</strong><br />

<strong>im</strong> Anhang als Glossar zusammengefasst. Exkurse, in<br />

denen Forschung zu speziellen Fragen ausführlicher<br />

dargestellt wird, sind zum Teil für den deutschsprachigen<br />

Leser angepasst <strong>und</strong> ergänzt worden. Kurzzusammenfassungen<br />

der wichtigsten Fakten r<strong>und</strong>en<br />

die Kapitel ab, die mit einer Reihe von Wissens- <strong>und</strong><br />

Denkfragen zum Wiederholen <strong>und</strong> Vertiefen des<br />

Stoffes enden.<br />

Ein <strong>Entwicklungspsychologie</strong>-Lehrbuch herauszugeben,<br />

erfordert Teamarbeit: Hier konnten wir bei<br />

Übersetzung, Herausgabe <strong>und</strong> Lektorat an die Vorarbeit<br />

der ersten deutschen Auflage anknüpfen. Ein<br />

wichtiges Anliegen von uns bestand darin, den Stil des<br />

englischen Originals in der deutschen Übersetzung<br />

zu wahren. Als erfahrener Lehrbuch-Übersetzer hat<br />

Joach<strong>im</strong> Grabowski die Leichtigkeit der englischen<br />

Darstellung in der Vorauflage erhalten <strong>und</strong> damit eine<br />

wichtige Vorarbeit zur Neuübersetzung (durch Katharina<br />

Neuser-von Oettingen) geliefert. Die Verlagsredaktion<br />

<strong>und</strong> -korrektur haben wir uns mit Regine<br />

Z<strong>im</strong>merschied geteilt. Fremdwörter <strong>und</strong> Fachtermini<br />

wurden näher erläutert, um die Verständlichkeit zu<br />

max<strong>im</strong>ieren <strong>und</strong> das Buch auch für „Einsteiger“ lesbar<br />

zu machen. Auch waren wir bemüht, Fachsprache<br />

<strong>und</strong> Umgangssprache so zu verzahnen, dass die unterschiedlichen<br />

Terminologien in den verschiedenen<br />

theoretischen Ansätzen <strong>und</strong> Kontexten alltags- <strong>und</strong><br />

anwendungsnah verstehbar bleiben.<br />

Ein zweites Anliegen bestand darin, an ausgesuchten<br />

Stellen neuere Arbeiten deutscher Entwicklungspsychologen<br />

in den Originaltext zu integrieren, um<br />

exemplarisch zu zeigen, dass auch hierzulande spannende<br />

Forschung betrieben wird. Dabei geholfen haben<br />

verschiedene Kollegen <strong>und</strong> Kolleginnen, denen<br />

wir an dieser Stelle herzlich danken möchten!<br />

Auch <strong>im</strong> Verlag hat uns ein Team zugearbeitet – darunter<br />

Bettina Saglio (Manuskript- <strong>und</strong> Bildredak-


XII<br />

Vorwort zur deutschen Auflage<br />

tion), die für eine ansprechende optische Gestaltung<br />

gesorgt hat. Zahlreiche Bilder wurden von Bernadette<br />

Berg fotografiert, andere stammen aus den Privatbeständen<br />

der Teammitglieder. Sie zusammenzustellen,<br />

hat allen Beteiligten viel Freude bereitet! Die Schlussredaktion<br />

haben wir uns geteilt – die Homogenisierung<br />

der neuen <strong>und</strong> alten Übersetzungsteile <strong>und</strong> der<br />

Fachterminologie blieb in der Verantwortung des<br />

Lektorats, die Supervision <strong>und</strong> Ergänzung aktueller<br />

deutscher Forschungsbeiträge in der Verantwortung<br />

der Herausgeberin. Für fachliche Unzulänglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Druckfehler, die trotz aller unserer Bemühungen<br />

übersehen wurden, tragen wir die Verantwortung.<br />

Der Verlag hat zugesagt, eventuelle Fehlermeldungen<br />

in einer Errata-Liste <strong>im</strong> Internet zugänglich<br />

zu machen. Melden Sie entsprechende Hinweise an<br />

Bettina.Saglio@springer.com.<br />

Wir haben be<strong>im</strong> Lesen <strong>und</strong> Bearbeiten der Neuauflage<br />

nicht nur Arbeit, sondern auch viel Spaß geteilt <strong>und</strong><br />

zahlreiche neue Einsichten gewonnen! Und wir hoffen,<br />

dass die Leser dieses Buches unsere Begeisterung<br />

dafür teilen.<br />

Sabina Pauen, Herausgeberin<br />

Katharina Neuser-von Oettingen, Übersetzerin


XIII<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Autoren ..................................................................................................XVI<br />

1 Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung ......................................................1<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung? .............................................................3<br />

Historische Wurzeln der Beschäftigung mit <strong>Kindes</strong>entwicklung ...............................................6<br />

Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung ...........................................................................8<br />

Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung .......................................................19<br />

Zusammenfassung ........................................................................................31<br />

Literatur ..................................................................................................32<br />

2 Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene .............................................37<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Pränatale Entwicklung .....................................................................................38<br />

Die Geburtserfahrung .....................................................................................58<br />

Das Neugeborene .........................................................................................60<br />

Zusammenfassung ........................................................................................70<br />

Literatur ..................................................................................................72<br />

3 Biologie <strong>und</strong> Verhalten ................................................................................77<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Anlage <strong>und</strong> Umwelt .......................................................................................78<br />

Die Entwicklung des Gehirns ...............................................................................94<br />

Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers ..................................................................105<br />

Zusammenfassung .......................................................................................111<br />

Literatur .................................................................................................112<br />

4 Theorien der kognitiven Entwicklung ..............................................................117<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Die Theorie von Piaget ....................................................................................119<br />

Theorien der Informationsverarbeitung ....................................................................132<br />

Soziokulturelle Theorien ..................................................................................140<br />

Theorien dynamischer Systeme ...........................................................................144<br />

Zusammenfassung .......................................................................................149<br />

Literatur .................................................................................................150<br />

5 Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun ......................................................155<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Wahrnehmung ...........................................................................................157<br />

Motorische Entwicklung ..................................................................................170<br />

Lernen ...................................................................................................178<br />

Kognition ................................................................................................184<br />

Zusammenfassung .......................................................................................190<br />

Literatur .................................................................................................191<br />

6 Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs ..............................................197<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Sprachentwicklung .......................................................................................198<br />

Nichtsprachliche Symbole <strong>und</strong> Entwicklung ...............................................................228<br />

Zusammenfassung .......................................................................................231<br />

Literatur .................................................................................................232


XIV<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

7 Die Entwicklung von Konzepten ....................................................................239<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Die Dinge verstehen: Wer oder was ........................................................................241<br />

Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel ...................................................255<br />

Zusammenfassung .......................................................................................267<br />

Literatur .................................................................................................268<br />

8 Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen ..............................................................275<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Was ist Intelligenz? .......................................................................................277<br />

Intelligenzmessung ......................................................................................279<br />

IQ-Werte als Prädiktoren von Lebenserfolg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .283<br />

Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung .................................................................284<br />

Alternative Ansätze zur Intelligenz ........................................................................293<br />

Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .294<br />

Zusammenfassung .......................................................................................305<br />

Literatur .................................................................................................306<br />

9 Theorien der sozialen Entwicklung .................................................................313<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Psychoanalytische Theorien ...............................................................................315<br />

Lerntheorien .............................................................................................321<br />

Theorien der sozialen Kognition ...........................................................................327<br />

Ökologische Entwicklungstheorien ........................................................................332<br />

Zusammenfassung .......................................................................................346<br />

Literatur .................................................................................................347<br />

10 Emotionale Entwicklung .............................................................................353<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Die Entwicklung von Emotionen in der Kindheit ...........................................................355<br />

Die Regulierung von Emotionen ..........................................................................366<br />

Individuelle Unterschiede bei Emotionen <strong>und</strong> ihrer Regulierung ............................................369<br />

Die emotionale Entwicklung von Kindern in der Familie ....................................................375<br />

Kultur <strong>und</strong> die emotionale Entwicklung von Kindern .......................................................378<br />

Das Emotionsverständnis von Kindern .....................................................................380<br />

Zusammenfassung .......................................................................................384<br />

Literatur .................................................................................................385<br />

11 Bindung <strong>und</strong> die Entwicklung des Selbst ...........................................................397<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Die Bindung zwischen Kindern <strong>und</strong> ihren Bezugspersonen .................................................399<br />

Konzeptionen des Selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .409<br />

Ethnische Identität .......................................................................................418<br />

Sexuelle Orientierung als Teil der Identität .................................................................420<br />

Selbstwertgefühl .........................................................................................424<br />

Zusammenfassung .......................................................................................429<br />

Literatur .................................................................................................430<br />

12 Die Familie .............................................................................................439<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Familiendynamik .........................................................................................442<br />

Der Einfluss der elterlichen Sozialisation ...................................................................443<br />

Mütter, Väter, Geschwister ................................................................................450<br />

Wie sich Familien verändert haben ........................................................................454<br />

Berufstätigkeit der Mütter <strong>und</strong> Kinderbetreuung ...........................................................464<br />

Zusammenfassung .......................................................................................470<br />

Literatur .................................................................................................471


Inhaltsverzeichnis<br />

XV<br />

13 Beziehungen zu Gleichaltrigen ......................................................................483<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Was ist das Besondere an Peer-Beziehungen? ..............................................................485<br />

Fre<strong>und</strong>schaften ..........................................................................................486<br />

Das Kind <strong>und</strong> seine Peer-Gruppe ..........................................................................496<br />

Status in der Peer-Gruppe ................................................................................501<br />

Die Rolle der Eltern bei den Peer-Beziehungen der Kinder ..................................................510<br />

Zusammenfassung .......................................................................................514<br />

Literatur .................................................................................................515<br />

14 Moralentwicklung ....................................................................................529<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Moralisches Denken <strong>und</strong> Urteilen .........................................................................531<br />

Die frühe Entwicklung des Gewissens .....................................................................540<br />

Prosoziales Verhalten .....................................................................................542<br />

Antisoziales Verhalten ....................................................................................549<br />

Zusammenfassung .......................................................................................560<br />

Literatur .................................................................................................562<br />

15 Die Entwicklung der Geschlechter ....................................................................575<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Theoretische Perspektiven der Geschlechterentwicklung ...................................................577<br />

Meilensteine in der Geschlechterentwicklung ..............................................................587<br />

Vergleiche zwischen den Geschlechtern ...................................................................593<br />

Zusammenfassung .......................................................................................609<br />

Literatur .................................................................................................611<br />

16 Fazit ....................................................................................................619<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Thema 1: Anlage <strong>und</strong> Umwelt: Alle Interaktionen zu allen Zeitpunkten ......................................620<br />

Thema 2: Kinder spielen bei ihrer Entwicklung eine aktive Rolle .............................................623<br />

Thema 3: Entwicklung verläuft kontinuierlich <strong>und</strong> diskontinuierlich .........................................625<br />

Thema 4: Mechanismen entwicklungsbedingter Veränderungen ............................................627<br />

Thema 5: Der soziokulturelle Kontext formt die Entwicklung ................................................631<br />

Thema 6: Individuelle Unterschiede .......................................................................634<br />

Thema 7: Entwicklungsforschung kann das Leben von Kindern verbessern ..................................636<br />

Literatur .................................................................................................640<br />

Serviceteil .............................................................................................641<br />

Glossar ..................................................................................................642<br />

Stichwortverzeichnis .....................................................................................654


XVI<br />

Autoren<br />

Robert <strong>Siegler</strong> hat die Teresa-Heinz-Professur für Kognitive Psychologie an der Carnegie Mellon University<br />

inne. Er ist Autor von Children’s Thinking, einem Lehrbuch der kognitiven Entwicklung, <strong>und</strong> hat mehrere weitere<br />

Bücher über <strong>Kindes</strong>entwicklung geschrieben oder herausgegeben. Seine Bücher wurden ins Japanische,<br />

Chinesische, Koreanische, Spanische, Französische, Griechische, Hebräische <strong>und</strong> Portugiesische übersetzt. In<br />

den vergangenen Jahren hielt er Gr<strong>und</strong>satzreferate bei Kongressen der Cognitive Development Society, der<br />

International Society for the Study of Behavioral Development, der Japanese Psychological Association, der<br />

Eastern Psychological Association, der American Pschological Society <strong>und</strong> bei der Conference on Human Development.<br />

Er war Mitherausgeber der Zeitschrift Developmental Psychology <strong>und</strong> des 2006 in sechster Auflage<br />

erschienenen zweiten Bandes Cognition, Perception, and Language des Handbook of Child Psychology <strong>und</strong><br />

arbeitete von 2006 bis 2008 <strong>im</strong> beratenden Ausschuss von National Mathematics mit. Im Jahr 2005 erhielt Robert<br />

<strong>Siegler</strong> den Distinguished Scientific Contribution Award der American Psychological Association, wurde<br />

2010 in die National Academy of Education gewählt <strong>und</strong> wurde 2012 Direktor des Siegel Center for Innovative<br />

Learning an der Beijing Normal University.<br />

Judy <strong>DeLoache</strong> hat die William-R.-Kenan-Jr.-Professur für Psychologie an der University of Virginia inne.<br />

Sie publizierte eine Vielzahl von Arbeiten über Aspekte der kognitiven Entwicklung von Säuglingen <strong>und</strong><br />

Kleinkindern. Judy <strong>DeLoache</strong> war Vorsitzende der Developmental Division in der American Psychological<br />

Association <strong>und</strong> gehörte dem Vorstand der International Society for the Study of Infancy an. Derzeit ist sie die<br />

gewählte Präsidentin der Cognitive Development Society. Als Gastvortragende hielt sie Gr<strong>und</strong>satzreferate bei<br />

Kongressen unter anderem der Association for Psychological Science <strong>und</strong> der Society for Research on Child<br />

Development. Judy <strong>DeLoache</strong> ist MERIT-Preisträgerin der National Institutes of Health; gesponsert werden<br />

ihre Forschungsarbeiten auch von der National Science Fo<strong>und</strong>ation. Sie war Gastwissenschaftlerin am Center<br />

for Advanced Study in the Behavioral Sciences <strong>und</strong> am Rockefeller Fo<strong>und</strong>ation Study Center in Bellagio, Italien.<br />

Sie ist Mitglied der National Academy of Arts and Sciences. 2013 erhielt sie den Research Contributions Award<br />

der Society for Research in Child Development <strong>und</strong> den Wiliam James Award for Distinguished Contributions<br />

to Research der Association for Psychological Science.<br />

Nancy <strong>Eisenberg</strong> hat die Regent’s-Professur für Psychologie an der Arizona State University inne. Sie ist<br />

Verfasserin <strong>und</strong> Herausgeberin zahlreicher Bücher über prosoziale, soziale. emotionale <strong>und</strong> moralische Entwicklung<br />

<strong>und</strong> interessiert sich für Sozialisationseinflüsse, insbesondere auf dem Gebiet der Selbstregulation<br />

<strong>und</strong> Anpassung. Sie ist Mitherausgeberin des Psychological Bulletin <strong>und</strong> des Handbook of Child Pschology <strong>und</strong><br />

war Mitbegründerin der Zeitschrift Child Development Perspectives der Society for Research in Child Development.<br />

Dr. <strong>Eisenberg</strong> ist Empfängerin der Research _Scientist Development Awards <strong>und</strong> eines Research<br />

Scientist Awards der National Institutes of Health. Sie war Vorsitzende der Western Psychological Association<br />

<strong>und</strong> der Abteilung 7 (Developmental Psychology) innerhalb der American Psychological Association. Sie ist<br />

nominiert als Vorsitzende der Association for Psychological Scien. 2007 erhielt sie den Ernest-R.-Hilgard-Preis<br />

für einen Beitrag zur Allgemeinen Psychologie, Abteilung 1, der American Psychological Association, 2008<br />

den Distinguished Scientific Contribution Award der International Society for the Study of Behavioral Development<br />

<strong>und</strong> 2009 von der Abteilung 7 der American Psychological Association den G.-Stanley-Hall-Preis für<br />

hervorragende Beiträge zur <strong>Entwicklungspsychologie</strong>. 2011 erhielt sie den William James Fellow Award for<br />

Career Contributions in the Basic Sciene of Psychology der Association for Psychological Science.<br />

Jenny R. Saffran ist Psychologieprofessorin an der Universität von Wisconsin-Madison <strong>und</strong> forscht dort am<br />

Waisman Center. Ihr Forschungsgebiet ist das Lernen <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong> mit besonderem Fokus auf<br />

Sprache. Für ihre Arbeit wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem MERIT-Award des Eunice<br />

Kennedy Shriver National Institute of Child Health and Human Development.<br />

Sabina Pauen ist Professorin für <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>und</strong> Biologische Psychologie an der Universität<br />

Heidelberg. Sie untersucht die frühkindliche Entwicklung sowohl mit Methoden der Hirnforschung als auch<br />

mit Exper<strong>im</strong>enten <strong>und</strong> Feldstudien. Dabei spielen Gr<strong>und</strong>lagenfragen genauso eine wichtige Rolle wie Anwendungsfragen.


Autoren<br />

XVII<br />

Joach<strong>im</strong> Grabowski ist Professor für Pädagogische Psychologie an der Leibniz Universität Hannover <strong>und</strong><br />

Privat-Dozent für Germanistische Linguistik daselbst. Er ist Mitherausgeber des Bandes „Sprachproduktion“<br />

in der Enzyklopädie der Psychologie <strong>und</strong> des Lehrbuchs für Angewandte Linguistik. Neben seiner Forschungstätigkeit<br />

<strong>im</strong> Bereich der Sprach- <strong>und</strong> Kognitionspsychologie hat er zahlreiche Übersetzungen von Fach- <strong>und</strong><br />

Lehrbüchern angefertigt <strong>und</strong> betreut, darunter Andersons Kognitive Psychologie <strong>und</strong> Hilgards Einführung in<br />

die Psychologie.


1 1<br />

Die Entwicklung von Kindern:<br />

Eine Einführung<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung? – 3<br />

Kinder erziehen – 3<br />

Sozialpolitische Entscheidungen treffen – 4<br />

Das Wesen des Menschen verstehen – 5<br />

Historische Wurzeln der Beschäftigung mit <strong>Kindes</strong>entwicklung – 6<br />

Frühe philosophische Ansichten zur <strong>Kindes</strong>entwicklung – 6<br />

Soziale Reformbewegungen – 7<br />

Darwins Evolutionstheorie – 7<br />

Die Anfänge forschungsbasierter Theorien der <strong>Kindes</strong>entwicklung – 8<br />

Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung – 8<br />

1 Anlage <strong>und</strong> Umwelt: Wie wirken sich Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

gemeinsam auf die Entwicklung aus? – 8<br />

2 Das aktive Kind: Wie formen Kinder ihre eigene Entwicklung? – 10<br />

3 Kontinuität/Diskontinuität: Inwiefern verläuft die Entwicklung<br />

kontinuierlich oder diskontinuierlich? – 11<br />

4 Mechanismen entwicklungsbedingter Veränderungen:<br />

Wie kommt es zu Veränderungen? – 14<br />

5 Der soziokulturelle Kontext: Wie wirkt sich der soziokulturelle<br />

Kontext auf die Entwicklung aus? – 15<br />

6 Individuelle Unterschiede: Warum werden Kinder so verschieden? – 17<br />

7 Forschung <strong>und</strong> <strong>Kindes</strong>wohl: Wie kann Forschung das <strong>Kindes</strong>wohl fördern? – 18<br />

Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung – 19<br />

Die wissenschaftliche Methode – 19<br />

Rahmenbedingungen der Datenerhebung – 21<br />

Korrelation <strong>und</strong> Verursachung – 24<br />

Designs für die Untersuchung von Entwicklung – 27<br />

Ethische Fragen bei der Erforschung der <strong>Kindes</strong>entwicklung – 30<br />

Zusammenfassung – 31<br />

Literatur – 32<br />

S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


2<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

© bassittart/fotolia.com<br />

Im Jahre 1955 begannen Entwicklungspsychologen eine bislang<br />

einzigartige Untersuchung. Ihr Ziel bestand darin herauszufinden,<br />

wie sich biologische <strong>und</strong> umweltbedingte Faktoren auf das<br />

intellektuelle, soziale <strong>und</strong> emotionale Wachstum von Kindern<br />

auswirken. Dieses Forschungsvorhaben war insofern einzigartig,<br />

als verschiedenste Entwicklungsaspekte an allen 698 Kindern<br />

untersucht wurden, die in dem betreffenden Jahr auf der<br />

Hawaii-Insel Kauai geboren wurden, <strong>und</strong> die Untersuchungen<br />

an den Kindern <strong>und</strong> ihren Eltern über mehr als 30 Jahre hinweg<br />

weitergeführt wurden.<br />

Die Projektgruppe unter der Leitung von Emmy Werner<br />

hatte von den Eltern die Zust<strong>im</strong>mung erhalten, eine ganze Reihe<br />

von Daten über die Entwicklung der Kinder zu erheben. Um etwas<br />

über etwaige Komplikationen vor oder während der Geburt<br />

zu erfahren, nahmen die Forscher Einsicht in die ärztlichen Unterlagen.<br />

Informationen über das Verhalten der Kinder in ihrer<br />

Familie <strong>und</strong> über deren Zusammenleben erhielten sie von Erzieherinnen<br />

<strong>und</strong> Sozialarbeitern, die die Familien beobachteten <strong>und</strong><br />

die Mütter befragten: einmal, als ihr Kind ein Jahr alt war, <strong>und</strong><br />

dann noch einmal <strong>im</strong> Alter von zehn Jahren. Weiterhin führte die<br />

Forschergruppe Interviews mit den Lehrkräften der Kinder, um<br />

etwas über deren schulische Leistungen <strong>und</strong> ihr Verhalten in den<br />

Gr<strong>und</strong>schulklassen zu erfahren. Es wurden Akten von Polizei,<br />

Familiengericht <strong>und</strong> sozialen Einrichtungen durchgesehen, sofern<br />

die Kinder als Opfer oder Täter betroffen waren. Schließlich<br />

wurden die Kinder <strong>im</strong> Alter von zehn <strong>und</strong> 18 Jahren standardisierten<br />

Intelligenz- <strong>und</strong> Persönlichkeitstests unterzogen; mit 18<br />

<strong>und</strong> mit Anfang 30 wurden sie interviewt, wie sie ihre eigene<br />

Entwicklung einschätzen.<br />

Die Ergebnisse dieser Untersuchung illustrieren einige der<br />

vielfältigen Weisen, auf die biologische <strong>und</strong> umweltbedingte Faktoren<br />

gemeinsam die <strong>Kindes</strong>entwicklung beeinflussen. Wenn in<br />

der Schwangerschaft oder bei der Geburt Komplikationen <strong>und</strong><br />

demzufolge biologische Risiken auftraten, entwickelten die Kinder<br />

mit größerer Wahrscheinlichkeit körperliche Behinderungen,<br />

Geisteskrankheiten <strong>und</strong> Lernschwierigkeiten als andere Kinder.<br />

Die Qualität der häuslichen Umwelt schien jedoch für die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

eine noch größere Rolle zu spielen. Das Einkommen<br />

der Eltern, ihr Bildungsstand <strong>und</strong> ihre geistige Ges<strong>und</strong>heit<br />

wirkten sich – zusammen mit der Qualität der Beziehung zwischen<br />

den Eltern – besonders stark auf die spätere Entwicklung<br />

der Kinder aus. Mit zwei Jahren waren Kinder, bei denen pränatal<br />

oder bei der Geburt ernste Schwierigkeiten aufgetreten waren,<br />

die jedoch in harmonischen Familien mit mittlerem Einkommen<br />

lebten, in ihren sprachlichen <strong>und</strong> motorischen Fähigkeiten<br />

fast so weit entwickelt wie Kinder ohne entsprechende Anfangsprobleme.<br />

Im Alter von zehn Jahren gingen Probleme vor oder<br />

während der Geburt generell nur dann mit einer beeinträchtigten<br />

psychischen Entwicklung einher, wenn das Kind zugleich unter<br />

schlechten Bedingungen aufwuchs.<br />

Was geschah mit den Kindern, denen sowohl die Biologie<br />

als auch die Umwelt einiges abverlangten – in Form von Komplikationen<br />

bei Schwangerschaft oder Geburt <strong>und</strong> in Form von<br />

ungünstigen Familienbedingungen? Die Mehrzahl solcher Kinder<br />

entwickelte mit zehn Jahren schwere Lern- oder Verhaltensprobleme.<br />

Mit 18 waren die meisten polizeilich erfasst, hatten<br />

Einschränkungen ihrer geistigen <strong>und</strong> psychischen Ges<strong>und</strong>heit<br />

oder waren bereits schwanger. Ein Drittel solcher Risikokinder<br />

wuchs jedoch zu Erwachsenen heran, von denen Emmy Werner<br />

(1989, S. 108D) sagte: „[they] loved well, worked well, and played<br />

well.“ Diese Fähigkeit von Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen, auch bei<br />

widrigen Umständen physisch <strong>und</strong> psychisch ges<strong>und</strong> zu bleiben,<br />

nennt man Resilienz.<br />

Resilienz – (wörtlich: Unverwüstlichkeit, Widerstandsfähigkeit) Die Fähigkeit,<br />

trotz negativer Umstände <strong>und</strong> Einflüsse seine körperliche <strong>und</strong> geistige<br />

Ges<strong>und</strong>heit aufrechtzuerhalten.<br />

..<br />

Werden diese Kinder resilient genug sein, um die Benachteiligungen ihrer<br />

Lebensumwelt ausgleichen zu können? Die Antwort hängt größtenteils<br />

davon ab, wie vielen Risikofaktoren sie ausgesetzt sind <strong>und</strong> über welche persönlichen<br />

Eigenschaften sie verfügen. (© Robert Nicklesburg/Getty Images)<br />

Ein derart widerstandsfähiges Kind war Michael. Er war eine<br />

untergewichtige Frühgeburt, seine Eltern waren selbst noch<br />

nicht erwachsen, <strong>und</strong> er verbrachte die ersten drei Lebenswochen<br />

<strong>im</strong> Krankenhaus getrennt von seiner Mutter. Als er acht<br />

Jahre alt wurde, waren seine Eltern geschieden, die Mutter<br />

hatte die Familie endgültig verlassen, <strong>und</strong> sein Vater versorgte<br />

ihn <strong>und</strong> seine drei Geschwister mit Unterstützung der schon<br />

recht alten Großeltern. Mit 18 Jahren jedoch war Michael ein<br />

erfolgreicher <strong>und</strong> beliebter Schüler mit hohem Selbstwertgefühl,<br />

ein einfühlsamer, fürsorglicher junger Mann mit positiver<br />

Lebenseinstellung. Die Tatsache, dass es viele solcher Michaels<br />

gibt – Kinder mit hoher Resilienz trotz widrigster Umstände –,


Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung?<br />

3<br />

1<br />

gehört zu den ermutigendsten Ergebnissen entwicklungspsychologischer<br />

Forschung. Was die Entwicklungspsychologen von<br />

den Michaels dieser Welt lernen, regt sie zur weiterer Forschung<br />

an, etwa zu der Frage, warum einzelne Kinder so unterschiedlich<br />

auf ähnliche Umweltverhältnisse reagieren <strong>und</strong> wie man<br />

entsprechende Forschungsbef<strong>und</strong>e anwenden kann, um mehr<br />

Kindern ein erfolgreiches Bewältigen schwieriger Verhältnisse<br />

zu ermöglichen.<br />

Das vorliegende Kapitel gibt eine Einführung in die genannten<br />

<strong>und</strong> in weitere Gr<strong>und</strong>fragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung. Es führt<br />

auch einige historische Herangehensweisen zur Beantwortung<br />

dieser Gr<strong>und</strong>fragen ein sowie Ansätze <strong>und</strong> Methoden, mit denen<br />

diese Fragen in der modernen Forschung untersucht werden.<br />

Aber zunächst wollen wir die vielleicht gr<strong>und</strong>legendste Frage von<br />

allen beantworten: Warum sollte man die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

überhaupt erforschen?<br />

Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung?<br />

Für uns Autoren <strong>und</strong> Eltern genügt allein die Freude daran,<br />

Kinder zu beobachten <strong>und</strong> sie verstehen zu wollen, als Gr<strong>und</strong><br />

für die Entwicklungsforschung aus. Was könnte mehr faszinieren<br />

als die Entwicklung eines <strong>Kindes</strong>? Doch gibt es auch<br />

praktische <strong>und</strong> rationale Gründe für ihre Untersuchung: Wenn<br />

man mehr über die <strong>Kindes</strong>entwicklung weiß, kann man die<br />

Erziehung verbessern, sozialpolitische Maßnahmen zum Wohl<br />

des <strong>Kindes</strong> fördern <strong>und</strong> schließlich auch Antworten auf faszinierende<br />

Fragen über das Wesen des Menschen gewinnen. In<br />

den folgenden Abschnitten kommen alle diese Forschungsmotivationen<br />

zur Sprache.<br />

Kinder erziehen<br />

Es ist nicht einfach, gute Eltern zu sein. Zu den vielen Herausforderungen<br />

gehören zahlreiche Fragen, die sich <strong>im</strong> Laufe der Jahre<br />

stellen. Ab wann wird mein Baby wissen, wer ich bin? Soll ich mit<br />

meinem Kind zu Hause bleiben oder wäre eine Tageskrippe für<br />

seine soziale Entwicklung besser? Sollte ich einer Dreijährigen<br />

schon das Lesen beibringen? Und wie kann ich meinem Sohn,<br />

der sich <strong>im</strong> Kindergarten offenbar einsam fühlt, dabei helfen,<br />

Fre<strong>und</strong>schaften zu schließen?<br />

Entwicklungspsychologische Forschung kann dazu beitragen,<br />

solche Fragen zu beantworten. Zum Bespiel besteht ein<br />

Problem, mit dem sich praktisch alle Eltern konfrontiert sehen,<br />

darin, ihren Kindern be<strong>im</strong> Umgang mit Ärger, Wut <strong>und</strong> anderen<br />

negativen Gefühlen zu helfen. Wenn ein Kind seine Wut<br />

auf unangemessene Wiese ausdrückt – etwa indem es kämpft,<br />

sch<strong>im</strong>pft oder Widerworte gibt –, sind Erwachsene oft versucht<br />

zu schlagen. In einer Studie mit einer repräsentativen Stichprobe<br />

US-amerikanischer Eltern von Kindergartenkindern gaben 80 %<br />

der Befragten an, ihr Kind schon einmal geschlagen zu haben,<br />

<strong>und</strong> 27 %, dies innerhalb einer Woche vor dem Befragungstermin<br />

getan zu haben (Gershoff et al. 2012). Tatsächlich verschl<strong>im</strong>mert<br />

Schlagen das Problem. Je öfter die Eltern ihre Kindergartenkinder<br />

schlugen, desto öfter stritten <strong>und</strong> kämpften diese Kinder <strong>im</strong><br />

Gr<strong>und</strong>schulalter von neun bis zehn Jahren oder zeigten anderes<br />

Fehlverhalten. Dieser Zusammenhang gilt gleichermaßen für<br />

Asiaten, Hispanos, Schwarze oder Weiße, <strong>und</strong> er bestätigt sich<br />

ungeachtet des Einflusses anderer wichtiger Faktoren wie Einkommen<br />

<strong>und</strong> Bildungsstand der Eltern.<br />

Die Forschung zeigt zum Glück mehrere wirksame Alternativen<br />

zum Schlagen auf (Denham 1998, 2006). Eine besteht darin,<br />

Verständnis zu zeigen: Wenn Eltern auf die Nöte der Kinder<br />

verständnisvoll reagieren, können diese besser mit der Situation<br />

umgehen, die ihre Gefühle verursacht. Wirksam ist auch, wütenden<br />

Kindern dabei zu helfen, positive Alternativen zu finden,<br />

um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. Wenn man sie zum Beispiel<br />

von der Quelle ihres Ärgers ablenkt <strong>und</strong> sie stattdessen dazu<br />

bringt, etwas zu tun, was ihnen Freude macht, kommen sie mit<br />

ihren negativen Gefühlen besser zurecht.<br />

Diese <strong>und</strong> ähnliche Strategien, wie etwa eine Unterbrechung<br />

durch T<strong>im</strong>e-out, können nicht nur von Eltern, sondern auch von<br />

anderen an der Erziehung beteiligten Personen, beispielsweise<br />

Tagesmüttern, Erzieherinnen oder Lehrerinnen, angewandt<br />

werden. Einen Nachweis dafür erbrachte ein spezielles Trainingsprogramm<br />

für (drei- <strong>und</strong> vierjährige) Vorschulkinder, die<br />

sehr aggressiv <strong>und</strong> unkontrolliert waren (Denham <strong>und</strong> Burton<br />

1996). Die Vorschulerzieherinnen konnten den Kindern nach<br />

einem 32-wöchigen Training helfen, ihre eigenen Gefühle sowie<br />

die Gefühle der anderen Kinder zu erkennen. Sie brachten<br />

den Kindern Techniken zur Kontrolle ihrer Wut bei <strong>und</strong><br />

gaben ihnen Hinweise, wie sie Konflikte mit anderen Kindern<br />

lösen können. Eine Methode, die den Kindern helfen sollte,<br />

mit ihrem Ärger kontrolliert umzugehen, war die sogenannte<br />

Schildkrötentechnik: Wenn sie merkten, dass sie wütend wurden,<br />

sollten sie von den anderen Kindern weggehen <strong>und</strong> sich in<br />

ihren „Schildkrötenpanzer“ zurückziehen, wo sie die Situation<br />

noch einmal überdenken konnten, bis sie bereit <strong>und</strong> in der Lage<br />

waren, den Panzer wieder zu verlassen. Überall hingen Plakate<br />

<strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer, die den Kindern vor Augen hielten, was bei<br />

aufkommender Wut zu tun ist.<br />

Dieses Trainingsprogramm war sehr erfolgreich. Den teilnehmenden<br />

Kindern gelang es am Ende besser, ihren Ärger zu<br />

erkennen <strong>und</strong> zu regulieren, sobald er auftrat, <strong>und</strong> sie verhielten<br />

sich generell weniger negativ. Ein Junge, der regelmäßig handgreiflich<br />

geworden war, wenn er sich ärgerte, sagte zu seiner<br />

Erzieherin, nachdem er sich mit einem anderen Kind über<br />

ein Spielzeug gestritten hatte: „Schau, ich habe meine Worte<br />

benutzt <strong>und</strong> nicht meine Hände“ (Denham 1998, S. 219). Die<br />

Wirkung solcher Programme kann nachhaltig sein. In einer<br />

Nachuntersuchung waren die positiven Wirkungen des in speziellen<br />

Unterrichtsräumen durchgeführten Trainings noch zwei<br />

Jahre später nachweisbar (Greenberg <strong>und</strong> Kuschée 2006). Ein<br />

für deutsche Kindergärten <strong>und</strong> Schulen adaptiertes Curriculum<br />

(„Faustlos“) wurde von Cierpka 2001 entwickelt <strong>und</strong> positiv<br />

evaluiert (Schick <strong>und</strong> Cierpka 2004). Das Beispiel zeigt, dass<br />

die Kenntnis entwicklungspsychologischer Forschungsergebnisse<br />

jedem, der mit Kindern <strong>und</strong> ihrer Erziehung zu tun hat,<br />

helfen kann.


4<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

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23<br />

Sozialpolitische Entscheidungen treffen<br />

Ein weiterer Gr<strong>und</strong>, sich mit <strong>Entwicklungspsychologie</strong> zu beschäftigen,<br />

besteht darin, begründete Entscheidungen nicht nur<br />

bei den eigenen Kindern treffen zu können, sondern auch bei<br />

sozialpolitischen Fragen, die Kinder allgemein betreffen. Wie viel<br />

Vertrauen können Richter <strong>und</strong> Schöffen in Fällen von <strong>Kindes</strong>missbrauch<br />

der Zeugenaussage eines Vorschulkindes schenken?<br />

Sollten leistungsschwache Schüler eine Klasse wiederholen oder<br />

in die nächste Klasse versetzt werden, damit sie mit Gleichaltrigen<br />

lernen können? Wie wirksam sind Präventionsmaßnahmen<br />

der Ges<strong>und</strong>heitserziehung, die auf eine Verringerung des Rauchens<br />

<strong>und</strong> Trinkens bei Jugendlichen <strong>und</strong> die Vermeidung früher<br />

Schwangerschaften abzielen? Die Erforschung der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

liefert Informationen, die für die genannten <strong>und</strong> viele<br />

weitere politische Entscheidungen relevant sein können.<br />

Nehmen wir die Frage, wie glaubwürdig Zeugenaussagen von<br />

Vorschulkindern vor Gericht sind. Derzeit werden in den USA pro<br />

Jahr mehr als 100.000 Kinder in Rechtsfällen angehört (Bruck et al.<br />

2006). Viele dieser Kinder sind noch sehr jung: So sind beispielsweise<br />

mehr als 40 % jener Kinder, die <strong>im</strong> Zusammenhang mit sexuellem<br />

Missbrauch aussagen, keine fünf Jahre alt, <strong>und</strong> fast 40 % der<br />

stichhaltigen Fälle sexuellen Missbrauchs betreffen Kinder unter<br />

sieben Jahren (Bruck et al. 2006; Gray 1993). Von ihren Aussagen<br />

hängt viel ab. Falls das Gericht einem Kind glaubt, dessen Aussage,<br />

es sei missbraucht worden, aber falsch ist, können Unschuldige<br />

jahrelang ins Gefängnis wandern, <strong>und</strong> ihr guter Ruf ist für<br />

<strong>im</strong>mer ruiniert. Glaubt man wahrheitsgetreuen Aussagen dagegen<br />

nicht, kommen die Täter ungeschoren davon <strong>und</strong> vergreifen sich<br />

vielleicht noch an anderen Kindern. Aber wie können wir wissen,<br />

wann man einem Kind glauben kann? Was also können wir tun,<br />

um auch von kleinen Kindern glaubwürdige Zeugenaussagen zu<br />

erhalten <strong>und</strong> jede Beeinflussung zu vermeiden, die zu Aussagen<br />

über Dinge führen, die das Kind tatsächlich gar nicht erlebt hat?<br />

..<br />

Vor Gericht ist es von größter Wichtigkeit, Fragen so zu stellen, dass sie<br />

Kindern helfen, sehr genaue Zeugenaussagen zu machen. (© St. Petersburg<br />

T<strong>im</strong>es/Scott Mcintyre/The Image Work)<br />

Psychologische Forschung konnte zur Beantwortung solcher Fragen<br />

bereits erfolgreich beitragen. Ein Exper<strong>im</strong>ent untersuchte<br />

beispielsweise, inwieweit eine falsche Befragung die Genauigkeit<br />

der Erinnerung an körperliche Berührungen beeinflusst. Dreibis<br />

Sechsjährige sollten <strong>im</strong> Rahmen eines dem deutschen Kommando<br />

P<strong>im</strong>perle vergleichbaren Spiels best<strong>im</strong>mte Körperteile<br />

von sich selbst <strong>und</strong> anderen berühren. Nach einem Monat wurden<br />

sie über ihre Erlebnisse befragt (Ceci <strong>und</strong> Bruck 1998). Die<br />

Interviewerin hatte zuvor eine Beschreibung erhalten, aus der<br />

hervorging, was jedes Kind erlebt hatte, ohne jedoch zu wissen,<br />

dass ihre Information manchmal zutraf <strong>und</strong> manchmal nicht.<br />

Beispielsweise konnte ein Kind während des Spiels sich selbst an<br />

den Bauch <strong>und</strong> ein anderes Kind an die Nase gefasst haben, während<br />

man der Sozialarbeiterin sagte, das Kind habe sich an den<br />

Bauch <strong>und</strong> das andere Kind am Fuß angefasst. Danach erhielt<br />

die Fragestellerin eine Anweisung, wie sie auch <strong>im</strong> Gerichtsfall<br />

vorkommt: „Finden Sie heraus, woran sich das Kind erinnert!“<br />

Es stellte sich heraus, dass sich in der Art der Fragestellung,<br />

mit der sich die Sozialarbeiterin bemühte, die Erinnerungen der<br />

Kinder zu erfassen, häufig diejenige Version der Ereignisse widerspiegelte,<br />

die man ihr zuvor vermittelt hatte. Falls die Ereignisbeschreibungen<br />

eines <strong>Kindes</strong> dem widersprachen, was sie für zutreffend<br />

hielt, wiederholte sie meistens ihre Fragen über das Ereignis<br />

(„Bist du sicher, dass du seinen Fuß angefasst hast? Könnte es nicht<br />

ein anderer Körperteil gewesen sein?“). Konfrontiert mit diesen<br />

wiederholten Fragen, nahmen die Kinder oft an, dass die Antwort,<br />

die sie gegeben hatten, irgendwie falsch gewesen sein musste,<br />

<strong>und</strong> in der Folge st<strong>im</strong>mten sie ihre Antwort auf die Erwartungen<br />

der Fragestellerin ab. Im Ergebnis bestätigten 34 % der Drei- <strong>und</strong><br />

Vierjährigen <strong>und</strong> 18 % der Fünf- <strong>und</strong> Sechsjährigen mindestens<br />

eine der unzutreffenden Annahmen der Fragestellerin. Die Kinder<br />

wurden suggestiv dazu verleitet, nicht nur plausible, sondern<br />

auch unwahrscheinliche Geschehnisse zu „erinnern“, die der Sozialarbeiterin<br />

<strong>im</strong> Vorfeld berichtet worden waren. Beispielsweise<br />

glaubten einige Kinder, sich daran zu erinnern, dass man sie am<br />

Knie geleckt <strong>und</strong> ihnen eine Murmel ins Ohr gesteckt habe.<br />

Aus derartigen Untersuchungen lassen sich einige Konsequenzen<br />

für die Beurteilung von Zeugenaussagen von Kindern<br />

in Rechtsfällen ableiten. Die wichtigste Einsicht besteht darin,<br />

dass selbst drei- bis fünfjährige Kinder zuverlässige Zeugenaussagen<br />

vor Gericht liefern können, soweit sie diese spontan machen<br />

(Bruck et al. 2006; Howe <strong>und</strong> Courage 1997). Je jünger die Kinder<br />

sind, desto anfälliger sind sie allerdings für Suggestivfragen, besonders<br />

wenn <strong>im</strong>mer wieder nachgefragt wird. Auch fand man<br />

heraus, dass Requisiten wie anatomisch naturgetreue Puppen,<br />

die man in Gerichtsverfahren häufig in der Hoffnung einsetzt,<br />

die Erinnerung an sexuellen Missbrauch zu verbessern, eher zu<br />

falschen Behauptungen führen, möglicherweise deshalb, weil<br />

die Grenze zwischen fantasievollem Spiel <strong>und</strong> erinnerter Wirklichkeit<br />

verschw<strong>im</strong>mt (Lamb et al. 2008; Poole et al. 2011). Die<br />

Erforschung kindlicher Zeugenaussagen hat enorme praktische<br />

Bedeutung, <strong>und</strong> ihre Erkenntnisse haben bereits zu Revisionen<br />

der Befragungsmethoden geführt, mit denen Kinder als Zeugen<br />

von der Polizei <strong>und</strong> Gerichten angehört werden (z. B. State of<br />

Michigan, Governor’s Task Force 2011). Bef<strong>und</strong>e dieser Art tragen<br />

dazu bei, dass die Gerichte genauere Zeugnisse von jüngeren<br />

Kindern erhalten. In breiterem Zusammenhang gesehen illustrieren<br />

die geschilderten Ergebnisse, wie das Wissen über die<br />

Entwicklung von Kindern zu sozialpolitischen Entscheidungen<br />

<strong>und</strong> Verfahrensweisen beitragen kann.


Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung?<br />

5 1<br />

Das Wesen des Menschen verstehen<br />

Ein dritter Gr<strong>und</strong> für die Erforschung der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

besteht darin, dass man das Wesen des Menschen besser verstehen<br />

lernt. Viele der interessantesten Fragen über das Menschsein<br />

betreffen Kinder. Zum Beispiel: Beginnt der Prozess des Lernens<br />

erst nach der Geburt oder schon <strong>im</strong> Mutterleib? Lassen sich die<br />

nachteiligen Wirkungen früherer Aufenthalte in einer lieblosen<br />

Institution durch spätere Erziehung in einem liebevollen Zuhause<br />

ausgleichen? Unterscheiden sich Kinder in ihrer Persönlichkeit<br />

<strong>und</strong> ihrer Intelligenz vom ersten Tag an, oder sind sie sich<br />

bei Geburt recht ähnlich, <strong>und</strong> die Unterschiede ergeben sich erst<br />

aufgr<strong>und</strong> unterschiedlicher Lebenserfahrungen? Bis vor kurzer<br />

Zeit konnten wir über solche Fragen nur spekulieren. Mittlerweile<br />

verfügen Entwicklungsforscher aber über Methoden, die<br />

es möglich machen, Entwicklungsprozesse genau zu beobachten,<br />

zu beschreiben <strong>und</strong> zu erklären.<br />

Wie die Forschung unser Verständnis von der menschlichen<br />

Natur erweitern kann, illustrieren Untersuchungen über<br />

die Fähigkeit von Kindern, die Wirkung früher Misshandlungen<br />

zu überwinden. Dabei scheint bedeutsam, in welchem Alter es<br />

zur Misshandlung kam <strong>und</strong> wann sie endete. Im Rahmen eines<br />

entsprechenden Forschungsprogramms wurden Kinder untersucht,<br />

die in den späten 1980er <strong>und</strong> frühen 1990er Jahren ihre<br />

erste Lebenszeit unter schrecklichen Umständen in rumänischen<br />

Waisenhäusern verbracht hatten (McCall et al. 2011; Nelson et al.<br />

2007; Rutter et al. 2004). Dort hatten sie kaum persönlichen Kontakt<br />

zu irgendeiner Pflegeperson. Aus unbekannten, nicht nachvollziehbaren<br />

Gründen hatte man das Pflegepersonal in der Zeit<br />

der kommunistischen Diktatur dazu angehalten, sich nicht auf<br />

Interaktionen mit den Kindern einzulassen, noch nicht einmal<br />

be<strong>im</strong> Füttern. Viele Säuglinge hatten vom 18- bis 20-stündigen<br />

Auf-dem-Rücken-Liegen ohne körperliche Bewegung abgeflachte<br />

Hinterköpfe bekommen.<br />

..<br />

Dieses Foto zeigt eines der Kinder aus einem rumänischen Waisenhaus,<br />

die in den 1990er Jahren adoptiert wurden. Ob es sich erfolgreich<br />

entwickeln konnte, war nicht nur von der Qualität der Fürsorge in seiner<br />

Adoptivfamilie abhängig, sondern auch von der Zeit, die es <strong>im</strong> Waisenhaus<br />

verbrachte, <strong>und</strong> vom Alter, in dem es adoptiert wurde. (© Peter Turnley/<br />

Corbis)<br />

Kurz nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Reg<strong>im</strong>es<br />

in Rumänien adoptierten britische Familien einige dieser Kinder.<br />

Bei der Ankunft in Großbritannien waren die meisten von ihnen<br />

massiv unterernährt; über die Hälfte lag bezüglich körperlicher<br />

Maße wie Größe, Gewicht <strong>und</strong> Kopfumfang in den unteren drei<br />

Prozenten der Normalverteilung von Kindern gleichen Alters.<br />

Die meisten waren in unterschiedlichen Graden geistig zurückgeblieben<br />

<strong>und</strong> sozial nicht altersgemäß entwickelt. Die Adoptiveltern<br />

wussten von den Umständen, in denen die Kinder ohne<br />

jeden Entwicklungsanreiz aufgewachsen waren, <strong>und</strong> sie waren<br />

hochmotiviert, den Kindern ein liebevolles Elternhaus zu bieten,<br />

um die schädigenden Wirkungen der frühen Vernachlässigung<br />

zu überwinden.<br />

Um die Langzeitwirkungen dieser frühen Deprivation (Entzug<br />

von Anreizen, der die psychische <strong>und</strong> körperliche Entwicklung<br />

massiv beeinträchtigt) einschätzen zu können, untersuchte<br />

man die körperliche, geistige <strong>und</strong> soziale Entwicklung von 150<br />

dieser in Rumänien geborenen Kinder, als diese sechs Jahre alt<br />

waren, <strong>und</strong> ein weiteres Mal <strong>im</strong> Alter von elf Jahren. Um eine<br />

Vergleichsbasis zu schaffen, untersuchten die Forscher die Entwicklung<br />

einer weiteren Gruppe von Kindern, die in Großbritannien<br />

geboren <strong>und</strong> vor dem sechsten Lebensmonat von britischen<br />

Familien adoptiert worden waren. Vereinfacht ausgedrückt lautete<br />

die Frage: Ist die menschliche Natur so flexibel, dass die Folgen<br />

früher extremer Deprivation überw<strong>und</strong>en werden können,<br />

<strong>und</strong>, wenn ja, sinkt diese Flexibilität mit dem Alter der Kinder<br />

<strong>und</strong> mit der Deprivationsdauer?<br />

Deprivation – Der Entzug von Anreizen, der die psychische <strong>und</strong> körperliche<br />

Entwicklung eines <strong>Kindes</strong> massiv beeinträchtigt.<br />

Im Alter von sechs Jahren hatte sich die körperliche Entwicklung<br />

der in Rumänien geborenen Kinder sowohl in absoluten Maßen<br />

als auch <strong>im</strong> Vergleich zur Gruppe der in Großbritannien geborenen<br />

Kinder deutlich verbessert. Die frühen Deprivationserfahrungen<br />

beeinflussten die Entwicklung der rumänischen Kinder<br />

jedoch weiterhin, wobei das Ausmaß negativer Wirkungen<br />

davon abhing, wie lange das jeweilige Kind <strong>im</strong> He<strong>im</strong> gewesen<br />

war. Rumänische Kinder, die vor dem sechsten Lebensmonat<br />

von britischen Familien adoptiert worden waren, also nur eine<br />

kurze Phase ihres frühkindlichen Lebens in einem Waisenhaus<br />

verbracht hatten, wogen <strong>im</strong> Alter von sechs Jahren ungefähr so<br />

viel wie die in Großbritannien geborenen Kinder gleichen Alters.<br />

Die rumänischen Kinder, die zwischen dem sechsten <strong>und</strong> dem<br />

24. Lebensmonat adoptiert worden waren, also in ihrer frühen<br />

Kindheit eine längere Zeit in Waisenhäusern verbracht hatten,<br />

wogen weniger; <strong>und</strong> diejenigen, die erst zwischen dem 24. <strong>und</strong><br />

dem 42. Lebensmonat adoptiert worden waren, wogen noch weniger<br />

(Rutter et al. 2004).<br />

In der geistigen Entwicklung zeichnete sich ein ähnliches<br />

Muster ab. In Rumänien geborene Kinder, die vor dem sechsten<br />

Lebensmonat adoptiert worden waren, erreichten als Sechsjährige<br />

ein vergleichbares geistiges Niveau wie die Kinder der britischen<br />

Kontrollgruppe. Die rumänischen Kinder, die zwischen<br />

dem sechsten <strong>und</strong> dem 24. Lebensmonat adoptiert worden waren,<br />

schnitten etwas schlechter ab; <strong>und</strong> diejenigen, die zwischen<br />

dem 24. <strong>und</strong> dem 42. Lebensmonat adoptiert worden waren,


6<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

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erzielten noch schlechtere Testergebnisse (Rutter et al. 2004).<br />

Die Defizite in der geistigen Entwicklung zeigten sich bei den<br />

rumänischen Kindern, die <strong>im</strong> Alter von mehr als sechs Monaten<br />

adoptiert wurden waren, auch be<strong>im</strong> Nachtest <strong>im</strong> Alter von elf<br />

Jahren (Beckett et al. 2006; Kreppner et al. 2007).<br />

Die frühe Erfahrung in Waisenhäusern wirkte sich ähnlich<br />

schädigend auf das Sozialverhalten der Kinder aus (Kreppner<br />

et al. 2007; O’Connor et al. 2000). Beinahe 20 % der rumänischen<br />

Kinder, die nach dem sechsten Lebensmonat adoptiert worden<br />

waren, zeigten <strong>im</strong> Alter von sechs Jahren ein extrem abweichendes<br />

Sozialverhalten – sie schauten in angstauslösenden Situationen<br />

nicht zu ihren Eltern <strong>und</strong> gingen bereitwillig mit fremden<br />

Personen mit (gegenüber 3 % der in Großbritannien geborenen<br />

Vergleichsgruppe). Dieses atypische Sozialverhalten ging mit<br />

einer anomalen Gehirnaktivität einher. Bei Gehirnaufnahmen<br />

<strong>im</strong> Alter von acht Jahren zeigte bei den adoptierten Kindern,<br />

die relativ lange <strong>im</strong> rumänischen Waisenhaus gelebt hatten, eine<br />

ungewöhnlich geringe Aktivität in der Amygdala – einem an<br />

emotionalen Reaktionen wesentlich beteiligten Gerhirnbereich<br />

(Chugani et al. 2001). Nachfolgende Untersuchungen haben<br />

ähnlich auffällige Gehirnbef<strong>und</strong>e bei Kindern festgestellt, die<br />

ihre frühe Lebenszeit unter ungünstigen He<strong>im</strong>bedingungen in<br />

Russland <strong>und</strong> Ostasien verbracht hatten (Nelson et al. 2011; Tottenham<br />

et al. 2010).<br />

Diese Bef<strong>und</strong>e spiegeln ein Gr<strong>und</strong>prinzip der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

wider, das für viele Aspekte der menschlichen Natur<br />

bedeutsam ist: Der Zeitpunkt von Erfahrungen beeinflusst deren<br />

Wirkung. In diesem Fall waren die Kinder flexibel genug, um die<br />

Wirkungen der Lebensumstände in lieblosen, reizarmen He<strong>im</strong>en<br />

kompensieren zu können, solange die Deprivation nicht über die<br />

ersten sechs Monate ihres Lebens hinaus angedauert hatte; hatten<br />

die Kinder länger hospitalisiert gelebt, dann konnten sie die<br />

Wirkungen dieser Erfahrungen trotz der darauffolgenden Jahre<br />

in liebevoller <strong>und</strong> anregender Umgebung nur noch selten kompensieren.<br />

Die Adoptivfamilien bewirkten zwar überaus positive<br />

Veränderungen, aber die meisten Kinder jener Gruppe, die erst<br />

nach dem sechsten Lebensmonat adoptiert worden waren, trugen<br />

ihr Leben lang an den bleibenden Folgen ihrer frühen Isolierung.<br />

In Kürze | |<br />

Für die Untersuchung der <strong>Kindes</strong>entwicklung gibt es<br />

mindestens drei gute Gründe: Man kann die Erziehung der<br />

eigenen Kinder verbessern, zur Verbesserung der sozialen<br />

Situation von Kindern <strong>im</strong> Allgemeinen beitragen <strong>und</strong> die<br />

Natur des Menschen besser verstehen.<br />

Historische Wurzeln der Beschäftigung<br />

mit <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

Von der griechischen Antike bis zum Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

beobachteten viele bekannte Denker Kinder <strong>und</strong> schrieben<br />

darüber. Ihre Ziele waren dabei kaum andere als die der heutigen<br />

Forscher: Sie wollten den Menschen helfen, bessere Eltern zu<br />

werden, sie wollten das Wohlergehen der Kinder fördern, <strong>und</strong> sie<br />

wollten das Wesen des Menschen ergründen. Anders als die Forscher<br />

von heute orientierten sich ihre Schlussfolgerungen an philosophischen<br />

Wissensgr<strong>und</strong>sätzen <strong>und</strong> stützten sich auf formlose<br />

unsystematische Beobachtungen weniger Kinder, mit denen sie<br />

eher zufällig zu tun hatten. Ihre Fragen <strong>und</strong> ihre Einsichten waren<br />

jedoch so gr<strong>und</strong>legend, dass sich eine Auseinandersetzung<br />

mit ihren Sichtweisen auch heute noch lohnt.<br />

Frühe philosophische Ansichten<br />

zur <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

Zu den frühesten aufgezeichneten Ansichten über die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

gehören die Schriften von Platon <strong>und</strong> Aristoteles.<br />

Diese beiden griechischen Philosophen lebten <strong>im</strong> vierten vorchristlichen<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert. Sie interessierten sich besonders dafür,<br />

wie sich die Anlagen <strong>und</strong> die Erziehung von Kindern auf deren<br />

Entwicklung auswirken.<br />

Sowohl Platon als auch Aristoteles glaubten, dass das Wohlergehen<br />

einer Gesellschaft auf lange Sicht davon abhängt, dass<br />

die Kinder angemessen erzogen werden. Eine sorgfältige Erziehung<br />

sei entscheidend, weil ihre Natur sie sonst rebellisch <strong>und</strong><br />

gesetzlos werden lasse. Platon sah diesbezüglich bei Jungen eine<br />

besondere Herausforderung in der Erziehung zu einem rechtschaffenen<br />

Bürger:<br />

» Der Knabe aber ist unter allen Geschöpfen das am schwierigsten<br />

zu behandelnde; denn je mehr er eine Quelle des Nachdenkens<br />

besitzt, die noch nicht die rechte Richtung erhielt,<br />

wird er hinterhältig <strong>und</strong> verschlagen <strong>und</strong> das übermütigste<br />

der Geschöpfe. Darum gilt es, durch mannigfache Zügel ihn<br />

jenes kindischen <strong>und</strong> unverständigen Wesens wegen zu<br />

bändigen (Platon, Nomoi, Buch VII, 808).<br />

In Übereinst<strong>im</strong>mung mit dieser Sichtweise betonte Platon<br />

Selbstkontrolle <strong>und</strong> Disziplin als die wichtigsten Erziehungsziele<br />

(Borstelmann 1983).<br />

Aristoteles st<strong>im</strong>mte mit Platon darin überein, dass Disziplin<br />

<strong>im</strong> Einhalten geschriebener <strong>und</strong> ungeschriebener Gesetze wichtig<br />

notwendig sei, befasste sich darüber hinaus aber mehr noch<br />

mit der individuellen Erziehung <strong>und</strong> ihrer Anpassung an die Bedürfnisse<br />

des einzelnen <strong>Kindes</strong>:<br />

» Ferner, die Einzelerziehung ist von der gemeinsamen verschieden<br />

[…] Darum dürfte das einzelne sorgfältiger behandelt<br />

werden, wenn ihm eine eigene Fürsorge zuteilwird: dann<br />

erhält der einzelne eher, was ihm nützt (Aristoteles, Nikomachische<br />

Ethik, Buch 10, 1180b).<br />

Weit stärker unterschieden sich Platon <strong>und</strong> Aristoteles in ihren<br />

Ansichten darüber, wie Kinder Wissen erwerben. Platon glaubte,<br />

dass Kinder mit angeborenem Wissen auf die Welt kommen.<br />

Beispielsweise nahm er an, dass Kindern mit einer Vorstellung<br />

vom „Tier“ geboren werden, sodass sie in der Lage seien, H<strong>und</strong>e,<br />

Katzen <strong>und</strong> andere lebendige Geschöpfe, denen sie begegnen,<br />

als Tiere zu erkennen. Im Gegensatz dazu nahm Aristoteles an,<br />

dass alles Wissen aus der Erfahrung kommt, <strong>und</strong> verglich den


Historische Wurzeln der Beschäftigung mit <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

7 1<br />

Verstand eines Kleinkindes mit einer Schiefertafel, auf der noch<br />

nichts geschrieben steht.<br />

Etwa 2000 Jahre später richteten der englische Philosoph<br />

John Locke (1632–1704) <strong>und</strong> der französische Philosoph Jean-<br />

Jacques Rousseau (1712–1778) erneut ihr Augenmerk darauf,<br />

wie die Eltern <strong>und</strong> die Gesellschaft allgemein die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

am besten fördern können. Wie auch schon Aristoteles<br />

betrachtete Locke das Kind als tabula rasa, als unbeschriebenes<br />

Blatt, dessen Entwicklung weitestgehend die Erziehung durch<br />

seine Eltern sowie gesellschaftliche Einflüsse widerspiegele. Er<br />

glaubte, das wichtigste Ziel der <strong>Kindes</strong>erziehung bestehe darin,<br />

Wachstum <strong>und</strong> Charakter der Persönlichkeit zu fördern. Um<br />

diese Eigenschaften auf- <strong>und</strong> auszubauen, müssten Eltern in<br />

puncto Ehrlichkeit, Beständigkeit <strong>und</strong> Sanftmut mit gutem Beispiel<br />

vorangehen. Sie sollten es vermeiden, dem Kind gegenüber<br />

allzu nachgiebig zu sein, besonders in den ersten Lebensjahren;<br />

sobald ihm Disziplin <strong>und</strong> Verstand vermittelt wurden, sollten<br />

nach Lockes Meinung die Zügel etwas lockerer gelassen werden,<br />

denn je eher man das Kind wie einen Menschen behandele,<br />

desto früher werde es auch beginnen, ein solcher zu sein<br />

(Borstelmann 1983).<br />

Während sich Locke dafür aussprach, zuerst Disziplin herzustellen<br />

<strong>und</strong> dem Kind erst nach <strong>und</strong> nach größere Freiheiten zu<br />

geben, ging Rousseau davon aus, dass Eltern <strong>und</strong> die Gesellschaft<br />

Kindern von Anfang an max<strong>im</strong>ale möglichst viele Freiheiten gewähren<br />

sollten. Rousseau behauptete, dass Kinder vor allem aus<br />

ihren eigenen spontanen Begegnungen mit Gegenständen <strong>und</strong><br />

anderen Menschen lernen würden <strong>und</strong> weniger durch Anweisungen<br />

ihrer Eltern <strong>und</strong> Lehrer. Er sprach sich sogar dafür aus,<br />

dass Kinder bis zum Alter von etwa zwölf Jahren keine formale<br />

Erziehung erhalten sollten, sondern erst, wenn sie das „Verstandesalter“<br />

erreichen <strong>und</strong> sie den Wert dessen, was sie lesen <strong>und</strong><br />

was ihnen gesagt wird, selbst beurteilen können. Bis dahin sollte<br />

ihnen die Freiheit zugestanden werden, alles zu erk<strong>und</strong>en, was<br />

sie interessiere.<br />

Alle diese philosophischen Positionen wurden vor sehr<br />

langer Zeit formuliert, bilden aber noch <strong>im</strong>mer den Ausgangspunkt<br />

für aktuelle Debatten, etwa wenn es um die Frage geht,<br />

ob Kinder erwünschte Wissensinhalte <strong>und</strong> Fertigkeiten durch<br />

Anleitung <strong>und</strong> Instruktion oder durch ein Max<strong>im</strong>um an Freiheit<br />

be<strong>im</strong> selbstständigen Entdecken erwerben sollten oder ob Eltern<br />

durch explizite Anweisungen oder durch ihr Vorbild die Persönlichkeitsentwicklung<br />

ihres <strong>Kindes</strong> fördern sollten.<br />

Soziale Reformbewegungen<br />

Eine weitere Entwicklung, die der modernen Kinderpsychologie<br />

vorausging, war die sozialreformistische Bewegung, die die<br />

Lebensbedingungen der Kinder verbessern wollten. Im Verlauf<br />

der industriellen Revolution des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts setzte<br />

man viele Kinder in Europa <strong>und</strong> in den USA als schlecht bezahlte,<br />

rechtlose Arbeitskräfte ein. Manche waren gerade einmal<br />

fünf oder sechs Jahre alt; viele arbeiteten bis zu zwölf St<strong>und</strong>en<br />

am Tag in Fabriken oder Minen, oft unter äußerst gefährlichen<br />

Umständen. Diese harten Bedingungen riefen einige Sozialreformer<br />

auf den Plan, die begannen, die Wirkungen dieser Lebensbedingungen<br />

auf die Entwicklung der Kinder zu untersuchen.<br />

Beispielsweise hielt der Earl of Shaftesbury 1842 eine Rede<br />

vor dem britischen Unterhaus, in der es um die Bef<strong>und</strong>e eines<br />

Ausschusses ging, der sich mit den Bedingungen in den Minen<br />

befasst hatte. Er berichtete, dass die engen Schächte, in denen die<br />

Kinder Kohle abbauten,<br />

» sehr unzureichend entwässert sind. Die Laufwege sind so<br />

niedrig, dass nur kleine Jungen darin arbeiten können, was<br />

sie unbekleidet tun, oft in Schlamm <strong>und</strong> Wasser, wobei sie<br />

die Transportwannen mit Ketten an ihrem Gürtel ziehen. […]<br />

Liebenswürdige, wohlerzogene Kinder <strong>im</strong> Alter von sieben<br />

Jahren kommen von den Zechen nach einer Saison oft völlig<br />

verdorben zurück <strong>und</strong> […] mit teuflischer Wesensart<br />

(zit. nach Kessen 1965, S. 46–50).<br />

..<br />

Im 18., 19. <strong>und</strong> frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert arbeiteten viele junge Kinder<br />

in Kohleminen <strong>und</strong> Fabriken. Ihr Arbeitstag war lang <strong>und</strong> die Arbeit oft<br />

unges<strong>und</strong> <strong>und</strong> gefährlich. Die Sorge um das Wohlergehen solcher Kinder<br />

führte zu einigen der frühesten Untersuchungen über <strong>Kindes</strong>entwicklung. (©<br />

Bettmann/Corbis)<br />

Die sozialreformerischen Bemühungen des Grafen waren zum<br />

Teil erfolgreich – es erging ein Gesetz, das die Beschäftigung<br />

von Jungen <strong>und</strong> Mädchen unter zehn Jahren verbot. Und nicht<br />

nur das: Diese <strong>und</strong> weitere frühe Sozialreformen zogen auch<br />

Forschungen zum Nutzen von Kindern nach sich <strong>und</strong> lieferten<br />

so erste Beschreibungen der negativen Auswirkungen, die<br />

harte Umweltbedingungen auf die <strong>Kindes</strong>entwicklung haben<br />

können.<br />

Darwins Evolutionstheorie<br />

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ließen die Arbeiten<br />

von Charles Darwin zur biologischen Evolution viele Wissenschaftler<br />

vermuten, dass die intensive Untersuchung der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

wichtige Erkenntnisse über das Wesen des<br />

Menschen liefern könnte. Bereits Darwin selbst war schon an<br />

der Entwicklung von Kindern interessiert <strong>und</strong> veröffentlichte<br />

1877 den Aufsatz „Eine biografische Skizze eines Kleinkinds“<br />

(A Biographical Sketch of an Infant), in dem er die sorgfältigen<br />

Beobachtungen der motorischen, sensorischen <strong>und</strong> emotionalen


8<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

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18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Entwicklung seines eigenen, gerade geborenen Sohnes William<br />

niederschrieb. Darwins „Baby-Biografie“ lieferte eine systematische<br />

Beschreibung der normalen Entwicklung <strong>und</strong> kann als eine<br />

der ersten Methoden zur Untersuchung der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

gelten.<br />

Solche intensiven Studien zur Entwicklung einzelner Kinder<br />

bleiben ein besonderes Element moderner Forschung. Darwins<br />

Evolutionstheorie wirkt überdies in vielen Konzepten, wie etwa<br />

Mutter-Kind-Bindung (Bowlby 1969), angeborene Furcht vor<br />

Spinnen oder Schlangen (Rakison <strong>und</strong> Derringer 2008), Vorstellungen<br />

zu Geschlechtsunterschieden (Geary 2009), Aggression<br />

<strong>und</strong> Altruismus (Tooby <strong>und</strong> Cosmides 2005) bis hin zu Annahmen<br />

über Lernmechanismen (<strong>Siegler</strong> 1996).<br />

Die Anfänge forschungsbasierter Theorien<br />

der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

Ende des 19. <strong>und</strong> Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden die ersten<br />

Theorien der <strong>Kindes</strong>entwicklung formuliert, die die Forschungsbef<strong>und</strong>e<br />

zusammenfassten. Eine wichtige Theorie, die<br />

des österreichischen Psychiaters Sigm<strong>und</strong> Freud, gründete sich<br />

in großen Teilen auf Ergebnisse aus Untersuchungen, in denen<br />

mit Hypnose <strong>und</strong> Traumdeutung sowie Kindheitserinnerungen<br />

gearbeitet wurde. Nach Freuds psychoanalytischer Theorie haben<br />

biologische, insbesondere sexuelle Triebe, einen entscheidenden<br />

Einfluss auf die Entwicklung.<br />

Eine andere prominente Theorie aus derselben Zeit, die des<br />

amerikanischen Psychologen John Watson, gründete sich größtenteils<br />

auf Exper<strong>im</strong>entalbef<strong>und</strong>e über Lernprozesse bei Tieren<br />

<strong>und</strong> Kindern. Watsons behavioristische Theorie ging davon aus,<br />

dass die <strong>Kindes</strong>entwicklung durch Umweltbedingungen gesteuert<br />

wird, besonders durch Belohnung <strong>und</strong> Bestrafung, die auf<br />

best<strong>im</strong>mte Ereignisse <strong>und</strong> Verhaltensweisen folgen.<br />

Gemessen an heutigen Standards können die Methoden,<br />

mit denen man damals zu Erkenntnissen gelangte, bestenfalls<br />

als unvollkommen bezeichnet werden; entsprechend waren die<br />

Theorien, die darauf aufbauten, in ihrer Aussagekraft begrenzt.<br />

Aber <strong>im</strong>merhin war ihre Gr<strong>und</strong>lage besser als die früherer (philosophischer)<br />

Ansätze; ihre Aussagen wiesen einen höheren Grad<br />

an Differenziertheit auf <strong>und</strong> boten mehr Anregungspotenzial für<br />

die weitere Forschung.<br />

In Kürze | |<br />

Philosophen wie Platon, Aristoteles, Locke <strong>und</strong> Rousseau<br />

sowie frühe wissenschaftliche Theoretiker wie Darwin, Freud<br />

<strong>und</strong> Watson haben viele zentrale Fragen zur <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

bereits gestellt. Dazu gehört, wie Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

die Entwicklung beeinflussen, wie man Kinder am besten<br />

erzieht <strong>und</strong> wie man das Wissen über Entwicklung heranziehen<br />

kann, um das <strong>Kindes</strong>wohl zu verbessern. Die Stringenz<br />

der Argumentation früher Geistesgrößen war begrenzt,<br />

doch können sie als wichtige Wegbereiter der modernen<br />

Perspektiven auf Gr<strong>und</strong>fragen der kindlichen Entwicklung<br />

gelten.<br />

Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

Die neuere Untersuchung der <strong>Kindes</strong>entwicklung beginnt mit<br />

einer Reihe gr<strong>und</strong>legender Fragen. Alles Weitere – Theorien, Begriffe,<br />

Forschungsmethoden <strong>und</strong> Daten – ist Teil des Bemühens,<br />

Antworten auf diese Fragen zu finden. Zwar mag den verschiedenen<br />

Fachexperten das eine oder andere Thema besonders wichtig<br />

erscheinen; es besteht jedoch breite Übereinst<strong>im</strong>mung darin,<br />

dass die folgenden sieben Fragen zu den wichtigsten gehören:<br />

1. Wie wirken sich Anlage <strong>und</strong> Umwelt gemeinsam auf die Entwicklung<br />

aus? (Anlage <strong>und</strong> Umwelt)<br />

2. Wie formen Kinder ihre eigene Entwicklung? (Das aktive Kind)<br />

3. Inwiefern verläuft die Entwicklung kontinuierlich oder diskontinuierlich?<br />

(Kontinuität/Diskontinuität)<br />

4. Wie kommt es zu Veränderungen? (Mechanismen entwicklungsbedingter<br />

Veränderungen)<br />

5. Wie wirkt sich der soziokulturelle Kontext auf die Entwicklung<br />

aus? (Der soziokulturelle Kontext)<br />

6. Warum werden Kinder so verschieden? (Interindividuelle<br />

Unterschiede)<br />

7. Wie kann Forschung das <strong>Kindes</strong>wohl fördern? (Forschung<br />

<strong>und</strong> <strong>Kindes</strong>wohl)<br />

Die allgemeinen Antworten, die sich in der Auseinandersetzung<br />

damit ergeben haben, werden <strong>im</strong> Verlauf dieses Buches<br />

<strong>im</strong>mer wieder angesprochen <strong>und</strong> hervorgehoben, wenn es um<br />

best<strong>im</strong>mte Aspekte der <strong>Kindes</strong>entwicklung geht. In den folgenden<br />

Abschnitten erörtern wir kurz diese sieben Fragen <strong>und</strong> die<br />

Themenkomplexe, mit denen sie jeweils verknüpft sind.<br />

1 Anlage <strong>und</strong> Umwelt: Wie wirken sich Anlage<br />

<strong>und</strong> Umwelt gemeinsam auf die Entwicklung<br />

aus?<br />

Die mit Abstand gr<strong>und</strong>legendste Frage zur <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

richtet sich auf das Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong> Umwelt bei<br />

der Gestaltung von Entwicklungsprozessen. Anlage bezieht sich<br />

dabei auf unsere biologische Gr<strong>und</strong>ausstattung, insbesondere<br />

auf die Gene, die unsere Eltern uns mitgegeben haben. Dieses<br />

genetische Erbe beeinflusst praktisch alles, was uns ausmacht <strong>und</strong><br />

persönlich kennzeichnet – von unserer äußeren Erscheinung, unserer<br />

Persönlichkeit, Intelligenz <strong>und</strong> geistigen Ges<strong>und</strong>heit bis hin<br />

zu best<strong>im</strong>mten Vorlieben, beispielsweise unserer politischen Einstellung<br />

<strong>und</strong> dem Hang zu Nervenkitzel <strong>und</strong> Abenteuer (Plomin<br />

2004; Rothbart <strong>und</strong> Bates 2006). Umwelt bezieht sich demgegenüber<br />

auf das breite Spektrum materieller <strong>und</strong> sozialer Umgebungen,<br />

die unsere Entwicklung beeinflussen: den Mutterleib,<br />

in dem wir die Zeit bis zur Geburt verbringen; das Zuhause, in<br />

dem wir aufwachsen; die Schulen, die wir besuchen; die sozialen<br />

<strong>und</strong> politischen Gemeinschaften, in denen wir leben; die vielen<br />

Menschen, mit denen wir zu tun haben.<br />

Anlage – Unsere biologische Gr<strong>und</strong>ausstattung; die von den Eltern erhaltenen<br />

Gene.<br />

Umwelt – Die materiellen <strong>und</strong> sozialen Umgebungen, die unsere Entwicklung<br />

beeinflussen.


Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

9 1<br />

..<br />

Abb. 1.1 Genetische Verwandtschaft<br />

<strong>und</strong> Schizophrenie. Je näher<br />

die biologische Verwandtschaft desto<br />

größer ist die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass Verwandte einer Person mit<br />

Schizophrenie dieselbe Krankheit<br />

aufweisen. (Nach Gottesmann 1991)<br />

Risiko einer Schizophrenieerkrankung (in Prozent)<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

Gesamtbevölkerung<br />

Cousin/Cousine<br />

Onkel/Tante<br />

Nichte/Neffe<br />

Enkel<br />

Halbgeschwister<br />

Eltern<br />

Geschwister<br />

Kind<br />

Zweieiiger Zwilling<br />

Eineiiger Zwilling<br />

Verwandschaftsverhältnis zum Schizophreniepatienten<br />

In der Öffentlichkeit wird die Anlage-Umwelt-Diskussion oft als<br />

Entweder-oder-Frage formuliert: „Was best<strong>im</strong>mt das Schicksal<br />

eines Menschen, Erbanlagen oder Umwelt?“ Dieses Entwederoder<br />

ist jedoch irreführend. Jedes Persönlichkeitsmerkmal, das<br />

wir besitzen – Intelligenz, Persönlichkeit, Aussehen, Gefühle –,<br />

entsteht durch das gemeinsame Wirken von Anlage <strong>und</strong> Umwelt,<br />

also durch das ständige Zusammenwirken von Genen <strong>und</strong><br />

Umwelt. Dementsprechend lautet die Frage nicht mehr, ob der<br />

eine oder der andere Einfluss der wichtigere sei, sondern sie richtet<br />

sich auf das Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong> Umwelt bei der<br />

Entwicklung.<br />

Dass dies die richtige Art zu fragen ist, lässt sich an Bef<strong>und</strong>en<br />

zur Entwicklung von Schizophrenien illustrieren. Schizophrenie<br />

ist eine schwere psychische Erkrankung, zu deren Symptomen<br />

irrationales Verhalten, Denkstörungen, Halluzinationen <strong>und</strong><br />

Wahnvorstellungen gehören. Bei dieser Erkrankung gibt es offensichtlich<br />

eine genetische Komponente. Zwar erkranken die<br />

meisten Kinder schizophrener Eltern nicht selbst an Schizophrenie,<br />

doch ist die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung bei ihnen<br />

weit höher als in der Gesamtbevölkerung, selbst wenn sie als<br />

Säuglinge adoptiert wurden <strong>und</strong> ihre biologischen (schizophrenen)<br />

Eltern gar nicht kennen (Kety et al. 1994). Hat von eineiigen<br />

Zwillingen, deren Gene identisch sind, einer Schizophrenie, dann<br />

ist der andere Zwilling mit etwa 50%iger Wahrscheinlichkeit<br />

ebenfalls schizophren – eine weit höhere Gefährdung als in der<br />

Gesamtbevölkerung, wo die entsprechende Wahrscheinlichkeit<br />

bei etwa 1 % liegt (Gottesman 1991; Cardno <strong>und</strong> Gottesman<br />

2000; . Abb. 1.1). Die genetische Ausstattung der Kinder wirkt<br />

sich also auf die Wahrscheinlichkeit aus, schizophren zu werden.<br />

Aber auch die Umwelt hat offensichtlich einen Einfluss, denn<br />

etwa die Hälfte der Kinder, die einen schizophrenen eineiigen<br />

Zwilling haben, werden selbst nicht schizophren; <strong>und</strong> Kinder<br />

aus Problemfamilien werden mit höherer Wahrscheinlichkeit<br />

schizophren als andere Kinder aus Durchschnittsfamilien. Am<br />

wichtigsten scheint die Wechselwirkung zwischen genetischer<br />

Ausstattung <strong>und</strong> Umwelt zu sein. Eine Untersuchung adoptierter<br />

Kinder, von denen einige schizophrene Eltern hatten, zeigte,<br />

dass eine nennenswerte Wahrscheinlichkeit, an Schizophrenie<br />

zu erkranken, nur bei den Kindern bestand, die von einem schizophrenen<br />

Elternteil abstammten <strong>und</strong> in eine gestörte Familie<br />

adoptiert worden waren (Tienari et al. 2006).<br />

Eine Reihe neuer bemerkenswerter Studien hat einige biologische<br />

Mechanismen aufgedeckt, durch die Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

in Interaktion treten. Diese Untersuchungen zeigen, dass<br />

das menschliche Genom – die komplette Erbinformation eines<br />

Menschen – nicht nur das Erleben <strong>und</strong> Verhalten beeinflusst,<br />

sondern umgekehrt auch durch Erleben <strong>und</strong> Verhalten verändert<br />

wird (Cole 2009; Meaney 2010). Das mag unmöglich erscheinen<br />

angesichts der allgemein bekannten Tatsache, dass die<br />

Erbsubstanz DNA während der gesamten Lebenszeit konstant<br />

bleibt. Aber das Genom besteht nicht nur aus DNA, sondern<br />

es enthält auch Proteine, die die Gene ein- <strong>und</strong> ausschalten<br />

können <strong>und</strong> so deren Ausprägung (oder Expression) regulieren.<br />

Als Reaktion auf Erfahrung verändern sich die Regulationsproteine,<br />

<strong>und</strong> sie können ohne strukturelle Veränderungen<br />

der DNA dazu führen, dass sich unser Denken, Fühlen <strong>und</strong><br />

Verhalten nachhaltig ändern. Diese Bef<strong>und</strong>e haben ein neues<br />

Forschungsgebiet entstehen lassen, das Epigenetik genannt<br />

wird <strong>und</strong> sich mit den bleibenden Veränderungen beschäftigt,<br />

die Umwelteinflüsse bei der Genexpression bewirken können.<br />

Man könnte sagen, die Epigenetik untersucht, wie Erfahrungen<br />

unter die Haut gehen.<br />

Genom – Die komplette Erbinformation eines Lebewesens.<br />

Epigenetik – Die Erforschung der bleibenden Veränderungen bei der Genexpression,<br />

die durch Umwelteinflüsse bewirkt werden können.<br />

Einen Beleg für nachhaltige epigenetische Einflüsse früher Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> frühen Verhaltens liefert die Erforschung der<br />

Methylierung, eines biochemischen Prozesses, der die Ausprä-


10<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

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23<br />

gung einer Reihe von Genen vermindert <strong>und</strong> insbesondere bei<br />

der Regulation von Stressreaktionen beteiligt ist (Champagne<br />

<strong>und</strong> Curley 2009; Meaney 2001). Eine neuere Studie zeigt den<br />

Einfluss von Stress; das Ausmaß des Stresses, den Mütter nach<br />

eigenen Angaben in ihrer Kindheit erlebt hatten, korrelierte mit<br />

der 15 Jahre später gemessenen Methylierung <strong>im</strong> Genom der<br />

Kinder (Essex et al. 2013). Andere Studien wiesen bei Neugeborenen<br />

depressiver Mütter eine erhöhte Methylierung in der<br />

aus der Nabelschnur entnommenen DNA nach (Oberlander<br />

et al. 2008) <strong>und</strong> zeigten auch bei Erwachsenen, die als Kinder<br />

missbraucht worden waren, eine erhöhte Methylierung der DNA<br />

(McGowan et al. 2009), was viele Forscher vermuten lässt, dass<br />

Kinder unter solchen Umständen ein erhöhtes Risiko tragen,<br />

als Erwachsene an Depression zu erkranken (Rutten <strong>und</strong> Mill<br />

2009).<br />

Methylierung – Ein biochemischer Prozess, der bei zahlreichen Genen die Expression<br />

reduziert.<br />

Wie diese Beispiele zeigen, ergibt sich Entwicklung aus einem<br />

ständigen beidseitigen Wechselspiel zwischen Anlage <strong>und</strong> Umwelt.<br />

Zu behaupten, dass eines von beiden wichtiger sei oder<br />

beide gleich stark einwirkten, wäre eine drastische Vereinfachung<br />

des Entwicklungsprozesses.<br />

2 Das aktive Kind: Wie formen Kinder<br />

ihre eigene Entwicklung?<br />

Bei aller Aufmerksamkeit, die der Rolle von Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

bei der Entwicklung zukommt, wird manchmal nur zu leicht<br />

übersehen, in welcher Weise die Kinder selbst zu ihrer eigenen<br />

Entwicklung beitragen. Schon bei Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern<br />

lässt sich dieser Beitrag auf vielfältige Weise erkennen: an ihren<br />

Aufmerksamkeitsmustern, ihrem Sprachgebrauch <strong>und</strong> ihrem<br />

Spielverhalten.<br />

Kinder formen ihre eigene Entwicklung zuallererst durch<br />

die Auswahl dessen, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten.<br />

Schon Neugeborene blicken in die Richtung von Gegenständen,<br />

die Geräusche machen <strong>und</strong> sich bewegen. Diese Aufmerksamkeitspräferenz<br />

hilft ihnen, wichtige Aspekte ihrer Umwelt kennenzulernen<br />

– etwa Menschen, Tiere <strong>und</strong> unbelebte Objekte,<br />

die sich bewegen (z. B. Autos oder Lastwagen). Wenn Säuglinge<br />

zu Menschen hinschauen, dann wird ihre Aufmerksamkeit besonders<br />

von Gesichtern angezogen. Wenn sie die Wahl haben,<br />

einem Fremden oder aber ihrer Mutter ins Gesicht zu blicken,<br />

entscheiden sich Kinder schon <strong>im</strong> ersten Lebensmonat für den<br />

Blick zur Mutter (Bartrip et al. 2001). Anfangs begleiten keine<br />

sichtbaren Gefühle diese Hinwendung, aber gegen Ende des<br />

zweiten Lebensmonats lächeln <strong>und</strong> gurren die Kinder, während<br />

sie der Mutter ins Gesicht schauen, mehr als sonst. Damit regen<br />

sie die Mutter zum Lächeln <strong>und</strong> Sprechen an, was von den<br />

Kindern wiederum mit Lächeln <strong>und</strong> Gurren beantwortet wird,<br />

<strong>und</strong> so fort (Lavelli <strong>und</strong> Fogel 2005). Auf diese Weise stärken die<br />

wechselseitigen Interaktionen, die durch die kindliche Blickpräferenz<br />

für das Gesicht der Mutter ausgelöst werden, die Bindung<br />

zwischen Mutter <strong>und</strong> Kind.<br />

..<br />

Kinder formen ihre eigene Entwicklung von Anfang an schon durch die<br />

Wahl, wohin sie schauen. Hohe Priorität besitzt vom ersten Lebensmonat an<br />

der Anblick der Mutter. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Wenn Kinder zu sprechen anfangen, was gewöhnlich zwischen<br />

neun <strong>und</strong> 15 Monaten passiert, wird der Beitrag ihrer geistigen<br />

Aktivitäten zu ihrer Entwicklung aus ihrer Sprachverwendung<br />

ersichtlich. In den ersten Jahren des aktiven Sprechens reden<br />

Kinder oft auch dann, wenn sie allein <strong>im</strong> Raum sind <strong>und</strong> keiner<br />

da ist, der sie bestärkt oder auf das Gesagte reagieren könnte. Nur<br />

weil Kinder aus sich heraus motiviert sind, die Sprache zu erlernen,<br />

lassen sich ihre Redeübungen unter den genannten Umständen<br />

nachvollziehen. Viele Eltern erschrecken, wenn sie solche<br />

Selbstgespräche hören, <strong>und</strong> fragen sich, ob mit ihrem Kind,<br />

das sich so seltsam verhält, vielleicht etwas nicht in Ordnung<br />

ist. Tatsächlich ist das jedoch völlig normal, <strong>und</strong> die Übung hilft<br />

ein- bis zweijährigen Kindern wahrscheinlich, ihre Sprechweise<br />

zu verbessern.<br />

Das Spielverhalten kleiner Kinder bietet viele andere Beispiele<br />

dafür, wie intrinsisch motivierte Aktivität zur Entwicklung<br />

beiträgt. Kinder spielen von sich aus um den reinen „Spaß<br />

an der Freud“, aber dabei lernen sie auch vieles. Jeder, der ein<br />

Baby einen Löffel gegen die verschiedenen Teile seines Hochstuhls<br />

hat schlagen sehen oder der zusah, wie es mit Absicht<br />

Essen auf den Boden fallen ließ, wird zust<strong>im</strong>men, dass für das<br />

Baby die Belohnung in der Tätigkeit selbst liegt. Gleichzeitig<br />

lernt das Baby aber auch, welche Geräusche entstehen, wenn<br />

verschiedene Gegenstände zusammenprallen, wie schnell etwas<br />

zu Boden fällt <strong>und</strong> vielleicht auch wo die Geduld der Eltern ihre<br />

Grenzen hat.


Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

11 1<br />

..<br />

Spielen trägt auf vielerlei Weise zur <strong>Kindes</strong>entwicklung bei, so zum räumlichen<br />

Verständnis <strong>und</strong> zum Beachten von Details – Fähigkeiten, die be<strong>im</strong><br />

Puzzeln erforderlich sind. (© Robert <strong>Siegler</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Das Fantasiespiel kleiner Kinder scheint einen besonders großen<br />

Beitrag zu ihrem Wissen über sich selbst <strong>und</strong> andere Menschen<br />

zu leisten. Etwa vom zweiten Lebensjahr an geben Kinder in<br />

gespielten Szenen manchmal vor, jemand anders zu sein. Zum<br />

Beispiel behaupten sie, dass sie jetzt Superhelden <strong>im</strong> Kampf mit<br />

Monstern oder Eltern, die sich um ein Baby kümmern, seien.<br />

Neben dem intrinsischen Vergnügen bringen diese Fantasiespiele<br />

wertvollen Lernzuwachs, beispielsweise darüber, wie man<br />

mit Ängsten umgeht oder eigene Reaktionen <strong>und</strong> die anderer<br />

Menschen versteht (Howes <strong>und</strong> Matheson 1992; Smith 2003).<br />

Vom Spiel älterer Kinder, das normalerweise geordneter ist <strong>und</strong><br />

best<strong>im</strong>mten Regeln folgt, lernen sie darüber hinaus wichtige<br />

Lektionen über die Selbstkontrolle, die benötigt werden, um<br />

Fehlverhalten abzustellen, Regeln zu befolgen oder bei Rückschlägen<br />

die eigenen Emotionen zu beherrschen (Hirsh-Pasek<br />

et al. 2009). Wie wir später in diesem Kapitel noch diskutieren<br />

werden, verstärken <strong>und</strong> erweitern sich die Eigenbeiträge der<br />

Kinder zu ihrer Entwicklung, wenn sie ihre Umgebung mit dem<br />

Alter <strong>im</strong>mer selbstständiger best<strong>im</strong>men <strong>und</strong> gestalten können.<br />

..<br />

Jugendliche, die an sportlichen <strong>und</strong> anderen außerschulischen Aktivitäten<br />

teilnehmen, schließen mit höherer Wahrscheinlichkeit das Gymnasium ab<br />

<strong>und</strong> geraten seltener in Schwierigkeiten als Gleichaltrige, die nicht an solchen<br />

Aktivitäten teilnehmen. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Kinder zu ihrer eigenen<br />

Entwicklung beitragen. (© Amy Myers/Fotolia.com)<br />

3 Kontinuität/Diskontinuität: Inwiefern verläuft<br />

die Entwicklung kontinuierlich<br />

oder diskontinuierlich?<br />

Manche Wissenschaftler stellen sich die <strong>Kindes</strong>entwicklung als<br />

einen kontinuierlichen Prozess kleiner Veränderungen vor, wie<br />

bei einem Baum, der höher <strong>und</strong> höher wächst. Andere sehen den<br />

Entwicklungsprozess als eine Reihe plötzlicher diskontinuierlicher<br />

(sprunghafter) Veränderungen, wie den Übergang von der<br />

Raupe über den Kokon zum Schmetterling (. Abb. 1.2). Die Kontroverse<br />

darum, welche dieser beiden Sichtweisen die richtigere<br />

ist, dauerte Jahrzehnte.<br />

Kontinuierliche Entwicklung – Die Vorstellung, dass altersbedingte Veränderungen<br />

allmählich <strong>und</strong> in kleinen Schritten geschehen, so wie ein Baum höher<br />

<strong>und</strong> höher wächst.<br />

Diskontinuierliche Entwicklung – Die Vorstellung, dass zu altersbedingten<br />

Veränderungen gelegentliche größere Entwicklungsschritte gehören, so wie die<br />

Verwandlung einer Raupe zur Puppe, die schließlich als Schmetterling schlüpft.<br />

Forscher, die die Entwicklung als diskontinuierlich betrachten,<br />

gehen von einer allgemeinen Beobachtung aus: Kinder verschiedenen<br />

Alters erscheinen qualitativ unterschiedlich. Beispielsweise<br />

unterscheiden sich Vier- <strong>und</strong> Sechsjährige nicht nur darin, wie<br />

viel sie wissen, sondern in der gesamten Art <strong>und</strong> Weise, wie sie<br />

die Welt verstehen. Um sich diese Unterschiede zu verdeutlichen,<br />

betrachte man die beiden (hier übersetzten) Unterhaltungen zwischen<br />

Beth, der Tochter eines der Autoren, <strong>und</strong> ihrer Mutter. Das


12<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

a<br />

b<br />

..<br />

Abb. 1.2 Kontinuierliche <strong>und</strong><br />

diskontinuierliche Entwicklung.<br />

Manche Forscher betrachten Entwicklung<br />

als einen kontinuierlichen,<br />

graduellen Prozess, wie bei einem<br />

Baum, der von Jahr zu Jahr stetig<br />

höher wächst (a). Andere sehen<br />

Entwicklung als einen diskontinuierlichen<br />

Prozess, zu dem plötzliche<br />

einschneidende Veränderungen<br />

gehören, so wie sich die Raupe über<br />

das Stadium der Verpuppung zum<br />

Schmetterling entwickelt (b). Beide<br />

Ansichten bilden best<strong>im</strong>mte Aspekte<br />

der <strong>Kindes</strong>entwicklung ab<br />

8<br />

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23<br />

erste Gespräch fand statt, als Beth vier Jahre alt war, das zweite mit<br />

sechs Jahren. Beide Gespräche ergaben sich, als Beth ihrer Mutter<br />

dabei zusah, wie sie das Wasser aus einem typischen Trinkglas vollständig<br />

in ein höheres Glas mit kleinerem Durchmesser umschüttete.<br />

Hier der Wortlaut des Gesprächs mit der vierjährigen Beth:<br />

Mutter: Ist das <strong>im</strong>mer noch dieselbe Menge Wasser?<br />

Beth: Nein.<br />

Mutter: War es vorher mehr Wasser, oder ist es jetzt mehr?<br />

Beth: Jetzt ist es mehr.<br />

Mutter: Warum glaubst du das?<br />

Beth: Das Wasser ist höher; man sieht, dass es mehr ist.<br />

Mutter: Ich schütte das Wasser jetzt in das normale Glas zurück. Ist das<br />

gleich viel Wasser wie vorher, als das Wasser auch in diesem Glas war?<br />

Beth: Ja.<br />

Mutter: Jetzt schütte ich das Wasser wieder in das hohe, dünne Glas.<br />

Ist die Menge an Wasser gleichgeblieben?<br />

Beth: Nein, ich hab dir schon gesagt, dass es mehr Wasser ist, wenn<br />

es <strong>im</strong> hohen Glas ist.<br />

Zwei Jahre später, Beth war inzwischen sechs, reagierte sie auf<br />

dasselbe Problem ganz anders:<br />

Mutter: Ist das <strong>im</strong>mer noch dieselbe Menge Wasser?<br />

Beth: Natürlich!<br />

Wie kommt diese Veränderung in Beths Denken zustande? Sie<br />

lässt sich nicht darauf zurückführen, dass sie inzwischen weitere<br />

Erfahrungen mit der Umfüllprozedur sammeln konnte; schon<br />

bevor sie vier Jahre alt wurde, hatte Beth häufig be<strong>im</strong> Wassereingießen<br />

zugeschaut <strong>und</strong> dennoch nicht begriffen, dass die<br />

Wassermenge dabei konstant blieb. Auch die Erfahrung mit der<br />

geschilderten Aufgabe erklärt den Zeitpunkt der Veränderung<br />

nicht: Zwischen dem ersten <strong>und</strong> dem zweiten Gespräch wurde<br />

Beth niemals danach gefragt, ob die Flüssigkeitsmenge dieselbe<br />

blieb, wenn man Wasser aus einem Trinkglas in ein höheres, schmaleres<br />

gießt. Warum also war sie als Vierjährige so sicher, dass<br />

das Umfüllen in das höhere, schmalere Glas die Wassermenge<br />

erhöht, <strong>und</strong> als Sechsjährige genauso davon überzeugt, dass die<br />

Menge gleich bleibt?<br />

Diese Unterhaltung zur Mengenkonstanz be<strong>im</strong> Umschüttversuch<br />

spiegelt ein klassisches Verfahren zur Überprüfung des<br />

kindlichen Denkniveaus wider. Es wurde weltweit bei Tausenden<br />

von Kindern angewandt, <strong>und</strong> so gut wie alle untersuchten<br />

Kinder, egal welcher Kultur, zeigten dieselbe Veränderung <strong>im</strong><br />

Denken wie Beth (wenn auch meist in etwas höherem Alter).<br />

Solche altersabhängigen Unterschiede bei Verständnisleistungen<br />

kennzeichnen das kindliche Denken insgesamt. Man betrachte<br />

zwei Briefe an Mr. Rogers (den Protagonisten einer Kindersendung),<br />

die ihm von einem vier- <strong>und</strong> einem fünfjährigen Kind<br />

zugesandt wurden:<br />

» Lieber Mr. Rogers,<br />

ich würde gern wissen, wie du in den Fernsehapparat hineinkommst.<br />

(Robby, vier Jahre alt)<br />

» Lieber Mr. Rogers,<br />

ich wünsche mir, dass du aus Versehen einmal aus dem<br />

Fernseher in meine Wohnung trittst, damit ich mit dir spielen<br />

kann. (Josiah, fünf Jahre alt)<br />

(Rogers 1996, S. 10 f.)<br />

Das sind eindeutig keine Ideen, die ein älteres Kind so haben<br />

würde. Wie in Beths Fall fragen wir uns: Was lässt Vier- <strong>und</strong><br />

Fünfjährige glauben, eine Person könnte in einen Fernsehgerät<br />

hinein- <strong>und</strong> aus ihm herausgehen? Und welche Änderungen<br />

treten ein, die solche Annahmen für Sechs- oder Siebenjährige<br />

lächerlich erscheinen lassen?<br />

Ein häufiger Ansatz zur Beantwortung solcher Fragen<br />

stammt aus Stufentheorien, nach denen Entwicklung als Abfolge<br />

unterscheidbarer (distinkter) altersabhängiger Stadien oder<br />

Phasen verläuft, ähnlich dem Schmetterlingsbeispiel in . Abb. 1.2.<br />

Diesen Theorien zufolge sind am Eintritt des <strong>Kindes</strong> in eine neue<br />

Phase relativ plötzliche, qualitative Veränderungen beteiligt, in<br />

denen eine in sich schlüssige Weise, die Welt zu erleben <strong>und</strong> aufzufassen,<br />

in eine andere, wiederum in sich zusammenhängende<br />

Weltsicht übergeht.<br />

Stufentheorien – Annahmen, die die Entwicklung als eine Reihe von diskontinuierlichen,<br />

altersabhängigen Stadien sehen.


Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

13 1<br />

..<br />

Als Beispiel für die Sicht auf Entwicklung als diskontinuierlich zieht man oft Piagets Invarianzaufgabe zur Einschätzung von Flüssigkeitsmengen heran.<br />

Man zeigt dem Kind zunächst gleiche Mengen an Flüssigkeit in gleich geformten Glasbehältern, hier zwei Bechergläsern, <strong>und</strong> einen leeren, anders geformten<br />

Behälter aus Glas. Dann schaut das Kind zu, wie die Flüssigkeit aus einem der Behälter in den leeren Glasbehälter umgeschüttet wird. Schließlich soll das Kind<br />

sagen, ob die Flüssigkeitsmenge dieselbe geblieben ist oder ob sich in einem der Behälter mehr Flüssigkeit befindet. Die meisten jungen Kinder, wie dieses<br />

Mädchen, sind unerschütterlich davon überzeugt, dass das schmalere Glas mit der höheren Flüssigkeitssäule mehr Flüssigkeit enthält. Ein, zwei Jahre später<br />

sind die Kinder genauso sicher, dass die Flüssigkeitsmenge in beiden Behältern gleich ist. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Zu den bekanntesten Stufentheorien gehört Jean Piagets Theorie<br />

der kognitiven Entwicklung, also der Entwicklung des Denkens.<br />

Nach dieser Theorie durchlaufen Kinder von der Geburt<br />

bis zur Adoleszenz vier Stadien der kognitiven Entwicklung, die<br />

durch jeweils unterschiedlich beschaffene geistige Fähigkeiten<br />

<strong>und</strong> durch unterschiedliche Arten, die Welt zu begreifen, gekennzeichnet<br />

sind. Beispielsweise befinden sich Piagets Theorie<br />

zufolge Zwei- bis Fünfjährige in einem Entwicklungsstadium, in<br />

dem sie zu jedem Zeitpunkt nur einen Aspekt eines Ereignisses<br />

oder nur eine Art von Information berücksichtigen können. Mit<br />

sechs oder sieben Jahren treten Kinder in ein anderes Stadium<br />

ein, in dem sie sich bei vielerlei Aufgaben gleichzeitig auf zwei<br />

oder mehr Aspekte eines Ereignisses konzentrieren beziehungsweise<br />

zwei oder mehr Informationstypen koordinieren können.<br />

Wenn sich Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige einer Aufgabe gegenübersehen,<br />

wie sie von Beths Mutter gestellt wurde, konzentrieren sie sich<br />

allein auf die D<strong>im</strong>ension der Höhe <strong>und</strong> kommen so zu der Erkenntnis,<br />

dass sich in dem schmalen, höheren Glas mehr Wasser<br />

befindet. Im Gegensatz dazu betrachten einige Siebenjährige <strong>und</strong><br />

die meisten der Achtjährigen die beiden relevanten D<strong>im</strong>ensionen<br />

der Aufgabe – Höhe <strong>und</strong> Durchmesser des Glases – gleichzeitig.<br />

Dadurch können sie erkennen, dass die Wassersäule in dem hohen<br />

Glas zwar höher steht, dass das Glas aber schmaler ist <strong>und</strong><br />

sich die beiden Unterschiede am Ende wieder ausgleichen.<br />

Kognitive Entwicklung – Insbesondere die Entwicklung des Denkens <strong>und</strong><br />

Schlussfolgerns, des Problemlösens, der Wahrnehmung <strong>und</strong> der Sprache.<br />

Bei der Lektüre des vorliegenden Buches werden wir einer Reihe<br />

von weiteren Stufentheorien begegnen, darunter Sigm<strong>und</strong> Freuds<br />

Theorie der psychosexuellen Entwicklung, Erik Eriksons Theorie<br />

der psychosozialen Entwicklung <strong>und</strong> Lawrence Kohlbergs Theorie<br />

der Moralentwicklung. Jede dieser Stufentheorien n<strong>im</strong>mt an,<br />

dass Kinder in einem best<strong>im</strong>mten Alter über viele Situationen<br />

hinweg starke Ähnlichkeiten aufweisen <strong>und</strong> dass sich ihr Verhalten<br />

in verschiedenen Altersstufen deutlich unterscheidet.<br />

Solche Stufentheorien erwiesen sich als sehr einflussreich. In<br />

den vergangenen Jahrzehnten kamen viele Forscher jedoch zu<br />

dem Schluss, dass die Veränderungen in den meisten Entwick-<br />

lungsaspekten eher allmählich <strong>und</strong> nicht abrupt verlaufen <strong>und</strong><br />

dass die Entwicklung von Fähigkeit zu Fähigkeit, von Aufgabe<br />

zu Aufgabe voranschreitet <strong>und</strong> nicht in breiter <strong>und</strong> einheitlicher<br />

Weise (Courage <strong>und</strong> Howe 2002; Elman et al. 1996; Thelen <strong>und</strong><br />

Smith 2006). Diese Sicht auf die Entwicklung ist weniger dramatisch,<br />

wird aber durch zahlreiche Belege gestützt. Ein solcher<br />

Bef<strong>und</strong> besteht in der Tatsache, dass sich Kinder oft bei einer<br />

Aufgabe gemäß einer Entwicklungsstufe <strong>und</strong> bei einer anderen<br />

Aufgabe in Übereinst<strong>im</strong>mung mit einer anderen Stufe verhalten<br />

(Fischer <strong>und</strong> Biddell 2006). Dieses variable Niveau der Denkprozesse<br />

macht es schwierig zu sagen, das Kind befinde sich „in“<br />

einer best<strong>im</strong>mten Phase.<br />

Eine der größten Schwierigkeiten bei der Entscheidung, ob<br />

Entwicklung kontinuierlich verläuft oder nicht, hängt damit<br />

zusammen, dass dieselben Sachverhalte aus unterschiedlicher<br />

Perspektive jeweils anders aussehen können. Nehmen wir die<br />

scheinbar einfache Frage, ob die Körpergröße eines <strong>Kindes</strong> kontinuierlich<br />

oder diskontinuierlich wächst. . Abbildung 1.3a zeigt<br />

die Körpergröße eines Jungen von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr<br />

(Tanner 1961). Betrachtet man die Größe des Jungen<br />

<strong>im</strong> jeweiligen Alter, so erscheint die Entwicklung geschmeidig<br />

<strong>und</strong> kontinuierlich, mit einem schnellen Wachstum am Lebensanfang,<br />

das sich dann verlangsamt.<br />

Ein ganz anderes Bild ergibt sich jedoch, wenn man . Abb. 1.3b<br />

betrachtet. Diese Kurve zeigt das Wachstum desselben Jungen,<br />

stellt aber den Größenzuwachs von einem Jahr zum nächsten<br />

dar. Der Junge wuchs in jedem Jahr, aber am meisten <strong>im</strong> Verlauf<br />

zweier Abschnitte: von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr<br />

<strong>und</strong> zwischen zwölf <strong>und</strong> 15 Jahren. Daten, die so aussehen, führen<br />

dazu, dass manche von einem diskontinuierlichen Wachstum<br />

reden <strong>und</strong> ein eigenes Stadium der Adoleszenz annehmen, zu<br />

dem ein Wachstumsschub gehört.<br />

Verläuft die Entwicklung nun <strong>im</strong> Wesentlichen kontinuierlich<br />

oder <strong>im</strong> Wesentlichen diskontinuierlich? Die vernünftigste<br />

Antwort scheint zu lauten: „Es kommt darauf an, wie man sie<br />

betrachtet <strong>und</strong> wie oft man hinschaut.“ Man stelle sich den Unterschied<br />

zwischen der Perspektive eines Onkels vor, der seine<br />

Nichte alle zwei oder drei Jahre sieht, <strong>und</strong> der Perspektive ihrer<br />

Eltern, die sie täglich sehen. Der Onkel wird fast <strong>im</strong>mer von den


14<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

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Körpergröße (cm)<br />

a<br />

Größenzuwachs (cm/Jahr)<br />

b<br />

Alter (in Jahren)<br />

Alter (in Jahren)<br />

..<br />

Abb. 1.3 Kontinuierliches <strong>und</strong> diskontinuierliches Wachstum. Je nach Betrachtungsweise<br />

können Veränderungen der Körpergröße als kontinuierlich<br />

oder diskontinuierlich gesehen werden. a Untersucht man die Körpergröße<br />

eines Jungen jährlich von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr, so sieht das<br />

Wachstum stetig <strong>und</strong> gleichmäßig aus (aus Tanner 1961). b Untersucht man<br />

den Größenzuwachs desselben Jungen über denselben Zeitraum jeweils<br />

<strong>im</strong> Vergleich zum Vorjahr, zeigt sich in den ersten drei Lebensjahren ein<br />

schnelles Wachstum, dann ein langsameres, dann ein Wachstumsschub in<br />

der Adoleszenz <strong>und</strong> schließlich ein schnelles Absinken der Wachstumsrate; so<br />

gesehen erscheint das Wachstum diskontinuierlich.<br />

gewaltigen Veränderungen beeindruckt sein, die seine Nichte seit<br />

ihrem letzten Zusammentreffen durchgemacht hat. Das Mädchen<br />

wird so verändert sein, dass es den Anschein hat, es sei auf eine<br />

höhere Entwicklungsstufe gelangt. Im Gegensatz dazu werden die<br />

Eltern meistens die Kontinuität in der Veränderung erleben; für<br />

sie scheint das Mädchen Tag für Tag ein Stückchen größer zu werden.<br />

Im Verlauf dieses Buches werden wir die Veränderungen –<br />

seien sie groß oder klein, abrupt oder allmählich – betrachten, die<br />

einige Forscher dazu veranlassten, die Kontinuität der Entwicklung<br />

zu betonen, <strong>und</strong> andere die Diskontinuität hervorheben ließ.<br />

4 Mechanismen entwicklungsbedingter<br />

Veränderungen: Wie kommt es<br />

zu Veränderungen?<br />

Das vielleicht größte Gehe<strong>im</strong>nis der <strong>Kindes</strong>entwicklung drückt<br />

sich in der Frage aus: „Wie kommt es zu Veränderungen?“ Welche<br />

Mechanismen rufen die beachtlichen Veränderungen hervor, denen<br />

alle Kinder unterliegen? Eine sehr allgemein gehaltene Antwort<br />

war in der Diskussion um das Thema Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

bereits <strong>im</strong>plizit enthalten: Das Wechselspiel zwischen Genomen<br />

<strong>und</strong> Umwelten best<strong>im</strong>mt sowohl, welche Veränderungen eintreten,<br />

als auch, wann sie eintreten. Darüber hinaus bedarf es<br />

aber der genaueren Spezifikation, wie best<strong>im</strong>mte Veränderungen<br />

ablaufen.<br />

Eine besonders interessante Analyse der Veränderungsmechanismen<br />

bei der Entwicklung betrifft die Rollen der Gehirnaktivität,<br />

der Gene <strong>und</strong> der Lernerfahrungen bei der Entwicklung<br />

angestrengter Aufmerksamkeit (z. B. Rothbart et al. 2007). Angestrengte<br />

Aufmerksamkeit ist ein Aspekt des Temperaments; willentliche<br />

Kontrolle der Gefühle <strong>und</strong> Gedanken gehört dazu. Angestrengte<br />

Aufmerksamkeit erfordert Prozesse wie das Hemmen<br />

der Impulse (z. B. der Aufforderung nachkommen, alles Spielzeug<br />

– <strong>und</strong> nicht nur einen Teil davon – beiseitezulegen, um zu vermeiden,<br />

dass man abgelenkt wird <strong>und</strong> weiterspielt), das Kontrollieren<br />

der Emotionen (z. B. nicht in Tränen ausbrechen, wenn etwas<br />

nicht klappt) <strong>und</strong> das Konzentrieren der Aufmerksamkeit (z. B.<br />

sich trotz verlockender Geräusche von draußen spielenden Kindern<br />

auf die Hausaufgaben konzentrieren). Schwierigkeiten be<strong>im</strong><br />

Ausüben angestrengter Aufmerksamkeit gehen oft mit Verhaltensauffälligkeiten,<br />

schlechten Mathematik- <strong>und</strong> Leseleistungen sowie<br />

psychischen Erkrankungen (Blair <strong>und</strong> Razza 2007; Diamond<br />

<strong>und</strong> Lee 2011; Rothbart <strong>und</strong> Bates 2006) einher.<br />

Man untersuchte die Gehirnaktivität von Menschen be<strong>im</strong><br />

Ausführen von Aufgaben, die eine Kontrolle der eigenen Gedanken<br />

<strong>und</strong> Gefühle erfordern, <strong>und</strong> fand eine besonders ausgeprägte<br />

Aktivität in den Verbindungen zwischen dem vorderen<br />

Cingulum, einer be<strong>im</strong> Setzen <strong>und</strong> Verfolgen eigener Ziele aktiven<br />

Gehirnstruktur, <strong>und</strong> dem l<strong>im</strong>bischen System, einem für emotionale<br />

Reaktionen bedeutsamen Teil des Gehirns (Etkin et al.<br />

2006). Die Verbindungen zwischen dem vorderen Cingulum <strong>und</strong><br />

dem l<strong>im</strong>bischen System entwickeln sich während der Kindheit<br />

beträchtlich, <strong>und</strong> dies scheint einer der Mechanismen zu sein, die<br />

zu einer Verbesserung angestrengter Aufmerksamkeit <strong>im</strong> Verlauf<br />

der Kindheit führen (Rothbart et al. 2007).<br />

Wie wirken Gene <strong>und</strong> Lernerfahrungen auf diesen Mechanismus<br />

der angestrengten Aufmerksamkeit ein? Best<strong>im</strong>mte<br />

Gene beeinflussen die Erzeugung wichtiger Neurotransmitter<br />

– chemischer Substanzen, die an der Informationsübertragung<br />

innerhalb des Gehirns beteiligt sind. Die individuell unterschiedliche<br />

Ausstattung mit den entsprechenden Genen hängt<br />

ihrerseits mit der individuell unterschiedlichen Leistungsstärke<br />

bei Aufgaben zusammen, die angestrengte Aufmerksamkeit erfordern<br />

(Canli et al. 2005; Diamond et al. 2004; Rueda et al.<br />

2005). Jedoch wirken diese Einflüsse nicht in einem Vakuum.<br />

Wie wir schon <strong>im</strong> Zusammenhang mit der Epigenetik festgestellt<br />

haben, spielt die Beschaffenheit der Umwelt be<strong>im</strong> Wirksamwerden<br />

der Gene eine entscheidende Rolle. Im genannten<br />

Fall zeigte sich bei Kleinkindern, bei denen eines der für angestrengte<br />

Aufmerksamkeit relevanten Gene eine best<strong>im</strong>mte<br />

Form aufwies, Zusammenhänge mit der Qualität der elterlichen<br />

Fürsorge: Schlechtere Fürsorge ging mit verminderter Fähigkeit<br />

der Aufmerksamkeitsregulation einher (Sheese et al. 2007). Bei<br />

Kindern, die diese besondere Form des Gens nicht aufwiesen,<br />

hatte die Qualität der elterlichen Fürsorge weniger Einfluss auf<br />

die angestrengte Aufmerksamkeit.


Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

15 1<br />

Neurotransmitter – Chemische Substanzen, die am Informationsaustausch<br />

zwischen Neuronen beteiligt sind.<br />

Auch die Verschaltung des Gehirnsystems, das angestrengte<br />

Aufmerksamkeit ermöglicht, kann sich durch die Erfahrungen<br />

der Kinder verändern. Rueda et al. (2005) führten mit Sechsjährigen<br />

ein fünftägiges Trainingsprogramm durch, das computerbasierte<br />

Übungen enthielt, um die Fähigkeit zu angestrengter<br />

Aufmerksamkeit zu verbessern. Die Untersuchung der elektrischen<br />

Aktivität <strong>im</strong> vorderen Cingulum zeigte, dass diejenigen<br />

Sechsjährigen, die das computerbasierte Trainingsprogramm<br />

durchlaufen hatten, zu höherer angestrengter Aufmerksamkeit<br />

<strong>im</strong>stande waren. Diese Kinder schnitten auch in Intelligenztests<br />

besser ab, was einleuchtet, da solche Tests ausdauernde<br />

angestrengte Aufmerksamkeit erfordern. Die Erfahrungen, die<br />

Kinder machen, beeinflussen also ihre Gehirnprozesse <strong>und</strong> das<br />

Wirksamwerden ihrer Gene, ebenso wie umgekehrt die Gehirnprozesse<br />

<strong>und</strong> die Gene ihrerseits die Reaktionen von Kindern<br />

auf Erfahrungen beeinflussen. Verallgemeinert gesagt: Will<br />

man die Mechanismen, die Entwicklungsveränderungen hervorbringen,<br />

so gut wie möglich verstehen, so muss man genauer<br />

spezifizieren, wie Gene, Gehirnstrukturen <strong>und</strong> -prozesse sowie<br />

Erfahrungen zusammenwirken.<br />

5 Der soziokulturelle Kontext: Wie wirkt sich<br />

der soziokulturelle Kontext<br />

auf die Entwicklung aus?<br />

Kinder wachsen in gegebenen materiellen <strong>und</strong> sozialen Umwelten<br />

auf, in einer best<strong>im</strong>mten Kultur, unter spezifischen<br />

ökonomischen Bedingungen, in einer definierten historischen<br />

Zeit. Zusammen bilden diese materiellen, sozialen, kulturellen,<br />

ökonomischen <strong>und</strong> zeitgeschichtlichen Umstände den soziokulturellen<br />

Kontext, in dem ein Kind lebt. Dieser soziokulturelle<br />

Kontext wirkt sich auf jeden Aspekt der <strong>Kindes</strong>entwicklung aus.<br />

Soziokultureller Kontext – Die materiellen, sozialen, kulturellen, ökonomischen<br />

<strong>und</strong> zeitgeschichtlichen Umstände, die die Umwelt eines <strong>Kindes</strong> bilden.<br />

Eine klassische Darstellung der Komponenten dieses soziokulturellen<br />

Kontexts findet sich <strong>im</strong> bioökologischen Modell von<br />

Urie Bronfenbrenner (1979), das in ▶ Kap. 9 <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit den Theorien der sozialen Entwicklung behandelt wird. Die<br />

ganz offensichtlich wichtigsten Teile des soziokulturellen Kontexts<br />

von Kindern sind die Menschen, mit denen sie zu tun haben<br />

– Eltern, Großeltern, Brüder, Schwestern, Erzieher, Lehrer,<br />

Fre<strong>und</strong>e, Mitschüler <strong>und</strong> so weiter –, <strong>und</strong> die materielle Umwelt,<br />

in der sie leben – Wohnung, Kindergarten, Schule, Nachbarschaft<br />

<strong>und</strong> dergleichen. Ein ebenfalls wichtiger, aber weniger<br />

greifbarer Teil des soziokulturellen Kontexts sind die Institutionen,<br />

die das Leben der Kinder beeinflussen, beispielsweise das<br />

Schulsystem, religiöse kirchliche Einrichtungen, Sportvereine<br />

oder Jugendgruppen.<br />

Andere wichtige Einflüsse stammen aus Besonderheiten der<br />

Gesellschaft, in der ein Kind aufwächst: ihr Wohlstand <strong>und</strong> ihre<br />

technologische Entwicklung; ihre Werte, Einstellungen, Glaubenshaltungen<br />

<strong>und</strong> Traditionen; ihre Gesetze, ihre politische<br />

Struktur <strong>und</strong> so weiter. So kommt in der Tatsache, dass in zahlreichen<br />

Ländern viele oder sogar die Mehrheit der Klein- <strong>und</strong><br />

Vorschulkinder Tagesstätten oder andere Betreuungseinrichtungen<br />

außerhalb des Elternhauses besuchen, eine ganze Reihe<br />

dieser weniger offensichtlichen soziokulturellen Faktoren zum<br />

Ausdruck:<br />

1. die historische Epoche (vor 50 Jahren gingen in den USA <strong>und</strong><br />

Deutschland weit weniger Kinder in Kindertagesstätten),<br />

2. die ökonomische Struktur (für Mütter jüngerer Kinder gibt es<br />

inzwischen mehr Möglichkeiten, außerhalb ihrer Wohnung<br />

zu arbeiten),<br />

3. kulturelle Überzeugungen (z. B. dass eine aushäusige Betreuung<br />

den Kindern nicht schadet) <strong>und</strong><br />

4. kulturelle Werte (z. B. dass Mütter jüngerer Kinder in der<br />

Lage sein sollten, eine Arbeit außer Haus aufzunehmen, falls<br />

sie das wünschen).<br />

Der Besuch des Kindergartens wirkt sich seinerseits darauf aus,<br />

welche Menschen ein Kind kennenlernt <strong>und</strong> an welchen Aktivitäten<br />

es sich beteiligt.<br />

Eine Methode, mit der sich der Einfluss des soziokulturellen<br />

Kontexts untersuchen lässt, besteht darin, Lebensbedingungen<br />

von Kindern zu vergleichen, die in verschiedenen Kulturen aufwachsen.<br />

Solche Kulturvergleiche lassen oft erkennen, dass Praktiken,<br />

die in der eigenen Kultur selten oder gar nicht vorkommen,<br />

in anderen Kulturen alltäglich <strong>und</strong> von großem Vorteil sind. Der<br />

folgende Vergleich der Umstände, unter denen jüngere Kinder<br />

in verschiedenen Gesellschaften schlafen, illustriert den Wert<br />

solcher kulturvergleichender Forschungen.<br />

In den meisten US-amerikanischen Familien schlafen Säuglinge<br />

zunächst <strong>im</strong> Schlafz<strong>im</strong>mer der Eltern, entweder in einem<br />

Kinderbett oder <strong>im</strong> Bett der Eltern. Mit zwei bis sechs Monaten<br />

verfrachten die Eltern die Kinder jedoch für gewöhnlich in<br />

ein Kinderz<strong>im</strong>mer, wo sie dann allein schlafen (Greenfield et al.<br />

2006). Dies erscheint nur Menschen natürlich, die in best<strong>im</strong>mten<br />

Ländern groß geworden sind. Weltweit gesehen sind solche<br />

Schlafgewohnheiten jedoch äußerst unüblich. In anderen Kulturen,<br />

darunter industrialisierten Industrienationen wie Italien,<br />

Japan <strong>und</strong> Südkorea, schlafen die Kinder in den ersten Lebensjahren<br />

fast <strong>im</strong>mer in demselben Bett wie die Mutter, <strong>und</strong> auch<br />

ältere Kinder schlafen in demselben Z<strong>im</strong>mer wie sie, manchmal<br />

in demselben Bett (z. B. Nelson et al. 2000; Whiting <strong>und</strong> Edwards<br />

1988). Wo bleiben dabei die Väter? In einigen Kulturen schläft<br />

der Vater in demselben Bett wie Mutter <strong>und</strong> Baby; in anderen<br />

Kulturen schläft er in einem eigenen Bett oder in einem anderen<br />

Z<strong>im</strong>mer.


16<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

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..<br />

In vielen Ländern schlafen Mutter <strong>und</strong> Kind in den ersten Lebensjahren des<br />

<strong>Kindes</strong> gemeinsam in demselben Bett. Dieses soziokulturelle Muster unterscheidet<br />

sich gravierend von der US-amerikanischen Gewohnheit, Kleinkinder<br />

bald nach der Geburt allein schlafen zu lassen. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Wie wirken sich diese unterschiedlichen Schlafarrangements auf<br />

die Kinder aus? Um das herauszufinden, wurden in einer Studie<br />

Mütter aus amerikanischen Mittelschichtfamilien in Salt Lake City<br />

(Utah) <strong>und</strong> aus ländlichen Maya-Familien in Guatemala befragt<br />

(Morelli et al. 1992). Die Interviews ließen erkennen, dass die<br />

überwiegende Mehrheit der US-amerikanischen Kinder bereits<br />

mit sechs Monaten in ihrem eigenen Z<strong>im</strong>mer schlafen. Mit dem<br />

Herauswachsen aus dem Säuglingsalter wird die nächtliche Trennung<br />

von Kind <strong>und</strong> Eltern zu einem komplexen Ritual, zu dem<br />

Aktivitäten gehören, um das Kind zu trösten <strong>und</strong> zufriedenzustellen:<br />

Geschichten erzählen, aus Kinderbüchern vorlesen, Lieder<br />

singen <strong>und</strong> so weiter. Eine Mutter sagte: „Wenn meine Fre<strong>und</strong>e<br />

hören, dass für meinen Sohn Schlafenszeit ist, necken sie mich <strong>und</strong><br />

sagen: ‚Also bis in einer St<strong>und</strong>e dann‘“ (Morelli et al. 1992, S. 608).<br />

Etwa bei der Hälfte der Kinder wurde berichtet, dass sie ein Kuschelobjekt,<br />

eine Decke oder einen Teddybär, mit ins Bett nehmen.<br />

Im Gegensatz dazu zeigten die Interviews mit den Maya-<br />

Müttern, dass ihre Kinder typischerweise bis zum Alter von<br />

zwei oder drei Jahren mit ihrer Mutter in demselben Bett <strong>und</strong><br />

in den darauffolgenden Jahren weiterhin in demselben Z<strong>im</strong>mer<br />

schlafen. Die Kinder gehen normalerweise gleichzeitig mit ihren<br />

Eltern schlafen oder schlafen in jemandes Armen ein. Keine der<br />

Maya-Eltern gaben irgendwelche Zubettgehrituale an; fast nie<br />

wurde über Kuscheltiere, Puppen oder Decken berichtet, die die<br />

Kinder mit ins Bett nehmen.<br />

Warum unterscheiden sich die Schlafarrangements in verschiedenen<br />

Kulturen? Die Interviews mit den Maya-Eltern ließen<br />

erkennen, dass die kulturellen Werte eher ein entscheidender Gesichtspunkt<br />

bei ihren Schlafarrangements war. Die Maya-Kultur<br />

schätzt die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Menschen.<br />

Die Eltern gaben ihrer Überzeugung Ausdruck, dass der gemeinsame<br />

Schlaf des <strong>Kindes</strong> mit der Mutter für die Entwicklung einer<br />

guten Eltern-Kind-Beziehung wichtig sei; so lasse sich vermeiden,<br />

dass das Kind wegen seines Alleinseins bekümmert sei; <strong>und</strong><br />

schließlich würden Probleme, die das Kind haben könnte, auf<br />

diese Weise leicht erkannt. Häufig zeigten sich die Maya-Eltern<br />

erschüttert <strong>und</strong> voller Mitleid, wenn sie hörten, dass Kleinkinder<br />

in den USA normalerweise getrennt von ihren Eltern schlafen<br />

(Greenfield et al. 2006). Im Gegensatz dazu schätzt die amerikanische<br />

Kultur Unabhängigkeit <strong>und</strong> Selbstvertrauen. Die Mütter<br />

waren davon überzeugt, dass es diesen Werten entgegenkommt,<br />

wenn die Kinder auch schon in frühestem Alter allein schlafen,<br />

<strong>und</strong> dass dies den Elternpaaren zudem Int<strong>im</strong>ität erlaubt (Morelli<br />

et al. 1992). Diese Unterschiede illustrieren, wie sich Praktiken,<br />

die uns ganz natürlich erscheinen, über die Kulturen hinweg<br />

deutlich unterscheiden können <strong>und</strong> wie Alltagskonventionen oft<br />

tiefer liegende Werte <strong>und</strong> Überzeugungen widerspiegeln.<br />

Entwicklungskontexte unterscheiden sich nicht nur zwischen,<br />

sondern auch innerhalb der einzelnen Kulturen. In modernen<br />

multikulturellen Gesellschaften hängen viele Kontextunterschiede<br />

mit dem ethnischen Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> dem sozioökonomischen<br />

Status zusammen. Der sozioökonomische Status ist<br />

ein Maß der sozialen Schichtzugehörigkeit, das auf Bildung <strong>und</strong><br />

Einkommen basiert. Praktisch jeder Aspekt des <strong>Kindes</strong>lebens<br />

wird von diesen beiden Merkmalen beeinflusst, angefangen mit<br />

der Ernährung über Disziplinierungsmaßnahmen der Eltern bis<br />

hin zu den Spielen, die gespielt werden.<br />

Sozioökonomischer Status – Ein Maß für die soziale Schicht, das auf Einkommen<br />

<strong>und</strong> Bildung basiert.<br />

Der sozioökonomische Kontext wirkt sich besonders stark auf<br />

die Lebensumstände der Kinder aus. In wirtschaftlich entwickelten<br />

Gesellschaften wie der unseren wachsen die meisten Kinder<br />

unter komfortablen Umständen auf, was man von Millionen anderer<br />

Kinder nicht behaupten kann. In den USA beispielsweise<br />

lebten 2011 etwa 19 % der Kinder in Familien, deren Einkommen<br />

unter der Armutsgrenze lag (die für eine dreiköpfige Familie mit<br />

einem Erwachsenen <strong>und</strong> zwei Kindern in diesem Jahr bei 18.530<br />

US-Dollar Jahreseinkommen angesetzt war). In absoluten Zahlen<br />

bedeutet das, dass etwa 163 Millionen Kinder in den USA in Armut<br />

aufwachsen (U.S. Census Bureau 2012). Nach Angaben des<br />

Kinderschutzb<strong>und</strong>es waren es in Deutschland am Weltkindertag<br />

2010 2,5 Millionen, mit steigender Tendenz; laut Angaben der<br />

B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung (Chassé 2010) stieg der<br />

Anteil der von Armut betroffenen unter 15-Jährigen von 15,7 %<br />

<strong>im</strong> Jahr 2000 auf 26,3 % <strong>im</strong> Jahr 2006 <strong>und</strong> bei den 16- bis 24-Jährigen<br />

von 16,4 auf 28,3 %. Wie . Tab. 1.1 zeigt, sind die Armutsraten<br />

unter schwarzen <strong>und</strong> hispanischen Familien sowie bei alleinerziehenden<br />

Müttern besonders hoch. Von den schätzungsweise<br />

25 % aller in den Vereinigten Staaten lebenden Kinder, die einen<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong> haben, lebt ein doppelt so hoher Anteil in<br />

Armut wie von den Kindern gebürtiger Amerikaner (Hernandez<br />

et al. 2008; Smeeding 2008). Ähnliche Trends wurden auch für<br />

Deutschland berichtet, wo laut der OECD-Studie zur sozialen<br />

Situation von Kindern aus dem Jahr 2009 jedes sechste Kind von<br />

Armut betroffen ist (nachzulesen in aktuellen Berichten auf der<br />

Internetseite des B<strong>und</strong>esarbeitsministeriums).<br />

Kinder aus armen Familien schneiden in vielfacher Hinsicht<br />

schlechter ab als andere Kinder (Evans et al. 2005; Morales <strong>und</strong><br />

Guerra 2006). Schon <strong>im</strong> Säuglingsalter haben sie mit größerer<br />

Wahrscheinlichkeit schwere Ges<strong>und</strong>heitsprobleme. In der Kindheit<br />

besteht bei ihnen eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür, soziale<br />

<strong>und</strong> emotionale Probleme sowie für Verhaltensauffälligkeiten<br />

zu entwickeln. In Kindheit <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong> verfügen sie oft über


Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

17 1<br />

..<br />

Tab. 1.1 Anteile US-amerikanischer Familien mit Kindern unter<br />

18 Jahren, die <strong>im</strong> Jahr 2011 unterhalb der Armutsgrenze lebten. (U.S.<br />

Census Bureau 2012)<br />

Gruppe<br />

Gesamtbevölkerung USA 19<br />

Weiß, nicht hispanisch 12<br />

Schwarz 33<br />

Hispanisch 29<br />

Asiatisch 12<br />

Verheiratete Paare 9<br />

Weiß, nicht hispanisch 5<br />

Schwarz 12<br />

Hispanisch 20<br />

Asiatisch 9<br />

Alleinerziehend: weiblicher Haushaltungsvorstand 41<br />

Weiß, nicht hispanisch 33<br />

Schwarz 47<br />

Hispanisch 49<br />

Asiatisch 26<br />

Armut in Prozent<br />

einen kleineren Wortschatz, ihr IQ ist niedriger, <strong>und</strong> in standardisierten<br />

Leistungstests erreichen sie niedrigere Punktzahlen<br />

bei Mathematik- <strong>und</strong> Leseaufgaben. In der Adoleszenz setzen<br />

sie mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Kind in die Welt oder<br />

gehen vorzeitig von der Schule ab (Evans et al. 2005; Luthar 1999;<br />

McLoyd 1998).<br />

Diese negativen Folgen überraschen nicht, wenn wir uns die<br />

riesige Bandbreite an Benachteiligungen vor Augen führen, denen<br />

sich arme Kinder ausgesetzt sehen. Verglichen mit Kindern,<br />

die unter günstigeren Lebensumständen aufwachsen, leben arme<br />

Kinder eher in gefahrvoller Nachbarschaft, besuchen schlechtere<br />

Kindertagesstätten oder Schulen <strong>und</strong> sind hohen Verschmutzungsgraden<br />

von Luft <strong>und</strong> Wasser ausgesetzt (Dilworth-Bart<br />

<strong>und</strong> Moore 2006; Evans 2004). Zudem wachsen arme Kinder<br />

häufiger mit nur einem Elternteil oder gar nicht bei den leiblichen<br />

Eltern auf. Die Eltern lesen ihnen seltener etwas vor <strong>und</strong><br />

sprechen seltener mit ihnen, besitzen weniger Bücher <strong>und</strong> kümmern<br />

sich weniger um schulische Angelegenheiten. Es sind also<br />

offenbar weniger einzelne Faktoren als vielmehr eine Anhäufung<br />

von nachteiligen Umständen, die armen Kindern die Chancen<br />

auf erfolgreiche Entwicklung nachhaltig verbauen (Luthar 2006;<br />

Morales <strong>und</strong> Guerra 2006).<br />

Und doch: Wie wir am Anfang dieses Kapitels am Beispiel<br />

von Werners Untersuchung der Kinder von Kauai gesehen haben,<br />

überwinden viele Kinder Hindernisse, die durch Armut<br />

zustande kommen. Solche Kinder zeichnen sich häufig durch<br />

drei Merkmale aus:<br />

1. Sie weisen positive persönliche Eigenschaften auf wie etwa<br />

hohe Intelligenz, Gelassenheit, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität<br />

gegenüber Veränderungen sowie eine opt<strong>im</strong>istische<br />

Einstellung hinsichtlich ihrer eigenen Zukunft.<br />

2. Häufig haben resiliente Kinder zu mindestens einem Elternteil<br />

eine enge Bindung.<br />

3. Weiterhin haben sie häufig eine enge Beziehung zu mindestens<br />

einem weiteren Erwachsenen neben den Eltern, etwa<br />

zum Großvater oder zur Großmutter, zu einem Lehrer, Trainer<br />

oder Fre<strong>und</strong> der Familie (Masten 2007).<br />

Obwohl Armut einer erfolgreichen Entwicklung also schwerwiegende<br />

Hindernisse in den Weg stellt, können viele Kinder diese<br />

Hindernisse mit der Unterstützung von Erwachsenen aus ihrer<br />

Familie oder Gemeinschaft überwinden.<br />

6 Individuelle Unterschiede: Warum werden<br />

Kinder so verschieden?<br />

Jeder, der Erfahrungen mit Kindern gemacht hat, ist von ihrer<br />

Individualität beeindruckt – Unterschiede bestehen nicht nur in<br />

der äußeren Erscheinung, sondern auch in anderer Hinsicht, so<br />

etwa hinsichtlich ihrer Aktivitäten <strong>und</strong> ihres Temperaments bis<br />

hin zu ihrer Intelligenz, Ausdauer, Hartnäckigkeit, Emotionalität<br />

<strong>und</strong> so weiter. Diese individuellen Unterschiede zwischen<br />

Kindern ergeben sich recht früh. Schon <strong>im</strong> ersten Lebensjahr<br />

sind manche Kinder schüchtern, andere kontaktfreudig. Manche<br />

Kinder spielen mit Gegenständen oder betrachten sie über<br />

längere Zeiträume hinweg, andere springen von einer Betätigung<br />

zur anderen, <strong>und</strong> selbst Kinder aus derselben Familie<br />

unterscheiden sich oft beträchtlich – wie jeder weiß, der Geschwister<br />

hat.<br />

Scarr (1992) identifizierte vier Faktoren, die dazu beitragen<br />

können, dass sich Kinder aus einer einzelnen Familie (genauso<br />

wie Kinder aus verschiedenen Familien) unterschiedlich entwickeln:<br />

1. genetische Unterschiede,<br />

2. Unterschiede in der Behandlung durch die Eltern <strong>und</strong> andere<br />

Personen,<br />

3. Unterschiedliche Reaktionen bei gleichartigen Erfahrungen,<br />

4. die Wahl unterschiedlicher Umgebungen.<br />

Der offensichtlichste Gr<strong>und</strong> für Unterschiede zwischen Kindern<br />

besteht darin, dass – abgesehen von eineiigen Zwillingen – jedes<br />

Individuum genetisch einzigartig ist. Selbst Geschwister (einschließlich<br />

zweieiiger Zwillinge), deren Gene zu 50 % übereinst<strong>im</strong>men,<br />

unterscheiden sich in den anderen 50 %.<br />

Eine zweite wichtige Variationsquelle zwischen Kindern besteht<br />

darin, dass sie von ihren Eltern <strong>und</strong> von anderen Personen<br />

unterschiedlich behandelt werden. Die unterschiedliche Behandlung<br />

geht oft mit bestehenden Unterschieden in den Eigenschaften<br />

der Kinder einher. So neigen Eltern dazu, einfache Kinder<br />

sensibler zu betreuen als „schwierige“ Kinder; Eltern schwieriger<br />

Kinder sind oft schon <strong>im</strong> Alter von zwei Jahren leicht verärgert,<br />

auch wenn die Kinder in der unmittelbaren Situation gar nichts<br />

falsch gemacht haben (van den Boom <strong>und</strong> Hoeksma 1994). In<br />

ähnlicher Weise reagieren auch Lehrer auf die individuellen Eigenschaften<br />

der Kinder. Schülern, die gut lernen <strong>und</strong> sich anständig<br />

benehmen, schenken Lehrer <strong>im</strong> Allgemeinen positive<br />

Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Ermutigung. Gegenüber schlechten <strong>und</strong>


18<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

störenden Schülern zeigen sie häufig offene Kritik <strong>und</strong> verweigern<br />

sich ihren Bitten um spezielle Hilfen (Good <strong>und</strong> Brophy<br />

1996).<br />

Kinder werden in ihrer Entwicklung nicht nur durch die<br />

objektiven Unterschiede in der Behandlung, die ihnen zuteilwird,<br />

geformt; sie sind auch von ihren subjektiven Interpretationen<br />

dieser Behandlung beeinflusst. Ein klassisches Bespiel<br />

sind Geschwisterpaare, bei denen jedes Kind wechselseitig<br />

ann<strong>im</strong>mt, die Eltern würden jeweils das andere Kind bevorzugen.<br />

Geschwister können auch unterschiedlich auf Ereignisse<br />

reagieren, die die ganze Familie betreffen. In einer Untersuchung<br />

riefen negative Ereignisse, beispielsweise wenn die Eltern<br />

den Arbeitsplatz verloren, bei Geschwistern in 69 % der Fälle<br />

gr<strong>und</strong>legend unterschiedliche Reaktionen hervor (Beardsall<br />

<strong>und</strong> Dunn 1992). Manche Kinder waren, wenn ein Elternteil<br />

seinen Job verlor, extrem besorgt; andere vertrauten darauf, dass<br />

alles gut wird.<br />

Eine vierte Hauptquelle von Unterschieden zwischen Kindern<br />

aus derselben Familie bezieht sich auf das bereits angesprochene<br />

Thema des aktiven <strong>Kindes</strong>: Kinder wählen mit zunehmendem<br />

Alter in wachsendem Maße ihre Betätigungen<br />

<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e selbst aus <strong>und</strong> beeinflussen so ihre eigene weitere<br />

Entwicklung. Kinder akzeptieren oder suchen sich Nischen;<br />

in einer Familie wird ein Kind vielleicht „das kluge Kind“, das<br />

andere „das beliebte Kind“, dann gibt es noch „das böse Kind“<br />

(später dann „das schwarze Schaf “) <strong>und</strong> so weiter (Scarr <strong>und</strong><br />

McCartney 1983). Ein Kind, das von den Familienmitgliedern<br />

das Etikett des „klugen“ oder „gescheiten“ <strong>Kindes</strong> erhält, wird<br />

sich vielleicht bemühen, dieser Etikettierung gerecht zu werden;<br />

dasselbe kann auf ein Kind zutreffen, das als „Störenfried“ <strong>und</strong><br />

„ungezogen“ gilt.<br />

Ebenso wie in den Abschnitten über Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

<strong>und</strong> über Entwicklungsmechanismen beschrieben, wirken<br />

auch be<strong>im</strong> Zustandekommen von Unterschieden Biologie<br />

<strong>und</strong> Erfahrung auf komplexe Weise zusammen <strong>und</strong> erzeugen<br />

eine unendliche Vielfalt menschlicher Individuen in der Welt.<br />

So zeigte eine Untersuchung an Elf- bis 17-Jährigen, dass die<br />

stärker schulisch engagierten Jugendlichen bessere Abschlüsse<br />

erzielten, als allein aufgr<strong>und</strong> ihrer genetischen Anlagen oder<br />

ihrer Familienverhältnisse zu erwarten gewesen wäre (Johnson<br />

et al. 2006). Dieselbe Studie zeigte, dass ungünstige Familienverhältnisse<br />

bei Kindern mit hoher Intelligenz weniger negative<br />

Auswirkungen haben als bei nicht so intelligenten Kindern. Auf<br />

diese Weise tragen die Gene der Kinder, ihre Behandlung durch<br />

andere Menschen, ihre subjektiven Reaktionen auf diese Behandlung<br />

<strong>und</strong> die Wahl ihrer Umgebungen gleichermaßen dazu<br />

bei, dass sich Kinder unterscheiden, selbst wenn sie in derselben<br />

Familie aufwachsen.<br />

..<br />

Unterschiedliche Kinder reagieren, selbst wenn sie aus derselben Familie<br />

stammen, auf dieselbe Erfahrung oft völlig anders. (© Fotografen GmbH/Alamy)<br />

7 Forschung <strong>und</strong> <strong>Kindes</strong>wohl: Wie kann<br />

Forschung das <strong>Kindes</strong>wohl fördern?<br />

Ein besseres Verständnis der <strong>Kindes</strong>entwicklung bringt oft auch<br />

praktischen Nutzen. Einige Beispiele wurden bereits beschrieben,<br />

etwa das Programm, das Kindern hilft, mit ihrer Wut umzugehen,<br />

<strong>und</strong> die Empfehlungen, wie man auch von jüngeren Kindern<br />

zutreffende Zeugenaussagen erhält.<br />

Eine weitere Art von praktischem Nutzen betrifft Innovationen<br />

<strong>im</strong> Bildungsbereich. Ein wichtiges Beispiel sind Studien darüber,<br />

wie die Annahmen von Menschen über Intelligenz deren Lernprozesse<br />

beeinflussen. Carol Dweck <strong>und</strong> ihre Mitarbeiter (Dweck 2006;<br />

Dweck <strong>und</strong> Leggett 1988) fanden, dass manche Kinder (<strong>und</strong> auch<br />

Erwachsene) Intelligenz für eine unwandelbare Gegebenheit halten.<br />

Sie vermuten in jedem Menschen einen best<strong>im</strong>mten Grad an<br />

Intelligenz, der von Geburt an feststehe <strong>und</strong> durch Erfahrung nicht<br />

veränderbar sei. Andere Kinder (<strong>und</strong> Erwachsene) halten Intelligenz<br />

für ein wandelbares Merkmal, das sich be<strong>im</strong> Lernen steigert;<br />

sie sind der Ansicht, dass die Zeit <strong>und</strong> Mühe, die Menschen ins<br />

Lernen investieren, zentralen Einfluss auf ihre Intelligenz haben.<br />

Menschen, die annehmen, dass die Intelligenz be<strong>im</strong> Lernen<br />

steigt, reagieren <strong>im</strong> Allgemeinen effektiver auf Fehlschläge<br />

(Dweck 2006). Wenn sie ein Problem nicht lösen können, neigen<br />

sie dazu, an der Aufgabe dranzubleiben <strong>und</strong> sich mehr Mühe<br />

zu geben. Diese Beharrlichkeit angesichts von Fehlschlägen ist<br />

eine wichtige Qualität, wie ein viel zitierter Satz des berühmten<br />

britischen Premierministers Winston Churchill zeigt: „Erfolg ist<br />

die Fähigkeit, von einem Misserfolg zum nächsten zu schreiten,<br />

ohne die Begeisterung zu verlieren.“ Hingegen neigen Menschen,<br />

die Intelligenz für eine unveränderbare Gegebenheit halten, zum<br />

Aufgeben, wenn sie an einer Aufgabe scheitern, weil sie glauben,<br />

das Problem sei zu schwierig für sie.<br />

Aufbauend auf diese Forschungsergebnisse entwarfen Blackwell<br />

et al. (2007) ein wirksames Lernprogramm für Mittelschüler<br />

aus gering verdienenden Familien. Dabei berücksichtigten sie die<br />

Beziehung zwischen den Annahmen über Intelligenz <strong>und</strong> der Beharrlichkeit<br />

be<strong>im</strong> Umgang mit Schwierigkeiten. Sie legten einigen<br />

zufällig ausgewählten Schülern Forschungsergebnisse darüber vor,<br />

wie Lernprozesse das Gehirn verändern, sodass späteres Lernen


Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />

19 1<br />

sich verbessert <strong>und</strong> man klüger wird; anderen zufällig ausgewählten<br />

Schülern derselben Klassen vermittelte man Informationen<br />

über die Funktionsweise des Gedächtnisses. Die Vorhersage des<br />

Forscherteams lautete: Diejenigen Schüler, die über die positive<br />

Wirkung des Lernens auf das Gehirn informiert worden sind, sollten<br />

ihre Annahmen über Intelligenz so verändern, dass sie Misserfolgen<br />

besser standhalten. Insbesondere sollten entsprechende Veränderungen<br />

die Lernergebnisse der Schüler <strong>im</strong> Fach Mathematik<br />

verbessern, in dem Kinder vor dem Erfolg oft Fehlschläge erleben.<br />

Diese Vorhersage erwies sich als zutreffend. Die Kinder, denen<br />

man davon berichtet hatte, wie Lernen das Gehirn verändert <strong>und</strong><br />

die Intelligenz vergrößert, schnitten später in Mathematik besser<br />

ab, die anderen Kinder hingegen nicht. Kinder, die anfangs glaubten,<br />

dass Intelligenz eine angeborene, unwandelbare Qualität ist,<br />

<strong>und</strong> später zu der Überzeugung gelangten, dass Intelligenz Lernprozesse<br />

widerspiegele, zeigten besonders große Lernfortschritte.<br />

Am überzeugendsten waren vielleicht die Aussagen der Lehrer<br />

dieser Kinder, die nicht wussten, welches Kind welche Information<br />

erhalten hatte. Als man sie fragte, ob sie bei irgendwelchen<br />

Schülern ungewöhnliche Motivations- oder Leistungsverbesserungen<br />

beobachtet hatten, nannten die Lehrer aus der Gruppe der<br />

Schüler, denen man über den Aufbau der Intelligenz durch Lernen<br />

berichtet hatte, mehr als dre<strong>im</strong>al so viele Namen wie aus der<br />

uninformierten Gruppe. Den Fortschritt eines Schülers beschrieb<br />

sein Lehrer so:<br />

» L., der sich niemals irgendwelche Mühe gibt <strong>und</strong> die Hausaufgaben<br />

<strong>im</strong>mer zu spät abgibt, blieb bis spät in die Nacht<br />

auf, um eine Aufgabe so rechtzeitig zu beenden, dass ich sie<br />

durchsehen <strong>und</strong> ihm die Gelegenheit geben konnte, sie zu<br />

berichtigen. Er bekam ein B+ 1 für diese Aufgabe; früher stand<br />

er bei C <strong>und</strong> darunter (Blackwell et al. 2007, S. 256).<br />

In den folgenden Kapiteln referieren wir viele zusätzliche Beispiele,<br />

wie entwicklungspsychologische Forschung sich zur Förderung<br />

des <strong>Kindes</strong>wohls verwenden lässt.<br />

In Kürze | |<br />

Die moderne Forschung zur <strong>Kindes</strong>entwicklung besteht<br />

weitestgehend in dem Versuch, eine kleine Anzahl gr<strong>und</strong>legender<br />

Fragen über Kinder zu beantworten. Dazu gehören:<br />

1. Was tragen Anlage <strong>und</strong> Umwelt zur Entwicklung bei?<br />

2. Wie tragen Kinder zu ihrer eigenen Entwicklung bei?<br />

3. Verläuft die Entwicklung kontinuierlich oder diskontinuierlich?<br />

4. Welche Mechanismen bewirken Entwicklung?<br />

5. Wie beeinflusst der soziokulturelle Kontext die Entwicklung?<br />

6. Warum sind Kinder so verschieden?<br />

7. Wie können wir die Forschung zur Verbesserung des<br />

<strong>Kindes</strong>wohls einsetzen?<br />

1 Nach dieser Benotung gibt es fünf Notenstufen von A bis E zwischen sehr<br />

gut (die besten 5 Prozent derjenigen, die den Test bestehen), sowie F für<br />

ungenügende Leistungen (Durchfallen), wenn die Prüfung nicht bestanden<br />

wird.<br />

Methoden der Untersuchung<br />

kindlicher Entwicklung<br />

Im vorangegangenen Abschnitt über die Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

wurde gezeigt, dass die moderne wissenschaftliche<br />

Forschung unser Verständnis gr<strong>und</strong>legender Fragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

ein gutes Stück weitergebracht hat, gemessen am<br />

Wissensstand der historischen Forscherpersönlichkeiten, die<br />

diese Fragen ursprünglich gestellt <strong>und</strong> diskutiert hatten. Dieser<br />

Fortschritt kommt nicht daher, dass die heutigen Forscher klüger<br />

wären oder härter arbeiten würden als die großen Denker der<br />

Vergangenheit; vielmehr spiegelt der Fortschritt die erfolgreiche<br />

Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf die Untersuchung<br />

der <strong>Kindes</strong>entwicklung wider. In diesem Abschnitt beschreiben<br />

wir die wissenschaftliche Methode sowie die Art <strong>und</strong><br />

Weise, wie ihre Anwendung auf die <strong>Kindes</strong>entwicklung unser<br />

Wissen vorangebracht hat.<br />

Die wissenschaftliche Methode<br />

Das Gr<strong>und</strong>postulat der wissenschaftlichen Methode besteht<br />

darin, dass alle Annahmen, wie plausibel sie auch erscheinen<br />

mögen <strong>und</strong> wie viele Menschen sie auch vertreten, falsch sein<br />

können. Solange die eigenen Überzeugungen nicht empirisch<br />

überprüft wurden, müssen sie deshalb als Hypothesen gelten;<br />

das sind nicht Wahrheiten, sondern begründete Vermutungen.<br />

Wenn eine Hypothese geprüft wird <strong>und</strong> die Bef<strong>und</strong>e sie wiederholt<br />

als falsch ausweisen, muss sie aufgegeben werden, so plausibel<br />

sie auch scheinen mag.<br />

Wissenschaftliche Methode – Ein Ansatz zur Prüfung von Annahmen, bei dem<br />

zunächst eine Fragestellung gewählt <strong>und</strong> dazu eine Hypothese formuliert wird,<br />

die man prüft, um danach auf der Basis empirischer Ergebnisse eine Schlussfolgerung<br />

zu ziehen.<br />

Hypothese – Eine begründete Vermutung.<br />

Die Anwendung der wissenschaftlichen Methode erfolgt in vier<br />

Gr<strong>und</strong>schritten:<br />

1. die Auswahl einer Fragestellung, die beantwortet werden soll,<br />

2. die Formulierung einer Hypothese, die sich auf die Fragestellung<br />

bezieht,<br />

3. die Entwicklung einer Methode zur Überprüfung der Hypothese,<br />

4. eine Schlussfolgerung über die Hypothese unter Verwendung<br />

von Daten, die mit der Methode erhoben wurden.<br />

Um diese Schritte zu veranschaulichen, ziehen wir folgende<br />

Fragestellung heran: „Welche Fähigkeiten von Vorschulkindern<br />

erlauben eine Vorhersage auf die zukünftige Lesefähigkeit der<br />

Kinder?“ Eine sinnvolle Hypothese könnte lauten: „Vorschulkinder,<br />

die die einzelnen Laute von Wörtern identifizieren können,<br />

werden bessere Leser als solche, die das nicht können.“ Eine<br />

einfache Methode zur Überprüfung dieser Hypothese bestünde<br />

darin, eine Gruppe von Vorschulkindern auszuwählen, ihre Fähigkeit<br />

zur Identifikation der einzelnen Laute von Wörtern zu<br />

testen <strong>und</strong> dann einige Jahre später die Lesefähigkeit derselben


20<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

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20<br />

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22<br />

23<br />

Kinder zu testen. Die Forschung hat tatsächlich gezeigt, dass<br />

Vorschulkinder, die die Lautbestandteile von Wörtern auffassen<br />

konnten, später tatsächlich wirklich besser lesen können als<br />

gleichaltrige Kinder, die diese Fähigkeit nicht besitzen – das gleiche<br />

Muster ergab sich unabhängig davon, ob die Kinder in den<br />

USA, in Australien, Norwegen oder Schweden lebten (Furnes<br />

<strong>und</strong> Samuelsson 2011). Diese Bef<strong>und</strong>e unterstützen den Schluss,<br />

dass die Fähigkeit von Vorschulkindern zur Identifikation der<br />

Laute, aus denen sich Wörter zusammensetzen, ihre spätere Lesekompetenz<br />

voraussagt.<br />

Der erste, zweite <strong>und</strong> vierte der genannten Schritte kommt<br />

nicht nur bei der wissenschaftlichen Methode vor. Wir haben<br />

gesehen, dass die großen Denker der Vergangenheit ebenfalls<br />

Fragen stellten, Hypothesen formulierten <strong>und</strong> Schlüsse zogen,<br />

die – gemessen an den ihnen zugänglichen Fakten – vernünftig<br />

waren. Was moderne wissenschaftliche Forschung von den<br />

früheren Ansätzen unterscheidet, ist der dritte Schritt – die Forschungsmethoden,<br />

mit denen die Hypothesen geprüft werden.<br />

Diese Forschungsmethoden <strong>und</strong> die qualitativ besseren Belege,<br />

die sie erbringen, ermöglichen es den Forschern, über ihre ursprünglichen<br />

Hypothesen hinauszugehen <strong>und</strong> gut begründete<br />

Schlüsse zu ziehen.<br />

Die Wichtigkeit geeigneter Messungen<br />

Für die wissenschaftliche Methode ist es entscheidend, Messwerte<br />

zu erhalten, die für die zu prüfende Hypothese relevant<br />

sind. Aber manchmal erweisen sich Messwerte, die anfangs<br />

sachangemessen schienen, später als wenig aussagekräftig. Beispielsweise<br />

könnte ein Forscher, der die Hypothese aufstellt, dass<br />

unterernährte Kinder von einem best<strong>im</strong>mten Ernährungsprogramm<br />

profitieren, dieses Programm anhand der individuellen<br />

Gewichte unmittelbar vor <strong>und</strong> nach der Teilnahme an diesem<br />

Programm evaluieren. Das Gewicht ist jedoch ein unzulängliches<br />

Maß für die Qualität der Ernährung – auch mit Unmengen<br />

von hochkalorischen Snacks lässt sich das Gewicht steigern, ohne<br />

den Ernährungsstatus zu verbessern; viele Übergewichtige sind<br />

fehlernährt (Sawaya et al. 1995). Ein besseres Maß für den Ernährungsstatus<br />

der Kinder wären Blutuntersuchungen vor <strong>und</strong><br />

nach der Diät, bei denen die essenziellen Nährstoffpegel <strong>im</strong> Blut<br />

der Kinder best<strong>im</strong>mt werden (Shetty 2006).<br />

Unabhängig davon, welche Messmethode <strong>im</strong> Einzelnen verwendet<br />

wird, best<strong>im</strong>men oft dieselben Kriterien, ob ein Maß<br />

geeignet ist. Ein Schlüsselkriterium wurde bereits genannt – das<br />

Maß muss für die Hypothese unmittelbar relevant sein. Zwei weitere<br />

Eigenschaften, die gute Messungen besitzen müssen, sind<br />

eine hohe Reliabilität <strong>und</strong> Validität.<br />

Das Ausmaß, in dem unabhängige Messungen eines best<strong>im</strong>mten<br />

Verhaltens übereinst<strong>im</strong>men, wird als Reliabilität<br />

(Zuverlässigkeit) der Messung bezeichnet. Ein wichtiger Typ<br />

der Übereinst<strong>im</strong>mung, die Interrater-Reliabilität, gibt das<br />

Ausmaß an Übereinst<strong>im</strong>mung zwischen den Beobachtungen<br />

verschiedener Personen an, die dasselbe Verhalten bewerten<br />

beziehungsweise „raten“ (englisch; <strong>im</strong> Deutschen wörtlich:<br />

„einstufen“). Manchmal sind die Ratings qualitativ, etwa wenn<br />

die einschätzenden Personen (die „Rater“) die Bindung eines<br />

Babys an seine Mutter als „sicher“ oder „unsicher“ einstufen.<br />

Manchmal sind die Beurteilungen aber auch quantitativ, etwa<br />

wenn die Rater auf einer Skala von 1 bis 10 angeben, wie stark<br />

es Babys aus der Fassung bringt, wenn man ihnen ein unvertrautes<br />

lärmendes Spielzeug oder einen ausgelassenen Fremden<br />

präsentiert. In beiden Fällen ergibt sich eine hohe Interrater-<br />

Reliabilität, wenn die Urteile verschiedener Beobachter gut<br />

übereinst<strong>im</strong>men. Das ist beispielsweise der Fall, wenn in der<br />

beobachteten Gruppe von Säuglingen Baby A <strong>im</strong> Hinblick auf<br />

ein best<strong>im</strong>mtes Verhalten von allen Ratern mit 6 oder 7 bewertet<br />

wird, Baby B von allen 3 oder 4 bekommt, Baby C 8<br />

oder 9 <strong>und</strong> so weiter. Ohne eine solche Übereinst<strong>im</strong>mung kann<br />

man den Forschungsergebnissen nicht trauen, weil man nicht<br />

entscheiden kann, welche Einschätzung die richtige ist (sofern<br />

überhaupt eine davon korrekt ist).<br />

Reliabilität (Zuverlässigkeit) – Das Ausmaß, in dem unabhängig voneinander<br />

durchgeführte Messungen eines best<strong>im</strong>mten Verhaltens übereinst<strong>im</strong>men.<br />

Interrater-Reliabilität – Das Ausmaß, in dem die Beobachtungen mehrerer<br />

Beurteiler, die alle dasselbe Verhalten einschätzen, übereinst<strong>im</strong>men.<br />

Ein zweiter wichtiger Typ der Übereinst<strong>im</strong>mung ist die Test-<br />

Retest-Reliabilität. Dieser Typ der Zuverlässigkeit ist erreicht,<br />

wenn die Messergebnisse der Leistungen eines <strong>Kindes</strong> in demselben<br />

Test, der unter gleichen Bedingungen bei mindestens zwei<br />

Gelegenheiten durchgeführt wird, ähnlich ausfallen. Angenommen,<br />

die Forscher geben denselben Kindern einen Vokabeltest<br />

<strong>im</strong> Abstand von einer Woche zwe<strong>im</strong>al vor. Wenn der Test reliabel<br />

ist, sollten die Kinder, die be<strong>im</strong> ersten Test die besten Resultate<br />

erzielten, auch be<strong>im</strong> zweiten Test wieder vorn liegen, weil sich<br />

das Wortschatzwissen der Kinder in einem so kurzen Zeitraum<br />

nicht sehr stark verändert. Wie <strong>im</strong> Beispiel der Interrater-Reliabilität<br />

würde ein Mangel an Retest-Reliabilität keine Beurteilung<br />

der Frage erlauben, welches Messergebnis das Wissen der Kinder<br />

korrekt widerspiegelt. (Vielleicht waren auch beide Messungen<br />

nicht brauchbar.)<br />

Test-Retest-Reliabilität – Das Ausmaß der Ähnlichkeit von Leistungsmessungen,<br />

die zu unterschiedlichen Zeiten erhoben wurden.<br />

Die Validität (Gültigkeit) eines Tests oder Exper<strong>im</strong>ents bezieht<br />

sich auf das Ausmaß, in dem ein Test misst, was er zu messen<br />

vorgibt. Forscher bemühen sich um zwei Arten der Validität:<br />

eine innere (interne) <strong>und</strong> eine äußere (externe) Validität. Interne<br />

Validität bezieht sich darauf, ob sich die Effekte, die in<br />

einem Exper<strong>im</strong>ent beobachtet wurden, tatsächlich mit hinreichender<br />

Sicherheit (Konfidenz) auf die Bedingungen zurückführen<br />

lassen, die vom Forscher gezielt manipuliert wurden.<br />

Angenommen, es soll die Wirksamkeit einer Psychotherapie<br />

gegen Depression getestet werden, mit der eine best<strong>im</strong>mte Anzahl<br />

depr<strong>im</strong>ierter Jugendlicher behandelt werden. Nach drei<br />

Monaten Psychotherapie ist bei einigen keine depressive Verst<strong>im</strong>mung<br />

mehr feststellbar. Kann man daraus schließen, dass<br />

die Psychotherapie wirksam war? Nein, weil die Verbesserung<br />

auch allein durch das Verstreichen der Zeit verursacht worden<br />

sein könnte. Depressive Verst<strong>im</strong>mungen schwanken, <strong>und</strong> viele<br />

Jugendliche, die zu einem best<strong>im</strong>mten Zeitpunkt depr<strong>im</strong>iert<br />

sind, sind drei Monate später auch ohne Psychotherapie wieder<br />

in ausgeglichener St<strong>im</strong>mung. In diesem Beispiel ist das Ver-


Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />

21 1<br />

streichen von Zeit eine mögliche Quelle fehlender interner Validität,<br />

weil der Faktor, auf den man die positive Veränderung<br />

ursächlich zurückführen wollte (die Psychotherapie), vielleicht<br />

gar keine Wirkung hatte.<br />

Validität (Gültigkeit) – Das Ausmaß, in dem ein Test das misst, was er messen<br />

soll.<br />

Interne Validität – Das Ausmaß, in dem sich exper<strong>im</strong>entelle Effekte auf Variablen<br />

zurückführen lassen, die <strong>im</strong> Test bewusst manipuliert wurden.<br />

Die externe Validität hingegen bezieht sich auf die Möglichkeit<br />

der Generalisierung von Forschungsbef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die Berechtigung,<br />

aus der Untersuchung verallgemeinerte Schlüsse<br />

zu ziehen. Untersuchungen zur <strong>Kindes</strong>entwicklung zielen fast<br />

nie auf Schlussfolgerungen, die lediglich für die untersuchten<br />

Kinder <strong>und</strong> die in der jeweiligen Untersuchung gerade verwendeten<br />

Methoden gelten sollen. Vielmehr besteht das Ziel darin,<br />

zu allgemeingültigeren Schlüssen zu kommen. In einem einzelnen<br />

Exper<strong>im</strong>ent Bef<strong>und</strong>e zu erheben, steht nur am Anfang des<br />

Prozesses, in dem die externe Validität der Bef<strong>und</strong>e best<strong>im</strong>mt<br />

wird. Es bedarf notwendigerweise zusätzlicher Untersuchungen<br />

an anderen Teilnehmern unterschiedlicher Herkunft <strong>und</strong> mit<br />

unterschiedlichen Einzelmethoden, um die externe Validität der<br />

Bef<strong>und</strong>e zu beurteilen. . Tabelle 1.2 fasst die wichtigsten Eigenschaften<br />

von Verhaltensmessungen zusammen.<br />

Externe Validität – Das Ausmaß, in dem sich Bef<strong>und</strong>e über die jeweilige Untersuchung<br />

hinaus verallgemeinern lassen.<br />

Rahmenbedingungen der Datenerhebung<br />

Forscher gelangen <strong>im</strong> Wesentlichen auf drei verschiedene Arten<br />

zu Daten über Kinder: durch Interviews, durch Feldbeobachtung<br />

<strong>und</strong> durch strukturierte Beobachtung. In den folgenden Abschnitten<br />

erläutern wir, wie die Datenerhebung <strong>im</strong> jeweiligen Untersuchungszusammenhang<br />

zur Beantwortung wichtiger Fragen der<br />

<strong>Kindes</strong>entwicklung beitragen kann.<br />

..<br />

Tab. 1.2 Wichtige Eigenschaften von Verhaltensmessungen<br />

Eigenschaft<br />

Hypothesenbezogene<br />

Relevanz<br />

Interrater-<br />

Reliabilität<br />

Kommen verschiedene Beurteiler, die dasselbe<br />

Verhalten beobachten, zu denselben Ergebnissen?<br />

Test-Retest-<br />

Reliabilität<br />

Interne Validität<br />

Leitfrage<br />

Lässt sich aus den Hypothesen in einfacher<br />

Weise vorhersagen, was bei den gemessenen<br />

Variablen passieren sollte?<br />

Sind die Punktwerte oder Klassifikationen, die<br />

die Kinder bei der Messung erhalten, über die<br />

Zeit hinweg stabil?<br />

Können die Effekte <strong>im</strong> Exper<strong>im</strong>ent ursächlich<br />

auf die Variablen zurückgeführt werden, die der<br />

Forscher gezielt manipuliert hat?<br />

Externe Validität In welchem Umfang kann man die Bef<strong>und</strong>e –<br />

über die Besonderheiten der jeweiligen Untersuchung<br />

hinaus – auf andere Kinder, Maße <strong>und</strong><br />

exper<strong>im</strong>entelle Verfahren generalisieren?<br />

Interviews<br />

Der naheliegendste Weg, Daten über Kinder zu sammeln, besteht<br />

darin, direkt zur Quelle zu gehen <strong>und</strong> die Kinder über verschiedene<br />

Aspekte ihres Lebens zu befragen. Ein Interviewtyp,<br />

das strukturierte Interview, ist besonders hilfreich, wenn es<br />

darum geht, von allen untersuchten Personen Selbstauskünfte<br />

über dasselbe Thema zu erheben. Beispielsweise befragten Valeski<br />

<strong>und</strong> Stipek (2001) Vorschüler <strong>und</strong> Erstklässler über ihre<br />

Gefühle gegenüber der Schule („Wie sehr kümmert sich dein<br />

Lehrer um dich?“, „Wie fühlst du dich in der Schule?“), <strong>und</strong> sie<br />

stellten ihnen Fragen zu eigenen schulischen Fähigkeiten („Wie<br />

viel weißt du über Zahlen?“, „Wie gut kannst du lesen?“). Die<br />

allgemeine Einstellung der Schüler gegenüber der Schule <strong>und</strong><br />

ihre Einschätzung der Beziehung zum Lehrer standen in einem<br />

positiven Zusammenhang mit ihren Annahmen über die eigenen<br />

Kompetenzen <strong>im</strong> Rechnen <strong>und</strong> Lesen. Indem einer großen Zahl<br />

von Kindern dieselben Fragen über ihre Gefühle <strong>und</strong> Selbsteinschätzungen<br />

gestellt werden, lassen sich schnell <strong>und</strong> auf direktem<br />

Wege wissenschaftliche Aussagen über Einstellungen <strong>und</strong><br />

Haltungen gewinnen.<br />

Strukturiertes Interview – Ein Forschungsverfahren, bei dem alle Teilnehmer<br />

dieselben Fragen beantworten sollen.<br />

Ein zweiter Interviewtyp, das klinische Interview, ist besonders<br />

nützlich, um eingehende Informationen über ein einzelnes Kind<br />

zu erhalten. Bei diesem Vorgehen beginnt der Interviewer mit<br />

einer Reihe vorbereiteter Fragen; wenn das Kind etwas Interessantes<br />

sagt, kann der Interviewer jedoch vom Fragefahrplan<br />

abweichen <strong>und</strong> den Wegen des <strong>Kindes</strong> folgen.<br />

Klinisches Interview – Ein Verfahren, bei dem die Fragen in Abhängigkeit von<br />

den Antworten des Befragten angepasst werden.<br />

..<br />

Klinische Einzelinterviews können tiefgreifende Informationen über ein<br />

Kind zutage fördern. (© Voisin/Science Source)<br />

Der Nutzen klinischer Interviews lässt sich am Beispiel des zehnjährigen<br />

Bobby illustrieren, bei dem ein Verdacht auf eine depressive<br />

Erkrankung bestand <strong>und</strong> der deshalb zur Untersuchung


22<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

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20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

überwiesen wurde (Schwartz <strong>und</strong> Johnson 1985). Als der Interviewer<br />

ihn über die Schule befragte, antwortete Bobby, dass er<br />

die Schule nicht möge, weil ihn die anderen Kinder nicht leiden<br />

könnten <strong>und</strong> er schlecht in Sport sei. Er sagte: „Ich bin bei allem<br />

nicht besonders gut“ (S. 214). Um die Ursache für diese traurige<br />

Selbstbeschreibung zu erk<strong>und</strong>en, fragte der Interviewer Bobby,<br />

was er sich wünschen würde, wenn er drei Wünsche frei hätte.<br />

Bobby antwortete: „Ich wäre gerne so ein Junge, wie meine Mutter<br />

<strong>und</strong> mein Vater es wollen, ich würde mir Fre<strong>und</strong>e wünschen<br />

<strong>und</strong> ich wäre gerne weniger traurig“ (S. 214). Solche herzzerreißenden<br />

Bemerkungen vermitteln einen Eindruck von dem<br />

schmerzlichen subjektiven Erleben dieses depr<strong>im</strong>ierten <strong>Kindes</strong>,<br />

den man mit anderen Methoden, die nicht auf das einzelne Kind<br />

zugeschnitten sind, niemals erhalten könnte.<br />

Wie bei allen Verfahrensweisen der Datenerhebung besitzen<br />

auch Interviews Stärken <strong>und</strong> Schwächen. Auf der positiven Seite<br />

produzieren sie große Datenmengen in recht kurzer Zeit <strong>und</strong> können<br />

eingehende Informationen über einzelne Kinder liefern. Auf<br />

der negativen Seite sind die Antworten auf Interviewfragen oft<br />

verzerrt. Kinder geben (wie Erwachsene auch) über vergangene<br />

Ereignisse nicht <strong>im</strong>mer korrekte Auskunft. Viele vermeiden es,<br />

enthüllende Tatsachen preiszugeben, die sie selbst in ein schlechtes<br />

Licht setzen, verzerren den Gang der Ereignisse <strong>und</strong> kennen ihre<br />

eigenen Motive nicht (Wilson <strong>und</strong> Dunn 2004). Diese Grenzen des<br />

Verfahrens brachten <strong>im</strong>mer mehr Forscher dazu, ihre Daten durch<br />

direkte Beobachtung des interessierenden Verhaltens zu gewinnen.<br />

Feldbeobachtung in der natürlichen Umwelt<br />

Wenn das vorrangige Ziel darin besteht zu beschreiben, wie sich<br />

Kinder in ihrer normalen Umgebung – in der Schule, auf dem<br />

Spielplatz, Zuhause oder an einem anderen häufig aufgesuchten<br />

Ort – verhalten, ist die Feldbeobachtung die Methode der<br />

Wahl. Bei diesem Erhebungsverfahren versuchen die Beobachter<br />

möglichst unauffällig <strong>im</strong> Hintergr<strong>und</strong> der jeweiligen Situation<br />

zu bleiben, um das interessierende Verhalten der beobachteten<br />

Personen möglichst nicht zu beeinflussen.<br />

Feldbeobachtung – Die Untersuchung des kindlichen Verhaltens in seiner<br />

üblichen Umgebung, ohne Einflussnahme des Forschers.<br />

..<br />

Manchmal beobachten Psychologen die familiären Interaktionen vor<br />

Ort, insbesondere am Esstisch, um auch Gesprächsbeiträge zu erfassen, die<br />

bisweilen starke Emotionen hervorrufen<br />

Ein herausragendes Beispiel für die Feldbeobachtung ist die<br />

vergleichende Untersuchung der Familiendynamik von Gerald<br />

Patterson (1982). Er untersuchte zwei Familientypen – einen mit<br />

Schwierigkeiten <strong>und</strong> einen ohne. Der eine Familientyp (troubled<br />

families) ist dadurch definiert, dass es mindestens ein Kind gibt,<br />

dem attestiert wurde, völlig außer Kontrolle geraten zu sein, <strong>und</strong><br />

das von der Schule, einem Gericht oder einem Facharzt zur Behandlung<br />

überwiesen wurde. Der andere Familientyp (typical<br />

families) ist dadurch definiert, dass keine Kinder mit Anzeichen<br />

für ernsthafte Verhaltensprobleme Teil der Familie sind. Die Einkommensverhältnisse<br />

<strong>und</strong> das Alter der Kinder waren bei beiden<br />

Familientypen gleich.<br />

Beobachtet wurde die Häufigkeit, mit der Kinder <strong>und</strong> Eltern<br />

negative Verhaltensweisen, wie einander aufziehen, brüllen,<br />

quengeln oder sich gegenseitig kritisieren, an den Tag legten.<br />

Forschungsassistenten beobachteten wiederholt die Interaktionen<br />

be<strong>im</strong> Abendessen in beiden Familientypen. Um die Familie<br />

an seine Anwesenheit zu gewöhnen, machte der Assistent zuerst<br />

mehrere Hausbesuche, bevor er mit der Datenerhebung begann.<br />

Die Forscher fanden heraus, dass sich sowohl die Kinder als<br />

auch die Eltern in den problematischen Familien anders verhielten<br />

als ihre Vergleichspersonen aus den typischen Familien.<br />

Die Eltern in den Problemfamilien waren mehr mit sich selbst<br />

beschäftigt <strong>und</strong> für ihre Kinder weniger ansprechbar als die<br />

Eltern in den typischen Haushalten. Auf elterliche Strafen hin<br />

reagierten die Kinder in den Problemfamilien mit zunehmender<br />

Aggression, wohingegen die Kinder der anderen Familien<br />

weniger aggressiv wurden. In den Problemfamilien gerieten die<br />

Interaktionen oft in einen Teufelskreis, der sich wie folgt beschreiben<br />

lässt:<br />

-<br />

Das Kind verhielt sich feindselig oder aggressiv, indem es<br />

sich zum Beispiel der Aufforderung eines Elternteils, sein<br />

Z<strong>im</strong>mer aufzuräumen, widersetzte.<br />

Ein Elternteil reagierte verärgert <strong>und</strong> brüllte das Kind beispielsweise<br />

an, es solle gefälligst gehorchen.<br />

Das Kind erhöhte seine Feindseligkeit, etwa indem es zurückschrie.<br />

-<br />

Das Elternteil trieb die Aggressivität noch höher <strong>und</strong> gab<br />

dem Kind zum Beispiel eine Ohrfeige.<br />

Pattersons Untersuchung lässt erkennen, dass Feldbeobachtungen<br />

besonders nützlich sind, um soziale Interaktionen – wie die<br />

zwischen Kindern <strong>und</strong> ihren Eltern – genauer zu beleuchten.<br />

Feldbeobachtungen erbringen zwar detaillierte Informationen<br />

über best<strong>im</strong>mte Aspekte des kindlichen Alltagslebens; sie<br />

unterliegen aber auch wichtigen Einschränkungen. Zum einen<br />

variieren natürlich auftretende Kontexte in vielen D<strong>im</strong>ensionen,<br />

<strong>und</strong> man kann nur schwer herausfinden, welche davon das interessierende<br />

Verhalten beeinflusste. So war in Pattersons Untersuchung<br />

zwar klar, dass sich die Interaktionen in den beiden<br />

Familientypen stark voneinander unterschieden; doch waren<br />

die Unterschiede <strong>im</strong> Interaktionsverhalten so vielfältig, dass es<br />

schwer war, die jeweils spezifischen Beiträge einzelner Verhaltensmuster<br />

zu identifizieren. Zum anderen treten viele wichtige<br />

Verhaltensweisen nur gelegentlich in der alltäglichen Umwelt<br />

auf, sodass Forscher selten Gelegenheit haben, sie überhaupt zu<br />

Gesicht zu bekommen <strong>und</strong> zu untersuchen. Die Verwendung


Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />

23 1<br />

strukturierter Beobachtungen stellt ein Mittel bereit, diese Beschränkungen<br />

zu überwinden.<br />

Strukturierte Beobachtung<br />

Um spezifische Hypothesen zu prüfen, gestalten Forscher oft<br />

eine Situation, die ein best<strong>im</strong>mtes, für die Hypothese relevantes<br />

Verhalten hervorruft, <strong>und</strong> beobachten dann verschiedene<br />

Kinder in dieser Situation. In solchen strukturierten Beobachtungssituationen<br />

zeichnet der Forscher auf, was jedes Kind tut,<br />

<strong>und</strong> bezieht dieses Verhalten auf Merkmale <strong>und</strong> Eigenschaften<br />

des <strong>Kindes</strong> wie Alter, Geschlecht <strong>und</strong> Persönlichkeit sowie auf<br />

das Verhalten des <strong>Kindes</strong> in anderen, ebenfalls beobachteten<br />

Situationen.<br />

Strukturierte Beobachtung – Ein Verfahren, bei dem jedem Kind die gleiche<br />

Situation dargeboten <strong>und</strong> sein Verhalten aufgezeichnet wird.<br />

In einer solchen Untersuchung interessierten sich Kochanska<br />

et al. (2001) dafür, wie die Beziehung zwischen Mutter <strong>und</strong> Kind<br />

die Bereitschaft von Zwei- <strong>und</strong> Dreijährigen beeinflusst, auf attraktive<br />

Aktivitäten zu verzichten oder unattraktive Tätigkeiten<br />

auszuführen, wenn die Mutter sie darum bittet. Die Forscher luden<br />

Mütter mit ihren Kleinkindern in einen Laborraum ein, in<br />

dem einige besonders attraktive Spielsachen in einem Regal <strong>und</strong><br />

viele weniger attraktive Spielsachen <strong>im</strong> Raum verstreut lagen. Die<br />

Mütter sollten ihren Kindern sagen, dass sie mit allen Spielsachen<br />

spielen dürften außer mit den besonders attraktiven <strong>im</strong> Regal.<br />

Rater beobachteten die Kinder in den folgenden Minuten <strong>und</strong><br />

stuften sie mit Blick auf ihre Folgsamkeit in die Kategorien „von<br />

ganzem Herzen“, „widerwillig“ oder „gar nicht“ ein. Dann bat der<br />

Versuchsleiter die Mutter, den Raum zu verlassen, <strong>und</strong> beobachtete<br />

durch einen Einwegspiegel, ob das Kind in Abwesenheit der<br />

Mutter mit den „verbotenen“ Spielsachen spielte.<br />

Die Forscher fanden, dass Kinder, die sich zunächst voll <strong>und</strong><br />

ganz mit der Aufforderung der Mutter einverstanden erklärt hatten,<br />

nicht mit den verbotenen Sachen zu spielen, in ihrer Abwesenheit<br />

das Verbot mit geringerer Wahrscheinlichkeit übertraten<br />

als die Kinder, die sich nur widerwillig oder gar nicht auf die<br />

Bitte der Mutter eingelassen hatten, als sie noch anwesend war.<br />

Die voll <strong>und</strong> ganz fügsamen Kinder waren auch mit größerer<br />

Wahrscheinlichkeit willig, die Anstrengung auf sich zu nehmen,<br />

herumliegende Spielsachen aufzuräumen, wenn ihre Mutter sie<br />

anschließend darum bat. Bei einer Nachuntersuchung um ihren<br />

vierten Geburtstag herum waren die meisten Kinder in derselben<br />

Weise willig oder nicht wie ein bis zwei Jahre zuvor. Insgesamt<br />

zeigen die Bef<strong>und</strong>e, dass die Qualität der kleinkindlichen Folgsamkeit<br />

gegenüber der Bitte der Mutter eine in gewisser Hinsicht<br />

stabile, allgemeine Eigenschaft der Mutter-Kind-Beziehung darstellt.<br />

..<br />

Die Welt steckt voller Versuchungen, aber Kinder, die sich <strong>im</strong> Allgemeinen<br />

den Bitten ihrer Mutter fügen, wenn sie anwesend ist, widerstehen<br />

Versuchungen auch dann eher, wenn die Mutter abwesend ist (so wie dieser<br />

Junge, der Neffe eines der Autoren, der seinen Griff in die Torte noch rechtzeitig<br />

stoppen konnte, auch wenn es nicht danach aussieht). (© Suwanna <strong>und</strong><br />

David <strong>Siegler</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Dieser Typ der strukturierten Beobachtung bietet gegenüber<br />

Feldbeobachtungen einen wichtigen Vorteil. Es kann sichergestellt<br />

werden, dass alle Kinder auf identische Situationen stoßen,<br />

wodurch direkte Vergleiche der verschiedenen Verhaltensweisen<br />

möglich werden <strong>und</strong> die Allgemeingültigkeit der Verhaltensweisen<br />

über verschiedene Aufgaben hinweg best<strong>im</strong>mt werden kann.<br />

Andererseits liefert die strukturierte Beobachtung keine so umfassende<br />

Information über das subjektive Erleben einzelner Kinder,<br />

wie dies bei Interviews der Fall ist, <strong>und</strong> sie kann auch keine<br />

Situation so spontan <strong>und</strong> natürlich gestalten, wie dies die Feldbeobachtung<br />

ermöglicht. Welche Methode der Datenerhebung<br />

am sinnvollsten ist, hängt also davon ab, welche Aspekte für das<br />

jeweilige Untersuchungsziel besonders wichtig sind. In . Tab. 1.3<br />

sind die Vor- <strong>und</strong> Nachteile der verschiedenen Methoden zur<br />

Datenerhebung – Interview, Feldbeobachtung <strong>und</strong> strukturierte<br />

Beobachtung – zusammengefasst.


24<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

..<br />

Tab. 1.3 Vor- <strong>und</strong> Nachteile der drei Datenerhebungsmethoden<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

Situation der<br />

Datenerhebung<br />

Interview<br />

Naturalistische<br />

Beobachtung<br />

Zentrale Eigenschaften Vorteile Nachteile<br />

Kinder beantworten Fragen<br />

entweder <strong>im</strong> Gespräch oder<br />

auf einem Fragebogen.<br />

Die Aktivitäten von Kindern<br />

in Alltagssituationen werden<br />

beobachtet.<br />

Kann das subjektive Erleben der Kinder verdeutlichen.<br />

Strukturierte Interviews sind preiswerte Mittel<br />

für die Gewinnung eingehender Daten über<br />

Einzelpersonen.<br />

Klinische Interviews sind flexibel, um unerwarteten<br />

Bemerkungen nachzugehen.<br />

Nützlich für die Verhaltensbeschreibung in<br />

Alltagssituationen.<br />

Hilft, soziale Interaktionsprozesse sichtbar zu<br />

machen.<br />

Die Angaben sind oft verzerrt, um einen<br />

guten Eindruck zu machen.<br />

Das Gedächtnis der interviewten Person ist<br />

oft ungenau <strong>und</strong> unvollständig.<br />

Die Vorhersage zukünftigen Verhaltens ist<br />

oft unzutreffend.<br />

Es ist schwer anzugeben, welche Aspekte<br />

der Situation den größten Einfluss haben.<br />

Begrenzter Nutzen bei der Untersuchung<br />

seltener Verhaltensweisen.<br />

7<br />

8<br />

Strukturierte<br />

Beobachtung<br />

Kinder werden ins Labor gebracht<br />

<strong>und</strong> mit vorarrangierten<br />

Aufgaben konfrontiert.<br />

Es ist sichergestellt, dass das Verhalten aller<br />

Kinder <strong>im</strong> gleichen Kontext beobachtet wird.<br />

Erlaubt den kontrollierten Vergleich des kindlichen<br />

Verhaltens in verschiedenen Situationen.<br />

Der Kontext ist weniger natürlich als bei<br />

der naturalistischen Beobachtung.<br />

Lässt weniger über subjektive Erlebnisqualitäten<br />

erkennen als Interviews.<br />

9<br />

10<br />

11<br />

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22<br />

23<br />

Korrelation <strong>und</strong> Verursachung<br />

Menschen unterscheiden sich in einer unendlichen Anzahl<br />

von Variablen, das heißt Merkmalen, die von Person zu Person<br />

oder von Situation zu Situation variieren, beispielsweise Alter,<br />

Geschlecht, Aktivitätsniveau, sozioökonomischer Status oder<br />

best<strong>im</strong>mte Erfahrungen. Zu den wichtigsten Zielen entwicklungspsychologischer<br />

Forschung gehört die Best<strong>im</strong>mung des<br />

Wechselspiels der genannten <strong>und</strong> weiterer Variablen, <strong>und</strong> zwar<br />

sowohl hinsichtlich ihres gemeinsamen Auftretens als auch hinsichtlich<br />

ihrer Ursache-Wirkungs-Beziehung. In den folgenden<br />

Abschnitten erläutern wir Forschungsdesigns, mit denen die<br />

verschiedenen Beziehungstypen untersucht werden. Als Design<br />

bezeichnen wir einen Plan zur Untersuchung <strong>und</strong> Analyse best<strong>im</strong>mter<br />

Variablen <strong>und</strong> ihres Zusammenspiels.<br />

Variablen – Merkmale, die von Person zu Person <strong>und</strong> von Situation zu Situation<br />

variieren können, etwa Alter, Geschlecht oder Erwartungen.<br />

Korrelationsdesigns<br />

In manchen Untersuchungen – den sogenannten Korrelationsdesigns<br />

– besteht das vorrangige Ziel darin herauszufinden, ob<br />

Kinder, die sich in einer Eigenschaft unterscheiden, auch in anderen<br />

Merkmalen vorhersagbare Unterschiede aufweisen. Zum<br />

Beispiel könnte ein Forscher untersuchen, ob die Aggressivität<br />

eines Kleinkindes mit der Anzahl von St<strong>und</strong>en zusammenhängt,<br />

die es außer Haus betreut wird, oder ob es eine Beziehung zwischen<br />

der Beliebtheit von Jugendlichen <strong>und</strong> ihrer Selbstkontrolle<br />

gibt.<br />

Korrelationsdesigns – Untersuchungen, die auf die Beziehungen zwischen<br />

Variablen gerichtet sind.<br />

Der Zusammenhang zweier Variablen wird als Korrelation bezeichnet.<br />

Wenn zwei Variablen hoch korrelieren, also stark zusammenhängen,<br />

kann man aus der Kenntnis der Ausprägung eines<br />

<strong>Kindes</strong> in der einen Variablen die Ausprägung in der anderen<br />

Variablen recht genau vorhersagen. So bedeutet beispielsweise<br />

die Tatsache, dass die Anzahl von St<strong>und</strong>en, die Kinder wöchentlich<br />

mit Lesen verbringen, hoch mit ihren Ergebnissen bei einem<br />

Lesetest korreliert (Guthrie et al. 1999), dass man das Ergebnis<br />

des Lesetests eines <strong>Kindes</strong> genau vorhersagen kann, wenn man<br />

weiß, wie viel Zeit das Kind zum Lesen aufwendet. Es bedeutet<br />

umgekehrt auch, dass sich die mit Lesen verbrachte Zeit aus den<br />

Testwerten eines <strong>Kindes</strong> vorhersagen lässt.<br />

Korrelation – Der Zusammenhang zwischen zwei Variablen.<br />

Korrelationskoeffizient – Ein statistischer Kennwert für die Richtung <strong>und</strong><br />

Stärke einer Korrelation.<br />

Korrelationen können Werte zwischen 1.0, der stärksten positiven<br />

Korrelation, <strong>und</strong> von −1.0, der stärksten negativen Korrelation<br />

annehmen. Die Richtung des Zusammenhangs kann daher<br />

positiv oder negativ sein. Die Korrelation ist positiv, wenn hohe<br />

Werte in der einen Variable mit hohen Werten in der anderen<br />

einhergehen; die Korrelation ist negativ, wenn hohe Werte in<br />

der einen Variable mit niedrigen Werten in der anderen assoziiert<br />

sind. Die Korrelation zwischen der aufgewendeten Lesezeit<br />

<strong>und</strong> dem Wert <strong>im</strong> Lesetest wäre also positiv, weil Kinder, die viel<br />

Zeit für das Lesen aufwenden, auch hohe Testwerte erzielen. Ein<br />

deutliches Beispiel für eine negative Korrelation wäre der Zusammenhang<br />

zwischen Körperfülle <strong>und</strong> Laufgeschwindigkeit: Je korpulenter<br />

ein Kind ist, desto langsamer wird es <strong>im</strong> Allgemeinen<br />

rennen können. (Eine ausführlichere Darstellung zur Korrelation<br />

findet sich in ▶ Exkurs 1.1.)<br />

Korrelation bedeutet nicht Verursachung<br />

Wenn zwei Variablen hoch korrelieren <strong>und</strong> zwischen ihnen eine<br />

plausible Ursache-Wirkungs-Beziehung besteht, ist es oft verlockend<br />

zu schließen, dass die eine die andere verursacht. Dieser<br />

Schluss ist jedoch aus zwei Gründen nicht gerechtfertigt. Der<br />

erste Gr<strong>und</strong> liegt <strong>im</strong> Problem der Verursachungsrichtung: Eine<br />

Korrelation gibt nicht an, welche Variable die Ursache <strong>und</strong> welche<br />

die Folge ist. Im oben genannten Beispiel des Zusammen-


Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />

25 1<br />

Exkurs 1.1: Genauer betrachtet: Der Korrelationskoeffizient | |<br />

Die Richtung <strong>und</strong> die Stärke einer Korrelation<br />

werden durch einen statistischen Kennwert<br />

angegeben, den man Korrelationskoeffizient<br />

nennt. Die Richtung des Zusammenhangs<br />

ergibt sich aus dem positiven oder negativen<br />

Vorzeichen des Zahlenwertes. So hängen<br />

Variable 1 <strong>und</strong> Variable 2 in . Abb. 1.4a <strong>und</strong> b<br />

positiv zusammen (je höher der Wert von Variable<br />

1, desto höher der Wert von Variable 2).<br />

Umgekehrt stehen Variable 1 <strong>und</strong> Variable 2<br />

in . Abb. 1.4c <strong>und</strong> d in einer negativen Beziehung<br />

(je höher der Wert von Variable 1, desto<br />

niedriger der Wert von Variable 2), weshalb vor<br />

dem Zahlenwert ein Minuszeichen steht.<br />

Die Stärke des Zusammenhangs der beiden<br />

Variablen wird durch den Zahlenwert<br />

(mathematisch: den Betrag) des Korrelationskoeffizienten<br />

angegeben. Je höher der<br />

Absolutwert (je näher an den Extremwerten<br />

1.0 beziehungsweise −1.0), desto stärker ist<br />

der Zusammenhang zwischen den Variablen;<br />

entsprechend ist die Beziehung schwächer,<br />

je niedriger (je näher an 0) der Absolutwert<br />

ist. Die in . Abb. 1.4a <strong>und</strong> c abgebildeten<br />

Korrelationen (1.0 <strong>und</strong> −1.0) sind gleich stark;<br />

der Zusammenhang ist beide Male besonders<br />

stark, auch wenn die Beziehungen gegensätzlich<br />

gerichtet sind. In beiden Beziehungen<br />

kennt man mit der Ausprägung von Variable 1<br />

auch den exakten Wert von Variable 2. Die<br />

Zusammenhänge in . Abb. 1.4b <strong>und</strong> d sind<br />

schwächer, aber auch sie sind noch informativ<br />

in dem Sinn, dass die Kenntnis der<br />

Ausprägung von Variable 1 eine recht gute<br />

Vorhersage der Ausprägung von Variable 2 erlaubt.<br />

Wenn man in . Abb. 1.4d beispielsweise<br />

weiß, dass Variable 1 einen recht hohen Wert<br />

besitzt, können wir vorhersagen, dass der Wert<br />

von Variable 2 relativ niedrig sein wird, auch<br />

wenn wir den genauen Wert nicht wissen. In<br />

. Abb. 1.4e beträgt der Wert des Korrelationskoeffizienten<br />

0. In dieser Situation leistet die<br />

Kenntnis der Ausprägung von Variable 1 überhaupt<br />

nichts für die Vorhersage des Wertes<br />

von Variable 2; wenn der Wert von Variable 1<br />

hoch ist, kann der Wert von Variable 2 mit<br />

gleicher Wahrscheinlichkeit hoch, mittel oder<br />

auch niedrig sein.<br />

a<br />

b<br />

c<br />

d<br />

..<br />

Abb. 1.4 Fünf Korrelationen<br />

e<br />

hangs zwischen aufgewendeter Lesezeit <strong>und</strong> Leseleistung könnte<br />

der größere Zeitaufwand die erhöhte Leseleistung verursacht<br />

haben. Andererseits könnte die Ursache-Wirkungs-Beziehung<br />

auch in umgekehrter Richtung verlaufen: Die höhere Lesefähigkeit<br />

könnte dafür verantwortlich sein, dass die Kinder mehr Zeit<br />

mit Lesen verbringen, weil sie das Lesen besser genießen können.<br />

Oder es könnte beides zutreffen.<br />

Problem der Verursachungsrichtung – Die Tatsache, dass eine Korrelation<br />

zwischen zwei Variablen nicht angibt, welche (<strong>und</strong> ob überhaupt eine) Variable<br />

Ursache für die andere ist.<br />

Der zweite Gr<strong>und</strong> dafür, dass Korrelation nicht Verursachung<br />

<strong>im</strong>pliziert, liegt <strong>im</strong> Problem der dritten Variable: Die Korrelation<br />

zwischen zwei Variablen kann in Wirklichkeit auf den Ein-


26<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

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23<br />

fluss einer dritten, nicht spezifizierten Variable zurückgeführt<br />

werden. Um be<strong>im</strong> Lesebeispiel zu bleiben, könnte das Aufwachsen<br />

in einer intellektuellen häuslichen Umgebung die Ursache<br />

sowohl für den größeren Lesezeitaufwand als auch für die höhere<br />

Leseleistung darstellen.<br />

Problem der dritten Variable – Die Tatsache, dass eine Korrelation zwischen<br />

zwei Variablen durch eine dritte (störende) Variable beeinflusst oder verursacht<br />

sein kann.<br />

Wenn man Forschungsbef<strong>und</strong>e deutet, ist es entscheidend zu<br />

beachten, dass Korrelation nicht automatisch mit Verursachung<br />

gleichzusetzen ist. Selbst in renommierten Zeitschriften publizierte<br />

Bef<strong>und</strong>e können falsch gedeutet werden. So wurde in einem<br />

Artikel zur Korrelation bei Kindern, die <strong>im</strong> Alter unter zwei<br />

Jahren nachts bei eingeschaltetem Licht geschlafen hatten <strong>und</strong><br />

später als kurzsichtig diagnostiziert worden waren, geschlossen,<br />

dass das Licht die visuelle Entwicklung ungünstig beeinflusse<br />

– <strong>und</strong> das in der prestigeträchtigen Zeitschrift Nature (Quinn<br />

et al. 1999). Wenig überraschend fand diese These eine enorme<br />

Medienresonanz (z. B. Torassa 2000). Allerdings zeigten weitere<br />

Arbeiten, dass der Kausalschluss falsch war. Tatsächlich hatten<br />

kurzsichtige Kinder in der Regel kurzsichtige Eltern, die aus unbekannten<br />

Gründen sehr viel öfter als die anderen Eltern das<br />

Licht in den Schlafz<strong>im</strong>mern der Kinder eingeschaltet ließen<br />

(Gwiazda et al. 2000; Zadnik et al. 2000). Wie dieses Beispiel<br />

zeigt, erweisen sich Kausalzusammenhänge, die aufgr<strong>und</strong> von<br />

Korrelationen naheliegend scheinen, häufig als falsch.<br />

Wenn eine Korrelation nichts über die Verursachung eines<br />

Effekts aussagt, warum werden dann so häufig Korrelationsdesigns<br />

in der Forschung angewandt? Ein wichtiger Gr<strong>und</strong> besteht<br />

darin, dass der Einfluss von besonders interessierenden<br />

Variablen – wie Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit <strong>und</strong><br />

sozialer Schicht – sich nicht exper<strong>im</strong>entell untersuchen lässt,<br />

weil man diese Variablen nicht gezielt manipulieren kann; Personen,<br />

die an einem Versuch teilnehmen, können nicht beliebig<br />

dem einen oder anderen Geschlecht, dem einen oder anderen<br />

sozioökonomischen Status zugeordnet werden. Deshalb müssen<br />

Zusammenhänge zwischen diesen Variablen mit Korrelationsmethoden<br />

untersucht werden. Auch dann, wenn das Ziel<br />

vor allem darin besteht, Relationen zwischen den Variablen zu<br />

beschreiben, <strong>und</strong> weniger darin, Ursache-Wirkungs-Beziehungen<br />

zu best<strong>im</strong>men, sind Korrelationsdesigns nützlich. Wenn es<br />

beispielsweise darum geht zu klären, wie moralisches Urteilen,<br />

Empathie, Ängstlichkeit <strong>und</strong> Beliebtheit miteinander zusammenhängen,<br />

dann wird man höchstwahrscheinlich Korrelationsdesigns<br />

anwenden.<br />

Exper<strong>im</strong>entaldesigns<br />

Wenn Korrelationen nicht reichen, um auf Ursache-Wirkungs-<br />

Beziehungen zu schließen, was wäre dann hinreichend? Die Antwort<br />

lautet: Exper<strong>im</strong>entaldesigns. Die Logik exper<strong>im</strong>enteller Designs<br />

lässt sich recht einfach zusammenfassen: Wenn Kinder in<br />

zwei oder mehreren vergleichbaren Gruppen mit einer best<strong>im</strong>mten<br />

Erfahrung konfrontiert werden <strong>und</strong> sich später anders verhalten<br />

als Kinder in der Gruppe (oder den Gruppen), die nicht mit<br />

dieser Erfahrung konfrontiert wurden oder auch einer anderen<br />

Erfahrung ausgesetzt waren, dann müssen die späteren Verhaltensunterschiede<br />

das Resultat der Erfahrungsunterschiede sein.<br />

Exper<strong>im</strong>entaldesigns – Eine Gruppe von Forschungsansätzen, die Schlussfolgerungen<br />

über Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen zulassen.<br />

Zwei Verfahren sind für exper<strong>im</strong>entelle Designs entscheidend:<br />

Randomisierung der Gruppenteilnehmer <strong>und</strong> exper<strong>im</strong>entelle<br />

Kontrolle.<br />

Randomisierung bedeutet, dass die Probanden nach dem<br />

Zufall – durch Münzwurf oder Los – auf die verschiedenen<br />

Gruppen verteilt werden, sodass sich die Gruppen am Anfang<br />

nicht unterscheiden <strong>und</strong> vergleichbar sind. Diese Vergleichbarkeit<br />

ist relevant, um später Rückschlüsse darauf ziehen zu<br />

können, inwieweit die variierten exper<strong>im</strong>entellen Bedingungen<br />

oder Erfahrungen in den verschiedenen Gruppen die Ursache<br />

der später beobachteten Unterschiede sind. Andernfalls könnten<br />

diese Unterschiede auch darauf beruhen, dass zwischen den<br />

Gruppen von Untersuchungsteilnehmern schon von vornherein<br />

Unterschiede bestanden.<br />

Randomisierung – Ein Verfahren zur Auswahl von Versuchsgruppen nach dem<br />

Zufallsprinzip, bei dem jedes Kind dieselbe Chance hat, jeweils einer der Gruppen<br />

in einem Exper<strong>im</strong>ent zugeteilt zu werden.<br />

Angenommen, die Forscher wollten herausfinden, welche Intervention<br />

bei depressiven Müttern die Mutter-Kind-Beziehung am<br />

besten fördert – Hausbesuche oder aber stützende Telefonanrufe<br />

eines Therapeuten. Würde man die Hausbesuche bei Familien<br />

desselben Wohnviertels <strong>und</strong> die Anrufe bei Familien eines<br />

anderen Wohnviertels durchführen, ließe sich am Ende nicht<br />

entscheiden, ob die beobachteten Unterschiede in den Mutter-<br />

Kind-Beziehungen der verschiedenen Gruppen den unterschiedlichen<br />

Interventionen oder den unterschiedlichen Wohnvierteln<br />

zuzuschreiben sind. Depressive Mütter in dem einen Wohnviertel<br />

haben möglicherweise leichtere Formen der Depression als in<br />

dem anderen Viertel, oder sie können sich mehr Unterstützung<br />

von nahen Angehörigen, Familienberatungsstellen oder von Betreuungseinrichtungen<br />

für die Kinder holen.<br />

..<br />

Depressive Mütter haben oft Schwierigkeiten, mit ihren Kindern einfühlsam<br />

umzugehen. Hausbesuche von ausgebildeten Therapeuten können<br />

helfen, dieses Problem zu lindern. (© MachineHeadz / iStock)


Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />

27 1<br />

Wenn die Gruppen dagegen nach dem Zufallsprinzip gebildet<br />

(also randomisiert) werden <strong>und</strong> sich aus einer hinreichend großen<br />

Anzahl von Teilnehmern zusammensetzen (typischerweise<br />

20 <strong>und</strong> mehr pro Gruppe), sind die anfänglichen Unterschiede<br />

zwischen den Gruppen der Tendenz nach min<strong>im</strong>al. Verteilt man<br />

beispielsweise aus den beiden Wohnvierteln 40 Familien mit depressiven<br />

Müttern nach Zufall auf zwei Exper<strong>im</strong>entalgruppen,<br />

so werden in jeder Gruppe wahrscheinlich annähernd gleich<br />

viele Familien aus jedem Wohngebiet vertreten sein. Ähnlich<br />

werden in jeder Gruppe einige Mütter mit sehr schweren <strong>und</strong><br />

einige mit leichten Formen der Depression vertreten sein, <strong>und</strong><br />

der Großteil wird in beiden Gruppen mittlere Depressionsgrade<br />

aufweisen. Von den Kindern in beiden Gruppen werden einige<br />

von den Depressionen ihrer Mütter schwer in Mitleidenschaft<br />

gezogen sein, einige leicht <strong>und</strong> die meisten mittelschwer. Die<br />

Logik des Verfahrens <strong>im</strong>pliziert, dass die durch Randomisierung<br />

geschaffenen Probandengruppen in jeder beliebigen Variable<br />

vergleichbar sein sollen, mit Ausnahme der unterschiedlichen<br />

therapeutischen Versorgung, die die Familien in den Exper<strong>im</strong>entalgruppen<br />

<strong>im</strong> Versuchsverlauf erhalten. Ein solches Exper<strong>im</strong>ent<br />

wurde tatsächlich durchgeführt – mit dem Ergebnis,<br />

dass Hausbesuche besser halfen als Telefonanrufe (van Doesum<br />

et al. 2008).<br />

Die zweite wesentliche Eigenschaft eines Exper<strong>im</strong>entaldesigns,<br />

die exper<strong>im</strong>entelle Kontrolle, bezieht sich darauf, dass der<br />

Forscher die spezifischen Erfahrungen, mit denen ein Kind in<br />

der jeweiligen Untersuchungsbedingung konfrontiert ist, vorab<br />

festlegt (kontrolliert). Im einfachsten Fall eines Exper<strong>im</strong>entaldesigns<br />

mit nur zwei Versuchsbedingungen nennt man die beiden<br />

Gruppen „Exper<strong>im</strong>entalgruppe“ <strong>und</strong> „Kontrollgruppe“. In der<br />

Exper<strong>im</strong>entalgruppe sind die Kinder der interessierenden Einflussgröße<br />

ausgesetzt; die Kinder in der Kontrollgruppe werden<br />

identisch behandelt, außer dass sie der entscheidenden Einflussgröße<br />

nicht ausgesetzt werden oder einer anderen, die auf die<br />

Zielvariable aller Wahrscheinlichkeit nach kaum eine Wirkung<br />

ausübt.<br />

Exper<strong>im</strong>entelle Kontrolle – Die spezifischen Bedingungen, denen Forscher<br />

Kinder <strong>im</strong> Verlauf des Exper<strong>im</strong>ents aussetzen <strong>und</strong> dabei gleichzeitig störende<br />

Einflussvariablen kontrollieren.<br />

Exper<strong>im</strong>entalgruppe – Die Gruppe von Teilnehmern an einem Exper<strong>im</strong>ent, die<br />

den interessierenden Bedingungen ausgesetzt werden.<br />

Kontrollgruppe – Die Gruppe von Teilnehmern an einem Exper<strong>im</strong>ent, die den<br />

interessierenden Bedingungen nicht ausgesetzt werden, die aber in jeder anderen<br />

Hinsicht gleich behandelt werden wie die Exper<strong>im</strong>entalgruppe.<br />

Die Einflussgröße, der Kinder in der Exper<strong>im</strong>entalgruppe ausgesetzt<br />

sind, nicht aber Kinder in der Kontrollgruppe, wird als<br />

unabhängige Variable bezeichnet. Das Verhalten, auf das sich<br />

die unabhängige Variable hypothesengemäß auswirken soll, wird<br />

als abhängige Variable bezeichnet. Wenn ein Forscher also die<br />

Hypothese aufstellt, dass Kinder ihre Mitschüler weniger schikanieren,<br />

wenn sie einen Film gesehen haben, der sich gegen<br />

das sogenannte Bullying richtet, könnte er diese Hypothese testen,<br />

indem er von Kindern einer Schule per Zufall eine Gruppe<br />

auswählt, die den Anti-Bullying-Film gezeigt bekommt (Exper<strong>im</strong>entalgruppe),<br />

<strong>und</strong> eine zweite Gruppe, die einen anderen Film<br />

vorgeführt bekommt (Kontrollgruppe). Die Art des Films wäre<br />

dann die unabhängige Variable, <strong>und</strong> das Ausmaß an Bullying,<br />

also an schikanierenden <strong>und</strong> drangsalierenden Taten, die die<br />

Kinder anschließend begehen, wäre die abhängige Variable. Falls<br />

die unabhängige Variable tatsächlich die vermutete Wirkung hat,<br />

sollten die Kinder, die den Anti-Bullying-Film gesehen haben,<br />

weniger tyrannisierendes Verhalten zeigen als die Kinder, die den<br />

anderen Film gesehen haben.<br />

Unabhängige Variable – Die manipulierte Bedingung, der Kinder der Exper<strong>im</strong>entalgruppe<br />

ausgesetzt sind, aber Kinder der Kontrollgruppe nicht.<br />

Abhängige Variable – Eine Messgröße für Verhalten, das in unterschiedlichen<br />

Versuchsgruppen gezeigt wird, wie das Verhalten von der unabhängigen Variable<br />

beeinflusst wird.<br />

Wie die Forscher auf der Gr<strong>und</strong>lage exper<strong>im</strong>enteller Designs<br />

Schlussfolgerungen über Ursache <strong>und</strong> Wirkung ziehen können,<br />

zeigt eine Untersuchung zur Überprüfung der Hypothese, dass<br />

ein eingeschalteter Fernseher <strong>im</strong> Hintergr<strong>und</strong> das Spielverhalten<br />

von Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern beeinträchtigt (Schmidt et al.<br />

2008). Die unabhängige Variable war, ob in dem Raum, in dem<br />

die Kinder spielten, der Fernseher lief oder nicht; die abhängigen<br />

Variablen waren eine Reihe von verschiedenen Maßen für die<br />

Spielqualität <strong>und</strong> für die Aufmerksamkeit, die die Kinder dem<br />

Fernsehprogramm zuwandten. Das Fernsehprogramm war die<br />

Quizsendung Jeopardy! („Lebensgefahr“), die in Deutschland<br />

unter dem Titel Riskant! lief <strong>und</strong> für Ein- bis Zweijährige nicht<br />

besonders interessant war. Aber sie schauten durchschnittlich<br />

einmal pro Minute für jeweils wenige Sek<strong>und</strong>en hin. Das genügte,<br />

um das Spiel zu unterbrechen, die Länge der Spielepisoden<br />

zu verkürzen <strong>und</strong> die Konzentration auf das Spiel zu verringern.<br />

Nach diesen Bef<strong>und</strong>en gibt es bei jungen Kindern einen kausalen<br />

negativen Zusammenhang zwischen laufenden Fernsehsendungen<br />

<strong>und</strong> Spielqualität.<br />

Exper<strong>im</strong>entaldesigns sind die Methode der Wahl, wenn es<br />

darum geht, Kausalbeziehungen zwischen Ursache <strong>und</strong> Wirkung<br />

nachzuweisen – ein zentrales Ziel wissenschaftlicher Forschung.<br />

Jedoch können sie, wie erwähnt, nicht bei allen interessierenden<br />

Themen eingesetzt werden. Von großem Interesse ist zum Beispiel,<br />

aus welchen Gründen Jungen tendenziell aggressiver sind<br />

als Mädchen; aber man kann die Kinder nach dem Geschlecht<br />

nicht in randomisierte Gruppen einteilen. Auch führt man viele<br />

exper<strong>im</strong>entelle Untersuchungen in Laborsituationen durch, die<br />

zwar die exper<strong>im</strong>entelle Kontrolle verbessern, aber Zweifel an der<br />

externen Validität der Ergebnisse aufkommen lassen. Die Vor<strong>und</strong><br />

Nachteile von Korrelations- <strong>und</strong> Exper<strong>im</strong>entaldesigns sind<br />

in . Tab. 1.4 zusammengefasst.<br />

Designs für die Untersuchung von Entwicklung<br />

Große Teile der Forschungen zur <strong>Kindes</strong>entwicklung konzentrieren<br />

sich darauf, wie sich Kinder mit zunehmendem Alter <strong>und</strong><br />

wachsender Erfahrung verändern oder sich selbst treu bleiben.<br />

Um die Entwicklung <strong>im</strong> Zeitverlauf zu untersuchen, werden drei<br />

Forschungsdesigns verwendet: Querschnitt- <strong>und</strong> Längsschnittdesigns<br />

sowie mikrogenetische Designs.


28<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

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11<br />

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18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

Tab. 1.4 Vor- <strong>und</strong> Nachteile von Korrelations- <strong>und</strong> Exper<strong>im</strong>entaldesigns<br />

Designtyp Eigenschaften Vorteile Nachteile<br />

Korrelationsdesign<br />

Exper<strong>im</strong>entaldesign<br />

Vergleich bestehender Gruppen<br />

von Kindern oder Untersuchung der<br />

Beziehungen zwischen den Ausprägungen<br />

eines <strong>Kindes</strong> auf verschiedenen<br />

Variablen.<br />

Zufallszuweisung der Kinder zu<br />

Gruppen <strong>und</strong> exper<strong>im</strong>entelle<br />

Kontrolle der Bedingungen für die<br />

Gruppen.<br />

Querschnittdesigns<br />

Der gebräuchlichste <strong>und</strong> einfachste Weg zur Untersuchung von<br />

altersabhängigen Veränderungen <strong>und</strong> Verläufen sind Querschnittdesigns.<br />

Bei dieser Methode werden Kinder unterschiedlichen<br />

Alters hinsichtlich best<strong>im</strong>mter Verhaltensweisen,<br />

Fähigkeiten oder Eigenschaften miteinander verglichen, wobei<br />

alle Kinder ungefähr zum gleichen Zeitpunkt untersucht werden<br />

– etwa innerhalb eines Monats.<br />

Querschnittdesign – Eine Forschungsmethode, bei der in einer Zufallsstichprobe<br />

Kinder unterschiedlichen Alters zu einem Messzeitpunkt hinsichtlich<br />

best<strong>im</strong>mter Verhaltensweisen oder Eigenarten verglichen werden.<br />

In einer Querschnittuntersuchung untersuchten Evans et al.<br />

(2011) die Entwicklung des Lügenverhaltens bei chinesischen<br />

Kindern <strong>im</strong> Alter von drei, vier <strong>und</strong> fünf Jahren. Die Kinder<br />

spielten ein Ratespiel, bei dem sie einen Preis gewinnen konnten,<br />

wenn sie ein unter einem Pappbecher verstecktes Objekt richtig<br />

benannten. Aber bevor ein Kind angeben durfte, was sich unter<br />

dem Becher verbarg, verließ die Versuchsleiterin den Raum,<br />

nicht ohne das Kind zu ermahnen, während ihrer Abwesenheit<br />

nicht unter den Becher zu sehen. Der Becher war so mit Süßigkeiten<br />

präpariert, dass sie be<strong>im</strong> Hochheben des Bechers unweigerlich<br />

auf den Tisch quollen <strong>und</strong> das Kind sie unmöglich wieder<br />

unter dem Becher verstecken konnte. In allen Altersgruppen<br />

schauten die Kinder unter den Becher, leugneten dies jedoch <strong>im</strong><br />

Anschluss. Aber die Fünfjährigen logen häufiger, <strong>und</strong> sie logen<br />

raffinierter. Beispielsweise versuchten viele Fünfjährige, die Existenz<br />

der verräterischen Süßigkeiten auf dem Tisch zu erklären,<br />

<strong>und</strong> redeten sich damit heraus, dass sie versehentlich mit dem<br />

Ellenbogen an den Becher gestoßen seien. Andere Fünfjährige<br />

beseitigten die Süßigkeiten, indem sie sie einfach aufaßen. Die<br />

schlechtesten Lügner waren die Dreijährigen; sie erfanden wenig<br />

glaubhafte Ausreden, wie etwa die, dass ein älteres Kind in den<br />

Raum gekommen sei <strong>und</strong> den Becher umgestoßen habe oder<br />

dass der Becher von selbst umgefallen sei.<br />

Querschnittuntersuchungen sind geeignet, um Ähnlichkeiten<br />

<strong>und</strong> Unterschiede zwischen älteren <strong>und</strong> jüngeren Kindern<br />

gut sichtbar zu machen. Sie liefern jedoch keine Informationen<br />

über die Stabilität individueller Unterschiede <strong>im</strong> Zeitverlauf oder<br />

Bei vielen interessierenden Gruppen die<br />

einzige Vergleichsmöglichkeit (Jungen –<br />

Mädchen, reich – arm etc.).<br />

Bei vielen interessierenden Variablen<br />

die einzige Möglichkeit, ihre Beziehungen<br />

zu untersuchen (IQ <strong>und</strong> Leistung,<br />

Beliebtheit <strong>und</strong> Zufriedenheit, etc.).<br />

Erlaubt Kausalschlüsse, weil die Probleme<br />

der Verursachungsrichtung <strong>und</strong><br />

der dritten Variable ausgeschlossen<br />

werden können.<br />

Naturalistische Exper<strong>im</strong>ente können<br />

Ursache-Wirkungs-Verknüpfungen in<br />

natürlichen Situationen nachweisen.<br />

Problem der dritten Variable; Problem<br />

der Verursachungsrichtung.<br />

Das Bedürfnis nach exper<strong>im</strong>enteller<br />

Kontrolle führt oft zu künstlichen<br />

Exper<strong>im</strong>entalsituationen.<br />

Kann bei der Untersuchung vieler<br />

interessierender Unterschiede <strong>und</strong> Variablen<br />

nicht verwendet werden(Alter,<br />

Geschlecht, Temperament etc.).<br />

über Veränderungsmuster be<strong>im</strong> einzelnen Kind. Hier sind Längsschnittuntersuchungen<br />

von besonderer Bedeutung.<br />

Längsschnittdesigns<br />

Bei Längsschnittdesigns wird eine Gruppe von Kindern über<br />

einen längeren Zeitraum hinweg (meistens zwei oder mehr<br />

als ein Jahr lange) beobachtet, <strong>und</strong> ihre Entwicklungsverläufe<br />

werden beschrieben. Als Beispiel kann die Längsschnittuntersuchung<br />

von Brendgen et al. (2001) gelten, in der die Beliebtheit<br />

von Kindern bei ihren Klassenkameraden zwischen ihrem<br />

siebten <strong>und</strong> zwölften Lebensjahr jährlich untersucht wurde. Die<br />

Beliebtheit der meisten Kinder erwies sich in diesem Zeitraum<br />

als recht stabil: Eine große Zahl von Kindern war in den meisten<br />

Jahren beliebt; weniger Kinder waren in allen Jahren unbeliebt.<br />

Andererseits gab es bei Einzelnen individuelle Veränderungsmuster<br />

innerhalb dieser Jahre; dasselbe Kind konnte mit acht<br />

Jahren beliebt, mit zehn unbeliebt <strong>und</strong> mit zwölf durchschnittlich<br />

beliebt sein. Solche Erkenntnisse über die Zeitstabilität<br />

individueller Unterschiede <strong>und</strong> über individuelle Veränderungsmuster<br />

konnten nur mithilfe eines Längsschnittdesigns<br />

gewonnen werden.<br />

..<br />

Ausgeschlossen zu werden, macht niemandem Spaß. In Längsschnittstudien<br />

wurde untersucht, ob dieselben Kinder Jahr für Jahr unbeliebt bleiben<br />

oder ob sich die Beliebtheit <strong>im</strong> Lauf der Zeit ändert. (© Monkeybusiness/<br />

fotolia.com)


Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />

29 1<br />

Längsschnittdesign (Longitudinalstudie) – Eine Forschungsmethode, bei<br />

der man dieselben Kinder über einen längeren Zeitraum hinweg zwei- oder<br />

mehrmals untersucht.<br />

Wenn Längsschnittstudien Stabilität <strong>und</strong> Veränderung <strong>im</strong> Zeitverlauf<br />

so gut zum Vorschein bringen, warum sind dann Querschnittuntersuchungen<br />

üblicher? Die Gründe hierfür sind vorwiegend<br />

praktischer Natur. Die Untersuchung desselben <strong>Kindes</strong><br />

über einen längeren Zeitabschnitt hinweg bringt die schwierige<br />

<strong>und</strong> zeitaufwendige Aufgabe mit sich, das Kind für jede Nachuntersuchung<br />

wieder ausfindig zu machen. Es lässt sich nicht<br />

vermeiden, dass einige der Kinder wegziehen oder aus anderen<br />

Gründen die Schule verlassen. Ein solcher Teilnehmerverlust<br />

kann die externe Validität der Bef<strong>und</strong>e infrage stellen, weil sich<br />

die Kinder, die wegziehen oder nicht mehr weitermachen wollen,<br />

systematisch von den durchgehend teilnehmenden Kindern<br />

unterscheiden könnten. Die externe Validität von Längsschnittdesigns<br />

kann außerdem durch häufig wiederholte Testungen bedroht<br />

sein; beispielsweise könnte der wiederholte Umgang mit<br />

Intelligenztests die Kinder mit den Aufgaben der Tests vertraut<br />

machen, was ihre Testergebnisse mit der Zeit verbessert. Aus<br />

diesen Gründen werden Längsschnittdesigns vorrangig dann<br />

eingesetzt, wenn es pr<strong>im</strong>är um die Untersuchung von Stabilität<br />

oder Veränderung des Verhaltens einzelner Kinder <strong>im</strong> Zeitverlauf<br />

geht; diese Fragestellungen lassen sich nur längsschnittlich<br />

untersuchen. Richtet sich die zentrale entwicklungsbezogene<br />

Frage dagegen auf altersabhängige Änderungen bei typischen<br />

Leistungen, verwendet man üblicherweise Querschnittuntersuchungen.<br />

Mikrogenetische Designs<br />

Eine wichtige Beschränkung sowohl quer- als auch längsschnittlicher<br />

Untersuchungen besteht darin, dass beide nur eine grobe<br />

Skizze des Veränderungsprozesses liefern. Dagegen sind mikrogenetische<br />

Designs speziell dafür gedacht, Prozesse, die Veränderungen<br />

hervorrufen, <strong>im</strong> Detail zu erfassen (Miller <strong>und</strong> Coyle<br />

1999; <strong>Siegler</strong> 2006). Die Gr<strong>und</strong>idee dieses Ansatzes besteht darin,<br />

dass man Kinder, bei denen man das Eintreten einer wichtigen<br />

Entwicklungsveränderung in nächster Zeit erwartet, vermehrt<br />

mit genau denjenigen Erfahrungen konfrontiert, von denen man<br />

ann<strong>im</strong>mt, dass sie die Veränderungen hervorrufen – <strong>und</strong> das<br />

Verhalten der Kinder veränderungsbegleitend genau untersucht.<br />

Mikrogenetische Designs gleichen Längsschnittuntersuchungen<br />

darin, dass man dasselbe Kind <strong>im</strong> Lauf der Zeit wiederholt testet.<br />

Der Unterschied besteht darin, dass mikrogenetische Designs in<br />

der Regel in kürzerer Zeitspanne eine höhere Anzahl von Versuchsdurchläufen<br />

umfassen als Längsschnittstudien.<br />

Mikrogenetisches Design – Eine Forschungsmethode, bei der dieselben Kinder<br />

während eines kurzen Zeitabschnitts wiederholt untersucht werden.<br />

<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Jenkins (1989) verwendeten ein mikrogenetisches<br />

Design, um zu untersuchen, wie Kindergartenkinder die Weiterzählstrategie<br />

entdecken, mit der sie bei Additionsaufgaben vom<br />

größeren Summanden aus den kleineren hochzählen. Diese Strategie<br />

besteht darin, vom größeren Summanden so viele Schritte<br />

weiterzuzählen, wie es der kleinere Summand angibt. Wenn<br />

man ein Kind zum Beispiel fragt, wie viel 3 + 5 ist, wird es be<strong>im</strong><br />

Anwenden der Weiterzählstrategie sagen oder denken: „6, 7, 8“,<br />

um anschließend „8“ zu antworten. Bevor Kinder diese Strategie<br />

entdecken, lösen sie Additionsaufgaben für gewöhnlich, indem<br />

sie von der Zahl 1 an zählen. Das Weiterzählen vom größeren<br />

Summanden statt von der Zahl 1 aus verringert die Menge an<br />

notwendigen Zähloperationen <strong>und</strong> führt zu schnelleren <strong>und</strong> genaueren<br />

Leistungen.<br />

..<br />

Zu entdecken, wie man ein Problem löst, ist eine belohnende Erfahrung.<br />

Mikrogenetische Designs können Erkenntnisse sowohl über den Prozess<br />

dieser Entdeckung als auch über die damit einhergehenden emotionalen<br />

Reaktionen der Kinder liefern. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Weiterzählstrategie – Vom größeren Summanden so viele Male weiterzählen,<br />

wie der kleinere Summand angibt.<br />

Um den Entdeckungsprozess zu beobachten, wählten <strong>Siegler</strong> <strong>und</strong><br />

Jenkins Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige aus, die das Weiterzählen noch<br />

nicht verwendeten, aber schon wussten, wie man addiert, indem<br />

man mit der Zahl 1 beginnt. Diesen Kindern legten sie innerhalb<br />

von elf Wochen 30 Sitzungen jeweils sieben Additionsaufgaben<br />

vor – wesentlich mehr, als Kinder vor der Einschulung normalerweise<br />

begegnen – <strong>und</strong> nahmen das Verhalten jedes <strong>Kindes</strong><br />

bei jeder Aufgabe per Video auf. Mit diesem Vorgehen ließ sich<br />

genau identifizieren, wann jedes der Kinder die Weiterzählstrategie<br />

erstmals benutzte.


30<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

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5<br />

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23<br />

..<br />

Tab. 1.5 Vor- <strong>und</strong> Nachteile der verschiedenen entwicklungspsychologischen Untersuchungsdesigns<br />

Designtyp Eigenschaften Vorteile Nachteile<br />

Querschnittdesign<br />

Längsschnittdesign<br />

Mikrogenetisches<br />

Design<br />

Kinder unterschiedlichen Alters<br />

werden zu einem Zeitpunkt untersucht.<br />

Kinder werden über längere Zeit<br />

hinweg wiederholt untersucht.<br />

Kinder werden in einem relativ<br />

kurzen Zeitabschnitt, in dem eine<br />

Veränderung eintritt, intensiv<br />

beobachtet.<br />

Die Untersuchung der Aufgaben direkt vor der Entdeckung<br />

brachte Überraschendes zutage: Notwendigkeit ist nicht <strong>im</strong>mer<br />

die Mutter einer Erfindung. Nicht wenige Kinder entdeckten<br />

die Weiterzählstrategie bei der Bearbeitung einfacher Aufgaben,<br />

die sie zuvor durch Zählen von 1 an richtig gelöst hatten.<br />

Die mikrogenetische Methode offenbarte auch, dass mit der<br />

allerersten Verwendung der neuen Strategie oft eine eindrucksvolle<br />

Einsicht <strong>und</strong> Erregung einhergeht, wie beispielsweise bei<br />

Lauren:<br />

» Exper<strong>im</strong>entator: Wie viel ist 6 + 3?<br />

Lauren: (lange Pause) 9.<br />

E: OK, woher weißt du das?<br />

L: Ich glaub, ich sagte … Ich glaub, ich sagte … ooh, hm … 7<br />

war 1, 8 war 2, 9 war 3.<br />

E: Woher wusstest du, wie du das machen musst? Warum hast<br />

du nicht 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 gezählt?<br />

L: (aufgeregt) Weil man dann ja alle Zahlen zählen muss.<br />

(<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Jenkins 1989, S. 66)<br />

Trotz ihrer einsichtigen Erklärung des Weiterzählens <strong>und</strong> ihrer<br />

Aufregung über die Entdeckung wandten Lauren <strong>und</strong> die meisten<br />

anderen Kinder die Strategie erst allmählich vermehrt auf<br />

die Probleme an, die man ihnen nach der Entdeckung vorlegte.<br />

Auch andere mikrogenetische Untersuchungen zeigten, dass die<br />

Generalisierung neuer Strategien eher in kleinen Schritten vor<br />

sich geht (Kuhn <strong>und</strong> Franklin 2006).<br />

Das Beispiel illustriert, wie die mikrogenetische Methode<br />

wichtige Erkenntnisse über den Veränderungsprozess <strong>und</strong> über<br />

individuelle Unterschiede bei Veränderungsprozessen, die sich<br />

innerhalb relativ kurzer Zeiträume abspielen, liefern kann. Doch<br />

erbringt diese Methode <strong>im</strong> Unterschied zu Längsschnittuntersuchungen<br />

keine Informationen zur Stabilität <strong>und</strong> Veränderung<br />

über längere Zeiträume hinweg. Sie werden deshalb typischerweise<br />

verwendet, wenn das Gr<strong>und</strong>muster der altersbezogenen<br />

Veränderungen bereits bekannt ist <strong>und</strong> das nächste Ziel darin<br />

besteht herauszufinden, wie diese Veränderungen zustande kommen.<br />

In . Tab. 1.5 sind die jeweiligen Stärken <strong>und</strong> Schwächen der<br />

Erbringt nützliche Daten über Unterschiede<br />

zwischen Altersgruppen.<br />

Schnell <strong>und</strong> leicht durchzuführen.<br />

Zeigt das Ausmaß an Stabilität individueller<br />

Unterschiede über längere Zeiträume<br />

an.<br />

Macht das langfristige Veränderungsmuster<br />

einzelner Kinder sichtbar.<br />

Die intensive Beobachtung von Veränderungen<br />

während ihres Eintretens kann<br />

Veränderungsprozesse erkennen lassen.<br />

Zeigt kurzfristige individuelle Veränderungsmuster<br />

in großem Detail.<br />

drei Ansätze zur Untersuchung von alters- <strong>und</strong> erfahrungsabhängigen<br />

Veränderungen – Querschnitt-, Längsschnitt- <strong>und</strong> mikrogenetische<br />

Designs – zusammengefasst.<br />

Ethische Fragen bei der Erforschung<br />

der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

Jegliche Forschung an Menschen wirft ethische Probleme auf;<br />

dies trifft besonders auf die Untersuchung der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

zu. Den Forschern kommt die unabdingbare Verantwortung<br />

zu, mögliche Risiken, die ihre Untersuchung für die Kinder<br />

darstellen könnte, vorauszusehen, solche Risiken zu min<strong>im</strong>ieren<br />

<strong>und</strong> sicherzustellen, dass der Nutzen der Forschung das Schadensrisiko<br />

überwiegt.<br />

Die Society for Research on Child Development, eine Organisation,<br />

die sich mit der Forschung an Kindern befasst, hat<br />

ethische Richtlinien formuliert, an die sich Forscher in den<br />

USA halten müssen (SRCD Governing Council 2007). Einige<br />

der wichtigsten international anerkannten ethischen Prinzipien<br />

in diesem Kodex, der in Deutschland von Ethikkommissionen<br />

durchgesetzt wird, sind die folgenden:<br />

Stellen Sie sicher, dass die Forschung Kinder weder physisch<br />

noch psychisch verletzt.<br />

-<br />

Lassen<br />

-<br />

Wahren<br />

Sagt nichts über die Stabilität individueller<br />

Unterschiede <strong>im</strong> Zeitverlauf.<br />

Sagt nichts über Ähnlichkeiten <strong>und</strong><br />

Unterschiede in den Veränderungsmustern<br />

einzelner Kinder.<br />

Untersuchungsteilnehmer können<br />

verloren gehen.<br />

Die wiederholte Testung derselben<br />

Kinder kann die externe Validität<br />

beeinträchtigen.<br />

Liefert keine Informationen über typische<br />

langfristige Veränderungsmuster.<br />

Lässt keine langfristigen individuellen<br />

Veränderungsmuster erkennen.<br />

Sie sich die informierte Einwilligung in die Untersuchungsteilnahme<br />

geben, vorzugsweise schriftlich,<br />

<strong>und</strong> zwar von den Eltern oder anderen verantwortlichen<br />

Erwachsenen <strong>und</strong> auch von den Kindern, sofern sie alt<br />

genug sind, dass ihnen das Forschungsvorhaben erklärt<br />

werden kann. Der Versuchsleiter sollte die Kinder <strong>und</strong><br />

die maßgeblichen Erwachsenen über alle Aspekte des<br />

Vorhabens informieren, die die Teilnahmebereitschaft beeinflussen<br />

könnten, <strong>und</strong> sollte erklären, dass die Verweigerung<br />

der Teilnahme keine negativen Folgen nach sich<br />

zieht.<br />

Sie die Anonymität der Teilnehmer, <strong>und</strong> verwenden<br />

Sie Informationen nur zu den Zwecken, für die eine<br />

Erlaubnis gegeben wurde.


Zusammenfassung<br />

-<br />

Besprechen Sie mit den Eltern oder Erziehungsberechtigten<br />

alle durch die Forschung ermittelten Informationen, die für<br />

-<br />

das Wohl des <strong>Kindes</strong> wichtig sein könnten.<br />

Versuchen Sie, allen unvorhergesehen negativen Folgen,<br />

die <strong>im</strong> Forschungsverlauf auftreten, entgegenzuwirken.<br />

Falls solche negativen Folgen eintreten, überarbeiten Sie<br />

das Verfahren, um ähnliche Probleme zukünftig zu vermeiden.<br />

-<br />

Korrigieren Sie alle falschen Eindrücke, die das Kind <strong>im</strong><br />

Verlauf der Untersuchung gewinnen könnte. Erklären Sie den<br />

Teilnehmern nach Beendigung der Untersuchung die allgemeinen<br />

Bef<strong>und</strong>e auf einem Niveau, das sie verstehen können.<br />

In Anerkennung der Wichtigkeit solcher ethischer Fragen haben<br />

Universitäten <strong>und</strong> Regierungsbehörden institutionalisierte Ethikkommissionen<br />

eingerichtet, in denen unabhängige Wissenschaftler<br />

(<strong>und</strong> manchmal externe Spezialisten) die Forschungsvorhaben<br />

beurteilen, um sicherzustellen, dass damit keine ethischen<br />

Richtlinien verletzt werden. Diese Ethikkommissionen bewerten<br />

die vorgeschlagenen Forschungsprojekte <strong>und</strong> stellen sicher, dass<br />

es keine Verstöße gegen ethische Gr<strong>und</strong>prinzipien <strong>und</strong> geltendes<br />

Recht gibt. Doch trägt letztlich der einzelne Forscher, der die<br />

Forschung am besten kennt <strong>und</strong> mögliche Probleme am besten<br />

antizipieren kann, die endgültige Verantwortung dafür, dass die<br />

Untersuchung mit den ethischen Standards <strong>im</strong> Einklang steht.<br />

In Kürze | |<br />

Die wissenschaftliche Methode, bei der alle Hypothesen<br />

als potenziell falsch behandelt werden, ermöglichte dem<br />

heutigen Verständnis der <strong>Kindes</strong>entwicklung Fortschritte,<br />

die über die Erkenntnisse selbst der größten Denker der<br />

Vergangenheit weit hinausgehen. Dieser Fortschritt baut auf<br />

vier Arten von Neuerungen auf:<br />

1. Messungen, die für die zentrale Hypothese der Untersuchung<br />

unmittelbar relevant, reliabel <strong>und</strong> valide sind,<br />

2. Methoden der Datenerhebung, die nützliche Informationen<br />

über das Verhalten der Kinder hervorbringen,<br />

wie Interviews, Feldbeobachtungen <strong>und</strong> strukturierte<br />

Beobachtungen,<br />

3. Designs, mit denen die Zusammenhänge <strong>und</strong> Ursache-<br />

Wirkungs-Beziehungen von Variablen identifiziert werden<br />

können, vor allem korrelative <strong>und</strong> exper<strong>im</strong>entelle<br />

Designs,<br />

4. Designs, die die Analyse von Kontinuität <strong>und</strong> Veränderung<br />

erlauben, wie sie mit Alter <strong>und</strong> Erfahrung einhergehen,<br />

insbesondere Quer- <strong>und</strong> Längsschnittdesigns<br />

sowie mikrogenetische Ansätze.<br />

Die Durchführung wissenschaftlicher Exper<strong>im</strong>ente erfordert<br />

weiterhin die Einhaltung hoher ethischer Standards. Dazu<br />

gehört, die teilnehmenden Kinder in keinerlei Weise zu<br />

schädigen, vor ihrer Teilnahme die informierte Einwilligung<br />

einzuholen, die Anonymität aller Teilnehmer zu gewährleisten<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Anschluss an die Untersuchung die Ergebnisse<br />

den Eltern <strong>und</strong>, falls möglich, auch den Kindern zu erklären,<br />

<strong>und</strong> zwar auf einem verständlichen Niveau.<br />

31 1<br />

Zusammenfassung<br />

-<br />

Warum untersucht man die <strong>Kindes</strong>entwicklung?<br />

Es ist aus mehreren Gründen nützlich, etwas über die<br />

<strong>Kindes</strong>entwicklung zu erfahren: Es kann uns helfen, bessere<br />

Eltern zu werden, es formt unsere Meinung über soziale<br />

Fragen, die Kinder berühren, <strong>und</strong> es verbessert unser Verständnis<br />

von der Natur des Menschen.<br />

-<br />

Historische Wurzeln der Beschäftigung mit <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

Große Denker wie Platon, Aristoteles, Locke <strong>und</strong> Rousseau<br />

formulierten gr<strong>und</strong>legende Fragen über die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

<strong>und</strong> stellten dazu interessante Hypothesen auf,<br />

besaßen jedoch noch nicht die modernen wissenschaftlichen<br />

Methoden zur Beantwortung dieser Fragen. Mit<br />

den jüngeren wissenschaftlichen Ansätzen wie denen von<br />

Freud <strong>und</strong> Watson begann die Bewegung hin zu modernen<br />

forschungsbasierten Theorien der <strong>Kindes</strong>entwicklung.<br />

-<br />

Leitfragen der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

Das Gebiet der <strong>Kindes</strong>entwicklung stellt den Versuch dar,<br />

Antworten auf mehrere Gr<strong>und</strong>fragen zu gewinnen:<br />

1. Wie wirken sich Anlage <strong>und</strong> Umwelt gemeinsam auf die<br />

Entwicklung aus?<br />

2. Wie formen Kinder ihre eigene Entwicklung?<br />

3. In welcher Hinsicht verläuft Entwicklung kontinuierlich,<br />

in welcher diskontinuierlich?<br />

4. Wie kommt es zu Veränderungen?<br />

5. Wie wirkt sich der soziokulturelle Kontext auf die Entwicklung<br />

aus?<br />

6. Warum werden Kinder so verschieden?<br />

-<br />

7. Wie kann Forschung das <strong>Kindes</strong>wohl fördern?<br />

Jeder Entwicklungsaspekt, von der ganz speziellen Verhaltensweise<br />

bis zum allgemeinen Wesenszug, spiegelt sowohl<br />

die biologische Ausstattung (die Anlagen) als auch die<br />

bisherigen Erfahrungen (die Umwelteinflüsse) eines Menschen<br />

wider.<br />

-<br />

Selbst Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder tragen aktiv zu ihrer<br />

eigenen Entwicklung bei: durch ihre Aufmerksamkeitsmuster,<br />

durch ihren Sprachgebrauch <strong>und</strong> durch die Wahl ihrer<br />

-<br />

Aktivitäten.<br />

Die meisten Entwicklungen können sowohl kontinuierlich<br />

als auch diskontinuierlich (in Stufen oder Schritten) erscheinen,<br />

je nachdem, wie oft <strong>und</strong> wie genau man hinsieht.<br />

-<br />

Die Mechanismen, die Veränderungen <strong>im</strong> Entwicklungsverlauf<br />

hervorbringen, umfassen ein komplexes Zusammenspiel<br />

von Genen, Gehirnstrukturen, Neurotransmittern<br />

-<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen.<br />

Zu den Kontexten, die die Entwicklung formen, gehören<br />

diejenigen Menschen, mit denen Kinder direkt zu tun<br />

haben (z. B. Familie <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e), die Institutionen, die sie<br />

aufsuchen (z. B. Schule oder religiöse Einrichtungen), sowie<br />

gesellschaftliche Einstellungen (z. B. gegenüber ethnischen<br />

-<br />

Gruppen <strong>und</strong> sozialen Schichten).<br />

In interindividuellen Unterschieden, selbst jenen zwischen<br />

Geschwistern, spiegeln sich Differenzen in den Genen der<br />

Kinder, in der Behandlung durch andere Menschen, in der


32<br />

Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Interpretation eigener Erfahrungen sowie in der eigenen<br />

-<br />

Auswahl von Kontexten wider.<br />

Prinzipien, Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Methoden aus der Entwicklungsforschung<br />

werden fortlaufend angewandt, um die Lebensqualität<br />

von Kindern zu erhöhen.<br />

-<br />

Methoden der Untersuchung kindlicher Entwicklung<br />

Mit Einführung der wissenschaftlichen Methode wurden<br />

große Fortschritte be<strong>im</strong> Verstehen von Kindern möglich.<br />

Dabei wird eine Forschungsfrage ausgewählt, eine relevante<br />

Hypothese formuliert, eine Methode entwickelt, um die<br />

Hypothese zu prüfen, <strong>und</strong> anhand von Daten entschieden,<br />

-<br />

ob die Hypothese zutrifft.<br />

Damit Messwerte brauchbar sind, müssen sie für die Hypothese<br />

relevant, reliabel <strong>und</strong> valide sein. Reliabilität (Zuverlässigkeit)<br />

bedeutet, dass unabhängige Beobachtungen eines<br />

best<strong>im</strong>mten Verhaltens übereinst<strong>im</strong>men. Validität (Gültigkeit)<br />

bedeutet, dass ein Messwert das misst, was er messen<br />

-<br />

soll.<br />

Wichtige Methoden der Datenerhebung bei Kindern sind<br />

Interviews, Feldbeobachtungen <strong>und</strong> strukturierte Beobachtungen.<br />

Interviews lassen besonders gut das subjektive<br />

Erleben von Kindern erkennen. Die Feldbeobachtung ist<br />

besonders hilfreich, wenn das pr<strong>im</strong>äre Ziel darin besteht zu<br />

beschreiben, wie sich Kinder in ihrer alltäglichen Umgebung<br />

verhalten. Die strukturierte Beobachtung ist dann am<br />

nützlichsten, wenn hauptsächlich beschrieben werden soll,<br />

-<br />

wie verschiedene Kinder auf dieselbe Situation reagieren.<br />

Korrelation <strong>im</strong>pliziert nicht Kausalität. Korrelationen<br />

geben lediglich das Ausmaß an, in dem zwei Variablen<br />

zusammenhängen, während ein kausaler Zusammenhang<br />

bedeutet, dass die Veränderung der Ausprägung der einen<br />

Variable eine Änderung der Ausprägung der anderen Variable<br />

nach sich zieht.<br />

-<br />

Korrelationsdesigns sind besonders nützlich, wenn es darum<br />

geht, die Beziehungen zwischen Variablen zu beschreiben,<br />

oder wenn man die interessierenden Variablen aus<br />

technischen oder praktischen Erwägungen nicht manipulieren<br />

kann.<br />

Der besondere Wert exper<strong>im</strong>enteller Designs liegt darin,<br />

-<br />

die Ursachen für das Verhalten von Kindern aufzudecken.<br />

Entwicklungsdaten erhält man durch Querschnittdesigns<br />

(die Untersuchung von Kindern verschiedenen Alters),<br />

Längsschnittdesigns (die Untersuchung derselben Kinder<br />

in verschiedenem Alter) oder mikrogenetische Designs (die<br />

Darbietung intensiver Erfahrungen in kurzem Zeitraum<br />

-<br />

<strong>und</strong> die detaillierte Analyse des Veränderungsprozesses).<br />

Es ist für Forschende unabdingbar, sich an hohen ethischen<br />

Standards zu orientieren. Zu den wichtigsten ethischen<br />

Standards gehört, dass man versucht sicherzustellen,<br />

dass das Forschungsvorhaben die Kinder weder physisch<br />

noch psychisch schädigt, dass man von den Eltern <strong>und</strong><br />

nach Möglichkeit auch von den Kindern eine informierte<br />

Einwilligung erhält, dass man die Anonymität der Teilnehmer<br />

wahrt, dass man die Eltern über alles informiert, was<br />

für das Wohl des <strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> dessen Aufrechterhaltung<br />

nötig ist, dass man jeglichen negativen Auswirkungen der<br />

Untersuchung entgegenwirkt <strong>und</strong> dass man jeden unzutreffenden<br />

Eindruck, den Kinder <strong>im</strong> Verlauf der Untersuchung<br />

erhalten, richtigstellt.<br />

Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />

1. Haben Kinder unterschiedliche Veranlagungen, oder sind<br />

die Unterschiede zwischen Kindern ausschließlich ihren<br />

Erfahrungen geschuldet? Welche eigenen Beobachtungen,<br />

Forschungsergebnisse <strong>und</strong> Urteile führen Sie zu Ihrer<br />

Schlussfolgerung?<br />

2. Warum konnten Ihrer Meinung nach die Kinder, die<br />

weniger als sechs Monate in rumänischen Waisenhäusern<br />

verbracht hatten, ihre körperlichen, geistigen <strong>und</strong> sozialen<br />

Entwicklungsrückstände aufholen, während die Kinder,<br />

die längere Zeit dort zubringen mussten, bislang nicht<br />

alles aufholen konnten? Was meinen Sie: Werden sie alle<br />

Entwicklungsrückstände in Zukunft noch aufholen können?<br />

3. Inwiefern ist es ein glücklicher Umstand, inwiefern ein<br />

ungünstiger, dass Kinder ihre eigene Entwicklung in<br />

beträchtlichem Umfang selbst formen?<br />

4. Hatten die Informationen über die Schlafarrangements<br />

in den verschiedenen Kulturen einen Einfluss darauf, wie<br />

Sie es bei Ihren eigenen Kindern einmal halten wollen?<br />

Erläutern Sie, warum Sie das beeinflusst – oder auch nicht<br />

beeinflusst – hat.<br />

5. Können Sie sich angesichts dessen, was Sie in diesem Kapitel<br />

über die Erforschung der <strong>Kindes</strong>entwicklung gelernt<br />

haben, weitere praktische Anwendungen der Forschung<br />

vorstellen, die Ihnen sowohl durchführbar als auch wichtig<br />

erscheinen?<br />

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Kapitel 1 • Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung<br />

1<br />

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4<br />

5<br />

6<br />

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37 2<br />

Pränatale Entwicklung, Geburt<br />

<strong>und</strong> das Neugeborene<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Pränatale Entwicklung – 38<br />

Die Befruchtung – 40<br />

Entwicklungsprozesse – 41<br />

Früheste Entwicklung – 44<br />

Eine illustrierte Zusammenfassung der pränatalen Entwicklung – 45<br />

Das Verhalten des Fetus – 46<br />

Das Erleben des Fetus – 47<br />

Das Lernen des Fetus – 48<br />

Risiken der pränatalen Entwicklung – 50<br />

Die Geburtserfahrung – 58<br />

Unterschiedliche Geburtspraktiken – 59<br />

Das Neugeborene – 60<br />

Aktivierungszustände – 60<br />

Ungünstige Geburtsausgänge – 65<br />

Zusammenfassung – 70<br />

Literatur – 72<br />

S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


38<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

© Sabina Pauen<br />

Man stelle sich folgende Situation vor: Eine Entwicklungspsychologin<br />

nähert sich ihrer Versuchsperson in der Absicht, deren<br />

Wahrnehmungsfähigkeit <strong>und</strong> Fähigkeit, aus Erfahrungen<br />

zu lernen, zu untersuchen. Zuerst spielt sie der Versuchsperson<br />

aus einem Lautsprecher nahe am Ohr ein lautes Schallereignis<br />

vor (einen Laut oder einen Ton) <strong>und</strong> stellt mit Befriedigung fest,<br />

dass die Versuchsperson darauf reagiert <strong>und</strong> sich heftig bewegt;<br />

sie schließt daraus, dass die Versuchsperson das Geräusch hören<br />

kann. Daraufhin spielt sie denselben Ton <strong>im</strong>mer <strong>und</strong> <strong>im</strong>mer<br />

wieder vor. So wie es jede andere Person <strong>im</strong> Labor kaum mehr<br />

erträgt, denselben Ton andauernd wieder zu hören, so scheint<br />

es auch der Versuchsperson zu gehen, die auf die Wiederholungen<br />

<strong>im</strong>mer weniger anspricht <strong>und</strong> schließlich gar keine Reaktion<br />

mehr zeigt. Hat die Versuchsperson gelernt, den Ton zu erkennen,<br />

oder hat sie sich einfach schlafen gelegt? Um das herauszufinden,<br />

präsentiert die Forscherin nun einen anderen Ton,<br />

<strong>und</strong> die Versuchsperson beginnt erneut, sich heftig zu bewegen.<br />

Offenbar kann die Versuchsperson neben dem ersten Ton auch<br />

erkennen, dass der neue Ton anders beschaffen ist, was als Beleg<br />

dafür gelten kann, dass hier ein einfacher Lernprozess abgelaufen<br />

ist. Nun will die Forscherin herausfinden, ob die Versuchsperson<br />

auch etwas Komplexeres lernen kann <strong>und</strong> ob das Lernen auch<br />

in einer natürlicheren Umgebung funktioniert; sie schickt die<br />

Versuchsperson nach Hause <strong>und</strong> bittet deren Mutter, über einen<br />

Zeitraum von sechs Wochen hinweg mehrere Minuten täglich<br />

aus einem bekannten Kinderbuch vorzulesen. Denn sie will herausfinden,<br />

ob die Versuchsperson die vorgelesenen Passagen<br />

später wiedererkennt. Doch bevor die Forscherin wieder mit<br />

ihrer Versuchsperson zusammentrifft, passiert etwas ziemlich<br />

Einschneidendes: Die Versuchsperson wird geboren!<br />

Das beschriebene Szenario ist beileibe nicht aus der Luft gegriffen.<br />

Tatsächlich handelt es sich um die exakte Beschreibung<br />

einer faszinierenden <strong>und</strong> informativen Untersuchung, die unser<br />

Wissen über die pränatale Entwicklung revolutionierte (DeCasper<br />

<strong>und</strong> Spence 1986) <strong>und</strong> in diesem Kapitel später nochmals aufgegriffen<br />

wird. Dabei wird sich zeigen, dass Forscher die Wahrnehmungs-<br />

<strong>und</strong> Lernfähigkeiten des menschlichen Fetus auf vielerlei<br />

Weise untersucht haben. Sie haben herausgef<strong>und</strong>en, dass Feten<br />

schon <strong>im</strong> Mutterleib eine Vielzahl von Reizen, die aus der Außenwelt<br />

kommen, wahrnehmen <strong>und</strong> aus Erfahrung lernen können,<br />

wobei diese Erfahrungen bis nach der Geburt wirksam bleiben.<br />

In diesem Kapitel untersuchen wir den ungewöhnlichen Verlauf<br />

der pränatalen Entwicklung – einer Zeit erstaunlich schnellen<br />

<strong>und</strong> dramatischen Wandels. Zusätzlich zu den normalen Vorgängen<br />

der pränatalen Entwicklung geht es auch um Störeinflüsse <strong>und</strong><br />

Umweltgefahren, die den sich entwickelnden Fetus schädigen können.<br />

Danach behandeln wir in Kürze den Prozess des Geborenwerdens,<br />

<strong>und</strong> zwar vorrangig aus der Sicht des <strong>Kindes</strong> selbst: Was<br />

erfährt es während dieses dramatischen Wendepunktes? Schließlich<br />

untersuchen wir einige Verhaltens aspekte des Neugeborenen<br />

<strong>und</strong> diskutieren Probleme, die mit Frühgeburten einhergehen.<br />

Bei unserer Erörterung der frühesten Entwicklungsphasen<br />

eines Menschen spielen fast alle Entwicklungsthemen, die in<br />

▶ Kap. 1 beschrieben wurden, eine wichtige Rolle. An erster Stelle<br />

ist die Frage nach Anlage <strong>und</strong> Umwelt zu nennen; wir werden besonders<br />

darauf abheben, wie jeder Aspekt der vorgeburtlichen Entwicklung<br />

sich aus einer Kombination von biologischen Faktoren<br />

<strong>und</strong> Umweltfaktoren ergibt. Auch das Thema aktives Kind spielt<br />

wieder eine Rolle, insofern die Aktivitäten des Fetus auf vielerlei<br />

Weise entscheidend zu seiner Entwicklung beitragen. Die normale<br />

pränatale Entwicklung hängt, wie sich noch zeigen wird, von best<strong>im</strong>mten<br />

Verhalten des Fetus ab. Ein weiteres Thema, das noch<br />

beleuchtet wird, betrifft den soziokulturellen Kontext der pränatalen<br />

Entwicklung <strong>und</strong> der Geburt; hier lassen sich große kulturelle<br />

Unterschiede <strong>im</strong> Hinblick darauf feststellen, wie die Menschen in<br />

den verschiedenen Kulturen <strong>und</strong> Gesellschaften über den Beginn<br />

des Lebens denken <strong>und</strong> wie der Geburtsvorgang jeweils gehandhabt<br />

wird. Auch individuelle Unterschiede kommen an verschiedenen<br />

Stellen <strong>im</strong>mer wieder ins Spiel, etwa bei den unterschiedlichen<br />

Überlebensraten beider Geschlechter vom Zeitpunkt der Befruchtung<br />

an. Das Thema Kontinuität/Diskontinuität ist auch in dieser<br />

ersten Lebensphase wichtig: Trotz des dramatischen Wechsels zwischen<br />

dem Leben vor <strong>und</strong> nach der Geburt zeigt das Verhalten<br />

von Neugeborenen deutliche Beziehungen zu ihrem Verhalten <strong>im</strong><br />

Mutterleib <strong>und</strong> zu ihrer Vorgeschichte. Und schließlich bildet die<br />

Frage nach dem <strong>Kindes</strong>wohl bei der Forschung den Hintergr<strong>und</strong>,<br />

vor dem wir den Einfluss von Armut auf die pränatale Entwicklung<br />

<strong>und</strong> den Ges<strong>und</strong>heitsstatus bei der Geburt diskutieren sowie<br />

die Wirkung von Interventionsprogrammen zur Unterstützung<br />

der Entwicklung frühgeborener Kinder beschreiben.<br />

Pränatale Entwicklung<br />

Der Prozess der pränatalen („vorgeburtlichen“) Entwicklung galt<br />

schon <strong>im</strong>mer als gehe<strong>im</strong>nisvoll <strong>und</strong> faszinierend, <strong>und</strong> Mythen<br />

über den Ursprung des menschlichen Lebens <strong>und</strong> die Entwicklung<br />

vor der Geburt bildeten in allen Gesellschaften einen wichtigen<br />

Teil der Überlieferungen <strong>und</strong> Traditionen. ▶ Exkurs 2.1 beschreibt<br />

ein System kultureller Überzeugungen zum Beginn des Lebens,<br />

das stark von demjenigen westlicher Gesellschaften abweicht.<br />

Auch be<strong>im</strong> Blick zurück in die Geschichte kann man große<br />

Unterschiede darin erkennen, wie sich die Menschen die präna-


Pränatale Entwicklung<br />

39 2<br />

Exkurs 2.1: Genauer betrachtet: Die Anfänge bei den Beng | |<br />

Kaum ein Thema hat in den vergangenen<br />

Jahren in Deutschland <strong>und</strong> vielen anderen<br />

Ländern intensivere Debatten <strong>und</strong> Kontroversen<br />

ausgelöst als die Frage, an welcher<br />

Stelle der Entwicklung Leben anfängt – zum<br />

Zeitpunkt der Befruchtung oder irgendwann<br />

zwischen Befruchtung <strong>und</strong> Geburt. Ironischerweise<br />

erkennen nur wenige, die sich an dieser<br />

Auseinandersetzung beteiligen, wie komplex<br />

die Fragestellung ist <strong>und</strong> wie unterschiedlich<br />

die verschiedenen Völker <strong>und</strong> Gesellschaften<br />

der Welt diese Frage sehen.<br />

Ein Beispiel für diese Vielfalt bieten die Beng,<br />

die an der westafrikanischen Elfenbeinküste<br />

behe<strong>im</strong>atet sind. Sie glauben, dass jedes Kind<br />

die Reinkarnation eines Vorfahren ist (Gottlieb<br />

2004). Den Beng zufolge geht der Geist des<br />

Ahnen, sein wru, in den ersten Wochen nach<br />

der Geburt des <strong>Kindes</strong> nicht völlig in das<br />

irdische Leben über, sondern behält eine Doppelexistenz<br />

bei, die zwischen der Alltagswelt<br />

<strong>und</strong> wrugbe, dem „Ahnendorf“, hin- <strong>und</strong> herpendelt.<br />

(Der Begriff wrugbe kann ungefähr als<br />

„Leben danach“ übersetzt werden, aber „Leben<br />

davor“ wäre wohl ebenso angemessen.) Erst<br />

wenn der Nabel völlig abgeheilt ist, wird das<br />

Neugeborene als Person betrachtet – als ein<br />

aus dem wrugbe hervorgegangenes Wesen.<br />

Ein Neugeborenes, das vorher stirbt, erhält<br />

kein Begräbnis, weil sein Sterben schlicht als<br />

körperliche Form der Rückkehr in das wrugbe<br />

aufgefasst wird, das das Kind seelisch ohnehin<br />

noch bewohnte.<br />

Diese Überzeugungen bilden in vielerlei<br />

Hinsicht die Gr<strong>und</strong>lage der Säuglingspflege.<br />

So wird viele Male am Tag eine Kräutermischung<br />

auf den Nabel aufgetragen, um das<br />

Austrocknen <strong>und</strong> Abfallen der Nabelschnur<br />

zu beschleunigen. Bis dahin besteht zudem<br />

permanent die Gefahr, dass der Säugling<br />

<strong>und</strong> auch noch das kleine Kind He<strong>im</strong>weh<br />

nach seinem Leben <strong>im</strong> wrugbe bekommt<br />

<strong>und</strong> sich entschließt, seine irdische Existenz<br />

zu verlassen. Um dem vorzubeugen, tun die<br />

Beng-Eltern alles, damit ihr Baby glücklich<br />

ist <strong>und</strong> sich wohlfühlt, um es <strong>im</strong> diesseitigen<br />

Leben zu halten. Zu den vielen empfohlenen<br />

Verfahrensweisen gehört, das Gesicht <strong>und</strong><br />

den Körper des <strong>Kindes</strong> kunstvoll zu bemalen<br />

<strong>und</strong> zu schmücken, damit es andere anspricht<br />

<strong>und</strong> deren Aufmerksamkeit auf sich zieht.<br />

Manchmal werden spirituelle Heiler zurate gezogen,<br />

wenn sich ein Baby nicht wohlzufühlen<br />

scheint; <strong>und</strong> bei länger anhaltendem Weinen<br />

ergibt sich als häufige Diagnose, dass das Baby<br />

einen anderen Namen wünscht – einen aus<br />

seinem früheren Leben <strong>im</strong> wrugbe.<br />

Wann beginnt nun für die Beng das individuelle<br />

Leben? In gewisser Hinsicht fängt<br />

das Leben eines Beng schon vor der Geburt<br />

an, weil jedes menschliche Wesen ja eine<br />

Reinkarnation eines Vorfahren ist. In anderer<br />

Hinsicht beginnt das Leben jedoch nach der<br />

Geburt mit der Anerkennung des Individuums<br />

als Person.<br />

..<br />

Diese Mutter hat viel Zeit darauf verwendet,<br />

das Gesicht des Babys mit kunstvollen Mustern<br />

zu schmücken. Sie tut das jeden Tag in dem<br />

Bemühen, ihr Kind attraktiv zu machen, damit<br />

andere Menschen mit dazu beitragen, es in dieser<br />

Welt glücklich zu machen. (© Alma Gottlieb;<br />

mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

tale Entwicklung vorgestellt haben. Im vierten vorchristlichen<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert stellte Aristoteles die f<strong>und</strong>amentale Frage über die<br />

vorgeburtliche Entwicklung, die dem westlichen Denken in den<br />

darauf folgenden 1500 Jahren zugr<strong>und</strong>e liegen sollte: Beginnt<br />

das pränatale Leben mit dem bereits vorgeformten neuen Individuum,<br />

das sich von Anfang an aus einer vollständigen Ausstattung<br />

winziger Einzelteile zusammensetzt, oder entwickeln sich<br />

die vielen Teile des menschlichen Körpers nacheinander? Aristoteles<br />

lehnte die Idee der Präformation (des Vorgeformtseins)<br />

ab zugunsten der Epigenese – der Herausbildung neuer Strukturen<br />

<strong>und</strong> Funktionen <strong>im</strong> Verlauf der Entwicklung (wir werden<br />

die moderne epigenetische Sichtweise in ▶ Kap. 3 betrachten).<br />

Auf der Suche nach Belegen für seine Annahme unternahm<br />

Aristoteles einen für damalige Zeiten recht ungewöhnlichen<br />

Schritt <strong>und</strong> öffnete befruchtete Hühnereier, um die Wahrheit<br />

mit eigenen Augen zu sehen. Tatsächlich konnte er die Organe<br />

der heranwachsenden Küken in verschiedenen Entwicklungsstadien<br />

beobachten. Und dennoch hielt die Idee der präformierten<br />

Entwicklung noch lange nach Aristoteles an <strong>und</strong> wuchs sich zu<br />

einem Disput darüber aus, ob der präformierte Miniaturmensch<br />

<strong>im</strong> Ei der Mutter oder <strong>im</strong> Spermium des Vaters untergebracht<br />

sei (. Abb. 2.1).<br />

Epigenese – Die Ausbildung von Strukturen <strong>und</strong> Funktionen <strong>im</strong> Verlauf der<br />

Entwicklung.<br />

..<br />

Abb. 2.1 Präformation. Eine Zeichnung aus dem<br />

17. Jahrh<strong>und</strong>ert, die ein präformiertes Wesen innerhalb<br />

eines Spermiums zeigt. Diese Zeichnung basiert<br />

auf der Behauptung überzeugter Präformisten, die<br />

be<strong>im</strong> Blick durch das neu erf<strong>und</strong>ene Mikroskop auf<br />

Samenflüssigkeit eine winzige zusammengerollte<br />

Gestalt <strong>im</strong> Kopf des Spermiums zu sehen meinten. Sie<br />

glaubten, dass dieser Miniaturmensch wüchse, nachdem<br />

das Spermium in ein Ei eingedrungen ist. Wie<br />

diese Zeichnung illustriert, müssen wir stets auf der<br />

Hut davor sein, unser Denken so von lieb gewordenen<br />

Vorurteilen best<strong>im</strong>men zu lassen, dass wir sehen,<br />

was wir sehen wollen, <strong>und</strong> nicht, was wirklich vorliegt.<br />

(Aus Moore <strong>und</strong> Persaud 1993, S. 7)<br />

Die antike Vorstellung der Präformation mag uns naiv vorkommen,<br />

wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass unsere historischen<br />

Vorläufer nichts über die Existenz von Zellen <strong>und</strong> Genen oder<br />

über die Verhaltensentwicklung <strong>im</strong> Mutterleib wussten. Viele der


40<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Eileiter<br />

Plazenta<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Eierstock<br />

Fetus<br />

Amnion<br />

Chorion<br />

Nabelschnur<br />

Fruchtwasser<br />

Gebärmutterhalskrebs<br />

9<br />

Vagina<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

Abb. 2.2 Das weibliche Fortpflanzungssystem. Eine vereinfachte Darstellung des weiblichen Fortpflanzungssystems mit einem heranwachsenden Fetus in<br />

der Gebärmutter (Uterus). Die Nabelschnur führt vom Fetus zur Plazenta (Mutterkuchen), die tief in die Uteruswand eingebettet ist. Der Fetus schw<strong>im</strong>mt <strong>im</strong><br />

Fruchtwasser innerhalb der Fruchtblase (Amnion), die von der Zottenhaut (Chorion) umgeben ist<br />

Gehe<strong>im</strong>nisse, die unsere antiken Vorläufer in Erstaunen versetzten,<br />

sind heute geklärt, aber an ihre Stelle sind – wie das in der<br />

Wissenschaft der Regelfall ist – auch wieder neue Rätsel getreten.<br />

Die Befruchtung<br />

Jeder von uns entstand als eine einzige Zelle, die aus der Vereinigung<br />

zweier hochspezialisierter Zellen hervorging – eines<br />

Spermiums vom Vater <strong>und</strong> einer Eizelle von der Mutter. Das<br />

Besondere dieser Ke<strong>im</strong>zellen oder Gameten liegt nicht nur in<br />

ihrer Funktion, sondern auch in der Tatsache, dass sie, verglichen<br />

mit den anderen Körperzellen, jeweils nur das halbe genetische<br />

Material enthalten. Ke<strong>im</strong>zellen werden durch einen<br />

speziellen Prozess der Zellteilung – die Meiose oder Reifeteilung<br />

– produziert, bei dem Eizelle <strong>und</strong> Spermium jeweils nur<br />

23 Chromosomen (einen einfachen, haploiden Satz) erhalten,<br />

während alle anderen Körperzellen 46 Chromosomen (einen<br />

doppelten, diploiden Satz) enthalten. Diese Halbierung ist für<br />

die Fortpflanzung notwendig: Wenn das Ei oder das Spermium<br />

einen vollständigen Chromosomensatz enthielte, könnten sie<br />

nicht verschmelzen, weil keine Zelle mit der doppelten Menge an<br />

genetischem Material überleben kann, sondern exakt 23 Chromosomenpaare<br />

aufweisen muss. Ein wichtiger Unterschied bei<br />

der Bildung dieser beiden Ke<strong>im</strong>zelltypen besteht darin, dass so<br />

gut wie alle Eizellen, die eine Frau jemals in sich trägt, bereits <strong>im</strong><br />

Verlauf ihrer eigenen pränatalen Entwicklung gebildet wurden,<br />

während Männer kontinuierlich <strong>und</strong> in großen Mengen neues<br />

Sperma produzieren.<br />

Gameten – (Ke<strong>im</strong>zellen) Fortpflanzungszellen, d. h. Ei <strong>und</strong> Spermium, die nur<br />

die Hälfte des genetischen Materials aller anderen Körperzellen enthalten.<br />

Meiose – (Reifeteilung) Eine zur Fortpflanzung erforderliche besondere Form<br />

der Zellteilung, bei der Gameten entstehen.<br />

Der Fortpflanzungsprozess beginnt mit der Entlassung einer Eizelle<br />

(der größten Zelle <strong>im</strong> menschlichen Körper) aus einem der<br />

Eierstöcke der Frau in den Eileiter (. Abb. 2.2). Bei der Reise durch<br />

den Eileiter in Richtung Gebärmutter gibt das Ei eine chemische<br />

Substanz ab, die wie eine Art Leuchtfeuer wirkt, ein „Kommthierher!“-Signal,<br />

das die Spermien anzieht. Falls in zeitlicher Nähe<br />

zur Freisetzung einer Eizelle Geschlechtsverkehr stattfindet, wird<br />

die Konzeption (Befruchtung) – die Vereinigung von Eizelle <strong>und</strong><br />

Spermium – möglich. Bei jedem Samenerguss werden nicht weniger<br />

als 500 Millionen Spermien in die Vagina der Frau hineingepumpt.<br />

Jedes Spermium, ein stromlinienförmiges Vehikel für die<br />

Zustellung der männlichen Gene an die Adresse der weiblichen<br />

Eizelle, besteht aus kaum mehr als einem spitzen Kopf, vollgepackt<br />

mit genetischem Material (den 23 Chromosomen), <strong>und</strong> einem langen<br />

Schwanz, der sich schnell bewegt <strong>und</strong> das Spermium durch<br />

das weibliche Fortpflanzungssystem treibt.<br />

Konzeption – (Befruchtung) Die Vereinigung von Eizelle <strong>und</strong> Spermium.<br />

Um als Kandidat für die Einleitung einer Befruchtung infrage zu<br />

kommen, muss ein Spermium etwa 6 h unterwegs sein, bis es die<br />

15–18 cm von der Vagina aufwärts durch die Gebärmutter bis<br />

zum Eileiter hinter sich gebracht hat. Die Ausfallquote auf dieser<br />

Reise ist enorm: Von den vielen Millionen Spermien, die in die


Pränatale Entwicklung<br />

41 2<br />

Vagina gelangen, schaffen es nur etwa 200, überhaupt in die Nähe<br />

der Eizelle zu gelangen (. Abb. 2.3). Für diese hohe Versagensrate<br />

gibt es viele Gründe. Einige Ausfälle unterliegen dem Zufall:<br />

Viele Spermien verheddern sich mit anderen Spermien, die in der<br />

Vagina umherirren, <strong>und</strong> andere haben sich einfach nur für den<br />

falschen Eileiter „entschieden“ (für den, der gerade keine Eizelle<br />

bereithält). Andere Ausfälle haben mit Problemen der Spermien<br />

selbst zu tun: Ein beträchtlicher Anteil der Spermien weist starke<br />

genetische oder andere Defekte auf, weshalb diese Spermien nicht<br />

in der Lage sind, sich kraftvoll genug vorwärtszubewegen, um das<br />

Ei zu erreichen <strong>und</strong> zu befruchten. Jedes einzelne Spermium, das<br />

es tatsächlich bis zur Eizelle geschafft hat, ist mit ziemlich großer<br />

Wahrscheinlichkeit ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> in bester Konstitution; damit<br />

tritt ein darwinistischer Ausleseprozess des survival of the fittest<br />

(„Überleben des am besten Angepassten“) zutage, der bei der Befruchtung<br />

wirksam wird. ▶ Exkurs 2.2 beschreibt die Folgen dieses<br />

Selektionsprozesses für die Zeugung von Männern <strong>und</strong> Frauen.<br />

Sobald der Kopf eines Spermiums in die äußere Membran der<br />

Eizelle eindringt, versiegelt eine chemische Reaktion die Membran,<br />

was andere Spermien am Eindringen hindert. Der Schwanz des<br />

Spermiums fällt ab, der Inhalt des Kopfes ergießt sich in die Eizelle,<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Lauf einiger St<strong>und</strong>en verschmelzen die Nuclei (Zellkerne)<br />

der beiden Zellen. Die befruchtete Eizelle, die Zygote, besitzt jetzt<br />

einen vollständigen Satz des menschlichen Genmaterials, die eine<br />

Hälfte von der Mutter <strong>und</strong> die andere Hälfte vom Vater. Die erste<br />

der drei Phasen der pränatalen Entwicklung (. Tab. 2.1) hat begonnen,<br />

<strong>und</strong> das Ganze wird, wenn alles gut verläuft, etwa neun Monate<br />

andauern (durchschnittlich 38 Wochen oder 266 Tage).<br />

Zygote – Eine befruchtete Eizelle.<br />

Entwicklungsprozesse<br />

Bevor wir den Verlauf der pränatalen Entwicklung beschreiben,<br />

müssen wir kurz vier wichtige Entwicklungsprozesse skizzieren,<br />

die der Umwandlung von der Zygote in einen Embryo <strong>und</strong> dann<br />

in einen Fetus zugr<strong>und</strong>e liegen. Der erste dieser Prozesse ist die<br />

Zellteilung, die als Mitose bezeichnet wird. Innerhalb von etwa<br />

12 h nach der Befruchtung teilt sich die Zygote in zwei gleiche<br />

Teile, die beide einen vollständigen Satz des genetischen Materials<br />

enthalten. Diese beiden Zellen teilen sich wieder, sodass<br />

vier Zellen entstehen, daraus werden acht Zellen, <strong>und</strong> so weiter.<br />

Durch die fortgesetzte Zellteilung <strong>im</strong> Verlauf von 38 Wochen<br />

wird aus der kaum sichtbaren Zygote ein Neugeborenes, das aus<br />

Billionen von Zellen besteht.<br />

Embryo – Bezeichnung für den sich entwickelnden Organismus von der dritten<br />

bis zur achten Woche der pränatalen Entwicklung.<br />

Fetus – Bezeichnung für den sich entwickelnden Organismus von der neunten<br />

Schwangerschaftswoche bis zur Geburt.<br />

Mitose – Zellteilung, bei der zwei identische Tochterzellen entstehen.<br />

..<br />

Abb. 2.3 Spermien nähern sich der Eizelle. Von den Millionen Spermien,<br />

die sich zusammen auf den Weg machen, gelangen nur einige wenige in<br />

die Nähe der Eizelle, der größten <strong>und</strong> einzigen menschlichen Zelle, die mit<br />

bloßem Auge sichtbar ist. Spermien gehören zu den kleinsten Körperzellen.<br />

(© Lennart Nilsson/TT)<br />

Ein zweiter wichtiger Prozess, der während der embryonalen<br />

Phase auftritt, ist die Zellmigration, die Wanderung neu gebildeter<br />

Zellen von ihrem Ausgangspunkt an eine andere Stelle <strong>im</strong><br />

Embryo. Zu den vielen migrierenden Zellen gehören die Neurone<br />

<strong>im</strong> Cortex, der äußeren Schicht des Gehirns. Diese Zellen<br />

entstehen tief <strong>im</strong> Inneren des embryonalen Gehirns <strong>und</strong> wandern<br />

dann, wie Pioniere, die neues Gebiet erschließen, in die<br />

äußeren Regionen des sich entwickelnden Gehirns.<br />

Der dritte für die weitere pränatale Entwicklung entscheidende<br />

Prozess ist die Zelldifferenzierung. Am Anfang sind alle<br />

embryonalen Zellen gleichwertig <strong>und</strong> wechselseitig austauschbar:<br />

Keine dieser sogenannten embryonale Stammzellen hat ein festgelegtes<br />

Schicksal oder eine festgelegte Funktion. Nach mehreren<br />

Zellteilungen fangen die Zellen jedoch an, sich zu spezialisieren.<br />

Be<strong>im</strong> Menschen entwickeln sich Stammzellen zu etwa 350 verschiedenen<br />

Zelltypen, die fortan <strong>im</strong> Interesse des Gesamtorganismus<br />

eine best<strong>im</strong>mte Funktion ausüben. (Wegen dieser Flexibilität<br />

stehen sehr frühe embryonale Stammzellen <strong>im</strong> Mittelpunkt des<br />

Interesses unserer modernen Medizinforschung, weil man hofft,<br />

dass sich solche Stammzellen, wenn man sie Patienten nach Verletzungen<br />

oder bei Erkrankungen injiziert, zu ges<strong>und</strong>en Zellen<br />

entwickeln, die die zerstörten oder geschädigten Zellen ersetzen.)<br />

Embryonale Stammzellen – embryonale Zellen, die sich zu jedem Körperzelltyp<br />

entwickeln können.<br />

Der Prozess der Zelldifferenzierung gehört zu den großen Gehe<strong>im</strong>nissen<br />

der pränatalen Entwicklung. Was best<strong>im</strong>mt, da doch<br />

alle Zellen <strong>im</strong> Körper dieselbe genetische Zusammensetzung besitzen,<br />

zu welchem Typ von Zelle sich eine best<strong>im</strong>mte Stammzelle<br />

entwickeln wird? Eine Schlüsseldeterminante ist, welche<br />

Gene in der Zelle „angeschaltet“ werden beziehungsweise zur<br />

Ausprägung gelangen (▶ Exkurs 2.3). Eine weitere best<strong>im</strong>mende<br />

Determinante ist der Ort, an dem eine Zelle zufällig landet, denn<br />

ihre zukünftige Entwicklung wird davon beeinflusst, was in den<br />

benachbarten Zellen vor sich geht.


42<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Exkurs 2.2: Individuelle Unterschiede: Geschlechtsunterschiede von Anfang bis Ende | |<br />

Den sprichwörtlichen Wettstreit zwischen den<br />

Geschlechtern könnte man bereits auf das<br />

Wettrennen der Spermien um die Befruchtung<br />

der Eizelle zurückführen, bei dem die „Jungen“<br />

sehr viel häufiger gewinnen. Die Spermien,<br />

die ein Y-Chromosom besitzen (die genetische<br />

Basis für das männliche Geschlecht), sind<br />

leichter <strong>und</strong> schw<strong>im</strong>men schneller, sodass sie<br />

die Eizelle vor den Spermien erreichen, die ein<br />

X-Chromosom tragen. Im Ergebnis werden auf<br />

100 weibliche Zygoten ungefähr 120 bis 150<br />

männliche Zygoten gezeugt.<br />

Die Mädchen gewinnen den nächsten<br />

großen Wettbewerb – das Überleben. Die<br />

Geburtsquote beträgt nur mehr 106 Jungen<br />

auf 100 Mädchen. Wo sind die fehlenden<br />

Männer geblieben? Anscheinend bricht ihre<br />

Entwicklung viel häufiger vorzeitig ab als bei<br />

Frauen. Auch die Geburt ist für Jungen ein<br />

größeres Risiko; mit 50 % höherer Wahrscheinlichkeit<br />

ist ein Kaiserschnitt nötig. Die erhöhte<br />

Anfälligkeit ist nicht auf das Überleben der<br />

4,5<br />

pränatalen Phase beschränkt. Jungen leiden<br />

überproportional häufiger an Entwicklungsstörungen<br />

wie Sprach-, Lern- <strong>und</strong> Lesestörungen,<br />

an Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom,<br />

geistigem Zurückbleiben <strong>und</strong> Autismus. Die<br />

höhere Anfälligkeit der Männer setzt sich <strong>im</strong><br />

Lebensverlauf fort, wie die Abbildung zeigt.<br />

Pubertierende Jungen sind <strong>im</strong>pulsiver <strong>und</strong><br />

gehen höhere Risiken ein als Mädchen, sie<br />

begehen mit höherer Wahrscheinlichkeit<br />

Selbstmord oder sterben gewaltsam.<br />

Das Überleben liegt <strong>im</strong> Einzelfall nicht <strong>im</strong>mer<br />

in der Hand der Natur. In vielen Gesellschaften,<br />

in der Geschichte wie in der Gegenwart,<br />

erfährt männlicher Nachwuchs höhere Wertschätzung<br />

als weiblicher, <strong>und</strong> Eltern bedienen<br />

sich des <strong>Kindes</strong>mords, um keine Töchter haben<br />

zu müssen. Zum Beispiel waren die Inuit-<br />

Familien in Alaska traditionell auf männliche<br />

Kinder angewiesen, die bei der Jagd auf<br />

Nahrung mithalfen, <strong>und</strong> Mädchen wurden bei<br />

den Inuit früher oft bei der Geburt getötet.<br />

Chinesische Eltern zählen früher wie heute auf<br />

ihre Söhne, die sie <strong>im</strong> hohen Alter versorgen<br />

sollen. Im heutigen China hat die Ein-Kind-<br />

Politik – eine Maßnahme zur Verringerung des<br />

Bevölkerungswachstums, die es Paaren untersagt,<br />

mehr als ein Kind zu bekommen – dazu<br />

geführt, dass viele weibliche Babys getötet,<br />

ausgesetzt oder zur Adoption in westliche Familien<br />

freigegeben werden, um für einen Sohn<br />

Platz zu machen. Ein eher technologischer<br />

Ansatz wird derzeit in Ländern praktiziert, in<br />

denen männlicher Nachwuchs mehr wert ist:<br />

Mithilfe von Schwangerschaftstests wird das<br />

Geschlecht des Fetus best<strong>im</strong>mt, <strong>und</strong> weibliche<br />

Feten werden selektiv abgetrieben. Diese<br />

Fälle illustrieren das in ▶ Kap. 1 beschriebene<br />

Kontextmodell der Entwicklung auf drastische<br />

Weise; sie zeigen, wie kulturelle Werte,<br />

die Politik der jeweiligen Regierung <strong>und</strong> die<br />

verfügbare Technologie die Entwicklungsergebnisse<br />

beeinflussen.<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

Quotient der Zahlen männlicher/weiblicher Verstorbener<br />

4<br />

3,5<br />

3<br />

2,5<br />

2<br />

1,5<br />

01<br />

05<br />

10<br />

Alle Ursachen<br />

Externe Ursachen<br />

Interne Ursachen<br />

15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80<br />

Alter<br />

..<br />

Der Quotient aus der Sterblichkeitsrate<br />

US-amerikanischer Männer <strong>im</strong> Verhältnis zur<br />

Sterblichkeitsrate der Frauen liegt von Geburt<br />

an über dem Wert 1 – Männer sind über die<br />

gesamte Lebensspanne gefährdeter als Frauen.<br />

Der rasche Anstieg in Adoleszenz <strong>und</strong> frühem<br />

Erwachsenenalter – auf bis zu drei männliche<br />

Todesfälle auf einen weiblichen – geht vor allem<br />

auf äußere Einflüsse wie Unfälle, Morde oder<br />

Selbstmorde zurück<br />

19<br />

20<br />

21<br />

..<br />

Tab. 2.1 Phasen der pränatalen Entwicklung<br />

Befruchtung<br />

bis 2 Wochen<br />

Zygote<br />

Beginnt mit der Befruchtung <strong>und</strong> dauert, bis sich die Zygote in der Gebärmutterwand einnistet. Schnelle<br />

Zellteilung.<br />

3. bis 8. Woche Embryo Folgt auf die Einnistung; alle Organe <strong>und</strong> Körpersysteme entwickeln sich stark, <strong>und</strong> zwar durch die Prozesse<br />

der Zellteilung, der Zellmigration, der Differenzierung <strong>und</strong> des Absterbens von Zellen sowie durch hormonelle<br />

Einflüsse.<br />

22<br />

9. Woche<br />

bis Geburt<br />

Fetus<br />

Fortgesetzte Entwicklung der körperlichen Strukturen <strong>und</strong> schnelles Körperwachstum. Steigendes Verhaltensniveau,<br />

sensorische Erfahrung, Lernen.<br />

23


Pränatale Entwicklung<br />

43 2<br />

Exkurs 2.3: Genauer betrachtet: Phylogenetische Kontinuität | |<br />

An verschiedenen Stellen dieses Buches<br />

werden wir Forschungen an Tieren beschreiben,<br />

um etwas über die menschliche<br />

Entwicklung klarzumachen. Damit folgen wir<br />

dem Prinzip der phylogenetischen Kontinuität<br />

– der Ansicht, dass Menschen wegen ihrer<br />

gemeinsamen Evolutionsgeschichte einige<br />

Eigenschaften <strong>und</strong> Entwicklungsprozesse<br />

mit anderen Tieren, insbesondere Säugern,<br />

teilen. Tatsächlich haben Sie die meisten Ihrer<br />

Gene mit Ihrem H<strong>und</strong>, Ihrer Katze oder Ihrem<br />

Hamster gemeinsam.<br />

Die Annahme, dass verhaltens- <strong>und</strong> entwicklungsbezogene<br />

Tiermodelle für das Verständnis<br />

der menschlichen Entwicklung hilfreich<br />

<strong>und</strong> informativ sein können, liegt einer großen<br />

Zahl von Forschungsarbeiten zugr<strong>und</strong>e.<br />

Beispielsweise stammt ein Großteil unseres<br />

Wissens über die Wirkungen von Alkoholkonsum<br />

bei schwangeren Frauen aus der<br />

Forschung an Tieren. Weil man den Verdacht<br />

hatte, dass Alkohol während der Schwangerschaft<br />

das Muster an Defekten verursachen<br />

könnte, das wir heute als Fetales Alkoholsyndrom<br />

oder auch Alkoholembryopathie kennen<br />

(wir kommen in diesem Kapitel noch darauf<br />

zurück; . Abb. 2.11), setzten sie die Feten von<br />

Mäusen <strong>im</strong> Mutterleib exper<strong>im</strong>entell unter<br />

Alkoholeinfluss. Bei der Geburt zeigten die<br />

Tiere dann atypische Gesichtszüge, die den<br />

Gesichtsanomalien von Kindern alkoholabhängiger<br />

Mütter erstaunlich ähnlich waren. Dieser<br />

Sachverhalt bestärkte die Annahme, dass die<br />

gewöhnlich mit Alkoholembryopathie assoziierten<br />

Probleme tatsächlich durch den Alkohol<br />

verursacht sind <strong>und</strong> nicht durch irgendeinen<br />

anderen Faktor.<br />

Zu den faszinierendsten Entdeckungen der<br />

vergangenen Jahre gehört das fetale Lernen,<br />

das später noch ausführlich erläutert wird.<br />

Dieses Phänomen wurde zuerst an der Ratte<br />

nachgewiesen – einem der beliebtesten Lebewesen<br />

für vergleichende Verhaltensforschung.<br />

Um zu überleben, müssen die neugeborenen<br />

Ratten eine milchgebende Brustwarze der<br />

Mutter finden. Woher wissen sie, wo sie suchen<br />

müssen? Die Antwort lautet: Sie suchen nach<br />

etwas, das ihnen vertraut ist. Be<strong>im</strong> Gebären<br />

werden die Brustwarzen an der Unterseite des<br />

Bauches der Rattenmutter mit Fruchtwasser<br />

beschmiert. Der Geruch des Fruchtwassers ist<br />

den Rattenbabys aus ihrer Zeit <strong>im</strong> Mutterleib<br />

vertraut <strong>und</strong> lockt sie dorthin, wo sie hin<br />

müssen – mit ihren Nasen <strong>und</strong> damit ihren<br />

Mündern in die Nähe einer Brustwarze (Blass<br />

1990).<br />

Woher wissen wir, dass der erste Brustwarzenkontakt<br />

der neugeborenen Ratte auf dem<br />

Wiedererkennen des Fruchtwassers beruht?<br />

Als man den Bauch der Rattenmutter von<br />

jeglichem Fruchtwasser reinigte, fanden die<br />

Jungen die Brustwarzen nicht; reinigte man<br />

die Hälfte der Warzen, waren die Jungen von<br />

den ungewaschenen angezogen, an denen<br />

noch Fruchtwasser haftete (Blass <strong>und</strong> Teicher<br />

1980). Ein noch eindrucksvollerer Beleg wurde<br />

ermittelt, indem man dem Fruchtwasser Gerüche<br />

oder Geschmacksstoffe zusetzte – durch<br />

direkte Injektion oder durch Be<strong>im</strong>ischung<br />

<strong>im</strong> Futter der trächtigen Ratte –, denn dann<br />

bevorzugten die Jungen nach der Geburt<br />

diese Aromen (Hepper 1988; Pedersen <strong>und</strong><br />

Blass 1982; Smotherman <strong>und</strong> Robinson 1987).<br />

Exper<strong>im</strong>entelle Nachweise fetalen Lernens<br />

bei Nagetieren lösten eine wissenschaftliche<br />

Suche nach ähnlichen Prozessen bei menschlichen<br />

Feten aus. Und diese Suche war, wie wir<br />

sehen werden, erfolgreich.<br />

..<br />

Aus dem Verhalten von Ratten haben Entwicklungsforscher viel über<br />

die menschliche Entwicklung gelernt. (© Wildlife GmbH/Alamy)<br />

Phylogenetische Kontinuität – Die Vorstellung, dass die Evolutionsgeschichte<br />

von Mensch <strong>und</strong> Tier kontinuierlich verläuft <strong>und</strong> deshalb der Mensch viele Eigenschaften,<br />

Verhalten <strong>und</strong> Entwicklungsprozesse mit anderen Tieren, insbesondere<br />

Säugern, teilt.<br />

Die anfängliche Flexibilität <strong>und</strong> die anschließende Unflexibilität<br />

von Zellen sowie die Bedeutung ihres Ortes lassen sich anschaulich<br />

anhand der klassischen Forschungen mit Froschembryonen<br />

illustrieren. Wenn der Teil eines Froschembryos, der normalerweise<br />

zu einem Auge würde, sehr früh in der Entwicklung<br />

in seinen Bauchbereich eingepflanzt wird, entwickelt sich der<br />

transplantierte Bereich als normaler Teil des Bauches. Obwohl<br />

sich die Zellen anfänglich also am richtigen Ort befanden, um<br />

zu einem Auge zu werden, hatten sie sich noch nicht spezialisiert.<br />

Zu einem späteren Zeitpunkt führt dieselbe Operation zu<br />

einem – einzelnen <strong>und</strong> nicht sehenden – Auge, das <strong>im</strong> Bauch des<br />

Froschembryos angesiedelt ist (Wolpert 1991).<br />

Der vierte Entwicklungsprozess kommt uns normalerweise<br />

nicht als Teil einer Entwicklung in den Sinn – der Tod. Aber<br />

der selektive Tod best<strong>im</strong>mter Zellen ist der „praktisch ständige<br />

Begleiter“ der bereits beschriebenen Entwicklungsprozesse<br />

(Wolpert 1991). Die Rolle dieses genetisch vorprogrammierten<br />

Zelltodes, den man Apoptose nennt, ist an der Entwicklung der<br />

Hand erkennbar: Die Ausbildung der Finger hängt vom Absterben<br />

der Zellen zwischen den Rippen des Handtellers ab. Mit<br />

anderen Worten, für diejenigen Zellen, die aus den Handtellern<br />

selektiv verschwinden, ist der Tod ein Teil des Entwicklungsprogramms.<br />

Apoptose – Programmierter Zelltod.<br />

Zusätzlich zu diesen vier Entwicklungsprozessen müssen wir den<br />

Einfluss der Hormone auf die pränatale Entwicklung betrach-


44<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

ten. Beispielsweise spielen Hormone eine entscheidende Rolle bei<br />

der Geschlechtsdifferenzierung. Jeder menschliche Fetus kann,<br />

ungeachtet seiner Gene, männliche oder weibliche Genitalien<br />

ausbilden. Was die Entwicklung in die eine oder andere sexuelle<br />

Richtung verursacht, ist das Vorhandensein oder Fehlen von Androgenen,<br />

einer Klasse von Hormonen, zu denen auch das Testosteron<br />

gehört. Wenn Androgene vorhanden sind, entwickeln<br />

sich männliche Geschlechtsorgane; ohne Androgene bilden sich<br />

weibliche Geschlechtsorgane heraus. Die Quelle dieser einflussreichen<br />

Hormone ist der männliche Fetus selbst. Um die achte<br />

Woche nach der Befruchtung beginnen die Hoden, Androgene<br />

zu produzieren, <strong>und</strong> diese selbst erzeugte Substanz verändert den<br />

Fetus zeitlebens. Dies ist nur eine von vielen Arten, wie der Fetus<br />

seine eigene Entwicklung beeinflusst.<br />

Wir richten die Aufmerksamkeit nun auf den allgemeinen<br />

Verlauf der pränatalen Entwicklung, der sich aus allen genannten<br />

Einflüssen <strong>und</strong> weiteren Entwicklungsprozessen ergibt.<br />

Früheste Entwicklung<br />

Auf ihrem Weg durch den Eileiter in den Uterus verdoppelt die<br />

Zygote die Anzahl ihrer Zellen etwa zwe<strong>im</strong>al am Tag. Am vierten<br />

Tag nach der Befruchtung formen sich die Zellen zu einer<br />

Hohlkugel, der Ke<strong>im</strong>blase oder Blastozyste, in der sich auf der<br />

einen Seite ein Zellhaufen befindet – die innere Zellmasse, auch<br />

Embryoblast, genannt.<br />

Blastozyste – (Ke<strong>im</strong>blase) Eine Hohlkugel aus Zellen, zu der sich die Zygote um<br />

den vierten Tag ihrer Entwicklung formt.<br />

Innere Zellmasse – (Embryoblast) Der Zellhaufen <strong>im</strong> Inneren der Blastozyste,<br />

aus dem sich schließlich der Embryo entwickeln wird.<br />

Dies ist das Entwicklungsstadium, in dem eineiige Zwillinge<br />

am häufigsten entstehen. Sie gehen aus der Teilung der inneren<br />

Zellmasse in zwei Hälften hervor <strong>und</strong> besitzen somit beide exakt<br />

dieselbe genetische Ausstattung. Im Unterschied dazu entstehen<br />

zweieiige Zwillinge dann, wenn zufällig zwei Eizellen aus dem<br />

Eierstock in den Eileiter entlassen <strong>und</strong> beide befruchtet werden.<br />

Weil sie von zwei verschiedenen Eizellen <strong>und</strong> zwei verschiedenen<br />

Spermien stammen, sind sich zweieiige Zwillinge genetisch<br />

nicht ähnlicher als jedes andere Geschwisterpaar mit denselben<br />

Eltern.<br />

Eineiige Zwillinge – Zwillinge, die aus der Teilung der Zygote in zwei identische<br />

Hälften entstehen, von denen jede genau dieselben Gene hat.<br />

Zweieiige Zwillinge – Zwillinge, die aus zwei Eizellen entstehen, die be<strong>im</strong> gleichen<br />

Eisprung von zwei verschiedenen Spermien befruchtet werden. Zweieiige<br />

Zwillinge st<strong>im</strong>men nur in der Hälfte ihrer genetischen Ausstattung überein.<br />

Zum Ende der ersten Woche nach der Befruchtung findet, sofern<br />

alles gut geht (was nur bei weniger als der Hälfte der entstandenen<br />

Zygoten der Fall ist), ein entscheidendes Ereignis statt – die<br />

Einnistung (Nidation) der Zygote in die Gebärmutterschle<strong>im</strong>haut,<br />

wodurch sie mit Blick auf ihre Ernährung von der Mutter<br />

abhängig wird. Deutlich vor Ende der zweiten Woche hat sich die<br />

Zygote vollständig in die Gebärmutterwand eingebettet.<br />

Nach der Einnistung beginnt der abgekapselte Zellhaufen, sich<br />

weiter zu differenzieren. Die innere Zellmasse wird zum Embryo,<br />

<strong>und</strong> aus dem Rest der Zellen wird ein kunstvolles Unterstützungssystem<br />

aus Fruchtblase <strong>und</strong> Plazenta, das den Embryo dazu befähigt,<br />

sich zu entwickeln. Die innere Zellmasse besteht am Anfang<br />

nur aus einer Schicht, doch <strong>im</strong> Verlauf der zweiten Woche faltet<br />

sie sich zu drei Schichten mit einer jeweils anderen Best<strong>im</strong>mung<br />

<strong>im</strong> Entwicklungsverlauf. Aus der oberen Schicht entstehen das<br />

Nervensystem, die Nägel <strong>und</strong> Zähne, das Innenohr, die Augenlinsen<br />

<strong>und</strong> die äußere Oberfläche der Haut. Die mittlere Schicht<br />

wird am Ende zu Muskeln, Knochen, dem Blutkreislaufsystem,<br />

den inneren Schichten der Haut <strong>und</strong> anderen inneren Organen.<br />

Die untere Schicht entwickelt sich zum Verdauungssystem, zu den<br />

Lungen, dem Harntrakt <strong>und</strong> den Drüsen. Ein paar Tage, nachdem<br />

sich der Embryo in diese drei Schichten ausdifferenziert hat, bildet<br />

sich vom Zentrum der oberen Schicht eine U-förmige Furche nach<br />

unten. Die Falten am oberen Ende der Furche bewegen sich aufeinander<br />

zu <strong>und</strong> verbinden sich, wodurch das Neuralrohr entsteht.<br />

Das eine Ende des Neuralrohres wird anschwellen <strong>und</strong> sich zum<br />

Gehirn entwickeln, <strong>und</strong> der Rest wird zum Rückenmark.<br />

Neuralrohr – Eine U-förmige Furche in der oberen Schicht der sich ausdifferenzierenden<br />

Zellen des Embryos, aus der sich Gehirn <strong>und</strong> Rückenmark entwickeln.<br />

Das Unterstützungssystem, das sich zeitgleich mit dem Embryo<br />

ausformt, ist ausgefeilt <strong>und</strong> für dessen Entwicklung unabdingbar.<br />

Ein lebenswichtiger Teil des Unterstützungssystems ist die<br />

Fruchtblase, eine mit einer klaren, wässrigen Flüssigkeit gefüllte<br />

Membran, in der der Fetus schw<strong>im</strong>mt. Das Fruchtwasser<br />

wirkt auf mehrfache Weise als ein schützender Puffer für den<br />

sich entwickelnden Fetus; zum Beispiel sorgt es für eine relativ<br />

gleichbleibende Temperatur <strong>und</strong> dämpft ruckartige Bewegungen<br />

<strong>und</strong> Stöße ab. Da der Fetus in der Fruchtblase schw<strong>im</strong>mt,<br />

kann er außerdem, wie wir gleich sehen werden, seine kleinen,<br />

schwachen Muskeln relativ ungehindert von den Einflüssen der<br />

Schwerkraft gebrauchen.<br />

Fruchtblase – Die durchsichtige, mit Flüssigkeit gefüllte Membran, die den<br />

Fetus umgibt <strong>und</strong> schützt.<br />

Das zweite Schlüsselelement dieses Unterstützungssystems ist die<br />

Plazenta, ein einzigartiges Organ, das den Austausch von Stoffen<br />

in den Blutkreisläufen der Mutter <strong>und</strong> des Fetus ermöglicht. Die<br />

Plazenta besteht aus einem außerordentlich reichen Netzwerk<br />

von Blutgefäßen, darunter auch ganz winzige, die in das Gewebe<br />

des mütterlichen Uterus hineinreichen <strong>und</strong> zusammengenommen<br />

eine Oberfläche von ungefähr 8 m 2 bilden – das ist etwa<br />

das Stück Straße, das ein Mittelklassewagen einn<strong>im</strong>mt (Vaughn<br />

1996). Die Blutgefäße, die von der Plazenta zum Embryo <strong>und</strong><br />

zurück verlaufen, sind in der Nabelschnur enthalten.<br />

Plazenta – Ein Unterstützungsorgan für den Fetus; es hält die Blutkreislaufsysteme<br />

von Fetus <strong>und</strong> Mutter getrennt, ermöglicht aber als eine halbdurchlässige<br />

Membran den Austausch einiger Stoffe (Sauerstoff <strong>und</strong> Nährstoffe von<br />

der Mutter zum Fetus, Kohlendioxyd <strong>und</strong> Abfallstoffe vom Fetus zur Mutter).<br />

Nabelschnur – Ein Bindegewebsstrang mit Blutgefäßen, die den Fetus mit der<br />

Plazenta verbinden.


Pränatale Entwicklung<br />

45 2<br />

..<br />

Abb. 2.5 Ein fünf- bis sechswöchiger Embryo. (© Biophoto Associates/<br />

Photo Researchers)<br />

..<br />

Abb. 2.4 Ein vier Wochen alter Embryo. (© Lennart Nilsson/TT)<br />

In der Plazenta kommen die Blutkreislaufsysteme der Mutter <strong>und</strong><br />

des Fetus einander extrem nahe, aber die Plazenta verhindert,<br />

dass sich das Blut von beiden vermischt. Die Membran der Plazenta<br />

ist semipermeabel (halbdurchlässig), was bedeutet, dass<br />

manche Stoffe sie nur in einer Richtung durchdringen können,<br />

aber nicht in die andere. Sauerstoff, Nährstoffe, Mineralien <strong>und</strong><br />

manche Antikörper – alles Stoffe, die für den Fetus genauso lebenswichtig<br />

sind wie für uns – werden vom Blut der Mutter zur<br />

Plazenta transportiert. Dann durchqueren sie die Plazenta <strong>und</strong><br />

gelangen in das Blutsystem des Fetus. Abfallprodukte vom Fetus<br />

(z. B. Kohlendioxyd <strong>und</strong> Harnstoff) durchqueren die Plazenta in<br />

umgekehrter Richtung <strong>und</strong> werden vom Blutstrom der Mutter<br />

durch ihre normalen Ausscheidungsprozesse entsorgt.<br />

Die Membran der Plazenta dient auch als Abwehrschranke<br />

gegen eine ganze Reihe von Giftstoffen <strong>und</strong> infektiösen Ke<strong>im</strong>en,<br />

die sich <strong>im</strong> Körper der Mutter befinden können <strong>und</strong> für den Fetus<br />

schädlich oder sogar tödlich wären. Leider ist die semipermeable<br />

Plazenta keine perfekte Barriere, sodass, wie wir noch sehen werden,<br />

eine Vielzahl schädlicher Stoffe durch sie hindurch gelangen<br />

<strong>und</strong> den Fetus angreifen können. Eine weitere Funktion der Plazenta<br />

besteht in der Produktion von Hormonen, einschließlich des<br />

Östrogens, das den mütterlichen Blutzufluss zum Uterus erhöht,<br />

<strong>und</strong> des Progesterons, das Kontraktionen des Uterus, die den Fetus<br />

vorzeitig ausstoßen könnten, unterdrückt (Nathanielsz 1994).<br />

Eine illustrierte Zusammenfassung<br />

der pränatalen Entwicklung<br />

Wichtige Zwischenschritte der pränatalen Entwicklung ab der<br />

vierten Woche sind in . Abb. 2.4, 2.5, 2.6 <strong>und</strong> 2.7 dargestellt, wobei<br />

<strong>im</strong> Text die bedeutsamsten Schritte gesondert hervorgehoben<br />

werden. Die erwähnten Verhaltensweisen des Fetus werden in einem<br />

späteren Abschnitt noch eingehender erörtert. Man beachte,<br />

dass die Entwicklung am Anfang viel schneller vonstattengeht<br />

als in späteren Stadien <strong>und</strong> dass sich die Bereiche in der Nähe<br />

des Kopfes früher entwickeln als die vom Kopf weiter entfernten<br />

Körperbereiche (also Kopf vor Körper, Hände vor Füßen) – eine<br />

allgemeine Tendenz, die als cephalocaudale Entwicklung (vom<br />

Kopf zum Schwanz) bezeichnet wird.<br />

Cephalocaudale Entwicklung – Das Wachstumsmuster der Embryonalentwicklung,<br />

bei dem sich Regionen in Kopfnähe früher entwickeln als weiter vom<br />

Kopf entfernte Körperregionen.<br />

Etwa vier Wochen nach der Befruchtung ist der winzige Körper<br />

des Embryos so stark zusammengekrümmt, dass sich der Kopf<br />

<strong>und</strong> die schwanzartige Struktur am anderen Ende fast berühren<br />

(. Abb. 2.4). Mehrere Merkmale des Gesichts haben ihren Ursprung<br />

in vier Falten vorn am Kopf des Embryos; das Gesicht<br />

entwickelt sich nach <strong>und</strong> nach, indem sich dieses Gewebe bewegt<br />

<strong>und</strong> dehnt, sich Teile davon verbinden <strong>und</strong> andere sich trennen.<br />

Der r<strong>und</strong>e Bereich in der Nähe des oberen Kopfteiles ist die<br />

Stelle, an der sich das Auge bilden wird, <strong>und</strong> der r<strong>und</strong>e graue<br />

Bereich nahe dem hinteren Teil des „Nackens“ ist der Ursprung<br />

des Innenohres. Ein pr<strong>im</strong>itives Herz ist sichtbar; es schlägt bereits<br />

<strong>und</strong> bringt Blut in Umlauf. An der Seite des Embryos kann man<br />

eine Armknospe erkennen; eine Beinknospe, weniger deutlich,<br />

ist ebenfalls vorhanden.<br />

Ein fünf bis sechs Wochen alter Embryo schw<strong>im</strong>mt frei <strong>im</strong><br />

Fruchtwasser (. Abb. 2.5). In der fünften <strong>und</strong> sechsten Woche tritt<br />

eine schnelle Gehirnentwicklung ein, wie man an der vorgewölbten<br />

Stirn sehen kann. Die Anfänge eines Auges sind sichtbar,<br />

auch bildet sich eine Nase. Allmählich erscheinen separate Finger.<br />

Es treten die ersten spontanen Bewegungen auf, wenn der<br />

Embryo seinen Rücken krümmt. Weil der Embryo noch so klein<br />

<strong>und</strong> vom Fruchtwasser umgeben ist, kann die Mutter diese Bewegungen<br />

jedoch nicht wahrnehmen.


46<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

2<br />

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Abb. 2.6 Ein 16 Wochen alter Fetus. (© Lennart Nilsson/TT)<br />

Bei einem neun Wochen alten Fetus n<strong>im</strong>mt der Kopf etwa die<br />

halbe Länge ein. Es bilden sich ansatzweise Augen <strong>und</strong> Ohren.<br />

Alle inneren Organe sind bereits vorhanden, müssen aber meistens<br />

noch weiterentwickelt werden. Die Geschlechtsdifferenzierung<br />

hat begonnen. Es bilden sich Rippen; Ellbogen, Finger <strong>und</strong><br />

Zehen sind entstanden; die Nägel wachsen. Der Fetus reagiert<br />

bereits auf äußere Berührungsreize: Die Berührung einer Seite<br />

des M<strong>und</strong>bereichs verursacht ein Wegdrehen des Kopfes.<br />

In den Wochen elf <strong>und</strong> zwölf sind die Augen fest verschlossen.<br />

Die Finger sind klar voneinander abgegrenzt, <strong>und</strong> die äußeren<br />

Genitalien haben sich entwickelt. Die Bewegungen des Fetus<br />

sind drastisch angestiegen: Die Brust macht Atembewegungen,<br />

<strong>und</strong> einige Reflexe – greifen, schlucken, saugen – sind bereits<br />

vorhanden. Die Arme <strong>und</strong> Beine befinden sich in heftiger, fast<br />

permanenter Bewegung, wobei diese Bewegungen des Fetus von<br />

der Mutter <strong>im</strong>mer noch nicht wahrgenommen werden.<br />

In den letzten fünf Monaten der pränatalen Entwicklung<br />

beschleunigt sich das Wachstum der unteren Körperpartien<br />

(. Abb. 2.6). Die Bewegungen des Fetus verstärken sich dramatisch;<br />

der Brustkorb hebt <strong>und</strong> senkt sich be<strong>im</strong> Atmen, <strong>und</strong> einige<br />

Reflexe sind vorhanden: greifen, schlucken, saugen. Den kräftigen<br />

Tritt des 16 Wochen alten Fetus wird die Mutter spüren, aber<br />

nur als ein sanftes „Flattern“. Ein anderer Kamerawinkel würde<br />

zeigen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, denn zu diesem<br />

Zeitpunkt sind die äußeren Genitalien weitgehend entwickelt.<br />

Mit 18 Wochen saugt der Fetus zuweilen an seinem Daumen;<br />

wenn die Hand zufällig den M<strong>und</strong> streift, kann der Fetus mit<br />

einem Saugreflex reagieren. Er ist jetzt mit einer feinen Behaarung<br />

bedeckt, <strong>und</strong> eine fettige Schicht schützt seine Haut vor<br />

dem langen Aufenthalt in Flüssigkeit. In der 20. Woche liegt der<br />

..<br />

Abb. 2.7 Ein 20 Wochen alter Fetus. (© Lennart Nilsson/TT)<br />

Fetus <strong>im</strong>mer längere Zeit mit dem Kopf nach unten. Jetzt sind<br />

einzelne Komponenten des Gesichtsausdrucks vorhanden – der<br />

Fetus kann die Augenbrauen hochziehen, die Stirn runzeln <strong>und</strong><br />

den M<strong>und</strong> bewegen (. Abb. 2.7).<br />

Mit der 28. Woche sind Gehirn <strong>und</strong> Lungen so weit entwickelt,<br />

dass der Fetus, falls er jetzt geboren würde, auch ohne<br />

medizinische Eingriffe eine Überlebenschance besäße. Die Augen<br />

können sich öffnen, <strong>und</strong> sie bewegen sich, insbesondere in<br />

den REM-Schlaf-Phasen (die von schnellen Augenbewegungen<br />

gekennzeichnet sind; REM ist die Abkürzung für rapid eye movement).<br />

Das Hörsystem funktioniert bereits, der Fetus hört Geräusche<br />

<strong>und</strong> reagiert auf viele von ihnen. Die Gehirnwellen eines<br />

Fetus ähneln in diesem Stadium stark denen eines Neugeborenen.<br />

In den letzten drei Monaten der pränatalen Entwicklung<br />

wächst der Fetus dramatisch <strong>und</strong> verdreifacht sein Gewicht. Das<br />

typische Ergebnis dieser neunmonatigen Phase der schnellen<br />

<strong>und</strong> bemerkenswerten Entwicklung ist ein ges<strong>und</strong>er Säugling.<br />

Das Verhalten des Fetus<br />

Wir haben schon erwähnt, dass der Fetus selbst aktiv zur Entwicklung<br />

seines Körpers <strong>und</strong> Verhaltens beiträgt. Tatsächlich<br />

hängt die normale Ausbildung von Organen <strong>und</strong> Muskeln von<br />

fetaler Aktivität ab, <strong>und</strong> der Fetus übt <strong>und</strong> erprobt das Verhaltensrepertoire,<br />

das er bei der Geburt benötigen wird.<br />

Bewegung<br />

Jede Mutter weiß, dass ihr Baby in der Gebärmutter bereits aktiv<br />

war, aber nur wenige sind sich darüber <strong>im</strong> Klaren, wie früh<br />

ihr Kind anfing, sich zu bewegen. Ab der fünften oder sechsten<br />

Woche nach der Befruchtung zeigt der Organismus in seiner Entwicklung<br />

spontane Bewegungen, angefangen mit dem einfachen<br />

Beugen von Kopf <strong>und</strong> Rückgrat, gefolgt von einer Vielzahl zunehmend<br />

komplizierter Bewegungen, die über die nächsten Wo-


Pränatale Entwicklung<br />

47 2<br />

chen hinweg einsetzen (de Vries et al. 1982). Eines der frühesten<br />

klar erkennbaren Verhaltensmuster, das mit etwa sieben Wochen<br />

entsteht, ist – bemerkenswerterweise – der Schluckauf. Warum?<br />

Die Gründe sind zwar bislang unbekannt, aber eine neue Theorie<br />

besagt, dass es sich <strong>im</strong> Wesentlichen um einen Aufstoßreflex handeln<br />

könnte, der den Fetus später befähigt, Luft aus dem Magen<br />

hochzustoßen, was be<strong>im</strong> Saugen nach der Geburt mehr Platz für<br />

die Milch schafft (Howes 2012).<br />

Weiterhin bewegt der Fetus Arme <strong>und</strong> Beine, wackelt mit<br />

den Fingern, umgreift die Nabelschnur, bewegt Kopf <strong>und</strong> Augen,<br />

gähnt, saugt <strong>und</strong> tut anderes mehr. Der Fetus kann seine Lage<br />

in der Gebärmutter durch eine Art von „Rolle rückwärts“ auch<br />

vollständig ändern. Diese vielgestaltigen Bewegungen sind am<br />

Anfang ruckartig <strong>und</strong> unkoordiniert, werden mit der Zeit aber<br />

<strong>im</strong>mer geschmeidiger. In der zwölften Woche sind die meisten<br />

der Bewegungen, die bei der Geburt zu beobachten sind, bereits<br />

aufgetreten (de Vries et al. 1982); die Mutter merkt davon allerdings<br />

noch nichts.<br />

Später dann, wenn die Mütter die Bewegungen ihres Fetus<br />

leicht erspüren können, lassen ihre Berichte erkennen, dass das<br />

Aktivitätsniveau – das Ausmaß, in dem sich ein Fetus bewegt –<br />

über die Zeit hinweg ziemlich gleich bleibt: Manche Feten sind<br />

typischerweise sehr aktiv, während andere eher bewegungsfaul<br />

erscheinen (Eaton <strong>und</strong> Saudino 1992). Vom pränatalen zum<br />

postnatalen Verhalten zeigt sich eine Kontinuität dieser individuellen<br />

Unterschiede: Aktivere Feten sind später auch aktivere<br />

Kleinkinder (DiPietro et al. 1998). Und Feten mit regelmäßigen<br />

Schlaf-Wach-Rhythmen haben als Neugeborene mit ziemlicher<br />

Wahrscheinlichkeit ähnlich regelmäßige Schlafenszeiten (DiPietro<br />

et al. 2002a).<br />

trägt der Durchlauf des Fruchtwassers durch Magen <strong>und</strong> Darm<br />

zur Reifung des Verdauungssystems bei. Das Verschlucken von<br />

Fruchtwasser bereitet den Fetus also auf das Überleben außerhalb<br />

des Mutterleibes vor.<br />

Eine weitere Form fetaler Bewegungen kann als Vorbereitung<br />

auf die Tatsache gesehen werden, dass das Kind bei<br />

der Geburt nur einen Moment Zeit hat, um mit dem Atmen<br />

zu beginnen. Damit das gelingt, müssen die Lungen <strong>und</strong> der<br />

Rest des Atmungssystems, einschließlich der Muskeln, die das<br />

Zwerchfell auf <strong>und</strong> ab bewegen, ausgereift <strong>und</strong> funktionsbereit<br />

sein. Schon von der zehnten Woche an trainiert der Fetus die<br />

Lungen durch „fetales Atmen“ <strong>und</strong> bewegt den Brustkorb auf<br />

<strong>und</strong> ab (Nathanielsz 1994). Natürlich atmet der Fetus keine<br />

Luft ein; vielmehr werden kleine Mengen an Fruchtwasser in<br />

die Lungen eingesogen <strong>und</strong> wieder ausgestoßen. Anders als bei<br />

der nachgeburtlichen Atmung, die permanent erfolgen muss,<br />

tritt das fetale Atmen anfangs nur vereinzelt <strong>und</strong> unregelmäßig<br />

auf, wird allmählich aber <strong>im</strong>mer häufiger <strong>und</strong> stabilisiert sich,<br />

besonders <strong>im</strong> letzten Schwangerschaftsdrittel (Govindan et al.<br />

2007).<br />

Verhaltenszyklen<br />

Wenn sich der Fetus mit fünf, sechs Wochen zu bewegen anfängt,<br />

bleibt er etwa einen Monat lang nahezu ständig in Bewegung.<br />

Dann treten nach <strong>und</strong> nach auch inaktive Phasen auf.<br />

Zyklen von Ruhepausen <strong>und</strong> Aktivität – Salven hoher Aktivität,<br />

die sich mit minutenlangen Phasen geringer oder völlig ausbleibender<br />

Aktivität abwechseln – treten schon mit zehn Wochen<br />

auf <strong>und</strong> werden in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft sehr<br />

beständig (Robertson 1990). In der zweiten Hälfte der pränatalen<br />

Zeit bewegt sich der Fetus nur in etwa 10–30 % der Zeit<br />

(DiPietro et al. 1998).<br />

Es werden auch Verhaltensmuster sichtbar, die sich über längere<br />

Zeitabschnitte erstrecken, wie tägliche (zirkadiane) Rhythmen,<br />

bei denen der Fetus am frühen Morgen weniger aktiv <strong>und</strong><br />

am späteren Abend wieder aktiver ist (Arduini et al. 1995). Das<br />

bestätigt den Eindruck schwangerer Frauen, dass ihr Fetus gerade<br />

dann aufwacht <strong>und</strong> seine Turnübungen beginnt, wenn sie selbst<br />

schlafen gehen wollen.<br />

Zum Ende der Schwangerschaft hin verbringt der Fetus mehr<br />

als drei Viertel seiner Zeit in ruhigen <strong>und</strong> aktiven Schlafzuständen,<br />

die denen von Neugeborenen gleichen (James et al. 1995).<br />

Der aktive Schlafzustand ist durch schnelle Augenbewegungen<br />

(REM) gekennzeichnet, wie dies auch bei Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen<br />

der Fall ist.<br />

..<br />

Mit Ultraschall untersucht die Entwicklungspsychologin Janet DiPietro<br />

die Bewegungen des Fetus dieser Frau. (© Janet Dipietro; mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Genehmigung)<br />

Eine besonders wichtige Form der fetalen Bewegung ist das<br />

Schlucken. Der Fetus trinkt Fruchtwasser, das seinen Magen-<br />

Darm-Trakt durchläuft. Der größte Teil der Flüssigkeit wird dann<br />

wieder in die Fruchtblase ausgeschieden. Ein Vorteil dieser Tätigkeit<br />

besteht darin, dass die Zungenbewegungen, die mit dem<br />

Trinken <strong>und</strong> Schlucken einhergehen, die normale Entwicklung<br />

des Gaumens fördern (Walker <strong>und</strong> Quarles 1976). Zusätzlich<br />

Das Erleben des Fetus<br />

Es gibt die populäre – von allen, vom Gelehrten bis zum Karikaturisten,<br />

für zutreffend gehaltene – Vorstellung, dass wir uns<br />

unser Leben lang nach den friedvollen Tagen <strong>im</strong> Leib unserer<br />

Mutter zurücksehnen. Aber ist der Mutterleib tatsächlich ein Hafen<br />

der Ruhe <strong>und</strong> des Friedens? Der Uterus <strong>und</strong> das Fruchtwasser<br />

schirmen zwar viel von den Reizen, die auf die Mutter einwirken,<br />

vom Fetus ab; doch hat die Forschung deutlich werden lassen,<br />

dass der Fetus eine Fülle an St<strong>im</strong>ulation erfährt.


48<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

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Sicht <strong>und</strong> Berührung<br />

Obwohl es <strong>im</strong> Mutterleib nicht vollständig dunkel ist, sind die<br />

visuellen Erfahrungen des Fetus vermutlich vernachlässigbar. Als<br />

Folge seiner eigenen Aktivität erfährt der Fetus jedoch taktile<br />

St<strong>im</strong>ulation. Bei seinen Bewegungsvorgängen kommt die Hand<br />

des Fetus mit anderen Teilen seines Körpers in Kontakt; man<br />

hat beobachtet, dass Feten ihre Nabelschnur umfassen, ihr Gesicht<br />

reiben <strong>und</strong> am Daumen lutschen. Tatsächlich führt über die<br />

Hälfte aller Armbewegungen von 19 bis 35 Wochen alten Feten<br />

zu einer Berührung von Hand <strong>und</strong> M<strong>und</strong> (Myowa-Yamakoshi<br />

<strong>und</strong> Takeshita 2006). Mit zunehmendem Größenwachstum stößt<br />

der Fetus <strong>im</strong>mer häufiger gegen die Gebärmutterwand. Und am<br />

Ende der Schwangerschaft antwortet der Fetus auf die mütterlichen<br />

Bewegungen (indem er sich mehrfach wiegt <strong>und</strong> schaukelt);<br />

das lässt vermuten, dass auch das vestibuläre System – der<br />

Gleichgewichtsapparat <strong>im</strong> Innenohr, der Informationen zur Bewegung<br />

<strong>und</strong> Lage des eigenen Körpers rückmeldet – bereits vor<br />

der Geburt funktioniert (Lecanuet <strong>und</strong> Jacquet 2002).<br />

Geschmack<br />

Das Fruchtwasser, das der Fetus schluckt, enthält eine Vielzahl von<br />

Geschmacksstoffen (Maurer <strong>und</strong> Maurer 1988). Der Fetus kann<br />

diese Stoffe schmecken <strong>und</strong> mag die einen mehr als die anderen.<br />

Und in der Tat ist der Fetus ein süßes Leckermaul. Die ersten Belege<br />

für Geschmackspräferenzen von Feten stammen aus einer medizinischen<br />

Untersuchung von vor über 60 Jahren (beschrieben bei<br />

Gandelman 1992). Ein Arzt namens DeSnoo dachte sich eine raffinierte<br />

Behandlung für Frauen mit übermäßiger Fruchtwasserbildung<br />

aus. Er injizierte eine süß schmeckende Substanz (Saccharin)<br />

in ihr Fruchtwasser, in der Hoffnung, der Fetus werde der Mutter<br />

aushelfen, indem er erhöhte Mengen an gesüßtem Fruchtwasser<br />

aufn<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> den Überschuss dadurch verringert. Tatsächlich<br />

ergaben Urintests bei den Müttern Hinweise darauf, dass die Feten<br />

mehr Fruchtwasser getrunken hatten, wenn es gesüßt worden<br />

war. Das lässt darauf schließen, dass Geschmacksempfinden <strong>und</strong><br />

Geschmackspräferenzen schon vor der Geburt vorhanden sind.<br />

Geruch<br />

Fruchtwasser n<strong>im</strong>mt auch die Gerüche dessen an, was die Mutter<br />

gegessen hat (Mennella et al. 1995). Das bestätigt, was Geburtshelfer<br />

<strong>im</strong>mer schon berichtet hatten: dass sie bei der Geburt Gerüche<br />

wie Curry oder Kaffee <strong>im</strong> Fruchtwasser wahrnehmen konnten,<br />

wenn die Mütter diese Stoffe kurz zuvor zu sich genommen hatten.<br />

Das menschliche Fruchtwasser hat sich als reich an Geruchsstoffen<br />

erwiesen (wenngleich viele davon nicht sehr anziehend klingen<br />

– manche werden als stechend ranzig oder ziegenartig oder „mit<br />

stark fäkaler Note“ beschrieben; Schaal et al. 1995). Geruch kann<br />

auch durch Flüssigkeiten vermittelt werden, <strong>und</strong> durch die fetale<br />

Atmung kommt das Fruchtwasser mit den Geruchsrezeptoren des<br />

Fetus in Kontakt. Tatsächlich haben wir bereits in ▶ Exkurs 2.3 diskutiert,<br />

wie sich neugeborene Ratten durch den Fruchtwassergeruch<br />

an den mütterlichen Brustwarzen be<strong>im</strong> Saugen leiten lassen.<br />

Hören<br />

Stellen Sie sich seriöse Wissenschaftler vor, die sich über den gewölbten<br />

Unterleib einer schwangeren Frau beugen <strong>und</strong> mit einer<br />

Glocke läuten, einen Gong ertönen lassen, Holzklötze gegeneinander<br />

schlagen oder gar eine Autohupe betätigen (erinnern Sie<br />

sich an den Anfang dieses Kapitels?) – all dies, um festzustellen,<br />

ob der Fetus auf auditive Reize reagiert. Solche Forschungen haben<br />

gezeigt, dass zu den Außengeräuschen, die in der Gebärmutter<br />

hörbar sind, die St<strong>im</strong>men der Menschen gehören, die mit der<br />

Frau sprechen. Dazu umfasst die pränatale Umgebung auch viele<br />

Geräusche, die <strong>im</strong> Inneren der Mutter entstehen – ihr Herzschlag,<br />

ihr Blut, wie es durch die Gefäße gepumpt wird, ihre Atmung, ihr<br />

Schlucken <strong>und</strong> verschiedene weniger schickliche Geräusche, die<br />

ihr Verdauungssystem erzeugt. Ein besonders auffälliger akustischer<br />

Reiz ist der Tonfall der Mutter, wenn sie spricht, wobei die<br />

deutlichsten Aspekte der allgemeine Sprechrhythmus, die St<strong>im</strong>mlage<br />

<strong>und</strong> die Sprachmelodie sowie das Betonungsmuster sind.<br />

Der Fetus reagiert auf diese vielfältigen Geräusche spätestens<br />

ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat. Während des letzten<br />

pränatalen Vierteljahres rufen Außengeräusche Veränderungen<br />

in den Bewegungen <strong>und</strong> der Pulsfrequenz des Fetus hervor (Kisilevsky<br />

et al. 1998; Lecanuet et al. 1995; Z<strong>im</strong>mer et al. 1993).<br />

Wenn der Geburtstermin bevorsteht, kann man Unterschiede <strong>im</strong><br />

Pulsschlag des Fetus beobachten, wenn in der Nähe des Mutterleibes<br />

entweder Musik oder die St<strong>im</strong>me der Mutter dargeboten<br />

wird; diese Veränderungen lassen vermuten, dass der Fetus zwischen<br />

beidem unterscheiden kann (Granier-Deferre et al. 2011).<br />

Außerdem verlangsamt sich die Herzrate des Fetus kurzzeitig,<br />

wenn die Mutter zu sprechen beginnt (Fifer <strong>und</strong> Moon 1995).<br />

(Ein vorübergehend verlangsamter Pulsschlag ist ein Zeichen<br />

von Interesse.) Die ausgiebige pränatale akustische Erfahrung<br />

mit den menschlichen St<strong>im</strong>men hat dauerhafte Wirkungen, die<br />

<strong>im</strong> nächsten Abschnitt diskutiert werden.<br />

Das Lernen des Fetus<br />

Bisher haben wir die vor allem die eindrucksvollen Fähigkeiten des<br />

Fetus in den Bereichen Wahrnehmung <strong>und</strong> Verhalten hervorgehoben.<br />

Noch beeindruckender ist aber das Ausmaß, in dem der<br />

Fetus aus seinen vielfältigen Erfahrungen während der letzten drei<br />

Schwangerschaftsmonate lernt, nachdem das zentrale Nervensystem<br />

ausreichend entwickelt ist, um Lernprozesse zu unterstützen.<br />

Direkte Belege hierfür stammen aus Untersuchungen zur Habituation,<br />

einer der einfachsten Lernformen, die wir kennen (Thompson<br />

<strong>und</strong> Spencer 1966). Habituation zeigt sich an nachlassenden<br />

Reaktionen auf einen wiederholt dargebotenen oder längere Zeit<br />

andauernden Reiz (. Abb. 2.8). Wenn man neben dem Kopf eines<br />

Neugeborenen eine Rassel schüttelt, wird das Baby seinen Kopf<br />

wahrscheinlich dem Geräusch zuwenden. Gleichzeitig kann sich<br />

die Pulsfrequenz des <strong>Kindes</strong> für kurze Zeit senken – ein Zeichen<br />

von Interesse. Wenn man die Rassel jedoch <strong>im</strong>mer wieder betätigt,<br />

wird die Anzahl der Kopfdrehungen seltener, <strong>und</strong> die Veränderungen<br />

der Pulsfrequenz werden geringer. Diese abnehmende<br />

Reaktion ist ein Beleg für Lernen <strong>und</strong> Gedächtnis; nur wenn sich<br />

das Kind über die einzelnen Präsentationen hinweg an den Reiz<br />

erinnert, kann dieser seinen Neuheitswert verlieren. Wenn dann<br />

tatsächlich ein neuartiger Reiz auftritt, steigt die Häufigkeit bzw.<br />

Intensität der zuvor habituierten Reaktionen wieder. So kann das<br />

Klingeln mit einer Glocke die Reaktionen des <strong>Kindes</strong> (Kopfdrehen,<br />

Absenken der Pulsfrequenz) erneut hervorrufen. (Entwick-


Pränatale Entwicklung<br />

49 2<br />

lungspsychologen haben das Phänomen der Habituation ausgiebig<br />

genutzt, um eine Vielzahl von Fragestellungen zu untersuchen;<br />

davon wird in den folgenden Kapiteln mehrmals die Rede sein.)<br />

Stark<br />

Habituation – Eine einfache Form des Lernens, die sich in einer Abnahme der<br />

Reaktion auf wiederholte oder andauernd dargebotene Reize zeigt.<br />

Der früheste Zeitpunkt, zu dem Habituationsreaktionen des Fetus<br />

bislang beobachtet wurden, ist die dritte Schwangerschaftswoche,<br />

was dafür spricht, dass das zentrale Nervensystem nun so<br />

weit entwickelt ist, dass Lernen <strong>und</strong> Kurzzeitgedächtnisleistungen<br />

auftreten können (Dirix et al. 2009).<br />

Die St<strong>im</strong>me der Mutter ist vermutlich für Feten ein besonders<br />

interessanter Reiz, dem sie <strong>im</strong>mer wieder ausgesetzt sind. Sofern<br />

sie vor der Geburt schon etwas über diese St<strong>im</strong>me lernen, könnte<br />

ihnen dies nach der Geburt zu einer Art fliegendem Start be<strong>im</strong><br />

Lernen anderer Aspekte der Sprache verhelfen. Um diese Vermutung<br />

zu testen, untersuchten Kisilevski <strong>und</strong> seine Koautoren (Kisilevski<br />

et al. 2003) Feten am Ende der Schwangerschaft unter zwei<br />

Bedingungen. Die Hälfte der Feten hörte über Lautsprecher, die<br />

auf dem Bauch ihrer Mutter platziert wurden, eine St<strong>im</strong>maufzeichnung,<br />

in der die Mutter ein Gedicht vortrug. Die andere Hälfte<br />

der Feten bekam dasselbe Gedicht zu hören, allerdings in einer<br />

Aufnahme der St<strong>im</strong>me einer anderen Mutter. Die Forscher stellten<br />

fest, dass die Feten auf die St<strong>im</strong>me der eigenen Mutter mit einer<br />

Zunahme der Herzrate reagierten, während sie bei der St<strong>im</strong>me der<br />

anderen Frau eine sinkende Herzrate aufwiesen. Dieser Bef<strong>und</strong><br />

lässt vermuten, dass die Feten die mütterliche St<strong>im</strong>me von einer<br />

fremden St<strong>im</strong>me unterscheiden konnten. Diese Unterscheidung<br />

setzt natürlich voraus, dass sie den Klang der mütterlichen St<strong>im</strong>me<br />

wiedererkennen konnten, also zuvor etwas darüber gelernt hatten.<br />

Erinnern sich Neugeborene an irgendwelche Erfahrungen<br />

aus ihrem Leben als Fötus? Die Antwort ist ein klares Ja. Wie die<br />

neugeborenen Ratten in ▶ Exkurs 2.3 erinnern sich menschliche<br />

Neugeborene an den Geruch des Fruchtwassers, von dem sie vor<br />

der Geburt umgeben waren. Bei einer Untersuchungsreihe wurden<br />

Neugeborenen zwei Wattebäusche dargeboten, die jeweils<br />

mit Fruchtwasser aus der eigenen Fruchtblase bzw. der Fruchtblase<br />

eines anderen Neugeborenen getränkt waren, gleichzeitig<br />

auf beiden Seiten des Kopfes präsentiert. Die Kinder zeigten ihre<br />

Geruchspräferenz dadurch, dass sie ihren Kopf länger dem Wattebausch<br />

zuwandten, der mit ihrer eigenen Fruchtwasserprobe<br />

getränkt war (Marlier et al. 1998; Varendi et al. 2002). Solche<br />

Ergebnisse lassen sich auch für weitere Aromen erzielen, die die<br />

Schwangeren vor der Geburt aufgenommen hatten. Beispielsweise<br />

zeigten Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft Anis<br />

(das Aroma von Lakritz) zu sich genommen hatten, eine Präferenz<br />

für Anis, während Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft<br />

kein Anis zu sich genommen hatten, auf dieses Aroma<br />

neutral oder mit Abwehr reagierten (Schaal et al. 2000).<br />

Pränatale Erfahrungen können auch lang anhaltende Geschmackspräferenzen<br />

hervorrufen. In einer Studie (Mennella<br />

et al. 2001) wurden schwangere Frauen gebeten, gegen Ende<br />

ihrer Schwangerschaft drei Wochen lang an vier Tagen pro Woche<br />

Karottensaft zu trinken. Als ihre Babys <strong>im</strong> Alter von etwa<br />

fünfeinhalb Monaten nach der Geburt getestet wurden, reagierten<br />

sie auf Haferflocken, die mit Karottensaft angerührt waren,<br />

Reaktion<br />

Schwach<br />

Habituation auf<br />

einen wiederholten<br />

Reiz<br />

Wiedereintreten der<br />

Reaktion bei einem<br />

neuartigen Reiz<br />

..<br />

Abb. 2.8 Habituation. Die verminderte Reaktion auf den wiederholt präsentierten<br />

St<strong>im</strong>ulus ist ein Beleg dafür, dass sich eine Erinnerung an ihn gebildet<br />

hat; die erhöhte Reaktion auf den neuartigen Reiz zeigt, dass zwischen<br />

diesem <strong>und</strong> dem vertrauten Reiz unterschieden werden kann. Neuartiges<br />

wird in der Regel bevorzugt<br />

positiver als auf denselben Brei, der mit Wasser zubereitet war.<br />

Die Geschmackspräferenzen dieser Säuglinge spiegelten also<br />

den Einfluss ihrer Erfahrungen <strong>im</strong> Mutterleib mehrere Monate<br />

zuvor wider. Dieser Bef<strong>und</strong> zeigt die anhaltende Wirkung pränatalen<br />

Lernens. Auch wirft er ein Licht auf die Ursprünge <strong>und</strong> die<br />

Durchsetzungskraft kultureller Nahrungspräferenzen. Ein Kind,<br />

dessen Mutter während der Schwangerschaft beispielsweise häufig<br />

scharfe Peperoni, Ingwer <strong>und</strong> Kümmel aß, könnte von Anfang<br />

an gegenüber asiatischen Speisen positiver eingestellt sein als ein<br />

Kind, dessen Mutter sich weniger geschmacksintensiv ernährte.<br />

Ähnlich wie bei Geruch <strong>und</strong> Geschmack erinnern sich Neugeborene<br />

auch an Klänge, die sie <strong>im</strong> Mutterleib gehört haben. In<br />

einer klassischen Untersuchung ließen Anthony DeCasper <strong>und</strong><br />

Melanie Spence (DeCasper <strong>und</strong> Spence 1986) Frauen während<br />

der letzten sechs Wochen ihrer Schwangerschaft zwe<strong>im</strong>al am Tag<br />

aus einem in den USA weit verbreiteten Kinderbuch vorlesen: The<br />

Cat in the Hat von Dr. Seuss (oder aus einem anderen Buch desselben<br />

Autors). Die Feten der Frauen waren also demselben sehr<br />

rhythmischen Muster sprachlicher Laute wiederholt ausgesetzt.<br />

Ob sie die bekannte Geschichte nach der Geburt wiedererkennen<br />

würden, testeten die Forscher an Neugeborenen. Die Säuglinge<br />

wurden mit Minikopfhörern ausgestattet <strong>und</strong> bekamen einen speziellen<br />

Schnuller zum Saugen (. Abb. 2.9). Wenn das Baby mit einer<br />

best<strong>im</strong>mten Frequenz saugte, hörte es über den Kopfhörer die<br />

bekannte Geschichte; saugte es in einer anderen Frequenz, bekam<br />

es eine andere Geschichte zu hören. Schnell passten die Babys ihr<br />

Saugmuster so an, dass sie die bekannte Geschichte hören konnten.<br />

Diese Neugeborenen schienen also diejenige Geschichte zu<br />

erkennen <strong>und</strong> zu bevorzugen, die ihre Mutter ihnen vorgelesen<br />

hatte, als sie sich noch <strong>im</strong> Bauch befanden.<br />

Neugeborene legen auf der Basis ihrer pränatalen Erfahrungen<br />

auch viele akustische Präferenzen an den Tag. Das beginnt<br />

schon damit, dass sie die St<strong>im</strong>me ihrer Mutter lieber hören als<br />

die St<strong>im</strong>me einer anderen Frau (DeCaspar <strong>und</strong> Fifer 1980). Aber<br />

woher wissen die Forscher, dass diese Präferenz nicht auf Erfah-


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Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

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..<br />

Abb. 2.9 Pränatales Lernen. Dieses Neugeborene kann beeinflussen, was es<br />

hört. Sein Schnuller ist an einen Computer angeschlossen, der mit einem Abspielgerät<br />

verb<strong>und</strong>en ist. Wenn das Baby in einem best<strong>im</strong>mten Rhythmus saugt,<br />

dann hört es eine best<strong>im</strong>mte Aufnahme. Wenn es in einem anderen Rhythmus<br />

saugt, hört es eine andere Aufnahme. Mit diesem Verfahren wurden viele Fragen<br />

über frühkindliche Fähigkeiten, zum Beispiel über den Einfluss pränataler<br />

Erfahrung auf die Hörpräferenzen von Neugeborenen beantwortet. (© Melanie<br />

Spence, University of Texas at Dallas; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

rungen unmittelbar nach der Geburt beruht? Es stellte sich heraus,<br />

dass Neugeborene tatsächlich eine Spielart der St<strong>im</strong>me ihrer<br />

Mutter bevorzugen, die durch akustisches Filtern dem vertrauten<br />

Eindruck <strong>im</strong> Mutterleib angepasst worden war (Moon <strong>und</strong> Fifer<br />

1990; Spence <strong>und</strong> Freeman 1996). Außerdem hören Neugeborene<br />

lieber der Sprache zu, die sie <strong>im</strong> Mutterleib gehört hatten, als einer<br />

anderen Sprache (Mehler et al. 1988; Moon et al. 1993). Kinder<br />

französisch sprechender Mütter bevorzugen Französisch gegenüber<br />

Russisch, <strong>und</strong> diese Präsenz zeigt sich auch dann, wenn die<br />

St<strong>im</strong>me so gefiltert wird, dass sie ähnlich wie <strong>im</strong> Mutterleib klingt.<br />

Es bestehen also kaum Zweifel daran, dass der menschliche<br />

Fetus zuhört <strong>und</strong> lernt. Sollten sich die zukünftigen Eltern deshalb<br />

für Programme anmelden, die eine „Förderung des ungeborenen<br />

<strong>Kindes</strong>“ versprechen? Solche Programme halten die werdenden<br />

Mütter dazu an, mit ihrem Fetus zu sprechen, ihm Bücher vorzulesen,<br />

ihm Musik vorzuspielen <strong>und</strong> so weiter. Es gibt sogar den<br />

Vorschlag, der zukünftige Vater solle durch ein Megaphon sprechen,<br />

das er auf den schwangeren Bauch seiner Frau richtet, in der<br />

Hoffnung, dass das Baby auch seine St<strong>im</strong>me <strong>und</strong> nicht nur die der<br />

Mutter erkennt. Haben solche Übungen einen Sinn?<br />

Wahrscheinlich nicht. Es ist zwar durchaus möglich, dass das<br />

deutliche <strong>und</strong> häufige Hören von Vaters St<strong>im</strong>me ein Neugeborenes<br />

veranlasst, diese St<strong>im</strong>me gegenüber unbekannten St<strong>im</strong>men zu bevorzugen,<br />

doch entwickelt sich eine solche Präferenz kurz nach der<br />

Geburt wahrscheinlich ohnehin. Und es ist recht klar, dass einige<br />

der angepriesenen Vorteile des pränatalen Trainings nicht eintreten<br />

werden. Der Entwicklungsstand des Gehirns dürfte bei einem<br />

Fetus kaum ausreichen, um die Sprache <strong>und</strong> ihre Bedeutung in<br />

nennenswertem Umfang zu verarbeiten (selbst Neugeborene lernen<br />

noch keine Wörter). Zudem filtert die Flüssigkeit <strong>im</strong> Mutterleib<br />

die einzelnen Sprachdetails, sodass dort nur noch die Melodie<br />

der St<strong>im</strong>mhöhen <strong>und</strong> das rhythmische Muster ankommen. Selbst<br />

wenn man einmal von der Gehirnentwicklung absieht, dürfte es<br />

die akustische Umgebung, in der jegliche Sicht auf die visuelle Welt<br />

abgeschnitten ist, für den Fetus unmöglich machen, die Bedeutung<br />

von Wörtern mit irgendeiner Art von Faktenwissen zu verknüpfen,<br />

egal wie viel die werdende Mutter ihm auch laut vorlesen mag.<br />

Kurzum, der Fetus wird nur ihre St<strong>im</strong>me <strong>und</strong> das allgemeine Muster<br />

ihres Sprachflusses erkennen lernen – <strong>und</strong> nicht irgendeinen<br />

best<strong>im</strong>mten Bedeutungsgehalt. Wir vermuten, dass der modische<br />

Schrei nach „pränataler Früherziehung“ so enden wird wie andere<br />

wenig durchdachte Ansätze, die frühe Entwicklung zu gestalten.<br />

Risiken der pränatalen Entwicklung<br />

Bislang haben wir uns auf den normalen Entwicklungsverlauf vor<br />

der Geburt konzentriert. Unglücklicherweise verläuft die pränatale<br />

Entwicklung aber nicht <strong>im</strong>mer störungs- <strong>und</strong> fehlerfrei. Das<br />

schl<strong>im</strong>mste <strong>und</strong> zugleich mit Abstand das häufigste Problem ist der<br />

spontane Abort (eine Fehlgeburt). Die meisten spontanen Aborte<br />

treten ganz am Anfang der Schwangerschaft auf, bevor die Frau<br />

überhaupt merkt, dass sie schwanger ist. So fanden Wang et al.<br />

(2003) bei einer Gruppe chinesischer Frauen, dass etwa ein Drittel<br />

der Schwangerschaften mit einem für das Kind tödlichen Abort<br />

endete, wobei zwei Drittel dieser Fehlgeburten eintraten, bevor die<br />

Schwangerschaft klinisch nachweisbar war. Die sehr früh abgegangenen<br />

Embryos wiesen dabei schwerwiegende Missbildungen wie<br />

etwa ein fehlendes oder ein überzähliges Chromosom auf, die die<br />

Weiterentwicklung unmöglich machten. In den USA enden etwa<br />

15 % der klinisch nachgewiesenen Schwangerschaften mit Fehlgeburten<br />

(Rai <strong>und</strong> Regan 2006). Im geburtsfähigen Alter erleben mindestens<br />

25 %, wenn nicht sogar 50 % der Frauen einen oder mehr<br />

Aborte. Wenige Paare sind sich bewusst, wie häufig Fehlgeburten<br />

eintreten, was es <strong>im</strong> Einzelfall nur noch schwerer macht, wenn das<br />

Paar von einer Fehlgeburt betroffen ist. Besonders schl<strong>im</strong>m trifft es<br />

Paare, die bei mehreren aufeinanderfolgenden Schwangerschaften<br />

spontane Aborte erleben (ca. 1 %; Rai <strong>und</strong> Regan 2006).<br />

Die meisten Kinder, die der Gefahr einer Fehlgeburt entgehen,<br />

werden völlig normal geboren. Aber es gibt zahlreiche Faktoren,<br />

die zu unvorhergesehenen Komplikationen führen können.<br />

Genetische Faktoren – die besonders häufige Ursachen von Fehlentwicklungen<br />

darstellen – werden <strong>im</strong> nächsten Kapitel behandelt.<br />

Hier betrachten wir zuvor einige der Umwelteinflüsse, die<br />

sich schädigend auf die pränatale Entwicklung auswirken können.<br />

Umwelteinflüsse<br />

Im Frühjahr 1956 brachte man zwei Schwestern in ein japanisches<br />

Krankenhaus, die in ein Delirium gefallen waren <strong>und</strong> nicht


Pränatale Entwicklung<br />

51 2<br />

mehr laufen konnten. Ihre Eltern <strong>und</strong> die Ärzte rätselten, was den<br />

plötzlichen Verfall der Mädchen verursacht haben könnte, die<br />

zuvor als „die aufgewecktesten, dynamischsten, niedlichsten Kinder,<br />

die man sich nur vorstellen konnte“ galten. Das Ganze wurde<br />

noch mysteriöser, als weitere Kinder <strong>und</strong> Erwachsene annähernd<br />

dieselben Symptome entwickelten. Als man herausfand, dass alle<br />

diese schwerbehinderten Patienten aus dem kleinen Küstenort<br />

Minamata stammten, lag der Verdacht nahe, dass diese „fremdartige<br />

Krankheit“ eine gemeinsame Ursache hatte (Newland <strong>und</strong><br />

Rasmussen 2003; Smith <strong>und</strong> Smith 1975).<br />

..<br />

Opfer der „Minamata-Krankheit“, verursacht durch Quecksilberverseuchung<br />

der Minamata Bay. (© Michael S. Yamashita/Corbis)<br />

Sensible Phase – Eine Zeitspanne, in der ein sich entwickelnder Organismus<br />

besonders anfällig für die Wirkung von äußeren Einflüssen ist; in sensiblen Phasen<br />

reagiert der Fötus am empfindlichsten auf die schädigenden Wirkungen<br />

von Teratogenen.<br />

Für die Bedeutung des Entwicklungszeitpunktes gibt es keine<br />

drastischere oder deutlichere Illustration als den sogenannten<br />

Contergan-Skandal in den 1960er Jahren. Das Beruhigungs<strong>und</strong><br />

Schlafmittel enthielt den Wirkstoff Thalidomid <strong>und</strong> wurde<br />

häufig auch gegen Schwangerschaftserbrechen verschrieben,<br />

denn es galt als sicher <strong>und</strong> konnte sogar rezeptfrei in Apotheken<br />

gekauft werden. Man glaubte damals, dass solche Medikamente<br />

die Plazentaschranke nicht durchdringen könnten. Aber viele<br />

schwangere Frauen, die dieses neue, angeblich sichere Schlafmittel<br />

einnahmen, brachten Babys mit schweren Fehlbildungen<br />

der Gliedmaßen zur Welt. Manche Babys besaßen keine Arme<br />

<strong>und</strong> hatten flossenartige Hände, die direkt aus ihren Schultern<br />

wuchsen. Diese schweren Defekte verdeutlichen auf drastische<br />

Wiese die sensible Phase der Entwicklung von Gliedmaßen,<br />

weil sie nur dann auftraten, wenn die schwangere Frau das Medikament<br />

zwischen der vierten <strong>und</strong> sechsten Woche nach der<br />

Befruchtung eingenommen hatte; das ist die Zeit, in der sich<br />

die Arme <strong>und</strong> Beine, Hände <strong>und</strong> Füße des Fetus herausbilden.<br />

Die Einnahme von Thalidomid hatte jedoch keine schädlichen<br />

Folgen, wenn sie vor Entwicklungsbeginn der Arme <strong>und</strong> Beine<br />

oder nach der Ausbildung der jeweiligen Gr<strong>und</strong>strukturen erfolgt<br />

war.<br />

Die Spur führte schließlich zu Tonnen voller Quecksilber, die eine<br />

örtliche petrochemische <strong>und</strong> Kunststofffabrik in der Minamata-<br />

Bay versenkt hatte. Jahrelang hatten die Einwohner von Minamata<br />

aus dem verschmutzten Wasser der Bucht Fische gefangen, die<br />

Quecksilber in sich aufgenommen hatten, <strong>und</strong> diese verzehrt. Bis<br />

zum Jahr 1993 diagnostizierte man bei über 2000 Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen<br />

die „Minamata-Krankheit“ – eine Methylquecksilbervergiftung<br />

(Harada 1995). Mindestens 40 Kinder waren pränatal<br />

durch den Fisch vergiftet, den ihre schwangeren Mütter verzehrt<br />

hatten, <strong>und</strong> kamen mit Gehirnlähmung, geistiger Behinderung<br />

<strong>und</strong> einer Reihe weiterer neurologischer Störungen zur Welt.<br />

Die Tragödie von Minamata lieferte erste eindeutige Belege<br />

für stark schädigende Wirkung best<strong>im</strong>mter Umweltsubstanzen<br />

auf den sich entwickelnden Fetus. Ein riesiges Aufgebot an<br />

schädlichen Umweltstoffen, Teratogene genannt, können pränatale<br />

Schäden verursachen, die von relativ harmlosen <strong>und</strong> leicht<br />

behebbaren Problemen bis hin zum Tod reichen.<br />

Teratogen – Ein externer Wirkstoff, der während der pränatalen Entwicklung<br />

zu Schädigungen <strong>und</strong> zum Tode führen kann.<br />

Ein entscheidender Faktor für die Schwere der Auswirkungen<br />

potenzieller Teratogene ist der Zeitpunkt ihres Einwirkens, das<br />

sogenannte T<strong>im</strong>ing (eines der gr<strong>und</strong>legenden Entwicklungsprinzipien,<br />

die wir in ▶ Kap. 1 erläutert haben). Viele Teratogene verursachen<br />

nur dann Schädigungen, wenn sie während einer sensiblen<br />

Phase der pränatalen Entwicklung auftreten. Die größeren<br />

Organsysteme sind zu dem Zeitpunkt, zu dem seine Gr<strong>und</strong>strukturen<br />

gebildet werden, besonders störanfällig (. Abb. 2.10).<br />

..<br />

Dieser junge Künstler wurde schon <strong>im</strong> Mutterleib geschädigt: Seine Mutter<br />

nahm das Medikament Contergan. Sie muss den Wirkstoff in der zweiten<br />

Schwangerschaftswoche eingenommen haben, der Zeit, in der sich die Armknospen<br />

entwickeln – ein tragisches Beispiel, das deutlich zeigt, wie bedeutsam<br />

der Einwirkzeitpunkt von Umweltfaktoren auf den sich entwickelnden<br />

Fetus ist. (© Paul Fieves/Bips/Getty Images)<br />

In . Abb. 2.10 kann man erkennen, dass die sensible Phase – <strong>und</strong><br />

damit die Zeit, in der das, was die Mutter tut oder erlebt, die<br />

stärkste teratogene Schädigung hervorrufen kann – bei vielen<br />

Organsystemen vor dem Zeitpunkt liegt, an dem die Frau die


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Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

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Abb. 2.10 Sensible Phasen während der pränatalen Entwicklung. Die sensibelste <strong>und</strong> damit kritischste Phase in der pränatalen Entwicklung ist die Embryonalphase.<br />

In den ersten zwei Wochen, vor der Einnistung in der Gebärmutter, reagiert die Zygote <strong>im</strong> Allgemeinen nicht anfällig auf Umweltfaktoren. Zwischen<br />

der dritten <strong>und</strong> dem Ende der achten Woche entwickeln sich alle großen Organsysteme des Körpers. In der Abbildung bezeichnen die dunkelgrünen Teile der<br />

Streifen die Zeiten der schnellsten Entwicklung, in denen die gravierendsten Defekte ihren Ursprung haben. Die hellgrünen Teile bezeichnen Phasen fortlaufender,<br />

aber langsamerer Weiterentwicklung, in denen mildere Defekte eintreten können. (Nach Moore <strong>und</strong> Persaud 1993)<br />

Schwangerschaft überhaupt bemerkt. Dies ist besonders deshalb<br />

problematisch, weil ein beträchtlicher Anteil aller Schwangerschaften<br />

ungeplant entsteht. Sexuell aktive Menschen <strong>im</strong> gebärfähigen<br />

Alter müssen sich also über die Folgen von Verhaltensweisen klar<br />

sein, mit denen sie die Ges<strong>und</strong>heit eines eventuell empfangenen<br />

<strong>Kindes</strong> beeinträchtigen könnten (z. B. Alkoholkonsum).<br />

Ein weiterer entscheidender Faktor, der die Schwere teratogener<br />

Wirkungen beeinflusst, sind das Ausmaß <strong>und</strong> die Dauer der<br />

Einwirkung – die Dosis-Reaktions-Beziehung. Bei den meisten<br />

Teratogenen hängt die Reaktion von der Dosis ab: Je mehr der<br />

Fetus einem potenziell schädigenden Einfluss ausgesetzt ist, desto<br />

wahrscheinlicher wird ein Defekt eintreten <strong>und</strong> desto schwerwiegender<br />

wird er wahrscheinlich ausfallen.<br />

Dosis-Reaktions-Beziehung – In dem Ausmaß, in dem ein Organismus einem<br />

Wirkfaktor ausgesetzt ist, verstärkt sich dessen Wirkung; in der pränatalen Entwicklung<br />

dürften die Wirkungen umso schwerwiegender sein, je länger <strong>und</strong><br />

stärker der Fetus einem potenziellen Teratogen ausgesetzt ist.<br />

Oft ist es schwierig, Umwelteinflüsse zu vermeiden, die teratogene<br />

Wirkungen haben, weil sich die Teratogene nicht unmittelbar<br />

identifizieren lassen. Ein Gr<strong>und</strong> dafür besteht darin, dass<br />

sie oft in Kombination auftreten, was eine Separierung ihrer<br />

Wirkungen erschwert. Zum Beispiel ist es bei Familien in städtischen<br />

Armutsvierteln schwierig, die Einflüsse von schlechter<br />

Ernährung der werdenden Mutter, Schwermetallen in der Luft,<br />

unzureichender pränataler Vorsorge <strong>und</strong> psychischem Stress<br />

infolge von Arbeitslosigkeit, Partnerlosigkeit <strong>und</strong> kr<strong>im</strong>inellem<br />

Wohnumfeld voneinander zu trennen.<br />

Hinzu kommt, dass das Auftreten mehrerer Faktoren einen<br />

kumulativen Effekt haben kann. Ein best<strong>im</strong>mter Schädigungsfaktor<br />

kann für sich genommen wenig erkennbare Wirkung, in<br />

Kombination mit anderen schädigenden Einflüssen aber doch<br />

Konsequenzen haben. So kann Mangelernährung während der<br />

Schwangerschaft dazu führen, dass sich der Stoffwechsel des Fetus<br />

auf den Mangel an Nährstoffen anpasst <strong>und</strong> sich nach der Geburt<br />

nicht auf eine veränderte Ernährungslage einstellt. Wenn die postnatale<br />

Umgebung reichlich Gelegenheit zur Kalorienaufnahme<br />

bietet, ist der Weg zu Übergewicht <strong>und</strong> Fettleibigkeit vorgezeichnet.<br />

Bei solchen späten Nachwirkungen der pränatalen Erfahrung<br />

spricht man von fetaler Programmierung, weil die Erfahrungen in<br />

der pränatalen Zeit „die physiologischen Eckdaten programmie-


Pränatale Entwicklung<br />

53 2<br />

ren, die den Körper <strong>im</strong> Erwachsenenalter regulieren“ (Coe <strong>und</strong><br />

Lubach 2008).<br />

Die Wirkungen von Teratogenen können auch aufgr<strong>und</strong> individueller<br />

Unterschiede in der genetischen Anfälligkeit (wahrscheinlich<br />

sowohl des Fetus als auch der Mutter) variieren. So<br />

kann eine Substanz, die für die meisten Menschen harmlos ist,<br />

bei einer Minderheit, die eine genetische Empfindlichkeit für<br />

diese Substanz aufweist, Probleme auslösen.<br />

Schließlich wird die Identifikation von Teratogenen auch<br />

durch den schleichenden Verlauf erschwert, wenn die Wirkung<br />

eines Schädigungsfaktors jahrelang nicht sichtbar ist.<br />

Beispielsweise wurde das Hormon Diäthylstilböstrol (DES) in<br />

den 1940er bis 1960er Jahren häufig verschrieben, um Fehlgeburten<br />

zu verhindern – ohne erkennbare Krankheitseffekte bei<br />

den Babys, deren Mütter es eingenommen hatten. Allerdings<br />

wiesen diese Kinder später <strong>im</strong> Jugend- <strong>und</strong> Erwachsenenalter<br />

auffällig hohe Inzidenzraten bei Gebärmutterhalskrebs bzw.<br />

Hodenkrebs auf.<br />

Inzwischen wurde eine enorme Vielzahl potenzieller Teratogene<br />

identifiziert. Hierzu gehören:<br />

-<br />

Drogen <strong>und</strong> Medikamente, z. B. Alkohol, Isotretinoin, Antibabypille<br />

(Sexualhormone), Kokain, Heroin, Marihuana,<br />

Methadon, Tabak,<br />

Umweltgifte, z. B. Blei, Quecksilber, PCBs (polychlorierte<br />

-<br />

Biphenyle),<br />

Krankheiten der Mutter, z. B. AIDS, Windpocken, Chlamydien,<br />

Zytomegalievirus, Gonorrhoe (Tripper), Herpes<br />

s<strong>im</strong>plex (auch genital), Grippe, Mumps, Röteln, Syphilis,<br />

Toxoplasmose.<br />

Schwangerschaftstest machen <strong>und</strong> sichere Verhütungsmittel anwenden.<br />

Die zwei legalen Drogen, die den mit Abstand verheerendsten<br />

Schaden für die Entwicklung von Feten verursachen, sind<br />

Zigaretten (Nikotin) <strong>und</strong> Alkohol.<br />

zz<br />

Nikotin<br />

Wir wissen alle, dass Rauchen für den Konsumenten unges<strong>und</strong><br />

ist, <strong>und</strong> es gibt eine Fülle an Belegen dafür, dass es für den Fetus<br />

einer Raucherin ebenfalls schlecht ist. Wenn eine Schwangere<br />

eine Zigarette raucht, bekommt sie weniger Sauerstoff, <strong>und</strong> das<br />

Gleiche gilt für ihren Fetus. Ein Zeichen dafür besteht darin,<br />

dass der Fetus weniger Atembewegungen macht, nachdem sich<br />

die Mutter eine Zigarette angezündet hat. Außerdem gehen einige<br />

der krebserregenden Stoffe, die <strong>im</strong> Tabak enthalten sind, in<br />

den Stoffwechsel des Fetus über. Und weil die werdende Mutter<br />

den Rauch auch dann inhaliert, wenn jemand anders – beispielsweise<br />

der Vater – in der Nähe raucht, kann sich passives Rauchen<br />

indirekt auf die Sauerstoffversorgung des Fetus auswirken.<br />

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass diese Aufzählung gefährlicher<br />

Stoffe nicht umfassend ist, denn es gibt viele weitere Faktoren in<br />

der Umwelt, die sich negativ auf die Entwicklung eines Fetus oder<br />

auf ein Kind <strong>im</strong> Prozess seiner Geburt auswirken können!<br />

Wir wollen uns hier nur auf einige der häufigsten Faktoren<br />

konzentrieren <strong>und</strong> dabei insbesondere auf jene abheben, die mit<br />

dem Verhalten der schwangeren Frau zu tun haben.<br />

Legale Drogen<br />

zz<br />

Medikamente<br />

Zwar können die meisten verschriebenen <strong>und</strong> rezeptfreien Medikamente<br />

von schwangeren Frauen risikolos eingenommen werden<br />

– aber eben nicht alle. Schwangere Frauen (<strong>und</strong> Frauen, die<br />

Gr<strong>und</strong> zu der Annahme haben, dass sie jetzt oder bald schwanger<br />

werden könnten) sollten Medikamente nur unter ärztlicher Aufsicht<br />

einnehmen. Das gilt besonders für Ges<strong>und</strong>heitsnotstände<br />

wie bei der 2009 durch das Virus H1N1 ausgelösten Schweinegrippe,<br />

bei der viele Ärzte sich fragten, ob eine Behandlung mit<br />

den üblichen Grippevakzinen oder dem Schmerzmittel Paracetamol<br />

bei Schwangeren angemessen sei (Rasmussen 2012). Andere<br />

verschreibungspflichtige Medikamente, die Frauen <strong>im</strong> gebärfähigen<br />

Alter häufig einnehmen, enthalten teratogene Wirkstoffe<br />

– wie beispielsweise das fruchtschädigende Isotretinoin in Aknemitteln<br />

(Accutane) –, die schwere Geburtsschäden oder sogar<br />

den Tod des Fetus verursachen können. Wegen des eindeutigen<br />

Zusammenhangs des Wirkstoffs mit Geburtsschäden fordern<br />

Ärzte, bevor sie das Mittel verschreiben, dass die Frauen einen<br />

..<br />

Eines ist klar: Diese Frau gefährdet die Ges<strong>und</strong>heit ihres Fetus. (© Jose<br />

Manuel Gelpi/fotolia.com)


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Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

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Exkurs 2.4: Anwendungen: Maßnahmen gegen den plötzlichen Kindstod | |<br />

Für Eltern gibt es nichts Entsetzlicheres als den<br />

Tod ihres <strong>Kindes</strong>. Menschen, die zum ersten<br />

Mal Eltern werden, jagt das Gespenst des<br />

plötzlichen Kindstods (sudden infant death<br />

syndrome, SIDS) besondere Angst ein. Mit<br />

diesem Begriff bezeichnet man den Tod eines<br />

noch nicht einjährigen <strong>Kindes</strong>, das scheinbar<br />

ohne erkennbare Ursache plötzlich stirbt. Ein<br />

typischer Verlauf wäre, dass ein scheinbar<br />

kernges<strong>und</strong>es Baby zwischen zwei <strong>und</strong> fünf<br />

Monaten für die Nacht in sein Bettchen gelegt<br />

<strong>und</strong> am Morgen tot aufgef<strong>und</strong>en wird. Obwohl<br />

der plötzliche Kindstod selten ist, sterben<br />

in den USA von 10.000 lebend geborenen<br />

Kindern <strong>im</strong> ersten Lebensjahr 56 – diese<br />

Mortalität bei Säuglingen unter einem Jahr<br />

ist höher als bei allen anderen Todesursachen<br />

zusammengenommen (Task Force on Sudden<br />

Infant Death Syndrome 2011). Bis in die<br />

1990er Jahre starben in Deutschland 1,8 von<br />

1000 Kindern am plötzlichen Kindstod, aber <strong>im</strong><br />

Jahr 2004 war die Rate bereits auf zirka 0,5 von<br />

1000 gesunken (Bajanowski <strong>und</strong> Poets 2004).<br />

Die Gründe für den plötzlichen Kindstod sind<br />

noch nicht völlig geklärt; Lewis Lipsitt (2003)<br />

vermutet, dass am plötzlichen Kindstod eine<br />

inadäquate Reflexantwort auf eine Verdeckung<br />

von M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Nase beteiligt sein könnte,<br />

genauer gesagt, die Unfähigkeit, etwas zu<br />

entfernen oder wegzuschieben, das die Luftzirkulation<br />

stört. Lipsitt ist der Ansicht, dass Säuglinge<br />

zwischen zwei <strong>und</strong> fünf Monaten vom<br />

plötzlichen Kindstod besonders bedroht sind,<br />

weil dies die Zeit ist, in der gelernte Verhaltensweisen,<br />

die von höheren Gehirnregionen<br />

(dem cerebralen Cortex) gesteuert werden,<br />

zunehmend die neonatalen Reflexe ersetzen,<br />

für die tiefer liegende Regionen <strong>im</strong> Stammhirn<br />

zuständig sind. Ein schwindender <strong>und</strong> desorganisierter<br />

Reflex könnte Kleinkinder in dieser<br />

Übergangsphase unfähiger machen, den Kopf<br />

von einem erstickenden Kissen wegzuwenden<br />

oder eine Decke vom Gesicht zu schieben.<br />

Bajanowski <strong>und</strong> Peots (2004) nennen für<br />

Deutschland das Schlafen in Bauchlage,<br />

Rauchen während der Schwangerschaft <strong>und</strong><br />

Stillverzicht als bekannte Risikofaktoren.<br />

Selten ereignet sich der plötzliche Kindstod <strong>im</strong><br />

ersten Lebensmonat. Die Hälfte aller Sterbefälle<br />

ist für die folgenden sechs Lebensmonate<br />

dokumentiert, wobei das Max<strong>im</strong>um zwischen<br />

dem zweiten <strong>und</strong> vierten Lebensmonat liegt.<br />

Jungen sind etwas häufiger betroffen als Mädchen<br />

(60:40). Die meisten Säuglinge sterben<br />

in den Wintermonaten. Der Tod tritt stets <strong>im</strong><br />

Schlaf <strong>und</strong> mit erhöhter Wahrscheinlichkeit in<br />

den frühen Morgenst<strong>und</strong>en ein. Ob das Kind<br />

<strong>im</strong> eigenen Bettchen liegt oder bei den Eltern<br />

schläft, spielt keine Rolle.<br />

Trotz der Ungewissheit über die Gründe des<br />

plötzlichen Kindstodes ergeben sich aus den<br />

Forschungsbef<strong>und</strong>en konkrete Maßnahmen,<br />

mit denen Eltern das Risiko ihrer Babys senken<br />

können. Die wichtigste lautet: Ein Baby soll<br />

be<strong>im</strong> Schlafen auf dem Rücken liegen. Das<br />

reduziert die Möglichkeit, dass etwas seine<br />

Atmung behindert. Die Forschungsergebnisse<br />

belegen, dass das Schlafen auf dem Bauch<br />

das Risiko eines plötzlichen Kindstodes mehr<br />

als jeder andere Einzelfaktor erhöht (z. B.<br />

Willinger 1995). Kampagnen, bei denen die<br />

Eltern aufgefordert wurden, ihre Kinder in Rückenlage<br />

schlafen zu lassen, haben zu einem<br />

enormen Rückgang der plötzlichen Kindstode<br />

beigetragen.<br />

..<br />

Auf dem Rücken schlafen. Die Eltern dieses<br />

Säuglings folgen dem guten Rat zur Vorbeugung<br />

gegen den plötzlichen Kindstod, was in<br />

Deutschland <strong>und</strong> den USA zu einer Halbierung<br />

des Auftretens solcher Fälle geführt hat. (Task<br />

Force on Sudden Infant Death Syndrome 2011;<br />

siehe auch die Website Gemeinsame Elterninitiative<br />

Plötzlicher Säuglingstod e. V.; www.sids.<br />

de) (© Adam Borkowski/fotolia.com)<br />

Eine weitere Maßnahme zur Verringerung<br />

des Risikos lautet: Eltern sollen nicht rauchen.<br />

Wenn sie schon rauchen, dann nicht <strong>im</strong><br />

Umfeld ihres Babys. Säuglinge, deren Mütter<br />

während der Schwangerschaft <strong>und</strong>/oder nach<br />

der Geburt rauchten, fallen dem plötzlichen<br />

Kindstod 3 1/2-mal so oft zum Opfer wie Babys<br />

aus Nichtraucherhaushalten (Anderson et al.<br />

2005). Zudem sollten Kinder auf einer festen<br />

Matratze ohne Kissen schlafen. Weiches Betten<br />

der Kinder kann die Luft um das Gesicht<br />

des <strong>Kindes</strong> herum einkapseln, was das Baby<br />

seinen eigenen Kohlendioxidausstoß statt<br />

frischen Sauerstoffs einatmen lässt. Weiterhin<br />

sollten Säuglinge nicht in viele Decken oder<br />

Kleidungsstücke eingepackt werden. Zu warm<br />

angezogen oder zugedeckt zu sein, scheint<br />

ebenfalls einen ungünstigen Faktor be<strong>im</strong><br />

plötzlichen Kindstod darzustellen. Schließlich<br />

scheint das Stillen das Risiko des frühen Kindstodes<br />

zu senken (z. B. Hauck et al. 2011). Aber<br />

wodurch kann das Stillen die Kinder schützen?<br />

Ein möglicher Gr<strong>und</strong> wäre, dass gestillte Babys<br />

nach dem Schlaf leichter in einen aufmerksamen<br />

Wachzustand kommen als Flaschenkinder<br />

<strong>und</strong> deshalb eher bemerken, wenn die Luft<br />

knapp wird (Horne et al. 2004).<br />

Eine unvorhergesehene Folge der Kampagne,<br />

das Kind auf dem Rücken schlafen zu lassen,<br />

war, dass Säuglinge heutzutage ein wenig<br />

später zu krabbeln beginnen als frühere Generationen,<br />

vermutlich wegen der selteneren<br />

Gelegenheit, ihre Muskeln zu trainieren, indem<br />

sie sich von der Matratze hochstemmen. Man<br />

ermuntert die Eltern nun, ihre Babys be<strong>im</strong><br />

Spielen auf dem Bauch zu beaufsichtigen,<br />

damit sie ihre Muskeln in den Tagesst<strong>und</strong>en<br />

trainieren.<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Die Hauptfolgen des mütterlichen Rauchens für den Fetus sind<br />

verlangsamtes Wachstum <strong>und</strong> geringes Geburtsgewicht, die<br />

beide die Ges<strong>und</strong>heit des Neugeborenen gefährden. Darüber hinaus<br />

gibt es Hinweise darauf, dass Rauchen mit einem erhöhten<br />

Risiko für den plötzlichen Kindstod (▶ Exkurs 2.4) <strong>und</strong> außerdem<br />

mit einer Vielzahl von Problemen wie geringerem IQ, Hörschäden<br />

<strong>und</strong> Krebs in Zusammenhang steht.<br />

Trotz der bestens dokumentierten negativen Effekte des mütterlichen<br />

Rauchens auf die fetale Entwicklung rauchen ungefähr<br />

10 % der Frauen in den USA während ihrer Schwangerschaft<br />

(Centers for Disease Control and Prevention 2013; Child Trends<br />

2012). Bei den Frauen, die während der Schwangerschaft das<br />

Rauchen aufgeben, gibt es eine hohe Rückfallquote; innerhalb der<br />

ersten sechs Monate nach der Geburt fangen 50 % dieser Frauen<br />

wieder an zu rauchen.<br />

Wie eine Studie des Deutschen Krebsforschungsinstituts in<br />

Heidelberg (2010) belegt, rauchen in Deutschland r<strong>und</strong> 13 % der<br />

Frauen zu Beginn der Schwangerschaft, <strong>und</strong> r<strong>und</strong> 20 % der Kleinkinder<br />

sind von Passivrauchen betroffen, mit seit einigen Jahren<br />

sinkender Tendenz. Auffällig scheint dabei, dass diese Zahlen<br />

mit der Schichtzugehörigkeit der Frauen variieren – in der Oberschicht<br />

liegt der Prozentsatz deutlich niedriger.<br />

Insgesamt zeigen diese Daten, dass viele Kinder vor ihrer Geburt<br />

einem Teratogen ausgesetzt sind <strong>und</strong> dass noch mehr Kinder<br />

nach ihrer Geburt einer bekannten Ges<strong>und</strong>heitsgefährdung<br />

ausgesetzt werden. Da die schädliche Wirkung des Rauchens<br />

von Schwangeren auf die vorgeburtliche Entwicklung des Fetus<br />

allgemein bekannt ist, überrascht es nicht, dass Frauen, die trotz<br />

Schwangerschaft rauchen, oft auch weniger einfühlsam <strong>und</strong> warmherzig<br />

mit ihren Kleinkindern umgehen (Schuetze et al. 2006).


Pränatale Entwicklung<br />

55 2<br />

..<br />

Abb. 2.11 Auswirkungen des Fetalen Alkoholsyndroms. Dieses Kind einer alkoholkranken Mutter zeigt die Symptome des Fetalen Alkoholsyndroms. Die<br />

charakteristischen Merkmale, die extensiver Alkoholgenuss der Mutter be<strong>im</strong> Kind verursacht, sind Abnormitäten des Gesichts (glatte Oberlippe ohne Nasolabialfalte,<br />

verbreiterte Stupsnase <strong>und</strong> schmale, weit auseinanderstehende Augen) <strong>und</strong> neuropsychologische Defizite (u. a. Störungen der Aufmerksamkeit, des<br />

Lernens <strong>und</strong> des Gedächtnisses). Auf 1000 Kinder kommen nach Schätzungen ein bis drei Fälle von fetalem Alkoholsyndrom. (© Susan Astley, University of<br />

Washington; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

zz<br />

Alkohol<br />

Alkohol gilt als das „verbreitetste menschliche Teratogen“ (Ramados<br />

et al. 2008). Alkoholkonsum der Mutter ist die häufigste<br />

Ursache einer Schädigung des fetalen Gehirns <strong>und</strong> der häufigste<br />

vermeidbare Gr<strong>und</strong> von geistigen Behinderungen <strong>und</strong> Fehlbildungen.<br />

Zwischen 2005 <strong>und</strong> 2010 nahmen in den USA schätzungsweise<br />

7,6 % der Schwangeren Alkohol zu sich (Centers for<br />

Disease Control 2012). Überraschenderweise neigen Frauen mit<br />

kaukasischer Herkunft, die älter als 35 Jahre <strong>und</strong> berufstätig sind,<br />

eher zu Alkoholkonsum als Frauen anderer Herkunft, die unter<br />

24 Jahren oder/<strong>und</strong> arbeitslos sind. Diese Statistik kehrt das übliche<br />

Muster der mütterlichen Teratogenbelastung um, bei dem<br />

werdende Mütter mit geringeren sozioökonomischen Ressourcen<br />

tendenziell höhere Belastungen aufweisen. In Deutschland trinken<br />

nach einer Studie der Charité (Bergmann et al. 2006) 58 %<br />

der Schwangeren während der Schwangerschaft Alkohol, <strong>und</strong> in<br />

jedem Jahr kommen zirka 10.000 Neugeborene mit alkoholbedingten<br />

Schädigungen zur Welt.<br />

Frauen, die vor der Schwangerschaft Alkohol trinken – <strong>und</strong><br />

das sind <strong>im</strong>merhin 50 % der Frauen <strong>im</strong> gebärfähigen Alter –,<br />

werden dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch während der<br />

Schwangerschaft tun. Zum Teil hängt das damit zusammen, dass<br />

in den USA etwa 40 % der betroffenen Frauen erst nach der vierten<br />

Schwangerschaftswoche, wenn die Periode ausbleibt, feststellen,<br />

dass sie ein Kind erwarten. Aber diese ersten Wochen sind für<br />

die Entwicklung des Fetus entscheidend, wie wir gesehen haben.<br />

Wenn eine schwangere Frau Alkohol zu sich n<strong>im</strong>mt, kann der<br />

Alkohol in ihrem Blut die Plazentaschranke überwinden <strong>und</strong> sowohl<br />

in den Blutkreislauf des Fetus als auch in das Fruchtwasser<br />

übertreten. Der Fetus bekommt den Alkohol also einmal direkt<br />

zugeführt <strong>und</strong> ein zweites Mal be<strong>im</strong> Trinken des Fruchtwassercocktails.<br />

Die Alkoholkonzentrationen <strong>im</strong> Blut der Mutter <strong>und</strong><br />

des Fetus gleichen sich schnell an, doch hat der Fetus weniger<br />

Möglichkeiten, den Alkohol durch Stoffwechselprozesse aus seinem<br />

Blut abzubauen, sodass er <strong>im</strong> System des Fetus länger verbleibt.<br />

Zu den sofortigen Verhaltenseffekten des Fetus gehören<br />

veränderte Aktivitätsniveaus <strong>und</strong> abnorme Schreckreflexe (Little<br />

et al. 2002).<br />

Auf lange Sicht kann mütterlicher Alkoholkonsum verschiedene<br />

Formen des fetalen Alkoholsyndroms d. h. einer fetalen<br />

Alkoholembryopathie (FAE) hervorrufen (Sokol et al. 2003), vor<br />

allem wenn der Fetus über längere Zeit hinweg größeren Mengen<br />

an Alkohol ausgesetzt ist. Babys alkoholkranker Frauen kommen<br />

oft mit den Symptomen einer Alkoholembryopathie auf die Welt<br />

(Jacobson <strong>und</strong> Jacobson 2002; Jones <strong>und</strong> Smith 1973; Streissguth<br />

2001; Streissguth et al. 1993). Zu den offensichtlichsten dieser<br />

Symptome gehören deformierte Gesichtszüge, wie sie . Abb. 2.11<br />

zeigt. Zu den auf den ersten Blick weniger erkennbaren Symptomen<br />

der Alkoholembryopathie gehören geistige Retardierung<br />

in unterschiedlichem Ausmaß, Aufmerksamkeitsprobleme <strong>und</strong><br />

Hyperaktivität. Vielen Kindern, die während ihrer pränatalen<br />

Entwicklung großen Mengen an Alkohol ausgesetzt waren <strong>und</strong><br />

ähnliche, aber weniger Symptome zeigen, stellt man die Diagnose<br />

fetale Alkoholeinwirkung (Mattson et al. 1998).<br />

Fetales Alkoholsyndrom – (Alkoholembryopathie, FAE) Die schädigenden Wirkungen<br />

mütterlichen Alkoholkonsums auf den sich entwickelnden Fetus. Zum<br />

Fetalen Alkoholsyndrom gehört eine ganze Reihe von Wirkungen, darunter<br />

Deformierungen des Gesichts oder geistige Behinderung, Aufmerksamkeitsstörungen<br />

<strong>und</strong> Hyperaktivität. Den Begriff „fetale Alkoholeinflüsse“ wendet man<br />

auf Individuen an, die einige, aber nicht alle Symptome des Fetalen Alkoholsyndroms<br />

aufweisen.<br />

Aktuellen Schätzungen der Drogenbeauftragten zufolge werden<br />

in Deutschland jährlich etwa 10.000 Säuglinge mit Schäden ge-


56<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

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10<br />

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20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

boren, die auf Alkoholmissbrauch ihrer Mütter zurückzuführen<br />

sind, wobei etwa 20 % dieser Kinder das Vollbild des fetalen Alkoholsyndroms<br />

aufweisen. Dieses Störungsbild gehört damit zu<br />

den häufigsten bereits bei Geburt nachweisbaren Behinderungen.<br />

Die Dunkelziffer könnte dabei durchaus noch deutlich höher<br />

liegen, weil viele Ärzte die zugehörigen Symptome nicht richtig<br />

diagnostizieren (Mortler 2014).<br />

Selbst moderates Trinken (weniger als ein Glas täglich) kann<br />

während der Schwangerschaft kurz- <strong>und</strong> langfristige negative<br />

Wirkungen auf die Entwicklung ausüben. Dasselbe gilt für gelegentliches<br />

exzessives Trinken (mehr als fünf Gläser; z. B. Hunt<br />

et al. 1995; Sokol et al. 2003). Bei Befragungen von Schwangeren<br />

zu ihrem Alkoholkonsum ergab die Analyse ihrer Angaben, dass<br />

zwischen 2006 <strong>und</strong> 2010 <strong>im</strong> Mittel 1,4 Prozent der Schwangeren<br />

in den USA mindestens einmal während der Schwangerschaft<br />

betrunken waren (Centers for Disease Control 2012). Angesichts<br />

der drastischen potenziellen Folgen von Alkoholmissbrauch <strong>und</strong><br />

der Tatsache, dass keine gefahrlose Höhe des Alkoholkonsums<br />

für Schwangere bekannt ist, sollten werdende Mütter Alkohol<br />

wohl besser ganz vermeiden.<br />

Illegale Drogen<br />

Schätzungsweise 4 % aller schwangeren Frauen weltweit nehmen<br />

verbotene Drogen wie Marihuana, Kokain, Ecstasy <strong>und</strong> Methamphetamin<br />

(U.S. Department of Health and Human Services 2006)<br />

zu sich. Fast alle gängigen illegalen Drogen haben sich für die pränatale<br />

Entwicklung als gefährlich erwiesen oder stehen zumindest<br />

in einem entsprechenden Verdacht. Es ist nicht ganz einfach, die<br />

Schädlichkeit der einzelnen Substanzen genau zu best<strong>im</strong>men, weil<br />

Schwangere, die eine illegale Substanz konsumieren, oft mehrere<br />

unterschiedliche Drogen nehmen, rauchen <strong>und</strong> Alkohol konsumieren<br />

(Frank et al. 2001; Lester 1998; Smith et al. 2006).<br />

Pränataler Kontakt mit Marihuana (der am häufigsten konsumierten<br />

illegalen Droge, auch in Deutschland) steht <strong>im</strong> Verdacht,<br />

nach der Geburt das Gedächtnis, die Lernprozesse <strong>und</strong> den Gesichtssinn<br />

zu schädigen (Fried <strong>und</strong> Smith 2001; Mereu et al.<br />

2003). Kokain in seinen verschiedenen Darreichungsformen ist<br />

bei amerikanischen Frauen <strong>im</strong> gebärfähigen Alter die zweithäufigste<br />

illegale Droge (Substance Abuse and Mental Health Services<br />

Administration 2011). Erste Berichte, denen zufolge der mütterliche<br />

Kokainkonsum verheerende Wirkungen nach sich zieht,<br />

erwiesen sich als übertrieben; doch hat man Kokainkonsum mit<br />

verzögertem Größenwachstum des Fetus <strong>und</strong> mit Frühgeburt<br />

in Zusammenhang gebracht (Hawley <strong>und</strong> Disney 1992; Singer<br />

et al. 2002). Außerdem ist bei Neugeborenen <strong>und</strong> älteren Kindern<br />

von Kokainabhängigen die Fähigkeit beeinträchtigt, Erregung<br />

<strong>und</strong> Aufmerksamkeit angemessen zu steuern (z. B. DiPietro<br />

et al. 1995; Lewkowicz et al. 1998). Besonders erschreckend sind<br />

die Fälle von Neugeborenen kokainabhängiger Mütter, die wie<br />

Suchtkranke einen Entzug durchmachen müssen (Kuschel 2007).<br />

Längsschnittstudien zur Entwicklung von Kindern Kokain<br />

konsumierender Mütter berichten über anhaltende, wenngleich<br />

manchmal nur subtile kognitive <strong>und</strong> soziale Defizite (Lester<br />

1998). Diese Defizite lassen sich bis zu einem gewissen Grad ausgleichen;<br />

das zeigen die verbesserten Leistungen von Kindern,<br />

die in unterstützende Mittelschichtfamilien adoptiert wurden<br />

(Koren et al. 1998).<br />

Umweltverschmutzung<br />

Der Körper <strong>und</strong> das Blut der meisten Amerikaner (einschließlich<br />

Frauen <strong>im</strong> gebärfähigen Alter) enthalten eine schädliche Mixtur<br />

aus toxischen Metallen, synthetischen Hormonen <strong>und</strong> diversen<br />

Bestandteilen von Kunststoffen, Pestiziden <strong>und</strong> Herbiziden, die<br />

teratogen sein kann (Moore 2003). Als ein Nachklang der Minamata-Krankheit<br />

verdichteten sich die Belege, dass Mütter, deren<br />

Speiseplan viel Fisch aus dem Michigan-See enthielt, Kinder mit<br />

kleinen Köpfen zur Welt brachten. Der Michigan-See weist einen<br />

hohen PCB-Spiegel auf (PCBs sind polychlorierte Biphenyle –<br />

Industriegifte mit ähnlicher Wirkung wie Pestizide). Die Kinder<br />

mit dem höchsten pränatalen PCB-Kontakt hatten noch elf Jahre<br />

später etwas geringere Intelligenzwerte (Jacobson <strong>und</strong> Jacobson<br />

1996; Jacobson et al. 1992). In China hat die rasante Modernisierung<br />

neben dem wirtschaftlichen Erfolg auch eine Kehrseite, die<br />

die allgemeine Ges<strong>und</strong>heit betrifft <strong>und</strong> zu einem dramatischen<br />

Anstieg von umweltbedingten Schädigungen bei Neugeborenen<br />

geführt hat, weil die Umweltverschmutzung durch unregulierte<br />

Kohleverbrennung, Einleiten von Schadstoffen ins Wasser <strong>und</strong><br />

die Anwendung von Pestiziden enorm gestiegen ist (z. B. Ren<br />

et al. 2011).<br />

Gefahren am Arbeitsplatz<br />

Viele Frauen führen Tätigkeiten aus, die sie mit einer Vielzahl<br />

an potenziell schädlichen Stoffen in Kontakt bringen. Die Kassiererinnen<br />

an Autobahnzahlstellen beispielsweise sind Auspuffgasen<br />

in hoher Konzentration ausgesetzt; in der Landwirtschaft<br />

sind es Pestizide <strong>und</strong> in den Fabriken zahlreiche Chemikalien.<br />

Wie . Abb. 2.12 zeigt, kann sogar Lärm die fetale Entwicklung<br />

nachteilig beeinflussen. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer bemühen<br />

sich darum, schwangere Frauen vor potenziellen Teratogenen zu<br />

schützen, ohne sie von best<strong>im</strong>mten Berufsgruppen völlig auszuschließen<br />

<strong>und</strong> damit beruflich zu diskr<strong>im</strong>inieren.<br />

Mütterseitige Faktoren<br />

Best<strong>im</strong>mte Merkmale der werdenden Mutter selbst können die<br />

pränatale Entwicklung beeinflussen; schließlich stellt sie die unmittelbarste<br />

Umgebung für ihren Fetus dar. Dazu gehören Alter,<br />

Ernährungsstand, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Stress.<br />

Alter<br />

Bei einer Schwangerschaft hat unter anderem das Alter der<br />

Schwangeren Auswirkungen auf das Kind. Babys, die von 15-jährigen<br />

<strong>und</strong> jüngeren Mädchen geboren werden, sterben drei- bis<br />

viermal so oft vor ihrem ersten Geburtstag wie Babys, deren<br />

Mütter zwischen 23 <strong>und</strong> 29 Jahre alt sind (Phipps et al. 2002).<br />

Allerdings ist die hohe Schwangerschaftsrate von Teenagern in<br />

den USA in den letzten Jahren rückläufig <strong>und</strong> fiel 2010 auf ein<br />

Rekordtief von 34 Geburten unter 1000 Frauen <strong>im</strong> Alter von weniger<br />

als 20 Jahren (Hamilton et al. 2011).<br />

Besorgniserregend ist seit Kurzem auch das steigende Alter<br />

der Erstgebärenden, das auf zwei Faktoren zurückzuführen<br />

ist: Viele Frauen in den Dreißigern <strong>und</strong> Vierzigern haben den<br />

Kinderwunsch zugunsten der Karriere aufgeschoben; <strong>und</strong> man<br />

hat verbesserte Verfahren entwickelt, die kinderlose Paare be<strong>im</strong><br />

Empfangen <strong>und</strong> Austragen von Kindern unterstützen. Ältere<br />

Schwangere tragen ein höheres Risiko, sowohl was sie selbst als


Pränatale Entwicklung<br />

57 2<br />

Prozentsatz der Kinder mit 10-Dezibel-Schwerhörigkeit<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

erkennen, wobei die Schwere der Auswirkung davon abhing,<br />

wie früh <strong>im</strong> Verlauf der Schwangerschaft die Mutter nichts oder<br />

zu wenig zu essen hatte. Mütter, die lediglich in den letzten Monaten<br />

ihrer Schwangerschaft an Mangelernährung litten, bekamen<br />

meistens kleine, untergewichtige Babys mit kleinem Kopfumfang.<br />

Die Babys von Müttern, die sich schon ab den ersten<br />

Schwangerschaftsmonaten nur ungenügend ernähren konnten,<br />

waren oft sehr klein <strong>und</strong> wiesen schwerere körperliche Schädigungen<br />

auf.<br />

0<br />

65–75 dB 75–85 dB 85–95 dB<br />

Lärmbelästigung während der Schwangerschaft<br />

..<br />

Abb. 2.12 Schwerhörigkeit bei Kindern, deren Mütter während der<br />

Schwangerschaft in lauten Fabriken arbeiteten. Je größer der Lärm, dem eine<br />

schwangere Frau ausgesetzt war, desto schl<strong>im</strong>mer die Hörbehinderung ihres<br />

<strong>Kindes</strong>. (Aus Lalande et al. 1986)<br />

auch was das Baby anbelangt; Chromosomenanomalien be<strong>im</strong> Fetus<br />

(▶ Kap. 3) <strong>und</strong> Komplikationen bei der Geburt gehören dazu.<br />

Ernährung<br />

In allen seinen Ernährungsbedürfnissen ist der Fetus auf seine<br />

Mutter angewiesen. Wenn sich eine schwangere Frau nicht angemessen<br />

ernährt, kann auch ihr ungeborenes Kind von Mangelerscheinungen<br />

betroffen sein (Pollitt et al. 1996). Eine unzureichende<br />

Versorgung mit spezifischen Nährstoffen oder Vitaminen<br />

kann dramatische Folgen haben. Frauen beispielsweise, die zu<br />

wenig Folsäure bekommen (eine Form des Vitamins B), tragen<br />

ein hohes Risiko, ein Baby mit Neuralrohrdefekt wie Spina bifida<br />

zur Welt zu bringen. Das Gehirnwachstum ist bei allgemeiner<br />

Unterernährung besonders beeinträchtigt: Neugeborene, die <strong>im</strong><br />

Mutterleib unzureichend mit Nährstoffen versorgt waren, haben<br />

tendenziell kleinere Gehirne, die weniger Gehirnzellen enthalten.<br />

Sie sind weniger gut ansprechbar <strong>und</strong> leichter erregbar.<br />

Weil schlechte Ernährung bei verarmten Familien häufiger<br />

auftritt, geht sie oft mit der ganzen Bandbreite anderer Risikofaktoren<br />

einher, die mit der Armut zusammenhängen, sodass<br />

sich ihre Auswirkungen auf die pränatale Entwicklung nur<br />

schwer isolieren lassen (Lozoff 1989; Sigman 1995). In einer<br />

außergewöhnlichen Entwicklungsstudie unter extremen Umständen<br />

konnten die Effekte mangelhafter Ernährung jedoch unabhängig<br />

vom sozioökonomischen Status best<strong>im</strong>mt werden (Stein<br />

et al. 1975). Während des Zweiten Weltkrieges erlebten in Teilen<br />

Hollands Menschen aller Einkommens- <strong>und</strong> Bildungsschichten<br />

eine schwere Hungerperiode. Die Durchsicht der Ges<strong>und</strong>heitsakten<br />

niederländischer Frauen, die in jener Zeit schwanger waren,<br />

ließen einen deutlichen negativen Einfluss der mütterlichen<br />

Ernährungsmängel auf die pränatale Entwicklung ihrer Kinder<br />

..<br />

Diese in Armut lebenden bolivianischen Eltern sorgen sich darum, wie<br />

sie ihre Kinder ernähren sollen – eine weltweit leider nur allzu verbreitete<br />

Situation. (© Javier Teniente/Getty Images)<br />

Krankheit<br />

Die meisten mütterlichen Krankheiten, die <strong>im</strong> Verlauf einer<br />

Schwangerschaft auftreten, wirken sich nicht auf den Fetus aus,<br />

einige aber schon. Zum Beispiel können Röteln <strong>im</strong> Anfangsstadium<br />

einer Schwangerschaft verheerende Auswirkungen auf die<br />

Entwicklung haben, bis hin zu schweren Missbildungen, Gehörlosigkeit,<br />

Blindheit <strong>und</strong> geistiger Behinderung. Jede Frau <strong>im</strong><br />

gebärfähigen Alter, die gegen Röteln nicht <strong>im</strong>mun ist, sollte sich<br />

dagegen <strong>im</strong>pfen lassen, bevor sie schwanger wird.<br />

Sexuell übertragbare Krankheiten, die weltweit auf dem<br />

Vormarsch sind, sind für den Fetus ziemlich gefährlich. Der<br />

Zytomegalievirus, eine Abart des Herpesvirus, den 50–80 % aller<br />

erwachsenen US-Amerikaner <strong>und</strong> Deutschen tragen, bildet<br />

derzeit die häufigste pränatale Infektionsquelle (mit einer Auftretenshäufigkeit<br />

von einer Infektion unter 150 Kindern); dieser<br />

Virus kann das Zentralnervensystem des Fetus schädigen <strong>und</strong><br />

eine ganze Reihe weiterer schwerer Defekte verursachen. Herpes<br />

genitalis kann ebenfalls sehr gefährlich sein: Kommt das Kind<br />

mit offenen Verletzungen <strong>im</strong> Geburtskanal in Kontakt, kann das<br />

zu Blindheit oder sogar zum Tode führen. Eine HIV-Infektion<br />

kann manchmal <strong>im</strong> Mutterleib oder während der Geburt auf den<br />

Fetus übergehen, aber die meisten Babys von HIV-infizierten<br />

oder AIDS-kranken Müttern haben diese Krankheit nicht. Nach<br />

der Geburt kann sie allerdings auch durch das Stillen übertragen<br />

werden, wenngleich neue Studien vermuten lassen, dass die Kohlehydrate<br />

in der Muttermilch vor einer HIV-Infektion schützen<br />

können (Bode et al. 2012).


58<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

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23<br />

Die Belege mehren sich, dass sich Krankheiten der Mutter<br />

auf die Entwicklung von Psychopathologien <strong>im</strong> späteren Leben<br />

des <strong>Kindes</strong> auswirken. Schizophrenie zum Beispiel tritt häufiger<br />

bei Menschen auf, deren Mütter in den ersten drei Monaten ihrer<br />

Schwangerschaft an Grippe erkrankten (Brown et al. 2004). Die<br />

Grippeerkrankung der Mutter könnte mit genetischen oder anderen<br />

Faktoren zusammenwirken <strong>und</strong> so zu dieser psychischen<br />

Störung führen.<br />

Emotionaler Zustand<br />

Seit Jahrh<strong>und</strong>erten sind Menschen davon überzeugt, dass die<br />

Emotionen einer Frau ihren Fetus beeinflussen. Diese Überzeugung<br />

wird nun durch Forschungsergebnisse gestützt (DiPietro<br />

2012). So sind die Feten von Frauen, die von höheren Stressniveaus<br />

während der Schwangerschaft berichten, die ganze Zeit<br />

hindurch körperlich aktiver als die Feten von Frauen, die sich weniger<br />

gestresst fühlten (DiPietro et al. 2002b). Diese erhöhte Aktivität<br />

hängt wahrscheinlich mit den Hormonen Adrenalin <strong>und</strong><br />

Kortisol zusammen, die von der Mutter bei Stress ausgeschüttet<br />

werden (Relier 2001). Die Wirkungen von Stress können nach<br />

der Geburt fortdauern. In einer Studie an über 7000 schwangeren<br />

Frauen <strong>und</strong> ihren Babys hat man untersucht, wie sich Ängstlichkeit<br />

<strong>und</strong> Depressivität der Mütter während der Schwangerschaft<br />

auswirken. Je stärker sich die schwangeren Frauen unter Stress<br />

fühlten, desto häufiger traten bei ihren Kindern <strong>im</strong> Alter von vier<br />

Jahren Verhaltensprobleme auf – darunter Hyperaktivität <strong>und</strong><br />

Aufmerksamkeitsstörungen bei Jungen, Störungen des Sozialverhaltens<br />

bei Mädchen <strong>und</strong> emotionale Probleme bei Jungen<br />

<strong>und</strong> Mädchen (O’Connor et al. 2002). Solche Bef<strong>und</strong>e, die einen<br />

Zusammenhang zwischen mütterlichem Stress vor der Geburt<br />

<strong>und</strong> Verhaltensproblemen der Kinder nach der Geburt belegen,<br />

lassen ebenfalls auf einen Einfluss erhöhter mütterlicher Hormonspiegel<br />

be<strong>im</strong> Stresshormon Cortisol schließen (Susman et al.<br />

2001; Susman 2006).<br />

Wie bei den anderen Teratogenen ist es auch bei der Stresseinwirkung<br />

schwierig, diesen Einflussfaktor von anderen Faktoren<br />

zu trennen, die mit mütterlichem Stress einhergehen. Beispielsweise<br />

ist es sehr wahrscheinlich, dass werdende Mütter,<br />

die während der Schwangerschaft Stress empfinden, auch nach<br />

der Geburt unter Stress stehen. So gesehen könnten Yoga <strong>und</strong><br />

Meditation Wege weisen, wie sich Stress während der Schwangerschaft<br />

reduzieren lässt – zum Nutzen von beiden, Mutter <strong>und</strong><br />

Kind.<br />

In Kürze | |<br />

Die am schnellsten voranschreitende Phase der Entwicklung<br />

beginnt mit der Befruchtung, der Vereinigung von Eizelle <strong>und</strong><br />

Spermium, <strong>und</strong> dauert etwa neun Monate, die sich in drei<br />

Entwicklungsstufen untergliedern lassen – Zygote, Embryo<br />

<strong>und</strong> Fetus. Die pränatale Entwicklung geschieht durch Zellteilung,<br />

Zellmigration, Zelldifferenzierung <strong>und</strong> Zelltod. Alle<br />

großen Organsysteme entwickeln sich weitgehend oder vollständig<br />

zwischen der dritten <strong>und</strong> der achten Woche nach der<br />

Befruchtung – ein Zeitraum, der deshalb eine sensible Phase<br />

für potenzielle Schädigungen durch Umweltgefahren ist.<br />

Die Forschung hat sehr viele Hinweise zum Verhalten <strong>und</strong><br />

Erleben des sich entwickelnden Organismus gesammelt, der<br />

sich fünf bis sechs Wochen nach der Befruchtung zu bewegen<br />

beginnt. Mit einigen Verhaltensweisen trägt der Fetus zu<br />

seiner eigenen Entwicklung aktiv bei; beispielsweise schluckt<br />

er Fruchtwasser <strong>und</strong> führt Atembewegungen aus. Durch<br />

Reize innerhalb <strong>und</strong> außerhalb des Mutterleibes hat der Fetus<br />

ein relativ reiches sensorisches Erleben, <strong>und</strong> diese St<strong>im</strong>ulation<br />

bildet die Gr<strong>und</strong>lage des fetalen Lernens. Mittlerweile wurden<br />

auch für die Zeit nach der Geburt nachhaltige Einflüsse des<br />

fetalen Lernens nachgewiesen.<br />

Viele Umweltfaktoren können die pränatale Entwicklung<br />

negativ beeinflussen; zu den häufigsten Teratogenen in<br />

westlichen Ländern zählen das Rauchen, der Alkoholkonsum<br />

<strong>und</strong> die Umweltverschmutzung. Einflussfaktoren durch die<br />

Mütter (Mangelernährung, Krankheiten, emotionaler Zustand<br />

etc.) können bei der Entwicklung des Fetus <strong>und</strong> des <strong>Kindes</strong><br />

ebenfalls Probleme verursachen. Bei vielen Teratogenen<br />

ist der Zeitpunkt der Einwirkung ausschlaggebend. Wie<br />

folgenschwer schädliche Umweltfaktoren sind, hängt <strong>im</strong> Allgemeinen<br />

davon ab, in welchem Ausmaß <strong>und</strong> wie lange der<br />

Fetus ihnen ausgesetzt war <strong>und</strong> mit wie vielen verschiedenen<br />

negativen Einflüssen ein Fetus fertigwerden muss.<br />

Die Geburtserfahrung<br />

Ungefähr 38 Wochen nach der Befruchtung beginnen die Muskeln<br />

des Uterus zu kontrahieren; das leitet die Geburt des Babys<br />

ein. In der Regel hat das Baby selbst bereits zu diesem Prozess<br />

beigetragen, indem es sich in die normale Position mit abwärts<br />

gerichtetem Kopf gedreht hat. Zusätzlich setzen die heranreifenden<br />

Lungen des Fetus möglicherweise ein Protein frei, das den<br />

Beginn der Wehen auslöst. Die Gebärmutterkontraktionen <strong>und</strong><br />

das Vordringen des Babys durch den Geburtskanal sind für die<br />

Mutter schmerzhaft, sodass man Frauen, die in den Wehen liegen,<br />

oft schmerzstillende Medikamente gibt. Dabei neigen Frauen, die<br />

nach eigenen Angaben während der Schwangerschaft Angst vor<br />

der Geburt hatten, eher dazu, die Schmerzen während der Geburt<br />

durch Periduralanästhesie betäuben zu lassen (Haines et al. 2012).<br />

Diese Schmerzbetäubung kann zwar der Mutter dabei helfen, den<br />

Geburtsprozess besser durchzustehen, sie helfen aber nicht ihrem<br />

Baby. Viele Medikationen zur Geburtshilfe verlangsamen die<br />

Wehen, <strong>und</strong> alles, was die Wehen verlängert, erhöht die Wahrscheinlichkeit<br />

einer fetalen Hypoxie (eines Sauerstoffmangels)<br />

<strong>und</strong> vergrößert damit das Risiko einer Gehirnschädigung.<br />

Ist das Geborenwerden genauso schmerzhaft wie das Gebären?<br />

Es gibt gute Gründe zu bezweifeln, dass die Geburt für das<br />

Baby besonders schmerzhaft ist. Ein einfaches Exper<strong>im</strong>ent kann<br />

hier aufschlussreich sein. Dazu kneife man sich in die Haut am<br />

Unterarm <strong>und</strong> ziehe kräftig daran <strong>und</strong> vergleiche den Schmerz<br />

mit dem Schmerz, der entsteht, wenn man die Hand um den<br />

Unterarm legt <strong>und</strong> so fest wie möglich zusammendrückt. Das<br />

Auseinanderziehen tut weh, das Zusammendrücken nicht. Die<br />

Schmerzen der Mutter stammen daher, dass ihr Gewebe sehr


Die Geburtserfahrung<br />

59 2<br />

..<br />

Abb. 2.13 Schädelplatten.<br />

Der Druck auf den Kopf während<br />

der Geburt kann die voneinander<br />

getrennten Platten des Schädels<br />

übereinanderschieben; der Kopf<br />

verformt sich vorübergehend.<br />

Glücklicherweise korrigiert sich<br />

dies nach der Geburt rasch von<br />

allein. Die „weiche Stelle“, Fontanelle<br />

genannt, ist nichts weiter als eine<br />

zeitweilige Lücke zwischen den einzelnen<br />

Schädelplatten ganz oben<br />

am Kopf des Babys.<br />

stark gedehnt wird, während das Baby nur Druck erfährt. Die<br />

Erfahrungen der beiden Geburtsparteien dürften deshalb kaum<br />

vergleichbar sein (Mauer <strong>und</strong> Maurer 1988). Geburtshilfeprogramme,<br />

die auf der Annahme beruhen, dass die Geburt für<br />

das Neugeborene schmerzhaft <strong>und</strong> traumatisch ist, gehen wahrscheinlich<br />

von falschen Voraussetzungen aus.<br />

Dem Druck, den der Fetus bei der Geburt erfährt, kommen<br />

sogar mehrere wichtige Funktionen zu. Erstens verringert der<br />

Druck vorübergehend den Gesamtumfang des Kopfes, was dem<br />

überproportional großen Kopf dabei hilft, unbeschadet zwischen<br />

den Beckenknochen der Mutter hindurch zu gelangen.<br />

Das ist deshalb möglich, weil der Schädel aus einzelnen Platten<br />

zusammengesetzt ist, die sich während der Geburt leicht<br />

übereinanderschieben können (. Abb. 2.13). Zweitens st<strong>im</strong>uliert<br />

der Druck, der bei der Geburt auf den Kopf des Babys einwirkt,<br />

die Produktion von Hormonen, mit deren Hilfe der Fetus den<br />

leichten Sauerstoffmangel während der Geburt übersteht <strong>und</strong><br />

die Atmung nach der Geburt regelt. Das Zusammendrücken des<br />

kindlichen Körpers presst Fruchtwasser aus den Lungen; dies<br />

bereitet das Neugeborene auf den entscheidenden ersten Atemzug<br />

vor (Lagercrantz <strong>und</strong> Slotkin 1986; Nathanielsz 1994). Der<br />

Geburtsschrei bildet einen sehr wirksamen Mechanismus für den<br />

Blitzstart der Atmung: Ein guter, kräftiger Schrei sorgt nicht nur<br />

für den notwendigen Sauerstoff, sondern öffnet auch die kleinen<br />

Alveolen in den Lungen (die Enden der Bronchialverzweigungen),<br />

was das weitere Atmen erleichtert. Ein wichtiger Nachteil<br />

von Kaiserschnittgeburten (bei denen der Fetus chirurgisch aus<br />

dem Mutterleib herausgeholt wird) ist die höhere Wahrscheinlichkeit<br />

von Atmungsproblemen be<strong>im</strong> Neugeborenen.<br />

Unterschiedliche Geburtspraktiken<br />

Zwar sind die biologischen Aspekte der Geburt überall weitestgehend<br />

identisch; die Geburtspraktiken unterscheiden sich jedoch<br />

enorm. Wie bei vielen anderen Verhaltensweisen des Menschen<br />

kann ein Geburtsvorgang, der in der einen Gesellschaft als normal<br />

oder erstrebenswert angesehen wird, in der anderen als seltsam<br />

<strong>und</strong> abweichend – oder sogar gefährlich – gelten.<br />

Alle Kulturen verfolgen die beiden Ziele, Überleben <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

sowohl der Mutter als auch des <strong>Kindes</strong> sowie die soziale<br />

Integration des neuen Erdenbürgers zu sichern. Gruppen unterscheiden<br />

sich jedoch in der Relation der Wichtigkeit, die sie diesen<br />

Zielen be<strong>im</strong>essen. Eine werdende Mutter auf der Südpazifikinsel<br />

Bali geht davon aus, dass ihr Mann <strong>und</strong> andere Verwandte,<br />

einschließlich der vielleicht bereits vorhandenen Kinder, dem<br />

freudigen Ereignis der Geburt eines neuen <strong>Kindes</strong> beiwohnen<br />

wollen. Ihre weiblichen Verwandten sowie eine Hebamme leisten<br />

<strong>im</strong> Verlauf der Geburt, die zu Hause stattfindet, aktive Hilfe. Da<br />

sie bereits bei vielen Geburten dabei war, weiß die balinesische<br />

Frau, was sie bei einer Geburt zu erwarten hat, auch wenn es ihr<br />

erstes eigenes Kind ist (Diener 2000).<br />

Ein ganz anderes Szenario hat in den USA Tradition; hier<br />

zieht sich die Mutter in den Wehen fast völlig aus ihrem normalen<br />

Leben zurück. In den meisten Fällen geht sie zum Gebären<br />

in ein Krankenhaus, begleitet von nur einem oder einigen<br />

wenigen Menschen, die ihr emotional am nächsten stehen.<br />

Die Geburt wird von medizinischem Personal überwacht, das<br />

sich <strong>im</strong> Allgemeinen aus Fremden zusammensetzt. Anders als<br />

ihr balinesisches Pendant war die typische erstgebärende USamerikanische<br />

Frau vermutlich nie zuvor bei einer Geburt anwesend<br />

<strong>und</strong> hat nicht unbedingt realistische Erwartungen, was<br />

den Geburtsvorgang betrifft. Anders als in den meisten anderen<br />

Gesellschaften besteht für sie eine Wahrscheinlichkeit von 33 %,<br />

dass ihr Kind mit einem Kaiserschnitt aus dem Uterus herausgeholt<br />

wird; der Prozentsatz steigt in den Vereinigten Staaten<br />

seit vielen Jahren ständig an (Martin et al. 2012a). In Deutschland<br />

kamen 2012 r<strong>und</strong> 31 % aller Kinder per Kaiserschnitt auf<br />

die Welt, während es zehn Jahre zuvor noch 24 % waren (de.<br />

statistica.com; Kolip et al. 2014). Der Anstieg der Kaiserschnittgeburten<br />

hat eine Reihe von Gründen, darunter die Zunahme<br />

von Mehrlingsgeburten, die Planbarkeit des Geburtstermins für<br />

Ärzte <strong>und</strong> Eltern, die Rechtssicherheit <strong>im</strong> Hinblick auf Kunstfehlerprozesse<br />

bei einer Fehleinschätzung von Geburtsrisiken,<br />

wenn das Kind auf natürlichem Weg geholt wird (z. B. Yang<br />

et al. 2009).


60<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

2<br />

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..<br />

In Ländern wie Deutschland <strong>und</strong> den Vereinigten Staaten überwiegt das<br />

medizinische Modell der Entbindung. (© Harriet Gans/The Image Works)<br />

..<br />

Diese Hausgeburt in Brasilien ist etwas ganz anderes. Das Baby wird zuhause<br />

geboren <strong>und</strong> vom Vater, dem älteren Bruder <strong>und</strong> von der Großmutter<br />

willkommen geheißen. Mit dabei ein Arzt sowie eine Hebamme. (© Robby<br />

Davis-Floyd; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Der balinesischen Herangehensweise bei der Geburt liegt eine<br />

starke Betonung der sozialen Zielsetzung zugr<strong>und</strong>e, das Neugeborene<br />

sofort in die Familie <strong>und</strong> in die Gemeinschaft zu integrieren;<br />

daraus erklärt sich die Anwesenheit vieler Verwandter <strong>und</strong><br />

Fre<strong>und</strong>e, die Mutter <strong>und</strong> Kind unterstützen. Im Gegensatz dazu<br />

haben die modernen westlichen Gemeinschaften die körperliche<br />

Ges<strong>und</strong>heit von Mutter <strong>und</strong> Kind über alle anderen Belange erhoben.<br />

Der Glaube an die höhere Sicherheit der Geburt in einer<br />

Klinikumgebung hat höheres Gewicht als die daraus resultierende<br />

soziale Isolierung von Mutter <strong>und</strong> Baby.<br />

Die Praktiken haben sich in beiden Gesellschaften etwas geändert.<br />

In den USA <strong>und</strong> Deutschland beachten Ärzte <strong>und</strong> Kliniken<br />

die soziale D<strong>im</strong>ension der Geburt in zunehmendem Maße,<br />

etwa bei ambulanten Geburten mit anschließender häuslicher<br />

Betreuung durch Hebammen. Wie auf Bali ermutigt man die Familienmitglieder<br />

– darunter manchmal sogar die Geschwister des<br />

Neuankömmlings –, dabei zu sein, um die kreißende Mutter zu<br />

unterstützen <strong>und</strong> am Familienereignis teilzuhaben. Immer häufiger<br />

zieht man Hebammen heran, die dafür ausgebildet sind, während<br />

der Wehen <strong>und</strong> der Entbindung sowohl für das emotionale<br />

als auch für das körperliche Wohlbefinden gebärender Frauen zu<br />

sorgen. Diese Verschiebung ging einher mit einer moderateren<br />

Verabreichung von geburtserleichternden Medikamenten, was<br />

die bewusste Beteiligung der Frau an der Geburt erhöht <strong>und</strong> ihre<br />

Fähigkeit vergrößert, mit ihrem Baby in Kontakt zu treten. Hinzu<br />

kommt, dass viele werdende Eltern Geburtsvorbereitungskurse<br />

besuchen, in denen sie etwas von dem Wissen vermittelt bekommen,<br />

das ihre balinesischen Pendants bei ihrer üblichen Anwesenheit<br />

bei Geburten erwerben. Soziale Unterstützung bildet eine<br />

zentrale Komponente dieser Kurse; dem Ehemann oder einer anderen<br />

Unterstützungsperson wird beigebracht, wie sie der Mutter<br />

bei der Geburt helfen kann. Solche Geburtsvorbereitungskurse<br />

sind <strong>im</strong> Allgemeinen nützlich (Lindell 1988), <strong>und</strong> Frauenärzte<br />

empfehlen werdenden Eltern generell die Teilnahme. Zur gleichen<br />

Zeit, in der diese Veränderungen in der westlichen Welt<br />

zu beobachten sind, werden von traditionellen, vorindustriellen<br />

Gesellschaften wie auf Bali in wachsendem Maße die westlichen<br />

Ges<strong>und</strong>heitspraktiken übernommen, um die Überlebensraten<br />

der Neugeborenen zu erhöhen.<br />

In Kürze | |<br />

Die Erforschung des Geburtsprozesses hat gezeigt, dass<br />

viele Aspekte der Erfahrung des Geborenwerdens – einschließlich<br />

des Eingezwängtseins <strong>im</strong> Geburtskanal – adaptiven<br />

Wert besitzen <strong>und</strong> die Überlebenswahrscheinlichkeit<br />

des Neugeborenen erhöhen. In den verschiedenen Kulturen<br />

bestehen zwar große Unterschiede in den Überzeugungen<br />

<strong>und</strong> Praktiken bei der Geburt, aber diese Unterschiede verschwinden<br />

in dem Maße, in dem werdende Mütter Zugang<br />

zu verschiedenen Geburtspraktiken nutzen.<br />

Das Neugeborene<br />

Ein ges<strong>und</strong>es Neugeborenes ist bereit <strong>und</strong> in der Lage, die Geschichte<br />

seiner Entwicklung in einer neuen Umgebung fortzuschreiben.<br />

Das Baby tritt sofort in Interaktion mit der Umwelt,<br />

erk<strong>und</strong>et die körperlichen <strong>und</strong> sozialen Gegebenheiten <strong>und</strong> lernt<br />

etwas darüber. Die Erk<strong>und</strong>ung des unerforschten Territoriums<br />

wird dabei sehr stark von dem Aktivierungszustand beeinflusst,<br />

in dem sich das Baby jeweils befindet.<br />

Aktivierungszustände<br />

Der Begriff Aktivierungszustand bezieht sich auf ein Kontinuum<br />

von Erregungsniveaus, das vom Tiefschlaf bis zu intensiver<br />

Aktivität reicht. Es ist allgemein bekannt, dass unser<br />

Aktivierungszustand die Interaktion mit der Umwelt – was<br />

wir überhaupt bemerken, was wir tun oder lernen, worüber<br />

wir nachdenken – drastisch beeinflusst. Er wirkt sich auch darauf<br />

aus, ob <strong>und</strong> wie andere mit uns interagieren können. Mit<br />

Blick auf die Erfahrungen des Kleinkindes in seiner Umgebung


Das Neugeborene<br />

61 2<br />

..<br />

Abb. 2.14 Aktivierungszustände von Neugeborenen. Diese Abbildung<br />

zeigt die durchschnittlichen Zeitanteile eines 24-St<strong>und</strong>en-Tages, die Neugeborene<br />

westlicher Länder in jedem der sechs Aktivierungszustände verbringen.<br />

Es bestehen beträchtliche individuelle <strong>und</strong> kulturelle Unterschiede, wie<br />

lange sich die Babys in den verschiedenen Zuständen befinden<br />

kommt dem Aktivierungszustand eine noch stärkere Vermittlungsfunktion<br />

zu.<br />

Aktivierungszustand – Erregungsniveau <strong>und</strong> Anteilnahme an der Umwelt,<br />

vom tiefen Schlaf bis zur intensiven Aktivität.<br />

. Abbildung 2.14 zeigt den durchschnittlichen Zeitanteil in einem<br />

24-h-Zyklus, den westliche Neugeborene typischerweise in sechs<br />

Aktivierungszuständen verbringen, vom ruhigen Schlaf bis zum<br />

Schreien. Innerhalb dieses allgemeinen Musters gibt es jedoch<br />

starke individuelle Variationen. Manche Kinder schreien relativ<br />

selten, während andere jeden Tag st<strong>und</strong>enlang schreien; manche<br />

Kinder schlafen deutlich mehr, manche deutlich weniger als<br />

die in . Abb. 2.14 verzeichneten durchschnittlich 16 h. Manche<br />

Kinder verbringen mehr als durchschnittlich 2,5 h <strong>im</strong> Zustand<br />

aufmerksamer Wachheit, in dem sie zwar wenig Aktivität zeigen,<br />

aber ihre Umgebung aufmerksam beobachten. Um ein Gefühl<br />

dafür zu bekommen, wie diese Unterschiede die Interaktion<br />

zwischen Eltern <strong>und</strong> Kind beeinflussen können, stelle man sich<br />

selbst als Elternteil eines Neugeborenen vor, das überdurchschnittlich<br />

viel schreit, wenig schläft <strong>und</strong> wenig Zeit in wacher<br />

Aufmerksamkeit verbringt. Dann stelle man sich den Umgang<br />

mit einem Baby vor, das relativ wenig schreit, gut schläft <strong>und</strong><br />

überdurchschnittlich viel Zeit wach liegt <strong>und</strong> seine Eltern <strong>und</strong><br />

den Rest der Umgebung ruhig betrachtet (. Abb. 2.15). Eindeutig<br />

hätte man mit dem zweitgenannten Baby mehr Gelegenheit zu<br />

angenehmen Interaktionen.<br />

Die beiden Aktivierungszustände des Neugeborenen, um die<br />

sich Eltern besonders viele Gedanken machen, hat man intensiv<br />

erforscht: Schlafen <strong>und</strong> Schreien.<br />

Schlafen<br />

In . Abb. 2.16 sind mehrere wichtige Fakten über den Schlaf <strong>und</strong><br />

seine Entwicklung zusammengefasst; zwei davon sind besonders<br />

bedeutsam. Erstens bedeutet „wie ein Baby zu schlafen“ unter<br />

..<br />

Abb. 2.15 Ruhiger <strong>und</strong> aufmerksamer Wachzustand. Die Eltern dieses ruhigen<br />

aufmerksamen Neugeborenen haben gute Chancen, auf angenehme<br />

Weise mit dem Baby interagieren zu können<br />

anderem, viel zu schlafen; durchschnittlich schlafen Neugeborene<br />

etwa doppelt so lange wie junge Erwachsene. Die Gesamtschlafenszeit<br />

sinkt <strong>im</strong> Verlauf der Kindheit gleichmäßig ab <strong>und</strong><br />

verringert sich, wenn auch langsamer, <strong>im</strong> Verlauf des gesamten<br />

Lebens weiter.<br />

Zweitens ändert sich das Muster von zwei verschiedenen<br />

Schlafzuständen – dem REM-Schlaf <strong>und</strong> dem Non-REM-<br />

Schlaf – mit dem Alter drastisch. Der REM-Schlaf ist ein aktiver<br />

Schlafzustand, der bei Erwachsenen mit Träumen einhergeht<br />

<strong>und</strong> der durch schnelle, ruckartige Augenbewegungen<br />

unter den geschlossenen Lidern gekennzeichnet ist (daher<br />

der Name REM für rapid eye movement, „schnelle Augenbewegung“).<br />

Weitere Kennzeichen des REM-Schlafes sind ein<br />

auffälliges Muster der Gehirnaktivität, Körperbewegungen<br />

<strong>und</strong> ein unregelmäßiges Muster der Puls- <strong>und</strong> Atemfrequenz.<br />

Der Non-REM-Schlaf ist <strong>im</strong> Gegensatz dazu ein ruhiger oder<br />

tiefer Schlafzustand ohne motorische Aktivität oder Augenbewegungen<br />

<strong>und</strong> mit starker, langsamer Regelmäßigkeit von<br />

Gehirnwellen, Atmung <strong>und</strong> Puls. Aus . Abb. 2.16 kann man entnehmen,<br />

dass der REM-Schlaf bei der Geburt ganze 50 % der<br />

Gesamtschlafzeit des Neugeborenen ausmacht. Der Anteil des<br />

REM-Schlafes verringert sich recht schnell auf nur mehr 20 %<br />

<strong>im</strong> Alter von drei oder vier Jahren <strong>und</strong> bleibt für den Rest des<br />

Lebens auf geringem Niveau.<br />

REM-Schlaf – Ein aktiver Schlafzustand mit charakteristischen schnellen, ruckartigen<br />

Augenbewegungen (rapid eye movements) unter den geschlossenen<br />

Lidern, der bei Erwachsenen mit Träumen einhergeht.<br />

Non-REM-Schlaf – Ein ruhiger oder tiefer Schlafzustand ohne motorische<br />

Aktivität <strong>und</strong> ohne Augenbewegungen; Atmungs- <strong>und</strong> Herzfrequenz sowie<br />

Gehirnwellen sind langsam <strong>und</strong> regelmäßig.<br />

Warum verbringen Kleinkinder so viel Zeit <strong>im</strong> REM-Schlaf?<br />

Manche Forscher glauben, dass das zur Entwicklung des visuellen<br />

Systems beiträgt. Das visuelle System des Menschen, einschließlich<br />

der Sehrinde <strong>im</strong> Gehirn, ist auf visuelle St<strong>im</strong>ulation<br />

angewiesen, aber der Fetus erfährt <strong>im</strong> Mutterleib kaum visuelle<br />

St<strong>im</strong>ulation (<strong>im</strong> Gegensatz zur auditiven S<strong>im</strong>ulation, die bereits<br />

in diesem Stadium enorm ist, wie <strong>im</strong> nächsten Abschnitt noch


62<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

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Abb. 2.16 Gesamtschlafzeit <strong>und</strong> Anteile von REM- <strong>und</strong> Non-REM-Schlaf <strong>im</strong> Entwicklungsverlauf. Neugeborene schlafen durchschnittlich 16 h am Tag, davon<br />

etwa die Hälfte <strong>im</strong> REM-Schlaf. Die Gesamtschlafenszeit sinkt während der frühen Kindheit deutlich; das setzt sich <strong>im</strong> weiteren Lebensverlauf abgeschwächt<br />

fort. Vom <strong>Jugendalter</strong> an n<strong>im</strong>mt der REM-Schlaf nur noch etwa 20 % der Gesamtschlafzeit ein. (Nach Roffwarg et al. 1966, <strong>und</strong> einer späteren Korrektur dieser<br />

Autoren; Foto: Bernadette Berg)<br />

deutlich wird). Das Neugeborene verbringt auch unmittelbar<br />

nach seiner Geburt so viel Zeit <strong>im</strong> Schlaf, dass es nicht viel Gelegenheit<br />

zu wachem visuellen Erleben hat. Nach der Autost<strong>im</strong>ulationstheorie<br />

des REM-Schlafes (Roffwarg et al. 1966) trägt<br />

die intern erzeugte Gehirnaktivität während des REM-Schlafes<br />

dazu bei, den natürlichen Mangel an externer St<strong>im</strong>ulation auszugleichen,<br />

<strong>und</strong> erleichtert damit die frühe Entwicklung des<br />

visuellen Systems be<strong>im</strong> Fetus <strong>und</strong> be<strong>im</strong> Neugeborenen. Für die<br />

Autost<strong>im</strong>ulationstheorie spricht der Bef<strong>und</strong>, dass Kleinkinder,<br />

die <strong>im</strong> Wachzustand ein höheres Maß an St<strong>im</strong>ulation erfahren,<br />

<strong>im</strong> Schlaf weniger REM-Aktivität zeigen als Kinder, die<br />

<strong>im</strong> Wachzustand in geringerem Maß visuell st<strong>im</strong>uliert wurden<br />

(Boismier 1977).<br />

Autost<strong>im</strong>ulationstheorie – Die Annahme, dass die Gehirnaktivität während<br />

des REM-Schlafes be<strong>im</strong> Fetus <strong>und</strong> be<strong>im</strong> Neugeborenen die frühe Entwicklung<br />

des visuellen Systems erleichtert.<br />

Ein anderes spezifisches Merkmal des Schlafes von Neugeborenen<br />

besteht darin, dass sie während eines Nickerchens lernen<br />

können. In einer Untersuchung, die diese Möglichkeit auslotete,<br />

spielte man Krippenkindern Vokallaute des Finnischen<br />

vor, während sie schlummerten. Die nach dem Aufwachen<br />

am Morgen gemessene Gehirnaktivität be<strong>im</strong> Hören derselben<br />

Laute zeigte, dass sie die Laute wiedererkannten, die sie<br />

<strong>im</strong> Schlaf gehört hatten (Cheour et al. 2002). In einer neueren<br />

Studie trainierten Forscher schlafende Neugeborene darauf, mit<br />

Augenbewegungen auf einen Luftstoß zu reagieren, der auf die<br />

geschlossenen Augenlider der Kinder traf (Fifer et al. 2010).<br />

Während der Trainingsphase wurde den Neugeborenen wiederholt<br />

unmittelbar vor jedem Luftstoß ein Ton dargeboten.<br />

Aufgr<strong>und</strong> dieser Erfahrung lernten die Neugeborenen schnell,<br />

nach dem Ton den Luftzug zu erwarten – darauf weist ihre Reaktion<br />

hin, auch dann auf den Ton mit Augenbewegungen zu<br />

antworten, wenn kein Luftstoß folgte. Neugeborene können<br />

anscheinend selbst <strong>im</strong> Schlaf lernen, weil ihr Gehirn <strong>im</strong> Schlaf<br />

weniger von externen St<strong>im</strong>uli abgeschottet ist als das Gehirn<br />

erwachsener Menschen.<br />

Ein weiterer (in . Abb. 2.16 nicht dargestellter) Unterschied<br />

zwischen dem Schlaf jüngerer Kinder <strong>und</strong> dem Schlaf älterer<br />

Personen liegt in den jeweiligen Schlaf-Wach-Zyklen. Neugeborene<br />

wechseln <strong>im</strong> Allgemeinen <strong>im</strong> Verlauf von 24 h mehrmals<br />

zwischen Schlafen <strong>und</strong> Wachen hin <strong>und</strong> her, mit etwas höheren<br />

Schlafanteilen nachts <strong>im</strong> Vergleich zu tagsüber (Whitney <strong>und</strong><br />

Thoman 1994). Anders ausgedrückt: In Zeiten, in denen ihre Eltern<br />

normalerweise schlafen, sind Neugeborene wahrscheinlich


Das Neugeborene<br />

63 2<br />

einige Zeit wach. Nach <strong>und</strong> nach entwickeln Säuglinge jedoch<br />

das reifere Muster des ununterbrochenen Nachtschlafes.<br />

Das Alter, in dem sich die kindlichen Schlafmuster denen<br />

der Erwachsenen angleichen, hängt stark von kulturspezifischen<br />

Praktiken <strong>und</strong> dementsprechendem Druck ab. Beispielsweise<br />

schlafen die meisten Kinder in den USA ab etwa vier Monaten<br />

nachts durch – ein Wandel, den die Mehrheit der Eltern aktiv<br />

unterstützt. Erschöpfte Eltern versuchen mit ganz unterschiedlichen<br />

Strategien, ihr Kind zum nächtlichen Durchschlafen zu<br />

bringen, von ausgefeilten, oft ausgedehnten Zubettgeh-Ritualen,<br />

die das Baby ins Traumland lullen sollen, bis zum kaum zu ertragenden<br />

passiven Abwarten, bis sich das Kind von selbst in<br />

den Schlaf weint. (Hinweis: Eine kaum bekannte, aber besonders<br />

nützliche Strategie, längere Nachtschlafphasen zu fördern, besteht<br />

darin, das Kind tagsüber hellem Sonnenlicht auszusetzen<br />

[Harrison 2004].)<br />

..<br />

Die meisten Eltern westlicher Länder möchten das Zwei-Uhr-Morgens-Erlebnis<br />

dieses jungen Vaters vermeiden. Sie halten das nächtliche Durchschlafen<br />

ihres Babys für einen Sieg – je früher, desto besser. (© Getty Images/Pure<br />

Stock)<br />

Im Gegensatz dazu üben die Eltern der Kipsigis <strong>im</strong> ländlichen<br />

Kenia wenig oder keinen Druck auf ihre Kinder aus, die Nacht<br />

durchzuschlafen. Die Babys sind fast <strong>im</strong>mer bei ihrer Mutter:<br />

Tagsüber werden sie häufig auf dem Rücken getragen, während<br />

die Mutter ihren Tätigkeiten nachgeht, <strong>und</strong> nachts schlafen sie<br />

ebenfalls bei der Mutter <strong>und</strong> dürfen, wann <strong>im</strong>mer sie wach sind,<br />

an der Brust trinken. In der Folge verteilen diese Babys ihren<br />

Schlaf mehrere Monate lang gleichermaßen über Tag <strong>und</strong> Nacht<br />

(Harkness <strong>und</strong> Super 1995; Super <strong>und</strong> Harkness 1986). Kulturen<br />

unterscheiden sich also nicht nur, wie in ▶ Kap. 1 bereits<br />

erwähnt, darin, wo Babys schlafen, sondern auch darin, wie<br />

stark die Eltern versuchen, das Schlafverhalten ihrer Kinder zu<br />

beeinflussen.<br />

Schreien<br />

Wie geht es Ihnen, wenn Sie ein Baby schreien hören? Wir dürfen<br />

annehmen, dass Sie, wie die meisten Menschen, den Klang eines<br />

schreienden <strong>Kindes</strong> als höchst unangenehm empfinden. Warum<br />

ist das Geschrei für uns so unangenehm?<br />

Aus evolutionärer Perspektive könnten das Schreien des<br />

<strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> die Abneigung der Erwachsenen gegen das Ge-<br />

schrei adaptiv sein. Kinder schreien aus verschiedenen Gründen<br />

– Krankheit, Schmerz, Hunger –, die die Aufmerksamkeit der<br />

Betreuungsperson erfordern. Das hohe Ausmaß an Motivation,<br />

das Schreien des <strong>Kindes</strong> zu beenden, bringt die Erwachsenen<br />

dazu, sich um die Bedürfnisse des <strong>Kindes</strong> zu kümmern, was zum<br />

Überleben des <strong>Kindes</strong> beiträgt. So haben manche sogar behauptet,<br />

dass in Notzeiten, beispielsweise während einer Hungersnot,<br />

akustisch nervende Babys mit größerer Wahrscheinlichkeit überleben<br />

als ruhigere Babys, möglicherweise weil die Schreihälse die<br />

Aufmerksamkeit der Erwachsenen hervorrufen <strong>und</strong> so von den<br />

kargen Nahrungsressourcen mehr bekommen, als ihnen eigentlich<br />

zustünde (DeVries 1984).<br />

Insbesondere unerfahrene Eltern sind bei ihrem ersten Kind<br />

oft ratlos <strong>und</strong> zerbrechen sich den Kopf darüber, warum ihr Baby<br />

schreit. Mit am häufigsten beklagen sich Eltern bei den Kinderärzten<br />

darüber, dass ihr Kind angeblich übermäßig schreit (Barr<br />

1998; Harkness et al. 1996). Mit zunehmender Erfahrung gelingt<br />

es den Eltern besser, die Kennzeichen des Schreiens selbst zu interpretieren<br />

(ein scharfer, durchdringender Schrei beispielsweise signalisiert<br />

meistens Schmerz) <strong>und</strong> den Kontext zu berücksichtigen<br />

(wie lange liegt die letzte Mahlzeit zurück?) (Green et al. 1987).<br />

Klingt das Schreien bei allen Neugeborenen gleich? Eltern<br />

werden das wohl verneinen. Tatsächlich können Mütter das<br />

Schreien ihrer eigenen neugeborenen Kinder vom Schreien anderer<br />

Kinder unterscheiden (z. B. Cismaresco <strong>und</strong> Montagner<br />

1990). Das Schreien von Neugeborenen wird auch durch den<br />

Klang der Sprache in ihrer Umgebung beeinflusst. Eine neuere<br />

Untersuchung hat die Schre<strong>im</strong>uster bei Neugeborenen in Frankreich<br />

<strong>und</strong> Deutschland verglichen <strong>und</strong> gezeigt, dass die kindlichen<br />

Schre<strong>im</strong>uster den Klangmustern ihrer Muttersprache folgten<br />

<strong>und</strong> deren Sprachmelodie nachahmten (Mampe et al. 2009).<br />

Das Schreien erreicht nach sechs Lebenswochen am Ende der<br />

Neugeborenenzeit sein Max<strong>im</strong>um <strong>und</strong> sinkt danach für den Rest<br />

des ersten Lebensjahres auf etwa 1 h pro Tag ab (St. James-Roberts<br />

<strong>und</strong> Halil 1991). Über den Tag gesehen liegt der Höhepunkt<br />

des Schreiens am späten Nachmittag oder am Abend. Das Phänomen<br />

des abendlichen Schreiens <strong>und</strong> Weinens kann für Eltern<br />

ziemlich enttäuschend sein, wenn sie sich am Ende des Arbeitstages<br />

auf das Zusammensein mit ihren Kindern gefreut haben.<br />

Vermehrtes abendliches Schreien kann auch auf eine kumulierte<br />

Wirkung exzessiver St<strong>im</strong>ulierung <strong>im</strong> Tagesverlauf zurückgehen.<br />

Die Art des Schreiens <strong>und</strong> seine Ursachen ändern sich <strong>im</strong><br />

Laufe der Entwicklung. Am Anfang ist das Schreien der Ausdruck<br />

von Unbehagen – Schmerz, Hunger, Kälte oder Überreizung;<br />

allerdings schreien Kinder von Anfang an auch aus Frustration<br />

(Lewis et al. 1990; Stenberg et al. 1983). Nach <strong>und</strong> nach<br />

wird daraus ein kommunikativer Akt; das Geschrei der älteren<br />

Babys scheint häufig darauf gerichtet zu sein, der Betreuungsperson<br />

etwas mitzuteilen <strong>und</strong> sie zu einer Reaktion zu veranlassen<br />

(Gustafson <strong>und</strong> Green 1988).


64<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

2<br />

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..<br />

Wenn Eltern ihre Kinder nah am Körper tragen, schreien sie seltener. Viele<br />

Eltern in westlichen Ländern übernehmen inzwischen aus anderen Gesellschaften<br />

überall in der Welt die traditionellen Techniken des Mitsichtragens<br />

der Kinder. (© Digitalpress/fotolia.com)<br />

Beruhigen<br />

Was hilft am besten, um schreiende Babys zu beruhigen? Die<br />

meisten der traditionell eingesetzten Mittel funktionieren recht<br />

gut: wiegen <strong>und</strong> schaukeln, Schlaflieder singen, das Baby auf<br />

den Arm nehmen, ihm einen Schnuller geben (R. Campos 1989;<br />

Korner <strong>und</strong> Thoman 1970). Im Allgemeinen zeichnen sich viele<br />

der wirksamen Verfahren zur Beruhigung durch mäßig starke,<br />

kontinuierliche oder wiederholte St<strong>im</strong>ulation aus. Eine Kombination<br />

aus Im-Arm-Halten, Wiegen <strong>und</strong> Sprechen oder Singen<br />

löst den Stress des Kleinkindes besser als eines dieser Verfahren<br />

allein (Jahromi et al. 2004).<br />

Eine sehr verbreitete Beruhigungstechnik ist das Pucken, bei<br />

dem das Baby fest in Tücher oder eine Decke eingewickelt wird,<br />

sodass es in seinen Bewegungen von Armen <strong>und</strong> Beinen stark<br />

eingeschränkt ist. Das enge Eingewickeltsein bewirkt ein konstant<br />

hohes Maß an taktiler Reizung <strong>und</strong> Wärme. Dieses Verfahren<br />

wird in ganz verschiedenen <strong>und</strong> weit auseinanderliegenden<br />

Kulturen angewandt, beispielsweise bei den Navajo <strong>und</strong> Hopi <strong>im</strong><br />

Südwesten der USA (Chisholm 1963), den Quechua in Peru (Tronick<br />

et al. 1994) <strong>und</strong> ländlichen Dorfbewohnern in der Türkei<br />

(Delaney 2000) verwendet <strong>und</strong> war bis ins 19. Jahrh<strong>und</strong>ert auch<br />

in Deutschland verbreitet. Ein anderer traditioneller Ansatz besteht<br />

darin, ein aufgebrachtes Kind mit interessanten Gegenständen<br />

oder Ereignissen abzulenken. Auch dies kann beruhigende<br />

Wirkung haben, die jedoch endet, sobald der interessante Reiz<br />

wieder entfernt wird (Harman et al. 1997).<br />

Pucken – Eine in vielen Kulturen verbreitete Beruhigungstechnik, bei der das<br />

Baby fest in Tücher oder eine Decke eingewickelt wird.<br />

Auch Berührung kann sich beruhigend auf Kinder auswirken. Im<br />

Umgang mit einem Erwachsenen regen sich Kinder weniger auf<br />

<strong>und</strong> schreien seltener, lächeln <strong>und</strong> vokalisieren dagegen häufiger,<br />

wenn der Erwachsene sie tätschelt, abrubbelt oder streichelt (Field<br />

et al. 1996; Peláez-Nogueras et al. 1996; Stack <strong>und</strong> Arnold 1998;<br />

Stack <strong>und</strong> Muir 1992). Das Herumtragen kleiner Kinder, wie es<br />

weltweit in vielen Gesellschaften routinemäßig praktiziert wird,<br />

reduziert die Häufigkeit des Schreiens (Hunziker <strong>und</strong> Barr 1986).<br />

Tatsächlich zeigte sich in einer neuen Studie, dass schreiende Kinder<br />

dann, wenn sie von Müttern herumgetragen wurden, mit einer<br />

höheren Abnahme der Herzrate, der eigenen Bewegungen <strong>und</strong><br />

der Schreiintensität reagierten, als wenn sie nur auf ihrem Schoß<br />

saßen. Ähnliche Beruhigungsreaktionen lassen sich bei anderen<br />

Spezies beobachten (man denke nur an kleine Löwen, die sich<br />

bewegungslos <strong>im</strong> Maul der Mutter wegtragen lassen) <strong>und</strong> als angeborene<br />

Mechanismen kooperativen Verhaltens zur Unterstützung<br />

des Trageverhaltens der Mutter gelten (Esposito et al. 2013).<br />

In anderen Laboruntersuchungen ließ sich ein beträchtlicher<br />

Beruhigungseffekt dadurch erzielen, dass man einem verzweifelt<br />

schreienden Neugeborenen einen kleinen Tropfen von etwas Süßem<br />

auf die Zunge gab (Barr et al. 1994; Blass <strong>und</strong> Camp 2003;<br />

Smith <strong>und</strong> Blass 1996). Der Geschmack von Sucrose hat einen ähnlich<br />

starken Effekt auf die Schmerzempfindlichkeit: Neugeborene<br />

Jungen, die man bei der Beschneidung an einem gesüßten Schnuller<br />

saugen lässt, schreien viel weniger als Babys, bei denen diese<br />

einfache Maßnahme unterlassen wird (Blass <strong>und</strong> Hoffmeyer 1991).<br />

Reaktion auf kindlichen Stress<br />

Eltern fragen sich oft, wie sie reagieren sollen, wenn ihr Kind<br />

ihnen deutliche Zeichen von Stress signalisiert. Belohnt ihre<br />

Zuwendung das Kind für das Schreien <strong>und</strong> steigert dadurch<br />

dessen Häufigkeit, oder flößt das prompte <strong>und</strong> zuverlässige<br />

Reagieren ein Gefühl des Vertrauens ein <strong>und</strong> führt zu weniger<br />

Geschrei <strong>und</strong> Theater? Antworten auf diese Frage gibt eine<br />

Längsschnittstudie, die zeigt, dass Babys, deren Schreien in den<br />

ersten neun Wochen ignoriert wurde, in den darauffolgenden<br />

neun Wochen tatsächlich weniger schrien (Hubbard <strong>und</strong> van<br />

IJzendoorn 1992). Dabei ist es von entscheidender Wichtigkeit,<br />

die Schwere des kindlichen Unbehagens richtig einzuschätzen,<br />

bevor man reagiert. Wenn die Eltern auf starke Missempfindungen<br />

des <strong>Kindes</strong> sofort reagieren, aber bei geringeren Anlässen<br />

nicht so unverzüglich aufspringen, lernt das Kind vielleicht, den<br />

leichteren Typ der Missempfindung selbst zu regulieren <strong>und</strong> so<br />

insgesamt weniger zu schreien.


Das Neugeborene<br />

65 2<br />

Schreibabys<br />

Wie <strong>und</strong> wie sehr manche Eltern auch versuchen, ihr Kind zu<br />

beruhigen: Manche Kinder scheinen gegen diese Bemühungen<br />

<strong>im</strong>mun zu sein. Sie haben, besonders in den ersten Lebensmonaten,<br />

übermäßige, geradezu krampfartige Schreianfälle ohne<br />

irgendeinen offensichtlichen Gr<strong>und</strong>. Nicht nur, dass diese Babys<br />

viel schreien – weshalb sie als Schreibabys bezeichnet werden –,<br />

ihre Schreie sind für gewöhnlich auch schrill <strong>und</strong> äußerst unangenehm<br />

(Stifter et al. 2003). Die Ursachen sind häufig ungeklärt.<br />

Bei manchen Kindern hängen die Schreianfälle mit allergischen<br />

Reaktionen auf Substanzen in der Muttermilch zusammen, die<br />

durch die Ernährungsweise der Mutter bedingt sind, etwa bei<br />

Glutamatunverträglichkeit; zudem kann es sein, dass der Verdauungsapparat<br />

des <strong>Kindes</strong> noch unterentwickelt ist <strong>und</strong>/oder<br />

eine generelle Neigung zu schmerzhaften Blähungen besteht.<br />

Leider kommen Koliken bei Babys sehr häufig vor: In den USA<br />

leidet in den ersten drei Lebensmonaten mehr als jedes zehnte<br />

Kleinkind daran <strong>und</strong> mit ihm seine Eltern. Glücklicherweise hört<br />

die übermäßige Schreierei bei Babys, die nur an Koliken leiden,<br />

um den dritten Lebensmonat auf <strong>und</strong> hinterlässt keine krankhaften<br />

Folgen (Stifter <strong>und</strong> Braungart 1992; St. James-Roberts et al.<br />

1998). Schreien die Kinder auch danach noch übermäßig viel,<br />

spielen vermutlich andere Gründe eine entscheidende Rolle. In<br />

Deutschland ist laut einer umfassenden Studie von Wurmser <strong>und</strong><br />

Papousek (2004) annähernd jeder dritte Säugling, der in einer<br />

Säuglingssprechst<strong>und</strong>e vorgestellt wird, ein Schreibaby. Bei fast<br />

der Hälfte dieser Kinder hält das exzessive Schreien auch nach<br />

dem dritten Lebensmonat noch an. Mit zum Besten, was Eltern<br />

sowohl für ein Kind mit Koliken als auch ein Kind, das aus anderen<br />

Gründen schreit, tun können, gehört, sich soziale Unterstützung<br />

zu suchen <strong>und</strong> sich Erleichterung von Stress, Frustration<br />

<strong>und</strong> Gefühlen der Unzulänglichkeit zu verschaffen, die leicht<br />

aufkommen, wenn man das eigene Kind nicht beruhigen kann.<br />

Schreibabys – Babys, die häufig <strong>und</strong> langanhaltend ohne ersichtlichen Gr<strong>und</strong><br />

unmäßig <strong>und</strong> untröstlich schreien. Manchmal schreien Babys auch aufgr<strong>und</strong> von<br />

Koliken; dann n<strong>im</strong>mt das Schreien meist ab dem dritten Lebensmonat wieder ab.<br />

Säuglingssterblichkeit – Todesrate bei Kindern <strong>im</strong> ersten Jahr nach der Geburt.<br />

Die Kindersterblichkeit ist in den USA zwar auf dem tiefsten<br />

je erreichten Stand gesunken, aber <strong>im</strong> Vergleich zu vielen anderen<br />

Industrienationen relativ hoch. Nach Schätzungen des<br />

CIA World Fact Books für 2014 liegen viele Industrieländer (in<br />

. Tab. 2.2 eine Auswahl) unter den Raten der USA. Die relative<br />

Position der USA hatte sich in zurückliegenden Jahrzehnten verschlechtert,<br />

weil sich die Sterblichkeitsraten vieler anderer Länder<br />

schneller <strong>und</strong> stärker verringerten.<br />

Innerhalb der amerikanischen Bevölkerungsgruppen sterben<br />

afroamerikanische Kinder mehr als doppelt so häufig vor<br />

ihrem ersten Geburtstag wie euroamerikanische Kinder. Die<br />

Kindersterblichkeit bei Afroamerikanern ist sogar ähnlich hoch<br />

wie die vieler unterentwickelter Länder. Warum sterben in den<br />

USA – einem der reichsten Länder der Welt – anteilsmäßig mehr<br />

Babys als in 19 anderen Ländern? Warum sind die Überlebenschancen<br />

der afroamerikanischen Kinder so viel schlechter als<br />

die der euroamerikanischen? Dafür gibt es viele Gründe, von<br />

denen die meisten mit Armut zusammenhängen. Zum Beispiel<br />

besitzen viele einkommensschwache Schwangere, darunter eine<br />

überproportionale Zahl an Afroamerikanerinnen, keine Krankenversicherung<br />

<strong>und</strong> haben deshalb nur begrenzten Zugang zu<br />

guter Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Schwangerschaftsfürsorge (Cohen <strong>und</strong><br />

Martinez 2006). Im Gegensatz dazu gibt es in allen Ländern, die<br />

in der Sterblichkeitsstatistik vor den USA liegen, ein staatlich<br />

finanziertes oder zumindest unterstütztes Ges<strong>und</strong>heitssystem,<br />

das schwangeren Frauen kostenlose oder preiswerte Vorsorgeuntersuchungen<br />

ermöglicht.<br />

In weniger entwickelten Ländern, insbesondere wenn sie an<br />

einem Zusammenbruch ihrer sozialen Ordnung infolge von Krieg,<br />

Hungersnot, schweren Epidemien oder anhaltender extremer Armut<br />

leiden, kann die Säuglingssterblichkeit unglaubliche Ausmaße<br />

erreichen. Beispielsweise stirbt in Ländern wie Afghanistan, Mali<br />

oder Somalia von zehn lebendgeborenen Kindern eines innerhalb<br />

des ersten Lebensjahres (Central Intelligence Agency 2012).<br />

Ungünstige Geburtsausgänge<br />

Die Schwangerschaft endet für eine Frau in einer industrialisierten<br />

Gesellschaft in der Regel mit der Geburt eines ges<strong>und</strong>en Babys zum<br />

erwarteten Termin; doch gibt es manchmal auch weniger positive<br />

Ausgänge. Das Schl<strong>im</strong>mste ist für eine Frau zweifellos der Tod des<br />

eigenen <strong>Kindes</strong>. Wesentlich häufiger liegt ein zu geringes Geburtsgewicht<br />

vor, das <strong>im</strong> Extremfall Langzeitfolgen nach sich ziehen kann.<br />

Säuglingssterblichkeit<br />

Die Säuglingssterblichkeit – also die Todesrate bei Lebendgeborenen<br />

innerhalb des ersten Lebensjahres – ist in der westlichen<br />

industrialisierten Welt dank jahrzehntelanger Verbesserung der<br />

öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge <strong>und</strong> des allgemeinen Wohlstands<br />

relativ selten geworden. In den USA lag <strong>im</strong> Jahr 2010 die<br />

Sterblichkeitsrate bei 6,14 von 1000 Lebendgeburten; das ist der<br />

niedrigste Wert in der amerikanischen Geschichte (Miniño <strong>und</strong><br />

Murphy 2012).<br />

..<br />

Afghanistan gehört zu den Ländern mit der höchsten Säuglingssterblichkeit<br />

(117,23 Todesfälle auf 1000 Lebendgeburten). Zu den Ursachen gehören<br />

Armut, schlechte Nahrungsversorgung <strong>und</strong> schlechte Hygienestandards.<br />

Der größte Teil der Bevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem Wasser, was<br />

viele Todesfälle bei Säuglingen durch Ruhr, schwere Durchfallerkrankungen<br />

<strong>und</strong> andere Infektionen mit Ke<strong>im</strong>en aus dem Wasser zur Folge hat. (© Emilio<br />

Morenatti/AP Photo)


66<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

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Tab. 2.2 Geschätzte Säuglingssterblichkeit für das Jahr 2014 bei<br />

Ländern mit geringeren Mortalitätsraten als in den USA. (Daten aus:<br />

CIA World Factbook; https://www.cia.gov/library/publications/theworld-factbook/fields/2091.html)<br />

Land<br />

Vereinigte Staaten 6,17<br />

Litauen 6,13<br />

Ungarn 5,09<br />

Griechenland 4,78<br />

Kanada 4,71<br />

Neuseeland 4,59<br />

Portugal 4,48<br />

Großbritannien 4,44<br />

Australien 4,43<br />

Luxemburg 4,28<br />

Belgien 4,18<br />

Österreich 4,16<br />

Dänemark 4,10<br />

Slowenien 4,04<br />

Israel 3,98<br />

Korea (Süd) 3,93<br />

Irland 3,74<br />

Schweiz 3,73<br />

Niederlande 3,66<br />

Deutschland 3,46<br />

Finnland 3,36<br />

Spanien 3,33<br />

Italien 3,31<br />

Frankreich 3,31<br />

Island 3,15<br />

Tschechische Republik 2,63<br />

Schweden 2,60<br />

Norwegen 2,48<br />

Japan 2,13<br />

Todesfälle auf 1000 Lebendgeburten<br />

Frühgeburt <strong>und</strong> Untergewicht<br />

Das durchschnittliche Neugeborene in den USA wiegt 3400 g<br />

(die meisten liegen zwischen 2500 <strong>und</strong> 4500 g). Babys, die unter<br />

2500 g wiegen, gelten als untergewichtige Neugeborene. Einige<br />

untergewichtige Säuglinge werden zudem als Frühgeburten<br />

bezeichnet, weil sie bereits vor der 37. Schwangerschaftswoche<br />

geboren wurden. (Eine normale Schwangerschaft dauert 40 Wochen.)<br />

Laut einer aktuellen Studie der WHO sind in Deutschland<br />

9,2 % aller Kinder Frühgeborene. Weltweit ist es jedes<br />

zehnte Kind (Tendenz steigend.) Generell lässt sich feststellen,<br />

dass Frühgeborene häufig auch untergewichtig sind. Deshalb<br />

berücksichtigt man in der Regel auch das Gestationsalter (die<br />

Dauer der Schwangerschaft) bei der Beurteilung der Untergewichtigkeit:<br />

Manche Neugeborene gelten als untergewichtig für<br />

ihr Gestationsalter: Sie können sowohl früh- als auch reifgeboren<br />

sein, aber in jedem Fall liegt ihr Gewicht liegt erheblich unter<br />

dem, das für ihr jeweiliges Gestationsalter normal wäre. Wiegt<br />

ein Kind deutlich weniger als dies aufgr<strong>und</strong> seines Gestationsalters<br />

zu erwarten wäre, ist dies in der Regel ein ernstzunehmender<br />

Hinweis auf eine Mangelversorgung <strong>im</strong> Uterus oder andere<br />

Reifungsprobleme.<br />

Untergewichtig für das Gestationsalter – Babys, die erheblich weniger wiegen,<br />

als es ihrem Alter – gemessen in Wochen nach der Befruchtung – entspricht.<br />

Untergewichtige Neugeborene – (low birth weight infants) Babys, die bei der<br />

Geburt weniger als 2500 g wiegen.<br />

Frühgeburt – (premature) Babys, die vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren<br />

werden (anstatt wie normalerweise nach 40 Wochen).<br />

Gestationsalter – Dauer der Schwangerschaft seit der Befruchtung. Wird in<br />

Wochen gemessen.<br />

Etwas mehr als 8 % aller in den Vereinigten Staaten geborenen<br />

Babys sind untergewichtig (Martin et al. 2012a). Bei den Afroamerikanern<br />

ist die Rate wesentlich höher (13,6 %) <strong>und</strong> nähert<br />

sich dem in Entwicklungsländern festgestellten Wert von 16,5 %<br />

an (United Nation’s Children’s F<strong>und</strong> and World Health Organization<br />

2004). Die Gruppe der untergewichtigen Neugeborenen<br />

zeigt ein erhöhtes Ausmaß an medizinischen Komplikationen,<br />

höhere Prozentsätze neurosensorischer Defizite, mehr Kinderkrankheiten,<br />

niedrigere IQ-Werte <strong>und</strong> geringeren Bildungsstand.<br />

Stark untergewichtige Babys (die weniger als 1500 g wiegen) sind<br />

besonders anfällig; diese Kinder machen 1,45 % der Lebendgeborenen<br />

in den USA aus (Martin et al. 2011).<br />

Es gibt zahlreiche Ursachen für Untergewicht <strong>und</strong> Frühgeburten,<br />

einschließlich vieler der schon besprochenen Risikofaktoren<br />

für die Säuglingssterblichkeit. Ein weiterer Gr<strong>und</strong><br />

sind s<strong>im</strong>ultane Schwangerschaften – Zwillinge, Drillinge <strong>und</strong><br />

andere Mehrlingsgeburten, deren Häufigkeit aufgr<strong>und</strong> erfolgreicher<br />

Behandlungsmethoden bei Unfruchtbarkeit seit Kurzem<br />

hochschnellt. (Durch Hormonbehandlungen bei ungewollter<br />

Kinderlosigkeit kommt es häufig bei der Ovulation dazu, dass<br />

mehrere Eier reifen <strong>und</strong> befruchtet werden, <strong>und</strong> bei der In-vitro-<br />

Fertilisation werden mehrere Embryonen in die Gebärmutter<br />

eingesetzt.) Der Anteil der Zwillinge stieg in den USA zwischen<br />

1980 <strong>und</strong> 2009 von einem Zwilling unter 56 Neugeborenen auf<br />

einen Zwilling unter 30 Neugeborenen (Martin et al. 2012b). In<br />

dieser Zeitspanne erhöhten sich auch die Anteile der Drillinge,<br />

Vierlinge usw. dramatisch. Das ist ein Gr<strong>und</strong> zur Sorge, weil die<br />

Sterblichkeitsraten bei Mehrlingsgeburten sehr hoch sind: 56 %<br />

bei Zwillingen <strong>und</strong> über 90 % bei Geburten mit mehr als drei<br />

Kindern (Martin et al. 2011). In ▶ Exkurs 2.5 werden einige der<br />

Herausforderungen besprochen, denen sich Eltern mit untergewichtigen<br />

Neugeborenen gegenübersehen.<br />

Langfristige Folgen<br />

Was kann man von einem untergewichtigen Neugeborenen erwarten,<br />

wenn es überlebt? Diese Frage wird <strong>im</strong>mer wichtiger,


Das Neugeborene<br />

67 2<br />

Exkurs 2.5: Anwendungen: Die Elternschaft für ein untergewichtiges Baby | |<br />

Elternschaft ist selbst unter besten Umständen<br />

eine Herausforderung, aber um vieles mehr<br />

noch für die Eltern eines frühgeborenen oder<br />

untergewichtigen Babys. Zunächst einmal<br />

müssen sie ihre Enttäuschung darüber verwinden,<br />

dass sie nicht das perfekte Baby bekommen<br />

haben, das sie sich vorstellten. Vielleicht<br />

haben sie auch Schuldgefühle („Was habe ich<br />

falsch gemacht?“) oder müssen mit der eigenen<br />

Unzulänglichkeit („Wie kann ich für solch<br />

ein winziges, zerbrechliches Baby sorgen?“)<br />

<strong>und</strong> Furcht („Wird mein Baby überleben?“)<br />

umgehen. Außerdem ist es in der Regel sehr<br />

stressreich, aufwendig <strong>und</strong> teuer. ein untergewichtiges<br />

Baby zu versorgen, besonders wenn<br />

das Kind umfangreiche intensivmedizinische<br />

Behandlung benötigt.<br />

Auch Eltern eines ges<strong>und</strong>en Babys müssen<br />

sehr viel über dessen Pflege lernen, aber bei<br />

Eltern eines untergewichtigen Babys ist es<br />

ungleich mehr. Im Krankenhaus müssen sie<br />

ganz zu Beginn lernen, erfolgreich mit einem<br />

zerbrechlichen Baby umzugehen, das in einem<br />

abgeschlossenen Brutkasten liegt <strong>und</strong> dessen<br />

winziger Körper an lebenserhaltenden Geräten<br />

hängt. Kommt das Kind nach Hause, müssen<br />

die Eltern mit einem Baby zurechtkommen,<br />

das vergleichsweise passiv ist <strong>und</strong> sich nicht<br />

leicht ansprechen lässt, <strong>und</strong> gleichzeitig müssen<br />

sie sich davor hüten, das Kind – um endlich<br />

eine Reaktion hervorzurufen – allzu sehr<br />

zu st<strong>im</strong>ulieren (Brazelton et al. 1987; Patteson<br />

<strong>und</strong> Barnard 1990). Untergewichtige Kleinkinder<br />

neigen dazu, komplizierter <strong>und</strong> wählerischer<br />

zu sein als das Durchschnittsbaby, <strong>und</strong><br />

sind schwerer zu beruhigen, wenn sie aus der<br />

Fassung geraten (Greene et al. 1983). Und um<br />

das Maß voll zu machen, schreien sie oft in<br />

einem hohen Ton, der besonders unangenehm<br />

ist (Lester et al. 1989).<br />

Ein weiteres Problem für die Eltern besteht<br />

darin, dass untergewichtige Kinder größere<br />

Schwierigkeiten mit dem Einschlafen, Aufwachen<br />

<strong>und</strong> Wachbleiben haben als Kinder<br />

mit normalem Geburtsgewicht, <strong>und</strong> ihre<br />

Fütterungsintervalle sind weniger regelmäßig<br />

(DiVitto <strong>und</strong> Goldberg 1979; Meisels <strong>und</strong><br />

Plunkett 1988). Daher dauert es länger, bis das<br />

Baby einem regelmäßigen, vorhersagbaren<br />

Tagesablauf folgt, was das Leben der Eltern<br />

hektischer macht.<br />

Die Eltern müssen zudem begreifen, dass<br />

die Entwicklung ihres frühgeborenen Babys<br />

anfänglich nicht derselben zeitlichen Entwicklung<br />

folgt wie bei einem ausgetragenen<br />

Kind: Meilensteine der Entwicklung werden<br />

verspätet eintreten, weil sie stärker an das<br />

Gestationsalter geb<strong>und</strong>en sind als an das nach<br />

der Geburt durchlebte Alter. Statt sich um die<br />

sechste Lebenswoche herum an dem beginnenden<br />

Lächeln des <strong>Kindes</strong> zu erfreuen, müssen<br />

die Eltern eines Frühgeborenen vielleicht<br />

einige Wochen länger warten, bevor ihr Baby<br />

Augenkontakt aufn<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> herzerwärmend<br />

zu lächeln beginnt. Frühgeborene Kinder sind<br />

also nicht nur anspruchsvoller in der Fürsorge,<br />

sondern in mancherlei Hinsicht auch weniger<br />

belohnend, was die Interaktion mit ihnen<br />

betrifft. Infolgedessen werden Kinder, die<br />

vorzeitig zur Welt kommen, häufiger Opfer<br />

elterlicher <strong>Kindes</strong>misshandlung als Kinder,<br />

die zum erwarteten Termin das Licht der Welt<br />

erblicken (z. B. Spencer et al. 2006).<br />

Für Eltern eines untergewichtigen oder frühgeborenen<br />

Säuglings kann es hilfreich sein,<br />

sich Kenntnisse über die normale frühkindliche<br />

Entwicklung anzueignen. Ein Interventionsprogramm,<br />

das Mütter – schon in der Klinik<br />

<strong>und</strong> später zu Hause – darin trainierte, die<br />

Signale ihres frühgeborenen Babys zu deuten,<br />

führte zu positiven Resultaten bei der Leistung<br />

der Kinder in mentalen Tests (Achenbach et al.<br />

1990). Diese Kinder zeigten bei Tests <strong>im</strong> Alter<br />

von sieben Jahren signifikant höhere kognitive<br />

Leistungen als die ebenfalls untergewichtig<br />

geborenen Kinder in einer Vergleichsgruppe,<br />

bei denen die Eltern nicht geschult worden<br />

waren.<br />

In einer neueren Längsschnittstudie wurden<br />

die Mütter von untergewichtig geborenen<br />

Kindern zwei Gruppen zugeordnet, von<br />

denen die eine Intervention zur Stärkung des<br />

Selbstvertrauens <strong>und</strong> der Selbstkontrolle der<br />

Eltern bekam, während die zweite Gruppe<br />

(Kontrollgruppe) keine Intervention erhielt<br />

(Nordhov et al. 2012). Als die Kinder fünf Jahre<br />

alt waren, wurden beide Gruppen anhand von<br />

Angaben ihrer Eltern <strong>und</strong> Vorschulbetreuer<br />

miteinander verglichen; dabei zeigte sich,<br />

dass die Kinder von Müttern der Interventionsgruppe<br />

weniger Verhaltensauffälligkeiten<br />

aufwiesen als die Kinder der Kontrollgruppe.<br />

Das galt insbesondere für Aggressionsverhalten<br />

<strong>und</strong> Aufmerksamkeitsstörungen, die beide<br />

bei frühgeborenen Kindern gehäuft auftreten.<br />

Diese Bef<strong>und</strong>e sind besonders aufschlussreich,<br />

weil das Studiendesign die Möglichkeit<br />

ausschließt, dass die später nachgewiesenen<br />

Gruppenunterschiede schon vor Beginn der<br />

Intervention bestanden.<br />

Jeder Elternteil, der mit einem untergewichtigen<br />

oder in anderer Hinsicht problematischen<br />

Baby umzugehen versucht, tut gut daran,<br />

sich soziale Unterstützung zu suchen – vom<br />

Ehe- oder Lebenspartner, von anderen<br />

Familienmitgliedern, Fre<strong>und</strong>en oder einer<br />

Selbsthilfegruppe für Eltern. Eines der am<br />

besten nachgewiesenen Phänomene in der<br />

Psychologie ist, dass wir mit praktisch jedem<br />

Lebensproblem besser zurechtkommen, wenn<br />

wir die Unterstützung anderer Menschen erfahren.<br />

Tatsächlich sind regelmäßige Schulungen<br />

in der Klinik <strong>und</strong> zu Hause eine wichtige<br />

Komponente jeder erfolgreichen Intervention,<br />

die Eltern ermutigt, über ihre Erfahrungen <strong>und</strong><br />

Emotionen zu sprechen.<br />

seit Neugeborene mit extrem geringem Geburtsgewicht durch<br />

den Einsatz moderner Medizintechnologie am Leben erhalten<br />

werden. Die Antwort umfasst sowohl gute wie auch schlechte<br />

Nachrichten.<br />

Die schlechte Botschaft besteht darin, dass untergewichtige<br />

Kinder durchschnittlich mehr Entwicklungsprobleme aufweisen;<br />

je niedriger ihr Gewicht bei der Geburt ist, desto wahrscheinlicher<br />

haben sie nachhaltige Schwierigkeiten (z. B. Muraskas<br />

et al. 2004). Sie leiden an etwas stärkeren Beeinträchtigungen<br />

des Hörens, der Sprache <strong>und</strong> des Denkens. In der Vorschule <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>schule sind sie mit höherer Wahrscheinlichkeit ablenkbar<br />

<strong>und</strong> hyperaktiv <strong>und</strong> zeigen Lernschwierigkeiten. Auch hat<br />

diese Gruppe mit größerer Wahrscheinlichkeit soziale Probleme<br />

verschiedenster Art, einschließlich schlechter Beziehungen zu<br />

Gleichaltrigen <strong>und</strong> zu ihren Eltern (Landry et al. 1990). Und als<br />

Jugendliche bestehen sie seltener das Abitur als ihre Geschwister<br />

(Conley <strong>und</strong> Bennett 2002). Entsprechendes gilt auch für Zwillinge:<br />

Der Zwilling mit dem höheren Geburtsgewicht wird mit<br />

höherer Wahrscheinlichkeit Abitur machen als der mit dem geringeren<br />

Gewicht (Black et al. 2007).<br />

Die gute Nachricht besteht darin, dass sich die Mehrzahl untergewichtiger<br />

Kinder recht gut entwickeln. Die negativen Effekte<br />

des Geburtsstatus verringern sich nach <strong>und</strong> nach, sodass Kinder<br />

mit leichtem oder mittlerem Untergewicht als Neugeborene <strong>im</strong><br />

Allgemeinen bei den meisten Entwicklungsmaßen schließlich<br />

innerhalb der normalen Bandbreite landen (Kopp <strong>und</strong> Kaler<br />

1989; Liaw <strong>und</strong> Brooks-Gunn 1993; Meisels <strong>und</strong> Plunkett 1988;<br />

Vohr <strong>und</strong> Garcia Coll 1988). . Abbildung 2.17 zeigt ein besonders<br />

überzeugendes Beispiel für diesen Sachverhalt (Muraskas<br />

et al. 2004). Und eine neuere Längsschnittstudie an extrem untergewichtigen<br />

Neugeborenen (mit einem Geburtsgewicht von<br />

unter 1000 g die gefährdetsten Frühchen) belegt, dass nach 18 bis<br />

22 Monaten 16 % dieser Kinder keine Beeinträchtigungen zeigten<br />

<strong>und</strong> 22 % nur mittlere Beeinträchtigungen aufwiesen. Bei 60 %<br />

wurden jedoch dauerhaft starke Einschränkungen gef<strong>und</strong>en<br />

(Gargus et al. 2009).


68<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

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18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Interventionsprogramme<br />

Was kann man tun, um die Chancen zu erhöhen, dass ein untergewichtiges<br />

Baby die Nachteile seines ungünstigen Starts ins Leben<br />

überwinden kann? Eine Vielzahl von Interventionsprogrammen<br />

für untergewichtige Neugeborene bieten vorzügliche Beispiele<br />

dafür, wie Forschung das Wohlergehen von Kindern verbessern<br />

kann. Früher ließen die Kliniken keinerlei Kontakt der Eltern mit<br />

ihren Babys zu, vor allem wegen der Infektionsgefahr. Jetzt ermutigen<br />

die Krankenhäuser die Eltern explizit, so viel Körperkontakt<br />

<strong>und</strong> soziale Interaktionen mit ihrem Baby aufzunehmen, wie der<br />

körperliche Zustand ihrer medizinisch betreuten Babys erlaubt.<br />

Eine breit angelegte Interventionsmaßnahme für hospitalisierte<br />

Neugeborene beruht auf dem Gedanken, dass das Berührtwerden,<br />

das Neugeborene normalerweise erfahren, wenn sie auf<br />

den Arm genommen, umhergetragen, gedrückt <strong>und</strong> liebkost<br />

werden, eine überlebenswichtige Erfahrung darstellt. Viele untergewichtige<br />

Babys erleben wegen der nötigen Vorsichtsmaßnahmen,<br />

die für sie getroffen werden müssen, wenig taktile St<strong>im</strong>ulation;<br />

sie liegen in isolierten „Brutkästen“ <strong>und</strong> hängen an diversen<br />

lebenserhaltenden Apparaten. Um diesen Berührungsmangel zu<br />

kompensieren, entwickelte Tiffany Field mit ihren Mitarbeitern<br />

(Field 2001; Field et al. 2004) eine spezielle Therapie, bei der<br />

die Babys massiert <strong>und</strong> ihre Arme <strong>und</strong> Beine gebeugt werden<br />

(. Abb. 2.18). Untergewichtige Babys, die diese Therapie erhalten,<br />

sind aktiver <strong>und</strong> wacher <strong>und</strong> nehmen schneller an Gewicht zu als<br />

Babys, die keine Massage erhalten. In der Folge können sie auch<br />

früher nach Hause entlassen werden. Neuere Untersuchungen<br />

lassen vermuten, dass untergewichtige Neugeborene während<br />

ihres Klinikaufenthalts auch ges<strong>und</strong>heitlich profitieren, wenn die<br />

Eltern ihnen etwas vorsingen – <strong>und</strong> gleichzeitig damit sich selbst<br />

beruhigen (Loewy et al. 2013).<br />

Viele Interventionsprogramme für untergewichtige Neugeborene<br />

reichen über den Krankenhausaufenthalt hinaus, manche<br />

sind auf mehrere Jahre angelegt (z. B. Ramey <strong>und</strong> Campbell<br />

1991). Das breiteste Interventionsprogramm, sowohl hinsichtlich<br />

der Anzahl einbezogener Kinder (985 Kinder aus acht großen<br />

Städten in den USA) als auch hinsichtlich Länge <strong>und</strong> Ausmaß der<br />

Intervention <strong>und</strong> der Nachfolgeversorgung, ist das Infant Health<br />

and Development Project (IHDP). Dieses Programm war besonders<br />

gut ausgearbeitet. Zum einen wurden die Säuglinge der Interventions-<br />

<strong>und</strong> der Kontrollgruppe nach dem Zufallsprinzip<br />

zugeteilt. Zum anderen erhielten alle untergewichtigen Neugeborenen<br />

eine gute medizinische Versorgung, die sicherstellte, dass<br />

Unterscheide in der Versorgung die Forschungsergebnisse nicht<br />

beeinflussen konnten. Überdies dauerte die Intervention drei<br />

Jahre <strong>und</strong> umfasste sowohl ein intensives Förderprogramm für<br />

Kleinkinder als auch Hausbesuche, die unter anderem die Eltern<br />

dazu ermutigten, weiter an diesem Programm teilzunehmen.<br />

Wiederholte Begutachtungen der Kinder zeigten durchgängig<br />

positive Wirkungen der Teilnahme an diesem Programm. Im Alter<br />

von drei Jahren wies die Interventionsgruppe einen um 14 Punkte<br />

höheren IQ auf als die Kontrollgruppe, auch wenn dieser Vorteil<br />

gegenüber Kindern mit weniger ausgeprägtem Untergewicht bei<br />

der Geburt (2000–2500 g gegenüber 2000 g <strong>und</strong> darunter) größer<br />

war. Ähnliches ergaben die Nachuntersuchungen dieser Kinder<br />

<strong>im</strong> Alter von fünf <strong>und</strong> acht Jahren, wobei der Unterschied zwischen<br />

Interventions- <strong>und</strong> Kontrollgruppe nur für Kinder mit Ge-<br />

..<br />

Abb. 2.17 Kleine W<strong>und</strong>er. Hier sehen Sie (a) eines der kleinsten Neugeborenen,<br />

das je überlebte, <strong>und</strong> (b) dasselbe Kind mit 14 Jahren. Als Madeline<br />

1989 nach nur 27 Schwangerschaftswochen geboren wurde, wog sie lediglich<br />

280 g – ungefähr so viel wie drei Stück Seife. Extrem untergewichtige<br />

Babys neigen zu gravierenden Behinderungen; Madeline aber ist bemerkenswert<br />

ges<strong>und</strong>, wenn man einmal davon absieht, dass sie ein bisschen klein für<br />

ihr Alter ist <strong>und</strong> Asthma hat. Sie wechselte mit Auszeichnung ins Gymnasium<br />

über <strong>und</strong> liebt das Violinespielen <strong>und</strong> Inlineskating. (© A. Hayashi, Loyola<br />

University Health System)


Das Neugeborene<br />

69 2<br />

..<br />

Abb. 2.18 Massage eines Neugeborenen. Jeder Mensch genießt eine<br />

gute Massage, aber Neugeborene in der Klinik profitieren besonders von<br />

zusätzlicher Berührung. (© Stevie Grand/Photo Researchers)<br />

burtsgewichten über 2000 g verringert war. In der jüngsten Nachuntersuchung<br />

der Teilnehmer mit 18 Jahren waren noch <strong>im</strong>mer<br />

Unterschiede zu beobachten, bei denen die Interventionsgruppe<br />

Vorteile aufwies, allerdings wiederum nur bei denjenigen Jugendlichen,<br />

die mit etwas höherem Gewicht zur Welt gekommen waren<br />

(McCormick et al. 2006). Aus ihren Ergebnissen schlossen die<br />

Forscher, dass frühes Eingreifen <strong>im</strong> Vorschulalter die Entwicklung<br />

von Risikokindern fördert. Gleichzeitig mussten sie einräumen,<br />

dass solche Interventionen bei extrem untergewichtig geborenen<br />

Kindern wahrscheinlich weniger erfolgreich sind.<br />

Dem IHDP lassen sich drei wichtige allgemeine Tatbestände<br />

entnehmen, die relevant für Interventionsbemühungen bei Fällen<br />

mit hohem Risiko sind. Erstens bewirken viele Interventionsprogramme<br />

nur mäßigen Zugewinn, <strong>und</strong> oft verschwindet dieser bescheidene<br />

Zugewinn <strong>im</strong> Lauf der Zeit. Zudem hängt der Erfolg<br />

jeglicher Intervention vom ursprünglichen Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

des <strong>Kindes</strong> ab. Viele Programme für untergewichtige Babys nützten<br />

wie das IHDP solchen Kindern mehr, die zu Beginn nicht<br />

gar so winzig waren. Diese Tatsache gibt Anlass zur Sorge, da die<br />

moderne Medizintechnologie das Leben <strong>im</strong>mer kleinerer Neugeborener<br />

retten kann, die ein enorm hohes Risiko tragen, dauerhaft<br />

<strong>und</strong> gravierend behindert zu sein. Schließlich gilt: Je mehr Risiken<br />

ein Kind trägt, desto geringer sind die Chancen positiver Effekte<br />

von Interventionsprogrammen. Weil kumulierende Risiken für<br />

alle Aspekte der Entwicklung überaus wichtig sind, werden wir<br />

dieses Prinzip <strong>im</strong> folgenden Abschnitt genauer betrachten.<br />

Das Modell multipler Risiken<br />

Risikofaktoren neigen in dieser Welt dazu, gemeinsam aufzutreten.<br />

Eine Frau beispielsweise, die so alkohol-, kokain- oder<br />

heroinabhängig ist, dass sie ihren Drogenmissbrauch selbst in<br />

der Schwangerschaft fortsetzt, steht wahrscheinlich auch unter<br />

..<br />

Abb. 2.19 Multiple Risikofaktoren. Kinder, die in Familien mit mehreren<br />

Risikofaktoren aufwachsen, entwickeln mit höherer Wahrscheinlichkeit<br />

psychiatrische Störungen als Kinder aus Familien mit nur einem oder zwei<br />

problematischen Merkmalen. (Rutter 1979)<br />

großem Stress, <strong>und</strong> es ist recht unwahrscheinlich, dass sie sich<br />

gut ernährt, Vitamine zu sich n<strong>im</strong>mt, ein hohes Einkommen hat,<br />

die Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen wahrn<strong>im</strong>mt <strong>und</strong><br />

in jeder Weise auf sich achtet. Wie auch <strong>im</strong>mer die kumulativen<br />

Effekte dieser pränatalen Risikofaktoren <strong>im</strong> Einzelnen ausfallen<br />

mögen, sie werden sich wahrscheinlich noch verschl<strong>im</strong>mern,<br />

weil die Mutter ihren unges<strong>und</strong>en Lebensstil nach der Geburt<br />

vermutlich beibehält <strong>und</strong> dadurch ihre Fähigkeit einschränkt,<br />

ihr Kind gut zu versorgen (z. B. Weston et al. 1989).<br />

Wir werden in diesem Buch <strong>im</strong>mer wieder darauf stoßen,<br />

dass ein negativer Entwicklungsausgang – gleich ob in der pränatalen<br />

oder in der späteren Entwicklung – mit höherer Wahrscheinlichkeit<br />

eintritt, wenn mehrere Risikofaktoren gleichzeitig<br />

vorliegen. Als klassischer Nachweis dieser Tatsache gilt eine<br />

Studie von Michael Rutter (1979), der über eine erhöhte Quote<br />

psychiatrischer Störungen bei englischen Kindern berichtet, die<br />

in Familien mit vier oder mehr Risikofaktoren aufwachsen – darunter<br />

Eheprobleme, niedriger sozioökonomischer Status, Kr<strong>im</strong>inalität<br />

väterlicher- <strong>und</strong> psychischer Störungen mütterlicherseits<br />

(. Abb. 2.19). Das Risiko, eine Störung zu entwickeln, ist bei Kindern,<br />

deren Eltern sich viel streiten, nur leicht erhöht, aber wenn<br />

die Familie zusätzlich auch arm ist, der Vater kr<strong>im</strong>inell wird <strong>und</strong><br />

die Mutter emotionale Probleme hat, dann erhöht sich das Risiko<br />

des <strong>Kindes</strong> auf fast das Zehnfache. Ähnliche Muster wurden für<br />

eine Verminderung der Intelligenztestwerte (Sameroff et al. 1993)<br />

sowie sozial-emotionaler Kompetenzen (Sameroff et al. 1987)<br />

nachgewiesen.<br />

Armut als Entwicklungsrisiko<br />

Man kann es, da es so außerordentlich wichtig ist, gar nicht<br />

oft genug betonen: Das Vorliegen mehrfacher Risiken hängt<br />

aufs Engste mit dem sozioökonomischen Status zusammen.<br />

Betrachten wir einige der schon behandelten Faktoren, die bekanntermaßen<br />

für die Entwicklung des Fetus gefährlich sind:


70<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

2<br />

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unzureichende pränatale Vorsorge, schlechte Ernährung, Krankheit,<br />

emotionaler Stress, Rauchen, Drogenmissbrauch <strong>und</strong> der<br />

Kontakt mit beruflichen <strong>und</strong> umweltbedingten Gefahren. All<br />

diesen Faktoren ist eine Frau, die unterhalb der Armutsgrenze<br />

lebt, mit größerer Wahrscheinlichkeit ausgesetzt als eine Frau<br />

aus der Mittelschicht. So kann es nicht überraschen, dass das<br />

Ergebnis von Schwangerschaften für Kinder aus Familien mit<br />

niedrigem sozioökonomischem Status insgesamt weniger positiv<br />

ausfällt als für die Babys von Mittelschichteltern (Kopp 1990;<br />

Minde 1993; Sameroff 1986). Und so sollte es auch nicht verw<strong>und</strong>ern,<br />

dass bei untergewichtigen Babys die Entwicklung zu<br />

schlechteren Resultaten führt, wenn das Kind aus einer sozial<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlich schwachen Familie stammt (Drillien 1964;<br />

Gross et al. 1997; Kalmár 1996; Largo et al. 1989; Lee <strong>und</strong> Barratt<br />

1993; McCarton et al. 1997; Meisels <strong>und</strong> Plunkett 1988).<br />

Ein gleichermaßen trauriger Sachverhalt besteht darin, dass<br />

in vielen Ländern die Familien von Minderheiten in den niedrigsten<br />

Schichten überrepräsentiert sind. Nach einer Studie des<br />

National Center for Children in Poverty lebten 2011 22 % der<br />

Kinder in Familien mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze<br />

(entsprechend 22.350 $ für eine vierköpfige Familie). Allerdings<br />

lag dieser Prozentsatz bei Afroamerikanern <strong>und</strong> Hispanos deutlich<br />

höher, nämlich bei 39 bzw. 34 % (Addy et al. 2013). Ihr<br />

sozioökonomischer Status setzt viele Feten, Neugeborene <strong>und</strong><br />

Kleinkinder von Minderheiten somit einem erhöhten Risiko aus,<br />

Entwicklungsprobleme zu bekommen.<br />

Nach Auskunft der B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung<br />

(Newsletter 23.4.2013) lag die Armutsgefährdung in Deutschland<br />

2011 bei etwa 12 % der Gesamtbevölkerung, unter Migranten<br />

jedoch mehr als doppelt so hoch (26 %). Auch hier zeigt sich<br />

folglich eine ungleiche Verteilung der Entwicklungsrisiken für<br />

verschiedene Bevölkerungsgruppen.<br />

Risiko <strong>und</strong> Resilienz<br />

Natürlich gibt es auch Individuen, die sich mehrfachen <strong>und</strong><br />

scheinbar überwältigenden Risiken <strong>und</strong> Gefahren gegenübersehen<br />

<strong>und</strong> sich dennoch gut entwickeln. Bei der Untersuchung<br />

solcher Kinder bringen die Forscher das Konzept der Entwicklungsresilienz<br />

ins Spiel (Garmezy 1983; Masten et al. 1990;<br />

Sameroff 1998). Resiliente Kinder – so wie die in der Kauai-<br />

Untersuchung, die wir in ▶ Kap. 1 erörtert haben – weisen oft<br />

zwei günstige Faktoren auf: Sie besitzen erstens best<strong>im</strong>mte Persönlichkeitseigenschaften,<br />

insbesondere Intelligenz, Offenheit<br />

<strong>und</strong> das Bewusstsein, die eigenen Ziele erreichen zu können,<br />

<strong>und</strong> zweitens erhalten sie von irgendjemandem wohlwollende<br />

Fürsorge..<br />

Entwicklungsresilienz – Die erfolgreiche Entwicklung trotz mehrfacher <strong>und</strong><br />

scheinbar überwältigender Entwicklungsrisiken.<br />

Entwicklung ist eine sehr komplexe Angelegenheit, schon vom<br />

Moment der Befruchtung <strong>und</strong> Empfängnis an. Dass diese Komplexität<br />

erhalten bleibt, dürfte <strong>im</strong> Verlauf der Lektüre dieses Buches<br />

deutlich werden. Zwar können die früheren Ereignisse <strong>und</strong><br />

Erfahrungen die spätere Entwicklung nachhaltig beeinflussen,<br />

doch steht der Ausgang einer Entwicklung niemals von vornherein<br />

fest.<br />

In Kürze | |<br />

Die Erfahrungen des neugeborenen <strong>Kindes</strong> werden durch<br />

innere Aktivierungs- oder Erregungszustände vermittelt, die<br />

von tiefem Schlaf bis zu intensivem Schreien reichen, wobei<br />

zwischen den Individuen große Unterschiede <strong>im</strong> Hinblick<br />

darauf bestehen, wie lange sie sich in welchem Zustand<br />

befinden. Neugeborene verbringen etwa die Hälfte der Zeit<br />

schlafend, <strong>und</strong> die Schlafdauer verringert sich in der frühen<br />

Kindheit relativ schnell <strong>und</strong> über die gesamte Lebensspanne<br />

hinweg kontinuierlich weiter. Die Forscher nehmen an,<br />

dass ein Großteil der Zeit, die Neugeborene <strong>im</strong> REM-Schlaf<br />

verbringen, für die Entwicklung des visuellen Systems <strong>und</strong><br />

des Gehirns wichtig ist. Das Schreien der Säuglinge ist für die<br />

Eltern ein besonders auffälliges Verhalten, das <strong>im</strong> Allgemeinen<br />

Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Fürsorge hervorruft. Wirksame<br />

Beruhigungstechniken bestehen in mäßiger, kontinuierlicher<br />

oder wiederholter St<strong>im</strong>ulation. Es besteht eine systematische<br />

Beziehung zwischen der Art, wie Eltern auf die Stresssignale<br />

ihres <strong>Kindes</strong> reagieren, <strong>und</strong> dessen langfristigem Schreiverhalten.<br />

Schwangerschaften nehmen bei Frauen aus Familien, die<br />

in Armut leben <strong>und</strong> Minderheiten angehören, besonders<br />

häufig einen schlechten Ausgang. Deutschland schneidet<br />

bei der Säuglingssterblichkeit vergleichbar gut ab; der Anteil<br />

untergewichtiger Geburten liegt vergleichsweise gering. Die<br />

meisten dieser Kinder erleiden kaum bleibende Folgen, aber<br />

die Entwicklung extrem untergewichtiger Neugeborener ist<br />

auf lange Sicht oft problematisch. Mehrere groß angelegte<br />

Interventionsprogramme konnten die Bilanz für mäßig untergewichtige<br />

Kinder erfolgreich verbessern.<br />

Nach dem Modell multipler Risiken steigt mit der Anzahl der<br />

Risiken, denen ein Fetus oder Kind ausgesetzt ist, die Wahrscheinlichkeit<br />

für eine Vielzahl von Entwicklungsproblemen.<br />

Niedriger sozioökonomischer Status geht mit vielen Gefahren<br />

<strong>und</strong> Risiken für die Entwicklung einher. Trotz der mehrfachen<br />

Risiken, die für viele Kinder bestehen, legen einige von ihnen<br />

eine bemerkenswerte Resilienz an den Tag <strong>und</strong> entwickeln<br />

sich gut.<br />

Zusammenfassung<br />

-<br />

Pränatale Entwicklung<br />

Anlage <strong>und</strong> Umwelt wirken bei der pränatalen Entwicklung<br />

zusammen. Ein großer Teil dieser Entwicklung wird vom<br />

Fetus selbst hervorgebracht; er ist ein aktiver Mitgestalter<br />

seines eigenen Entwicklungsfortschritts. Zwischen dem,<br />

was vor <strong>und</strong> was nach der Geburt vor sich geht, besteht<br />

große Kontinuität; die Kinder legen die Wirkungen dessen<br />

-<br />

an den Tag, was ihnen <strong>im</strong> Mutterleib widerfahren ist.<br />

Die pränatale Entwicklung beginnt auf der Ebene einzelner<br />

Zellen mit der Befruchtung, der Vereinigung einer mütterlichen<br />

Eizelle mit einem Spermium des Vaters, wodurch die<br />

Zygote entsteht. Die Zygote vervielfältigt <strong>und</strong> teilt sich auf<br />

ihrem Weg durch einen der Eileiter.


Zusammenfassung<br />

-<br />

Die Zygote unterliegt den Prozessen der Zellteilung, der<br />

Zellmigration, der Differenzierung <strong>und</strong> des Absterbens von<br />

Zellen (der Apoptose). Diese Prozesse setzen sich während<br />

-<br />

der gesamten pränatalen Entwicklung fort.<br />

Wenn sich die Zygote in der Gebärmutterwand einnistet,<br />

wird sie zum Embryo. Von diesem Moment an ist der<br />

Embryo von der Mutter abhängig – er erhält Nährstoffe<br />

sowie Sauerstoff <strong>und</strong> entsorgt Abfallstoffe über die Plazenta.<br />

-<br />

Das Verhalten des Fetus beginnt fünf oder sechs Wochen<br />

nach der Befruchtung, noch unbemerkt von der Mutter, mit<br />

einfachen Bewegungen; diese werden zunehmend komplexer<br />

<strong>und</strong> strukturieren sich zu Bewegungsmustern. Später<br />

übt der Fetus Verhaltensweisen, die für ein unabhängiges<br />

Leben unerlässlich sind, darunter das Schlucken <strong>und</strong> eine<br />

-<br />

Art intrauterines „Atmen“.<br />

Der Fetus erlebt <strong>im</strong> Mutterleib eine Fülle von St<strong>im</strong>ulationen<br />

sowohl aus dem Körper der Mutter als auch aus<br />

der äußeren Umgebung. Aus dieser Erfahrung lernt der<br />

Fetus. Das zeigen Untersuchungen, die nachgewiesen<br />

haben, dass sowohl die Feten als auch die Neugeborenen<br />

zwischen bekannten <strong>und</strong> neuartigen Geräuschen – insbesondere<br />

sprachlichen Lauten – unterscheiden können<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Mutterleib nachhaltige Geschmackspräferenzen<br />

-<br />

entwickeln.<br />

Für die pränatale Entwicklung bestehen viele Risiken. Das<br />

häufigste Schicksal eines befruchteten Eis ist der spontane<br />

Abort (eine Fehlgeburt). Eine ganze Palette von Umweltfaktoren<br />

kann die pränatale Entwicklung gefährden. Dazu<br />

gehören schädliche Einflüsse – sogenannte Teratogene<br />

– aus der äußeren Umwelt <strong>und</strong> best<strong>im</strong>mte mütterliche<br />

Merkmale <strong>und</strong> Gewohnheiten, zum Beispiel das Alter der<br />

Mutter, ihr Ernährungszustand, ihre körperliche Ges<strong>und</strong>heit,<br />

ihre Verhaltensweisen (insbesondere der Konsum<br />

legaler <strong>und</strong> illegaler Drogen) <strong>und</strong> ihre emotionale Verfassung.<br />

-<br />

Die Geburtserfahrung<br />

Etwa 40 Wochen nach der Befruchtung ist das Baby so<br />

weit, dass es geboren werden kann. Normalerweise trägt<br />

das Verhalten des Fetus zu diesem Zeitpunkt dazu bei, den<br />

-<br />

Geburtsvorgang einzuleiten.<br />

Der Prozess, in dem der Fetus durch den Geburtskanal<br />

gepresst wird, hat auf das Neugeborene mehrere positive<br />

Auswirkungen; beispielsweise bereitet er das Kind auf<br />

-<br />

seinen ersten Atemzug vor.<br />

Die Geburtspraktiken variieren zwischen den verschiedenen<br />

Kulturen enorm. Zum Teil hängen sie davon ab,<br />

welche Ziele <strong>und</strong> Werte von einer Kultur besonders betont<br />

werden.<br />

Das Neugeborene<br />

Neugeborene zeigen sechs verschiedene Aktivierungszustände,<br />

vom tiefen Schlafen bis zum aktiven Schreien.<br />

-<br />

Wie viel Zeit Säuglinge in den einzelnen Zuständen verbringen,<br />

kann sich stark unterscheiden, sowohl zwischen<br />

Individuen als auch zwischen Kulturen.<br />

71 2<br />

-<br />

Der REM-Schlaf scheint den Mangel an visueller St<strong>im</strong>ulation<br />

auszugleichen, der daraus resultiert, dass <strong>im</strong> Mutterleib<br />

Dunkelheit herrscht <strong>und</strong> das Neugeborene viele St<strong>und</strong>en<br />

-<br />

am Tag schläft, also mit geschlossenen Augen verbringt.<br />

Das Schreien eines Babys kann für andere äußerst unangenehm<br />

sein, <strong>und</strong> Eltern setzen viele Strategien ein, um<br />

-<br />

verzweifelt schreiende Babys zu beruhigen.<br />

Die Säuglingssterblichkeit ist in Deutschland vergleichsweise<br />

gering. Die Babys von Eltern mit niedrigem sozioökonomischen<br />

Status sterben allerdings wesentlich häufiger<br />

-<br />

als die Kinder gut situierter Eltern.<br />

Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 2500 g gelten<br />

als untergewichtig. Für diese Kinder besteht das Risiko<br />

vielfältiger Entwicklungsprobleme, <strong>und</strong> je geringer das<br />

Geburtsgewicht ist, desto höher ist das Risiko bleibender<br />

-<br />

Schwierigkeiten.<br />

Es gibt eine Vielzahl von Interventionsprogrammen, um<br />

den Entwicklungsverlauf bei untergewichtigen Babys zu<br />

verbessern, aber der Erfolg solcher Programme hängt stark<br />

von der Anzahl der Risikofaktoren ab, denen das Baby<br />

-<br />

gleichzeitig ausgesetzt ist.<br />

Das Modell der multiplen Risiken verweist auf die Tatsache,<br />

dass Kinder mit mehreren Risikofaktoren wahrscheinlicher<br />

bleibende Entwicklungsstörungen aufweisen. Armut ist ein<br />

besonders tückisches Entwicklungsrisiko, teils deswegen,<br />

weil sie untrennbar mit zahlreichen anderen negativen<br />

-<br />

Einflussfaktoren zusammenhängt.<br />

Manche Kinder erweisen sich selbst angesichts beträchtlicher<br />

Risikofaktoren als widerstandsfähig oder resilient.<br />

Resilienz scheint aus best<strong>im</strong>mten persönlichen Eigenschaften<br />

hervorzugehen sowie auf der Aufmerksamkeit<br />

<strong>und</strong> der emotionalen Unterstützung durch andere Menschen<br />

zu beruhen.<br />

Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />

1. Eine Karikatur zeigte kürzlich eine schwangere Frau, die<br />

eine Straße entlangläuft <strong>und</strong> eine Art MP3-Player mit sich<br />

trägt, dessen überd<strong>im</strong>ensionale Kopfhörer ihrem hervorquellenden<br />

Bauch aufgesetzt sind. Warum? Aufgr<strong>und</strong><br />

welcher Forschungen könnte sie sich so verhalten, <strong>und</strong><br />

welche Annahmen hat sie über das Ergebnis ihres Tuns?<br />

Wenn Sie oder Ihre Partnerin schwanger wären, würden<br />

Sie etwas Ähnliches tun?<br />

2. Wir hören dauernd von den schrecklichen <strong>und</strong> tragischen<br />

Auswirkungen illegaler Drogen wie Kokain <strong>und</strong><br />

von Krankheiten wie AIDS auf die Entwicklung des Fetus.<br />

Welche beiden mütterlichen Verhaltensweisen, die mit<br />

pränatalen Schädigungen einhergehen, wie wir sie in<br />

diesem Kapitel beschrieben haben, sind heutzutage tatsächlich<br />

die häufigsten? Nennen Sie einige der möglichen<br />

Wirkungen.<br />

3. Angenommen, Sie arbeiten in einem Projekt des Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

mit, um die pränatale Entwicklung zu verbessern,<br />

<strong>und</strong> können nur einen einzigen Faktor ins Auge<br />

fassen. Welchen Faktor würden Sie anpeilen <strong>und</strong> warum?


72<br />

Kapitel 2 • Pränatale Entwicklung, Geburt <strong>und</strong> das Neugeborene<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

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18<br />

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20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

4. Beschreiben Sie einige der kulturellen Unterschiede, die<br />

in den Annahmen <strong>und</strong> Praktiken hinsichtlich Empfängnis,<br />

Schwangerschaft <strong>und</strong> Geburt bestehen. Gibt es irgendeine<br />

Praxis einer anderen Gesellschaft, die Ihnen besser gefällt<br />

als das, was Sie aus Ihrer eigenen Kultur kennen?<br />

5. Ermutigen oder entmutigen Sie die Resultate von Interventionsprogrammen<br />

wie des IHDP? Wie könnte man sie<br />

nutzbringender <strong>und</strong> nachhaltiger gestalten?<br />

6. Erklären Sie die gr<strong>und</strong>legende Annahme des Modells<br />

multipler Risiken <strong>und</strong> dessen Bezug zur Armut <strong>im</strong> Hinblick<br />

auf die pränatale Entwicklung <strong>und</strong> die Geburtsresultate.<br />

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1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

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14<br />

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77 3<br />

Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Anlage <strong>und</strong> Umwelt – 78<br />

Die Macht der Gene <strong>und</strong> die Macht der Umwelt – 79<br />

Verhaltensgenetik – 89<br />

Die Entwicklung des Gehirns – 94<br />

Gehirnstrukturen – 94<br />

Entwicklungsprozesse – 97<br />

Die Bedeutung der Erfahrung – 101<br />

Die Wiederherstellung von Funktionen nach Hirnschäden – 104<br />

Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers – 105<br />

Wachstum <strong>und</strong> Reifung – 105<br />

Ernährungsverhalten – 106<br />

Zusammenfassung – 111<br />

Literatur – 112<br />

S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


78<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

© Gina Sanders/fotolia.com<br />

Vor etlichen Jahren erhielt einer unserer Autoren einen Anruf<br />

von der Polizei. Ein Kontaktbereichsbeamter wollte vorbeikommen<br />

<strong>und</strong> sich mit ihm über einige Straßenschilder <strong>und</strong> Verkehrszeichen<br />

unterhalten, die gestohlen wurden, <strong>und</strong> auch darüber,<br />

dass einer der Übeltäter der 17-jährige Sohn dieses Autors war.<br />

An einem sehr ausgelassenen <strong>und</strong> vernunftgetrübten Abend<br />

hatte der Sohn mit zwei Fre<strong>und</strong>en zusammen über ein Dutzend<br />

Schilder gestohlen <strong>und</strong> sie auf dem Dachboden versteckt. Seine<br />

bestürzten Eltern grübelten, wie ihr süßer, lieber, sensibler Pfadfindersohn<br />

sich dermaßen <strong>im</strong> Vorhersehen der Folgen seiner<br />

Handlung verschätzt haben konnte.<br />

Viele Eltern grübeln ähnlich darüber nach, wie ihre einst<br />

musterhaften Kinder zu gedankenlosen, verantwortungslosen,<br />

selbstsüchtigen, unhöflichen, schlecht gelaunten Wesen mutieren<br />

konnten, nur weil sie in die Pubertät kamen. Nicht nur Eltern<br />

w<strong>und</strong>ern sich über den Verhaltenswandel ihres Nachwuchses;<br />

auch die Heranwachsenden selbst sind oft verblüfft <strong>und</strong> rätseln,<br />

was in sie gefahren sein mag. Eine 14-Jährige klagte:<br />

» Manchmal geht es einfach mit mir durch. […] All dieser<br />

Krempel mit Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Schule <strong>und</strong> wie ich aussehe <strong>und</strong><br />

obendrein meine Eltern. Da gehe ich einfach in mein<br />

Z<strong>im</strong>mer <strong>und</strong> mache die Tür zu. […] Gemein will ich eigentlich<br />

gar nicht sein, aber manchmal muss ich einfach weg<br />

von alledem <strong>und</strong> mich beruhigen, indem ich für mich bin<br />

(Strauch 2003).<br />

Und ein 15-Jähriger drückte Ähnliches aus:<br />

» Ich ecke jetzt <strong>im</strong>mer häufiger an, noch dazu für irgendwelchen<br />

Pipifax, den ich gar nicht so gemeint habe. […] Ich vergesse, zu<br />

Hause anzurufen. Ich weiß nicht, warum. Ich hänge einfach mit<br />

meinen Fre<strong>und</strong>en ab <strong>und</strong> bin ganz bei denen, <strong>und</strong> da vergesse<br />

ich das eben. Und dann kriegen meine Eltern die Krise, <strong>und</strong> ich<br />

drehe auch durch, <strong>und</strong> es ist ein Haufen Chaos (Strauch 2003).<br />

Neue Einblicke in diese oft abrupten Entwicklungsveränderungen<br />

eröffneten sich, als man die biologischen F<strong>und</strong>amente der<br />

Verhaltensentwicklung erforschte. Heute vermuten Forscher,<br />

dass viele der Verhaltensänderungen, die Eltern wie Jugendliche<br />

bekümmern, an dramatische Veränderungen in Struktur<br />

<strong>und</strong> Funktion des Gehirns geknüpft sind, die in der Adoleszenz<br />

ablaufen. Auch gibt es <strong>im</strong>mer mehr Belege dafür, dass einige genetische<br />

Prädispositionen erst in der Adoleszenz in Erscheinung<br />

treten, die zu den scheinbar abrupten Veränderungen beitragen.<br />

Wesentlich für das Verständnis der Entwicklung, egal zu welchem<br />

Zeitpunkt <strong>im</strong> Lebensverlauf, ist natürlich die Kenntnis der<br />

biologischen F<strong>und</strong>amente, die Verhaltensentwicklungen untermauern.<br />

Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf den wichtigsten<br />

biologischen Faktoren, die vom Augenblick der Befruchtung bis in<br />

die Pubertät hinein <strong>im</strong> Spiel sind: die Vererbung <strong>und</strong> der Einfluss<br />

der Gene, die Entwicklung <strong>und</strong> frühe Funktion des Gehirns sowie<br />

wichtige Aspekte der körperlichen Entwicklung <strong>und</strong> Reifung. Jede<br />

unserer Körperzellen trägt das genetische Material, das wir bei der<br />

Befruchtung geerbt haben <strong>und</strong> das unser Verhalten lebenslang beeinflusst.<br />

Alle unsere Verhaltensweisen werden jeweils vom Gehirn<br />

gesteuert. Alles, was wir in welchem Alter auch <strong>im</strong>mer tun, ist über<br />

einen sich permanent verändernden Körper vermittelt, der sich in<br />

der frühen Kindheit <strong>und</strong> in der Adoleszenz sehr schnell <strong>und</strong> drastisch,<br />

in anderen Lebensphasen langsamer <strong>und</strong> subtiler verändert.<br />

Mehrere der in ▶ Kap. 1 vorgestellten Themen spielen auch<br />

jetzt wieder eine wichtige Rolle. Die Fragen nach Anlage <strong>und</strong><br />

Umwelt sowie nach individuellen Unterschieden zwischen Kindern<br />

sind <strong>im</strong> Verlauf des gesamten Kapitels relevant, insbesondere<br />

<strong>im</strong> ersten Abschnitt, der auf die Wechselwirkung zwischen<br />

genetischen Faktoren <strong>und</strong> Umweltfaktoren bei der Entwicklung<br />

gerichtet ist. Die Mechanismen der Veränderung kommen <strong>im</strong><br />

Zusammenhang mit dem Einfluss genetischer Faktoren auf die<br />

Entwicklung <strong>und</strong> der Beziehung zwischen Gehirnfunktionen<br />

<strong>und</strong> Verhalten zur Sprache. Auch die Kontinuität der Entwicklung<br />

wird <strong>im</strong>mer wieder betont. Und schließlich werden auch die<br />

Aktivitätsabhängigkeit von Entwicklungsprozessen <strong>und</strong> die Rolle<br />

des aktiven <strong>Kindes</strong> bei der Richtungsbest<strong>im</strong>mung der eigenen<br />

Entwicklung herausgestellt.<br />

Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

Alles an einem Menschen – von der körperlichen Gestalt, der<br />

intellektuellen Fähigkeit <strong>und</strong> den Persönlichkeitseigenschaften<br />

bis zu den bevorzugten Hobbys <strong>und</strong> Nahrungsmitteln – geht auf


Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

79 3<br />

das Zusammenwirken des von den Eltern geerbten genetischen<br />

Materials <strong>und</strong> der Umwelt zurück, das jeder Einzelne von der<br />

Befruchtung bis zur Gegenwart erfahren hat. Diese beiden Faktoren<br />

– Anlage <strong>und</strong> Umwelt – prägen gemeinsam sowohl die Art<br />

<strong>und</strong> Weise, in der wir anderen Menschen gleichen, als auch die<br />

Art <strong>und</strong> Weise, in der wir einzigartig sind.<br />

Lange bevor man die Prinzipien der Vererbung verstand, war<br />

Menschen bewusst, dass best<strong>im</strong>mte Persönlichkeitszüge <strong>und</strong> Eigenschaften<br />

„in der Familie liegen“ <strong>und</strong> dass diese Tendenz etwas<br />

mit der Fortpflanzung zu tun hat. Seit es Haustiere gibt, nutzen<br />

Landwirte die selektive Züchtung, um best<strong>im</strong>mte Eigenschaften<br />

ihres Viehbestands zu verbessern – die Größe ihrer Pferde <strong>und</strong> den<br />

Milchertrag ihrer Ziegen, Kühe oder Yaks. Auch ist der Menschheit<br />

seit Langem bekannt, dass die Umwelt bei der Entwicklung<br />

ebenfalls eine Rolle spielt – dass der Viehbestand beispielsweise<br />

nahrhaftes Futter benötigt, um viel Milch oder Wolle von guter<br />

Qualität zu produzieren. Als die Forscher begannen, die Beiträge<br />

von Vererbung <strong>und</strong> Umwelt zur Entwicklung zu untersuchen,<br />

betonten sie <strong>im</strong> Allgemeinen den einen oder den anderen Faktor<br />

– entweder Vererbung oder Umwelt, entweder Anlage oder<br />

Erziehung – als den wichtigsten Einfluss. Im England des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

beispielsweise untersuchte Francis Galton, ein Cousin<br />

Charles Darwins, eine Vielzahl herausragender Leistungen prominenter<br />

Persönlichkeiten in verschiedensten Bereichen (Galton<br />

1869/1962) <strong>und</strong> kam zu dem Schluss, dass Begabung in der Familie<br />

liegt: Sehr nahe Verwandte eines bedeutenden Mannes (sein Vater,<br />

Bruder, Sohn) erbrachten mit höherer Wahrscheinlichkeit auch<br />

selbst außergewöhnliche Leistungen als weniger nahe Verwandte.<br />

Zu Galtons Fallbeispielen eng verwandter bedeutender Männer<br />

gehörten John Stuart Mill <strong>und</strong> dessen Vater, beide angesehene<br />

englische Philosophen. Allerdings wies Mill darauf hin, dass die<br />

meisten von Galtons bedeutenden Männern gleichzeitig Mitglieder<br />

wohlhabender Familien waren, <strong>und</strong> er schrieb die Beziehung<br />

zwischen ihren Leistungen <strong>und</strong> ihrer Verwandtschaft der Tatsache<br />

zu, dass sie vergleichbare Lebensbedingungen hatten, was<br />

ihren ökonomischen Wohlstand, ihren sozialen Status, ihre Ausbildung<br />

<strong>und</strong> Erziehung <strong>und</strong> weitere Vorteile <strong>und</strong> Gelegenheiten<br />

betrifft. Kurz gesagt erreichten Galtons Prominente nach Mills<br />

Auffassung ihre Bedeutung vor allem wegen ihrer Umwelt statt<br />

wegen ihrer Erbanlagen.<br />

Unser heutiges Verständnis davon, wie Eigenschaften von<br />

den Eltern an die Nachkommen weitergegeben werden, hat seine<br />

Wurzeln in Erkenntnissen von Gregor Mendel, einem österreichischen<br />

Mönch des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, der Vererbungsmuster bei<br />

den Erbsenpflanzen in seinem Klostergarten beobachtete. Später<br />

stellte sich heraus, dass einige Aspekte dieser Vererbungsmuster<br />

für alle Lebewesen Gültigkeit besitzen (wir kommen darauf in<br />

. Abb. 3.3 zurück). Ein viel umfassenderes Verständnis, wie genetische<br />

Einflüsse funktionieren, ermöglichte 1953 die Best<strong>im</strong>mung<br />

der DNA-Struktur, der gr<strong>und</strong>legenden Komponente der Erbsubstanz,<br />

durch James Watson <strong>und</strong> Francis Crick.<br />

Seit dieser bahnbrechenden Entdeckung hat man be<strong>im</strong> Entziffern<br />

des genetischen Codes enorme Fortschritte gemacht. Forscher<br />

haben für unzählige Pflanzen- <strong>und</strong> Tierarten das gesamte<br />

Genom – den vollständigen Satz aller Gene – kartiert, darunter<br />

die Genome von Hühnern, Mäusen, Sch<strong>im</strong>pansen, Menschen<br />

<strong>und</strong> sogar einiger bereits ausgestorbener Spezies einschließlich<br />

von frühen Vorfahren des Menschen wie dem Neandertaler<br />

(Green et al. 2010). So begann ein Konsortium von Genetikern<br />

<strong>im</strong> Jahr 2010 mit der Sequenzierung der Genome von 10.000<br />

verschiedenen Wirbeltierarten (Lander 2011). Von der Untersuchung<br />

der Genome so unterschiedlicher Arten verspricht man<br />

sich Aufschlüsse nicht nur über diese Arten, sondern auch über<br />

die Evolution des Menschen <strong>und</strong> über die Funktionsweise der<br />

Gene. Be<strong>im</strong> Vergleich der Genome unterschiedlicher Arten kam<br />

viel über die genetische Ausstattung von uns Menschen zutage,<br />

<strong>und</strong> es gab zahlreiche Überraschungen.<br />

Genom – Der vollständige Satz von Genen (d. h. Erbinformation tragenden<br />

DNA-Abschnitten) eines Organismus.<br />

Eine dieser Überraschungen war die Anzahl menschlicher Gene:<br />

Die derzeitige Schätzung – r<strong>und</strong> 21.000 Gene – liegt viel niedriger<br />

als die ursprünglichen Schätzungen von 35.000 bis über 100.000<br />

Genen (Clamb et al. 2007). Eine weitere große Überraschung bestand<br />

darin, dass alle Lebewesen die meisten dieser Gene tragen.<br />

Wir Menschen teilen einen großen Anteil unserer Gene mit Bären,<br />

Bachkrebsen, Bohnen <strong>und</strong> Bakterien. Die meisten unserer<br />

Gene dienen dazu, aus uns in aufsteigender Reihenfolge niedere<br />

Tiere, Wirbeltiere, Säugetiere, Pr<strong>im</strong>aten <strong>und</strong> schließlich Menschen<br />

zu machen. Die dritte Überraschung ist ein Highlight des<br />

nächsten Abschnitts.<br />

Je mehr die Forscher zur Rolle von Vererbungsfaktoren bei der<br />

Entwicklung herausfanden, desto stärker wurden ihnen auch die<br />

Grenzen dessen bewusst, was sich allein mit diesen Faktoren erklären<br />

lässt. In ähnlicher Weise wurde mit dem wachsenden Wissen<br />

über den Einfluss der Erfahrung auf die Entwicklung deutlich, dass<br />

Erfahrung allein nur selten eine befriedigende Erklärung bietet. Die<br />

Entwicklung resultiert aus dem engen <strong>und</strong> kontinuierlichen Zusammenspiel<br />

von Genen <strong>und</strong> Erfahrung, von Anlage <strong>und</strong> Umwelt,<br />

<strong>und</strong> dieses Thema steht <strong>im</strong> Zentrum des folgenden Abschnitts.<br />

Die Macht der Gene <strong>und</strong> die Macht der Umwelt<br />

Das enge <strong>und</strong> andauernde Zusammenspiel von Genen <strong>und</strong> Umwelt<br />

ist äußerst komplex. Um die Diskussion der Wechselwirkungen<br />

zwischen genetischen Faktoren <strong>und</strong> Umweltfaktoren<br />

zu vereinfachen, werden wir sie anhand des Modells der Vererbungs-<br />

<strong>und</strong> Umwelteinflüsse strukturieren, das in . Abb. 3.1<br />

dargestellt ist. Drei zentrale Elemente des Modells sind der Genotyp<br />

– das genetische Material, das ein Individuum erbt; der<br />

Phänotyp – die beobachtbare Ausprägung (Expr<strong>im</strong>ierung) des<br />

Genotyps, d. h. das Erscheinungsbild eines Menschen, zu dem<br />

sowohl die körperlichen Merkmale als auch das Verhalten gehören;<br />

<strong>und</strong> schließlich die Umwelt – alle Aspekte (einschließlich<br />

der pränatalen Erfahrungen) des Individuums <strong>und</strong> seiner Umgebung,<br />

die nicht die Gene selbst betreffen.<br />

Genotyp – Das genetische Material, das ein Individuum erbt.<br />

Phänotyp – Das beobachtbare Erscheinungsbild der Körper- oder Verhaltensmerkmale,<br />

d. h. die Ausprägung (Expression) des Genotyps.<br />

Umwelt – Alles außer den Genen, was zum Individuum <strong>und</strong> seiner Umgebung<br />

gehört.


80<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

..<br />

Abb. 3.1 Entwicklung. Zur<br />

Entwicklung tragen genetische <strong>und</strong><br />

Umweltfaktoren gemeinsam bei. Die<br />

fünf durchnummerierten Funktionsbeziehungen<br />

zwischen diesen<br />

Faktoren sind <strong>im</strong> Text ausführlich<br />

erläutert<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Diese drei Elemente sind an fünf Beziehungen beteiligt, die<br />

gr<strong>und</strong>legend für die Entwicklung jedes <strong>Kindes</strong> sind: (1) am genetischen<br />

Beitrag der Eltern zum Genotyp des <strong>Kindes</strong>; (2) am Beitrag<br />

des Genotyps des <strong>Kindes</strong> zu seinem eigenen Phänotyp; (3)<br />

am Beitrag der Umwelt des <strong>Kindes</strong> zu seinem Phänotyp; (4) am<br />

Einfluss des Phänotyps des <strong>Kindes</strong> auf seine Umgebung; <strong>und</strong> (5)<br />

am Einfluss der Umwelt auf den Genotyp des <strong>Kindes</strong>. Wir werden<br />

jede dieser fünf Relationen nun nacheinander betrachten.<br />

1. Genotyp der Eltern – Genotyp des <strong>Kindes</strong><br />

Die erste Beziehung zwischen dem elterlichen Genotyp <strong>und</strong> dem<br />

Genotyp des <strong>Kindes</strong> betrifft die Übertragung des genetischen<br />

Materials – der Chromosomen <strong>und</strong> Gene – von den Eltern auf<br />

ihre Nachkommen. Einen ersten Blick darauf hat hier bereits in<br />

▶ Kap. 2 die Verschmelzung der Ke<strong>im</strong>zellen vermittelt, wo bei der<br />

Befruchtung aus Eizelle <strong>und</strong> Spermium eine Zygote entsteht. Der<br />

Nucleus jeder Körperzelle, der Zellkern, enthält Chromosomen,<br />

lange, fadenartige Moleküle, die aus zwei verdrillten Strängen<br />

aus DNA (Desoxyribonukleinsäure) bestehen. Die DNA trägt<br />

alle biochemischen Bauanleitungen für die Entstehung <strong>und</strong> die<br />

Funktionen eines Organismus. Diese Informationen sind in Genen<br />

„zusammengepackt“, den Gr<strong>und</strong>einheiten der Vererbung<br />

bei allen Lebewesen. Gene sind Abschnitte von Chromosomen;<br />

genauer gesagt ist jedes Gen ein DNA-Abschnitt, der den Code<br />

für die Produktion eines best<strong>im</strong>mten Proteins (Eiweißmoleküls)<br />

enthält. Einige Proteine sind die Bausteine der Körperzellen;<br />

andere steuern die Funktionen der Zelle. Gene beeinflussen die<br />

Entwicklung <strong>und</strong> das Verhalten ausschließlich über die Produktion<br />

von Proteinen – „die in Fleisch <strong>und</strong> Blut übersetzte DNA-<br />

Information“ (Levine <strong>und</strong> Suzuki 1993, S. 19).<br />

Chromosomen – Lange, fadenartige Moleküle, die genetische Information<br />

übertragen; Chromosomen bestehen aus DNA.<br />

DNA (Desoxyribonukleinsäure) – Die Erbsubstanz, die das genetische Programm<br />

für die biochemischen Prozesse codiert <strong>und</strong> bei der Entstehung <strong>und</strong><br />

der Funktion eines Organismus beteiligt ist.<br />

Gene – DNA-Abschnitte eines Chromosoms, die bei allen Lebewesen das Gr<strong>und</strong>element<br />

der Vererbung sind.<br />

Und jetzt kommt die angekündigte Überraschung: Wie die Forscher<br />

herausgef<strong>und</strong>en haben, machen Gene – jedenfalls „Gene“<br />

<strong>im</strong> Sinne der traditionellen Definition – nur 2 % des menschlichen<br />

Genoms aus (Mouse Genome Sequencing Consortium<br />

2002). Der große Rest der DNA, der lange als nichtcodierende<br />

„Schrott“-DNA angesehen wurde, hat sich als wichtig für die Regulation<br />

der proteincodierenden Gene erwiesen, durch die die<br />

genetische Transmission der Erbinformation bei der Verschmelzung<br />

der Gameten unterstützt wird (z. B. Mendes Soares <strong>und</strong> Valcárcel<br />

2006). Wie viel der nichtcodierenden DNA für lebenswichtige<br />

Funktionen entscheidend ist <strong>und</strong> welche Mechanismen diese<br />

DNA steuert, ist bislang rätselhaft <strong>und</strong> umstritten – das wird sich<br />

be<strong>im</strong> gegenwärtigen Fortschritt der genetischen Forschung schon<br />

bald ganz anders darstellen.<br />

Vererbung be<strong>im</strong> Menschen<br />

Menschen besitzen normalerweise insgesamt 46 Chromosomen<br />

<strong>im</strong> Nucleus jeder Zelle, mit der Ausnahme von Eizellen<br />

<strong>und</strong> Spermien. (Man erinnere sich an die Ausführungen in<br />

▶ Kap. 2, denen zufolge Eizelle <strong>und</strong> Spermium als Ergebnis der<br />

Meiose, der Zellteilung zur Produktion von Ke<strong>im</strong>zellen, jeweils<br />

nur 23 Chromosomen besitzen.) Bei den 46 Chromosomen handelt<br />

es sich um 23 Chromosomenpaare (. Abb. 3.2). Mit einer<br />

Ausnahme – den geschlechtsbest<strong>im</strong>menden Chromosomen –<br />

haben beide Elemente eines Chromosomenpaares ungefähr dieselbe<br />

Größe <strong>und</strong> Form. Ferner trägt jedes Chromosomenpaar,<br />

für gewöhnlich an korrespondierenden Stellen, Gene desselben<br />

Typs. Das bedeutet, dass jedes Paar an übereinst<strong>im</strong>menden Orten<br />

DNA-Sequenzen trägt, die für dieselben Personenmerkmale<br />

relevant sind. Von jedem Elternteil wurde jeweils ein Element<br />

eines jeden Chromosomenpaares vererbt. Jedes Individuum besitzt<br />

demnach zwei Kopien von jedem Gen, eines auf dem vom<br />

Vater <strong>und</strong> eines auf dem von der Mutter geerbten Chromosom.<br />

Ihre Kinder wiederum werden die Hälfte Ihres genetischen Materials<br />

erhalten, <strong>und</strong> Ihre Enkel werden ein Viertel davon besitzen<br />

(so wie Sie selbst die Hälfte Ihrer Gene mit jedem Ihrer<br />

Elternteile gemeinsam haben <strong>und</strong> jeweils ein Viertel mit jedem<br />

Großelternteil).<br />

Die Best<strong>im</strong>mung des Geschlechts<br />

Wie schon angedeutet, gibt es eine wichtige Ausnahme von der<br />

Regel, dass die beiden Elemente eines Chromosomenpaares von<br />

gleicher Größe <strong>und</strong> Form sind <strong>und</strong> dieselben Gene tragen. Diese<br />

Ausnahme betrifft die Geschlechtschromosomen, die das Geschlecht<br />

eines Individuums best<strong>im</strong>men. Frauen besitzen zwei<br />

identische, relativ große Geschlechtschromosomen, die sogenannten<br />

X-Chromosomen, aber Männer besitzen ein X- <strong>und</strong> ein<br />

sehr viel kleineres Y-Chromosom (das so bezeichnet wird, weil es<br />

wie der Buchstabe Y geformt ist). Weil ein weibliches Individuum


Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

81 3<br />

Vielfalt <strong>und</strong> Individualität<br />

Wie wir gesehen haben, stellen die Gene sicher, dass wir anderen<br />

Menschen gleichen – sowohl auf der Ebene der Spezies (wir<br />

sind z. B. alle Zweibeiner <strong>und</strong> besitzen opponierbare Daumen) als<br />

auch auf individueller Ebene (z. B. in Form von Familienähnlichkeit)<br />

in best<strong>im</strong>mter Weise gleichen. Gene sorgen aber auch auf<br />

beiden Ebenen für Unterschiede. Mehrere Mechanismen tragen<br />

zur genetischen Vielfalt unter Menschen bei.<br />

Ein solcher Mechanismus ist die Mutation, eine Veränderung<br />

in einem Abschnitt der DNA. Bei manchen Mutationen handelt<br />

es sich um zufällige, spontane Fehler, während andere durch Umweltfaktoren<br />

verursacht werden. Die meisten Mutationen sind<br />

für den Organismus schädlich. Mutationen, die in den Ke<strong>im</strong>zellen<br />

auftreten, können an den Nachwuchs weitergegeben werden;<br />

viele vererbte Krankheiten <strong>und</strong> Störungen entstanden aus einem<br />

mutierten Gen. In ▶ Exkurs 3.1 wird die genetische Übertragung<br />

von Krankheiten <strong>und</strong> Störungen diskutiert.<br />

Genetische Mutation – Eine Veränderung in einem DNA-Abschnitt.<br />

..<br />

Abb. 3.2 Dieses Karyogramm zeigt die 23 Chromosomenpaare eines ges<strong>und</strong>en<br />

Mannes. Die Chromosomen jedes (homologen) Paares sind ungefähr<br />

gleich groß. Eine Ausnahme bilden die beiden Geschlechtschromosomen<br />

(in der Mitte der untersten Reihe): Das Y-Chromosom, das das männliche<br />

Geschlecht best<strong>im</strong>mt, ist viel kleiner als das X-Chromosom. Das Karyogramm<br />

einer Frau würde zwei X-Chromosomen enthalten. (© Leonard Lessin/Photo<br />

Researchers)<br />

nur über X-Chromosomen verfügt, führt die Meiose-Teilung ihrer<br />

Ke<strong>im</strong>zellen dazu, dass all ihre Eizellen ein X-Chromosom<br />

besitzen. Bei männlichen Individuen, die einen XY-Chromosomensatz<br />

haben, enthält die Hälfte der Spermien ein X- <strong>und</strong> die<br />

andere Hälfte ein Y-Chromosom. Aus diesem Gr<strong>und</strong> ist es <strong>im</strong>mer<br />

der Vater, der das Geschlecht der Nachkommen best<strong>im</strong>mt: Wenn<br />

ein X-tragendes Spermium eine Eizelle befruchtet, entsteht eine<br />

weibliche (XX) Zygote; wird die Eizelle von einem Y-tragenden<br />

Spermium befruchtet, wird die Zygote männlich (XY). Das<br />

Vorhandensein eines Y-Chromosoms – <strong>und</strong> nicht die Tatsache,<br />

dass man nur über ein X-Chromosom verfügt – bewirkt, dass<br />

ein Individuum männlich ist. Auf dem Y-Chromosom befindet<br />

sich ein Gen, das ein Protein codiert, das seinerseits die Bildung<br />

der Hoden auslöst, indem es Gene auf anderen Chromosomen<br />

aktiviert. In der Folge übern<strong>im</strong>mt das in den Hoden produzierte<br />

Testosteron die Ausbildung der männlichen Merkmale (Jegalian<br />

<strong>und</strong> Lahn 2001).<br />

Geschlechtschromosomen – Die Chromosomen (X <strong>und</strong> Y), die das Geschlecht<br />

eines Individuums best<strong>im</strong>men.<br />

Gelegentlich jedoch steigert eine Mutation, die in einer Ke<strong>im</strong>zelle<br />

oder in einer frühen Phase der pränatalen Entwicklung auftritt,<br />

die Lebensfähigkeit von Individuen, weil sie vielleicht die Widerstandskraft<br />

gegenüber einer Krankheit stärkt oder die Fähigkeit<br />

erhöht, sich an einen entscheidenden Umweltaspekt anzupassen.<br />

Solche vorteilhaften Mutationen bilden die Gr<strong>und</strong>lage für die<br />

Evolution. Ein Individuum, welches das mutierte Gen trägt, kann<br />

nämlich mit höherer Wahrscheinlichkeit lange genug leben, um<br />

Nachkommen zu produzieren, die das mutierte Gen dann wiederum<br />

mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit besitzen <strong>und</strong> damit<br />

ihre Chance erhöhen, zu überleben <strong>und</strong> sich zu reproduzieren.<br />

Über mehrere Generationen hinweg breiten sich solche vorteilhaften<br />

Gene <strong>im</strong> Genpool der Spezies weiter aus.<br />

Ein zweiter Mechanismus, der die Vielfalt unter den Individuen<br />

fördert, ist die zufällige Kombination der Chromosomen bei<br />

der Bildung von Eizelle <strong>und</strong> Spermium. Im Verlauf der Meiose<br />

werden die 23 Chromosomenpaare zufällig ausgeteilt, sodass<br />

der Zufall best<strong>im</strong>mt, welches Element eines Paares in eine neue<br />

Eizelle beziehungsweise Spermienzelle übergeht. Das bedeutet<br />

bei 23 Chromosomenpaaren, dass es für jede Ke<strong>im</strong>zelle 2 23 oder<br />

knapp 8,4 Mio. mögliche Chromosomenkombinationen gibt.<br />

Wenn sich also zwei Ke<strong>im</strong>zellen – Spermium <strong>und</strong> Eizelle – vereinigen,<br />

stehen die Chancen praktisch bei null, dass zwei beliebige<br />

Individuen – selbst Mitglieder derselben Familie – genau<br />

denselben Genotyp besitzen (mit Ausnahme natürlich von eineiigen<br />

Zwillingen). Weitere Kombinationsmöglichkeiten entstehen<br />

dadurch, dass die beiden Elemente eines Chromosomenpaares<br />

während der Meiose manchmal Teile austauschen. In diesem<br />

Prozess des Crossing-over wechseln DNA-Abschnitte von einem<br />

Chromosom zum anderen. In der Folge sind die Chromosomen,<br />

die Eltern an ihre Nachkommen weitergeben, anders zusammengesetzt<br />

als ihre eigenen.<br />

Crossing-over – Der Prozess, bei dem DNA-Abschnitte von einem Chromosom<br />

auf ein anderes überwechseln; das Crossing-over erhöht die Variation zwischen<br />

den Individuen.


82<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

Exkurs 3.1: Anwendungen: Genetische Übertragung von Krankheiten <strong>und</strong> Störungen | |<br />

Man kennt derzeit Tausende von genetisch<br />

bedingten Krankheiten <strong>und</strong> Störungen des<br />

Menschen – viele davon sind überaus selten.<br />

Bei unserer Diskussion einiger dieser Störungen<br />

richten wir das Hauptaugenmerk auf die<br />

mit ihnen verb<strong>und</strong>enen Verhaltensweisen <strong>und</strong><br />

psychologischen Symptome, wenngleich diese<br />

Störungen häufig mit körperlichen Symptomen<br />

einhergehen. Zu diesen körperlichen Symptomen<br />

gehören ungewöhnliche körperliche<br />

Erscheinungen (z. B. verzerrte Gesichtszüge),<br />

Organdefekte (z. B. Herzfehler) <strong>und</strong> eine atypische<br />

Gehirnentwicklung. Diese <strong>und</strong> andere<br />

genetisch bedingte Krankheitsbilder können<br />

auf verschiedene Weisen vererbt werden.<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

Dominant-rezessive Muster<br />

Viele Krankheitsbilder weisen einfache<br />

Mendel’sche (dominant-rezessive) Vererbungsmuster<br />

auf. Bei vielen gravierenden<br />

genetischen Störungen wird das Krankheitsbild<br />

nur bei Individuen mit zwei rezessiven Allelen<br />

ausgeprägt. Bislang wurden mehr als 2850<br />

Krankheiten identifiziert, die über rezessive<br />

Gene übertragen werden (Lander 2011). Zu<br />

ihnen gehören beispielsweise die Stoffwechselstörung<br />

Phenylketonurie (die <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit der Interaktion von Genotyp <strong>und</strong><br />

Umwelt diskutiert werden; s. unter „Beispiele<br />

für die Genotyp-Umwelt-Interaktion“) <strong>und</strong> die<br />

Sichelzellenanämie (s. unten in diesem Exkurs)<br />

sowie das Tay-Sachs-Syndrom (eine schwere<br />

geistige Behinderung), die Mukoviszidose <strong>und</strong><br />

viele andere Störungen. Zu den Krankheiten,<br />

die von einem dominanten Gen verursacht werden,<br />

sind beispielsweise die Chorea Huntington<br />

(Veitstanz) <strong>und</strong> die Neurofibromatose (die<br />

Veränderungen in der Haut <strong>und</strong> <strong>im</strong> Nervensystem<br />

hervorruft). Und schließlich konnte eine<br />

besondere Form schwerer Artikulations- <strong>und</strong><br />

Sprachstörungen, die in einer einzelnen britischen<br />

Familie verbreitet sind, auf die Mutation<br />

eines einzelnen Gens (bezeichnet als FOXP2)<br />

zurückgeführt werden, das auf dominante<br />

Weise wirkt (Fisher <strong>und</strong> Scharff 2009).<br />

In einigen Fällen kann ein einzelnes Gen sowohl<br />

schädliche als auch vorteilhafte Wirkungen<br />

haben. Solch ein Fall ist die Sichelzellenanämie,<br />

bei der die roten Blutkörperchen eher sichelförmig<br />

als r<strong>und</strong> sind <strong>und</strong> weniger Sauerstoff aufnehmen<br />

können. Diese Blutkrankheit, die etwa<br />

jeden 500. Afroamerikaner betrifft, schwächt<br />

die Körperkonstitution <strong>und</strong> kann tödlich<br />

enden. Es ist eine rezessiv-genetische Störung;<br />

ein Kind, das von beiden Elternteilen je ein<br />

Sichelzellengen erbt, wird an dieser Krankheit<br />

leiden. Menschen mit einem normalen <strong>und</strong><br />

einem Sichelzellengen weisen best<strong>im</strong>mte<br />

Unregelmäßigkeiten in ihren Blutzellen auf,<br />

bemerken aber normalerweise keine negativen<br />

Auswirkungen. Sofern sie in solchen Regionen<br />

der Welt leben, in denen die Malaria grassiert<br />

(wie in Westafrika), sind sie sogar <strong>im</strong> Vorteil,<br />

weil die Sichelzellen in ihrem Blut ihnen eine<br />

besondere Widerstandskraft gegen diese tödliche<br />

Krankheit verleihen. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, als<br />

Europäer (denen das Sichelzellengen fehlt) mit<br />

der Erk<strong>und</strong>ung Afrikas begannen, wurde die<br />

Malaria als die „Krankheit des weißen Mannes“<br />

bekannt, weil so viele europäische Forschungsreisende<br />

daran starben.<br />

Man muss betonen, dass selbst dann, wenn<br />

eine Krankheit letztlich durch ein einzelnes Gen<br />

verursacht wird, nicht dieses eine Gen für alle<br />

Symptome der Krankheit verantwortlich ist.<br />

Dieses einzelne Gen setzt <strong>im</strong> Körper eine Lawine<br />

von Ereignissen nur in Gang, etwa das Ein- <strong>und</strong><br />

Ausschalten diverser Gene, das sich auf viele<br />

verschiedene Aspekte der weiteren Entwicklung<br />

des betroffenen Menschen auswirkt.<br />

12<br />

13<br />

14<br />

Polygenetische Vererbung<br />

Viele der häufigen Krankheiten <strong>und</strong> Störungsbilder<br />

des Menschen werden auf<br />

eine Kombinationswirkung mehrerer Gene<br />

zurückgeführt, die oft zudem mit Umweltfaktoren<br />

zusammenhängt. Unter die zahlreichen<br />

Krankheiten dieser Kategorie fallen einige<br />

Formen von Krebs <strong>und</strong> Herzerkrankungen<br />

sowie Diabetes vom Typ 1 <strong>und</strong> Typ 2 <strong>und</strong><br />

Asthma. Auch bei psychiatrischen Störungen<br />

wie der Schizophrenie <strong>und</strong> Verhaltensstörungen<br />

wie dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom<br />

sind wahrscheinlich mehrere Gene beteiligt.<br />

Bislang konnten mehr als 1100 Genorte, die<br />

mit menschlichen Merkmalen zusammenhängen,<br />

dank ständig verbesserter Methoden<br />

der genetischen Epidemiologie identifiziert<br />

werden (Lander 2011).<br />

15<br />

16<br />

17<br />

Geschlechtsgeb<strong>und</strong>ene Vererbung<br />

Wie <strong>im</strong> Haupttext erwähnt, werden manche<br />

Krankheiten, die von einem einzelnen Gen verursacht<br />

sind, auf dem X-Chromosom weitergegeben<br />

<strong>und</strong> treten bei Männern weit häufiger<br />

auf. (Auch Frauen können solche Krankheiten<br />

erben, aber nur in dem sehr seltenen Fall, in<br />

dem sie auf ihren beiden X-Chromosomen<br />

die verantwortlichen rezessiven Allele erben.)<br />

Geschlechtsgeb<strong>und</strong>ene Störungen reichen<br />

von relativ geringfügigen Problemen wie<br />

Glatzenbildung bei Männern <strong>und</strong> Rot-Grün-<br />

Farbenblindheit bis zu schwerwiegenden<br />

Störungen wie der Bluterkrankheit (Hämophilie)<br />

<strong>und</strong> der Duchenne-Muskeldystrophie.<br />

Eine weitere geschlechtsgeb<strong>und</strong>ene Störung<br />

ist das Syndrom des fragilen X-Chromosoms<br />

(Marker-X-Syndrom), die verbreitetste vererbte<br />

Form der geistigen Behinderung.<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Chromosomenanomalien<br />

Eine weitere Klasse von genetischen Störungen<br />

beruht auf Fehlern bei der Bildung<br />

der Ke<strong>im</strong>zellen während der Meioseteilung,<br />

sodass sich einer Zygote mit entweder<br />

mehr oder weniger Chromosomen bildet,<br />

als es dem normalen Chromosomensatz<br />

entspricht. Die meisten derartigen Zygoten<br />

können nicht überleben, aber manchen<br />

gelingt es dennoch. Das Down-Syndrom wird<br />

durch überzähliges Chromosomenmaterial<br />

verursacht, am häufigsten dadurch, dass sich<br />

die Eizelle der Mutter nicht richtig teilt <strong>und</strong><br />

das befruchtete Ei eine zusätzliche Kopie<br />

des Chromosoms 21 enthält. Die Wahrscheinlichkeit<br />

eines solchen Fehlers bei der<br />

Zellteilung steigt mit dem Alter der Mutter,<br />

<strong>und</strong> die Geburtshäufigkeit von Kindern mit<br />

Down-Syndrom ist bei Frauen über 35 Jahre<br />

deutlich höher als bei jüngeren Frauen. Auch<br />

das Alter des Vaters hat einen, wenn auch<br />

geringeren, Einfluss auf das Auftreten des<br />

Down-Syndroms (De Souza et al. 2009; Hurles<br />

2012). Das Kind auf dem Foto in diesem<br />

Exkurs zeigt einige der Gesichtsmerkmale,<br />

die für Down-Syndrom-Kinder typisch sind;<br />

weiterhin ist diese genetische Störung durch<br />

(leichte bis schwere) geistige Behinderung,<br />

eine Reihe körperlicher Probleme <strong>und</strong> ein<br />

liebenswürdiges, fre<strong>und</strong>liches Temperament<br />

gekennzeichnet.<br />

Andere Störungen entstehen wegen überzähliger<br />

oder fehlender Geschlechtschromosomen.<br />

Be<strong>im</strong> Klinefelter-Syndrom beispielsweise, das in<br />

den USA bei einem unter 500 bis 1000 Männern<br />

auftritt, liegt ein zusätzliches X-Chromosom<br />

vor (XXY); als körperliche Anzeichen dieses<br />

Syndroms können verkleinerte Hoden <strong>und</strong><br />

längere Gliedmaßen auftreten, die allerdings<br />

oft unbemerkt bleiben, aber es kommt häufig<br />

zur Unfruchtbarkeit. Bei einer unter 2500<br />

US-amerikanischen Frauen tritt das Turner-<br />

Syndrom auf, bei dem ein X-Chromosom (X0)<br />

fehlt. Das Turner-Syndrom ist durch Kleinwuchs,<br />

eine eingeschränkte Sexualentwicklung in der<br />

Pubertät <strong>und</strong> Unfruchtbarkeit gekennzeichnet.


Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

83 3<br />

Exkurs 3.1 (Fortsetzung) | |<br />

Genanomalien<br />

Ähnlich wie genetische Störungen durch<br />

zusätzliche oder fehlende Chromosomen<br />

entstehen, können auch aus zusätzlichen,<br />

fehlenden oder anomalen Genen genetische<br />

Störungen entstehen. Ein eindrucksvolles Beispiel<br />

ist das Williams-Syndrom. Bei dieser seltenen<br />

genetischen Störung tritt eine Vielzahl<br />

von Behinderungen auf, darunter auffällige<br />

Beeinträchtigungen räumlicher <strong>und</strong> visueller<br />

Fertigkeiten sowie geringe Einschränkungen<br />

der Sprachfähigkeit (z. B. Musolino <strong>und</strong> Landau<br />

2012; Skwerer <strong>und</strong> Tager-Flusberg 2011).<br />

Außerdem ist für Menschen mit Williams-<br />

Syndrom typisch, dass sie eine extrovertierte<br />

<strong>und</strong> fre<strong>und</strong>liche Persönlichkeit haben <strong>und</strong> an<br />

Ängsten <strong>und</strong> Phobien leiden. Dieses Krankheitsbild<br />

wird auf das Fehlen eines kleinen<br />

Abschnitts von schätzungsweise 20 Genen auf<br />

Chromosom 7 zurückgeführt. Bei manchen Betroffenen<br />

sind jedoch weniger Gene zerstört,<br />

<strong>und</strong> der Grad der Behinderung ist geringer,<br />

sodass man einen Zusammenhang zwischen<br />

der Anzahl der fehlenden Gene <strong>und</strong> den ausgeprägten<br />

Symptomen vermutet (Karmiloff-<br />

Smith et al. 2012). Interessanterweise gibt<br />

es auch Menschen mit einer Verdoppelung<br />

der Gensequenz, die be<strong>im</strong> Williams-Syndrom<br />

fehlt. Bei dieser genetischen Störung, die als<br />

7q11.23-Duplikation bezeichnet wird, kehren<br />

sich die Beeinträchtigungen gleichsam um:<br />

Jetzt gehen reduzierte Sprachfähigkeiten mit<br />

vergleichsweise hohen visuospatialen Fertigkeiten<br />

einher (Mervis <strong>und</strong> Velleman 2011;<br />

Osborne <strong>und</strong> Mervis 2007).<br />

Defekte von Regulatorgenen<br />

Viele Störungen werden auf Defekte in Regulatorgenen<br />

zurückgeführt, die die Expression<br />

anderer Gene steuern. So kann ein Defekt<br />

bei dem Regulatorgen, das die Entwicklung<br />

zum Mann initiiert, die normale Ereigniskette<br />

abbrechen lassen, was gelegentlich dazu<br />

führt, dass das genetisch männliche Neugeborene<br />

weibliche Genitalien besitzt. Solche<br />

Fälle werden häufig erst dann bemerkt, wenn<br />

bei einem Mädchen die Menstruation nicht<br />

einsetzt oder wenn sich bei einem ungewollt<br />

kinderlosen Paar herausstellt, dass die Person,<br />

die schwanger werden will, genetisch ein<br />

Mann ist.<br />

Unbekannte genetische Basis<br />

Zusätzlich zu den bekannten genetisch verursachten<br />

Krankheiten gibt es viele Syndrome,<br />

bei denen das Vererbungsmuster auf genetische<br />

Ursachen schließen lässt, die jedoch<br />

bislang nicht identifiziert werden konnten.<br />

Dyslexie zum Beispiel ist eine in hohem Maße<br />

erblich bedingte Leseschwäche, die vermutlich<br />

von einer ganzen Reihe genbasierter<br />

Bedingungen herrührt. Ein weiteres Beispiel<br />

ist das Tourette-Syndrom. Bei den meisten<br />

Betroffenen sieht man eine Vielzahl von Tics,<br />

von unwillkürlichen <strong>und</strong> nervösen Muskelzuckungen<br />

bis zum zwanghaften Herausbrüllen<br />

von Obszönitäten. Den Forschungsergebnissen<br />

nach könnte das Tourette-Syndrom auf<br />

dominanter, rezessiver <strong>und</strong> intermediärer<br />

Vererbung beruhen; das macht es schwer, die<br />

Ursache präzise zu best<strong>im</strong>men (O’Rourke et al.<br />

2009).<br />

Entsprechendes gilt für das Spektrum der<br />

autistischen Störungen, zu dem sowohl der<br />

Autismus als auch das Asperger-Syndrom<br />

gehören <strong>und</strong> das einen weiten Bereich von<br />

Defiziten in den sozialen Fertigkeiten <strong>und</strong> der<br />

Kommunikation umspannt. In den Vereinigten<br />

Staaten wurde 2008 in vielen Bezirken die<br />

Prävelenz von autistischen Störungen durch<br />

„Centers for Disease Control“ erhoben, wobei<br />

die Prävalenz bei achtjährigen Jungen auf ein<br />

Kind unter 88 Jungen geschätzt wurde (<strong>im</strong><br />

Alter von acht Jahren wird die Diagnose am<br />

häufigsten gestellt); Jungen werden fünfmal<br />

häufiger als autistisch diagnostiziert als<br />

Mädchen (Baio 2012). Typischerweise werden<br />

autistische Störungen anhand verminderter<br />

sozialer <strong>und</strong> kommunikativer Fertigkeiten <strong>und</strong><br />

eines reduzierten Interessenspektrums oder<br />

eines repetitiven Verhaltens diagnostiziert.<br />

Menschen mit Asperger-Syndrom zeigen dieselben<br />

Symptome in geringerer Ausprägung,<br />

wobei ihre Sprachfähigkeiten jedoch nicht<br />

reduziert sind.<br />

Zum Störungsspektrum gehört auch, dass<br />

manche Betroffene neben den verschiedenen<br />

Defiziten einige bemerkenswerte Fähigkeiten<br />

in eng umgrenzten Bereichen aufweisen, etwa<br />

in Mathematik oder <strong>im</strong> Zeichnen. Und man<br />

weiß, dass dieses Syndrom in hohem Maße<br />

erblich ist: Bei eineiigen Zwillingen (deren<br />

Gene zu 100 % übereinst<strong>im</strong>men) wird, wie einschlägige<br />

Studien ergaben, doppelt so oft für<br />

beide die Diagnose Autismus gestellt wie bei<br />

zweieiigen Zwillingen (bei denen nur 50 % der<br />

Gene übereinst<strong>im</strong>men) (Ronald <strong>und</strong> Hoekstra<br />

2011). Die Schwierigkeit, die genetischen<br />

Ursachen des autistischen Störungsspektrums<br />

zu spezifizieren, lässt sich daran verdeutlichen,<br />

dass derzeit mehr als 100 Gene als Kandidaten<br />

infrage kommen (Geschwind 2011; Xu et al.<br />

2012).<br />

In den vergangenen Jahrzehnten stieg die<br />

Anzahl der als autistisch diagnostizierten<br />

Menschen rapide an. Tatsächlich entspricht die<br />

2008 erhobene Prävalenz bei Achtjährigen in<br />

den USA einer Zunahme von 78 % gegenüber<br />

dem Vergleichsjahr 2002 (Baio 2012). Das wird<br />

teilweise der zunehmenden Aufmerksamkeit<br />

für dieses Syndrom zugeschrieben; Eltern,<br />

Lehrer <strong>und</strong> Ärzte stellen Autismus häufiger<br />

fest. Außerdem werden die Diagnosekriterien<br />

inzwischen weiter gefasst als früher. Deshalb<br />

ist nicht klar, inwieweit die Zunahme der<br />

Diagnosen mit einem vermehrten Auftreten<br />

der autistischen Störungen einhergeht (z. B.<br />

Gernsbacher et al. 2005).<br />

Ein Faktor jedoch, den man breit in der<br />

Öffentlichkeit diskutiert hatte, kann als<br />

mögliche Ursache definitiv ausgeschlossen<br />

werden: die Kombinations<strong>im</strong>pfung gegen<br />

Masern, Mumps <strong>und</strong> Röteln, den kleine Kinder<br />

routinemäßig erhalten (McMahon et al. 2008;<br />

Price et al. 2010). Tatsächlich wurde die Studie,<br />

in der dieser Zusammenhang zwischen der<br />

Impfung <strong>und</strong> Autismus behauptet worden war<br />

(Wakefield et al. 1998) als fehlerhaft widerlegt<br />

(Godlee et al. 2011). Leider haben viele Eltern<br />

<strong>im</strong>mer noch Vorbehalte gegen diese wichtige<br />

Impfung <strong>und</strong> setzen ihre Kinder unnötig dem<br />

Risiko der Krankheiten aus, denen der Impfstoff<br />

vorbeugt.<br />

..<br />

Die häufigste identifizierte Ursache für geistige<br />

Behinderung ist das Down-Syndrom, das <strong>im</strong><br />

Durchschnitt eines von 700 Kindern betrifft. Mit<br />

dem Alter der Eltern, insbesondere der Mutter,<br />

steigt das Risiko drastisch an; von Müttern,<br />

die 45 Jahre oder älter sind, kommt fast jedes<br />

30. Baby mit Down-Syndrom auf die Welt. Das<br />

Ausmaß der geistigen Behinderung variiert<br />

sehr stark <strong>und</strong> hängt zum Teil von der Art der<br />

Förderung <strong>und</strong> Ermutigung ab, die die Kinder<br />

erhalten. (© Lauren Shear/Science Source)


84<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

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23<br />

..<br />

Elvis-Imitatoren sehen aus wie Elvis, grinsen wie Elvis <strong>und</strong> singen sogar wie<br />

Elvis (oder zumindest so ähnlich). Aber sie sind nicht der King. Die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass zwei Menschen denselben Genotyp haben, ist praktisch<br />

gleich null. (© Richard Ellis/Alamy)<br />

2. Genotyp des <strong>Kindes</strong> – Phänotyp des <strong>Kindes</strong><br />

Wir kommen nun zu der zweiten der in . Abb. 3.1 dargestellten<br />

Beziehungen: der Beziehung zwischen dem Genotyp <strong>und</strong> dem<br />

Phänotyp eines Individuums. Unsere Untersuchung des genetischen<br />

Beitrags zum Phänotyp beginnt mit einer gr<strong>und</strong>legenden<br />

Feststellung: Obwohl jede Zelle in unserem Körper Kopien aller<br />

Gene enthält, die wir von unseren Eltern geerbt haben, kommen<br />

nur einige dieser Gene zur Ausprägung. Zu jedem Zeitpunkt<br />

sind in jeder beliebigen Körperzelle nur einige Gene aktiv (oder<br />

angeschaltet) <strong>und</strong> andere nicht. Manche Gene, die in Neuronen<br />

massiv am Werke sind, bleiben in Fußnägelzellen völlig inaktiv.<br />

Dafür gibt es mehrere Gründe.<br />

Genexpression oder die Ausprägung der Gene<br />

bei Entwicklungsveränderungen<br />

Gene beeinflussen Entwicklung <strong>und</strong> Verhalten nur dann, wenn<br />

sie angeschaltet sind, <strong>und</strong> die menschliche Entwicklung verläuft<br />

von der Befruchtung bis zum Tod nur dann normal, wenn Gene<br />

am richtigen Ort, zur richtigen Zeit <strong>und</strong> für die richtige Zeitdauer<br />

an- oder abgeschaltet werden. Manche Gene werden nur in wenigen<br />

Zellen <strong>und</strong> nur ein paar St<strong>und</strong>en lang angeschaltet <strong>und</strong><br />

bleiben dann für <strong>im</strong>mer stumm. Dieses Muster ist typisch für<br />

die embryonale Entwicklung, beispielsweise wenn die Gene, die<br />

in best<strong>im</strong>mten Zellen angeschaltet sind, diese Zellen dazu veranlassen,<br />

Arme, Hände <strong>und</strong> Rillenmuster in den äußeren Fingergliedern<br />

zu bilden. Andere Gene sind an den Gr<strong>und</strong>funktionen<br />

praktisch aller Zellen zu fast jedem Zeitpunkt beteiligt.<br />

Das An- <strong>und</strong> Abschalten von Genen wird in erster Linie<br />

durch Regulatorgene gesteuert. Die Aktivierung <strong>und</strong> Deaktivierung<br />

eines Gens ist <strong>im</strong>mer Teil einer Kette genetischer Ereignisse.<br />

Wenn ein Gen eingeschaltet wird, bewirkt es bei anderen Genen<br />

das Ein- oder Ausschalten, was sich auf den Aktivitätsstatus weiterer<br />

Gene auswirkt. Gene funktionieren also niemals isoliert.<br />

Sie gehören vielmehr zu ausgedehnten Netzwerken, in denen<br />

die Expression eines Gens Vorbedingung der Expression eines<br />

anderen ist, <strong>und</strong> so fort. Das kontinuierliche An- <strong>und</strong> Abschalten<br />

von Genen liegt der Entwicklung lebenslang zugr<strong>und</strong>e, von<br />

der allerersten pränatalen Zelldifferenzierung über die genetisch<br />

induzierten Ereignisse der Pubertät bis hin zu den vielen Veränderungen,<br />

die mit dem Altern zusammenhängen.<br />

Regulatorgene – Gene, die die Aktivität anderer Gene steuern.<br />

Externe Faktoren können das An- <strong>und</strong> Abschalten der Gene beeinflussen.<br />

Ein dramatisches Beispiel ist die Wirkung von Contergan<br />

auf die Entwicklung der Gliedmaßen, die wir in ▶ Kap. 2<br />

beschrieben haben. Dieses Sedativum störte <strong>im</strong> pränatalen<br />

Prozess die normale Aktivierung der Gene für das Wachstum<br />

der Gliedmaßen (Ito et al. 2010). Ein weiteres Beispiel ist das<br />

visuelle System: Damit es sich normal entwickelt, sind visuelle<br />

Erfahrungen notwendig, durch die best<strong>im</strong>mte Gene angeschaltet<br />

werden, die ihrerseits weitere Gene <strong>im</strong> visuellen Cortex anschalten<br />

(Maya-Vetencourt <strong>und</strong> Origlia 2012). Die Auswirkungen<br />

verminderter Seherfahrung lassen sich bei Kindern mit einer<br />

unbehandelten Trübung der Augenlinse (Katarakt) beobachten,<br />

wie <strong>im</strong> Laufe dieses Kapitels noch diskutiert wird.<br />

Die Tatsache, dass Regulatorgene andere Gene wiederholt in<br />

unterschiedlichen Mustern an- <strong>und</strong> abschalten, bedeutet, dass ein<br />

best<strong>im</strong>mtes Gen während der Entwicklung zu vielen Zeitpunkten<br />

an vielen Orten wirken kann. Dazu ist nichts weiter erforderlich,<br />

als dass die Genexpression zu unterschiedlichen Zeiten durch<br />

unterschiedliche Regulatorgene gesteuert wird. Dieser Mechanismus<br />

des wiederkehrenden An- <strong>und</strong> Abschaltens einzelner Gene<br />

führt zu einer enormen Vielfalt in der Genexpression. Betrachten<br />

Sie als Analogie dazu dieses Buch, das mit nur 26 Buchstaben <strong>und</strong><br />

vermutlich kaum mehr als ein paar Tausend unterschiedlichen<br />

Wörtern aus Kombinationen dieser Buchstaben geschrieben ist.<br />

Die Bedeutung ergibt sich aus der Reihenfolge, in der die Buchstaben<br />

auftreten, also der Reihenfolge, in der sie <strong>im</strong> Schreibprozess<br />

von den Autoren gleichsam „an- <strong>und</strong> abgeschaltet“ wurden.<br />

Genexpression <strong>und</strong> Dominanzmuster<br />

Viele Gene eines Individuums kommen nie zur Ausprägung, <strong>und</strong><br />

viele andere werden nur teilweise expr<strong>im</strong>iert. Das liegt unter anderem<br />

daran, dass etwa ein Drittel der menschlichen Gene zwei<br />

oder mehr unterschiedliche Formen besitzen, die sogenannten<br />

Allele. Die Allele eines best<strong>im</strong>mten Gens beeinflussen dasselbe<br />

Merkmal oder dieselbe Eigenschaft (z. B. die Augenfarbe), aber


Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

85 3<br />

sie tragen zu unterschiedlichen Ausprägungen dieses Merkmals<br />

bei (z. B. braunen, blauen oder grauen Augen).<br />

Allele – Zwei oder mehr unterschiedliche Zustandsformen eines Gens für ein<br />

best<strong>im</strong>mtes Merkmal.<br />

Betrachten wir das einfachste Muster der Genexpression – das<br />

von Mendel entdeckte Vererbungsmuster, das dominant-rezessive<br />

Vererbungsmuster. Die Erklärung dafür (die Mendel noch nicht<br />

kannte), ergibt sich daraus, dass manche Gene genau zwei Allele<br />

besitzen, <strong>und</strong> zwar ein dominantes <strong>und</strong> ein rezessives. Bei diesem<br />

Vererbungsmuster gibt es nur zwei Möglichkeiten:<br />

1. Ein Individuum erbt zwei gleiche Allele – zwei dominante<br />

oder zwei rezessive; in diesem Fall ist es für das entsprechende<br />

Merkmal homozygot (reinerbig).<br />

2. Das Individuum erbt zwei verschiedene Allele – ein dominantes<br />

<strong>und</strong> ein rezessives; dann ist es mit Blick auf das fragliche<br />

Merkmal heterozygot (mischerbig).<br />

Ist ein Individuum homozygot, mit entweder zwei dominanten<br />

oder zwei rezessiven Allelen, dann wird das dazugehörige<br />

Merkmal expr<strong>im</strong>iert. Ist ein Individuum bei einem best<strong>im</strong>mten<br />

Merkmal heterozygot, dann kommt nur das dominante Allel zur<br />

Ausprägung (. Abb. 3.3).<br />

Dominantes Allel – Diejenige Genform <strong>im</strong> Chromosom, die als Merkmal zur<br />

Ausprägung kommt <strong>und</strong> gleichsam das zweite, rezessive Gen dominiert.<br />

Rezessives Allel – Diejenige Genform <strong>im</strong> Chromosom, die nicht zum Ausdruck<br />

kommt, falls ein dominantes Allel vorhanden ist.<br />

Homozygot (reinerbig) – Individuen, die für ein Merkmal zwe<strong>im</strong>al dasselbe<br />

Allel haben.<br />

Heterozygot (mischerbig) – Individuen, die für ein Merkmal zwei verschiedene<br />

Allele haben.<br />

Zur Illustration betrachten wir zwei Eigenschaften, die für das<br />

menschliche Überleben nicht besonders wichtig sind: die Fähigkeit,<br />

die Zunge der Länge nach zusammenzurollen, <strong>und</strong> Locken<br />

auf dem Kopf. Wer seine Zunge der Länge nach wie zu einem<br />

Rohr rollen kann, hat zumindest einen Elternteil (nicht notwendigerweise<br />

beide Elternteile), der diese bemerkenswerte, aber<br />

nutzlose Fähigkeit ebenfalls besitzen muss. Aus dieser Aussage<br />

(zusammen mit . Abb. 3.3) sollte man in der Lage sein herauszufinden,<br />

dass das Zungenrollen von einem dominanten Allel<br />

gesteuert wird. Im Unterschied dazu müssen, wenn jemand glatte<br />

Haare hat, beide Elternteile ein Allel für dieses Merkmal tragen.<br />

Es kann jedoch sein, dass keiner der beiden tatsächlich glatte<br />

Haare besitzt. Das liegt daran, dass glatte Haare von einem rezessiven<br />

Gen <strong>und</strong> gelockte Haare von einem dominanten Gen<br />

gesteuert werden. Geschwister, von denen das eine Locken <strong>und</strong><br />

das andere glatten Strähnen auf dem Kopf hat, können durchaus<br />

von denselben Eltern abstammen. In diesem Fall dürfen aber<br />

nicht beide Elternteile glatte Haare besitzen.<br />

Die Geschlechtschromosomen bringen eine interessante Nuance<br />

in die Geschichte der Dominanzmuster. Das X-Chromosom<br />

trägt etwa 1500 Gene, während das viel kleinere Y-Chromosom<br />

nur 200 Gene trägt. Wenn nun ein Mädchen ein rezessives Allel<br />

auf dem X-Chromosom der Mutter erbt, besteht eine relativ<br />

..<br />

Abb. 3.3 Mendel’sche Vererbungsmuster. Dargestellt sind die<br />

Mendel’schen Vererbungsmuster zweier braunhaariger Elternteile, die beide<br />

bezüglich der Haarfarbe heterozygot sind. Das Allel für braunes Haar (B)<br />

ist dominant, das für blondes Haar (b) ist rezessiv. Man beachte, dass diese<br />

Eltern eine Chance von 3:4 haben, Kinder mit braunen Haaren zu bekommen.<br />

Ihre Chance, braunhaarige Kinder mit einem Gen für blondes Haar zu bekommen,<br />

steht 2:4, <strong>und</strong> die für ein blondes Kind 1:4<br />

hohe Wahrscheinlichkeit, dass auf dem zweiten X-Chromosom<br />

vom Vater das entsprechende Allel dominant ist <strong>und</strong> das rezessive<br />

Allel nicht ausgeprägt wird. Wenn umgekehrt ein Junge dasselbe<br />

rezessive Allel auf dem X-Chromosom seiner Mutter erbt, wird<br />

auf dem vom Vater geerbten Y-Chromosom wahrscheinlich kein<br />

dominantes Allel vorhanden sein, das die Expression best<strong>im</strong>mt.<br />

Dieser Unterschied bei der Vererbung von Genen auf den Geschlechtschromosomen<br />

erklärt die höhere Anfälligkeit männlicher<br />

Individuen, die wir in ▶ Exkurs 2.2 beschrieben haben: Männliche<br />

Nachkommen leiden mit größerer Wahrscheinlichkeit an einer<br />

Vielzahl vererbter Störungen, die von rezessiven Allelen auf ihrem<br />

X-Chromosom verursacht werden (s. auch ▶ Exkurs 3.1).<br />

Trotz seiner historischen Bedeutung trifft das dominantrezessive<br />

Mendel’sche Vererbungsmuster, bei dem ein einzelnes<br />

Gen zu einem best<strong>im</strong>mten Merkmal führt, nur für relativ wenige<br />

menschliche Eigenschaften zu – darunter z. B. die Haarfarbe,<br />

Blutgruppe, Körperbehaarung sowie viele genetisch bedingte<br />

Störungen. Meist jedoch kann ein einziges Gen mehrere Merkmale<br />

beeinflussen; beide Allele können vollständig zur Expression<br />

kommen oder bei heterozygoten Individuen in einer Mischform<br />

auftreten, <strong>und</strong> manche Gene werden unterschiedlich ausgeprägt,<br />

je nachdem, ob sie von der Mutter oder vom Vater geerbt wurden.<br />

Die Vererbungsmuster sind bei denjenigen Merkmalen <strong>und</strong><br />

Verhaltenseigenschaften, die für Verhaltenswissenschaftler von<br />

vorrangigem Interesse sind, noch um vieles komplizierter. Eigenschaften<br />

wie Schüchternheit, Aggressivität, Sensationssuche<br />

oder Empathie beruhen auf polygenetischer Vererbung, bei<br />

der mehrere verschiedene Gene zu einer best<strong>im</strong>mten phänotypischen<br />

Erscheinungsform beitragen. Der Einfluss einzelner Gene<br />

ist bei Merkmalen, an deren Ausprägung viele Gene beteiligt<br />

sind, schwer festzustellen. Deshalb sollte man Zeitungsmeldungen,<br />

in denen die „Entdeckung eines Gens für“ eine komplexe<br />

menschliche Eigenschaft oder Prädisposition berichtet wird, mit<br />

Skepsis begegnen.


86<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

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..<br />

Abb. 3.4 Das Konzept der Reaktionsnorm. Diese klassische Abbildung veranschaulicht, wie unterschiedlich sich ein best<strong>im</strong>mter Genotyp in unterschiedlichen<br />

Umgebungen entwickelt. Von sieben einzelnen Pflanzen wurden jeweils drei Ableger gezogen; die Ableger in jeder der drei Reihen besaßen also<br />

identische Gene. Dann pflanzte man die drei Ableger einer jeden Pflanze in drei verschiedene Höhenlagen, vom Meeresspiegel bis zum Hochgebirge. Die<br />

zu untersuchende Frage war, ob die <strong>im</strong> Tiefland üblichen Wachstumsunterschiede auch in den beiden höheren Lagen fortbestehen. Wie man sieht, ist das<br />

Wachstum in den verschiedenen Umgebungen weder gleich, noch folgt es einer Höhenregel. So wachsen zum Beispiel die Ableger der ersten Pflanze (links)<br />

auf Meeresspiegelniveau <strong>und</strong> in Höhenlagen am höchsten, in mittleren Lagen ist der Ableger eine der kleinsten Pflanzen. Die vierten Ableger von links sind in<br />

mittleren Lagen am höchsten <strong>und</strong> in Höhenlagen am niedrigsten. Man beachte, dass keine einzige Pflanze in allen drei Umgebungen durchgängig die größten<br />

oder die kleinsten Ableger aufweist. „Der Phänotyp ist die einzigartige Folge eines best<strong>im</strong>mten Genotyps, der sich in einer best<strong>im</strong>mten Umgebung entwickelt“<br />

(Lewontin 1982, S. 22 f.)<br />

Polygenetische Vererbung – Vererbung, bei der Eigenschaften oder Wesenszüge<br />

von mehr als einem Gen best<strong>im</strong>mt werden.<br />

3. Umwelt des <strong>Kindes</strong> – Phänotyp des <strong>Kindes</strong><br />

Wir kommen jetzt zu der dritten Beziehung in unserem Modell<br />

– dem Einfluss der Umwelt auf den Phänotyp des <strong>Kindes</strong>. (Zur<br />

Erinnerung: Umwelt schließt alles ein, was nicht <strong>im</strong> genetischen<br />

Material selbst enthalten ist, insbesondere auch die in ▶ Kap. 2<br />

besprochenen pränatalen Erfahrungen.) Das Modell zeigt, dass<br />

beobachtbare Eigenschaften des <strong>Kindes</strong> aus der Wechselbeziehung<br />

von Umweltfaktoren der genetischen Ausstattung des <strong>Kindes</strong><br />

resultieren.<br />

Wegen der permanenten Wechselwirkung zwischen Genotyp<br />

<strong>und</strong> Umwelt wird sich ein best<strong>im</strong>mter Genotyp in verschiedenen<br />

Umwelten auch unterschiedlich entwickeln. Diese<br />

Vorstellung kommt in dem Konzept der Reaktionsnorm zum<br />

Ausdruck (Dobzhansky 1955), das sich auf jene Phänotypen<br />

bezieht, die potenziell aus einem best<strong>im</strong>mten Genotyp in seiner<br />

Beziehung zu allen Umwelten hervorgehen, in denen er überleben<br />

<strong>und</strong> sich entwickeln könnte. Nach diesem Konzept würde<br />

man für einen jeweiligen Genotyp in variierenden Umwelten<br />

eine gewisse Variationsbandbreite unterschiedlicher Resultate<br />

erwarten. Ein Kind mit einem best<strong>im</strong>mten Genotyp wird sich<br />

in einer liebevollen, unterstützenden Familie deutlich anders<br />

entwickeln als in einer zerstörerischen, missbrauchenden Familie.<br />

. Abbildung 3.4 zeigt eine klassische Illustration der Reaktionsnorm<br />

bei einer Wechselwirkung zwischen Genotyp <strong>und</strong><br />

Umwelt für eine Pflanze.<br />

Reaktionsnorm – Das Konzept, das alle Phänotypen umfasst, die theoretisch<br />

aus einem best<strong>im</strong>mten Genotyp in seiner Beziehung zu jeder Umgebung entstehen<br />

können, in der dieser Genotyp überleben <strong>und</strong> sich entwickeln kann.<br />

Beispiele für die Genotyp-Umwelt-Interaktion<br />

Interaktionen zwischen Genotyp <strong>und</strong> Umwelt können direkt <strong>im</strong><br />

Tiermodell untersucht werden, indem man Tiere mit bekannten<br />

Genotypen in einer breiten Vielfalt von Umweltbedingungen aufwachsen<br />

lässt, wobei die Tiere den Umweltbedingungen nach


Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

87 3<br />

dem Zufallsprinzip zugeordnet werden. Wenn sich genetisch<br />

identische Tiere in verschiedenen Umwelten unterschiedlich<br />

entwickeln, können die Forscher daraus schließen, dass die Umwelteinflüsse<br />

dafür verantwortlich sein müssen. Zwar können<br />

Wissenschaftler natürlich nicht nach dem Zufallsprinzip Menschen<br />

unter verschiedenen Bedingungen aufwachsen lassen, aber<br />

es gibt dennoch überzeugende Beispiele für Genotyp-Umwelt-<br />

Interaktionen auch bei Menschen.<br />

Ein solches Beispiel ist die Phenylketonurie (PKU), eine Störung,<br />

die mit einem defekten rezessiven Gen auf dem Chromosom<br />

12 zusammenhängt. Individuen, die dieses Gen von beiden<br />

Elternteilen erben, können <strong>im</strong> Stoffwechsel Phenylalanin nicht<br />

umsetzen. Phenylalanin ist eine Aminosäure, die in vielen Lebensmitteln<br />

(wie dunklem Fleisch) <strong>und</strong> künstlichen Süßstoffen<br />

vorkommt. Wenn sich diese Personen normal ernähren, reichert<br />

sich das Phenylalanin <strong>im</strong> Blut an <strong>und</strong> verhindert eine normale<br />

Gehirnentwicklung, was zu schwerer geistiger Behinderung<br />

führt. Wenn Kinder, die ein PKU-Gen tragen, jedoch gleich<br />

nach der Geburt identifiziert <strong>und</strong> auf eine strenge phenylalaninfreie<br />

Diät gesetzt werden, kann die Behinderung abgewendet<br />

werden, sofern die Diät durchgehalten wird. Ein best<strong>im</strong>mter<br />

Genotyp führt also in Abhängigkeit von Umweltbedingungen<br />

zu ganz unterschiedlichen Phänotypen – schwerer Behinderung<br />

oder relativ normaler Intelligenz. Wegen der gravierenden Folgen<br />

dieser Stoffwechselstörung werden Neugeborene in den USA<br />

routinemäßig auf diese <strong>und</strong> weitere genetische Störungen untersucht,<br />

um den nachteiligen Folgen vorzubeugen.<br />

Phenylketonurie (PKU) – Eine Störung, die auf ein defektes rezessives Gen<br />

auf Chromosom 12 zurückgeht, das den Umbau von Phenylalanin verhindert.<br />

..<br />

Abb. 3.5 Genotyp <strong>und</strong> Umwelt. Diese grafische Darstellung zeigt das Ausmaß<br />

antisozialen Verhaltens junger Männer als Funktion des Ausmaßes, in<br />

dem sie in der Kindheit misshandelt wurden. Die jungen Männer, die schwere<br />

Misshandlungen erfuhren, ließen sich insgesamt eher zu antisozialem Verhalten<br />

hinreißen als diejenigen, die keine Misshandlungen erdulden mussten.<br />

Der Effekt war jedoch bei solchen Menschen, die relativ inaktive MAOA-Gene<br />

trugen, wesentlich stärker. (Nach Caspi et al. 2002, S. 852)<br />

Ein zweites Beispiel für die Genotyp-Umwelt-Interaktion ergibt<br />

sich aus einer Untersuchung zu den Folgen elterlicher Misshandlung<br />

bei Kindern mit einem best<strong>im</strong>mten Genotyp (Caspi<br />

et al. 2002). Die Forscher wollten herausfinden, warum manche<br />

Kinder, die schwere Misshandlungen erdulden müssen,<br />

als Erwachsene gewalttätig <strong>und</strong> antisozial werden, andere, die<br />

demselben Missbrauch ausgesetzt waren, hingegen nicht. Die<br />

Ergebnisse, die in . Abb. 3.5 dargestellt sind, zeigen, dass es eine<br />

Kombination von Umweltfaktoren <strong>und</strong> genetischen Faktoren<br />

ist, die zu antisozialem Verhalten führt – hier das Erleiden von<br />

Misshandlungen als Kind <strong>und</strong> das Tragen einer best<strong>im</strong>mten<br />

Variante eines an das X-Chromosom geb<strong>und</strong>enen Gens, das<br />

als Hemmer von chemischen Substanzen <strong>im</strong> Gehirn bekannt<br />

ist, die mit Aggressionen einhergehen. Junge Männer, die eine<br />

eher inaktive Version dieses MAOA-Gens besaßen <strong>und</strong> schwere<br />

Misshandlungen erfuhren, entwickelten sich antisozialer als andere<br />

Männer – in dieser Gruppe entwickelten 85 % irgendeine<br />

Form antisozialen Verhaltens, <strong>und</strong> sie wurden mit zehnmal so<br />

großer Wahrscheinlichkeit wegen Gewalttaten verurteilt. Der<br />

wichtige Punkt ist hierbei, dass keiner der Faktoren – ein inaktives<br />

MAOA-Gen oder die Misshandlung – für sich genommen<br />

die Jugendlichen zu höherer Aggressivität prädisponierte;<br />

das häufigere Auftreten antisozialen Verhaltens war nur in der<br />

Gruppe mit beiden Faktoren zu beobachten. Wie die Autoren<br />

dieser Studie anmerken, könnte das Wissen um solche spezifischen<br />

genetischen Risikofaktoren, die Menschen empfänglicher<br />

für best<strong>im</strong>mte Umweltwirkungen machen, zu verbesserten<br />

Modellen multipler Risiken führen, wie wir sie in ▶ Kap. 1 <strong>und</strong><br />

2 diskutiert haben.<br />

Elterliche Beiträge zur <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

Offensichtlich ist die Beziehung der Eltern zum Kind <strong>und</strong> die<br />

Art <strong>und</strong> Weise, wie sie mit ihm umgehen, ein besonders bedeutsamer<br />

<strong>und</strong> wichtiger Teil der kindlichen Umwelt – die<br />

allgemeine häusliche Umgebung, die sie bereitstellen; die Erfahrungen,<br />

die sie dem Kind ermöglichen; die Ermutigung,<br />

die das Kind für best<strong>im</strong>mte Verhaltensweisen <strong>und</strong> Aktivitäten<br />

erfährt, Einstellungen <strong>und</strong> Haltungen <strong>und</strong> so weiter. Weniger<br />

offenk<strong>und</strong>ig ist die Vorstellung, dass die Umwelt, die die Eltern<br />

ihren Kindern bieten, zum Teil von ihrer eigenen genetischen<br />

Ausstattung abhängt. So wie das Verhalten der Eltern gegenüber<br />

ihren Kindern (z. B., wie warmherzig oder zurückhaltend sie<br />

sind, wie geduldig oder aufbrausend) genetischen Einflüssen<br />

unterliegt, unterliegen auch die Vorlieben, Aktivitäten <strong>und</strong> Ressourcen,<br />

mit denen sie ihre Kinder in Kontakt bringen, genetischen<br />

Einflüssen (Plomin <strong>und</strong> Bergeman 1991). Das Kind eines<br />

Elternteils, das sehr musikalisch ist, wird von klein auf wahrscheinlich<br />

mehr Musik hören als ein Kind weniger musikliebender<br />

Eltern. Eltern, die das Lesen genießen <strong>und</strong> wertschätzen<br />

<strong>und</strong> die kompetente Leser sind, werden wahrscheinlich häufig<br />

zum Vergnügen <strong>und</strong> zur Information lesen, <strong>und</strong> sie haben<br />

wahrscheinlich zu Hause viele Bücher <strong>und</strong> Zeitschriften. Sie<br />

werden ihren Kindern mit größerer Wahrscheinlichkeit häufig<br />

etwas vorlesen <strong>und</strong> sie in eine Bibliothek mitnehmen. Im Gegensatz<br />

dazu werden Eltern, für die das Lesen anstrengend <strong>und</strong><br />

kein Vergnügen ist, ihren Kindern keine literarisch anregende<br />

Umwelt bieten (Scarr 1992).


88<br />

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Diese Mutter liest in ihrer Freizeit gern Romane <strong>und</strong> muss auch bei ihrer<br />

Arbeit sehr viel lesen. Ihrem kleinen Kind bietet sie eine reichhaltige literarische<br />

Umwelt. Das Kind dürfte eine eifrige Leserin werden – zum einen, weil<br />

die genetische Ausstattung der Mutter zu ihrer Freude am Lesen beitrug,<br />

zum anderen wegen der materiellen <strong>und</strong> sozialen Umwelt (viele Bücher,<br />

Ermutigung des Interesses an Büchern), die diese Mutter bereitstellt. (© Judy<br />

<strong>DeLoache</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

4. Phänotyp des <strong>Kindes</strong> – Umwelt des <strong>Kindes</strong><br />

Schließlich verweist die vierte Beziehung unseres Modells wieder<br />

auf das Thema aktives Kind zurück – das Kind als eine Quelle<br />

seiner eigenen Entwicklung. Wie in ▶ Kap. 1 bereits angeführt,<br />

sind Kinder nicht nur die passiven Rezipienten einer vorgegebenen<br />

Umwelt. Vielmehr sind sie in zwei wichtigen Hinsichten<br />

aktive Gestalter der Umwelt, in der sie leben. Erstens rufen sie<br />

mithilfe ihres Wesens <strong>und</strong> ihres Verhaltens bei anderen Menschen<br />

aktiv best<strong>im</strong>mte Reaktionen hervor (Scarr 1992; Scarr<br />

<strong>und</strong> McCartney 1983). Babys, die es genießen, geknuddelt <strong>und</strong><br />

beschmust zu werden, werden auch mit größerer Wahrscheinlichkeit<br />

geknuddelt als Babys, die engen Körperkontakt nicht so<br />

gern haben. Impulsive Kinder hören zweifelsohne Äußerungen<br />

wie „nein“, „lass das“, „hör auf “ <strong>und</strong> „pass auf “ wesentlich häufiger<br />

als zurückhaltende Kinder. Es gibt Belege dafür, dass das<br />

Ausmaß, in dem Eltern <strong>und</strong> Kinder in ihren Beziehungen wechselseitig<br />

aufeinander reagieren, weitgehend eine Funktion der<br />

genetisch beeinflussten Verhaltenseigenschaften des <strong>Kindes</strong> ist,<br />

also des Verhaltens, das die Kinder bei ihren Eltern hervorrufen<br />

(Deater-Deckard <strong>und</strong> O’Connor 2000).<br />

Die zweite Art, wie Kinder ihre eigene Umwelt mitgestalten,<br />

liegt in der aktiven Auswahl von Umgebungen <strong>und</strong> Erfahrungen,<br />

die ihren Interessen, Begabungen <strong>und</strong> Persönlichkeitseigenschaften<br />

entsprechen (Scarr 1992). Sobald sich Kinder beispielsweise<br />

selbst fortbewegen können, suchen sie in ihrer Umgebung nach<br />

Gegenständen, die sie erk<strong>und</strong>en wollen. Einige sehr kleine Kinder<br />

(insbesondere Jungen) entwickeln stark ausgeprägte Interessen<br />

an best<strong>im</strong>mten Arten von Gegenständen oder Aktivitäten,<br />

die nicht auf elterliches Ermutigen zurückgehen (<strong>DeLoache</strong> et al.<br />

2007). Viele kleine Jungen sind zum Beispiel ganz närrisch auf<br />

Fahrzeuge <strong>und</strong> Baumaterialien. Andere Kleinkinder entwickeln<br />

idiosynkratische oder gar sehr eigentümliche Interessen (z. B. an<br />

Mixgeräten oder an totgefahrenen Tieren). Vielen Eltern bleibt<br />

die Herkunft solcher vorschulischen Leidenschaften vollkommen<br />

verschlossen, <strong>und</strong> gelegentlich sind sie sogar beunruhigt, weil sie<br />

nicht wissen, wie verbreitet solche ausgeprägten Interessen sind.<br />

Ab dem Vorschulalter hängen die Gelegenheiten der Kinder,<br />

Fre<strong>und</strong>schaften zu schließen, <strong>im</strong>mer mehr von ihren eigenen<br />

Eigenschaften ab, insofern sie sich Spielkameraden <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e<br />

aussuchen, mit denen sie sich gut vertragen – Gleich <strong>und</strong> Gleich<br />

gesellt sich nun einmal gern. Und wir haben in ▶ Kap. 1 bereits<br />

festgestellt, dass Kinder mit dem Alter eine zunehmend aktive<br />

Rolle bei der Auswahl ihrer Umgebung spielen. Je mehr Autonomie<br />

sie gewinnen, desto mehr wählen sie Aspekte ihrer Umwelt,<br />

die zu ihrem Temperament <strong>und</strong> ihren Fähigkeiten passen.<br />

Um auf das zuvor schon erwähnte Beispiel zurückzukommen:<br />

Kinder, die gern lesen, werden mehr Bücher lesen als Kinder,<br />

die das Lesen langweilig finden. Je mehr sie lesen, umso geschultere<br />

Leser werden sie, was dazu führt, dass sie zunehmend auch<br />

schwierigere Bücher auswählen, was wiederum dazu führt, dass<br />

sie einen erweiterten Wortschatz <strong>und</strong> ein größeres Allgemeinwissen<br />

erwerben, was sich dann letztlich in größerem schulischem<br />

Erfolg niederschlägt.<br />

5. Umwelt des <strong>Kindes</strong> – Phänotyp des <strong>Kindes</strong><br />

Die fünfte Beziehung in unserem Modell ist vielleicht die interessanteste.<br />

Bis vor relativ kurzer Zeit galt der Genotyp unter Genetikern<br />

als etwas, das von Geburt an weitgehend festgelegt ist.<br />

Aber das bereits in ▶ Kap. 1 erwähnte Forschungsgebiet der Epigenetik<br />

hat diese traditionelle Ansicht auf den Kopf gestellt. Wie<br />

man inzwischen weiß, ist zwar die Struktur der DNA weitgehend<br />

festgelegt (solange man von Mutationen absieht), aber unter dem<br />

Einfluss der Umwelt können epigenetische Mechanismen das<br />

Funktionieren der Gene verändern <strong>und</strong> andere Ausprägungen<br />

stabilisieren, die zum Teil sogar an die nächste Generation vererbt<br />

werden können.<br />

Solche epigenetischen Einflussfaktoren können auch erklären,<br />

warum eineiige Zwillinge <strong>im</strong> Laufe ihres Lebens nicht völlig<br />

identische Entwicklungen durchlaufen: Je nach Umwelt kann die<br />

Ausprägung derselben Gene während der Entwicklung auf subtile<br />

Weise abweichen. Dabei gehen nachhaltige Veränderungen<br />

der Genausprägungen, die durch die Umwelt vermittelt werden,<br />

mit dem Prozess der Methylierung einher, der best<strong>im</strong>mte Gene<br />

bei der Expression abschaltet. Unterschiede in der Genexpression<br />

spiegeln sich dann in unterschiedlichen Methylierungsgraden<br />

wider. Beispielsweise kann man Zwillingspaare <strong>im</strong> Alter von drei<br />

Jahren <strong>und</strong> 50 Jahren vergleichen, wobei die dreijährigen noch<br />

eine vergleichsweise ähnliche Umwelt erlebt haben, während die<br />

50-jährigen sehr unterschiedliche Lebensumwelten erlebt haben.<br />

Bei Vergleichsstudien zur DNA-Methylierung bei Zwillingspaaren<br />

<strong>im</strong> Alter von drei bzw. 50 Jahren stellte sich heraus, dass es<br />

bei den dreijährigen Zwillingen praktisch keine Unterschiede in<br />

der Methylierung gab, während der Methylierungsgrad bei etwa<br />

einem Drittel der 50-jährigen Zwillinge erhebliche Unterschiede<br />

in der Methylierung aufwies – je unterschiedlicher die Lebensweisen<br />

der Zwillinge gewesen waren, desto größer waren auch<br />

die Differenzen zwischen den Methylierungsgraden (Fraga et al.<br />

2005).<br />

Wie kann die Umwelt sich über epigenetische Mechanismen<br />

auswirken? Bislang stützt sich die Forschung zu dieser Frage auf


Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

89 3<br />

Tiermodelle, die klar belegen, dass eine schlechte mütterliche<br />

Versorgung be<strong>im</strong> Nachwuchs das Muster der Genexpression<br />

dauerhaft verändert (van IJzendoorn et al. 2011). Insbesondere<br />

verändert mangelhafte mütterliche Versorgung bei Tieren die<br />

Methylierung der Gene, die mit den Rezeptoren für Glucocorticoide<br />

zusammenhängen <strong>und</strong> die Stressbewältigung beeinflussen<br />

(z. B. Zhang <strong>und</strong> Meaney 2010). Wie in ▶ Kap. 1 erwähnt, gibt<br />

es Hinweise darauf, dass auch bei Menschen die Methylierung<br />

durch frühkindlichen Stress beeinflusst wird (z. B. Essex et al.<br />

2013). Auch die unzähligen Benachteiligungen, die ein Aufwachsen<br />

in Armut mit sich bringt, scheinen sich epigenetisch als Risikofaktoren<br />

zu verfestigen; Menschen, die in einkommensschwachen<br />

Haushalten aufgewachsen sind, zeigen nach Jahrzehnten<br />

andere Muster der Genexpression als Erwachsene, die unter sozioökonomisch<br />

günstigeren Bedingungen aufwachsen konnten<br />

– unabhängig von den sozioökonomischen Bedingungen, unter<br />

denen sie als Erwachsene lebten (z. B. Miller et al. 2009).<br />

Fazit<br />

Unsere Diskussion der fünf Arten von Wechselwirkungen zwischen<br />

Genen <strong>und</strong> Umwelt hat die enormen Herausforderungen<br />

in den Mittelpunkt gestellt, die sich bei der Erforschung der Genfunktionen<br />

bei der individuellen Entwicklung stellen. Noch ist<br />

die Konzeptualisierung dieses Prozesses, die wir hier vorgestellt<br />

haben, stark vereinfacht. Das gilt insbesondere für die letzte Beziehung<br />

– die Epigenetik –, die bei genauerem Hinsehen erkennen<br />

lässt, dass die Grenze zwischen Genen <strong>und</strong> Umwelt unscharf<br />

<strong>und</strong> fließend ist. Die Komplexität des Zusammenwirkens von<br />

Genen <strong>und</strong> Umwelt ist einerseits eine Herausforderung <strong>und</strong> andererseits<br />

eine Chance für die Forschung. Die Herausforderung<br />

liegt darin, dass das Genom nicht mehr einfach als unveränderlich<br />

<strong>und</strong> unabhängig von den vielfältigen Lebensumständen<br />

angesehen werden kann, unter denen Kinder sich entwickeln.<br />

Eine Chance liegt darin, dass sich die Epigenetik weiterentwickelt<br />

<strong>und</strong> vielleicht klären kann, welche Umwelteinflüsse mit hoher<br />

Wahrscheinlichkeit einen nachhaltig positiven Einfluss auf die<br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> das Befinden eines <strong>Kindes</strong> haben.<br />

Verhaltensgenetik<br />

Das schnell wachsende Gebiet der Psychologie, das sich Verhaltensgenetik<br />

nennt, befasst sich damit, wie Variationen <strong>im</strong><br />

Verhalten <strong>und</strong> in der Entwicklung aus der Interaktion genetischer<br />

<strong>und</strong> umweltbedingter Faktoren entstehen. Verhaltensgenetiker<br />

stellen sich dieselbe Art von Frage wie Galton in Bezug<br />

auf herausragende Persönlichkeiten: „Warum unterscheiden<br />

sich die Menschen voneinander?“ Warum unterscheiden sich<br />

Menschen, egal welcher Gruppe sie angehören, darin, wie klug,<br />

kontaktfreudig, niedergeschlagen, aggressiv oder religiös sie<br />

sind? Verhaltensgenetiker beantworten diese Frage damit, dass<br />

alle Verhaltensmerkmale erblich sind, also in gewissem Ausmaß<br />

durch Erbfaktoren beeinflusst werden (Bouchard 2004; Turkhe<strong>im</strong>er<br />

2000). Diejenigen Merkmale, die Verhaltensgenetiker am<br />

meisten interessieren – z. B. Intelligenz, Geselligkeit, St<strong>im</strong>mung<br />

<strong>und</strong> Aggression –, sind polygenetisch, also durch eine Kombination<br />

vieler Gene beeinflusst. Und sie sind multifaktoriell, also<br />

von einer Vielzahl genetischer <strong>und</strong> umweltbedingter Faktoren<br />

beeinflusst. Die Quellen der interindividuellen Variation sind<br />

überaus vielfältig.<br />

Verhaltensgenetik – Die Analyse individueller Unterschiede in Verhalten <strong>und</strong><br />

Entwicklung <strong>im</strong> Hinblick auf genetische <strong>und</strong> umweltbedingte Einflussfaktoren,<br />

deren Zusammenwirken diese Unterschiede verursacht.<br />

Erblich – Bezieht sich auf die genetisch bedingten Merkmale.<br />

Multifaktoriell – Bezieht sich auf den Einfluss vieler genetischer oder umweltbedingter<br />

Faktoren auf das jeweils betrachtete Merkmal.<br />

Um Galtons Frage vollständig zu beantworten, versuchen Verhaltensgenetiker<br />

die Beiträge von Genetik <strong>und</strong> Umwelt zu den<br />

beobachteten Unterschieden innerhalb einer Population von<br />

Menschen oder Tieren zu trennen. Diesem Bestreben liegen zwei<br />

Prämissen zugr<strong>und</strong>e:<br />

1. In dem Ausmaß, in dem genetische Faktoren für ein best<strong>im</strong>mtes<br />

Persönlichkeitsmerkmal oder eine Verhaltensweise<br />

relevant sind, sollten Individuen, deren Genotypen ähnlich<br />

sind, auch phänotypisch ähnlich sein. Mit anderen Worten:<br />

Verhaltensmuster sollten familientypisch sein; Kinder sollten<br />

ihren Eltern <strong>und</strong> Geschwistern ähnlicher sein als Verwandte<br />

eines höheren Grades oder fremden Personen.<br />

2. In dem Ausmaß, in dem gemeinsame Umweltfaktoren eine<br />

Rolle spielen, sollten gemeinsam aufgewachsene Individuen<br />

einander ähnlicher sein als Menschen, die getrennt aufgewachsen<br />

sind.<br />

Verhaltensgenetische Forschungsdesigns<br />

Wie schon für Galton bildet die Familienuntersuchung die wesentliche<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Verhaltensgenetik. Um die genetischen<br />

<strong>und</strong> umweltbedingten Beiträge zu einem best<strong>im</strong>mten Persönlichkeitsmerkmal<br />

oder einer Verhaltensweise zu untersuchen,<br />

messen Verhaltensgenetiker dieses Merkmal zunächst bei Menschen,<br />

die sich hinsichtlich der genetischen Verwandtschaft<br />

unterscheiden – bei Eltern <strong>und</strong> Kindern, eineiigen <strong>und</strong> zweieiigen<br />

Zwillingen, normalen Geschwistern <strong>und</strong> so weiter. Dann<br />

berechnen sie die Korrelationen der Merkmalsmessungen zwischen<br />

Paaren von Individuen, die verschiedene Ausprägungen<br />

von Verwandtschaftsbeziehungen aufweisen. (Wie in ▶ Kap. 1<br />

beschrieben, drückt ein Korrelationskoeffizient das Ausmaß aus,<br />

in dem zwei Variablen verknüpft sind; je höher die Korrelation,<br />

desto genauer können die Ausprägungen der einen Variable aus<br />

den Ausprägungen der anderen vorhergesagt werden.) Sie vergleichen<br />

dann die resultierenden Korrelationen, um zu prüfen,<br />

ob sie (1) zwischen näher verwandten Personen höher sind als<br />

zwischen entfernter oder gar nicht verwandten Personen <strong>und</strong> ob<br />

sie (2) zwischen Personen, die in derselben Umwelt aufgewachsen<br />

sind, höher sind als zwischen Personen, die in verschiedenen<br />

Umwelten lebten.<br />

Es gibt mehrere spezielle Designs für Familienuntersuchungen,<br />

die bei der Best<strong>im</strong>mung genetischer <strong>und</strong> umweltbedingter<br />

Einflüsse besonders geeignet sind. Dazu gehört das Zwillingsstudien-Design,<br />

bei dem die Korrelationen zwischen eineiigen<br />

(monozygoten) Zwillingen mit denen zwischen gleichgeschlechtlichen<br />

zweieiigen (dizygoten) Zwillingen verglichen werden. Wie<br />

bereits erwähnt, besitzen eineiige Zwillinge 100 % gemeinsamer


90<br />

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Gene, während sich zweieiige Zwillinge (wie normale Geschwister)<br />

genetisch nur zu 50 % gleichen. (Wie <strong>im</strong> vorangehenden<br />

Abschnitt dieses Kapitels erläutert, wird die Ausprägung dieser<br />

Gene <strong>im</strong> Laufe der Entwicklung durch epigenetische Faktoren<br />

beeinflusst.) Bei gemeinsam aufgewachsenen Zwillingen wird<br />

die Ähnlichkeit ihrer Umwelt <strong>im</strong> Allgemeinen als gleich oder<br />

annähernd gleich eingestuft. Beide Arten von Zwillingen teilten<br />

sich denselben Mutterleib, wurden zur gleichen Zeit geboren <strong>und</strong><br />

sind bei ihrer Untersuchung <strong>im</strong>mer gleich alt. Sofern sie zusammen<br />

aufwachsen, leben sie außerdem in derselben Familie <strong>und</strong><br />

in derselben Gemeinschaft. Die Unterschiede in der genetischen<br />

Ähnlichkeit beider Zwillingstypen bieten bei einer <strong>im</strong> Wesentlichen<br />

gleichen Umwelt einen Ausgangspunkt, um die beobachteten<br />

Unterschiede bei den beiden Zwillingstypen <strong>im</strong> Hinblick<br />

auf die Korrelation best<strong>im</strong>mter Merkmale als Anhaltspunkt für<br />

die Bedeutung genetischer Faktoren für die Entwicklung dieser<br />

Merkmale heranzuziehen. Wenn also die Korrelation zwischen<br />

eineiigen Zwillingen bei einem best<strong>im</strong>mten Merkmal oder einer<br />

Verhaltensweise beträchtlich höher ist als zwischen zweieiigen<br />

Zwillingen, kann man annehmen, dass genetische Faktoren in<br />

hohem Maße für diesen Unterschied verantwortlich sind.<br />

Ein weiteres Familienuntersuchungsdesign, das bei der<br />

Best<strong>im</strong>mung genetischer <strong>und</strong> umweltbedingter Einflüsse zum<br />

Einsatz kommt, ist die Adoptionsstudie, bei der die Forscher untersuchen,<br />

ob die Ausprägungen adoptierter Kinder auf einer<br />

best<strong>im</strong>mten Messvariablen höher mit denen ihrer biologischen<br />

Eltern <strong>und</strong> Geschwister korrelieren oder mit denen ihrer Adoptiveltern<br />

<strong>und</strong> -geschwister. Auf genetische Einflüsse wird in dem<br />

Ausmaß rückgeschlossen, in dem die Kinder ihren biologischen<br />

Verwandten stärker ähneln als ihren durch Adoption erworbenen<br />

Verwandten.<br />

Bei dem idealen verhaltensgenetischen Design – bei Adoptionsstudien<br />

mit Zwillingen – werden beide Designs kombiniert.<br />

Hier vergleicht man eineiige Zwillinge, die gemeinsam aufwuchsen,<br />

mit eineiigen Zwillingen, die kurz nach der Geburt getrennt<br />

wurden <strong>und</strong> in verschiedenen Kontexten aufwuchsen. Wenn<br />

die Korrelationen zwischen getrennt aufgewachsenen Zwillingen<br />

denen zwischen gemeinsam aufgewachsenen Zwillingen<br />

gleichen, kann man auf einen äußerst geringen Einfluss von<br />

Umweltfaktoren schließen. Wenn umgekehrt die Korrelationen<br />

zwischen eineiigen Zwillingen, die in unterschiedlichen Umwelten<br />

aufgewachsen sind, niedriger ausfallen als die Korrelationen<br />

zwischen gemeinsam aufgewachsenen Zwillingen, wird ein starker<br />

Umwelteinfluss vermutet. ▶ Exkurs 3.2 beschreibt einige der<br />

bemerkenswerten Bef<strong>und</strong>e aus Untersuchungen von getrennt<br />

aufgewachsenen Zwillingen sowie einige der Probleme, die bei<br />

solchen Forschungen auftreten.<br />

Familienuntersuchungen der Intelligenz<br />

Die Eigenschaft, auf die verhaltensgenetische Familienuntersuchungen<br />

bei Weitem am häufigsten gerichtet war, ist die<br />

Intelligenz. In . Tab. 3.1 sind die Ergebnisse von über 100 Familienuntersuchungen<br />

des IQ <strong>im</strong> Verlauf der Adoleszenz zusammengefasst;<br />

das Bef<strong>und</strong>muster lässt sowohl genetische als auch<br />

umweltbedingte Einflüsse erkennen. Der genetische Einfluss<br />

zeigt sich in den durchgehend höheren Korrelationen bei höheren<br />

Graden genetischer Ähnlichkeit. Am bemerkenswertesten ist<br />

der Bef<strong>und</strong>, dass eineiige Zwillinge einander ähnlicher sind als<br />

gleichgeschlechtliche zweieiige Zwillinge. Gleichzeitig spiegeln<br />

sich Umwelteinflüsse in der Tatsache wider, dass die Intelligenz<br />

eineiiger Zwillinge nicht identisch ist. Weitere Belege für die<br />

Rolle der Umwelt bestehen darin, dass sich gemeinsam aufgewachsene<br />

eineiige Zwillinge ähnlicher sind als eineiige Zwillinge,<br />

die getrennt aufwuchsen.<br />

Ändert sich der Einfluss, den Gene <strong>und</strong> Umwelt auf die Intelligenz<br />

haben, <strong>im</strong> Laufe der Entwicklung? Man könnte erwarten,<br />

dass genetische Einflüsse auf den IQ mit zunehmendem Alter <strong>und</strong><br />

zunehmend unterschiedlichen Erfahrungen (als variablem Umwelteinfluss)<br />

geringer würden. Überraschenderweise haben neue<br />

Untersuchungen genau das entgegengesetzte Muster bestätigt: Bei<br />

Zwillingen n<strong>im</strong>mt mit zunehmendem Alter der Grad, in dem die<br />

Varianz des IQ durch die genetische Ähnlichkeit erklärt werden<br />

kann, zu. In einer Zwillingsstudie mit 11.000 ein- <strong>und</strong> zweieiigen<br />

Zwillingspaaren aus vier Ländern zeigte sich, dass die Korrelation<br />

der IQs eineiiger Zwillinge mit zunehmendem Alter anstieg, während<br />

sie bei zweieiigen Zwillingen mit dem Alter abnahm. Diese<br />

Unterschiede <strong>im</strong> Korrelationsmuster wurde zunächst zwischen<br />

Kindheit <strong>und</strong> Adoleszenz beobachtet <strong>und</strong> später auch zwischen<br />

Adoleszenz <strong>und</strong> frühem Erwachsenenalter bestätigt (Haworth<br />

et al. 2010). Dasselbe Muster zeigten auch die Bef<strong>und</strong>e bei einer<br />

vergleichenden Längsschnittstudie mit ein- <strong>und</strong> zweieiigen Zwillingen<br />

<strong>im</strong> frühen <strong>Kindes</strong>alter (von zwei bis vier Jahren) sowie in<br />

der mittleren Kindheit (sieben bis zehn Jahre): Bei den jüngeren<br />

Kindern waren die Varianzen des IQ in höherem Maße durch die<br />

gemeinsame Umwelt erklärbar als durch die gemeinsamen Gene,<br />

wobei bei älteren Kindern das Muster der Varianzaufklärung genau<br />

umgekehrt war (Davis et al. 2009).<br />

Diese überraschenden Muster – die Zunahme der genetischen<br />

Einflüsse bei zunehmendem Alter – passen zu der Annahme<br />

(dritte Beziehung), dass Menschen sich ihre Umwelt aktiv konstruieren<br />

(McGue et al. 1993; Scarr <strong>und</strong> McCartney 1983). Wenn<br />

die Kinder älter werden, verringert sich der Einfluss der Eltern<br />

auf ihre Aktivitäten, <strong>und</strong> sie steuern ihre Erfahrungen zunehmend<br />

selbst. Für dieses Muster könnten durchaus Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> Errungenschaften bedeutsam sein, die Kinder ihrer Erziehung<br />

verdanken, sofern diese Erfahrungen <strong>und</strong> Errungenschaften<br />

die Leistungen in Intelligenztests <strong>und</strong> die entsprechenden<br />

IQ-Maße beeinflussen. Jüngere Kinder haben auf die Umstände<br />

<strong>und</strong> Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Erziehung kaum Einfluss,<br />

während ältere Kinder, Teenager <strong>und</strong> junge Erwachsene <strong>im</strong> Hinblick<br />

auf ihre Erfahrungen mehr Einfluss auf ihre eigenen Erfahrungen<br />

haben (etwa indem sie mehr oder weniger anspruchsvolle<br />

Kurse in Schule <strong>und</strong> Universität wählen, sich mehr oder weniger<br />

gebildete Fre<strong>und</strong>e suchen <strong>und</strong> so weiter). Möglicherweise bleibt<br />

der IQ eineiiger Zwillinge bis ins Erwachsenenalter hinein ähnlich,<br />

weil ihre gemeinsamen genetischen Prädispositionen dazu<br />

führen, dass sie sich ähnliche intellektuelle Anregung schaffen,<br />

während sich zweieiige Zwillinge zunehmend unähnlicher werden,<br />

weil sie sich jeweils andere Erfahrungen aussuchen (Scarr<br />

<strong>und</strong> McCartney 1983).<br />

Erblichkeit<br />

Viele Verhaltensgenetiker versuchen in ihren Ansätzen zur<br />

Anlage-Umwelt-Debatte das Ausmaß, in dem die Gene zu den


Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

91 3<br />

Exkurs 3.2: Individuelle Unterschiede: Getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge | |<br />

Oskar Stohr <strong>und</strong> Jack Yufa sind eineiige Zwillinge,<br />

die kurz nach ihrer Geburt in Trinidad<br />

getrennt wurden. Oskar wurde von seiner<br />

Großmutter in Deutschland als Katholik <strong>und</strong><br />

Nazi erzogen. Jack wuchs bei seinem Vater in<br />

der Karibik als Jude auf. Ungeachtet ihrer recht<br />

unterschiedlichen Lebenshintergründe entdeckten<br />

die beiden Brüder, als sie sich <strong>im</strong> mittleren<br />

Lebensalter zum ersten Mal <strong>im</strong> Rahmen<br />

einer Forschungsuntersuchung in Minneapolis<br />

trafen, eine Reihe von Ähnlichkeiten:<br />

Sie mögen scharfes Essen <strong>und</strong> süße Liköre,<br />

sind zerstreut, haben die Angewohnheit, vor<br />

dem Fernseher einzuschlafen, finden es witzig,<br />

mitten unter Fremden zu niesen, betätigen<br />

die Toilettenspülung, bevor sie die Toilette<br />

benutzen, bewahren Gummiringe an ihrem<br />

Handgelenk auf, lesen Zeitschriften von hinten<br />

nach vorn, tunken gebutterten Toast in ihren<br />

Kaffee. Oskar tyrannisiert Frauen <strong>und</strong> schreit<br />

seine Frau an, was Jack vor seiner Scheidung<br />

ebenfalls tat (Holden 1980, S. 1324).<br />

Jack <strong>und</strong> Oskar sind Teilnehmer der Minnesota-Studie<br />

an getrennt aufgewachsenen<br />

Zwillingen, einer umfangreichen Untersuchung<br />

von Zwillingspaaren, die früh <strong>im</strong> Leben<br />

getrennt wurden (Bouchard et al. 1990). Es<br />

wurden mehr als 100 solcher Zwillingspaare<br />

ausfindig gemacht, für die Untersuchung<br />

angeworben <strong>und</strong> nach Minneapolis gebracht,<br />

wo sie einer umfangreichen Batterie<br />

physiologischer <strong>und</strong> psychologischer Tests<br />

unterzogen wurden. In vielen Fällen trafen sich<br />

die Zwillingsgeschwister zum ersten Mal seit<br />

ihrer Kindheit. (Die wieder zusammengeführten<br />

Zwillinge auf dem Foto legten fast so viele<br />

überzeugende Ähnlichkeiten an den Tag wie<br />

Jack <strong>und</strong> Oskar, einschließlich ihrer Berufswahl:<br />

Beide sind sie Feuerwehrmänner.) Die Motivation<br />

für diese ausgedehnte Studie besteht<br />

darin, die genetischen <strong>und</strong> umweltbedingten<br />

Beiträge zur Entwicklung <strong>und</strong> zum Verhalten<br />

zu erforschen, indem Individuen untersucht<br />

werden, die genetisch identisch sind, aber in<br />

unterschiedlichen Umwelten aufwuchsen.<br />

Das Forschungsteam in Minnesota war von<br />

dem Ausmaß an Ähnlichkeit überwältigt, das<br />

sie bei den untersuchten getrennten Zwillingen<br />

fanden; sie fanden genetische Beiträge zu<br />

„fast jedem Verhaltensmerkmal, das bislang<br />

untersucht wurde, von der Reaktionszeit bis<br />

zur Religiosität“ (Bouchard et al. 1990).<br />

So erstaunlich die Ähnlichkeiten zwischen den<br />

getrennten Zwillingen auch sein mögen, daraus<br />

automatisch schlussfolgern zu wollen, dass<br />

diese Ähnlichkeiten auf genetischen Faktoren<br />

beruhen, ist aus mehreren Gründen problematisch.<br />

So ist die Annahme, dass ähnliche Eigenschaften<br />

der getrennt aufgewachsenen Zwillinge<br />

genetisch bedingt sind, eine unzulässige<br />

Vereinfachung. Beispielsweise kann man nicht<br />

sagen, dass die übereinst<strong>im</strong>mende Berufswahl<br />

der Zwillinge auf dem Foto auf einem Satz von<br />

Genen beruhe, die beide zu Feuerwehrleuten<br />

vorherbest<strong>im</strong>men. Wie bereits erwähnt, codieren<br />

Gene für best<strong>im</strong>mte Proteine <strong>und</strong> nicht<br />

für so komplexe Eigenschaften wie berufliche<br />

Neigungen (oder die Entscheidung, sich einen<br />

Bart wachsen zu lassen).<br />

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Praxis<br />

der selektiven Unterbringung: Adoptionsbehörden<br />

versuchen generell, die Kinder in<br />

Familien mit demselben Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

derselben Ethnizität unterzubringen, <strong>und</strong><br />

so gleichen sich die Umwelten getrennter<br />

Zwillinge oft in vielerlei Weise. Es ist überaus<br />

selten, dass getrennte Zwillinge wie Jack <strong>und</strong><br />

Oskar, in verschiedenen Sprachen, Religionen<br />

<strong>und</strong> Kulturen aufwachsen. Tatsächlich stammt<br />

die Mehrheit der Zwillinge in den meisten<br />

verhaltensgenetischen Untersuchungen<br />

vorrangig aus weißen Mittelschichtfamilien<br />

westlicher Länder. Die Verhaltensgenetiker<br />

Levine <strong>und</strong> Suzuki (1993) kommentieren dies<br />

folgendermaßen:<br />

N<strong>im</strong>m eines dieser Kinder <strong>und</strong> steck es in eine<br />

wirklich andere Umgebung, etwa in eine Familie<br />

von Buschmännern in Afrika oder in ein Bauerndorf<br />

in Zentralchina, <strong>und</strong> komm dann nach<br />

zwanzig Jahren zurück: Ob du dann wohl zwei<br />

Feuerwehrmänner findest, die sich gleichartig<br />

kleiden (Levine <strong>und</strong> Suzuki 1993, S. 241)?<br />

..<br />

Die eineiigen Zwillinge Gerald Levey <strong>und</strong><br />

Mark Newman wurden nach der Geburt<br />

getrennt <strong>und</strong> unabhängig voneinander<br />

in jüdischen Mittelschichtfamilien in der<br />

Gegend von New York aufgezogen. Bei ihrem<br />

Wiedersehen <strong>im</strong> Alter von 31 Jahren fanden sie<br />

sich beide als Feuerwehrmänner mit heruntergezogenem<br />

Oberlippenbart <strong>und</strong> Koteletten.<br />

Beide hatten eine Vorliebe für die Jagd <strong>und</strong><br />

das Fischen, für John-Wayne-Filme, sogar für<br />

dieselbe Biermarke, wobei sie die Bierdosen in<br />

gleicher Wiese mit dem kleinen Finger auf der<br />

Unterseite abstützten <strong>und</strong> nach dem Leeren<br />

zusammendrückten. (© Thomas Wanstall/The<br />

Image Works)<br />

verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen beitragen, zu quantifizieren.<br />

Um abzuschätzen, welche Variabilitätsanteile eines<br />

best<strong>im</strong>mten Merkmals sich auf genetische <strong>und</strong> welche auf umweltbedingte<br />

Faktoren zurückführen lassen, leiten sie aus Korrelationen,<br />

wie sie in . Tab. 3.1 dargestellt sind, Erblichkeitsschätzungen<br />

ab. Die Erblichkeit ist ein statistisch geschätzter Wert,<br />

der angibt, welcher Anteil der gemessenen Varianz bei einem<br />

best<strong>im</strong>mten Persönlichkeitsmerkmal zwischen den Individuen<br />

einer best<strong>im</strong>mten Population genetischen Unterschiede dieser<br />

Individuen zugeschrieben werden kann.<br />

Erblichkeit – Eine statistische Schätzung desjenigen Anteils an der gemessenen<br />

Varianz eines Merkmals bei Individuen einer best<strong>im</strong>mten Population, der<br />

genetischen Unterschieden dieser Individuen zuzurechnen ist.<br />

Be<strong>im</strong> Umgang mit einem Erblichkeitsindex ist unbedingt zu beachten,<br />

dass er <strong>im</strong> Fall des einzelnen Individuums nichts über<br />

die relativen Beiträge genetischer <strong>und</strong> umweltbedingter Faktoren<br />

zur Entwicklung aussagen kann. Stattdessen ist die Erblichkeit<br />

lediglich ein statistisches Maß dafür, in welchem Umfang die beobachtete<br />

Variabilität innerhalb einer best<strong>im</strong>mten Population von<br />

Menschen auf die Unterschiede ihrer Gene zurückgeht. Zum Beispiel<br />

liegt der Erblichkeitsindex für Intelligenz nach allgemeinen<br />

Annahmen bei etwa 50 % (Bouchard 2004; Plomin 1990). Das<br />

bedeutet, dass in einer untersuchten Population etwa 50 % der<br />

IQ-Ausprägungsvarianz auf genetische Unterschiede zwischen<br />

den Mitgliedern dieser Gruppe zurückgehen. (Es bedeutet nicht,<br />

dass 50 % der Intelligenzausprägung bei jedem Einzelnen von uns<br />

auf unsere genetische Ausstattung <strong>und</strong> 50 % jeweils auf unsere<br />

Erfahrung zurückgehen.) Dieser Erblichkeitswert weist darauf<br />

hin – <strong>und</strong> das sollte <strong>im</strong> Auge behalten werden –, dass der Beitrag<br />

der Umwelt zur Intelligenzvariation innerhalb einer Population<br />

ebenfalls etwa 50 % beträgt.<br />

Verhaltensgenetische Analysen wurden auf viele unterschiedliche<br />

Aspekte des menschlichen Verhaltens angewandt, von denen<br />

Sie einigen in den späteren Kapiteln dieses Buches begegnen.<br />

Hier sollen nur einige Beispiele genannt werden, bei denen<br />

Erblichkeit in bedeutsamer Ausprägung belegt ist: das kindliche<br />

Aktivitätsniveau (Saudino <strong>und</strong> Eaton 1991), das Temperament<br />

(Goldsmith et al. 1997), Leseschwäche (DeFries <strong>und</strong> Gillis 1993)


92<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

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15<br />

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18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

Tab. 3.1 Zusammenfassung von Familienuntersuchungen zur<br />

Intelligenz. (McGue et al. 1993)<br />

Durchschnittliche familiäre IQ-Korrelationen (R)<br />

Darüber hinaus gilt ein Erblichkeitsindex nur für eine best<strong>im</strong>mte<br />

Population, die zu einem best<strong>im</strong>mten Zeitpunkt in einer<br />

best<strong>im</strong>mten Umgebung lebt. Betrachten wir den Fall der Körpergröße.<br />

Die Forschung hierzu orientierte sich fast ausschließlich<br />

an Nordamerikanern <strong>und</strong> Europäern überwiegend weißer<br />

Hautfarbe, die überwiegend angemessen ernährt waren. Hier<br />

wurde eine Erblichkeit von etwa 90 % ermittelt. Was würde sich<br />

ändern, wenn ein großer Teil dieser Population in der Kindheit<br />

einer schl<strong>im</strong>men Hungersnot ausgesetzt gewesen wäre, während<br />

sich der andere Teil weiterhin gut ernähren konnte? Würde die<br />

Erblichkeit auch dann noch 90 % betragen? Wohl kaum – denn<br />

die Variabilität, die auf Umweltfaktoren beruht, würde drastisch<br />

ansteigen, <strong>und</strong> damit würde die Variabilität, die sich auf genetische<br />

Faktoren zurückführen lässt, ebenso drastisch sinken. In<br />

den IQ-Korrelationen der . Tab. 3.1 zeigt sich das Prinzip der<br />

variablen Erblichkeit darin, dass sich die statistisch abgeleiteten<br />

Erblichkeiten für dieselben Gruppen von Individuen zu unterschiedlichen<br />

Zeitpunkten in der Entwicklung unterscheiden<br />

(Davis et al. 2009).<br />

Außerdem ist bekannt, dass die Erblichkeitswerte bei unterschiedlichen<br />

Bevölkerungsgruppen, in denen Menschen in<br />

sehr verschiedenen Umwelten aufwachsen, deutlich voneinander<br />

abweichen. So unterscheiden sich beispielsweise in den<br />

Vereinigten Staaten die statistisch abgeleiteten Erblichkeitsindizes<br />

in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status, wie eine<br />

breit angelegte Zwillingsstudie zeigt, an der Familien aus allen<br />

sozioökonomischen Schichten teilnahmen (Turkhe<strong>im</strong>er et al.<br />

2003). Bei dieser Studie wurden nahezu 60 % der IQ-Varianz<br />

in der Stichprobe der sieben Jahre alten Kinder, die in Armut<br />

aufwuchsen, den für diese Gruppe typischen Umweltbedingungen<br />

zugeschrieben, aber so gut wie kein Varianzanteil der<br />

genetischen Ähnlichkeit. Bei wohlhabenden Familien war es<br />

umgekehrt: Die genetischen Faktoren trugen hier mehr zur IQ-<br />

Varianz bei als die Umweltfaktoren. Bei einer ähnlichen Studie,<br />

bei der die Testwerte von Zwillingen <strong>im</strong> Teenageralter verglichen<br />

wurden, wurde das gleiche Muster beobachtet: Bei Zwillingen<br />

aus armen Verhältnissen überwogen Umweltfaktoren bei der<br />

IQ-Varianzaufklärung gegenüber den genetischen Einflüssen,<br />

während bei den Teenagern aus gut situierten Verhältnissen die<br />

genetischen Einflüsse gegenüber den Umwelteinflüssen überwogen<br />

(Harden et al. 2007). Zwar ist noch nicht ganz klar, was<br />

diese differierenden Erblichkeitsniveaus hervorruft, doch lassen<br />

diese Bef<strong>und</strong>e vermuten, dass in armen <strong>und</strong> in wohlhabenden<br />

Umwelten qualitativ unterschiedliche Einflussfaktoren die Entwicklung<br />

best<strong>im</strong>men.<br />

Ein ähnliches <strong>und</strong> ebenfalls häufiges Missverständnis verkennt,<br />

dass hohe Erblichkeit nicht unbedingt Unveränderbarkeit<br />

bedeutet. Die Tatsache, dass eine Persönlichkeitseigenschaft in<br />

hohem Maße erblich ist, bedeutet nicht, dass jeder Versuch<br />

von vornherein sinnlos wäre, die Entwicklung dieser Eigenschaft<br />

positiv zu beeinflussen. Die relativ hohe Erblichkeit der<br />

Intelligenz bedeutet keineswegs, dass sich die intellektuelle<br />

Leistungsfähigkeit kleiner Kinder, die in Armut aufwachsen,<br />

durch geeignete Fördermaßnahmen (▶ Kap. 8) nicht verbessern<br />

ließe.<br />

Und schließlich sagen Erblichkeitsindizes – da sie für eine<br />

definierte Population gelten – nichts über die Unterschiede zwi-<br />

Verwandtschaftsbeziehung<br />

Durchschnittliches R<br />

Gemeinsam aufgewachsene biologische Verwandte<br />

Eineiige Zwillinge 0.86 4672<br />

Zweieiige Zwillinge 0.60 5533<br />

Geschwister 0.47 26.473<br />

Eltern–Kinder 0.42 8433<br />

Halbgeschwister 0.35 200<br />

Cousins/Cousinen 0.15 1176<br />

Getrennt aufgewachsene biologische Verwandte<br />

Eineiige Zwillinge 0.72 65<br />

Geschwister 0.24 203<br />

Eltern–Kinder 0.24 720<br />

Gemeinsam aufgewachsene nichtbiologische Verwandte<br />

Geschwister 0.32 714<br />

Eltern–Kinder 0.24 720<br />

Anzahl der Paare<br />

<strong>und</strong> für antisoziales Verhalten (Gottesman <strong>und</strong> Goldsmith 1994).<br />

Ein deutlicher Einfluss von Erbfaktoren wurde auch für Scheidung<br />

(McGue <strong>und</strong> Lykken 1992) <strong>und</strong> Fernsehkonsum (Plomin<br />

et al. 1990) sowie anderen Verhaltensweise festgestellt, die zuvor<br />

eher als umweltbedingt <strong>und</strong> weniger als genetisch verursacht galten<br />

(z. B. Jaffee <strong>und</strong> Price 2007).<br />

Allerdings scheint es wenig plausibel, die Existenz von Genen<br />

für „Scheitern in der Ehe“ oder „Dauerglotzen“ anzunehmen.<br />

Wir stoßen hier wieder an den wichtigen Aspekt, dass man nicht<br />

davon sprechen sollte, es gebe Gene „für“ best<strong>im</strong>mte Verhaltensmuster.<br />

Wir haben bereits betont, dass Gene nichts anderes<br />

tun als den Code für Proteine zu liefern; sie wirken sich auf das<br />

Verhalten insofern nur sehr indirekt aus, indem die nach ihrem<br />

Code synthetisierten Proteine Einfluss auf sensorische, neuronale<br />

<strong>und</strong> weitere physiologische Prozesse nehmen, die mit Verhalten<br />

in Zusammenhang stehen. Der Erblichkeitsindex für Scheidung<br />

könnte so vielleicht mit der genetischen Prädisposition zur Suche<br />

nach Veränderungen <strong>und</strong> zum Reiz an Neuem zusammenhängen,<br />

<strong>und</strong> der Bef<strong>und</strong> zum Fernsehkonsum geht vielleicht mit<br />

einem genetisch basierten niedrigen Aktivitätsniveau oder einer<br />

kurzen Aufmerksamkeitsspanne einher.<br />

Schätzungen des Erblichkeitsfaktors wurden sowohl innerhalb<br />

der Psychologie (z. B. Gottlieb et al. 1998; Lerner 1995) als<br />

auch von anderer Seite kritisiert (z. B. Levine <strong>und</strong> Suzuki 1993;<br />

Lewontin 1982). Ein Teil der Kritik fußt auf der Tatsache, dass<br />

entsprechende Angaben zur Erblichkeit oft falsch angewandt <strong>und</strong><br />

fehlinterpretiert werden. Ein sehr verbreitetes Missverständnis<br />

ist der Rückschluss vom statistischen Erblichkeitsindex auf den<br />

einzelnen Menschen, entgegen der bereits betonten Einschränkung:<br />

Erblichkeitsanteile gelten nur für Populationen, nicht für<br />

Individuen.


Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

93 3<br />

schen Gruppen aus. Der Erblichkeitsindex des IQ beispielsweise<br />

sagt wenig darüber aus, was die verschiedenen mittleren IQ-<br />

Werte der verschiedenen Bevölkerungsgruppen bedeuten. Euroamerikaner<br />

beispielsweise erreichen in IQ-Tests durchschnittlich<br />

15 Punkte mehr als Afroamerikaner. Manche Menschen nehmen<br />

deshalb irrtümlich an, dass der Unterschied zwischen den<br />

IQ-Werten der beiden Gruppen genetisch bedingt sei, weil der<br />

IQ eine Erblichkeit von 50 % aufweist. Dieser Schluss ist absolut<br />

ungerechtfertigt angesichts der großen Ungleichheit zwischen<br />

den beiden Gruppen hinsichtlich Familieneinkommen <strong>und</strong> Ausbildung,<br />

Qualität der Stadtteilschulen, Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge <strong>und</strong><br />

unzähliger weiterer Faktoren, die die Leistung in Intelligenztests<br />

beeinflussen können.<br />

Umwelteinflüsse<br />

Jede Untersuchung des genetischen Beitrags zum Verhalten <strong>und</strong><br />

zur Entwicklung ist notwendigerweise zugleich eine Untersuchung<br />

von Umwelteinflüssen: Die Abschätzung der Erblichkeit<br />

führt automatisch auch zur Abschätzung derjenigen Varianzanteile,<br />

die nicht den Genen zugeschrieben werden können. Dass<br />

die Erblichkeit den Wert von 50 % selten übersteigt, weist auf<br />

einen großen Beitrag der Umweltfaktoren hin.<br />

Verhaltensgenetiker versuchen zu best<strong>im</strong>men, in welchem<br />

Ausmaß Besonderheiten der Umwelt, die wir in der Regel mit<br />

unseren nächsten Verwandten teilen, dazu beitragen, dass wir<br />

einander ähnlich werden, <strong>und</strong> in welchem Ausmaß Erfahrungen,<br />

die nur den jeweils Einzelnen betreffen, Unterschiede<br />

hervorrufen. Mitglieder der gleichen Familie sind ganz offensichtlich<br />

besonders ähnlichen Umwelten ausgesetzt. Gemeinsame<br />

Umwelteinflüsse sind insbesondere dann zu vermuten,<br />

wenn Zwillinge oder andere Verwandte einander in einem<br />

best<strong>im</strong>mten Merkmal ähnlicher sind, als dies allein aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer genetischen Ähnlichkeit zu erwarten wäre. Zum Beispiel<br />

konnte man einen beträchtlichen Einfluss der gemeinsamen<br />

Umwelt auf die positive Gefühlslage kleiner <strong>und</strong> jüngerer Kinder<br />

in einer Zwillingsstudie nachweisen, weil bei eineiigen <strong>und</strong><br />

zweieiigen Zwillingen, die gemeinsam aufwuchsen, vergleichbare<br />

Ähnlichkeiten <strong>im</strong> Ausdruck von Freude <strong>und</strong> Vergnügen<br />

beobachtet wurden (Goldsmith et al. 1997). Der Einfluss der<br />

Umwelt wird auch bei psychischen Störungen erkennbar, die<br />

eine genetische Komponente haben, wenn die betroffenen<br />

Menschen in einer gleichen Umwelt leben. So haben Zwillingsstudien<br />

zum autistischen Störungsspektrum (▶ Exkurs 3.1) konsistente<br />

Hinweise auf eine erbliche Komponente geliefert (bei<br />

eineiigen Zwillingen leiden häufiger beide Zwillinge desselben<br />

Paares an der Störung als bei zweieiigen Zwillingen). Allerdings<br />

zeigte sich in einer neueren groß angelegten Zwillingsstudie, an<br />

der Paare mit jeweils mindestens einem als autistisch gestört<br />

diagnostizierten Zwilling teilnahmen, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit<br />

derselben Diagnose be<strong>im</strong> zweiten Zwilling auch<br />

erheblich von der gemeinsam erlebten Umwelt abhing (Hallmayer<br />

et al. 2011).<br />

Erstaunlicherweise haben Verhaltensgenetiker bei vielen<br />

anderen Entwicklungsaspekten fast keine Belege für Einflüsse<br />

einer gemeinsamen Umwelt gef<strong>und</strong>en. Bei der Persönlichkeit liegen<br />

die Korrelationen bei Adoptivgeschwistern häufig nahe bei<br />

null (Rowe 1994). Dasselbe gilt für manche Typen psychischer<br />

Störungen <strong>und</strong> Pathologien, einschließlich der Schizophrenie<br />

(Gottesman 1991). Das Aufwachsen in einer Adoptivfamilie mit<br />

einem schizophrenen Geschwisterkind erhöht, wie in ▶ Kap. 1<br />

bereits erwähnt, nicht das Risiko, selbst schizophren zu werden.<br />

Es kommt hinzu, dass es für das Schizophrenierisiko des biologischen<br />

<strong>Kindes</strong> eines schizophrenen Elternteils keine Rolle spielt,<br />

ob das Kind bei der Geburt zur Adoption freigegeben wird oder<br />

ob es bei dem psychisch kranken Elternteil verbleibt (Kety et al.<br />

1994).<br />

Die verhaltensgenetischen Untersuchungen zum Einfluss<br />

einer nicht geteilten (also unterschiedlichen) Umwelt gehen<br />

von der Annahme aus, dass Kinder weder innerhalb noch außerhalb<br />

der Familie alle ihre Erfahrungen gemeinsam haben,<br />

auch dann nicht, wenn sie in derselben Familie gemeinsam aufwachsen.<br />

Geschwister können wegen ihrer Geburtsreihenfolge<br />

schon innerhalb der Familie recht Unterschiedliches erfahren.<br />

In einer kinderreichen Familie mag das älteste Geschwister<br />

beispielsweise von relativ jungen, aktiven, aber unerfahrenen<br />

Eltern erzogen worden sein, während ein deutlich jüngeres<br />

Geschwister mit älteren, gesetzteren, aber erfahrungsreicheren<br />

Eltern aufwächst, die wahrscheinlich über mehr pädagogische<br />

Erfahrungen verfügen als in jüngeren Jahren. Außerdem können,<br />

wie in ▶ Kap. 1 erwähnt, Geschwister das Verhalten ihrer<br />

Eltern ihnen gegenüber unterschiedlich erleben (etwa <strong>im</strong> Sinne<br />

eines „Immer-warst-du-Papas-Liebling“-Syndroms). Geschwister<br />

können weiterhin von einem Ereignis, das sie gemeinsam<br />

erleben, beispielsweise der Scheidung ihrer Eltern, ganz unterschiedlich<br />

betroffen sein (Hetherington <strong>und</strong> Clingempeel<br />

1992). Und schließlich sind Geschwister manchmal höchst<br />

motiviert, sich voneinander zu unterscheiden <strong>und</strong> gegeneinander<br />

abzugrenzen (Sulloway 1996). Der jüngere Bruder einer<br />

Musterschülerin versucht vielleicht, stattdessen ein Supersportler<br />

zu werden, <strong>und</strong> ein Kind, das beobachten muss, wie sich ein<br />

Geschwisterteil durch Drogen- <strong>und</strong> Alkoholmissbrauch selbst<br />

zerstört, wählt vielleicht besonders zielstrebig für sich einen<br />

anderen Weg. Wie diese Beispiele zeigen, bilden Geschwister<br />

bereits durch ihre Existenz einen wichtigen Teil der Umwelt<br />

<strong>und</strong> bringen für die anderen Geschwister jeweils andere Erfahrungskonstellationen<br />

mit sich. Das ist ein weiterer Faktor, der<br />

innerhalb einer Familie für jedes Kind zu einem etwas anderen<br />

Erleben führt.<br />

Geschwister, insbesondere wenn sie nicht vom selben Geschlecht<br />

sind, machen außerhalb ihres Zuhauses erst recht<br />

unterschiedliche Erfahrungen; beispielsweise haben sie verschiedene<br />

Fre<strong>und</strong>eskreise <strong>und</strong> Bezugsgruppen. Zwei sehr<br />

aktive Brüder, die beide körperliche Herausforderungen <strong>und</strong><br />

einen gewissen Nervenkitzel mögen, werden zu recht unterschiedlichen<br />

Erfahrungen gelangen, wenn sich der eine mit<br />

Bergsteigen beschäftigt, während sich der andere mit Kr<strong>im</strong>inellen<br />

herumtreibt. Idiosynkratische Lebensereignisse – einen<br />

schweren Unfall oder eine schl<strong>im</strong>me Krankheit erleiden, einen<br />

inspirierenden Lehrer haben, auf dem Schulhof schikaniert<br />

werden – können weiter dazu beitragen, dass sich Geschwister<br />

unterschiedlich entwickeln. Der Haupteffekt nicht geteilter<br />

Umweltfaktoren besteht darin, dass sich die Unterschiede<br />

zwischen Familienmitgliedern vertiefen (Plomin <strong>und</strong> Daniels<br />

1987).


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Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

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In Kürze | |<br />

Die fünf Beziehungen in . Abb. 3.1 bilden das komplexe Zusammenspiel<br />

zwischen genetischen Kräften <strong>und</strong> Umweltkräften<br />

bei der Entwicklung ab. (1) Der Verlauf der Entwicklung<br />

eines <strong>Kindes</strong> wird vom genetischen Erbe beeinflusst, das es<br />

von Mutter <strong>und</strong> Vater erhält, wobei das Geschlecht ausschließlich<br />

durch den Beitrag der Geschlechtschromosomen<br />

des Vaters best<strong>im</strong>mt ist. (2) Die Beziehung zwischen dem<br />

Genotyp <strong>und</strong> dem Phänotyp des <strong>Kindes</strong> hängt zum Teil von<br />

Dominanzmustern bei der Expression einiger Gene ab, doch<br />

die meisten Merkmale, die für Verhaltenswissenschaftler<br />

von pr<strong>im</strong>ärem Interesse sind, werden von mehreren Genen<br />

beeinflusst (polygenetische Vererbung). (3) Dem Konzept der<br />

Reaktionsnorm zufolge wird sich ein best<strong>im</strong>mter Genotyp<br />

in verschiedenen Umwelten jeweils anders entwickeln. Ein<br />

besonders bedeutsamer Teil der kindlichen Umwelt sind die<br />

Eltern, einschließlich deren genetischer Ausstattung, die sich<br />

darauf auswirkt, wie sich die Eltern gegenüber ihren Kindern<br />

verhalten. (4) Die genetische Ausstattung des <strong>Kindes</strong> selbst<br />

beeinflusst es bei der Auswahl <strong>und</strong> Gestaltung seiner eigenen<br />

Umwelt <strong>und</strong> bei dem, was es in dieser Umwelt erlebt. (5) Umgekehrt<br />

kann das Erleben des <strong>Kindes</strong> die Ausprägung der<br />

Gene durch epigenetische Prozesse verändern.<br />

Die Verhaltensgenetik befasst sich damit, wie sich Entwicklung<br />

aus der Interaktion von genetischen Faktoren <strong>und</strong><br />

Umweltfaktoren ergibt. Verhaltensgenetiker verwenden<br />

die Methode der Familienuntersuchung <strong>und</strong> vergleichen<br />

die Korrelationen zwischen Individuen, die sich in ihrer<br />

genetischen Verwandtschaft unterscheiden <strong>und</strong>/oder in unterschiedlichen<br />

Umwelten aufgewachsen sind. Der Erblichkeitsindex<br />

ist ein statistisches Maß für den Anteil der Varianz,<br />

die Individuen einer best<strong>im</strong>mten Population in einem<br />

best<strong>im</strong>mten Merkmal aufweisen, das sich auf genetische<br />

Unterschiede zurückführen lässt. Die meisten Verhaltenseigenschaften,<br />

die auf diese Weise gemessen wurden, zeigen<br />

einen beträchtlichen Erblichkeitsanteil bei der Varianzaufklärung.<br />

Zugleich lassen die statistischen Erblichkeitswerte<br />

das enge Zusammenspiel von Erbe <strong>und</strong> Umwelt bei der Entwicklung<br />

erkennen; es ist falsch <strong>und</strong> unangemessen, wenn<br />

man Anlage <strong>und</strong> Umwelt als unabhängige Einflüsse einander<br />

gegenüberstellt.<br />

Die Entwicklung des Gehirns<br />

Wir werden nun sehen, wie das Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong><br />

Umwelt auch die Entwicklung des Gehirns <strong>und</strong> des Nervensystems<br />

best<strong>im</strong>mt. Bevor wir jedoch die Entwicklungsprozesse bei<br />

der Ausbildung des Gehirns behandeln, müssen wir die Gr<strong>und</strong>bausteine<br />

dieser „kompliziertesten Struktur, die wir <strong>im</strong> Universum<br />

kennen“ (Thompson 2000, S. 1) betrachten.<br />

Das F<strong>und</strong>ament für alle Aspekte der Verhaltensentwicklung<br />

liegt in der Entwicklung des zentralen Nervensystems (ZNS) <strong>und</strong><br />

insbesondere des Gehirns. Das Gehirn ist der Ursprung allen<br />

Denkens, Erinnerns, Fühlens, aller Vorstellungskraft <strong>und</strong> der<br />

Persönlichkeit, kurz gesagt: des Verhaltens, der Fähigkeiten <strong>und</strong><br />

der Eigenschaften, die uns zu dem machen, was wir sind.<br />

Gehirnstrukturen<br />

In unserer Darstellung der Gehirnstrukturen konzentrieren wir<br />

uns auf zwei davon, die für das Verhalten entscheidend sind: das<br />

Neuron <strong>und</strong> den Cortex sowie einige ihrer Teilstrukturen.<br />

Neurone<br />

Das Hauptgeschäft des Gehirns besteht in der Verarbeitung von<br />

Information. Die Gr<strong>und</strong>einheiten des bemerkenswert mächtigen<br />

Informationssystems Gehirn sind seine mehr als 100 Mrd.<br />

Neurone (. Abb. 3.6), deren Zellkörper die graue Substanz bilden.<br />

Neurone sind Zellen, die für das Senden <strong>und</strong> Empfangen<br />

von elektrischen Signalen zwischen dem Gehirn <strong>und</strong> allen Teilen<br />

des Körpers sowie auch innerhalb des Gehirns selbst spezialisiert<br />

sind. Sensorische Neurone übertragen Information von den<br />

Sinnesrezeptoren, die auf Reize in der äußeren Umwelt oder <strong>im</strong><br />

Inneren des Körpers ansprechen; motorische Neurone übertragen<br />

Information vom Gehirn zu den Muskeln <strong>und</strong> Drüsen; <strong>und</strong><br />

Interneurone wirken als Vermittler zwischen sensorischen <strong>und</strong><br />

motorischen Neuronen.<br />

Neurone – Nervenzellen, die auf das Senden <strong>und</strong> Empfangen von Signalen<br />

zwischen Gehirn <strong>und</strong> allen Teilen des Körpers sowie innerhalb des Gehirns<br />

selbst spezialisiert sind.<br />

Wenngleich sich die Neurone auch nach Größe, Form <strong>und</strong> Funktion<br />

beträchtlich unterscheiden, so bestehen sie doch alle aus drei<br />

Hauptkomponenten:<br />

1. einem Zellkörper, der das biologische Basismaterial enthält,<br />

das das Neuron funktionstüchtig macht,<br />

2. Dendriten, das sind Fasern, die Signale von anderen Zellen<br />

als Input erhalten <strong>und</strong> diesen Input in Form von elektrischen<br />

Impulsen zum Zellkörper weiterleiten,<br />

3. einem Axon, einer Faser (deren Länge von ein paar Mikrometern<br />

bis zu mehr als 1 m betragen kann), die elektrische<br />

Signale vom Zellkörper weg zu den Verbindungen mit anderen<br />

Neuronen überträgt.<br />

Zellkörper – Ein Bestandteil des Neurons, der das gr<strong>und</strong>legende biologische<br />

Material enthält, mit dessen Hilfe das Neuron funktioniert.<br />

Dendriten – Nervenfasern, die Input von anderen Zellen erhalten <strong>und</strong> in Form<br />

von elektrischen Impulsen zum Zellkörper weiterleiten.<br />

Axone – Nervenfasern, die elektrische Signale vom Zellkörper weg zu den Verbindungen<br />

mit anderen Neuronen leiten.<br />

Neurone kommunizieren miteinander an den Synapsen, mikroskopisch<br />

kleinen Anschlussstellen zwischen dem Axonende<br />

des sendenden Neurons <strong>und</strong> den dendritischen Verzweigungen<br />

eines empfangenden Neurons. Bei diesem Prozess bewirken<br />

elektrische <strong>und</strong> chemische Prozesse in den Synapsen, dass das<br />

empfangende Neuron entweder beginnt, verstärkt zu feuern <strong>und</strong><br />

so ein Signal an ein anderes Neuron zu senden oder aber das<br />

Feuern zu reduzieren. Die Gesamtzahl der Synapsen ist schier


Die Entwicklung des Gehirns<br />

95 3<br />

..<br />

Abb. 3.6 Das Neuron. Der Zellkörper<br />

stellt Proteine <strong>und</strong> Enzyme<br />

her, die für das Funktionieren der<br />

Zelle sorgen, ferner Neurotransmitter<br />

– chemische Substanzen,<br />

welche die Kommunikation<br />

zwischen Neuronen ermöglichen.<br />

Das Axon ist die längliche Faser, die<br />

elektrische Impulse vom Zellkörper<br />

weg überträgt. Viele Axone sind<br />

von einer Myelinscheide umhüllt,<br />

welche die Geschwindigkeit <strong>und</strong><br />

Effizienz erhöht, mit der Signale das<br />

Axon entlangwandern. Verzweigungen<br />

am Ende des Axons besitzen<br />

Endknöpfchen, die Neurotransmittersubstanzen<br />

in die Synapsen<br />

– den schmalen Spalt zwischen den<br />

Axonenden des einen Neurons <strong>und</strong><br />

den Dendriten oder dem Zellkörper<br />

des anderen – freisetzen. Die Dendriten<br />

leiten Impulse zum Zellkörper<br />

hin. Ein Axon kann mit Tausenden<br />

anderer Neurone Synapsen haben.<br />

(Nach Banich 1997)<br />

unermesslich – es sind viele Billionen –, wobei manche Neurone<br />

mehr als 15.000 synaptische Verbindungen mit anderen<br />

Neuronen besitzen.<br />

Synapsen – Mikroskopisch kleine Spalte an den Verbindungsstellen zwischen<br />

dem Axonende des einen (sendenden) Neurons <strong>und</strong> den Dendritenverzweigungen<br />

oder dem Zellkörper eines anderen (empfangenden) Neurons.<br />

Gliazellen<br />

Außer den Neuronen enthält das Gehirn auch andere Zelltypen,<br />

vor allem Gliazellen, die etwa zehnmal so häufig sind wie<br />

Neurone. Diese Zellen üben eine Vielzahl entscheidender unterstützender<br />

Funktionen aus, darunter das Bilden einer Myelinscheide,<br />

die die Axone umhüllt <strong>und</strong> elektrisch isoliert, was<br />

die Geschwindigkeit <strong>und</strong> Effizienz der Informationsübertragung<br />

erhöht. Die Bedeutung des Myelins zeigt sich deutlich, wenn<br />

die Myelinbildung gestört ist – <strong>und</strong> dadurch schwerwiegende<br />

Krankheiten entstehen können. So wird bei Multipler Sklerose<br />

die Myelinscheide durch das Immunsystem angegriffen, was die<br />

Signalübertragung zwischen den Neuronen stört <strong>und</strong> vielfältige<br />

Beeinträchtigungen sensorischer, motorischer <strong>und</strong> kognitiver<br />

Funktionen hervorrufen kann. Auch bei psychischen Störungen<br />

wie Schizophrenie oder bipolarer Störung ist das Gen, das die<br />

Myelinproduktion reguliert, defekt (z. B. Hakak et al. 2001; Tkachev<br />

et al. 2003).<br />

Gliazellen spielen eine entscheidende Rolle bei der Kommunikation<br />

innerhalb des Gehirns, indem sie die Bildung <strong>und</strong><br />

Stärkung von Synapsen beeinflussen <strong>und</strong> untereinander in einem<br />

vom neuronalen Netzwerk getrennten Netzwerk kommunizieren;<br />

dadurch können sie die Gehirnaktivität in vieler Hinsicht<br />

sehr effizient regulieren (Fields 2004).<br />

Gliazellen – Zellen <strong>im</strong> Gehirn, die eine Vielzahl von entscheidenden Stützfunktionen<br />

ausüben.<br />

Myelinscheide – Die fetthaltige Schicht um best<strong>im</strong>mte Axone, die die Geschwindigkeit<br />

<strong>und</strong> Effizienz der Informationsübertragung erhöht.


96<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

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..<br />

Abb. 3.7 Der cerebrale Cortex<br />

des Menschen. Diese Ansicht der<br />

linken Hemisphäre des erwachsenen<br />

Gehirns zeigt die vier größeren Regionen<br />

des Cortex – die sogenannten<br />

Lappen –, die durch tiefe Furchen<br />

voneinander getrennt sind. Jedes<br />

der pr<strong>im</strong>ären sensorischen Felder<br />

erhält Information von einem<br />

best<strong>im</strong>mten Sinnessystem, <strong>und</strong> der<br />

pr<strong>im</strong>äre motorische Cortex steuert<br />

die Muskeln des Körpers. Information<br />

aus mehreren sensorischen<br />

Bereichen wird in Assoziationsfeldern<br />

verarbeitet<br />

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Der Cortex<br />

Der cerebrale Cortex, dessen Oberfläche in . Abb. 3.7 dargestellt<br />

ist, gilt als der „menschlichste Teil des menschlichen Gehirns“<br />

(McEwen <strong>und</strong> Schmeck 1994). Im Verlauf der Evolution des<br />

Menschen vergrößerte sich das Gehirn <strong>im</strong>mens. Fast das gesamte<br />

evolutionäre Wachstum der Größe des menschlichen Gehirns<br />

geht auf die Ausdehnung des cerebralen Cortex zurück, der 80 %<br />

des Gehirns ausmacht, einen weit größeren Anteil als bei anderen<br />

Spezies. Die Furchen <strong>und</strong> Spalten, die in . Abb. 3.7 sichtbar sind,<br />

bilden sich während der Entwicklung, wenn das Gehirn innerhalb<br />

des begrenzten Schädelraumes wächst; diese Windungen<br />

machen es möglich, mehr Cortex in dem begrenzten Bereich<br />

unterzubringen.<br />

Cerebraler Cortex – Die Großhirnrinde, die von der „grauen Substanz“ des Gehirns<br />

gebildet wird; der Cortex spielt die wesentliche Rolle bei allem, was man<br />

sich unter den Funktionen vorstellt, die den Menschen besonders auszeichnen<br />

– vom Sehen <strong>und</strong> Hören bis hin zum Schreiben <strong>und</strong> zum Gefühlserleben.<br />

Der Cortex spielt bei einer Vielzahl von geistigen Funktionen<br />

eine entscheidende Rolle: vom Sehen <strong>und</strong> Hören, Lesen, Schreiben,<br />

Kopfrechnen, Mitgefühl bis zum Kommunizieren mit anderen<br />

Menschen. Wie . Abb. 3.7 zeigt, lassen sich die größeren<br />

Bereiche des Cortex – die Lappen – anhand der allgemeinen Verhaltenskategorien<br />

beschreiben, mit denen sie zusammenhängen.<br />

Der Okzipitallappen (oder Hinterhauptslappen) ist vorrangig<br />

an der Verarbeitung visueller Information beteiligt. Der Temporallappen<br />

(oder Schläfenlappen) hängt mit dem Gedächtnis,<br />

dem visuellen Erkennen <strong>und</strong> der Verarbeitung von Emotionen<br />

<strong>und</strong> auditiver Informationen zusammen. Der Parietallappen<br />

(oder Scheitellappen) ist für die räumliche Verarbeitung wichtig.<br />

Er ist außerdem an der Integration von Informationen aus<br />

verschiedenen Sinnesmodalitäten beteiligt <strong>und</strong> spielt eine Rolle<br />

bei der Integration des sensorischen Inputs mit der <strong>im</strong> Gedächtnis<br />

gespeicherten Information <strong>und</strong> mit Information über innere<br />

Zustände. Der Frontallappen (oder Stirnlappen), die „Exekutive“<br />

des Gehirns, ist an der kognitiven Kontrolle einschließlich<br />

des Arbeitsgedächtnisses, des Planens <strong>und</strong> Entscheidens sowie<br />

der inhibitorischen Kontrolle beteiligt. Information aus mehreren<br />

Sinnessystemen wird in Assoziationsfeldern verarbeitet<br />

<strong>und</strong> integriert, die zwischen den sensorischen <strong>und</strong> motorischen<br />

Hauptbereichen liegen.<br />

Lappen – Die größeren Bereiche des Cortex, die mit generellen Kategorien des<br />

Verhaltens zusammenhängen.<br />

Okzipitallappen (Hinterhauptslappen) – Der Teil des Cortex, der vorrangig<br />

an der Verarbeitung visueller Information beteiligt ist.<br />

Temporallappen (Schläfenlappen) – Der Teil des Cortex, der mit Gedächtnis,<br />

visuellem Wiedererkennen <strong>und</strong> mit der Verarbeitung von Emotionen <strong>und</strong> auditiven<br />

Informationen verknüpft ist.<br />

Parietallappen (Scheitellappen) – Steuert die räumliche Verarbeitung <strong>und</strong><br />

integriert den sensorischen Input mit der <strong>im</strong> Gedächtnis gespeicherten Information.<br />

Frontallappen (Stirnlappen) – Der Teil des Cortex, der für die Verhaltensorganisation<br />

zuständig ist <strong>und</strong> für die menschliche Fähigkeit des Vorausplanens<br />

als verantwortlich gilt.<br />

Assoziationsfelder – Teile des Gehirns, die zwischen den wichtigsten sensorischen<br />

<strong>und</strong> motorischen Feldern liegen <strong>und</strong> den Input aus diesen Feldern<br />

verarbeiten <strong>und</strong> integrieren.<br />

Es erscheint zwar praktisch, sich die verschiedenen cortikalen<br />

Bereiche so vorzustellen, dass sie jeweils für spezifische Funktionen<br />

zuständig sind, aber diese Vorstellung ist irreführend. Die<br />

Forschung macht zunehmend deutlich, dass komplexe geistige<br />

Funktionen von mehreren Bereichen des Gehirns vermittelt<br />

werden, mit einem hohen Grad an Interaktionen innerhalb<br />

<strong>und</strong> zwischen den einzelnen Regionen. Ein best<strong>im</strong>mter Bereich<br />

kann für eine Fähigkeit entscheidend sein, aber das bedeutet<br />

nicht, dass die Steuerung <strong>und</strong> Kontrolle dieser Fähigkeit<br />

in diesem einen Bereich lokalisiert wäre. ▶ Exkurs 3.3 erläutert


Die Entwicklung des Gehirns<br />

97 3<br />

einige der Methoden, mit denen die Forscher etwas über die<br />

Funktionen der spezifischen Bereiche des Gehirns herausfinden<br />

wollen.<br />

Cerebrale Lateralisierung<br />

Der Cortex ist in zwei separate Hälften aufgeteilt, die Hemisphären<br />

des Gehirns. Größtenteils gelangt der sensorische Input von<br />

einer Körperseite in die gegenüberliegende Gehirnhälfte, <strong>und</strong> die<br />

motorischen Felder des Cortex steuern jeweils die Bewegungen<br />

der gegenüberliegenden Körperhälfte. Wenn wir also mit der<br />

rechten Hand einen heißen Topf anfassen, registriert die linke<br />

Gehirnhälfte den Schmerz <strong>und</strong> sendet den Befehl, den Topf umgehend<br />

wieder loszulassen.<br />

Die linke <strong>und</strong> rechte Hemisphäre kommunizieren in erster<br />

Linie über das Corpus callosum (den Balken) miteinander, einen<br />

dichten Trakt von Nervenfasern, der beide Gehirnhälften miteinander<br />

verbindet. Die beiden Hemisphären sind auf verschiedene<br />

Verarbeitungsmodalitäten spezialisiert; dieses Phänomen<br />

nennt man cerebrale Lateralisierung. Dabei gibt es bemerkenswerte<br />

speziesübergreifende Ähnlichkeiten. Beispielsweise ist die<br />

Sprachverarbeitung <strong>im</strong> Wesentlichen linkshemisphärisch lateralisiert,<br />

<strong>und</strong> die gleiche Lateralisierung findet sich für die Verarbeitung<br />

kommunikativer Signale bei verschiedenen Tierarten<br />

von Mäusen bis Affen (Corballis 2009).<br />

Hirnhemisphären – Die beiden Hälften des Gehirns, die sensorische Information<br />

jeweils überwiegend aus der gegenüberliegenden Körperseite erhalten.<br />

Corpus callosum (Balken) – Ein dichter Bereich von Nervenfasern, durch den<br />

die beiden Hemisphären miteinander kommunizieren können.<br />

Cerebrale Lateralisation – Die Spezialisierung der Hirnhemisphären auf unterschiedliche<br />

Verarbeitungsmodalitäten.<br />

Entwicklungsprozesse<br />

Wie entsteht die unglaublich komplexe Struktur des menschlichen<br />

Gehirns? Es wird nicht sehr überraschen zu hören, dass<br />

auch hier wieder Anlage <strong>und</strong> Umwelt zusammenwirken. Manche<br />

Aspekte der Ausbildung des Gehirns werden von den Genen –<br />

relativ unabhängig von Erfahrung – angestoßen <strong>und</strong> eng kontrolliert.<br />

Wir werden jedoch sehen, dass andere Aspekte sehr stark<br />

von Erfahrungen beeinflusst werden.<br />

Die Neurogenese <strong>und</strong> die Entwicklung<br />

der Neurone<br />

In der dritten oder vierten pränatalen Lebenswoche beginnen<br />

sich die Zellen <strong>im</strong> frisch gebildeten Neuralrohr mit einer erstaunlichen<br />

Geschwindigkeit zu teilen – die Höchstproduktion liegt<br />

bei 250.000 neuen Zellen pro Minute. Diese Neurogenese – die<br />

Vermehrung von Neuronen durch Zellteilung – ist etwa 18 Wochen<br />

nach der Befruchtung praktisch abgeschlossen (Rakic 1995;<br />

Stiles 2008). (In best<strong>im</strong>mten Gehirnregionen kommt postnatal<br />

eine kleine Anzahl von Neuronen hinzu.) So hat man schon vor<br />

der Geburt fast so viele Neurone wie <strong>im</strong> Erwachsenenalter, wo<br />

es ungefähr 100 Mrd. sind. Allerdings werden auch während des<br />

gesamten Lebens weiterhin neue Neurone gebildet. So tritt Neurogenese<br />

beispielsweise <strong>im</strong> Hippocampus, einem für Gedächtnisprozesse<br />

wichtigen Gehirnbereich, während verschiedener<br />

Lebensabschnitte auf (Gould et al. 1999). Allerdings passiert das<br />

nicht <strong>im</strong>mer: Stress kann die Neurogenese hemmen (Mirescu<br />

<strong>und</strong> Gold 2006). Diese Bef<strong>und</strong>e lassen vermuten, dass die Neurogenese<br />

<strong>im</strong> späteren Leben nicht festgelegt oder vorbest<strong>im</strong>mt<br />

ist, sondern dass sie adaptiv angepasst wird: Unter belohnenden<br />

Bedingungen n<strong>im</strong>mt sie zu, unter bedrohenden Bedingungen ab<br />

(z. B. Glasper et al. 2012).<br />

Neurogenese – Die Vermehrung von Neuronen durch Zellteilung.<br />

Nach ihrer „Geburt“ treten die Neurone in einen zweiten Entwicklungsprozess<br />

ein, während sie zu ihren endgültigen Best<strong>im</strong>mungsorten<br />

wandern. Manche Neurone werden passiv durch die<br />

nach ihnen gebildeten neueren Zellen vorangeschoben, während<br />

sich andere aktiv zu ihrem endgültigen Ort hin bewegen.<br />

Sobald die Neurone ihren Best<strong>im</strong>mungsort erreichen, wachsen<br />

sie <strong>und</strong> differenzieren sich aus. Zuerst wächst den Neuronen<br />

ein Axon <strong>und</strong> dann ein „Strauch“ von Dendriten (. Abb. 3.6).<br />

Schließlich nehmen sie spezifische strukturelle <strong>und</strong> funktionale<br />

Eigenschaften in den verschiedenen Strukturen des Gehirns an.<br />

Axone verlängern sich, wenn sie zu einem best<strong>im</strong>mten Ziel hin<br />

wachsen, wobei es sich je nach dem betreffenden Neuron um ein<br />

anderes Neuron <strong>im</strong> Gehirn oder um einen Knochen <strong>im</strong> großen<br />

Zeh handeln kann. Die wichtigste Veränderung der Dendriten<br />

besteht in einer enormen Vergrößerung des „Dendritenbaumes“<br />

hinsichtlich Umfang <strong>und</strong> Komplexität als Ergebnis von Wachstum,<br />

Verästelung <strong>und</strong> Bildung von Dornen an den Verzweigungen.<br />

Diese Arborisierung erhöht <strong>im</strong>mens die Fähigkeit der<br />

Dendriten, Verbindungen mit anderen Neuronen einzugehen.<br />

Im Cortex erfolgt die Phase des intensivsten Wachstums <strong>und</strong> der<br />

stärksten Differenzierung nach der Geburt.<br />

Dornen – Auswüchse auf den Dendriten der Neurone, welche die Fähigkeit<br />

der Dendriten erhöhen, Verbindungen mit anderen Neuronen einzugehen.<br />

Der Prozess der Myelinisierung – der Bildung einer isolierenden<br />

Myelinschicht um manche Axone herum – beginnt <strong>im</strong> Gehirn<br />

schon vor der Geburt <strong>und</strong> setzt sich bis ins frühe Erwachsenenalter<br />

fort. Wie erwähnt, besteht eine wichtige Funktion des Myelins<br />

darin, die Geschwindigkeit der neuronalen Impulsweiterleitung<br />

zu erhöhen. Die Myelinisierung tritt zuerst tief <strong>im</strong> Gehirn auf <strong>und</strong><br />

beginnt <strong>im</strong> Hirnstamm, von wo sie sich <strong>im</strong>mer weiter in Richtung<br />

Cortex ausbreitet, wobei sie während der Kindheit <strong>und</strong> der Adoleszenz<br />

mit ziemlich gleichbleibender Geschwindigkeit von innen<br />

nach außen wandert (Lenroot <strong>und</strong> Giedd 2006). Die verschiedenen<br />

Cortexbereiche werden dann jedoch in sehr unterschiedlichem<br />

Tempo myelinisiert, was vielleicht zu den unterschiedlichen<br />

Entwicklungsraten einzelner Verhaltensaspekte beiträgt.<br />

Dieses Myelinisierungsmuster weicht auf bemerkenswerte<br />

Weise von dem Muster ab, das sich bei unseren nahen Pr<strong>im</strong>atenverwandten,<br />

den Sch<strong>im</strong>pansen, findet. Zunächst entwickelt<br />

sich die weiße Substanz in den Präfrontallappen der kindlichen<br />

<strong>und</strong> juvenilen Sch<strong>im</strong>pansen noch langsamer, als es bei der Entwicklung<br />

von Menschen der Fall ist; man kann darin einen Hinweis<br />

auf einen möglichen Mechanismus vermuten, durch den<br />

Evolutionsdruck die Gehirnfunktion be<strong>im</strong> Menschen <strong>im</strong> Ver-


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Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

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Exkurs 3.3: Näher betrachtet: Die Kartierung des Geistes | |<br />

Entwicklungsforscher setzen eine Vielzahl von<br />

Verfahren ein, um herauszufinden, welche<br />

Bereiche des Gehirns mit spezifischen Verhaltensweisen,<br />

Gedanken <strong>und</strong> Gefühlen assoziiert<br />

sind <strong>und</strong> wie sich die Gehirnfunktionen mit<br />

Elektrophysiologische Aufzeichnungen<br />

Eines der verbreitetsten Verfahren zur Untersuchung<br />

von Gehirnfunktionen in der Entwicklungsforschung<br />

basiert auf dem Elektroenzephalogramm<br />

(EEG). Bei diesem nichtinvasiven<br />

Verfahren werden die durch die Neuronenaktivität<br />

hervorgerufenen Hirnströme mit kleinen,<br />

auf der Kopfhaut aufgesetzten Elektroden<br />

gemessen. Das EEG kann deshalb erfolgreich<br />

bei Kindern <strong>und</strong> sogar Säuglingen angewandt<br />

werden (Foto „EEG“). EEG-Aufzeichnungen<br />

haben wertvolle Informationen zum zeitlichen<br />

Verlauf neuronaler Aktivität <strong>und</strong> zu einer Vielzahl<br />

von Zusammenhängen zwischen Gehirn<br />

<strong>und</strong> Verhalten erbracht.<br />

Ein elektrophysiologisches Verfahren, mit dem<br />

sich Beziehungen zwischen Hirnaktivität <strong>und</strong><br />

Funktionale Magnetresonanztomografie (fMRT)<br />

Die funktionale Magnetresonanztomografie<br />

MRT (functional magnetic resonance <strong>im</strong>aging,<br />

fMRI) benutzt ein starkes Magnetfeld, um farbige<br />

Bilder des cerebralen Blutflusses in unterschiedlichen<br />

Gehirngebieten aufzuzeichnen.<br />

Erhöhter Blutfluss spiegelt dabei eine erhöhte<br />

Neuronenaktivität wider, sodass sich mithilfe<br />

dieser Bilder genau angeben lässt, welche<br />

Bereiche des Gehirns jeweils durch best<strong>im</strong>mte<br />

Aufgaben oder St<strong>im</strong>uli aktiviert wurden. Eine<br />

Weitere Verfahren<br />

Die Positronenemissionstomografie (PET) ist<br />

ein weiteres bildgebendes Verfahren, das<br />

best<strong>im</strong>mte Stoffwechselprozesse abbildet <strong>und</strong><br />

einige wichtige Informationen zur Entwicklung<br />

des Gehirns beigetragen hat. Weil man<br />

bei diesem Verfahren jedoch radioaktive<br />

Marker ins Gehirn einbringen muss, wird<br />

diese Technik in erster Linie zu diagnostischen<br />

Zwecken eingesetzt.<br />

Zu den neuesten Methoden in der Entwicklungsforschung<br />

gehört die Nahes-Infrarot-<br />

Spektroskopie (NIRS), einer Methode, bei<br />

der Licht <strong>im</strong> Frequenzbereich von 650–1000<br />

Nanometer (für den Menschen unschädlich)<br />

das Gehirngewebe durchdringt <strong>und</strong> anschließend<br />

von einem Sensor-Pad auf der Kopfhaut<br />

gemessen wird. Hirnareale, die gut durchblutet<br />

sind, absorbieren diese Strahlung besser<br />

als weniger gut durchblutete Areale.<br />

Da Infrarotstrahlen lautlos sind, von außen<br />

ohne invasive Eingriffe verabreicht werden<br />

<strong>und</strong> auch keine Ruhigstellung des Probanden<br />

erfordern, ist dies eine vielversprechende<br />

Methode zur Untersuchung von Säuglingen<br />

<strong>und</strong> Kindern. Bislang haben verschiedene<br />

speziellen Arten der sensorischen St<strong>im</strong>ulation<br />

besonders gut untersuchen lässt, ist die<br />

Aufzeichnung ereigniskorrelierter Potentiale<br />

(EKPs); dabei werden Änderungen der hirnelektrischen<br />

Aktivität <strong>im</strong> EEG als Reaktion auf<br />

die Präsentation eines best<strong>im</strong>mten Reizes aufgezeichnet.<br />

Anhand solcher Messungen lassen<br />

sich unter anderem Kontinuitäten <strong>im</strong> Zeitverlauf<br />

entdecken. Beispielsweise konnte anhand<br />

von EKPs, die bei Säuglingen als Reaktion auf<br />

die Darbietung muttersprachlicher Laute aufgezeichnet<br />

wurden, die Sprachentwicklung für<br />

die nächsten Jahre vorhergesagt werden (Kuhl<br />

et al. 2008). Mit einer verwandten Methode<br />

namens Magnetenzephalogramm (MEG) lassen<br />

sich die durch die Hirnströme induzierten<br />

Person, deren Gehirn mit diesem Verfahren<br />

dargestellt wird, muss allerdings den Lärm <strong>und</strong><br />

die Enge einer MRT-Röhre aushalten können<br />

<strong>und</strong> sich dabei sehr ruhig verhalten. Deshalb<br />

wurden die meisten fMRT-Untersuchungen<br />

mit Kindern erst ab einem Alter von mindestens<br />

sechs Jahren durchgeführt, oft nach<br />

vorgeschalteten Übungssitzungen in einer<br />

Pseudo-MRT-Röhre, in denen sich die Kinder<br />

an die Untersuchungsumgebung gewöhnen<br />

Versuche, die Gehirnaktivierung durch spezifische<br />

Reize bei Kindern mithilfe der NIRS<br />

genau zu best<strong>im</strong>men, abweichende Bef<strong>und</strong>e<br />

ergeben, zum Teil deshalb, weil diese Technik<br />

noch in den Kinderschuhen steckt (Aslin<br />

2012). Als eine erfolgreiche Anwendung hat<br />

sich jedoch bereits bei der Überwachung von<br />

Frühgeborenen die NIRS-Messung des Sauerstoffgehalts<br />

<strong>im</strong> Gehirnblut erwiesen. Eine<br />

weitere interessante Anwendung erwies sich<br />

bei einer Studie mit taub geborenen Kindern<br />

als erfolgreich, die durch einen operativen<br />

Eingriff ein Cochlea-Implantat erhalten hatten<br />

(auf diese Hörprothesen kommen wir in<br />

▶ Kap. 6 zurück). Solche elektrisch arbeitenden<br />

Implantate kann man wegen des störenden<br />

Einflusses starker Magnetfelder nicht mit<br />

fMRT-Bildgebung untersuchen. Entsprechend<br />

hat man NIRS eingesetzt, um herauszufinden,<br />

inwieweit bei diesen Kindern der auditorische<br />

Cortex bei Hörreizen Aktivierung zeigt.<br />

Tatsächlich ergab sich das bemerkenswerte<br />

Resultat, dass der auditorische Cortex dieser<br />

tauben Kinder bereits wenige St<strong>und</strong>en nach<br />

der Aktivierung des Implantats auf akustische<br />

dem Alter ändern. Die Existenz von zunehmend<br />

mächtigeren Techniken zur Erforschung<br />

der Hirnfunktion hat unser Verständnis des<br />

Gehirns <strong>und</strong> seiner Entwicklung gravierend<br />

verändert. Wir stellen hier Beispiele der gängigsten<br />

Verfahren vor, mit denen das Gehirn<br />

<strong>und</strong> seine Arbeitsweise bei Kindern aufgezeichnet<br />

werden.<br />

Magnetfelder messen. Diese Methode hat den<br />

Vorteil, das einzige nichtinvasive bildgebende<br />

Verfahren zu sein, das zur Untersuchung der<br />

Gehirnentwicklung be<strong>im</strong> Fetus anwendbar ist.<br />

Auch wenn solche MEG-Untersuchungen zur<br />

Entwicklung <strong>im</strong> Mutterleib noch am Anfang<br />

stecken, konnten die Forscher bereits einige<br />

Reaktionen des Fetus nachweisen: Reaktionen<br />

auf auditive Reize oder auch Licht, das auf den<br />

Bauch der Mutter gerichtet wurde, sowie Habituation<br />

bei wiederholt dargebotenen St<strong>im</strong>uli<br />

(Sheridan et al. 2010).<br />

Ereigniskorrelierte Potentiale (EKPs)<br />

Veränderungen der elektrischen Gehirnaktivität<br />

<strong>im</strong> EEG, die als Reaktion auf die Darbietung<br />

eines best<strong>im</strong>mten St<strong>im</strong>ulus auftreten.<br />

konnten. Inzwischen wird die funktionale<br />

Magnetresonanztomografie aber bereits auch<br />

bei nur zwei Tage alten schlafenden Neugeborenen<br />

zur Untersuchung der neuronalen<br />

Prozesse angewandt. Eine solche Studie<br />

zeigte, dass dieselben Gehirnbereiche, die von<br />

der späten Kindheit an durch gesprochene<br />

Sprache aktiviert werden, bereits bei Neugeborenen<br />

auf gesprochene Sprache reagieren<br />

(Perani et al. 2011).<br />

Signale reagierte, denen er zuvor noch nie<br />

ausgesetzt gewesen war (Sevy et al. 2010).<br />

..<br />

EEG. Eine Kappe drückt die Elektroden auf<br />

die Kopfhaut des Babys, sodass die Forscher<br />

die elektrische Aktivität aufzeichnen können,<br />

die über das gesamte Gehirn des Babys verteilt<br />

erzeugt wird. (Foto: Sabina Pauen)


Die Entwicklung des Gehirns<br />

99 3<br />

Exkurs 3.3 (Fortsetzung) | |<br />

40<br />

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Mikrovolt<br />

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Millisek<strong>und</strong>en<br />

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b<br />

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Millisek<strong>und</strong>en<br />

1200<br />

1600<br />

..<br />

EKP-Reaktionen. Diese Abbildung zeigt EKP-Wellen in Reaktion auf neuartige (rote Linie) <strong>und</strong> auf vertraute St<strong>im</strong>uli (gelbe Linie). Die Kinder sahen<br />

dabei, wie ein Spielzeug aus einzelnen Teilen zusammengesetzt wurde <strong>und</strong> wurden anschließend auf das Wiedererkennen der dabei gesehenen Teile<br />

<strong>und</strong> schließlich auf das Wiedererkennen be<strong>im</strong> Zusammensetzen des Spielzeugs getestet. Diejenigen Babys, die sich später daran erinnerten, wie ein<br />

Spielzeug zusammenzusetzen ist (linkes Diagramm), hatten in dem früheren Wiedererkennungstest der Bestandteile deutlich zwischen den bekannten<br />

<strong>und</strong> den neuartigen Teilen unterschieden. Diejenigen Babys, die sich nicht an das Zusammensetzen des Spielzeugs erinnerten (rechtes Diagramm), hatten<br />

in dem vorausgehenden Test zur Wiedererkennung der Teile nicht zwischen den bekannten <strong>und</strong> unbekannten Teilen unterschieden. (Nach Carver<br />

et al. 2000)<br />

..<br />

Funktionale Magnetresonanztomografie.<br />

Die beiden fMRT-Scans, wurden (A) von einem<br />

neunjährigen <strong>und</strong> (B) von einem 24 Monate<br />

alten Kind aufgenommen, während die Kinder<br />

kognitive Standardaufgaben lösten, bei denen<br />

auf best<strong>im</strong>mte Reize ein Verhalten gezeigt bzw.<br />

unterdrückt werden musste. (Auf der linken<br />

Seite sind jeweils die Schnittebenen gezeigt,<br />

aus deren Mittelung sich die rechten Schnittbilder<br />

ergeben.) Die Schnittbilder zeigen, dass<br />

die Aktivierungsorte <strong>im</strong> präfrontalen Cortex<br />

sich zwischen Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen nicht<br />

unterscheidet, wenngleich das Aktivierungsniveau<br />

bei den Kindern höher ist (Casey 1999).<br />

(Casey et al. 1997. A pediatric functional MRI<br />

study of prefrontal activation during performance<br />

of a Go-No-Go task. Journal of Cognitive<br />

Neuroscience, 9, 835–847; mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Genehmigung)<br />

gleich zum Sch<strong>im</strong>pansen weiterentwickelte (Sakai et al. 2011).<br />

Allerdings ist das Myelinisierungsmuster bei den Sch<strong>im</strong>pansen<br />

bereits zum Zeitpunkt der Geschlechtsreife voll entwickelt, also<br />

weit früher als be<strong>im</strong> Menschen (Miller et al. 2012). Warum die<br />

Myelinisierung sich be<strong>im</strong> Menschen über eine so lange Zeit hinzieht,<br />

ist unbekannt. Es könnte darin sowohl ein Vorteil liegen<br />

(Verbesserungen der exekutiven Funktionen des menschlichen<br />

Gehirns) als auch ein Nachteil (erhöhte Anfälligkeit des menschlichen<br />

Gehirns für Krankheiten durch Defekte bei der Myelinisierung,<br />

die, wie schon erwähnt, bei Multipler Sklerose <strong>und</strong> auch<br />

Schizophrenie auftreten).<br />

Myelinisierung – Die Ausbildung einer Myelinscheide, einer fettartigen Hülle<br />

um die Axone der Neurone, die die Signalübertragung beschleunigt <strong>und</strong> die<br />

Kapazität der Informationsverarbeitung erhöht.<br />

Die Synaptogenese<br />

Ein Ergebnis des außerordentlichen Wachstums der Axon- <strong>und</strong><br />

Dendritenfasern besteht in einer überbordenden, explosionsartigen<br />

Generierung neuronaler Verbindungen. Im Prozess der Synaptogenese<br />

bildet jedes Neuron Synapsen mit Tausenden von<br />

anderen Neuronen, was in der schon erwähnten Ausbildung von<br />

Billionen von Verbindungen resultiert. . Abbildung 3.8 zeigt den<br />

zeitlichen Verlauf der Synaptogenese <strong>im</strong> Cortex. Man kann erkennen,<br />

dass die Synaptogenese pränatal beginnt <strong>und</strong> sowohl vor<br />

der Geburt als auch einige Zeit danach rapide vorangeht. Man<br />

beachte, dass der Zeitpunkt <strong>und</strong> die Zunahme der Synapsenproduktion<br />

in den verschiedenen Regionen des Cortex unterschiedlich<br />

sind; <strong>im</strong> visuellen Cortex ist die Synaptogenese beispielsweise<br />

viel früher abgeschlossen als <strong>im</strong> frontalen Bereich. Wie bei der<br />

Myelinisierung hängen die unterschiedlichen Zeitverläufe bei


100<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

..<br />

Abb. 3.8 Produktion <strong>und</strong><br />

El<strong>im</strong>inierung von Synapsen. Die<br />

mittlere Synapsendichte (die Zahl<br />

der Synapsen in einem best<strong>im</strong>mten<br />

Bereich) steigt zunächst steil an,<br />

wenn zu viele Synapsen produziert<br />

werden, <strong>und</strong> n<strong>im</strong>mt dann allmählich<br />

ab, wenn überschüssige Synapsen<br />

el<strong>im</strong>iniert werden. Man beachte,<br />

dass die Zeitskala in den höheren<br />

Altersbereichen gestaucht ist. (Aus<br />

Huttenlocher <strong>und</strong> Dabholkar 1997)<br />

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23<br />

der Synapsenbildung in unterschiedlichen Gehirnregionen vermutlich<br />

mit den Entwicklungszeitpunkten zusammen, an denen<br />

best<strong>im</strong>mte Fertigkeiten <strong>und</strong> Verhalten ausgebildet werden.<br />

Synaptogenese – Der Prozess der Bildung von Synapsen mit anderen Neuronen,<br />

der in Billionen von Nervenverbindungen resultiert.<br />

Die El<strong>im</strong>inierung von Synapsen<br />

Die explosionsartige Erzeugung von Neuronen <strong>und</strong> Synapsen<br />

bei der weitgehend genetisch gesteuerten Synaptogenese<br />

resultiert in einem riesigen Überschuss – es gibt weit mehr<br />

Nervenverbindungen, als ein Gehirn brauchen kann. Dieser<br />

Überschuss an Synapsen schließt auch einen Überschuss an<br />

Verbindungen zwischen verschiedenen Teilen des Gehirns<br />

ein. Beispielsweise sind zu viele Neurone dort, wo der auditive<br />

Cortex entstehen wird, mit den Neuronen <strong>im</strong> visuellen Bereich<br />

verknüpft, <strong>und</strong> beide Regionen sind übermäßig mit jenen Neuronen<br />

verschaltet, die an Geschmack <strong>und</strong> Geruch beteiligt sind.<br />

Infolge dieser Hyperkonnektivität erleben Neugeborene möglicherweise<br />

Synästhesie – die Mischung unterschiedlicher Arten<br />

von sensorischem Input (Maurer <strong>und</strong> Mondloch 2004). Wegen<br />

der zusätzlichen Verbindungen zwischen auditivem <strong>und</strong> visuellem<br />

Cortex könnten sie beispielsweise auf auditive St<strong>im</strong>ulierung<br />

hin visuelle Erlebnisse haben <strong>und</strong> einen Ton als eine best<strong>im</strong>mte<br />

Farbe wahrnehmen.<br />

Wir kommen nun zu einem besonders bemerkenswerten<br />

Sachverhalt bei der Entwicklung des menschlichen Gehirns.<br />

Schätzungsweise 40 % dieses großen Synapsenüberschusses<br />

werden später wieder selektiv durch einen Prozess der Synapsenreduktion<br />

abgebaut. Wir haben in ▶ Kap. 2 erfahren, dass<br />

das Absterben ein normaler Teil der Entwicklung ist, <strong>und</strong> dies<br />

wird nirgends deutlicher als bei der systematischen Reduktion<br />

der überzähligen Synapsen, die sich Jahre nach der Geburt fortsetzt.<br />

Das Verschwinden von Synapsen tritt zu verschiedenen<br />

Zeitpunkten in verschiedenen Gehirnregionen auf (Huttenlocher<br />

<strong>und</strong> Dabholkar 1997). . Abbildung 3.8 kann man entnehmen,<br />

dass die El<strong>im</strong>inierung von Synapsen <strong>im</strong> visuellen Cortex gegen<br />

Ende des ersten Lebensjahres beginnt <strong>und</strong> bis zum Alter von etwa<br />

zehn Jahren weitergeht, während die Synapsenel<strong>im</strong>inierung <strong>im</strong><br />

frontalen Bereich langsamer verläuft. In den Spitzenzeiten der<br />

Reduktion können bis zu 100.000 Synapsen pro Sek<strong>und</strong>e el<strong>im</strong>iniert<br />

werden (Kolb 1995)!<br />

Synapsenreduktion – Der Prozess der El<strong>im</strong>inierung von kaum aktivierten Synapsen<br />

während der normalen Gehirnentwicklung.<br />

Erst seit relativ kurzer Zeit weiß man, dass auch in der Pubertät<br />

<strong>im</strong> Gehirn explosionsartige Veränderungen vor sich gehen; insbesondere<br />

gibt es eine Welle von Überproduktion bzw. El<strong>im</strong>inierung,<br />

die denen in den ersten Lebensjahren gleichen (Giedd et al.<br />

1999; Gogtay et al. 2004). Während die weiße Cortexsubstanz<br />

bereits von der Kindheit an bis weit ins Erwachsenenalter stetig<br />

zun<strong>im</strong>mt, setzt bei der grauen Substanz ein dramatischer Anstieg<br />

<strong>im</strong> elften oder zwölften Lebensjahr ein. Dieser Zuwachs an<br />

grauer Substanz erfolgt rasch <strong>und</strong> erreicht etwa in der Pubertät<br />

seinen Höhepunkt; danach fällt er mit zunehmender Umwandlung<br />

eines Teiles der grauen Substanz in weiße ab (. Abb. 3.9).<br />

Der zuletzt reifende Bereich des Cortex ist der dorsolaterale präfrontale<br />

Cortex, der für die Steuerung der Aufmerksamkeit, die<br />

Impulskontrolle, das Voraussehen von Konsequenzen, das Setzen<br />

von Prioritäten <strong>und</strong> andere exekutive Funktionen entscheidend<br />

ist. Der dorsolaterale präfrontale Cortex ist vor dem 20. Lebensjahr<br />

noch nicht ausgereift.<br />

Aus . Abb. 3.8 ist keine zweite Welle der Zu- <strong>und</strong> Abnahme<br />

der Synapsendichte in der Pubertät ersichtlich. Das liegt unter<br />

anderem daran, dass diese Abbildung auf klinischer Forschung<br />

an Hirnschnitten beruht, die bei Autopsien von Verstorbenen<br />

unterschiedlichen Alters untersucht wurden. Die einschneidenden<br />

Veränderungen <strong>im</strong> pubertierenden Gehirn zeigen sich<br />

in neuen Bef<strong>und</strong>en aus Längsschnittuntersuchungen, in denen


Die Entwicklung des Gehirns<br />

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Alter<br />

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grauen Substanz<br />

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Abb. 3.9 Hirnreifung. Diese Seitenansichten <strong>und</strong> Aufsichten des Gehirns illustrieren die Reifung des Cortex <strong>im</strong> Alter zwischen fünf <strong>und</strong> 20 Jahren. Die<br />

gemittelten MRT-Bilder stammen von Personen, deren Gehirne <strong>im</strong> Zweijahresabstand wiederholt gescannt wurden. Je blauer das Bild gefärbt ist (d. h., je mehr<br />

graue Substanz durch weiße Substanz ersetzt ist), desto gereifter ist dieser Cortexbereich. Man beachte, dass die mit gr<strong>und</strong>legenderen Funktionen zusammenhängenden<br />

Teile des Cortex (das sind die weiter hinten liegenden sensorischen <strong>und</strong> motorischen Bereiche) früher ausreifen als die an höheren Funktionen<br />

beteiligten Gebiete (der Aufmerksamkeit <strong>und</strong> der angemessenen Ausführung). Man beachte insbesondere, dass die frontalen Gebiete, die an der exekutiven<br />

Kontrolle beteiligt sind, erst spät in der Pubertät zur Reife gelangen. (Aus Gogtay et al. 2004)<br />

die Gehirne derselben Menschen über mehrere Jahre hinweg<br />

mehrfach gescannt wurden. Die dramatische Entwicklung, die<br />

man bei individuellen Menschen <strong>im</strong> Laufe der Zeit beobachtet,<br />

lassen sich nicht anhand der Gehirne verschiedener Menschen<br />

aus unterschiedlichem Altersgruppen feststellen (s. dazu die<br />

Erörterung der entwicklungspsychologischen Forschungsmethoden<br />

in ▶ Kap. 1).<br />

Die Bedeutung der Erfahrung<br />

Was best<strong>im</strong>mt darüber, welche der überschüssigen Synapsen<br />

des Gehirns verschwinden <strong>und</strong> welche beibehalten werden? Die<br />

Erfahrung spielt eine entscheidende Rolle bei einem Auswahlprozess,<br />

der nach der Regel „Use it or loose it“ abläuft. In einem<br />

Konkurrenzprozess, der als „neuronaler Darwinismus“ bezeichnet<br />

wurde (Edelman 1987), bleiben diejenigen Synapsen, die häufig<br />

aktiviert werden, selektiv erhalten (Changeux <strong>und</strong> Danchin<br />

1976). Je häufiger eine Synapse aktiviert wird, desto stärker wird<br />

die Verbindung zwischen den beteiligten Neuronen (Hebb 1949).<br />

Umgekehrt wird eine Synapse, die selten aktiv ist, wahrscheinlich<br />

verschwinden; das Axon des einen Neurons zieht sich zurück,<br />

<strong>und</strong> der dendritische Dorn des anderen stirbt ab.<br />

Die naheliegende Frage lautet nun: Warum n<strong>im</strong>mt das<br />

menschliche Gehirn – das Produkt von Millionen Jahren der<br />

Evolution – einen derart abwegigen Entwicklungspfad <strong>und</strong> produziert<br />

einen riesigen Überschuss an Synapsen, nur um einen<br />

großen Anteil davon wieder zu zerstören? Die Antwort liegt<br />

offenbar in der evolutionären Ökonomie. Die Fähigkeit des Gehirns,<br />

durch Erfahrung beeinflusst zu werden, die Plastizität genannt<br />

wird, bietet eine Möglichkeit, weniger Information in den<br />

Genen enkodieren zu müssen. Diese Ökonomisierung könnte<br />

tatsächlich eine Notwendigkeit sein. Denn die Zahl der menschlichen<br />

Gene, die an der Entwicklung <strong>und</strong> den Funktionen des<br />

Nervensystems beteiligt sind, reicht zahlenmäßig nur für einen<br />

Bruchteil der normalen Gesamtausstattung mit Neuronen <strong>und</strong><br />

neuronalen Verbindungen zur Spezifikation ihrer Ausprägung<br />

aus. Um die vollständige Verschaltung des Gehirns zu erreichen,<br />

bündeln Anlage <strong>und</strong> Umwelt ihre Kräfte.<br />

Plastizität – Veränderungsfähigkeit des Gehirns durch Erfahrung, insbesondere<br />

auch nach Schädigungen.<br />

Das Zusammenspiel zwischen Anlage <strong>und</strong> Umwelt bei der Ausbildung<br />

des Gehirns verläuft für zwei Arten von Plastizität jeweils<br />

unterschiedlich. Eine Art betrifft die allgemeinen Erfahrungen, die<br />

fast alle normalen Kinder allein deshalb machen, weil sie Menschen<br />

sind. Die zweite Art betrifft die spezifischen, idiosynkratischen Erfahrungen,<br />

die Kinder aufgr<strong>und</strong> ihrer besonderen Lebensumstände<br />

machen – indem sie etwa in Deutschland oder den USA aufwachsen<br />

oder aber <strong>im</strong> Regenwald des Amazonas, oder indem sie häufig<br />

liebkost oder aber misshandelt werden, indem sie Einzelkind sind<br />

oder aber eines von vielen Geschwistern, <strong>und</strong> so weiter.<br />

Erfahrungserwartende Prozesse<br />

William Greenough bezeichnet die Rolle der allgemeinen<br />

menschlichen Erfahrung bei der Gehirnentwicklung als erfahrungserwartende<br />

Plastizität. Nach dieser Ansicht beruht die<br />

normale Verschaltung des Gehirns zum Teil auf solchen allgemeinen<br />

Erfahrungen, die <strong>im</strong> Verlauf der menschlichen Evolu-


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tion vorgekommen sind – Erfahrungen, die jeder Mensch besitzt,<br />

wenn er über ein einigermaßen intaktes sensomotorisches System<br />

verfügt <strong>und</strong> in einer einigermaßen normalen Umgebung lebt, die<br />

insbesondere visuelle St<strong>im</strong>ulation durch Reizmuster, St<strong>im</strong>men<br />

<strong>und</strong> andere Geräusche, Bewegung <strong>und</strong> Manipulation etc. aufweist<br />

(Greenough <strong>und</strong> Black 1992). Entsprechend kann das Gehirn<br />

Input aus verlässlichen Quellen „erwarten“, um die Feinabst<strong>im</strong>mung<br />

seiner Verschaltungen auszubalancieren, indem es häufig<br />

aktivierte Synapsen stärkt <strong>und</strong> stabilisiert <strong>und</strong> die El<strong>im</strong>inierung<br />

selten aktivierter Synapsen veranlasst. Unsere Erfahrung der äußeren<br />

Welt spielt somit eine entscheidende Rolle bei der Formung<br />

f<strong>und</strong>amentalster Aspekte der inneren Struktur unseres Gehirns.<br />

Erfahrungserwartende Plastizität – Der Prozess, durch den die normale Verschaltung<br />

des Gehirns teilweise als Ergebnis von Erfahrungen geschieht, die<br />

jeder Mensch in halbwegs normaler Umgebung macht.<br />

Ein gr<strong>und</strong>legender Nutzen der erfahrungserwartenden Plastizität<br />

besteht darin, dass die normale Entwicklung mit weniger Genen<br />

möglich wird, weil die Erfahrung das Gehirn formen hilft.<br />

Darüber hinaus kann sich das Gehirn von Verletzungen besser<br />

erholen, wenn andere Bereiche die Funktion übernehmen können,<br />

die das geschädigte Gebiet erfüllt hat. Je jünger das Gehirn<br />

bei der Schädigung ist, desto wahrscheinlicher erholt es sich.<br />

Die Kehrseite der erfahrungserwartenden Plastizität besteht<br />

darin, dass sie mit Verletzlichkeit einhergeht. Wenn die Erfahrung,<br />

die das sich entwickelnde Gehirn für die Feinabst<strong>im</strong>mung seiner<br />

Verschaltungen „erwartet“, aus irgendeinem Gr<strong>und</strong> ausbleibt, sei<br />

es wegen Reizarmut, sei es wegen Funktionsstörungen der Sinnesrezeptoren,<br />

kann die Entwicklung beeinträchtigt werden. Ein<br />

gutes Beispiel für diese Verletzlichkeit sind Kinder mit angeborenen<br />

Katarakten, deren Sehfähigkeit durch eine trübe Augenlinse<br />

eingeschränkt ist. Je länger die Linsentrübung nach der Geburt<br />

fortbesteht, desto beeinträchtigter wird die Sehschärfe nach der<br />

Entfernung des Katarakts bleiben. Dramatische Besserung folgt<br />

<strong>im</strong> Allgemeinen auf frühe Entfernung, wenn auch einige Aspekte<br />

der visuellen Verarbeitung (insbesondere von Gesichtern) beeinträchtigt<br />

bleiben (de Heering <strong>und</strong> Maurer 2012; Maurer et al.<br />

2007). Vermutlich treten die bleibenden Defizite einer späten Kataraktentfernung<br />

deswegen auf, weil die Synapsen, die nach der<br />

Geburt bei visueller St<strong>im</strong>ulation normalerweise aktiviert worden<br />

wären, wegen fehlender St<strong>im</strong>ulation ausgemerzt sind.<br />

Was geschieht, wenn best<strong>im</strong>mte, normalerweise zu erwartende<br />

sensorische Erfahrungen fehlen, mit den korrespondierenden<br />

Bereichen des Gehirns, die normalerweise aufgr<strong>und</strong> dieser<br />

Erfahrung sich funktional spezialisieren würden? Eine Vielzahl<br />

von Bef<strong>und</strong>en aus Tierversuchen weist darauf hin, dass sich solche<br />

Bereiche zumindest teilweise restrukturieren können, um<br />

eine andere Funktion auszuüben. Belege für eine solche Reorganisation<br />

be<strong>im</strong> Menschen stammen aus Untersuchungen an von<br />

Geburt an gehörlosen Erwachsenen, die als Kinder die American<br />

Sign Language (ASL) lernten, eine voll ausdifferenzierte Gebärdensprache<br />

auf visueller Gr<strong>und</strong>lage (Bavelier et al. 2006; Bavelier<br />

<strong>und</strong> Neville 2002). (Deutsche Gehörlose lernen die Deutsche Gebärdensprache<br />

(DGS); Boyes Braem 1995). Gehörlose verlassen<br />

sich bei der Sprachverarbeitung stark auf das periphere Sehen;<br />

typischerweise schauen sie einer Person, die ihnen gebärdet, in<br />

die Augen <strong>und</strong> überwachen deren Hand- <strong>und</strong> Armbewegungen<br />

mithilfe ihres peripheren Sehens. EKP-Aufzeichnungen der Gehirnaktivität<br />

(die in ▶ Exkurs 3.3 erläuterten ereigniskorrelierten<br />

Potentiale) zeigten, dass die Reaktionen gehörloser Menschen auf<br />

periphere visuelle Reize um ein Vielfaches stärker sind als bei hörenden<br />

Personen. Es kommt hinzu, dass ihre Reaktionen anders<br />

über die Gehirnregionen verteilt sind. Der Mangel an auditiven<br />

Erfahrungen bewirkt also, dass diejenigen Gehirnbereiche, die<br />

normalerweise am Hören <strong>und</strong> der Verarbeitung gesprochener<br />

Sprache beteiligt wären, so umorganisiert werden, dass sie stattdessen<br />

visuelle Informationen verarbeiten.<br />

Ähnliche Belege für die frühe Neuorganisation des Gehirns<br />

stammen aus der Forschung mit blinden Erwachsenen. Wenn man<br />

ihre Fähigkeit testet, Veränderungen der musikalischen Tonhöhe<br />

zu unterscheiden, schneiden blind geborene oder früh erblindete<br />

Erwachsene wesentlich besser ab als Erwachsene, die später <strong>im</strong><br />

Leben erblindeten (Gougoux et al. 2004). Vermutlich bleiben<br />

Verbindungen zwischen visuellem <strong>und</strong> auditivem Cortex bei früh<br />

erblindeten Menschen erhalten <strong>und</strong> verschaffen ihnen zusätzliche<br />

Gehirnkapazität, die sie für auditive Aufgaben verwenden können.<br />

In die gleiche Richtung weisen Bef<strong>und</strong>e mit bildgebenden<br />

Verfahren, die dafür sprechen, dass Teile des visuellen Cortex bei<br />

früh erblindeten Erwachsenen zu überlegener Verortungsfähigkeit<br />

von Geräuschen beitragen. Ähnliche Ergebnisse belegen, dass<br />

blind geborene Menschen eine Aktivierung des „visuellen“ Cortex<br />

zeigen, wenn sie Braille lesen (Sadato et al. 1998) <strong>und</strong> wenn sie<br />

gesprochene Sprache verarbeiten (Bedny et al. 2011).<br />

Sensible Phasen<br />

Wie die voranstehenden Beispiele erkennen lassen, ist das T<strong>im</strong>ing<br />

ein Schlüsselelement bei der erfahrungserwartenden Plastizität.<br />

Es gibt einige sensible Phasen, in denen das menschliche<br />

Gehirn für best<strong>im</strong>mte Arten externer Reize besonders empfänglich<br />

ist. Es ist, als ob sich ein Zeitfenster vorübergehend öffnet<br />

<strong>und</strong> Umweltinput hereinbittet, um zur Organisation des Gehirns<br />

beizutragen. Allmählich schließt sich das Fenster wieder. Die<br />

neuronale Organisation, die <strong>im</strong> Verlauf sensibler Phasen eintritt<br />

(oder ausbleibt), ist typischerweise irreversibel.<br />

Wir haben in ▶ Kap. 1 die extreme Deprivation diskutiert,<br />

die rumänischen He<strong>im</strong>kinder schon früh <strong>im</strong> Leben erleiden<br />

mussten – zu einer Zeit, in der Kinder normalerweise eine Fülle<br />

an sozialer <strong>und</strong> anderer umweltbedingter St<strong>im</strong>ulation erfahren;<br />

diese Deprivation wird von einigen Autoren als ein Beispiel für<br />

die Auswirkungen einer sensiblen Phase betrachtet. Insbesondere<br />

wird diskutiert, ob die Pubertät, in der rasche Veränderungen <strong>im</strong><br />

Gehirn geschehen, für verschiedene Aspekte der Entwicklung<br />

eine weitere sensible Phase sein könnte. Und in ▶ Kap. 6 wird<br />

außerdem eine sensible Phase für den Spracherwerb diskutiert.<br />

Erfahrungsabhängige Prozesse<br />

Das Gehirn wird auch durch idiosynkratische Erfahrungen geformt,<br />

die Greenough erfahrungsabhängige Plastizität nennt.<br />

Nervenverbindungen werden <strong>im</strong> Verlauf des Lebens als Funktion<br />

der individuellen Erfahrungen hergestellt <strong>und</strong> neu organisiert.<br />

(Wenn Sie sich an irgendetwas erinnern, was Sie in diesem Kapitel<br />

gelesen haben, dann haben Sie neue neuronale Verknüpfungen<br />

ausgebildet.)


Die Entwicklung des Gehirns<br />

103 3<br />

Erfahrungsabhängige Plastizität – Der Prozess, durch den Nervenverbindungen<br />

<strong>im</strong> Verlauf des Lebens als Funktion der Erfahrungen eines Individuums<br />

hergestellt <strong>und</strong> reorganisiert werden.<br />

Die Rolle der erfahrungsabhängigen Plastizität tritt bei Vergleichen<br />

zwischen Tieren zutage, bei denen man die Umweltbedingungen<br />

gezielt manipulieren kann. So hat man <strong>im</strong> Exper<strong>im</strong>ent Gruppen<br />

von Tieren untersucht, die entweder in komplexen, objektreichen<br />

Umwelten aufgezogen wurden, die sie erk<strong>und</strong>en konnten, oder<br />

aber in langweiligen Laborkäfigen. Die Gehirne von Ratten (<strong>und</strong><br />

auch von Katzen <strong>und</strong> Affen), die in einer komplexeren Umwelt<br />

aufwuchsen, weisen bei ihren Cortexneuronen mehr dendritische<br />

Dornen auf, mehr Synapsen pro Neuron <strong>und</strong> auch insgesamt mehr<br />

Synapsen; außerdem besitzen sie einen allgemein dickeren Cortex<br />

<strong>und</strong> mehr Stützgewebe (wie Blutgefäße <strong>und</strong> Gliazellen), das die<br />

neuronale <strong>und</strong> synaptische Funktion max<strong>im</strong>iert. Diese zusätzliche<br />

Gehirn-Hardware zahlt sich offenbar aus: Die in der komplexen<br />

Umwelt aufgewachsenen Ratten schneiden in einer Vielzahl von<br />

Lernaufgaben besser ab (z. B. Sale et al. 2009).<br />

darauf trainiert, eine Futterbelohnung mit nur einer der Vorderpfoten<br />

zu nehmen; sie wiesen danach einen Zuwachs an dendritischem<br />

Gewebe in genau dem Bereich des motorischen Cortex<br />

auf, der die Bewegung der trainierten Gliedmaße steuert (Greenough<br />

et al. 1985). Bei Menschen ließ eine Untersuchung an Geigern<br />

<strong>und</strong> Cellisten erkennen, dass diese Musiker <strong>im</strong> Vergleich<br />

mit einer Kontrollgruppe eine verstärkte cortikale Repräsentation<br />

ihrer Finger der linken Hand besitzen (Elbert et al. 1995).<br />

Nach Jahren der Übung wurden somit mehr cortikale Zellen<br />

dafür verwendet, Input von den Fingern der Greifhand aufzunehmen<br />

<strong>und</strong> diese Finger be<strong>im</strong> Abgreifen der Saiten zu steuern.<br />

In ähnlicher Weise zeigen geübte Leser der Braille-Schrift eine<br />

vergrößerte cortikale Repräsentation der linken Hand, mit der<br />

sie den in Braille geschriebenen Text normalerweise abtasten<br />

(Pascual-Leone et al. 1993).<br />

..<br />

Wie unterscheiden sich bei diesen beiden Berufsmusikern die cortikalen<br />

Repräsentationen der Hände? (oben: © Craig Lovell/Corbis; unten: © David<br />

Ramos/Getty Image)<br />

..<br />

Nach dem Aufwachsen in einer komplexen Umwelt voller st<strong>im</strong>ulierender<br />

Gegenstände, die zu erk<strong>und</strong>en sind, <strong>und</strong> voller Herausforderungen, die zu<br />

meistern sind, werden die Gehirne dieser Ratten (oben) mehr Synapsen<br />

enthalten, als wenn sie in einem reizarmen Laborkäfig (unten) aufgewachsen<br />

wären. (© Shawna Laufer/The Ratwhisperer(www.ratwhisperer.net); © destinycole/morguefile.com)<br />

Auch hochgradig spezifische Wirkungen der Erfahrung auf die<br />

Gehirnstruktur können eintreten. Beispielsweise wurden Ratten<br />

Wirkungen spezifischer Erfahrungen treten auch in fMRT-Studien<br />

an Menschen mit Dyslexie zutage, einer schwerwiegenden<br />

Leseschwäche bei normaler Intelligenz <strong>und</strong> Bildung (▶ Kap. 8).<br />

Zu einer solchen Untersuchung gehörte ein Leseförderprogramm,<br />

in dem man Zweit- <strong>und</strong> Drittklässler mit Dyslexie darin<br />

übte, die Übereinst<strong>im</strong>mung von Sprachlauten <strong>und</strong> Buchstaben zu<br />

erkennen (Blachmann et al. 2004). Nach dem Training war nicht<br />

nur die Lesefähigkeit dieser Kinder bedeutend besser, auch die


104<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

a<br />

..<br />

Abb. 3.10 Verzögerte Auswirkungen früher Gehirnschädigung. Im Alter von sechs Jahren schnitten Kinder mit angeborener Hirnschädigung auf zwei<br />

Unterskalen eines Intelligenztests genauso ab wie normale Kinder. Die hirngeschädigten Kinder verbesserten ihre Leistungen jedoch nicht <strong>und</strong> fielen <strong>im</strong>mer<br />

weiter hinter die normalen Kinder zurück, sodass <strong>im</strong> <strong>Jugendalter</strong> große Unterschiede zwischen den beiden Gruppen bestanden. (Daten aus Banich et al. 1990;<br />

grafische Darstellung von Kolb 1995)<br />

b<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

fMRT-Bilder zeigten eine wachsende Aktivität der linken Hirnregionen,<br />

die nun der Aktivität in Gehirnen geübter Leser ähnelte.<br />

Die spezifischen Wirkungen von Leseerfahrungen zeigen sich<br />

auch darin, dass be<strong>im</strong> Lesen chinesischer Schriftzeichen völlig<br />

andere Netzwerke <strong>im</strong> Gehirn aktiviert sind als be<strong>im</strong> Lesen von<br />

Buchstabenschriften (wie des Deutschen).<br />

Die Wiederherstellung von Funktionen<br />

nach Hirnschäden<br />

Weil das Gehirn (besonders zu Beginn des Lebens) besonders<br />

plastisch ist, kann es nach einer Gehirnschädigung – zumindest<br />

in best<strong>im</strong>mtem Umfang – neu verschaltet werden. In gewisser<br />

Hinsicht besitzen Kinder, die eine Hirnschädigung erleiden, eine<br />

höhere Chance zur Wiederherstellung der beeinträchtigten Funktionen<br />

als Erwachsene mit einer vergleichbaren Schädigung. Die<br />

überzeugendsten Belege dafür ergaben sich bei Kleinkindern, die<br />

eine Schädigung ihrer cortikalen Sprachregion erlitten <strong>und</strong> bei<br />

denen sich die Sprachfunktionen meist vollständig erholten. Dies<br />

ist möglich, weil in jungen, noch nicht ausgereiften Gehirnen die<br />

Sprachfunktionen nach einer Schädigung von einem anderen Gehirnbereich<br />

übernommen werden können. Im Ergebnis bleibt die<br />

Sprachfähigkeit großenteils erhalten, wenngleich einige spezifische<br />

Sprachbeeinträchtigungen zurückbleiben können (z. B. Zevin et al.<br />

2012).<br />

Erwachsene dagegen durchlaufen nach einer Hirnschädigung<br />

keine entsprechende Reorganisation ihrer sprachbezogenen<br />

Funktionen, sodass sie häufig einen permanenten Verlust<br />

ihrer Fähigkeit zur Sprachproduktion oder zum Sprachverstehen<br />

erleiden können. Auch bei anderen als sprachlichen Funktionen<br />

wurde eine bessere Erholung nach früh erlittenen Hirnschädigungen<br />

beobachtet. Zum Beispiel können Erwachsene, deren<br />

frontaler Cortexbereich <strong>im</strong> Erwachsenenalter Schaden nahm,<br />

schlechter angemessene Gesichtsausdrücke produzieren als Erwachsene,<br />

bei denen die Verletzung des Frontallappens in der<br />

Kindheit erfolgte (Kolb 1995).<br />

Es trifft jedoch nicht <strong>im</strong>mer zu, dass die Chance, sich von<br />

einer Gehirnverletzung zu erholen, mit dem Alter sinkt. Die<br />

Wahrscheinlichkeit des Genesens hängt davon ab, wie ausgedehnt<br />

die Schädigung ist <strong>und</strong> in welcher Entwicklungsphase<br />

sich das Gehirn zur Zeit der Verletzung befindet. Ein Beispiel<br />

dafür sind die Schicksale der Kinder japanischer Frauen, die 1945<br />

be<strong>im</strong> Abwurf der Atombomben während der Schwangerschaft<br />

extrem hohen Dosen radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren.<br />

Geistige Retardierung trat bei den überlebenden Kindern, die der<br />

Strahlung sehr früh – während der Zeit schneller Neurogenese<br />

<strong>und</strong> Neuronenwanderung – ausgesetzt waren, deutlich öfter auf<br />

als bei den Kindern, die in einem späteren Schwangerschaftsstadium<br />

der Strahlung ausgesetzt waren (Otake <strong>und</strong> Schull 1984).<br />

In ähnlicher Weise führt eine Hirnverletzung <strong>im</strong> ersten Lebensjahr<br />

<strong>im</strong> Allgemeinen in einer gravierenderen Beeinträchtigung<br />

der Intelligenz als eine später eintretende Verletzung (Anderson<br />

et al. 2012).<br />

Außerdem können selbst dann, wenn sich Kinder von einer<br />

früh eingetretenen Verletzung scheinbar völlig erholt haben,<br />

später noch Defizite auftauchen. Dies wurde in einer Untersuchung<br />

nachgewiesen, bei der kognitive Leistungen zwischen einer<br />

Gruppe von Kindern, die mit cerebralen Schäden geboren<br />

worden waren, <strong>und</strong> einer Kontrollgruppe von Kindern ohne<br />

Gehirnschäden verglichen wurden (Banich et al. 1990). Wie<br />

. Abb. 3.10 zeigt, unterschieden sich die beiden Gruppen von<br />

Kindern <strong>im</strong> Alter von sechs Jahren nicht in ihren Leistungen<br />

auf zwei Unterskalen eines Intelligenztests. Im weiteren Verlauf<br />

zeigten sich jedoch beträchtliche Unterschiede. Während sich<br />

die Leistung der normalen Kinder mit zunehmendem Alter<br />

deutlich verbesserte, gerieten die hirngeschädigten Kindern <strong>im</strong>mer<br />

mehr in Rückstand. Dasselbe Muster einer verlangsamten<br />

oder sogar abnehmenden Intelligenzleistung bei Kindern mit<br />

frühen Hirnläsionen zeigt sich auch in einer Längsschnittstudie,<br />

bei der die IQ-Werte <strong>im</strong> Alter unter <strong>und</strong> über sieben Jahren gemessen<br />

wurden (Levine et al. 2005). Diese Bef<strong>und</strong>e illustrieren<br />

die Schwierigkeit, die Entwicklung von Kindern mit cerebralen<br />

Verletzungen vorherzusagen; Verhalten, das anfangs normal


Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers<br />

105 3<br />

erscheint, kann mit der Zeit <strong>im</strong>mer deutlicher von der Norm<br />

abweichen.<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieser verschiedenen Aspekte der Plastizität<br />

können wir verallgemeinern, dass bei einer Hirnschädigung,<br />

die zu einem frühen Zeitpunkt eintritt – während der<br />

pränatalen Entwicklung <strong>und</strong> des ersten Lebensjahres nach<br />

der Geburt, wenn die Neurogenese <strong>im</strong> Gange ist <strong>und</strong> sich die<br />

f<strong>und</strong>amentalen Gehirnstrukturen bilden –, die Folgen am<br />

schwerwiegendsten sind. Eine Schädigung innerhalb dieser<br />

Zeitspanne kann kaskadenartig <strong>im</strong>mer weitere Prozesse der<br />

Gehirnentwicklung beeinträchtigen, sodass insgesamt weitreichende<br />

negative Wirkungen entstehen. Die „günstigste“ Zeit<br />

scheint die frühe Kindheit zu sein, wenn Synaptogenese <strong>und</strong><br />

Synapsenreduktion <strong>im</strong> Gange sind, wenn also die Plastizität<br />

am größten ist – wenn die Neuverschaltung des Gehirns noch<br />

möglich <strong>und</strong> die Chancen zur Wiederherstellung der Funktion<br />

noch groß sind.<br />

In Kürze | |<br />

Anlage <strong>und</strong> Umwelt arbeiten bei der Konstruktion des<br />

menschlichen Gehirns zusammen. Zu den wichtigen<br />

Gehirnstrukturen gehören Neurone, die an ihren Synapsen<br />

miteinander kommunizieren; der Cortex, in dem verschiedene<br />

Funktionen in verschiedenen Arealen lokalisiert sind;<br />

<strong>und</strong> die cerebralen Hemisphären, die auf verschiedene Arten<br />

der Verarbeitung spezialisiert sind. Zu den Prozessen, die an<br />

der Entwicklung des Gehirns beteiligt sind, gehören die Neurogenese<br />

<strong>und</strong> die Synaptogenese, denen die systematische<br />

El<strong>im</strong>inierung etlicher Synapsen <strong>und</strong> die Erhaltung anderer<br />

Synapsen folgen, in einem durch Erfahrung best<strong>im</strong>mten<br />

Ausleseprozess.<br />

Zwei Formen der Plastizität tragen zur Entwicklung des<br />

Verhaltens bei. Als Resultat der erfahrungserwartenden<br />

Plastizität wird das Gehirn durch Erfahrungen geformt, die<br />

in der Interaktion jedes ges<strong>und</strong>en Individuums mit jeder<br />

normalen Umwelt verfügbar sind. Aufgr<strong>und</strong> der erfahrungsabhängigen<br />

Plastizität wird das Gehirn auch durch die<br />

idiosynkratischen Erfahrungen strukturiert, die ein Individuum<br />

<strong>im</strong> Verlauf seines Lebens macht. Die Erfahrung ist für<br />

die Gehirnentwicklung entscheidend, denn es gibt sensible<br />

Phasen, während derer für eine normale Entwicklung<br />

best<strong>im</strong>mte Erfahrungen verfügbar sein müssen. Zudem ist<br />

das T<strong>im</strong>ing für die Auswirkungen einer Hirnschädigung ein<br />

entscheidender Faktor.<br />

Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers<br />

In ▶ Kap. 1 haben wir die vielfältigen Kontexte hervorgehoben, in<br />

denen Entwicklung stattfindet. An dieser Stelle konzentrieren wir<br />

uns nun auf den unmittelbarsten Kontext von Entwicklung – den<br />

Körper selbst. An allem, was wir denken, fühlen, sagen <strong>und</strong> tun,<br />

ist unser physisches Selbst beteiligt; <strong>und</strong> Körperveränderungen<br />

führen zu Verhaltensänderungen. In diesem Abschnitt bieten wir<br />

einen breiten Überblick über einige Aspekte des Körperwachs-<br />

tums einschließlich einiger Einflüsse, welche die normale Entwicklung<br />

stören können. Ein lebenswichtiger Faktor für die körperliche<br />

Entwicklung, das Ernährungsverhalten, skizzieren wir<br />

abschließend <strong>im</strong> Zusammenhang mit der Regulation des Essens.<br />

Dabei konzentrieren wir uns besonders auf eine Folge falscher<br />

Ernährung – die Fettleibigkeit. Schließlich richten wir unser Augenmerk<br />

auf das entgegengesetzte Problem – die Unterernährung.<br />

Wachstum <strong>und</strong> Reifung<br />

Im Vergleich zu den meisten anderen Spezies durchlaufen Menschen<br />

eine verlängerte Phase des körperlichen Wachstums. Der<br />

Körper wächst <strong>und</strong> entwickelt sich über 20 % der menschlichen<br />

Lebensspanne, wogegen Mäuse beispielsweise nur während 2 %<br />

ihrer Lebensspanne wachsen. . Abbildung 3.11 zeigt die offensichtlichsten<br />

Veränderungen des Körperwachstums: Von der<br />

Geburt bis zum 20. Lebensjahr werden wir dre<strong>im</strong>al größer <strong>und</strong><br />

15- bis 20-mal schwerer. Die Zahlen geben natürlich nur Durchschnittswerte<br />

an; offensichtlich bestehen große interindividuelle<br />

Unterschiede in Körpergröße <strong>und</strong> -gewicht wie auch <strong>im</strong> Zeitverlauf<br />

der körperlichen Entwicklung.<br />

Das Wachstum verläuft nicht gleichmäßig, wie man den<br />

Unterschieden <strong>im</strong> Anstieg der Kurven in . Abb. 3.11 entnehmen<br />

kann. Am steilsten verlaufen die Kurven in den Phasen des<br />

schnellsten Wachstums – in den ersten beiden Jahren <strong>und</strong> in der<br />

frühen Pubertät. Am Anfang wachsen Jungen <strong>und</strong> Mädchen etwa<br />

gleichförmig mit konstantem Kurvenanstieg, <strong>und</strong> bis zum Alter<br />

von etwa zehn bis zwölf Jahren sind sie praktisch gleich groß<br />

<strong>und</strong> gleich schwer. Dann durchlaufen die Mädchen den pubertären<br />

Wachstumsschub, an dessen Ende sie etwas größer <strong>und</strong><br />

schwerer sind als die Jungen. (Erinnern Sie sich an die etwas<br />

unbehaglichen Schuljahre in der Mittelstufe, als die Mädchen<br />

die Jungen plötzlich überragten, was beiden nicht so angenehm<br />

war?) Die heranwachsenden Jungen erleben ihren Wachstumsschub<br />

etwa zwei Jahre nach den Mädchen <strong>und</strong> überholen diese<br />

dann auf Dauer in Größe <strong>und</strong> Gewicht. Die volle Körpergröße<br />

erreichen Mädchen mit durchschnittlich 15 1/2 <strong>und</strong> Jungen mit<br />

durchschnittlich 17 1/2 Jahren.<br />

Das Wachstum verläuft in den verschiedenen Körperteilen<br />

nicht gleichmäßig. Die in ▶ Kap. 2 beschriebene cephalocaudale<br />

Entwicklung folgt dem Muster, dass die Kopfregion am Anfang<br />

relativ groß ist – mit zwei Monaten entspricht sie ungefähr 50 %<br />

der Körperlänge – <strong>und</strong> <strong>im</strong> Erwachsenenalter dann aber nur etwa<br />

10 % der Körpergröße erreicht. Die Schlaksigkeit <strong>und</strong> Ungelenkheit<br />

von Jugendlichen resultiert zum Teil aus dem Umstand, dass<br />

ihr Wachstumsschub mit drastischen Zuwächsen ihrer Hand<strong>und</strong><br />

Fußgröße beginnt; man stolpert leicht über seine eigenen<br />

Füße, wenn diese überproportional größer sind als der Rest.<br />

Auch die Zusammensetzung des Körpers ändert sich mit<br />

dem Alter. Der Anteil des Körperfetts ist in der Säuglingszeit am<br />

höchsten <strong>und</strong> sinkt danach allmählich ab bis zum Alter von etwa<br />

sechs bis acht Jahren. In der Pubertät sinkt der Fettanteil bei den<br />

Jungen, aber er steigt bei den Mädchen, was dazu beiträgt, dass<br />

das Einsetzen der Menstruation ausgelöst wird. Der Muskelanteil<br />

wächst bis zur Pubertät langsam <strong>und</strong> kontinuierlich <strong>und</strong> steigt<br />

dann, besonders bei den Jungen, drastisch an.


106<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

1<br />

110<br />

242<br />

200<br />

79<br />

2<br />

100<br />

90<br />

97%<br />

220<br />

198<br />

180<br />

97%<br />

50%<br />

71<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Durchschnittsgewicht (kg)<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

50%<br />

3%<br />

176<br />

154<br />

132<br />

110<br />

88<br />

60<br />

44<br />

22<br />

Durchschnittsgewicht (po<strong>und</strong>)<br />

Durchschnittsgröße (cm)<br />

160<br />

140<br />

120<br />

100<br />

80<br />

60<br />

3%<br />

63<br />

55<br />

47<br />

39<br />

32<br />

24<br />

Durchschnittsgröße (inch)<br />

9<br />

0<br />

2<br />

4<br />

6<br />

8<br />

10<br />

12<br />

14<br />

16<br />

18<br />

20<br />

0<br />

2<br />

4<br />

6<br />

8<br />

10<br />

12<br />

14<br />

16<br />

18<br />

20<br />

10<br />

Alter (in Jahren)<br />

Mädchen<br />

Jungs<br />

Alter (in Jahren)<br />

11<br />

12<br />

..<br />

Abb. 3.11 Wachstumskurven für Größe <strong>und</strong> Gewicht von der Geburt bis zum 20. Lebensjahr. Je steiler die Steigung, desto schneller ergeben sich Veränderungen<br />

in Größe oder Gewicht. Diese Kurven beruhen auf großen Stichproben amerikanischer Kinder aus allen Teilen der USA. Jede Kurve gibt Mindestwerte<br />

für Körpergröße <strong>und</strong> Gewicht wieder, die bei einem best<strong>im</strong>mten Prozentsatz der Referenzpopulation (3, 50 bzw. 97 %) nicht unterschritten wurde. (Centers for<br />

Disease Control and Prevention 2002)<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Variabilität<br />

In allen Aspekten der körperlichen Entwicklung gibt es eine große<br />

Variabilität über Individuen <strong>und</strong> Gruppen hinweg, wie sich in den<br />

folgenden Beispielen zeigt. Diese Variabilität in der körperlichen<br />

Entwicklung beruht sowohl auf genetischen als auch auf umweltbedingten<br />

Faktoren. Die Gene wirken sich auf das Größenwachstum<br />

<strong>und</strong> die sexuelle Reife größtenteils durch die Beeinflussung<br />

der Hormonproduktion aus, insbesondere des Wachstumshormons<br />

(das die Hirnanhangdrüse freisetzt) <strong>und</strong> des Thyroxins (aus<br />

der Schilddrüse). Der Einfluss von Umweltfaktoren wird besonders<br />

in Jahrh<strong>und</strong>erttrends erkennbar, deutlichen Veränderungen<br />

der Körperentwicklung, die über Generationen hinweg auftreten.<br />

In den heutigen Industrienationen sind die Erwachsenen einige<br />

Zent<strong>im</strong>eter größer, als ihre gleichgeschlechtlichen Großeltern es<br />

waren. Diese Veränderung resultiert vermutlich vorwiegend aus<br />

Verbesserungen der Ernährung <strong>und</strong> der allgemeinen Ges<strong>und</strong>heit.<br />

Ein anderer Säkulartrend besteht darin, dass die Menstruation<br />

der Mädchen in Ländern wie den USA <strong>und</strong> Deutschland ein paar<br />

Jahre früher beginnt als bei ihren Großmüttern <strong>und</strong> Urgroßmüttern<br />

– eine Veränderung, die man der generellen Verbesserung<br />

des Ernährungszustands der Bevölkerung zuschreibt.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erttrends – Seit Generationen andauernde deutliche Veränderungen<br />

der Körperentwicklung.<br />

Umweltfaktoren können auch bei der Störung des normalen<br />

Wachstums eine Rolle spielen. Zum Beispiel kann schwerer chronischer<br />

Stress, wie er mit einer häuslichen Umgebung einhergeht,<br />

die von schwerwiegenden ehelichen Streitigkeiten, Alkoholismus<br />

oder <strong>Kindes</strong>misshandlung geprägt ist, das Wachstum beeinträchtigen,<br />

indem sich die Produktion des Wachstumshormons<br />

durch die Hirnanhangdrüse verringert (Powell et al. 1967). Auch<br />

He<strong>im</strong>kinder tragen ein höheres Risiko für Wachstumsstörungen,<br />

teilweise durch eine kombinierte Kombination von Stress<br />

<strong>und</strong> schlechter Ernährung (Johnson <strong>und</strong> Gunnar 2011). Eine<br />

Kombination von genetischen <strong>und</strong> umweltbedingten Faktoren<br />

ist offenbar auch an einem nicht organisch bedingten Entwicklungsstillstand<br />

beteiligt; bei diesem auch als Gedeihstörung bezeichneten<br />

Zustand bekommen die Kinder ohne erkennbaren<br />

medizinischen Gr<strong>und</strong> Untergewicht <strong>und</strong> nehmen nicht mehr an<br />

Körpergröße oder Gewicht zu. Für solche Entwicklungsstörungen<br />

gibt es wegen der unklaren Ursachen verschiedene Therapieansätze<br />

– von der Hospitalisierung bis hin zu Ernährungsprogrammen<br />

<strong>und</strong> Verhaltenstherapie durch gezieltes Belohnen<br />

positiver Essverhalten (Jaffe 2011).<br />

Gedeihstörung – Eine Entwicklungsstörung ohne erkennbare organische Ursache,<br />

bei der Säuglinge ohne erkennbaren medizinischen Gr<strong>und</strong> unterernährt<br />

werden <strong>und</strong> weder wachsen noch an Gewicht zulegen.<br />

Ernährungsverhalten<br />

Die Ges<strong>und</strong>heit unseres Körpers hängt davon ab, was wir ihm<br />

zuführen, einschließlich der Menge <strong>und</strong> Art von Nahrung, die<br />

wir zu uns nehmen. Die Entwicklung des Essens beziehungsweise


Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers<br />

107 3<br />

des Ernährungsverhaltens ist von Anfang an ein entscheidender<br />

Aspekt der <strong>Kindes</strong>entwicklung.<br />

Die Säuglingsernährung<br />

Wie alle Säugetiere erhalten neugeborene Menschen ihre lebenserhaltende<br />

Nahrung, indem sie gesäugt beziehungsweise<br />

gestillt werden. Jedoch brauchen die menschlichen Babys dabei<br />

mehr Hilfestellung als die meisten anderen Säuger. Vom<br />

Anbeginn der Menschheitsgeschichte <strong>und</strong> noch bis vor wenigen<br />

Jahrzehnten war die Muttermilch die einzige oder pr<strong>im</strong>äre<br />

Nahrungsquelle für Säuglinge, denn Muttermilch besitzt viele<br />

Vorteile (Newman 1995). Sie ist auf natürliche Weise frei von<br />

Bakterien, stärkt das kindliche Immunsystem <strong>und</strong> enthält die<br />

mütterlichen Antikörper gegen die Infektionserreger, mit denen<br />

das Baby nach seiner Geburt wahrscheinlich in Kontakt kommt.<br />

..<br />

Wenn eine Mutter ihren Säugling stillt, liefert sie ihm die vielen Vorteile, die<br />

Muttermilch gegenüber Ersatznahrung auszeichnet. (© vishnena/fotolia.com)<br />

Es gibt in der Literatur viele Annahmen darüber, wie die Fettsäuren<br />

in der Muttermilch die kognitive Entwicklung fördern,<br />

wobei einige Studien auf höhere IQ-Werte bei Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen<br />

hinweisen, die von ihren Müttern gestillt wurden (Zusammenfassung<br />

in Nisbett et al. 2012). Eine Herausforderung bei<br />

solchen Studien in den USA liegt darin, dass das Stillverhalten der<br />

Mütter mit sozialen Faktoren wie Bildungsstand oder Beschäftigungsverhältnissen<br />

korreliert, die ein Stillen neben der Arbeit erschweren.<br />

Allerdings bestätigen einige neuere Studien, bei denen<br />

der Einfluss der sozialen Schichtzugehörigkeit kontrolliert werden<br />

konnte, dass mit dem Stillen Vorteile in der kognitiven Entwicklung<br />

des <strong>Kindes</strong> einhergehen. In einer dieser Studie wurden die<br />

Mutter-Kind-Paare randomisiert zwei Gruppen zugeordnet, wobei<br />

in der Interventionsgruppe zum Stillen ermutigt wurde <strong>und</strong><br />

in der Kontrollgruppe nicht. Die Ergebnisse zeigten, dass ausschließliches<br />

<strong>und</strong> lange beibehaltenes Stillen bei den Kindern <strong>im</strong><br />

Alter von 6½ Jahren zu einem höheren IQ beiträgt (Kramer et al.<br />

2008). Bei einer anderen Studie zur Untersuchung genetischer<br />

Einflüsse zeigte sich, dass Kinder mit einem von zwei Allelen zur<br />

Regulation der Fettsäuren durch die Ernährung mit Muttermilch<br />

enorme kognitive Vorteile hatten <strong>im</strong> Vergleich zu Kindern mit<br />

einem anderen Allel, bei denen der Vorteil nur gering war (Capsi<br />

et al. 2007). Diese Bef<strong>und</strong>e spiegeln das in diesem Kapitel bereits<br />

erläuterte Zusammenspiel von Genotyp <strong>und</strong> Umwelt wider, wobei<br />

die Vorteile einer best<strong>im</strong>mten Umwelt (in diesem Fall die Muttermilch)<br />

durch den Genotyp des <strong>Kindes</strong> reduziert werden.<br />

Trotz der überlieferten ernährungsbezogenen Überlegenheit<br />

der Muttermilch <strong>und</strong> der Tatsache, dass sie nichts kostet, wird<br />

die Mehrzahl der Kleinkinder in den USA <strong>und</strong> ein Großteil der<br />

Säuglinge in anderen Industrienationen ausschließlich oder vorwiegend<br />

aus der Flasche ernährt. Durch neue ges<strong>und</strong>heitspolitische<br />

Maßnahmen hat sich der Trend zugunsten längeren Stillens<br />

verschoben, seit Eltern über die Vorteile der Brustmilchernährung<br />

aufgeklärt wurden <strong>und</strong> Arbeitgeber aufgefordert wurden,<br />

den Müttern mehr Raum zum Stillen oder Abpumpen der Milch<br />

<strong>im</strong> Berufsalltag einzuräumen. Seit Beginn dieser Maßnahmen<br />

hat sich der Anteil der Mütter, die ihre Kinder mit Muttermilch<br />

ernähren, kontinuierlich erhöht <strong>und</strong> erreichte 2009 bei den<br />

Neugeborenen in den USA 76,9 % (Centers for Disease Control<br />

and Prevention 2012). Allerdings war es für die Eltern offenbar<br />

schwierig, diesen guten Start bei der Ernährung beizubehalten.<br />

Im Alter von sechs Monaten wurden nur noch 47,2 % der Kinder<br />

gestillt, <strong>und</strong> <strong>im</strong> Alter von zwölf Monaten nur noch 25,5 %.<br />

Eine <strong>im</strong> Rahmen des Kindheits- <strong>und</strong> Jugendges<strong>und</strong>heitssurveys<br />

(KiGGS) durchgeführte repräsentative Studie, an der von<br />

1986–2005 ca. 17.000 Familien teilnahmen, ergab, dass sich der<br />

Anteil gestillter Kinder <strong>im</strong> oben genannten Zeitraum von 74 auf<br />

81,5 % gesteigert hat, wobei die Kinder der Jahrgänge 1998–2001<br />

mit einer Rate von 68 % nach vier Monaten <strong>und</strong> 48 % nach sechs<br />

Monaten am längsten voll gestillt worden sind. Negativ wirkten<br />

sich ein niedriger Sozialstatus, Zigarettenkonsum während der<br />

Schwangerschaft, Frühgeburtlichkeit <strong>und</strong> Geburtskomplikationen<br />

aus (zitiert nach Rubin 2008).<br />

In entwickelten Ländern kann Babynahrung das normale<br />

Wachstum <strong>und</strong> die normale Entwicklung unterstützen, wenngleich<br />

mit einer etwas höheren Infektionsrate als bei Muttermilch.<br />

In unterentwickelten Ländern kann der Einsatz von Ersatznahrung<br />

jedoch einen hohen Tribut fordern. Ein Großteil der<br />

Welt verfügt nicht über sauberes Wasser, sodass die Babynahrung<br />

oft mit verschmutztem Wasser in unhygienischen Behältnissen<br />

zubereitet wird. Außerdem strecken arme, unerfahrene Eltern<br />

häufig das Trockenpulver in dem Bemühen, die teure Babynahrung<br />

nicht so schnell zu verbrauchen. Unter solchen Umständen<br />

führen die Versuche von Eltern, die Ges<strong>und</strong>heit ihrer Babys<br />

zu fördern, zum gerade gegenteiligen Effekt (Popkin <strong>und</strong> Doan<br />

1990).


108<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

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8<br />

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11<br />

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15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Die Entwicklung von Nahrungspräferenzen<br />

<strong>und</strong> die Regulation des Essens<br />

Nahrungspräferenzen bilden eine pr<strong>im</strong>äre Determinante für<br />

das, was wir <strong>im</strong> Laufe unseres Lebens essen; zum Teil sind sie<br />

eindeutig angeboren. Neugeborene zeigen einige der ungelernten,<br />

reflexhaften Gesichtsausdrücke, die auch ältere Kinder <strong>und</strong><br />

Erwachsene als Reaktion auf drei gr<strong>und</strong>legende Geschmacksqualitäten<br />

zeigen – süß, sauer <strong>und</strong> bitter. Süßer Geschmack ruft<br />

einen Hauch von Lächeln hervor, saurer lässt uns die Stirn runzeln<br />

<strong>und</strong> bitterer das ganze Gesicht verziehen (Rosenstein <strong>und</strong><br />

Oster 1988; Steiner 1979). Die starke Bevorzugung von Süße bei<br />

Neugeborenen spiegelt sich sowohl in ihrem Lächeln als Reaktion<br />

auf süß Schmeckendes wider als auch in der Tatsache, dass<br />

sie von gesüßtem Wasser größere Mengen trinken als von neutralem<br />

Wasser. Diese angeborenen Präferenzen könnten einen<br />

evolutionären Ursprung besitzen, insofern giftige Substanzen<br />

oft bitter oder sauer schmecken, aber so gut wie niemals süß.<br />

Allerdings können Geschmackspräferenzen auch durch die<br />

pränatale Umgebung beeinflusst werden, wie wir in ▶ Kap. 2<br />

gesehen haben, <strong>und</strong> dementsprechend spielen vermutlich auch<br />

Erfahrungen bereits für die ersten Geschmackspräferenzen eine<br />

wichtige Rolle.<br />

Die Geschmacksempfindlichkeit der Kleinkinder wird aus<br />

ihren Reaktionen auf die Milch ihrer Mutter ersichtlich, die den<br />

Geschmack dessen annehmen kann, was sie selbst gegessen hat.<br />

Babys nuckeln länger <strong>und</strong> nehmen mehr Muttermilch auf, wenn<br />

ihre Mutter etwas zu sich genommen hat, das nach Knoblauch<br />

oder Vanille schmeckt, aber sie trinken weniger Milch an der<br />

Brust, wenn die Mutter vorher ein Bier getrunken hat (Menella<br />

<strong>und</strong> Beauchamp 1993a, 1993b, 1996).<br />

Vom Säuglingsalter an n<strong>im</strong>mt die Erfahrung einen wesentlichen<br />

Einfluss darauf, welche Nahrungsmittel Kinder mögen oder<br />

gerade nicht mögen <strong>und</strong> wie viel sie essen. Zum Beispiel steigt<br />

die Vorliebe von Kindergartenkindern für best<strong>im</strong>mte Dinge,<br />

wenn sie andere Kinder sehen, die diese genießen (Birch <strong>und</strong><br />

Fisher 1996). Das Essverhalten der Kinder wird auch dadurch<br />

beeinflusst, was ihre Eltern gut finden <strong>und</strong> wovon sie die Kinder<br />

abhalten wollen. Dieser Einfluss n<strong>im</strong>mt jedoch nicht <strong>im</strong>mer die<br />

von den Eltern ursprünglich beabsichtigte Richtung. So können<br />

die elterlichen Standardprozeduren, ihre kleinen Kinder durch<br />

gutes Zureden <strong>und</strong> Bestechung dazu zu bringen, etwas Neues<br />

oder Ges<strong>und</strong>es zu essen – „Wenn du deinen Spinat brav aufisst,<br />

bekommst du auch Nachtisch“ –, in doppelter Weise kontraproduktiv<br />

sein. Das wahrscheinlichste Ergebnis besteht darin, dass<br />

das Kind das als ges<strong>und</strong> angepriesene Essen nachher noch weniger<br />

mag <strong>und</strong> das als Belohnung versprochene süße <strong>und</strong>/oder fette<br />

Essen noch stärker bevorzugt (Birch <strong>und</strong> Fisher 1996).<br />

Viele Eltern sorgen sich unnötigerweise darum, wie viel ihre<br />

kleinen Kinder essen. Vielleicht würden die Eltern weniger Mühen<br />

darauf verwenden, das Essverhalten ihrer Kinder kontrollieren<br />

<strong>und</strong> steuern zu wollen, wenn sie erkennen würden, dass<br />

Kleinkinder recht gut darin sind, die Menge an Essen, die sie<br />

zu sich nehmen, zu regulieren. Die Forschung hat gezeigt, dass<br />

Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter die Menge, die sie zu einem best<strong>im</strong>mten<br />

Zeitpunkt essen, auf der Gr<strong>und</strong>lage dessen regulieren, wie viel sie<br />

schon konsumiert haben. In einigen Untersuchungen aßen die<br />

Kinder weniger zu Mittag, wenn sie zuvor schon einen kleinen<br />

Imbiss bekommen hatten, <strong>im</strong> Vergleich zu der gegessenen Menge<br />

ohne vorherigen Imbiss (Birch <strong>und</strong> Fisher 1996). (Eine Gruppe<br />

Erwachsener aß <strong>im</strong> Gegensatz dazu von einer Mahlzeit ziemlich<br />

genauso viel, gleich, ob es vorher schon eine Kleinigkeit gegeben<br />

hatte oder nicht.)<br />

Im Allgemeinen gilt: Kindern, deren Eltern ihre Essgewohnheiten<br />

zu kontrollieren versuchen, gelingt die eigene Regulierung<br />

ihrer Nahrungsaufnahme schlechter als Kindern, deren Eltern<br />

ihnen mehr Eigenkontrolle über ihr Essen lassen (Johnson <strong>und</strong><br />

Birch 1994). Übertriebene Steuerung des Ernährungsverhaltens<br />

der Kinder kann bleibende Folgen haben. Erwachsene, die davon<br />

berichteten, dass ihre Eltern das Essen dazu benutzten, um<br />

das Verhalten ihrer Sprösslinge zu kontrollieren, kämpften mit<br />

größerer Wahrscheinlichkeit mit ihrem Körpergewicht <strong>und</strong> mit<br />

Heißhungerattacken (Puhl <strong>und</strong> Schwartz 2003).<br />

Übergewicht<br />

Vielen Menschen fällt es schwer, ihr Essverhalten angemessen<br />

zu regulieren; das häufigste Ernährungsproblem in den USA ist<br />

übermäßiges Essen mit seinen vielen Konsequenzen. In einer Art<br />

Epidemie der Verfettung sind inzwischen mehr als ein Drittel aller<br />

US-amerikanischen Erwachsenen übergewichtig (Ogden et al.<br />

2012). In Deutschland stellte das Statistische B<strong>und</strong>esamt 2010 einen<br />

Anteil von 60 % der Männer <strong>und</strong> 43 % der Frauen fest, die<br />

übergewichtig sind. Korpulenz ist ein sich ausbreitendes Problem,<br />

nicht nur in den Vereinigten Staaten <strong>und</strong> Deutschland, sondern<br />

auch bei den indigenen Völkern vieler Entwicklungsländer (Abelson<br />

<strong>und</strong> Kennedy 2004). Diese Situation kommt zum Großteil<br />

dadurch zustande, dass Gesellschaften weltweit eine „westliche<br />

Ernährungsweise“ übernehmen, die reich an Fett <strong>und</strong> Zucker <strong>und</strong><br />

arm an Ballaststoffen ist. Fast-Food-Restaurants haben sich global<br />

ausgeweitet; Ronald McDonald ist nach dem Weihnachtsmann<br />

die zweitberühmteste Figur der Welt (Brownell 2004).<br />

Der Anteil amerikanischer Kinder <strong>und</strong> Jugendlicher mit<br />

Übergewicht hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten<br />

verdreifacht, wobei die Steigerung bei Latinos <strong>und</strong> Afroamerikanern<br />

besonders ausgeprägt ist. Die Aussichten für diese<br />

Kinder sind schlecht, weil die meisten dicken Kinder dicke<br />

Erwachsene werden <strong>und</strong> ihr ganzes Leben lang mit ihren Gewichtsproblemen<br />

zu kämpfen haben. Auch in Deutschland<br />

sind nach aktuellen Schätzungen circa 10–20 % aller Kinder<br />

übergewichtig. Bei etwa 7–8 % liegt sogar Adipositas (starkes<br />

Übergewicht) vor. Es ist damit zu rechnen, dass solche Kinder<br />

später eine ganze Reihe unges<strong>und</strong>er Maßnahmen ergreifen,<br />

um ihre Gewichtsprobleme zu bekämpfen – Mahlzeiten überspringen,<br />

fasten, rauchen, Appetitzügler einnehmen, das Fett<br />

absaugen lassen –, die allesamt zu weiteren ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Problemen führen können.<br />

Zwei wichtige Fragen stellen sich: Warum bekommen manche<br />

Menschen Übergewicht <strong>und</strong> andere nicht? Und warum gibt es eine<br />

Übergewichtsepidemie in den USA? Es liegt nahe, dass sowohl<br />

genetische als auch umweltbedingte Faktoren eine Rolle spielen.<br />

Genetische Faktoren spiegeln sich in den Bef<strong>und</strong>en wider, dass<br />

(1) das Gewicht adoptierter Kinder stärker mit dem ihrer biologischen<br />

Eltern als mit dem ihrer Adoptiveltern korreliert <strong>und</strong> dass<br />

(2) eineiige Zwillinge, auch getrennt aufgewachsene, einander hinsichtlich<br />

des Körpergewichts ähnlicher sind als zweieiige Zwillinge


Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers<br />

109 3<br />

(Plomin et al. 2013). Sogar die Geschwindigkeit des Essens, die<br />

sowohl mit der bei einer Mahlzeit verzehrten Menge als auch mit<br />

dem Gewicht zusammenhängt, weist einen beträchtlichen Grad an<br />

Erblichkeit auf (Llewellyn et al. 2008). Mithin haben vor allem die<br />

Gene einen Anteil daran, wie leicht Menschen zunehmen <strong>und</strong> wie<br />

viel sie essen; das macht es ihnen relativ schwer oder auch leicht,<br />

sich der Übergewichtsepidemie zu entziehen.<br />

Umweltfaktoren spielen ebenfalls eine große Rolle be<strong>im</strong><br />

Überhandnehmen der Verfettung, was man schon daran erkennt,<br />

dass heutzutage in den Vereinigten Staaten ein wesentlich<br />

höherer Anteil der Bevölkerung übergewichtig ist als früher.<br />

Man könnte das Dickwerden in den USA geradezu als eine normale<br />

Reaktion auf den derzeitigen Geschmack der US-Amerikaner<br />

an fettreichen, stark zuckerhaltigen Nahrungsmitteln in<br />

<strong>im</strong>mer größeren Mengen betrachten (Brownell 2003).<br />

..<br />

Dieses Foto zeigt deutlich die genetischen Aspekte des Übergewichtsproblems.<br />

Und die Eistüte des Mädchens links ist Ausdruck der Umweltfaktoren,<br />

die dazu beisteuern. (© Chris Cooper-Smith/Alamy)<br />

Eine Vielzahl anderer Faktoren treibt den ständig wachsenden<br />

Taillenumfang heutiger Kinder an. Die Kinder spielen nicht mehr<br />

so oft <strong>im</strong> Freien wie die Generationen vor ihnen: Die Hälfte der<br />

Kindergartenkinder verbringt weniger als 1 h am Tag mit Spielen<br />

<strong>im</strong> Freien (Tandon et al. 2012). Kinder bewegen sich heute<br />

auch deshalb weniger als früher, weil sie seltener zu Fuß oder<br />

mit dem Rad zur Schule kommen. In der Schule haben sie häufig<br />

keinen oder kaum Sportunterricht, Pausenaktivitäten fehlen, <strong>und</strong><br />

oft können sie sich in der Cafeteria fettreiche Mittagsmahlzeiten<br />

wie Pizzen oder Hamburger <strong>und</strong> hochkalorische Erfrischungsgetränke<br />

leisten. Junge Stubenhocker, von denen viele 5 h täglich<br />

<strong>und</strong> mehr vor dem Fernsehapparat verbringen, konsumieren<br />

minderwertige Nahrungsmittel, zumal sie von Werbung für<br />

mehr fettreiche, Fast-Food-Waren geringer Ernährungsqualität<br />

überschwemmt werden; solche Kinder sind wesentlich gefährdeter,<br />

fettleibig zu werden, als Kinder, die 2 h oder weniger fernsehen<br />

(Robinson 2001). Außerdem essen viele Familien häufiger<br />

auswärts <strong>und</strong> frequentieren Fast-Food-Restaurants oder solche<br />

mit „All-you-can-eat“-Buffets, wo sie große Portionen relativ<br />

hochkalorischer Lebensmittel verspeisen (Krishnamoorthy et al.<br />

2006). Und schließlich sind viele unges<strong>und</strong>e Nahrungsmittel erheblich<br />

billiger <strong>und</strong> leichter zu bekommen als ges<strong>und</strong>e, besonders<br />

in den Innenstädten, wo die Supermärkte mit einem breiten<br />

Lebensmittelangebot <strong>im</strong>mer seltener werden. In solchen „Nahrungswüsten“<br />

müssen sich oft Bewohner aus ärmeren Schichten<br />

mit dem reduzierten Angebot der Min<strong>im</strong>ärkte behelfen, die vor<br />

allem fertig abgepackte kalorienreiche Nahrung anbieten <strong>und</strong> es<br />

selbst motivierten Eltern schwermachen, ges<strong>und</strong>e Lebensmittel<br />

für ihre Kinder zu besorgen.<br />

Adipositas (der medizinische Name der Fettsucht) bringt<br />

eine Vielzahl ernster Ges<strong>und</strong>heitsrisiken für Kinder <strong>und</strong> Erwachsene<br />

mit sich, von Herzerkrankungen bis zu Diabetes. Außerdem<br />

leiden fettleibige Menschen oft unter den Folgen der negativen<br />

Stereotype <strong>und</strong> Diskr<strong>im</strong>inierung, angefangen bei der Wohnungssuche<br />

bis zur Zulassung zu Studiengängen (Friedman <strong>und</strong><br />

Brownell 1995). Übergewichtige Kinder <strong>und</strong> Jugendliche leiden<br />

darüber hinaus unter einer Vielzahl weiterer sozialer Probleme.<br />

Zum Beispiel sind dicke Jugendliche entweder sozial isoliert oder<br />

stehen in ihren Netzwerken eher am Rand (Strauss <strong>und</strong> Pollack<br />

2003). Jugendliche, die von Hänseleien wegen ihres Gewichts<br />

berichten, hatten häufiger als ihre schlankeren Altersgenossen<br />

den Selbstmord in Erwägung gezogen (<strong>Eisenberg</strong> et al. 2003).<br />

Bedauerlicherweise gibt es keine einfache Abhilfe für Fettleibigkeit<br />

bei Kindern. Es gibt jedoch die Hoffnung, das Problem<br />

des grassierenden Übergewichts zu lösen, weil die Öffentlichkeit<br />

auf die Schwere des Problems <strong>und</strong> die vielen dazu<br />

beitragenden Einflussfaktoren aufmerksam geworden ist. Viele<br />

Schulen haben damit begonnen, ges<strong>und</strong>ere, kalorienärmere<br />

Mahlzeiten <strong>und</strong> Getränke anzubieten, auch in den Automaten,<br />

<strong>und</strong> selbst Fast-Food-Ketten haben inzwischen auch kalorienarme<br />

Menüs auf der Speisekarte. Prominente wie Michele Obama<br />

haben das Übergewicht von Kindern als entscheidendes<br />

Ges<strong>und</strong>heitsproblem ins Visier genommen, was hoffen lässt,<br />

dass Kampagnen zur ges<strong>und</strong>en Ernährung <strong>und</strong> viel Bewegung<br />

bei vielen Familien zu einer ges<strong>und</strong>en Lebensweise führen. Ein<br />

hilfreicher weiterer Schritt, den das amerikanische Institute of<br />

Medicine (2004) <strong>und</strong> die Deutsche Gesellschaft für Ernährung<br />

empfehlen, wäre, dass die Nahrungsmittel- <strong>und</strong> Unterhaltungsindustrie<br />

aufhört, mit einer an Kinder <strong>und</strong> Jugendliche gerichteten<br />

Werbung fett- <strong>und</strong> zuckerreiche Speisen <strong>und</strong> Getränke<br />

anzupreisen.<br />

Unterernährung<br />

Zur selben Zeit, in der Menschen in vergleichsweise reichen Ländern<br />

unges<strong>und</strong> viel essen, ist die Ges<strong>und</strong>heit von Menschen in Entwicklungsländern<br />

dadurch gefährdet, dass sie zu wenig zu essen<br />

haben. Ein Viertel aller in diesen Ländern lebenden Kinder (davon<br />

40 % unter fünf Jahren) sind unterernährt. Die Ernährungsdefizite,<br />

denen diese Kinder ausgesetzt sind, können darin bestehen,<br />

dass sie unzureichend mit Kalorien, Proteinen, Vitaminen <strong>und</strong><br />

Mineralien versorgt sind oder eine Kombination dieser Mangelerscheinungen<br />

aufweisen. Schwere Fehlernährung von Säuglingen<br />

<strong>und</strong> Kleinkindern ist in unterentwickelten <strong>und</strong> kriegsgeschüttelten<br />

Ländern sehr verbreitet. Eine Analyse der Daten zur Kindersterblichkeit<br />

ergibt, dass 35 % der weltweiten Todesfälle bei Kindern auf<br />

einer Mangelernährung (insbesondere auch bei Ergänzungsnahrung<br />

zum Stillen) beruhen (Black et al. 2008).<br />

Unterernährung <strong>und</strong> Mangelernährung gehen fast <strong>im</strong>mer mit<br />

Armut <strong>und</strong> vielfältigen damit zusammenhängenden Faktoren


110<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

..<br />

Abb. 3.12 Unterernährung <strong>und</strong> kognitive Entwicklung. Unterernährung in Kombination mit Armut wirkt sich auf viele Aspekte der Entwicklung aus <strong>und</strong><br />

kann zur Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten führen. (Brown <strong>und</strong> Pollitt 1996)<br />

12<br />

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23<br />

einher, angefangen von begrenztem Zugang zur Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge<br />

(dem Hauptgr<strong>und</strong> in den Vereinigten Staaten) bis hin zu<br />

Kriegen, Hungersnöten <strong>und</strong> Naturkatastrophen. Die Wechselwirkung<br />

zwischen Mangelernährung <strong>und</strong> Armut wie auch anderen<br />

Formen von Mangel <strong>und</strong> Entbehrung nehmen einen nachteiligen<br />

Einfluss auf alle Aspekte der Entwicklung. . Abbildung 3.12 stellt<br />

ein Modell vor, wie die komplexe Interaktion dieser vielfältigen<br />

Faktoren die kognitive Entwicklung beeinträchtigt (Brown <strong>und</strong><br />

Pollitt 1996). Man kann erkennen, dass Mangelernährung direkte<br />

Auswirkungen auf die strukturelle Entwicklung des Gehirns, das<br />

allgemeine Energieniveau, die Anfälligkeit für Infektionen <strong>und</strong><br />

das Körperwachstum haben kann. Ohne angemessene Energiezufuhr<br />

neigen unterernährte Kinder dazu, ihren Energieverbrauch<br />

zu reduzieren; sie ziehen sich bei St<strong>im</strong>ulation eher zurück, was sie<br />

generell ruhig <strong>und</strong> passiv macht, <strong>und</strong> bei sozialen Interaktionen<br />

machen sie weniger mit, in der Schule sinkt ihre Aufmerksamkeit,<br />

<strong>und</strong> so weiter. Apathie, verlangsamtes Wachstum <strong>und</strong> eine<br />

verzögerte Entwicklung ihrer motorischen Fähigkeiten schmälern<br />

auch die Erk<strong>und</strong>ung der Umgebung durch die Kinder, was ihre<br />

Lern- <strong>und</strong> Erfahrungsmöglichkeiten noch weiter einschränkt.<br />

Kann man etwas tun, um unter- <strong>und</strong> fehlernährten Kindern<br />

zu helfen? Weil so viele interagierende Faktoren an diesem<br />

Problem beteiligt sind, ist das nicht leicht; es ist aber auch nicht<br />

unmöglich, wie weltweit durch verschiedene groß angelegte Interventionsbemühungen<br />

deutlich wird. In einem erfolgreichen<br />

Langzeitprojekt in Guatemala unter der Leitung von Ernesto Pollitt<br />

beispielsweise korrelierte eine hoch proteinhaltige Nahrungsergänzung,<br />

die schon <strong>im</strong> Kleinkindalter begann, mit erhöhten<br />

Leistungen bei verschiedenen Tests kognitiver Funktionen <strong>im</strong><br />

Erwachsenenalter (Pollitt et al. 1993). Nachfolgeuntersuchungen<br />

<strong>im</strong> Erwachsenenalter lieferten nachhaltige Vorteile noch 25 Jahre<br />

nach der Intervention mit Nahrungsergänzung (Maluccio et al.<br />

2009). Obwohl es möglich ist, den Entwicklungsstand unterernährter<br />

Kinder zu verbessern, wäre es natürlich vorteilhafter,<br />

sowohl für die Kinder als auch generell für die Gesellschaft, in<br />

erster Linie das Auftreten von Unterernährung zu verhindern.<br />

Brown <strong>und</strong> Pollitt (1996, S. 702) führen an: „In der Bilanz erscheint<br />

es eindeutig, dass die Prävention von Unterernährung bei<br />

Kleinkindern die beste Politik bleibt – nicht nur aus moralischen,<br />

sondern auch aus ökonomischen Gründen.“<br />

In Kürze | |<br />

Das Ernährungsverhalten ist für die allgemeine Ges<strong>und</strong>heit<br />

von gr<strong>und</strong>sätzlicher Bedeutung. Präferenzen für best<strong>im</strong>mte<br />

Nahrungsmittel sind von Geburt an erkennbar, <strong>und</strong> <strong>im</strong> Verlauf<br />

ihrer Entwicklung wird das, was sich Kinder zum Essen<br />

auswählen, durch viele Faktoren beeinflusst, beispielsweise<br />

durch die Vorlieben ihrer Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> durch die Versuche<br />

ihrer Eltern, auf ihr Essverhalten Einfluss zu nehmen. In<br />

den vergangenen Jahrzehnten ist in den USA <strong>und</strong> einem<br />

Großteil der übrigen Welt bei Erwachsenen wie bei Kindern<br />

die Übergewichtigkeit drastisch gestiegen, weil vermehrt<br />

energiereiche Lebensmittel in großen Mengen zur Verfügung<br />

stehen <strong>und</strong> die körperliche Aktivität nachgelassen<br />

hat. Aber das häufigste Ernährungsproblem weltweit ist die<br />

Unterernährung. Sie ist sehr eng mit Armut assoziiert, <strong>und</strong><br />

die Kombination von Ernährungsdefiziten <strong>und</strong> Armut wirkt<br />

sich besonders verheerend auf die Entwicklung aus.


Zusammenfassung<br />

111 3<br />

Zusammenfassung<br />

-<br />

Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

Das komplexe Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

bildete das durchgehende Thema dieses Kapitels. Auf der<br />

Bühne der Entwicklung haben Genotyp, Phänotyp <strong>und</strong><br />

Umwelt ihren großen Auftritt, <strong>und</strong> die Handlung schreitet<br />

fort, indem all diese Faktoren auf mehr oder weniger offensichtliche<br />

Art <strong>und</strong> Weise interagieren.<br />

-<br />

Der Ausgangspunkt der Entwicklung ist der Genotyp – die<br />

Gene, die man bei der Befruchtung von seinen Eltern erbt.<br />

Nur einige dieser Gene kommen <strong>im</strong> Phänotyp, den beobachtbaren<br />

Eigenschaften eines Menschen, auch zur Ausprägung.<br />

Ob manche Gene überhaupt expr<strong>im</strong>iert werden oder nicht,<br />

ist eine Funktion von Dominanzmustern. Bei vielen Aspekten<br />

der Entwicklung ist das An- <strong>und</strong> Abschalten von Genen <strong>im</strong><br />

Zeitverlauf gr<strong>und</strong>legend. Dieser Prozess wird durch Erfahrung<br />

biochemisch über die Methylierung beeinflusst.<br />

-<br />

Die endgültige Ausprägung eines best<strong>im</strong>mten Genotyps<br />

hängt <strong>im</strong>mer von der Umwelt ab, in der er sich entwickelt.<br />

Die Eltern <strong>und</strong> ihr Verhalten gegenüber dem Kind<br />

sind markante Teile der Umwelt eines <strong>Kindes</strong>. Der eigene<br />

Genotyp der Eltern beeinflusst seinerseits ihr Verhalten<br />

ihren Kindern gegenüber. In ähnlicher Weise wird die<br />

Entwicklung eines <strong>Kindes</strong> durch die Aspekte derjenigen<br />

Umwelt beeinflusst, die sich das Kind auswählt, <strong>und</strong> durch<br />

die verschiedenartigen Reaktionen, die die Eigenschaften<br />

<strong>und</strong> Verhaltensweisen des <strong>Kindes</strong> bei anderen Menschen<br />

-<br />

hervorrufen.<br />

Die Verhaltensgenetik befasst sich mit dem gemeinsamen<br />

Einfluss genetischer <strong>und</strong> umweltbedingter Faktoren auf das<br />

Verhalten. Mithilfe einer Vielzahl von Familienuntersuchungsdesigns<br />

haben Verhaltensgenetiker eine große Bandbreite<br />

an Verhaltensmustern entdeckt, die „in der Familie<br />

liegen“. Viele Verhaltensgenetiker verwenden Erblichkeitsindizes,<br />

um die relativen Beiträge von Erbe <strong>und</strong> Umwelt auf<br />

das Verhalten statistisch abzuschätzen.<br />

-<br />

Die Entwicklung des Gehirns<br />

Ein aufblühender Bereich der Entwicklungsforschung<br />

befasst sich mit der Entwicklung des Gehirns – der komplexesten<br />

Struktur <strong>im</strong> bekannten Universum. Neurone sind<br />

die Basiseinheiten des Informationssystems Gehirn. Diese<br />

Zellen übermitteln Informationen durch elektrische Signale.<br />

Impulse von einem Neuron zu einem anderen werden<br />

-<br />

an Synapsen übertragen.<br />

Der Cortex gilt als der Teil des menschlichen Gehirns, der<br />

uns am ehesten zu dem macht, was wir sind, weil er an<br />

einer Vielzahl höherer geistiger Funktionen beteiligt ist.<br />

Verschiedene Areale des Cortex sind auf allgemeine Verhaltenskategorien<br />

spezialisiert. Der Cortex ist in zwei cerebrale<br />

Hemisphären geteilt, von denen jede auf best<strong>im</strong>mte Verarbeitungsmodalitäten<br />

spezialisiert ist; dieses Phänomen<br />

-<br />

nennt man cerebrale Lateralisierung.<br />

Die Gehirnentwicklung umfasst mehrere Prozesse; sie<br />

beginnt mit der Neurogenese <strong>und</strong> der Differenzierung von<br />

Nervenzellen. Bei der Synaptogenese, die pränatal beginnt<br />

<strong>und</strong> die ersten Jahre nach der Geburt andauert, wird<br />

eine enorme Fülle an Verbindungen zwischen Neuronen<br />

erzeugt. Durch die Zurückbildung von Synapsen werden<br />

-<br />

überzählige Verbindungen zwischen Neuronen el<strong>im</strong>iniert.<br />

Die Erfahrung spielt eine entscheidende Rolle bei der Stärkung<br />

oder El<strong>im</strong>inierung von Synapsen <strong>und</strong> somit bei der<br />

normalen Verschaltung des Gehirns. An der Feinabst<strong>im</strong>mung<br />

des Gehirns sind zum einen erfahrungserwartende<br />

Prozesse beteiligt, bei denen existierende Synapsen <strong>im</strong><br />

Zusammenhang mit derjenigen St<strong>im</strong>ulation, die praktisch<br />

jeder Mensch erfährt, erhalten bleiben, zum anderen erfahrungsabhängige<br />

Prozesse, bei denen neue Verbindungen <strong>im</strong><br />

-<br />

Zusammenhang mit Lernen gebildet werden.<br />

Plastizität bezieht sich auf die Tatsache, dass bei der<br />

normalen Entwicklung des Gehirns Umwelt <strong>und</strong> Anlage<br />

partnerschaftlich zusammenwirken. Dieser Umstand<br />

ermöglicht es dem Gehirn unter best<strong>im</strong>mten Umständen,<br />

sich als Reaktion auf eine Schädigung neu zu verschalten.<br />

Auch wird das sich entwickelnde Gehirn dadurch anfällig<br />

für das Fehlen von St<strong>im</strong>ulation in sensiblen Phasen der<br />

-<br />

Entwicklung.<br />

Die Fähigkeit des Gehirns, sich von einer Verletzung zu<br />

erholen, hängt vom Alter des <strong>Kindes</strong> ab. Schädigungen zu<br />

einem sehr frühen Zeitpunkt, wenn die Neurogenese <strong>und</strong><br />

Synaptogenese stattfinden, können besonders verheerende<br />

Auswirkungen haben. Eine Schädigung während der Vorschuljahre,<br />

wenn die El<strong>im</strong>inierung von Synapsen eintritt,<br />

wird mit geringerer Wahrscheinlichkeit andauernde Schäden<br />

bewirken.<br />

-<br />

Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des Körpers<br />

Menschen durchlaufen eine besonders lang andauernde<br />

Phase des Körperwachstums, die nicht gleichförmig<br />

verläuft, sondern durch schnelles Wachstum ganz früh <strong>im</strong><br />

Leben <strong>und</strong> dann wieder <strong>im</strong> <strong>Jugendalter</strong> gekennzeichnet ist.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erttrends wurden beobachtet, nach denen sich der<br />

-<br />

Durchschnitt von Körpergröße <strong>und</strong> Körpergewicht erhöht.<br />

Nahrungspräferenzen beginnen mit den angeborenen<br />

Reaktionen von Neugeborenen auf geschmackliche<br />

Gr<strong>und</strong>qualitäten, aber weitere Vorlieben entwickeln sich<br />

als Resultat der Erfahrung. Eltern haben einen großen<br />

Einfluss auf die Fähigkeit ihrer Kinder, ihr eigenes<br />

Essverhalten erfolgreich zu regulieren. Probleme mit der<br />

Regulation des Essens sind in den USA offenk<strong>und</strong>ig, wo<br />

die Epidemie des Übergewichts eindeutig sowohl mit<br />

Umweltfaktoren als auch mit genetischen Faktoren zusammenhängt.<br />

-<br />

In den meisten Teilen der Welt außerhalb der Industrieländer<br />

besteht das vorherrschende Problem darin, ausreichend<br />

Nahrung zu bekommen, <strong>und</strong> fast die Hälfte aller<br />

Kinder weltweit leidet an Unterernährung. Unzureichende<br />

Ernährung hängt eng mit Armut zusammen <strong>und</strong> führt zu<br />

einer Vielzahl von körperlichen <strong>und</strong> verhaltensbezogenen<br />

Problemen in praktisch jedem Aspekt des Lebens eines<br />

betroffenen <strong>Kindes</strong>. Damit Millionen von Kindern normale<br />

Gehirne <strong>und</strong> Körper entwickeln können, bedarf es Präventionsmaßnahmen<br />

gegen Unterernährung.


112<br />

Kapitel 3 • Biologie <strong>und</strong> Verhalten<br />

1<br />

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Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />

1. Ein zentraler Themenschwerpunkt dieses Kapitels war<br />

die Interaktion zwischen Anlage <strong>und</strong> Umwelt. Betrachten<br />

Sie sich <strong>und</strong> Ihre Familie (auch wenn Sie nicht bei Ihren<br />

biologischen Eltern aufgewachsen sind). Identifizieren Sie<br />

Aspekte dessen, was Sie sind <strong>und</strong> was Sie ausmacht, die<br />

jede der vier in . Abb. 3.1 beschriebenen Relationen illustrieren.<br />

(a) Wie <strong>und</strong> wann wurde Ihr Geschlecht best<strong>im</strong>mt?<br />

(b) Nennen Sie einige Allele, von denen Sie sicher oder mit<br />

relativer Überzeugung annehmen, dass Sie sie mit anderen<br />

Mitgliedern Ihrer Familie gemeinsam haben. (c) Was könnte<br />

<strong>im</strong> Verhalten Ihrer Eltern Ihnen gegenüber als Beispiel für<br />

eine Interaktion zwischen Genen <strong>und</strong> Umwelt dienen?<br />

(d) Nennen Sie ein Beispiel für Ihre aktive Auswahl Ihrer eigenen<br />

Umgebung, die Ihre weitere Entwicklung beeinflusst<br />

haben könnte. (e) Was in Ihrer Umwelt könnte epigenetischen<br />

Einfluss auf die Genexpression ausgeübt haben?<br />

2. „50 % der Intelligenz einer Person beruhen auf Vererbung<br />

<strong>und</strong> 50 % auf der Umwelt.“ Erläutern Sie, was an dieser<br />

Aussage falsch ist, <strong>und</strong> führen Sie aus, was Erblichkeitsindizes<br />

bedeuten <strong>und</strong> was sie nicht bedeuten.<br />

3. Beziehen Sie die Entwicklungsprozesse der Synaptogenese<br />

<strong>und</strong> der Synapsenel<strong>im</strong>inierung auf die Konzepte der<br />

erfahrungserwartenden <strong>und</strong> der erfahrungsabhängigen<br />

Plastizität.<br />

4. Welche Aspekte der Gehirnentwicklung könnten nach<br />

Auffassung von Forschern Einfluss auf Eigenschaften <strong>und</strong><br />

Verhaltensweisen von Jugendlichen haben?<br />

5. Denken Sie über den vergangenen Tag nach – welche Aspekte<br />

Ihrer Umwelt könnten mit der Verfettungsepidemie<br />

zusammenhängen, die wir in diesem Kapitel beschrieben<br />

haben?<br />

6. Betrachten Sie . Abb. 3.12 zur Unterernährung <strong>und</strong><br />

kognitiven Entwicklung. Stellen Sie sich ein unterernährtes<br />

sechsjähriges Kind vor, das in Deutschland lebt. Gehen Sie<br />

die Abbildung durch <strong>und</strong> erfinden Sie spezifische Beispiele<br />

dafür, was dem Kind an jeder Stelle des Diagramms passieren<br />

könnte. Und tun Sie nun dasselbe für ein sechsjähriges<br />

Kind, das in einem armen, kriegsgeschüttelten Land lebt.<br />

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117 4<br />

Theorien der kognitiven<br />

Entwicklung<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Die Theorie von Piaget – 119<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 120<br />

Zentrale Entwicklungsfragen – 121<br />

Das sensomotorische Stadium (Geburt bis zwei Jahre) – 122<br />

Das präoperationale Stadium (zwei bis sieben Jahre) – 125<br />

Das konkret-operationale Stadium (sieben bis zwölf Jahre) – 127<br />

Das formal-operationale Stadium (zwölf Jahre <strong>und</strong> älter) – 129<br />

Piagets Vermächtnis – 129<br />

Theorien der Informationsverarbeitung – 132<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 132<br />

Zentrale Entwicklungsfragen – 133<br />

Soziokulturelle Theorien – 140<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 141<br />

Zentrale Entwicklungsfragen – 142<br />

Theorien dynamischer Systeme – 144<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 146<br />

Zentrale Entwicklungsfragen – 147<br />

Zusammenfassung – 149<br />

Literatur – 150<br />

S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


118<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

© Bernadette Berg<br />

Ein sieben Monate alter Junge sitzt auf dem Schoß seines Vaters<br />

<strong>und</strong> ist von dessen Brille fasziniert, greift nach einem der Bügel<br />

<strong>und</strong> zieht daran. Der Vater sagt „Au!“, <strong>und</strong> der Junge lässt los,<br />

fasst dann aber erneut hin <strong>und</strong> zieht an der Brille. Das bringt den<br />

Vater dazu, sich zu fragen, wie er die Brillengläser in Sicherheit<br />

bringen kann, ohne dass das Kind zu weinen anfängt. Glücklicherweise<br />

kommt der Vater, ein Entwicklungspsychologe, schnell<br />

auf die Idee, dass Jean Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung<br />

eine einfache Lösung vorschlägt: Verbirg die Brille hinter<br />

dem Rücken! Nach Piagets Theorie sollte das Entfernen der Brille<br />

aus dem Sichtfeld ein Baby diesen Alters dazu bringen, sich so<br />

zu verhalten, als ob die Brille nicht mehr existierte. Die Strategie<br />

funktioniert genau wie geplant; nachdem der Vater die Brille aus<br />

dem Sichtfeld entfernt hat, zeigt der Junge kein weiteres Interesse<br />

daran <strong>und</strong> richtet seine Aufmerksamkeit woanders hin. Der Vater<br />

dankt Piaget <strong>im</strong> Stillen.<br />

Diese Erfahrung, die einer der Autoren tatsächlich machte, illustriert<br />

in kleinem Umfang, wie das Verstehen von Theorien der<br />

<strong>Kindes</strong>entwicklung praktische Vorteile haben kann. Sie illustriert<br />

auch drei weitergehende Vorteile, solche Theorien zu kennen:<br />

..<br />

Der Autor, dessen Sohn so gern nach seiner Brille griff, ist nicht der Einzige,<br />

dem dieses Problem begegnet ist. Wenn die Mutter auf diesem Foto dieses<br />

Buch gelesen hätte, dann hätte sie das Problem wohl ebenso gelöst. (© Elisabeth<br />

Crews/ The Image Works)<br />

1. Entwicklungstheorien bieten einen Rahmen, um wichtige Phänomene<br />

zu verstehen: Theorien weisen auf die Bedeutung von<br />

Beobachtungen in Forschungsuntersuchungen ebenso wie<br />

<strong>im</strong> Alltagsleben hin. Ein Zuschauer, der die Situation mit der<br />

Brille beobachtet, ohne die Theorie Piagets zu kennen, findet<br />

das Erlebnis vielleicht amüsant, aber belanglos. Innerhalb<br />

der Theorie Piagets verdeutlicht diese flüchtige Begebenheit<br />

jedoch ein sehr allgemeines <strong>und</strong> überaus wichtiges Entwicklungsphänomen:<br />

Kinder unter acht Monaten reagieren auf<br />

das Verschwinden eines Objekts so, als ob sie nicht verstehen<br />

würden, dass das Objekt <strong>im</strong>mer noch existiert; sie besitzen<br />

noch keine Vorstellung von Objektpermanenz. Theorien der<br />

<strong>Kindes</strong>entwicklung setzen best<strong>im</strong>mte Erfahrungen <strong>und</strong> Beobachtungen<br />

somit in einen breiteren Zusammenhang <strong>und</strong><br />

vertiefen unser Verständnis für deren Bedeutung.<br />

2. Entwicklungstheorien werfen wichtige Fragen über das Wesen<br />

des Menschen auf: Piagets Theorie über die Reaktionen von<br />

Kleinkindern auf verschwindende Gegenstände beruhte auf<br />

seinen nicht exper<strong>im</strong>entell kontrollierten Beobachtungen mit<br />

Kindern unter acht Monaten. Piaget verbarg einen Lieblingsgegenstand<br />

unter einem Tuch oder brachte ihn anderweitig


Die Theorie von Piaget<br />

119 4<br />

außer Sichtweite <strong>und</strong> wartete ab, ob seine Kinder versuchen<br />

würden, den Gegenstand wiederzufinden. Das taten sie selten.<br />

Bis zu diesem Alter, so schloss Piaget, begreifen Kinder<br />

nicht, dass es die verdeckten Gegenstände <strong>im</strong>mer noch gibt.<br />

Andere Forscher stellten diese Erklärung in Frage <strong>und</strong> argumentierten,<br />

Kinder unter acht Monaten verstünden durchaus,<br />

dass verborgene Gegenstände weiterhin existieren; aber<br />

ihnen fehlten die erforderlichen Gedächtnis- oder Problemlösefähigkeiten,<br />

um gemäß ihrem Verständnis zu handeln<br />

<strong>und</strong> die verborgenen Gegenstände wieder hervorzuholen<br />

(Baillargeon 1993). Trotz solcher Unst<strong>im</strong>migkeiten darüber,<br />

wie das Versagen der Kinder be<strong>im</strong> Wiederfinden verborgener<br />

Gegenstände am besten zu interpretieren sei, sind sich<br />

alle Forscher einig, dass Piagets Theorie eine entscheidende<br />

Frage über das Wesen des Menschen aufwirft: Erkennen Kinder<br />

von den ersten Tagen ihres Lebens an, dass Objekte auch<br />

dann weiterexistieren, wenn diese außer Sichtweite sind, oder<br />

lernen sie das erst später? Und noch bedeutsamer: Verstehen<br />

Kleinkinder, dass Menschen weiterhin existieren, wenn sie<br />

nicht zu sehen sind? Fürchten sie, dass die Mutter verschw<strong>und</strong>en<br />

ist, wenn sie nicht mehr zu sehen ist?<br />

3. Entwicklungstheorien führen zu einem besseren Verstehen von<br />

Kindern: Theorien regen auch zu neuen Untersuchungen an,<br />

deren Bef<strong>und</strong>e die ursprünglichen Annahmen stützen oder<br />

nicht stützen oder weitere Differenzierung erfordern, <strong>und</strong><br />

verbessern dadurch das Verstehen von Kindern. Beispielsweise<br />

veranlassten Piagets Ideen Munakata et al. (1997) zu<br />

testen, ob die Unfähigkeit sieben Monate alter Kinder, nach<br />

verdeckten Gegenständen zu greifen, an fehlender Motivation<br />

oder daran lag, dass sie nicht geschickt genug waren,<br />

so zu greifen, dass sie die Gegenstände erreichen. Um das<br />

zu prüfen, schufen die Forscher eine ähnliche Situation wie<br />

Piaget bei seinen Untersuchungen zur Objektpermanenz,<br />

nur dass sie das Objekt, ein attraktives Spielzeug, unter einer<br />

durchsichtigen Hülle „versteckten“. In dieser Situation<br />

nahmen die Kinder die Hülle schnell weg <strong>und</strong> nahmen das<br />

Spielzeug wieder in Besitz, womit sie zeigten, dass sie sowohl<br />

hinreichend motiviert als auch hinreichend geschickt waren,<br />

um das Objekt wiederzuerlangen. Dieser Bef<strong>und</strong> schien Piagets<br />

ursprüngliche Interpretation zu stützen.<br />

Im Gegensatz dazu wies ein von Diamond (1985) durchgeführtes<br />

Exper<strong>im</strong>ent auf die Notwendigkeit hin, Piagets Theorie zu modifizieren.<br />

Diamond verwendete wie Piaget eine <strong>und</strong>urchsichtige<br />

Abdeckung <strong>und</strong> variierte die Zeit zwischen dem Verstecken des<br />

Spielzeugs <strong>und</strong> dem Moment, in dem das Kind danach greifen<br />

durfte. Sie fand, dass schon sechs Monate alte Kinder das Spielzeug<br />

ausfindig machen konnten, wenn sie sofort danach greifen<br />

durften, dass sieben Monate alte Kinder bis zu 2 s warten konnten<br />

<strong>und</strong> dennoch erfolgreich waren, dass acht Monate alte Kinder<br />

auch nach 4 s noch erfolgreich waren <strong>und</strong> so weiter. Diamonds<br />

Bef<strong>und</strong> wies darauf hin, dass auch die Erinnerung an die Platzierung<br />

des versteckten Objekts – <strong>und</strong> nicht nur die Erkenntnis,<br />

dass dieses weiterhin existiert – für den Erfolg bei der Aufgabe<br />

entscheidend ist. Summa summarum sind Theorien der <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

hilfreich, weil sie eine Rahmenkonzeption für das<br />

Verständnis wichtiger Phänomene bieten, weil sie gr<strong>und</strong>legende<br />

Fragen über das Wesen des Menschen aufwerfen <strong>und</strong> weil sie<br />

neue Forschungen anregen, die unser Verstehen von Kindern<br />

erweitern.<br />

Weil die <strong>Kindes</strong>entwicklung ein hoch komplexer <strong>und</strong> variationsreicher<br />

Prozess ist, kann keine einzelne Theorie alles erklären.<br />

Die aufschlussreichsten aktuellen Theorien konzentrieren sich<br />

vorrangig auf die kognitive oder aber auf die soziale Entwicklung.<br />

Es stellt eine <strong>im</strong>mense Herausforderung dar, in dem einen<br />

wie dem anderen Bereich einen guten theoretischen Ansatz zur<br />

Entwicklung vorzulegen, weil sich in beiden Fällen eine große<br />

Bandbreite an Themen aufspannt. Die kognitive Entwicklung<br />

umfasst die Entstehung solch verschiedenartiger Fähigkeiten<br />

wie der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit, der Sprache, des<br />

Problemlösens, des logischen Denkens, des Gedächtnisses, des<br />

begrifflichen Verstehens <strong>und</strong> der Intelligenz. Die soziale Entwicklung<br />

umfasst das Wachstum in ebenso vielen unterschiedlichen<br />

Bereichen: Emotionen, Persönlichkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen<br />

<strong>und</strong> Familienmitgliedern, Selbstverständnis, Aggression<br />

<strong>und</strong> moralisches Verhalten. Betrachtet man die <strong>im</strong>mense Bandbreite<br />

von Entwicklungsbereichen, so kann man leicht verstehen,<br />

warum keine der Theorien allein die <strong>Kindes</strong>entwicklung in<br />

Gänze erfasst.<br />

Deshalb stellen wir die kognitiven <strong>und</strong> die sozialen Theorien<br />

in getrennten Kapiteln vor. Wir behandeln die Theorien<br />

der kognitiven Entwicklung in diesem Kapitel, unmittelbar vor<br />

den Kapiteln zu spezifischen Bereichen der kognitiven Entwicklung,<br />

<strong>und</strong> behandeln die Theorien der sozialen Entwicklung in<br />

▶ Kap. 9, unmittelbar vor den Kapiteln zu spezifischen Bereichen<br />

der sozialen Entwicklung.<br />

Im vorliegenden Kapitel werden vier besonders einflussreiche<br />

Theorien der kognitiven Entwicklung untersucht: die Theorie<br />

Piagets, der Informationsverarbeitungsansatz, die soziokulturelle<br />

Perspektive <strong>und</strong> die Perspektive dynamischer Systeme. Bei jeder<br />

dieser fünf Positionen fragen wir, auf welchen Gr<strong>und</strong>annahmen<br />

über das Wesen von Kindern die Theorie basiert <strong>und</strong> auf welche<br />

Fragestellungen sie sich konzentriert, <strong>und</strong> geben praktische Beispiele<br />

für ihre pädagogische Brauchbarkeit.<br />

Die genannten vier theoretischen Perspektiven sind zum<br />

großen Teil deshalb so einflussreich, weil sie wichtige Einblicke<br />

in jene Gr<strong>und</strong>fragen der Entwicklung gewähren, die in ▶ Kap. 1<br />

beschrieben wurden. Jede Theorie spricht zu einem gewissen<br />

Grad alle Themen an, doch hebt jede unterschiedliche Themen<br />

besonders hervor. Piagets Theorie beispielsweise konzentriert<br />

sich auf Fragen nach der Kontinuität/Diskontinuität von Entwicklung<br />

<strong>und</strong> nach dem aktiven Kind, während sich Informationsverarbeitungstheorien<br />

auf die Mechanismen der Veränderung<br />

konzentrieren (. Tab. 4.1). Zusammen erlauben die vier Theorien<br />

ein breiteres Verständnis der kognitiven Entwicklung als jede<br />

einzelne für sich genommen.<br />

Die Theorie von Piaget<br />

Jean Piagets Untersuchungen der kognitiven Entwicklung sind<br />

ein Zeugnis dafür, wie viel ein einzelner Mensch zu einem wissenschaftlichen<br />

Gebiet beizutragen vermag. Bevor seine Arbeiten<br />

in den frühen 1920er Jahren erschienen, gab es kein erkennbares


120<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

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..<br />

Tab. 4.1 Zentrale Fragen, die von den Theorien der kognitiven<br />

Entwicklung behandelt werden<br />

Theorie<br />

Piaget<br />

Informationsverarbeitung<br />

Soziokulturell<br />

Dynamische Systeme<br />

Behandelte zentrale Fragen<br />

Anlage–Umwelt<br />

Kontinuität/Diskontinuität<br />

Das aktive Kind<br />

Anlage–Umwelt<br />

Mechanismen der Veränderung<br />

Anlage–Umwelt<br />

Einfluss des soziokulturellen Kontexts<br />

Mechanismen der Veränderung<br />

Anlage–Umwelt<br />

Das aktive Kind<br />

Mechanismen der Veränderung<br />

Forschungsfeld zur kognitiven Entwicklung. Fast ein Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

später ist Piagets Theorie in einem mit Theorien reichlich ausgestatteten<br />

Bereich die bekannteste geblieben. Wie lässt sich diese<br />

Langlebigkeit erklären?<br />

Ein Gr<strong>und</strong> besteht darin, dass Piagets Beobachtungen <strong>und</strong><br />

Beschreibungen von Kindern die Atmosphäre ihres Denkens<br />

in verschiedenen Altersstufen lebhaft vermitteln. Ein weiterer<br />

Gr<strong>und</strong> liegt in der außergewöhnlichen Breite der Theorie. Sie<br />

erstreckt sich von den ersten Kindheitstagen durch das <strong>Jugendalter</strong><br />

hindurch <strong>und</strong> untersucht so unterschiedliche Themen wie<br />

die Konzeptualisierung der Zeit, des Raumes <strong>und</strong> der Entfernung<br />

sowie der Zahl, den Sprachgebrauch, das Gedächtnis, das Verstehen<br />

der Perspektiven anderer Menschen, das Problemlösen <strong>und</strong><br />

das wissenschaftliche Schlussfolgern. Bis heute stellt sie damit<br />

die umfassendste Theorie der kognitiven Entwicklung dar. Eine<br />

weitere dritte Quelle ihrer Langlebigkeit besteht darin, dass sie<br />

die Wechselwirkung von Anlage <strong>und</strong> Umwelt bei der kognitiven<br />

Entwicklung intuitiv plausibel darstellt, ebenso wie die der Kontinuitäten<br />

<strong>und</strong> Diskontinuitäten, die intellektuelles Wachstum<br />

kennzeichnen.<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />

Piagets gr<strong>und</strong>legende Annahme über Kinder besteht darin, dass<br />

sie von Geburt an geistig ebenso aktiv sind wie körperlich <strong>und</strong><br />

dass ihre Aktivität stark zu ihrer eigenen Entwicklung beiträgt.<br />

Sein Ansatz wird oft konstruktivistisch genannt, weil er Kinder so<br />

darstellt, dass sie als Reaktion auf ihre Erfahrungen selbst Wissen<br />

konstruieren. Drei der wichtigsten konstruktiven Prozesse von<br />

Kindern sind nach Piaget das Hypothesenbilden, das Exper<strong>im</strong>entieren<br />

<strong>und</strong> das Schlussfolgern aus eigenen Beobachtungen. Es ist<br />

nicht zufällig, dass diese Beschreibung an das wissenschaftliche<br />

Problemlösen erinnert: Das „Kind als Wissenschaftler“ ist die<br />

dominante Metapher in Piagets Theorie. Betrachten wir folgende<br />

Beschreibung seines kleinen Sohnes:<br />

» Laurent [liegt] auf dem Rücken. […] Er ergreift nacheinander<br />

einen Schwan aus Zelluloid, eine Schachtel usw., streckt den<br />

Arm aus <strong>und</strong> lässt sie fallen. Dabei variiert er ganz deutlich die<br />

Fallstellungen. […] Wenn der Gegenstand auf einen neuen<br />

Platz fällt (z. B. auf das Kopfkissen), lässt er ihn zwe<strong>im</strong>al oder<br />

dre<strong>im</strong>al hintereinander auf diesen Ort fallen, wie um diese<br />

spezielle [d. h. räumliche] Relation genau zu studieren (Piaget<br />

1996, S. 272).<br />

In einfachen Aktivitäten wie Laurents Spiel „Lass das Spielzeug von<br />

verschiedenen Punkten aus fallen <strong>und</strong> sieh, was passiert“ erkannte<br />

Piaget den Beginn des wissenschaftlichen Exper<strong>im</strong>entierens.<br />

Dieses Beispiel zeigt auch eine zweite Gr<strong>und</strong>annahme Piagets:<br />

Kinder lernen viele wichtige Lektionen selbst <strong>und</strong> sind nicht<br />

auf die Instruktion von Erwachsenen oder älteren Kindern angewiesen.<br />

Um diesen Aspekt weiter zu illustrieren, zitierte Piaget<br />

eine Erinnerung eines Fre<strong>und</strong>es an seine Kindheit:<br />

» Als kleines Kind hatte er einmal Kieselsteine gezählt; er hatte<br />

sie in eine Zeile gelegt, von links nach rechts gezählt <strong>und</strong> war<br />

auf zehn gekommen. Nur so zum Spaß zählte er sie anschließend<br />

von rechts nach links, um zu sehen, welche Zahl er jetzt<br />

erhalten würde, <strong>und</strong> war erstaunt, als er wieder auf zehn kam.<br />

Er legte die Kiesel dann in einen Kreis, zählte sie, <strong>und</strong> wieder<br />

waren es zehn. Er zählte den Kreis in der anderen Richtung<br />

durch <strong>und</strong> zählte auch auf diese Weise zehn. Und wie auch<br />

<strong>im</strong>mer er die Kiesel anordnete, wenn er sie zählte, kam er<br />

jedes Mal bis zur Zahl zehn (Piaget 1973, S. 24).<br />

Diese Begebenheit beleuchtet auch eine dritte Gr<strong>und</strong>annahme<br />

Piagets: Kinder sind von sich aus (intrinsisch) motiviert zu lernen<br />

<strong>und</strong> bedürfen dazu nicht der Belohnung Erwachsener. Sobald<br />

sie eine neue Fähigkeit erworben haben, wenden sie diese so oft<br />

wie möglich an. Auch denken sie darüber nach, was sie aus ihrer<br />

Erfahrung lernen können, weil sie sich selbst <strong>und</strong> alles um sich<br />

herum verstehen wollen.<br />

..<br />

Jean Piaget, dessen Arbeiten die <strong>Entwicklungspsychologie</strong> nachhaltig<br />

beeinflusst haben, interviewt auf diesem Foto ein Kind, um etwas über das<br />

kindliche Denken zu erfahren. (© Photo Researchers/Getty Images)


Die Theorie von Piaget<br />

121 4<br />

Zentrale Entwicklungsfragen<br />

Zusätzlich zu der Einsicht, dass Kinder ihre eigene Umwelt aktiv<br />

formen, eröffnete Piaget wichtige Einblicke in die Rollen von<br />

Anlage <strong>und</strong> Umwelt sowie von Kontinuität <strong>und</strong> Diskontinuität<br />

bei der Entwicklung.<br />

Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

Piaget nahm an, dass Anlage <strong>und</strong> Umwelt bei der kognitiven Entwicklung<br />

zusammenspielen. In seiner Sicht umfasst die Umwelt<br />

nicht nur die Erziehung durch die Eltern <strong>und</strong> andere Betreuungspersonen,<br />

sondern jede Erfahrung, die das Kind macht. Zur<br />

Anlage gehören das reifende Gehirn <strong>und</strong> der reifende Körper des<br />

<strong>Kindes</strong>; die Fähigkeit wahrzunehmen, zu handeln <strong>und</strong> aus der<br />

Erfahrung zu lernen; <strong>und</strong> die Tendenz, einzelne Beobachtungen<br />

in einen Wissenszusammenhang zu integrieren. Wie diese Beschreibung<br />

zeigt, gehört es zum angeborenen Wesen des <strong>Kindes</strong>,<br />

auf seine Umwelt zu reagieren.<br />

Quellen der Kontinuität<br />

Nach Piagets Beschreibung sind an der Entwicklung sowohl kontinuierliche<br />

als auch diskontinuierliche Prozesse beteiligt. Die<br />

wichtigsten Quellen der Kontinuität sind drei Prozesse, die von<br />

Geburt an zusammenwirken, um die Entwicklung voranzutreiben:<br />

Ass<strong>im</strong>ilation, Akkommodation <strong>und</strong> Äquilibration.<br />

Ass<strong>im</strong>ilation ist der Prozess, bei dem Menschen eingehende<br />

Informationen in Konzepte einfügen, die sie schon verstehen.<br />

Zur Illustration: Als eines unserer Kinder zwei Jahre alt war, sah<br />

es einen Mann, der oben auf dem Kopf eine Glatze hatte <strong>und</strong> langes,<br />

krauses Haar an den Seiten. Zum Schrecken seines Vaters rief<br />

der Kleine vergnügt: „Clown, Clown!“ (Allerdings klang es eher<br />

wie „kaun, kaun“.) Der Mann sah offenbar einem Clown hinreichend<br />

ähnlich, sodass der Junge ihn in sein Clown-Konzept<br />

ass<strong>im</strong>ilieren konnte.<br />

Ass<strong>im</strong>ilation – Der Prozess, bei dem Menschen eintreffende Informationen<br />

in eine Form umsetzen, die mit den bereits verstandenen Konzepten übereinst<strong>im</strong>mt.<br />

Akkommodation ist der Prozess, bei dem Menschen vorhandene<br />

Wissensstrukturen in Reaktion auf neue Erfahrungen anpassen.<br />

Bei dem Clown-Vorfall erklärte der Vater seinem Sohn, dass der<br />

Mann kein Clown sei; zwar sehe sein Haar aus wie das eines<br />

Clowns, aber er trage kein lustiges Kostüm <strong>und</strong> mache keine<br />

komischen Sachen, um die Leute zum Lachen zu bringen. Mit<br />

dieser neuen Information konnte der Junge seine Vorstellung an<br />

das übliche Konzept von „Clown“ anpassen, was andere Männer<br />

mit Glatze <strong>und</strong> langem Seitenhaar in Zukunft unbehelligt an ihm<br />

vorbeigehen ließ.<br />

Akkommodation – Der Prozess, bei dem Menschen die vorhandenen Wissensstrukturen<br />

als Reaktion an neue Erfahrungen anpassen.<br />

Äquilibration ist der Prozess, bei dem Menschen Ass<strong>im</strong>ilation<br />

<strong>und</strong> Akkommodation ausbalancieren, um stabile Verstehensprozesse<br />

zu schaffen. Zur Äquilibration gehören drei Phasen:<br />

Anfangs sind Kinder mit ihrem Verständnis eines Phänomens<br />

zufrieden; Piaget bezeichnete diesen Zustand als Äquilibrium,<br />

weil die Kinder keinerlei Diskrepanzen zwischen ihren Beobachtungen<br />

<strong>und</strong> ihrem Verständnis des Phänomens sehen. Dann<br />

bemerken die Kinder aufgr<strong>und</strong> neuer Informationen, dass ihr<br />

Verständnis unzureichend ist; Piaget sagte, dass sich Kinder zu<br />

diesem Zeitpunkt in einem Zustand des Disäquilibriums befinden,<br />

weil sie die Unzulänglichkeiten ihrer bisherigen Verstehensstrukturen<br />

des Phänomens erkennen, aber noch keine bessere<br />

Alternative entwickeln können. Schließlich entwickeln Kinder<br />

ein differenzierteres Verständnis, das die Unzulänglichkeiten der<br />

bisherigen Verstehensstrukturen überwindet. Dieses neue Verstehen<br />

ermöglicht ein stabileres Äquilibrium in dem Sinne, dass<br />

damit nun ein breiterer Bereich von Beobachtungen verstanden<br />

werden kann.<br />

Äquilibration – Der Prozess, bei dem Kinder (<strong>und</strong> andere Menschen) Ass<strong>im</strong>ilation<br />

<strong>und</strong> Akkommodation ausbalancieren, um ein stabiles Verstehen zu<br />

schaffen.<br />

Als Beispiel dafür, wie Äquilibration funktioniert, betrachten wir<br />

eine Überzeugung, die die meisten Vier- bis Siebenjährigen in<br />

einer großen Zahl von Kulturen äußern (Inagaki <strong>und</strong> Hatano<br />

2008), nämlich dass Tiere die einzigen Lebewesen seien. Diese<br />

Überzeugung scheint aus der Annahme zu erwachsen, dass nur<br />

Tiere sich auf eine Weise bewegen können, die für sie lebenswichtig<br />

ist. Früher oder später werden sie erkennen, dass sich auch<br />

Pflanzen so bewegen, dass es zu ihrem Überleben beiträgt (z. B.<br />

zum Sonnenlicht hin). Diese neue Information wäre durch einfache<br />

Ass<strong>im</strong>ilation schwer in ihr bisheriges Denken zu integrieren.<br />

Die resultierende Diskrepanz zwischen dem bisherigen Verständnis<br />

von lebenden Wesen <strong>und</strong> ihrem neuen Wissen über Pflanzen<br />

würde in den Kindern einen Zustand des Disäquilibriums erzeugen,<br />

in dem sie sich unsicher wären, was es bedeutet, lebendig zu<br />

sein. Später würde sich ihr Denken an die neue Information über<br />

Pflanzen akkommodieren. Sie würden also erkennen, dass sich<br />

sowohl Tiere als auch Pflanzen in Anpassung an ihre Lebensbedingungen<br />

bewegen <strong>und</strong> dass, weil diese Art der Bewegung ein<br />

Schlüsselmerkmal lebender Wesen ist, Pflanzen ebenso lebendig<br />

sein müssen wie Tiere (Opfer <strong>und</strong> Gelman 2001; Opfer <strong>und</strong> <strong>Siegler</strong><br />

2004). Diese Einsicht erzeugt ein stabileres Gleichgewicht,<br />

weil weitere Informationen über Pflanzen <strong>und</strong> Tiere ihr nicht<br />

widersprechen. Durch unzählige solcher Äquilibrationen erweitern<br />

Kinder ihr Verständnis der sie umgebenden Welt.<br />

Quellen der Diskontinuität<br />

Auch wenn Piaget einigen Nachdruck auf die kontinuierlichen<br />

Aspekte der geistigen Entwicklung legte, bezieht sich der berühmteste<br />

Teil seiner Theorie auf diskontinuierliche Aspekte,<br />

die er als unterschiedliche Stufen der kognitiven Entwicklung<br />

beschrieb. Piaget sah diese Stufen als Produkte der gr<strong>und</strong>legenden<br />

menschlichen Tendenz, Wissen in kohärente Strukturen einzuordnen.<br />

Jede Stufe repräsentiert eine in sich schlüssige Art, die<br />

eigenen Erfahrungen zu verstehen, <strong>und</strong> jeder Übergang zwischen<br />

Stufen repräsentiert einen diskontinuierlichen intellektuellen<br />

Sprung von einer kohärenten Art des Verstehens zur nächsthöhe-


122<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

1<br />

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ren. Die zentralen Eigenschaften von Piagets Stufentheorie lassen<br />

sich wie folgt benennen:<br />

1. Qualitative Veränderung: Piaget glaubte, dass Kinder verschiedenen<br />

Alters auf qualitativ unterschiedliche Weise denken.<br />

Zum Beispiel nahm er an, dass Kinder in den frühen Stadien<br />

der kognitiven Entwicklung Moral an den Konsequenzen<br />

des Verhaltens einer Person messen, während Kinder in<br />

späteren Stadien die Absicht der Person für eine moralische<br />

Beurteilung heranziehen. Ein Fünfjähriger würde jemanden,<br />

der unbeabsichtigt eine Glasschale mit Keksen fallen lässt, als<br />

„unartiger“ einschätzen als jemanden, der absichtlich <strong>und</strong><br />

he<strong>im</strong>lich einen Keks daraus nascht; ein Achtjähriger käme zu<br />

dem umgekehrten Schluss. Dieser Unterschied repräsentiert<br />

eine qualitative Veränderung, weil die beiden Kinder ihre moralischen<br />

Urteile auf völlig verschiedene Kriterien gründen.<br />

2. Breite Anwendbarkeit: Die jeweilige Art des Denkens, die für<br />

eine Stufe charakteristisch ist, durchdringt das Denken des<br />

<strong>Kindes</strong> über ganz verschiedene Themen <strong>und</strong> Kontexte hinweg.<br />

3. Kurze Übergangszeiten: Bevor sie eine neue Stufe erreichen,<br />

durchlaufen Kinder eine kurze Übergangsphase, in der sie<br />

zwischen der Art des Denkens auf der neuen, fortgeschritteneren<br />

Stufe <strong>und</strong> der Art des Denkens, wie sie die alte, weniger<br />

entwickelte Stufe kennzeichnet, hin <strong>und</strong> her schwanken.<br />

4. Invariante Abfolge: Jeder Mensch durchläuft die Stufen in derselben<br />

Reihenfolge, ohne jemals eine Stufe zu überspringen.<br />

Piaget nahm an, dass Kinder vier Stadien der geistigen Entwicklung<br />

durchlaufen: das sensomotorische Stadium, das präoperationale<br />

Stadium, das konkret-operationale Stadium <strong>und</strong> das formaloperationale<br />

Stadium. In jedem Stadium legen Kinder neue<br />

Fähigkeiten an den Tag, die es ihnen ermöglichen, die Welt auf<br />

qualitativ andere Weise zu verstehen als zuvor.<br />

1. Im sensomotorischen Stadium (von der Geburt bis zum Alter<br />

von zwei Jahren) entwickelt sich die Intelligenz der Kinder<br />

durch ihre sensorischen <strong>und</strong> motorischen Fähigkeiten <strong>und</strong><br />

drückt sich in diesen aus. Sie gebrauchen diese Fähigkeiten,<br />

um ihre Umgebung wahrzunehmen <strong>und</strong> zu erforschen. Aufgr<strong>und</strong><br />

dieser Fähigkeit können sie etwas über die Gegenstände<br />

<strong>und</strong> Menschen lernen <strong>und</strong> rud<strong>im</strong>entäre Formen gr<strong>und</strong>legender<br />

Konzepte wie Zeit, Raum <strong>und</strong> Kausalität konstruieren.<br />

Während des sensomotorischen Stadiums leben Kleinkinder<br />

weitestgehend <strong>im</strong> Hier <strong>und</strong> Jetzt: Ihre Intelligenz ist an ihre<br />

unmittelbaren Wahrnehmungen <strong>und</strong> Handlungen geb<strong>und</strong>en.<br />

2. Im präoperationalen Stadium (zwei bis sieben Jahre) werden<br />

die Kinder fähig, ihre Erfahrungen in Form von Sprache<br />

<strong>und</strong> geistigen Vorstellungen zu repräsentieren. Dadurch ist<br />

es ihnen möglich, sich über längere Zeiträume an ihre Erfahrungen<br />

zu erinnern <strong>und</strong> differenziertere Konzepte zu bilden.<br />

Wie der Begriff präoperational jedoch nahelegt, betont Piaget,<br />

Kinder seien in diesem Stadium noch nicht in der Lage,<br />

mentale Operationen wie etwa das gleichzeitige In-Betracht-<br />

Ziehen verschiedener D<strong>im</strong>ensionen auszuführen. Infolgedessen<br />

sind die Kinder nicht <strong>im</strong>stande, best<strong>im</strong>mte Gedanken zu<br />

formen, etwa die Vorstellung zu entwickeln, dass die Wassermenge<br />

unverändert bleibt, wenn man Wasser von einem<br />

breiten Glas in ein schmaleres, höheres Glas umschüttet. Mit<br />

anderen Worten, sie erkennen nicht, dass die größere Höhe<br />

der Wassersäule in dem schmaleren Glas durch den kleineren<br />

Durchmesser kompensiert wird.<br />

3. Im konkret-operationalen Stadium (sieben bis zwölf Jahre)<br />

können Kinder über konkrete Gegenstände <strong>und</strong> Ereignisse<br />

logisch schlussfolgern; sie verstehen beispielsweise, dass<br />

die Wassermenge be<strong>im</strong> Umschütten von einem Glas in ein<br />

schmaleres höheres Glas unverändert bleibt. Es fällt ihnen<br />

jedoch schwer, in rein abstrakten Begriffen zu denken <strong>und</strong><br />

wissenschaftliche Exper<strong>im</strong>ente zu entwickeln, um ihre Annahmen<br />

zu prüfen.<br />

4. Im letzten Stadium der kognitiven Entwicklung, dem formaloperationalen<br />

Stadium (zwölf Jahre <strong>und</strong> älter), können Kinder<br />

nicht nur über konkrete Ereignisse intensiv nachdenken,<br />

sondern auch über Abstraktionen <strong>und</strong> rein hypothetische Situationen.<br />

Sie können systematische wissenschaftliche Exper<strong>im</strong>ente<br />

durchführen <strong>und</strong> daraus die angemessenen Schlüsse<br />

ziehen, selbst wenn diese Schlüsse von ihren ursprünglichen<br />

Annahmen abweichen.<br />

Sensomotorisches Stadium – In Piagets Theorie die Phase (Geburt bis zwei<br />

Jahre), in der Intelligenz über sensorische <strong>und</strong> motorische Fähigkeiten zum<br />

Ausdruck kommt.<br />

Präoperationales Stadium – In Piagets Theorie die Phase (zwei bis sieben<br />

Jahre), in der Kinder fähig werden, ihre Erfahrungen in Form von Sprache, geistigen<br />

Vorstellungen <strong>und</strong> symbolischem Denken zu repräsentieren.<br />

Konkret-operationales Stadium – In Piagets Theorie die Phase (sieben bis<br />

zwölf Jahre), in der Kinder fähig werden, über konkrete Objekte <strong>und</strong> Ereignisse<br />

logisch nachzudenken.<br />

Formal-operationales Stadium – In Piagets Theorie die Phase (zwölf Jahre <strong>und</strong><br />

älter), in der Menschen fähig werden, abstrakt <strong>und</strong> hypothetisch zu denken.<br />

Nach diesem Überblick über die Theorie Piagets können wir nun<br />

einige der wichtigsten Veränderungen, die in jedem Stadium eintreten,<br />

<strong>im</strong> Detail betrachten.<br />

Das sensomotorische Stadium (Geburt bis zwei<br />

Jahre)<br />

Eine der tiefsten Einsichten Piagets bestand darin, dass er die<br />

Wurzeln der Intelligenz erwachsener Menschen in den frühesten<br />

Verhaltensweisen Neugeborener erkannte, in ihrem anscheinend<br />

ziellosen Saugen, den Greif- <strong>und</strong> Strampelbewegungen. Er stellte<br />

fest, dass diese Verhaltensweisen nicht zufällig sind, sondern einen<br />

frühen Intelligenztyp widerspiegeln, der die sensorische <strong>und</strong><br />

motorische Aktivität beinhaltet. Viele der klarsten Beispiele für<br />

das Thema des aktiven <strong>Kindes</strong> stammen aus Piagets Beschreibungen<br />

der „sensomotorische Intelligenz“.<br />

Im Verlauf der ersten beiden Lebensjahre entwickelt sich Piaget<br />

zufolge die sensomotorische Intelligenz der Kinder enorm.<br />

Schon das bloße Ausmaß der Veränderung mag zunächst erstaunlich<br />

erscheinen. Denkt man jedoch daran, dass die Kinder in dieser<br />

Zeitspanne eine riesigen Bandbreite von neuen Erfahrungen<br />

machen <strong>und</strong> sich das Gewicht des Gehirns von der Geburt bis<br />

zum Alter von drei Jahren verdreifacht (wobei das Gewicht als<br />

Indikator für die Entwicklung des Gehirns in dieser Phase gelten


Die Theorie von Piaget<br />

123 4<br />

kann), so wird der <strong>im</strong>mense Zuwachs an kognitiven Fähigkeiten<br />

verständlicher. Die tiefgreifenden Entwicklungen, die Piaget für<br />

den Verlauf des Säuglings- <strong>und</strong> Kleinkindalters konstatiert, machen<br />

auf ein allgemeines Prinzip aufmerksam: Das Denken des<br />

<strong>Kindes</strong> entwickelt sich in den ersten Lebensjahren besonders rasant.<br />

Babys werden mit vielen Reflexen geboren. Wenn sich Objekte<br />

vor ihren Augen bewegen, folgen ihre Augen der Bewegung;<br />

wenn man ihnen Objekte in den M<strong>und</strong> steckt, saugen sie daran;<br />

wenn Objekte mit ihren Händen in Berührung kommen, greifen<br />

sie zu; wenn sie Geräusche hören, drehen sie ihren Kopf in Richtung<br />

Geräuschquelle, <strong>und</strong> so weiter. Piaget glaubte, dass diese<br />

einfachen Reflexe <strong>und</strong> Wahrnehmungsfähigkeiten wesentliche<br />

Werkzeuge für den Aufbau der Intelligenz sind.<br />

Schon <strong>im</strong> ersten Lebensmonat fangen Säuglinge an, ihre Reflexe<br />

zu modifizieren, um sie besser anzupassen. Bei der Geburt<br />

beispielsweise saugen sie, egal woran, <strong>im</strong>mer auf dieselbe Weise.<br />

Innerhalb von ein paar Wochen ändern sie ihr Saugverhalten<br />

jedoch <strong>und</strong> passen es dem Objekt an, das sich gerade in ihrem<br />

M<strong>und</strong> befindet. An einer Milch gebenden Brustwarze saugen sie<br />

so, dass sie effizienter satt werden, <strong>und</strong> deutlich anders als an einem<br />

Finger oder einem Nuckel. Dieses Beispiel zeigt, dass Kinder<br />

ihre Handlungen vom ersten Tag außerhalb des Mutterleibes auf<br />

diejenigen Teile ihrer Umwelt einstellen (akkommodieren), mit<br />

denen sie es gerade zu tun haben.<br />

Im Lauf der ersten Lebensmonate beginnt das Kind, einzelne<br />

Reflexe zu größeren Verhaltenseinheiten zu organisieren, von<br />

denen die meisten auf den eigenen Körper zentriert sind. Statt<br />

auf zwei getrennte Reflexe beschränkt zu sein, etwa das Greifen,<br />

wenn Objekte ihre Handfläche berühren, <strong>und</strong> das Saugen,<br />

wenn Objekte in ihren M<strong>und</strong> gelangen, gelingt es den Babys nun,<br />

diese Handlungen zu integrieren. Wenn ein Gegenstand ihre<br />

Handfläche berührt, können sie ihn ergreifen <strong>und</strong> zum M<strong>und</strong><br />

führen. Ihre Reflexe dienen also als Bausteine für komplexeres<br />

Verhalten.<br />

In der Mitte des ersten Lebensjahres interessieren sich die<br />

Kinder zunehmend für die Welt um sie herum – für Menschen,<br />

Tiere, Spielzeuge <strong>und</strong> andere Objekte <strong>und</strong> für Ereignisse außerhalb<br />

ihres eigenen Körpers. Ein besonderes Kennzeichen dieser<br />

Wandlung ist die Wiederholung von Handlungen, die angenehme<br />

oder interessante Ergebnisse mit sich bringen. Das endlos<br />

wiederholte Schütteln einer Rassel oder Drücken einer Quietschente<br />

beispielsweise gehört zu den bevorzugten Tätigkeiten<br />

vieler Kinder diesen Alters.<br />

Piaget (1998) stellte eine bemerkenswerte <strong>und</strong> kontrovers<br />

diskutierte Behauptung auf, die sich auf ein Defizit <strong>im</strong> kindlichen<br />

Denken während dieser Phase bezieht <strong>und</strong> auf die bereits<br />

zu Beginn des Kapitels in der Anekdote über den Vater, der seine<br />

Brille versteckt, eingegangen wurde. Die Behauptung lautet, dass<br />

dem Kind bis zum Alter von acht Monaten das Konzept der Objektpermanenz<br />

fehle: das Wissen, dass Objekte auch dann weiterexistieren,<br />

wenn sie sich außerhalb des Wahrnehmungsfeldes<br />

befinden. Diese Behauptung beruhte pr<strong>im</strong>är auf Piagets Beobachtung<br />

seiner eigenen Kinder Laurent, Lucienne <strong>und</strong> Jacqueline.<br />

Die folgende Darstellung eines Exper<strong>im</strong>ents mit Laurent spiegelt<br />

den Typ von Beobachtung wider, der Piagets Annahmen über<br />

Objektpermanenz inspirierte:<br />

» Mit 7 Monaten <strong>und</strong> 28 Tagen halte ich ihm eine Klapper hinter<br />

einem Kissen hin. Solange er die Klapper sieht, <strong>und</strong> wenn es<br />

auch noch so wenig davon ist, versucht er, sie zu ergreifen.<br />

Wenn aber die Klapper völlig verschwindet, sucht er nicht<br />

mehr. Ich wiederhole den Versuch, wobei ich meine Hand als<br />

Abschirmung verwende. Laurent hält den Arm ausgestreckt<br />

<strong>und</strong> will gerade die Klapper ergreifen, als ich sie hinter meiner<br />

offenen Hand in 15 cm Distanz verschwinden lasse: Er zieht<br />

seinen Arm sofort zurück, als ob die Klapper nicht mehr existierte<br />

(Piaget 1998, S. 39).<br />

In der Sichtweise Piagets ist für Kinder bis zum Alter von acht<br />

Monaten also die Redewendung „aus den Augen, aus dem Sinn“<br />

tatsächlich wörtlich zu verstehen. Sie können Objekte nur in den<br />

Momenten geistig repräsentieren, in denen sie diese auch wahrnehmen<br />

können.<br />

Objektpermanenz – Das Wissen darüber, dass Objekte auch dann weiterexistieren,<br />

wenn sie sich außerhalb des Wahrnehmungsfeldes befinden.<br />

..<br />

Piaget zufolge bereitet es Kindern nicht nur Lust, an Objekten zu saugen,<br />

sondern sie gewinnen dadurch auch Wissen über die Welt jenseits ihres<br />

eigenen Körpers. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Gegen Ende des ersten Lebensjahres suchen Kinder nach versteckten<br />

Objekten <strong>und</strong> verhalten sich nicht mehr so, als wären<br />

diese verschw<strong>und</strong>en, was erkennen lässt, dass sie die Objekte<br />

auch dann mental repräsentieren, wenn sie diese nicht mehr se-


124<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

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..<br />

Abb. 4.1 Piagets A-nicht-B-Suchfehler. Ein Kind sucht <strong>und</strong> findet ein Spielzeug unter dem Tuch, unter dem es versteckt wurde (a). Nachdem es dies mehrmals<br />

erfahren hat, wird das Spielzeug an einem anderen Ort versteckt (b). Das Kind sucht weiterhin dort, wo es das Spielzeug vorher gef<strong>und</strong>en hat, <strong>und</strong> nicht<br />

dort, wo es jetzt versteckt ist. Es ignoriert, dass sich das Spielzeug auf dem rechten Foto unter dem anderen Tuch abzeichnet; das zeigt die Stärke der Neigung,<br />

<strong>im</strong> vorigen Versteck nachzuschauen. (© Ben Clore; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

hen. Diese allerersten Repräsentationen von Gegenständen sind<br />

jedoch recht fragil, wie der A-nicht-B-Suchfehler zeigt: Wenn<br />

Kinder zwischen acht <strong>und</strong> zwölf Monaten ein verstecktes Objekt<br />

wiederholt am Ort A gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> gegriffen haben <strong>und</strong> anschließend<br />

sehen, dass das Objekt nun an einem anderen Ort B<br />

versteckt wird, aber nicht sofort danach suchen dürfen, dann<br />

neigen sie dazu, dorthin zu greifen, wo sie das Objekt anfänglich<br />

fanden (. Abb. 4.1). Erst ab etwa ihrem ersten Geburtstag suchen<br />

Kinder durchgängig zuerst am tatsächlichen Ort des Objekts.<br />

A-nicht-B-Suchfehler – Die Tendenz, dorthin zu greifen, wo ein Objekt zuletzt<br />

gef<strong>und</strong>en wurde, statt es dort zu suchen, wo es tatsächlich versteckt wurde.<br />

Mit etwa einem Jahr fangen Kinder an, aktiv <strong>und</strong> begierig auszuprobieren,<br />

wozu man Objekte potenziell gebrauchen kann. Das<br />

oben beschriebene Beispiel vom „Kind als Wissenschaftler“, in<br />

dem Laurent die Positionen variierte, aus denen er verschiedene<br />

Gegenstände fallen ließ, um zu sehen, was passiert, liefert ein<br />

Beispiel für diese neu entstehende Kompetenz. Ähnliche Beispiele<br />

kommen in jeder Familie mit Kleinkindern vor. Nur wenige<br />

Eltern vergessen, wie ihr zwölf bis 18 Monate altes Kind<br />

auf seinem Hochstuhl sitzt, mit verschiedenen Gegenständen auf<br />

das Tablett schlägt – zuerst mit einem Löffel, dann mit einem<br />

Teller, dann mit einer Tasse – <strong>und</strong> offenbar fasziniert ist von den<br />

unterschiedlichen Geräuschen, die die einzelnen Gegenstände<br />

verursachen. Ebenso wenig vergessen sie, wie ihr Kind diverse<br />

Badartikel in die Toilette fallen ließ oder die Packung Mehl auf<br />

dem Küchenboden ausschüttete, nur um zu sehen, was passiert.<br />

In solchen Handlungen sah Piaget die Anfänge wissenschaftlichen<br />

Exper<strong>im</strong>entierens.<br />

Im letzten halben Jahr des sensomotorischen Stadiums (vom<br />

18. bis zum 24. Lebensmonat) erlangen Kinder nach Piaget die<br />

Fähigkeit, dauerhafte mentale Repräsentationen zu bilden. Das<br />

erste Anzeichen für diese neue Fähigkeit ist die zeitlich verzögerte<br />

Nachahmung, die Wiederholung des Verhaltens anderer<br />

Menschen Minuten, St<strong>und</strong>en oder Tage später. Betrachten wir<br />

Piagets Beobachtung der einjährigen Jacqueline:<br />

» Jacqueline bekam Besuch, <strong>und</strong> zwar von einem kleinen<br />

Jungen […], der sich <strong>im</strong> Verlauf des Nachmittags in eine<br />

fürchterliche Wut hineinsteigert: Er heult <strong>und</strong> versucht, aus<br />

seinem Laufställchen herauszukommen, <strong>und</strong> stampft mit den<br />

Füßen auf den Boden des Ställchens. […] Am folgenden Tag<br />

ist sie es, die <strong>im</strong> Laufställchen schreit <strong>und</strong> es zu verschieben<br />

versucht, wobei sie mehrfach nacheinander leicht mit dem<br />

Fuß aufstampft (Piaget 1969, S. 85).<br />

Zeitlich verzögerte Nachahmung – Die Wiederholung des Verhaltens anderer<br />

Menschen zu einem deutlich späteren Zeitpunkt.


Die Theorie von Piaget<br />

125 4<br />

noch eindrucksvolleren Beschränkungen. Die vielleicht wichtigste<br />

Errungenschaft ist die Entwicklung der symbolischen<br />

Repräsentationen; zu den auffälligsten Schwächen gehören der<br />

Egozentrismus <strong>und</strong> die Zentrierung.<br />

Die Entwicklung symbolischer Repräsentationen<br />

Haben Sie schon einmal gesehen, wie Kindergartenkinder mit<br />

zwei schräg aneinandergesetzten Eisstielen eine Pistole darstellen<br />

oder mit einer Spielkarte ein iPhone? Die Verwendung solcher<br />

selbst entwickelter Symbole kommt bei Drei- bis Fünfjährigen<br />

häufig vor. Dies ist einer der Wege, auf denen sie ihre entstehende<br />

Fähigkeit zur symbolischen Repräsentation einüben – die Verwendung<br />

eines Gegenstands stellvertretend für einen anderen.<br />

Typischerweise ähneln die selbst entwickelten Symbole äußerlich<br />

den Dingen, die sie darstellen sollen. Die Gestalt der beiden Eisstiele<br />

<strong>und</strong> der Spielkarte erinnert durchaus an die einer Pistole.<br />

Symbolische Repräsentation – Die Verwendung eines Objekts in der Funktion<br />

eines anderen.<br />

..<br />

Die Technik, mit der dieses Kind Lidschatten aufträgt, mag nicht ganz dem<br />

Verfahren entsprechen, das es bei seiner Mutter gesehen hat, aber es ähnelt diesem<br />

genug, um als überzeugendes Beispiel für zeitlich verzögerte Nachahmung<br />

zu dienen. Die Fähigkeit zu zeitlich verzögerter Nachahmung erwerben Kinder<br />

<strong>im</strong> zweiten Lebensjahr. (© Judy Deloache; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Piaget wies darauf hin, dass Jacqueline nie zuvor solch einen<br />

Wutanfall hatte. Anscheinend hatte sie das Verhalten ihres Spielkameraden<br />

beobachtet <strong>und</strong> es sich gemerkt, hatte über Nacht<br />

eine Repräsentation dieses Verhaltens <strong>im</strong> Gedächtnis behalten<br />

<strong>und</strong> es am nächsten Tag nachgemacht.<br />

Wenn wir Piagets gesamte Darstellung der Entwicklung <strong>im</strong><br />

Kleinkindalter betrachten, sind mehrere auffällige Tendenzen<br />

-<br />

erkennbar.<br />

Zunächst kreisen die Aktivitäten des <strong>Kindes</strong> um seinen<br />

eigenen Körper; später schließen sie auch die umgebende<br />

-<br />

Welt mit ein.<br />

Frühe Ziele sind konkreter Natur (eine Rassel schütteln <strong>und</strong><br />

den Geräuschen lauschen); spätere Ziele sind oft abstrakterer<br />

Art (die Höhe variieren, aus der man Objekte fallen<br />

-<br />

lässt, <strong>und</strong> beobachten, wie sich die Effekte verändern).<br />

Auch sind die Kinder zunehmend in der Lage, mentale<br />

Repräsentationen zu bilden, <strong>und</strong> schreiten vom „aus den<br />

Augen, aus dem Sinn“ fort zur Erinnerung an Handlungen<br />

eines Spielgefährten, die einen ganzen Tag vorher stattgef<strong>und</strong>en<br />

haben. Solche überdauernden mentalen Repräsentationen<br />

ermöglichen das nächste Stadium, das präoperationale<br />

Denken.<br />

Das präoperationale Stadium (zwei bis sieben<br />

Jahre)<br />

In Piagets Sicht umfasst das präoperationale Stadium eine Mischung<br />

aus eindrucksvollen kognitiven Errungenschaften <strong>und</strong><br />

Im Verlauf ihrer Entwicklung verlassen sich Kinder seltener auf<br />

selbst erzeugte Symbole, sondern eher auf konventionelle. Wenn<br />

zum Beispiel Fünfjährige Piraten spielen, tragen sie vielleicht eine<br />

Klappe über einem Auge <strong>und</strong> ein großes Taschentuch auf dem<br />

Kopf, weil Piraten meistens auf diese Weise abgebildet werden.<br />

Die zunehmenden symbolischen Fähigkeiten zeigen sich während<br />

des präoperationalen Stadiums auch in den Fortschritten<br />

be<strong>im</strong> Zeichnen. In Zeichnungen gebrauchen Kinder zwischen<br />

drei <strong>und</strong> fünf Jahren zunehmend Symbolkonventionen, beispielsweise<br />

die Darstellung der Blätter von Blumen in V-Form<br />

(. Abb. 4.2).<br />

Egozentrismus<br />

Piaget bemerkte zwar <strong>im</strong> Denken von Kindern während des präoperationalen<br />

Stadiums einen bedeutenden Zuwachs, aber bezeichnender<br />

für das präoperationale Verständnis erschienen ihm<br />

die Beschränkungen <strong>im</strong> Denken in dieser Phase. Eine wichtige<br />

Begrenztheit ist wie erwähnt der kindliche Egozentrismus, die<br />

Welt ausschließlich vom eigenen Standpunkt aus wahrzunehmen.<br />

Ein Beispiel dafür ist die Schwierigkeit von Kindergartenkindern,<br />

die räumliche Perspektive anderer Menschen einzunehmen<br />

<strong>und</strong> nicht nur den eigenen Blickwinkel zu berücksichtigen.<br />

Piaget <strong>und</strong> Inhelder (1977) demonstrierten diese Schwierigkeit,<br />

indem sie vierjährige Kinder an einen Tisch vor das Modell einer<br />

Landschaft setzten, die aus drei Bergen unterschiedlicher Größe<br />

<strong>und</strong> Höhe bestand (. Abb. 4.3). Man bat die Kinder herauszufinden,<br />

welche von mehreren Fotografien die Ansicht darstellte, die<br />

eine Puppe hätte, die auf einem der verschiedenen Stühle r<strong>und</strong><br />

um den Tisch saß. Die Lösung dieser Aufgabe erfordert von den<br />

Kindern zu erkennen, dass ihre eigene Perspektive nicht die einzig<br />

mögliche ist, <strong>und</strong> sich vorzustellen, welcher Anblick sich aus<br />

einer anderen Position <strong>und</strong> Blickrichtung darbieten würde. Piaget<br />

zufolge sind die meisten Vierjährigen dazu nicht in der Lage.<br />

Egozentrismus – Die Tendenz, die Welt ausschließlich aus der eigenen Perspektive<br />

wahrzunehmen.


126<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

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..<br />

Abb. 4.2 Ein Sommertag, gezeichnet von einem vierjährigen Kind. Man<br />

beachte den Einsatz einfacher künstlerischer Konventionen wie der V-<br />

förmigen Blätter an den Blumen<br />

Die Perspektive anderer Menschen einzunehmen, erweist sich<br />

auch in ganz anderen Kontexten als schwierig, zum Beispiel bei<br />

der Kommunikation. Wie in . Abb. 4.4 dargestellt, reden Kinder<br />

<strong>im</strong> Vorschulalter oft aneinander vorbei beziehungsweise nebeneinander<br />

her; sie scheinen nur auf das zu achten, was sie selbst<br />

sagen, <strong>und</strong> den Kommentaren ihrer Spielkameraden keinerlei<br />

Aufmerksamkeit zu schenken. Die egozentrische Kommunikation<br />

von Kindern in diesem Alter wird auch erkennbar, wenn sie<br />

Aussagen treffen, die be<strong>im</strong> Zuhörer Wissen voraussetzen, über<br />

das nur sie selbst verfügen, der oder die Zuhörer aber nicht.<br />

Beispielsweise beschweren sich Zwei- <strong>und</strong> Dreijährige häufig<br />

bei ihren Erzieherinnen: „Er hat es mir weggenommen“, ohne<br />

dass aus der Situation erkennbar wäre, auf welche Person <strong>und</strong><br />

welchen Gegenstand sich das Kind bezieht. Das egozentrische<br />

Denken zeigt sich auch in den Erklärungen von Ereignissen <strong>und</strong><br />

Verhaltensweisen. Man betrachte die folgenden Interviews mit<br />

Kindern <strong>im</strong> Kindergartenalter, die in einer beliebten amerikanischen<br />

Fernsehsendung aus den 1950er Jahren geführt wurden,<br />

die unter dem Titel Kids say the Darndest Things die Komik der<br />

Worte aus Kinderm<strong>und</strong> aufgriff:<br />

Interviewer: Hast du Geschwister?<br />

Kind: Ich habe einen Bruder, der ist eine Woche alt.<br />

I: Was kann er schon?<br />

K: Er kann „Mama“ <strong>und</strong> „Papa“ sagen.<br />

I: Kann er laufen?<br />

..<br />

Abb. 4.3 Piagets Drei-Berge-Versuch. Die Kinder sollen das Bild auswählen,<br />

das der Perspektive der Puppe auf dem gegenüberliegenden Stuhl<br />

entspricht. Die meisten Kinder unter sechs Jahren wählen das Bild, das die<br />

Szene so zeigt, wie sie ihnen selbst erscheint. Dies illustriert die Schwierigkeit,<br />

die eigene Perspektive von der anderer zu trennen<br />

K: Nein, er ist zu faul dazu.<br />

Interviewer: Hast du Geschwister?<br />

Kind: Einen zwei Monate alten Bruder.<br />

I: Wie ben<strong>im</strong>mt er sich?<br />

K: Er schreit jede Nacht.<br />

I: Warum macht er das wohl?<br />

K: Wahrscheinlich glaubt er, er verpasst was <strong>im</strong> Fernsehen.<br />

(Linkletter 1957, S. 6)<br />

Im Verlauf des präoperationalen Stadiums wird der egozentrische<br />

Sprachgebrauch seltener. Ein frühes Zeichen des Fortschritts<br />

besteht in den verbalen Streitereien des <strong>Kindes</strong>, die in diesem<br />

Stadium <strong>im</strong>mer häufiger werden. Dass Behauptungen eines<br />

<strong>Kindes</strong> den Widerspruch eines Spielgefährten hervorrufen, lässt<br />

erkennen, dass dieser die abweichende Perspektive, die in der<br />

Äußerung des anderen <strong>Kindes</strong> enthalten ist, zumindest beachtet.<br />

Auch können sich Kinder <strong>im</strong> präoperationalen Stadium andere<br />

räumliche Perspektiven als ihre eigene besser vorstellen. Zwar<br />

bleiben wir <strong>im</strong> Lauf unseres Lebens alle ein wenig egozentrisch,<br />

aber die meisten von uns machen doch gewisse Fortschritte.<br />

Zentrierung<br />

Eine mit dem Egozentrismus verwandte Einschränkung <strong>im</strong><br />

Denken von Kindern <strong>im</strong> Kindergartenalter ist die Zentrierung;<br />

darunter versteht man die Konzentration auf ein einzelnes, in<br />

der Wahrnehmung auffälliges Merkmal eines Objekts oder Ereignisses<br />

unter Ausschluss anderer wichtiger, aber unauffälligerer<br />

Merkmale. Die Art, wie Kinder an eine Balkenwaage herangehen,<br />

liefert ein gutes Beispiel für Zentrierung. Zeigt man Fünf- <strong>und</strong><br />

Sechsjährigen eine Balkenwaage wie die in . Abb. 4.5 <strong>und</strong> fragt<br />

sie, nach welcher Seite sie sich neigen wird, dann zentrieren sie<br />

auf die Gewichtsmenge auf beiden Seiten <strong>und</strong> ignorieren den<br />

Abstand der Gewichte von der Aufhängung: Sie sagen, dass sich<br />

diejenige Seite nach unten senken wird, auf der sich mehr Gewicht<br />

befindet (Inhelder <strong>und</strong> Piaget 1958).<br />

Zentrierung – Die Tendenz, sich auf ein einzelnes, perzeptuell auffälliges Merkmal<br />

eines Objekts oder Ereignisses zu konzentrieren.<br />

Ein weiteres gutes Beispiel für Zentrierung stammt aus Piagets<br />

Forschungen zum kindlichen Verständnis der Invarianz. Das In-


Die Theorie von Piaget<br />

127 4<br />

. . Abb. 4.5 Die Balkenwaage. Fragt man Fünf- <strong>und</strong> Sechsjährige, welche<br />

Seite einer Balkenwaage der hier abgebildeten Art sich abwärts neigt, wenn<br />

man sie entriegelt, so zentrieren sie ihre Aufmerksamkeit fast <strong>im</strong>mer auf die<br />

Gewichte <strong>und</strong> ignorieren den Abstand der Gewichte vom Drehpunkt. Im<br />

gegebenen Fall würden sie also vorhersagen, dass der linke Balkenarm sinkt;<br />

in Wirklichkeit wäre es in diesem Beispiel aber der rechte<br />

..<br />

Abb. 4.4 Egozentrismus. Ein Beispiel für eine egozentrische Unterhaltung<br />

zwischen kleinen Kindern<br />

varianzkonzept (Konzept der Erhaltung) besteht darin, dass ein<br />

bloßes Verändern der Erscheinung oder Anordnung von Objekten<br />

nicht notwendigerweise ihre zentralen Eigenschaften verändert,<br />

beispielsweise die Quantität des Materials. Drei Varianten dieses<br />

Invarianzkonzepts, die häufig an Fünf- bis Achtjährigen untersucht<br />

werden, betreffen die Erhaltung der Flüssigkeitsmenge, die Erhaltung<br />

der festen Masse <strong>und</strong> die Erhaltung der Zahl (Piaget 1994).<br />

In allen drei Fällen bestehen die Invarianzaufgaben, mit denen<br />

das Verständnis des <strong>Kindes</strong> untersucht wird, aus einem dreistufigen<br />

Verfahren (. Abb. 4.6). Zuerst sehen die Kinder zwei Objekte<br />

oder zwei Mengen von Objekten – zwei Gläser Orangensaft, zwei<br />

Tonklumpen oder zwei Reihen Münzen – von identischer Anzahl<br />

oder Menge. Wenn die Kinder zust<strong>im</strong>men, dass die jeweils interessierende<br />

D<strong>im</strong>ension (z. B. die Menge an Orangensaft) in beiden<br />

Fällen gleich ist, folgt die zweite Phase. Nun beobachten die Kinder,<br />

wie der Versuchsleiter ein Objekt (oder eine Objektmenge) so<br />

umgestaltet, dass es nachher anders aussieht, ohne dass sich dabei<br />

die fragliche D<strong>im</strong>ension verändert. Ein Glas Orangensaft wird<br />

beispielsweise in ein höheres, aber schmaleres Glas umgeschüttet;<br />

eine kurze, dicke Wurst aus Ton wird zu einer dünnen, längeren<br />

Wurst geformt; eine Reihe von Münzen wird mit größeren Abständen<br />

länger ausgelegt. In der dritten Phase schließlich sollen<br />

die Kinder angeben, ob die infrage stehende D<strong>im</strong>ension, in der die<br />

Kinder die beiden Objekte (bzw. Objektmengen) zuvor als gleich<br />

beurteilt hatten, <strong>im</strong>mer noch gleich ausgeprägt ist.<br />

Invarianzkonzept (Konzept der Erhaltung) – Die Vorstellung, dass ein bloßes<br />

Verändern des Erscheinungsbildes eines Objekts dessen gr<strong>und</strong>legende Eigenschaften<br />

unverändert lässt.<br />

Die große Mehrheit der Vier- <strong>und</strong> Fünfjährigen antwortet: Nein.<br />

Bei der Aufgabe zur Invarianz der Flüssigkeitsmenge behaupten<br />

sie, das schmalere, engere Glas enthalte mehr Orangensaft;<br />

be<strong>im</strong> Invarianzproblem fester Massen meinen sie, dass die lange,<br />

dünne Wurst mehr Ton enthalte als die kurze, dicke, <strong>und</strong> so<br />

weiter. In Alltagssituationen irren sich Kinder diesen Alters auf<br />

ähnliche Weise; wenn ein Kind einen Keks weniger hat als ein<br />

anderes, sehen sie beispielsweise die gerechte Lösung darin, einen<br />

der Kekse des benachteiligten <strong>Kindes</strong> in zwei Teile zu brechen<br />

(Miller 1984).<br />

Zu diesen Schwierigkeiten be<strong>im</strong> Invarianzproblem tragen<br />

eine Reihe von Schwächen bei, die Piaget <strong>im</strong> präoperationalen<br />

Denken erkannte. Präoperational Denkende zentrieren<br />

ihre Aufmerksamkeit auf eine einzige, in der Wahrnehmung<br />

hervorstechende D<strong>im</strong>ension wie Höhe oder Länge <strong>und</strong> lassen<br />

andere relevante D<strong>im</strong>ensionen außer Acht. Zusätzlich lässt<br />

sie ihr Egozentrismus übersehen, dass die eigene Perspektive<br />

irreführend sein kann – dass ein hohes, schmales Glas Orangensaft<br />

oder eine lange, dünne Tonwurst nicht schon deshalb<br />

mehr Orangensaft oder Ton enthält, weil sie länger aussehen.<br />

Auch die Tendenz der Kinder, sich auf den statischen Zustand<br />

(das Erscheinungsbild der Gegenstände vor <strong>und</strong> nach der Umformung)<br />

zu konzentrieren <strong>und</strong> die Transformationen, die erfolgten,<br />

zu ignorieren (das Umschütten des Orangensafts oder<br />

die Umformung des Tonklumpens), erschwert das Lösen von<br />

Invarianzproblemen.<br />

Im nächsten Stadium der kognitiven Entwicklung, dem<br />

konkret-operationalen Stadium, überwinden Kinder diese <strong>und</strong><br />

ähnliche Beschränkungen weitgehend.<br />

Das konkret-operationale Stadium (sieben bis<br />

zwölf Jahre)<br />

Im Alter von etwa sieben Jahren beginnen Kinder – Piaget<br />

zufolge – damit, logisch über konkrete Merkmale der Welt<br />

nachzudenken. Dieser Fortschritt lässt sich am Beispiel des<br />

Invarianzkonzepts illustrieren. Wenige Fünfjährige lösen irgendeine<br />

der drei Invarianzaufgaben, die wir <strong>im</strong> vorangehenden<br />

Abschnitt beschrieben haben; die meisten Siebenjährigen<br />

hingegen lösen sie alle drei. Derselbe Fortschritt <strong>im</strong> Denken<br />

ermöglicht Kindern <strong>im</strong> konkret-operationalen Stadium auch,<br />

viele andere Probleme <strong>und</strong> Aufgaben erfolgreich zu bewältigen,<br />

bei denen die Aufmerksamkeit auf mehrere D<strong>im</strong>ensionen gerichtet<br />

werden muss. Zum Beispiel beachten sie bei der Balken-


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Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

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PHASE 1 PHASE 2 PHASE 3<br />

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Abb. 4.6 Verfahren zur Prüfung der Invarianzkonzepte von Flüssigkeitsmenge, fester Masse <strong>und</strong> Zahl. Die meisten Vier- <strong>und</strong> Fünfjährigen sagen, dass die<br />

höhere Flüssigkeitssäule mehr Flüssigkeit, die längere Tonwurst mehr Ton <strong>und</strong> die längere Reihe mehr Objekte enthält<br />

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waage (. Abb. 4.5) sowohl die Gewichte als auch ihren Abstand<br />

vom Drehpunkt.<br />

Diese relativ fortgeschrittenen logischen Denkprozesse bleiben<br />

nach Piaget jedoch auf konkrete Situationen beschränkt.<br />

Systematisches Denken bleibt äußerst schwierig, ebenso das<br />

Schlussfolgern über hypothetische Situationen. Offenk<strong>und</strong>ig<br />

werden diese Begrenzungen in der Art der Versuche, die Kinder<br />

<strong>im</strong> konkret-operationalen Stadium zur Lösung des Pendelproblems<br />

unternehmen (. Abb. 4.7) (Inhelder <strong>und</strong> Piaget 1958).<br />

Bei diesem Problem erhalten die Kinder ein Pendelgestell, eine<br />

Reihe von Schnüren unterschiedlicher Länge mit einer Schlinge<br />

an beiden Enden <strong>und</strong> einen Satz unterschiedlicher Metallgewichte,<br />

die sich an jeden der Schnüre anhängen lassen. Eine<br />

Schnur, an der ein Gewicht befestigt wurde, lässt sich in das Pendelgestell<br />

einhängen <strong>und</strong> zum Schwingen bringen. Die Aufgabe<br />

besteht darin zu exper<strong>im</strong>entieren, um herauszufinden, wovon<br />

die Zeitdauer abhängt, die das Pendel benötigt, um einmal hin<strong>und</strong><br />

herzuschwingen: Ist es die Länge der Schnur, die Schwere<br />

des Gewichts, die Höhe, aus der das Gewicht losgelassen wird,<br />

oder eine Kombination dieser Faktoren? Denken Sie selbst einen<br />

Moment nach: Wie würden Sie vorgehen, um diese Aufgabe zu<br />

lösen?<br />

Die meisten Kinder <strong>im</strong> konkret-operationalen Stadium beginnen<br />

ihre Exper<strong>im</strong>ente in dem Glauben, die Schwere des Gewichts<br />

sei der wichtigste Faktor <strong>und</strong> höchstwahrscheinlich auch<br />

der einzige. Diese Annahme ist nicht unvernünftig; die meisten<br />

Jugendlichen <strong>und</strong> Erwachsenen teilen sie. Worin sich Kinder<br />

von älteren Menschen unterscheiden, ist die Art <strong>und</strong> Weise, wie<br />

sie ihre Annahmen prüfen. Im konkret-operationalen Stadium<br />

führen Kinder in der Regel ihre Exper<strong>im</strong>ente unsystematisch<br />

entsprechend ihren Vorurteilen durch, sodass keine eindeutigen<br />

Schlüsse gezogen werden können. Zum Beispiel vergleichen sie<br />

die Schwingungszeit eines schweren Gewichts an einer kurzen<br />

Schnur, das aus großer Höhe losgelassen wurde, mit der Schwingungszeit<br />

eines leichten Gewichts an einer langen Schnur aus<br />

niedriger Höhe. Wenn das erste Pendel schneller ausschlägt,<br />

schließen sie daraus, dass – wie erwartet – schwere Gewichte<br />

schneller pendeln. Diese voreilige Schlussfolgerung spiegelt jedoch<br />

ihre unausgereifte Fähigkeit wider, systematisch zu denken<br />

<strong>und</strong> sich alle nur möglichen Kombinationen der Variablen<br />

vorzustellen; sie können sich offenbar nicht vorstellen, dass die<br />

schnellere Bewegung eher mit der Länge der Schnur oder der<br />

Höhe zusammenhängen könnte, aus der die Schnur losgelassen<br />

wurde, als mit dem Gewicht des Objekts.


Die Theorie von Piaget<br />

129 4<br />

..<br />

Abb. 4.7 Das Pendelproblem nach Inhelder <strong>und</strong> Piaget. Die Aufgabe<br />

besteht darin, die Bewegungen von Pendeln mit längeren <strong>und</strong> kürzeren<br />

Schnüren <strong>und</strong>/oder mit leichteren oder schwereren Gewichten zu vergleichen,<br />

um den Einfluss von Gewicht, Schnurlänge <strong>und</strong> Punkt des Loslassens<br />

auf die Zeit zu best<strong>im</strong>men, in der das Pendel einmal hin <strong>und</strong> her schwingt.<br />

Kinder unter zwölf Jahren führen meistens unsystematische Exper<strong>im</strong>ente<br />

durch <strong>und</strong> gelangen zu fehlerhaften Schlussfolgerungen<br />

Das formal-operationale Stadium<br />

(zwölf Jahre <strong>und</strong> älter)<br />

Das formal-operationale Denken, das die Fähigkeit zum abstrakten<br />

Denken <strong>und</strong> zum hypothetischen Schlussfolgern umfasst,<br />

bildet den Gipfel der Piaget’schen Stufenfolge. Der Unterschied<br />

zwischen der Denkweise dieses Stadiums <strong>und</strong> des vorherigen<br />

zeigt sich deutlich in der Herangehensweise von Jugendlichen <strong>im</strong><br />

formal-operationalen Stadium be<strong>im</strong> Pendelproblem. Indem sie<br />

das Problem abstrakter fassen als Kinder <strong>im</strong> konkret-operationalen<br />

Stadium, erkennen sie, dass jede dieser Variablen – Gewicht,<br />

Schnurlänge <strong>und</strong> Starthöhe – die Zeit beeinflussen könnte, in der<br />

das Pendel hin <strong>und</strong> her schwingt, <strong>und</strong> dass sie daher die Wirkung<br />

jeder Variable auf die Schwingungszeit systematisch prüfen müssen.<br />

Um die Wirkung des Gewichts zu prüfen, vergleichen sie die<br />

Pendelzeiten eines schwereren <strong>und</strong> eines leichteren Gewichts, die<br />

an Schnüren gleicher Länge hängen <strong>und</strong> aus gleicher Höhe losgelassen<br />

wurden. Um den Effekt der Schnurlänge zu prüfen, vergleichen<br />

sie die Pendelzeit einer kurzen <strong>und</strong> einer langen Schnur<br />

<strong>und</strong> halten Gewicht <strong>und</strong> Starthöhe konstant. Um den Einfluss der<br />

Höhe be<strong>im</strong> Loslassen einzuschätzen, variieren sie diese bei konstantem<br />

Gewicht <strong>und</strong> konstanter Schnurlänge. Eine solche systematische<br />

Versuchsreihe erlaubt dem formal-operational Denkenden<br />

zu erkennen, dass nur die Schnurlänge die Pendelzeit beeinflusst;<br />

das Gewicht <strong>und</strong> die Höhe des Startpunktes spielen keine Rolle.<br />

Piaget nahm an, dass dieses Stadium, anders als die drei vorangegangenen<br />

Stadien, nicht universell ist; nicht alle Jugendlichen<br />

(oder Erwachsenen) erreichen es. Bei denen jedoch, die<br />

es erreichen, erweitert <strong>und</strong> bereichert das formal-operationale<br />

Denken ihre intellektuelle Welt außerordentlich. Ein solches<br />

Denken ermöglicht es ihnen, die besondere Wirklichkeit, in der<br />

sie leben, als nur eine von einer unendlichen Vielzahl möglicher<br />

Realitäten aufzufassen. Diese Erkenntnis bringt sie dazu, sich<br />

Alternativen vorzustellen, wie die Welt beschaffen sein könnte,<br />

<strong>und</strong> tiefgehende Fragen zu erwägen, die Wahrheit, Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> Moral betreffen. Zweifellos lässt sich so auch die Tatsache<br />

erklären, dass viele Menschen erst in ihrer Jugendzeit auf den<br />

Geschmack an Science-Fiction kommen. Die alternativen Welten,<br />

die in Science-Fiction-Romanen dargestellt sind, sprechen<br />

die sich herausbildende Fähigkeit der Jugendlichen an, sich die<br />

Welt als nur eine von vielen denkbaren Welten vorzustellen <strong>und</strong><br />

sich zu fragen, ob eine bessere Welt möglich wäre. Inhelder <strong>und</strong><br />

Piaget (1958, S. 340 f.) fanden treffende Worte für die intellektuelle<br />

Kraft, die das formal-operationale Denken Jugendlichen<br />

vermittelt: „Jeder besitzt seine eigenen Ideen (<strong>und</strong> glaubt meistens<br />

auch, dass es seine eigenen sind), die ihn von der Kindheit<br />

befreien <strong>und</strong> ihm erlauben, sich als gleichwertig mit Erwachsenen<br />

zu positionieren.“<br />

Wenn Jugendliche fähig werden, systematische, formal-operationale<br />

logische Schlussfolgerungen zu ziehen, <strong>im</strong>pliziert das<br />

noch nicht, dass sie <strong>im</strong>mer auf anspruchsvolle Weise dächten,<br />

aber es markiert nach Piaget den Zeitpunkt, zu dem Jugendliche<br />

das Denkpotenzial intelligenter Erwachsener erreichen. Wie Piagets<br />

Theorie zum Verbessern der Erziehung beitragen kann, wird<br />

in einigen Aspekten in ▶ Exkurs 4.1 diskutiert.<br />

Piagets Vermächtnis<br />

Obwohl große Teile von Piagets Theorie schon vor vielen Jahren<br />

formuliert wurden, bildet sie nach wie vor einen sehr einflussreichen<br />

Ansatz zur kognitiven Entwicklung. Einige ihrer Stärken<br />

wurden bereits angeführt. Sie bietet einen guten Überblick mit<br />

zahllosen faszinierenden Beobachtungen darüber, wie das Denken<br />

von Kindern zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entwicklung


130<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

1<br />

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4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Exkurs 4.1: Anwendungen: Pädagogische Anwendungen von Piagets Theorie | |<br />

Piagets Sicht der kognitiven Entwicklung<br />

enthält eine Reihe allgemeiner Implikationen,<br />

wie man Kinder erziehen sollte (Case 1998;<br />

Piaget 1972). Ganz gr<strong>und</strong>sätzlich ist abzuleiten,<br />

dass die Art des kindlichen Denkens in den<br />

jeweiligen Altersstufen bei der Entscheidung<br />

der jeweiligen Unterrichtsformen berücksichtigt<br />

werden sollte. Beispielsweise sollte man<br />

von Kindern <strong>im</strong> konkret-operationalen Stadium<br />

nicht erwarten, dass sie rein abstrakte Begriffe<br />

wie „Trägheit“ oder „Gleichgewichtszustand“<br />

erlernen, während man das von Jugendlichen<br />

<strong>im</strong> formal-operationalen Stadium erwarten<br />

kann. Ein pädagogischer Ansatz, der solche<br />

allgemeinen altersbezogenen Unterschiede<br />

<strong>im</strong> kognitiven Niveau bei der Entscheidung<br />

berücksichtigt, wann welche Konzepte gelehrt<br />

werden sollten, wird oft als „kindzentrierter<br />

Ansatz“ bezeichnet.<br />

Eine zweite Implikation des Piaget’schen<br />

Ansatzes besteht darin, dass Kinder stets durch<br />

Interaktion mit der Umwelt lernen – geistig<br />

wie körperlich. Eine Studie zum Veranschaulichen<br />

dieses Prinzips befasste sich damit, das<br />

Verständnis des Geschwindigkeitsbegriffs<br />

zu fördern (Levin et al. 1990). Die Untersuchung<br />

konzentrierte sich auf Aufgaben, wie<br />

Physiklehrer sie besonders lieben: „Wenn sich<br />

ein Rennpferd auf einer kreisförmigen Bahn<br />

bewegt, bewegen sich seine linke <strong>und</strong> rechte<br />

Seite dann mit der gleichen Geschwindigkeit?“<br />

Offensichtlich scheint das der Fall zu sein, aber<br />

tatsächlich ist es anders: Der Teil des Pferdes,<br />

der nach außen gewandt ist, durchläuft bei<br />

seiner Bewegung r<strong>und</strong> um die Bahn in derselben<br />

Zeit einen etwas größeren Kreis als die<br />

nach innen gerichtete Seite <strong>und</strong> bewegt sich<br />

deshalb etwas schneller.<br />

Levin <strong>und</strong> ihre Kollegen entwarfen ein Verfahren,<br />

mit dessen Hilfe Kinder aktiv erfahren<br />

konnten, wie sich verschiedene Teile ein <strong>und</strong><br />

desselben Objekts mit unterschiedlicher<br />

Geschwindigkeit bewegen. Sie befestigten das<br />

eine Ende einer gut 2 m langen Metallstange<br />

an einer auf dem Boden montierten Drehachse.<br />

Dann gingen Sechstklässler einer nach<br />

dem anderen mit dem Forscher zusammen vier<br />

R<strong>und</strong>en <strong>im</strong> Kreis um die Drehachse <strong>und</strong> hielten<br />

dabei die Stange fest. Bei zwei dieser R<strong>und</strong>en<br />

ging das Kind dicht an der Achse, <strong>und</strong> der<br />

Forscher hielt die Stange am äußeren Ende; bei<br />

den beiden anderen R<strong>und</strong>en wechselten sie<br />

die Position (s. Abbildung). Nach jeder R<strong>und</strong>e<br />

wurden die Kinder gefragt, ob sie oder der<br />

Versuchsleiter schneller gegangen waren.<br />

Die Unterschiede in den Geschwindigkeiten,<br />

mit denen man innen <strong>und</strong> außen an der Stange<br />

geht, waren so drastisch, dass die Kinder ihre<br />

neue Erkenntnis auf andere Aufgaben übertragen<br />

konnten, bei denen Kreisbewegungen beteiligt<br />

sind, beispielsweise, wenn sich Autos auf<br />

dem Computerbildschirm <strong>im</strong> Kreis bewegen.<br />

Mit anderen Worten, die körperliche Erfahrung<br />

konnte vermitteln, was Jahre des formalen<br />

naturwissenschaftlichen Unterrichts nur selten<br />

schaffen. Ein Junge sagte: „Vorher hatte ich es<br />

nicht erlebt. Ich habe nie darüber nachgedacht.<br />

Jetzt habe ich diese Erfahrung gemacht<br />

<strong>und</strong> weiß: Um an der gleichen Stelle zu sein<br />

wie Sie, muss ich <strong>im</strong> äußeren Kreis schneller<br />

laufen“ (Levin et al. 1990). Ganz offensichtlich<br />

können relevante körperliche Aktivitäten in<br />

Verbindung mit Fragen, die die Aufmerksamkeit<br />

auf das richten, was die Aktivität uns lehrt,<br />

das Lernen der Kinder fördern.<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

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17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

beschaffen ist (. Tab. 4.2). Sie bietet eine plausible <strong>und</strong> attraktive<br />

Perspektive auf das Wesen des <strong>Kindes</strong>. Sie umfasst ein bemerkenswert<br />

breites Spektrum von Entwicklungsbereichen <strong>und</strong> behandelt<br />

die gesamte Altersspanne vom Säugling bis ins <strong>Jugendalter</strong>.<br />

Nachfolgende Analysen (Flavell 1971, 1982; Miller 2011) haben<br />

aber auch einige entscheidende Schwächen der Piaget’schen<br />

Theorie identifiziert. Besonders wichtig sind die folgenden vier<br />

Schwachpunkte:<br />

1. Das Stufenmodell stellt das Denken von Kindern konsistenter<br />

dar, als es ist: Nach Piaget zeigt das Denken von Kindern, sobald<br />

sie eine best<strong>im</strong>mte Stufe erreicht haben, die Eigenschaften<br />

dieser Stufe konsistent über diverse Konzepte hinweg.<br />

Spätere Forschungen ließen jedoch erkennen, dass das Denken<br />

von Kindern weit variabler ist, als dieses Bild nahelegt.<br />

Zum Beispiel sind die meisten Kinder mit sechs Jahren bei<br />

Aufgaben zur Erhaltung der Zahl erfolgreich, während die<br />

meisten Kinder Aufgaben zur Erhaltung fester Massen erst<br />

mit acht oder neun Jahren bewältigen (Field 1987). Piaget<br />

..<br />

Ein Kind <strong>und</strong> ein Erwachsener halten eine<br />

Stange fest <strong>und</strong> gehen viermal <strong>im</strong> Kreis herum.<br />

Bei den ersten beiden R<strong>und</strong>gängen hält das Kind<br />

die Stange nahe am Drehpunkt, bei den zweiten<br />

beiden R<strong>und</strong>en nahe am äußeren Ende. Das<br />

deutlich höhere Tempo, das man braucht, wenn<br />

man am äußeren Ende mit der Stange mithalten<br />

will, brachte Kinder zu der Erkenntnis, dass sich<br />

das Ende der Strange schneller bewegt als der zur<br />

Mitte gerichtete Teil. (Levin et al. 1990)<br />

erkannte, dass eine solche Variabilität besteht, hat sie jedoch<br />

unterschätzt <strong>und</strong> konnte sie auch nicht erfolgreich erklären.<br />

2. Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder sind kognitiv kompetenter, als Piaget<br />

dachte: Piaget gab Kindern relativ schwierige Verstehenstests<br />

vor. Das führte ihn dazu, die frühesten Konzepte, über<br />

die Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder bereits verfügen, zu übersehen.<br />

Beispielsweise durften die Kinder bei Piagets Test zur<br />

Objektpermanenz erst einige Sek<strong>und</strong>en nach dem Verstecken<br />

nach dem verborgenen Objekt greifen; Piaget behauptete,<br />

dass Kinder dies nicht vor ihrem achten oder neunten<br />

Lebensmonat tun. Allerdings zeigten alternative Tests zur<br />

Objektpermanenz, bei denen die Blickfixationen des <strong>Kindes</strong><br />

analysiert werden, nachdem das Objekt aus dem Sichtfeld<br />

verschw<strong>und</strong>en ist, dass Kinder bereits mit drei Monaten ein<br />

gewisses Verständnis der kontinuierlichen Existenz von Objekten<br />

besitzen (Baillargeon 1987, 1993).<br />

3. Piagets Theorie unterschätzt den Beitrag der sozialen Welt zur<br />

kognitiven Entwicklung: Piagets Theorie konzentriert sich da-


Die Theorie von Piaget<br />

131 4<br />

..<br />

Tab. 4.2 Piagets Stadien der kognitiven Entwicklung.<br />

Stadium Ungefähres Alter Neue Wege des Erkennens<br />

Sensomotorisch<br />

Präoperational<br />

Konkretoperational<br />

Formaloperational<br />

Geburt bis 2 Jahre<br />

Säuglinge erkennen die Welt<br />

mit ihren Sinnen <strong>und</strong> durch<br />

ihre Handlungen. Zum Beispiel<br />

lernen sie, wie H<strong>und</strong>e aussehen<br />

<strong>und</strong> wie es sich anfühlt, sie zu<br />

streicheln.<br />

2 bis 7 Jahre Bis zum Schulalter erwerben<br />

Kinder die Fähigkeit, die Welt<br />

durch Sprache <strong>und</strong> geistige Vorstellungen<br />

intern zu repräsentieren.<br />

Auch werden sie allmählich<br />

dazu fähig, die Welt aus der Perspektive<br />

anderer zu sehen <strong>und</strong><br />

nicht nur aus ihrer eigenen.<br />

7 bis 12 Jahre Die Kinder werden dazu fähig,<br />

logisch <strong>und</strong> nicht nur intuitiv zu<br />

denken. Sie können Objekte jetzt<br />

in zusammenhängende Klassen<br />

gruppieren <strong>und</strong> verstehen, dass<br />

Ereignisse häufig von mehreren<br />

Faktoren <strong>und</strong> nicht nur von<br />

einem beeinflusst werden.<br />

Ab 12 Jahre<br />

Jugendliche können systematisch<br />

denken <strong>und</strong> darüber<br />

spekulieren, was alternativ zum<br />

Bestehenden sein könnte. Das<br />

ermöglicht es ihnen, Politik,<br />

Ethik <strong>und</strong> Science-Fiction zu<br />

verstehen sowie wissenschaftlich-logisch<br />

zu denken.<br />

rauf, wie es Kindern gelingt, die Welt durch ihre eigenen Anstrengungen<br />

zu verstehen. Jedoch leben Kinder vom ersten<br />

Tag außerhalb des Mutterleibes an in einer sozialen Umwelt<br />

mit Erwachsenen <strong>und</strong> älteren Kindern, die ihre Entwicklung<br />

auf vielfältige Weise formen. Die kognitive Entwicklung eines<br />

<strong>Kindes</strong> spiegelt die Beiträge anderer Menschen <strong>und</strong> der Kultur<br />

<strong>im</strong> weiteren Sinne viel umfangreicher wider, als Piagets<br />

Theorie es zugesteht.<br />

4. Piagets Theorie bleibt unscharf hinsichtlich der kognitiven Prozesse,<br />

die das Denken des <strong>Kindes</strong> anstoßen, <strong>und</strong> der Mechanismen,<br />

die kognitives Wachstum hervorrufen: Piagets Theorie<br />

bietet zahllose exzellente Beschreibungen des kindlichen<br />

Denkens. Weit weniger klar <strong>und</strong> eindeutig ist die Theorie<br />

jedoch bei den Prozessen, die Kinder dahin führen, auf eine<br />

best<strong>im</strong>mte Weise zu denken, <strong>und</strong> Änderungen ihrer Denkweise<br />

hervorbringen. Ass<strong>im</strong>ilation, Akkommodation <strong>und</strong><br />

Äquilibration klingen plausibel, aber wie genau diese Prozesse<br />

funktionieren, ist alles andere als klar.<br />

Diese Schwächen in Piagets Theorie sollen die Größe seiner Leistung<br />

nicht schmälern: Seine Theorie bleibt eine der großen intellektuellen<br />

Leistungen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Man muss jedoch die<br />

Schwächen seiner Theorie ebenso beachten wie die Stärken, um<br />

zu verstehen, warum alternative Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

zunehmend an Bedeutung gewinnen.<br />

In den folgenden Abschnitten behandeln wir die drei prominentesten<br />

alternativen theoretischen Ansätze: den Informationsverarbeitungsansatz,<br />

die Theorien dynamischer Systeme <strong>und</strong><br />

die soziokulturelle Perspektive. Jeder dieser Theorietypen kann<br />

als Versuch gesehen werden, eine der zentralen Schwächen des<br />

Piaget’schen Ansatzes zu überwinden. Theorien der Informationsverarbeitung<br />

betonen präzise Beschreibungen der Prozesse,<br />

die für das Denken der Kinder verantwortlich sind, <strong>und</strong> der Mechanismen,<br />

die kognitives Wachstum hervorrufen. Soziokulturelle<br />

Theorien betonen die Wege, auf denen die Interaktionen<br />

der Kinder mit der sozialen Welt – zu der andere Menschen<br />

ebenso gehören wie die Produkte ihrer Kultur – die kognitive<br />

Entwicklung lenken. Theorien dynamischer Systeme betonen<br />

die Variabilität kindlichen Verhaltens <strong>und</strong> die Art, wie die sich<br />

entwickelnden körperlichen <strong>und</strong> geistigen Fähigkeiten sowie die<br />

Besonderheiten der Situation zu dieser Variabilität beitragen.<br />

In Kürze | |<br />

Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung betont die<br />

Interaktion zwischen Anlage <strong>und</strong> Umwelt, Kontinuität <strong>und</strong><br />

Diskontinuität sowie den aktiven Beitrag des <strong>Kindes</strong> zu seiner<br />

eigenen Entwicklung. Nach Piaget entstehen Kontinuitäten<br />

in der Entwicklung durch Ass<strong>im</strong>ilation, Akkommodation <strong>und</strong><br />

Äquilibration. Ass<strong>im</strong>ilation geht mit der Anpassung einlaufender<br />

Information einher, sodass sie ins aktuelle Vorverständnis<br />

passt. Akkommodation bezeichnet die Anpassung des eigenen<br />

Vorverständnisses an neue Erfahrungen, um Konsistenz<br />

(Widerspruchsfreiheit) des Denkens zu erreichen. Äquilibration<br />

ist die Balance zwischen Ass<strong>im</strong>ilation <strong>und</strong> Akkommodation<br />

in einer Weise, die ein stabiles Verstehen ermöglicht.<br />

Die Diskontinuitäten der Entwicklung, wie Piaget sie<br />

beschreibt, umfassen vier abgegrenzte Stufen: (1) das sensomotorische<br />

Stadium (Geburt bis zwei Jahre), in dem die<br />

Kinder beginnen, die Welt durch Sinneswahrnehmung <strong>und</strong><br />

motorische Aktivitäten zu begreifen; (2) das präoperationale<br />

Stadium (zwei bis sieben Jahre), in dem Kinder zu mentalen<br />

Repräsentationen fähig werden, jedoch noch dazu neigen,<br />

egozentrisch zu sein <strong>und</strong> sich bei einem Ereignis oder Problem<br />

auf eine einzige D<strong>im</strong>ension zu konzentrieren; (3) das<br />

konkret-operationale Stadium (sieben bis zwölf Jahre), in<br />

dem Kinder logisch über konkrete Aspekte ihrer Umwelt<br />

nachdenken können, aber be<strong>im</strong> abstrakten Denken noch<br />

Schwierigkeiten haben; <strong>und</strong> (4) das formal-operationale Stadium<br />

(ab zwölf Jahre), in dem Kinder vor <strong>und</strong> während der<br />

Pubertät die Fähigkeit zum abstrakten Denken erwerben.<br />

Zu den wichtigsten Stärken der Piaget’schen Theorie gehören<br />

ihr breiter Überblick über die Entwicklung, ihre plausible<br />

<strong>und</strong> attraktive Perspektive auf das Wesen des <strong>Kindes</strong>, ihr<br />

Einbezug verschiedener Aufgaben <strong>und</strong> Altersgruppen sowie<br />

unendlich viele faszinierende Beobachtungen. Zu den<br />

wichtigsten Schwächen gehören das Überschätzen der Konsistenz<br />

<strong>im</strong> Denken von Kindern, das Unterschätzen der kognitiven<br />

Kompetenz von Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern, die<br />

fehlende Beachtung des Beitrags der sozialen Umwelt sowie<br />

die Unschärfe hinsichtlich der kognitiven Mechanismen.


132<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

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23<br />

Theorien der Informationsverarbeitung<br />

Szene: Tochter <strong>und</strong> Vater sind <strong>im</strong> Garten. Eine Fre<strong>und</strong>in kommt<br />

mit dem Fahrrad angefahren.<br />

» Kind: Papa, schließt du mir bitte die Kellertür auf?<br />

Vater: Warum?<br />

Kind: Weil ich Rad fahren möchte.<br />

Vater: Dein Fahrrad ist in der Garage.<br />

Kind: Aber meine Socken sind <strong>im</strong> Trockner.<br />

(Klahr 1978, S. 181 f.)<br />

Welche gedanklichen Schlussfolgerungen könnten diesen rätselhaften<br />

Kommentar der Tochter „Aber meine Socken sind <strong>im</strong><br />

Trockner“ hervorgebracht haben? David Klahr, ein bekannter<br />

Informationsverarbeitungstheoretiker, formulierte das folgende<br />

Modell des Gedankenprozesses, der zu dieser Äußerung<br />

führte:<br />

Ziel: Ich will Rad fahren.<br />

Präferenz: Ich brauche Schuhe, um angenehm fahren zu können.<br />

Tatsache: Ich bin barfuß.<br />

Teilziel 1: Meine Turnschuhe holen.<br />

Tatsache: Die Turnschuhe sind <strong>im</strong> Garten.<br />

Tatsache: Sie tragen sich ohne Strümpfe nicht angenehm.<br />

Teilziel 2: Meine Socken holen.<br />

Tatsache: Die Sockenschublade war heute Morgen leer.<br />

Schluss: Wahrscheinlich sind die Socken <strong>im</strong> Trockner.<br />

Teilziel 3: Die Socken aus dem Trockner holen.<br />

Tatsache: Der Trockner ist <strong>im</strong> Keller.<br />

Teilziel 4: In den Keller gehen.<br />

Tatsache: Durch den Hofeingang geht es schneller.<br />

Tatsache: Der Hofeingang ist <strong>im</strong>mer verschlossen.<br />

Teilziel 5: Die Tür zum Keller öffnen.<br />

Tatsache: Väter haben Schlüssel für alles.<br />

Teilziel 6: Papa bitten, die Tür aufzuschließen.<br />

Klahrs Analyse des Denkens seiner Tochter zeigt mehrere bemerkenswerte<br />

Kennzeichen von Informationsverarbeitungstheorien<br />

1 . Eines davon ist die präzise Spezifizierung der am Denken<br />

der Kinder beteiligten Prozesse. Klahr verfolgte hier den Ansatz<br />

der Aufgabenanalyse.<br />

Informationsverarbeitungstheorien – Eine Klasse von Theorien, die die Informationsverarbeitung<br />

in den Mittelpunkt stellen, um die Struktur des kognitiven<br />

Systems <strong>und</strong> die mentalen Aktivitäten zu beschreiben, die Aufmerksamkeit <strong>und</strong><br />

Gedächtnis zum Problemlösen nutzen.<br />

Klahrs Ansatz wird als Aufgabenanalyse bezeichnet; damit ist<br />

die Identifikation der Ziele, der ihnen <strong>im</strong> Weg stehenden Hindernisse,<br />

der relevanten Umgebungsinformation <strong>und</strong> der poten-<br />

1 Hier <strong>und</strong> <strong>im</strong> weiteren Verlauf dieses Abschnitts verwenden wir den Ausdruck<br />

„Informationsverarbeitungstheorien“ <strong>im</strong> Plural <strong>und</strong> nicht <strong>im</strong> Singular,<br />

weil diese Theorien eine Vielzahl verwandter Ansätze umfassen <strong>und</strong> nicht<br />

die einheitlichen Vorstellungen eines einzelnen Theoretikers wie Piaget<br />

zum Ausdruck bringen. Aus demselben Gr<strong>und</strong> werden wir in den nachfolgenden<br />

Abschnitten von „soziokulturellen Theorien“ sprechen.<br />

ziellen Strategien zum Überwinden der Hindernisse <strong>und</strong> zum<br />

Erreichen des Zieles gemeint.<br />

Solche Aufgabenanalysen helfen Informationsverarbeitungsforschern,<br />

das Verhalten von Kindern zu verstehen <strong>und</strong><br />

vorherzusagen, <strong>und</strong> ermöglichen es, Hypothesen darüber,<br />

wie Entwicklung abläuft, exper<strong>im</strong>entell zu prüfen. In einigen<br />

Fällen bieten Aufgabenanalysen auch die Möglichkeit, Computers<strong>im</strong>ulationen<br />

zu programmieren, indem die Forscher<br />

ihre Annahmen über geistige Prozesse besonders eindeutig in<br />

Computers<strong>im</strong>ulationsmodellen formulieren. Zum Beispiel entwickelten<br />

S<strong>im</strong>on <strong>und</strong> Klahr (1995) S<strong>im</strong>ulationsmodelle zum<br />

Wissen <strong>und</strong> den geistigen Prozessen, die Kleinkinder bei Invarianzproblemen<br />

scheitern lassen, <strong>und</strong> entsprechend bei älteren<br />

Kindern zum fortgeschritteneren Wissen <strong>und</strong> den geistigen<br />

Prozessen, die älteren Kindern das Lösen dieser Aufgaben ermöglichen.<br />

Aufgabenanalyse – Eine Forschungstechnik, bei der für eine Aufgabe die Ziele,<br />

die relevante Umgebungsinformation <strong>und</strong> die möglichen Verarbeitungsstrategien<br />

identifiziert werden.<br />

Ein zweites kennzeichnendes Merkmal, das aus Klahrs Informationsverarbeitungsanalyse<br />

ersichtlich wird, ist die Betonung<br />

des Denkens als Aktivität mit zeitlichem Verlauf. Oft liegt dabei<br />

einem einfachen Verhalten wie dem von Klahrs Tochter geforderten<br />

Öffnen der Kellertür eine ausgedehnte Folge sehr schneller<br />

mentaler Operationen zugr<strong>und</strong>e. Die Analyse der Informationsverarbeitung<br />

spezifiziert, welche mentalen Operationen in<br />

welcher Reihenfolge ausgeführt werden <strong>und</strong> wie zunehmende<br />

Geschwindigkeit <strong>und</strong> Genauigkeit der mentalen Operationen zu<br />

kognitivem Wachstum führt.<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />

In der Sicht von Informationsverarbeitungstheoretikern durchlaufen<br />

Kinder kontinuierliche kognitive Veränderungen. Das<br />

kognitive Wachstum von Kindern wird als eine eher stetige<br />

Veränderung in gleichbleibenden Veränderungsschritten (Inkrementen)<br />

betrachtet <strong>und</strong> weniger als ein tiefgreifender <strong>und</strong><br />

abrupter Übergang. Diese Darstellung unterscheidet sich von<br />

Piagets Überzeugung, dass Kinder qualitativ unterscheidbare<br />

Stufen durchlaufen, die nur durch relativ kurze Übergangsphasen<br />

voneinander getrennt sind.<br />

Das Kind als Informationsverarbeitungssystem<br />

mit begrenzter Kapazität<br />

Be<strong>im</strong> Versuch, die Unterschiede kindlichen Denkens in verschiedenen<br />

Altersstufen zu verstehen, ziehen Informationsverarbeitungstheoretiker<br />

Vergleiche zwischen der Informationsverarbeitung<br />

von Computern <strong>und</strong> von Menschen. Die<br />

Informationsverarbeitung eines Computers ist durch seine Hardware<br />

(die physischen Bestandteile) <strong>und</strong> seine Software (die Programme)<br />

begrenzt. Die Hardware-Grenzen beziehen sich sowohl<br />

auf die Speicherkapazität des Computers als auch auf seine Leistungsfähigkeit<br />

be<strong>im</strong> Ausführen gr<strong>und</strong>legender Arbeitsschritte.<br />

Die Software-Grenzen beziehen sich auf die Strategien <strong>und</strong> die


Theorien der Informationsverarbeitung<br />

133 4<br />

Informationen, die für die jeweiligen Aufgaben zur Verfügung<br />

stehen. Menschliches Denken ist durch dieselben Faktoren begrenzt:<br />

Gedächtniskapazität, Schnelligkeit der Denkprozesse <strong>und</strong><br />

die Verfügbarkeit nützlicher Strategien <strong>und</strong> Wissensinhalte. Aus<br />

der Sicht der Informationsverarbeitung entsteht die kognitive<br />

Entwicklung dadurch, dass Kinder allmählich die Kapazitätsgrenzen<br />

ihres kognitiven Verarbeitungssystems überwinden,<br />

<strong>und</strong> zwar durch:<br />

1. Ausweitung des Informationsumfangs, den sie gleichzeitig<br />

verarbeiten können,<br />

2. <strong>im</strong>mer schnellere Ausführung der Denkprozesse,<br />

3. Erwerb neuer Strategien <strong>und</strong> neuen Wissens.<br />

Das Kind als Problemlöser<br />

Zentral für Informationsverarbeitungstheorien ist ferner die<br />

Annahme, dass Kinder aktive Problemlöser sind. Wie Klahrs<br />

Analyse des Verhaltens seiner Tochter erkennen lässt, gehören<br />

zum Problemlösen ein Ziel, das erreicht werden soll, <strong>und</strong> eine<br />

Strategie oder Regel, um Hindernisse auf dem Weg zum Ziel zu<br />

überwinden. Eine andere Beschreibung des Problemlösens bei<br />

einem jüngeren Kind zeigt dieselbe Kombination von Ziel, Hindernis<br />

<strong>und</strong> Strategie:<br />

» Georgie (zwei Jahre alt) will Steine aus dem Küchenfenster<br />

werfen. Draußen befindet sich der Rasenmäher. Papa sagt,<br />

dass Georgie keine Steine aus dem Fenster werfen darf, weil<br />

er mit den Steinen den Rasenmäher kaputt machen würde.<br />

Georgie sagt: „Ich hab eine Idee.“ Er geht nach draußen, bringt<br />

ein paar unreife Pfirsiche, mit denen er gespielt hatte, herein<br />

<strong>und</strong> sagt: „Die machen den Rasenmäher nicht kaputt.“ (Waters<br />

1989, S. 7)<br />

Neben der Illustration des Zusammenspiels von Ziel, Hindernis<br />

<strong>und</strong> Strategie bei der Mittel-Ziel-Analyse beleuchtet dieses Beispiel<br />

einen weiteren Gr<strong>und</strong>satz des Informationsverarbeitungsansatzes:<br />

Kognitive Flexibilität hilft Kindern be<strong>im</strong> Verfolgen ihrer<br />

Ziele. Das müssen nicht unbedingt die Ziele ihrer Eltern sein,<br />

aber der Erfindungsreichtum be<strong>im</strong> Überwinden von Hindernissen,<br />

die Eltern, die physikalische Umwelt <strong>und</strong> auch die eigenen<br />

Verarbeitungs- <strong>und</strong> Wissensgrenzen in den Weg stellen, ist bereits<br />

<strong>im</strong> Kleinkindalter bemerkenswert.<br />

Problemlösen – Der Prozess der Überführung eines Ausgangszustands in einen<br />

End- oder Zielzustand durch Anwenden einer Strategie, mit der ein Hindernis<br />

überw<strong>und</strong>en werden kann.<br />

Mittel-Ziel-Analyse – Aufteilung einer Zielhandlung in mehrere Teilschritte,<br />

die notwendigerweise aufeinander aufbauen.<br />

Zentrale Entwicklungsfragen<br />

Wie alle Theorien, die in diesem Kapitel beschrieben werden, untersuchen<br />

auch Informationsverarbeitungstheorien, wie Anlage<br />

<strong>und</strong> Umwelt als Motoren der Entwicklung zusammenwirken. Was<br />

Informationsverarbeitungstheorien auszeichnet, ist die präzise<br />

Beschreibung der Art <strong>und</strong> Weise, wie Veränderungen eintreten.<br />

Wie Theorien der Informationsverarbeitung die Fragen nach<br />

Anlage <strong>und</strong> Umwelt <strong>und</strong> das Wie der Veränderungen angehen,<br />

zeigt sich besonders deutlich daran, wie sie die Entwicklung von<br />

Gedächtnis <strong>und</strong> Problemlösen erklären.<br />

Die Entwicklung des Gedächtnisses<br />

Bei allem, was wir tun, ist das Gedächtnis von zentraler Bedeutung.<br />

Die Fertigkeiten, die wir be<strong>im</strong> Erledigen von Aufgaben einsetzen,<br />

die Sprache, derer wir uns be<strong>im</strong> Schreiben <strong>und</strong> Sprechen<br />

bedienen, die Emotionen, die wir bei best<strong>im</strong>mten Gelegenheiten<br />

empfinden – all dies hängt von unseren Erinnerungen an<br />

frühere Erfahrungen <strong>und</strong> an das bereits erworbene Wissen ab.<br />

Ohne Erinnerung an unsere Erfahrungen würden wir unsere<br />

Identität verlieren. Tatsächlich ist dieses niederschmetternde<br />

Syndrom bei Menschen mit best<strong>im</strong>mten Typen des Gedächtnisverlusts<br />

(Amnesie) zu beobachten (Reed <strong>und</strong> Squire 1998). Das<br />

Gedächtnis spielt in allen Entwicklungstheorien eine Rolle, aber<br />

bei den Informationsverarbeitungstheorien ist es zentral. Die<br />

meisten dieser Theorien unterscheiden dabei zwischen einem<br />

Arbeitsgedächtnis, einem Langzeitgedächtnis <strong>und</strong> einer exekutiven<br />

Funktion.<br />

Arbeitsgedächtnis<br />

Das Arbeitsgedächtnis (oft auch als „Kurzzeitgedächtnis“ bezeichnet)<br />

ist aktiv beteiligt, wenn wir Information mit Aufmerksamkeit<br />

beachten, speichern <strong>und</strong> verarbeiten. Wenn man beispielsweise<br />

ein Kind, nachdem es eine Geschichte über einen Vogel gelesen<br />

hat, danach fragt, so wird es interessante Informationen aus der<br />

Geschichte mit Schlussfolgerungen <strong>und</strong> Vorwissen verbinden <strong>und</strong><br />

all diese Informationen zu einer Antwort verarbeiten.<br />

Arbeitsgedächtnis (Kurzzeitgedächtnis) – Eine Art Werkstatt oder Pufferspeicher,<br />

in dem Informationen aus dem sensorischen <strong>und</strong> dem Langzeitgedächtnis<br />

zusammengeführt, beachtet <strong>und</strong> verarbeitet oder auch vergessen werden.<br />

Das Arbeitsgedächtnis ist sowohl in seiner Kapazität (der<br />

Menge an Information, die gespeichert werden kann) als auch<br />

in der Behaltensdauer begrenzt, über die hinweg Informationen<br />

ohne erneute Verarbeitung zur Aktualisierung zugreifbar bleibt.<br />

Beispielsweise kann ein Kind vielleicht eine Folge aus fünf Ziffern,<br />

aber nicht sechs ohne memorierendes Wiederholen 5–6 s<br />

behalten, nicht länger. Die Kapazität <strong>und</strong> Dauerhaftigkeit des<br />

Gedächtnisses variiert je nach Aufgabe <strong>und</strong> Art des verarbeiteten<br />

Informationsmaterials. Aber für eine best<strong>im</strong>mte Aufgabe,<br />

die auf eine best<strong>im</strong>mte Art gestellt wird, nehmen sowohl die<br />

Kapazität als auch die Geschwindigkeit der Verarbeitung mit<br />

zunehmendem Alter <strong>und</strong> wachsender Erfahrung zu (Schneider<br />

2011).<br />

Die gr<strong>und</strong>legende Organisation <strong>im</strong> Aufbau des Arbeitsgedächtnisses<br />

scheint von frühester Kindheit an konstant zu bleiben,<br />

aber seine Kapazität <strong>und</strong> Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />

wachsen <strong>im</strong> Lauf der Kindheit <strong>und</strong> Jugend stark an (Cowan<br />

et al. 1999; Gathercole et al. 2004). Diese Veränderungen werden<br />

teilweise auf das wachsende Wissen, mit dem das Gedächtnis<br />

operiert <strong>und</strong> teilweise auf die zunehmende Reifung des Gehirns<br />

zurückgeführt (Nelson et al. 2013; . Abb. 4.8).


134<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Präfrontaler Cortex<br />

(Stirnhirn)<br />

Frontallappen<br />

(Stirnlappen)<br />

Pr<strong>im</strong>ärer motorischer Cortex Parietallappen<br />

(Scheitellappen)<br />

Hippocampus<br />

..<br />

Abb. 4.8 Bei allen hier gezeigten<br />

größeren Bereichen des Gehirns<br />

geht die Reifung nach der Geburt<br />

weiter. Besonders lange braucht die<br />

Reifung des präfrontalen Cortex,<br />

der insbesondere bei der Planung,<br />

dem Unterdrücken von Handlungs<strong>im</strong>pulsen<br />

<strong>und</strong> dem Anpassen von<br />

Zielen an eine veränderte Situation<br />

beteiligt ist<br />

5<br />

Okzipitallappen<br />

(Hinterhauptlappen)<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

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20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Langzeitgedächtnis<br />

Temporallappen<br />

(Schläfenlappen)<br />

Im Unterschied zur kurzzeitigen Speicherung <strong>im</strong> Arbeitsgedächtnis<br />

enthält das Langzeitgedächtnis Wissen, das sich über<br />

die gesamte Lebenszeit eines Menschen angesammelt hat. Dazu<br />

gehört Faktenwissen (etwa wenn man die Hauptstädte verschiedener<br />

Länder kennt oder auch für die letzten fünf Jahre die<br />

Gewinner des Super-Bowl oder der B<strong>und</strong>esliga-Meisterschale<br />

nennen kann), Konzeptwissen (etwa bei Begriffen wie Gerechtigkeit,<br />

Dankbarkeit oder Gleichheit), Verfahrenswissen (etwa<br />

be<strong>im</strong> Zubinden von Schnürsenkeln oder Xbox-Spiel), Einstellungen<br />

(wie Vorlieben oder Ablehnung bei politischen Parteien<br />

oder auch Sardellen), Strategien be<strong>im</strong> schlussfolgernden Denken<br />

(etwa be<strong>im</strong> logischen Widerlegen von Argumenten) <strong>und</strong> so weiter.<br />

Das Langzeitgedächtnis kann man sich als die Gesamtheit<br />

des Wissens eines Menschen vorstellen, während man sich das<br />

Arbeitsgedächtnis als denjenigen Teil dieses Wissens veranschaulichen<br />

kann, der zu einem best<strong>im</strong>mten Zeitpunkt gerade verarbeitet<br />

wird (Cowan 2005; Ericsson <strong>und</strong> Kintsch 1995).<br />

Langzeitgedächtnis – Speicher von Informationen, die dauerhaft behalten<br />

werden.<br />

Im Gegensatz zum Arbeitsgedächtnis mit seinen engen Beschränkungen<br />

<strong>im</strong> Hinblick auf Kapazität <strong>und</strong> Verarbeitungsdauer<br />

kann das Langzeitgedächtnis Information praktisch in uneingeschränktem<br />

Umfang für unbegrenzte Zeit speichern. Hier ein<br />

bemerkenswertes Beispiel aus der Forschung: 50 Jahre nach dem<br />

Schulabschluss konnten sich Menschen, die Spanisch oder Algebra<br />

gelernt hatten, noch an einen beträchtlichen Teil des Stoffs<br />

erinnern, obwohl sie diese Informationen in der Zwischenzeit<br />

nicht gebraucht <strong>und</strong> eine enorme Menge anderer Fertigkeiten,<br />

Begriffe <strong>und</strong> Wissensinhalte <strong>im</strong> Langzeitgedächtnis angesammelt<br />

hatten (Bahrick 1987).<br />

Exekutive Funktion<br />

Exekutive Funktionen sind beteiligt, wenn wir unser Verhalten<br />

kognitiv steuern. Eine besonders wichtige Rolle spielt bei dieser<br />

Zerebellum (Kleinhirn)<br />

kognitiven Kontrolle der präfrontale Cortex. Drei gr<strong>und</strong>legende<br />

Arten exekutiver Funktionen sind die Hemmung von kontraproduktiven<br />

Handlungs<strong>im</strong>pulsen, die Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses<br />

durch Strategien wie das widerholende Memorieren<br />

von Telefonnummern, die ansonsten vergessen würden, <strong>und</strong> kognitive<br />

Flexibilität, etwa wenn man der Argumentation eines anderen<br />

folgt, ohne dessen Argumente zu übernehmen. Wie diese<br />

Beispiele andeuten, integrieren die exekutiven Funktionen die<br />

Informationen aus dem Arbeitsgedächtnis <strong>und</strong> dem Langzeitgedächtnis,<br />

um Ziele zu erreichen (z. B. Diamond 2013; Miyake<br />

<strong>und</strong> Friedman 2012; Rose et al. 2011).<br />

Die exekutiven Funktionen ermöglichen eine Kontrolle<br />

unseres Denkens <strong>und</strong> Handelns, d. h., jeder kann angemessen<br />

reagieren, statt unkontrolliert <strong>im</strong>pulsiv oder automatisch aus<br />

Gewohnheit zu handeln, <strong>und</strong> diese Funktionen entwickeln sich<br />

zunehmend <strong>im</strong> Kindergarten- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schulalter. Ein wichtiger<br />

Aspekt ist dabei die zunehmende kognitive Flexibilität be<strong>im</strong><br />

Verändern von Zielsetzungen. Wenn man Kindergartenkinder<br />

beispielsweise über längere Zeit hinweg auffordert, Spielzeuge<br />

nach deren Farben zu sortieren, <strong>und</strong> dann plötzlich verlangt,<br />

dass die Spielzeuge nach den Formen geordnet werden sollen,<br />

haben die meisten Dreijährigen Schwierigkeiten umzuschalten,<br />

während Fünfjährigen die Umstellung auf das neue Ziel leichtfällt<br />

(Baker et al. 2010; Zelazo et al. 2003).<br />

Die Fähigkeit, Verhaltensreaktionen zu stoppen, tritt etwas<br />

später auf <strong>und</strong> lässt sich in Kinderspielen wie S<strong>im</strong>on says, Kommando<br />

P<strong>im</strong>perle, oder Alle Vögel fliegen hoch! beobachten. Kindergartenkinder<br />

haben große Schwierigkeiten, bei ungültigen<br />

Kommandos, bei denen das entscheidende „S<strong>im</strong>on sagt“ fehlt,<br />

den Impuls zu bremsen, das Kommando gleich auszuführen. Im<br />

Gr<strong>und</strong>schulalter dagegen können die Kinder ihren Impuls, sofort<br />

zu handeln, besser zügeln (Dempster 1995; Diamond et al. 2002;<br />

Sabbagh et al. 2006). Die Strategien zur Kontrolle des Arbeitsgedächtnisses<br />

entwickeln sich meist etwas später, meist in den<br />

ersten Gr<strong>und</strong>schuljahren (Schneider 2011).<br />

Die Notwendigkeit einer starken exekutiven Funktion bleibt<br />

bekanntlich auch über die frühe Kindheit hinaus eine Herausfor-


Theorien der Informationsverarbeitung<br />

135 4<br />

derung. Auch für viele Jugendliche ist es nicht <strong>im</strong>mer leicht, der<br />

Versuchung zu widerstehen, Träumen nachzuhängen, statt Hausaufgaben<br />

zu machen, still zuzuhören, wenn der Lehrer spricht,<br />

oder respektlose Antworten seinen Eltern gegenüber zurückzuhalten<br />

(Bunge <strong>und</strong> Zelazo 2006; Munakata et al. 2011).<br />

Die Qualität der exekutiven Funktionen während der frühen<br />

Kindheit lässt als Prädiktor in hohem Maße wichtige Aspekte <strong>im</strong><br />

späteren Werdegang eines Menschen vorhersagen, beispielsweise<br />

was Schulabschluss, Studium, Einkommen <strong>und</strong> berufliche Stellung<br />

<strong>im</strong> Erwachsenenalter betrifft (Blair <strong>und</strong> Razza 2007; Mc-<br />

Clelland <strong>und</strong> Cameron 2012; Mischel <strong>und</strong> Ayduk 2011; Moffitt<br />

et al. 2011). Erfreulicherweise haben sich Förderprogramme für<br />

Kindergartenkinder, mit denen die exekutiven Funktionen trainiert<br />

werden können, als vielversprechend erwiesen (Diamond<br />

2013; Raver et al. 2011).<br />

In einer solchen Studie zur Förderung benachteiligter Vorschulkinder<br />

wurden zwei randomisierte Gruppen gebildet, die<br />

beide in eigenen Unterrichtsräumen ein Lernprogramm zur<br />

Förderung der exekutiven Funktionen durchliefen (Raver et al.<br />

2011). Die Intervention bestand darin, dass den Lehrern Strategien<br />

vorgegeben wurden, mit denen sie die Kinder bei der Impulskontrolle<br />

zur Unterdrückung störenden Verhaltens <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer<br />

unterstützen sollten – dazu gehörte es, klare Regeln<br />

vorzugeben <strong>und</strong> durchzusetzen, positives Verhalten zu belohnen<br />

<strong>und</strong> negatives in positive Richtungen zu lenken. Am Ende des<br />

Schuljahres zeigte die Intervention Verbesserungen <strong>im</strong> Verhalten<br />

der Kinder <strong>und</strong> in ihren Fähigkeiten zur Selbstkontrolle.<br />

Außerdem wirkte sich die Intervention in den drei folgenden<br />

Schuljahren bemerkenswert nachhaltig aus: Kinder der Interventionsgruppe<br />

erzielten bessere Leistungen in Rechnen <strong>und</strong> Lesen<br />

als die Kinder in der Kontrollgruppe (Raver et al. 2011).<br />

Erklärungen der Gedächtnisentwicklung<br />

Informationsverarbeitungstheoretiker wollen sowohl die Prozesse<br />

erklären, die das Gedächtnis in jedem Alter so gut machen,<br />

wie es jeweils ist, als auch die Beschränkungen, die es daran<br />

hindern, besser zu sein. Diese Bemühungen konzentrierten sich<br />

auf drei Fähigkeitsbereiche: Basisprozesse, Strategien <strong>und</strong> Inhaltswissen.<br />

Die einfachsten <strong>und</strong> am häufigsten eingesetzten geistigen<br />

Aktivitäten werden Basisprozesse genannt. Zu ihnen gehört<br />

das wechselseitige Assoziieren von Ereignissen, das Wiedererkennen<br />

von Objekten als vertraut, das Abrufen von Fakten <strong>und</strong><br />

Vorgehensweisen <strong>und</strong> das Verallgemeinern von einem Beispiel<br />

auf ein anderes. Ein weiterer Basisprozess, gr<strong>und</strong>legend für<br />

alle übrigen, ist das Encodieren, die Repräsentation spezieller<br />

Merkmale von Objekten <strong>und</strong> Ereignissen <strong>im</strong> Gedächtnis. Im<br />

Lauf der Entwicklung führen Kinder Basisprozesse <strong>im</strong>mer effizienter<br />

aus; das erweitert ihr Gedächtnis <strong>und</strong> ihre Lernleistung<br />

für Inhalte aller Art.<br />

Basisprozesse – Die einfachsten <strong>und</strong> am häufigsten eingesetzten geistigen<br />

Aktivitäten.<br />

Encodieren – Der Prozess, bei dem Information <strong>im</strong> Gedächtnis repräsentiert<br />

wird, die Aufmerksamkeit auf sich zieht oder als wichtig erachtet wird.<br />

Die meisten Basisprozesse sind allgemein bekannt <strong>und</strong> ihre Bedeutung<br />

liegt auf der Hand. Be<strong>im</strong> Encodieren ist es vermutlich<br />

jedoch nicht so klar. Um die Bedeutung des Encodierens zu<br />

verstehen, muss man etwas mehr über die Arbeitsweise des Gedächtnisses<br />

wissen. Häufig stellt man sich das Gedächtnis ähnlich<br />

wie eine originalgetreue Videoaufzeichnung des Erlebten vor. In<br />

Wahrheit ist das Erinnerungsvermögen jedoch weitaus selektiver.<br />

Menschen encodieren nur solche Informationen, die ihre<br />

Aufmerksamkeit erregen oder die sie für wichtig erachten. Das<br />

heißt, einen Großteil der Informationen encodieren sie nicht.<br />

An nicht encodierte Informationen kann man sich später jedoch<br />

nicht erinnern.<br />

Die Bedeutung des Encodierens für Lernen <strong>und</strong> Gedächtnis<br />

illustrieren Untersuchungen mit Kindern wie die zum Erlernen<br />

der Regeln, nach denen eine Balkenwaage funktioniert<br />

(. Abb. 4.5). Wie bereits erwähnt, sagen fast alle Fünfjährigen<br />

vorher, dass sich die Balkenwaage auf der Seite senken wird,<br />

auf der sich mehr Gewicht befindet – ungeachtet des Abstands<br />

der Gewichte vom Drehpunkt. Fünfjährige tun sich allgemein<br />

schwer be<strong>im</strong> Lernen diffizilerer Waage-Regeln, die beides, Abstand<br />

<strong>und</strong> Gewicht, berücksichtigen, weil sie die Information<br />

über den Abstand vom Drehpunkt noch nicht encodieren.<br />

Wenn man beispielsweise Fünfjährigen eine Balkenwaage mit<br />

verschiedenen Gewichtskonstellationen in den verschiedenen<br />

Abständen zeigt <strong>und</strong> sie anschließend auffordert, die jeweils<br />

gesehene Anordnung auf einer identischen Waage aus dem<br />

Gedächtnis zu rekonstruieren, so reproduzieren sie zwar die<br />

Gewichte auf jeder Seite richtig, legen diese aber nicht in den<br />

richtigen Abständen zum Drehpunkt auf (<strong>Siegler</strong> 1976). Weist<br />

man die Kinder jedoch darauf hin, den Abstand der Gewichte<br />

vom Drehpunkt <strong>im</strong> Gedächtnis zu behalten, können sie auch<br />

diffizilere Waage-Regeln erlernen, mit denen Gleichaltrige, denen<br />

das Encodieren nicht beigebracht wurde, Schwierigkeiten<br />

haben (<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Chen 1998).<br />

Ebenso wie die verbesserte Encodierung spielt auch eine erhöhte<br />

Verarbeitungsgeschwindigkeit bei der Lern- <strong>und</strong> Gedächtnisentwicklung<br />

eine Schlüsselrolle. Wie . Abb. 4.9 zeigt, erhöht<br />

sich die Verarbeitungsgeschwindigkeit am stärksten <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>alter,<br />

steigt aber auch während der Pubertät noch etwas an (Kail<br />

1991, 1997; Luna et al. 2004).<br />

Zwei biologische Prozesse tragen zur schnelleren Verarbeitung<br />

bei: die Myelinisierung <strong>und</strong> die zunehmenden Verbindungen<br />

zwischen den Gehirnregionen (Luna et al. 2004). Wie in ▶ Kap. 3<br />

dargestellt, werden von der pränatalen Phase an durch Kindheit<br />

<strong>und</strong> Jugend hindurch <strong>im</strong>mer mehr Axone von Neuronen mit Myelin<br />

ummantelt, einer fetthaltigen, isolierenden Substanz, die eine<br />

schnellere <strong>und</strong> zuverlässigere Übermittlung elektrischer Impulse<br />

<strong>im</strong> Gehirn fördert (Paus 2010). Die Myelinisierung verbessert die<br />

exekutiven Funktionen <strong>und</strong> trägt so zur Erhöhung der Fähigkeit<br />

bei, Ablenkungen zu widerstehen (Dempster <strong>und</strong> Corkill 1999;<br />

Wilson <strong>und</strong> Kipp 1998). Wachsende Verbindungen zwischen den<br />

Gehirnregionen erhöhen auch die Verarbeitungskapazität <strong>und</strong><br />

-geschwindigkeit, indem sie die Effizienz der Kommunikation<br />

von Gehirnregionen untereinander erhöhen (Thatcher 1992).<br />

Dieser Zuwachs an neuronaler Konnektivität erfolgt insbesondere<br />

in der späteren Kindheit <strong>und</strong> der Pubertät.


136<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

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17<br />

Mit dem Alter <strong>und</strong> den Erfahrungen wächst bei den Kindern<br />

das Inhaltswissen in fast allen Bereichen. Ihr umfangreicheres<br />

Wissen verbessert das Gedächtnis für neues Material, indem es<br />

die Verknüpfung des neuen Materials mit bereits vorhandenen<br />

Kenntnissen erleichtert (Pressley <strong>und</strong> Hilden 2006). Wie bedeutsam<br />

das Inhaltswissen für das Gedächtnis ist, zeigt sich daran,<br />

dass Kinder, wenn sie über ein Thema mehr wissen als Erwachsene,<br />

oft auch ein besseres Gedächtnis für neue Informationen zu<br />

diesem Thema haben als Erwachsene. Wenn Kinder <strong>und</strong> Erwacha<br />

..<br />

Abb. 4.9 Altersabhängige Steigerung der Verarbeitungsgeschwindigkeit bei zwei Aufgaben. Man beachte, dass die Steigerung in den frühen Jahren schnell<br />

<strong>und</strong> danach gemäßigter erfolgt. Man beachte ebenfalls: Niedrigere Skalenwerte zeigen schnellere Verarbeitungsprozesse an. (Daten aus Kail 1991)<br />

Theorien der Informationsverarbeitung verweisen auf den<br />

Erwerb <strong>und</strong> den Ausbau von Strategien als weitere wichtige<br />

Quelle der Entwicklung von Lernen <strong>und</strong> Gedächtnis. Eine Reihe<br />

dieser Strategien entsteht zwischen dem fünften <strong>und</strong> achten Lebensjahr,<br />

darunter die Strategie des Rehearsal, des ständigen<br />

Wiederholens oder Memorierens von Informationen, die man<br />

sich einprägen will. Der folgende Zeitungsausschnitt zeigt die<br />

Nützlichkeit des Memorierens für die wortwörtliche Erinnerung:<br />

» Ein 9-jähriger Junge merkte sich das Autokennzeichen eines<br />

Fluchtfahrzeugs nach einem bewaffneten Überfall; so wurde<br />

einem Gericht am Montag mitgeteilt. […] Der Junge <strong>und</strong> sein<br />

Fre<strong>und</strong> […] schauten in das Schaufenster eines Drogeriemarktes<br />

<strong>und</strong> sahen, wie ein Mann einen 14-jährigen Kassierer am<br />

Hals packte. […] Nach dem Raubüberfall wiederholten die Jungen<br />

das Kennzeichen <strong>im</strong> Geiste, bis sie es der Polizei mitteilten<br />

(Edmonton Journal vom 13. Januar 1981, zit. nach Kail 1984).<br />

Wenn die Jungen <strong>im</strong> Alter von fünf Jahren Zeugen desselben<br />

Ereignisses geworden wären, hätten sie die Buchstaben <strong>und</strong> Ziffern<br />

wahrscheinlich nicht memoriert <strong>und</strong> das Autokennzeichen<br />

wieder vergessen, bevor die Polizei kam.<br />

b<br />

viel Aufmerksamkeit auf die Objekte beider Kategorien, was ihr<br />

Gedächtnis für die Objekte, die sie sich merken sollen, verringert<br />

(DeMarie-Dreblow <strong>und</strong> Miller 1988).<br />

Selektive Aufmerksamkeit – Der Prozess der intendierten Konzentration auf<br />

die Information, die für das aktuelle Ziel am relevantesten ist.<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Rehearsal – Der Prozess der andauernden Wiederholung von Information als<br />

Gedächtnisstütze.<br />

Eine weitere, breit einsetzbare Gedächtnisstrategie, die <strong>im</strong><br />

Gr<strong>und</strong>schulalter zunehmend auftritt, ist die selektive Aufmerksamkeit,<br />

der Prozess der willentlichen Konzentration auf die<br />

Information, die für das gegenwärtige Ziel am wichtigsten ist.<br />

Wenn man Sieben- <strong>und</strong> Achtjährigen Gegenstände zweier verschiedener<br />

Kategorien zeigt (z. B. mehrere Spielzeugtiere <strong>und</strong><br />

mehrere Haushaltsgegenstände) <strong>und</strong> ihnen sagt, dass sie sich später<br />

nur an die Objekte in einer der beiden Kategorien zu erinnern<br />

brauchen (z. B. „Ihr braucht euch nur an die Tiere zu erinnern“),<br />

dann richten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Objekte der angekündigten<br />

Kategorie <strong>und</strong> erinnern sich an mehr Objekte. Unter<br />

derselben Instruktion richten dagegen Vierjährige etwa gleich<br />

..<br />

Durch wiederholte Arztbesuche <strong>und</strong> andere Erfahrungen, die mehr oder<br />

weniger festgelegte Abläufe aufweisen, bilden Kinder Skripte, mit deren Hilfe<br />

sie wissen können, was sie zukünftig erwarten können. (© Marcin Sadlowski/<br />

fotolia.com)


Theorien der Informationsverarbeitung<br />

137 4<br />

sene zum Beispiel neue Informationen über Kindersendungen<br />

<strong>im</strong> Fernsehen oder Kinderbüchern aufnehmen, dann merken<br />

sich Kinder <strong>im</strong> Allgemeinen mehr davon als die Erwachsenen<br />

(Lindberg 1980, 1991). In ähnlicher Weise lernen Kinder, die viel<br />

über Fußball wissen, be<strong>im</strong> Lesen neuer Fußballberichte mehr als<br />

andere Kinder, die sowohl älter sind als auch höhere Intelligenzwerte<br />

aufweisen, aber über weniger Fußballkenntnisse verfügen<br />

(Schneider et al. 1989).<br />

Inhaltliches Vorwissen verbessert das Gedächtnis für neue<br />

Informationen auf mehreren unterschiedlichen Wegen. Einer<br />

davon ist besseres Encodieren. Bei Gedächtnistests zu verschiedenen<br />

Spielstellungen von Schachfiguren auf einem Schachbrett<br />

erinnern sich Kinder, die dieses Spiel beherrschen, an wesentlich<br />

mehr Positionen der Figuren als Schachanfänger <strong>im</strong> Erwachsenenalter,<br />

weil sie aufgr<strong>und</strong> ihres größeren Expertenwissens die<br />

Information auf unterschiedlichem Niveau gebündelt encodieren,<br />

indem sie die Spielkonfiguration mehrerer Figuren in ihren<br />

Beziehungen zueinander encodieren, statt sich die Position jeder<br />

einzelnen Figur einzeln zu merken (Chi <strong>und</strong> Ceci 1987). Wissen<br />

verbessert das Gedächtnis auch dadurch, dass es nützliche Assoziationen<br />

bereitstellt. Ein Kind, das viel von Vögeln versteht,<br />

weiß, dass Schnabelform <strong>und</strong> bevorzugte Nahrung zusammenhängen;<br />

erinnert es sich an das eine, verbessert dies zugleich die<br />

Erinnerung an das andere (Johnson <strong>und</strong> Mervis 1994). Schließlich<br />

verweist Wissen auch darauf, was möglich ist <strong>und</strong> was nicht,<br />

<strong>und</strong> leitet das Gedächtnis daher in nützliche Richtungen. Bittet<br />

man beispielsweise Menschen, die mit dem Baseballspiel vertraut<br />

sind, sich an einen best<strong>im</strong>mten Durchgang (Inning) eines Spieles<br />

zu erinnern, das sie mitverfolgt haben, <strong>und</strong> sie können sich nur<br />

an zwei ausgeschiedene Spieler in diesem Inning erinnern, so<br />

sind sich diese Experten darüber <strong>im</strong> Klaren, dass es ein drittes<br />

Out gegeben haben muss, <strong>und</strong> werden ihr Gedächtnis danach<br />

durchsuchen, während Novizen ohne Baseballkenntnisse nicht<br />

darauf kommen (Spilich et al. 1979).<br />

Die Entwicklung des Problemlösens<br />

Wie erwähnt, beschreiben Informationsverarbeitungstheorien<br />

Kinder als aktive Problemlöser, denen es durch Anwenden von<br />

Strategien häufig gelingt, die Grenzen ihres Wissens <strong>und</strong> der<br />

Verarbeitungskapazität zu überschreiten. In diesem Abschnitt<br />

stellen wir eine Informationsverarbeitungsperspektive auf die<br />

Entwicklung des Problemlösens <strong>im</strong> Allgemeinen vor – den Ansatz<br />

überlappender Wellen – <strong>und</strong> untersuchen zwei besonders<br />

wichtige Problemlösungsprozesse: das Planen <strong>und</strong> das analoge<br />

Schlussfolgern. Nach Piagets Theorie nutzen Kinder eines best<strong>im</strong>mten<br />

Alters eine best<strong>im</strong>mte Strategie, um verschiedene Arten<br />

von Problemen zu lösen. Aus dieser Sicht lösen Fünfjährige<br />

die Aufgabe zur Zahlinvarianz (. Abb. 4.6), indem sie längere<br />

Reihen von Gegenständen wählen, während Siebenjährige die<br />

Lösung desselben Problems finden, indem sie schlussfolgern,<br />

dass die Anzahl der Gegenstände dieselbe geblieben sein muss,<br />

weil nichts hinzugefügt oder abgezogen wurde. Dagegen nutzen<br />

Kinder nach der Theorie der überlappenden Wellen eine Vielzahl<br />

von Herangehensweisen für die Lösung dieses <strong>und</strong> anderer<br />

Probleme (<strong>Siegler</strong> 1995). Untersucht man zum Beispiel die Denkweise<br />

von Fünfjährigen bei mehrfachen Versuchsdurchgängen<br />

bei der Zahlinvarianzaufgabe, so findet man, dass die meisten<br />

Kinder mindestens drei verschiedene Strategien einsetzen (<strong>Siegler</strong><br />

1995). Dasselbe Kind, das in einem Versuchsdurchgang den<br />

falschen Schluss zieht, die längere Reihe müsse mehr Objekte<br />

enthalten, schließt in anderen Versuchsdurchgängen richtig, dass<br />

ein bloßes Auseinanderziehen der Reihe die Anzahl der Objekte<br />

nicht ändert, <strong>und</strong> in wieder anderen Versuchsdurchgängen zählt<br />

es die Objekte in den beiden Reihen vielleicht durch, um herauszufinden,<br />

in welcher mehr davon sind.<br />

Theorien überlappender Wellen – Ein Informationsverarbeitungsansatz, der<br />

die Variabilität kindlichen Denkens bei der Anwendung verschiedener Strategien<br />

des Problemlösens betont.<br />

. Abbildung 4.10 stellt das typische Entwicklungsmuster dar, wie<br />

es der Ansatz überlappender Wellen entwirft, wobei Strategie 1<br />

die einfachste Strategie ist <strong>und</strong> Strategie 5 die anspruchsvollste.<br />

In dem jüngsten Alter, das in der Abbildung dargestellt ist, verwenden<br />

die Kinder meistens Strategie 1, manchmal aber auch<br />

Strategie 2 oder Strategie 4. Mit zunehmendem Alter <strong>und</strong> wachsender<br />

Erfahrung herrschen <strong>im</strong>mer mehr diejenigen Strategien<br />

vor, die zu erfolgreicheren Leistungen führen; auch neue Strategien<br />

werden entwickelt <strong>und</strong>, falls sie sich <strong>im</strong> Vergleich zu schon<br />

bestehenden Ansätzen als effektiver erweisen, <strong>im</strong>mer häufiger<br />

eingesetzt. . Abbildung 4.10 zeigt für den mittleren Altersbereich,<br />

dass die Kinder zu dem anfänglichen Inventar die Strategien 3<br />

<strong>und</strong> 5 hinzugefügt haben, während sie Strategie 1 fast gar nicht<br />

mehr einsetzen.<br />

Dieses Modell hat sich in einer Vielzahl von Kontexten als<br />

eine genaue Charakterisierung kindlichen Problemlösens erwiesen.<br />

Zu den Bereichen, in denen einzelne Kinder mehrere<br />

Strategien zur Lösung eines vorgegebenen Problems nutzen,<br />

gehören Kopfrechnen, Zeitangaben, Lesen, Buchstabieren, wissenschaftliches<br />

Exper<strong>im</strong>entieren, biologisches Verständnis, der<br />

Gebrauch von Hilfsmitteln <strong>und</strong> der Gedächtnisabruf (Chen <strong>und</strong><br />

<strong>Siegler</strong> 2000; Kuhn <strong>und</strong> Franklin 2006; Lee <strong>und</strong> Karmiloff-Smith<br />

2002; Miller <strong>und</strong> Coyle 1999). Die Modelle überlappender Wellen<br />

spezifizieren verschiedene Entwicklungswege, auf denen sich<br />

das Problemlösen verbessert. Kinder entdecken neue Strategien,<br />

die sich effizienter anwenden lassen als ihre Vorgänger, sie perfektionieren<br />

die Effizienz bei der Anwendung beider Strategien,<br />

<strong>und</strong> sie lernen, für ein Problem die jeweils geeignetste Strategie<br />

auszuwählen (Miller <strong>und</strong> Coyle 1999; <strong>Siegler</strong> 2006).<br />

Alle diese Ursprünge kognitiven Wachstums zeigen sich<br />

deutlich be<strong>im</strong> Erlernen der Addition. Im Kindergarten <strong>und</strong> in<br />

den ersten Gr<strong>und</strong>schuljahren verbessert sich das Wissen der Kinder<br />

über das Zusammenzählen einstelliger Zahlen enorm. Die<br />

Kinder entdecken neue Strategien wie das Weiterzählen (etwa<br />

bei der Lösung von 2 + 9, indem sie <strong>im</strong> Kopf zwei Zahlen weiter<br />

zählen, „9, 10, 11“). Eine weitere Ursache der Verbesserung liegt<br />

darin, dass alle bekannten Strategien schneller <strong>und</strong> genauer angewandt<br />

werden (z. B. Abruf der Antwort aus dem Gedächtnis,<br />

Aufwärtszählen von eins ausgehend oder Weiterzählen). Eine<br />

vierte Ursache der Verbesserung beruht darauf, dass die Wahl<br />

der Strategie zunehmend adaptiv ist (z. B. wählen die Kinder das<br />

Weiterzählen nun besonders häufig bei sehr unterschiedlichen<br />

Summanden wie 2 + 9, während sie bei großen Summanden wie<br />

7 + 8 von einer der Zahlen aus weiterzählen, weil es bei diesen


138<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

..<br />

Abb. 4.10 Das Modell überlappender<br />

Wellen. Das Modell<br />

überlappender Wellen n<strong>im</strong>mt an,<br />

dass Kinder in jedem Alter be<strong>im</strong><br />

Problemlösen verschiedene Strategien<br />

anwenden, dass sie sich mit<br />

zunehmendem Alter <strong>und</strong> wachsender<br />

Erfahrung <strong>im</strong>mer häufiger<br />

auf anspruchsvollere Strategien<br />

verlassen (in der Abbildung mit höheren<br />

Ziffern bezeichnet) <strong>und</strong> dass<br />

Entwicklung Veränderungen bei der<br />

Anwendung bestehender Strategien<br />

sowie das Entdecken neuer Ansätze<br />

umfasst<br />

7<br />

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10<br />

Exkurs 4.2: Anwendungen: Pädagogische Anwendungen von Informationsverarbeitungstheorien | |<br />

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23<br />

Was Kinder über Zahlen wissen, wenn sie in<br />

den Kindergarten kommen, ist ein wichtiger<br />

Hinweis auf die mathematischen Leistungen,<br />

die sie Jahre später in der Gr<strong>und</strong>schule, in der<br />

Sek<strong>und</strong>arstufe <strong>und</strong> sogar an der Hochschule<br />

erreichen (Duncan et al. 2007; Stevenson <strong>und</strong><br />

Newman 1986). Es ist besonders bedauerlich,<br />

dass Kindergartenkinder aus geringverdienenden<br />

Familien Gleichaltrigen aus Familien<br />

mit mittlerem Einkommen in vieler Hinsicht<br />

weit hinterherhinken: be<strong>im</strong> Zählen, Ziffernerkennen,<br />

Kopfrechnen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Wissen über<br />

numerische Größen (z. B. dass 7 weniger ist als<br />

9 <strong>und</strong> dass beide in der Ziffernreihe näher bei<br />

10 liegen als bei 0).<br />

Worauf mögen diese frühen Unterschiede<br />

<strong>im</strong> numerischen Wissen von Kindern mit<br />

unterschiedlichem sozioökonomischem<br />

Hintergr<strong>und</strong> beruhen? Eine Informationsverarbeitungsanalyse<br />

ließ vermuten, dass Erfahrung<br />

mit Zahlen von Bedeutung sein könnte, besonders<br />

Spielerfahrungen mit Kinderbrettspielen,<br />

deren Felder nummeriert sind <strong>und</strong> auf denen<br />

die Figuren in vielen Spielr<strong>und</strong>en vorwärts<br />

oder rückwärts bewegt werden, bisweilen<br />

über 100 durchnummerierte Felder wie be<strong>im</strong><br />

in den USA beliebten Chutes and Ladders. Je<br />

höher die Nummer des Spielfeldes, auf das ein<br />

Kind seine Figur vorrücken kann, desto mehr<br />

Zahlennamen wird das Kind wahrscheinlich<br />

während des Spieles ausgesprochen <strong>und</strong> gehört<br />

haben. Und je weiter es seine Figur zwischen<br />

Start <strong>und</strong> Ziel bewegt hat, desto länger<br />

ist die Spielzeit <strong>und</strong> desto größer die Anzahl<br />

einzelner Spielzüge, in denen es die Zahlen<br />

lernt. Die verbalen, räumlichen, zeitlichen<br />

<strong>und</strong> kinästhetischen Hinweisreize vermitteln<br />

eine breite multisensorische Gr<strong>und</strong>lage zum<br />

Umgang mit Zahlen – einen Wissensbereich,<br />

der eng mit Testergebnissen über mathematische<br />

Leistungen zusammenhängt (Booth <strong>und</strong><br />

<strong>Siegler</strong> 2006, 2008; Geary 2011).<br />

Ramani <strong>und</strong> <strong>Siegler</strong> (2008) wandten diese<br />

Informationsverarbeitungsanalyse an, um<br />

die Wirkung des Kinderbrettspieles auf das<br />

Zahlenverständnis von Vorschülern aus<br />

geringverdienenden Familien zu untersuchen.<br />

Die Forscher verteilten Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige<br />

aus geringverdienenden Familien nach dem<br />

Zufallsprinzip auf eine Exper<strong>im</strong>entalgruppe<br />

unter Zahlenbrett-Bedingung <strong>und</strong> eine<br />

Kontrollgruppe unter Farbenbrett-Bedingung.<br />

Die Zahlenbrett-Bedingung war praktisch<br />

identisch mit der ersten Reihe des Chutes and<br />

Ladders-Spielbrettes; das Spielbrett bestand<br />

aus zehn fortlaufend von links nach rechts<br />

durchnummerierten Feldern. Die Anzahl der<br />

Felder, um die eine Figur vorrücken durfte,<br />

wurde mithilfe eines drehbaren Pfeiles auf<br />

einem Zahlenrad ermittelt, dessen Felder eine<br />

1 oder eine 2 zeigten. Wenn der Pfeil auf dem<br />

Zahlenrad bei einer 1 oder 2 stehen blieb,<br />

schoben die Kinder ihre Figur ein oder zwei<br />

Felder weiter, wobei sie die Zahl auf jedem<br />

Spielfeld nannten. Stand zum Beispiel die<br />

Figur eines <strong>Kindes</strong> auf dem Feld mit der 4 <strong>und</strong><br />

es bekam eine 2, sagte es bei seinem Zug „5,<br />

6“ <strong>und</strong> bewegte die Figur von der 4 auf die 6.<br />

Unter der Farbenbrett-Bedingung spielten die<br />

Kinder dasselbe Spiel, nur zeigte ihr Spielbrett<br />

keine Zahlen, <strong>und</strong> die Spieler nannten die<br />

Farben jedes Feldes, wenn sie ihre Figur<br />

vorwärts zogen. Bei beiden Gruppen wurden<br />

die Kinder einem Vortest unterzogen, der ihr<br />

Wissen über Zahlen vor Spielbeginn ermittelte,<br />

<strong>und</strong> alle spielten das Spiel dann innerhalb von<br />

zwei Wochen in vier Viertelst<strong>und</strong>ensitzungen.<br />

Am Ende der vierten Sitzung testete man das<br />

numerische Wissen der Kinder erneut, <strong>und</strong><br />

neun Wochen später wurden sie in einem mit<br />

Vor- <strong>und</strong> Nachtest identischen Follow-up-Test<br />

noch einmal nachuntersucht.<br />

Im Nachtest zeigten Kinder, die das Zahlenbrettspiel<br />

gespielt hatten, bei allen vier<br />

numerischen Aufgaben – Zählen, Ziffernlesen,<br />

Größenvergleichen (was ist größer, 8 oder 3?)<br />

<strong>und</strong> Schätzungen der Platzierung von Zahlen<br />

in einer Ziffernreihe – ein verbessertes Wissen.<br />

Neun Wochen später bestand der Wissenszuwachs<br />

signifikant fort. Im Unterschied<br />

dazu zeigten die Kontrollgruppenkinder,<br />

die das Farbenbrettspiel gespielt hatten, in<br />

keiner Aufgabe zum numerischen Wissen<br />

einen Fortschritt. Darüber hinaus korrelierten<br />

die Angaben der Kinder zur Häufigkeit des<br />

Brettspielens zu Hause positiv mit ihrem ursprünglichen<br />

Wissen in allen vier numerischen<br />

Aufgaben. Kinder aus Familien mit mittlerem<br />

Einkommen berichteten viel häufiger vom<br />

Spielen mit numerischen Spielbrettern (nicht<br />

aber mit Video- oder Computerspielen) als<br />

die Kinder aus Familien mit geringerem<br />

Einkommen.<br />

Wie eine Folgestudie (<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Ramani<br />

2009) zeigte, verbessert das Spielen mit dem<br />

Eins-bis-zehn-Brett auch die Fähigkeit von<br />

Vorschülern, Rechenaufgaben wie 2 + 4 = 6<br />

zu lösen. Alles in allem lassen diese Belege<br />

vermuten, dass Zahlenbrettspiele ein schnelles,<br />

effektives <strong>und</strong> kostengünstiges Mittel zur<br />

Verbesserung des numerischen Wissens von<br />

Kindern aus Familien mit geringerem Einkommen<br />

sind, bereits bevor sie in die Schule<br />

kommen.


Theorien der Informationsverarbeitung<br />

139 4<br />

..<br />

Der übergroße Opt<strong>im</strong>ismus kleiner Kinder verführt<br />

sie manchmal zu gefährlichen Aktionen. In diesem<br />

Fall hat der Plan funktioniert, aber solche riskanten<br />

Pläne können auch schiefgehen. (© Jodie Plumert; mit<br />

fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Zahlen für sie schwierig wird, andere schon bekannte Strategien<br />

anzuwenden) (Geary 2006; <strong>Siegler</strong> 1987; <strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Jenkins<br />

1989). ▶ Exkurs 4.2 illustriert, wie sich dieser Fokus auf die Strategienentwicklung<br />

pädagogisch nutzen lässt.<br />

Problemlösen ist häufig erfolgreicher, wenn man plant, bevor<br />

man handelt. Kinder profitieren beispielsweise vom Planen, wenn<br />

sie sich vorab klarmachen, wie sie zum Haus eines Fre<strong>und</strong>es gelangen<br />

oder wie sie mit den Eltern klarkommen oder auch wie sie<br />

schlechten Nachrichten die Spitze nehmen <strong>und</strong> möglichst keinen<br />

Ärger bei den Adressaten auslösen (Hudson et al. 1997). Ungeachtet<br />

der Vorteile des Planens gelingt es vielen jüngeren Kindern<br />

nicht, in Situationen zu planen, in denen dies die Problemlösung<br />

unterstützen würde (Berg et al. 1997). Die Frage ist, warum.<br />

Ein Gr<strong>und</strong>, weshalb Planung für jüngere Kinder schwierig<br />

ist, scheint nach Analyse der Informationsverarbeitungsanforderungen<br />

des Planens darin zu liegen, dass der Wunsch, das<br />

Problem auf der Stelle zu lösen, unterdrückt werden müsste,<br />

um zuerst die bestmögliche Strategie aufzustellen. Ein bekanntes<br />

Beispiel ist das sofortige Ausfüllen eines Arbeitsblatts ohne<br />

vorherige Planung dessen, was hineingeschrieben werden soll.<br />

Ein zweiter Gr<strong>und</strong> dafür, dass es Kleinkindern so schwerfällt<br />

zu planen, besteht darin, dass sie zu übertriebenem Opt<strong>im</strong>ismus<br />

hinsichtlich ihrer Fähigkeiten neigen <strong>und</strong> denken, dass<br />

sie Probleme effektiver lösen können, als es ihnen tatsächlich<br />

möglich ist (Bjorkl<strong>und</strong> 1997; Schneider 1998). Dieses übergroße<br />

Selbstvertrauen kann sie dazu verleiten, voreilig zu handeln.<br />

Zum Beispiel erleiden Sechsjährige, die ihre körperlichen Fähigkeiten<br />

überschätzen, mehr Unfälle als Kinder, die ihre Fähigkeiten<br />

realistischer einschätzen, vermutlich weil sie in ihrem<br />

Opt<strong>im</strong>ismus nicht einplanen, drohende Gefahren zu vermeiden<br />

(Plumert 1995).<br />

Im Lauf der Zeit, während der Reifung des präfrontale Cortex<br />

– des für Planung besonders wichtigen Gehirnbereichs – <strong>und</strong> mit<br />

zunehmender Erfahrung, wird der überschießende Opt<strong>im</strong>ismus<br />

gedämpft <strong>und</strong> die Bedeutung der Planung deutlich. Dadurch verbessert<br />

sich das Problemlöseverhalten (Chalmers <strong>und</strong> Lawrence<br />

1993). Allerdings dauert es lange, die Planungsprozesse zu perfektionieren.<br />

Selbst Zwölfjährige wahren be<strong>im</strong> Überqueren der<br />

Straße weniger Abstand zu näher kommenden Fahrzeugen als<br />

Erwachsene (Plumert et al. 2004).<br />

In Kürze | |<br />

Informationsverarbeitungstheorien stellen Kinder als<br />

aktive Lerner <strong>und</strong> Problemlöser dar, die sich ständig neue<br />

Mittel ausdenken, um die Grenzen ihrer Verarbeitungskapazität<br />

zu überwinden <strong>und</strong> ihre Ziele zu erreichen.<br />

Strukturelle Voraussetzungen dafür sind sensorisches<br />

Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis <strong>und</strong> Langzeitgedächtnis,<br />

deren Kapazität <strong>und</strong> Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />

jegliche Informationsverarbeitung beeinflussen. Die<br />

exekutiven Funktionen verwenden die Informationen<br />

in Arbeits- <strong>und</strong> Langzeitgedächtnis, um flexibel Ziele zu<br />

ändern <strong>und</strong> situationsunangemessene Handlungs<strong>im</strong>pulse<br />

zu stoppen; sie aktualisieren zudem ständig die Inhalte<br />

<strong>im</strong> Arbeitsgedächtnis, sodass neue Ziele effizient verfolgt<br />

werden können. Kognitives Wachstum <strong>im</strong> Allgemeinen<br />

<strong>und</strong> die Entwicklung des Gedächtnisses <strong>und</strong> des Lernens<br />

<strong>im</strong> Besonderen gelten als Ausdruck zunehmend effizient<br />

ausgeführter Basisprozesse, neu gebildeter, <strong>im</strong>mer effizienterer<br />

Strategien <strong>und</strong> des Erwerbs von neuem Inhaltswissen.<br />

Entsprechend dem Modell der überlappenden Wellen<br />

nutzt jedes Kind be<strong>im</strong> Lösen desselben Problemtyps<br />

vielfältige Strategien; die Auswahl der Strategie ist dabei<br />

adaptiv, <strong>und</strong> das Problemlösen verbessert sich durch die<br />

zunehmende Effizienz be<strong>im</strong> Entdecken, Auswählen <strong>und</strong><br />

Ausführen der Strategien <strong>und</strong> durch besseres Planen.


140<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

1<br />

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23<br />

Soziokulturelle Theorien<br />

Eine Mutter <strong>und</strong> ihre vierjährige Tochter, Sadie, setzen ein Spielzeug<br />

zusammen <strong>und</strong> benutzen dazu eine Anleitung, in der die<br />

Einzelteile <strong>und</strong> ihre Zusammensetzung skizziert sind.<br />

» Mutter: Jetzt brauchst du so eines wie das hier auf der anderen<br />

Seite. Hm – pr<strong>im</strong>a, genau so.<br />

» Sadie: Dann brauche ich das hier, so wie das andere? Gleich,<br />

gleich. Lass los. Jetzt. Raus damit. Hoppla.<br />

» M: Ich halt es fest, wenn du es drehst. (Sieht zu, wie Sadie an<br />

dem Spielzeug montiert) Jetzt mach du es fertig.<br />

» S: Das hier?<br />

» M: Nein, schau auf das Bild. Hierhin (zeigt auf die Zeichnung).<br />

Dieses Teil.<br />

» S: So?<br />

» M: Ja.<br />

(Gauvain 2001, S. 32)<br />

Diese Interaktion kommt Ihnen wahrscheinlich völlig normal<br />

vor – <strong>und</strong> das ist sie auch. Aus der Perspektive soziokultureller<br />

Theorien besitzen solche unspektakulären Interaktionen aber<br />

größte Bedeutung, weil sie die Mechanismen darstellen, die die<br />

Entwicklung vorantreiben.<br />

Soziokulturelle Theorien – Ansätze, die den Beitrag anderer Menschen <strong>und</strong><br />

der umgebenden Kultur zur <strong>Kindes</strong>entwicklung betonen.<br />

Eine erwähnenswerte Eigenschaft des oben beschriebenen Ereignisses<br />

besteht aus soziokultureller Sicht darin, dass Sadie den<br />

Zusammenbau des Spielzeugs in einem zwischenmenschlichen<br />

Kontext lernt. Soziokulturelle Ansätze betonen, dass ein Großteil<br />

der Entwicklung in direkten Interaktionen von Kindern mit anderen<br />

Menschen stattfindet: mit Eltern, Geschwistern, Lehrern,<br />

Spielkameraden <strong>und</strong> so weiter, die den Kindern dabei helfen<br />

wollen, die von ihrer jeweiligen Kultur geschätzten Fertigkeiten<br />

<strong>und</strong> Wissensinhalte zu erwerben. Während die Theorie von<br />

Piaget <strong>und</strong> die Informationsverarbeitungstheorien die eigenen<br />

Bemühungen der Kinder be<strong>im</strong> Verstehen der Welt hervorheben,<br />

betonen soziokulturelle Theorien die Bedeutung, die der Interaktion<br />

der Kinder mit anderen Menschen für die Entwicklung<br />

zukommt.<br />

Die Interaktion zwischen Sadie <strong>und</strong> ihrer Mutter ist auch<br />

deshalb bemerkenswert, weil sie als Beispiel für gelenkte Partizipation<br />

gelten kann. Darunter versteht man einen Prozess, bei<br />

dem besser informierte Menschen (Experten) ihre Aktivitäten<br />

so gestalten, dass sich Menschen mit geringeren Kenntnissen<br />

daran auf einem höheren Niveau beteiligen können, als sie es<br />

von sich aus fertigbrächten (Rogoff 2003). Sadies Mutter zum<br />

Beispiel hält ein Teil des Spielzeugs so fest, dass Sadie ein anderes<br />

Teil hineinschrauben kann; ohne die Hilfe ihrer Mutter wäre<br />

Sadie nicht in der Lage, die beiden Teile zusammenzuschrauben,<br />

<strong>und</strong> könnte ihre Fähigkeiten bei dieser Aufgabe somit auch<br />

nicht erweitern. In ähnlicher Weise zeigt Sadies Mutter auf den<br />

relevanten Teil der Bauanleitung <strong>und</strong> ermöglicht Sadie damit<br />

die Entscheidung, was als Nächstes zu tun ist, wobei sie außerdem<br />

lernt, in welcher Weise Bauanleitungen Informationen<br />

vermitteln. Diese Episode zeigt, dass gelenkte Partizipation oft<br />

in Situationen auftritt, in denen die explizite Absicht darin besteht,<br />

ein praktisches Ziel – wie den Zusammenbau eines Spielzeugs<br />

– zu erreichen, wobei das Lernen als ein Nebenprodukt<br />

der Tätigkeit stattfindet.<br />

Gelenkte Partizipation – Ein Prozess, bei dem informierte Menschen (Experten)<br />

Aktivitäten so organisieren, dass Menschen mit geringeren Kenntnissen<br />

etwas lernen.<br />

..<br />

Durch gelenkte Partizipation können Eltern ihren Kindern nicht nur be<strong>im</strong><br />

Erreichen unmittelbarer Ziele helfen, sondern auch den Erwerb allgemeinerer<br />

Fertigkeiten unterstützen – beispielsweise be<strong>im</strong> Zusammensetzen von Bauteilen<br />

nach Gebrauchsanleitung oder Bauzeichnung. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Eine dritte beachtenswerte Eigenschaft der Interaktion zwischen<br />

Sadie <strong>und</strong> ihrer Mutter ist die Einbettung in einen breiteren kulturellen<br />

Kontext. Zu diesem Kontext gehören nicht nur andere<br />

Menschen, sondern auch die zahllosen menschlichen Errungenschaften,<br />

die in soziokulturellen Theorien als Kulturwerkzeuge<br />

bezeichnet werden: Symbolsysteme, Gebrauchsgegenstände, Fähigkeiten,<br />

Werte <strong>und</strong> so weiter. Im Beispiel von Sadie <strong>und</strong> ihrer<br />

Mutter betreffen die relevanten Symbolsysteme die Sprache, mit<br />

der sie ihre Gedanken wechselseitig vermitteln, <strong>und</strong> die Zeichnung,<br />

die ihnen be<strong>im</strong> Zusammenbau hilft. Zu den relevanten<br />

Gebrauchsgegenständen (den von Menschen geschaffenen Artefakten<br />

einer Kultur) gehören das Spielzeug <strong>und</strong> das bedruckte<br />

Blatt mit der Bauanleitung. Relevante Fähigkeiten sind die Beherrschung<br />

der Sprache, die es den beiden ermöglicht, miteinander<br />

zu kommunizieren, <strong>und</strong> die Verfahren, mit denen sie<br />

die Zeichnung interpretieren. Zu den Werten gehört, dass die<br />

Kultur es positiv einschätzt, wenn Eltern mit ihren Kindern so


Soziokulturelle Theorien<br />

141 4<br />

interagieren, wie es Sadies Mutter tut, <strong>und</strong> dass kleine Mädchen<br />

technische Fertigkeiten erlernen. Im Hintergr<strong>und</strong> wirken weiterreichende<br />

allgemeine technologische, ökonomische <strong>und</strong> historische<br />

Faktoren: zum Beispiel die Technologie zum Herstellen von<br />

Spielzeug <strong>und</strong> zum Drucken von Zeichnungen, eine Wirtschaft,<br />

die Eltern die Freizeit für solche Interaktionen ermöglicht, <strong>und</strong><br />

eine Geschichte, die zu den Symbolsystemen, Artefakten, Fähigkeiten,<br />

Werten, Technologien <strong>und</strong> wirtschaftlichen Verhältnissen<br />

geführt hat, die die Interaktionen zwischen Sadie <strong>und</strong> ihrer Mutter<br />

überhaupt erst ermöglichen. Soziokulturelle Theorien tragen<br />

also mit dazu bei, die vielen Aspekte der Kultur zu würdigen,<br />

die selbst in den unscheinbarsten Alltagsinteraktionen zum Ausdruck<br />

kommen.<br />

der kindlichen Fähigkeit, das eigene Verhalten zu regulieren <strong>und</strong><br />

Probleme zu lösen. Zunächst wird das Verhalten des <strong>Kindes</strong> von<br />

der Kommunikation mit anderen Menschen gesteuert (so wie in<br />

dem Beispiel von Sadie <strong>und</strong> ihrer Mutter be<strong>im</strong> Zusammensetzen<br />

von Spielzeug); dann wird das Verhalten des <strong>Kindes</strong> von seinem<br />

eigenen Selbstgespräch gesteuert, in dem es sich laut vorsagt, was<br />

zu tun ist, ganz so wie früher die Eltern; <strong>und</strong> schließlich steuert<br />

das Kind sein Verhalten durch ein inneres Sprechen (Denken),<br />

in dem es sich mit unausgesprochenen Wörtern klarmacht, was<br />

zu tun ist. Be<strong>im</strong> Übergang von der zweiten zur dritten Phase<br />

flüstert es oft vor sich hin oder bewegt stumm die Lippen. Mit<br />

Wygotskis Worten geht das Sprechen „in den Untergr<strong>und</strong>“ <strong>und</strong><br />

wird Gedanke.<br />

Kulturwerkzeuge – Die unzähligen Produkte der menschlichen Erfindungskraft,<br />

die die kognitiven Leistungen erhöhen.<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />

Der Nestor des soziokulturellen Ansatzes der kognitiven Entwicklung<br />

war der russische Psychologe Lew Semjonowitsch<br />

Wygotski. (Da die Transliteration aus dem Kyrillischen unterschiedlich<br />

gehandhabt wird, finden sich auch die Schreibweisen<br />

„Vygotski“ oder „Wygotsky“.) Obwohl Wygotski <strong>und</strong> Piaget<br />

Zeitgenossen waren, blieben große Teile der wichtigsten Werke<br />

Wygotskis bis in die 1970er Jahre außerhalb der Sowjetunion<br />

weitgehend unbekannt. Ihr Erscheinen erregte einiges Aufsehen,<br />

zum Teil deshalb, weil sich Wygotskis Sicht auf das Wesen des<br />

<strong>Kindes</strong> von der Piagets stark unterscheidet.<br />

Die Theorie von Wygotski<br />

Wie bereits erwähnt, stellte Piaget Kinder als kleine Wissenschaftler<br />

dar, die die Welt aus eigenen Kräften zu verstehen<br />

versuchen. Wygotski (1896–1934) dagegen zeichnete sie als<br />

soziale Wesen, deren Schicksal aufs Engste verwoben ist mit<br />

dem anderer Menschen, die sich darum bemühen, ihnen be<strong>im</strong><br />

Erwerb von Fähigkeiten <strong>und</strong> Kenntnissen zu helfen. Während<br />

die Kinder bei Piaget darauf aus sind, physikalische, mathematische<br />

<strong>und</strong> logische Begriffe zu beherrschen, die zu jeder Zeit<br />

<strong>und</strong> an jedem Ort dieselben sind, sind sie bei Wygotski darauf<br />

bedacht, an Aktivitäten teilzunehmen, die in ihrer lokalen Umgebung<br />

vorherrschen. Wo Piaget qualitative Veränderungen <strong>im</strong><br />

Denken betonte, hob Wygotski auf kontinuierliche quantitative<br />

Veränderungen ab. Diese Sicht Wygotskis ließ die zentrale Metapher<br />

soziokultureller Theorien entstehen: Kinder sind soziale<br />

Wesen, geformt durch ihren kulturellen Kontext, den sie ihrerseits<br />

mitgestalten.<br />

Wygotskis Schwerpunktsetzung auf das soziale Wesen wird<br />

auch in seiner Sicht der Beziehung zwischen Sprechen <strong>und</strong> Denken<br />

deutlich. Während Piaget beide weitgehend unabhängig betrachtete,<br />

sah Wygotski (1934/2002) sie als zwei Aspekte eines<br />

Ganzen; insbesondere nahm er an, dass Denken ein inneres Sprechen<br />

ist <strong>und</strong> zum Großteil in den Äußerungen wurzelt, die Eltern<br />

<strong>und</strong> andere Erwachsene den Kindern gegenüber kommunizieren.<br />

Um die Verinnerlichung der Sprache zu illustrieren, beschrieb<br />

Wygotski drei Phasen des inneren Sprechens in der Entwicklung<br />

Inneres Sprechen – Die dritte Phase bei der Internalisierung von Sprache über<br />

Kommunikation, Selbstgespräch <strong>und</strong> verbales Denken nach Wygotski. Kinder<br />

entwickeln ihre Fähigkeiten zur Selbstregulation <strong>und</strong> zum Problemlösen, indem<br />

sie sich selbst die von den Eltern gehörten Anweisungen laut vorsagen oder <strong>im</strong><br />

Selbstgespräch anweisen, was zu tun ist, bis sie in der letzten Phase Sprache<br />

<strong>und</strong> Denken verinnerlicht haben.<br />

Selbstgespräche findet man besonders bei Vier- bis Sechsjährigen,<br />

aber auch ältere Kinder <strong>und</strong> Erwachsene bedienen sich bei<br />

anspruchsvollen Aufgaben des inneren Sprechens, etwa be<strong>im</strong> Zusammenbau<br />

eines Modellflugzeugs <strong>und</strong> be<strong>im</strong> Befolgen schwieriger<br />

Anweisungen (Winsler et al. 2003). Auch vollzieht sich der<br />

Übergang von externem zu internem Sprechen nicht nur mit<br />

fortschreitendem Alter, sondern mit zunehmender Erfahrung;<br />

Kinder generieren bemerkenswert viele laute Selbstgespräche,<br />

wenn sie auf eine anspruchsvolle Aufgabe stoßen, <strong>und</strong> das Ausmaß<br />

der Selbstgespräche sinkt in dem Maß, in dem sie die Aufgabe<br />

beherrschen (Berk 1994).<br />

Kinder als Lehrende <strong>und</strong> Lernende<br />

Heutige Vertreter der soziokulturellen Theorien wie Michael<br />

Tomasello (2001, 2009) entwickeln Wygotskis Ansatz weiter.<br />

Folgt man Tomasello, so sind menschliche Wesen auf zwei<br />

miteinander verknüpfte Arten <strong>und</strong> Weisen einzigartig, die<br />

die Gr<strong>und</strong>lage unserer Fähigkeit bilden, komplexe, schnell<br />

veränderliche Kulturen zu erschaffen. Eine dieser dem Menschen<br />

vorbehaltenen Eigenschaften ist die Neigung, anderen<br />

Mitgliedern der Spezies etwas beizubringen; die andere ist<br />

die Neigung, solche Unterweisungen zu beachten <strong>und</strong> daraus<br />

zu lernen. In jeder menschlichen Gesellschaft vermitteln die<br />

Erwachsenen Fakten, Fähigkeiten, Werte <strong>und</strong> Traditionen an<br />

ihren Nachwuchs. Das ist es, was Kultur ermöglicht; jede neue<br />

Generation steht auf den Schultern der alten <strong>und</strong> kann deshalb<br />

weiter sehen, wie es Sir Isaac Newton beschrieben hat. Die<br />

Neigung, anderen etwas zu zeigen oder beizubringen, besteht<br />

bereits sehr früh. Alle normalen Zweijährigen zeigen spontan<br />

auf Objekte, um die Aufmerksamkeit anderer Menschen darauf<br />

zu lenken, was sie selbst interessant finden. Es handelt sich dabei<br />

um ein elementares Lehrverhalten, das nicht direkt an das<br />

Überleben geknüpft ist <strong>und</strong> das sich nur be<strong>im</strong> Menschen findet.<br />

Diese Vorliebe, aus Hinweisen anderer zu lernen <strong>und</strong> selbst<br />

anderen etwas beizubringen, versetzt Kinder in die Lage, sich<br />

in ihre Kultur sozial einzufügen <strong>und</strong> diese Kultur an andere<br />

weiterzugeben.


142<br />

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Die Neigung zu lehren <strong>und</strong> die Fähigkeit, daraus zu lernen, gehören zu den<br />

kennzeichnendsten Eigenschaften des Menschen. (© Gallo Images/Danita<br />

Del<strong>im</strong>ont/Getty Images)<br />

Kinder als Produkte ihrer Kultur<br />

Viele Prozesse, die Entwicklung anstoßen, wie etwa der Prozess<br />

der gelenkten Partizipation, kommen nach Meinung der Vertreter<br />

soziokultureller Theorien in allen Gesellschaften gleichermaßen<br />

vor. Die Inhalte, die die Kinder lernen – die jeweiligen<br />

Symbolsysteme, Gebrauchsgegenstände, Fähigkeiten <strong>und</strong> Werte<br />

–, variieren jedoch stark von Kultur zu Kultur <strong>und</strong> formen dementsprechend<br />

das Denken der Kinder.<br />

Ein Beispiel für die Bedeutung kulturspezifischer Inhalte<br />

liefert eine Untersuchung zur langfristigen Anwendung von<br />

Analogieschlüssen, bei denen Lösungserfahrungen mit bereits<br />

bekannten Problemen auf neue Probleme übertragen werden<br />

(Chen et al. 2004). Man bat amerikanische <strong>und</strong> chinesische<br />

Studenten, zwei Probleme zu lösen. Das eine Problem erforderte<br />

eine ähnliche Lösung wie die Strategie zur Wegmarkierung<br />

in Gr<strong>im</strong>ms Märchen Hänsel <strong>und</strong> Gretel; dieses Märchen<br />

ist amerikanischen Studenten wohlbekannt, chinesischen aber<br />

nicht. Die amerikanischen Studenten waren be<strong>im</strong> Lösen des<br />

Problems wesentlich erfolgreicher, <strong>und</strong> viele von ihnen spielten<br />

auf das Märchen an, obwohl sie es seit vielen Jahren nicht mehr<br />

gehört hatten. Das andere Problem erforderte eine Lösung, die<br />

analog zu einem Märchen war, das chinesischen Studenten<br />

wohlbekannt ist, amerikanischen aber nicht. In diesem Fall<br />

übertrafen die chinesischen Studenten ihre amerikanischen<br />

Kommilitonen, <strong>und</strong> viele spielten auf das einschlägige chinesische<br />

Märchen an.<br />

Auch die Erinnerungen an eigene Erlebnisse spiegeln die<br />

Kultur wider, in der Kinder aufwachsen. In einer Untersuchung<br />

beschrieben Vier- bis Achtjährige aus China <strong>und</strong> den Vereinigten<br />

Staaten ihre frühesten Erinnerungen, <strong>und</strong> in den unterschiedlichen<br />

Berichten zeigten sich die unterschiedlichen Einstellungen<br />

<strong>und</strong> Werte beider Kulturen (Wang 2007). Die chinesische Kultur<br />

schätzt <strong>und</strong> fördert die wechselseitige Abhängigkeit von Menschen,<br />

insbesondere von nahen Angehörigen. Die euroamerikanische<br />

Kultur hingegen schätzt <strong>und</strong> fördert die Unabhängigkeit<br />

von Individuen. In Übereinst<strong>im</strong>mung mit diesen kulturellen<br />

Schwerpunktsetzungen bezogen sich die Berichte der chinesischen<br />

Kinder häufiger auf andere Menschen, während diejenigen<br />

der amerikanischen Kinder sich häufiger auf die subjektiven Gefühle<br />

<strong>und</strong> Reaktionen bezogen. Dies ist ein weiterer Beleg dafür,<br />

dass die Einstellungen <strong>und</strong> Werte einer Kultur die Denkweisen<br />

der Menschen ebenso formen wie ihre Erfindungen <strong>und</strong> Technologien.<br />

Zentrale Entwicklungsfragen<br />

Wygotski <strong>und</strong> heutige Vertreter soziokultureller Theorien haben<br />

eine Reihe spezifischerer Beiträge zu den Mechanismen entwicklungsbedingter<br />

Veränderungen vorgelegt. Eines ihrer Konzepte<br />

– die gelenkte Partizipation – wurde bereits behandelt. In diesem<br />

Abschnitt untersuchen wir zwei damit zusammenhängende<br />

Konzepte, die in soziokulturellen Analysen von Veränderungsprozessen<br />

eine wichtige Rolle spielen: Intersubjektivität <strong>und</strong> soziale<br />

Stützung.<br />

Intersubjektivität<br />

Die Gr<strong>und</strong>lage der kognitiven Entwicklung des Menschen liegt<br />

nach Meinung der Vertreter soziokultureller Theorien in der Fähigkeit,<br />

Intersubjektivität herzustellen, also das wechselseitige<br />

Verstehen in der Kommunikation zwischen Menschen (Gauvain<br />

2001; Rommetveit 1985). Hinter diesem <strong>im</strong>posant klingenden<br />

Ausdruck verbirgt sich die einfache wie gr<strong>und</strong>sätzliche Vorstellung,<br />

dass eine effektive kommunikative Verständigung voraussetzt,<br />

dass sich die Beteiligten auf dieselben Inhalte beziehen <strong>und</strong><br />

auf die Reaktionen <strong>und</strong> Mitteilungen des anderen reagieren. Eine<br />

intersubjektive „geistige Begegnung“ ist für wirksames Lehren<br />

<strong>und</strong> Lernen unverzichtbar.<br />

Intersubjektivität – Das wechselseitige Verstehen in der Kommunikation zwischen<br />

Menschen.<br />

Die Wurzeln der Intersubjektivität sind schon <strong>im</strong> frühesten Lebensalter<br />

erkennbar. Mit zwei bis drei Monaten sind die Säuglinge<br />

lebhafter <strong>und</strong> interessierter, wenn ihre Mütter auf ihre Aktionen<br />

reagieren, als wenn das Verhalten der Mütter von ihren<br />

Aktionen unabhängig ist (Murray <strong>und</strong> Trevarthen 1985). Mit<br />

sechs Monaten können die Kinder neuartige Verhaltensweisen<br />

allein durch die Beobachtung des Verhaltens anderer Menschen<br />

erlernen (Collie <strong>und</strong> Hayne 1999).<br />

Diese Entwicklungen bereiten eine Fähigkeit vor, die <strong>im</strong><br />

Zentrum der Intersubjektivität steht – die geteilte Aufmerksamkeit.<br />

Dabei richten Kinder <strong>und</strong> ihre sozialen Partner ihre<br />

Aufmerksamkeit intendiert auf einen gemeinsamen Bezugspunkt<br />

(Sachverhalt, Gegenstand; allgemein: Referenten) in der<br />

äußeren Umwelt. Das Auftreten geteilter Aufmerksamkeit wird<br />

auf verschiedene Weise sichtbar. Zwischen neun <strong>und</strong> 15 Monaten<br />

schauen die Kinder zunehmend auf dieselben Gegenstände<br />

wie ihre Sozialpartner, verfolgen Änderungen <strong>im</strong> Blickverhalten<br />

der Partner, passen ihre eigene Blickrichtung an, wenn der<br />

Partner ein neues Objekt fokussiert, <strong>und</strong> lenken die Aufmerksamkeit<br />

von Erwachsenen aktiv auf Objekte, die sie selbst interessieren<br />

(Adamson et al. 2004; Akhtar <strong>und</strong> Gernsbacher 2008;<br />

Moore 2008).


Soziokulturelle Theorien<br />

143 4<br />

Geteilte Aufmerksamkeit – Ein Prozess, bei dem soziale Partner ihre Aufmerksamkeit<br />

bewusst auf einen gemeinsamen Gegenstand in der äußeren Umwelt<br />

richten.<br />

Menschen vorübergehend eine Situation, die es Kindern ermöglicht,<br />

auf einem höheren Niveau zu denken, als sie es aus eigener<br />

Kraft können (Wood et al. 1976). Im Idealfall gehört zu einer<br />

solchen Situation, dass das Ziel einer Aufgabe erklärt wird, mögliche<br />

Lösungswege aufgezeigt werden <strong>und</strong> das Kind Hilfe bei der<br />

Ausführung der schwierigsten Teilhandlungen bekommt. Das<br />

ist letztlich die Art, wie Eltern ihren Kindern etwas beibringen<br />

(Pratt et al. 1988; Saxe et al. 1987; Wood 1986).<br />

Soziale Stützung – Ein Prozess, bei dem eine kompetentere Person zeitweilig<br />

ein Rahmengerüst bietet, welches das Denken des <strong>Kindes</strong> auf einer höheren<br />

Ebene ermöglicht, als das Kind es selbst bewältigen könnte.<br />

..<br />

Der menschlichen Fähigkeit, zu lehren <strong>und</strong> zu lernen, liegt geteilte<br />

Aufmerksamkeit zugr<strong>und</strong>e: der Prozess, bei dem sich die Sozialpartner auf<br />

dasselbe Objekt in der Umwelt konzentrieren. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Die geteilte Aufmerksamkeit erhöht die Fähigkeit der Kinder, von<br />

anderen Menschen zu lernen, beträchtlich. Ein wichtiges Beispiel<br />

bezieht sich auf das Sprachlernen. Wenn ein Erwachsener einem<br />

Kleinkind sagt, wie ein Objekt heißt, schaut der Erwachsene dieses<br />

Objekt meistens an oder zeigt darauf; Kinder, die dasselbe<br />

Objekt anschauen, sind in einer besseren Lage zu lernen, was<br />

das Wort bedeutet, als Kinder, die irgendwo anders hinschauen<br />

(Baldwin 1991). Wie erfolgreich Säuglinge dem Blick anderer<br />

Menschen folgen, sagt ihre spätere Wortschatzentwicklung vorher<br />

(Brooks <strong>und</strong> Meltzoff 2008) <strong>und</strong> ganz allgemein die spätere<br />

Sprachentwicklung (Carpenter et al. 1998).<br />

Die Intersubjektivität entwickelt sich weit über das Kleinkindalter<br />

hinaus weiter, wenn die Kinder zunehmend besser<br />

in der Lage sind, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen.<br />

Beispielsweise erreichen Kinder <strong>im</strong> Alter von vier Jahren,<br />

verglichen mit Dreijährigen, mit größerer Wahrscheinlichkeit<br />

Übereinst<strong>im</strong>mung mit Gleichaltrigen, was die Regeln des Spieles<br />

betrifft, das sie spielen wollen, <strong>und</strong> die Rollen, die jedes Kind<br />

dabei einnehmen soll (Göncü 1993). Die fortgesetzte Entwicklung<br />

solcher Fähigkeiten der Perspektivenübernahme führt auch<br />

dazu, dass Kinder <strong>im</strong> Schulalter <strong>im</strong>mer mehr in der Lage sind,<br />

sich wechselseitig etwas beizubringen <strong>und</strong> voneinander zu lernen<br />

(Gauvain 2001).<br />

Soziale Stützung<br />

Wenn hohe Gebäude errichtet werden, benutzen Bauarbeiter ein<br />

Gerüst, eine Rahmenkonstruktion aus Metall oder Holz, mit deren<br />

Hilfe sie auch in großer Höhe arbeiten können. Wenn eine<br />

tragende Struktur des Gebäudes errichtet ist, kann sie selbst für<br />

die weiteren Arbeiten als Plattform dienen, <strong>und</strong> das Gerüst kann<br />

abgebaut werden. In analoger Weise wird das Lernen des <strong>Kindes</strong><br />

durch soziale Stützung gefördert; dabei gestalten kompetentere<br />

..<br />

Indem Eltern soziale Stützung bieten, befähigen sie ihre Kinder, auf fortgeschrittenere<br />

Weise mit Spielzeug <strong>und</strong> anderen Objekten umzugehen, als es<br />

ihnen allein möglich wäre. Diese Unterstützung hilft den Kindern zu lernen.<br />

(© lagom/Fotolia.com)<br />

Durch den Prozess der sozialen Stützung werden Kinder befähigt,<br />

auf einem höheren Niveau zu arbeiten, als es ihnen ohne<br />

solche Hilfe möglich wäre. Zunächst verlangt dies umfangreiche<br />

Stützmaßnahmen, die mit der Zeit jedoch zurückgeschraubt<br />

werden können, bis das Kind die Aufgabe am Ende<br />

auch ohne fremde Hilfe bewältigt. Je besser die soziale Stützung<br />

beschaffen ist – das heißt, je mehr die Lehranstrengungen<br />

sich an der oberen Leistungsgrenze der kindlichen Fähigkeiten<br />

ausrichten –, desto besser wird der Lernerfolg des <strong>Kindes</strong> sein<br />

(Conner et al. 1997; Gauvain 2001). Das Ziel sozialer Stützung<br />

– den Kindern Lernen zu ermöglichen, indem sie etwas tun –<br />

ist dasselbe wie das der gelenkten Partizipation, aber soziale<br />

Stützung enthält tendenziell mehr explizite Anweisungen <strong>und</strong><br />

Erklärungen, während bei der gelenkten Partizipation meist<br />

die Erwachsenen die Aufgaben so strukturieren, dass Kinder<br />

<strong>im</strong>mer aktivere <strong>und</strong> verantwortlichere Rollen übernehmen<br />

können.<br />

Ein besonders wichtiger Weg, auf dem Eltern ihre Kinder<br />

sozial stützen können, besteht darin, den Kindern be<strong>im</strong> Aufbau<br />

des autobiografischen Gedächtnisses zu helfen, indem sie ihre<br />

Kinder auffordern, sich an selbst erlebte Ereignisse aus der Vergangenheit<br />

zu erinnern, die zu einer best<strong>im</strong>mten Zeit an einem<br />

best<strong>im</strong>mten Ort geschahen (Nelson <strong>und</strong> Fivush 2004). Zu autobiografischen<br />

Erinnerungen gehören auch Informationen über<br />

die Ziele, Intentionen, Emotionen <strong>und</strong> Reaktionen des <strong>Kindes</strong>,<br />

die mit diesen Ereignissen zusammenhängen. Im Lauf der Zeit


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Exkurs 4.3: Anwendungen: Pädagogische Anwendungen der soziokulturellen Theorien | |<br />

Das Bildungssystem in Ländern wie den USA<br />

<strong>und</strong> Deutschland wurde zeitweise kritisiert,<br />

weil es zu sehr ein mechanisches Auswendiglernen<br />

von Fakten fördere statt ein tieferes<br />

Verständnis von Zusammenhängen, weil es<br />

Konkurrenz statt Zusammenarbeit zwischen<br />

den Schülern unterstütze <strong>und</strong> weil es ganz<br />

allgemein zu wenig Begeisterung für das<br />

Lernen vermittele (National Association for the<br />

Education of Young Children 2011; Pellegrino<br />

et al. 2001). Soziokulturelle Theorien betonen<br />

die Rolle der Kultur; daraus leitet sich eine<br />

Veränderung der Schulkultur als ein Weg ab,<br />

um die schulische Ausbildung zu verbessern.<br />

Es sollte eine Kultur geschaffen werden, in der<br />

Unterricht auf ein tieferes Verständnis gerichtet<br />

ist, in der Lernen als kooperative Angelegenheit<br />

gilt <strong>und</strong> in der kleine Lernfortschritte<br />

die Kinder dazu veranlassen, noch mehr lernen<br />

zu wollen.<br />

Ein eindrucksvoller Versuch, diese Ziele<br />

umzusetzen, besteht in Ann Browns (1997)<br />

Programm einer Gemeinschaft der Lernenden.<br />

Ihre Bemühungen, Lerngemeinschaften<br />

aufzubauen, konzentrierten sich auf sechsbis<br />

zwölfjährige überwiegend afroamerikanische<br />

Kinder in innerstädtischen Schulen<br />

von Boston (Mass.) <strong>und</strong> Oakland (Calif.).<br />

Die hauptsächlichen Unterrichtseinheiten<br />

bestehen aus Projekten, die das Erforschen<br />

eines großen Zusammenhangs erfordern,<br />

etwa die Wechselwirkung zwischen Tieren<br />

verweben sich diese Erinnerungen in eine mehr oder weniger<br />

kohärente Schilderung des eigenen Lebens.<br />

Autobiografisches Gedächtnis – Erinnerungen an eigene Lebenserfahrungen<br />

einschließlich eigener Gedanken <strong>und</strong> Gefühle.<br />

Einige Mütter ermutigen ihre Kleinkinder, recht viele Details<br />

über vergangene Erlebnisse zu schildern, <strong>und</strong> weiten deren<br />

Darstellungen häufig aus, wenn sie diese Erfahrungen mit ihren<br />

Kindern besprechen. Eine solche Mutter kommentiert die<br />

Äußerung ihres <strong>Kindes</strong> „Vogel wegfliegen“ vielleicht mit einer<br />

Erwiderung: „Ja, der Vogel ist weggeflogen, weil du so nah an<br />

ihn herangegangen bist; da hat er sich vor dir gefürchtet.“ Solche<br />

Rückmeldungen helfen Kindern dabei, sich an ihre Erlebnisse<br />

zu erinnern, indem sie das Encodieren der wichtigsten Information<br />

(Abstand zum Vogel) <strong>und</strong> ihr Erkennen der Kausalbeziehungen<br />

zwischen Geschehnissen verbessern (Boland et al.<br />

2003; McGuigan <strong>und</strong> Salmon 2004). Andere Mütter stellen<br />

weniger Fragen <strong>und</strong> gehen selten darauf ein, was ihre Kinder<br />

sagen. Kinder, deren Mütter den ausführlicheren Stil gebrauchen,<br />

erinnern sich an mehr als Kinder, deren Mütter das selten<br />

tun (Haden et al. 1997; Harley <strong>und</strong> Reese 1999; Leichtman et al.<br />

2000). Wie in ▶ Exkurs 4.3 dargelegt, erwiesen sich Konzepte<br />

der soziokulturellen Theorien auch bei der Verbesserung des<br />

Schulunterrichts als nützlich.<br />

<strong>und</strong> ihrem Lebensraum. Eine Klasse wird<br />

in Kleingruppen aufgeteilt, die sich jeweils<br />

auf einen best<strong>im</strong>mten Aspekt des Themas<br />

konzentrieren. Bei dem Thema der Abhängigkeit<br />

zwischen Tieren <strong>und</strong> ihrem Lebensraum<br />

würde beispielsweise eine Gruppe die Beziehungen<br />

zwischen Raubtieren <strong>und</strong> ihrer Beute<br />

untersuchen, eine andere die Fortpflanzungsstrategien,<br />

eine dritte den Schutz vor den<br />

Elementen <strong>und</strong> so weiter.<br />

Am Ende der circa zehn Wochen werden neue<br />

Gruppen gebildet, mit je einem Kind aus<br />

jeder der ursprünglichen Gruppen. Die Kinder<br />

in den neuen Gruppen sollen eine Aufgabe<br />

bearbeiten, die alle Aspekte enthält, die von<br />

den vorherigen Gruppen untersucht wurden,<br />

beispielsweise ein „Zukunftstier“ entwerfen,<br />

das sich besonders gut an seinen Lebensraum<br />

anpassen könnte. Weil die Beteiligung<br />

eines jeden <strong>Kindes</strong> an der vorherigen Gruppe<br />

dazu geführt hat, dass es in dem von seiner<br />

Gruppe untersuchten Bereich Sachkenntnis<br />

gewonnen hat, die kein anderes Kind der neu<br />

zusammengesetzten Gruppe besitzt, sind die<br />

Beiträge aller Kinder wesentlich, damit die<br />

neue Gruppe erfolgreich sein kann. Dieses<br />

Vorgehen wurde von Aronson et al. (1978)<br />

auch als Puzzle-Ansatz bezeichnet, weil wie bei<br />

einem Puzzle jedes Teil für die schlussendliche<br />

Lösung notwendig ist.<br />

Eine Vielzahl von Menschen fördert solche<br />

Lerngemeinschaften. In der Schule stellen die<br />

In Kürze | |<br />

Lehrer die Idee der Lerneinheit als solche vor<br />

<strong>und</strong> ermutigen die Klasse, ihr Wissen zusammenzulegen,<br />

um ein besseres Verständnis zu<br />

ermöglichen; sie geben den Kindern Anstöße,<br />

Belege für ihre Annahmen beizubringen, <strong>und</strong><br />

lassen sie das, was sie wissen, zusammenfassen<br />

<strong>und</strong> neue Lernziele best<strong>im</strong>men. Experten<br />

von außerhalb werden in die Klasse geholt, um<br />

thematisches Wissen zu lehren <strong>und</strong> diesbezügliche<br />

Fragen zu beantworten. Kinder <strong>und</strong><br />

Lehrer tauschen mit anderen Schulen, die an<br />

denselben Fragestellungen arbeiten, E-Mails<br />

aus, um zu sehen, wie diese mit den Aspekten,<br />

die sich ergeben, umgehen.<br />

Lerngemeinschaften verschaffen Kindern sowohl<br />

kognitiven Gewinn als auch Motivation.<br />

Die Teilnahme an solchen Gruppen verhilft<br />

den Kindern dazu, <strong>im</strong>mer geschickter gute<br />

Lösungsansätze für die Aufgaben zu entwickeln,<br />

die sie zu lösen versuchen. Sie verhilft<br />

ihnen auch dazu, allgemeine Fähigkeiten wie<br />

die Identifikation zentraler Fragen <strong>und</strong> den<br />

Vergleich alternativer Lösungen bei einer<br />

Problemstellung zu erlernen. Weil die Kinder<br />

alle wechselseitig von ihren Beiträgen abhängig<br />

sind, fördert der Ansatz der Lerngemeinschaften<br />

nicht zuletzt auch gegenseitigen<br />

Respekt <strong>und</strong> die individuelle Verantwortung<br />

für den Erfolg der gesamten Gruppe. Kurz<br />

gesagt, dieser Ansatz erzeugt eine Kultur des<br />

Lernens.<br />

Soziokulturelle Ansätze sehen Kinder als lernende soziale Wesen,<br />

die von ihren kulturellen Kontexten geformt werden <strong>und</strong><br />

diese selbst formen. Diese Ansätze legen besonderes Gewicht<br />

darauf, dass sich Kinder in einem kulturellen Kontext entwickeln,<br />

der andere Menschen <strong>und</strong> menschliche Erfindungen<br />

einschließt: Symbolsysteme, Gebrauchsgegenstände, Fähigkeiten<br />

<strong>und</strong> Werte. Durch gelenkte Partizipation helfen Menschen,<br />

die es besser können, Kindern be<strong>im</strong> Erwerb von Fähigkeiten <strong>im</strong><br />

Umgang mit diesen Kulturwerkzeugen; die Verwendung der<br />

Werkzeuge selbst verändert wiederum das Denken der Kinder.<br />

Kultur wird durch die Neigung des Menschen zum Denken <strong>und</strong><br />

Lernen erst möglich; hinzu kommt die Fähigkeit, Intersubjektivität<br />

mit anderen Menschen herzustellen. Durch Prozesse wie<br />

soziale Stützung <strong>und</strong> das Schaffen von Lerngemeinschaften<br />

unterstützen ältere <strong>und</strong> erfahrenere Menschen Kinder be<strong>im</strong><br />

Erwerb von Fähigkeiten, Wissen <strong>und</strong> Werten ihrer Kultur.<br />

Theorien dynamischer Systeme<br />

Wie alle biologischen Prozesse bietet auch das Denken einen Anpassungsvorteil:<br />

Es befähigt Menschen <strong>und</strong> andere Tiere, Pläne


Theorien dynamischer Systeme<br />

145 4<br />

..<br />

Abb. 4.11 Problemlösen erfordert oft motorische Fähigkeiten. Eine gr<strong>und</strong>legende Erkenntnis der Theorien dynamischer Systeme besagt, dass Denken ohne<br />

motorische Fertigkeiten sinnlos bliebe. Auf diesen Fotos ist ein zwölf Monate altes Kind zu sehen, das ein Hindernis aus dem Weg räumt, um anschließend<br />

das Tuch mit der Schnur <strong>und</strong> dem Spielzeug zu sich hinzuziehen. Wäre das Kind nicht be<strong>im</strong> Greifen geschickt genug <strong>und</strong> be<strong>im</strong> Ziehen stark genug, wäre seine<br />

Problemlösung nutzlos. (© Peter Willatts, University of D<strong>und</strong>ee, Scotland; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

zu entwerfen, um Ziele zu erreichen. Zielerreichung erfordert<br />

aber auch die Fähigkeit zum effizienten Handeln; ohne diese Fähigkeit<br />

wäre das Denken sinnlos. Welchen Zweck hätte es für ein<br />

Kleinkind herauszufinden, dass es ein Hindernis entfernen muss,<br />

um an ein Spielzeug heranzukommen, wenn dieses Kind nicht<br />

<strong>im</strong>stande dazu wäre, das Hindernis zu entfernen, die Hand danach<br />

auszustrecken <strong>und</strong> es zu ergreifen (. Abb. 4.11)? Doch trotz<br />

dieses inneren Zusammenhangs von Denken <strong>und</strong> Handeln haben<br />

sich die meisten Theorien zur kognitiven Entwicklung einzig<br />

auf das Denken konzentriert <strong>und</strong> die Entwicklung des Handelns<br />

ignoriert, die es dem Kind gestattet, die Früchte seiner geistigen<br />

Anstrengungen zu ernten.<br />

Eine zunehmend einflussreiche Ausnahme von dieser Regel<br />

bilden die Theorien dynamischer Systeme, bei denen die<br />

zeitlichen Veränderungen komplexer Systeme <strong>im</strong> Mittelpunkt<br />

stehen. Dabei zeichnen sich komplexe Systeme durch eine Reihe<br />

von Komponenten aus, die das System bilden <strong>und</strong> durch viele<br />

Einflussfaktoren best<strong>im</strong>mt werden, die miteinander interagieren<br />

<strong>und</strong> die Entwicklung des gesamten Systems steuern. Mit diesem<br />

systemischen Forschungsansatz wurde in detaillierten Analysen<br />

gezeigt, dass schon gr<strong>und</strong>legende Handlungen wie Kriechen,<br />

Laufen, Hinlangen <strong>und</strong> Greifen überraschende <strong>und</strong> eindrucksvolle<br />

Einblicke darüber vermitteln, wie sich Entwicklung vollzieht.<br />

So wurde beispielsweise nachgewiesen, dass verbessertes<br />

Greifen die Entwicklung des freien (spontanen) Spieles von Kindern<br />

mit Gegenständen beeinflusst. Insbesondere ermöglicht es<br />

den Kindern, auf fortgeschrittenere Weise mit den Objekten zu<br />

spielen, sie etwa in Kategorien oder interessante Konfigurationen<br />

(Anordnungen) zu ordnen (Spencer et al. 2006; Thelen <strong>und</strong><br />

Corbetta 1994). Solche Forschungsarbeiten haben auch gezeigt,<br />

dass der Beginn des Krabbelns die Beziehungen des <strong>Kindes</strong> zu<br />

den Familienmitgliedern verändert, die womöglich ganz aus dem<br />

Häuschen sind, wenn sie sehen, wie ihr Baby diesen wichtigen<br />

Meilenstein in der motorischen Entwicklung erreicht, gleichzeitig<br />

aber die Notwendigkeit erkennen, nun Schutzmaßnahmen<br />

ergreifen <strong>und</strong> viel aufmerksamer überwachen zu müssen, wie<br />

das Kind versucht, alles <strong>und</strong> jedes, was es erreichen kann, auch<br />

zu untersuchen (Campos et al. 1992).<br />

Theorien dynamischer Systeme – Eine Klasse von Theorien, die sich darauf<br />

konzentriert, wie sich Veränderung <strong>im</strong> Verlauf der Zeit in komplexen Systemen<br />

abspielt. Dabei sind dynamische Systeme von instabilen Übergangsphasen<br />

gekennzeichnet, in denen sich das Zusammenwirken verschiedener Einflussfaktoren<br />

systemisch neu organisiert.<br />

Einen weiteren Beitrag leistete der systemische Ansatz mit dem<br />

Nachweis, dass die Entwicklung von scheinbar einfachen Handlungen<br />

wesentlich komplexer <strong>und</strong> interessanter ist als zunächst<br />

angenommen. Zum Beispiel wurde die traditionelle Auffassung<br />

widerlegt, der zufolge die körperliche Reifung die motorische<br />

Entwicklung von Kleinkindern beherrschen sollte <strong>und</strong> motorische<br />

Phasen stets in ungefähr demselben Alter, auf dieselbe<br />

Weise <strong>und</strong> kontinuierlich fortschreitend erreicht würden. Stattdessen<br />

stellte sich heraus, dass einzelne Kinder ihre Fertigkeiten<br />

in verschiedenem Alter <strong>und</strong> auf verschiedene Weise erwerben<br />

<strong>und</strong> nicht nur Fortschritte, sondern auch Rückschritte zu ihrer<br />

Entwicklung gehören (Adolph <strong>und</strong> Berger 2011).<br />

Ein Beispiel für diesen Typ von Forschung ist eine Längsschnittuntersuchung<br />

zur Entwicklung des Greifens, durchgeführt<br />

von Esther Thelen, die mit ihrer Mitarbeiterin Linda Smith zusammen<br />

den Ansatz begründete, die kognitiven Entwicklung als<br />

Entwicklung eines komplexen System zu beschreiben. In dieser<br />

Studie beobachteten Thelen et al. (1993) wiederholt die Greifbemühungen<br />

von vier Säuglingen <strong>im</strong> ersten Lebensjahr. Zur<br />

Erfassung der Muskelbewegungen der Babys setzten sie Hochgeschwindigkeitsmesssysteme<br />

zur Bewegungsaufzeichnung <strong>und</strong><br />

Computerauswertung ein <strong>und</strong> fanden, dass aufgr<strong>und</strong> der individuellen<br />

Unterschiede von Faktoren wie Physiologie, Aktivitätsniveau,<br />

Arousal (Erregung), Motivation <strong>und</strong> Erfahrung jedes<br />

Kind bei seinen Greifversuchen mit anderen Herausforderungen


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konfrontiert war. Die folgenden Beobachtungen vermitteln einen<br />

Eindruck von der Komplexität, die diese Forscher entdeckten,<br />

darunter die Variabilität des Alters, in dem die Kinder Entwicklungsziele<br />

erreichen, <strong>und</strong> die unterschiedlichen Herausforderungen,<br />

die sie meistern müssen:<br />

» Säuglinge unterschieden sich deutlich hinsichtlich des<br />

Übergangsalters (vom Nichtgreifen zum Greifen). Während<br />

Nathan erstmals mit zwölf Wochen zugriff, erreichten Hannah<br />

<strong>und</strong> Justin diesen Meilenstein nicht vor der zwanzigsten<br />

Lebenswoche. [Auch] zeigten die Säuglinge Phasen schnellen<br />

Wandels, Plateaus <strong>und</strong> sogar Rückschritte <strong>im</strong> Leistungsniveau<br />

[…] Bei drei der vier Säuglinge ließ in dem Zeitraum, in dem<br />

Zielsicherheit <strong>und</strong> Geschmeidigkeit auftraten, nach einiger<br />

Verbesserung die Leistung nach […] Letztlich gab es bei<br />

Nathan, Justin <strong>und</strong> Hannah einen eher diskontinuierlichen<br />

Wechsel zu besserer, weniger variabler Leistung […] Gabriels<br />

Übergang zur Stabilität verlief allmählicher (Thelen <strong>und</strong> Smith<br />

1998, S. 605, 607).<br />

» Vor dem Hintergr<strong>und</strong> ihres charakteristischen Stils müssen<br />

Säuglinge jeder für sich die angemessene Geschwindigkeit<br />

finden. Gabriel zum Beispiel musste seine sehr heftigen<br />

Bewegungen dämpfen, um erfolgreich zugreifen zu können,<br />

was ihm gelang. Hannah hingegen, deren Bewegungen langsam<br />

waren <strong>und</strong> die ihre Hände lange in Gesichtsnähe spielen<br />

ließ, musste ihre Arme stärker aktivieren, um sie von sich weg<br />

zu strecken. […] Das Greifen gestaltet sich also aus andauernden<br />

Bewegungen der Arme in einem Modulationsprozess<br />

je nachdem, was am Platze ist […] Wenn die Kinder älter<br />

werden, konzentriert sich ihre Aufmerksamkeit, ihre perzeptive<br />

Unterscheidungsfähigkeit verbessert sich, ihr Erinnerungsvermögen<br />

wird besser, <strong>und</strong> ihre Bewegungen werden<br />

geschickter. Ein reichhaltiger, komplexer <strong>und</strong> realistischer<br />

Veränderungsbericht muss dieses dynamische Zusammenspiel<br />

enthalten (Thelen 2001, S. 172, 182).<br />

Diese Zitate verschaffen einen Eindruck davon, was mit der Bezeichnung<br />

„dynamische Systeme“ gemeint ist. Wie der Begriff<br />

„dynamisch“ nahelegt, bilden diese Theorien Entwicklung als<br />

einen Prozess ab, in dem Veränderung die einzige Konstante<br />

ist. Während die meisten Ansätze zur kognitiven Entwicklung<br />

davon ausgehen, dass Entwicklung mit langen Phasen relativ<br />

stabiler Stadien verb<strong>und</strong>en ist, unterbrochen von relativ kurzen<br />

instabilen Übergangsphasen, nehmen die Theorien dynamischer<br />

Systeme an, dass sich Denken <strong>und</strong> Handeln an jedem Punkt <strong>im</strong><br />

Entwicklungsverlauf von Augenblick zu Augenblick wandeln, als<br />

Reaktion auf die jeweilige Situation sowie auf die unmittelbar<br />

vorangehende <strong>und</strong> die länger zurückliegende Geschichte von<br />

Handlungen des <strong>Kindes</strong> in ähnlichen Situationen. So bemerkten<br />

Thelen <strong>und</strong> Smith (1998), dass die Entwicklung der Greifens<br />

sowohl Rückschritte als auch Fortschritte enthielt, <strong>und</strong> Thelen<br />

(2001) beschrieb, wie die frühen Greifversuche von Hannah <strong>und</strong><br />

Gabriel ihren späteren Weg zu geübtem Greifen beeinflussten.<br />

Wie der zweite Terminus der Bezeichnung nahelegt, beschreibt<br />

diese Theorie jedes Kind als ein gut integriertes System, in dem<br />

viele Subsysteme zusammenarbeiten – Wahrnehmung, Handeln,<br />

Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache, soziale Interaktion <strong>und</strong><br />

so weiter –, um das Verhalten zu best<strong>im</strong>men. So haben Analysen<br />

dynamischer Systeme zutage gebracht, dass die Leistung in Tests<br />

zur Objektpermanenz, Piagets klassischem Maß für die kognitive<br />

Entwicklung von Kindern, nicht nur vom begrifflichen Verständnis<br />

beeinflusst ist, sondern von vielen anderen Faktoren, zu denen<br />

Veränderungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des<br />

Gedächtnisses <strong>und</strong> der motorischen Fertigkeiten gehören (Smith<br />

et al. 1999). Die Annahmen, dass Entwicklung dynamisch verläuft<br />

<strong>und</strong> dass sie als ein sich selbst organisierendes System funktioniert,<br />

ist zentral für die Sicht dieser Theorie auf das Wesen des <strong>Kindes</strong>.<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />

Die Theorien dynamischer Systeme sind der neueste der fünf<br />

Theorietypen, die wir in diesem Kapitel darstellen, <strong>und</strong> ihre Sicht<br />

auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> enthält Einflüsse aus allen übrigen.<br />

Wie die Theorie von Piaget betonen die Theorien dynamischer<br />

Systeme die angeborene Motivation des <strong>Kindes</strong>, seine Umgebung<br />

zu erforschen; wie die Informationsverarbeitungstheorien betont<br />

er die genaue Analyse be<strong>im</strong> Problemlösen; <strong>und</strong> wie die soziokulturellen<br />

Theorien betont er den formenden Einfluss anderer<br />

Menschen. Diese Ähnlichkeiten mit anderen Theorien, ebenso<br />

wie ihre Unterschiedlichkeiten, zeigen sich deutlich bei der Bedeutung,<br />

die Theorien dynamischer Systeme auf die Motivation<br />

<strong>und</strong> die Rolle der Handlung legen.<br />

Motivatoren der Entwicklung<br />

Ähnlich wie die Theorie von Piaget <strong>und</strong> mehr als alle anderen<br />

Theorien betonen Theorien dynamischer Systeme, dass Kinder<br />

vom Säuglingsalter an stark motiviert sind, etwas von der sie<br />

umgebenden Welt zu erfahren <strong>und</strong> ihre eigenen Fähigkeiten zu<br />

erproben <strong>und</strong> erweitern (von Hofsten 2007). Diese Erk<strong>und</strong>ungs<strong>und</strong><br />

Lernmotivation aus eigenem Antrieb kommt ganz deutlich<br />

in der Tatsache zum Ausdruck, dass Kinder beharrlich neue Fertigkeiten<br />

üben, selbst wenn sie effizientere, gut erprobte Fertigkeiten<br />

besitzen. So fahren Kleinkinder unbeirrt in ihren ersten<br />

unsicheren Gehversuchen fort, obwohl sie krabbelnd schneller<br />

<strong>und</strong> ohne Sturzrisiko zum Ziel kämen (Adolph <strong>und</strong> Berger 2011).<br />

Anders als Piagets Theorie <strong>und</strong> ähnlich wie die soziokulturelle<br />

Theorien betonen auch die Theorien dynamischer Systeme<br />

das kindliche Interesse an der sozialen Welt als einen entscheidenden<br />

Entwicklungsmotivator. Wie wir in ▶ Kap. 1 über das<br />

aktive Kind bemerkten, ziehen schon Neugeborene Geräusche,<br />

Bewegungen <strong>und</strong> Züge des menschlichen Gesichts nahezu allen<br />

anderen Reizen vor. Zwischen zehn <strong>und</strong> zwölf Monaten tritt das<br />

Interesse des Säuglings an der sozialen Welt hervor: Intersubjektivität<br />

entsteht. Kinder schauen nun recht konstant dorthin,<br />

wo die Menschen, mit denen sie interagieren, hinschauen, <strong>und</strong><br />

lenken die Aufmerksamkeit anderer auf Dinge, die sie selbst interessant<br />

finden (Deák et al. 2000; von Hofsten et al. 2005). Die<br />

Vertreter der Theorien dynamischer Systeme heben hervor, dass<br />

die Beobachtung anderer Menschen, das Imitieren ihrer Handlungen<br />

<strong>und</strong> das Aufsichziehen ihrer Aufmerksamkeit allesamt<br />

starke Entwicklungsmotivatoren sind (Fischer <strong>und</strong> Bidell 2006;<br />

von Hofsten 2007).


Theorien dynamischer Systeme<br />

147 4<br />

Die zentrale Bedeutung des Handelns<br />

Die Besonderheit des systemischen Ansatzes liegt darin, überzeugend<br />

aufzuzeigen, wie die spezifischen Handlungen der Kinder<br />

die Entwicklung formen. Piagets Theorie setzt die Rolle der<br />

Handlungen zwar bereits für die sensomotorische Stufe voraus,<br />

aber die Theorien dynamischer Systeme unterstreichen nachdrücklicher<br />

als jede andere Theorie, wie Handlungen über die<br />

gesamte Lebensspanne zur Entwicklung beitragen. Dieses auf die<br />

Rolle der Handlung gerichtete Augenmerk hat zu einer Vielzahl<br />

interessanter Entdeckungen geführt. Zum Beispiel ermöglicht<br />

das Greifen nach Gegenständen es Säuglingen, aus den Greifbewegungen<br />

anderer Menschen auf deren Ziele zu schließen; <strong>und</strong><br />

Kinder, die geschickt greifen können, blicken bei Greifbewegungen<br />

anderer eher auf das mögliche Ziel, wenn sie den Beginn der<br />

Greifbewegung sehen (von Hofsten 2007). Ein weiteres Beispiel<br />

dafür, wie Säuglinge aus ihren Handlungen lernen, liefert eine<br />

Studie, in der Säuglinge mit Klettbandfäustlingen ausgestattet<br />

wurden <strong>und</strong> so mit Klettband versehene Gegenstände „greifen“<br />

<strong>und</strong> untersuchen konnten, die sie anders nicht hätten aufnehmen<br />

können. Nachdem sie zwei Wochen lang Erfahrungen darin gesammelt<br />

hatten, mit Klettbandfäustlingen Gegenstände zu greifen,<br />

die mit Klettband versehen waren, erwiesen sich die Säuglinge<br />

als fähiger, gewöhnliche Gegenstände ohne Handschuhe<br />

zu greifen <strong>und</strong> zu untersuchen als andere Kinder gleichen Alters<br />

(Needham et al. 2002).<br />

..<br />

Das Greifen mithilfe eines Klettstreifens am Handschuh <strong>und</strong> auf dem Spielzeug<br />

verbesserte die späteren Fähigkeiten be<strong>im</strong> Ergreifen <strong>und</strong> Explorieren<br />

von Gegenständen ohne den Handschuh. (Libertus <strong>und</strong> Needham (2010); mit<br />

fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Handlungen formen die Entwicklung der Kinder weit über<br />

das frühkindliche Anfassen <strong>und</strong> Ergreifen von Gegenständen<br />

hinaus. Handlungen wirken sich auch auf das Kategorienlernen<br />

aus. In einer Untersuchung ermutigte man Kinder, einen Gegenstand<br />

aufwärts <strong>und</strong> abwärts zu bewegen; sie kategorisierten ihn<br />

daraufhin als zu einer Gruppe von Gegenständen gehörig, die<br />

man vertikal am besten bewegen kann; ermutigte man Kinder,<br />

denselben Gegenstand seitwärts zu bewegen, so kategorisierten<br />

sie ihn als zu einer Gruppe von Gegenständen gehörig, die sich<br />

horizontal am besten bewegen lassen (Smith 2005). Handlungen<br />

wirken sich auch auf den Wortschatzerwerb <strong>und</strong> auf das Verallgemeinern<br />

aus (Gershkoff-Stowe et al. 2006; Samuelson <strong>und</strong> Horst<br />

2008); so beeinträchtigen exper<strong>im</strong>entelle Manipulationen, die<br />

dem Kind einen falschen Namen für einen Gegenstand nahelegen,<br />

die künftigen Versuche des <strong>Kindes</strong>, den richtigen Namen des<br />

Gegenstands zu lernen. Handlungen formen darüber hinaus das<br />

Gedächtnis. Das zeigen Untersuchungen, in denen die Kinder<br />

Gegenstände orten <strong>und</strong> ausgraben sollten, die vor ihren Augen in<br />

einem Sandkasten versteckt worden waren. Als die Gegenstände<br />

erneut vor ihren Augen versteckt wurden, blieb die Erinnerung<br />

daran, wo diese Gegenstände ursprünglich versteckt waren,<br />

wirksam: Die Kinder suchten nun zwischen dem vergangenen<br />

<strong>und</strong> dem gegenwärtigen Versteck, als hätte ihr Gedächtnis einen<br />

Kompromiss zwischen dem neuen Platz <strong>und</strong> dem Ort geschlossen,<br />

wo sie die Gegenstände ursprünglich gesucht hatten (Schutte<br />

et al. 2003; Zelazo et al. 1998). Handlungen formen also das Denken<br />

ebenso, wie das Denken die Handlungen formt.<br />

Zentrale Entwicklungsfragen<br />

Zwei Entwicklungsthemen, die in den Theorien dynamischer<br />

Systeme besonders hervorstechen, sind die Fragen, wie sich das<br />

kognitive System selbst organisiert <strong>und</strong> wie es sich wandelt.<br />

Selbstorganisation<br />

Die Theorien dynamischer Systeme betrachten Entwicklung<br />

als einen sich selbst organisierenden Prozess, in dem Aufmerksamkeit,<br />

Gedächtnis, Emotionen <strong>und</strong> Handlungen so integriert<br />

werden, wie es die Anpassung an eine sich ständig wandelnde<br />

Umwelt erfordert (Spencer et al. 2006). Man hat diesen Organisationsprozess<br />

gelegentlich als weiche Funktionsgruppe (soft<br />

assembly) bezeichnet, weil sich die Komponenten <strong>und</strong> ihre Organisation<br />

von einem Zeitpunkt zum nächsten <strong>und</strong> von einer Situation<br />

zur anderen neu organisieren <strong>und</strong> nicht über Zeiten <strong>und</strong><br />

Situationen hinweg gemeinsam denselben festen Regeln folgen.<br />

Zu welcher Art von Forschung die systemische Perspektive<br />

führt, zeigt sich besonders deutlich an best<strong>im</strong>mten Untersuchungen<br />

des A-nicht-B-Suchfehlers, den Kinder zwischen acht <strong>und</strong><br />

zwölf Monaten in Piagets klassischer Objektpermanenz-Aufgabe<br />

begehen (. Abb. 4.1). Piaget (1937/1998) erklärte die Tatsache,<br />

dass die Kleinkinder dort nach einem verdeckten Spielzeug suchen,<br />

wo sie es früher gef<strong>und</strong>en haben (Ort A), anstatt dort, wo<br />

es vor ihren Augen zuletzt versteckt wurde (Ort B), mit der Annahme,<br />

dass Kleinkindern vor ihrem ersten Geburtstag ein klares<br />

Konzept der Objektpermanenz fehlt.<br />

Betrachtet man den A-nicht-B-Suchfehler dagegen aus der<br />

systemischen Perspektive, so beeinflussen neben dem Verständnis<br />

der Objektpermanenz viele andere Faktoren die Leistung bei<br />

der Suchaufgabe. Smith et al. (1999) argumentieren, dass das<br />

vorausgehende Greifen der Babys nach Ort A sich zur Gewohnheit<br />

ausgebildet hat, was das Greifverhalten auch dann noch<br />

beeinflusst, wenn man den Gegenstand anschließend an Ort B<br />

versteckt. Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieser Prämisse trafen die Forscher<br />

mehrere Vorhersagen, die sich später bestätigten. Eine davon lau-


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Exkurs 4.4: Anwendungen: Pädagogische Anwendungen der Theorien dynamischer Systeme | |<br />

Wie in ▶ Kap. 2 erwähnt, entwickeln zu früh geborene<br />

Kinder mit geringem Geburtsgewicht<br />

wahrscheinlicher als andere Kinder Entwicklungsstörungen;<br />

eine davon ist das langsamere<br />

Auftreten <strong>und</strong> Sichverfeinern des Greifens<br />

(Fallang et al. 2003). Diese Verzögerungen be<strong>im</strong><br />

Greifen verlangsamen die Entwicklung der am<br />

Greifen beteiligten Gehirnregionen (Martin<br />

et al. 2004) <strong>und</strong> schränken die Fähigkeit der<br />

Kinder ein, ihre Umgebung zu erforschen <strong>und</strong><br />

mehr über die Gegenstände des Alltags zu<br />

erfahren (Lobo et al. 2004). Eine Vielzahl von<br />

scheinbar vernünftigen Bemühungen, das<br />

Greifen frühgeborener Kinder zu verbessern,<br />

etwa indem man ihre Arme be<strong>im</strong> Greifen führt,<br />

erbrachte ziemlich entmutigende Resultate<br />

(Blauw-Hospers <strong>und</strong> Hadders-Algra 2005).<br />

Im Unterschied dazu war eine kürzlich<br />

erprobte Intervention auf der Gr<strong>und</strong>lage dynamischer<br />

Systeme recht erfolgreich (Heathcock<br />

et al. 2008). Diese Intervention wurde durch<br />

zwei Forschungsresultate angeregt: (1) die Beobachtung<br />

von Thelen et al. (1993), dass Langsamkeit<br />

bei selbstinitiierten Armbewegungen<br />

tet: Je häufiger die Babys einen Gegenstand finden, indem sie zu<br />

einem best<strong>im</strong>mten Ort greifen, desto wahrscheinlicher werden<br />

sie wiederum dorthin greifen, wenn der Gegenstand an einem<br />

anderen Ort versteckt wurde. Eine weitere Vorhersage besagte,<br />

dass Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit nach Ort A greifen,<br />

wenn man die Anforderungen an das Gedächtnis erhöht <strong>und</strong><br />

den Kindern erst 3 s nach dem Verstecken des Gegenstands am<br />

neuen Ort B gestattet, nach dem verborgenen Gegenstand zu<br />

suchen; auch diese Vorhersage bestätigte sich (Clearfield et al.<br />

2009). Die Überlegung war hier, dass die Stärke der neuen Erinnerung<br />

schneller verblassen würde als die Gewohnheit, an Ort A<br />

zu suchen. Die Theorie dynamischer Systeme sagte ferner vorher,<br />

dass die Aufmerksamkeit der Kinder ihre Objektpermanenzleistung<br />

beeinflusst. Tatsächlich griffen die Kinder dann, wenn<br />

man genau in dem Moment, in dem sie zulangen wollten, ihre<br />

Aufmerksamkeit durch einen Fingertipp auf einen Ort lenkte,<br />

an dem das Objekt nicht versteckt war, zu diesem angetippten<br />

Ort, unabhängig davon, an welchem Ort das Objekt tatsächlich<br />

versteckt worden war.<br />

Der vielleicht überraschendste Test solcher Vorhersagen bestand<br />

darin, dass die Forscher kleine Gewichte an den Handgelenken<br />

der Kinder befestigten, nachdem diese nach Ort A gegriffen<br />

hatten, bevor der Gegenstand an Ort B versteckt wurde;<br />

das verbesserte die Leistung in der Objektpermanenzaufgabe<br />

(Diedrich et al. 2000). Die Forscher hatten genau dies vorhergesagt<br />

<strong>und</strong> damit begründet, dass die Gewichte an den Handgelenken<br />

zum Ergreifen des Gegenstands andere Muskelspannungen<br />

<strong>und</strong> Kräfte erfordern <strong>und</strong> dadurch die Gewohnheit der<br />

Kinder stören, nach Ort A zu greifen. Statt ein bloßes Maß des<br />

begrifflichen Verständnisses zu liefern, spiegelt die Leistung in<br />

der Objektpermanenzaufgabe anscheinend ein Zusammenwirken<br />

verschiedener Komponenten wider: der Gewohnheit, nach<br />

Ort A zu greifen, den Gedächtnisanforderungen der jeweiligen<br />

die Entwicklung des Greifens behindert, <strong>und</strong><br />

(2) die Beobachtung von Needham et al.<br />

(2002), dass Kleinkinder von Erfahrungen <strong>im</strong><br />

Hinlangen <strong>und</strong> Ergreifen von Gegenständen<br />

profitieren, wenn sie Gelegenheit hatten, unter<br />

vereinfachten Trainingsbedingungen Gegenstände<br />

mit Klettbandfäustlingen zu greifen.<br />

Zu Beginn ihrer Intervention wurden die<br />

Betreuer der frühgeborenen Kinder in der<br />

Exper<strong>im</strong>entalgruppe von Heathcock, Lobo<br />

<strong>und</strong> Galloway aufgefordert, den Kindern best<strong>im</strong>mte<br />

Bewegungserfahrungen zu verschaffen.<br />

Insbesondere sollten die Kinder zu Armbewegungen<br />

angeregt werden, indem ihnen<br />

(1) ein Glöckchen ans Handgelenk geb<strong>und</strong>en<br />

wurde, das bei Armbewegungen klingelt <strong>und</strong><br />

so vermutlich zu weiteren Armbewegungen<br />

motiviert; oder sie bekamen (2) Klettbandfäustlinge,<br />

mit denen sie Spielzeuge, die mit<br />

Klettband versehen waren <strong>und</strong> die man ihnen<br />

hinhielt, erreichen <strong>und</strong> ergreifen konnten. Man<br />

bat die Betreuungspersonen darum, dieses<br />

Training zu Hause acht Wochen lang fünfmal<br />

in der Woche durchzuführen.<br />

Die frühgeborenen Kontrollgruppenkinder<br />

sollten nach demselben Zeitplan wie dem der<br />

Exper<strong>im</strong>entalgruppe durch best<strong>im</strong>mte soziale<br />

Erfahrungen angeregt werden, etwa indem die<br />

Betreuungspersonen ihnen etwas vorsangen<br />

oder mit ihnen sprachen. In regelmäßigen Abständen<br />

wurden die Kinder beider Gruppen <strong>im</strong><br />

Labor auf ihr Greif- <strong>und</strong> Explorationsverhalten<br />

unter kontrollierten Bedingungen <strong>und</strong> be<strong>im</strong><br />

freien Spiel beobachtet.<br />

Wie zu erwarten, verbesserte sich <strong>im</strong> Verlauf<br />

der acht Untersuchungswochen das Greifen<br />

der frühgeborenen Kinder beider Gruppen.<br />

Die Kinder der Exper<strong>im</strong>entalgruppe verbesserten<br />

sich jedoch in höherem Ausmaß. Sie<br />

berührten Spielzeuge, die man ihnen hinhielt,<br />

häufiger <strong>und</strong> taten dies häufiger mit ihrer<br />

Handinnenfläche, wie das zum Greifen nötig<br />

ist. Solche Bef<strong>und</strong>e könnten frühgeborenen<br />

Kindern zugutekommen, um kognitive <strong>und</strong><br />

motorische Beeinträchtigungen zu vermeiden,<br />

die durch die verzögerte Entwicklung des<br />

Greifens mitverursacht sind.<br />

Aufgabe, des jeweiligen Aufmerksamkeitsfokus der Kinder <strong>und</strong><br />

des Zusammenspiels der Muskelkräfte, die in den alten <strong>und</strong> den<br />

neuen Situationen be<strong>im</strong> Greifen nötig sind.<br />

Wie Veränderung geschieht<br />

Die Theorien dynamischer Systeme postulieren, dass Veränderungen<br />

durch Mechanismen der Variation <strong>und</strong> der Selektion<br />

geschehen, analog zur biologischen Evolution (Fischer <strong>und</strong><br />

Bidell 2006; Steenbeek <strong>und</strong> Van Geert 2008). Variation meint in<br />

diesem Zusammenhang unterschiedliche Verhaltensweisen zur<br />

Verfolgung desselben Zieles. Beispielsweise könnte ein Kleinkind<br />

einen kleinen Abhang überwinden, indem es hinuntergeht,<br />

krabbelt oder sich rutschen lässt, wobei es auf dem Bauch oder<br />

mit den Füßen nach vorn rutschen kann, <strong>und</strong> so weiter (Adolph<br />

1997; Adolph <strong>und</strong> Berger 2011). Selektion bezeichnet hier eine<br />

wachsende Auswahl an Verhaltensoptionen, die sich zum Erreichen<br />

von Zielen als nützlich bewährt haben, <strong>und</strong> eine sinkende<br />

Auswahl an weniger effektiven Verhaltensweisen. Beispielsweise<br />

werden Kinder, die gerade Laufen gelernt haben, sich in ihrer opt<strong>im</strong>istischen<br />

Selbstüberschätzung vielleicht trauen, eine Rutsche<br />

hinunterzulaufen <strong>und</strong> oft hinfallen, aber nach einigen Monaten<br />

werden sie mit zunehmender Erfahrung die Steilheit genauer<br />

einschätzen <strong>und</strong> sich überlegen, ob sie aufrecht gehend hinunterkommen.<br />

Wenn Kinder aus alternativen Lösungsmöglichkeiten auswählen,<br />

zeigen sich verschiedene Einflüsse. Am wichtigsten ist<br />

der relative Erfolg jedes Lösungsversuchs be<strong>im</strong> Erreichen eines<br />

best<strong>im</strong>mten Zieles; mit dem Hinzugewinn von Erfahrung stützen<br />

sich die Kinder in wachsendem Maß auf Lösungsansätze,<br />

die früher schon das gewünschte Ergebnis geliefert haben. Ein<br />

weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist die Effizienz; die Kinder<br />

wählen vermehrt solche Lösungsmöglichkeiten, die schneller<br />

<strong>und</strong> müheloser als andere Lösungsansätze zum Ziel führen.


Zusammenfassung<br />

Ein dritter Gesichtspunkt ist die Neuartigkeit, die Verlockung<br />

<strong>und</strong> Herausforderung, etwas Neues auszuprobieren. Manchmal<br />

wählen Kinder neue Lösungswege, die nicht effektiver oder sogar<br />

ineffektiver als die gewohnten sind, denen aber ein Potenzial innezuwohnen<br />

scheint, effektiver zu werden. So verwenden sie zum<br />

Einprägen die Gedächtnisstrategie des Rehearsals, auch wenn<br />

das zunächst ihr Gedächtnis gar nicht verbessert, aber weil sie<br />

die neue Strategie trotzdem anwenden, verbessert sie schließlich<br />

das Behalten der laut wiederholten Information (Miller <strong>und</strong><br />

Seier 1994). Dieses Bevorzugen neuartiger Lösungen erweist<br />

sich als adaptiv, weil eine anfangs weniger effektive Strategie mit<br />

der Übung häufig effizienter wird als die bisherigen Strategien<br />

(Wittmann et al. 2008). Wie in ▶ Exkurs 4.4 dargelegt, führten die<br />

Theorien dynamischer Systeme über Veränderungsmechanismen<br />

sowohl zu nützlichen Anwendungen als auch zu Fortschritten in<br />

der Theoriebildung.<br />

In Kürze | |<br />

Die Theorien dynamischer System betrachten Kinder als<br />

sich ständig wandelnde, wohlintegrierte Organismen, die<br />

Wahrnehmung, Handeln, Aufmerksamkeit, Gedächtnis,<br />

Sprache <strong>und</strong> soziale Einflüsse durch Selbstorganisation<br />

miteinander verbinden, um Handlungen hervorbringen,<br />

die zu Zielen führen. Die Handlungen der Kinder sind<br />

unter dieser Perspektive durch Erfahrungen in mehr oder<br />

weniger weiter zurückliegender Vergangenheit, durch die<br />

momentanen körperlichen Fähigkeiten <strong>und</strong> durch ihre<br />

unmittelbare materielle <strong>und</strong> soziale Umwelt geprägt. Umgekehrt<br />

formen die Handlungen ihrerseits die Entwicklung<br />

des Kategorienlernens, des Konzepterwerbs, des Gedächtnisses,<br />

der Sprache <strong>und</strong> anderer Fähigkeiten. Einzigartig<br />

sind die Theorien dynamischer Systeme in ihrem Fokus<br />

darauf, wie die Handlungen der Kinder deren Entwicklung<br />

formen, <strong>und</strong> in der breiten Perspektive auf die Interaktion<br />

vielfältiger Einflüsse, die die Entwicklung unterschiedlicher<br />

Fähigkeiten steuern.<br />

Zusammenfassung<br />

Entwicklungstheorien sind wichtig, weil sie einen Rahmen für<br />

das Verständnis wichtiger Phänomene bieten, relevante Fragen<br />

über das Wesen des Menschen aufwerfen <strong>und</strong> neue Forschungen<br />

anregen. Fünf wichtige Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

sind die Theorie von Piaget, der Informationsverarbeitungsansatz,<br />

die soziokulturellen Theorien sowie der dynamische Systemansatz.<br />

-<br />

Die Theorie von Piaget<br />

Die Theorie Piagets hat unter anderem deshalb so lang<br />

anhaltende Wirkung, weil sie einen lebendigen Eindruck<br />

vom kindlichen Denken in verschiedenen Altersstufen<br />

vermittelt, weil sie eine breite Alters- <strong>und</strong> Inhaltsspanne<br />

umfasst <strong>und</strong> weil sie viele faszinierende <strong>und</strong> überraschende<br />

Beobachtungen kindlicher Denkleistungen bietet.<br />

149 4<br />

-<br />

Piagets Theorie wird oft als „konstruktivistisch“ bezeichnet,<br />

weil in ihrer Darstellung Kinder – als Reaktion auf ihre<br />

Erfahrungen <strong>und</strong> Erlebnisse – aktiv Wissen für sich selbst<br />

konstruieren. Piagets Theorie postuliert, dass Kinder mithilfe<br />

zweier von Geburt an vorhandener Prozesse lernen:<br />

Ass<strong>im</strong>ilation <strong>und</strong> Akkommodation. Weiterhin wird angenommen,<br />

dass sie die Beiträge dieser beiden Teilprozesse<br />

durch den dritten Prozess, die Äquilibration, in Balance<br />

bringen. Diese Prozesse bewirken Kontinuität <strong>im</strong> Entwicklungsverlauf.<br />

-<br />

Piagets Theorie unterteilt die kognitive Entwicklung in vier<br />

ausgedehnte Stadien: das sensomotorische Stadium (Geburt<br />

bis zwei Jahre), das präoperationale Stadium (zwei bis<br />

sieben Jahre), das konkret-operationale Stadium (sieben bis<br />

zwölf Jahre) <strong>und</strong> das formal-operationale Stadium (zwölf<br />

Jahre <strong>und</strong> älter). Diese Stadien spiegeln einen diskontinuierlichen<br />

Entwicklungsverlauf wider.<br />

-<br />

Im sensomotorischen Stadium kommt die Intelligenz der<br />

Kinder vorwiegend durch motorische Interaktionen mit der<br />

Umwelt zum Ausdruck. Die Säuglinge erwerben Konzepte<br />

wie die Objektpermanenz <strong>und</strong> können das Verhalten anderer<br />

zeitlich verzögert nachahmen.<br />

-<br />

Im präoperationalen Stadium erwerben Kinder die Fähigkeit,<br />

ihre Erfahrungen in Form von Sprache, mentalen<br />

Vorstellungsbildern <strong>und</strong> Gedanken zu repräsentieren;<br />

wegen kognitiver Beschränkungen wie Egozentrismus <strong>und</strong><br />

Zentrierung haben sie jedoch bei vielen Aufgaben Lösungsschwierigkeiten,<br />

beispielsweise bei diversen Aufgaben zur<br />

Invarianz <strong>und</strong> bei Aufgaben, die mit dem Übernehmen der<br />

-<br />

Perspektive anderer zusammenhängen.<br />

Im konkret-operationalen Stadium erlangen Kinder die Fähigkeit,<br />

angesichts konkreter Gegenstände <strong>und</strong> Ereignisse<br />

logisch zu schlussfolgern; es bestehen aber noch Schwierigkeiten<br />

<strong>im</strong> logischen Umgang mit rein abstrakten Begriffen<br />

<strong>und</strong> mit Aufgaben, die hypothetisches Denken erfordern,<br />

beispielsweise mit dem Pendelproblem.<br />

Im formal-operationalen Stadium erwerben Kinder die<br />

-<br />

kognitiven Fähigkeiten zum hypothetischen Denken.<br />

Vier Schwächen der Theorie Piagets bestehen darin, dass<br />

sie das Denken des <strong>Kindes</strong> konsistenter darstellt, als es<br />

ist, dass sie die kognitive Kompetenz von Säuglingen<br />

<strong>und</strong> Kleinkindern ebenso unterschätzt wie den Beitrag<br />

der sozialen Welt zur kognitiven Entwicklung <strong>und</strong> dass<br />

sie die Mechanismen, die das Denken <strong>und</strong> das kognitive<br />

Wachstum hervorbringen, nur andeutungsweise beschreibt.<br />

-<br />

Theorien der Informationsverarbeitung<br />

Informationsverarbeitungstheorien konzentrieren sich<br />

auf die speziellen geistigen Prozesse, die dem Denken von<br />

Kindern zugr<strong>und</strong>e liegen. Schon <strong>im</strong> Säuglingsalter wird<br />

Kindern zugeschrieben, dass sie Ziele aktiv verfolgen, an<br />

Verarbeitungsgrenzen stoßen <strong>und</strong> Strategien ausbilden, mit<br />

deren Hilfe sie die Verarbeitungsgrenzen überwinden <strong>und</strong><br />

-<br />

ihre Ziele erreichen können.<br />

Das Gedächtnissystem besteht aus Arbeits- <strong>und</strong> Langzeitgedächtnis<br />

sowie den exekutiven Funktionen.


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150<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

-<br />

Das Arbeitsgedächtnis (oft auch als Kurzzeitgedächtnis<br />

bezeichnet) ist ein System zur Steuerung der aktiven Aufmerksamkeit,<br />

zum Aufnehmen, Behalten, Speichern <strong>und</strong><br />

Verarbeiten von Information.<br />

Das Langzeitgedächtnis enthält das behaltene Wissen, das<br />

-<br />

sich <strong>im</strong> Laufe des Lebens ansammelt.<br />

Die exekutiven Funktionen sind entscheidend für die<br />

Kontrolle des Denkens <strong>und</strong> Handelns; sie entwickeln sich<br />

großenteils <strong>im</strong> Kindergartenalter <strong>und</strong> in den ersten Jahren<br />

der Gr<strong>und</strong>schulzeit <strong>und</strong> korrelieren mit schulischem <strong>und</strong><br />

-<br />

beruflichem Erfolg.<br />

Die Entwicklung von Gedächtnis <strong>und</strong> Lernen reflektiert in<br />

großem Ausmaß Verbesserungen der Basisprozesse <strong>und</strong><br />

-<br />

Strategien sowie des Inhaltswissens.<br />

Mithilfe von kognitiven Basisprozessen können Säuglinge<br />

von Geburt an lernen <strong>und</strong> sich erinnern. Zu den wichtigsten<br />

Basisprozessen gehören Assoziation, Wiedererkennen,<br />

-<br />

Generalisierung <strong>und</strong> Encodierung.<br />

Der Einsatz von Strategien erhöht die Lern- <strong>und</strong> Gedächtnisleistungen<br />

über das Niveau hinaus, das allein durch die<br />

Basisprozesse erreicht werden kann. Zwei wichtige Strategien<br />

sind das Rehearsal in Form ständigen Wiederholens<br />

<strong>und</strong> die selektive Aufmerksamkeit.<br />

Zunehmendes Inhaltswissen erhöht die Lern- <strong>und</strong> Gedächtnisleistungen<br />

aller Arten von Information.<br />

-<br />

Zur Entfaltung des Problemlösens trägt vorrangig die Entwicklung<br />

des Planens <strong>und</strong> des analogen Schlussfolgerns bei.<br />

-<br />

Soziokulturelle Theorien<br />

Ausgehend von der Theorie Wygotskis haben sich soziokulturelle<br />

Theorien darauf konzentriert zu klären, wie die<br />

soziale Welt die Entwicklung formt. Nach diesem Ansatz<br />

gestaltet sich die Entwicklung nicht nur durch Interaktionen<br />

mit anderen Menschen <strong>und</strong> die daraus erlernten Fertigkeiten,<br />

sondern auch durch die Gebrauchsgegenstände,<br />

mit denen Kinder umgehen, <strong>und</strong> durch die kulturellen<br />

-<br />

Werte <strong>und</strong> Traditionen der Gesellschaft als solcher.<br />

Aus der Sicht soziokultureller Theorien unterscheiden sich<br />

Menschen von anderen Lebewesen durch ihre Neigung,<br />

anderen etwas zu zeigen <strong>und</strong> beizubringen (zu lehren), <strong>und</strong><br />

-<br />

ihre Fähigkeit, aus den Instruktionen anderer zu lernen.<br />

Die Herstellung von Intersubjektivität zwischen Menschen<br />

durch geteilte Aufmerksamkeit ist wesentlich für das Lernen.<br />

-<br />

Soziokulturellen Theorien zufolge lernen Menschen durch<br />

gelenkte Partizipation <strong>und</strong> durch soziale Stützung, wobei<br />

die besser informierten Experten die Lernenden in ihren<br />

Bemühungen unterstützen.<br />

-<br />

Theorien dynamischer Systeme<br />

Nach den Theorien dynamischer Systeme ist der Wandel<br />

die entscheidende Konstante in der Entwicklung. Statt<br />

Entwicklung als eine Folge von Sprüngen zwischen langen<br />

Phasen der Stabilität <strong>und</strong> kurzen Phasen dramatischer Veränderung<br />

zu beschreiben, gehen diese Theorien von einem<br />

ständigen Wandel in allen Phasen aus.<br />

-<br />

Diese Theorien sehen jeden Menschen als ein einheitliches<br />

System, das Ziele erreicht, indem es Wahrnehmung, Handeln,<br />

Kategorienbildung, Motivation, Gedächtnis, Sprache,<br />

begriffliches Verständnis <strong>und</strong> das Wissen über die materielle<br />

<strong>und</strong> soziale Welt integriert.<br />

-<br />

Theorien dynamischer Systeme sehen Entwicklung als einen<br />

sich selbst organisierenden Prozess, der je nach Bedarf<br />

die nötigen Komponenten verbindet, um sich an die sich<br />

-<br />

kontinuierlich wandelnde Umwelt anzupassen.<br />

Zum Erreichen von Zielen ist beides erforderlich, Denken<br />

<strong>und</strong> Handeln. Das Denken formt das Handeln, wird seinerseits<br />

aber auch vom Handeln geformt.<br />

-<br />

Variation <strong>und</strong> Selektion führen – ähnlich wie bei der biologischen<br />

Evolution – zur kognitiven Entwicklung.<br />

Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />

1. Piagets Theorie gehört seit fast einem Jahrh<strong>und</strong>ert zu den<br />

klassischen Standards. Wird sich diese Bedeutung auch<br />

über die kommenden 20 Jahre fortsetzen? Warum oder<br />

warum nicht?<br />

2. Glauben Sie, dass der Ausdruck egozentrisch eine gute<br />

Beschreibung dafür ist, wie Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter<br />

insgesamt die Welt sehen? Erläutern Sie Ihre Antwort auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage des in diesem Kapitel Gelernten <strong>und</strong> Ihrer<br />

eigenen Erfahrung. Erklären Sie, in welcher Hinsicht Kinder<br />

in diesem Alter egozentrisch sind <strong>und</strong> in welcher nicht.<br />

3. Informationsverarbeitungsansätze erfassen kognitive<br />

Prozesse tendenziell spezifischer als die aus anderen Theorien<br />

gewonnenen Analysen. Halten Sie diese Spezifität für<br />

einen Vorteil oder für einen Nachteil? Warum?<br />

4. Entwickeln sich neue Verhalten ähnlich wie Tierarten <strong>im</strong><br />

Laufe der Evolution durch Variation <strong>und</strong> Selektion – so, wie<br />

es die Theorien dynamischer Systeme darstellen?<br />

5. Stellen Sie sich vor, Sie wollen einem sechsjährigen Kind<br />

dabei helfen, eine Fähigkeit zu erlernen, die Sie selbst<br />

besitzen. Beschreiben Sie, wie Sie dabei vorgehen würden,<br />

unter Einbeziehung der Annahmen zur gelenkten Partizipation<br />

<strong>und</strong> zur sozialen Stützung.<br />

6. In den dynamischen Systemansätzen finden sich Einflüsse<br />

aus jeder der anderen Theorien, die in diesem Kapitel<br />

dargestellt wurden. Welches Konzept hat Ihrer Meinung<br />

nach den stärksten Einfluss: Piagets Ansatz, die Informationsverarbeitung<br />

oder die Soziokultur? Begründen Sie Ihre<br />

Meinung.<br />

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5<br />

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7<br />

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154<br />

Kapitel 4 • Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

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155 5<br />

Die frühe Kindheit – Sehen,<br />

Denken <strong>und</strong> Tun<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Wahrnehmung – 157<br />

Sehen – 157<br />

Akustische Wahrnehmung – 165<br />

Geschmack <strong>und</strong> Geruch – 168<br />

Berührung – 168<br />

Intermodale Wahrnehmung – 169<br />

Motorische Entwicklung – 170<br />

Reflexe – 171<br />

Meilensteine der Motorik – 171<br />

Aktuelle Perspektiven – 173<br />

Die Welt des Säuglings erweitert sich – 174<br />

Lernen – 178<br />

Habituation – 178<br />

Wahrnehmungslernen – 179<br />

Statistisches Lernen – 180<br />

Klassisches Konditionieren – 180<br />

Operantes Konditionieren – 181<br />

Beobachtungs- <strong>und</strong> Nachahmungslernen – 182<br />

Rationales Lernen – 183<br />

Kognition – 184<br />

Gegenstandswissen – 185<br />

Physikalisches Wissen – 186<br />

Soziales Wissen – 187<br />

Ausblick – 189<br />

Zusammenfassung – 190<br />

Literatur – 191<br />

S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


156<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

1<br />

2<br />

angenehmen Laute, die sie zuvor produziert hatten. Als Benjamin<br />

als Reaktion darauf zu weinen beginnt, stürzen die beiden<br />

Erwachsenen zu ihm hin, tätscheln ihn <strong>und</strong> machen für ihn sanfte,<br />

besonders angenehme Geräusche.<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

© Sabina Pauen<br />

Der vier Monate alte Benjamin sitzt in seinem Kindersitz auf der<br />

Arbeitsplatte der Küchenzeile <strong>und</strong> schaut seinen Eltern be<strong>im</strong> Abwasch<br />

zu. Was er beobachtet, sind zwei Menschen, die sich von<br />

selbst bewegen, <strong>und</strong> eine Auswahl an Gegenständen aus Glas,<br />

Keramik <strong>und</strong> Metall unterschiedlicher Größe <strong>und</strong> Form, die sich<br />

nur dann bewegen, wenn sie von einem Menschen in die Hand<br />

genommen werden. Andere Bestandteile der Szene bewegen sich<br />

überhaupt nicht. Bei ihrer Tätigkeit entströmen den sich bewegenden<br />

Lippen der Eltern charakteristische Geräusche (nur wir<br />

wissen, dass das Sprachlaute sind), während andere Geräusche<br />

entstehen, wenn sie Besteck, Pfannen, Gläser <strong>und</strong> Spülschwämme<br />

auf der Arbeitsplatte ablegen. Einmal sieht Benjamin eine Tasse<br />

völlig aus seinem Sichtfeld verschwinden, als sein Vater sie hinter<br />

einen Kochtopf stellt; kurz darauf taucht sie wieder auf, nachdem<br />

der Topf weggestellt wurde. Benjamin sieht Gegenstände auch verschwinden,<br />

wenn sie durch den Schaum ins Spülwasser getaucht<br />

werden, aber er sieht niemals, dass die Gegenstände einander<br />

durchdringen. Die auf der Arbeitsplatte platzierten Gegenstände<br />

bleiben jeweils so stehen, wie sie hingestellt wurden, bis Benjamins<br />

Vater ein Kristallglas so hinstellt, dass mehr als die Hälfte über<br />

den Rand übersteht. Es folgt ein klirrendes Geräusch, das alle drei<br />

anwesenden Personen erschreckt, <strong>und</strong> Benjamin erschrickt noch<br />

mehr, als die beiden Erwachsenen anfangen, scharfe, laute Geräusche<br />

gegeneinander auszusenden, ganz anders als die sanften,<br />

..<br />

Dieses Baby schaut <strong>und</strong> hört seinen Eltern be<strong>im</strong> Abwasch zu <strong>und</strong> erhält so<br />

eine Menge Wahrnehmungsinformationen. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Dieses Beispiel, auf das wir <strong>im</strong> Verlauf des Kapitels öfter zurückkommen<br />

werden, illustriert die enorme Informationsflut, die den<br />

meisten Säuglingen selbst in ganz alltäglichen Situationen zur<br />

Verfügung steht, um zu beobachten <strong>und</strong> daraus zu lernen. Be<strong>im</strong><br />

Lernen, wie die Welt beschaffen ist, erk<strong>und</strong>et Benjamin wie die<br />

meisten Kinder enthusiastisch alles <strong>und</strong> jeden um ihn herum <strong>und</strong><br />

setzt dabei alle verfügbaren Mittel ein: Er sammelt Informationen<br />

durch Hinschauen <strong>und</strong> Zuhören, genauso wie durch Schmecken,<br />

Riechen <strong>und</strong> Tasten. Der Einzugsbereich seiner Erk<strong>und</strong>ungen<br />

wird sich nach <strong>und</strong> nach erweitern, wenn er zunächst nach Objekten<br />

greifen <strong>und</strong> diese schließlich auch manipulieren kann,<br />

was ihn in die Lage versetzt, mehr über sie zu herauszufinden.<br />

Sobald er beginnt, sich aus eigener Kraft zu bewegen, wird ein<br />

noch größerer Teil der Welt für ihn verfügbar, was auch Dinge<br />

einschließt, die er <strong>im</strong> Sinne seiner Eltern lieber nicht erforschen<br />

sollte, beispielsweise Steckdosen oder Katzenstreu. Benjamin<br />

wird nie wieder so begierig alles erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> so schnell lernen<br />

wie in den ersten Jahren seines jungen Lebens.<br />

In diesem Kapitel behandeln wir die Entwicklung in vier eng<br />

miteinander verwandten Bereichen: der Wahrnehmung, dem<br />

Handeln, dem Lernen <strong>und</strong> der Kognition. Unsere Diskussion<br />

konzentriert sich vorrangig auf die frühe Kindheit. Ein Gr<strong>und</strong><br />

für die Konzentration auf diesen Lebensabschnitt besteht darin,<br />

dass sich während der ersten beiden Lebensjahre eines <strong>Kindes</strong><br />

in allen vier Bereichen außerordentlich schnelle Entwicklungen<br />

vollziehen. Ein zweiter Gr<strong>und</strong> liegt in der Tatsache, dass die<br />

Entwicklung in den vier Bereichen während dieser Lebensphase<br />

besonders eng miteinander verwoben ist: Die kleinen Revolutionen,<br />

die das Verhalten <strong>und</strong> Erleben der Kinder in dem einen<br />

Funktionsbereich nachhaltig verändern, führen zu kleinen Revolutionen<br />

in anderen Bereichen. Die <strong>im</strong>mense Erhöhung der<br />

Sehfähigkeit zum Beispiel, die in den ersten Lebensmonaten eintritt,<br />

befähigt die Kinder, mehr von den Menschen <strong>und</strong> Dingen


Wahrnehmung<br />

157 5<br />

in ihrer Umwelt zu sehen, was ihre Gelegenheiten, neue Informationen<br />

aufzunehmen, bedeutend erweitert.<br />

Ein dritter Gr<strong>und</strong> für die Konzentration auf die frühe Kindheit<br />

in diesem Kapitel besteht darin, dass der Großteil neuerer<br />

Forschungen über die perzeptuelle <strong>und</strong> motorische Entwicklung<br />

an Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern durchgeführt wurde. Auch mit<br />

Lernen <strong>und</strong> Kognition in den ersten Lebensjahren haben sich<br />

zahlreiche faszinierende Forschungsarbeiten befasst. Einen Teil<br />

davon werden wir hier besprechen, die weitere Entwicklung in<br />

diesen Bereichen wird in nachfolgenden Kapiteln behandelt. Ein<br />

letzter Gr<strong>und</strong> für die Konzentration auf die frühen Jahre <strong>im</strong> vorliegenden<br />

Kapitel liegt darin, dass sich die Methoden, mit denen<br />

die Entwicklung der Kinder in den vier genannten Bereichen<br />

untersucht wurde, notwendigerweise stark von denen unterscheiden,<br />

mit denen Forscher ältere Kinder untersuchen können.<br />

Bei der Behandlung zentraler Entwicklungsaspekte der frühen<br />

Kindheit kommen mehrere Leitthemen dieses Buches vor.<br />

Das Thema des aktiven <strong>Kindes</strong> verkörpert sich lebhaft <strong>im</strong> eifrigen<br />

Erk<strong>und</strong>en der Umwelt. Die Frage nach Kontinuität versus Diskontinuität<br />

von Entwicklung taucht wiederholt in Forschungsarbeiten<br />

auf, die sich mit der Beziehung zwischen Verhalten <strong>und</strong><br />

Entwicklung <strong>im</strong> Kleinkindalter <strong>und</strong> in späteren Lebensphasen<br />

beschäftigen. In einigen Abschnitten wird auch das Thema Mechanismen<br />

der Veränderung wichtig, wenn wir die Rolle von Variabilität<br />

<strong>und</strong> Selektion bei der Entwicklung untersuchen. Im Zusammenhang<br />

mit der frühen motorischen Entwicklung werden<br />

wir Beiträge beleuchten, die der soziokulturelle Kontext leistet.<br />

Das Thema jedoch, das sich am deutlichsten durch dieses<br />

Kapitel zieht, ist die Wechselwirkung zwischen Anlage <strong>und</strong> Umwelt<br />

bei der Entwicklung. Seit mindestens 2000 Jahren gibt es<br />

eine oft heftige Debatte zwischen denjenigen Philosophen <strong>und</strong><br />

Wissenschaftlern, die das angeborene Wissen als Erklärung der<br />

menschlichen Entwicklung betonen, <strong>und</strong> denjenigen, die das<br />

Lernen hervorheben (Spelke <strong>und</strong> Newport 1998). Der Wunsch,<br />

etwas Licht in diese anhaltende Auseinandersetzung zu bringen,<br />

dürfte ein Gr<strong>und</strong> dafür sein, dass in den vergangenen Jahrzehnten<br />

eine enorme Anzahl von Forschungsarbeiten zum Wahrnehmen,<br />

Handeln, Lernen <strong>und</strong> zur Kognition bei Kleinkindern<br />

durchgeführt wurde. Was Entwicklungsforscher in den letzten<br />

Jahren über Babys herausfanden, legt offen, dass deren Entwicklung<br />

noch komplizierter <strong>und</strong> bemerkenswerter verläuft als ursprünglich<br />

vermutet.<br />

Wahrnehmung<br />

Unweigerlich stellt sich Eltern von Neugeborenen die Frage, was<br />

ihre Kinder erleben – wie viel sie schon sehen, wie gut sie schon<br />

hören, ob sie – wie in unserem Eingangsbeispiel – Gesehenes <strong>und</strong><br />

Gehörtes miteinander verbinden <strong>und</strong> so weiter. Einer der ersten<br />

Psychologen, William James, Begründer der Psychologie in den<br />

USA <strong>und</strong> zugleich einer der wichtigsten Vertreter des philosophischen<br />

Pragmatismus hielt die Welt der Neugeborenen noch<br />

für ein „großes, sch<strong>im</strong>merndes <strong>und</strong> dröhnendes Wirrwarr“. Heutige<br />

Forscher teilen diese Ansicht nicht, denn die Erforschung<br />

der frühen Sinneseindrücke <strong>und</strong> Wahrnehmungen hat bemerkenswerte<br />

Fortschritte gemacht. Es zeigte sich, dass die Sinnessysteme<br />

Kinder, bereits unmittelbar nach der Geburt zu einem<br />

gewissen Grad funktionieren <strong>und</strong> die anschließende Entwicklung<br />

sehr schnell erfolgt. Sinnesempfindung bezieht sich auf<br />

die Verarbeitung gr<strong>und</strong>legender Information der äußeren Welt<br />

durch Rezeptoren in den Sinnesorganen (Augen, Ohren, Haut<br />

etc.) <strong>und</strong> <strong>im</strong> Gehirn. Wahrnehmung bezeichnet den Prozess der<br />

Strukturierung <strong>und</strong> Interpretation von Sinnesinformation über<br />

die Gegenstände, Ereignisse <strong>und</strong> räumlichen Gegebenheiten der<br />

Welt um uns herum. In unserem Eingangsbeispiel gehörten zu<br />

den Sinnesempfindungen Licht <strong>und</strong> Schallwellen, welche die<br />

Rezeptoren in Benjamins Augen <strong>und</strong> Ohren aktivieren <strong>und</strong> als<br />

neuronal kodierte Information ins Gehirn gelangen. Die Wahrnehmung<br />

umfasste beispielsweise seine Erfahrung der visuellen<br />

<strong>und</strong> akustischen St<strong>im</strong>ulation durch das zersplitternde Glas als ein<br />

einzelnes, zusammenhängendes Ereignis.<br />

Sinnesempfindung – Die Verarbeitung gr<strong>und</strong>legender Informationen aus der<br />

Außenwelt durch die Sinnesrezeptoren in den Sinnesorganen (Augen, Ohren,<br />

Haut etc.) <strong>und</strong> <strong>im</strong> Gehirn.<br />

Wahrnehmung – Der Prozess der Strukturierung <strong>und</strong> Interpretation sensorischer<br />

Information.<br />

Im vorliegenden Abschnitt richten wir die meiste Aufmerksamkeit<br />

auf das Sehen, sowohl wegen seiner f<strong>und</strong>amentalen<br />

Bedeutung für den Menschen als auch deshalb, weil es zum Sehen<br />

weitaus mehr Forschungsarbeiten gibt als zu allen anderen<br />

Sinnesmodalitäten. Wir werden auch das Hören <strong>und</strong> – eher am<br />

Rande – Geschmack, Geruch <strong>und</strong> Berührung sowie die Koordination<br />

zwischen mehreren Sinnesmodalitäten behandeln.<br />

Sehen<br />

Mehr als andere Spezies verlassen sich Menschen auf das Sehvermögen:<br />

Etwa 40–50 % unseres ausgereiften cerebralen Cortex<br />

sind an der visuellen Verarbeitung beteiligt (Kellman <strong>und</strong> Arterberry<br />

2006). Noch vor wenigen Jahrzehnten galt das Sehen bei<br />

Neugeborenen als kaum funktionsfähig. Als Forscher aber damit<br />

begannen, das Blickverhalten von Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern<br />

sorgfältig zu untersuchen, fanden sie heraus, dass diese Annahme<br />

falsch war. Tatsächlich beginnen Neugeborene schon Minuten<br />

nachdem sie den Mutterleib verlassen haben, damit, die Welt<br />

visuell zu erk<strong>und</strong>en. Sie lassen den Blick über die Umgebung<br />

schweifen, <strong>und</strong> wenn er auf eine Person oder einen Gegenstand<br />

trifft, halten sie inne <strong>und</strong> betrachten ihn. Neugeborene sehen<br />

zwar nicht so deutlich wie Erwachsene, aber ihr Sehvermögen<br />

verbessert sich in den ersten Lebensmonaten extrem schnell. Und<br />

neuere Studien haben, wie wir noch sehen werden, gezeigt, dass<br />

bereits die kleinsten Babys trotz der Unreife ihres visuellen Systems<br />

über erstaunlich raffinierte Sehfähigkeiten verfügen.<br />

Diese Behauptung könnten wir nicht überzeugend ohne<br />

empirische Belege vertreten, die erst durch die Entwicklung<br />

einer Vielzahl ausgeklügelter Forschungsmethoden möglich<br />

wurde. Der erste Durchbruch gelang mit der systematischen<br />

Beobachtung der Blickpräferenz, einer Methode, mit der man


158<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

die visuelle Aufmerksamkeit von Kleinkindern untersuchte. Bei<br />

diesem zuerst von Robert Fantz (1961) eingesetzten Verfahren<br />

werden unterschiedliche visuelle Reize üblicherweise auf zwei<br />

nebeneinander befindlichen Bildschirmen oder Projektionsflächen<br />

dargeboten. Wenn das Kind einen der beiden Reize länger<br />

betrachtet, kann der Forscher daraus schließen, dass das Baby<br />

den Unterschied zwischen den beiden Reizen bemerkt <strong>und</strong> einen<br />

davon bevorzugt. Fantz stellte fest, dass Neugeborene – wie jeder<br />

andere auch – lieber dorthin schauen, wo sich irgendetwas befindet,<br />

als dorthin, wo sich nichts befindet. Wurde irgendein Muster<br />

– schwarze <strong>und</strong> weiße Streifen, Zeitungspapier, eine Zielscheibe,<br />

ein schematisiertes Gesicht – neben einer unstrukturierten Oberfläche<br />

gezeigt, bevorzugten die Kinder das Muster (das heißt, sie<br />

betrachteten es länger).<br />

Blickpräferenz – Ein Verhalten, das zur Untersuchung der visuellen Aufmerksamkeit<br />

von Säuglingen herangezogen wird; man zeigt den Säuglingen zwei<br />

Muster oder zwei Objekte gleichzeitig, um herauszufinden, ob sie eines davon<br />

bevorzugt anschauen.<br />

Eine weitere Methode, die für die Untersuchung der Sinnes- <strong>und</strong><br />

Wahrnehmungsentwicklung von Kleinkindern benutzt wurde,<br />

ist die Habituation, der wir in ▶ Kap. 2 bereits als Methode zur<br />

Untersuchung der fetalen Entwicklung begegnet sind. Bei diesem<br />

Verfahren wird ein best<strong>im</strong>mter Reiz wiederholt dargeboten, bis<br />

die Reaktion des <strong>Kindes</strong> signifikant nachlässt, also habituiert.<br />

Dann wird ein neuartiger Reiz dargeboten. Wenn sich die Reaktion<br />

des <strong>Kindes</strong> daraufhin verstärkt, schließt der Forscher, dass<br />

das Kind den alten <strong>und</strong> den neuen Reiz unterscheiden kann.<br />

Diese Methoden sind zwar extrem einfach, erwiesen sich jedoch<br />

als sehr aussagekräftig, um zu untersuchen, wie Kleinkinder die<br />

Welt wahrnehmen <strong>und</strong> verstehen.<br />

Sehschärfe<br />

Anhand der Blickpräferenztechnik gelang es auch, wie in ▶ Kap. 1<br />

beschrieben, die Sehschärfe (Visus) von Säuglingen zu best<strong>im</strong>men,<br />

das heißt einzuschätzen, wie genau sie sehen können. Auf<br />

diese Weise haben Forscher herausgef<strong>und</strong>en, dass Säuglinge <strong>und</strong><br />

Kleinkinder, die den Unterschied zwischen einfachen Streifenmustern<br />

wie in . Abb. 5.1 <strong>und</strong> unstrukturierten grauen Flächen<br />

wahrnehmen können, bevorzugt auf das Muster blicken. Durch<br />

Variieren der Muster <strong>und</strong> Auswerten der beobachteten Blickrichtungen<br />

haben<br />

Wissenschaftler nicht nur über die visuellen Fähigkeiten in<br />

der frühesten Kindheit gelernt, sondern auch einiges über ihre<br />

Blickpräferenzen herausgef<strong>und</strong>en. So bevorzugen Säuglinge generell<br />

den Anblick kontrastreicher Muster, etwa schwarz-weißer<br />

Schachbretter (Banks <strong>und</strong> Dannemiller 1987). Das liegt daran,<br />

dass Säuglinge eine schwache Kontrastempfindlichkeit besitzen:<br />

Sie erkennen ein Muster nur dann, wenn es sich aus hochkontrastierenden<br />

Elementen zusammensetzt.<br />

Sehschärfe (Visus) – Das Auflösungsvermögen be<strong>im</strong> Sehen von Testobjekten<br />

unterschiedlicher Größe in einer best<strong>im</strong>mten Entfernung.<br />

Kontrastempfindlichkeit – Die Fähigkeit, Unterschiede zwischen den hellen<br />

<strong>und</strong> dunklen Bereichen eines optischen Musters zu erkennen.<br />

..<br />

Abb. 5.1 Die Sehschärfe lässt sich bei Säuglingen mit Testmustern wie diesen<br />

untersuchen. Dabei werden dem Kind jeweils zwei Testscheiben gleichzeitig<br />

präsentiert, eine mit einem Streifenmuster, die andere mit einer grauen<br />

Fläche. Sofern das Kind die Kontraste zwischen den weißen <strong>und</strong> schwarzen<br />

Streifen wahrn<strong>im</strong>mt, wird es seinen Blick auf das Streifenmuster richten –<br />

entsprechend der allgemein in diesem Alter zu beobachtenden Präferenz<br />

von Mustern gegenüber strukturlosen Bereichen <strong>im</strong> Blickfeld. Ein Augenarzt<br />

oder Forscher präsentiert dem Kind be<strong>im</strong> Sehtest eine Folge von Mustern mit<br />

<strong>im</strong>mer kleinerem Streifenabstand, bis das Kind keinen Unterschied zwischen<br />

beiden Testscheiben mehr feststellen kann. Der Streifenabstand be<strong>im</strong> feinsten<br />

Testmuster, für das eine Blickpräferenz beobachtet wurde, liefert dann ein<br />

Maß für die Sehschärfe des <strong>Kindes</strong>. (© Good-Lite Company; mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Genehmigung)<br />

Ein Gr<strong>und</strong> für diese schwache Kontrastempfindlichkeit liegt<br />

darin, dass die Zapfen der Kinder noch nicht ausgereift sind –<br />

das sind lichtempfindliche Sehrezeptoren, die be<strong>im</strong> Sehen von<br />

Farben <strong>und</strong> von feinen Details beteiligt sind <strong>und</strong> von denen<br />

man besonders viele <strong>im</strong> Zentralbereich der Netzhaut, der Fovea<br />

(Sehgrube, dem Bereich des schärfsten Sehens), findet. In der<br />

frühen Kindheit sind die Zapfen von anderer Größe <strong>und</strong> Form<br />

<strong>und</strong> sitzen weiter voneinander entfernt als <strong>im</strong> Erwachsenenalter<br />

(Kellman <strong>und</strong> Arterberry 2006). Infolgedessen fangen die Zapfen<br />

von Neugeborenen nur 2 % des in die Fovea fallenden Lichtes<br />

auf; bei Erwachsenen sind es 65 % (Banks <strong>und</strong> Shannon 1993).<br />

Daraus erklärt sich zum Teil, weshalb Babys in den ersten Lebensmonaten<br />

eine Sehschärfe von nur etwa 0,1 (Dez<strong>im</strong>alvisus)<br />

entsprechend 20/200 (Snellen-Index) haben. (Ein Erwachsener<br />

mit dieser Sehschärfe könnte auf der Buchstabentafel des Augenarztes<br />

das große E ganz oben erkennen. Normalwert für den<br />

Visus wäre 1.) In der Folgezeit entwickelt sich die Sehschärfe so<br />

schnell, dass sich die Sehfähigkeit von acht Monate alten Babys<br />

derjenigen von Erwachsenen annähert; die volle Sehschärfe von<br />

Erwachsenen erreichen die Kinder <strong>im</strong> Alter von sechs Jahren<br />

(Kellman <strong>und</strong> Arterberry 2006).<br />

Zapfen – Die lichtempfindlichen Netzhautrezeptoren, die sich in hoher Dichte<br />

<strong>im</strong> Bereich des schärfsten Sehens, der Fovea, finden.


Wahrnehmung<br />

159 5<br />

..<br />

Das verschwommene Bild<br />

entspricht etwa dem, was ein einen<br />

Monat alter Säugling wahrnehmen<br />

würde. Die geringe Sehschärfe<br />

führt dazu, dass einige Merkmale<br />

mit deutlichem Kontrast hervortreten<br />

– insbesondere die Augen <strong>und</strong><br />

der Haaransatz. (© Goodshoot RF<br />

Thinkstock/ Getty Images)<br />

Eine weitere Einschränkung der visuellen Erfahrungen von<br />

Kleinstkindern besteht darin, dass sie in den ersten Lebensmonaten<br />

die Farbwahrnehmung Erwachsener nicht teilen. Von unserer<br />

Welt voller Farben können sie bestenfalls einige Graustufen<br />

zwischen Schwarz <strong>und</strong> Weiß unterscheiden (Adams 1995). Bei<br />

zwei oder drei Monate alten Säuglingen ist die Farbwahrnehmung<br />

bereits insofern ähnlich wie bei Erwachsenen (Kellman <strong>und</strong> Arterberry<br />

2006), als sie für dieselben Gr<strong>und</strong>farben Blickpräferenz<br />

zeigen (sie am längsten anschauen), die Erwachsene als am angenehmsten<br />

einschätzen: die Farben Rot <strong>und</strong> Blau (Bornstein 1975).<br />

Auch nehmen Säuglinge die Grenzen zwischen Farben mehr oder<br />

weniger ähnlich wahr wie Erwachsene: Sie reagieren gleichartig<br />

auf zwei Farbabstufungen, die Erwachsene als dieselbe Farbe bezeichnen<br />

würden (z. B. „Blau“), aber sie unterscheiden zwischen<br />

zwei Farbstufen, die Erwachsene mit unterschiedlichen Farbnamen<br />

benennen (z. B. „Blau“ <strong>und</strong> „Grün“; Bornstein et al. 1976).<br />

Visuelles Abtasten der Umwelt<br />

Wie bereits erwähnt, beginnen schon Neugeborene damit, ihren<br />

Blick über ihre Umgebung wandern zu lassen. Von Anfang an<br />

sind sie von Reizen angezogen, die sich bewegen, denen zu folgen<br />

ihnen jedoch schwerfällt, weil ihre Augenbewegungen ruckartig<br />

sind <strong>und</strong> ihr Blick oft nicht bei dem Objekt bleibt, das sie mit<br />

den Augen verfolgen wollen. Erst mit zwei oder drei Monaten<br />

sind die Kinder in der Lage, beweglichen Objekten geschmeidig<br />

zu folgen, aber nur, wenn sich das Objekt langsam genug bewegt<br />

(Aslin 1981). Dieser Entwicklungsfortschritt scheint weniger von<br />

Seherfahrungen abzuhängen als von Reifungsprozessen. Frühgeborene,<br />

deren neuronale Entwicklung <strong>und</strong> deren Sehsystem<br />

noch unreif ist, entwickeln das stetige Verfolgen eines bewegten<br />

Objekts mit den Augen später nach der Geburt als ausgetragene<br />

Kinder (Strand-Brodd et al. 2011)<br />

Eine weitere Einschränkung der visuellen Erfahrung von<br />

Säuglingen (die zugleich begrenzt, was sie von der Welt lernen<br />

können) besteht darin, dass ihr visuelles Abtasten von Objekten<br />

beschränkt ist. Bei einer einfachen Figur wie einem Dreieck blicken<br />

Kinder unter zwei Monaten fast ausschließlich auf eine der<br />

Ecken. Bei komplexeren Formen beschränken Säuglinge ihren<br />

Blickverlauf meistens auf die äußeren Ränder (Haith et al. 1977;<br />

Milewski 1976). Wenn also Kinder <strong>im</strong> Alter von einem Monat<br />

die Zeichnung eines Gesichts betrachten (. Abb. 5.2), fixieren sie<br />

a<br />

..<br />

Abb. 5.2 Visuelles Abtasten. Die rot eingezeichneten Linien auf diesen<br />

Gesichtern geben die Blickbewegungen zweier Babys unterschiedlichen<br />

Alters be<strong>im</strong> Fixieren der Bilder wieder. a Ein einen Monat altes Baby blickte<br />

vorwiegend auf die äußere Kontur des Gesichts <strong>und</strong> des Kopfes, mit ein paar<br />

einzelnen Fixierungen der Augenpartie. b Ein zwei Monate altes Baby fixierte<br />

vorwiegend die innen liegenden Merkmale des Gesichts, insbesondere<br />

Augen <strong>und</strong> M<strong>und</strong>. (Aus Maurer <strong>und</strong> Salapatek 1976)<br />

b


160<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

1<br />

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23<br />

gewöhnlich die Außenkanten – insbesondere das Kinn oder den<br />

Haaransatz, wo ein relativ starker Kontrast zum Hintergr<strong>und</strong> besteht.<br />

Ab zwei Monaten können die Kinder komplexe Reize viel<br />

Exkurs 5.1: Näher betrachtet: Gesichter <strong>und</strong> das Baby | |<br />

Ein besonders faszinierender Aspekt der Wahrnehmung<br />

eines Säuglings betrifft seine Reaktion<br />

auf den sozialsten aller Reize – das menschliche<br />

Gesicht. Wie wir schon erwähnten, sind Säuglinge<br />

von Geburt an von Gesichtern angezogen;<br />

das veranlasste Forscher zu der Frage, was die<br />

Aufmerksamkeit der Babys ursprünglich erweckt.<br />

Aufrechtes<br />

Gesicht<br />

Mehr Elemente<br />

oben<br />

Aufrechtes<br />

Gesicht<br />

Invertiertes<br />

Gesicht<br />

Mehr Elemente<br />

unten<br />

Mehr Elemente<br />

oben<br />

..<br />

Neugeborene blicken länger auf die drei<br />

St<strong>im</strong>uli in der linken Spalte <strong>und</strong> geben damit<br />

eine allgemeine Bevorzugung von kopflastigen<br />

St<strong>im</strong>uli zu erkennen, die zu ihrer Vorliebe für<br />

menschliche Gesichter beiträgt. Man beachte,<br />

dass diese Präferenz ausreicht, um zu erklären,<br />

warum Neugeborene mehr Zeit damit verbringen,<br />

ihrer Mutter ins Gesicht zu schauen als anderswohin.<br />

(Macchi Cassia et al. 2006; © Elsevier<br />

2006; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Die Antwort ist anscheinend eine ganz allgemeine<br />

Neigung zu Konfigurationen, die in der<br />

oberen Hälfte mehr Elemente enthalten als<br />

in der unteren – etwas, das alle menschlichen<br />

Gesichter kennzeichnet (Macchi Cassia et al.<br />

2004; S<strong>im</strong>ion et al. 2002; s. die drei Bildpaare<br />

mit manipulierten Gesichtern). Die ersten<br />

Hinweise auf eine verzerrte Wahrnehmung bei<br />

gesichtsähnlichen Reizvorlagen zeigte sich in<br />

Untersuchungen mit Neugeborenen, die Gesichter<br />

von Menschen <strong>und</strong> Affen mit gleicher<br />

Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Interesse betrachteten<br />

– solange diese Gesichter aufrecht präsentiert<br />

wurden (Di Giorgio et al. 2012).<br />

Die Kinder kommen aber schnell davon ab,<br />

allen Gesichtern die gleiche Aufmerksamkeit<br />

zu schenken, <strong>und</strong> bevorzugen sehr bald das<br />

Gesicht ihrer eigenen Mutter. Sobald sie<br />

jedoch in den ersten Tagen nach der Geburt<br />

das Gesicht ihrer Mutter <strong>im</strong>mer wieder zu<br />

sehen bekommen, betrachten Säuglinge das<br />

Gesicht der Mutter länger als das Gesicht<br />

einer unbekannten Frau, <strong>und</strong> zwar auch dann,<br />

wenn die Hinweisreize durch den Geruch der<br />

Mutter kontrolliert wurden – das ist ein wichtiger<br />

Schritt, weil Neugeborene den Geruch<br />

der Mutter bevorzugen, wie wir in ▶ Kap. 2<br />

erläutert haben (Bushnell et al. 2011). In den<br />

nächsten Monaten entwickeln die Kinder<br />

eine Präferenz für Gesichter, die dem gleichen<br />

Geschlecht zuzurechnen sind wie die Betreuungsperson,<br />

die sie am öftesten sehen – sei sie<br />

männlich oder weiblich (Quinn et al. 2002).<br />

Nachdem Säuglinge in den ersten Lebensmonaten<br />

viele unterschiedliche Gesichter<br />

gesehen haben, entwickeln sie allmählich<br />

einen wohlstrukturierten perzeptiven Prototyp<br />

von menschlichen Gesichtern. Die Bildung<br />

dieses detaillierten Gesichter-Prototyps<br />

erleichtert nun die Unterscheidung zwischen<br />

unterschiedlichen Gesichtern. Ein Beleg für<br />

die Bildung eines allgemeinen Gesichter-<br />

Prototyps <strong>im</strong> ersten Lebensjahr ergibt sich aus<br />

einer interessanten Studie über die Fähigkeit<br />

von Säuglingen <strong>und</strong> Erwachsenen, menschliche<br />

Gesichter oder auch Affengesichter zu<br />

unterscheiden. Erwachsenen wie sechs oder<br />

neun Monate alten Kindern fällt es leicht,<br />

menschliche Gesichter zu unterscheiden.<br />

Aber wenn sie ein Affengesicht von einem<br />

anderen Affengesicht unterscheiden sollen,<br />

haben sowohl neun Monate alte Säuglinge als<br />

auch Erwachsene erhebliche Schwierigkeiten<br />

(Pascalis et al. 2002). Überraschenderweise<br />

unterscheiden sechs Monate alte Säuglinge<br />

zwischen Affengesichtern ebenso gut wie<br />

zwischen Menschengesichtern.<br />

Die Forscher schlossen daraus, dass Kinder<br />

von neun Monaten <strong>und</strong> Erwachsene auf einen<br />

umfangreicher absuchen, sodass sie sowohl auf die Gesamtform<br />

als auch auf Details <strong>im</strong> Inneren achten können (▶ Exkurs 5.1).<br />

detaillierten Prototyp vom menschlichen<br />

Gesicht zurückgreifen, um zwischen Menschen<br />

zu unterscheiden; aber dieser Prototyp hilft<br />

ihnen nicht be<strong>im</strong> Unterscheiden zwischen<br />

Affen. Dass die sechs Monate alten Babys<br />

zwischen Menschengesichtern <strong>und</strong> zwischen<br />

Affengesichtern gleich gut unterscheiden<br />

konnten, lässt vermuten, dass ihr Prototyp<br />

vom menschlichen Gesicht noch nicht so<br />

detailliert <strong>und</strong> fest strukturiert ist, wie er bald<br />

sein wird. Mit sechs Monaten haben die Kinder<br />

zweifellos schon ein Wissen über Gesichter,<br />

aber sie bevorzugen die Details <strong>im</strong> menschlichen<br />

Gesicht gegenüber den Elementen <strong>im</strong><br />

Affengesicht noch nicht.<br />

Weitere Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen<br />

von Erfahrung auf das Wiedererkennen<br />

von Gesichtern passen gut zu diesem<br />

Bef<strong>und</strong>. In einer dieser Untersuchungen<br />

wurden sechs Monate alten Säuglingen über<br />

drei Monate zu Hause täglich nach einem vorgegebenen<br />

Zeitplan 1–2 min lang Bilder von<br />

Affen gezeigt. Als man sie <strong>im</strong> Alter von neun<br />

Monaten testete, hatten sie ihre Fähigkeit,<br />

zwischen Affengesichtern zu unterscheiden,<br />

bewahrt (Pascalis et al. 2005).<br />

Eine andere Erfahrung, die die Wahrnehmung<br />

von Gesichtern bei Säuglingen formt,<br />

sind Begegnungen mit Menschen anderer<br />

Ethnien. Ein allgemeiner Effekt, der zuerst<br />

bei Erwachsenen beobachtet wurde, ist der<br />

Einfluss ethnischer Prägungen von Gesichtern:<br />

Menschen erkennen Unterschiede zwischen<br />

Gesichtern innerhalb ihrer eigenen Ethnie<br />

besser wieder als innerhalb fremder Ethnien.<br />

Neugeborene zeigen noch keine Präferenz<br />

für Gesichter der eigenen Ethnie, aber bei<br />

drei Monate alte weißen, afrikanischen <strong>und</strong><br />

chinesischen Säuglingen konnten Präferenzen<br />

für die jeweils eigene Ethnie nachgewiesen<br />

werden (Kelly et al. 2005, 2007). In der zweiten<br />

Hälfte des ersten Lebensjahres spezialisiert<br />

sich die Gesichterverarbeitung weiter, wie die<br />

auftretenden Unterschiede bei der ethnischen<br />

Präferenz zeigen. Mit neun Monaten haben<br />

Kleinkinder größere Schwierigkeiten, Gesichter<br />

fremder Ethnien zu unterscheiden als Gesichter<br />

der eigenen Ethnie (Kelly et al. 2007, 2009).<br />

Was diese Entwicklung antreibt, ist nicht die<br />

eigene Ethnie als solche, sondern entscheidend<br />

sind es die Merkmale von Menschen in<br />

der unmittelbaren Umgebung des <strong>Kindes</strong>. So<br />

zeigten drei Monate alte Kinder afrikanischer<br />

Einwanderer in Israel, die von schwarzen <strong>und</strong><br />

weißen Betreuern umgeben waren, das gleiche<br />

Interesse an schwarzen <strong>und</strong> weißen Gesichtern<br />

(Bar-Ha<strong>im</strong> et al. 2006). Weitere Hinweise auf die<br />

Auswirkung visueller Erfahrung auf die Wahrnehmung<br />

von Gesichtern ergaben sich bei ei-


Wahrnehmung<br />

161 5<br />

Exkurs 5.1 (Fortsetzung) | |<br />

ner Untersuchung an biethnischen Kindern, die<br />

zu Hause ständig Gesichtermerkmale zweier<br />

Ethnien sahen. Diese Kinder sind be<strong>im</strong> visuellen<br />

Abtasten von Gesichtern deutlich weiter als<br />

monoethnische Kinder (Gaither et al. 2012).<br />

Zu den faszinierendsten Aspekten der Gesichterpräferenzen<br />

von Säuglingen gehört die Tatsache,<br />

dass sie – wie jeder von uns – hübsche<br />

Gesichter mögen. Von Geburt an betrachten<br />

sie Gesichter, die von Erwachsenen als sehr<br />

attraktiv beurteilt wurden, länger als Gesichter,<br />

denen weniger Attraktivität zugesprochen<br />

wurde (Langlois et al. 1991, 1987; Rubenstein<br />

et al. 1999; Slater et al. 1998, 2000).<br />

Bei älteren Säuglingen beeinflusst die Bevorzugung<br />

von Schönheit, wie bei Erwachsenen,<br />

auch ihr Verhalten gegenüber wirklich präsenten<br />

Menschen. Das ergab eine Untersuchung,<br />

in der zwölf Monate alte Kinder mit einer Frau<br />

interagierten, deren Gesicht entweder sehr<br />

attraktiv oder sehr unattraktiv war (Langlois<br />

et al. 1990). Das hervorstechendste Merkmal<br />

dieser Untersuchung bestand darin, dass die<br />

attraktive <strong>und</strong> die unattraktive Frau durch ein<br />

<strong>und</strong> dieselbe Person verkörpert wurde! Dieses<br />

doppelte Erscheinungsbild derselben Frau<br />

wurde dadurch erreicht, dass ein Maskenbildner<br />

die Frau sehr natürlich auf attraktiv oder<br />

unattraktiv schminkte, bevor sie mit den Kindern<br />

interagierte. An einem Tag kam die junge<br />

Frau, die die Babys testete, mit schöner Maske,<br />

an einem anderen mit unattraktiver, wobei die<br />

Masken dem entsprachen, was Erwachsene als<br />

sehr attraktives <strong>und</strong> als relativ unattraktives<br />

Gesicht eingeschätzt hatten.<br />

Bei der Interaktion mit der Frau verhielten sich<br />

die Säuglinge je nach der Maske, die sie trug,<br />

unterschiedlich. Verglichen mit ihren Reaktionen<br />

auf die unattraktive Maske, zeigten sie<br />

mehr Freude, beteiligten sich stärker am Spiel<br />

<strong>und</strong> zogen sich mit geringerer Wahrscheinlichkeit<br />

zurück, wenn die Frau attraktiv maskiert<br />

war. Diese Untersuchung hatte insofern ein<br />

gutes Design, als die Frau, die mit den Kindern<br />

interagierte, an keinem Tag wusste, auf<br />

welche Maske sie jeweils geschminkt war. Das<br />

Verhalten der Kinder konnte somit nicht durch<br />

entsprechende Hinweise in ihrem Verhalten<br />

gesteuert worden sein, sondern nur auf ihrem<br />

hübschen oder reizlosen Erscheinungsbild<br />

beruhen.<br />

..<br />

Zeigen diese Fotos das Gesicht desselben<br />

oder das Gesicht verschiedener Menschen?<br />

Und wie steht es mit den Affenfotos? Als ein<br />

erwachsener Mensch werden Sie zweifellos sehr<br />

leicht erkennen, dass sich die beiden Männer<br />

unterscheiden; nicht ganz so sicher sind Sie<br />

vielleicht, ob die beiden Affenfotos verschiedene<br />

Individuen darstellen oder nicht. (Es sind verschiedene.)<br />

(© Olivier Pascalis; mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Genehmigung)<br />

Musterwahrnehmung<br />

Eine genaue visuelle Wahrnehmung der Welt erfordert mehr als<br />

Sehschärfe <strong>und</strong> systematisches Absuchen; sie setzt auch das Analysieren<br />

<strong>und</strong> Integrieren der einzelnen Elemente eines visuellen<br />

Reizes zu einem zusammenhängenden Muster voraus. Um das<br />

Gesicht in . Abb. 5.2 wahrzunehmen, wie es zwei Monate alte Kinder<br />

offenbar tun, müssen sie die einzelnen Elemente integrieren.<br />

Ein eindrucksvoller Nachweis der integrativen Musterwahrnehmung<br />

in der frühen Kindheit ergibt sich aus Forschungen, in<br />

denen die in . Abb. 5.3 gezeigte Reizanordnung eingesetzt wurde.<br />

Be<strong>im</strong> Betrachten n<strong>im</strong>mt man hier zweifellos ein Quadrat wahr,<br />

obwohl gar kein Quadrat existiert. Diese subjektive Wahrnehmung<br />

von Scheinkonturen resultiert aus der aktiven Integration<br />

der separaten Elemente der Reizanordnung zu einem einzigen<br />

Ganzen. Wenn man die einzelnen dargestellten Formen einfach


162<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

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Abb. 5.3 Scheinkontur. Wenn Sie auf diese Figur schauen, sehen Sie zweifellos<br />

ein Quadrat; man nennt dies eine subjektive Kontur oder Scheinkontur,<br />

weil hier gar kein Quadrat vorhanden ist. Auch sieben Monate alte Säuglinge<br />

entdecken das Scheinquadrat. (Aus Bertenthal et al. 1980)<br />

nur nacheinander betrachten würde, entstünde nicht der Wahrnehmungseindruck<br />

eines Quadrats. Ebenso wie Sie nehmen auch<br />

Kinder <strong>im</strong> Alter von sieben Monaten das subjektive Quadrat in<br />

. Abb. 5.3 wahr (Bertenthal et al. 1980), was darauf hindeutet, dass<br />

sie die einzelnen Elemente integrieren, um ein Ganzes wahrzunehmen.<br />

Und selbst Neugeborene können das bereits, sofern sie<br />

zusätzliche Hinweisreize durch Bewegung des Quadrats bekommen,<br />

etwa indem auf dem Bildschirm durch Vergrößern <strong>und</strong><br />

Verkleinern des Quadrats eine Scheinbewegung erzeugt wird<br />

(Valenza <strong>und</strong> Bulf 2007).<br />

Säuglinge können auch schon Zusammenhänge zwischen<br />

sich bewegenden Elementen wahrnehmen. In den Untersuchungen<br />

von Bennett Bertenthal <strong>und</strong> seinen Mitarbeitern<br />

(Bertenthal 1993; Bertenthal et al. 1987) sahen Säuglinge einen<br />

Film mit wandernden Lichtpunkten. Erwachsene identifizieren<br />

das, was sie sehen, sofort <strong>und</strong> eindeutig als einen gehenden<br />

Menschen; die sich bewegenden Lichtpunkte scheinen an den<br />

wichtigen Gelenken <strong>und</strong> am Kopf eines erwachsenen Menschen<br />

befestigt zu sein (<strong>und</strong> waren es bei den Filmaufnahmen<br />

auch). Und bei Neugeborenen konnte eine Präferenz für ein<br />

kohärentes Lichtpunkmuster gegenüber einem Zufallsmuster<br />

beobachtet werden, wie sie ähnlich schon bei dem Quadrat in<br />

. Abb. 5.3 gezeigt wurde. Aus diesen Bef<strong>und</strong>en ergibt sich, dass<br />

Neugeborene trotz ihrer schlechten Sehschärfe <strong>und</strong> mangelnder<br />

visueller Erfahrung bereits aufmerksam die unterschiedlichen<br />

Konfigurationen der Elemente <strong>und</strong> ihre Bewegung in der Umgebung<br />

verfolgen.<br />

Objektwahrnehmung<br />

Zu den bemerkenswertesten Erkenntnissen über die Wahrnehmung<br />

von Objekten gehört die Stabilität unserer Wahrnehmung.<br />

Wenn eine andere Person sich uns nähert oder sich entfernt oder<br />

sich langsam <strong>im</strong> Kreis herum bewegt, verändert sich unser Netzhautbild<br />

von dieser Person in Größe <strong>und</strong> Form, aber wir haben<br />

nicht den Eindruck, dass die Person größer oder kleiner wird<br />

oder sich in ihrer Form verändert. Stattdessen nehmen wir eine<br />

konstante Form <strong>und</strong> eine konstante Größe wahr; dieses Phänomen<br />

wird Wahrnehmungskonstanz genannt. Größenkonstanz<br />

lässt sich gut demonstrieren, indem man in den Spiegel schaut<br />

<strong>und</strong> beachtet, dass das Bild des eigenen Gesichts der normalen<br />

Größe eines Gesichts zu entsprechen scheint. Dann lässt man den<br />

Spiegel beschlagen <strong>und</strong> zeichnet den Umriss des Gesichts auf den<br />

Spiegel. Man wird feststellen, dass der Umriss bedeutend kleiner<br />

ist als das wirkliche Gesicht. Wegen der Wahrnehmungskonstanz<br />

n<strong>im</strong>mt man das Spiegelbild als ebenso groß wahr wie jedes andere<br />

Gesicht eines Erwachsenen.<br />

Wahrnehmungskonstanz – Die Wahrnehmung von Objekten in konstanter<br />

Größe, Form, Farbe etc. trotz physikalischer Unterschiede des Netzhautabbildes<br />

von diesem Objekt.<br />

Der Ursprung der Größenkonstanz bildete einen traditionellen<br />

Gegenstand in der Debatte zwischen Empiristen <strong>und</strong> Nativisten.<br />

Die Empiristen behaupteten, dass sich die Größen- <strong>und</strong> Formkonstanz<br />

bei der Wahrnehmung von Objekten als Funktion der<br />

Erfahrung entwickelt, während die Nativisten behaupteten, dass<br />

diese Wahrnehmungsgesetze auf inhärenten Eigenschaften des<br />

Nervensystems beruhen. Entsprechend vermuten die Empiristen,<br />

dass sich Größen- <strong>und</strong> Formkonstanz mit zunehmender räumlicher<br />

Erfahrung in unserer Umgebung entwickelt, während die<br />

Nativisten diese Konstanz auf die uns eigenen Strukturmerkmale<br />

des Nervensystems zurückführen.<br />

Für die nativistische Position spricht, dass sich die Wahrnehmungskonstanz<br />

schon bei Neugeborenen <strong>und</strong> Kleinstkindern<br />

nachweisen lässt. In einer Untersuchung zur Größenkonstanz<br />

(Slater et al. 1990) wurde Neugeborenen zum Training mehrmals<br />

entweder ein großer oder ein kleiner Würfel in unterschiedlichen<br />

Entfernungen gezeigt. Für beide Würfel änderte sich die Größe<br />

des Netzhautbildes aufgr<strong>und</strong> der unterschiedlichen Entfernung<br />

bei jedem Durchgang. Die Frage war, ob die Neugeborenen das<br />

als mehrfache Darbietungen eines einzelnen Objekts oder als<br />

ähnliche Objekte unterschiedlicher Größe wahrnehmen würden.<br />

Zur Klärung dieser Frage zeigten die Forscher den Neugeborenen<br />

abschließend den ursprünglichen Würfel zusammen mit<br />

einem zweiten, doppelt so großen, aber ansonsten identischen<br />

Würfel, der – <strong>und</strong> das war das entscheidende Element der Untersuchung<br />

– doppelt so weit entfernt war, sodass sein Netzhautbild<br />

die gleiche Größe hatte wie das des ersten Würfels (. Abb. 5.4).<br />

Die Säuglinge betrachteten den neuen, größeren <strong>und</strong> weiter entfernten<br />

Würfel länger, was darauf hinweist, dass sie seine Größe<br />

<strong>im</strong> Vergleich zum ursprünglichen Würfel als unterschiedlich<br />

wahrnahmen. Dies wiederum ließ darauf schließen, dass sie die<br />

unterschiedlichen Darbietungen des ursprünglichen Würfels in<br />

unterschiedlichen Entfernungen als ein einziges Objekt von konstanter<br />

Größe wahrgenommen hatten, obgleich ihr Netzhautbild<br />

dabei unterschiedliche Größen hatte. Visuelle Erfahrung scheint<br />

demnach keine Voraussetzung für Größenkonstanz zu sein<br />

(Granrud 1987; Slater <strong>und</strong> Morison 1985).


Wahrnehmung<br />

163 5<br />

..<br />

Abb. 5.4 Wenn dieser Säugling länger auf den größeren, aber weiter<br />

entfernten Würfel schaut, dann werden die Forscher daraus schließen, dass er<br />

über Größenkonstanz verfügt. (© Alan Slater; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Eine weitere entscheidende Wahrnehmungsfähigkeit ist die<br />

Objekttrennung, die Wahrnehmung einzelner Objekte in einer<br />

sichtbaren Anordnung. Um die Wichtigkeit dieser Fähigkeit richtig<br />

einzuschätzen, stelle man sich vor, man sehe die Gegenstände<br />

in seiner momentanen Umgebung zum ersten Mal. Woher weiß<br />

man, wo das eine Objekt aufhört <strong>und</strong> das andere anfängt? Eine<br />

Lücke zwischen zwei Objekten liefert einen deutlichen Hinweis<br />

auf zwei separate Gegenstände. Aber was ist, wenn keine sichtbaren<br />

Lücken existieren? Nehmen wir zum Beispiel an, dass das<br />

Baby Benjamin seinen Eltern be<strong>im</strong> Abwasch zuschaut <strong>und</strong> eine<br />

Tasse auf einer Untertasse stehen sieht. Wird er diese Anordnung<br />

als ein oder als zwei Objekte wahrnehmen? Da es ihm an Erfahrung<br />

<strong>im</strong> Umgang mit Porzellan fehlt, könnte er sich unsicher<br />

sein: Der Formunterschied spricht für zwei Objekte, aber die<br />

gleiche Oberflächenbeschaffenheit lässt auf ein Objekt schließen.<br />

Angenommen, Benjamins Mutter n<strong>im</strong>mt die Tasse <strong>und</strong> taucht sie<br />

ins Spülwasser. Wird er sich <strong>im</strong>mer noch unsicher sein? Nein,<br />

denn selbst für einen Säugling signalisiert die unabhängige Bewegung<br />

einer Tasse <strong>und</strong> einer Untertasse, dass es sich um separate<br />

Gegenstände handelt. Handelt es sich hier um angeborenes Wissen,<br />

oder erwerben die Säuglinge dieses Wissen aus alltäglichen<br />

Beobachtungen in ihrer Umgebung?<br />

Objekttrennung – Die Identifikation einzelner Objekte in einer visuellen Szene.<br />

Die Bedeutung der Bewegung für die Objekttrennung bei Säuglingen<br />

wurde in einem klassischen Exper<strong>im</strong>ent von Kellman<br />

<strong>und</strong> Spelke (1983) nachgewiesen. Zu Beginn wurde vier Monate<br />

alten Kindern die in . Abb. 5.5a dargestellte Anordnung gezeigt,<br />

die Erwachsene als einen Stab wahrnehmen, der sich hinter einem<br />

Holzklotz hin <strong>und</strong> her bewegt. Nachdem sie auf diese Darbietung<br />

habituiert waren, wurden den Säuglingen die beiden<br />

Testanordnungen in . Abb. 5.5b gezeigt. Die Forscher nahmen<br />

an, dass die Kinder die beiden Stabsegmente länger betrachten<br />

würden, falls sie, wie Erwachsene, davon ausgingen, dass sich<br />

in der Habituationsphase ein einziger Stab hinter dem Klotz<br />

bef<strong>und</strong>en hat; denn in diesem Fall wäre die gezeigte Anordnung<br />

mit den beiden Stabsegmenten neuartig. Und genau das taten<br />

die Babys.<br />

..<br />

Abb. 5.5 Objekttrennung.<br />

Säuglinge, denen man die in<br />

(a) dargestellte Kombination<br />

von gegeneinander bewegten<br />

Elementen zeigt, nehmen zwei<br />

getrennte Objekte wahr – hier<br />

einen Stab, der sich hinter<br />

einem Quader bewegt. Nachdem<br />

sie auf diesen Anblick<br />

habituiert wurden, betrachten<br />

sie <strong>im</strong> Testbild (b) zwei Stabsegmente<br />

länger als einen<br />

einzelnen Stab <strong>und</strong> lassen<br />

dadurch erkennen, dass ihnen<br />

der einzelne Stab vertraut ist<br />

<strong>und</strong> die beiden Stabsegmente<br />

neu sind. Wenn sie jedoch<br />

zuerst eine Darstellung ohne<br />

Bewegung sehen, schauen sie<br />

auf beide Testdarstellungen<br />

gleich lange. Dieses Ergebnis<br />

führt die Wichtigkeit von<br />

Bewegung für die Objekttrennung<br />

vor Augen. (Aus Kellman<br />

<strong>und</strong> Spelke 1983)<br />

a<br />

b<br />

Was brachte die Babys zu der Annahme, dass die beiden<br />

Stabsegmente, die sie sehen konnten, ein einzelnes, einheitliches<br />

Objekt bilden? Die Antwort ist: durch die gemeinsame Bewegung<br />

der beiden Stabsegmente, also dadurch, dass sich beide<br />

<strong>im</strong>mer gleichzeitig mit gleicher Geschwindigkeit in die gleiche<br />

Richtung bewegten. Vier Monate alte Säuglinge, die dieselbe<br />

Anordnung sahen wie in . Abb. 5.5a, nur dass der Stab ortsfest<br />

blieb, blickten beide Testanordnungen gleich lange an. Ohne<br />

das Moment der gemeinsamen Bewegung war die Anordnung<br />

mehrdeutig.<br />

Gemeinsame Bewegung ist ein so starker Hinweis, der Elemente,<br />

die in der Wahrnehmung zunächst getrennt erscheinen,<br />

wie ein einheitliches Objekt aussehen lässt. Es spielt keine Rolle,<br />

ob sich die beiden Teile des Gegenstands, der sich hinter dem<br />

Klotz bewegt, in ihrer Farbe, Textur oder Form unterscheiden;<br />

auch macht es keinen Unterschied, wie sie sich bewegen (seitwärts,<br />

auf <strong>und</strong> ab etc.) (Kellman <strong>und</strong> Spelke 1983; Kellman et al.<br />

1986). Für Säuglinge hat die gemeinsame Bewegung vielleicht<br />

auch deshalb so einen starken Einfluss, weil sie ihre Aufmerksamkeit<br />

auf die relevanten Veränderungen der Szene lenkt – die<br />

Stäbe bewegen sich, nicht der Holzklotz (Johnson et al. 2008). Allerdings<br />

muss diese scheinbar sehr elementare visuelle Wahrnehmung<br />

gelernt werden. Neugeborene ließen bei ähnlichen Testreizen<br />

wie den in . Abb. 5.5 gezeigten nicht erkennen, dass sie die<br />

gemeinsame Bewegung als Hinweisreiz für die Objektidentität<br />

nutzten (Slater et al. 1990, 1996). Erst <strong>im</strong> Alter von zwei Monaten<br />

wurde deutlich, dass sie die gemeinsame Bewegung des teilweise<br />

verdeckten Stabes als zusammenhängendes Objekt interpretieren<br />

(Johnson <strong>und</strong> Aslin 1995). Die gemeinsame Bewegung ist also


164<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

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a<br />

..<br />

Abb. 5.6 Wissen <strong>und</strong> Objekttrennung. a Man kann nicht mit Sicherheit<br />

wissen, ob es sich bei dem, was man hier sieht, um ein Objekt oder um zwei<br />

Objekte handelt. b Aufgr<strong>und</strong> unseres Wissens über Schwerkraft <strong>und</strong> Halterungen<br />

können wir sicher sein, dass diese Figur ein einziges (allerdings sehr<br />

eigentümliches) Objekt ist. (Aus Needham 1997)<br />

ein starker Hinweis, aber die Fähigkeit, ihn zu nutzen, müssen<br />

Kinder erst erwerben.<br />

Wenn die Babys älter werden, nutzen sie zusätzliche Informationsquellen<br />

für die Objekttrennung, einschließlich ihres allgemeinen<br />

Weltwissens (Needham 1997; Needham <strong>und</strong> Baillargeon<br />

1997). Man betrachte dazu die ziemlich eigenartig aussehenden<br />

Anordnungen in . Abb. 5.6. Die Unterschiede in Farbe, Form <strong>und</strong><br />

Textur zwischen dem Quader <strong>und</strong> dem Rohr in . Abb. 5.6a legen<br />

die Annahme nahe, dass es sich um zwei getrennte Gegenstände<br />

handelt, obwohl man sich dessen nicht wirklich sicher sein kann.<br />

Das Wissen, dass Gegenstände nicht frei in der Luft schweben<br />

können, sagt uns jedoch, dass es sich in . Abb. 5.6b um ein einzelnes<br />

Objekt handeln muss; das heißt, das Rohr muss an dem<br />

Quader festgemacht sein.<br />

Wie wir Erwachsene interpretieren acht Monate alte Kinder<br />

diese beiden Darstellungen unterschiedlich. Wenn sie sehen, wie<br />

eine Hand in die Anordnung hineingreift <strong>und</strong> an dem Rohr in<br />

. Abb. 5.6a zieht, blicken sie länger hin (wahrscheinlich sind sie<br />

überraschter), wenn sich der Quader <strong>und</strong> das Rohr zusammen<br />

bewegen, als wenn sich das Rohr von dem Quader ablöst, was<br />

darauf schließen lässt, dass sie die Anordnung als zwei getrennte<br />

Objekte wahrnehmen. Das entgegengesetzte Bef<strong>und</strong>muster ergibt<br />

sich jedoch bei . Abb. 5.6b. Jetzt schauen die Kinder länger<br />

hin, wenn sich das Rohr allein bewegt, woraus man schließen<br />

kann, dass sie ein einzelnes, zusammenhängendes Objekt wahrnehmen.<br />

Nachfolgende Untersuchungen mit jüngeren Kindern,<br />

bei denen die gleichen Testreize wie in . Abb. 5.6 verwendet wurden,<br />

ergaben, dass Säuglinge bereits <strong>im</strong> Alter von viereinhalb<br />

Monaten die für Erwachsene typische Deutung der Reizmuster<br />

zeigen, allerdings nur, sofern sie zuvor mit dem Rohr <strong>und</strong> dem<br />

Quader vertraut gemacht worden waren (Needham <strong>und</strong> Baillargeon<br />

1998). Es scheint, als ob das Hantieren mit spezifischen<br />

Objekten Kindern zu einem Verständnis der physikalischen Eigenschaften<br />

verhilft. Wir kommen auf diesen Punkt noch weiter<br />

unten in diesem Kapitel <strong>im</strong> Abschnitt „Greifen“ zurück.<br />

Tiefenwahrnehmung<br />

Um uns sicher in der Umwelt zu bewegen, müssen wir wissen, wo<br />

wir uns in Hinblick auf die Objekte <strong>und</strong> die Orientierungspunkte<br />

um uns herum befinden. Wir ziehen viele Arten von Tiefen- <strong>und</strong><br />

Entfernungshinweisen heran, die uns sagen, ob wir an die Kaffeetasse<br />

auf dem Tisch heranreichen oder ob das Auto noch weit<br />

genug entfernt ist, um sicher vor ihm die Straße überqueren zu<br />

können. Von Anfang an sind Säuglinge für einige dieser Hinweise<br />

b<br />

empfänglich, <strong>und</strong> sie werden schon bald auch auf die restlichen<br />

Hinweisreize aufmerksam.<br />

Ein solcher Hinweisreiz, für den Säuglinge schon sehr früh<br />

empfänglich sind, ist die Objektausdehnung: Wenn sich uns ein<br />

Gegenstand nähert, gewinnt sein visuelles Abbild an Größe, was<br />

dazu führt, dass vom Hintergr<strong>und</strong> <strong>im</strong>mer mehr verdeckt wird.<br />

Wenn sich das Netzhautbild eines sich nähernden Objekts symmetrisch<br />

ausdehnt, wissen wir, dass sich das Objekt direkt auf uns<br />

zu bewegt, <strong>und</strong> eine vernünftige Reaktion besteht darin, sich zu<br />

ducken. Babys können sich nicht ducken, aber schon mit einem<br />

Monat blinzeln sie abwehrend, wenn ein Bild größer wird wie bei<br />

einem Objekt, das sich direkt auf sie zu bewegt. Der Zeitverlauf<br />

dieses Blinzelns ist ein entscheidender Faktor: Zu frühes oder zu<br />

spätes Blinzeln birgt das Risiko, dass ein näher kommendes Objekt<br />

auf ein geöffnetes Auge trifft. Allerdings ist es keineswegs offensichtlich,<br />

wie es die Babys bewerkstelligen, zum richtigen Zeitpunkt<br />

zu blinzeln. Dazu müssen sie die Information all dessen, was<br />

sich vor ihren Augen anbahnt, auswerten: unter anderem die Geschwindigkeit,<br />

mit der sich das Objekt visuell ausdehnt, <strong>und</strong> den<br />

zunehmenden Raum, den es <strong>im</strong> visuellen Feld einn<strong>im</strong>mt. Erstaunlicherweise<br />

können Babys bereits mit einem Monat zur Abwehr<br />

blinzeln, wenn ihnen ein expandierendes Objektbild präsentiert<br />

wird, das aussieht, als würde es sich auf den Betrachter zu bewegen<br />

(Ball <strong>und</strong> Tronick 1971; Náñez <strong>und</strong> Yonas 1994; Yonas 1981).<br />

Frühgeborene zeigen auch bei diesem Blinzeln zur Abwehr von<br />

herannahenden Objekten ein verzögertes Entwicklungsmuster,<br />

was vermuten lässt, dass Reifung <strong>und</strong> nicht zunehmende visuelle<br />

Erfahrung für diese Fähigkeit entscheidend ist (Kayed et al. 2008).<br />

Objektausdehnung – Ein Tiefenhinweis, bei dem ein Objekt den Hintergr<strong>und</strong><br />

<strong>im</strong>mer mehr verdeckt <strong>und</strong> damit anzeigt, dass es sich nähert.<br />

Ein weiterer Tiefenhinweis, der schon früh ausgebildet ist, beruht<br />

auf der einfachen Tatsache, dass wir über zwei Augen verfügen. Wegen<br />

des Abstands zwischen den Augen ist das Netzhautbild eines<br />

Objekts in beiden Augen niemals exakt gleich. Dementsprechend<br />

senden die Augen niemals genau gleiche Netzhautsignale an das<br />

Gehirn; dieses Phänomen nennt man binokulare Disparität. („Binokular“<br />

bedeutet „beidäugig“, „Disparität“ bedeutet „Verschiedenheit“.)<br />

Je näher der Gegenstand ist, den wir betrachten, desto<br />

größer ist der Unterschied zwischen den beiden Netzhautbildern;<br />

je weiter ein Objekt entfernt ist, desto weniger Disparität besteht.<br />

Be<strong>im</strong> beidäugigen oder Stereosehen (Stereopsis) überlagert der<br />

visuelle Cortex die mehr oder weniger disparaten Netzhautsignale<br />

von beiden Augen <strong>und</strong> verrechnet sie zu einer Tiefenwahrnehmung.<br />

Diese Form der Tiefenwahrnehmung tritt mit etwa vier Monaten<br />

recht plötzlich auf <strong>und</strong> ist <strong>im</strong> Allgemeinen binnen weniger<br />

Wochen voll entwickelt (Held et al. 1980), was wahrscheinlich auf<br />

die Reifung des visuellen Cortex zurückzuführen ist.<br />

Binokulare Disparität – Der Unterschied zwischen den Bildern eines Objekts<br />

auf den Netzhäuten beider Augen, durch den zwei leicht abweichende Signalmuster<br />

von den Netzhäuten an den visuellen Cortex gesendet werden. Die<br />

binokulare Disparität bildet eine Gr<strong>und</strong>lage des räumlichen Sehens.<br />

Stereosehen (Stereopsis) – Der Prozess, bei dem der visuelle Cortex die durch<br />

die binokulare Disparität leicht abweichenden Netzhautsignale von beiden<br />

Augen zu einer Tiefenwahrnehmung verarbeitet.


Wahrnehmung<br />

165 5<br />

..<br />

Abb. 5.7 Monokulare Tiefenindikatoren.<br />

Dieses sieben Monate<br />

alte Kind benutzt die relative Größe<br />

als monokularen Tiefenhinweis. Es<br />

trägt eine Augenklappe, sodass binokulare<br />

Tiefeninformationen nicht<br />

verfügbar sind, <strong>und</strong> greift nach der<br />

längeren Seite des trapezförmigen<br />

Fensters. Dieses Verhalten zeigt,<br />

dass das Baby diese Seite als die<br />

nähere, also leichter erreichbare<br />

Seite eines rechteckigen Fensters<br />

wahrn<strong>im</strong>mt. (© Albert Yonas, aus:<br />

Yonas et al. 1978)<br />

Mit etwa sechs oder sieben Monaten werden die Kinder für eine<br />

Vielzahl monokularer Tiefenhinweise empfänglich (die so genannt<br />

werden, weil sie räumliche Tiefe auch dann anzeigen, wenn<br />

ein Auge geschlossen ist) (Yonas et al. 2002). Diese Indikatoren<br />

werden auch als Bildindikatoren bezeichnet, weil sie dazu verwendet<br />

werden können, in Bildern räumliche Tiefe darzustellen.<br />

Monokulare Tiefenhinweise (Bildindikatoren) – Diejenigen Wahrnehmungshinweise<br />

auf räumliche Tiefe (wie etwa relative Größe <strong>und</strong> Verdeckung), die<br />

man mit nur einem Auge wahrnehmen kann.<br />

In einer der ersten – <strong>und</strong> bestdurchdachten – Untersuchungen<br />

zur monokularen Tiefenwahrnehmung von Säuglingen machten<br />

sich Yonas, Cleaves <strong>und</strong> Pettersen (1978) die Tatsache zunutze,<br />

dass Kleinkinder <strong>im</strong>mer nach dem näheren von zwei Objekten<br />

greifen werden. Die Forscher klebten fünf <strong>und</strong> sieben Monate<br />

alten Kindern ein Auge zu (um die binokulare Tiefeninformation<br />

auszuschalten) <strong>und</strong> zeigten ihnen ein trapezförmiges<br />

Fenster, dessen eine Seite beträchtlich länger war als die andere<br />

(. Abb. 5.7). (Aus der Sicht eines Erwachsenen, der ein Auge geschlossen<br />

hält, erscheint das Fenster als normales rechteckiges<br />

Fenster, das schräg zum Betrachter steht, sodass eine Seite näher<br />

erscheint als die andere). Die sieben Monate alten Kinder (aber<br />

nicht die jüngeren Babys) griffen nach der längeren Seite <strong>und</strong><br />

zeigten so, dass sie ebenso wie ein Erwachsener diese Seite als<br />

näher wahrgenommen hatten; sie lieferten damit einen Beleg dafür,<br />

dass sie die relative Größe als Hinweisreiz für räumliche Tiefe<br />

nutzten. ▶ Exkurs 5.2 beschreibt Forschungen über die Wahrnehmung<br />

von Bildern durch Säuglinge.<br />

Akustische Wahrnehmung<br />

Eine weitere reichhaltige Informationsquelle für Säuglinge ist die<br />

Welt der Klänge <strong>und</strong> Geräusche. Wie in ▶ Kap. 2 erwähnt, können<br />

Kinder bereits <strong>im</strong> Mutterleib gut genug hören, um gr<strong>und</strong>legende<br />

Merkmale ihrer Hörumgebung zu lernen (den Herzschlag<br />

der Mutter, Rhythmus <strong>und</strong> Melodik ihrer Sprache <strong>und</strong> so weiter).<br />

Bei der Geburt ist das auditive System <strong>im</strong> Vergleich zum visuellen<br />

System bereits relativ gut entwickelt. Die Struktur des Innenohres<br />

scheint ausgereift zu sein wie be<strong>im</strong> Erwachsenen, die Schallleitung<br />

<strong>im</strong> Außenohr aber noch ziemlich ineffizient (Keefe et al.<br />

1993). Im Laufe der frühen Kindheit entwickelt sich die Schalleitung<br />

vom Außen- <strong>und</strong> Mittelohr zum Innenohr enorm, <strong>und</strong> <strong>im</strong><br />

ersten Lebensjahr ist eine deutliche Reifung der Hörbahnen <strong>im</strong><br />

Gehirn festzustellen. Insgesamt führen diese Entwicklungen in<br />

Ohr <strong>und</strong> Gehirn zu einer enormen Verbesserung der Fähigkeit,<br />

auf Geräusche zu reagieren <strong>und</strong> durch sie zu lernen.<br />

Zu diesen Fortschritten tragen auch andere Faktoren bei. Ein<br />

Beispiel dafür ist die auditive Lokalisierung, die räumliche Ortung<br />

der Schallquelle. Neugeborene neigen dazu, wenn sie ein<br />

Geräusch hören, sich der Schallquelle zuzuwenden. Allerdings<br />

können Neugeborene die Schallquelle bei Weitem nicht so gut<br />

lokalisieren wie ältere Babys oder Kleinkinder. Bei der auditiven<br />

Lokalisierung stützt sich ein Hörer auf die Unterschiede in den<br />

bei jedem Ohr ankommenden Schallsignale: die Signale einer<br />

Schallquelle rechts vom Hörer werden sein rechtes Ohr eher erreichen<br />

als das linke Ohr, <strong>und</strong> sie werden zudem am rechten Ohr<br />

etwas lauter sein (genauer: einen höheren Schalldruck aufweisen)<br />

als am linken Ohr. Diese Unterschiede signalisieren dem<br />

Hörsystem den Ort der Geräuschquelle. Babys haben größere<br />

Schwierigkeiten als Kleinkinder, diese Information zu nutzen,<br />

vielleicht deshalb, weil ihr Kopfumfang kleiner ist <strong>und</strong> deshalb<br />

die Unterschiede, die an beiden Ohren bei der Stärke <strong>und</strong> <strong>im</strong><br />

Zeitverlauf des Schallsignals auftreten, geringer sind. Ein weiterer<br />

Gr<strong>und</strong> dafür, dass die Information von Säuglingen kaum genutzt<br />

werden kann, könnte darin liegen, dass sie noch nicht über mentale<br />

Karten des Hörraumes verfügen, d. h. noch keine Vorstellung<br />

davon haben, wie Schallquellen <strong>im</strong> Raum angeordnet sind – oben<br />

oder unten, rechts oder links. Um solche mentalen Karten zu<br />

entwickeln, bräuchte ein Baby mult<strong>im</strong>odale Erfahrungen, die es<br />

befähigen, die verschiedenen Informationen be<strong>im</strong> Hören, Sehen<br />

<strong>und</strong> Tasten zu integrieren. Die Entwicklung einer mentalen Karte<br />

des Hörraumes muss deshalb bis zu einem späteren Zeitpunkt<br />

warten, an dem die visuellen <strong>und</strong> motorischen Fähigkeiten <strong>im</strong><br />

Kleinkindalter hinreichend ausgebildet sind (Saffran et al. 2006).


166<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

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Exkurs 5.2: Näher betrachtet: Bildwahrnehmung | |<br />

Ein besonderer Fall der Wahrnehmungsentwicklung<br />

betrifft Bilder. Gemälde, Zeichnungen<br />

<strong>und</strong> Fotografien sind in modernen<br />

Gesellschaften allgegenwärtig, <strong>und</strong> eine<br />

<strong>im</strong>mense Menge an Information nehmen<br />

wir durch Bilder auf. Ab wann können Kinder<br />

diese wichtigen Bestandteile unserer Kultur<br />

wahrnehmen <strong>und</strong> verstehen?<br />

Schon Kleinkinder nehmen Bilder weitgehend<br />

in derselben Weise wahr wie wir. In einer<br />

klassischen Untersuchung ließen Hochberg<br />

<strong>und</strong> Brooks (1962) ihren eigenen Sohn in einer<br />

Umgebung ohne jegliche Bilder aufwachsen:<br />

keine Bilder an den Wänden ihrer Wohnung,<br />

keine Familienfotos, keine Bilderbücher, keine<br />

Muster auf Papier, Kleidung oder Spielsachen.<br />

Sie entfernten sogar die Banderolen von den<br />

Dosen. Und dennoch konnte das Kind, als es<br />

mit 18 Monaten getestet wurde, Menschen<br />

<strong>und</strong> Gegenstände auf Fotos <strong>und</strong> Zeichnungen<br />

problemlos identifizieren. Spätere Forschungen<br />

wiesen nach, dass schon fünf Monate alte<br />

Kinder Menschen <strong>und</strong> Gegenstände anhand<br />

von Fotografien <strong>und</strong> Zeichnungen erkennen<br />

können (z. B. <strong>DeLoache</strong> et al. 1979; Dirks<br />

<strong>und</strong> Gibson 1977), <strong>und</strong> selbst Neugeborene<br />

scheinen zweid<strong>im</strong>ensionale Versionen von<br />

dreid<strong>im</strong>ensionalen Objekten zu erkennen<br />

(Slater et al. 1984).<br />

Trotz ihrer früh entwickelten Wahrnehmung<br />

von Bildern verstehen Kleinkinder nicht, was<br />

Bilder eigentlich sind. Die vier abgebildeten<br />

Babys (s. Fotos) – zwei aus den USA <strong>und</strong> zwei<br />

aus einem Dorf in Westafrika – versuchen<br />

alle, nach den dargestellten Gegenständen<br />

zu greifen. Zwar können diese neun Monate<br />

alten Kinder den Unterschied zwischen<br />

Bildern <strong>und</strong> den tatsächlichen Gegenständen<br />

wahrnehmen, aber sie verstehen noch nicht,<br />

was Zweid<strong>im</strong>ensionalität bedeutet; darum<br />

versuchen sie, abgebildete Gegenstände so<br />

zu behandeln, als ob es die tatsächlichen Gegenstände<br />

wären – zwangsläufig ohne Erfolg.<br />

Mit 19 Monaten <strong>und</strong> nach beträchtlicher Erfahrung<br />

mit Bildern versuchen amerikanische<br />

Kinder nicht mehr, Bilder mit den Händen<br />

zu untersuchen; offenbar haben sie gelernt,<br />

Bilder zu betrachten, darüber zu sprechen,<br />

aber sie nicht zu befühlen, nach ihnen zu<br />

greifen oder sie zu essen (<strong>DeLoache</strong> et al.<br />

1998; Pierroutsakos <strong>und</strong> <strong>DeLoache</strong> 2003). Sie<br />

haben, kurz gesagt, die symbolische Natur<br />

von Bildern verstehen gelernt <strong>und</strong> wissen,<br />

dass ein abgebildeter Gegenstand einen<br />

realen Gegenstand nur repräsentiert (Preissler<br />

<strong>und</strong> Carey 2004).<br />

Während die meisten Kinder in der westlichen<br />

Welt überall Bilder vorfinden, haben Kinder<br />

anderer Kulturen bisweilen wenig Erfahrung<br />

mit Bildern. In faszinierenden kulturvergleichenden<br />

Untersuchungen hat man tatsächlich<br />

bei Kindern, die in einer familiären <strong>und</strong><br />

gesellschaftlichen Umgebung ohne Bilder<br />

von Objekten aufwuchsen, nicht den Entwicklungspfad<br />

beobachtet, der zum Verstehen der<br />

Bilder als Repräsentationen realer Objekte<br />

führt. In einer dieser Untersuchungen<br />

wurden Kinder <strong>im</strong> Kindergartenalter in ihrer<br />

Fertigkeit, Zeichnungen von Spielzeugen zu<br />

kopieren, verglichen, wobei die kanadischen<br />

Kinder besser abschnitten als Gleichaltrige<br />

aus ländlichen Regionen Indiens oder Perus<br />

(Callaghan et al. 2011). Und Kleinkinder aus<br />

ländlichen Bereichen Tansanias, die zuvor<br />

nicht mit Bildern konfrontiert waren, hatten<br />

be<strong>im</strong> Betrachten von Farbfotos größere<br />

Schwierigkeiten als amerikanische Kinder,<br />

wenn sie die abgebildeten Objekte pauschal<br />

benennen sollten (Walker et al. 2013). Wie<br />

diese Studien zeigen, braucht man Erfahrung<br />

mit Bildern, um den Zusammenhang<br />

zwischen den dreid<strong>im</strong>ensionalen Objekten<br />

<strong>und</strong> ihrer zweid<strong>im</strong>ensionalen Darstellung zu<br />

verstehen.<br />

..<br />

Diese neun Monate alten Kinder – zwei aus<br />

den USA <strong>und</strong> zwei aus Westafrika – reagieren<br />

auf die Bilder von Gegenständen, als ob es sich<br />

um echte Gegenstände handelt. Sie haben die<br />

eigentliche Beschaffenheit von Bildern noch<br />

nicht begriffen. (© Judy <strong>DeLoache</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Genehmigung)


Wahrnehmung<br />

167 5<br />

Auditive Lokalisierung – Wahrnehmung des Ortes einer Geräuschquelle.<br />

Säuglinge sind geschickt darin, <strong>im</strong> Strom der Laute <strong>und</strong> Geräusche,<br />

die sie hören, Regelmäßigkeiten wahrzunehmen. Beispielsweise<br />

gelingt es ihnen bemerkenswert gut, feinste Unterschiede<br />

in den Lauten der menschlichen Sprache zu entdecken – eine Fähigkeit,<br />

die wir <strong>im</strong> Zusammenhang mit der Sprachentwicklung<br />

detaillierter in ▶ Kap. 6 erörtern werden. Hier an dieser Stelle<br />

konzentrieren wir uns auf einen anderen Bereich der akustischen<br />

Umwelt, in der Kleinkinder ein überraschendes Ausmaß an Wahrnehmungssensibilität<br />

an den Tag legen: den Bereich der Musik.<br />

Die Wahrnehmung von Musik<br />

Säuglinge reagieren sensibel auf Musik; das sieht man schon<br />

daran, dass die Betreuungspersonen in aller Welt ihren Babys<br />

vorsingen (Trehub <strong>und</strong> Schellenberg 1995). In den Vereinigten<br />

Staaten zum Beispiel singen oder spielen 60 % der Eltern ihren<br />

Kindern täglich etwas vor (Custodero et al. 2003).<br />

Wenn Erwachsene ihren Kindern etwas vorsingen, tun sie<br />

das meist auf eine besondere Weise, ähnlich wie sie mit ihnen<br />

in der Ammensprache reden, die wir in ▶ Kap. 6 behandeln. Sie<br />

singen dabei langsamer <strong>und</strong> in einer höheren Tonlage, als wenn<br />

sie für Erwachsene singen, um bei den Kindern eine positive<br />

St<strong>im</strong>mung zu wecken. Vielleicht bevorzugen Kinder aufgr<strong>und</strong><br />

dieser Merkmale das an sie gerichtete Singen gegenüber dem an<br />

Erwachsenen gerichteten (Masataka 1999; Trainor 1996). Tatsächlich<br />

scheint dieses das Kind-adressierende Singen gegenüber<br />

der Ammensprache sogar präferiert zu werden. Jedenfalls lässt<br />

das eine Studie mit sechs Monate alten Kindern vermuten, bei<br />

der die Halbjährigen Videoaufnahmen ihrer singenden Mutter<br />

mehr Aufmerksamkeit zuwandten als den Aufnahmen, in denen<br />

die Mutter sprach (Nakata <strong>und</strong> Trehub 2004).<br />

Über das allgemeine Interesse an Musik hinaus können Kinder<br />

auch erinnern, was sie hören, <strong>und</strong> Musik, die sie vor einigen<br />

Wochen gehört haben, bei erneuter Darbietung wiedererkennen<br />

(Saffran et al. 2000; Trainor et al. 2004; Volkova et al. 2006). Diese<br />

Erinnerungen sind überraschend genau <strong>und</strong> betreffen verschiedene<br />

Aspekte wie Tonhöhe, Klangfarbe <strong>und</strong> Tempo bei der ursprünglichen<br />

Präsentation. So schenkten sieben Monate alte Kinder<br />

den Liedern, die sie zwei Wochen zuvor in einer best<strong>im</strong>mten<br />

Tonart gehört hatten, dann mehr Aufmerksamkeit, wenn sie die<br />

Lieder be<strong>im</strong> Retest in einer anderen Tonart zu hören bekamen<br />

(Volkova et al. 2006). Das zeigt nicht nur, dass die Kinder zwischen<br />

den Tonarten unterschieden, sondern auch, dass sie die<br />

Tonarten über zwei Wochen hinweg behalten hatten.<br />

In vieler Hinsicht gleicht die kindliche Wahrnehmung von<br />

Musik der von Erwachsenen. Ein gut untersuchtes Beispiel dafür<br />

ist die Präferenz für konsonante Intervalle (wie Oktave oder<br />

Quinte, etwa am Beginn des Weihnachtsliedes Macht hoch die<br />

Tür) gegenüber dissonanten Intervallen (wie die verminderte<br />

Quarte etwa zu Beginn des Refrains „Maria“ in der West Side<br />

Story). Viele Gelehrte – von Pythagoras über Galilei bis in die<br />

heutige Zeit – haben behauptet, konsonante Klänge seien dem<br />

menschlichen Ohr von Natur aus angenehm, während Dissonanzen<br />

als unangenehm empf<strong>und</strong>en würden (Schellenberg <strong>und</strong><br />

Trehub 1996; Trehub <strong>und</strong> Schellenberg 1995). Um zu untersuchen,<br />

ob das auch bei Kleinkindern so ist, verwenden die Forscher<br />

ein s<strong>im</strong>ples, aber zuverlässiges (reliables) Verfahren. Vorn<br />

am Lautsprecher bringt man etwas für das Baby Interessantes an,<br />

beispielsweise ein Blinklicht. Dann beginnt die Musik zu spielen,<br />

was die Babys dazu bringt, zur Geräuschquelle hinzuschauen. Wie<br />

lange sie bei der jeweils abgespielten Musik auf den Lautsprecher<br />

blicken beziehungsweise auf das daran angebrachte Blinklicht,<br />

wird als Maß für ihr Interesse oder ihre Präferenz für diese Musik<br />

interpretiert, die gerade aus dem Lautsprecher kommt.<br />

Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder einer konsonanten<br />

Version eines Musikstückes – egal ob Volkslied oder Menuett<br />

– mehr Aufmerksamkeit widmen als einer dissonant gespielten<br />

Version (Trainor <strong>und</strong> Heinmiller 1998; Zentner <strong>und</strong> Kagan 1996,<br />

1998). Eine Studie von Masataka (2006) zeigte, dass zwei Tage<br />

alte Neugeborene dieses Präferenzmuster tatsächlich bereits haben.<br />

Diese Studie ist deshalb bemerkenswert, weil sie mit hörfähigen<br />

Kindern von tauben Müttern durchgeführt wurde, die<br />

<strong>im</strong> Mutterleib wahrscheinlich kaum Gelegenheit hatten, Gesang<br />

oder Musik zu hören. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass die<br />

Präferenz für konsonante Musik gegenüber dissonanter nicht<br />

auf Erfahrung mit Musik zurückzuführen ist. Tatsächlich zeigen<br />

auch andere Spezies (darunter Jungvögel, Makaken <strong>und</strong> Sch<strong>im</strong>pansen)<br />

die gleiche Präferenz für konsonante Musik. Das stützt<br />

die Vermutung, dass Präferenzen für konsonante Musik gegenüber<br />

dissonanter nicht von den Erfahrungen mit Musik abhängt<br />

(z. B. Chiandetti <strong>und</strong> Vallortigara 2011; Sug<strong>im</strong>oto et al. 2010).<br />

Im Hinblick auf andere Musikwahrnehmungen unterscheiden<br />

sich Säuglinge deutlich von Erwachsenen. Einer der interessantesten<br />

Unterschiede zeigt sich be<strong>im</strong> Wahrnehmen von Melodien:<br />

Hier können Säuglinge be<strong>im</strong> Hören von Melodien besser unterscheiden<br />

als Erwachsene. In einer Untersuchungsreihe hörten<br />

acht Monate alte Kinder <strong>und</strong> Erwachsene zunächst jeweils eine<br />

kurze, sich wiederholende Melodie, die den westlichen Konventionen<br />

für Harmonie in der Musik entsprach. In einer Reihe von<br />

Testdurchgängen wurde dann dieselbe Melodie erneut dargeboten,<br />

wobei allerdings jeweils ein Ton verändert worden war. Dieser<br />

veränderte Ton passte bei einigen Durchgängen zur Tonart der<br />

Melodie, bei anderen Durchgängen dagegen nicht. Beide Gruppen<br />

bemerkten die Veränderungen, die den Rahmen der Tonart<br />

sprengten, aber nur die Kinder bemerkten die Veränderung der<br />

Melodien, bei denen die Tonart unverändert blieb (Trainor <strong>und</strong><br />

Trehub 1992). Heißt das, dass Säuglinge musikalisch feiner eingest<strong>im</strong>mt<br />

sind als Erwachsene? Vermutlich nicht. Was hier wie eine<br />

erhöhte musikalische Sensibilität anmutet, beruht vermutlich auf<br />

fehlendem <strong>im</strong>plizitem Wissen über westliche Musik. Es dauert<br />

gewöhnlich Jahre, um mit den kulturspezifischen Strukturmerkmalen<br />

von Musik vertraut zu werden, <strong>und</strong> für die kleinen Hörer<br />

waren einfach die einzelnen Tonänderungen ungeachtet der ihnen<br />

unvertrauten Tonarten auffällig genug (Trainor <strong>und</strong> Trehub<br />

1994). Für Erwachsene ist es nach Jahren der Gewöhnung be<strong>im</strong><br />

Musikhören schwierig, einzelne veränderte Töne zu bemerken,<br />

solange diese nicht aus der Tonart fallen.<br />

Säuglinge reagieren auf ähnliche Weise auch be<strong>im</strong> Rhythmus<br />

der Musik sensibler als Erwachsene. Das rhythmische Muster<br />

variiert in den verschiedenen Musiksystemen auf komplizierte<br />

Weise. Westliche Musik ist zum Beispiel rhythmisch relativ einfach<br />

<strong>im</strong> Vergleich zur Musikkultur in Afrika oder Indien. Hannon<br />

<strong>und</strong> Trehub (2005a, 2005b) testeten Erwachsene <strong>und</strong> sechs


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Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

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Monate alte Säuglinge auf ihre Fähigkeiten, Veränderungen in<br />

der metrischen Struktur bei einfachen <strong>und</strong> komplexen Rhythmen<br />

zu entdecken. Einige der teilnehmenden Erwachsenen lebten<br />

auf dem Balkan, wo die landestypische Musik traditionell<br />

kompliziertere Rhythmen aufweist, <strong>und</strong> andere in Nordamerika,<br />

wo die Popularmusik einfacheren rhythmischen Mustern folgt.<br />

Die sechs Monate alten nordamerikanischen Babys schnitten bei<br />

diesen Tests besser ab als die nordamerikanischen Erwachsenen.<br />

Anschließend wurde untersucht, ob die nordamerikanischen<br />

Kinder <strong>im</strong> Alter von zwölf Monaten <strong>und</strong> auch die nordamerikanischen<br />

Erwachsenen die komplexeren Rhythmen nach einem<br />

entsprechenden Training besser erkennen. Nach einem zweiwöchigen<br />

Training mit Balkanrhythmen konnten die zwölf Monate<br />

alten Kinder Veränderungen auch in komplexen Rhythmen entdecken,<br />

während die Erwachsenen das nicht schafften.<br />

Diese Beispiele aus dem Bereich der Musik zeigen, dass Erfahrung<br />

mit einem Prozess der Wahrnehmungsverengung einhergeht.<br />

Kinder, die musikalisch unerfahren sind, können Unterschiede<br />

in verschiedenen Musikdarbietungen entdecken, die<br />

Erwachsene überhören. Solche entwicklungsabhängigen Veränderungen,<br />

bei denen die Erfahrung das Wahrnehmungssystem<br />

feinjustiert, lassen sich in vielen Bereichen beobachten Tatsächlich<br />

ist dieser Prozess der Wahrnehmungsverengung auch bei<br />

der in ▶ Exkurs 5.1 diskutierten Wahrnehmung von Gesichtern<br />

festzustellen, <strong>und</strong> dasselbe Muster wird uns wieder begegnen,<br />

wenn wir in einem der nächsten Abschnitte die intermodale<br />

Wahrnehmung betrachten <strong>und</strong> in ▶ Kap. 6 die intermodalen<br />

Aspekte des Spracherwerbs diskutieren. Bei all diesen Beispielen<br />

aus allen Bereichen der Wahrnehmung führt Erfahrung be<strong>im</strong><br />

frühen Lernen zu einem „Verlust“ der Unterscheidungsfähigkeit,<br />

über die ein Kind in früheren Entwicklungsphasen einmal<br />

verfügt hat. Allerdings erlaubt diese Wahrnehmungsverengung<br />

dem Kind, seine Entwicklung den Mustern der biologischen<br />

<strong>und</strong> sozialen St<strong>im</strong>ulierung anzupassen, die in seiner Umwelt<br />

vorherrschen.<br />

Geschmack <strong>und</strong> Geruch<br />

In ▶ Kap. 2 haben wir erfahren, dass sich die Empfindlichkeit<br />

für Geschmack <strong>und</strong> Geruch schon vor der Geburt entwickelt<br />

<strong>und</strong> dass Neugeborene eine angeborene Vorliebe für Süßes besitzen.<br />

Auch Geruchsvorlieben bestehen bereits sehr früh <strong>im</strong><br />

Leben. Neugeborene bevorzugen den Geruch der natürlichen<br />

Nahrungsquelle für menschliche Säuglinge, der Muttermilch<br />

(Marlier <strong>und</strong> Schaal 2005). Der Geruchssinn spielt bei vielen Säugetierarten<br />

eine wichtige Rolle dabei, wie der Nachwuchs lernt,<br />

seine Mutter zu erkennen. Dasselbe gilt wahrscheinlich auch für<br />

den Menschen, wie in Untersuchungen nachgewiesen wurde,<br />

in denen Säuglinge zwischen dem Geruch ihrer eigenen Mutter<br />

<strong>und</strong> dem einer anderen Frau wählen konnten. Beide Frauen<br />

hatten eine an ihrer Brust platzierte Einlage getragen, die danach<br />

links <strong>und</strong> rechts vom Kopf des Säuglings ausgelegt wurde. Schon<br />

mit zwei Wochen drehten die Kinder den Kopf häufiger zu dem<br />

Stoffstück, das den für die Mutter typischen Geruch enthielt, <strong>und</strong><br />

blieben ihm auch länger zugewandt (MacFarlane 1975; Porter<br />

et al. 1992).<br />

Berührung<br />

Eine weitere wichtige Methode, wie Säuglinge etwas über ihre<br />

Umgebung lernen, ist die aktive Berührung – mit ihren Händen<br />

<strong>und</strong> Fingern <strong>und</strong> auch mit dem M<strong>und</strong> <strong>und</strong> der Zunge. Die orale<br />

Erk<strong>und</strong>ung dominiert in den ersten Monaten, wenn sie ihre eigenen<br />

Finger <strong>und</strong> Zehen in den M<strong>und</strong> stecken <strong>und</strong> daran lutschen<br />

<strong>und</strong> dies auch mit fast allen anderen Gegenständen tun, mit<br />

denen sie in Kontakt kommen. (Deshalb muss man kleine, verschluckbare<br />

Dinge von Kleinkindern unbedingt fernhalten.) Auf<br />

dem Weg dieser begeisterten oralen Erk<strong>und</strong>ungstour lernen Babys<br />

vermutlich ihren eigenen Körper kennen (oder zumindest die<br />

Teile davon, die sie zum M<strong>und</strong> führen können) <strong>und</strong> erfahren die<br />

Oberflächenbeschaffenheit, den Geschmack <strong>und</strong> andere Eigenschaften<br />

der Gegenstände, mit denen sie in Berührung kommen.<br />

..<br />

Anfangs gelangt jeder Gegenstand, den das Baby in die Hand nehmen<br />

kann, zum Zweck der oralen Erk<strong>und</strong>ung in den M<strong>und</strong>, ob er dort hingehört<br />

oder nicht. Später beginnen Säuglinge die Gegenstände visuell zu erk<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> zeigen so ein Interesse am Gegenstand selbst. (© Galina Barskaya/fotolia.<br />

com <strong>und</strong> © Köpenicker/fotolia.com)<br />

Ab etwa dem vierten Lebensmonat gewinnen die Säuglinge<br />

mehr Kontrolle über ihre Hand- <strong>und</strong> Armbewegungen, sodass<br />

die Erk<strong>und</strong>ung mit den Händen stärker wird <strong>und</strong> gegenüber der<br />

oralen Erforschung der Umwelt mit der Zeit Vorrang erhält. Mit


Wahrnehmung<br />

169 5<br />

großer Aktivität befühlen Säuglinge Objekte, fassen sie an, untersuchen<br />

sie, schlagen drauf; <strong>und</strong> ihre Handlungen werden mit<br />

der Zeit <strong>im</strong>mer spezifischer mit Blick auf die Eigenschaften des<br />

Objekts. Zum Beispiel befühlen sie Gegenstände, die eine Oberflächenstruktur<br />

besitzen, <strong>und</strong> schlagen auf feste Gegenstände.<br />

Die Erweiterung der manuellen Kontrolle erleichtert auch die<br />

visuelle Erk<strong>und</strong>ung, indem die Kinder interessante Gegenstände<br />

festhalten können, um sie genauer zu untersuchen; sie können<br />

die Gegenstände drehen <strong>und</strong> aus verschiedenen Blickwinkeln<br />

betrachten, <strong>und</strong> auch der Wechsel von der einen Hand in die<br />

andere ermöglicht eine genauere Sicht (Bushnell <strong>und</strong> Boudreau<br />

1991; Lockman <strong>und</strong> McHale 1989; Rochat 1989; Ruff 1986).<br />

Intermodale Wahrnehmung<br />

An den meisten Ereignissen, die Säuglinge oder Erwachsene<br />

erleben, ist die gleichzeitige St<strong>im</strong>ulierung durch mehrere Sinnesmodalitäten<br />

beteiligt. Als Baby Benjamin zuschaute, wie das<br />

Kristallglas auf den gekachelten Boden fiel, bewirkte das splitternde<br />

Glas sowohl eine visuelle als auch eine auditive Reizung.<br />

Durch das Phänomen der intermodalen Wahrnehmung, der<br />

Kombination von Informationen aus zwei oder mehr Sinnessystemen,<br />

nahmen Benjamins Eltern die auditiven <strong>und</strong> visuellen<br />

Reize als ein einheitliches, zusammenhängendes Ereignis<br />

wahr. Wahrscheinlich gilt das auch für den vier Monate alten<br />

Benjamin.<br />

Intermodale Wahrnehmung – Die Kombination von Informationen aus zwei<br />

oder mehreren Sinnessystemen.<br />

Nach Piaget (1998) sind die Informationen aus den verschiedenen<br />

Sinnesmodalitäten am Anfang getrennt, <strong>und</strong> erst nach ein<br />

paar Monaten sind Kinder in der Lage, Assoziationen zu bilden<br />

zwischen dem Aussehen von Dingen <strong>und</strong> der Art, wie sie sich<br />

anhören <strong>und</strong> anfühlen, wie sie schmecken <strong>und</strong> so weiter. Allerdings<br />

hat sich <strong>im</strong>mer wieder deutlich gezeigt, dass Kinder<br />

schon sehr früh nach der Geburt Informationen verschiedener<br />

Sinnessysteme integrieren. So ergab die Forschung, dass<br />

beispielsweise orale <strong>und</strong> visuelle Erfahrung schon sehr früh<br />

integriert wird.<br />

In Untersuchungen an Neugeborenen (Kaye <strong>und</strong> Bower<br />

1994) <strong>und</strong> einen Monat alten Babys (Meltzoff <strong>und</strong> Borton<br />

1979) saugten die Babys an Schnullern, die sie aber nicht sehen<br />

konnten. Danach zeigte man ihnen ein Bild des Schnullers,<br />

an dem sie gesaugt hatten, <strong>und</strong> ein Bild eines neuartigen<br />

Schnullers von anderer Form oder Oberflächenbeschaffenheit.<br />

Die Babys betrachteten das Bild des Schnullers, an dem sie<br />

gesaugt hatten, länger. Sie konnten somit einen Gegenstand,<br />

den sie nur durch orale Erk<strong>und</strong>ung erfahren hatten, visuell<br />

wiedererkennen.<br />

Wenn die Kinder Gegenstände auch mit den Händen erk<strong>und</strong>en<br />

können, integrieren sie ihre visuellen <strong>und</strong> taktilen Erfahrungen<br />

mit Leichtigkeit. In einer Untersuchung beispielsweise<br />

durften vier Monate alte Säuglinge ein Paar Ringe festhalten <strong>und</strong><br />

befühlen, aber nicht sehen; die beiden Ringe waren entweder<br />

durch einen starren Stab oder durch eine Schnur verb<strong>und</strong>en.<br />

Zeigte man den Babys beide Arten von Ringen, erkannten sie<br />

diejenigen, die sie zuvor mit ihren Händen befühlt hatten (Streri<br />

<strong>und</strong> Spelke 1988). Mit einer sehr raffinierten Technik haben Forscher<br />

herausgef<strong>und</strong>en, dass Säuglinge auch über mehrere Formen<br />

der auditiv-visuellen intermodalen Wahrnehmung verfügen. Bei<br />

dieser Technik werden gleichzeitig zwei Filme nebeneinander<br />

dargeboten, während eine Filmmusik abgespielt wird, die nur mit<br />

einem der beiden Filme synchronisiert ist. Wenn ein Kind stärker<br />

auf den Film reagiert, der mit dem Ton synchron ist, kann dies<br />

als Beleg dafür gelten, dass es die gemeinsame Struktur in der<br />

akustischen <strong>und</strong> visuellen Information entdeckt hat.<br />

In einer klassischen Untersuchung mit diesem Verfahren<br />

zeigte Spelke (1976) viermonatigen Säuglingen zwei Videos, eines<br />

mit einer Person, die Guck-guck spielt, <strong>und</strong> eines mit einer<br />

Hand, die einen Trommelstock gegen einen Klotz schlägt. Die<br />

Kinder reagierten mehr auf den Film, der zu den Geräuschen<br />

passte, die sie hörten. Wenn sie eine St<strong>im</strong>me hörten, die „guckguck“<br />

sagte, betrachteten sie eher die Person; wenn sie aber ein<br />

schlagendes Geräusch hörten, betrachteten sie länger die Hand.<br />

In Folgeuntersuchungen zeigten die Kinder auch feinere Unterscheidungen.<br />

Zum Beispiel reagierten vier Monate alte Kinder<br />

stärker auf einen Film, in dem ein Spielzeugtier „hüpfte“ <strong>und</strong> das<br />

Geräusch des Aufpralls auf der Unterlage mit den Bewegungen<br />

des Tieres übereinst<strong>im</strong>mte, als auf einen Film, in dem sich das<br />

Tier jeweils gerade in der Luft befand, wenn das Aufprallgeräusch<br />

erklang (Spelke 1979). In diesem Alter können Babys auch eher<br />

abstrakte Verbindungen zwischen Gesehenem <strong>und</strong> Gehörtem<br />

ziehen. So blicken drei bis vier Monate alte Säuglinge auf einen<br />

Bildschirm, wenn der dort zu sehende Reiz – etwa ein hüpfender<br />

Ball – kongruent zu einem anderen Reiz in einer anderen Modalität<br />

in einer D<strong>im</strong>ension variiert – etwa mit dem Auf- <strong>und</strong> Absteigen<br />

der Tonhöhe eines akustischen Signals (Walker et al. 2010).<br />

..<br />

Mit einem Aufbau wie diesem untersuchen Forscher die auditiv-visuelle<br />

intermodale Wahrnehmung. Auf den beiden Computerbildschirmen laufen<br />

unterschiedliche Filme, von denen nur einer mit einer Tonspur synchronisiert<br />

ist. Die Videokamera zeichnet auf, wohin die Kinder blicken


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Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

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Ähnliche Untersuchungen dokumentieren, dass Babys besonders<br />

empfänglich für die Beziehung zwischen menschlichen Gesichtern<br />

<strong>und</strong> St<strong>im</strong>men sind. Zwischen fünf <strong>und</strong> sieben Monaten<br />

bemerken Kinder den Zusammenhang von emotionalem Gesichtsausdruck<br />

<strong>und</strong> St<strong>im</strong>mlage (Soken <strong>und</strong> Pick 1992; Walker-<br />

Andrews 1997). Wenn die Kinder eine fröhliche St<strong>im</strong>me hören,<br />

blicken sie länger zu einem lächelnden Gesicht, <strong>und</strong> wenn sie<br />

eine ärgerliche St<strong>im</strong>me wahrnehmen, schauen sie länger auf das<br />

Ärger ausdrückende Gesicht. Kinder sind also darauf eingestellt,<br />

Gesichter <strong>und</strong> die dazu passende St<strong>im</strong>mlage zu verbinden. Zeigt<br />

man Kindern <strong>im</strong> Alter von vier Monaten nebeneinander Filme<br />

von einer sprechenden Person, während sie eine Filmmusik hören,<br />

die zu einem der Filme gehört, betrachten sie das Gesicht,<br />

dessen Lippenbewegungen mit den gehörten Äußerungen synchron<br />

sind, länger (Spelke <strong>und</strong> Cortelyou 1981; Walker-Andrews<br />

1997). Kinder diesen Alters entdecken sogar die Beziehung zwischen<br />

speziellen Sprachlauten wie „a“ <strong>und</strong> „i“ <strong>und</strong> den speziellen<br />

Lippenbewegungen, die mit ihnen einhergehen (Kuhl <strong>und</strong><br />

Meltzoff 1982, 1984).<br />

Allerdings tritt auch bei der intermodalen Wahrnehmung<br />

die bereits erwähnte Wahrnehmungsverengung ein. Säuglinge<br />

können Korrespondenzen zwischen Sprechlauten <strong>und</strong> Gesichtsbewegungen<br />

auch bei einer fremden Sprechlauten entdecken, die<br />

es in ihrer Muttersprache nicht gibt, während ältere Kleinkinder<br />

das nicht können (Pons et al. 2009). Ähnlich sind Säuglinge in<br />

der Lage, bei Affengesichtern die Bewegungen <strong>und</strong> die produzierten<br />

Laute richtig zuzuordnen, während ältere Kleinkinder<br />

das nicht schaffen (Lewkowicz <strong>und</strong> Ghazanfar 2006). Erfahrung<br />

führt also zu einer Feinjustierung bei den Arten intermodaler<br />

Korrespondenz, die Kinder entdecken.<br />

Die Kinder können aber noch mehr, als nur Beziehungen<br />

zwischen Informationen verschiedener Sinnesmodalitäten zu<br />

entdecken: Sie können die Information der einen Modalität<br />

nutzen, um mehrdeutige Information einer anderen Modalität<br />

zu klären. In einer raffinierten Untersuchungsreihe hörten sieben<br />

Monate alte Kinder einen Musikrhythmus, dessen Gr<strong>und</strong>schlag<br />

nicht eindeutig war <strong>und</strong> sowohl als Zweiertakt als auch<br />

als Dreiertakt gedeutet werden konnte (Phillips-Silver <strong>und</strong> Trainor<br />

2005). Während die Kinder den Rhythmus hörten, wurden<br />

sie passend zum Gr<strong>und</strong>schlag auf- <strong>und</strong> abbewegt, wobei eine<br />

Gruppe dabei <strong>im</strong> Dreiertakt, die andere <strong>im</strong> Zweiertakt bewegt<br />

wurde. Be<strong>im</strong> Nachtest bevorzugten die Kinder, als ihnen zwei<br />

eindeutige Rhythmusversionen vorgespielt wurden, diejenige, die<br />

dem Bewegungsmuster be<strong>im</strong> ursprünglichen Hören entsprach.<br />

Diese Bef<strong>und</strong>e zeigen, dass die Kinder Information des Gleichgewichtssystems<br />

mit auditiver Information integrieren konnten:<br />

Die Auf- <strong>und</strong> Abbewegung hatte Einfluss darauf, wie die Kinder<br />

das, was sie hörten, interpretierten.<br />

In Kürze | |<br />

Mit einer Vielzahl spezieller Verfahren <strong>und</strong> Techniken sind<br />

Entwicklungspsychologen zahlreiche Entdeckungen über die<br />

Wahrnehmungsentwicklung in der frühen Kindheit gelungen.<br />

Sie haben die rasante Entwicklung der gr<strong>und</strong>legenden<br />

visuellen Fähigkeiten von der Geburt über die nächsten<br />

Lebensmonate hinweg nachgewiesen <strong>und</strong> herausgef<strong>und</strong>en,<br />

dass die Sehschärfe der Kinder, ihre Muster des visuellen Absuchens<br />

<strong>und</strong> ihre Farbwahrnehmung mit etwa acht Monaten<br />

den Fähigkeiten von Erwachsenen gleichen. Manche Formen<br />

der Tiefenwahrnehmung sind bei Geburt schon vorhanden,<br />

während sich andere erst in den Folgemonaten entwickeln.<br />

Mit fünf bis sieben Monaten können Kinder aktiv die einzelnen<br />

Elemente visueller Darstellungen integrieren, sodass sie<br />

ein zusammenhängendes Muster wahrnehmen. Sie nutzen<br />

viele Informationsquellen für die Trennung von Objekten,<br />

einschließlich der Bewegung <strong>und</strong> ihres Wissens über ihre<br />

Umwelt. Besonders interessante Objekte der Wahrnehmung<br />

sind für Säuglinge Gesichter.<br />

Forschungen zur auditiven Wahrnehmung haben gezeigt,<br />

dass sich Babys schon von Geburt an Geräuschen, die sie<br />

hören, zuwenden. Sie sind recht empfänglich für Musik <strong>und</strong><br />

zeigen viele derselben Vorlieben wie Erwachsene, etwa die<br />

Präferenz für Konsonanz gegenüber Dissonanz. In manchen<br />

Fähigkeiten übertreffen Säuglinge bei der Wahrnehmung<br />

von Musik auch die Erwachsenen, bei denen die Musikverarbeitung<br />

durch langjähriges Musikhören bereits geformt<br />

ist. Geruch <strong>und</strong> Geschmack spielen eine wichtige Rolle bei<br />

der Interaktion der Kinder mit ihrer Umwelt. Die zentrale<br />

Fähigkeit, die Wahrnehmungen aus getrennten Modalitäten<br />

miteinander zu verknüpfen <strong>und</strong> einheitliche, zusammenhängende<br />

Ereignisse zu erleben, ist in einfacher Form bereits ab<br />

der Geburt gegeben, wobei sich komplexere Assoziationen<br />

jedoch erst mit der Zeit herausbilden.<br />

Die aktuelle Forschung unterstützt insofern nativistische Überzeugungen.<br />

Neugeborene zeigen bemerkenswerte Wahrnehmungsfähigkeiten,<br />

die sich nicht mit Erfahrung erklären lassen,<br />

auch nicht mit pränatalen Erfahrungen. Gleichzeitig entwickeln<br />

sich die meisten Wahrnehmungsfertigkeiten aber auch<br />

<strong>im</strong> Verlauf der Zeit unter dem Einfluss von Lernprozessen. Die<br />

Kinder nähern sich in Ihren Wahrnehmungsfähigkeiten durch<br />

Wahrnehmungsverengung allmählich an: Mit zunehmender<br />

Expertise (durch Lernen) verlieren sie die Fähigkeit, bei weniger<br />

vertrauten Anblicken oder Geräuschen Unterscheidungen<br />

zu treffen, <strong>und</strong> passen sich zunehmend an die Umwelt an, in<br />

die sie hineingeboren sind.<br />

Motorische Entwicklung<br />

Wir haben in ▶ Kap. 2 bereits erfahren, dass menschliche Bewegung<br />

schon vor der Geburt beginnt, wenn der Fetus schwerelos<br />

<strong>im</strong> Fruchtwasser schwebt. Nach der Geburt sind die Bewegungen<br />

des Neugeborenen ungelenk <strong>und</strong> ziemlich unkoordiniert, zum<br />

Teil wegen fehlender körperlicher <strong>und</strong> neurologischer Reife <strong>und</strong><br />

zum Teil, weil das Baby erstmals die volle Wirkung der Schwerkraft<br />

erfährt. Wie <strong>im</strong> folgenden Abschnitt deutlich wird, ist die<br />

Entwicklung von der unkoordinierten Bewegung des in der<br />

Schwerkraft gefangenen Neugeborenen zum laufenden Kleinkind,<br />

das motorisch kompetent <strong>und</strong> zuversichtlich seine Umwelt<br />

erk<strong>und</strong>et, erstaunlich kompliziert.


Motorische Entwicklung<br />

171 5<br />

..<br />

Reflexe bei Neugeborenen. a Greifreflex, b Suchreflex, c Saugreflex, d tonischer Halsreflex. (a © Christopher Briscoe/Photo Researchers, b © Elisabeth Crews/<br />

Image Works, c © Laurent Ravonison/Photo Researchers, d © Custom Medical Stock/Alamy)<br />

Reflexe<br />

Neugeborene beginnen mit einigen fest strukturierten Verhaltensweisen,<br />

bekannt als frühkindliche (oder pr<strong>im</strong>itive) Reflexe.<br />

Einige Reflexe, beispielsweise das Zurückziehen von einem<br />

schmerzhaften Reiz, besitzen eindeutig adaptiven Wert; von<br />

anderen kennt man keine adaptive Bedeutung. Be<strong>im</strong> Greifreflex<br />

schließen Neugeborene ihre Finger um alles, was ihre Handinnenfläche<br />

berührt. Eine Berührung der Wange in der Nähe des<br />

M<strong>und</strong>es löst den Suchreflex aus, bei dem das Baby seinen Kopf in<br />

die Richtung der Berührung dreht <strong>und</strong> den M<strong>und</strong> öffnet. Wenn<br />

die Wange also die Brust der Mutter berührt, dreht es sich zur<br />

Brust hin <strong>und</strong> öffnet dabei den M<strong>und</strong>. Der Kontakt des M<strong>und</strong>es<br />

mit der Brustwarze löst dann den Saugreflex aus, gefolgt vom<br />

Schluckreflex; beide erhöhen die Chancen des Babys, Nahrung<br />

zu erhalten <strong>und</strong> letztlich zu überleben. Diese Reflexe folgen nicht<br />

vollständig einem Automatismus – so tritt der Saugreflex besonders<br />

dann auf, wenn der Säugling hungrig ist.<br />

Reflexe – Angeborene, festgefügte Handlungsmuster, die als Reaktion auf eine<br />

best<strong>im</strong>mte St<strong>im</strong>ulation auftreten.<br />

Bei anderen Reflexen ist kein unmittelbar mit ihnen assoziierter<br />

Vorteil bekannt, beispielsweise be<strong>im</strong> tonischen Halsreflex; wenn<br />

der Kopf des <strong>Kindes</strong> sich zu einer Körperseite dreht oder gedreht<br />

wird, streckt sich der Arm auf dieser Seite (<strong>und</strong> die Muskelspannung<br />

erhöht sich); gleichzeitig beugen sich (bei reduziertem Muskeltonus)<br />

der Arm <strong>und</strong> das Knie der anderen Seite. Man n<strong>im</strong>mt<br />

an, dass der tonische Halsreflex ein Bemühen des Säuglings darstellt,<br />

seine Hand <strong>im</strong> Blick zu behalten (von Hofsten 2004).<br />

Die Reflexe, die bei der Geburt vorhanden sind, lassen Rückschlüsse<br />

auf das zentrale Nervensystem des Neugeborenen<br />

zu. Reflexe, die entweder ungewöhnlich schwach oder ungewöhnlich<br />

stark ausgeprägt sind, können ein Hinweis auf eine<br />

Gehirnschädigung sein. Die meisten dieser frühkindlichen Reflexe<br />

verschwinden in einer festen zeitlichen Reihenfolge, aber<br />

einige bleiben ein Leben lang erhalten – beispielsweise das Husten,<br />

Niesen, Blinzeln <strong>und</strong> das Zurückziehen bei Schmerz. Das<br />

Überdauern eines frühkindlichen Reflexes über den Zeitpunkt<br />

hinaus, an dem er erwartungsgemäß verschwinden sollte, ist ein<br />

Warnhinweis auf ein möglicherweise vorliegendes neurologisches<br />

Problem.<br />

Meilensteine der Motorik<br />

Kleinkinder machen schnelle Fortschritte darin, die gr<strong>und</strong>legenden<br />

Bewegungsmuster unserer Spezies zu erwerben (. Abb. 5.8).<br />

Wir werden sehen, dass das Erreichen eines jeden wichtigen<br />

„motorischen Meilensteins“ in der Kindheit, insbesondere das<br />

freie Laufen, einen wichtigen Fortschritt für die Erfahrungsmöglichkeiten<br />

der Umwelt darstellt.


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Abb. 5.8 Die wichtigsten Meilensteine der motorischen Entwicklung in der frühen Kindheit. Dargestellt sind das durchschnittliche Alter <strong>und</strong> der Altersbereich,<br />

in dem das Kind den jeweiligen Meilenstein erreicht. Man beachte, dass die Altersnormen auf Forschungen an ges<strong>und</strong>en, gut ernährten nordamerikanischen<br />

Kindern beruhen<br />

Nackt<br />

Wegwerfwindel<br />

Stoffwindel<br />

..<br />

Abb. 5.9 Einfluss der Windel auf den Gang eines <strong>Kindes</strong>. Die Fußspuren<br />

ergaben sich be<strong>im</strong> Test eines <strong>Kindes</strong>, das nackt oder in einer leichten Wegwerfwindel<br />

oder aber in einer dicken Stoffwindel über eine Matte ging. Be<strong>im</strong><br />

Gang ohne Windel kamen die Fußspuren (links) denen von Erwachsenen am<br />

nächsten. (Cole et al. 2012; Foto: © Karen Adolph; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Das durchschnittliche Alter, das in . Abb. 5.8 für die Entwicklung<br />

der jeweiligen wichtigen motorischen Fähigkeiten<br />

angegeben ist, beruht auf Forschungen an Kindern der westlichen,<br />

überwiegend nordamerikanischen Welt. Es gibt natürlich<br />

enorme individuelle Unterschiede, wann ein einzelnes Kind den<br />

jeweiligen Meilenstein erreicht. Interessant in diesem Zusammenhang<br />

ist auch die Tatsache, dass die motorische Entwicklung<br />

in verschiedenen Kulturen in unterschiedlichem Maße gefördert<br />

wird, was den Verlauf der Entwicklung beeinflussen kann. Tatsächlich<br />

versuchen manche Kulturen auch, frühe Fortbewegung<br />

aktiv zu verhindern. Im modernen städtischen China beispielsweise<br />

werden Säuglinge typischerweise auf Betten gelegt, umrahmt<br />

von dicken Kissen, damit sie nicht auf dem schmutzigen<br />

Fußboden krabbeln (Campos et al. 2000). Diese Einschränkung<br />

macht es den Kindern schwer, die Muskelstärke aufzubauen, die<br />

sie zur Unterstützung des Oberkörpers bräuchten, um krabbeln<br />

zu können. Bei den Aché, einem nomadischen Volk, das <strong>im</strong> Regenwald<br />

von Paraguay lebt, verbringen die Kinder aus Gründen<br />

der Sicherheit fast ihre gesamten ersten drei Lebensjahre eng am<br />

Körper der Mutter oder werden von ihr umhergetragen. Diese<br />

Säuglinge haben von Anfang an wenig Gelegenheit, ihre Fähigkeiten<br />

zur Fortbewegung einzuüben (Kaplan <strong>und</strong> Dove 1987).<br />

Im direkten Gegensatz dazu fördern die Kipsigi <strong>im</strong> ländlichen<br />

Kenia aktiv die motorische Entwicklung ihrer Kinder;<br />

zum Beispiel helfen sie ihren Babys be<strong>im</strong> Einüben des Sitzens,<br />

indem sie <strong>im</strong> Boden flache Gruben ausheben <strong>und</strong> die Kinder<br />

hineinsetzen, sodass ihr Rücken gestützt ist (Super 1976). Andere


Motorische Entwicklung<br />

173 5<br />

Exkurs 5.3: Näher betrachtet: „Der Fall des verschwindenden Reflexes“ | |<br />

Esther Thelen gehört zu den wichtigsten<br />

Vertreterinnen des dynamischen Systemansatzes,<br />

wie wir ihn in ▶ Kap. 4 besprochen haben.<br />

Frühe Forschungen von Thelen <strong>und</strong> ihren<br />

Koautoren liefern ein vorzügliches Beispiel<br />

für diesen Ansatz bei der Erforschung der<br />

motorischen Entwicklung <strong>und</strong> sind zugleich<br />

beispielhaft für die generelle Art, Hypothesen<br />

zu formulieren <strong>und</strong> zu prüfen. In einer Untersuchung<br />

hielten sie Kinder unter den Armen<br />

fest <strong>und</strong> tauchten sie bis zur Hüfte ins Wasser.<br />

Be<strong>im</strong> Lesen der folgenden Abschnitte werden<br />

Sie die Gr<strong>und</strong>idee dieses etwas sonderbar<br />

anmutenden, aber äußerst klugen <strong>und</strong> informativen<br />

Exper<strong>im</strong>ents schnell begreifen.<br />

Die genannte Untersuchung gehört zu einer<br />

Reihe von Forschungen, die Thelen (1995)<br />

als „den Fall des verschwindenden Reflexes“<br />

bezeichnete. Dabei geht es um den Schreitreflex,<br />

der sich auslösen lässt, indem man ein<br />

Neugeborenes so unter den Armen festhält,<br />

dass seine Füße eine Unterlage berühren; das<br />

Baby führt dann reflexhaft Schrittbewegungen<br />

aus, hebt zuerst das eine <strong>und</strong> dann das andere<br />

Bein, koordiniert wie be<strong>im</strong> Gehen. Der Reflex<br />

verschwindet normalerweise mit etwa zwei<br />

Monaten. Lange Zeit wurde angenommen,<br />

dass der Schreitreflex als Folge cortikaler<br />

Reifung aus dem motorischen Repertoire des<br />

<strong>Kindes</strong> verschwindet.<br />

Schreitreflex – Der angeborene Reflex des Säuglings,<br />

in koordiniertem Bewegungsmuster erst<br />

das eine <strong>und</strong> dann das andere Bein zu heben wie<br />

be<strong>im</strong> Gehen.<br />

Die Bef<strong>und</strong>e einer klassischen Untersuchung<br />

von Zelazo et al. (1972) st<strong>im</strong>mten mit dieser<br />

Annahme jedoch nicht überein. Bei diesen Forschungen<br />

erhielten zwei Monate alte Kinder<br />

zusätzliche Übungen, um ihren Schreitreflex<br />

zu trainieren, <strong>und</strong> in der Folge behielten die<br />

Kinder den Reflex viel länger bei, als es normalerweise<br />

der Fall wäre. Auch andere Forschungen<br />

wiesen das Fortdauern des Schreitmusters<br />

weit über das Alter von zwei Monaten hinaus<br />

nach. Zum einen ist das gleiche Muster der<br />

abwechselnden Beinbewegungen, welches<br />

das Schreiten kennzeichnet, auch be<strong>im</strong> rhythmischen<br />

Strampeln beteiligt, das Babys <strong>im</strong><br />

Liegen auf dem Rücken ausführen. Anders als<br />

der Schreitreflex besteht das Strampeln jedoch<br />

durch die frühe Kindheit hindurch fort (Thelen<br />

<strong>und</strong> Fisher 1982). Zum anderen machen sieben<br />

Monate alte Kinder, deren Schreitreflex schon<br />

verschw<strong>und</strong>en ist, rasche Gehbewegungen,<br />

wenn man ihnen auf einem sich bewegenden<br />

Laufband den notwendigen Halt gibt<br />

(Thelen 1986). Wenn sich das Verschwinden<br />

des Schreitreflexes hinauszögern lässt <strong>und</strong> er<br />

lange, nachdem er eigentlich verschw<strong>und</strong>en<br />

sein sollte, noch ausgelöst werden kann, dann<br />

kann die cortikale Reifung sein Verschwinden<br />

nicht erklären. Warum also bildet sich der<br />

Schreitreflex normalerweise völlig zurück?<br />

Ein Hinweis ergab sich aus der Beobachtung,<br />

dass pummeligere Babys <strong>im</strong> Allgemeinen<br />

etwas später mit dem Laufen <strong>und</strong> Krabbeln<br />

beginnen als schlankere Babys. Thelen schloss<br />

daraus, dass die rasche Gewichtszunahme<br />

der Kinder in den ersten Lebenswochen dazu<br />

führen könnte, dass ihre Beine schneller<br />

schwerer als kräftiger werden. Zum Schreiten<br />

in aufgerichteter Position wird mehr Kraft<br />

benötigt als zum Strampeln <strong>im</strong> Liegen, <strong>und</strong><br />

zum Heben eines dicken Beines braucht man<br />

mehr Kraft als zum Heben eines dünnen<br />

Beines. Thelen nahm also an, dass die Lösung<br />

des Rätsels mehr mit den Muskeln als mit dem<br />

Gehirn zu tun hat.<br />

Um diese Hypothese zu prüfen, wurden zwei<br />

elegante Exper<strong>im</strong>ente durchgeführt (Thelen<br />

et al. 1984). In einem Exper<strong>im</strong>ent brachten die<br />

Forscherinnen an den Knöcheln von Säuglingen,<br />

deren Schreitreflex noch vorhanden<br />

war, Gewichte an, die etwa der Menge an Fett<br />

entsprachen, die ein Kind normalerweise in<br />

den ersten Lebensmonaten zusetzt. Plötzlich<br />

hörten diese Babys auf zu schreiten. In der<br />

zweiten Untersuchung wurden Säuglinge,<br />

die bereits keinen Schreitreflex mehr zeigten,<br />

bis zur Hüfte in ein Wasserbecken getaucht.<br />

Erwartungsgemäß begannen die Babys wieder<br />

zu schreiten, wenn der Auftrieb ihr Gewicht <strong>im</strong><br />

Wasser reduzierte. So kam durch die wissenschaftliche<br />

Detektivarbeit dieser Forscherinnen<br />

zutage, dass das normale Verschwinden<br />

des Schreitreflexes nicht, wie bislang angenommen,<br />

durch cortikale Reifung verursacht<br />

wird; vielmehr bleibt das Bewegungsmuster<br />

(<strong>und</strong> seine neuronale Gr<strong>und</strong>lage) erhalten,<br />

wird jedoch durch das veränderte Verhältnis<br />

von Gewicht <strong>und</strong> Kraft der Beine überdeckt.<br />

Nur indem man mehrere Variable gleichzeitig<br />

beachtete, ließ sich das Rätsel des verschwindenden<br />

Reflexes lösen.<br />

Volksgruppen in Westafrika oder auf den Westindischen Inseln<br />

führen ein offensives Programm aus Massage, Manipulation <strong>und</strong><br />

St<strong>im</strong>ulation durch, um die motorische Entwicklung ihrer Kinder<br />

zu fördern (Gottlieb 2004; Hopkins <strong>und</strong> Westra 1988).<br />

Diese sehr unterschiedlichen Kulturpraktiken können die Entwicklung<br />

der Kinder beeinflussen. Forscher haben bei den chinesischen<br />

Kindern <strong>und</strong> den Kindern der Aché eine etwas verlangsamte<br />

motorische Entwicklung nachgewiesen, verglichen mit den Normen<br />

aus . Abb. 5.8; die Babys der Kipsigi <strong>und</strong> solcher Gruppen, in<br />

denen konzentrierte Übungsmaßnahmen durchgeführt werden,<br />

sind in der Entwicklung ihrer motorischen Fähigkeiten demgegenüber<br />

weiter fortgeschritten als nordamerikanische Gleichaltrige.<br />

Selbst alltägliche Dinge, die wir in unserer Kultur für selbstverständlich<br />

halten, wirken sich auf die motorische Entwicklung der<br />

Kinder aus. So wurde untersucht, ob Windeln – eine relativ neue<br />

kulturelle Errungenschaft – einen Einfluss auf die motorische Entwicklung<br />

haben (Cole et al. 2012; . Abb. 5.9). Die Forscher stellten<br />

fest, dass einige Kinder einen reiferen Gang zeigten, wenn sie be<strong>im</strong><br />

Test nackt gingen, als wenn sie mit Windeln getestet wurden –<br />

wobei all diese Kinder in New York City lebten <strong>und</strong> an Windeln<br />

gewöhnt waren <strong>und</strong> selten nackt herumliefen. Das ist ein schönes<br />

Beispiel dafür, wie kulturelle Praktiken in einem Bereich (saubere<br />

Entsorgung der Exkremente) unvorhergesehene Folgen in einem<br />

anderen Bereich (motorische Entwicklung) zeitigen kann.<br />

Aktuelle Perspektiven<br />

Beeindruckt von dem geregelten Ablauf des Fähigkeitenerwerbs,<br />

wie er in . Abb. 5.8 dargestellt ist, schlossen zwei Pioniere der Untersuchung<br />

motorischer Entwicklung, Arnold Gesell <strong>und</strong> Myrtle<br />

McGraw, dass die neuronale Reifung des Cortex die motorische<br />

Entwicklung der Kinder best<strong>im</strong>mt (Gesell <strong>und</strong> Thompson 1938;<br />

McGraw 1943). Heutige Theoretiker folgen häufig dem dynamischen<br />

Systemansatz (▶ Kap. 4) <strong>und</strong> heben darauf ab, dass die<br />

frühe motorische Entwicklung aus dem Zusammenspiel zahlreicher<br />

Faktoren resultiert, welche die Entwicklung neuronaler Mechanismen,<br />

den Zuwachs an Körperkraft, an Kontrolle über die<br />

Körperhaltung, an Balance <strong>und</strong> Wahrnehmungsfähigkeit sowie<br />

die Veränderungen der Körperproportionen <strong>und</strong> der Motivation<br />

beinhalten (Bertenthal <strong>und</strong> Clifton 1998; Lockman <strong>und</strong> Thelen<br />

1993; von Hofsten 2004). ▶ Exkurs 5.3 bietet die detaillierte Darstellung<br />

eines Forschungsprogramms, das als Beispiel für diesen<br />

Ansatz gelten kann.<br />

Denken wir einen Augenblick darüber nach, wie jeder einzelne<br />

der genannten Faktoren mitwirkt an dem allmählichen<br />

Übergang vom Neugeborenen, das noch nicht einmal seinen<br />

Kopf heben kann, zum Kleinkind, das aus eigener Kraft gehen<br />

kann, indem es seinen Oberkörper aufrecht hält <strong>und</strong> dabei die<br />

Bewegungen der Beine koordiniert, die stark genug geworden


174<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

..<br />

Abb. 5.10 Dieser rechtshändige<br />

Junge von 14 Monaten – ein<br />

Teilnehmer an den Forschungen<br />

von Rachel Keen <strong>und</strong> ihren Mitautoren<br />

– tut sich schwer damit,<br />

das angebotene Apfelmus in den<br />

M<strong>und</strong> zu bekommen. Man legte<br />

ihm einen Löffel mit dem Griff nach<br />

links vor (a), aber er ergriff ihn mit<br />

der dominanten rechten Hand (b),<br />

was es sehr schwierig macht, den<br />

Löffel auf dem Weg zum M<strong>und</strong><br />

richtig herum zu halten. Er kleckert.<br />

(© Rachel Keen; mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Genehmigung)<br />

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sind, um das Körpergewicht zu tragen. Jeder Fortschritt in diesem<br />

Übergang wird zusätzlich dadurch angetrieben, dass das<br />

Kind <strong>im</strong>mer mehr von seiner Umwelt wahrnehmen kann <strong>und</strong><br />

motiviert ist, mehr über sie zu erfahren. Besonders klar wird<br />

die dynamisierende Rolle der Motivation an den beharrlichen<br />

Anstrengungen des <strong>Kindes</strong> zu laufen, wenn es krabbelnd besser<br />

vorwärts käme. Alle Eltern <strong>und</strong> viele Forscher teilen den Eindruck,<br />

dass Säuglinge Vergnügen daran haben, die Grenzen ihrer<br />

motorischen Fertigkeiten zu erweitern.<br />

Die Welt des Säuglings erweitert sich<br />

Das Meistern jedes in . Abb. 5.8 gezeigten Meilensteines erweitert<br />

die Welt des <strong>Kindes</strong> stark: Im Sitzen gibt es mehr zu sehen als<br />

<strong>im</strong> Liegen, es lässt sich mehr erk<strong>und</strong>en, wenn man selbst nach<br />

Dingen greifen kann, <strong>und</strong> wenn man sich aus eigener Kraft fortbewegen<br />

kann, gibt es noch mehr zu entdecken. In diesem Abschnitt<br />

betrachten wir, wie sich die motorische Entwicklung auf<br />

die Erfahrung der Kinder auswirkt.<br />

Greifen<br />

Die Entwicklung des Greifens löst <strong>im</strong> Leben des <strong>Kindes</strong> eine<br />

kleine Revolution aus: „Wenn Kinder erst einmal nach Gegenständen<br />

langen <strong>und</strong> sie greifen können, müssen sie nicht mehr<br />

darauf warten, dass die Welt zu ihnen kommt“ (Bertenthal <strong>und</strong><br />

Clifton 1998). Das Greifen braucht jedoch seine Zeit, um sich zu<br />

entwickeln. Das liegt daran (wie in ▶ Kap. 4 besprochen), dass an<br />

diesem scheinbar einfachen Verhalten eine komplizierte Wechselwirkung<br />

vieler voneinander unabhängiger Komponenten beteiligt<br />

ist, zum Beispiel die Muskelentwicklung, die Kontrolle der<br />

Körperhaltung <strong>und</strong> die Entwicklung verschiedener Wahrnehmungs-<br />

<strong>und</strong> Bewegungsfertigkeiten (Spencer et al. 2000; Thelen<br />

et al. 1993).<br />

Anfangs sind Säuglinge auf Vorformen des Greifens beschränkt.<br />

Dabei schlagen sie mit den Armen tollpatschig in die<br />

ungefähre Richtung von Objekten, die sie sehen (von Hofsten<br />

1982). Mit etwa drei bis vier Monaten fangen die Kinder an, mit<br />

Erfolg nach Gegenständen zu greifen, auch wenn ihre Bewegungen<br />

anfangs noch etwas ungelenk <strong>und</strong> schlecht kontrolliert<br />

erscheinen.<br />

Vorformen des Greifens – Die tollpatschigen schlagenden Bewegungen von<br />

Säuglingen in die ungefähre Richtung von Objekten, die sie sehen.<br />

Wie schon erwähnt, bereiten die Fortschritte bei der motorischen<br />

Entwicklung den Kindern auch den Weg für neue Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten zum Lernen. Ein besonders überzeugendes<br />

Beispiel sind die Ergebnisse der Studie zum Greifen mithilfe<br />

von Klettband an speziellen Fäustlingen <strong>und</strong> Spielzeugen, die<br />

wir in ▶ Kap. 4 beschrieben haben (Needham et al. 2002). Die<br />

manuelle Exploration mithilfe der Klettbandfäustlinge steigerte<br />

das Interesse der Kinder an den Objekten <strong>und</strong> beschleunigte<br />

die Entwicklung der Fähigkeit, Gegenstände gezielt zu greifen.<br />

Und eine ähnliche Studie wies nach, dass die Intervention mit<br />

Klettbandfäustlingen auch über die Interaktion mit den Objekten<br />

hinausgeht (Libertus <strong>und</strong> Needham 2011). Die verbesserte<br />

Fähigkeit, mit Objekten zu interagieren, bietet den Kindern zusätzliche<br />

Möglichkeiten, mehr über ihre soziale Umwelt zu lernen<br />

– darüber, wie andere Menschen mit Objekten umgehen.<br />

Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten, mit den Betreuern<br />

durch gemeinsames Spielen mit Objekten in Interaktionen zu<br />

treten. Zusammengenommen tragen diese Faktoren zu einem<br />

wachsenden Interesse des <strong>Kindes</strong> an seinen sozialen Partnern bei.<br />

Mit etwa sieben Monaten, wenn die Kinder die Fähigkeit entwickelt<br />

haben, allein zu sitzen, wird ihr Greifvermögen ziemlich<br />

stabil, <strong>und</strong> die Bahn ihrer Greifbewegungen ist gleichbleibend geschmeidig<br />

<strong>und</strong> führt direkt zum Zielobjekt (Spencer et al. 2000;<br />

Thelen et al. 1993; von Hofsten 1979, 1991). Der Einflussbereich der<br />

Kinder erweitert sich durch die Errungenschaften des stabilen Sitzens<br />

<strong>und</strong> Greifens, weil sie sich jetzt nach vorn beugen können, um<br />

Gegenstände zu erreichen, die zuvor außerhalb ihrer Griffweite waren<br />

(Bertenthal <strong>und</strong> Clifton 1998; Rochat <strong>und</strong> Goubet 1995). Diese<br />

wachsenden Explorationsmöglichkeiten haben Auswirkungen auf


Motorische Entwicklung<br />

175 5<br />

Exkurs 5.4: Anwendungen: Eine aktuelle Veränderung bei der motorischen Entwicklung | |<br />

Ende der 1990er Jahre bemerkten Kinderärzte<br />

einen überraschenden Anstieg der Anzahl<br />

von Konsultationen, in denen Eltern sich<br />

beunruhigt zeigten, weil ihre Kinder entweder<br />

erst spät zu krabbeln anfingen oder überhaupt<br />

nicht krabbelten. Viele Babys waren vom Sitzen<br />

schlicht zum Laufen übergegangen.<br />

Die Ursache für diese völlig unbiologisch<br />

motivierte Veränderung bei der motorischen<br />

Entwicklung scheint auf die in ▶ Exkurs 2.4<br />

dargestellte Aufklärungskampagne zurückführbar<br />

zu sein, die Eltern eindringlich dazu<br />

anhält, ihre Babys auf dem Rücken schlafen zu<br />

lassen (Davis et al. 1998). Wie in ▶ Kap. 2 diskutiert,<br />

änderte diese öffentliche Ges<strong>und</strong>heitsmaßnahme<br />

das Verhalten von Eltern äußerst<br />

erfolgreich, was zu einem bemerkenswerten<br />

Rückgang der Auftretenshäufigkeit des<br />

plötzlichen Kindstodes führte. Anscheinend<br />

senkt das Auf-dem-Rücken-Liegen jedoch<br />

die Wahrscheinlichkeit, dass sich Kinder zum<br />

erwartbaren Zeitpunkt von selbst umdrehen<br />

können. Eine Quelle für diesen Effekt könnte<br />

motivationaler Natur sein: Die bessere Übersicht<br />

über die Umgebung, die man auf dem<br />

Rücken liegend hat, könnte die Motivation,<br />

sich auf den Bauch zu drehen, verringern; in<br />

dieser Lage wäre der Ausblick recht eingeschränkt.<br />

Wenn die Kinder jedoch weniger<br />

Zeit auf dem Bauch verbringen, haben sie<br />

weniger Gelegenheit herauszufinden, dass<br />

sie sich durch eigenes Rutschen <strong>und</strong> Winden<br />

selbst vorwärtsbewegen können. Bei weniger<br />

Übung, auf dem Bauch liegend den Oberkörper<br />

aufzurichten, könnte sich die Kraft in den<br />

Armen etwas langsamer entwickeln.<br />

Wie auch <strong>im</strong>mer: Die Forschungslage ist<br />

beruhigend. Beobachtet man die Kinder mit<br />

18 Monaten, findet sich kein Unterschied in<br />

der Entwicklung, gleichgültig ob sie beizeiten<br />

zu krabbeln begonnen haben oder nicht.<br />

die visuelle Wahrnehmung. Betrachten wir dazu die Schwierigkeit,<br />

dreid<strong>im</strong>ensionale Objekte als Ganzes visuell zu erfassen. Wenn wir<br />

die Vorderseite eines dreid<strong>im</strong>ensionalen Objekts sehen, ist naturgemäß<br />

die Rückseite verdeckt. Ungeachtet dessen ergänzen Erwachsene<br />

die nicht sichtbaren Teile <strong>und</strong> erkennen das Objekt auch ohne<br />

Röntgenbild als dreid<strong>im</strong>ensionales Volumen. Es stellt sich heraus,<br />

dass zunehmende Erfahrung mit der Manipulation von Objekten<br />

auch den Prozess der Objektvervollständigung be<strong>im</strong> Sehen verbessert.<br />

Kinder, die besser sitzen können <strong>und</strong> bessere manuelle<br />

Fertigkeiten haben, nehmen dreid<strong>im</strong>ensionale Objekte aus einem<br />

beschränkten Blickwinkel mit besserer Objektvervollständigung<br />

wahr als Kinder, die weniger gut sitzen <strong>und</strong> weniger manuelle Fertigkeiten<br />

haben (Soska et al. 2010).<br />

Solche Beobachtungen lassen eine starke Interaktion zwischen<br />

visueller <strong>und</strong> motorischer Entwicklung vermuten. Gleichzeitig<br />

können Kinder auch unabhängig vom Sehen einige motorische<br />

Aufgaben gut lösen, indem sie auditive <strong>und</strong> vestibuläre<br />

Hinweise ihrer Hör- <strong>und</strong> Gleichgewichtswahrnehmung heranziehen.<br />

Beispielsweise ist für akkurates Greifen das Sehen nicht<br />

<strong>im</strong>mer erforderlich: Kinder zwischen vier <strong>und</strong> acht Monaten<br />

greifen auch in einem völlig dunklen Raum nach einem nicht<br />

sichtbaren Gegenstand, der Geräusche produziert (Clifton et al.<br />

1991). Auch langen sie be<strong>im</strong> Greifen nach Gegenständen, die sie<br />

sehen können, selten nach solchen, die zu weit entfernt sind, was<br />

darauf schließen lässt, dass sie eine Vorstellung davon haben, wie<br />

lang ihre Arme sind (Bertenthal <strong>und</strong> Clifton 1998).<br />

Mit zunehmendem Alter <strong>und</strong> wachsender Übung zeigt das<br />

Greifen der Kinder zunehmend klare Anzeichen der Antizipation;<br />

langen sie beispielsweise nach einem großen Gegenstand, so<br />

spreizen sie die Finger weit auseinander <strong>und</strong> passen die Greifhand<br />

der Ausrichtung des begehrten Objekts an (Lockman et al. 1984;<br />

Newell et al. 1989). Und wie ein Feldspieler, der einen fliegenden<br />

Ball fängt, können sie auch ein sich bewegendes Objekt berühren,<br />

indem sie dessen Bewegungsbahn vorausberechnen <strong>und</strong> ihr<br />

Greifen auf eine Stelle kurz vor dem Objekt richten (Robin et al.<br />

1996; von Hofsten et al. 1998). Und die Art, wie sich zehn Monate<br />

alte Kinder einem Gegenstand nähern, wird davon beeinflusst,<br />

was sie zu tun beabsichtigen, wenn sie ihn in Händen halten – ein<br />

sehr eindrucksvoller Bef<strong>und</strong>. Ebenso wie Erwachsene greifen sie<br />

schneller nach einem Gegenstand, den sie zu werfen planen, als<br />

nach einem, den sie eingehender untersuchen wollen (Claxton<br />

et al. 2003). . Abbildung 5.10 veranschaulicht, dass die Antizipationsfähigkeiten<br />

eines Kleinkindes noch begrenzt sind.<br />

Eigene Fortbewegung<br />

Mit etwa acht Monaten sind die Kinder zum ersten Mal in ihrem<br />

Leben in der Lage, sich selbst auf eigene Faust in der Umgebung<br />

zu bewegen. Nun, da sie nicht mehr dadurch eingeschränkt sind,<br />

genau dort bleiben zu müssen, wo sie jemand hinbringt, dürfte<br />

ihnen ihre Welt erheblich größer erscheinen.<br />

Die ersten Erfolge von Kleinkindern, sich aus eigener Kraft<br />

fortzubewegen, spielen sich normalerweise in Form von Krabbeln<br />

ab. (▶ Exkurs 5.4 beschreibt ein interessantes aktuelles Beispiel<br />

für die Variabilität des Alters, in dem das Krabbeln beginnt.)<br />

Viele (wahrscheinlich die meisten) Kinder fangen damit an, auf<br />

dem Bauch zu rutschen, oder greifen auf irgendein anderes idiosynkratisches<br />

Muster zurück, um vorwärts zu kommen (Adolph<br />

et al. 1998). Die meisten Bauchkrabbler wechseln dann zum<br />

Krabbeln auf Händen <strong>und</strong> Knien über, was weniger anstrengend<br />

ist <strong>und</strong> schneller geht. Es gibt Krabbelstile mit bunt schillernden<br />

Namen oder Beschreibungen wie Robben, Rollen, Po-Rutschen,<br />

Krabbeln auf vier Beinen, <strong>im</strong> Spinnen- oder Krebsgang (Adolph<br />

<strong>und</strong> Robinson 2013).<br />

..<br />

Die ersten Schritte sind ein großer Moment <strong>im</strong> Leben eines <strong>Kindes</strong> <strong>und</strong><br />

seiner Eltern. (Foto: Bernadette Berg)


176<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

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Exkurs 5.5: Näher betrachtet: Abgr<strong>und</strong> oder Hindernis – ich komme | |<br />

Die wechselseitige Abhängigkeit verschiedener<br />

Entwicklungsbereiche lässt sich sehr schön<br />

anhand einer reichhaltigen <strong>und</strong> faszinierenden<br />

Serie von Exper<strong>im</strong>enten illustrieren, die über<br />

fünf Jahrzehnte hinweg durchgeführt wurde.<br />

Diese Arbeiten begannen mit einer markanten<br />

Untersuchung von Eleanor Gibson <strong>und</strong> Richard<br />

Walk (1960), in der sie der Frage nachgingen,<br />

ob Kleinkinder räumliche Tiefe wahrnehmen<br />

können, <strong>und</strong> gipfelten in Forschungen,<br />

die Tiefenwahrnehmung, Fortbewegung,<br />

kognitive Fähigkeiten, Emotion <strong>und</strong> den<br />

sozialen Kontext der Entwicklung miteinander<br />

verknüpften.<br />

Um die Frage nach der Tiefenwahrnehmung zu<br />

beantworten, verwendeten Gibson <strong>und</strong> Walk<br />

eine Vorrichtung, die „visuelle Klippe“ genannt<br />

wird. Wie das Foto zeigt, besteht die visuelle<br />

Klippe aus einer dicken Schicht Plexiglas, die<br />

das Gewicht eines Kleinkindes aushält. Ein<br />

Steg in der Mitte teilt die Vorrichtung in zwei<br />

Seiten. Ein kariertes Muster, das sich auf der<br />

einen Hälfte knapp unter dem Glas befindet,<br />

lässt es wie eine feste, sichere Fläche aussehen.<br />

Auf der anderen Seite befindet sich das<br />

Muster weit unterhalb der Glasplatte, <strong>und</strong> der<br />

Kontrast in der Größe, in der die Karos erscheinen,<br />

führt zu dem Eindruck, dass zwischen den<br />

beiden Seiten ein gefährliches Gefälle – eine<br />

Klippe – besteht.<br />

Gibson <strong>und</strong> Walk berichteten, dass Kinder <strong>im</strong><br />

Alter von sechs bis 14 Monaten problemlos<br />

den flachen Teil der visuellen Klippe überquerten.<br />

Sie überquerten aber nicht den tiefen Teil,<br />

selbst wenn ein Elternteil sie hinüberzulocken<br />

versuchte. Offenbar waren die Kinder nicht<br />

gewillt, sich auf ein Gelände zu wagen, das wie<br />

ein Abgr<strong>und</strong> aussah – ein starker Beleg dafür,<br />

dass sie den Tiefenindikator der relativen<br />

Größe wahrnehmen <strong>und</strong> seine Bedeutung<br />

verstehen konnten.<br />

Karen Adolph, die bei Gibson studiert hatte,<br />

führte umfangreiche Forschungsarbeiten über<br />

die Beziehungen zwischen Wahrnehmung<br />

<strong>und</strong> Handlung in der frühen Kindheit durch.<br />

Adolph <strong>und</strong> ihre Koautoren (Adolph 1997,<br />

2000; Adolph et al. 1993, 2003; Eppler et al.<br />

1996) entdeckten erstaunliche Diskontinuitäten,<br />

wenn die Kleinkinder lernten, was sie<br />

mit ihren sich entwickelnden Fähigkeiten der<br />

Fortbewegung <strong>und</strong> der Körperhaltung bewältigen<br />

konnten <strong>und</strong> was nicht. Diese Forschungen<br />

können als Beispiel für die Mechanismen<br />

der Veränderung gelten, bei denen Variation<br />

<strong>und</strong> Selektion Entwicklungsveränderungen<br />

hervorrufen.<br />

Um die Beziehung zwischen frühen motorischen<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Einschätzungen zu<br />

untersuchen, baten die Forscher die Eltern,<br />

ihre Kinder dazu zu bringen, sich auf einer<br />

erhöhten Fläche über Abgründe unterschiedlicher<br />

Breite zu lehnen oder hinüberzukrabbeln<br />

<strong>und</strong> steile Rampen hinunterzukriechen oder<br />

hinunterzulaufen, deren Gefälle variierte.<br />

Einige dieser Aufgaben waren für das jeweilige<br />

Kind lösbar; ein Baby hat beispielsweise keine<br />

Schwierigkeiten damit, eine abschüssige<br />

Rampe mit einer mäßigen Steilheit zu überwinden.<br />

Andere Aufgaben jedoch waren für<br />

das jeweilige Kind unlösbar. Würden die Babys<br />

herausfinden, welche? (Einer der Forscher war<br />

stets in der Nähe, um Kinder aufzufangen, die<br />

ihr Können falsch einschätzten.)<br />

Die beiden Fotos zeigen, wie sich Kinder an<br />

den Rampen verhielten, wenn ein Erwachsener<br />

– in der Regel die Mutter – sie zu sich herüberzulocken<br />

versuchte. In den ersten Wochen<br />

des Krabbelns zögerten die durchschnittlich<br />

achteinhalb Monate alten Babys nicht <strong>und</strong><br />

überwanden geschickt das leichte Gefälle. Mit<br />

Rampen konfrontiert, die zu steil zum Hinunterkrabbeln<br />

waren, hielten die Babys normalerweise<br />

einen Augenblick inne, dann aber<br />

machten sie sich mit dem Kopf voran auf den<br />

Weg (die Forscherin musste sie auffangen!).<br />

Nach mehreren Wochen Krabbelerfahrung<br />

konnten die Babys besser beurteilen, ob eine<br />

Rampe schlicht zu steil war <strong>und</strong> gemieden<br />

werden sollte. Sie verbesserten sich auch <strong>im</strong><br />

Ausdenken von Strategien, wie man ziemlich<br />

steile Gefälle hinuntergelangen kann, etwa<br />

indem sie sich umdrehten <strong>und</strong> sich zent<strong>im</strong>eterweise<br />

vorsichtig rückwärts hinabschoben.<br />

Als die Kinder jedoch zu laufen begannen,<br />

verschätzten sie sich wiederum darin, welche<br />

Rampen sie mit ihrer neuen Fortbewegungsweise<br />

hinuntergelangen konnten, <strong>und</strong><br />

versuchten Rampen hinunterzulaufen, die zu<br />

steil für sie waren. Mit anderen Worten, sie<br />

versagten dabei, das, was sie be<strong>im</strong> Steile-<br />

Gefälle-Hinabkrabbeln gelernt hatten, auf<br />

das Hinablaufen zu übertragen. Kleinkinder<br />

müssen also offensichtlich durch Erfahrung<br />

lernen, wie die Wahrnehmungsinformation<br />

mit jedem neuen motorischen Verhalten,<br />

das sie entwickeln, zu integrieren ist. Dabei<br />

Wenn Kinder mit elf oder zwölf Monaten anfangen, aus eigener<br />

Kraft zu laufen, stellen sie ihre Füße relativ weit auseinander,<br />

was ihre stützende Basis vergrößert; sie beugen Hüfte <strong>und</strong> Knie<br />

ein wenig, wodurch ihr Schwerpunkt etwas tiefer liegt; sie halten<br />

die Hände in die Höhe, um besser Balance zu halten; <strong>und</strong><br />

sie haben in 60 % der Zeit beide Füße gleichzeitig auf dem Boden<br />

(<strong>im</strong> Gegensatz zu nur 20 % bei Erwachsenen) (Bertenthal<br />

<strong>und</strong> Clifton 1998). Wenn sie älter werden <strong>und</strong> an Erfahrung<br />

hinzugewinnen, werden ihre Schritte länger, gerader <strong>und</strong> stetiger.<br />

Übung ist unabdinglich be<strong>im</strong> allmählichen Beherrschen<br />

der anfänglich schwachen Muskeln <strong>und</strong> der unsicheren Balance<br />

(Adolph et al. 2003). Und sie üben: Bei einer Gruppe von zwölf<br />

bis 19 Monate alten Kindern in New York wurden <strong>im</strong> Mittel<br />

2368 Schritte <strong>und</strong> 17 Stürze pro St<strong>und</strong>e (!) beobachtet (Adolph<br />

et al. 2012).<br />

Das tägliche Leben zu Beginn des mobilen Krabbel- oder<br />

Laufalters ist reichlich mit besonderen Herausforderungen für<br />

die Fortbewegung ausgestattet – glatte Böden, weiche Teppiche,<br />

gewinnen sie mit zunehmender Erfahrung<br />

<strong>im</strong>mer mehr Flexibilität, die ihnen multiple<br />

Lösungsstrategien bei zuvor unlösbaren Aufgaben<br />

verschafft, darunter Laboranordnungen<br />

mit steilen Rampen oder schmale Stege mit<br />

einem schwankenden Geländer (Adolph <strong>und</strong><br />

Robinson 2013)<br />

Die Entscheidungen der Kinder in solchen<br />

Situationen hängen auch von den sozialen Informationen<br />

ab. Kleinkinder, die es schon fast<br />

schaffen, eine relativ steile Rampe hinunterzugelangen,<br />

sind recht leicht zu entmutigen <strong>und</strong><br />

von dem Versuch abzuhalten, wenn die Mutter<br />

Nein sagt. Umgekehrt kann eine begeisterte<br />

Ermutigung eines Elternteils einen unerfahrenen<br />

Krabbler oder Läufer dazu verführen, sich<br />

an Gefällen zu versuchen, die noch zu steil<br />

für ihn sind. Das Kind benutzt also sowohl die<br />

soziale als auch die Wahrnehmungsinformation,<br />

wenn es sich entscheidet, was zu tun ist.<br />

In diesem Fall erhält es die Information durch<br />

soziales Referenzieren, bei dem Bezug auf die<br />

emotionale Reaktion eines anderen Menschen<br />

genommen wird, um in einer ungewissen Situation<br />

zu entscheiden, wie man sich am besten<br />

verhält (▶ Kap. 10).<br />

Ein besonders wichtiger Bef<strong>und</strong> von Adolphs<br />

Forschung besteht darin, dass Kleinkinder<br />

aus Erfahrung lernen müssen, was sie unter<br />

Berücksichtigung jeder neuen motorischen<br />

Fähigkeit, die sie erworben haben, tun können<br />

<strong>und</strong> was nicht. Genauso wie die Kinder,<br />

die gerade erst krabbeln oder laufen gelernt<br />

haben, <strong>im</strong> Wortsinn auf die Nase fallen, wenn<br />

man sie oben an eine steile Rampe stellt, wird<br />

ein Kind, das gerade erst gelernt hat zu sitzen,<br />

sich zu weit nach einem Spielzeug außer<br />

Reichweite recken <strong>und</strong> dabei das Gleichgewicht<br />

verlieren – <strong>und</strong> <strong>im</strong> Labor durch die<br />

Lücke der Stützplatte fallen, wäre da nicht die<br />

allgegenwärtige Forscherin, die es auffängt.<br />

Erfahrene Krabbler <strong>und</strong> Läufer halten inne,<br />

um abzuwägen, ob sie versuchen sollten, die<br />

Rampe hinunterzukommen, oder lieber nicht.<br />

Und ebenso beurteilt ein Kleinkind, das seit<br />

einiger Zeit ohne Unterstützung sitzen kann,<br />

ob eine Lücke zu breit ist, um sich hinüberzulehnen,<br />

<strong>und</strong> wird das sein lassen, wenn<br />

sie ihm zu breit erscheint. Diese st<strong>im</strong>migen<br />

Bef<strong>und</strong>e zur Vielfalt motorischer Fähigkeiten<br />

sind sehr wichtig, um zu verstehen, wie<br />

Kleinkinder erfolgreich mit ihrer Umwelt<br />

interagieren lernen.


Motorische Entwicklung<br />

177 5<br />

Exkurs 5.5 (Fortsetzung) | |<br />

..<br />

Ein Kind weigert sich, den Abgr<strong>und</strong> der<br />

visuellen Klippe zu überqueren, obwohl seine<br />

Mutter auf der anderen Seite es ruft <strong>und</strong> zu sich<br />

herüberzulocken versucht. (© Prof. Joseph. J.<br />

Campos, University of Berkeley; mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Genehmigung)<br />

..<br />

Das Integrieren der Wahrnehmungsinformation<br />

mit neuen<br />

motorischen Fertigkeiten. a Karen<br />

Adolph wird das seit Kurzem<br />

krabbelnde Baby retten müssen, das<br />

nicht erkennt, dass dieses Gefälle für<br />

sein derzeitiges Fähigkeitsniveau <strong>im</strong><br />

Krabbeln zu steil ist. b Im Unterschied<br />

dazu entscheidet das erfahren<br />

laufende Kind vernünftigerweise,<br />

dass dieses Gefälle zu steil zum<br />

Hinunterlaufen ist. (© Karen Adolph;<br />

mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Wege voller Gegenstände <strong>und</strong> Hindernisse, Treppen, schräg<br />

abfallende Rasenflächen <strong>und</strong> so weiter. Die Kinder müssen<br />

permanent einschätzen, ob ihre sich entwickelnden Fähigkeiten<br />

genügen, um damit von einem Ort zum anderen zu gelangen.<br />

Eleanor Gibson <strong>und</strong> ihre Mitautoren (Gibson et al. 1987;<br />

Gibson <strong>und</strong> Schmuckler 1989) fanden, dass die Kinder die Art<br />

ihrer Fortbewegung an die wahrgenommenen Merkmale der<br />

Flächen anpassen, die sie überqueren wollen. Beispielsweise<br />

kehrten Kinder, die problemlos einen festen Steg aus Sperrholz<br />

aufrecht überquert hatten, klugerweise wieder zum Krabbeln<br />

zurück, um ein Wasserbett zu durchqueren. ▶ Exkurs 5.5 stellt<br />

ein Forschungsprogramm über die frühe Entwicklung der Fortbewegung<br />

<strong>und</strong> andere Formen des motorischen Verhaltens in<br />

der frühen Kindheit zusammenfassend dar <strong>und</strong> befasst sich<br />

besonders mit der Integration von Wahrnehmung <strong>und</strong> Fortbewegung.<br />

Die Herausforderung, die kleine Kinder be<strong>im</strong> Integrieren<br />

der Wahrnehmungsinformation in ihr Planen <strong>und</strong> Ausführen<br />

von Handlungen erfahren, führt gelegentlich zu recht überraschenden<br />

Verhaltensweisen, vor allem, wenn die Kinder der<br />

Herausforderung noch nicht gewachsen sind. Ein besonders<br />

drastisches Beispiel für eine fehlgeschlagene Integration von<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> Handlung betrifft die Fehleinschätzung<br />

von Größenverhältnissen (Brownell et al. 2007; <strong>DeLoache</strong> et al.<br />

2004; Ware et al. 2006). Bei dieser Art von Skalierungsfehler<br />

versuchen sehr junge Kinder, Miniaturversionen von Gebrauchsgegenständen<br />

für Handlungen einzusetzen, für die das<br />

jeweilige Miniaturmodell viel zu klein ist. So versuchen Kinder,<br />

die gerade laufen lernen, mit aller Ernsthaftigkeit, sich auf einen<br />

winzigen Puppenstuhl zu setzen oder in ein Spielzeugauto<br />

einzusteigen (. Abb. 5.11). Be<strong>im</strong> Skalierungsfehler versagt das<br />

Kind vorübergehend darin, die Relation zwischen der eigenen<br />

Körpergröße <strong>und</strong> der Größe des Zielobjekts zu berücksichtigen.<br />

Vermutlich entstehen solche Fehler dadurch, dass die Integration<br />

der visuellen Informationen, die in zwei verschiedenen<br />

Gehirnregionen repräsentiert sind, <strong>im</strong> Dienste der Handlung<br />

fehlschlägt. Im Verlauf der Entwicklung treten diese Fehler<br />

seltener auf, aber auch Erwachsene begehen eine ganze Reihe<br />

von Handlungsfehlern (z. B. wenn sie versuchen, sich in zu enge<br />

Hosen zu quetschen oder eine mit Wasser gefüllte Tasse in den<br />

Schrank statt in die Mikrowelle stellen).<br />

Skalierungsfehler – Der Versuch eines kleinen <strong>Kindes</strong>, eine Handlung mit einem<br />

kleinen Gegenstand auszuführen, was unmöglich ist, weil die Größe des<br />

<strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> die Größe des Gegenstandes auseinanderklaffen.


178<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

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Abb. 5.11 Skalierungsfehler. Diese drei Kinder machen Skalierungsfehler, indem sie mit einem kleinen Gegenstand so umgehen, als wäre er wesentlich<br />

größer. a Das Mädchen ist gerade von der Spielzeugrutsche gefallen, die es hinunterrutschen wollte. b Der Junge versucht hartnäckig, in ein ganz kleines Auto<br />

einzusteigen. c Der Junge versucht, sich auf einen Miniaturstuhl zu setzen. (Aus <strong>DeLoache</strong> et al. 2004; © Judy Deloache; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

In Kürze | |<br />

Alle Kinder, die sich normal entwickeln, zeigen in der Entwicklung<br />

ihres motorischen Verhaltens eine ähnliche Abfolge<br />

der wichtigen Meilensteine. Dies beginnt bei Neugeborenen<br />

mit einer Reihe von angeborenen Reflexen, die allen Kindern<br />

gemeinsam sind. Der Zeitpunkt, an dem einzelne Kinder<br />

einen Meilenstein erreichen, variiert je nach kulturellen Einflüssen,<br />

aber die Reihenfolge verändert sich selten. Zunehmend<br />

betonen Forscher die weitgreifenden Zusammenhänge<br />

zwischen dem motorischen Verhalten, der Wahrnehmung<br />

<strong>und</strong> der Motivation von Kleinkindern <strong>und</strong> darüber hinaus die<br />

Vielfalt der Veränderungen in der Welt der Kinder, wenn diese<br />

mit zunehmenden motorischen Fähigkeiten neue Erfahrungen<br />

machen. Bei der Entwicklung der eigenständigen Fortbewegung<br />

(krabbeln, laufen) nutzen Kinder eine Vielzahl von<br />

unterschiedlichen Bewegungsmustern, um möglichst überall<br />

hinzukommen <strong>und</strong> die verschiedenen Herausforderungen,<br />

die ihre Umwelt bietet, zu bewältigen. Ein entscheidender<br />

Aspekt der Entwicklung ist die Fähigkeit, zutreffend zu beurteilen,<br />

welche Handlungen man auszuführen <strong>im</strong>stande ist<br />

<strong>und</strong> welche nicht; diese Fähigkeit wächst mit der Erfahrung.<br />

Lernen<br />

Wer hat <strong>im</strong> Verlauf des heutigen Tages wohl mehr gelernt – Sie<br />

oder ein zehn Monate altes Kind? Wir würden auf das Baby setzen,<br />

schon weil es für ein kleines Kind so viel Neues gibt. Erinnern<br />

Sie sich an den kleinen Benjamin in der Küche seiner Eltern.<br />

In dieser Alltagssituation war eine Fülle von Lernanlässen <strong>und</strong><br />

-gelegenheiten enthalten. Beispielsweise machte Benjamin neue<br />

Erfahrungen, was die Unterschiede zwischen belebten <strong>und</strong> unbelebten<br />

Objekten betrifft; er erlebte, wie best<strong>im</strong>mte visuelle <strong>und</strong><br />

akustische Eindrücke bei Ereignissen zusammen auftreten; er sah<br />

die Folgen, wenn Gegenstände ihre Standfestigkeit verlieren (einschließlich<br />

der Wirkung dieses Ereignisses auf den emotionalen<br />

Zustand seiner Eltern). Auch erfuhr er die Folgen seines eigenen<br />

Verhaltens, etwa die Reaktion der Eltern, als er zu weinen anfing.<br />

In diesem Abschnitt behandeln wir sechs verschiedene Formen<br />

des Lernens, durch die Kinder von ihrer Erfahrung profitieren<br />

<strong>und</strong> Weltwissen erwerben. Entwicklungspsychologen fragen<br />

in Bezug auf das Lernen in der frühen Kindheit beispielsweise<br />

danach, in welchem Alter die verschiedenen Formen des Lernens<br />

auftreten <strong>und</strong> wie sich das frühe Lernen zu den späteren kognitiven<br />

Fähigkeiten verhält. Eine weitere wichtige Frage betrifft das<br />

Ausmaß, in dem Kindern be<strong>im</strong> Lernen manches leichter <strong>und</strong><br />

manches schwerer fällt. Die Lernfähigkeiten, die <strong>im</strong> Folgenden<br />

beschrieben werden, sind in Entwicklungen in verschiedenen<br />

Bereichen menschlichen Wirkens eingeb<strong>und</strong>en, von der visuellen<br />

Wahrnehmung bis zu sozialen Fähigkeiten. Es ist deshalb<br />

unmöglich, über Entwicklung nachzudenken, ohne die Natur der<br />

Lernmechanismen zu betrachten, die den entwicklungsbedingten<br />

Veränderungen zugr<strong>und</strong>e liegen.<br />

Habituation<br />

Die einfachste <strong>und</strong> früheste Form des Lernens besteht darin, etwas<br />

wiederzuerkennen, das man zuvor schon einmal erfahren hat. Wir<br />

haben in ▶ Kap. 2 <strong>und</strong> an früherer Stelle <strong>im</strong> vorliegenden Kapitel<br />

bereits erwähnt, dass Babys – wie jeder andere auch – dazu neigen,<br />

relativ schwach auf Reize zu reagieren, die sie bereits kennen, <strong>und</strong><br />

vergleichsweise stark auf neuartige Reize (. Abb. 5.12). Das Auftreten<br />

von Habituation als Reaktion auf wiederholte gleichartige St<strong>im</strong>ulation<br />

lässt erkennen, dass Lernen stattgef<strong>und</strong>en hat; das Kind<br />

hat eine Gedächtnisrepräsentation des wiederholten <strong>und</strong> mittlerweile<br />

vertrauten Reizes gebildet. Habituation ist der Anpassung an<br />

die Umwelt sehr dienlich: Eine verringerte Aufmerksamkeit für<br />

das Alte <strong>und</strong> Bekannte versetzt Kinder in die Lage, auf das Neue<br />

zu achten <strong>und</strong> hierüber Neues zu lernen.<br />

Man n<strong>im</strong>mt an, dass die Geschwindigkeit, mit der ein Kind<br />

habituiert, die allgemeine Effektivität seiner Informationsverarbeitung<br />

widerspiegelt. Ähnliche Aufmerksamkeitsmaße wie die<br />

Blickdauer <strong>und</strong> das Ausmaß der Präferenz von Neuartigem werden<br />

ebenso auf die Geschwindigkeit <strong>und</strong> Effektivität der Verarbeitung<br />

bezogen. Ein beträchtliches <strong>und</strong> überraschendes Ausmaß an Kontinuität<br />

ergab sich zwischen diesen Maßen in der Kindheit <strong>und</strong> den<br />

allgemeinen kognitiven Fähigkeiten <strong>im</strong> späteren Leben. Kleinkinder,<br />

die sehr schnell habituieren, die optische Reize nur sehr kurz<br />

betrachten <strong>und</strong>/oder die eine stärkere Präferenz für Neuartiges erkennen<br />

lassen, haben in der Regel 18 Jahre später einen höheren IQ<br />

(Colombo et al. 2004; Rose <strong>und</strong> Feldman 1997; Kavsek 2004). Eine<br />

der frühesten <strong>und</strong> einfachsten Formen des menschlichen Lernens<br />

ist somit gr<strong>und</strong>legend für die allgemeine kognitive Entwicklung.


Lernen<br />

179 5<br />

..<br />

Abb. 5.12 Habituation. Dieses drei Monate alte Mädchen bietet eine anschauliche Demonstration der Habituation. Es sitzt vor einem Bildschirm, auf<br />

dem Fotografien gezeigt werden. Be<strong>im</strong> ersten Erscheinen eines fotografierten Gesichtes weiten sich seine Augen, <strong>und</strong> es schaut konzentriert hin. Nach drei<br />

weiteren Darbietungen dieses Fotos verebbt sein Interesse, <strong>und</strong> es gähnt. Bei der fünften Darbietung ziehen andere Dinge die Aufmerksamkeit des Mädchens<br />

auf sich, <strong>und</strong> bei der sechsten Präsentation ist sogar das eigene Kleidchen interessanter. Als jedoch ein neues Gesicht auf dem Bildschirm erscheint, ist sein<br />

Interesse an dem neuartigen Reiz unverkennbar. (Aus Maurer <strong>und</strong> Maurer 1988; © Charles E. Maurer; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Wahrnehmungslernen<br />

Von Anfang an suchen Säuglinge aktiv nach Ordnung <strong>und</strong> Regelmäßigkeit<br />

in ihrer Umwelt, <strong>und</strong> sie lernen eine Menge allein<br />

dadurch, dass sie sehr genau auf die Gegenstände <strong>und</strong> Ereignisse<br />

achten, die sie wahrnehmen. Nach Eleanor Gibson (1988) besteht<br />

der zentrale Prozess des Wahrnehmungslernens in der Differenzierung<br />

– dem Herausfiltern der unterschiedlichen Elemente aus der<br />

Umwelt, die stabil <strong>und</strong> unverändert bleiben. Beispielsweise lernen<br />

Kinder den Zusammenhang zwischen Tonfall <strong>und</strong> Gesichtsausdruck<br />

deshalb, weil in ihrer Erfahrung ein angenehmer, fröhlicher<br />

oder begeisterter Tonfall normalerweise zusammen mit einem lächelnden<br />

Gesicht auftritt, aber nicht mit einem finsteren, während<br />

ein rauer, verärgerter Tonfall regelmäßig gemeinsam mit einem<br />

finsteren Gesichtsausdruck auftritt, aber nicht mit einem Lächeln.<br />

Ein besonders wichtiger Teil des Wahrnehmungslernens besteht<br />

darin, dass die Kinder Affordanzen entdecken; darunter<br />

versteht man Angebote <strong>und</strong> Anregungen, die Gegenstände<br />

<strong>und</strong> Situationen mit Blick auf Handlungsmöglichkeiten eröffnen<br />

(Gibson 1988). Beispielsweise entdecken Kinder, dass man<br />

kleine – aber nicht große – Gegenstände hochheben kann, dass<br />

sich Flüssiges ausgießen <strong>und</strong> verschütten lässt, dass Stühle einer<br />

best<strong>im</strong>mten Größe zum Draufsitzen geeignet sind. Kinder<br />

entdecken solche Affordanzen, indem sie die Beziehungen zwischen<br />

den Dingen in ihrer Umwelt <strong>und</strong> ihrem eigenen Körper<br />

sowie ihren eigenen Fähigkeiten herausfinden. Wie wir schon<br />

dargestellt haben, erkennen Kinder beispielsweise mit der Zeit,<br />

dass feste, flache Oberflächen einen sicheren Tritt ermöglichen,<br />

was bei glitschigen, glatten oder steil abfallenden Flächen nicht<br />

der Fall ist (z. B. Adolph 2008).<br />

Differenzierung – Das Unterscheiden <strong>und</strong> Herausfiltern derjenigen Elemente<br />

aus dem sich ständig ändernden Reizangebot der Umwelt, die stabil <strong>und</strong> unverändert<br />

bleiben.<br />

Affordanzen – Die Handlungsmöglichkeiten, die Gegenstände <strong>und</strong> Situationen<br />

bieten.


180<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

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Die Gegenstände, die dieses Baby umgeben, bieten eine Vielzahl von Affordanzen.<br />

Einige kann man aufheben, andere sind zu groß für die kleinen Hände<br />

des <strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> zu schwer für seine begrenzten Kräfte. Die Klapper macht<br />

Geräusche, wenn man sie schüttelt, das Spielzeugklavier, wenn man auf die<br />

Tasten schlägt. Kleine Gegenstände kann man in die gelbe Dose tun, größere<br />

passen nicht hinein. Das Stofftier kann man mit Vergnügen knuddeln, das Telefon<br />

aber nicht. Durch Interaktion mit der Umwelt entdecken Kleinkinder diese<br />

<strong>und</strong> viele andere Arten von Affordanzen. (© Geri Engberg/The Image Works)<br />

Wahrnehmungslernen ist an vielen, wenn auch nicht an allen<br />

Aspekten der intermodalen Koordination beteiligt. Wie wir bereits<br />

ausgeführt haben, bedarf es keiner Lernprozesse, um ein integriertes<br />

Ereignis wahrzunehmen, an dem Sicht- <strong>und</strong> Hörbares beteiligt<br />

ist; so n<strong>im</strong>mt das Baby Benjamin von Natur aus ein einzelnes,<br />

zusammenhängendes Ereignis wahr, wenn es zum ersten Mal sieht<br />

<strong>und</strong> hört, wie ein Kristallglas am Fußboden zerspringt. Man muss<br />

jedoch lernen, welches die jeweiligen visuellen <strong>und</strong> akustischen<br />

Reize sind, die gemeinsam auftreten; nur durch Erfahrung kann<br />

Benjamin wissen, dass klirrende Geräusche mit zerbrechendem<br />

Glas zusammenhängen. Wir haben schon gesehen, dass Säuglinge<br />

von Anfang an auf die synchronen Zusammenhänge zwischen Lippenbewegungen<br />

<strong>und</strong> Lauten achten, während sie lernen müssen,<br />

den Bezug zwischen dem einzigartigen Anblick des Gesichts ihrer<br />

Mutter <strong>und</strong> dem einzigartigen Ton ihrer St<strong>im</strong>me herzustellen, was<br />

ihnen mit dreieinhalb Monaten gelingt (Spelke <strong>und</strong> Owsley 1979).<br />

Die Notwendigkeit des Wahrnehmungslernens wird besonders bei<br />

Ereignissen deutlich, an denen willkürliche Beziehungen beteiligt<br />

sind, beispielsweise die Assoziation zwischen der Farbe einer Tasse<br />

<strong>und</strong> dem Geschmack der darin befindlichen Nahrung. Die Tatsache,<br />

dass man sieben Monate alten Kindern <strong>im</strong> Labor Assoziationen<br />

zwischen Farbe <strong>und</strong> Geschmack beibringen kann (Reardon<br />

<strong>und</strong> Bushnell 1988), wird all jene Eltern nicht überraschen, deren<br />

Kinder ihren M<strong>und</strong> partout nicht aufmachen wollen, sobald sie<br />

einen Löffel sehen, auf dem sich irgendetwas Grünes befindet.<br />

Statistisches Lernen<br />

Ein verwandter Typ des Lernens erfordert ebenfalls nichts weiter<br />

als das Aufnehmen von Informationen aus der Umwelt, insbesondere<br />

das Bilden von Assoziationen zwischen Reizen, die in<br />

einem statistisch vorhersagbaren Muster auftreten (Aslin et al.<br />

1998; Kirkham et al. 2002; Saffran et al. 1996). Unsere natürliche<br />

Umgebung enthält ein hohes Maß an Regelmäßigkeit <strong>und</strong><br />

Red<strong>und</strong>anz; best<strong>im</strong>mte Ereignisse geschehen in vorhersagbarer<br />

Abfolge, best<strong>im</strong>mte Gegenstände erscheinen gleichzeitig <strong>und</strong> am<br />

selben Ort <strong>und</strong> so weiter. Ein für ein Baby alltägliches Beispiel<br />

ist die Regelmäßigkeit, mit der auf den Klang der mütterlichen<br />

St<strong>im</strong>me das Erscheinen ihres Gesichtes folgt.<br />

Schon sehr früh sind Säuglinge empfänglich für die Regelmäßigkeit,<br />

mit der ein Ereignis auf ein anderes folgt. In einer<br />

Untersuchung habituierte man zwei bis acht Monate alte Babys<br />

auf sechs einfache visuelle Formen, die nacheinander präsentiert<br />

wurden, wobei die Kombinationen von jeweils zwei Formen<br />

mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten auftraten<br />

(Kirkham et al. 2002). Zum Beispiel traten drei farbige Formen<br />

stets paarweise in derselben Abfolge auf (z. B. auf ein Quadrat<br />

folgte <strong>im</strong>mer ein Kreuz), aber der nächste Reiz konnte mit gleicher<br />

Wahrscheinlichkeit eine von drei Formen haben (z. B. folgte<br />

einem Kreuz ebenso häufig ein Kreis wie ein Dreieck oder ein<br />

Quadrat). Die Wahrscheinlichkeit, dass dem Quadrat das Kreuz<br />

folgte, betrug also 100 %, während die Wahrscheinlichkeit, dass<br />

dem Kreuz ein Kreis (oder ein Dreieck oder ein Quadrat) folgte,<br />

33 % betrug. Nachdem die Kinder an dieses Trainingsmaterial<br />

gewöhnt worden waren, änderte man in der Testphase die Reihenfolge<br />

des Auftretens eines oder mehrerer der Formen. Die<br />

Babys schauten länger hin, wenn die ursprüngliche Ordnung<br />

verändert worden war (z. B. wenn dem Quadrat ein Kreis folgte).<br />

Die Fähigkeiten des statistischen Lernens wurden in vielen<br />

Bereichen untersucht, darunter Musik, Handlung <strong>und</strong> Sprache<br />

(Roseberry et al. 2011; Saffran <strong>und</strong> Griepentrog 2001; Saffran<br />

et al. 1996). Bereits Neugeborene verfolgen statistische Regeln<br />

in diesen Bereichen, was vermuten lässt, dass die Mechanismen<br />

statistischen Lernens bereits bei der Geburt, wenn nicht noch<br />

früher, vorhanden sind (Bulf et al. 2011; Kudo et al. 2011; Teinonen<br />

et al. 2009). Das statistische Lernen scheint auch be<strong>im</strong> Spracherwerb<br />

eine entscheidende Bedeutung zu haben (in ▶ Kap. 6<br />

werden wir das genauer erörtern).<br />

Verschiedene Studien legen die Vermutung nahe, dass Säuglinge<br />

best<strong>im</strong>mte Typen statistischer Muster bevorzugen. Insbesondere<br />

zeigen sie eine Präferenz für Muster mit einer gewissen<br />

Variabilität gegenüber einfachen Mustern (die perfekt vorhersehbar<br />

sind) <strong>und</strong> komplexen Mustern (die zufällig sind) (Gerken<br />

et al. 2011; Kidd et al. 2012). Dieser „goldene Mittelweg“, bei<br />

dem zu einfache <strong>und</strong> zu schwierige Muster gemieden werden<br />

zugunsten einer Fokussierung auf Muster, die zu den jeweils gegebenen<br />

Lernfähigkeiten passen, lässt vermuten, dass Kinder ihre<br />

Aufmerksamkeit unterschiedlich auf unterschiedliche Lernprobleme<br />

richten <strong>und</strong> den informativsten Mustern bevorzugt Aufmerksamkeit<br />

schenken.<br />

Klassisches Konditionieren<br />

Eine andere wichtige Lernform ist das klassische Konditionieren,<br />

das zuerst von Iwan Pawlow in seinen berühmten Forschungen<br />

an H<strong>und</strong>en entdeckt wurde; diese lernten eine Assoziation<br />

zwischen dem Klang einer Glocke <strong>und</strong> der Gabe von Futter <strong>und</strong><br />

fingen mit der Zeit schon allein auf den Glockenton hin an zu<br />

speicheln. Das klassische Konditionieren spielt für Kinder be<strong>im</strong><br />

alltäglichen Lernen von Zusammenhängen zwischen Umweltereignissen,<br />

die für die Kinder relevant sind, eine Rolle. Betrachten<br />

wir die Mahlzeiten von Babys, die häufig vorkommen <strong>und</strong> eine


Lernen<br />

181 5<br />

vorhersagbare Struktur besitzen. Zu Beginn berührt eine Brust<br />

oder eine Flasche den M<strong>und</strong> des <strong>Kindes</strong>, was den Saugreflex auslöst.<br />

Das führt dazu, dass Milch in den M<strong>und</strong> des <strong>Kindes</strong> fließt,<br />

<strong>und</strong> es erfährt die angenehmen Empfindungen eines köstlichen<br />

Geschmacks <strong>und</strong> die Befriedigung des Hungergefühls. Lernen<br />

wird erkennbar, wenn die Saugbewegungen des <strong>Kindes</strong> schon<br />

be<strong>im</strong> bloßen Anblick der Flasche oder der Brust beginnen.<br />

Klassisches Konditionieren – Eine Form des Lernens, bei der ein ursprünglich<br />

neutraler Reiz (be<strong>im</strong> Pawlow’schen H<strong>und</strong> ein Klingelton) mit einem Reiz (Futter)<br />

assoziiert wird, der <strong>im</strong>mer eine best<strong>im</strong>mte Reaktion (Speicheln) auslöst.<br />

In den Begrifflichkeiten des klassischen Konditionierens ist die<br />

Brustwarze <strong>im</strong> M<strong>und</strong> des <strong>Kindes</strong> ein unkonditionierter (oder<br />

unbedingter) Reiz, abgekürzt UCS (unconditioned st<strong>im</strong>ulus), der<br />

eine ungelernte Reflexantwort verlässlich auslöst – in diesem<br />

Fall den Saugreflex, die unkonditionierte (oder unbedingte)<br />

Reaktion, abgekürzt UCR (unconditioned response). Lernen beziehungsweise<br />

Konditionierung tritt auf, wenn ein ursprünglich<br />

neutraler Reiz wiederholt als konditionierter Reiz, abgekürzt CS<br />

(conditioned st<strong>im</strong>ulus), unmittelbar vor dem unkonditionierten<br />

Reiz auftritt (wenn das Baby die Brust oder die Flasche wiederholt<br />

sieht, unmittelbar bevor es die Brustwarze oder den Sauger<br />

bekommt). Mit der Zeit tritt die ursprünglich reflexhafte Reaktion<br />

– nun als gelernte oder konditionierte Reaktion, kurz CR<br />

(conditioned response) – auf den konditionierten Reiz hinein (antizipatorische<br />

Saugbewegungen setzen jetzt schon ein, wenn das<br />

Baby Brust oder Flasche auch nur sieht). Mit anderen Worten,<br />

der Anblick von Brust oder Flasche wurde zu einem Signal für<br />

das, was danach passieren wird. Nach <strong>und</strong> nach kann das Kind<br />

auch die Mutter selbst mit der gesamten Ereignisabfolge assoziieren,<br />

einschließlich des angenehmen Gefühls, das sich nach<br />

dem Trinken einstellt. Wenn dies eingetreten ist, können solche<br />

Gefühle schließlich allein durch die Anwesenheit der Mutter ausgelöst<br />

werden. Man n<strong>im</strong>mt an, dass viele emotionale Reaktionen<br />

zuerst durch klassisches Konditionieren gelernt werden.<br />

Unkonditionierter Reiz (UCS) – Be<strong>im</strong> klassischen Konditionieren der Reiz, der<br />

eine Reaktion oder einen Reflex auslöst.<br />

Unkonditionierte Reaktion (UCR) – Be<strong>im</strong> klassischen Konditionieren die Reaktion<br />

(oder der Reflex), die (der) durch den unkonditionierten Reiz ausgelöst<br />

wird.<br />

Konditionierter Reiz (CS) – Be<strong>im</strong> klassischen Konditionieren ein anfangs neutraler<br />

Reiz, der mit dem unkonditionierten Reiz gemeinsam auftritt (assoziiert<br />

wird).<br />

Konditionierte Reaktion (CR) – Be<strong>im</strong> klassischen Konditionieren der ursprüngliche<br />

Reflex, der nun auch durch den konditionierten Reiz ausgelöst wird.<br />

Operantes Konditionieren<br />

Eine Schlüsselvariante des Lernens ist für Kleinkinder (wie für<br />

jeden anderen) das Erlernen der Konsequenzen des eigenen Verhaltens.<br />

Im täglichen Leben lernen Kinder, dass das Schütteln<br />

einer Rassel ein interessantes Geräusch produziert, dass der Vater<br />

zurücklächelt, wenn man ihn anstrahlt, <strong>und</strong> dass die eingehende<br />

Beschäftigung mit der Erde in einem Blumentopf den Tadel der<br />

..<br />

Tab. 5.1 Untersuchungen zum operanten Konditionieren bei Kleinkindern.<br />

(Bruner 1973; Hartshorn <strong>und</strong> Rovee-Collier 1997; Siqueland<br />

<strong>und</strong> DeLucia 1969; Siqueland <strong>und</strong> Lipsitt 1966)<br />

Altersgruppe Gelernte Reaktion Verstärkung (Belohnung)<br />

Neugeborene<br />

Seitliche Kopfdrehung<br />

Zuckerlösung trinken<br />

3 Wochen Saugmuster Interessante visuelle<br />

Darbietung<br />

5–12 Wochen Saugmuster Einen Film <strong>im</strong> Blick<br />

behalten<br />

6 Monate Einen Hebel drücken Eine Spielzeugeisenbahn<br />

in Bewegung<br />

setzen<br />

Eltern nach sich zieht. Diese Art des Lernens nennt man operantes<br />

Konditionieren oder instrumentelles Lernen; es umfasst die<br />

Beziehung zwischen dem eigenen Verhalten <strong>und</strong> der Belohnung<br />

oder Bestrafung, die daraus folgt. Die meisten Forschungen zum<br />

operanten Konditionieren bei Kindern arbeiten mit positiver<br />

Verstärkung; das bedeutet, dass auf ein Verhalten zuverlässig<br />

eine Belohnung folgt <strong>und</strong> die Wahrscheinlichkeit steigt, dass<br />

das Verhalten wiederholt wird. Es besteht somit zwischen dem<br />

kindlichen Verhalten <strong>und</strong> der Belohnung eine Kontingenzbeziehung<br />

(eine st<strong>im</strong>mige Beziehung zwischen zeitlich verb<strong>und</strong>enen<br />

Ereignissen): Wenn das Kind die jeweilige Reaktion zeigt, dann<br />

erhält es die Belohnung. . Tabelle 5.1 listet einige Beispiele aus<br />

der großen Vielfalt an einfallsreich gestalteten Situationen auf,<br />

die Forscher arrangiert haben, um das instrumentelle Lernen bei<br />

kleinen Kindern zu untersuchen.<br />

Operantes Konditionieren (instrumentelles Lernen) – Das Lernen der Beziehung<br />

zwischen dem eigenen Verhalten <strong>und</strong> den daraus entstehenden Folgen.<br />

Positive Verstärkung – Eine Belohnung, die verlässlich auf ein Verhalten folgt<br />

<strong>und</strong> die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass dieses Verhalten zukünftig wiederholt<br />

wird.<br />

Um das instrumentelle Lernen <strong>und</strong> das Gedächtnis bei Säuglingen<br />

zu untersuchen, entwarf Carolyn Rovee-Collier (1997) ein<br />

instrumentelles Konditionierungsverfahren. Bei diesem Verfahren<br />

schlingen die Forscher ein Band um den Fuß eines Säuglings<br />

<strong>und</strong> verbinden es mit einem Mobile, das über dem Bett des<br />

<strong>Kindes</strong> hängt (. Abb. 5.13). Während die Säuglinge von sich aus<br />

mit den Beinen strampeln, lernen sie schon mit zwei Monaten<br />

binnen Minuten die Beziehung zwischen ihren Beinbewegungen<br />

<strong>und</strong> dem unterhaltsamen Anblick des sich bewegenden Mobiles.<br />

Daraufhin steigern sie die Quote ihrer Strampelbewegungen ganz<br />

absichtlich <strong>und</strong> oft mit großer Freude. Die interessanten Bewegungen<br />

des Mobiles dienen so als Belohnung für das Strampelverhalten.<br />

Ein zusätzliches Merkmal dieses Verfahrens besteht<br />

darin, dass die Intensität der Belohnung von der Intensität des<br />

Verhaltens des Babys abhängt – je stärker es strampelt, umso<br />

heftiger bewegt sich das Mobile. Diese Aufgabe wurde genutzt,<br />

um intensiv zu untersuchen, wie lange <strong>und</strong> unter welchen Umständen<br />

die Kinder in Erinnerung behalten, dass sich das Mobile<br />

durch Strampeln bewegen lässt <strong>und</strong> wie sich die Behaltensdauer


182<br />

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23<br />

..<br />

Abb. 5.13 Kontingenz. Dieser Säugling lernte in Minutenschnelle, dass<br />

das eigene Strampeln das Mobile dazu bringt, sich auf interessante Weise<br />

zu bewegen; er lernte die Beziehung zwischen dem eigenen Verhalten <strong>und</strong><br />

dem damit verb<strong>und</strong>enen äußeren Geschehen. Man beachte, mit welcher<br />

Konzentration das Kind auf das Mobile blickt, das es selbst steuert. (© Paul<br />

Newman/Photoedit)<br />

mit dem Alter verändert (z. B. Rovee-Collier 1999). Als Bef<strong>und</strong><br />

ergab sich unter anderem:<br />

1. Drei Monate alte Säuglinge behielten die Folgen des Strampelns<br />

eine Woche lang <strong>im</strong> Gedächtnis, während sechs Monate alte<br />

Kinder sich auch nach zwei Wochen noch daran erinnerten.<br />

2. <strong>im</strong> Alter von weniger als sechs Monaten erinnern sich die<br />

Kinder nur dann an die Strampelwirkung, wenn be<strong>im</strong> Training<br />

<strong>und</strong> be<strong>im</strong> Test dasselbe Mobile verwendet wurde, während<br />

ältere Kinder den Zusammenhang <strong>im</strong> Test auch bei<br />

neuen Mobiles noch präsent hatten.<br />

Die hohe Motivation von Kindern schon <strong>im</strong> jüngsten Alter, ihre<br />

Umgebung zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> zu beherrschen, die wir <strong>im</strong> Rahmen<br />

unseres Themas des aktiven <strong>Kindes</strong> <strong>im</strong>mer wieder betont haben,<br />

tritt in Situationen des instrumentellen Lernens zutage: Säuglinge<br />

arbeiten hart daran, ihre Erfahrungen vorhersagen <strong>und</strong> kontrollieren<br />

zu lernen, <strong>und</strong> sie mögen es nicht gern, die Kontrolle zu verlieren,<br />

nachdem sie einmal erworben wurde. Forscher beschrieben<br />

den Gesichtsausdruck von Freude <strong>und</strong> Interesse, während Kinder<br />

<strong>im</strong> Alter von gerade einmal zwei Monaten eine Kontingenzbeziehung<br />

lernten, <strong>und</strong> den Ausdruck von Ärger <strong>und</strong> Zorn, wenn<br />

die gelernte Reaktion nicht mehr zum erwarteten Ergebnis führte<br />

(Lewis et al. 1990; Sullivan et al. 1992). Wenn es Neugeborenen<br />

nicht mehr gelang, die Zuckerlösung zu erhalten, die ihrer Lernerfahrung<br />

gemäß auf eine Kopfdrehung hin eigentlich folgen sollte,<br />

begannen sieben von acht Kindern zu weinen (Blass 1990).<br />

Kleine Kinder können ebenfalls bereits lernen, dass es Situationen<br />

gibt, die sie nicht kontrollieren können. Zum Beispiel neigen<br />

die Kinder depressiver Mütter dazu, weniger zu lächeln <strong>und</strong><br />

schwächere Ausprägungen positiver Affekte zu zeigen als Kinder<br />

von Müttern ohne diese psychische Beeinträchtigung. Zum Teil<br />

kann das daran liegen, dass die Kinder depressiver Mütter lernen,<br />

dass solche fre<strong>und</strong>lichen Verhaltensweisen von ihrem mit anderen<br />

Dingen beschäftigten Elternteil selten belohnt werden (Campbell<br />

et al. 1995). Allgemeiner gesagt: Säuglinge lernen in Kontingenzsituationen<br />

– ob <strong>im</strong> Labor oder <strong>im</strong> Alltag – mehr als nur die jeweiligen<br />

Kontingenzbeziehungen, denen sie begegnen. Sie lernen auch etwas<br />

über die Beziehung zwischen sich selbst <strong>und</strong> der Welt <strong>und</strong> über das<br />

Ausmaß, in dem sie den Zustand der Welt beeinflussen können.<br />

Beobachtungs- <strong>und</strong> Nachahmungslernen<br />

Eine besonders ergiebige Quelle des kindlichen Lernens ist die<br />

Beobachtung des Verhaltens anderer Menschen. Eltern, die sich<br />

häufig darüber amüsieren <strong>und</strong> manchmal auch in Verlegenheit<br />

geraten, wenn ihre Kinder ihr eigenes Verhalten nachmachen,<br />

sind sich sehr bewusst, dass ihr Nachwuchs vieles einfach durch<br />

Beobachtung lernt.<br />

Die Fähigkeit, das Verhalten anderer zu <strong>im</strong>itieren, scheint<br />

schon sehr früh <strong>im</strong> Leben vorhanden zu sein, wenngleich zunächst<br />

in deutlich eingeschränkter Weise. Meltzoff <strong>und</strong> Moore<br />

(1977, 1983) fanden, dass Neugeborene ihre Zunge häufig herausstrecken,<br />

wenn sie ein erwachsenes Modell dabei beobachtet<br />

haben, wie es langsam <strong>und</strong> wiederholt seine Zunge herausstreckt.<br />

Im Alter von sechs Monaten ist das Nachahmungsverhalten von<br />

Kindern recht stabil. Kinder in diesem Alter machen nicht nur<br />

das Zungerausstrecken nach, sondern versuchen auch, ihre Zunge<br />

ausgestreckt seitwärts zu biegen, wenn sie das bei einem Erwachsenen<br />

gesehen haben (Meltzoff <strong>und</strong> Moore 1994). Ab diesem Alter<br />

erweitert sich der Bereich dessen, was Kinder <strong>im</strong>itieren. Sie<br />

machen neuartige Handlungen nach, die sie <strong>im</strong> Umgang mit Objekten<br />

beobachtet haben. In einem Verfahren, das dies vorführt,<br />

beobachten die Säuglinge einen Versuchsleiter, der einen ungewöhnlichen<br />

Umgang mit Gegenständen an den Tag legt, indem er<br />

etwa den Rumpf vornüber beugt, um mit der Stirn einen Kasten<br />

zu berühren, woraufhin der Kasten aufleuchtet. Einige Zeit nachdem<br />

sie eine solche Vorführung gesehen haben, erhalten die Kinder<br />

dieselben Objekte, mit denen der Versuchsleiter etwas getan<br />

hatte. Schon zwischen sechs <strong>und</strong> neun Monaten <strong>im</strong>itieren Kinder<br />

einige der neuartigen Handlungen, deren Zeuge sie waren, selbst<br />

nach einem zeitlichen Abstand von 24 h (Barr et al. 1996; Bauer<br />

2002; Hayne et al. 2003; Meltzoff 1988b), <strong>und</strong> mit 14 Monaten gelingt<br />

dies sogar noch nach einer ganzen Woche (Meltzoff 1988a).<br />

Kleinkinder, die sich entschließen, ein Modell nachzuahmen,<br />

analysieren offenbar die Gründe für das Verhalten dieses Menschen.<br />

Kinder, die sehen, wie sich ein Modell vornüber beugt<br />

<strong>und</strong> mit der Stirn einen Kasten berührt, tun später das Gleiche.<br />

Wenn aber die Modellperson bemerkt, dass sie friert, <strong>und</strong> einen<br />

Schal fest um ihren Körper zieht, während sie sich vornüber


Lernen<br />

183 5<br />

Als Erwachsene haben wir viele Vorstellungen über die Welt<br />

<strong>und</strong> sind gewöhnlich überrascht, wenn die Welt nicht den Era<br />

b<br />

..<br />

Abb. 5.14 Die Nachahmung von Absichten. a Sehen 18 Monate alte Kinder zu, wie eine Person offensichtlich versucht, die Enden einer kleinen Hantel<br />

abzuziehen, <strong>und</strong> daran scheitert, so <strong>im</strong>itieren sie das Abziehen der Hantelenden – also die beabsichtigte Handlung der Person, <strong>und</strong> nicht das, was die Person<br />

tatsächlich tat. b Eine mechanische Vorrichtung <strong>im</strong>itieren sie überhaupt nicht. (Aus Meltzoff 1995a)<br />

beugt <strong>und</strong> den Kasten mit der Stirn berührt, dann greifen die<br />

Kinder nach dem Kasten <strong>und</strong> berühren ihn mit der Hand anstatt<br />

mit dem Kopf (Gergely et al. 2002). Sie schlussfolgern offenbar,<br />

dass das Modell den Kasten anfassen wollte <strong>und</strong> das auch in der<br />

üblichen Weise getan hätte, wenn es die Hände frei gehabt hätte.<br />

Die Nachahmung basiert also darauf, wie die Kinder die Absichten<br />

des Menschen analysieren. Allgemein sind Kinder be<strong>im</strong><br />

Lernen durch Nachahmung flexibel; so wie be<strong>im</strong> Berühren des<br />

Kastens können sie entweder das spezifische Verhalten kopieren,<br />

mit dem das Modell ein Ziel erreicht, oder aber sie können sich<br />

unterschiedlicher Verhaltensweisen bedienen, um dasselbe Ziel<br />

zu erreichen wie das Modell (Buttelmann et al. 2008).<br />

Weitere Belege für das Beachten von Handlungsabsichten<br />

stammen aus Forschungen, in denen Kinder von 18 Monaten<br />

beobachteten, wie ein Erwachsener – erfolglos – versuchte, eine<br />

kleine Spielzeughantel auseinanderzunehmen (Meltzoff 1995a).<br />

Der Erwachsene zog an beiden Enden, aber seine Hand „rutschte<br />

ab“, <strong>und</strong> die Hantel blieb ganz (. Abb. 5.14a). Als die Kinder später<br />

selbst das Spielzeug in die Hand bekamen, zogen sie die beiden<br />

Enden auseinander <strong>und</strong> machten somit nach, was der Erwachsene<br />

zu tun beabsichtigte, <strong>und</strong> nicht, was er tatsächlich tat. Diese<br />

Untersuchung bewies auch, dass sich die Nachahmungshandlungen<br />

von Kindern auf Handlungen von Menschen beschränken.<br />

Eine andere Gruppe von gleichaltrigen Kindern beobachtete eine<br />

mechanische Vorrichtung mit Greifzangen, die die beiden Enden<br />

der Hantel festhielten. Entweder zerlegten die Greifzangen<br />

die Hantel, oder sie rutschten an den Enden ab (. Abb. 5.14b).<br />

Gleich, was die Kinder an der mechanischen Vorrichtung beobachtet<br />

hatten: Sie versuchten selbst nur selten, die Hantel auseinanderzunehmen.<br />

Kinder versuchen also, das Verhalten <strong>und</strong> die<br />

Absichten anderer Menschen zu reproduzieren, nicht aber die<br />

Verrichtungen unbelebter Objekte.<br />

Babys beschränken sich keineswegs darauf, aus dem Verhalten<br />

anwesender Erwachsener Modelle zu lernen. Schon mit<br />

15 Monaten <strong>im</strong>itieren sie Handlungen, die sie einen Erwachsenen<br />

<strong>im</strong> Fernsehen haben ausführen sehen (Barr <strong>und</strong> Hayne 1999;<br />

Meltzoff 1988a). Auch Gleichaltrige können bereits als Modell<br />

dienen: 14 Monate alte „Experten“-Peers mit entsprechender<br />

Übung machten ihren Altersgenossen – in der Kindertagesstätte<br />

oder <strong>im</strong> Labor – neuartige Handlungen vor (Hanna <strong>und</strong> Meltzoff<br />

1993). Beispielsweise drückten sie auf einen Knopf, der in einer<br />

Schachtel verborgen war, um einen Brummton auszulösen. Als<br />

die Kinder, die diesen Vorgang beobachtet hatten, 48 h später zu<br />

Hause getestet wurden, machten sie das nach, was sie bei dem<br />

gleichaltrigen Kind als Modell zuvor gesehen hatten.<br />

Die gegenwärtige Forschung konzentriert sich auf die neuronalen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen des Nachahmungslernens. Besonders viel Aufmerksamkeit<br />

gilt hier einem möglichen Ort für das Nachahmen,<br />

der mit einem System sogenannter Spiegelneurone zusammenhängt,<br />

das zuerst <strong>im</strong> ventralen prämotorischen Cortex bei (nichtmenschlichen)<br />

Pr<strong>im</strong>aten gef<strong>und</strong>en wurde (z. B. Gallese et al. 1996;<br />

Rizzolatti <strong>und</strong> Craighero 2004). Wie sich bei Untersuchungen mit<br />

Makaken zeigt, wird dieses System aktiviert, wenn der Makake<br />

Handlungen ausführt oder auch nur beobachtet, wie andere Makaken<br />

(oder Menschen) dieselbe Handlung ausführen. Der Makake<br />

reagiert gleichsam so, als sähe er seine Handlung <strong>im</strong> Spiegel – daher<br />

der Name Spiegelneurone. (Diese Neurone wurden entdeckt, als<br />

Neurowissenschaftler <strong>im</strong> Labor die Gehirnaktivität von Makaken<br />

aufzeichneten <strong>und</strong> ein Versuchshelfer zufällig eine Eistüte an den<br />

M<strong>und</strong> führte; der Affe sah das, <strong>und</strong> in seinem prämotorischen<br />

Cortex feuerten die Neurone so, als würde er selbst das Eis essen.)<br />

Inwieweit dasselbe System der Spiegelneurone be<strong>im</strong> Menschen<br />

vorhanden ist <strong>und</strong> welche Auswirkungen es in verschiedenen Verhaltensbereichen<br />

hat (sofern es überhaupt Auswirkungen gibt), ist<br />

eine heiß diskutierte Frage. Allerdings haben Forscher eine Reihe<br />

von neuronalen Aktivierungsmustern <strong>im</strong> Gehirn von Säuglingen<br />

beobachtet, die mit der Hypothese der Spiegelneurone in Einklang<br />

stehen: Die beobachteten Aktivierungsmuster, die bei den Säuglingen<br />

durch das Beobachten einer Handlung ausgelöst wurden,<br />

ähnelten den Aktivierungsmustern, die ausgelöst wurden, wenn<br />

der Säugling dieselbe Handlung selbst ausführte (Marshall <strong>und</strong><br />

Meltzoff 2011). Zukünftige Untersuchungen mit neurowissenschaftlichen<br />

Methoden dürften mehr Klarheit darüber schaffen,<br />

was der Nachahmung zugr<strong>und</strong>e liegt, <strong>und</strong> spezifizieren, was die<br />

Säuglinge be<strong>im</strong> Beobachten einer Handlung tatsächlich encodieren<br />

<strong>und</strong> wie diese Information in eigenes Handeln umgesetzt wird.<br />

Rationales Lernen


184<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

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21<br />

22<br />

23<br />

wartungen entspricht, die wir aus diesen Vorstellungen ableiten.<br />

Wir können dann unsere Erwartungen anhand neuer Information,<br />

die wir gerade bekommen haben, anpassen. Beispielsweise<br />

kann man nach einem Besuch in einem Chinarestaurant den<br />

Schluss ziehen, dass man auch be<strong>im</strong> nächsten Besuch dort wieder<br />

ein chinesisches Gericht essen kann, <strong>und</strong> diese Erwartung<br />

würde enttäuscht, falls bei diesem Besuch nur mexikanische<br />

Speisen auf der Karte stehen sollten. In diesem Fall würde man<br />

seine Erwartungen an die Küche dieses Restaurants revidieren.<br />

Ähnlich geht man in der Wissenschaft mit solchen Rückschlüssen<br />

aus Beobachtungsdaten um – unter anderem dann, wenn<br />

man aus Daten bei Stichproben einer best<strong>im</strong>mten Population<br />

Vorhersagen über diese Population ableitet. Auch Säuglinge<br />

können Erfahrungen nutzen, um Erwartungen über das, was<br />

als Nächstes geschehen wird, zu entwickeln. Dieser Prozess wird<br />

als rationales Lernen bezeichnet, weil es eine Integration von<br />

bereits bestehenden Vorstellungen <strong>und</strong> Fehlvorstellungen mit<br />

dem, was gerade in der Umwelt vor sich geht, einschließt (Xu<br />

<strong>und</strong> Kushnir 2013).<br />

Rationales Lernen – Die Fähigkeit, aus zurückliegenden Erfahrungen Vorhersagen<br />

über das abzuleiten, was in Zukunft passieren wird.<br />

In einer elegant konstruierten Studie haben Xu <strong>und</strong> Garcia (2008)<br />

gezeigt, dass acht Monate alte Kinder bei einfachen Ereignissen<br />

Voraussagen entwickeln konnten. Den Kindern wurde eine Kiste<br />

mit 75 Tennisbällen gezeigt, von denen 70 rot gefärbt waren <strong>und</strong> 5<br />

weiß. Anschließend beobachteten die Kinder die Exper<strong>im</strong>entatorin<br />

dabei, wie sie direkt vor ihren Augen (um es zufällig aussehen<br />

zu lassen) fünf Bälle aus der Kiste nahm – entweder vier weiße<br />

<strong>und</strong> einen roten oder vier rote <strong>und</strong> einen weißen – <strong>und</strong> diese anschließend<br />

zur Schau stellte. (Tatsächlich holte sie die scheinbar<br />

zufällig gezogenen Bälle aus einem versteckten Fach in der Kiste.)<br />

Die Kinder blickten länger auf die vier weißen Bälle, was auf ihre<br />

Überraschung darüber hinweist, dass aus dem Kasten mit überwiegend<br />

roten Bällen fast nur weiße Bälle gezogen worden waren.<br />

(Weiter unten in diesem Kapitel werden wir das Paradigma der<br />

Erwartungsverletzung zurückkommen, bei dem man die kindliche<br />

„Überraschung“ durch unerwartete Ereignisse nutzt, um Rückschlüsse<br />

auf die jeweiligen Erwartungen zu ziehen.) Allerdings ist<br />

zu beachten, dass keine Überraschung ausgelöst wurde, sobald für<br />

die Kinder klar ersichtlich war, dass die ausgestellten Bälle nicht<br />

aus der Kiste stammten (sondern beispielsweise aus der Jackentasche<br />

der Exper<strong>im</strong>entatorin), oder wenn sie sehen konnten, dass die<br />

Bälle in der Kiste alle festgeklebt waren <strong>und</strong> nicht herausgenommen<br />

werden konnten (Denison <strong>und</strong> Xu 2010; Teglas et al. 2007,<br />

2011; Xu <strong>und</strong> Denison 2009). Bereits sechs Monate alte Kinder<br />

scheinen also die Verteilung von Elementen (hier der beiden Farben)<br />

als Informationsquelle für zukünftige Ereignisse aufmerksam<br />

wahrzunehmen (Denison et al. 2013). In verschiedenen Bereichen<br />

ergaben sich bei Aufgaben zum Erlernen von Wörtern bis hin zu<br />

sozialen Interaktionen ähnliche Bef<strong>und</strong>e, die vermuten lassen,<br />

dass die Kinder aus bekannten Daten offenbar Erwartungen für<br />

zukünftige Ereignisse ableiten <strong>und</strong> dass sie neue Erfahrungen heranziehen,<br />

um ihre Schlussfolgerungen für die Zukunft anzupassen<br />

(z. B. Schulz 2012; Xu <strong>und</strong> Kushnir 2013).<br />

In Kürze | |<br />

Kinder beginnen von Geburt an, etwas über die Welt zu lernen.<br />

Sie habituieren auf wiederholt auftretende Reize, bilden<br />

Erwartungen über sich wiederholende Ereignisfolgen <strong>und</strong><br />

lernen Assoziationen zwischen best<strong>im</strong>mten optischen <strong>und</strong><br />

akustischen Eindrücken, die regelmäßig zusammen auftreten.<br />

Das klassische Konditionieren, das man bei Neugeborenen<br />

<strong>und</strong> älteren Säuglingen nachgewiesen hat, scheint besonders<br />

wichtig be<strong>im</strong> Lernen emotionaler Reaktionen zu sein.<br />

Säuglinge sind für eine Vielzahl von Kontingenzbeziehungen<br />

zwischen ihrem eigenen Verhalten <strong>und</strong> seinen Folgen hochempfänglich.<br />

Eine bei älteren Säuglingen besonders wirksame<br />

Form des Lernens ist das Beobachtungslernen: Ab dem Alter<br />

von sechs Monaten lernen Kinder viele neue Verhaltensweisen<br />

einfach durch die Beobachtung dessen, was andere tun. Auch<br />

wenn <strong>im</strong> Verlauf der frühen Kindheit eine enorme Menge<br />

an Lernprozessen abläuft, können Babys manche Assoziationen<br />

oder Beziehungen leichter lernen als andere. Be<strong>im</strong><br />

Beobachtungslernen beispielsweise spielt die Intentionalität<br />

(die Handlungsabsicht) des Modells eine zentrale Rolle. Und<br />

schlussendlich sind Kleinkinder in der Lage, aus gesammelten<br />

Erfahrungen rationale Erwartungen für die Zukunft abzuleiten.<br />

Kognition<br />

Es ist klar, dass Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder auf vielerlei Weise lernen<br />

können. Aber denken sie auch? Diese Frage fasziniert Eltern<br />

<strong>und</strong> Entwicklungspsychologen gleichermaßen. Die Eltern von<br />

Baby Benjamin haben ihr Kind zweifellos mit Staunen betrachtet<br />

<strong>und</strong> sich gefragt: „Was denkt er? Denkt er überhaupt?“ Im<br />

Verlauf etwa der vergangenen 20 Jahre haben Entwicklungsforscher<br />

große Anstrengungen unternommen, um herauszufinden,<br />

in welchem Umfang sich Säuglinge kognitiv betätigen (wissen,<br />

denken, schlussfolgern). Es gab geradezu eine Explosion von<br />

faszinierenden Forschungsarbeiten mit dem Ergebnis, dass die<br />

kognitiven Fähigkeiten in der frühen Kindheit weit beeindruckender<br />

sind, als man zunächst annahm. Der Ursprung <strong>und</strong> das<br />

Wesen dieser eindrucksvollen Fähigkeiten blieb jedoch Gegenstand<br />

heftiger Debatten. Insbesondere gehen die Meinungen von<br />

Theoretikern zur Rolle von Anlage <strong>und</strong> Umwelt in der kognitiven<br />

Entwicklung auseinander, insbesondere bei der Frage, ob Entwicklung<br />

von angeborenen Wissensstrukturen <strong>und</strong> zielspezifischen<br />

Lernmechanismen oder allgemeinen Lernmechanismen<br />

geleitet wird, die in allen Bereichen relevant sind.<br />

Wieder einmal entzündet sich die Debatte hauptsächlich<br />

zwischen Nativisten <strong>und</strong> Empiristen. Einige Nativisten behaupten,<br />

dass Säuglinge in wichtigen Bereichen über ein angeborenes<br />

Wissen verfügen (Carey <strong>und</strong> Spelke 1994; Gelman 2002; Gelman<br />

<strong>und</strong> Williams 1998; Scholl <strong>und</strong> Leslie 1999; Spelke 2000; Spelke<br />

<strong>und</strong> Kinzler 2007). Wie in ▶ Kap. 7 noch näher erläutert wird,<br />

halten diese Nativisten daran fest zu behaupten, dass Kinder mit<br />

einigem Wissen über die physikalische Welt geboren werden,<br />

beispielsweise über die Tatsache, dass zwei Objekte nicht den-


Kognition<br />

185 5<br />

selben Ort einnehmen können oder dass physikalische Objekte<br />

sich nur bewegen, wenn sie durch eine Kraft in Bewegung gesetzt<br />

werden. Sie nehmen auch an, dass Kinder ein rud<strong>im</strong>entäres Verständnis<br />

<strong>im</strong> Bereich von Biologie <strong>und</strong> Psychologie haben. Andere<br />

Nativisten betonen, dass Kinder über spezialisierte Lernmechanismen<br />

verfügen, mit deren Hilfe sie Wissen in diesen Bereichen<br />

schnell <strong>und</strong> effektiv erwerben können (Baillargeon 2004; Baillargeon<br />

et al. 1996). Empiristen wiederum betonen die allgemeinen<br />

Lernmechanismen, durch welche die mentalen Repräsentationen<br />

der physikalischen Welt von den Kindern nach <strong>und</strong> nach<br />

erworben <strong>und</strong> angereichert werden (Munakata et al. 1997). Auf<br />

diese Debatte werden wir in ▶ Kap. 7 <strong>im</strong> Zusammenhang mit<br />

der Entwicklung von Konzepten <strong>im</strong> Detail zurückkommen. In<br />

den verbleibenden Abschnitten dieses Kapitels wollen wir die<br />

Bef<strong>und</strong>e zu den kognitiven Fähigkeiten <strong>und</strong> Grenzen diskutieren,<br />

an deren genauer Erklärung Nativisten <strong>und</strong> Empiristen gleichermaßen<br />

arbeiten.<br />

Gegenstandswissen<br />

Ein großer Teil dessen, was wir über die Kognition von kleinen<br />

Kindern wissen, hat seinen Ursprung in Forschungsarbeiten über<br />

die Entwicklung des Objektwissens; solche Forschungen waren<br />

ursprünglich durch Jean Piagets Theorie der sensomotorischen<br />

Intelligenz inspiriert. Wie Sie in ▶ Kap. 4 erfahren haben, nahm<br />

Piaget an, dass das Verständnis der Welt bei Kleinkindern stark<br />

durch ihre Unfähigkeit eingeschränkt ist, Dinge, die sie <strong>im</strong> jeweiligen<br />

Moment nicht sehen, hören, anfassen etc. können, mental<br />

zu repräsentieren <strong>und</strong> über sie nachzudenken. Seine Tests zur<br />

Objektpermanenz führten Piaget zu dem Schluss, dass ein Säugling<br />

nach einem Objekt, das aus dem Blickfeld verschw<strong>und</strong>en ist,<br />

nicht sucht – nicht einmal dann, wenn es sein Lieblingsspielzeug<br />

ist –, weil dieser Gegenstand auch aus dem Bewusstsein des <strong>Kindes</strong><br />

verschw<strong>und</strong>en ist.<br />

Eine beträchtliche Anzahl von Forschungsarbeiten stützte<br />

Piagets ursprüngliche Beobachtung, dass Säuglinge nach versteckten<br />

Objekten nicht aktiv suchen. Wie wir in ▶ Kap. 4 bereits<br />

erwähnt haben, wuchsen mit der Zeit aber die Zweifel an seiner<br />

Erklärung dieses faszinierenden Phänomens, <strong>und</strong> eine überwältigende<br />

Zahl von Studien bewies, dass Kleinstkinder sehr wohl<br />

<strong>im</strong>stande sind, momentan nicht sichtbare Objekte <strong>und</strong> Ereignisse<br />

mental zu repräsentieren <strong>und</strong> über ihr Auftreten nachzudenken.<br />

Der einfachste Nachweis für diese Fähigkeit ergibt sich aus<br />

der Tatsache, dass Säuglinge <strong>im</strong> Dunkeln nach Objekten greifen;<br />

sie greifen also nach Gegenständen, die sie nicht sehen können.<br />

Wenn man ihnen einen attraktiven Gegenstand zeigt <strong>und</strong> den<br />

Raum dann verdunkelt, was dazu führt, dass der Gegenstand<br />

(wie alles andere auch) aus dem Sichtfeld verschwindet, dann<br />

greifen die meisten Babys dorthin, wo sie das Objekt zuletzt sahen,<br />

<strong>und</strong> zeigen damit, dass sie von der Erwartung ausgehen, es<br />

befinde sich <strong>im</strong>mer noch dort (Perris <strong>und</strong> Clifton 1988; Stack<br />

et al. 1989).<br />

Säuglinge scheinen sich sogar einige Merkmale von nicht<br />

sichtbaren Objekten vorstellen zu können, etwa deren Größe<br />

(Clifton et al. 1991). Wenn Kinder <strong>im</strong> Alter von sechs Monaten<br />

<strong>im</strong> Dunkeln sitzen <strong>und</strong> das Geräusch eines ihnen vertrauten großen<br />

Objekts hören, greifen sie mit beiden Händen danach (so wie<br />

sie es <strong>im</strong> Hellen tun); sie greifen aber mit nur einer Hand nach<br />

dem fraglichen Gegenstand, wenn das Geräusch, das sie hören,<br />

zu einem ihnen vertrauten kleinen Objekt gehört.<br />

Die Mehrzahl der Belege dafür, dass Säuglinge unsichtbare<br />

Objekte repräsentieren <strong>und</strong> zum Gegenstand ihres Denkens machen<br />

können, stammt aus Forschungen mit dem Verfahren der<br />

Erwartungsverletzung. Das Prinzip ist der bereits zu Beginn<br />

dieses Kapitels dargestellten Methode der Blickpräferenz ähnlich.<br />

Die Gr<strong>und</strong>annahme lautet: Wenn Säuglinge ein Ereignis beobachten,<br />

das <strong>im</strong> Widerspruch zu ihrem Wissen darüber steht, wie<br />

die Welt normalerweise beschaffen ist, dann werden sie überrascht<br />

sein oder zumindest verstärktes Interesse zeigen. Ein Ereignis,<br />

das unmöglich ist oder nicht mit dem Wissen des <strong>Kindes</strong><br />

übereinst<strong>im</strong>mt, sollte somit eine stärkere Reaktion (eine längere<br />

Blickzuwendung oder einen veränderten Puls) hervorrufen als<br />

ein mögliches oder mit dem Weltwissen konsistentes Ereignis.<br />

Erwartungsverletzung – Ein Verfahren zur Untersuchung des kindlichen Denkens,<br />

bei dem man Kleinkindern ein Ereignis zeigt, das Überraschung oder Interesse<br />

auslösen sollte, falls es dem widerspricht, was das Kind weiß oder für<br />

zutreffend hält.<br />

Die Technik der Erwartungsverletzung wurde zuerst von Renée<br />

Baillargeon <strong>und</strong> ihren Mitautoren (Baillargeon et al. 1985) in<br />

einer klassischen Untersuchungsreihe eingesetzt, um herauszufinden,<br />

ob Kinder, die zu jung sind, um nach einem unsichtbaren<br />

Objekt zu suchen, vielleicht dennoch eine mentale Repräsentation<br />

von dessen Existenz besitzen. In einigen dieser Untersuchungen<br />

wurden die Kinder zunächst darauf habituiert, dass ein<br />

Sichtschirm um 180° vor- <strong>und</strong> zurückklappte (. Abb. 5.15). Dann<br />

wurde auf dem Weg, den der Schirm überstrich, eine Schachtel<br />

platziert, <strong>und</strong> die Kinder sahen zwei Testereignisse. Bei dem möglichen<br />

Ereignis klappte der Sichtschirm hoch, verdeckte den Blick<br />

auf die Schachtel <strong>und</strong> kam zum Stillstand, als er an diese anstieß.<br />

Bei dem unmöglichen Ereignis klappte der Sichtschirm um volle<br />

180° ungehindert nach hinten weg, was so aussah, als ob er sich<br />

durch den Raum hindurchbewegte, den die Schachtel einnahm<br />

(der Versuchsleiter hatte sie he<strong>im</strong>lich weggestellt).<br />

Schon mit dreieinhalb Monaten betrachteten die Säuglinge<br />

das unmögliche Ereignis länger als das mögliche Ereignis. Die<br />

Forscher nahmen an, dass das vollständige Zurückklappen des<br />

Sichtschirmes (auf das die Kinder zuvor ja habituiert worden waren)<br />

nur dann interessanter oder überraschender sein konnte,<br />

wenn die Kinder erwartet hatten, dass der Schirm, wenn er die<br />

Schachtel erreicht, zum Stillstand kommen würde. Und der einzige<br />

Gr<strong>und</strong> dafür, warum sie eine solche Erwartung gehabt haben<br />

konnten, besteht darin, dass sie annahmen, die Schachtel existiere<br />

noch – was bedeutet, dass sie ein Objekt, das sie nicht mehr<br />

sehen konnten, mental noch repräsentiert hatten. Außerdem erwarteten<br />

die Säuglinge offenbar, dass die Schachtel an ihrem Ort<br />

blieb, <strong>und</strong> nicht, dass sich der Sichtschirm durch die Schachtel<br />

hindurchbewegen könnte.<br />

Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass einige Merkmale<br />

des verdeckten Gegenstands, darunter seine Höhe, das Ver-


186<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

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b<br />

c<br />

d<br />

..<br />

Abb. 5.15 Mögliche versus unmögliche Ereignisse. In einer klassischen<br />

Untersuchungsreihe zur Objektpermanenz habituierte Renée Baillargeon<br />

Säuglinge zuerst auf den Anblick eines Schirmes, der um 180° vor- <strong>und</strong> zurückklappte<br />

(a). Dann stellte man dem Schirm eine Schachtel in den Weg (b).<br />

Be<strong>im</strong> möglichen Ereignis klappte der Schirm hoch, verdeckte die Schachtel<br />

<strong>und</strong> kam zum Stillstand, als er an den oberen Rand der Schachtel stieß (c).<br />

Be<strong>im</strong> unmöglichen Ereignis klappte der Schirm hoch, verdeckte die Schachtel<br />

<strong>und</strong> rotierte die vollen 180°, was den Anschein erweckte, als bewege er<br />

sich durch den Raum, den die Schachtel einnahm (d). Die Kinder schauten<br />

zu dem unmöglichen Ereignis länger hin <strong>und</strong> zeigten dadurch, dass sie das<br />

Vorhandensein der nicht sichtbaren Schachtel mental repräsentierten. (Aus<br />

Baillargeon 1987a)<br />

halten der Säuglinge in dieser Situation beeinflussen (Baillargeon<br />

1987a, 1987b). Sie erwarten, dass der Schirm bei einer höheren<br />

Schachtel früher zum Stillstand kommt als bei einer niedrigeren.<br />

Mit zwei sehr unterschiedlichen Versuchsanordnungen – dem<br />

Greifen <strong>im</strong> Dunkeln <strong>und</strong> der visuellen Aufmerksamkeit – gelangten<br />

Forscher also zu übereinst<strong>im</strong>menden Belegen, dass Säuglinge,<br />

die nicht nach verborgenen Gegenständen suchen, gleichwohl<br />

deren fortdauernde Existenz <strong>und</strong> einige ihrer Merkmale repräsentieren<br />

können.<br />

Physikalisches Wissen<br />

Das Wissen von Säuglingen über die physikalische Welt ist nicht<br />

darauf begrenzt, was sie über Gegenstände wissen <strong>und</strong> lernen.<br />

Andere Forschungen untersuchten, was sie über physikalische<br />

Phänomene denken, zum Beispiel über die Schwerkraft. Schon<br />

a<br />

b<br />

c<br />

d<br />

..<br />

Abb. 5.16 Zum Verstehen der Lagestabilität. Säuglinge sind sich schon in<br />

den ersten Lebensmonaten bewusst, dass ein Gegenstand nicht durch die<br />

Luft schweben kann, doch beginnen sie erst allmählich zu verstehen, unter<br />

welchen Bedingungen ein Gegenstand durch einen anderen gestützt werden<br />

kann. (Nach Baillargeon 1998)<br />

<strong>im</strong> ersten Lebensjahr scheinen Kleinkinder zu wissen, dass Objekte<br />

nicht durch die Luft schweben, dass ein Objekt ohne hinreichende<br />

Unterlage herunterfallen wird, dass ein eckiges (nicht<br />

rollendes) Objekt, das man auf eine stabile Fläche stellt, so stehen<br />

bleiben wird, <strong>und</strong> so weiter. Zum Beispiel zeigte sich in einer<br />

Untersuchungsreihe (K<strong>im</strong> <strong>und</strong> Spelke 1992), in der Kleinkinder<br />

zusahen, wie man einen Ball an einer Steigung losließ, dass<br />

Kinder mit sieben (aber noch nicht mit fünf) Monaten länger<br />

auf einen Ball blickten, der eine Steigung hinaufrollte, als wenn


Kognition<br />

187 5<br />

er hinunterrollte; offensichtlich hatten sie die Abwärtsbewegung<br />

erwartet. In ähnlicher Weise betrachteten sie ein Objekt, das sich<br />

auf seinem Weg eine Schräge hinunter verlangsamte, länger als<br />

ein Objekt, das auf dem Weg nach unten schneller wurde.<br />

Auch verstehen Kinder <strong>im</strong> Laufe der Zeit, unter welchen Bedingungen<br />

ein Objekt stabil auf einem anderen Objekt aufliegen<br />

kann. In . Abb. 5.16 sind die Reaktionen von Kindern auf einfache<br />

Aufgaben zusammengefasst, in denen Schachteln <strong>und</strong> ein Podest<br />

vorkamen (Baillargeon et al. 1992; Needham <strong>und</strong> Baillargeon<br />

1993). Mit drei Monaten sind Kinder überrascht (sie sehen länger<br />

hin), wenn eine Schachtel mitten <strong>im</strong> Raum losgelassen wird <strong>und</strong><br />

sozusagen in der Luft hängen bleibt, ohne herunterzufallen (wie<br />

in . Abb. 5.16a). Solange jedoch irgendein Kontakt zwischen der<br />

Schachtel <strong>und</strong> dem Podest besteht (wie in . Abb. 5.16b <strong>und</strong> c), reagieren<br />

Kinder in diesem frühen Alter nicht, wenn die Schachtel<br />

an Ort <strong>und</strong> Stelle bleibt. Mit etwa fünf Monaten sind sie sich der<br />

Relevanz bewusst, welche die Art des Kontakts für die Stützfunktion<br />

einer Unterlage besitzt. Sie wissen jetzt, dass die Schachtel<br />

nur ortsstabil bleibt, wenn sie oben auf dem Podest losgelassen<br />

wird, sodass sie von der Anordnung in . Abb. 5.16b überrascht<br />

wären. Ungefähr einen Monat später erkennen sie die Bedeutung<br />

des Ausmaßes an Kontakt, weshalb sie jetzt die Anordnung<br />

in . Abb. 5.16c länger betrachten, in der die Schachtel auf dem<br />

Podest stehen bleibt, obwohl sich nur ein sehr kleiner Teil ihrer<br />

Unterseite auf dem Podest befindet. Kurz nach ihrem ersten Geburtstag<br />

berücksichtigen Kinder dann auch die Form des Objekts<br />

<strong>und</strong> sind deshalb überrascht, wenn ein asymmetrisches Objekt<br />

wie in . Abb. 5.16d stabil liegen bleibt.<br />

Vermutlich entwickeln Säuglinge dieses zunehmend verfeinerte<br />

Verstehen der Lagestabilität zwischen Objekten als Resultat<br />

ihrer Erfahrung. Sie beobachten bei zahllosen Gelegenheiten, wie<br />

Erwachsene Gegenstände auf Oberflächen abstellen, <strong>und</strong> ab <strong>und</strong><br />

an erleben sie die Folgen einer unzureichenden Unterlage, so wie<br />

Benjamin bei dem zersplitterten Kristallglas. Zusätzliche Daten<br />

sammeln sie natürlich durch ihre eigene Handhabung von Objekten,<br />

die weit mehr Beweise dafür liefert, als ihren Eltern lieb<br />

ist – etwa wenn eine Tasse voll Milch nicht auf der Tischkante<br />

des Hochstuhles stehen bleibt.<br />

Soziales Wissen<br />

Zusätzlich zum Wissenserwerb über die physikalische Welt müssen<br />

Kinder etliches über die soziale Welt lernen – über Menschen<br />

<strong>und</strong> ihr Verhalten. Ein wichtiger Aspekt des sozialen Wissens,<br />

der schon früh hervortritt, besteht darin zu wissen, dass das Verhalten<br />

anderer zweck- <strong>und</strong> zielgerichtet ist. Amanda Woodward<br />

(1998) untersuchte sechs Monate alte Säuglinge, denen auf einem<br />

Bildschirm gezeigt wurde, wie eine Hand wiederholt nach<br />

einem von zwei benachbarten Gegenständen griff (. Abb. 5.17).<br />

Dann wurden die Positionen dieser Gegenstände vertauscht, <strong>und</strong><br />

wieder griff die Hand nach demselben Gegenstand. Die Frage<br />

war, ob die Säuglinge das wiederholte Greifverhalten als objektgerichtetes<br />

Greifen nach demselben Gegenstand interpretierten.<br />

Das taten sie, wie sich darin zeigte, dass sie länger hinschauten,<br />

wenn die Hand nach einem neuen Gegenstand (am alten Platz)<br />

griff, als dann, wenn sie wie zuvor nach demselben Gegenstand<br />

(am neuen Platz) griff. Die Säuglinge interpretierten das Greifverhalten<br />

also als objektgerichtet. Jedoch galt das nur für eine<br />

Menschenhand; eine andere Gruppe von Säuglingen, die einen<br />

mechanischen Arm sahen, reagierte anders. (Diese Untersuchung<br />

könnte Sie an diejenige von Meltzoff (1995b) erinnern, in<br />

der etwas größere Säuglinge zwar die Handlungen von Menschen<br />

<strong>im</strong>itierten, nicht aber die eines mechanischen Geräts.) Etwas ältere<br />

Kinder (<strong>im</strong> Alter von elf Monaten) konnten nach demselben<br />

Training mit der greifenden Hand (. Abb. 5.17a) korrekt vorhersagen,<br />

was die Hand als Nächstes tun wird, wie sich an ihren Augenbewegungen<br />

in Richtung des Zielobjekts vor dem Auftauchen<br />

dieses Objekts auf dem Bildschirm erkennen ließ (Cannon <strong>und</strong><br />

Woodward 2012).<br />

Untersuchungen von Sommerville et al. (2005) bewiesen,<br />

dass das Verständnis der Säuglinge von der zielgerichteten Natur<br />

der Handlungen eines anderen mit ihren eigenen Erfahrungen<br />

be<strong>im</strong> Erreichen eines Zieles zusammenhängen. Säuglinge von<br />

drei Monaten, die Gegenstände noch nicht aufheben konnten,<br />

stattete man mit Klettbandfäustlingen aus (wie den in ▶ Kap. 4<br />

beschriebenen), sodass sie Spielzeuge, die mit Klettband versehen<br />

waren, aufheben konnten. Ihre kurze Erfahrung, dass sie Gegenstände<br />

erfolgreich „zu fassen bekommen“, befähigte sie, das zielgerichtete<br />

Greifen anderer <strong>im</strong> oben beschriebenen Woodward-<br />

Verfahren (. Abb. 5.17) einige Monate früher zu verstehen, als es<br />

ansonsten zu erwarten wäre.<br />

Mehr über das Verstehen von Intentionalität legten Studien<br />

offen, in denen größere Säuglinge sogar unbelebten Dingen Absichten<br />

<strong>und</strong> Ziele zuschreiben, wenn sich diese Objekte wie Menschen<br />

zu „verhalten“ scheinen. In einer Untersuchung von Susan<br />

Johnson stellte die Versuchsleiterin zwölf bis 15 Monate alten Kindern<br />

ein gesichtsloses, augenloses Plüschkissen vor, das Laute von<br />

sich gab <strong>und</strong> sich als Reaktion auf das, was die Versuchsleiterin<br />

oder das Kind tat, bewegte, also normale menschliche Interaktion<br />

s<strong>im</strong>ulierte (Johnson 2003; Johnson et al. 1998; . Abb. 5.18). Wenn<br />

sich das Plüschkissen anschließend in eine best<strong>im</strong>mte Richtung<br />

wandte, schauten die Säuglinge in diese Richtung. Sie schienen<br />

also dem „Blick“ des Plüschkissens zu folgen, so wie sie es bei<br />

einem Menschen in der Annahme täten, dass dieser Mensch sich<br />

umgewandt hat, um etwas anzuschauen. Wenn sich das Plüschkissen<br />

jedoch anfangs nicht auf ihr eigenes Verhalten bezogen<br />

verhalten hatte, dann folgten sie seiner „Blick“-Richtung nicht.<br />

Ältere Säuglinge interpretieren sogar rein abstrakte Bildschirman<strong>im</strong>ationen<br />

als absichtsvolle <strong>und</strong> zielgerichtete Handlung<br />

(Csibra et al. 1999, 2003; Gergely et al. 2002). Zum Beispiel sahen<br />

zwölf Monate alte Kinder die Computeran<strong>im</strong>ation eines Balles,<br />

der wiederholt über ein Hindernis zu einem Ball auf der anderen<br />

Seite des Hindernisses sprang. Erwachsene interpretieren diese<br />

An<strong>im</strong>ation so, dass der Ball zu dem anderen Ball hin „will“. Und<br />

so sehen das offenbar auch die Kinder. Wenn das Hindernis aus<br />

dem Weg geräumt war, schauten die Säuglinge länger hin, wenn<br />

sie den Ball weiterhin springen sahen, ganz so, wie er das zuvor<br />

getan hatte, <strong>und</strong> schauten nur kurz hin, wenn sie ihn sich geradewegs<br />

auf den zweiten Ball zubewegen sahen.<br />

Selbst jüngere Säuglinge scheinen einfachen An<strong>im</strong>ationen<br />

mit kleinen Gegenständen – einem Ball, einem Würfel, einer Pyramide,<br />

alle mit Kulleraugen – Absichten zuzuschreiben (Hamlin<br />

et al. 2007). Sechs <strong>und</strong> zehn Monate alte Kinder schauten zu, wie


188<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

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c<br />

..<br />

Abb. 5.17 Säuglinge wurden auf die Szene in Bild (a) habituiert: Eine Hand greift wiederholt nach einem Ball auf der einen Seite des Bildschirmes. Später<br />

wurden die Säuglinge mit den Bildschirmansichten (b), (c) oder (d) getestet. Dabei blickten diejenigen Säuglinge, die die Hand nach dem neuen Objekt (einem<br />

Teddybär) greifen sahen, länger hin als diejenigen, die die Hand nach dem Ball greifen sahen (egal, an welchem Platz der Ball lag). Die Ergebnisse zeigten, dass<br />

die Babys das ursprüngliche Greifen als objektgerichtet interpretierten. (Nach Woodward 1998)<br />

..<br />

Abb. 5.18 Wenn dieses gestaltlose Plüschobjekt auf die zuschauenden<br />

Säuglinge „reagiert“, dann neigen diese dazu, ihm Absichten zuzuschreiben.<br />

(© Susan Johnson; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

ein roter Wollball – der „Kletterer“ – wiederholt einen Hügel hinaufzukl<strong>im</strong>men<br />

„versuchte“ <strong>und</strong> jedes Mal zurück nach unten fiel<br />

(. Abb. 5.19). Dann stieß ihn die „helfende“ Pyramide den Hügel<br />

hinauf, oder aber der „feindliche“ Würfel stieß ihn wieder hinunter.<br />

In der Testan<strong>im</strong>ation näherte sich der Kletterer entweder dem<br />

d<br />

Helfer oder dem Feind. Die Kinder schauten länger hin, wenn er<br />

sich dem Feind näherte, was darauf hindeutet, dass sie nicht nur<br />

die „Intentionen“ aller dreier Objekte verstanden hatten, sondern<br />

auch wussten, welche Reaktionen von dem Kletterer zu erwarten<br />

wäre, wenn er auf den Helfer oder den Feind treffen würde.<br />

Säuglinge verknüpfen die Handlungen anderer nicht nur<br />

mit deren Intentionen, sondern sie gehen darüber hinaus: Sie<br />

bevorzugen best<strong>im</strong>mte Individuen <strong>und</strong> Objekte aufgr<strong>und</strong> von<br />

deren Handlungen. Die Forschung zur visuellen Präferenz<br />

haben wir bereits in ▶ Exkurs 5.1 beschrieben. Soziale Präferenzen<br />

zeigen Kinder, indem sie sich best<strong>im</strong>mten Personen<br />

lieber zuwenden als anderen. In einer der ersten Studien zum<br />

Nachweis dieser sozialen Präferenz (Kinzler et al. 2007) sahen<br />

zehn Monate alte amerikanische <strong>und</strong> französische Kinder lebensgroße<br />

Videoprojektionen von zwei Personen, die zu ihnen<br />

sprachen – die eine in englischer Sprache, die andere in französischer.<br />

Danach sahen die Kinder dieselben beiden Personen<br />

schweigend hinter einem Tisch stehen <strong>und</strong> jeweils das gleiche<br />

Plüschspielzeug in den Händen halten. Ohne etwas zu sagen, lächelten<br />

beide völlig synchron das Kind <strong>und</strong> dann das Spielzeug<br />

an, dann wieder das Kind <strong>und</strong> beugten sich schließlich über<br />

den Tisch nach vorn, als wollten sie dem Kind das Spielzeug


Kognition<br />

189 5<br />

..<br />

Abb. 5.19 Die Zuschauer bei dieser An<strong>im</strong>ation – Säuglinge ebenso wie Erwachsene – interpretieren die Bewegung des Kreises leicht als intentionale Handlung.<br />

Der Kreis „versucht“ in ihren Augen, den Hügel hinaufzugelangen, aber er rollt wieder herunter <strong>und</strong> verfehlt sein Ziel, den Gipfel zu erreichen. In einigen<br />

Versuchsdurchgängen erscheint ein Dreieck, als der Kreis gerade wieder hinunterzurollen beginnt, unterhalb des Kreises <strong>und</strong> scheint ihn „helfend“ nach oben<br />

zu schieben (a). In anderen Versuchsdurchgängen erscheint ein Quadrat oberhalb des Kreises <strong>und</strong> „hindert“ ihn daran, sich weiter in Richtung Gipfel zu bewegen<br />

(b). (© Hamlin et al. 2007; Nature Publishing Group)<br />

geben. Im gleichen Moment, in dem die beiden Spielzeuge vom<br />

Projektionsschirm verschwanden, tauchten sie (dank der magischen<br />

Forscherhände) auf dem Tisch vor dem Kind auf, was<br />

den Eindruck vermitteln sollte, dass die Spielzeuge unmittelbar<br />

von den Personen aus dem Video kamen. Die Reaktionen der<br />

Kinder lassen eine soziale Präferenz für die Person vermuten,<br />

die in ihrer Muttersprache spricht: Die englischsprachig aufwachsenden<br />

Kinder wählten das Spielzeug, das die Englisch<br />

sprechende Person angeboten hatte, die französischsprachigen<br />

griffen zum Spielzeug von der Französisch sprechenden Person.<br />

Da beide Personen die Spielzeuge schweigend zum Kind hin<br />

reichten, kann man die Präferenz als soziale Präferenz für die<br />

gleichsprachige Person werten, nicht – <strong>und</strong> das ist entscheidend<br />

– als Präferenz der Sprache selbst.<br />

Ähnliche Bef<strong>und</strong>e ergaben sich bei einem Auswahlparadigma<br />

mit zwei Personen, die den Kindern etwas zum Essen anboten,<br />

wobei das Angebot der Person, die anfangs in der Muttersprache<br />

des <strong>Kindes</strong> gesprochen hatte, später bevorzugt wurde (Shutts<br />

et al. 2009). Tatsächlich können auch Objekte wie in . Abb. 5.19<br />

soziale Präferenzen hervorrufen (Hamlin et al. 2007). In einer<br />

Variante zum „Kletterer“ genannten Ball, der einen Hang hinaufrollt,<br />

wurden sechs Monate alten Kindern Objekte gezeigt,<br />

die sie zuvor dabei beobachtete hatten, wie sie den „Kletterer“<br />

be<strong>im</strong> Aufstieg nach unten stießen oder aber unterstützten; dabei<br />

wurden die Helferobjekte häufiger bevorzugt. Die sozialen<br />

Präferenzen können in solchen Studien sehr differenziert hervortreten.<br />

In einer neueren Untersuchung, bei der Marionetten<br />

als Helfer oder Hinderer zusätzlich zu den Objekten auftraten,<br />

bevorzugten fünf Monate alte Säuglinge durchgehend die Figuren,<br />

die die Helfer unterstützt hatten, während acht Monate alte<br />

Säuglinge neben den Helfern der Helfer auch die Hinderer der<br />

Hinderer präferierten (Hamlin et al. 2011).<br />

Solche <strong>und</strong> ähnliche Studien weisen darauf hin, dass Säuglinge<br />

etwa in der Mitte des ersten Lebensjahres schon viel darüber<br />

gelernt haben, wie sich Menschen verhalten <strong>und</strong> wie ihr<br />

Verhalten mit ihren Absichten <strong>und</strong> Zielen zusammenhängt.<br />

Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder können auch Rückschlüsse auf den<br />

Wissensstand anderer Menschen ziehen. Kinder <strong>im</strong> Alter von<br />

15 Monaten zum Beispiel können aus ihrem Wissen darüber,<br />

was ein Mensch weiß, schlussfolgern, was dieser Mensch tun<br />

wird (Onishi <strong>und</strong> Baillargeon 2005). In einer bereits in ▶ Kap. 4<br />

beschriebenen Aufgabe, die anhand der visuellen Aufmerksamkeit<br />

untersucht, wie Säuglinge falsche Überzeugungen erkennen,<br />

scheinen diese nachzuverfolgen, was ein Erwachsener über den<br />

Ort weiß, an dem sich ein Gegenstand befindet. Wird der Gegenstand<br />

vor den Augen des <strong>Kindes</strong> an einen anderen Platz gebracht<br />

– ohne dass der Erwachsene dabei zuschaut –, so erwartet das<br />

Kind, dass der Erwachsene am ursprünglichen Ort des Gegenstands<br />

suchen wird. Das heißt, das Kind erwartet, dass der Erwachsene<br />

dort sucht, wo er den Gegenstand fälschlich vermutet,<br />

<strong>und</strong> nicht dort, wo ihn das Kind tatsächlich gesehen hat <strong>und</strong><br />

wo er in Wirklichkeit ist. Diese Interpretation stützt sich auf die<br />

Beobachtung bei dieser Untersuchung, dass die Kinder länger<br />

hinschauen, wenn der Erwachsene am richtigen Ort sucht, als<br />

dann, wenn er am ursprünglichen Ort sucht. Offenbar nehmen<br />

15 Monate alte Kinder an, dass sich das Verhalten eines Menschen<br />

daran orientiert, was dieser Mensch für wahr hält, auch<br />

dann, wenn das Kind weiß, dass diese Überzeugung falsch ist.<br />

Das Forschungsergebnis lässt vermuten, dass es sehr frühe Vorläufer<br />

einer Alltagspsychologie gibt.<br />

Ausblick<br />

Die intensive Forschung zur Kognition in der frühen Kindheit<br />

erbrachte eine Fülle an faszinierenden Bef<strong>und</strong>en. Diese neu<br />

gewonnenen Informationen haben jedoch die Gr<strong>und</strong>fragen<br />

dazu, wie sich das Denken in der frühen Kindheit entwickelt,<br />

nicht beantwortet. Die dargestellten Bef<strong>und</strong>e weisen auf eine<br />

bemerkenswerte Konstellation aus Fähigkeiten <strong>und</strong> Defiziten<br />

hin. Kleinkinder können sowohl überraschend clever als auch<br />

überraschend unbedarft sein (Keen 2003; Kloos <strong>und</strong> Keen<br />

2005). Sie können die Existenz eines nicht sichtbaren Objekts<br />

erschließen, aber sie können es nicht hervorholen. Sie erkennen,<br />

dass Objekte nicht in der freien Luft schweben können,<br />

meinen aber, dass jede Art <strong>und</strong> jedes Ausmaß an Unterlage<br />

ausreicht, damit ein Objekt nicht herunterfällt. Die besondere<br />

Herausforderung für die Theoriebildung liegt darin, sowohl<br />

die Kompetenz als auch die Inkompetenz des kindlichen Denkens<br />

zu erklären.


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Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

In Kürze | |<br />

Aufbauend auf den Einsichten <strong>und</strong> den Beobachtungen<br />

von Jean Piaget <strong>und</strong> unter Verwendung einer Reihe von<br />

äußerst ausgeklügelten Methoden gelang zeitgenössischen<br />

Forschern eine Reihe faszinierender Entdeckungen<br />

über die kognitiven Prozesse der frühen Kindheit. Sie<br />

haben gezeigt, dass Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder nicht nur<br />

die Existenz verborgener Objekte mental repräsentieren,<br />

sondern auch deren Eigenschaften wie Größe, Gewicht<br />

oder die Art von Geräuschen, die sie produzieren. Das<br />

Verstehen der physikalischen Welt wächst bei den Kindern<br />

stetig, wie sich in ihrem Verstehen von Lagestabilität <strong>und</strong><br />

ihrer wachsenden Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen,<br />

zeigt. Gleichzeitig wächst auch ihr Verständnis von der<br />

sozialen Welt, wie sich beispielsweise in ihrer Interpretation<br />

der Intentionalität zeigt, die dem Verhalten von<br />

Handelnden – Menschen ebenso wie An<strong>im</strong>ationsfiguren<br />

– zugr<strong>und</strong>e liegt.<br />

Zusammenfassung<br />

-<br />

Wahrnehmung<br />

Das visuelle System des Menschen ist bei Geburt relativ<br />

unreif; Kleinkinder besitzen eine geringe Sehschärfe, eine<br />

geringe Kontrastempfindlichkeit <strong>und</strong> min<strong>im</strong>ales Farbensehen.<br />

Neuere Forschungen haben jedoch nachgewiesen,<br />

dass Neugeborene schon Minuten nach der Geburt damit<br />

beginnen, die Welt visuell abzutasten, <strong>und</strong> dass sehr kleine<br />

Kinder stark kontrastive Muster bevorzugen, dieselben<br />

Farben präferieren wie Erwachsene <strong>und</strong> insbesondere eine<br />

-<br />

Vorliebe für menschliche Gesichter aufweisen.<br />

Einige Sehfähigkeiten, einschließlich der Wahrnehmung<br />

von Größen- <strong>und</strong> Formkonstanz, liegen bereits bei Geburt<br />

vor; andere entwickeln sich schnell <strong>im</strong> Verlauf des ersten<br />

Lebensjahres. Das beidäugige Sehen (Stereopsis) entwickelt<br />

sich mit etwa vier Monaten recht plötzlich; in diesem<br />

Alter ist auch die Fähigkeit zur Identifikation von Objektgrenzen<br />

– die Objekttrennung – vorhanden. Mit sieben<br />

Monaten sind Kinder für eine Vielzahl von Tiefenhinweisen<br />

in Bildern oder be<strong>im</strong> monokularen Sehen sensitiv; die<br />

Musterwahrnehmung hat sich so weit entwickelt, dass die<br />

Kinder – so wie Erwachsene – Scheinkonturen wahrnehmen<br />

können.<br />

-<br />

Das auditive System ist bei Geburt vergleichsweise gut<br />

entwickelt, sodass Neugeborene schon ihren Kopf drehen,<br />

um ein Geräusch zu lokalisieren. Die bemerkenswerte<br />

Fähigkeit von Kleinkindern, in akustischen Reizen Muster<br />

zu erkennen, liegt ihrer Empfindlichkeit für musikalische<br />

-<br />

Strukturen zugr<strong>und</strong>e.<br />

Kinder empfinden von Geburt an Gerüche. Sie lernen ihre<br />

Mutter unter anderem an ihrem einzigartigen Geruch zu<br />

-<br />

erkennen.<br />

Durch aktives Berühren mithilfe von M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Hand<br />

erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> erfahren Kinder sich selbst <strong>und</strong> ihre Umwelt.<br />

-<br />

Forschungen zum Phänomen der intermodalen Wahrnehmung<br />

ließen erkennen, dass Kinder vom frühesten Alter<br />

an Informationen der verschiedenen Sinnesmodalitäten<br />

integrieren, indem sie ihre visuellen Erfahrungen mit ihrem<br />

akustischen, olfaktorischen <strong>und</strong> taktilen Erfahrungen verknüpfen.<br />

-<br />

Motorische Entwicklung<br />

Die motorische Entwicklung, die Entwicklung der Handlungsmöglichkeiten,<br />

erreicht in der frühen Kindheit eine<br />

Reihe von „motorischen Meilensteinen“ <strong>und</strong> schreitet<br />

rapide voran, angefangen mit den starken Reflexen neugeborener<br />

Babys. Neuere Forschungsarbeiten haben nachgewiesen,<br />

dass das regelmäßige Entwicklungsmuster bis hin<br />

zum freihändigen Laufen aus dem Zusammentreffen vieler<br />

Faktoren resultiert, einschließlich der Entwicklung der Körperkraft,<br />

der Haltungskontrolle, des Gleichgewichts <strong>und</strong> der<br />

Wahrnehmungsfähigkeiten. Dieses Muster der motorischen<br />

Entwicklung variiert jedoch in den verschiedenen Kulturen<br />

-<br />

je nach ihren speziellen kulturellen Praktiken.<br />

Jede neue motorische Errungenschaft, vom Greifen bis zur<br />

Fortbewegung aus eigener Kraft, erweitert die Erfahrung<br />

des <strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> bietet gleichzeitig neue Herausforderungen.<br />

Kleinkinder verwenden eine Vielzahl von Strategien, um<br />

sich erfolgreich <strong>und</strong> sicher in der Welt umherzubewegen. In<br />

diesem Prozess machen sie eine ganze Reihe überraschender<br />

Fehler.<br />

-<br />

Lernen<br />

In der frühen Kindheit liegen verschiedene Arten des<br />

Lernens vor. Kinder habituieren auf Reize, die sich wiederholen,<br />

<strong>und</strong> bilden Erwartungen bei wiederkehrenden<br />

Regelmäßigkeiten von Ereignissen. Wahrnehmungslernen<br />

kommt durch aktive Exploration zustande. Kinder lernen<br />

auch durch klassisches Konditionieren, was die Bildung von<br />

Assoziationen zwischen natürlichen <strong>und</strong> neutralen Reizen<br />

einschließt, <strong>und</strong> durch operantes Konditionieren, bei<br />

dem das Lernen der Kontingenzen zwischen dem eigenen<br />

Verhalten <strong>und</strong> dessen Konsequenzen eine Rolle spielt. Sie<br />

können auch Erfahrungen nutzen, um Erwartungen für die<br />

-<br />

Zukunft zu entwickeln.<br />

Ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres wird das<br />

Beobachtungslernen – das Betrachten <strong>und</strong> Nachmachen<br />

der Verhaltensweisen anderer Menschen – eine zunehmend<br />

bedeutsame Informationsquelle. Was Kinder <strong>im</strong>itieren,<br />

hängt auch davon ab, wie sie die Absichten eines Modells<br />

einschätzen.<br />

-<br />

Kognition<br />

Mit leistungsfähigen neuen Forschungsverfahren – besonders<br />

mit der Methode der Erwartungsverletzung – wurde<br />

nachgewiesen, dass Säuglinge eindrucksvolle kognitive Fähigkeiten<br />

an den Tag legen. Ein großer Teil dieser Arbeiten<br />

zur mentalen Repräsentation <strong>und</strong> zum kindlichen Denken<br />

wurde ursprünglich von Jean Piagets Konzept der Objektpermanenz<br />

inspiriert. Im Gegensatz zu den Annahmen<br />

Piagets zeigte sich jedoch, dass bereits Kleinkinder nicht


Literatur<br />

191 5<br />

sichtbare Objekte mental repräsentieren <strong>und</strong> aus beobachteten<br />

Ereignissen sogar einfache Schlussfolgerungen ziehen<br />

-<br />

können.<br />

Weitere Forschungsarbeiten konzentrierten sich auf die<br />

Entwicklung des Wissens über die physikalische Welt <strong>und</strong><br />

zeigten, dass Kleinkinder bereits einige Auswirkungen der<br />

Schwerkraft verstehen. Babys brauchen mehrere Monate,<br />

um die Bedingungen herauszufinden, unter denen ein Objekt<br />

eine stabile Stütze für ein anderes Objekt bieten kann.<br />

-<br />

Was Kleinkinder von Menschen verstehen, wird rege erforscht.<br />

Klar ist der Bef<strong>und</strong>, dass Kleinkinder den Absichten<br />

anderer besondere Aufmerksamkeit schenken.<br />

-<br />

Wenngleich viele faszinierende Phänomene <strong>im</strong> Bereich der<br />

Kognition der frühen Kindheit entdeckt wurden, bleiben<br />

gr<strong>und</strong>legende Fragen der kognitiven Entwicklung unbeantwortet.<br />

Es gibt markante Unterschiede darin, wie Theoretiker<br />

die Fähigkeiten <strong>und</strong> die Defizite <strong>im</strong> kindlichen Denken<br />

erklären.<br />

Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />

1. Das Hauptthema in diesem Kapitel war das Verhältnis<br />

von Anlage <strong>und</strong> Umwelt. Betrachten Sie die folgenden<br />

Forschungsbef<strong>und</strong>e an Säuglingen, die <strong>im</strong> Kapitel erläutert<br />

wurden: die Bevorzugung von Konsonanz gegenüber Dissonanz<br />

in der Musik; die Bevorzugung von Gesichtern, die<br />

Erwachsene attraktiv finden; die Fähigkeit, die Existenz <strong>und</strong><br />

sogar die Größe eines verborgenen Objekts zu repräsentieren.<br />

Was glauben Sie: In welchem Umfang beruhen diese<br />

Präferenzen <strong>und</strong> Fähigkeiten auf angeborenen Faktoren,<br />

<strong>und</strong> in welchem Umfang resultieren sie aus Erfahrungen?<br />

2. Es wurde deutlich, dass die Forscher in der jüngeren<br />

Vergangenheit eine beträchtliche Menge an Erkenntnissen<br />

über die frühe Kindheit gewonnen haben. Haben Sie<br />

irgendwelche dieser Erkenntnisse überrascht? Schildern<br />

Sie einer Fre<strong>und</strong>in oder einem Fre<strong>und</strong> aus jedem der<br />

Hauptabschnitte des Kapitels etwas, von dem Sie niemals<br />

vermutet hätten, dass Kinder es können oder wissen.<br />

Schildern Sie in gleicher Weise einige Dinge, die Kinder zu<br />

Ihrer Überraschung noch nicht können oder wissen.<br />

3. Angenommen, Sie haben ein kleines Kind <strong>und</strong> machen<br />

sich Sorgen, dass es vielleicht nicht gut sehen kann. Wie<br />

könnten Entwicklungspsychologen das Sehvermögen<br />

Ihres Babys testen?<br />

4. Untersuchungen zur Wahrnehmung <strong>und</strong> Kognition von<br />

Säuglingen sind besonders knifflig, weil die Kinder nur<br />

sehr begrenzt antworten können – sie können nicht<br />

sprechen <strong>und</strong> auch nicht verlässlich greifen oder zeigen.<br />

Betrachten Sie einige der Methoden, die in diesem Kapitel<br />

vorgestellt wurden: Blickpräferenz, Konditionierung, Erwartungsverletzung,<br />

Nachahmung <strong>und</strong> so weiter. Können<br />

Sie jede Methode mit einer beschriebenen Untersuchung<br />

verknüpfen? Welche Art von Fragen passt am besten zu<br />

welcher Methode?<br />

5. Erklären Sie, warum die Forschung manchmal die unten<br />

genannten Verfahren nutzt, die seltsam anmuten, solange<br />

Literatur<br />

man die zugr<strong>und</strong>e liegende Rationalität nicht versteht.<br />

Welche Hypothesen sollten damit geprüft werden?<br />

a. Kinder bis zur Hüfte ins Wasser halten.<br />

b. Kindern ein Auge zubinden <strong>und</strong> ihnen ein verzerrtes<br />

Fenster zeigen.<br />

c. Ein Spielzeug in einem durchsichtigen Behältnis „verstecken“.<br />

d. Vorgeblich das Endstück einer Hantel nicht abziehen<br />

können.<br />

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3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

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8<br />

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196<br />

Kapitel 5 • Die frühe Kindheit – Sehen, Denken <strong>und</strong> Tun<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

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S0163-6383(98)90021-2.


197 6<br />

Die Entwicklung des Sprach<strong>und</strong><br />

Symbolgebrauchs<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Sprachentwicklung – 198<br />

Die Komponenten der Sprache – 199<br />

Voraussetzungen des Spracherwerbs – 200<br />

Der Prozess des Spracherwerbs – 205<br />

Theoriefragen der Sprachentwicklung – 224<br />

Nichtsprachliche Symbole <strong>und</strong> Entwicklung – 228<br />

Der Symbolgebrauch als Information – 229<br />

Zeichnen – 230<br />

Zusammenfassung – 231<br />

Literatur – 232<br />

S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


198<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

© Sabina Pauen<br />

„Woof.“ (mit 11 Monaten verwendet zur Bezeichnung des Nachbarh<strong>und</strong>es)<br />

„Hot.“ (mit 14 Monaten verwendet zur Bezeichnung von Herd,<br />

Streichhölzern, Kerzen <strong>und</strong> Licht, das von glänzenden Oberflächen<br />

reflektiert wird)<br />

„Read me.“ (mit 21 Monaten verwendet, um die Mutter zu bitten, eine<br />

Geschichte vorzulesen)<br />

„Why I don’t have a dog?“ (mit 27 Monaten)<br />

„If you give me some candy, I’ll be your best friend. I’ll be your two best<br />

friends.“ (mit 48 Monaten)<br />

„Granna, we went to Cagoshin [Chicago].“ (mit 65 Monaten)<br />

„It was, like, ya’ know, totally awesome, dude.“ (mit 192 Monaten)<br />

Diese Äußerungen, auf die wir <strong>im</strong> Verlauf des Kapitels zurückkommen<br />

werden, wurden alle von demselben Jungen produziert,<br />

während er allmählich das Englische als Muttersprache zu beherrschen<br />

lernte (Clore 1981). (In Klammern sind vergleichbare<br />

Äußerungen auf dem Weg zur deutschen Muttersprache hinzugefügt.)<br />

Jede dieser Äußerungen spiegelt eine Fähigkeit wider,<br />

die den Menschen am stärksten von anderen Spezies abhebt: die<br />

kreative <strong>und</strong> flexible Verwendung von Symbolen, einschließlich<br />

der Sprache <strong>und</strong> vieler Arten von nichtsprachlichen Symbolen<br />

(Abdrücken, Zahlen, Bildern, Modellen, Landkarten etc.). Wir<br />

verwenden Symbole, um (1) unsere Gedanken, Gefühle <strong>und</strong><br />

Wissensbestände zu repräsentieren <strong>und</strong> (2) diese anderen Menschen<br />

zu kommunizieren. Die Fähigkeit zum Symbolgebrauch<br />

erweitert unsere kognitiven <strong>und</strong> kommunikativen Kompetenzen<br />

<strong>im</strong>mens. Sie befreit uns von der Gegenwart <strong>und</strong> versetzt uns in<br />

die Lage, von früheren Generationen zu lernen <strong>und</strong> über die Zukunft<br />

nachzudenken. Weil Symbole für Lernen <strong>und</strong> Wissen eine<br />

so wichtige Quelle darstellen, bildet der Umgang mit Symbolen<br />

eine entscheidende Entwicklungsaufgabe für alle Kinder überall<br />

auf der Welt (<strong>DeLoache</strong> 2005).<br />

Symbole – Sinnbilder oder Zeichen zur Repräsentation von Gedanken, Gefühlen<br />

oder Wissen in der Kommunikation mit anderen Menschen.<br />

..<br />

Diese Kinder üben sich darin, eines der vielen wichtigen Symbolsysteme<br />

der heutigen Welt zu beherrschen. (Foto: Bernadette Berg)<br />

In diesem Kapitel konzentrieren wir uns zuerst <strong>und</strong> vorrangig auf<br />

den Erwerb, des herausragendsten Symbolsystems, der Sprache.<br />

Wir werden danach den Umgang von Kindern mit nichtsprachlichen<br />

Symbolen, wie etwa mit Bildern <strong>und</strong> Modellen, betrachten.<br />

Das dominierende Thema dieses Kapitels wird erneut die<br />

Frage nach der Bedeutung von Anlage <strong>und</strong> Umwelt sein. Dabei<br />

betrifft die Wechselbeziehung nun die Frage, in welchem Ausmaß<br />

der Spracherwerb durch Fähigkeiten zustande kommt, die speziell<br />

für das Erlernen von Sprache zuständig sind, <strong>und</strong> inwieweit<br />

hier ein kognitiver Lernmechanismus wirksam wird, der universell<br />

alle Arten des Lernens gleichermaßen unterstützt.<br />

Der soziokulturelle Kontext bildet ein weiteres wichtiges Thema<br />

in diesem Kapitel. Wir werden vergleichende Forschungsstudien<br />

besprechen, die Unterschiede <strong>im</strong> Spracherwerb bei verschiedenen<br />

Kulturen <strong>und</strong> Sprachgemeinschaften untersuchen. Solche vergleichenden<br />

Arbeiten liefern oft entscheidende Belege für oder gegen<br />

theoretische Annahmen über die Sprachentwicklung.<br />

Ein drittes Thema, das in diesem Kapitel mehrmals wiederkehrt,<br />

sind die individuellen Unterschiede. Bei jedem Meilenstein<br />

der Sprachentwicklung ist festzustellen, dass manche Kinder<br />

ihn viel früher erreichen als andere <strong>und</strong> manche deutlich später.<br />

Auch das Thema des aktiven <strong>Kindes</strong> wird wiederholt auftauchen.<br />

Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder richten ihre Aufmerksamkeit intensiv<br />

auf Sprache <strong>und</strong> eine breite Vielfalt von anderen Symbolen,<br />

<strong>und</strong> sie strengen sich sehr an, um herauszufinden, wie man mit<br />

anderen Menschen kommuniziert.<br />

Sprachentwicklung<br />

Was können durchschnittliche fünf- bis zehnjährige Kinder<br />

fast so gut wie Erwachsene? Nicht viel, aber eine sehr wichtige<br />

Sache ist die Verwendung von Sprache. Mit fünf Jahren haben


Sprachentwicklung<br />

199 6<br />

Kinder gelernt, die Gr<strong>und</strong>struktur ihrer Muttersprache(n) zu<br />

beherrschen, sei es gesprochene Sprache, sei es Gebärdensprache.<br />

(Wenn wir <strong>im</strong> Folgenden von „Muttersprache“ sprechen,<br />

schließen wir die Möglichkeit des bilingualen Aufwachsens in<br />

mehreren Sprachen <strong>im</strong>mer mit ein.) Die Sätze, die ein durchschnittlicher<br />

Erstklässler hervorbringt, sind grammatikalisch<br />

genauso korrekt wie diejenigen eines durchschnittlichen Studenten<br />

<strong>im</strong> ersten Semester, auch wenn das Ausdrucksvermögen <strong>und</strong><br />

der Wortschatz noch nicht so feinsinnig sind. Aber diese frühe<br />

Sprachfähigkeit ist bemerkenswert.<br />

Zur Sprachverwendung gehört sowohl das Sprachverstehen,<br />

also das Verständnis dessen, was andere sagen, schreiben oder<br />

über Gebärden vermitteln, als auch die Sprachproduktion, also<br />

das tatsächliche Sprechen, Gebärden oder Schreiben. Wir werden<br />

in diesem Kapitel wiederholt sehen, dass das Sprachverstehen<br />

der Sprachproduktion vorangeht: Kinder verstehen Wörter <strong>und</strong><br />

sprachliche Strukturen, die andere Menschen benutzen, bereits<br />

Monate oder gar Jahre bevor sie diese in ihren eigenen Äußerungen<br />

verwenden. Das trifft natürlich nicht nur auf kleine Kinder<br />

zu; zweifellos verstehen wir viele Wörter, die wir nie benutzen.<br />

Bei unserer Diskussion werden wir Entwicklungsprozesse betrachten,<br />

die am Sprachverstehen wie auch an der Sprachproduktion<br />

beteiligt sind, sowie die Beziehung zwischen diesen beiden<br />

Aspekten des Sprachgebrauchs.<br />

Sprachverstehen – Das Verstehen dessen, was andere sagen (oder gebärden<br />

oder schreiben).<br />

Sprachproduktion – Das tatsächliche Sprechen, Gebärden oder Schreiben.<br />

Die Komponenten der Sprache<br />

Wie funktioniert Sprache? Es gibt Tausende von Sprachen auf der<br />

Welt, aber sie alle haben übergreifende Gemeinsamkeiten: Alle<br />

menschlichen Sprachen sind ähnlich komplex <strong>und</strong> zeichnen sich<br />

durch verschiedene Elemente aus, die auf verschiedenen Ebenen<br />

innerhalb einer Hierarchie kombiniert werden können: Laute<br />

werden zusammengesetzt, um Wörter zu bilden, Wörter werden<br />

zu Sätzen kombiniert, <strong>und</strong> Sätze werden beispielsweise zu Geschichten<br />

zusammengefügt. Der Erwerb einer Sprache umfasst<br />

somit das Erlernen der Laute <strong>und</strong> Lautmuster dieser Sprache, ihre<br />

speziellen Wörter <strong>und</strong> die Art <strong>und</strong> Weise, in der Wörter in dieser<br />

Sprache kombiniert werden dürfen. Be<strong>im</strong> Erwerb einer Sprache<br />

müssen Kinder all diese Facetten ihrer Muttersprache lernen. Der<br />

enorme Vorteil, der sich aus diesem kombinatorischen Prozess<br />

ergibt, ist die Generativität von Sprache: Be<strong>im</strong> Verwenden der<br />

endlichen Menge an Wörtern in unserem Wortschatz können wir<br />

eine schier unendliche Vielzahl an Sätzen erzeugen <strong>und</strong> damit<br />

schier unendliche viele Gedanken zum Ausdruck bringen.<br />

Generativität von Sprache – Die Tatsache, dass wir be<strong>im</strong> Gebrauch der endlichen<br />

Anzahl an Wörtern <strong>und</strong> Morphemen unseres Wortschatzes eine unbegrenzte<br />

Anzahl an Sätzen zusammenfügen <strong>und</strong> eine unbegrenzte Anzahl an<br />

Gedanken ausdrücken können.<br />

Die generative Kraft der Sprache gibt es allerdings nicht umsonst.<br />

Be<strong>im</strong> Erlernen einer Sprache müssen Kinder mit deren<br />

Komplexität umgehen können. Um sich ein Bild davon zu machen,<br />

vor welchen Herausforderungen die Kinder stehen, wenn<br />

sie ihre Muttersprache beherrschen wollen, stelle man sich<br />

selbst als Fremden in einem fremden Land vor. Jemand kommt<br />

auf Sie zu <strong>und</strong> sagt: „Jusczyk daxly blickets Nthlakapmx.“ Sie<br />

hätten absolut keine Idee, was diese Person gerade gesagt hat.<br />

Warum?<br />

Zunächst haben Sie vielleicht Schwierigkeiten, einige der<br />

Laute, die die Person äußerte, überhaupt wahrzunehmen. Phoneme<br />

sind elementare lautliche Einheiten, mit denen Sprache<br />

produziert wird. Sie markieren Bedeutungsunterschiede. Zum<br />

Beispiel unterscheidet sich „Rippe“ nur durch ein Phonem von<br />

„Lippe“ (/r/ versus /l/), doch die beiden Wörter besitzen ganz verschiedene<br />

Bedeutungen. Sprachen verwenden unterschiedliche<br />

Mengen von Phonemen; das Deutsche beispielsweise verwendet<br />

gut 40 der etwa 200 Lautklassen, die in den Sprachen der Welt<br />

vorkommen. Die Phoneme, die in einer best<strong>im</strong>mten Sprache<br />

bedeutungsunterscheidend sind, überlappen sich mit denen in<br />

anderen Sprachen, wobei es aber auch Unterschiede gibt. Zum<br />

Beispiel transportieren die Laute, die den Lautklassen /r/ <strong>und</strong><br />

/l/ zuzuordnen sind, <strong>im</strong> Japanischen keine unterschiedliche Bedeutung.<br />

Es kommt hinzu, dass Lautkombinationen, die in einer<br />

Sprache häufig auftreten, in anderen Sprachen vielleicht niemals<br />

vorkommen. Wenn man die Äußerung des Fremden aus dem<br />

vorangegangen Absatz liest, hat man wahrscheinlich keine Idee,<br />

wie man „Nthlakapmx“ aussprechen soll, weil die Lautkombinationen,<br />

die die Buchstaben dieses Wortes bilden, <strong>im</strong> Deutschen<br />

nicht vorkommen (obwohl es sie in anderen Sprachen sehr wohl<br />

gibt). Der erste Schritt be<strong>im</strong> kindlichen Spracherwerb ist also die<br />

phonologische Entwicklung, der Erwerb von Wissen über das<br />

Lautsystem ihrer Sprache.<br />

Phoneme – Die elementaren lautlichen Einheiten einer Sprache, deren Veränderung<br />

mit Bedeutungsunterschieden einhergeht.<br />

Phonologische Entwicklung – Der Erwerb des Wissens über das Lautsystem<br />

einer Sprache.<br />

Ein weiterer Gr<strong>und</strong>, warum wir nicht verstehen würden, was der<br />

Fremde zu uns gesagt hat, selbst wenn wir in der Lage gewesen<br />

wären, die geäußerten Laute wahrzunehmen, besteht darin, dass<br />

wir keine Ahnung hätten, was diese Laute bedeuten. Die kleinsten<br />

bedeutungstragenden Einheiten sind die Morpheme, die sich in<br />

der Regel aus einem oder mehreren Phonemen zusammensetzen.<br />

Morpheme bilden allein oder in Kombination Wörter. Die Wörter<br />

ich <strong>und</strong> H<strong>und</strong> sind beispielsweise beide einzelne Morpheme,<br />

weil sie sich jeweils auf einen einzelnen Sachverhalt beziehen <strong>und</strong><br />

ihre Bedeutung verlieren würden, wenn man sie weiter zerlegen<br />

würde. Das Wort H<strong>und</strong>e besteht aus zwei Morphemen; das eine<br />

bezeichnet eine bekannte haarige Gegebenheit, <strong>und</strong> das zweite<br />

gibt an, dass es sich um mehr als ein Exemplar davon handelt.<br />

Der zweite Schritt be<strong>im</strong> Spracherwerb ist somit die semantische<br />

Entwicklung, bei der das System gelernt wird, mit dem man in<br />

einer Sprache Bedeutungen ausdrückt, einschließlich des Lernens<br />

der Wörter.<br />

Morpheme – Die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache, die<br />

aus einem oder mehreren Phonemen zusammengesetzt sind.


200<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

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20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Semantische Entwicklung – Das Erlernen des Systems, mit dem in einer Sprache<br />

Bedeutung ausgedrückt wird, einschließlich des Erlernens von Wörtern.<br />

Aber selbst wenn man die Bedeutung jedes einzelnen Wortes,<br />

das der Fremde verwendet hatte, gesagt bekäme, würde man die<br />

Äußerung noch <strong>im</strong>mer nicht verstehen, weil die Bedeutung in<br />

allen Sprachen davon abhängt, wie die Wörter zusammengefügt<br />

werden. Um eine Vorstellung beliebiger Komplexität auszudrücken,<br />

fügen wir Wörter zu Sätzen zusammen, aber nur best<strong>im</strong>mte<br />

Kombinationen sind zulässig. Wie Wörter verschiedener Wortklassen<br />

(Nomen, Verben, Adjektive etc.) kombiniert werden dürfen,<br />

ergibt sich aus der Syntax einer Sprache, d. h. aus den Regeln<br />

für erlaubte Wortkombinationen. Zum Beispiel ist <strong>im</strong> Deutschen<br />

die Reihenfolge, in der Wörter in einem Satz vorkommen können,<br />

entscheidend. „Klaus liebt Anna“ bedeutet nicht dasselbe<br />

wie „Anna liebt Klaus“. Während <strong>im</strong> Deutschen <strong>und</strong> beispielsweise<br />

auch <strong>im</strong> Englischen die Wortreihenfolge best<strong>im</strong>mt, welche<br />

Person liebt <strong>und</strong> welche geliebt wird, würde man diesen Sachverhalt<br />

in anderen Sprachen beispielsweise durch die Endungen<br />

von Wörtern oder durch subtile Lautunterschiede vermitteln..<br />

Die dritte Komponente des Spracherwerbs ist die syntaktische<br />

Entwicklung, d. h. das Aneignen der Regeln für die Kombination<br />

der Wörter einer gegebenen Sprache.<br />

Syntax – Die Regeln einer Sprache, die festlegen, wie die Wörter der verschiedenen<br />

Wortklassen (Nomen, Verben, Adjektive etc.) in grammatikalisch korrekten<br />

Sätzen miteinander kombiniert werden können.<br />

Syntaktische Entwicklung – Das Erlernen der Syntax einer Sprache.<br />

Und schließlich würde das vollständige Verstehen der Interaktion<br />

mit dem Fremden auch einiges Wissen über die kulturellen<br />

Regeln erfordern, die bei der Sprachverwendung gelten. In manchen<br />

Gesellschaften wäre es recht bizarr, einen Fremden gleich<br />

anzusprechen, während das in anderen Gesellschaften durchaus<br />

üblich ist. Um zu verstehen, was ein Sprecher wirklich kommunizieren<br />

will, muss man über die Wortebene hinausgehen <strong>und</strong><br />

gleichsam zwischen den Zeilen lesen können, sodass man in der<br />

Konversation Faktoren wie den Kontext oder die emotionale<br />

Tonlage des Sprechers einbeziehen kann. Der Erwerb des Wissens<br />

darüber, wie Sprache typischerweise verwendet wird, gehört<br />

zur pragmatischen Entwicklung.<br />

Pragmatische Entwicklung – Der Erwerb des Wissens darüber, wie Sprache<br />

verwendet wird.<br />

..<br />

In diesem Alltagsgespräch generieren die kleinen Jungen vollständig<br />

neue Sätze, die bei Fünfjährigen in Hinblick auf Phonologie, Semantik <strong>und</strong><br />

Syntax ihrer Muttersprache korrekt sind. Und indem sie den Inhalt dessen<br />

berücksichtigen, was ihr Gesprächspartner äußert, ziehen sie angemessene<br />

pragmatische Schlussfolgerungen. (© ella/fotolia.com)<br />

Unser Beispiel der Verwirrung, die wir erleben, wenn wir jemandem<br />

zuhören, dessen Sprache wir nicht kennen, konnte dazu<br />

dienen, die Komponenten des Sprachgebrauchs zu skizzieren.<br />

Aber wenn wir als Erwachsene jemanden in einer unbekannten<br />

Sprache reden hören, wissen wir bereits, was Sprache ist. Und<br />

wir wissen, dass die Laute, die die Person äußert, Wörter bilden,<br />

dass die Wörter zu Sätzen kombiniert sind, dass nur best<strong>im</strong>mte<br />

Kombinationen grammatikalisch akzeptabel sind, <strong>und</strong> so weiter.<br />

Mit anderen Worten, Erwachsene verfügen – <strong>im</strong> Unterschied zu<br />

jungen Sprachenlernern – über ein beträchtliches metasprachliches<br />

Wissen, d. h. Wissen über Sprache, einschließlich ihrer<br />

Eigenschaften <strong>und</strong> ihrer Verwendung.<br />

Metasprachliches Wissen – Das Verstehen der Eigenschaften <strong>und</strong> Funktionen<br />

von Sprache, also das reflektierte Verstehen von Sprache als Sprache.<br />

Das Lernen, Sprache zu verstehen <strong>und</strong> zu produzieren, umfasst<br />

also die phonologische, semantische, syntaktische <strong>und</strong> pragmatische<br />

Entwicklung sowie metasprachliches Wissen über<br />

Sprache. Dieselben Faktoren sind auch be<strong>im</strong> Lernen einer Gebärdensprache<br />

beteiligt, wobei hier die Basiselemente Gesten<br />

<strong>und</strong> nicht Laute sind. Es gibt über 200 Gebärdensprachen, zum<br />

Beispiel die deutsche Gebärdensprache, die auf Gesten beruhen,<br />

die sowohl mit den Händen als auch mit der Gesichtsm<strong>im</strong>ik<br />

gebildet werden. Es handelt sich hierbei um voll ausgeprägte<br />

Sprachen, <strong>und</strong> der Verlauf des Erwerbs einer Gebärdensprache<br />

zeigt bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit dem bei gesprochenen<br />

Sprachen.<br />

Voraussetzungen des Spracherwerbs<br />

Was braucht man, um überhaupt in der Lage zu sein, eine Sprache<br />

zu lernen? Eine voll ausgebildete Sprache wird nur von Menschen<br />

erworben, sodass offensichtlich eine Voraussetzung für<br />

den Spracherwerb das menschliche Gehirn ist. Aber ein einzelner<br />

Mensch, der von jeder Erfahrung mit Sprache abgeschnitten


Sprachentwicklung<br />

201 6<br />

wäre, könnte niemals eine Sprache lernen. Entscheidend für eine<br />

erfolgreiche Sprachentwicklung ist das Hören (oder Sehen) von<br />

Sprache.<br />

Ein menschliches Gehirn<br />

Der Schlüssel zur Entwicklung einer voll ausgebildeten Sprache<br />

ist das menschliche Gehirn. Sprache ist ein artspezifisches<br />

Verhalten: Nur Menschen erwerben in ihrem normalen Entwicklungsverlauf<br />

Sprache. Außerdem ist Sprache für die Spezies<br />

Mensch universell: Weltweit erlernen praktisch alle Menschen in<br />

der Kindheit Sprache.<br />

Im Gegensatz zum Menschen entwickelt keine andere Tierart<br />

auf natürliche Weise irgendeine Kompetenz, die der Komplexität<br />

oder Generativität der menschlichen Sprache nahekäme,<br />

auch wenn Tiere durchaus miteinander kommunizieren können.<br />

Zum Beispiel behaupten Vögel ihre territorialen Rechte durch<br />

ihren Gesang (Marler 1970), <strong>und</strong> die Schreie einer in der Savanne<br />

lebenden Affenart geben die Anwesenheit eines Raubtieres zu<br />

erkennen <strong>und</strong> zeigen an, ob es sich dabei um einen Falken oder<br />

eine Schlange handelt (Seyfarth <strong>und</strong> Cheney 1993).<br />

Forscher erzielten einen gewissen Erfolg dabei, nichtmenschliche<br />

Pr<strong>im</strong>aten darin zu trainieren, komplexe Kommunikationssysteme<br />

zu verwenden. Zu den frühen Anstrengungen<br />

dieser Art gehört ein sehr ambitioniertes Projekt, bei dem ein<br />

äußerst engagiertes Ehepaar einen Sch<strong>im</strong>pansen in ihrer eigenen<br />

Wohnung <strong>und</strong> mit ihren eigenen Kindern aufzog, um zu<br />

sehen, ob der Sch<strong>im</strong>panse mit Namen Vicki sprechen lernen<br />

würde (Hayes <strong>und</strong> Hayes 1951). Vicki lernte zwar einige Wörter<br />

<strong>und</strong> Phrasen verstehen, sie produzierte aber praktisch keine erkennbaren<br />

Wörter. Spätere Forscher versuchten, nichtmenschlichen<br />

Pr<strong>im</strong>aten eine Zeichensprache beizubringen. Washoe, ein<br />

Sch<strong>im</strong>panse, <strong>und</strong> Koko, ein Gorilla, wurden für ihre Fähigkeit<br />

berühmt, mit ihren menschlichen Trainern <strong>und</strong> Pflegern durch<br />

Handzeichen zu kommunizieren (Gardner <strong>und</strong> Gardner 1969;<br />

Patterson <strong>und</strong> Linden 1981). Washoe konnte eine Vielzahl von<br />

Objekten benennen <strong>und</strong> Aufforderungen („more fruit“, „please<br />

tickle“) <strong>und</strong> Kommentare („Washoe sorry“) abgeben. Es besteht<br />

jedoch allgemeine Übereinst<strong>im</strong>mung darin, dass die „Äußerungen“<br />

von Washoe <strong>und</strong> Koko, so eindrucksvoll sie auch waren,<br />

nicht als Sprache gelten können, weil sie wenig Hinweise auf<br />

syntaktische Strukturen enthielten (Terrace et al. 1979; Wallman<br />

1992).<br />

Der erfolgreichste Zeichen-lernende Nichtmensch war<br />

Kanzi, ein großer Bonobo-Affe. Kanzi begann, Zeichen zu lernen,<br />

nachdem er beobachtet hatte, wie seine Mutter mit Forschern<br />

über eine speziell entwickelte Tastatur kommunizierte,<br />

auf der sich zahlreiche Symbole für best<strong>im</strong>mte Objekte <strong>und</strong><br />

Handlungen (wie „geben“, „essen“, „Banane“, „umarmen“ etc.)<br />

befanden (Savage-Rumbaugh et al. 1993). Kanzis Mutter kapierte<br />

es nicht, aber ihr Nachwuchs bekam es mit, <strong>und</strong> <strong>im</strong> Laufe<br />

der Jahre wuchs sein Wortschatz von sechs auf 350 Wörter. Er<br />

entwickelte einiges Geschick darin, die Tastatur zur Beantwortung<br />

von Fragen, für Aufforderungen <strong>und</strong> selbst für eigene Kommentare<br />

zu nutzen. Zudem kombinierte Kanzi oft Zeichen, aber<br />

es ist nicht klar, ob man diese Kombinationen als regelbasierte<br />

Sätze betrachten kann.<br />

..<br />

Kanzi, ein Bonobo, kommuniziert mit seinen Pflegern, indem er ein<br />

speziell entworfenes Set von Symbolen verwendet, die für eine Vielzahl von<br />

Gegenständen, Menschen <strong>und</strong> Handlungen stehen. (© Laurentiu Garofeano/<br />

Barcroft Media/Landov)<br />

Es gibt darüber hinaus einige weitere gut dokumentierte Beispiele<br />

für Nichtpr<strong>im</strong>aten, die lernen konnten, auf gesprochene Sprache<br />

zu antworten. Kaminski et al. (2004) berichteten von einem<br />

Collie-H<strong>und</strong> namens Rico, der mehr als 200 Wörter kannte <strong>und</strong><br />

neue Wörter lernen <strong>und</strong> behalten konnte, indem er dieselben<br />

Prozesse ausnutzte wie menschliche Kleinkinder (wir kommen<br />

auf diese Prozesse noch in diesem Kapitel zurück). Auch der<br />

afrikanische Graupapagei Alex lernte es, elementare Sprache<br />

zu produzieren <strong>und</strong> zu verstehen – wobei seine Kenntnisse <strong>im</strong><br />

Niveau über das Englisch von Kleinkindern nicht hinauskamen<br />

(Pepperberg 2009).<br />

Wie auch <strong>im</strong>mer die Entscheidung ausfällt, in welchem Ausmaß<br />

man Kanzi oder anderen nichtmenschlichen Tieren ein<br />

Sprachvermögen zuerkennt, so werden doch mehrere Dinge<br />

deutlich. Selbst die einfachsten sprachlichen Leistungen stellen<br />

sich erst nach umfangreichem <strong>und</strong> konzentriertem Training<br />

durch Menschen ein, während menschliche Kinder die Gr<strong>und</strong>züge<br />

ihrer Sprache fast ohne explizite Unterweisung erwerben.<br />

Und selbst wenn diese nichtmenschlichen Zeichengeber Symbole<br />

zur Kommunikation kombinieren, gibt es in ihren Äußerungen<br />

kaum Hinweise auf eine syntaktische Struktur, wie sie als definierendes<br />

Merkmal von Sprache gelten kann (Tomasello 1994).<br />

Kurzum, nur das menschliche Gehirn erreicht ein Kommunikationssystem,<br />

das die Komplexität, Struktur <strong>und</strong> Generativität


202<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

2<br />

3<br />

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23<br />

von Sprache aufweist. Umgekehrt sind wir Menschen notorisch<br />

schlecht be<strong>im</strong> Lernen der Kommunikationssysteme von Tieren<br />

(wenn wir einmal von Harry Potters Fähigkeiten bei der Schlangensprache<br />

Parsel absehen). Es gibt <strong>im</strong> Hinblick auf die Kommunikationssysteme<br />

keine gute Passung zwischen den Gehirnen<br />

von Tier <strong>und</strong> Mensch.<br />

Beziehungen zwischen Sprache <strong>und</strong> Gehirn<br />

In umfangreichen Forschungen wurden die Beziehungen zwischen<br />

Sprache <strong>und</strong> Gehirn untersucht. Man weiß heute, dass<br />

die Sprachverarbeitung in beträchtlichem Ausmaß funktional<br />

<strong>im</strong> Gehirn lokalisiert ist. Auf der allgemeinsten Ebene gibt es<br />

Hemisphärenunterschiede bei den Sprachfunktionen, die wir in<br />

gewissem Umfang bereits in ▶ Kap. 3 bei der funktionalen Lateralisierung<br />

behandelt haben. Bei 90 % der Rechtshänder ist Sprache<br />

vorwiegend in der linken Hemisphäre des cerebralen Cortex<br />

repräsentiert <strong>und</strong> wird von dort gesteuert.<br />

Die Spezialisierung der linken Hemisphäre scheint sich sehr<br />

früh in der Entwicklung auszubilden. Wie Untersuchungen mit<br />

bildgebenden Verfahren gezeigt haben, ist sowohl bei Neugeborenen<br />

als auch bei drei Monate alten Kindern be<strong>im</strong> Hören von<br />

normal gesprochener Sprache die elektrische Aktivität in der<br />

linken Gehirnhälfte erhöht gegenüber der Aktivität, die dort bei<br />

rückwärts gesprochener Sprache oder Ruhe zu verzeichnen ist<br />

(Bortfeld et al. 2009; Dehaene-Lambertz et al. 2002; Pena et al.<br />

2003). Darüber hinaus ergaben EEG-Studien, dass Kleinkinder<br />

eine stärkere linkshemisphärische Aktivität zeigen, wenn sie gesprochene<br />

Sprache hören, aber auf nichtsprachliche Geräusche<br />

mit stärkerer rechtshemisphärischer Aktivität reagieren (Molfese<br />

<strong>und</strong> Betz 1988). Eine Ausnahme von diesem Lateralisierungsmuster<br />

ist bei der Tonhöhe, in der gesprochen wird, zu verzeichnen:<br />

Hier ist bei Kindern wie Erwachsenen eher die rechte Hirnhemisphäre<br />

beteiligt (Homae et al. 2006).<br />

Auch wenn klar ist, dass von Geburt an vor allem die linke<br />

Hirnhemisphäre für die Sprachverarbeitung zuständig ist, bleibt<br />

die Frage ungeklärt, warum das so ist. Ein möglicher Gr<strong>und</strong><br />

könnte darin liegen, dass diese Hemisphäre für die Verarbeitung<br />

gesprochener Sprache prädisponiert ist, nicht aber für andere<br />

auditive St<strong>im</strong>ulation. Eine andere Möglichkeit wäre, dass die<br />

Sprache wegen ihrer akustischen Merkmale in der linken Hemisphäre<br />

lokalisiert ist. So betrachtet wäre der auditive Cortex der<br />

linken Hemisphäre darauf abgest<strong>im</strong>mt, kleine Unterschiede <strong>im</strong><br />

Zeitablauf der Reize zu entdecken, während die rechte Gehirnhälfte<br />

auf Unterschiede in der Tonhöhe abgest<strong>im</strong>mt wäre (z. B.<br />

Zatorre et al. 1992; Zatorre <strong>und</strong> Belin 2001; Zatorre et al. 2002).<br />

Da Sprache mit kleinen Differenzen in der Tonhöhe einsetzt (wie<br />

wir unten <strong>im</strong> Zusammenhang mit der kategorialen Wahrnehmung<br />

von sprachlichen Lauten sehen werden), scheint die linke<br />

Hirnhälfte auf natürliche Weise für die Sprachverarbeitung besonders<br />

geeignet zu sein.<br />

Eine kritische Phase für die Sprachentwicklung<br />

Wenn Sie sich Ihre Klassenkameraden vor Augen halten,<br />

während sie eine Fremdsprache gelernt haben, so werden Sie<br />

Folgendes feststellen: Diejenigen, die erst <strong>im</strong> <strong>Jugendalter</strong> mit<br />

dem Erlernen der Fremdsprache begannen, werden darin eine<br />

schwierigere Aufgabe sehen als Klassenkameraden, die die<br />

Fremdsprache bereits in der frühen Kindheit zu lernen begannen.<br />

Es gibt zahlreiche Hinweisen darauf, dass die frühen<br />

Lebensjahre eine kritische Phase für den Spracherwerb darstellen,<br />

in der sich Sprache leicht entwickelt. Nach dieser Phase<br />

(irgendwann zwischen fünf Jahren <strong>und</strong> der Pubertät) wird ist<br />

der Spracherwerb viel schwerer möglich <strong>und</strong> letztlich auch weniger<br />

erfolgreich.<br />

Kritische Phase für den Spracherwerb – Die Zeitspanne zwischen dem fünften<br />

Lebensjahr <strong>und</strong> der Pubertät, in der Sprache leicht erlernt wird <strong>und</strong> nach<br />

deren Verstreichen der Spracherwerb wesentlich schwieriger <strong>und</strong> letztlich weniger<br />

erfolgreich ist.<br />

Für diese Annahme sprechen mehrere Berichte über Kinder,<br />

denen es nicht gelang, Sprache zu entwickeln, nachdem ihnen<br />

ein früher sprachlicher Input fehlte. Zu den bekanntesten Fällen<br />

gehören das „Wolfskind“ Viktor, der von seinen Eltern wohl<br />

ausgesetzt worden war <strong>und</strong> viele Jahre lang in den Wäldern in<br />

der Nähe von Aveyron in Frankreich gelebt hatte <strong>und</strong> <strong>im</strong> Jahre<br />

1800 entdeckt wurde, sowie das Mädchen, Genie, die 1970 in Los<br />

Angeles in den USA gef<strong>und</strong>en wurde. Ab etwa 18 Monaten bis zu<br />

ihrer Rettung mit 13 Jahren hatten Genies Eltern sie allein in einem<br />

Z<strong>im</strong>mer eingeschlossen, wo sie Tag <strong>und</strong> Nacht angeb<strong>und</strong>en<br />

war. Niemand sprach zu ihr während ihrer Gefangenschaft; wenn<br />

ihr Vater ihr etwas zu essen brachte, knurrte er sie an wie ein<br />

Tier. Zum Zeitpunkt ihrer Rettung war Genie körperlich, motorisch<br />

<strong>und</strong> emotional völlig unterentwickelt, <strong>und</strong> sie konnte kaum<br />

sprechen. Mit intensivem Training machte sie einige Fortschritte,<br />

aber ihre Sprachfähigkeit entwickelte sich nicht über die eines<br />

Kleinkindes hinaus: „Father take piece wood. Hit. Cry.“ (Curtiss<br />

1977, 1989; Rymer 1993).<br />

Sprechen die außergewöhnlichen Fälle dieser beiden Kinder<br />

für die Hypothese der kritischen Phase? Möglicherweise ja, aber<br />

man kann sich nicht wirklich sicher sein. Es könnte auch sein,<br />

dass Viktor schon von Kindheit an zurückgeblieben war <strong>und</strong> dass<br />

er eben deshalb ausgesetzt wurde. Die Tatsache, dass Genie keine<br />

Sprache entwickelt hat, könnte aus der bizarren <strong>und</strong> unmenschlichen<br />

Behandlung, die sie erleiden musste, genauso gut resultieren<br />

wie aus der kommunikativen Deprivation.<br />

Aus ganz anderen Bereichen der Forschung kommen weit<br />

aussagekräftigere Belege für die Existenz der kritischen Phase.<br />

In ▶ Kap. 3 wurde bereits berichtet, dass Erwachsene, die sich<br />

eindeutig jenseits der kritischen Phase befinden, nach einer Gehirnschädigung<br />

mit größerer Wahrscheinlichkeit unter einer<br />

permanenten sprachlichen Beeinträchtigung leiden als Kinder<br />

– vermutlich weil andere Bereiche des jungen, nicht aber des älteren<br />

Gehirns in der Lage sind, die Sprachfunktionen der lädierten<br />

Bereiche zu übernehmen (Johnson 1998). (Die Rolle des Zeitverlaufs<br />

bei den langfristigen Auswirkungen von Hirnschädigungen<br />

wurde in ▶ Kap. 3 <strong>im</strong> Zusammenhang mit kritischen Phasen eingehend<br />

behandelt.) Außerdem nutzen Erwachsenen, die vor der<br />

Pubertät eine Zweitsprache erlernten, andere Mechanismen bei<br />

der Verarbeitung dieser Sprache als Erwachsene, die die fremde<br />

Sprache erst nach der Pubertät erwarben (z. B. K<strong>im</strong> et al. 1997;<br />

Pakulak <strong>und</strong> Neville 2011). Diese Bef<strong>und</strong>e zeigen, dass die neuronalen<br />

Verschaltungen, die den Spracherwerb unterstützen, in<br />

jungen Jahren anders (<strong>und</strong> besser) funktionieren.


Sprachentwicklung<br />

203 6<br />

In einer sehr wichtigen Untersuchung testeten Johnson <strong>und</strong><br />

Newport (1989) die Englischkenntnisse von japanischen <strong>und</strong> koreanischen<br />

Emigranten, die in die USA gekommen waren <strong>und</strong><br />

dort als Kinder oder als Erwachsene damit begannen, Englisch<br />

zu lernen. Die in . Abb. 6.1 dargestellten Ergebnisse lassen erkennen,<br />

dass die Kenntnisse über die Feinheiten der englischen<br />

Grammatik mit dem Alter zusammenhängen, in dem diese Personen<br />

begannen, Englisch zu lernen, aber nicht damit, wie lange<br />

sie mit der Sprache bereits konfrontiert waren (d. h., wie lange<br />

sie bereits in Amerika waren). Die besten Leistungen erbrachten<br />

diejenigen, die <strong>im</strong> Alter von weniger als sieben Jahren mit dem<br />

Englischlernen begonnen hatten.<br />

Ein ähnliches Ergebnismuster wurde für das Erlernen der<br />

Erstsprache bei Gehörlosen beschrieben: Auch die Leistungsfähigkeit<br />

gehörloser Erwachsener in der Gebärdensprache American<br />

Sign Language (ASL) erwies sich als abhängig vom Alter<br />

des Erstspracherwerbs – je früher sie begonnen hatten, desto<br />

versierter waren sie als Erwachsene (Newport 1990). Johnson<br />

<strong>und</strong> Newport beobachteten außerdem große Unterschiede zwischen<br />

den späten Lernern, die eine zweite Sprache oder eine Gebärdensprache<br />

als Erstsprache während oder nach der Pubertät<br />

erwarben. Wie wir es in unserem Beispiel der Klassenkameraden<br />

mit ihren unterschiedlichen Sprachfertigkeiten vermutet hatten,<br />

erreichten einige der untersuchten Erwachsenen fast die gleichen<br />

Fertigkeiten wie Muttersprachler, während andere die später gelernte<br />

Sprache nur schlecht beherrschten.<br />

Newport (1990) hat versucht zu erklären, warum Kinder <strong>im</strong><br />

Allgemeinen bessere Sprachenlerner sind als Erwachsene. Nach<br />

ihrem Weniger-ist-mehr-Ansatz bedingen wahrnehmungs- <strong>und</strong><br />

gedächtnisbezogene Beschränkungen, dass jüngere Kinder kleinere<br />

Portionen von der Sprache, die sie hören, entnehmen <strong>und</strong><br />

speichern können als Erwachsene. Da es weitaus einfacher ist, die<br />

zugr<strong>und</strong>e liegende Struktur einer Sprache anhand kürzerer als<br />

anhand längerer Phrasen zu erkennen, könnten jüngere Kindern<br />

be<strong>im</strong> Spracherwerb also sogar von ihren begrenzten kognitiven<br />

Fähigkeiten profitieren.<br />

Die Belege zugunsten einer kritischen Phase des Spracherwerbs<br />

bringen einige sehr deutliche praktische Implikationen mit<br />

sich. Zum einen lässt sich ableiten, dass man gehörlose Kinder<br />

so früh wie möglich mit einer Gebärdensprache vertraut machen<br />

sollte. Zum anderen sollte das schulische Training von Fremdsprachen<br />

schon in den ersten Klassen beginnen (dies wird in<br />

▶ Exkurs 6.1 diskutiert), denn wenn die Schüler in die weiterführenden<br />

Schulen kommen, ist ihre Fähigkeit zum Erlernen einer<br />

Sprache bereits rückläufig.<br />

Eine menschliche Umwelt<br />

Um eine Sprache zu entwickeln, genügt es nicht, ein menschliches<br />

Gehirn zu besitzen. Kinder müssen auch mit anderen Menschen<br />

in Kontakt kommen <strong>und</strong> die Sprache verwenden – gleich<br />

ob gesprochene oder gebärdete Sprache. Die angemessene Erfahrung,<br />

andere sprechen zu hören, ist in der Umgebung von<br />

fast allen Kindern auf der Welt leicht verfügbar Häufig werden<br />

Kinder <strong>im</strong> Kontext täglicher Routinen angesprochen – während<br />

tausendfach wiederholter Routinen wie Essen, Windeln wechseln,<br />

Baden <strong>und</strong> Zubettgehen sowie in zahllosen Spielen wie<br />

Guck-guck oder Hoppe-hoppe-Reiter.<br />

..<br />

Abb. 6.1 Die Annahme einer kritischen Phase des Spracherwerbs <strong>im</strong> Test.<br />

Untersucht wurden Einwanderer aus Korea <strong>und</strong> China auf ihre Kenntnisse der<br />

englischen Grammatik; die Leistung hing direkt mit dem Alter zusammen, in<br />

dem sie in die Vereinigten Staaten gekommen <strong>und</strong> erstmals mit der englischen<br />

Sprache konfrontiert waren. Die Testergebnisse von Erwachsenen, die vor dem<br />

siebten Lebensjahr eingewandert waren, unterschieden sich nicht von denen<br />

muttersprachlicher Amerikaner. (Nach Johnson <strong>und</strong> Newport 1989)<br />

Säuglinge identifizieren gesprochene Sprache offensichtlich<br />

sehr früh als etwas Wichtiges: Bereits Neugeborene schenken<br />

Sprachlauten länger Aufmerksamkeit als anderen Geräuschen<br />

(Vouloumanos et al. 2010). Interessanterweise bevorzugen sie<br />

auch Laute nichtmenschlicher Pr<strong>im</strong>aten (Rhesusaffen) gegenüber<br />

nichtsprachlichen Geräuschen <strong>und</strong> zeigen erst ab einem Alter<br />

von drei Monaten eindeutige Präferenzen für gesprochene Sprache<br />

gegenüber den Lauten der Rhesusaffen (Vouloumanos et al.<br />

2010). Diese Ergebnisse zeigen, dass die auditiven Präferenzen<br />

von Säuglingen durch Erfahrungen mit menschlicher Sprache<br />

in den ersten Lebensmonaten feinjustiert werden.<br />

Kindzentrierte Sprache<br />

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen <strong>im</strong> Bus, <strong>und</strong> hinter Ihnen spricht<br />

jemand zu einer anderen Person. Könnten Sie erraten, ob diese<br />

Person zu einem kleinen Kind oder zu einem Erwachsenen spricht?<br />

Zweifellos könnten Sie das wie jeder andere auch, selbst wenn Sie<br />

in einem anderen Land wären, dessen Sprache Sie selbst nicht sprechen.<br />

Der Gr<strong>und</strong> dafür liegt darin, dass in praktisch allen Gesellschaften<br />

Erwachsene eine besondere Art des Sprechens annehmen,<br />

wenn sie zu Babys <strong>und</strong> sehr kleinen Kindern sprechen. Diese spezielle<br />

Art des Sprechens wurde ursprünglich als Ammensprache,<br />

Babytalk oder auch Mutterisch (Motherese) bezeichnet (Newport<br />

et al. 1977); der heutige Begriff Kindzentrierte Sprache (infantdirected<br />

talk, IDT) trägt dem Umstand Rechnung, dass dieser spezielle<br />

Sprachstil nicht ausschließlich von Ammen beziehungsweise<br />

Müttern verwendet wird. Tatsächlich reden sogar schon jüngere<br />

Kinder so, wenn sie Babys ansprechen (Shatz <strong>und</strong> Gelman 1973).<br />

Kindzentrierte Sprache (infant-directed talk, IDT) – Der besondere Sprachmodus,<br />

den Erwachsene annehmen, wenn sie zu Babys <strong>und</strong> Kleinkindern sprechen.


204<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

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16<br />

Exkurs 6.1: Anwendungen: Zwei Sprachen sind besser als eine | |<br />

Das Thema Bilingualismus, die Fähigkeit, zwei<br />

Sprachen zu verwenden, erhielt in den vergangenen<br />

Jahren sehr viel Aufmerksamkeit, weil<br />

<strong>im</strong>mer mehr Kinder zweisprachig aufwachsen.<br />

Fast die Hälfte aller Kinder weltweit ist regelmäßig<br />

mit mehr als einer Sprache konfrontiert,<br />

<strong>und</strong> manche Kinder beginnen schon sehr früh<br />

in ihrem Leben, zwei Sprachen zu lernen, oft<br />

weil ihre Eltern oder andere Familienmitglieder<br />

verschiedene Sprachen sprechen. Ungeachtet<br />

der Tatsache, dass bilinguale Kinder<br />

sprachlich doppelt so viel lernen müssen wie<br />

monolinguale, bringen sie die Sprachen bemerkenswert<br />

wenig durcheinander <strong>und</strong> zeigen<br />

kaum eine Verzögerung in der Sprachentwicklung.<br />

Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass<br />

bilinguales Aufwachsen auch einige kognitive<br />

Funktionen in der Kindheit <strong>und</strong> darüber hinaus<br />

verbessert. Bilinguales Lernen kann schon<br />

<strong>im</strong> Mutterleib beginnen. Neugeborene, die<br />

pränatal nur einer Muttersprache ausgesetzt<br />

waren, bevorzugen diese Sprache gegenüber<br />

allen anderen Sprachen. Und Neugeborene,<br />

deren Mütter während der Schwangerschaft in<br />

zwei Sprachen redeten, zeigten jeweils gleiche<br />

Präferenzen für diese beiden Sprachen (Byers-<br />

Heinlein et al. 2010). Bilinguale Kinder lernen<br />

ungefähr <strong>im</strong> gleichen Entwicklungstempo,<br />

die Sprachlaute in ihren beiden Sprachen<br />

zu unterscheiden, in dem es monolinguale<br />

Kinder bei ihrer einzigen Sprache tun (z. B.<br />

Albareda-Castellot et al. 2011; S<strong>und</strong>ara et al.<br />

2008). Wie kann das sein, obwohl bilinguale<br />

Kinder doppelt so viel zu lernen haben? Eine<br />

Möglichkeit wäre, dass bilinguale Kinder <strong>im</strong><br />

Vergleich zu monolingualen Kindern den<br />

sprachlichen Hinweisen ein relativ hohes Maß<br />

an Aufmerksamkeit schenken. Beispielsweise<br />

können sie die rein visuelle Information (etwa<br />

eines lautlos sprechenden Gesichts) besser<br />

nutzen als monolinguale Kinder, um zwischen<br />

unbekannten Sprachen zu unterscheiden<br />

(Sebastián-Gallés et al. 2012).<br />

Bilingualismus – Die Fähigkeit, zwei Sprachen<br />

zu sprechen.<br />

Kinder, die zwei Sprachen erwerben, scheinen<br />

diese meist nicht durcheinanderzubringen;<br />

tatsächlich sieht es so aus, als ob sie zwei<br />

getrennte sprachliche Systeme aufbauen. Sie<br />

nutzen nicht fälschlicherweise das phonologische<br />

System der einen Sprache, um Wörter der<br />

anderen Sprache auszusprechen. Zwar mag es<br />

vorkommen, dass ein Wort aus der einen Sprache<br />

gelegentlich in einen Satz der anderen<br />

Sprache hineingerät, doch halten Kinder die<br />

grammatischen Regeln der beiden Sprachen<br />

getrennt (z. B. Deuchar <strong>und</strong> Quay 1999; Paradis<br />

et al. 2000).<br />

Kinder, die sich zweisprachig entwickeln, bleiben<br />

am Anfang vielleicht in beiden Sprachen<br />

ein wenig zurück, weil ihr Wortschatz sich<br />

auf zwei Sprachen aufteilt (Oller <strong>und</strong> Pearson<br />

2002). So kann es sein, dass ein bilinguales<br />

Kind weiß, wie es ein Konzept in einer seiner<br />

Sprachen ausdrücken kann, ohne dies auch in<br />

seiner zweiten Sprache zu können. Jedoch sind<br />

sowohl der Verlauf als auch die Geschwindigkeit<br />

der Entwicklung bei bilingualen <strong>und</strong> monolingualen<br />

Kindern <strong>im</strong> Allgemeinen sehr ähnlich<br />

(Genesee <strong>und</strong> Nicoladis 2009). Und der Bilingualismus<br />

bringt, wie bereits erwähnt, kognitive<br />

Vorteile mit sich: Kinder, die in zwei Sprachen<br />

kompetent sind, schneiden bei einer Vielzahl<br />

von kognitiven Tests zu exekutiven Funktionen<br />

<strong>und</strong> zur kognitiven Kontrolle besser ab als<br />

monolinguale Kinder (Bialystok <strong>und</strong> Craik 2010;<br />

Costa et al. 2008). Neuere Bef<strong>und</strong>e bestätigen<br />

ähnliche Effekte bei bilingualen Kleinkindern<br />

(Poulin-Dubois et al. 2011). Selbst bilinguale<br />

Säuglinge scheinen bei Lernaufgaben bereits<br />

eine größere kognitive Flexibilität zu zeigen<br />

(Kovács <strong>und</strong> Mehler 2009a, 2009b). Der Zusammenhang<br />

zwischen Bilingualität <strong>und</strong> kognitiver<br />

Flexibilität ergibt sich wahrscheinlich aus der<br />

Tatsache, dass bilinguale Kinder sehr früh<br />

lernen müssen, von einer Sprache in die andere<br />

umzuschalten, <strong>und</strong> zwar be<strong>im</strong> Sprachverstehen<br />

ebenso wie bei der Sprachproduktion.<br />

Größere Schwierigkeiten treten hinsichtlich<br />

des formalen Erwerbs einer Zweitsprache<br />

später in der Schule auf. In einigen Ländern<br />

mit verschiedenen Landessprachen wie Kanada<br />

wird ein bilingualer Unterricht begrüßt,<br />

während andere Länder wie die Vereinigten<br />

Staaten dies nicht tun. Die Debatte um Bilingualismus<br />

<strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer hängt dabei mit<br />

vielen politischen, ethnischen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Einflüssen zusammen. Eine Seite dieser Diskussion<br />

spricht sich für die totale Integration<br />

aus, bei der mit Kindern ausschließlich die<br />

Landessprache gesprochen wird <strong>und</strong> sie auch<br />

ausschließlich in dieser Sprache unterrichtet<br />

werden, wobei das Ziel darin besteht, ihre<br />

Sprachkenntnisse so schnell wie möglich zu<br />

verbessern. Die andere Seite empfiehlt, den<br />

Kindern fachliche Gr<strong>und</strong>kenntnisse zunächst<br />

in ihrer Muttersprache zu vermitteln <strong>und</strong> den<br />

Anteil des Unterrichts, der in der jeweiligen<br />

Landessprache erfolgt, erst nach <strong>und</strong> nach zu<br />

steigern (Castro et al. 2011).<br />

Für die zweite Sichtweise sprechen Belege,<br />

die zeigen, dass (1) es Kindern oft nicht gelingt,<br />

fachliche Gr<strong>und</strong>kenntnisse zu erwerben,<br />

wenn diese in einer Sprache vermittelt werden,<br />

die sie nicht vollständig verstehen, <strong>und</strong><br />

dass (2) bei einer Integration beider Sprachen<br />

<strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer die Kinder die Zweitsprache<br />

leichter lernen, sich aktiver beteiligen<br />

<strong>und</strong> weniger frustriert <strong>und</strong> gelangweilt sind<br />

(August <strong>und</strong> Hakuta 1998; Crawford 1997;<br />

Hakuta 1999). Dieser Ansatz trägt auch dazu<br />

bei, einem Semilingualismus vorzubeugen –<br />

einer unvollständigen Beherrschung beider<br />

Sprachen. Das kann passieren, wenn die Kinder<br />

ihre ursprüngliche Sprache mit der Zeit<br />

<strong>im</strong>mer weniger beherrschen, weil sie in der<br />

Schule in einer zweiten Sprache unterrichtet<br />

werden.<br />

17<br />

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23<br />

..<br />

Die an Kinder gerichtete Sprache weckt die Aufmerksamkeit eines Babys<br />

<strong>und</strong> erhält sie aufrecht. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Die vielleicht auffälligste Eigenschaft Kindzentrierte Sprache<br />

ist der emotionale Tonfall. Darwin (1877) nannte sie „die<br />

süße Musik der Spezies“, eine von Zuneigung durchflutete<br />

Sprache. Eine weitere erkennbare Eigenschaft der an Kinder<br />

gerichteten Sprache ist die Übertreibung. Menschen sprechen<br />

mit Babys mit einer viel höheren St<strong>im</strong>me, als sie dies jemals<br />

gegenüber einem Erwachsenen tun würden (ausgenommen<br />

vielleicht gegenüber einem geliebten Menschen), <strong>und</strong> ihr Intonationsmuster<br />

weist extreme Schwankungen auf <strong>und</strong> stürzt<br />

abrupt von sehr hohen Tönen zu sehr niedrigen Tönen. Auch<br />

werden die Vokale deutlicher artikuliert (Kuhl et al. 1997).<br />

Dieser ganze übertriebene Sprachgebrauch geht mit ebenso<br />

übertriebenen Gesichtsausdrücken einher. Viele dieser Kennzeichen<br />

wurden bei Erwachsenen bemerkt, die ganz unterschiedliche<br />

Sprachen sprechen, beispielsweise Arabisch, Französisch,<br />

Italienisch, Japanisch, Mandarin <strong>und</strong> Spanisch (vgl.


Sprachentwicklung<br />

205 6<br />

de Boysson-Bardies 1996/1999). Dasselbe gilt für gehörlose<br />

Mütter be<strong>im</strong> Gebärden gegenüber ihren Säuglingen (Masataka<br />

1992).<br />

Auch wenn der vorherrschende emotionale Tonfall der kindzentrierte<br />

Sprache warm <strong>und</strong> liebevoll ist, variieren die Eltern<br />

älterer Kinder ihren emotionalen Ton, um wichtige Information<br />

zu vermitteln. Zum Beispiel zeigt ein mit scharf fallender Intonation<br />

geäußertes Wort dem Baby deutlich, dass sein Gegenüber<br />

etwas missbilligt, während eine gurrende St<strong>im</strong>mlage Zust<strong>im</strong>mung<br />

erkennen lässt. Dieselben Intonationsmuster werden in<br />

ganz unterschiedlichen Sprachgemeinschaften angewandt, um<br />

Zust<strong>im</strong>mung <strong>und</strong> Missbilligung zu signalisieren, vom Englischen<br />

über das Italienische bis zum Japanischen (Fernald et al.<br />

1989). Erstaunlicherweise reagieren Säuglinge auch dann auf<br />

diese Intonationsmuster mit einem jeweils dazu passenden Gesichtsausdruck,<br />

wenn ihnen die gehörte Sprache nicht vertraut<br />

ist (Fernald 1993).<br />

Kindzentrierte Sprache scheint zudem die Sprachentwicklung<br />

der Kinder zu fördern. Zunächst einmal lenkt sie<br />

die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Sprache als solche. So<br />

bevorzugen Kinder die an sie gerichtete Sprache gegenüber<br />

der an Erwachsene gerichteten Sprache (Cooper <strong>und</strong> Aslin<br />

1994; Pegg et al. 1992), <strong>und</strong> zwar selbst dann, wenn eine andere<br />

Sprache als ihrer eigene produziert wird. Beispielsweise<br />

hörten sowohl chinesische als auch amerikanische Säuglinge<br />

länger zu bei einer St<strong>im</strong>maufnahme einer chinesischen Frau,<br />

die Kantonesisch sprach, wenn diese Frau an ein Baby gerichtet<br />

sprach, als wenn dieselbe Frau einen erwachsenen Fre<strong>und</strong><br />

ansprach (Werker et al. 1994). Einige Studien lassen vermuten,<br />

dass die Präferenz der Kinder für speziell an sie gerichtete<br />

Sprache damit zusammenhängt, dass sie fröhlich klingt; wenn<br />

die emotionale St<strong>im</strong>mung des Sprechers unverändert bleibt,<br />

verschwindet die Präferenz für diese Art des Sprechens (Singh<br />

et al. 2002). Kinder lernen Wörter vielleicht auch deshalb besser,<br />

wenn sie <strong>im</strong> Tonfall kindzentrierter Sprache <strong>und</strong> nicht an<br />

Erwachsene gerichteter Sprache ausgesprochen werden, weil<br />

sie kindzentrierter Sprache insgesamt mehr Aufmerksamkeit<br />

schenken (Ma et al. 2011; Singh et al. 2009; Thiessen et al.<br />

2005).<br />

Auch wenn, wie schon erwähnt, die Kindzentrierte Sprache<br />

weltweit sehr häufig auftritt, ist sie doch nicht universell.<br />

Bei den Kwara’ae auf den Salomon-Inseln <strong>im</strong> Südpazifik, den<br />

Kaluli in Neuguinea, den Ifalok in Mikronesien <strong>und</strong> den Kaluli<br />

in Papua-Neuguinea glauben die Erwachsenen, dass den<br />

Kindern jegliche Fähigkeit zum Sprachverstehen fehlt, sodass<br />

es keinen Gr<strong>und</strong> gibt, mit ihnen zu sprechen (Le 2000;<br />

Schieffelin <strong>und</strong> Ochs 1987; Watson-Gegeo <strong>und</strong> Gegeo 1986).<br />

Beispielsweise werden die Kinder der Kaluli so getragen, dass<br />

ihr Gesicht der Umgebung zugewandt ist <strong>und</strong> sie mit anderen<br />

Menschen Blickkontakt aufnehmen können, aber nicht<br />

mit der Person, die sie gerade trägt; <strong>und</strong> wenn sie von älteren<br />

Geschwistern angesprochen werden, antwortet die Mutter für<br />

sie (Schieffelin <strong>und</strong> Ochs 1987). Auf diese Weise nehmen die<br />

Kinder, auch wenn sie noch nicht von ihren Betreuern direkt<br />

angesprochen werden, zumindest passiv am Sprachgeschehen<br />

in ihrer Umgebung teil.<br />

..<br />

In manchen Kulturen sprechen Eltern direkt zu ihren Babys, in anderen<br />

Kulturen nicht. Beinahe überall gebrauchen Erwachsene <strong>und</strong> ältere Kinder<br />

eine Form der „Babysprache“, wenn sie sich an Kleinkinder wenden. (© John<br />

Warburton-Lee/DanitaDel<strong>im</strong>ont.com)<br />

Dass Kinder am Beginn ihres Lebens mit zwei gr<strong>und</strong>legenden<br />

Notwendigkeiten für den Spracherwerb ausgestattet sind, einem<br />

menschlichen Gehirn <strong>und</strong> einer menschlichen Umwelt, ist natürlich<br />

nur der Anfang der Geschichte. Von all den Dingen, die<br />

wir als Menschen lernen, gehört die Sprache zu den komplexesten<br />

Phänomenen – Sprache ist so komplex, dass es bislang nicht<br />

gelungen ist, Computer so zu programmieren, dass sie Sprache<br />

erlernen können. Diese überwältigende Komplexität zeigt sich<br />

auch daran, dass Menschen meist große Schwierigkeiten haben,<br />

nach der Pubertät eine neue Fremdsprache zu lernen. Wie schaffen<br />

es Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder, ihre Muttersprache so erfolgreich<br />

zu erwerben? Wir wenden uns nun den vielen Schritten zu,<br />

die diese bemerkenswerte Lernentwicklung durchläuft.<br />

Der Prozess des Spracherwerbs<br />

Am Erwerb einer Sprache sind sowohl das Zuhören als auch das<br />

Sprechen (bzw. das Zuschauen <strong>und</strong> das Gebärden) beteiligt: Man<br />

muss verstehen, was andere Menschen einem sagen wollen, <strong>und</strong><br />

selbst Verständliches produzieren. Kinder achten von Anfang<br />

an darauf, was andere Menschen sagen oder gebärden, <strong>und</strong> sie<br />

wissen eine ganze Menge über Sprache, lange bevor sie selbst<br />

Sprache produzieren.


206<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

..<br />

Abb. 6.2 Die kategoriale Wahrnehmung<br />

von Sprachlauten bei<br />

Erwachsenen. Wenn Erwachsene<br />

Tonbandaufnahmen künstlicher<br />

Sprachlaute anhören, die allmählich<br />

von einem Laut in einen anderen<br />

übergehen, etwa von /ba/ zu /pa/<br />

oder umgekehrt, dann kippt ihre<br />

Wahrnehmung plötzlich von einem<br />

Laut zum anderen. (Wood 1976)<br />

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23<br />

St<strong>im</strong>meinsatz VOT (ms)<br />

Sprachwahrnehmung<br />

Der erste Schritt be<strong>im</strong> Erkennen einer Sprache besteht darin, die<br />

Laute der eigenen Muttersprache wahrzunehmen. Wir haben in<br />

▶ Kap. 2 gesehen, dass die Aufgabe des Spracherwerbs schon <strong>im</strong><br />

Mutterleib beginnt, wo der Fetus die Präferenz für die St<strong>im</strong>me<br />

seiner Mutter <strong>und</strong> die Sprache, die sie spricht, entwickelt. Die<br />

Basis für dieses sehr frühe Lernen ist die Prosodie, das heißt die<br />

charakteristischen Muster, mit denen eine Sprache gesprochen<br />

wird: Rhythmus, Tempo, Tonfall, Melodie, Intonation <strong>und</strong> so<br />

weiter. Unterschiede in der Prosodie sind zum großen Teil dafür<br />

verantwortlich, dass Sprachen – vom Japanischen über das Französische<br />

bis zum Suaheli – so unterschiedlich klingen.<br />

Prosodie – Die charakteristischen Muster, mit denen eine Sprache gesprochen<br />

wird: Rhythmus, Tempo, Tonfall, Melodie, Intonation <strong>und</strong> so weiter.<br />

Außer der Prosodie schließt die Sprachwahrnehmung auch die<br />

Unterscheidung zwischen den Sprachlauten ein, die in der jeweiligen<br />

Sprache unterschiedliche Bedeutung haben. Um zum<br />

Beispiel Deutsch zu lernen, muss man zwischen Rippe <strong>und</strong> Lippe,<br />

Bulle <strong>und</strong> Pulle, Deich <strong>und</strong> Teich unterscheiden. Bemerkenswerterweise<br />

müssen Kinder nicht lernen, diese Unterschiede zu<br />

hören; Säuglinge nehmen sprachliche Laute bereits in derselben<br />

Weise wahr wie Erwachsene.<br />

Die kategoriale Wahrnehmung von sprachlichen<br />

Lauten<br />

Sowohl Erwachsene als auch Säuglinge nehmen sprachliche<br />

Laute so wahr, als ob sie diskreten Klassen angehören. Dieses<br />

Phänomen wird kategoriale Wahrnehmung genannt. Es wurde<br />

durch die Untersuchung der Reaktionen auf künstliche Sprachlaute<br />

nachgewiesen. Bei diesen Forschungen wurde ein Sprachsynthesizer<br />

eingesetzt, um einen Sprachlaut, beispielsweise ein<br />

/b/, allmählich <strong>und</strong> kontinuierlich in einen ähnlichen Sprachlaut,<br />

beispielsweise ein /p/, zu verwandeln. Diese beiden Phoneme<br />

befinden sich auf einem akustischen Kontinuum; sie werden in<br />

exakt derselben Weise produziert, mit Ausnahme eines entscheidenden<br />

Unterschieds – der Zeitdauer zwischen dem Freilassen<br />

des Luftstroms durch die Lippen <strong>und</strong> dem Einsetzen der Vibration<br />

der St<strong>im</strong>mbänder. Diese zeitliche Verzögerung nennt man<br />

die St<strong>im</strong>meinsatzzeit (Voice Onset T<strong>im</strong>e, VOT). Sie ist bei einem<br />

/b/ (15 ms) viel kürzer als bei einem /p/ (100 ms). (Versuchen Sie<br />

einmal, mehrmals hintereinander abwechselnd „ba“ <strong>und</strong> „pa“ zu<br />

sagen; Sie werden dann vermutlich erleben, was mit St<strong>im</strong>meinsatzzeitgemeint<br />

ist.)<br />

Kategoriale Wahrnehmung – Im neurologischen System des Menschen verankerte<br />

Tendenz, bei der Wahrnehmung von Reizen, die auf einer kontinuierlichen<br />

D<strong>im</strong>ension variieren, kategorial unterschiedliche Qualitäten wahrzunehmen.<br />

St<strong>im</strong>meinsatzzeit (Voice Onset T<strong>im</strong>e, VOT) – Wichtiger Parameter zur Beschreibung<br />

menschlicher Sprachlaute: Zeitdauer zwischen der Freilassung des<br />

Luftstroms durch die Lippen bis zum Einsetzen der Vibration der St<strong>im</strong>mbänder.<br />

Die Forscher stellten Tonbandaufnahmen her, auf denen künstliche<br />

Sprachlaute auf diesem Kontinuum variieren, sodass sich<br />

jeder Laut vom vorhergehenden ein wenig unterscheidet <strong>und</strong><br />

insgesamt ein /b/ nach <strong>und</strong> nach in ein /p/ übergeht. Erstaunlicherweise<br />

nehmen erwachsene Hörer diesen kontinuierlichen<br />

Übergang zwischen den Lauten jedoch nicht als kontinuierlich<br />

wahr (. Abb. 6.2). Stattdessen hören sie eine mehrfache Wiederholung<br />

von /b/ <strong>und</strong> dann einen abrupten Wechsel zu /p/. Alle<br />

Laute auf diesem Kontinuum mit einer St<strong>im</strong>meinsatzzeit von weniger<br />

als 25 ms werden als /b/ wahrgenommen, <strong>und</strong> alle Laute<br />

mit einer St<strong>im</strong>meinsatzzeit über 25 ms werden als /p/ wahrgenommen.<br />

Erwachsene trennen das kontinuierliche Signal somit<br />

automatisch in zwei diskontinuierliche Kategorien: /b/ <strong>und</strong> /p/.<br />

Diese Wahrnehmung, bei der ein Kontinuum zwei getrennten<br />

Kategorien zugeordnet wird, ist eine nützliche Fähigkeit, weil sie<br />

es ermöglicht, den in einer Sprache bedeutsamen Lautunterschieden<br />

Aufmerksamkeit zuzuwenden, zum Beispiel bei den Lauten<br />

/b/ <strong>und</strong> /p/, <strong>und</strong> dabei unwichtige Unterschiede zu ignorieren,<br />

wie etwa unterschiedliche St<strong>im</strong>meinsatzzeiten von 10 bzw. 20 ms<br />

bei einem /b/.<br />

Kleine Babys treffen bereits dieselben scharfen Unterscheidungen<br />

zwischen Sprachlauten. Dieser bemerkenswerte Sachverhalt<br />

wurde mithilfe der Habituationstechnik nachgewiesen,<br />

die Sie bereits aus den vorangegangenen Kapiteln kennen. In<br />

der ursprünglichen, klassischen Untersuchung saugten ein <strong>und</strong><br />

vier Monate alte Säuglinge an einem Schnuller, der mit einem<br />

Computer verb<strong>und</strong>en war (E<strong>im</strong>as et al. 1971, eine der 100 am


Sprachentwicklung<br />

207 6<br />

häufigsten zitierten psychologischen Untersuchungen). Das<br />

Saugen führte dazu, dass ihnen sprachliche Laute eingespielt<br />

wurden, denen sie zuhören konnten. Nachdem sie denselben<br />

Laut wiederholt gehört hatten, saugten die Babys nach <strong>und</strong> nach<br />

weniger begeistert (Habituation). Dann wurde ein neuer Laut<br />

vorgespielt. Wenn die Saugreaktion der Kinder auf den neuen<br />

Laut hin anstieg, konnte daraus geschlossen werden, dass die<br />

Kinder den neuen Laut von dem alten unterscheiden konnten<br />

(Dishabituation).<br />

Der entscheidende Faktor in dieser Untersuchung war die<br />

Beziehung zwischen den alten <strong>und</strong> den neuen Lauten – insbesondere<br />

kam es darauf an, ob sie aus derselben oder aus unterschiedlichen<br />

Phonemkategorien Erwachsener stammten. Bei einer<br />

Gruppe von Babys gehörte der neue Laut aus einer anderen<br />

Kategorie. Sie hörten nach der Habituation auf eine Reihe von<br />

Lauten, die Erwachsene als /b/ wahrnehmen, bei verstärktem<br />

Saugen nun einen Laut, den Erwachsene als /p/ identifizieren. Bei<br />

der zweiten Gruppe stammte der alte wie der neue Laut aus derselben<br />

Kategorie (d. h., Erwachsene würden beide Laute als /b/<br />

wahrnehmen). In beiden Gruppen unterschieden sich der neue<br />

<strong>und</strong> der alte Laut in den St<strong>im</strong>meinsatzzeiten in gleichem Ausmaß<br />

– ein entscheidender Punkt bei diesem Untersuchungsdesign.<br />

. Abbildung 6.3 zeigt, dass die Säuglinge ihre Saugrate nach<br />

der Habituation auf /b/ erhöhten, wenn der neue Laut aus einer<br />

anderen Phonemklasse stammte (/p/ statt /b/). Die Habituation<br />

setzte sich jedoch fort, wenn der neue Laut in dieselbe Lautklasse<br />

fiel wie der ursprüngliche. Seit der Veröffentlichung dieser klassischen<br />

Untersuchung konnten Forscher nachweisen, dass Säuglinge<br />

genauso wie Erwachsene eine Vielzahl sprachlicher Laute<br />

kategorial wahrnehmen (Aslin et al. 1998).<br />

Ein faszinierendes Ergebnis dieser Forschung ist der Bef<strong>und</strong>,<br />

dass Babys tatsächlich mehr Unterscheidungen treffen als Erwachsene.<br />

Diese ziemlich überraschende Beobachtung hängt damit<br />

zusammen, dass alle Sprachen nur eine Teilmenge der großen<br />

Vielfalt an Phonemklassen verwenden, die es gibt. Wir haben bereits<br />

darauf hingewiesen, dass die Laute /r/ <strong>und</strong> /l/ <strong>im</strong> Deutschen<br />

<strong>und</strong> Englischen, aber nicht <strong>im</strong> Japanischen einen Unterschied<br />

bedeuten. In ähnlicher Weise nehmen Sprecher des Arabischen,<br />

aber nicht des Deutschen, einen Unterschied zwischen dem<br />

/k/-Laut in „Kiemen“ <strong>und</strong> „Kuchen“ wahr. Erwachsene nehmen<br />

einfach die meisten Unterschiede der sprachlichen Laute nicht<br />

wahr, die in ihrer Muttersprache keine Bedeutung besitzen, was<br />

zum Teil erklärt, warum es für Erwachsene so schwierig ist, eine<br />

zweite Sprache zu erlernen.<br />

Im Gegensatz dazu können Kleinkinder phonemische Kontraste<br />

aller Sprachen dieser Welt unterscheiden – über 600 Konsonanten<br />

<strong>und</strong> 200 Vokale. Zum Beispiel zeigen die Forschungen,<br />

dass die Kinder der Kikuyu in Afrika genauso gut wie amerikanische<br />

Kinder sind, wenn es darum geht, englische Phonemkontraste<br />

zu entdecken, die in der Sprache der Kikuyu nicht<br />

vorkommen (Streeter 1976). Untersuchungen an Kleinkindern<br />

aus Englisch sprechenden Familien haben gezeigt, dass sie Unterschiede<br />

entdecken, die nicht <strong>im</strong> Englischen, aber in Sprachen wie<br />

Deutsch <strong>und</strong> Spanisch, aber auch Thai, Hindi <strong>und</strong> Zulu bestehen<br />

(Jusczyk 1997).<br />

Diese Forschungen lassen eine Fähigkeit erkennen, die sowohl<br />

angeboren ist in dem Sinne, dass sie bei der Geburt bereits<br />

Entwicklungsveränderungen<br />

bei der Sprachwahrnehmung<br />

In den letzten Monaten ihres ersten Lebensjahres richten sich<br />

die Kinder zunehmend auf die Laute ihrer Muttersprache ein<br />

<strong>und</strong> haben mit zwölf Monaten die Fähigkeit „verloren“, Sprachlaute<br />

wahrzunehmen, die nicht dazugehören. Anders gesagt, die<br />

Lautwahrnehmung ist jetzt ähnlich wie bei Erwachsenen. Der<br />

ursprüngliche Nachweis dieser Veränderung wurde von Werker<br />

<strong>und</strong> ihren Mitautoren (Werker 1989; Werker <strong>und</strong> Lalonde 1988;<br />

Werker <strong>und</strong> Tees 1984) erbracht, die die Fähigkeit von Kindern<br />

unterschiedlichen Alters zwischen sechs <strong>und</strong> zwölf Monaten testeten,<br />

sprachliche Laute zu unterscheiden. Die Kinder stammten<br />

alle aus Englisch sprechenden Familien <strong>und</strong> wurden mit Lautkontrasten<br />

getestet, die <strong>im</strong> Englischen keine Rolle spielen, aber<br />

in zwei anderen Sprachen wichtig sind – Hindi <strong>und</strong> Nthlakapmx<br />

(einer Sprache, die von nordamerikanischen Indianern <strong>im</strong> Pazifia<br />

b c d<br />

..<br />

Abb. 6.3 Die kategoriale Wahrnehmung von Sprachlauten bei Säuglingen.<br />

Ein <strong>und</strong> vier Monate alte Babys wurden auf eine Tonbandaufnahme mit<br />

künstlichen Lauten habituiert. a Eine Gruppe hörte wiederholt einen /ba/-<br />

Laut mit einer St<strong>im</strong>meinsatzzeit (VOT) von 20 ms <strong>und</strong> habituierte allmählich<br />

darauf. b Wenn sich der Laut /pa/ mit einer Einsatzzeit von 40 ms änderte,<br />

erfolgte eine Dishabituation, was darauf schließen lässt, dass sie den Unterschied<br />

zwischen den beiden Lauten ebenso wahrnahmen wie Erwachsene.<br />

c Eine andere Gruppe wurde auf einen /pa/-Laut mit einer St<strong>im</strong>meinsatzzeit<br />

von 60 ms habituiert. d Wenn sich der Laut zu einem anderen /pa/-Laut mit<br />

einer Einsatzzeit von 80 ms veränderte, blieben die Säuglinge habituiert; das<br />

legt nahe, dass sie ebenso wie Erwachsene keinen Unterschied zwischen<br />

diesen Lauten wahrnahmen. (E<strong>im</strong>as et al. 1971)<br />

vorhanden ist, als auch unabhängig von Erfahrungen, weil Kinder<br />

sprachliche Laute unterscheiden können, die sie zuvor noch<br />

niemals gehört haben. Wahrscheinlich ist diese von Geburt an<br />

vorhandene Fähigkeit zur Unterscheidung sprachlicher Laute für<br />

die Kinder enorm hilfreich, weil sie sie wesentlich darauf vorbereitet,<br />

jede beliebige Sprache auf der Welt, die sie hören, zu<br />

lernen. Die entscheidende Rolle der frühen Sprachwahrnehmung<br />

für den Spracherwerb spiegelt sich in der Beziehung zwischen<br />

den Sprachwahrnehmungsfähigkeiten der Säuglinge <strong>und</strong> ihren<br />

späteren Sprachfähigkeiten wider. Babys, die mit sechs Monaten<br />

Unterschiede zwischen Sprachlauten besser heraushörten als<br />

Gleichaltrige, schnitten mit 13 <strong>und</strong> 24 Monaten besser in einem<br />

Wortschatz- <strong>und</strong> Grammatiktest ab (Tsao et al. 2004).


208<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

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..<br />

Abb. 6.4 Sprachwahrnehmung. Dieses Kind n<strong>im</strong>mt <strong>im</strong> Labor von Janet Werker an einer Untersuchung zur Sprachwahrnehmung teil. Das Baby hat gelernt,<br />

seinen Kopf in Richtung der Geräuschquelle zu drehen, sobald es be<strong>im</strong> Übergang von einem Laut zum nächsten eine Veränderung hört. Eine korrekte Kopfdrehung<br />

wird mit einer interessanten optischen Darbietung belohnt sowie mit dem Beifall <strong>und</strong> Lob der Versuchsleiterin. Um sicherzustellen, dass weder die<br />

Mutter noch die Versuchsleiterin das Verhalten des <strong>Kindes</strong> beeinflussen, tragen die beiden Erwachsenen Gehörschützer, sodass sie nicht hören können, was<br />

das Baby hört. (Aus: © Werker 1989, S. 59; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung von American Scientist, Journal of Sygma Xi, The Scientific Research Society; Photos<br />

Courtesy of Peter Mcleod, Acadia University)<br />

schen Nordwesten gesprochen wird). Die Forscherinnen verwendeten<br />

dabei ein einfaches Konditionierungsverfahren (. Abb. 6.4).<br />

Die Kinder lernten, dass sie sich einen interessanten Anblick auf<br />

einem Sichtschirm verschaffen konnten, wenn sie ihren Kopf zur<br />

Seite drehten, sobald sie in einer Serie von Lauten, die ihnen<br />

vorgespielt wurde, eine Veränderung hörten. Man schloss also<br />

auf die Fähigkeit zur Unterscheidung sprachlicher Laute, wenn<br />

die Kinder ihren Kopf schnell in die richtige Richtung drehten,<br />

nachdem eine Lautveränderung aufgetreten war.<br />

. Abbildung 6.5 zeigt, dass die Kinder mit sechs bis acht Monaten<br />

die gehörten Laute leicht unterscheiden konnten; sie konnten<br />

zwei Silben auf Hindi gut auseinanderhalten <strong>und</strong> ebenso zwei<br />

Laute in Nthlakapmx unterscheiden. Mit zwölf Monaten hörten<br />

die Kinder jedoch die Unterschiede, die sie ein paar Monate<br />

früher noch entdeckt hatten, nicht mehr. Zwei Silben auf Hindi,<br />

die sie anfangs unterschieden hatten, hörten sie nun als gleich.<br />

Eine ähnliche Veränderung tritt bei Vokalen ein, jedoch schon in<br />

etwas früherem Alter (Kuhl et al. 1992; Polka <strong>und</strong> Werker 1994).<br />

Interessanterweise scheint diese Wahrnehmungsverengung kein<br />

vollständig passiver Prozess zu sein. Kuhl et al. (2003) fanden<br />

heraus, dass die Kinder in direkter Interaktion mit einem chinesischen<br />

Sprecher mehr über die phonetische Struktur des Mandarin<br />

lernten als be<strong>im</strong> Ansehen eines Videos.<br />

Ist dieser Prozess der Wahrnehmungsverengung auf die<br />

Sprache beschränkt? Um diese Frage zu beantworten, wurde<br />

kürzlich untersucht, inwieweit diese Verengung auch bei der<br />

amerikanischen Gebärdensprache (ASL) auftritt (Palmer et al.<br />

2012). Zunächst wurde untersucht, inwieweit Säuglinge, die nie<br />

zuvor Gebärdensprache erlebt hatten, zwischen sehr ähnlichen<br />

ASL-Gebärden mit deutlich unterschiedlichen Handhaltungen<br />

unterscheiden konnten. Wie sich zeigte, können vier Monate alte<br />

Babys tatsächlich den Unterschied zwischen diesen Zeichen der<br />

Gebärdensprache wahrnehmen. Allerdings konnten <strong>im</strong> Alter von<br />

14 Monaten nur noch diejenigen Kinder den Unterschied der<br />

Handzeichen feststellen, die Gebärdensprache lernten – die Kinder,<br />

die nicht mit der Gebärdensprache aufwuchsen, hatten ihre<br />

Diskr<strong>im</strong>inierungsfähigkeit jedoch verloren. Das Phänomen der<br />

Wahrnehmungsverengung betrifft also nicht nur die gesprochene<br />

Sprache. Tatsächlich kann dieser Prozess breite Bereiche<br />

betreffen, wie die Diskussion in ▶ Kap. 5 zur Verengung be<strong>im</strong><br />

Wahrnehmen von Gesichtern bzw. des Rhythmus in der Musik<br />

verdeutlicht.<br />

Kinder beginnen <strong>im</strong> Alter von etwa acht Monaten damit, sich<br />

bei der Unterscheidung der Sprachlaute zu spezialisieren, wobei<br />

sie ihre Sensibilität für Laute ihrer Muttersprache, die sie ständig<br />

in ihrer Umgebung hören, aufrechterhalten, während sie für<br />

nichtmuttersprachliche Laute ihre Sensibilität verlieren. Tatsächlich<br />

gehört es <strong>im</strong> ersten Lebensjahr für ein Kind zu den größten<br />

Leistungen, die Muttersprache wahrzunehmen.<br />

Wahrnehmungsverengung (perceptual narrowing) – Anpassungsprozess an<br />

die jeweilige Umwelt, bei dem nach Beendigung einer sensiblen Lernphase nur<br />

noch best<strong>im</strong>mte bedeutsame Reizqualitäten unterschieden werden.<br />

Wortsegmentierung<br />

Wenn kleine Kinder sich auf die sprachlichen Laute ihrer Muttersprache<br />

einzustellen beginnen, fangen sie auch an, eine andere<br />

gr<strong>und</strong>legende Struktur zu entdecken: die Wörter. Das ist keine<br />

einfache Sache. Anders als bei den gedruckten Wörtern auf dieser<br />

Seite gibt es zwischen gesprochenen (oder gebärdeten) Wörtern<br />

keine Lücken. Das heißt, Babys hören einen ununterbrochenen<br />

Wortstrom wie vielleicht den folgenden: „Wasfüreinhübsches-<br />

Baby.SoeinhübschesKindhabeichjanochniegesehen.“ 1 Sie müs-<br />

1 Die englischen Kunstwörter, die bei den Untersuchungen verwendet wurden,<br />

sind hier durch deutsche Pendants wiedergegeben. Anm. d. Red.


Sprachentwicklung<br />

209 6<br />

..<br />

Abb. 6.5 Prozentsatz von Säuglingen, die fremdsprachliche Sprachlaute<br />

unterscheiden können. Die Fähigkeit von Säuglingen, Sprachlaute einer<br />

anderen als ihrer Muttersprache zu unterscheiden, n<strong>im</strong>mt zwischen dem<br />

sechsten <strong>und</strong> dem zwölften Lebensmonat ab. Die meisten sechs Monate<br />

alten Kinder aus Englisch sprechenden Familien unterscheiden zwischen Silben<br />

in Hindi (blaue Balken) <strong>und</strong> Nthlakapmx (grüne Balken), die meisten zehn<br />

bis zwölf Monate alten Kinder aber nicht. (Nach Werker 1989)<br />

sen erst herausfinden, wo ein Wort beginnt oder endet. Dieser<br />

Prozess der Wortsegmentierung beginnt bei den Kindern in der<br />

zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres.<br />

Wortsegmentierung – Das Erkennen von Anfang <strong>und</strong> Ende eines Wortes <strong>im</strong><br />

Sprachstrom.<br />

Die kindliche Wortsegmentierung wurde erstmals in einer Untersuchung<br />

gezeigt, bei der Jusczyk <strong>und</strong> Aslin (1995) das Kopf-<br />

Dreh-Paradigma anwenden, um die auditiven Präferenzen festzustellen.<br />

Bei dieser Studie hörten sieben Monate alte Kinder<br />

zunächst gesprochene Satzfolgen, in denen ein best<strong>im</strong>mtes Wort<br />

in jedem Satz wiederkehrte wie in der folgenden Textpassage:<br />

„The cup was bright and shiny. A clown drank from the red cup.<br />

His cup was filled with milk.“ („Die Tasse war hell <strong>und</strong> glänzte;<br />

ein Clown trank aus der roten Tasse; seine Tasse war mit Milch<br />

gefüllt.“) Nachdem die Kinder diese Satzfolgen mehrfach gehört<br />

hatten, wurden sie anhand der Präferenz be<strong>im</strong> Kopfdrehen darauf<br />

getestet, ob sie die sich wiederholenden Wörter in den Sätzen<br />

entdecken konnten. Bei diesem Paradigma sind links <strong>und</strong> rechts<br />

von den Kindern Lautsprecher in die Wand eingelassen, in deren<br />

Nähe sich ein Blinklicht befindet, das die Aufmerksamkeit<br />

der Kinder auf die eine oder die andere Seite richtet. Sobald das<br />

Kind sein Gesicht zu einem der Blinklichter hindreht, wird ein<br />

akustischer Reiz durch den Lautsprecher vorgespielt, der so lange<br />

anhält, wie das Baby in diese Richtung blickt. Die Zeitspanne, in<br />

der das Kind das Licht betrachtet – <strong>und</strong> damit auf den Laut hört<br />

–, wird als Maß dafür genommen, wie sehr sich das Kind durch<br />

diesen Laut angezogen fühlt.<br />

Bei dieser Untersuchung wurde die Präferenz für Wörter<br />

getestet, die sich in den zuvor gehörten Satzfolgen wiederholt<br />

hatten, wie cup, oder nicht vorgekommen waren. Es zeigte sich,<br />

dass die Kinder solche Wörter länger anhörten, die wiederholt<br />

in den zuvor präsentierten Satzfolgen vorgekommen waren, als<br />

Wörter, die nie dort aufgetaucht waren. Dieser Bef<strong>und</strong> zeigt, dass<br />

die Kinder einzelne Wörter aus dem Sprachstrom herausziehen<br />

konnten – eine Aufgabe, an der auch hochentwickelte Software<br />

zur Spracherkennung oft scheitert.<br />

Wie können Kinder in einem ununterbrochenen Sprachstrom<br />

Wörter entdecken? Sie scheinen erstaunlich gut darin zu<br />

sein, Regelmäßigkeiten in ihrer Muttersprache aufzugreifen, die<br />

ihnen be<strong>im</strong> Herausfinden der Wortgrenzen weiterhelfen. Zu<br />

diesen Regelmäßigkeiten gehören das Betonungsmuster <strong>und</strong> die<br />

Prosodie. Im Englischen <strong>und</strong> Deutschen liegt bei zweisilbigen<br />

Wörtern die Betonung meist auf der ersten Silbe (wie bei englisch,<br />

öfter, zweitens). Mit acht Monaten erwarten englischsprachige<br />

Kinder betonte Silben zu Beginn eines Wortes <strong>und</strong> können diese<br />

Information nutzen, um Wörter aus dem Sprachstrom herauszuziehen<br />

(Curtin et al. 2005; Johnson <strong>und</strong> Jucszyk 2001; Jusczyk<br />

et al. 1999; Thiessen <strong>und</strong> Saffran 2003).<br />

Eine weitere Regelhaftigkeit, für die die Kinder überraschend<br />

sensibel sind, betrifft die Verteilungscharakteristik in der Sprache,<br />

die sie hören. In jeder Sprache treten best<strong>im</strong>mte Laute mit<br />

größerer Wahrscheinlichkeit zusammen auf als andere. Die Sensibilität<br />

für eine derartige Regelhaftigkeit <strong>im</strong> Sprachstrom wurde<br />

durch eine elegante Reihe von Exper<strong>im</strong>enten zum statistischen<br />

Lernen nachgewiesen, bei der die Babys neue Wörter allein auf<br />

der Basis der Regelhaftigkeit lernten, mit der ein best<strong>im</strong>mter Laut<br />

auf einen anderen folgt (Aslin et al. 1998; Saffran et al. 1996). Die<br />

Säuglinge in dieser Untersuchung hörten 2 min lang ein Band mit<br />

vier verschiedenen dreisilbigen „Wörtern“ (z. B. tupiro, golabu,<br />

bidaku, padoti), die in zufälliger Abfolge ohne Pausen zwischen<br />

den „Wörtern“ wiederholt wurden. Nach einer Reihe von Testdurchgängen<br />

wurden den Babys manchmal die „Wörter“, die sie<br />

gehört hatten, <strong>und</strong> manchmal „Nichtwörter“ vorgespielt – die<br />

gleichen Silben, aber in anderer Kombination über Wortgrenzen<br />

hinweg wie beispielsweise kupadu, das aus dem Ende von bidaku<br />

<strong>und</strong> dem Anfang von padoti besteht.<br />

Verteilungscharakteristik – Das Phänomen, dass in jeder Sprache best<strong>im</strong>mte<br />

Laute mit höherer Wahrscheinlichkeit zusammen auftreten als andere.<br />

Die Kinder achteten bei dieser Untersuchung mit dem bereits<br />

bei der Studie von Jusczyk <strong>und</strong> Aslin (1995) beschriebenen<br />

Kopfdrehen als Indikator für die Präferenz länger auf die neuartigen<br />

„Nichtwörter“. Entsprechend müssen die Babys registriert<br />

haben, dass best<strong>im</strong>mte Silben in dem von ihnen gehörten<br />

Sprachbeispiel häufig zusammen auftraten; sie hörten, dass auf<br />

„bi“ <strong>im</strong>mer „da“ <strong>und</strong> auf „da“ <strong>im</strong>mer „ku“ folgt, dass aber auf<br />

„ku“ drei unterschiedliche Silben folgen können („tu“, „go“ oder<br />

„pa“). Die Kinder nutzen also die sich wiederholenden Sprachmuster,<br />

um Wörter aus dem kontinuierlichen sprachlichen<br />

Strom herauszuhören. Diese Fähigkeit, aus Verteilungsmustern<br />

zu lernen, schließt auch die gewöhnlichen Sprachen ein; so können<br />

englischsprachige Kinder ähnliche statistische Muster in der<br />

italienischen Gebärdensprache (IDS) nachverfolgen (Pelucchi<br />

et al. 2009).


210<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

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21<br />

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23<br />

..<br />

Wie schnell könnten Sie aus dem hier gezeigten Sprachstrom ein Wort<br />

heraushören? Acht Monate alte Babys brauchen dafür gerade mal 2 min<br />

Das Entdecken der Regelmäßigkeiten <strong>im</strong> Verteilungsmuster<br />

der Laute unterstützt das Wortlernen. So lernten 17 Monate<br />

alte Säuglinge rasch, in langen Sprachströmen die sich wiederholenden<br />

neuen „Wörter“ wie t<strong>im</strong>ay oder dobu als Bezeichnungen<br />

für Objekte zu erkennen (Graf Estes et al. 2007). Und<br />

auf ähnliche Weise konnten 17 Monate alte Kinder italienische<br />

Wörter wie mela <strong>und</strong> bici aus einem italienischen Sprachstrom<br />

als Bezeichnungen Objekten zuordnen, obwohl sie zuvor nie<br />

Italienisch gehört hatten (Hay et al. 2011). Die Erfahrung mit<br />

Lautfolgen, aus denen sich Wörter zusammensetzen, erleichtert<br />

es offenbar den Kindern, die Wörter mit best<strong>im</strong>mten Referenten<br />

zu verknüpfen.<br />

Die vielleicht hervorstechendste Regelhaftigkeit in dem, was<br />

Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder hören, ist ihr eigener Name. Schon<br />

mit viereinhalb Monaten achten sie in einem Strom von Sprachlauten,<br />

den sie hören, selektiv auf die Laute ihres eigenen Namens<br />

(Mandel et al. 1995). Wenige Wochen später können sie ihren<br />

eigenen Namen auch aus Gesprächen <strong>im</strong> Hintergr<strong>und</strong> herausfiltern<br />

(Newman 2005). Diese Fähigkeit unterstützt das weitere<br />

Entdecken neuer Wörter <strong>im</strong> Sprachstrom. Nachdem beispielsweise<br />

der sechs Monate alte Jerry <strong>im</strong>mer wieder den Satz „Das<br />

ist Jerrys Tasse“ gehört hat, wird er das Wort Tasse in Verbindung<br />

mit seinem Namen leichter lernen, als wenn es nicht damit assoziiert<br />

aufgetreten wäre (Bortfeld et al. 2009). Im Laufe der Zeit<br />

erkennen die Kinder <strong>im</strong>mer mehr vertraute Wörter <strong>im</strong> Sprachstrom,<br />

was es ihnen zunehmend leichter macht, be<strong>im</strong> Hören von<br />

Sprache neue Wörter zu identifizieren.<br />

Höhle <strong>und</strong> Weissenborn (2000) konnten darüber hinaus zeigen,<br />

dass Deutsch lernende Kleinkinder <strong>im</strong> Verlauf der ersten<br />

18 Lebensmonate auch schon lexikalische Information verarbeiten<br />

<strong>und</strong> zur Identifizierung <strong>und</strong> Kategorisierung von Einheiten<br />

<strong>im</strong> sprachlichen Input heranziehen können. So erkennen sie mit<br />

sieben bis acht Monaten unbetonte Lautfolgen, die Artikelformen<br />

wie der oder Präpositionen wie bei entsprechen, in einem auditiv<br />

dargebotenen Text wieder.<br />

Babys verfügen über enorme Fähigkeiten, in ihrer Sprachumgebung<br />

Muster zu identifizieren. Sie beginnen mit der Fähigkeit,<br />

relevante Unterscheidungen zwischen sprachlichen Lauten zu<br />

treffen, <strong>und</strong> engen ihren Fokus dann auf diejenigen Laute ein,<br />

die sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit hören <strong>und</strong> die in der<br />

Sprache, die sie selbst erwerben, einen Bedeutungsunterschied<br />

wiedergeben. Diese Entwicklungsprozesse bilden die Gr<strong>und</strong>lage<br />

dafür, dass sie nicht nur bei ihrer Muttersprache <strong>im</strong>mer bessere<br />

Hörer werden, sondern selbst zu sprechen beginnen.<br />

Vorbereitung auf die Sprachproduktion<br />

In ihren ersten Monaten bereiten sich Babys auf das Sprechen<br />

vor. Das Lautrepertoire, das sie produzieren können, ist in den<br />

ersten beiden Lebensmonaten noch sehr stark eingeschränkt. Sie<br />

weinen, niesen, seufzen, rülpsen <strong>und</strong> schmatzen mit den Lippen,<br />

aber ihr Vokaltrakt ist noch nicht hinreichend entwickelt,<br />

um damit so etwas wie richtige sprachliche Laute hervorbringen<br />

zu können. Mit etwa sechs bis acht Wochen beginnen die Kinder<br />

dann plötzlich, einfache sprachliche Laute zu produzieren<br />

– lange, anhaltende vokalische Laute wie „oooh“ oder „aaah“<br />

oder Konsonant-Vokal-Kombinationen wie „gu“. Diese Form<br />

des Lautierens wird auch cooing genannt (vom englischen to<br />

coo, das „gurren“ oder „girren“ bedeutet). Die Babys unterhalten<br />

sich selbst mit Vokalgymnastik, wechseln von tiefen Grunzern<br />

zu hohen Schreien, von sanftem Murmeln zu lautem Rufen. Sie<br />

machen Knacklaute <strong>und</strong> produzieren Schmatzer, schnauben,<br />

quietschen <strong>und</strong> kreischen – alles mit offensichtlicher Freude<br />

<strong>und</strong> Faszination. Durch diese Übung gewinnen die Säuglinge<br />

motorische Kontrolle über ihre Vokalisationen.<br />

Zur gleichen Zeit, in der sich ihr Lautrepertoire erweitert,<br />

werden sich die Kinder zunehmend der Tatsache bewusst, dass<br />

ihre Vokalisationen bei anderen Reaktionen hervorrufen, <strong>und</strong><br />

sie beginnen mit ihren Eltern wechselseitige Dialoge von „oooh“<br />

<strong>und</strong> „aaah“, von „uuuh“ <strong>und</strong> „iiih“. Mit verbesserter motorischer<br />

Kontrolle ihrer Vokalisation <strong>im</strong>itieren sie <strong>im</strong>mer mehr die Laute<br />

ihrer „Gesprächspartner“ <strong>und</strong> produzieren sogar höhere Laute,<br />

wenn sie mit ihren Müttern interagieren, <strong>und</strong> tiefere Laute <strong>im</strong><br />

Umgang mit ihren Vätern (de Boysson-Bardies 1996/1999).<br />

Plappern<br />

Irgendwann zwischen dem sechsten <strong>und</strong> zehnten Lebensmonat,<br />

<strong>im</strong> Durchschnitt etwa mit sieben Monaten, erreichen sie einen<br />

wichtigen Meilenstein ihrer Sprachentwicklung: Die Babys beginnen<br />

zu plappern (babbling). Be<strong>im</strong> normalen Plappern werden<br />

Silben produziert, die aus einem Konsonanten <strong>und</strong> einem darauffolgenden<br />

Vokal bestehen („pa“, „ba“, „ma“) <strong>und</strong> wiederholt<br />

aneinandergereiht werden („papapa“). Früher hat man angenommen,<br />

dass Kinder eine große Menge an Lauten aus ihrer eigenen<br />

Sprache <strong>und</strong> aus anderen Sprachen plappern (Jakobson 1941/<br />

1968), aber neuere Forschung ließ erkennen, dass Babys nur mit<br />

einer recht eingeschränkten Menge von Lauten plappern, zu denen<br />

auch einige Laute gehören, die nicht aus ihrer Muttersprache<br />

stammen (de Boysson-Bardies 1996/1999).<br />

Plappern – Das wiederholenden Produzieren von Lautfolgen aus Konsonant-<br />

Vokal-Silben wie „bababa“ be<strong>im</strong> Sprechen oder Handbewegungen be<strong>im</strong> Gebärden,<br />

das in den frühen Phasen der Sprachentwicklung zu beobachten ist.


Sprachentwicklung<br />

211 6<br />

..<br />

Abb. 6.6 Stilles Plappern. Babys, die mit der Zeichensprache ihrer gehörlosen Eltern konfrontiert sind, beteiligen sich am „stillen Plappern“. Ein Teil ihrer<br />

Handbewegungen unterscheidet sich insofern von denen solcher Kinder, die mit gesprochener Sprache aufwachsen, als ihr langsamerer Rhythmus mit dem<br />

rhythmischen Muster des erwachsenen Gebärdens übereinst<strong>im</strong>mt. (Aus: Petitto et al. 2001; © Jeffrey Debelle/Dr. Laura Ann Petitto)<br />

Eine zentrale Komponente bei der Entwicklung des Plapperns<br />

besteht darin, dass die Säuglinge die Laute hören, die sie produzieren.<br />

Von Geburt an gehörlose Kinder produzieren zwar bis<br />

zum Alter von fünf oder sechs Monaten ähnliche Vokalisationen<br />

wie hörende Babys, aber ihr vokales Plappern tritt erst sehr spät<br />

auf <strong>und</strong> bleibt sehr begrenzt (Oller <strong>und</strong> Eilers 1988). Manche<br />

von Geburt an gehörlose Babys „plappern“ jedoch völlig <strong>im</strong> Zeitplan<br />

– diejenigen, die regelmäßig mit Gebärdensprache in Kontakt<br />

stehen. Sie produzieren wiederholte Handbewegungen, die<br />

Komponenten vollständiger Gebärden der verwendeten Zeichensprache<br />

sind, so wie die vokal geplapperten Laute wiederholte<br />

Komponenten von Wörtern darstellen (Petitto <strong>und</strong> Marentette<br />

1991). So wie Kinder eine gesprochene Sprache lernen, scheinen<br />

also auch gehörlose Kinder mit den Elementen herumzuexper<strong>im</strong>entieren,<br />

die in ihrer Muttersprache kombiniert werden, um<br />

sinnvolle Wörter hervorzubringen (. Abb. 6.6).<br />

Das Plappern der Kinder wird mit der Zeit variantenreicher<br />

<strong>und</strong> n<strong>im</strong>mt nach <strong>und</strong> nach die Laute, den Rhythmus <strong>und</strong> das<br />

Intonationsmuster der Sprache an, die die Kinder täglich hören.<br />

In einem einfachen, aber gut durchdachten Exper<strong>im</strong>ent hörten<br />

französische Erwachsene das Plappern eines acht Monate alten<br />

französischen <strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> eines acht Monate alten <strong>Kindes</strong> aus<br />

entweder einer Arabisch oder einer Kantonesisch sprechenden<br />

Familie. Wenn sie angeben sollten, welches von zwei Babys jeweils<br />

das französische war, wählten die Erwachsenen in 70 % der<br />

Fälle korrekt (de Boysson-Bardies et al. 1984). Auch bevor sie<br />

ihre ersten sinnvollen Wörter äußern, plappern Kinder sozusagen<br />

bereits in ihrer Muttersprache.<br />

Frühe Interaktionen<br />

Bevor wir uns dem nächsten großen Schritt bei der Sprachproduktion<br />

zuwenden – dem Äußern erkennbarer Wörter<br />

–, müssen wir den sozialen Kontext berücksichtigen, der die<br />

Sprachentwicklung in den meisten Gesellschaften fördert <strong>und</strong><br />

voranbringt. Schon bevor Kinder mit dem Sprechen beginnen,<br />

legen sie Anfänge kommunikativer Kompetenz an den Tag; das<br />

ist die Fähigkeit, intendiert mit einer anderen Person zu kommunizieren.<br />

Das erste Anzeichen dieser kommunikativen Kompetenz besteht<br />

<strong>im</strong> Abwechseln, dem sogenannten Turn-taking. In einem<br />

Gespräch wechseln sich Erwachsene in ihrer Rolle als Sprecher<br />

<strong>und</strong> Hörer ab. Jerome Bruner <strong>und</strong> seine Koautoren (Bruner<br />

1977; Ratner <strong>und</strong> Bruner 1978) haben die Annahme vertreten,<br />

dass Spiele zwischen Eltern <strong>und</strong> ihren Kindern das Lernen<br />

unterstützen, wie man sich in sozialen Interaktionen abwechselt.<br />

Solche Spiele sind beispielsweise Guck-guck- <strong>und</strong> N<strong>im</strong>m<strong>und</strong>-gib-Spiele,<br />

bei denen sich die Beteiligten wiederholt <strong>und</strong><br />

wechselseitig Objekte geben <strong>und</strong> dann wieder entgegennehmen.<br />

(Kleinen Kindern fällt es am Anfang viel leichter, ein Objekt<br />

anzubieten, als es dann auch tatsächlich loszulassen.) In diesen<br />

„Handlungsdialogen“ wechselt das Kind zwischen aktiven <strong>und</strong><br />

passiven Rollen hin <strong>und</strong> her, so wie man in Gesprächen zwischen<br />

dem Sprechen <strong>und</strong> dem Zuhören abwechselt. Diese frühen Interaktionen<br />

verschaffen dem Kind ein Gerüst, um Wörter für die<br />

Kommunikation mit anderen in sich aufzunehmen. Tatsächlich<br />

bestätigt die neuere Forschung, dass das Antworten von Betreuern<br />

auf das Plappern des <strong>Kindes</strong> eine ähnliche Funktion erfüllen<br />

könnte. Wenn ein Erwachsener ein Objekt für das Kind benennt,<br />

nachdem es gerade geplappert hat, verstärkt sich der Lerneffekt<br />

enorm <strong>im</strong> Vergleich zu dem, was das Kind ohne eigenes Plappern<br />

lernt, wenn Erwachsene ihm Wörter zum Benennen von Objekten<br />

vorsprechen (Goldstein et al. 2010). Die Bef<strong>und</strong>e dieser Studie<br />

lassen vermuten, dass das Plappern dem Betreuer signalisiert,<br />

dass das Kind aufmerksam <strong>und</strong> lernbereit ist. Dieses frühe Hin<br />

<strong>und</strong> Her verhilft den Kindern offenbar zu ersten Erfahrungen für<br />

das Turn-taking bei Gesprächen.<br />

Wie in ▶ Kap. 4 diskutiert, setzt erfolgreiche Kommunikation<br />

auch Intersubjektivität voraus, bei der zwei Interaktionspartner<br />

ein gegenseitiges Verständnis teilen. Die Gr<strong>und</strong>lage der Intersubjektivität<br />

ist die geteilte Aufmerksamkeit, die sich von früh auf<br />

bildet, indem die Eltern sich von ihrem Baby führen lassen <strong>und</strong><br />

<strong>im</strong>mer dorthin schauen <strong>und</strong> das kommentieren, was ihr Kind


212<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

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gerade betrachtet. Mit etwa zwölf Monaten sind Kinder dann in<br />

der Lage, die Bedeutung des Zeigens für die Kommunikation zu<br />

verstehen <strong>und</strong> vielfach bereits selbst auf etwas Bedeutsames zu<br />

zeigen (Behne et al. 2012).<br />

..<br />

Dieses kleine Mädchen zeigt auf etwas, um seinen Vater dazu zu bewegen,<br />

seine Aufmerksamkeit zu teilen – um Intersubjektivität herzustellen. Hat der<br />

Vater erst einmal identifiziert, was <strong>im</strong> Zentrum des Interesses seiner Tochter<br />

steht, ist er womöglich sogar willens, diesen Gegenstand mit in den Einkaufswagen<br />

zu legen. (© Tony Freeman/Photoedit)<br />

Wir haben nun gesehen, dass sich Säuglinge Zeit nehmen, um<br />

sich auf das Sprechen vorzubereiten. Durch das Plappern gewinnen<br />

sie ein best<strong>im</strong>mtes anfängliches Maß an Kontrolle über<br />

die Produktion von Lauten, die für die Produktion wiedererkennbarer<br />

Wörter notwendig sind. Dabei fangen sie schon an,<br />

so wie ihre Eltern zu klingen. Durch die frühen Interaktionen<br />

mit ihren Eltern entwickeln sie ähnliche interaktive Routinen,<br />

wie sie auch für den kommunikativen Gebrauch der Sprache<br />

benötigt werden.<br />

Die ersten Wörter<br />

Kinder lernen zunächst einfach, Wörter als vertraute Lautmuster<br />

<strong>im</strong> Sprachstrom zu segmentieren, ohne ihnen eine Bedeutung<br />

zuzuschreiben; aber dann beginnen die Kinder in einer wichtigen<br />

Revolution zu erkennen, dass Wörter eine Bedeutung haben.<br />

Der erste Schritt be<strong>im</strong> Erlernen der Wortbedeutung besteht<br />

darin, das Problem der Referenz anzugehen <strong>und</strong> eine Zuordnung<br />

von Wort <strong>und</strong> Bedeutung zu finden. Der Philosoph Willard<br />

Quine (1960) hat darauf hingewiesen, wie kompliziert es ist, aus<br />

der Vielzahl der möglichen Referenten jenen herauszufinden,<br />

welcher für ein best<strong>im</strong>mtes Wort der richtige ist. Wenn ein Kind<br />

in Gegenwart eines Hasen hört, wie jemand „Hase“ sagt, wie<br />

kann es dann wissen, ob dieses neue Wort sich auf den Hasen<br />

selbst bezieht, auf dessen Stummelschwanz, auf die Schnurrhaare<br />

links <strong>und</strong> rechts von seiner Nase oder auf die mümmelnden<br />

Bewegungen, die der Hase mit seiner Nase macht? Dass das<br />

Problem der Referenz ein wirkliches Problem darstellt, lässt sich<br />

am Fall eines Säuglings illustrieren, der dachte, „oh je!“ sei eine<br />

Begrüßung, weil es das Erste war, was seine Mutter jeden Morgen<br />

sagte, wenn sie das Kinderz<strong>im</strong>mer betrat (Ferrier 1978).<br />

Referenz – In der Linguistik die Beziehung zwischen Wörtern <strong>und</strong> dem, was<br />

sie bedeuten.<br />

Frühe Worterkennung<br />

Kinder beginnen überraschend früh damit, sehr vertraute Wörter<br />

mit ihren Referenten zu assoziieren. Wenn ein sechs Monate altes<br />

Kind „Mama“ oder „Papa“ hört, schaut es die zutreffende Person<br />

an (Tincoff <strong>und</strong> Jusczyk 1999). Mit der Zeit verstehen Kinder<br />

auch die Bedeutung von Wörtern, die sie weniger häufiger gehört<br />

haben, wobei das Tempo, in dem sie ihren Wortschatz aufbauen,<br />

von Kind zu Kind sehr stark variiert. Erstaunlich oft sind sich die<br />

Eltern gar nicht <strong>im</strong> Klaren darüber, wie viele Wörter ihre Kinder<br />

bereits erkennen. Mithilfe eines Computerbildschirmes präsentierten<br />

Bergelson <strong>und</strong> Swingley (2012) paarweise Bilder von allgemein<br />

verbreiteten Lebensmitteln zusammen mit Körperteilen<br />

<strong>und</strong> zeichneten die Blickrichtung der Kinder auf, während zu<br />

einem der Bilder der Name genannt wurde. Dabei zeigte sich,<br />

dass die Kinder <strong>im</strong> Alter von sechs Monaten bereits signifikant<br />

häufiger das zur jeweiligen Bezeichnung passende Bild anschauten,<br />

als es nach dem Zufall zu erwarten wäre. Das zeigt, dass sie<br />

offenbar jeweils den Namen korrekt zuordnen konnten. Allerdings<br />

hatten die Eltern in den meisten Fällen angegeben, dass<br />

ihre Kinder die Bedeutung der Wörter noch nicht verstünden.<br />

Mithin verstehen Kleinkinder nicht nur sehr viel mehr Wörter<br />

als sie produzieren können, sondern sie verstehen auch mehr<br />

Wörter, als ihre Betreuer vermuten.<br />

..<br />

Wenn dieses kleine Mädchen das Wort M<strong>und</strong> hört, wird es dann auf das<br />

Bild des M<strong>und</strong>es oder des Apfels schauen? Die Geschwindigkeit <strong>und</strong> Genauigkeit,<br />

mit der sie nach dem Hören des Wortes ihren Blick auf den jeweiligen<br />

Gegenstand richtet, ist ein nützlicher Indikator für ihre Vokabelkenntnis. (©<br />

Elika Bergelson; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Besonders eindrucksvoll ist be<strong>im</strong> frühen Worterkennen der<br />

Kinder, wie schnell sie verstehen, was sie zu hören bekommen.<br />

Um die altersabhängige Dynamik dieses Verstehens zu demonstrieren,<br />

präsentierten Fernald <strong>und</strong> ihre Koautoren den Kindern<br />

Bildpaare mit vertrauten Objekten wie H<strong>und</strong> <strong>und</strong> Baby <strong>und</strong> beobachteten,<br />

wohin die Kinder ihren Blick wendeten, sobald sie<br />

eine Bezeichnung hörten wie in der Frage „Wo ist das Baby?“<br />

Wie sich zeigte, blickten 15 Monate alte Kinder erst dann auf das<br />

Zielobjekt, wenn sie die Bezeichnung vollständig gehört hatten,<br />

während 24 Monate alte Kinder bereits nach Hören der ersten<br />

Silbe auf das zugehörige Objekt blickten, so wie Erwachsene (Fernald<br />

et al. 1998; Fernald et al. 2001, 2006). Ältere Kinder können


Sprachentwicklung<br />

213 6<br />

auch den Kontext heranziehen, um Wörter leichter zu erkennen.<br />

Wenn sie beispielsweise eine Sprache wie Französisch oder Spanisch<br />

lernen, in der es wie <strong>im</strong> Deutschen verschiedene Artikel für<br />

das Geschlecht des Nomens gibt (la versus le oder la versus el),<br />

dann beschleunigt sich durch den Artikel das Wiedererkennen<br />

der Nomina (Lew-Williams <strong>und</strong> Fernald 2007; Van Heugten <strong>und</strong><br />

Shi 2009). Andere Untersuchungen zeigten anhand der Blickfixierung,<br />

dass ältere Kinder vertraute Wörter auch bei falscher<br />

Artikulation erkennen (etwa Baby aus vaby richtig heraushören<br />

oder Ball aus Gall <strong>und</strong> so weiter); allerdings brauchen sie dann<br />

etwas länger als bei korrekt artikulierten Wörtern (Swingley <strong>und</strong><br />

Aslin 2000).<br />

Frühe Wortproduktion<br />

Mit der Zeit beginnen die Kinder, einige der Wörter zu sagen, die<br />

sie verstehen. Die meisten produzieren ihre ersten Wörter zwischen<br />

zehn <strong>und</strong> 15 Monaten. Der Ausdruck produktiver (oder aktiver)<br />

Wortschatz bezieht sich auf die Wörter, die ein Kind selbst<br />

zu sagen in der Lage ist.<br />

Was kann als „erstes Wort“ gelten? Es kann sich um jede spezifische<br />

Äußerung handeln, die das Kind konsistent macht, um<br />

etwas zu bezeichnen oder etwas auszudrücken. Selbst mit diesem<br />

vagen Kriterium kann es problematisch sein, die ersten Wörter<br />

eines <strong>Kindes</strong> zu identifizieren. Zum einen interpretieren begeisterte<br />

Eltern oft zu viel in das Plappern ihrer Kinder hinein. Zum<br />

anderen können sich die ersten Wörter von der entsprechenden<br />

Wortform der Erwachsenen unterscheiden. Zum Beispiel war<br />

Woof eines der ersten Wörter des Jungen, dessen sprachlicher<br />

Fortschritt am Anfang dieses Kapitels illustriert wurde. Mit diesem<br />

Wort bezog sich der Junge auf den Nachbarh<strong>und</strong> – sowohl,<br />

um das Tier begeistert zu bezeichnen, wenn es <strong>im</strong> Garten des<br />

Nachbarn erschien, als auch, um die Anwesenheit des H<strong>und</strong>es<br />

wehmütig zu erbitten, wenn er gerade nicht da war.<br />

Am Anfang ist die frühe Wortproduktion der Kinder durch<br />

ihre Fähigkeit begrenzt, die Wörter, die sie bereits kennen, auch<br />

so gut auszusprechen, dass ein aufmerksamer Erwachsener ihre<br />

Bedeutung erschließen kann. Um sich das Leben leichter zu machen,<br />

übernehmen Kinder eine Vielzahl von Vereinfachungsstrategien<br />

(Gerken 1994). Zum Beispiel lassen sie die schwierigen<br />

Teile von Wörtern aus (<strong>und</strong> machen Banane zu „nane“) oder<br />

sie ersetzen schwer auszusprechende Laute durch leichtere (<strong>und</strong><br />

machen Krokodil zu „gogil“). Manchmal bringen sie Teile eines<br />

Wortes auch in eine andere Reihenfolge, um einen leichteren<br />

Laut an den Wortanfang zu bringen, etwa bei „Pasketti“ für Spaghetti.<br />

(Ein eher idiosynkratisches Beispiel ist die Bezeichnung<br />

„Cagoshin“ für Chicago, wie der Junge, dessen Sprachentwicklung<br />

am Beginn dieses Kapitels illustriert wurde, viele Jahre lang diese<br />

Stadt nannte). Einige dieser Faktoren werden in ▶ Exkurs 6.2 diskutiert.<br />

Wenn Kinder gegen Ende des ersten Jahres mit dem Sprechen<br />

beginnen, worüber sprechen sie dann? Zu dem frühen Produktionswortschatz<br />

von Kindern in den USA gehören die Namen für<br />

Menschen, Gegenstände <strong>und</strong> Ereignisse aus dem Alltag der Kinder<br />

(Clark 1979; Nelson 1973). Sie benennen ihre Eltern, ihre Geschwister,<br />

Haustiere <strong>und</strong> sich selbst sowie wichtige Gegenstände<br />

ihrer Umwelt wie Kekse, Saft <strong>und</strong> Bälle. Häufige Ereignisse <strong>und</strong><br />

Routinen werden ebenso bezeichnet – „(r)auf “, „winke-winke“,<br />

..<br />

Tab. 6.1 Rangordnungsliste der frühesten Wörter in drei Sprachen*.<br />

(Tardif et al. 2008)<br />

Englisch<br />

(Vereinigte Staaten)<br />

Putonghua (Beijing)<br />

Kantonesisch<br />

(Hongkong)<br />

Daddy Daddy Mommy<br />

Mommy Aah Daddy<br />

BaaBaa Mommy Grandma (paternal)<br />

Bye YumYum Grandpa (paternal)<br />

Hit Sister (älter) Hello / Wei?<br />

UhOh UhOh (Aiyou) Hit<br />

Grr Hit Uncle (paternal)<br />

Bottle Hello / Wei Grab / grasp<br />

YumYum Milk Auntie (maternal)<br />

Dog Naughty Bye<br />

No Brother (älter) UhOh (Aiyou)<br />

WoofWoof Grandma (maternal) Ya / Wow<br />

* Wörter in Fettdruck waren in allen drei Sprachen verbreitet; kursiv<br />

gesetzte Wörter waren in zwei der drei Sprachen verbreitet.<br />

„happa-happa“. Auch werden wichtige Modifikatoren verwendet<br />

– „mein“, „heiß“, „ist alle“. . Tabelle 6.1 verzeichnet wichtige<br />

sprachübergreifende Übereinst<strong>im</strong>mungen <strong>im</strong> Inhalt der ersten<br />

zehn Wörter von Kindern in den Vereinigten Staaten, in Hongkong<br />

<strong>und</strong> Peking <strong>und</strong> zeigt, dass sich die ersten Wörter vieler<br />

Kinder aus allen drei Gesellschaften auf best<strong>im</strong>mte Menschen bezogen<br />

oder es sich um Lautmalereien handelte (Tardif et al. 2008).<br />

Im frühen Produktionswortschatz von Kindern, die Englisch,<br />

Deutsch <strong>und</strong> verwandte Sprachen lernen, überwiegen Nomen.<br />

Das könnte unter anderem darauf beruhen, dass Nomen Objekte<br />

oder Sachverhalte bezeichnen, während Verben Beziehungen<br />

zwischen Sachverhalten darstellen, was dazu führt, dass die<br />

Bedeutungen, die Nomen repräsentieren, durch Beobachtung<br />

leichter erschlossen werden können als die Bedeutungen von<br />

Verben(Gentner 1982). Auf ähnliche Weise sind Wörter, die<br />

sich auf bildlich vorstellbare Referenten beziehen, vergleichsweise<br />

leicht für Babys <strong>und</strong> Kleinkinder erlernbar (McDonough<br />

et al. 2011). Außerdem überschütten amerikanische Mütter<br />

aus der Mittelschicht (der am häufigsten untersuchten Gruppe;<br />

▶ Exkurs 6.2) <strong>und</strong> auch viele deutsche Mütter ihre Kinder mit<br />

Objektbezeichnungen, beispielsweise mit Hinweisen wie „Schau<br />

mal, das ist eine Schildkröte; siehst du die Schildkröte?“ (Fernald<br />

<strong>und</strong> Morikawa 1993). Nun hängt der Anteil der Nomen <strong>im</strong><br />

Wortschatz sehr kleiner Kinder vom Anteil der Nomen in der<br />

an sie gerichteten Sprache ihrer Mutter ab (Pine 1994), <strong>und</strong> das<br />

Muster der Objektbenennung ist bei Müttern in unterschiedlichen<br />

Kulturen <strong>und</strong> Kontexten deutlich verschieden. So benennen<br />

die Mütter in Japan einen Gegenstand generell viel seltener als<br />

amerikanische Mütter (Fernald <strong>und</strong> Morikawa 1993). Bei Spielzeugen<br />

verwenden koreanische Mütter öfter Verben als Nomen<br />

– ein ganz anderes Sprachmuster als bei amerikanischen Müttern<br />

(Choi 2000). Und entsprechend lernen koreanische Kinder


214<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

Exkurs 6.2: Individuelle Unterschiede: Die Rolle von Familie, Kindergarten <strong>und</strong> Schule bei der Sprachentwicklung | |<br />

Eltern stellen oft bemerkenswerte Unterschiede<br />

zwischen ihren Kindern fest. Und in<br />

best<strong>im</strong>mten sozialen Gruppen können sich<br />

solche Differenzen oft erheblich verstärken.<br />

So kann sich innerhalb derselben Kindergartengruppe<br />

die Anzahl der Wörter, die die<br />

Kinder jeweils verwenden, um das Zehnfache<br />

unterscheiden. Woher kommen diese<br />

Unterschiede?<br />

Die Anzahl der Wörter, die Kinder kennen,<br />

hängt eng mit der Anzahl der Wörter zusammen,<br />

die sie hören, wobei diese Anzahl<br />

wiederum eng mit dem Wortschatz ihrer Betreuer<br />

zusammenhängt. Einer der wichtigsten<br />

Einflussfaktoren bei der Sprache, die Kinder<br />

hören, ist der sozioökonomische Status<br />

ihrer Eltern. In einer gr<strong>und</strong>legenden Studie<br />

nahmen Hart <strong>und</strong> Risley (1995) bei 42 Eltern<br />

über zweieinhalb Jahre die gesprochene<br />

Sprache auf, beginnend zu einem Zeitpunkt,<br />

an dem die Kinder noch nicht sprachen,<br />

bis zum Alter von drei Jahren. Einige Eltern<br />

gehörten der oberen Mittelschicht an,<br />

andere stammten aus der Arbeiterschaft,<br />

<strong>und</strong> wieder andere waren Sozialhilfeempfänger.<br />

Die Ergebnisse waren überraschend:<br />

Die Wortzahl, die ein Kind <strong>im</strong> Durchschnitt<br />

von Eltern mit Sozialhilfe hörten, war (mit<br />

616 Wörtern pro St<strong>und</strong>e) nur halb so hoch<br />

wie bei den Eltern aus der Arbeiterschaft<br />

(mit 1251 Wörter pro St<strong>und</strong>e) <strong>und</strong> entsprach<br />

weniger als einem Drittel dessen, was Kinder<br />

von Eltern der oberen Mittelschicht hörten<br />

(2153 Wörter pro St<strong>und</strong>e). Hart <strong>und</strong> Risley<br />

rechneten nach, wie viele Wörter ein Kind <strong>im</strong><br />

Mittel <strong>im</strong> Zeitraum von vier Jahren zu hören<br />

bekam: In der oberen Mittelschicht waren es<br />

nahezu 45 Mio. Wörter, bei den Arbeiterfamilien<br />

noch 26 Mio. <strong>und</strong> bei den Sozialhilfeempfängern<br />

13 Mio. Wörter.<br />

Welche Auswirkung haben diese Unterschiede<br />

auf die Sprachentwicklung? Wenig<br />

überraschend erweist sich der Wortschatz<br />

von Kindern aus Familien mit hohem sozioökonomischen<br />

Status als größer <strong>im</strong> Vergleich<br />

zu den Kindern aus Gruppen mit niedrigerem<br />

sozioökonomischem Status (Fenson<br />

et al. 1994; Huttenlocher et al. 1991). Tatsächlich<br />

zeigte sich in einer Untersuchung<br />

mit zwei Jahre alten Kindern von Müttern<br />

mit hohem bzw. mittlerem sozioökonomischem<br />

Status, dass sich aus den Unterschieden<br />

<strong>im</strong> Sprechverhalten der Mütter (z. B.<br />

Länge <strong>und</strong> Häufigkeit ihrer Äußerungen,<br />

Umfang des Wortschatzes <strong>und</strong> Komplexität<br />

des Satzbaus) die Unterschiede <strong>im</strong> Vokabular<br />

vorhersagen lassen, das die Kinder be<strong>im</strong><br />

Sprechen verwenden (Hoff 2003). Beispielsweise<br />

verwenden Mütter mit höherem<br />

sozioökonomischem Status tendenziell<br />

längere Äußerungen in der Kommunikation<br />

mit ihren Kindern als Mütter mit niedrigerem<br />

sozioökonomischem Status, wobei sie ihnen<br />

nicht nur mehr Wörter anbieten, sondern<br />

auch komplexere grammatische Strukturen<br />

(Hoff 2003). Die unterschiedliche Sprechweise<br />

der Mütter hat sogar Einfluss darauf,<br />

wie schnell Kleinkinder geläufige Wörter<br />

wiedererkennen. Kinder, denen <strong>im</strong> Alter<br />

von 18 Monaten von ihren Müttern mehr<br />

Sprachmaterial geboten wurde, konnten<br />

<strong>im</strong> Alter von 24 Monaten Wörter schneller<br />

wiedererkennen als Kinder, deren Mütter<br />

weniger sprachlichen Input gegeben hatten<br />

(Hurtado et al. 2008).<br />

Ähnliche Bef<strong>und</strong>e ergeben sich <strong>im</strong> Kontext<br />

von Kindergarten <strong>und</strong> Schule. Wenn beispielsweise<br />

Vorschulkinder mit geringen<br />

Sprachfertigkeiten <strong>im</strong>mer neben Gleichaltrigen<br />

mit ebenfalls geringen Sprachfertigkeiten<br />

sitzen, nehmen ihre Sprachfertigkeiten<br />

langsamer zu als bei Gleichaltrigen mit<br />

ähnlich niedrigen Fertigkeiten, die <strong>im</strong>mer<br />

neben sprachgewandteren Kindern sitzen<br />

(Justice et al. 2011). Dieser Einfluss von<br />

Gleichaltrigen hat bedeutende Auswirkungen<br />

auf Förderprogramme, die entwickelt<br />

wurden, um die Sprachentwicklung <strong>und</strong><br />

frühe Lesefähigkeiten bei Kindern aus armen<br />

Elternhäusern zu fördern, zum Beispiel Head<br />

Start, das wir in ▶ Kap. 8 genauer diskutieren.<br />

Wenn in Kindergartengruppen nur<br />

Kinder aus niedrigen sozioökonomischen<br />

Schichten zusammenkommen, kann sich<br />

dies nachteilig auf ihr Fortkommen auswirken.<br />

Andererseits können diese ungünstigen<br />

Einflüsse der Gleichaltrigen durch die<br />

Fördermöglichkeiten der Erzieher kompensiert<br />

werden. Beispielsweise zeigte sich in<br />

einer Studie, dass Kindergartenkinder, deren<br />

Erzieher <strong>im</strong> Umgang mit ihnen ein reiches<br />

Vokabular benutzten, später <strong>im</strong> letzten<br />

Gr<strong>und</strong>schuljahr ein besseres Textverstehen<br />

be<strong>im</strong> Lesen zeigten als Gleichaltrige, deren<br />

Erzieher <strong>im</strong> Kindergarten ein eingeschränkteres<br />

Vokabular verwendeten (Dickinson <strong>und</strong><br />

Porche 2011).<br />

Diese Bef<strong>und</strong>e lassen vermuten, dass aus<br />

vielfältigen Gründen der sozioökonomische<br />

Status best<strong>im</strong>mt, wie Eltern mit ihren Kindern<br />

sprechen, wobei die individuellen Unterschiede<br />

umgekehrt die Art, wie die Kinder<br />

sprechen, entscheidend beeinflussen. Diese<br />

Unterschiede können durch die Sprachfertigkeiten<br />

der Spiel- <strong>und</strong> Schulkameraden<br />

<strong>und</strong> ebenso der Erzieher <strong>und</strong> Lehrer verstärkt<br />

werden. Für Kinder aus einem Umfeld<br />

mit niedrigem sozioökonomischem Status<br />

lässt sich die ungünstige Wirkung solcher<br />

Faktoren durch gezielte Interventionen mildern<br />

– vom Bereitstellen kindgerechter Bücher<br />

(die ein reicheres sprachliches Umfeld<br />

bieten) bis hin zu verstärkter pädagogischer<br />

Ausbildung der Erzieher in Kindergärten mit<br />

einkommensschwachen Einzugsbereichen<br />

(Dickinson 2011). Ungeachtet der Quelle<br />

gilt: Wie man in den Wald ruft, so schallt es<br />

zurück. Wir können nur diejenigen Wörter<br />

<strong>und</strong> grammatischen Strukturen lernen, die<br />

wir zuvor in unserem sprachlichen Umfeld<br />

gehört (oder gebärdet gesehen oder gelesen)<br />

haben.<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Verben <strong>und</strong> Nomen gleich schnell, anders als englischsprachige<br />

Kinder (Choi <strong>und</strong> Gopnik 1995).<br />

Kinder verwenden die Wörter ihres kleinen Produktionswortschatzes<br />

am Anfang nur Wort für Wort. Diese Phase von<br />

Einwortäußerungen nennt man holophrasische Phase, weil<br />

das Kind typischerweise mit einem einzigen Wort eine „ganze<br />

Phrase“ – eine ganze Idee – zum Ausdruck bringt. „Trinken“<br />

kann sich auf den Wunsch des <strong>Kindes</strong> beziehen, dass seine<br />

Mutter ihm ein Glas Orangensaft eingießt. Kinder, die nur Einwortäußerungen<br />

produzieren, sind nicht auf einzelne Ideen<br />

beschränkt; es gelingt ihnen, sich auszudrücken, indem sie<br />

mehrere Einwortäußerungen aneinanderreihen. Ein Beispiel ist<br />

ein kleines Mädchen mit einer Entzündung <strong>im</strong> Auge, die auf<br />

ihr Auge zeigte, „au“ sagte <strong>und</strong> dann, nach einer Pause, „Auge“<br />

(Hoff 2001).<br />

Holophrastische Phase – Die Phase, in der Kinder die Wörter ihres begrenzten<br />

Produktionswortschatzes so gebrauchen, dass ihre Äußerungen aus einem<br />

einzigen Wort bestehen.<br />

Was kleine Kinder sagen wollen, übertrifft schnell die Anzahl<br />

der Wörter in ihrem begrenzten Wortschatz, deshalb nehmen<br />

sie die Wörter, die sie kennen, doppelt in die Pflicht. Zum einen<br />

tun sie das durch Überdehnung – die Verwendung eines best<strong>im</strong>men<br />

Wortes in einem breiteren Kontext, als es angemessen<br />

wäre, beispielsweise wenn Kinder H<strong>und</strong> für jedes vierbeinige Tier<br />

verwenden, Papa für jeden Mann, Mond für den Einstellknopf<br />

des Geschirrspülers oder heiß für jedes reflektierende Metall<br />

(. Tab. 6.2). Die meisten Überdehnungen stellen die Bemühung<br />

dar zu kommunizieren <strong>und</strong> weniger einen Mangel an Wissen, wie<br />

sich durch Forschungen zeigen lässt, bei denen Kinder, die einige


Sprachentwicklung<br />

215 6<br />

..<br />

Tab. 6.2 Beispiele für die Überdehnung der Wortbedeutung bei<br />

kleinen Kindern<br />

33<br />

30<br />

Wort<br />

Referenten<br />

27<br />

ball [Ball]<br />

cat [Katze]<br />

Ball, Ballon, Murmel, Apfel, Ei, kugelförmiger<br />

Wasserkessel (Rescorla 1980)<br />

Katze, der übliche Ort der Katze oben auf dem<br />

Fernsehgerät, wenn sie selbst nicht da ist (Rescorla<br />

1980)<br />

Alter (in Monaten)<br />

24<br />

21<br />

18<br />

moon [Mond]<br />

Mond, Zitronenscheibe in Form eines Halbmondes,<br />

r<strong>und</strong>er Einstellknopf aus Chrom am Geschirrspüler,<br />

ein halbes Cornflake (Bowerman 1978)<br />

15<br />

12<br />

snow [Schnee]<br />

baby [Baby]<br />

Schnee, weißer Bettbezug aus Flanell, verschüttete<br />

Milch auf dem Fußboden (Bowerman 1978)<br />

Das eigene Spiegelbild <strong>im</strong> Spiegel, ein gerahmtes<br />

Foto von sich selbst, gerahmte Fotos von anderen<br />

(Hoff 2001)<br />

Wörter überdehnten, Verstehenstests bearbeiten sollten (Naigles<br />

<strong>und</strong> Gelman 1995). In einer Untersuchung beispielsweise wurden<br />

den Kindern Bilderpaare von Sachverhalten gezeigt, für die sie <strong>im</strong><br />

Allgemeinen dieselbe Bezeichnung verwendeten, zum Beispiel<br />

ein H<strong>und</strong> <strong>und</strong> ein Schaf, die von dem Kind normalerweise beide<br />

als „H<strong>und</strong>“ bezeichnet wurden. Wenn die Kinder jedoch auf das<br />

Schaf zeigen sollten, wählten sie das korrekte Tier. Diese Kinder<br />

verstanden also die Bedeutung des Wortes „Schaf “, aber weil sich<br />

das Wort nicht in ihrem produktiven Wortschatz befand, verwendeten<br />

sie ein verwandtes Wort, das sie bereits sagen konnten,<br />

um über das Tier zu sprechen.<br />

Überdehnung – Die Verwendung eines best<strong>im</strong>mten Wortes in einem weiteren<br />

Kontext, als es der Bedeutung angemessen wäre.<br />

Das Lernen von Wörtern<br />

Nach dem Auftreten ihrer ersten Wörter arbeiten sich die Kinder<br />

typischerweise langsam voran <strong>und</strong> erreichen mit ungefähr<br />

18 Monaten einen produktiven Wortschatz von etwa 50 Wörtern.<br />

Aber dann ist ein Punkt erreicht, an dem sich die Lerngeschwindigkeit<br />

zu steigern scheint <strong>und</strong> eine Wortschatzexplosion,<br />

auch Vokabelspurt genannt, einsetzt (z. B. Bloom 1973;<br />

McMurray 2007). Zwar sind sich die Wissenschaftler nicht einig,<br />

ob hier tatsächlich die Lerngeschwindigkeit bei allen oder den<br />

meisten Kindern zun<strong>im</strong>mt (Bloom 2000), aber es ist klar, dass<br />

die Kommunikationsfähigkeiten der Kinder rapide zunehmen<br />

(. Abb. 6.7).<br />

Wortschatzexplosion / Vokabelspurt – Phase gegen Ende des zweiten Lebensjahres,<br />

in der das Repertoire aktiv gesprochener Wörter bei Kleinkindern in der<br />

Regel massiv steigt.<br />

Worauf beruht die Fähigkeit der Kinder, Wörter zu lernen? Bei<br />

genauerem Hinsehen kann man erkennen, dass es für das Erlernen<br />

neuer Wörter mehrere Quellen der Unterstützung gibt:<br />

Manche kommen von den Menschen ihrer Umgebung, andere<br />

werden von den Kindern selbst generiert.<br />

9<br />

Erste Wörter<br />

Vokabelspurt<br />

Sprachliche Leistung<br />

Sätze<br />

..<br />

Abb. 6.7 Sprachliche Meilensteine. US-amerikanische Kinder sagen ihr<br />

erstes Wort mit durchschnittlich 13 Monaten, erleben mit circa 19 Monaten<br />

einen „Vokabelspurt“ <strong>und</strong> fangen mit etwa 24 Monaten an, einfache Sätze zu<br />

bilden. Die Balken ober- <strong>und</strong> unterhalb dieser Mittelwerte zeigen jedoch eine<br />

beträchtliche Variabilität <strong>im</strong> Zeitpunkt, an dem unterschiedliche Kinder jeden<br />

dieser Meilensteine erreichen. (Nach Bloom 1998)<br />

Einflüsse der Erwachsenen auf Wörterlernen<br />

Zusätzlich zur Verwendung kindgerichteter Sprache, die das<br />

Wörterlernen erleichtert, unterstützen Erwachsene das Wörterlernen,<br />

indem sie neue Wörter besonders hervorheben. Zum<br />

Beispiel sprechen sie neue Wörter mit besonderer Betonung aus<br />

<strong>und</strong> stellen sie in betonter Position ans Satzende. Darüber hinaus<br />

neigen Erwachsene dazu, diejenigen Objekte zu benennen, die<br />

sich bereits <strong>im</strong> Zentrum der Aufmerksamkeit des <strong>Kindes</strong> befinden,<br />

wodurch sie Unsicherheit über den Referenten reduzieren<br />

(Masur 1982; Tomasello 1987; Tomasello <strong>und</strong> Farrar 1986).<br />

Auch die Wiederholung von Wörtern hilft; kleine Kinder lernen<br />

Wörter, die ihre Eltern <strong>im</strong>mer wieder verwenden, tendenziell<br />

leichter (Huttenlocher et al. 1991). Ein weiterer Anreiz zum<br />

Wörterlernen ergibt sich aus den Benennungsspielen, die viele<br />

Familien mit ihren Kleinkindern spielen, indem sie das Kind<br />

auf eine Reihe von benannten Elementen zeigen lassen – „Wo<br />

ist deine Nase?“, „Wo ist dein Ohr?“, „Wo ist dein Bauch?“ Es<br />

gibt auch einige Hinweise darauf, dass Eltern ihren Kindern das<br />

Wörterlernen erleichtern können, indem sie die räumlichen Beziehungen<br />

zu den jeweils benannten Objekten aufrechterhalten.<br />

So lernten die Kleinkinder in einer Untersuchung, bei der die<br />

Eltern ihnen wiederholt den Namen neuer Objekte sagten, die<br />

Wörter schneller, wenn sich diese Objekte bei jeder Benennung<br />

am selben Ort befanden (Samuelson et al. 2011). Vermutlich hilft<br />

die Konsistenz der visuellen Umgebung dem Kind, Wörter den<br />

Objekten <strong>und</strong> Ereignissen in dieser Umgebung als Bezeichnung<br />

zuzuordnen. In ▶ Exkurs 6.3 werden neuere Forschungsergebnisse<br />

zu einer derzeit populären Methode elterlichen „Outsourcings“<br />

be<strong>im</strong> Wörterlernen diskutiert: Technik ohne sprachlichen<br />

Input von Erwachsenen.


216<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

Dieses kleine Inuit-Mädchen spielt ein Benennungsspiel. Ihre Mutter hat<br />

sie gerade gefragt, wo ihre Nase ist. (© Jean Briggs, Memorial University of<br />

Newfo<strong>und</strong>land, St. John’s; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Beiträge von Kindern zum Wörterlernen<br />

Wenn Kinder neuen Wörtern begegnen, deren Bedeutung<br />

sie nicht kennen, nutzen sie aktiv den Kontext aus, in dem<br />

das neue Wort verwendet wurde, um auf seine Bedeutung zu<br />

schließen. Eine klassische Untersuchung von Carey <strong>und</strong> Bartlett<br />

(1978) zeigte diesen Prozess der schnellen Bedeutungsbildung<br />

durch Mapping (Zuordnen) <strong>im</strong> Wortinventar, bei dem<br />

aus der kontrastiven Verwendung eines bekannten <strong>und</strong> eines<br />

unbekannten Wortes sehr rasch ein neues Wort gelernt wird.<br />

Im Rahmen der Alltagsaktivitäten in einem Kindergarten richtete<br />

die Versuchsleiterin die Aufmerksamkeit eines <strong>Kindes</strong> auf<br />

zwei Tabletts <strong>und</strong> bat das Kind, „das chromerne Tablett, nicht<br />

das rote“ zu bringen. Das Kind wurde also mit einem Kontrast<br />

zwischen einem bekannten Ausdruck (rot) <strong>und</strong> einem<br />

unbekannten (chromern) konfrontiert. Aus diesem einfachen<br />

Kontrast konnte das Kind schließen, welches Tablett es bringen<br />

sollte <strong>und</strong> dass der Name für die Farbe des gewünschten<br />

Objekts „chromern“ war. Nach dieser einmaligen Begegnung<br />

mit einem neuen Wort zeigte etwa die Hälfte der Kinder noch<br />

eine Woche später, dass sie etwas über seine Bedeutung wussten,<br />

indem sie aus einer Reihe von farbigen Spielmarken die<br />

chromerne korrekt herausgriffen.<br />

Schnelle Bedeutungsbildung durch Mapping – Der Prozess, bei dem ein<br />

neues Wort nur dadurch schnell gelernt wird, dass das Kind hört, wie ein bekanntes<br />

<strong>und</strong> ein unbekanntes Wort kontrastiv gebraucht werden.<br />

Einige Theoretiker haben behauptet, dass die vielen Schlussfolgerungen,<br />

die Kinder be<strong>im</strong> Lernen von Wörtern ziehen, durch eine<br />

Reihe von Annahmen (auch Prinzipien, Beschränkungen oder<br />

Vorlieben genannt) gelenkt werden, die die möglichen Bedeutungen<br />

eingrenzen, die Kinder für ein neues Wort in Erwägung<br />

ziehen. Zum Beispiel erwarten Kinder, dass ein best<strong>im</strong>mtes Ding<br />

nur einen einzigen Namen hat; Woodward <strong>und</strong> Markman (1998)<br />

nennen dies die Annahme der wechselseitigen Exklusivität. Frühe<br />

Belege für diese Annahme stammen aus einer Untersuchung,<br />

bei der drei Jahre alte Kinder Objektpaare sahen – ein vertrautes<br />

Objekt, für das die Kinder einen Namen hatten, <strong>und</strong> ein unbekanntes<br />

Objekt, für das sie keine Bezeichnung kannten. Wenn<br />

die Versuchsleiterin sagte: „Show me the blicket“ (wobei blicket<br />

<strong>im</strong> Englischen keine Bedeutung besitzt, sondern ein Nichtwort<br />

ist), dann wählten die Kinder das Objekt aus, für das sie bislang<br />

noch keinen Namen hatten (Markman <strong>und</strong> Wachtel 1988). Selbst<br />

16 Monate alte Kinder machen das so (Graham et al. 1998), wie<br />

. Abb. 6.8a verdeutlicht. Interessanterweise scheinen bilinguale<br />

<strong>und</strong> trilinguale Kinder, die daran gewöhnt sind, mehr als einen<br />

Namen für ein best<strong>im</strong>mtes Objekt zu hören, dem Prinzip der<br />

wechselseitigen Exklusivität eher weniger zu folgen (Byers-Heinlein<br />

<strong>und</strong> Werker 2009).<br />

Markman (1989) sowie Woodward <strong>und</strong> Markman (1998)<br />

zufolge erwarten Kinder von einem neuen Wort, dass es sich<br />

auf ein Objekt als Ganzes bezieht <strong>und</strong> nicht auf einen Teil, eine<br />

Eigenschaft, eine Handlung oder einen anderen Aspekt <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit diesem Objekt. Im Fall des oben erwähnten<br />

Referenzproblems von Quine führte die Annahme vom ganzen<br />

Objekt also dazu, dass die Kinder das Wort „Hase“ auf das ganze<br />

Tier anwenden <strong>und</strong> nicht auf seinen Schwanz oder auf das Mümmeln<br />

seiner Nase.<br />

Wenn Kinder auf neue Wörter stoßen, nutzen sie auch eine<br />

Vielzahl von pragmatischen Hinweisen auf die jeweilige Bedeutung,<br />

indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die sozialen Kontexte<br />

richten, in denen Sprache verwendet wird. Zum Beispiel verwenden<br />

Kinder die Aufmerksamkeitsrichtung eines Erwachsenen<br />

als Hinweis auf die Wortbedeutung. In einer Untersuchung von<br />

Baldwin (1993) zeigte eine Versuchsleiterin 18 Monate alten<br />

Kindern zwei neuartige Objekte <strong>und</strong> verbarg diese dann in getrennten<br />

Behältern. Dann schaute die Versuchsleiterin in einen<br />

der Behälter <strong>und</strong> bemerkte: „Hier drin ist ein Modi.“ Dann holte<br />

die Erwachsene die beiden Objekte wieder heraus <strong>und</strong> gab sie<br />

dem Kind. Bei der Frage nach dem „Modi“ nahm das Kind den<br />

Gegenstand, den die Versuchsleiterin angesehen hatte, als sie die<br />

Benennung ausgesprochen hatte. Die Kinder verwendeten also<br />

die Beziehung zwischen dem Blick <strong>und</strong> der Bezeichnung, um<br />

einen neuen Namen für ein Objekt zu lernen, das sie noch gar<br />

nicht gesehen hatten (. Abb. 6.8b).<br />

Pragmatische Hinweise – Aspekte des sozialen Kontexts, die für das Lernen<br />

von Wörtern herangezogen werden.


Sprachentwicklung<br />

217 6<br />

Exkurs 6.3: Näher betrachtet: iBabys – Technik <strong>und</strong> Sprachenlernen | |<br />

Wenn Erwachsene in einen neuen Sprachraum<br />

kommen, nutzen sie oft technische<br />

Hilfsmittel – vom Taschenwörterbuch bis zur<br />

Übersetzungs-App auf ihrem Smartphone,<br />

um sich anderen in der fremden Sprache<br />

verständlich zu machen <strong>und</strong> die Information<br />

zu bekommen, die sie brauchen. Sie können<br />

auch digitale Lernprogramme nutzen,<br />

seien es Sprachlabore oder kommerzielle<br />

Sprachtrainer.<br />

Wie sieht es bei kleinen Kindern damit aus?<br />

Auch sie sind oft von vielfältiger Technik<br />

umgeben. Und es hat in den letzten beiden<br />

Dekaden nachgerade einen „Kluges-Baby“-<br />

Wahn gegeben, an dem Anbieter von allen<br />

möglichen elektronischen Spielen, Spielzeugen<br />

<strong>und</strong> DVDs zur Intelligenzsteigerung bei<br />

Babys H<strong>und</strong>erte Millionen Dollar verdient<br />

haben. Einige Behauptungen in diesem<br />

Zusammenhang sind einfach lachhaft. So las<br />

eine der Autorinnen, als sie einen Beißring<br />

für ihr Baby kaufte, auf der Verpackung<br />

den Hinweis, dass der Ring angeblich die<br />

Sprachentwicklung des <strong>Kindes</strong> fördern<br />

würde, indem die frühen oral-motorischen<br />

Fähigkeiten verstärkt würden. Andere<br />

Behauptungen schienen vielleicht plausibler,<br />

wurden aber durch die Entwicklungsforschung<br />

später gr<strong>und</strong>sätzlich infrage gestellt<br />

– <strong>und</strong> mussten von den Anbietern derartiger<br />

Produkte zurückgenommen werden, die (wie<br />

beispielsweise „Baby Einstein“) ihre Werbung<br />

mit dem angeblichen pädagogischen Wert<br />

zurücknehmen mussten.<br />

Allerdings gibt es <strong>im</strong>mer noch Anlass zur<br />

Sorge bei technischen Spielzeugen, die für<br />

Kinder unter zwei Jahren angeboten werden,<br />

wenn dadurch die Zeit reduziert wird, die die<br />

Kinder aktiv mit Betreuern <strong>und</strong> Gegenständen<br />

ihrer Umgebung verbringen – ihren<br />

besten Lernquellen. In einer großen Studie<br />

mit mehr als 1000 Kindern unter zwei Jahren<br />

wurde untersucht, wie das Betrachten von<br />

TV- oder DVD-Programmen für Kleinkinder<br />

<strong>und</strong> die Entwicklung des Wortschatzes<br />

zusammenhängen (Z<strong>im</strong>merman et al. 2007).<br />

Dabei wurden – <strong>und</strong> das ist entscheidend –<br />

die demografischen Faktoren (wie Bildungsstand<br />

der Eltern, Familieneinkommen,<br />

ethnische Gruppen <strong>und</strong> dergleichen), die<br />

den Medienkonsum beeinflussen könnten,<br />

bei allen Familien sorgfältig kontrolliert.<br />

Bei acht bis 16 Monate alten Babys ergab<br />

sich eine negative Korrelation zwischen der<br />

Zeit, die sie DVDs gesehen hatten, <strong>und</strong> dem<br />

Wortschatz, den die Eltern berichteten: Je<br />

mehr die Babys DVD sahen, desto geringer<br />

war ihr Wortschatz. Man beachte, dass dieser<br />

negative Zusammenhang nur bei DVDs<br />

beobachtet wurde, die als pädagogisch<br />

wertvoll für Babys vermarktet worden waren;<br />

bei anderen Arten von Programmen (darunter<br />

pädagogisch wie nichtpädagogisch<br />

angelegte Kinderprogramme) ergab sich<br />

kein Zusammenhang zwischen dem Betrachten<br />

<strong>und</strong> dem Wortschatz. Bei den älteren<br />

Kleinkindern (zwischen 18 <strong>und</strong> 24 Monaten)<br />

verschwand die negative Korrelation. Und<br />

entgegen den Erwartungen vieler Eltern<br />

hatte die Zeit, die die Eltern gemeinsam mit<br />

den Kindern vor dem Bildschirm verbracht<br />

hatten, keinen Einfluss auf den Wortschatz<br />

der Kinder. Diese Bef<strong>und</strong>e entsprechen dem,<br />

was die American Academy der Kinderärzte<br />

empfiehlt: Man sollte die Bildschirmzeit bei<br />

Kindern unter zwei Jahren möglichst gering<br />

halten.<br />

In der bislang gründlichsten Studie verwendeten<br />

<strong>DeLoache</strong> et al. (2010) zufällige<br />

Bezeichnungen <strong>und</strong> einen objektiven<br />

Vokabeltest, um herauszufinden, inwieweit<br />

ein Bestseller unter den „pädagogischen“<br />

DVDs die Sprachentwicklung beeinflusst.<br />

Die DVD wurde vom Anbieter für Kinder ab<br />

zwölf Monaten empfohlen. Bei der Studie<br />

wurden die teilnehmenden Kinder <strong>im</strong> Alter<br />

zwischen zwölf <strong>und</strong> 18 Monaten nach dem<br />

Zufallsprinzip vier Gruppen zugewiesen. In<br />

einer Video-mit-Interaktion-Gruppe sahen<br />

die Kinder über einen Zeitraum von vier<br />

Wochen jeweils fünfmal in der Woche das<br />

Video zusammen mit einem Elternteil, wobei<br />

die Eltern aufgefordert waren, während des<br />

Videosehens aktiv mit dem Kind in seiner<br />

natürlichen Umgebung zu interagieren. Bei<br />

der Video-ohne-Interaktion-Gruppe sahen die<br />

Kinder das gleiche Video nach dem gleichen<br />

Zeitplan, aber ohne dass ein Elternteil dabei<br />

mit ihm gemeinsam das Video anschaute.<br />

Diese Bedingung spiegelt eine alltägliche<br />

Situation wider, in der Eltern zwar <strong>im</strong> selben<br />

Raum anwesend, aber mit etwas anderem<br />

beschäftigt sind. In der Lernen-mit-den-<br />

Eltern-Gruppe sahen die Kinder überhaupt<br />

kein Video. Stattdessen bekamen ihre Eltern<br />

eine Liste mit den 25 Wörtern aus dem Video,<br />

die sie ihren Kindern auf eine aus ihrer<br />

Sicht möglichst natürliche Weise beibringen<br />

sollten. Bei den Kindern in der vierten<br />

Gruppe, der Kontrollgruppe, gab es keine<br />

Intervention – ihre Wortschatzentwicklung<br />

diente als Referenz (Baseline).<br />

Zu Beginn <strong>und</strong> am Ende der Studie wurden<br />

die Kinder mit einem Teil des DVD-Wortschatzes<br />

getestet. Die Kinder in den beiden<br />

Gruppen, die das Video gesehen hatten,<br />

zeigten keine größeren Fortschritte <strong>im</strong> Wortschatz<br />

als die Kinder der Kontrollgruppe. Die<br />

Kinder mit den größten Zuwächsen <strong>im</strong> Wortschatz<br />

kamen aus der Lernen-mit-den-Eltern-<br />

Gruppe. Allerdings gab es eine Korrelation<br />

zwischen den elterlichen Bewertungen des<br />

Videos <strong>und</strong> des Lernerfolgs: Je besser den<br />

Eltern das Video selbst gefiel, desto eher<br />

überschätzten sie die positiven Wirkungen<br />

bei den Kindern.<br />

Auch wenn diese Forschung noch neu ist,<br />

zeigen die bisherigen Bef<strong>und</strong>e, dass ein<br />

Auslagern der kindlichen Wortschatzentwicklung<br />

in Form passiven Zuschauens<br />

bei pädagogischen Medien nicht mit dem<br />

unmittelbaren kindlichen Lernen mithalten<br />

kann. Selbst das beste Lernprogramm kann<br />

einen Betreuer, der mit dem Kind interagiert,<br />

nicht ersetzen. Wie wichtig eine solche Interaktion<br />

ist, zeigte sich in einer Studie, bei der<br />

Kleinkinder Wörter von einem Erwachsenen<br />

lernten, <strong>und</strong> zwar unter drei Bedingungen:<br />

(1) persönliche Interaktion mit dem Erwachsenen,<br />

(2) Interaktion mit dem Erwachsenen<br />

via Videoverbindung <strong>und</strong> (3) Anschauen<br />

eines Videos, in dem ein Erwachsener mit<br />

einem anderen Erwachsenen interagiert. Unter<br />

den ersten beiden Bedingungen waren<br />

die Lernergebnisse gleich – <strong>und</strong> der gelernte<br />

Wortschatz größer als bei den Kindern,<br />

die nur passive Zuschauer gewesen waren<br />

(O’Doherty et al. 2011). Die Frage nach dem<br />

Umgang mit elektronischen Medien stellt<br />

sich bei kleinen Kindern zunehmend dringlich<br />

angesichts der Begeisterung, die Kinder<br />

für die Apps auf den Smartphones <strong>und</strong><br />

iPads ihrer Eltern entwickeln. Wie bei allen<br />

Aktivitäten ist ein wenig davon vermutlich<br />

nicht schädlich. Aber es ist wichtig, all den<br />

Behauptungen zum pädagogischen Wert mit<br />

großer Skepsis zu begegnen.<br />

Anteil korrekter Worterkennung (%)<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

Eltern<br />

als<br />

Lehrer<br />

Video Video<br />

mit ohne<br />

Interaktion Interaktion<br />

Bedingung<br />

Kontrolle<br />

..<br />

Die Ergebnisse von <strong>DeLoache</strong> et al. (2010)<br />

verdeutlichen, dass Kinder, die eine Wortliste<br />

von ihren Eltern gelernt hatten, <strong>im</strong> Vokabeltest<br />

besser abschnitten (links) als die Kinder in den<br />

Videogruppen (Mitte), die ihrerseits über die<br />

Leistungen der Kontrollgruppe (rechts) nicht<br />

signifikant hinauskamen


218<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

2<br />

3<br />

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..<br />

Abb. 6.8 Pragmatische Hinweise für das Lernen von Wörtern. a Weil dieses Kind schon die Bezeichnung für einen Gegenstand auf dem Tisch kennt, wird<br />

es den neuartigen Gegenstand ergreifen, wenn man es bittet, den „blicket“ herzuzeigen. b Dieses Mädchen hört die Versuchsleiterin ein neues Wort sagen; es<br />

wird annehmen, dass dieses Wort zu dem neuartigen Gegenstand gehört, den die Versuchsleiterin anschaut, selbst wenn es den Gegenstand nicht sehen kann<br />

<strong>und</strong> einen anderen neuartigen Gegenstand betrachtet, während es das Wort hört. c, d Das Kind hier wird das Wort „Gucker“ als die Bezeichnung für einen neuen<br />

Gegenstand lernen, den die Erwachsene mit triumphierendem Lächeln findet, nachdem sie zuvor angekündigt hat, dass sie den „Gucker“ finden möchte. (©<br />

Judy <strong>DeLoache</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Ein weiterer pragmatischer Hinweis, mit dessen Hilfe Kinder<br />

Schlussfolgerungen über die Bedeutung eines Wortes ziehen,<br />

ist die Intentionalität (Tomasello 2008). In einer Untersuchung<br />

beispielsweise hörten zweijährige Kinder Ankündigungen der<br />

folgenden Art: „Wir dazzen jetzt die Mickey Mouse!“ Die Versuchsleiterin<br />

führte dann mit einer Mickey-Mouse-Puppe zwei<br />

Handlungen durch, eine in koordinierter <strong>und</strong> offenbar absichtlicher<br />

Weise, gefolgt von einem zufriedenen Kommentar (entsprechend<br />

dem deutschen so), während die andere Handlung in<br />

umständlicher <strong>und</strong> scheinbar unbeabsichtigter Weise ausgeführt<br />

wurde, gefolgt von einem überraschten Ausruf (wie ups). Die<br />

Kinder interpretierten das neue Verb dazzen in Referenz auf die<br />

Handlung, die der Erwachsene offenbar intendiert hatte (Tomasello<br />

<strong>und</strong> Barton 1994). Kleinkinder können aus der emotionalen<br />

Reaktion eines Erwachsenen sogar dann Rückschlüsse auf den<br />

Namen eines neuen Gegenstands ziehen, wenn sie diesen Gegenstand<br />

gar nicht sehen können (Tomasello et al. 1996). In einer Untersuchung,<br />

die dies bewies, äußerte eine Erwachsene die Absicht,<br />

den Gucker zu finden. Nun hob sie einen von zwei Gegenständen<br />

auf <strong>und</strong> zeigte sich offenk<strong>und</strong>ig enttäuscht. Als sie vergnügt einen<br />

zweiten Gegenstand ergriff, schlossen die Kinder daraus, dass dies<br />

der „Gucker“ war. (. Abbildung 6.8c zeigt einen anderen Fall, in<br />

dem ein Kind aus dem emotionalen Ausdruck einer Erwachsenen<br />

auf den Namen eines nicht sichtbaren Gegenstands schließt.)<br />

Das Ausmaß, in dem Vorschulkinder die Absicht eines Sprechers<br />

berücksichtigen, zeigt sich dann, wenn ein Erwachsener<br />

für einen Gegenstand eine Bezeichnung verwendet, die ihrem<br />

Wissen über den Gegenstand widerspricht; dann akzeptieren<br />

die Kinder diese Bezeichnung, sofern der Erwachsene sie offensichtlich<br />

mit Absicht gebraucht hat (Jaswal 2004). Wenn der<br />

Versuchsleiter für das Bild eines katzenähnlichen Tieres nur die<br />

Bezeichnung „H<strong>und</strong>“ gebrauchte, zögerten Vorschulkinder, das<br />

Wort auf andere katzenähnliche Reize anzuwenden. Sie waren<br />

eher dazu bereit, wenn der Versuchsleiter klarmachte, dass er<br />

diese unerwartete Bezeichnung wirklich anwenden wollte, indem<br />

er sagte: „Ihr werdet es nicht glauben, aber das ist wirklich ein<br />

H<strong>und</strong>.“ Auf ähnliche Weise zögern Kinder, von einem „wenig<br />

vertrauenswürdigen“ Erwachsenen, der eine Katze als „H<strong>und</strong>“


Sprachentwicklung<br />

219 6<br />

..<br />

Abb. 6.9 Sprachlicher<br />

Kontext. Je nachdem, ob Roger<br />

Brown, ein Pionier bei der Erforschung<br />

der Sprachentwicklung,<br />

dieses Bild als „sibbing“, „a sib“<br />

oder „some sib“ bezeichnete,<br />

gelangten Vorschulkinder zu unterschiedlichen<br />

Annahmen über<br />

die Bedeutung des Wortes „sib“<br />

Beispiel<br />

0,50<br />

bezeichnet hat, anschließend neue Wörter zu übernehmen (z. B.<br />

Koenig <strong>und</strong> Harris 2005; Koenig <strong>und</strong> Woodward 2010; Sabbagh<br />

<strong>und</strong> Shafman 2009).<br />

Eine andere Möglichkeit, die Bedeutung neuer Wörter zu<br />

erschließen, besteht darin, Hinweise aus dem sprachlichen Kontext<br />

heranzuziehen, in dem neue Wörter auftreten. In einem der<br />

ersten Exper<strong>im</strong>ente zum Spracherwerb konnte Brown (1957)<br />

nachweisen, dass die grammatische Form eines neuen Wortes<br />

dessen Interpretation beeinflusst. Er zeigte Kindergartenkindern<br />

ein Bild mit einem Händepaar, das eine Menge einer Substanz<br />

in einem Behältnis knetet oder durchmischt (. Abb. 6.9). Das<br />

Bild wurde einer Gruppe von Kindern als „sibbing“ („sibben“)<br />

beschrieben (also als ein Vorgang), einer zweiten Gruppe gegenüber<br />

als „a sib“ („ein Sib“ als ein einziger Gegenstand oder eine<br />

Sache) <strong>und</strong> einer dritten Gruppe gegenüber als „some sib“ („etwas<br />

Sib“ als eine hinsichtlich der Anzahl ihrer Elemente nicht<br />

näher beschriebene Menge oder Masse). In der Folge interpretierten<br />

die Kinder das neue Wort sib in Bezug auf die Handlung,<br />

den Behälter oder das Material als Referenten, je nachdem, welche<br />

grammatische Form des Wortes (Verb, zählbares Nomen<br />

oder Mengen- beziehungsweise Massebezeichnung) sie vorher<br />

gehört hatten.<br />

Zwei <strong>und</strong> drei Jahre alte Kinder ziehen auch die grammatische<br />

Klasse neuer Wörter heran, um ihre Bedeutung zu interpretieren<br />

(z. B. Hall 1994; Hall et al. 1993; Markman <strong>und</strong> Hutchinson 1984;<br />

Waxman 1990). Wenn sie die Äußerung „Dies ist ein Daz“ hören,<br />

nehmen sie an, dass sich Daz auf ein Objekt bezieht <strong>und</strong> auch auf<br />

weitere Mitglieder derselben Objektklasse. Hören sie dagegen<br />

„Dies ist ein dazzes Ding“, nehmen sie an, dass daz sich auf eine<br />

Eigenschaft des Objekts bezieht (beispielsweise seine Farbe oder<br />

seine Oberflächenbeschaffenheit), während in dem Satz „Dies ist<br />

ein Daz“ das Wort Daz als korrektes Nomen ein Objekt bezeichnet.<br />

Diese Verknüpfungen von Nomen mit Klasse <strong>und</strong> Adjektiv<br />

mit Eigenschaft findet sich schon bei Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern<br />

(z. B. Booth <strong>und</strong> Waxman 2009; Waxman <strong>und</strong> Hall 1993;<br />

Waxman <strong>und</strong> Markow 1995, 1998).<br />

Die kindliche Deutung neuer Wörter in Bezug auf Objekte<br />

orientiert sich insbesondere an Form <strong>und</strong> Gestalt der Objekte –<br />

möglicherweise deshalb, weil die Form ein guter Hinweis auf die<br />

Klassenzugehörigkeit der Objekte ist. Kinder können ein neues<br />

Nomen leicht auf neuartige Objekte derselben Form übertragen,<br />

selbst wenn sich diese Objekte hinsichtlich ihrer Größe, Farbe<br />

<strong>und</strong> Textur stark unterscheiden (Graham <strong>und</strong> Poulin-Dubois<br />

1999; Landau et al. 1988; Smith et al. 1992). Wenn ein Kind also<br />

hört, dass ein U-förmiger Holzklotz „Daz“ genannt wird, wird<br />

Formänderung<br />

Texturänderung<br />

Größenänderung<br />

0,76<br />

0,82<br />

..<br />

Abb. 6.10 Bevorzugung der Form. In einer der vielen Untersuchungen zur<br />

Bevorzugung der Form zeigte man Kindern die ganz oben abgebildete Figur<br />

<strong>und</strong> sagte ihnen, das sei ein „Daz“ (oder man nannte ein anderes Nonsenswort).<br />

Dann fragte man sie, welcher der darunter abgebildeten Gegenstände<br />

ein „Daz“ ist. Wie man sieht, glaubten die Kinder meistens, dass sich das Wort<br />

auf einen Gegenstand von derselben Form wie den zuerst gezeigten bezog,<br />

selbst wenn er von anderer Oberflächenbeschaffenheit oder Größe war.<br />

(Nach Landau et al. 1988)<br />

es annehmen, dass Daz ebenso ein U-förmiges Objekt bezeichnet,<br />

das in ein blaues Fell eingehüllt ist, oder ein U-förmiges<br />

Stück roten Drahtes, aber nicht einen Holzklotz anderer Form<br />

(. Abb. 6.10). Eine Bevorzugung der Form geht auch aus den<br />

spontanen Erweiterungen vertrauter Wörter auf Nonsensobjekte<br />

hervor, die den vertrauten Dingen vage ähneln (z. B. könnte ein<br />

Kegel als „Berg“ bezeichnet werden; Samuelson <strong>und</strong> Smith 2005).<br />

Ein weiterer nützlicher Hinweis auf die Wortbedeutung ist die<br />

wiederkehrende Korrespondenz zwischen den gehörten Wörtern<br />

<strong>und</strong> den in der Umgebung wahrgenommenen Objekten. Dabei<br />

ist jede einzelne visuelle Szene vieldeutig. Beispielsweise sieht ein<br />

Kind vielleicht vier neue Objekte <strong>und</strong> hört gleichzeitig die Benennung<br />

„Daz“, sodass es nicht wissen kann, welches dieser Objekte<br />

ein Daz ist (entsprechend dem Referenzproblem von Quine mit<br />

dem Hasen). Aber nach allen Erfahrungen zusammengenommen<br />

kann das Kind feststellen, dass dann, wenn „Dax“ gesagt wird,<br />

<strong>im</strong>mer eines der vier neuen Objekte zu sehen ist <strong>und</strong> dass dieses<br />

Objekt vermutlich der Dax sein muss. In einem Prozess des situationsübergreifenden<br />

Wörterlernens können schon kleine Kinder<br />

die möglichen Bedeutungen neuer Wörter eingrenzen (z. B. Smith<br />

<strong>und</strong> Yu 2008; Vouloumanos <strong>und</strong> Werker 2009).<br />

Kinder nutzen auch die grammatische Struktur ganzer Sätze,<br />

um die Bedeutung herauszufinden – eine Strategie, die man als<br />

syntaktische Selbsthilfe (syntactic bootstrapping) bezeichnen<br />

könnte (Fisher 1999; Fisher et al. 1991; Gertner et al. 2006; Yuan<br />

<strong>und</strong> Fisher 2009). Bei einem frühen Nachweis dieses Phänomens<br />

wurde zwei Jahre alten Kindern ein Videoband mit einer Ente gezeigt,<br />

die mit ihrem linken Flügel einen Hasen in eine zusammen-


220<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

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..<br />

Abb. 6.11 Syntaktische Selbsthilfe. Als die Kinder in Naigles’ Untersuchung<br />

(1990) diese Filmszene von einem Erwachsenen mit der Beschreibung<br />

„The duck is kradding the rabbit“ („Die Ente kraddet den Hasen“) hörten,<br />

gebrauchten sie die syntaktische Struktur des Satzes <strong>und</strong> schlossen daraus,<br />

dass kradding das ist, was die Ente mit dem Hasen tut. (© Letitia R. Naigles,<br />

University of Connecticut; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

gekauerte Position auf den Boden drückt, während beide Tiere mit<br />

ihrem jeweils rechten Flügel bzw. Vorderbein Kreise beschreiben<br />

(. Abb. 6.11; Naigles 1990). (Die Rollen des Hasen <strong>und</strong> der Ente<br />

wurden von kostümierten Erwachsenen gespielt.) Während sie zusahen,<br />

hörten die Kinder in zwei getrennten Gruppen verschieden<br />

formulierte Beschreibungen wie „Die Ente kraddet den Hasen“<br />

(„The duck is kradding the rabbit“) bzw. „Der Hase <strong>und</strong> die Ente<br />

kradden“ („The rabbit and the duck are kradding“). Danach sahen<br />

alle Kinder zwei Videos parallel, wobei auf dem einen eine Ente<br />

zu sehen ist, die den Hasen niederdrückt, während das andere<br />

zeigt, wie beide Tiere ihren Flügel bzw. das Bein in der Luft kreisen<br />

lassen. Bei der Aufgabe, das „kradden“ zu finden, schauten<br />

die beiden Gruppen auf dasjenige Ereignis, das mit der Syntax<br />

übereinst<strong>im</strong>mte, die sie gehört hatten, während das Anfangsvideo<br />

lief. Diejenigen Kinder, die den ersten Satz gehört hatten, hatten<br />

offenbar „kradden“ als das verstanden, was die Ente mit dem Hasen<br />

tat, während diejenigen Kinder, die den zweiten Satz gehört<br />

hatten, dachten, „kradden“ beziehe sich auf die gemeinsame Tätigkeit<br />

beider Tiere. Die Kinder waren also zu unterschiedlichen<br />

Interpretationen des neuen Verbs gelangt, die von der Struktur<br />

der Sätze abhingen, in die die neuen Verben eingebettet waren.<br />

Syntaktische Selbsthilfe – Die Strategie, die grammatische Struktur ganzer<br />

Sätze zu verwenden, um die Bedeutung herauszufinden.<br />

Wir sehen also, dass Säuglinge <strong>und</strong> kleine Kinder eine bemerkenswerte<br />

Fähigkeit besitzen, neue Wörter als Namen für Objekte<br />

zu lernen. Interessanterweise sind sie unter best<strong>im</strong>mten<br />

Bedingungen auch in der Lage, nichtsprachliche „Bezeichnungen“<br />

für Objekte zu lernen. Kinder zwischen 13 <strong>und</strong> 18 Monaten<br />

können Gesten oder nichtsprachliche Laute (z. B. Quietsch- <strong>und</strong><br />

Pfeiftöne) genauso leicht auf neue Objekte beziehen wie Wörter<br />

(Namy 2001; Namy <strong>und</strong> Waxman 1998; Woodward <strong>und</strong> Hoyne<br />

1999). Später, mit 20 bis 26 Monaten, akzeptieren sie nur noch<br />

Wörter als Namen für Objekte. Und wenn neue Wörter mithilfe<br />

eines Computers präsentiert werden statt durch Interaktion<br />

mit einem Erwachsenen, akzeptieren bereits zwölf Monate alte<br />

Kinder nur noch Wörter als Namen von Objekten, jedoch keine<br />

anderen nichtsprachlichen Geräusche (MacKenzie et al. 2011).<br />

Kinder lernen also ziemlich früh, dass Phonemfolgen mit höherer<br />

Wahrscheinlichkeit eine Bedeutung ausdrücken als andere<br />

Arten von akustischen Signalen.<br />

Das Zusammenfügen von Wörtern<br />

Eine wichtige Station in der frühen Sprachentwicklung ist erreicht,<br />

wenn die Kinder damit beginnen, einzelne Wörter zu<br />

Sätzen zusammenzufügen; dieser Fortschritt versetzt sie in die<br />

Lage, zunehmend komplexere Vorstellungen auszudrücken. Das<br />

Ausmaß, in dem Kinder Syntax entwickeln, <strong>und</strong> die Geschwindigkeit,<br />

mit der dies erfolgt, unterscheiden ihre sprachlichen Fähigkeiten<br />

am stärksten von denen nichtmenschlicher Pr<strong>im</strong>aten.<br />

Erste Sätze<br />

Die meisten Kinder beginnen gegen Ende des zweiten Lebensjahres,<br />

Wörter zu einfachen Sätzen zu verknüpfen. Allerdings<br />

wissen Kinder, bereits bevor sie irgendwelche Wortkombinationen<br />

bilden, einiges über die Kombination der Wörter – dies<br />

ist ein weiteres Beispiel dafür, dass das Sprachverstehen der<br />

Sprachproduktion vorausgeht. Zu den frühesten Nachweisen<br />

der kindlichen Sensitivität für die Wortreihenfolge gehört die<br />

Untersuchung von Hirsh-Pasek <strong>und</strong> Golinkoff (1991), bei der<br />

Kleinkinder zwei Videoaufnahmen sahen: In einer küsst eine<br />

Frau ein paar Schlüssel <strong>und</strong> hält dabei einen Ball in die Höhe, in<br />

der anderen hält die Frau die Schlüssel in die Höhe, während sie<br />

den Ball küsst. Dieselben drei Elemente – küssen, Schlüssel <strong>und</strong><br />

ein Ball – kamen also in beiden Szenen vor. Wenn die Kinder<br />

nun den Satz „Sie küsst die Schlüssel“ oder „Sie küsst den Ball“<br />

hörten, blickten sie bevorzugt auf die jeweils zugehörige Szene.<br />

Bei den ersten Sätzen von Kindern handelt es sich um<br />

Zweiwortkombinationen; aus ihren einzelnen Äußerungen von<br />

„mehr“, „Saft“ <strong>und</strong> „trinken“ wird „mehr Saft“ <strong>und</strong> „Saft trinken“.<br />

Diese Zweiwortäußerungen wurden als Telegrammstil beschrieben,<br />

weil unwesentliche Elemente, genauso wie in Telegrammen,<br />

fehlen (Brown <strong>und</strong> Fraser 1963). Hier sind einige Beispiele für<br />

normale Zweiwortäußerungen (aus Gr<strong>im</strong>m <strong>und</strong> Weinert 2002):<br />

„Mama Arm“, „mehr habe“, „Auge zu“, „Tür auf “, „Papa Hut“,<br />

„Maxe weg“; Beispiele englischer Zweiwortäußerungen in Braine<br />

(1976). In diesen einfachen Sätzen ist eine Reihe von Elementen<br />

nicht enthalten, die in den Sätzen von Erwachsenen vorkommen<br />

würden; dazu gehören Funktionswörter (wie Artikel <strong>und</strong> Präpositionen),<br />

Hilfsverben (ist, war, wird) <strong>und</strong> Wortendungen (als<br />

Markierung von Plural oder Kasus bei Nomen oder Tempus bei<br />

Verben). Die ersten Sätze von Kindern besitzen diese telegrammartigen<br />

Eigenschaften in ganz unterschiedlichen Sprachen; beispielsweise<br />

auch <strong>im</strong> Englischen, Finnischen, Luo (Kenia) <strong>und</strong>


Sprachentwicklung<br />

221 6<br />

Kaluli (Neuguinea) (de Boysson-Bardies 1996/1999). Für Kinder,<br />

die Englisch lernen, kommt noch eine Besonderheit hinzu: Da<br />

<strong>im</strong> Englischen die Wortstellung für die Bedeutung entscheidend<br />

ist, folgen die ersten, einfachen Sätze Englisch lernender Kinder<br />

einer einheitlichen Wortstellung. Ein Kind sagt vielleicht „eat<br />

cookie“ („essen Keks“), würde aber wahrscheinlich niemals sagen<br />

„cookie eat“ („Keks essen“).<br />

Telegrammstil – Ein Begriff, der die ersten Sätze von Kindern, die meist Zweiwortkombinationen<br />

sind, beschreibt.<br />

Viele Kinder produzieren Ein- <strong>und</strong> Zweiwortäußerungen noch<br />

eine Zeitlang weiter, während andere schnell zu Dreiwortsätzen<br />

<strong>und</strong> längeren Sätzen übergehen. . Abbildung 6.12 zeigt das rapide<br />

Anwachsen der mittleren Äußerungslänge dreier Kinder aus Roger<br />

Browns (1973) klassischer Untersuchung der Sprachentwicklung.<br />

Wie man der Abbildung entnehmen kann, begann Eve mit ihrem<br />

explosiven Anstieg der Satzlänge viel früher als die beiden anderen<br />

Kinder. Die Äußerungen der Kinder werden zum Teil deshalb<br />

länger, weil sie anfangen, systematisch einige der Elemente, die in<br />

ihrer telegrammartigen Sprache fehlten, mit einzubeziehen.<br />

Wenn die Kinder erst einmal in der Lage sind, Vierwortsätze<br />

zu bilden, was typischerweise mit etwa zweieinhalb Jahren der<br />

Fall ist, dann beginnen sie auch damit, komplexere Sätze zu produzieren,<br />

also Sätze, die mehr als eine Phrase enthalten (Bowerman<br />

1979): „Can I do it when we get home?“ („Darf ich das, wenn<br />

wir zu Hause sind?“) oder „I want this doll because she’s big“<br />

(„Ich will diese Puppe, weil sie groß ist“) (L<strong>im</strong>ber 1973).<br />

Grammatik: Ein Werkzeug zur Wort- <strong>und</strong> Satzbildung<br />

Wie zu Beginn dieses Kapitels erwähnt sind die menschlichen<br />

Sprachen generativ: Mit einer beschränkten Anzahl von Wörtern<br />

<strong>und</strong> Morphemen <strong>im</strong> muttersprachlichen Wortschatz können wir<br />

eine unbeschränkte Zahl von Sätzen erzeugen <strong>und</strong> eine unbeschränkte<br />

Zahl von Aussagen produzieren. Dabei hat jede Sprache<br />

ihre eigenen Regeln (<strong>und</strong> Ausnahmen), die festlegen, wie Sprachelemente<br />

kombiniert werden können. Die Macht der Sprache<br />

beruht auf der Anwendung dieser Regeln, deren Beherrschung es<br />

jedem Einzelnen erlaubt, Sprache zu produzieren <strong>und</strong> zu verstehen,<br />

die weit über die Wörter oder Sätze hinausgeht, mit denen<br />

er bereits konfrontiert wurde. Wie kommt diese Beherrschung<br />

der Sprache zustande, insbesondere in den ersten Lebensjahren?<br />

In diesem Zusammenhang wurden vor allem Morpheme untersucht,<br />

die Verben oder Nomen hinzugefügt werden. So kann<br />

<strong>im</strong> Deutschen bei Nomen ein Plural-s angehängt werden oder<br />

bei einem Verb die Vergangenheitsform mit einem angehängten<br />

-te/-ten gebildet werden (neben anderen Möglichkeiten). Kleine<br />

Kinder erkennen diese Regeln <strong>und</strong> können sie auf neue Wörter<br />

anwenden. Dies wurde beispielsweise in einem klassischen Exper<strong>im</strong>ent<br />

von Berko (1958) nachgewiesen, in dem ihnen ein Bild<br />

mit einem Fantasietier gezeigt wurde, das die Exper<strong>im</strong>entatorin<br />

ein „Wug“ nannte. Dann wurde ein Bild mit zwei dieser Kreaturen<br />

vorgelegt, <strong>und</strong> die Exper<strong>im</strong>entatorin sagte: „Here are two of<br />

them, what are they?“ („Hier sind zwei davon; was sind das?“)<br />

Schon vierjährige Kinder antworteten problemlos „Wugs“. Diese<br />

Kinder hatten das Wort Wug zuvor noch nie gehört <strong>und</strong> generierten<br />

also die korrekte Pluralform für ein völlig neues Wort.<br />

..<br />

Abb. 6.12 Äußerungslänge. Der Zusammenhang zwischen dem Alter <strong>und</strong><br />

der mittleren Äußerungslänge von drei Kindern – Eve, Adam <strong>und</strong> Sarah –,<br />

untersucht von Roger Brown. (Brown 1973)<br />

Das heißt, sie konnten eine Generalisierung der zuvor gehörten<br />

Pluralbildungen vornehmen. Die Bef<strong>und</strong>e aus dieser Studie gelten<br />

als Beleg dafür, dass die teilnehmenden Kinder verstanden<br />

hatten, wie die Pluralbildung <strong>im</strong> Englischen funktioniert.<br />

Weitere Belege für eine Generalisierung ergaben sich daraus,<br />

wie Kinder mit Wortbildungen umgehen, die Ausnahmen von<br />

den Standardregeln sind. Im Englischen werden beispielsweise<br />

der Plural von man <strong>und</strong> die Vergangenheitsform von to go unregelmäßig<br />

gebildet. Kinder verwenden die korrekten unregelmäßigen<br />

Formen dieser Wörter <strong>und</strong> sagen „men“ als Plural von<br />

man <strong>und</strong> „went“ als Vergangenheitsform von go. Nachdem sie<br />

die passenden regelmäßigen Endungen gelernt haben, unterlaufen<br />

ihnen jedoch gelegentliche Übergeneralisierungen; das sind<br />

Fehler, bei denen sie unregelmäßige Formen so behandeln, als ob<br />

sie regelmäßig wären. Ein Kind, das zuvor bereits korrekterweise<br />

„men“ <strong>und</strong> „went“ sagte, produziert nun manchmal neue Formen<br />

wie „mans“ <strong>und</strong> „goed“ (Berko 1958; Kuczaj 1977; Xu <strong>und</strong> Pinker<br />

1995); <strong>im</strong> Deutschen findet sich analog statt „kam“ <strong>und</strong> „ging“<br />

plötzlich „kommte“, „kamte“ oder „gehte“. Bevor die Kinder die<br />

unregelmäßigen Formen endgültig beherrschen, wechseln sie<br />

manchmal zwischen Übergeneralisierung <strong>und</strong> korrekter unregelmäßiger<br />

Form hin <strong>und</strong> her (Marcus 1996, 2004). Der folgende<br />

(hier strukturanalog übersetzte) Dialog zwischen einem zweieinhalbjährigen<br />

Kind <strong>und</strong> seinem Vater illustriert diese Fehlerart<br />

sowie die Schwierigkeit einer Korrektur:<br />

Kind: Ich habe früher Windeln getragen. Als ich dann größer werdete<br />

(Pause)<br />

Vater: Als du größer wurdest?<br />

Kind: Als ich größer wurdete, trug ich Unterhosen.<br />

(Clark 1993)


222<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

2<br />

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23<br />

Übergeneralisierung – Sprachliche Fehler, bei denen Kinder unregelmäßige<br />

Wortformen so behandeln, als wären sie regelmäßig.<br />

Eltern spielen bei der grammatischen Entwicklung ihrer Kinder<br />

eine Rolle, obwohl diese begrenzter ist, als man vielleicht erwartet.<br />

Natürlich liefern die Eltern ein Modell der grammatikalisch<br />

korrekten Sprache. Außerdem ergänzen die Eltern häufig die fehlenden<br />

Teile der unvollständigen kindlichen Äußerungen, beispielsweise<br />

wenn auf das „nein Bett gehen“ eines <strong>Kindes</strong> reagiert<br />

wird mit „So, du willst jetzt also nicht ins Bett gehen?“<br />

Man könnte annehmen, dass Eltern auch zur Sprachentwicklung<br />

ihrer Kinder beitragen, indem sie die häufigen sprachlichen<br />

Fehler, die ihre Kinder machen, korrigieren. Tatsächlich ignorieren<br />

Eltern <strong>im</strong> Allgemeinen selbst die wildesten grammatikalischen Fehler<br />

<strong>und</strong> Äußerungen, die in der jeweiligen Sprache eigentlich gar<br />

nicht gebildet werden können (Bryant <strong>und</strong> Polkosky 2001; Brown<br />

<strong>und</strong> Hanlon 1970). Alles andere wäre auch anstrengend, weil ein<br />

Großteil des kindlichen Sprechens so beschaffen ist. Und wie bei<br />

dem Elternteil, der versuchte, bei seinem Sohn die Verwendung von<br />

„werdete“ zu korrigieren, sind solche Bemühungen ohnehin wenig<br />

effektiv. Im Allgemeinen neigen Eltern jedoch eher dazu, sachliche<br />

Irrtümer ihrer Kinder richtigzustellen als grammatikalische Fehler<br />

zu verbessern.<br />

Angesichts der wenigen elterlichen Grammatikkorrekturen<br />

stellt sich die Frage, wie die Kinder herausfinden, nach welchen<br />

Regeln die Syntax ihrer Muttersprache funktioniert. Eine Herangehensweise<br />

zur Beantwortung dieser Frage besteht darin,<br />

Miniatursprachen zu entwickeln – die sogenannten künstlichen<br />

Grammatiken – <strong>und</strong> zu untersuchen, welche Typen linguistischer<br />

Muster die Kinder lernen können. Schon nach kurzer Erfahrung<br />

mit einer Miniatursprache können Kinder bereits mit acht Monaten<br />

ziemlich komplexe Sprachmuster lernen <strong>und</strong> über die<br />

jeweils gehörten Sprachelemente hinausgehend generalisieren<br />

(z. B. Gerken et al. 2005; Gómez 2002; Lany <strong>und</strong> Saffran 2010;<br />

Marcus et al. 1999; Saffran et al. 2008). Beispielsweise konnten<br />

Babys nach dem Hören von Dreiwortsequenzen, in denen das<br />

zweite Wort wiederholt wird wie bei „le di di, wi je je, de li li …“,<br />

das Muster auch bei neuen Sequenzen wie „ko ga ga“ wiedererkennen<br />

(Marcus et al. 1999). Die weitere Forschung konzentriert<br />

sich auf die Frage, inwieweit diese Laboruntersuchungen Einblick<br />

in die Prozesse bieten, die Kinder be<strong>im</strong> Erwerb ihrer Muttersprache<br />

verwenden.<br />

Miniatursprache – Künstlich entwickelte Sprache, um den Erwerb von Grammatik<br />

bei Kindern zu untersuchen.<br />

Die krönende Leistung be<strong>im</strong> Spracherwerb ist die Fähigkeit,<br />

Wörter so zusammenzufügen, dass interpretierbare Sätze entstehen.<br />

Keine sprachliche Entwicklung dürfte so atemberaubend<br />

sein wie der Fortschritt, den Kinder binnen weniger Jahre von<br />

einfachen Zweiwortäußerungen bis hin zu komplexen Sätzen<br />

machen, die den Grammatikregeln der eigenen Muttersprache<br />

entsprechen. Selbst ihre Fehler lassen eine <strong>im</strong>mer differenziertere<br />

Repräsentation der grammatischen Struktur erkennen. Diese<br />

Leistung erscheint umso eindrucksvoller, als das elterliche Feedback<br />

großenteils fehlt. Die Art, wie sich dieses Lernen vollzieht,<br />

steht <strong>im</strong> Mittelpunkt der aktuellen Forschung.<br />

Gesprächsfähigkeit<br />

Kleine Kinder sind darauf erpicht, an Gesprächen mit anderen<br />

teilzunehmen, doch hinken ihre diesbezüglichen Kompetenzen<br />

am Anfang sehr hinter ihren aufke<strong>im</strong>enden sprachlichen<br />

Fähigkeiten her. Zum einen richtet sich ein Großteil des Sprechens<br />

sehr kleiner Kinder an sie selbst <strong>und</strong> nicht an andere<br />

Personen. Das gilt nicht nur dann, wenn ein Kind allein spielt:<br />

Die Hälfte der Äußerungen, die ein Kind in Gegenwart anderer<br />

Kinder oder Erwachsener ausspricht, sind an es selbst gerichtet<br />

(Schoeber-Peterson <strong>und</strong> Johnson 1991). Wygotski (1934/2002)<br />

glaubte, dass diese Selbstgespräche kleiner Kinder eine wichtige<br />

regulative Funktion besitzen: Kinder sprechen zu sich selbst,<br />

um ihre Handlungen zu organisieren (Behrend et al. 1992). Mit<br />

der Zeit wird das Selbstgespräch als Denken internalisiert, <strong>und</strong><br />

die Kinder werden fähig, ihr Verhalten mit geistigen Mitteln zu<br />

organisieren, sodass sie nicht mehr laut zu <strong>und</strong> mit sich selbst<br />

sprechen müssen.<br />

In ▶ Kap. 4 wurde bereits darauf hingewiesen, dass Kinder <strong>im</strong><br />

Gespräch mit anderen Kindern dazu neigen, sich kommunikativ<br />

egozentrisch zu verhalten. Piaget (1923/1983) bezeichnete dieses<br />

Sprechen von Kindern mit Gleichaltrigen als kollektive Monologe.<br />

Selbst wenn sie sich bei ihren Gesprächsbeiträgen abwechseln,<br />

entsteht insgesamt kaum ein logischer Zusammenhang,<br />

sondern die Inhalte der jeweiligen Redebeiträge haben wenig<br />

oder nichts damit zu tun, was ein anderes Kind jeweils unmittelbar<br />

zuvor gesagt hat. Die folgende Unterhaltung zwischen zwei<br />

amerikanischen Vorschulkindern vermittelt eine Vorstellung von<br />

Piagets Beobachtungen:<br />

Jenny: Meine Hasenhausschuhe […] sind braun <strong>und</strong> rot <strong>und</strong> so was<br />

wie gelb <strong>und</strong> weiß. Und sie haben Augen <strong>und</strong> Ohren <strong>und</strong> solche<br />

Nasen, die sich auf die Seite biegen, wenn sie sich küssen.<br />

Chris: Ich habe ein Stück Zucker in einem roten Stück Papier. Ich<br />

würde es essen, aber vielleicht ist es für ein Pferd.<br />

Jenny: Wir haben sie gekauft. Meine Mama hat sie gekauft. Wir konnten<br />

die alten nicht mehr finden. Die jetzt sind genauso wie die alten.<br />

Sie waren nicht <strong>im</strong> Kofferraum.<br />

Chris: Das Stück Zucker kann man nicht essen, wenn man das Papier<br />

nicht wegmacht.<br />

(Stone <strong>und</strong> Church 1957, S. 146 f.)<br />

Kollektiver Monolog – Gespräch unter Kindern, bei dem der Inhalt dessen, was<br />

das eine Kind sagt, wenig oder gar nichts mit dem zu hat, was das andere Kind<br />

gerade gesagt hat. Die Äußerungen weisen inhaltlich keinen wechselseitigen<br />

Bezug auf.<br />

Nach <strong>und</strong> nach wächst die Fähigkeit von Kindern, ein Gespräch<br />

aufrechtzuerhalten. In einer Längsschnittstudie der Eltern-Kind-<br />

Gespräche von vier Kindern <strong>im</strong> Alter von 21 bis zu 36 Monaten<br />

fanden Bloom et al. (1976), dass sich der Anteil kindlicher Äußerungen,<br />

die sich auf dasselbe Thema bezogen, zu dem ein Erwachsener<br />

gerade etwas gesagt hatte, <strong>im</strong> Beobachtungszeitraum<br />

mehr als verdoppelte (von etwa 20 auf über 40 %). Im Gegensatz<br />

dazu fiel der Anteil der Folgeäußerungen, die sich auf andere<br />

Themen bezogen, von etwa 20 % auf praktisch 0.<br />

In den Gesprächen jüngerer Kinder ändert sich ein Merkmal<br />

<strong>im</strong> Vorschulalter besonders drastisch: das Ausmaß, in dem sie über


Sprachentwicklung<br />

223 6<br />

Vergangenes sprechen. Die Gespräche von Dreijährigen enthalten<br />

höchstens ab <strong>und</strong> zu kurze Beiträge, die sich auf vergangene Ereignisse<br />

beziehen. Im Gegensatz dazu produzieren Fünfjährige bereits<br />

Erzählungen – Beschreibungen zurückliegender Ereignisse,<br />

die die Gr<strong>und</strong>struktur einer Geschichte aufweisen (Miller <strong>und</strong><br />

Sperry 1988; Nelson 1993). Die längeren, zusammenhängenderen<br />

Erzählungen werden unter anderem deshalb möglich, weil die<br />

Gr<strong>und</strong>struktur einer Geschichte von den Kindern besser verstanden<br />

wird (Peterson <strong>und</strong> McCabe 1988; Shapiro <strong>und</strong> Hudson 1991;<br />

Stein 1988).<br />

Erzählungen – Beschreibungen zurückliegender Ereignisse, die der Gr<strong>und</strong>struktur<br />

einer Geschichte folgen.<br />

Eltern helfen ihren Kindern aktiv bei der Entwicklung der Fähigkeit,<br />

vergangene Ereignisse in zusammenhängender Weise zu<br />

reproduzieren, indem sie die in ▶ Kap. 4 bereits erwähnte soziale<br />

Stützung auch für die Erzählungen ihrer Kinder gewähren<br />

(Bruner 1975). Eine effektive Art, die kindlichen Redebeiträge<br />

über Vergangenes zu strukturieren, besteht darin, elaborierende<br />

Fragen zu stellen – Fragen, die sie in die Lage versetzen, etwas<br />

zu sagen <strong>und</strong> auszuarbeiten, was die Geschichte vorantreibt <strong>und</strong><br />

weiterbringt.<br />

Elaborierende Fragen – Fragen von Erwachsenen, die das Kind dazu anregen,<br />

eine Geschichte genauer zu erzählen.<br />

Mutter: Und was passierte bei der Feier noch?<br />

Kind: Ich weiß nicht.<br />

Mutter: Wir haben mit allen anderen Kindern etwas ganz Besonderes<br />

gemacht.<br />

Kind: Was war das?<br />

Mutter: Es waren ganz viele Leute am Strand, <strong>und</strong> alle taten etwas<br />

<strong>im</strong> Sand.<br />

Kind: Was war das?<br />

Mutter: Kannst du dich nicht daran erinnern, was wir <strong>im</strong> Sand gemacht<br />

haben? Wir haben nach etwas gesucht.<br />

Kind: Hm, ich weiß nicht.<br />

Mutter: Wir haben <strong>im</strong> Sand gegraben.<br />

Kind: Hm, <strong>und</strong> das war, äh, als die gelbe Schaufel kaputt gegangen ist.<br />

Mutter: Gut! Das hatte ich ganz vergessen. Ja, die gelbe Schaufel ging<br />

kaputt, <strong>und</strong> was passierte dann?<br />

Kind: Hm, wir mussten, äh, mit dem anderen Ende von dem abgebrochenen<br />

gelben Stück graben.<br />

Mutter: Richtig. Wir haben das abgebrochene Stück genommen.<br />

Kind: Jaah.<br />

(Farrant <strong>und</strong> Reese 2002)<br />

Das Kind sagt in dieser Unterhaltung nicht wirklich viel, aber<br />

die Fragen helfen dem Kind, über das Geschehen nachzudenken,<br />

<strong>und</strong> die Mutter liefert außerdem ein Gesprächsmodell. Kleinkinder,<br />

deren Eltern ihre frühen Gespräche unterstützen, indem sie<br />

sinnvolle, elaborative Fragen stellen, können ein paar Jahre später<br />

selbst bessere Erzählungen produzieren (Fivush 1991; McCabe<br />

<strong>und</strong> Peterson 1991; Reese <strong>und</strong> Fivush 1993).<br />

..<br />

Eltern helfen ihren jüngeren Kindern normalerweise be<strong>im</strong> Sprechen über<br />

zurückliegende Ereignisse. Solche Unterhaltungen tragen zur frühen Sprachentwicklung<br />

bei. (© D<strong>im</strong>itry Ersler/fotolia.com)<br />

Ein entscheidender Faktor auf dem Weg, ein guter Konversationspartner<br />

zu werden, ist die Entwicklung der Sprachpragmatik, die<br />

es den Kindern ermöglicht zu verstehen, wie Sprache kommunikativ<br />

eingesetzt werden kann. Dieses Verständnis ist bei Äußerungen<br />

entscheidend, bei denen die nicht explizit in Worten ausgedrückte<br />

Botschaften vom Hörer verstanden werden müssen – etwa wenn<br />

rhetorische Fragen, sarkastische oder ironische Bemerkungen,<br />

Übertreibungen oder auch Untertreibungen <strong>und</strong> Tiefstapelei eingesetzt<br />

werden, um etwas auf den Punkt zu bringen.<br />

Sprachpragmatik – Wissen darüber, welche Äußerungen in einem best<strong>im</strong>mten<br />

sozialen Kontexten passend sind oder wie Äußerungen in einem best<strong>im</strong>mten<br />

Kontext zu interpretieren ist.<br />

Die sprachpragmatischen Fähigkeiten der Kinder entwickeln sich<br />

<strong>im</strong> Laufe der Vorschulzeit <strong>und</strong> erleichtern die Kommunikation<br />

mit anderen Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen. Insbesondere wird nun<br />

gelernt, die Perspektive des Gesprächspartners zu übernehmen<br />

– etwas, das in der oben zitierten „Konversation“ zwischen Jenny<br />

<strong>und</strong> Chris völlig fehlt. Im Kindergartenalter wird die Perspektive<br />

des Gesprächspartners genutzt (beispielsweise ob der Gesprächspartner<br />

eine wichtige Information schon kennt oder noch nicht),<br />

um herauszufinden, was der andere meint, <strong>und</strong> eine passende<br />

Antwort zu geben (Nadig <strong>und</strong> Sedivy 2002; Nilsen <strong>und</strong> Graham<br />

2009). Die Entwicklung dieser Fähigkeit hängt mit dem Grad der<br />

exekutiven Kontrolle zusammen. In dem Maße, in dem Kinder<br />

ihre Neigung, dem anderen die eigene Perspektive zu unterstellen,<br />

kontrollieren können, wird es für sie leichter, die Perspektive<br />

des Gesprächspartners zu übernehmen.<br />

Kinder lernen zudem, be<strong>im</strong> Verstehen der Bedeutung nicht<br />

nur Wörter als Information heranzuziehen. So können Kindergartenkinder<br />

die Intention des Sprechers bei mehrdeutigen<br />

Formulierungen anhand der emotionalen Tonlage herausfinden<br />

(Berman et al. 2010). Als ihnen zwei Puppen – eine intakte <strong>und</strong><br />

eine defekte – mit dem Hinweis „Look at the doll“ („Schau auf<br />

die Puppe“) gezeigt wurden, wandten sich die Vierjährigen (aber<br />

nicht die Dreijährigen) dann der intakten Puppe zu, wenn der<br />

Hinweis in fre<strong>und</strong>lichem Ton gegeben wurde, während sie bei<br />

negativem Affekt in der Instruktion zur defekten Puppe schauten.


224<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

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Wir sehen also, dass jüngere Kinder ihre wachsenden sprachlichen<br />

Fähigkeiten gut zum Einsatz bringen <strong>und</strong> so <strong>im</strong> Gespräch<br />

mit anderen Menschen <strong>im</strong>mer bessere Kommunikationspartner<br />

werden. Am Anfang brauchen sie noch beträchtliche Unterstützung<br />

durch einen kompetenten Partner, aber ihre Gesprächskompetenz<br />

macht stetige Fortschritte. Bei dieser Entwicklung<br />

der Konversationsfähigkeiten sind das zunehmende Verstehen<br />

von narrativen Strukturen <strong>und</strong> die Übernahme der Perspektive<br />

anderer entscheidende Komponenten.<br />

Die spätere Entwicklung<br />

Ab einem Alter von fünf oder sechs Jahren entwickeln Kinder<br />

ihre sprachlichen Fähigkeiten zwar weiter, aber sie zeigen dabei<br />

weniger drastische Neuleistungen. Beispielsweise erweitert sich<br />

ihre Fähigkeit, ein Gespräch zu führen, nachdem sie sich in den<br />

Vorschuljahren so dramatisch verbessert, über viele Jahre bis ins<br />

Erwachsenenalter ständig. Im Schulalter können die Kinder zunehmend<br />

besser Sprache analysieren <strong>und</strong> reflektieren, <strong>und</strong> sie<br />

beherrschen komplexere grammatische Regeln wie beispielsweise<br />

den Gebrauch von Passivkonstruktionen.<br />

Eine Folge der reflektierenden Sprachfähigkeiten von Kindern<br />

<strong>im</strong> Schulalter besteht in ihrem zunehmenden Verständnis<br />

der mehrfachen Bedeutungen von Wörtern, was eine endlose<br />

Reihe von Wortspielen, Rätseln <strong>und</strong> Witzchen nach sich zieht,<br />

an denen sich Gr<strong>und</strong>schulkinder erfreuen <strong>und</strong> mit denen sie<br />

ihre Eltern quälen (Ely <strong>und</strong> McCabe 1994). Auch können sie die<br />

Bedeutung neuer Wörter einfach dadurch erlernen, dass sie eine<br />

Umschreibung hören (Pressley et al. 1987); dadurch erweitert sich<br />

ihr passiver Wortschatz – von den 10.000 Wörtern, die Sechsjährige<br />

durchschnittlich kennen, zu den 40.000 Wörtern, die für<br />

Fünftklässler geschätzt werden (Anglin 1993), <strong>und</strong> schließlich<br />

dem Wortschatz von amerikanischen College-Studenten, der auf<br />

durchschnittlich 150.000 Wörter geschätzt wird (Miller <strong>und</strong> Gildea<br />

1987).<br />

Theoriefragen der Sprachentwicklung<br />

Wie sich in diesem Kapitel <strong>im</strong>mer wieder gezeigt hat, gibt es bei<br />

der Sprachentwicklung zahlreiche Hinweise auf Einflüsse von<br />

Natur <strong>und</strong> Umwelt. Zwei entscheidende Voraussetzungen für<br />

den Spracherwerb sind (1) das menschliche Gehirn <strong>und</strong> (2) die<br />

Erfahrung mit menschlicher Sprache. Die erste Voraussetzung<br />

betrifft klarerweise die Natur, die zweite die Umwelt. Ungeachtet<br />

der unübersehbaren Interaktion zwischen beiden Faktoren geht<br />

die Anlage-Umwelt-Debatte auf dem Gebiet der Sprachentwicklung<br />

mit erbitterter Heftigkeit weiter. Warum?<br />

Chomsky <strong>und</strong> die nativistischen Positionen<br />

Die Forschung zur Sprachentwicklung entstand aus einer theoretischen<br />

Diskussion darüber, welche Prozesse dem Spracherwerb<br />

zugr<strong>und</strong>e liegen. In den 1950er Jahren schrieb B. F. Skinner<br />

(1957) ein Buch mit dem Titel Verbal Behavior, in dem er eine<br />

behavioristische Theorie der Sprachentwicklung vorstellte. Wie<br />

in ▶ Kap. 1 erwähnt, betrachteten die Behavioristen Entwicklung<br />

als eine Funktion des Lernens durch Belohnung (Verstärkung)<br />

<strong>und</strong> Bestrafung overten Verhaltens. Skinner meinte, dass Eltern<br />

Kindern mit den gleichen Methoden der Verstärkung das<br />

Sprechen beibringen, mit denen man Tiere auf neues Verhalten<br />

trainiert.<br />

23<br />

..<br />

Dem Sprachtheoretiker Noam Chomsky zufolge verlassen sich alle diese Kinder be<strong>im</strong> Erwerb ihrer verschiedenen Sprachen auf dieselben angeborenen<br />

syntaktischen Strukturen. (oben li. © Photos.com, oben re. © Dave Bartruff/Danitadel<strong>im</strong>ont.com, unten li. Courtesy of © Kate Nurre, unten re. © Richard Lords/<br />

The Image Works)


Sprachentwicklung<br />

225 6<br />

In einer der wohl einflussreichsten jemals publizierten<br />

Buchrezension veröffentlichte Noam Chomsky (1959) eine Erwiderung<br />

gegen Skinner, in der er einige Gründe dafür angab,<br />

warum Sprache nicht durch Verstärkung <strong>und</strong> Bestrafung gelernt<br />

werden kann. Ein solcher Gr<strong>und</strong> wurde bereits in diesem Kapitel<br />

erwähnt: Wir können Sätze verstehen oder produzieren,<br />

die wir nie zuvor gehört haben (Generativität). Wenn Sprachenlernen<br />

durch Verstärkung <strong>und</strong> Bestrafung vorangetrieben<br />

würde, wie können wir dann wissen, dass ein Satz wie „Farblose<br />

grüne Ideen schlafen wild“ grammatisch ist, während „Grüne<br />

schlafen farblose wild Ideen“ nicht grammatisch ist (Chomsky<br />

1959)? Und wie könnten Kinder Wörter wie gehte oder Kuhs<br />

produzieren, die sie nie zuvor gehört haben? Die Erklärung für<br />

solche Beispiele kann nur darin liegen, dass wir Einzelheiten<br />

über die Struktur unserer Muttersprache kennen, die uns nicht<br />

beigebracht wurden – etwas, das sich nicht beobachten lässt <strong>und</strong><br />

mithin nicht verstärkt werden kann, <strong>im</strong> Gegensatz zu Skinners<br />

Annahme.<br />

Bei seiner eigenen Erklärung der Sprachentwicklung ging<br />

Chomsky davon aus, dass Menschen über eine angeborene Universalgrammatik<br />

verfügen, ein fest verschaltetes System von<br />

Regeln <strong>und</strong> Prinzipien, dem die Grammatiken aller Sprachen<br />

folgen. Chomskys Darstellung hat zentrale Bedeutung für die<br />

Entwicklung der modernen Linguistik als Disziplin <strong>und</strong> steht mit<br />

der Tatsache <strong>im</strong> Einklang, dass die gr<strong>und</strong>legenden Strukturen der<br />

Weltsprachen wesentliche Ähnlichkeiten aufweisen. Seine stark<br />

nativistische Darstellung liefert außerdem eine Erklärung dafür,<br />

dass die meisten Kinder Sprache ungemein schnell erwerben,<br />

während das bei Nichtmenschen (denen eine Universalgrammatik<br />

vermutlich fehlt) nicht der Fall ist. Die Annahme einer<br />

Universalgrammatik hat bei der Erforschung neu entstehender<br />

Sprachen wie der nicaraguanischen Gebärdensprache eine wichtige<br />

Rolle gespielt, bei der Kinder neue grammatische Strukturen<br />

schaffen (▶ Exkurs 6.4).<br />

Universalgrammatik – Eine Reihe hochabstrakter, unbewusster Regeln, die<br />

allen Sprachen gemeinsam sind.<br />

Die aktuelle Debatte zur Sprachentwicklung<br />

Einige der gr<strong>und</strong>legenden Beobachtungen Chomskys werden<br />

heute von allen Theorien als gültig angenommen. Um die Sprachentwicklung<br />

zu erklären, muss man auch der Tatsache Rechnung<br />

tragen, warum alle menschlichen Sprachen so viele gemeinsame<br />

Merkmale aufweisen. Theorien müssen zudem erklären, wodurch<br />

Kinder <strong>und</strong> Erwachsenen die Fähigkeit gewinnen, be<strong>im</strong><br />

Verwenden von Sprache Generalisierungen zu bilden, die über<br />

die zuvor bereits wahrgenommenen Wörter <strong>und</strong> Sätze hinausgehen.<br />

Allerdings unterscheiden sich die Darstellungen dieser<br />

Tatsache in zwei wichtigen Hinsichten: Zum einen geht es darum,<br />

in welchem Ausmaß die Natur des <strong>Kindes</strong> (interne Faktoren)<br />

bzw. die Umwelt (externe Faktoren) als Erklärung herangezogen<br />

wird, zum anderen um die Beiträge des <strong>Kindes</strong>: Haben sich die<br />

kognitiven <strong>und</strong> neuronalen Mechanismen, die dem Sprachenlernen<br />

zugr<strong>und</strong>e liegen, evolutionär bereichsspezifisch nur für das<br />

Sprachenlernen entwickelt, oder werden sie bereichsübergreifend<br />

zum Lernen vieler verschiedener Kenntnisse <strong>und</strong> Fähigkeiten<br />

genutzt?<br />

In Bezug auf Umwelt <strong>und</strong> Natur haben die Theoretiker<br />

Chomskys Argument von der Universalität der Sprache widersprochen<br />

<strong>und</strong> darauf hingewiesen, dass es auch Universalien in<br />

den Umgebungen von Kindern gibt. Überall auf der Welt müssen<br />

Eltern mit ihren Kindern über gewisse Dinge kommunizieren,<br />

<strong>und</strong> dies sollte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in<br />

der Sprache, die Kinder lernen, widerspiegeln. Betrachten Sie<br />

beispielsweise noch einmal . Tab. 6.1, die eine bemerkenswerte<br />

Überschneidung bei den ersten Wörtern zeigt, die Kinder dreier<br />

sehr verschiedener Kulturen erwerben (Tardif et al. 2008). Diese<br />

Ähnlichkeiten geben wieder, worüber Eltern mit ihren Kindern<br />

reden wollen <strong>und</strong> was Kinder sagen wollen.<br />

Tatsächlich gehen Erklärungen, die sich auf die soziale Interaktion<br />

stützen, von der Annahme aus, dass bei der Sprachentwicklung<br />

praktisch alles durch die kommunikative Funktion<br />

beeinflusst wird. Die Kinder werden motiviert, mit anderen zu<br />

interagieren, ihre eigenen Gedanken <strong>und</strong> Gefühle mitzuteilen<br />

<strong>und</strong> zu verstehen, was andere Menschen mitzuteilen versuchen<br />

(Bloom 1991; Bloom <strong>und</strong> Tinker 2001; Snow 1999). Von diesem<br />

Standpunkt aus betrachtet entdecken Kinder allmählich die<br />

gr<strong>und</strong>legenden Regelmäßigkeiten in der Sprache <strong>und</strong> ihrer Verwendung,<br />

indem sie sehr aufmerksam auf die vielfältigen Hinweise<br />

in der jeweils gehörten Sprache, dem sozialen Kontext des<br />

Sprachverwendens <strong>und</strong> den Intentionen des Sprechers achten<br />

(z. B. Tomasello 2008). Einige dieser Konventionen könnten anhand<br />

der gleichen Methoden der Verstärkung gelernt werden, die<br />

Skinner ursprünglich vorgeschlagen hatte. So haben Goldstein<br />

<strong>und</strong> Koautoren (Goldstein et al. 2003; Goldstein <strong>und</strong> Schwade<br />

2008) festgestellt, dass bei Kindern die Laute be<strong>im</strong> Plappern<br />

<strong>und</strong> die Zahl der in einem gegebenen Zeitintervall produzierten<br />

Plapperlaute dadurch beeinflusst werden können, dass Eltern<br />

auf dieses Plappern mit Verstärkung wie Lächeln <strong>und</strong> Streicheln<br />

reagieren. Inwieweit diese Art sozialen Verhaltens weniger offen<br />

erkennbare Aspekte der Sprachentwicklung wie den Erwerb der<br />

Syntax beeinflussen, bleibt jedoch unklar.<br />

Wie sieht nun die Erklärung des Spracherwerbs aus, die bereichsspezifische<br />

Prozesse als Gr<strong>und</strong>lage vermutet? Gemäß der<br />

streng nativistischen Sicht, wie sie Chomsky unterstützte, sind<br />

die kognitiven Fähigkeiten, die die Sprachentwicklung fördern,<br />

hochgradig sprachspezifisch. Steven Pinker (1996, S. 21) beschreibt<br />

Sprache als einen klar umrissenen Teil der biologischen<br />

Ausstattung unseres Gehirns, der von allgemeineren Fähigkeiten<br />

wie dem Verarbeiten von Informationen oder intelligentem Verhalten<br />

zu trennen sei. Diese Behauptung wird von der Modularitätshypothese<br />

noch einen Schritt weitergeführt, der zufolge<br />

das menschliche Gehirn ein angeborenes, unabhängiges Modul<br />

enthält, das von anderen Aspekten des kognitiven Funktionierens<br />

getrennt ist (Fodor 1983). Die Vorstellung spezialisierter geistiger<br />

Module bleibt nicht auf Sprache beschränkt. Wie in ▶ Kap. 7 ausgeführt<br />

wird, werden Module für spezifische Zwecke als Gr<strong>und</strong>lage<br />

einer Vielzahl von Funktionsbereichen angenommen – so<br />

etwa als Gr<strong>und</strong>lage der Wahrnehmung, räumlicher Fähigkeiten<br />

oder des sozialen Verstehens.<br />

Modularitätshypothese – Die Vorstellung, dass das menschliche Gehirn ein<br />

angeborenes, unabhängiges Sprachmodul enthält, das von anderen Aspekten<br />

des kognitiven Funktionierens getrennt ist.


226<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

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Exkurs 6.4: Näher betrachtet: „Ohne meine Hände kann ich nicht reden“ – Was uns Gesten über unsere Sprache verraten | |<br />

Überall auf der Welt begleiten Menschen ihr<br />

Sprechen mit spontanen Gesten. Die Natürlichkeit<br />

des Gestikulierens zeigt sich daran,<br />

dass blinde Menschen be<strong>im</strong> Sprechen genauso<br />

viel gestikulieren wie sehende, selbst<br />

wenn sie wissen, dass ihr Zuhörer ebenfalls<br />

blind ist (Iverson <strong>und</strong> Goldin-Meadow 1998).<br />

Das Gestikulieren entsteht früh: Kleinkinder<br />

produzieren erkennbare Gesten oft vor<br />

erkennbaren Wörter. Nach Acredolo <strong>und</strong><br />

Goodwyn (1990) werden viele „Babyzeichen“<br />

von den Kindern selbst erf<strong>und</strong>en. Eine ihrer<br />

Versuchspersonen zeigte „Krokodil“, indem<br />

sie die Hände aneinanderlegte <strong>und</strong> wie zwei<br />

zuschnappende Kiefer auf- <strong>und</strong> zuklappte;<br />

eine andere machte eine Geste für „H<strong>und</strong>“,<br />

indem sie ihre Zunge wie be<strong>im</strong> Hecheln<br />

herausstreckte; wieder eine andere signalisierte<br />

„Blume“ durch Riechbewegungen.<br />

Kleinkinder gewinnen früher die motorische<br />

Kontrolle über ihre Hände als über ihren<br />

Vokaltrakt.<br />

Es gibt einen interessanten Zusammenhang<br />

von frühem Gestikulieren <strong>und</strong> späterem<br />

Wortschatz (Rowe et al. 2008). Je mehr<br />

Gebrauch die Kinder mit 14 Monaten von<br />

Gesten gemacht hatten, desto größer war<br />

mit 42 Monaten ihr Wortschatz. Überdies<br />

ist die unterschiedliche Ausprägung des<br />

Gestikulierens in Familien mit niedrigem<br />

bzw. hohem sozioökonomischem Status ein<br />

wichtiger Faktor, der zu den in ▶ Exkurs 6.2<br />

diskutierten Unterschieden bei der Entwicklung<br />

von Sprachfertigkeiten beiträgt (Rowe<br />

<strong>und</strong> Goldin-Meadow 2009).<br />

Besonders gewichtige Belege für die engen<br />

Beziehungen zwischen Gestik <strong>und</strong> Sprache<br />

stammen aus der Untersuchung von<br />

Kindern, die ihre eigenen gestenbasierten<br />

Sprachen selbst kreiert haben. Goldin-<br />

Meadow <strong>und</strong> ihre Mitautoren (Feldman<br />

et al. 1978; Goldin-Meadow 2003; Goldin-<br />

Meadow <strong>und</strong> Mylander 1998) untersuchten<br />

von Geburt an gehörlose amerikanische<br />

<strong>und</strong> chinesische Kinder, deren Eltern kaum<br />

oder keine Kenntnisse irgendeiner offiziellen<br />

Gebärdensprache besaßen. Diese Kinder<br />

<strong>und</strong> ihre Eltern erfanden sich „Hauszeichen“,<br />

um sich miteinander zu verständigen. Das<br />

Gestenvokabular der Kinder übertraf jedoch<br />

schnell das ihrer Eltern.<br />

Wichtiger noch ist, dass die Kinder (aber<br />

nicht die Eltern) ihre Gesten spontan mit einer<br />

Struktur – einer rud<strong>im</strong>entären Grammatik<br />

– versahen. Beide Gruppen von Kindern<br />

verwendeten eine grammatische Struktur,<br />

die in manchen Sprachen vorkommt, aber<br />

weder <strong>im</strong> Englischen noch <strong>im</strong> Mandarin<br />

ihrer jeweiligen Eltern. Im Ergebnis waren<br />

die Zeichensysteme der Kinder einander<br />

ähnlicher als denen ihrer Eltern. Auch waren<br />

die Zeichen der Kinder komplexer als die<br />

ihrer Eltern. Ein ähnliches Phänomen kann<br />

man bei gehörlosen Kindern beobachten,<br />

die das Gebärden von ihren Eltern anhand<br />

einer gebräuchlichen Gebärdensprache lernen,<br />

die jedoch von den Eltern grammatisch<br />

fehlerhaft verwendet wird (etwa weil sie<br />

erst spät <strong>im</strong> Leben das Gebärden erlernten).<br />

In solchen Fällen hat man bei gehörlosen<br />

Kindern beobachtet, dass sie spontan ihre<br />

Gebärden mit einer Struktur versehen, die<br />

konsistenter ist als bei den von den Eltern<br />

produzierten Gebärden (Singleton <strong>und</strong><br />

Newport 2004).<br />

Das umfassendste <strong>und</strong> außergewöhnlichste<br />

Beispiel einer von Kindern geschaffenen<br />

Sprache stammt aus der Erfindung der<br />

Nicaraguanischen Zeichensprache (Nicaraguan<br />

Sign Language, NSL), einer vollständig<br />

neuen Sprache, die sich <strong>im</strong> Verlauf der<br />

letzten 30 Jahre herausgebildet hat. 1979<br />

begann ein groß angelegtes Bildungsprogramm<br />

für Gehörlose in dem mittelamerikanischen<br />

Land Nicaragua (Senghas <strong>und</strong><br />

Coppola 2001). Dieses Programm führte<br />

H<strong>und</strong>erte gehörloser Kinder in der Stadt<br />

Managua in zwei Schulen zusammen. Für<br />

die meisten der Kinder war es das erste Mal,<br />

dass sie mit anderen gehörlosen jungen<br />

Menschen zu tun hatten.<br />

Weder die Lehrer in den Schulen konnten<br />

eine offizielle Gebärdensprache noch die<br />

Kinder, die nur über die einfachen Hauszeichen<br />

verfügten, mit denen sie sich mit<br />

ihren Familien verständigt hatten. Die Kinder<br />

fingen bald damit an, wechselseitig ihre bestehenden<br />

informellen Zeichen auszubauen,<br />

<strong>und</strong> konstruierten eine „Pidgin“-Gebärdensprache<br />

– ein relativ pr<strong>im</strong>itives, begrenztes<br />

Kommunikationssystem. (Eine Pidgin-Sprache<br />

muss man sich so ähnlich wie das bei<br />

uns bekannte „Gastarbeiterdeutsch“ vorstellen.)<br />

Die Schüler gebrauchten diese Sprache<br />

sowohl innerhalb als auch außerhalb der<br />

Schule, <strong>und</strong> neu hinzukommende Gruppen<br />

von Kindern lernten diese Sprache.<br />

Was als Nächstes passierte, war erstaunlich.<br />

Als neue, jüngere Schüler in die Schulen kamen,<br />

verwandelten sie das von den älteren<br />

Schülern verwendete rud<strong>im</strong>entäre System<br />

in eine komplexe, völlig konsistente Sprache<br />

mit ihrer eigenen Grammatik, die Nicaraguanische<br />

Zeichensprache (Idioma de Signos Nicaragüense,<br />

ISN). Die flüssigsten Gebärdenproduzenten<br />

waren die jüngsten Kinder, weil<br />

sich die Nicaraguanische Zeichensprache zu<br />

einer vollgültigen Sprache herausgebildet<br />

hatte <strong>und</strong> weil sie diese Sprache in jungen<br />

Jahren erworben hatten.<br />

Vor kurzem wurde eine weitere Gebärdensprache<br />

in der Negev-Wüste in Israel<br />

entdeckt (Sandler et al. 2005). Die Al-Sayyid-<br />

Beduinen-Zeichensprache (ABSL) wird<br />

derzeit in der dritten Generation verwendet<br />

<strong>und</strong> ist schon 75 Jahre alt. Anders als die<br />

Nicaraguanische Gebärdensprache wird die<br />

Gebärdensprache der Beduinen von Geburt<br />

an erworben, weil gehörlose Kinder in ihrer<br />

weiteren Familie normalerweise mindestens<br />

einen erwachsenen Verwandten haben, der<br />

ebenfalls gehörlos ist. Die grammatische<br />

Struktur dieser Gebärdensprache ähnelt<br />

nicht den Umgangssprachen dieser Region,<br />

dem Arabischen <strong>und</strong> Hebräischen.<br />

Die Berichte über die Einführung neuer Sprachen<br />

durch gehörlose Kinder ist nicht nur<br />

eine faszinierende Geschichte, sondern sie<br />

belegen den Beitrag der Kinder be<strong>im</strong> Sprachenlernen.<br />

Über mehrere Generationen<br />

haben Kinder <strong>im</strong>provisierte, einfache <strong>und</strong><br />

wenig konsistente Gebärden aufgenommen<br />

<strong>und</strong> in Strukturen so transformiert, dass sie<br />

etablierten Sprachen <strong>im</strong>mer näherkamen. Inwieweit<br />

dieser Prozess das Wirken einer Universalgrammatik<br />

<strong>im</strong> Sinne Chomskys oder<br />

allgemeinere Lernmechanismen widerspiegelt,<br />

wissen wir nicht. Die Entdeckung, dass<br />

Kinder über den sprachlichen Input, den<br />

sie erhalten, hinausgehen <strong>und</strong> von sich aus<br />

ihre Sprache verfeinern <strong>und</strong> systematisieren,<br />

gehört zu den wichtigsten Entdeckungen <strong>im</strong><br />

Bereich der Sprachentwicklung.<br />

..<br />

Dieses kleine Mädchen aus der Untersuchung<br />

von Acredolo <strong>und</strong> Goodwyn (1990)<br />

gebärdet in einer „Babysprache“ ein idiosynkratisches<br />

Zeichen für das Schwein. (© Susan<br />

Goodwyn)


Sprachentwicklung<br />

227 6<br />

Exkurs 6.4 (Fortsetzung) | |<br />

..<br />

Gehörlose nicaraguanische Kinder gebärden<br />

gemeinsam in der Sprache, die in ihrer Schule<br />

erf<strong>und</strong>en wurde. (© Ann Senghas; mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Genehmigung)<br />

Eine andere Position n<strong>im</strong>mt an, dass die gr<strong>und</strong>legenden Lernmechanismen<br />

be<strong>im</strong> Spracherwerb tatsächlich sehr allgemein sind.<br />

Zwar könnten diese Mechanismen angeboren sein, aber ihre<br />

evolutionäre Entwicklung war nicht auf den Spracherwerb beschränkt.<br />

Beispielsweise helfen die bereits in diesem Kapitel beschriebenen<br />

Mechanismen des verteilten Lernens den Kindern,<br />

Tonsequenzen, visuelle Formen <strong>und</strong> menschliche Tätigkeiten zu<br />

verfolgen, wie einige Forscher gezeigt haben (z. B. Fiser <strong>und</strong> Aslin<br />

2001; Kirkham et al. 2002; Roseberry et al. 2011; Saffran et al.<br />

1999). Auf ähnliche Weise wird der Mechanismus des schnellen<br />

Zuordnens, der das schnelle Lernen von Wörtern unterstützt,<br />

ebenso für das Lernen von Objekten <strong>und</strong> ihren Eigenschaften<br />

verwendet (Markson <strong>und</strong> Bloom 1997). Auch die Weniger-istmehr-Hypothese<br />

zur kritischen Phase des Spracherwerbs, die<br />

wir bereits in diesem Kapitel erwähnt haben, ist nicht sprachspezifisch<br />

(Newport 1990). Die Fähigkeit, kleine Informationseinheiten<br />

extrahieren zu können, ist vermutlich ebenso in anderen<br />

Bereichen wie Musik nützlich, bei der Elemente wie Töne oder<br />

Akkorde auf höheren Ebenen zu Strukturen wie Melodien <strong>und</strong><br />

Harmonien organisiert sind. Und schließlich befassen sich aktuelle<br />

Theorien zu verschiedenen Störungen in der Sprachentwicklung<br />

(▶ Exkurs 6.5) mit Aspekten der allgemeinen kognitiven<br />

Funktionen, die nicht nur Sprache betreffen.<br />

Wie in anderen Bereichen der <strong>Kindes</strong>entwicklung haben<br />

Computermodelle eine wichtige Rolle bei der Ausbildung theoretischer<br />

Ansätze gespielt. Anhand von Computermodellen<br />

lässt sich spezifizieren, welche internen Strukturen ein lernender<br />

Computer aufweisen <strong>und</strong> welchen externen Input er<br />

insbesondere bei der Sprachverarbeitung erhalten muss, um<br />

kindlichen Spracherwerb s<strong>im</strong>ulieren <strong>und</strong> verstehen zu können.<br />

Ein wichtiger Ansatz, der sich an der Computermodellierung<br />

orientiert, ist der Konnektionismus, ein Typ von Informationsverarbeitungstheorie,<br />

der die gleichzeitige Parallelverarbeitung<br />

in zahlreichen miteinander verb<strong>und</strong>enen Prozessoren betont.<br />

Konnektionistische Forscher entwickelten Computers<strong>im</strong>ulationen<br />

für zahlreiche Aspekte der kognitiven Entwicklung, auch<br />

des Spracherwerbs (z. B. Elman et al. 1996). Die Software lernt<br />

dabei aus Erfahrung, indem sie bei der Verarbeitung sich wiederholender<br />

Eingaben schrittweise best<strong>im</strong>mte Verbindungen<br />

zwischen den einzelnen Prozessoren verstärkt aktiviert – ein<br />

Prozess, der die Entwicklungsfortschritte von Kindern s<strong>im</strong>uliert.<br />

Mit konnektionistischen Ansätzen wurden eindrucksvolle<br />

Erfolge be<strong>im</strong> Modellieren best<strong>im</strong>mter Aspekte der Sprachentwicklung<br />

erzielt, einschließlich der S<strong>im</strong>ulation des Erlernens<br />

der Vergangenheitsform <strong>im</strong> Englischen <strong>und</strong> des Auftretens<br />

von Wortbildungsfehlern be<strong>im</strong> Wörterlernen (z. B. Rumelhart<br />

<strong>und</strong> McClelland 1986; Samuelson 2002). Allerdings gibt es bei<br />

konnektionistischen Modellen <strong>im</strong>mer eine offene Flanke für<br />

Kritik bei den Merkmalen, die von vornherein in die Modelle<br />

eingebaut wurden <strong>und</strong> zum Beispiel die Frage aufwerfen, ob <strong>im</strong><br />

Computermodell dieselben „angeborenen“ Einschränkungen<br />

vorliegen wie bei Kindern. Auch be<strong>im</strong> Input, der einem lernenden<br />

Computersystem dargeboten wird, stellt sich die Frage,<br />

inwieweit dieser Input dem entspricht, was Kinder tatsächlich<br />

aufnehmen.<br />

Konnektionismus – Ein Typ von Informationsverarbeitungstheorie, der die<br />

gleichzeitige Aktivität zahlreicher miteinander verb<strong>und</strong>ener Verarbeitungseinheiten<br />

betont.<br />

In Kürze | |<br />

Der Prozess des Verstehens <strong>und</strong> Produzierens von Sprache,<br />

ob gesprochen oder gebärdet, umfasst die Entwicklung vieler<br />

verschiedener Arten von Wissen <strong>und</strong> Fähigkeiten. Innerhalb<br />

von wenigen Jahren machen Kinder riesige Schritte bei der<br />

Beherrschung der Phonologie, der Semantik, der Syntax<br />

<strong>und</strong> Pragmatik ihrer Muttersprache. Diese bemerkenswerte


228<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

Exkurs 6.5: Anwendungen: Störungen der Sprachentwicklung | |<br />

In diesem Kapitel haben wir <strong>im</strong>mer wieder<br />

betont, was <strong>im</strong> Verlauf der Sprachentwicklung<br />

bei verschiedenen Kindern <strong>und</strong> verschiedenen<br />

Kulturen ähnlich oder aber unterschiedlich ist.<br />

Die auffälligsten individuellen Unterschiede<br />

finden sich <strong>im</strong> Bereich der Sprachentwicklungsstörungen.<br />

Diese Störungen reichen<br />

von Entwicklungsverzögerungen, die sich <strong>im</strong><br />

Schulalter verlieren, bis hin zu lebenslangen<br />

Herausforderungen.<br />

Die Schätzungen zur Häufigkeit von Sprachstörungen<br />

bei Kindergartenkindern variieren<br />

zwischen 2 <strong>und</strong> 19 % (Nelson et al. 2006).<br />

Diese hohe Schwankungsbreite spiegelt auch<br />

die Tatsache wider, dass Sprachbeeinträchtigungen<br />

oft auf die Diagnosen be<strong>im</strong> Schuleintritt<br />

der Kinder bezogen werden <strong>und</strong> dass die<br />

Übergänge zwischen Entwicklungsverzögerungen,<br />

Beeinträchtigungen <strong>und</strong> Störungen<br />

der Sprachfähigkeiten fließend sein können.<br />

(In Deutschland wird die Sprachentwicklung<br />

der Kinder <strong>im</strong> Alter zwischen zwei <strong>und</strong> fünf<br />

Jahren in den Vorsorgeuntersuchungen<br />

be<strong>im</strong> Kinderarzt mit untersucht.) Viele Kinder<br />

fallen in die Gruppe der Spätsprecher. Diese<br />

Bezeichnung wird bei Kindern verwendet,<br />

die in der Wortschatzentwicklung hinter 90 %<br />

der Kinder liegen, aber ansonsten in anderen<br />

Bereichen eine normale Entwicklung zeigen.<br />

Manche von ihnen sind „Spätentwickler“, die<br />

später Sprachfertigkeiten auf normalem oder<br />

nahezu normalem Niveau erreichen. Neuere<br />

Untersuchungen lassen vermuten, dass<br />

spät sprechende Kleinkinder, die aber be<strong>im</strong><br />

Wortverstehen besser sind, mit relativ hoher<br />

Wahrscheinlichkeit entsprechende Defizite<br />

aufholen (Fernald <strong>und</strong> Marchman 2012).<br />

Kinder, die nicht mitkommen, aber keine<br />

allgemeinen kognitiven Defizite aufweisen –<br />

ungefähr 7 % der amerikanischen Kinder, die<br />

<strong>im</strong> Alter von sechs Jahren eingeschult werden<br />

–, fallen unter die Diagnose einer spezifischen<br />

Sprachentwicklungsstörung. Diese Kinder<br />

zeigen bei verschiedenen sprachbezogenen<br />

Aufgaben, etwa bei der Sprachwahrnehmung,<br />

bei der Wortsegmentierung <strong>und</strong> be<strong>im</strong><br />

Grammatikverständnis Defizite (z. B. Evans<br />

et al. 2009; Fonteneau <strong>und</strong> van der Lely 2008;<br />

Rice 2004; Ziegler et al. 2005). Es können auch<br />

kognitive Defizite be<strong>im</strong> Arbeitsgedächtnis, Sequenzlernen<br />

<strong>und</strong> der Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />

auftreten, die sich insbesondere auf die<br />

Sprachentwicklung auswirken (z. B. Leonard<br />

et al. 2007; Tomblin et al. 2007).<br />

Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES)<br />

– Entwicklungsstörung, bei der keine anderweitigen<br />

Pr<strong>im</strong>ärbeeinträchtigungen (Wahrnehmung,<br />

neurologische Anomalie, starke IQ Minderung,<br />

tiefgreifende psychosoziale Störung) vorliegen.<br />

Kinder mit Down-Syndrom, Fragiles-X-Syndrom<br />

oder einer autistischen Störung sind<br />

meist in allen Bereichen der Intelligenz- <strong>und</strong><br />

der Sprachentwicklung zurückgeblieben,<br />

<strong>und</strong> weisen Defizite sowohl be<strong>im</strong> Produzieren<br />

aus auch be<strong>im</strong> Verstehen von Sprache<br />

auf. Tatsächlich sind Beeinträchtigungen in<br />

der sprachlichen Kommunikation auch ein<br />

Diagnosekriterium für autistische Störungen.<br />

Bei Kindern mit autistischen Störungen sind<br />

die frühen Sprachfähigkeiten ein entscheidender<br />

Prädiktor für spätere Leistungen <strong>und</strong><br />

insbesondere die Wirkungen therapeutischer<br />

Intervention (z. B. Stone <strong>und</strong> Yoder 2001; Szatmari<br />

et al. 2003). Interessanterweise tritt bei<br />

jüngeren Geschwister von autistisch gestörten<br />

Kindern öfter eine Verzögerung in der Sprachentwicklung<br />

auf als sonst in ihrer Altersgruppe<br />

(Gamliel et al. 2009).<br />

Eine weitere Gruppe von Kindern, die Sprachstörungen<br />

entwickeln können, sind gehörlose<br />

Kinder. Wie schon erwähnt, werden solche<br />

Kinder eine normale Sprachentwicklung<br />

durchlaufen, wenn sie von klein auf mit einer<br />

Gebärdensprache aufwachsen. Allerdings<br />

haben 90 % der gehörlosen Kinder Eltern,<br />

die hören können, <strong>und</strong> viele davon kommen<br />

nicht mit einer regulären Gebärdensprache in<br />

Kontakt. Ohne Hörfähigkeit ist es sehr schwer,<br />

gesprochene Sprache zu lernen. Eine zunehmend<br />

verbreitete Behandlung von gehörgeschädigten<br />

Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen sind<br />

Cochlea-Implantate, die chirurgisch eingesetzt<br />

werden. Diese Implantate wandeln den am<br />

Ohr ankommenden Schall in elektrische<br />

Impulse um, durch die der Hörnerv st<strong>im</strong>uliert<br />

wird. Das Signal eines Cochlea-Implantats ist<br />

zwar gegenüber dem, was be<strong>im</strong> typischen<br />

Hören vorgeht, deutlich unterlegen, aber<br />

gleichwohl lernen viele gehörlose Kinder<br />

mithilfe des Implantats gesprochene Sprache<br />

zu verstehen – wenn auch mit individuell sehr<br />

unterschiedlichem Erfolg. Entsprechend den<br />

Bef<strong>und</strong>en zur kritischen Phase des Spracherwerbs<br />

führt eine frühe Implantation (bei<br />

einem Alter unter drei Jahren) zu besseren<br />

Erfolgen als eine Implantation bei einem<br />

höheren Alter (z. B. Houston <strong>und</strong> Miyamoto<br />

2010). Selbst dann, wenn gehörlose Säuglinge<br />

<strong>und</strong> Kinder seit Beginn der Lernentwicklung<br />

Sprache mithilfe eines Implantats wahrnehmen,<br />

können sie Wörter nicht so genau erkennen<br />

wie hörende Gleichaltrige <strong>und</strong> brauchen<br />

dafür auch länger (Grieco-Calub et al. 2009).<br />

Vielleicht bietet eine bilinguale Sprachförderung<br />

mit Gebärdensprache als zweiter Sprache<br />

zusätzlich zum Implantathören gesprochener<br />

Sprache diesen Kindern die besten Möglichkeiten<br />

zum Spracherwerb.<br />

16<br />

17<br />

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20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Leistung wird erst durch zwei Voraussetzungen möglich: die<br />

Existenz eines menschlichen Gehirns <strong>und</strong> den Kontakt mit<br />

menschlicher Kommunikation.<br />

Die aktuellen theoretischen Erklärungsansätze der Sprachentwicklung<br />

unterscheiden sich darin, wie sehr sie Anlage- oder<br />

Umwelteinflüsse betonen. Nativisten wie Chomsky betonen<br />

deutlich das angeborene sprachliche Wissen <strong>und</strong> sprachspezifische<br />

Lernmechanismen, während andere Theoretiker<br />

behaupten, dass das Erlernen von Sprache aus universellen<br />

Lernprinzipien hervorgehen kann. Viele Theorien legen zentralen<br />

Wert auf die kommunikative Funktion der Sprache <strong>und</strong><br />

die Motivation von Kindern, andere Menschen zu verstehen<br />

<strong>und</strong> mit ihnen zu interagieren. Die umfangreiche Literatur<br />

zur Sprachentwicklung erlaubt eine gewisse Unterstützung<br />

für jede dieser Perspektiven, aber keine von ihnen liefert die<br />

ganze Wahrheit über den kindlichen Erwerb der Sprache –<br />

dieser unüberschaubar komplexen <strong>und</strong> wohl einzigartigen<br />

Fähigkeit des Menschen.<br />

Nichtsprachliche Symbole <strong>und</strong> Entwicklung<br />

Auch wenn die Sprache unser herausragendes Symbolsystem<br />

ist, hat die Menschheit eine Fülle anderer Arten von Symbolen<br />

erf<strong>und</strong>en, um sich zu verständigen. Praktisch jedes Ding<br />

kann als nichtsprachliches Symbol dienen, solange jemand ihm<br />

die Eigenschaft zuschreibt, für etwas anderes zu stehen als es<br />

selbst (<strong>DeLoache</strong> 2002, 2004). Die Liste der Symbole, mit denen<br />

wir regelmäßig zu tun haben, ist lang <strong>und</strong> vielfältig <strong>und</strong> reicht<br />

von den geschriebenen Wörtern, Zahlen, Grafiken, Fotos <strong>und</strong><br />

Zeichnungen in den Lehrbüchern bis zu Tausenden von alltäglichen<br />

Dingen wie Fernsehen, Filme, Computer-Icons, Landkarten,<br />

Uhren <strong>und</strong> so weiter. Weil Symbole in unserem Alltagsleben<br />

eine so zentrale Rolle spielen, liegt in der Beherrschung<br />

der verschiedenen Symbolsysteme, die in der jeweiligen Kultur<br />

von Bedeutung sind, eine entscheidende Entwicklungsaufgabe<br />

für alle Kinder.<br />

Zur Kompetenz <strong>im</strong> Umgang mit Symbolen gehört sowohl die<br />

Beherrschung der Symbole, die andere geschaffen haben, als auch<br />

die Bildung neuer symbolischer Repräsentationen. Wir behan-


Nichtsprachliche Symbole <strong>und</strong> Entwicklung<br />

229 6<br />

deln zunächst die frühen Symbolfunktionen <strong>und</strong> beginnen mit<br />

Forschungen zur Fähigkeit sehr kleiner Kinder, den Informationsgehalt<br />

symbolischer Objekte auszuwerten. Danach konzentrieren<br />

wir uns auf die Symbolbildung von Kindern in Zeichnungen.<br />

In ▶ Kap. 7 werden wir das Erschaffen von symbolischen<br />

Beziehungen in Als-ob-Spielen untersuchen <strong>und</strong> in ▶ Kap. 8 bei<br />

älteren Kindern die Entwicklung von zwei der wichtigsten symbolischen<br />

Aktivitäten: Lesen <strong>und</strong> Rechnen.<br />

Der Symbolgebrauch als Information<br />

Zu den entscheidenden Funktionen vieler Symbole gehört, dass<br />

sie uns nützliche Informationen vermitteln. Eine Karte beispielsweise<br />

– gleich ob eine grobe Bleistiftskizze auf der Rückseite<br />

eines Briefumschlags oder eine mehrfarbige Landkarte in<br />

einem teuren Weltatlas – kann entscheidend sein, um einen<br />

best<strong>im</strong>mten Ort zu finden. Die Nutzung eines symbolischen<br />

Gebrauchsgegenstands wie einer Karte erfordert eine zweifache<br />

(duale) Repräsentation: Das Artefakt muss <strong>im</strong> Geiste gleichzeitig<br />

in zweierlei Weise repräsentiert sein: als reales Objekt <strong>und</strong> als<br />

Symbol, das für etwas anderes als sich selbst steht (<strong>DeLoache</strong><br />

2002, 2004).<br />

Duale Repräsentation – Fähigkeit, ein Artefakt gleichzeitig als reales Objekt<br />

<strong>und</strong> als Symbol zu repräsentieren (z. B. Spielzeug-Auto).<br />

Sehr kleine Kinder können mit der dualen Repräsentation<br />

noch beträchtliche Schwierigkeiten haben, was ihre Fähigkeit,<br />

Informationen aus symbolischen Objekten zu nutzen, sehr einschränkt<br />

(<strong>DeLoache</strong> 2004). Dies wurde durch Forschungsarbeiten<br />

nachgewiesen, in denen ein Kleinkind zusieht, wie die Versuchsleiterin<br />

ein Miniaturspielzeug in einem maßstabgetreuen<br />

Modell eines Z<strong>im</strong>mers versteckt, das sich in Originalgröße<br />

nebenan befindet (. Abb. 6.13; <strong>DeLoache</strong> 1987). Das Kind soll<br />

dann eine größere Version dieses Spielzeugs finden, wobei dem<br />

Kind gesagt wird, das Spielzeug sei „in dem großen Z<strong>im</strong>mer an<br />

derselben Stelle versteckt“. Dreijährige können ihr Wissen um<br />

den Ort des Miniaturspielzeugs in dem Modell leicht dafür verwenden<br />

herauszufinden, wo sich das Original des Spielzeugs<br />

<strong>im</strong> großen Z<strong>im</strong>mer befindet. Den meisten zweieinhalbjährigen<br />

Kindern dagegen gelingt es nicht, das große Spielzeug dort zu<br />

finden; sie scheinen keine Ahnung davon zu haben, dass ihnen<br />

das Modell irgendetwas über das Z<strong>im</strong>mer verrät. Weil das Modell<br />

als dreid<strong>im</strong>ensionales Objekt selbst so auffällig <strong>und</strong> interessant<br />

ist, fällt es sehr kleinen Kindern schwer, mit einer zweifachen<br />

Repräsentation zurechtzukommen, <strong>und</strong> sie übersehen die symbolische<br />

Beziehung zwischen dem Modell des Z<strong>im</strong>mers <strong>und</strong> dem<br />

Z<strong>im</strong>mer, für das es steht.<br />

..<br />

Abb. 6.13 Aufgabe mit maßstabgetreuem Modell. Bei einem Test der<br />

Fähigkeit jüngerer Kinder, ein Symbol als Informationsquelle zu nutzen,<br />

beobachtet eine Dreijährige, wie die Versuchsleiterin Judy <strong>DeLoache</strong> ein<br />

Troll-Figürchen unter einem Kissen <strong>im</strong> maßstabgetreuen Modell des angrenzenden<br />

Raumes versteckt. Das Kind sucht erfolgreich nach der größeren<br />

Troll-Puppe, die am korrespondierenden Ort des Raumes verborgen war, was<br />

erkennen lässt, dass es den Zusammenhang zwischen dem Modell <strong>und</strong> dem<br />

Raum verstanden hat. Das Kind findet auch das kleine Spielzeug wieder, bei<br />

dem es beobachtet hatte, wie es ursprünglich <strong>im</strong> Modell versteckt worden<br />

war. (© Judy <strong>DeLoache</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Diese Interpretation wurde durch eine Untersuchung erhärtet,<br />

bei der es keiner dualen Repräsentation bedurfte, um von einem


230<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

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Modell auf eine größere Raumanordnung zu schließen (<strong>DeLoache</strong><br />

et al. 1997). Ein Versuchsleiter zeigte zweieinhalbjährigen<br />

Kindern eine „Schrumpfmaschine“ (ein Oszilloskop mit vielen<br />

Knöpfen <strong>und</strong> Lichtern) <strong>und</strong> erklärte ihnen, dass die Maschine<br />

„Dinge kleiner machen“ kann. Die Kinder sahen dann, wie eine<br />

Troll-Puppe in einem beweglichen, zeltartigen Raum von etwa<br />

2 auf 3 m Größe versteckt wurde, <strong>und</strong> die Schrumpfmaschine<br />

wurde angestellt. Während die Schrumpfmaschine arbeitete,<br />

warteten die Kinder <strong>und</strong> der Versuchsleiter in einem anderen<br />

Raum. Bei ihrer Rückkehr in das „Schrumpfz<strong>im</strong>mer“ stand ein<br />

maßstabgetreu verkleinertes Modell des zeltartigen Raumes an<br />

der Stelle des Originals. (Mitarbeiter hatten das Originalzelt entfernt<br />

<strong>und</strong> durch das verkleinerte Modell ersetzt.) Es gelang den<br />

Kindern, den Troll in dem verkleinerten Zelt zu finden.<br />

Warum sollte die Idee einer Schrumpfmaschine diese zweieinhalbjährigen<br />

Kinder in die Lage versetzen, mit der Aufgabe<br />

besser zurechtzukommen? Die Antwort besteht darin, dass –<br />

sofern das Kind die Behauptungen des Versuchsleiters über die<br />

Schrumpfmaschine glaubt – <strong>im</strong> Geiste des <strong>Kindes</strong> das Modell<br />

einfach <strong>im</strong>mer noch der ursprüngliche Raum ist. Es gibt hier<br />

also keine symbolische Beziehung zwischen den beiden Räumen,<br />

weshalb eine duale Repräsentation auch nicht benötigt wird.<br />

Die Schwierigkeit, die kleine Kinder mit dualen Repräsentationen<br />

<strong>und</strong> Symbolen haben, wird auch in anderen Zusammenhängen<br />

sichtbar. Beispielsweise verwenden die Untersucher<br />

oft anatomisch geformte Puppen, um jüngere Kinder in Fällen<br />

vermuteten sexuellen Missbrauchs zu befragen, in der Annahme,<br />

dass den Kindern die Beziehung zwischen der Puppe <strong>und</strong> ihnen<br />

selbst offensichtlich würde. Kindern unter fünf Jahren gelingt es<br />

jedoch oft nicht, irgendeine Beziehung zwischen sich selbst <strong>und</strong><br />

der Puppe herzustellen, sodass die Hinzuziehung einer Puppe<br />

ihre Berichte über ihre Erinnerungen nicht verbessert, sondern<br />

sie vielleicht eher weniger zuverlässig macht (Bruck et al. 1995;<br />

<strong>DeLoache</strong> <strong>und</strong> Marzolf 1995; Goodman <strong>und</strong> Aman 1990).<br />

Die zunehmende Fähigkeit zur dualen Repräsentation ermöglicht<br />

es Kindern, die abstrakte Beschaffenheit vielfältiger<br />

symbolischer Artefakte zu entdecken. Schulkinder beispielsweise<br />

erkennen <strong>im</strong> Gegensatz zu jüngeren Kindern, dass eine rote Linie<br />

auf einer Straßenkarte nicht bedeutet, dass die damit bezeichnete<br />

Straße ebenfalls rot wäre (Liben <strong>und</strong> Myers 2007). Ältere Kinder<br />

sind, sofern sie angemessen instruiert werden, auch in der Lage,<br />

Objekte wie Stäbe oder Klötze unterschiedlicher Größe, die unterschiedliche<br />

Zahlenmengen darstellen, dazu zu verwenden, um<br />

Rechenoperationen zu lernen <strong>und</strong> einzuüben (Uttal et al. 2006).<br />

Zeichnen<br />

Bilder malen ist eine häufige symbolische Tätigkeit, zu der Eltern<br />

in vielen Gesellschaften ihre Kinder ermutigen (Goodnow 1977).<br />

Wenn Kleinkinder erstmals gezeichnete Spuren auf dem Papier<br />

hinterlassen, sind sie fast ausschließlich auf die Tätigkeit selbst<br />

konzentriert <strong>und</strong> versuchen nicht, irgendwelche erkennbaren<br />

Bilder zu produzieren. Mit etwa drei oder vier Jahren fangen die<br />

meisten Kinder damit an, Bilder von etwas zu zeichnen (oder dies<br />

zu versuchen): Sie produzieren darstellende Kunst (Callaghan<br />

1999). Dabei beeinflusst der Kontakt mit Symboldarstellungen,<br />

wie früh Kinder beginnen, eigene symbolische Darstellungen zu<br />

produzieren. Bei einer neueren Untersuchung (Callaghan et al.<br />

2011) zeigte sich, dass Kinder (einer kanadischen Gruppe), die in<br />

ihren Elternhäusern viele bildliche Darstellungen gesehen hatten,<br />

früher selbst solche Bilder <strong>und</strong> auch mehr Bilder produzierten<br />

als Kinder (aus indischen <strong>und</strong> peruanischen Gruppen), die zu<br />

Hause mit nur wenigen derartigen Bildern konfrontiert waren.<br />

Anfangs übersteigen die künstlerischen Impulse der Kinder oft<br />

ihre motorischen <strong>und</strong> planerischen Fähigkeiten (Yamagata 1997).<br />

. Abbildung 6.14 zeigt, was zunächst wie ein typisches Gekritzel<br />

erscheint. Der zweieinhalbjährige Schöpfer dieses Bildes erzählte<br />

be<strong>im</strong> Malen jedoch von seinen Bemühungen, <strong>und</strong> eine Aufzeichnung<br />

seiner Äußerungen macht deutlich, dass er jedes einzelne<br />

Element seines Bildes ziemlich gut darzustellen wusste, aber das<br />

Ganze auf dem Papier nicht räumlich zu koordinieren vermochte.<br />

Sturm<br />

Segelboot<br />

Person<br />

Wasser<br />

..<br />

Abb. 6.14 Erste Zeichnungen. Entgegen dem ersten Anschein handelt es<br />

sich hier nicht um ein Zufallsgekritzel, wie aus den Äußerungen des Zweijährigen,<br />

der das Bild produzierte, erkennbar wird. Als der Junge eine annähernd<br />

dreieckige Form zeichnete, sagte er, das sei ein „Segelboot“. Eine Reihe von Wellenlinien<br />

nannte er „Wasser“. Einige hingekritzelte Linien unter dem „Segelboot“<br />

waren „jemand, der mit dem Boot fährt“. Und das wilde Gekritzel drumherum<br />

stellte einen „Sturm“ dar. Jedes Element repräsentierte somit in gewissem Ausmaß<br />

etwas Gegenständliches, wenn auch nicht das Bild als Ganzes<br />

Der häufigste Gegenstand für kleinere Kinder sind menschliche<br />

Figuren (Goodnow 1977). So wie Kinder be<strong>im</strong> Beginn des<br />

Sprechens die Wörter, die sie produzieren, vereinfachen, so vereinfachen<br />

Kinder auch ihre Zeichnungen menschlicher Figuren<br />

(. Abb. 6.15). Man beachte, dass das Kind die Zeichnung planen<br />

<strong>und</strong> die einzelnen Elemente räumlich koordinieren muss,<br />

um diese groben, einfachen Formen hervorzubringen. Selbst die<br />

frühen „Kopffüßler-Menschen“ haben ihre Füße unten <strong>und</strong> die<br />

Arme an der Seite, wenn sie auch häufig dem Kopf entspringen.<br />

. Abbildung 6.16 lässt einige der Strategien erkennen, mit deren<br />

Hilfe Kinder komplexere Zeichnungen anfertigen. In diesem<br />

Fall hat das Kind ein Bild gezeichnet, auf dem das Haus, in dem


Zusammenfassung<br />

231 6<br />

es wohnt, seine Schule, die Straße zwischen beiden <strong>und</strong> weitere<br />

Häuser entlang der Straße vorkommen. Eine Strategie, auf die<br />

es sich dabei verließ, war die gut geübte Formel, wie man ein<br />

Haus darstellt: ein Fünfeck mit einer Tür <strong>und</strong> einer Dachkante.<br />

Eine andere Strategie bestand darin, die Gr<strong>und</strong>linie eines Hauses<br />

mit der Straße zu koordinieren, auch wenn dies zu Lasten<br />

der Gesamtkoordination der Häuser ging. Mit der Zeit werden<br />

manche Kinder sehr geübt darin, die Beziehungen zwischen den<br />

verschiedenen Elementen in ihren Bildern geeignet darzustellen.<br />

..<br />

Abb. 6.15 Kopffüßler. Die ersten Zeichnungen kleiner Kinder, die Menschen<br />

darstellen, weisen typischerweise die Form von „Kopffüßlern“ auf<br />

zuhause<br />

Laden<br />

..<br />

Abb. 6.16 Komplexere Zeichnungen. Diese Kinderzeichnung – der Weg<br />

zwischen Wohnung <strong>und</strong> Schule – setzt einige gut geübte Strategien ein,<br />

wobei das Kind aber noch nicht erkannt hat, wie sich komplexere räumliche<br />

Beziehungen darstellen lassen<br />

In Kürze | |<br />

Nichtsprachliche Symbole spielen <strong>im</strong> Leben jüngerer Kinder<br />

eine wichtige Rolle. Mit zunehmendem Bewusstsein für den<br />

Informationsgehalt symbolischer Gegenstände, die von<br />

anderen erzeugt wurden, machen Kinder einen wichtigen<br />

Schritt auf dem Weg zur geschickten Verwendung der vielen<br />

Symbolsysteme, die der Schlüssel zum modernen Leben<br />

sind. Ein entscheidender Faktor für das Verständnis <strong>und</strong> den<br />

Gebrauch von Symbolen, die andere geschaffen haben, ist<br />

die duale Repräsentation – die Fähigkeit, ein symbolisches<br />

Objekt wie eine Landkarte oder ein Modell <strong>und</strong> zugleich<br />

auch das, wofür es steht, mental zu repräsentieren. Die<br />

Fähigkeit, Symbole zu erschaffen, zeigt sich deutlich in den<br />

Zeichnungen kleiner Kinder.<br />

Zusammenfassung<br />

Ein entscheidendes Merkmal des Menschseins ist der kreative<br />

<strong>und</strong> flexible Gebrauch einer Vielzahl sprachlicher <strong>und</strong> anderer<br />

Symbole. Die enorme Kraft der Sprache rührt von ihrer Generativität<br />

her – der Tatsache, dass sich aus einer endlichen Menge von<br />

Wörtern eine schier unendliche Anzahl von Sätzen erzeugen lässt.<br />

-<br />

Sprachentwicklung<br />

Eine Sprache zu erwerben bedeutet, ein komplexes System<br />

aus phonologischen, semantischen, syntaktischen <strong>und</strong> pragmatischen<br />

Regeln zu lernen, welche die Laute, Bedeutungen,<br />

grammatischen Strukturen <strong>und</strong> Verwendungsmöglichkeiten<br />

der Sprache leiten. Die einzige Ausnahme bei Zeichen- oder<br />

Gebärdensprachen besteht darin, dass sie als ihre elementaren<br />

Einheiten Gebärden <strong>und</strong> nicht Laute verwenden.<br />

-<br />

Die Sprachfähigkeit ist artspezifisch. Die erste Voraussetzung<br />

für ihre voll ausgeprägte Entwicklung ist ein menschliches<br />

Gehirn. Forscher haben nichtmenschliche Pr<strong>im</strong>aten<br />

erfolgreich bemerkenswerte Fähigkeiten <strong>im</strong> Symbolgebrauch<br />

lehren können, aber keine voll ausgebildete Sprache.<br />

-<br />

Die ersten Jahre des menschlichen Lebens bilden eine<br />

kritische Phase für den Spracherwerb; Viele Aspekte der<br />

-<br />

Sprache lassen sich danach schwerer erlernen.<br />

Eine zweite Voraussetzung für die Sprachentwicklung ist<br />

der Kontakt mit Sprache. Alle hörenden Kinder werden<br />

vor allem mit an Kinder gerichteter Sprache angesprochen,<br />

die sich durch eine höhere Tonlage, extreme Intonationsschwankungen,<br />

einen warmen, liebevollen Tonfall <strong>und</strong><br />

-<br />

übertriebene M<strong>im</strong>ik auszeichnet.<br />

Säuglinge besitzen bemerkenswerte Sprachverstehensfähigkeiten.<br />

Sie legen wie Erwachsene eine kategoriale Wahrnehmung<br />

von Sprachlauten an den Tag <strong>und</strong> ordnen Laute<br />

diskreten Kategorien zu, auch wenn diese Laute physikalisch<br />

ähnlich sind.<br />

-<br />

Bei der Unterscheidung sprachlicher Laute außerhalb der<br />

eigenen Muttersprache sind Kleinstkinder Erwachsenen<br />

sogar überlegen. Wenn sie die Laute, die in ihrer Sprache<br />

wichtig sind, lernen, verringert sich ihre Fähigkeit, Laute in<br />

-<br />

anderen Sprachen zu unterscheiden.<br />

Neuere Studien haben gezeigt, dass Säuglinge für die Verteilungscharakteristika<br />

der Sprache höchst sensibel sind;<br />

sie bemerken eine Vielzahl subtiler Regelhaftigkeiten in der<br />

Sprache, die sie hören, <strong>und</strong> nutzen diese Regelhaftigkeiten,<br />

um Wörter aus dem vorbeirauschenden Sprachstrom herauszugreifen.<br />

-<br />

Mit etwa sieben Monaten beginnen Kinder zu plappern. Hörende<br />

Kinder produzieren repetitive Lautfolgen wie „bababa“;<br />

manche gehörlose Kinder, die mit einer Gebärdensprache in<br />

Kontakt stehen, produzieren Handbewegungen mit derselben<br />

Art von Wiederholungsmustern. Mit der Zeit klingt das vokale<br />

Plappern <strong>im</strong>mer mehr wie die Muttersprache des Babys.<br />

-<br />

Die zweite Hälfte des ersten Lebensjahres ist auch dadurch<br />

gekennzeichnet, dass das Kind lernt, wie es mit anderen<br />

Menschen interagieren <strong>und</strong> kommunizieren kann. Dazu<br />

gehört die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit mit anderen<br />

Menschen zu koordinieren.


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23<br />

232<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

-<br />

Das Erkennen von Wortbedeutungen (die Assoziation<br />

vertrauter Wörter mit ihren Referenten) beginnt mit etwa<br />

-<br />

sechs Monaten.<br />

Die Produktion erkennbarer Wörter beginnt mit etwa<br />

einem Jahr. In der holophrasischen Phase sagen Kinder jeweils<br />

nur ein Wort. Mit ihrem sehr eingeschränkten Wortschatz<br />

machen Kinder oft Überdehnungsfehler, bei denen<br />

ein best<strong>im</strong>mtes Wort in einem weiteren Kontext verwendet<br />

wird, als es der Wortbedeutung angemessen wäre. Die Kinder<br />

nutzen darüber hinaus nun eine Fülle von Strategien,<br />

-<br />

um die Bedeutungen neuer Wörter herauszufinden.<br />

Gegen Ende des zweiten Lebensjahres produzieren Kinder<br />

kurze Sätze. Die Länge <strong>und</strong> Komplexität ihrer Äußerungen<br />

n<strong>im</strong>mt nach <strong>und</strong> nach zu, <strong>und</strong> sie üben die entstehenden<br />

-<br />

sprachlichen Fähigkeiten von sich aus.<br />

Im Kindergartenalter unterlaufen Kindern <strong>im</strong> Englischen<br />

wie <strong>im</strong> Deutschen Übergeneralisierungsfehler, bei denen<br />

unregelmäßige Formen so behandelt werden, als ob sie<br />

-<br />

regelmäßig gebildet würden.<br />

Kinder entwickeln ihre aufke<strong>im</strong>enden sprachlichen Fähigkeiten,<br />

indem sie von kollektiven Monologen zu längeren<br />

Gesprächen übergehen – der Fähigkeit, zusammenhängend<br />

-<br />

von ihren Erlebnissen zu erzählen.<br />

Praktisch alle aktuellen Theorien der Sprachentwicklung<br />

erkennen an, dass dabei angeborene (interne) Faktoren <strong>und</strong><br />

-<br />

Erfahrung (extern) zusammenwirken.<br />

Nativisten, beispielsweise der einflussreiche Linguist Noam<br />

Chomsky, postulieren angeborenes Wissen in Form einer<br />

Universalgrammatik, einem Satz hochabstrakter Regeln,<br />

die allen Sprachen gemeinsam sind. Die Nativisten nehmen<br />

an, dass das Erlernen von Sprache durch sprachspezifische<br />

-<br />

Fähigkeiten unterstützt wird.<br />

Interaktionistische Theoretiker betonen den kommunikativen<br />

Kontext der Sprachentwicklung <strong>und</strong> des Sprachgebrauchs. Sie<br />

weisen auf das eindrucksvolle Ausmaß hin, in dem Säuglinge<br />

<strong>und</strong> Kleinkinder eine Vielzahl von pragmatischen Hinweisen<br />

-<br />

nutzen, um herauszufinden, was andere sagen.<br />

Andere theoretische Ansätze setzen voraus, dass sich Sprache<br />

auch ohne angeborenes Wissen entwickeln kann <strong>und</strong><br />

dass ihr Erwerb lediglich leistungsfähige kognitive Allzweckmechanismen<br />

erfordert. Konnektionistische Modelle<br />

werden herangezogen, um diese Ansätze zu unterstützen.<br />

-<br />

Nichtsprachliche Symbole <strong>und</strong> Entwicklung<br />

Symbolische Artefakte (wie Karten oder Modelle) erfordern<br />

eine zweifache (duale) Repräsentation. Um sie zu verwenden,<br />

müssen Kinder <strong>im</strong> Geiste sowohl das Symbolobjekt<br />

selbst als auch seine symbolische Beziehung zum Referenten<br />

repräsentieren. Kleinkinder werden <strong>im</strong>mer besser<br />

darin, duale Repräsentationen aufzubauen <strong>und</strong> symbolische<br />

Artefakte als Informationsquelle zu nutzen. Kleinkinder<br />

werden <strong>im</strong>mer geschickter be<strong>im</strong> dualen Repräsentieren <strong>und</strong><br />

-<br />

<strong>im</strong> Umgang mit Symbolen als Informationsquelle.<br />

Zeichnen ist eine verbreitete symbolische Tätigkeit. Die<br />

frühen Kritzeleien der kleinen Kinder weichen bald der Absicht,<br />

Bilder von etwas zu zeichnen, wobei die Darstellung<br />

des menschlichen Körpers ein beliebtes Thema darstellt.<br />

Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />

1. Im vorliegenden Kapitel wurden vielfach elterliche Verhaltensweisen<br />

erwähnt <strong>und</strong> diskutiert, die für die Sprachentwicklung<br />

relevant sind. Nennen Sie einige Beispiele dafür,<br />

wie – nach aktuellem Kenntnisstand – Eltern die Sprachentwicklung<br />

ihrer Kinder beeinflussen.<br />

2. Die Sprachentwicklung ist ein besonders komplizierter<br />

Aspekt der <strong>Kindes</strong>entwicklung, <strong>und</strong> keine einzelne Theorie<br />

kann all das, was wir über den kindlichen Spracherwerb<br />

wissen, erfolgreich erklären. Würden Sie die Einflüsse des<br />

<strong>Kindes</strong> (Natur) oder der Umwelt als vorrangig einschätzen?<br />

3. Was sind Übergeneralisierungsfehler, <strong>und</strong> warum liefern<br />

sie einen starken Beleg dafür, dass Kinder Grammatikregeln<br />

erworben haben?<br />

4. Es wurden viele Parallelen gezogen zwischen den Prozessen<br />

des Erwerbs gesprochener Sprache <strong>und</strong> des Erwerbs<br />

gebärdeter Sprache. Was sagen uns diese Ähnlichkeiten<br />

über die Gr<strong>und</strong>lagen der menschlichen Sprache?<br />

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4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

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4<br />

5<br />

6<br />

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238<br />

Kapitel 6 • Die Entwicklung des Sprach- <strong>und</strong> Symbolgebrauchs<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

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239 7<br />

Die Entwicklung von Konzepten<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Die Dinge verstehen: Wer oder was – 241<br />

Objekte in Klassen einteilen – 241<br />

Das Wissen über sich selbst <strong>und</strong> andere – 244<br />

Das Wissen über lebende Dinge – 250<br />

Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel – 255<br />

Kausalität – 255<br />

Raum – 257<br />

Zeit – 261<br />

Zahl – 263<br />

Die Beziehungen zwischen den Konzepten von Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl – 266<br />

Zusammenfassung – 267<br />

Literatur – 268<br />

S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


240<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

© logom/fotolia.com<br />

Shawna, ein Mädchen von acht Monaten, krabbelt ins Schlafz<strong>im</strong>mer<br />

ihres sieben Jahre alten Bruders. Das Z<strong>im</strong>mer enthält<br />

viele Gegenstände: ein Bett, eine Kommode, einen H<strong>und</strong>, einen<br />

Baseball samt Fanghandschuh, Bücher, Hefte, Schuhe, schmutzige<br />

Socken <strong>und</strong> dergleichen mehr. Für Shawnas Bruder enthält<br />

der Raum Möbel, Kleidung, Gedrucktes <strong>und</strong> Sportsachen. Aber<br />

wie sieht der Raum für Shawna aus?<br />

Babys besitzen noch keine Konzepte von Möbeln, Druckerzeugnissen,<br />

Sportsachen <strong>und</strong> Ähnlichem <strong>und</strong> auch keine spezifischeren,<br />

einschlägigen Konzepte wie Fanghandschuhe <strong>und</strong> Bücher.<br />

Shawna versteht die Szenerie also nicht in derselben Weise wie<br />

ihr Bruder. Die Frage, ob ein so kleines Baby wie Shawna vielleicht<br />

andere Konzepte bildet, die für das Verständnis der Szenerie<br />

bedeutsam sind, lässt sich nicht beantworten, ohne die Bef<strong>und</strong>e<br />

der Entwicklungsforschung heranzuziehen. Besitzt sie schon ein<br />

Konzept für lebende <strong>und</strong> unbelebte Dinge, mit deren Hilfe sie<br />

verstehen kann, warum der H<strong>und</strong> von selbst herumläuft <strong>und</strong> die<br />

Bücher nicht? Besitzt sie schon eine Vorstellung von Leichtem gegenüber<br />

Schwerem, mit deren Hilfe sie verstehen kann, warum sie<br />

eine Socke, aber nicht die Kommode hochheben kann? Besitzt sie<br />

schon ein Konzept von Vorher <strong>und</strong> Nachher, um zu verstehen, dass<br />

ihr Bruder <strong>im</strong>mer zuerst die Socken anzieht <strong>und</strong> dann die Schuhe<br />

anstatt umgekehrt? Oder ist das alles ein Durcheinander für sie?<br />

..<br />

Was sieht dieses Kind, wenn es den Raum betrachtet? (© Hannah <strong>und</strong><br />

Valentin Neuser; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

Wie diese hypothetische Szene zeigt, sind Konzepte entscheidende<br />

Voraussetzungen dafür, dass einem die Welt sinnvoll<br />

erscheint. Was genau sind aber Begriffe, <strong>und</strong> wie tragen sie zu<br />

unserem Verstehen bei?<br />

Konzepte sind allgemeine Vorstellungen, die Gegenstände,<br />

Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen auf der Basis von<br />

Ähnlichkeit strukturieren. Es gibt eine unendliche Anzahl möglicher<br />

Konzepte, weil es unendlich viele Aspekte gibt, unter denen<br />

Gegenstände oder Ereignisse einander ähnlich sein können<br />

<strong>und</strong> sich in Kategorien zusammenfassen lassen. Zum Beispiel<br />

können Gegenstände ähnliche Formen haben (alle Fußballfelder<br />

sind rechteckig), sie können aus ähnlichen Materialien<br />

bestehen (alle Diamanten bestehen aus kompr<strong>im</strong>iertem Kohlenstoff),<br />

von ähnlicher Größe sein (alle Wolkenkratzer sind hoch),<br />

ähnliche Geschmacksrichtungen aufweisen (alle Zitronen sind<br />

sauer), von ähnlicher Farbe sein (alle Colas sind braun), ähnliche<br />

Funktionen erfüllen (alle Messer sind zum Schneiden da) <strong>und</strong><br />

so weiter.<br />

Konzepte – Allgemeine Vorstellungen oder Auffassungen, mit deren Hilfe man<br />

Gegenstände, Ereignisse, Eigenschaften oder abstrakte Sachverhalte, die sich<br />

auf irgendeine Art ähnlich sind oder etwas gemeinsam haben, zu Klassen zusammenfassen<br />

kann.<br />

Konzepte helfen uns, die Welt zu verstehen <strong>und</strong> effizient in ihr<br />

zu handeln, indem sie uns ermöglichen, aus vorangehenden Erfahrungen<br />

zu verallgemeinern. Wenn wir den Geschmack einer<br />

best<strong>im</strong>mten Mohrrübe mögen, werden wir wahrscheinlich auch<br />

den Geschmack anderer Exemplare mögen, sofern wir erkennen,<br />

dass sie ebenfalls zur Kategorie der Mohrrüben gehören. Konzepte<br />

sagen uns auch, wie wir emotional auf neue Erfahrungen<br />

reagieren können, beispielsweise wenn wir mit allen fremden<br />

H<strong>und</strong>en sehr vorsichtig umgehen, weil wir sie als H<strong>und</strong>e klassifiziert<br />

haben <strong>und</strong> einmal von einem Mitglied dieser Kategorie gebissen<br />

wurden. Ein Leben ohne Konzepte wäre <strong>und</strong>enkbar; jede<br />

Situation wäre neuartig, <strong>und</strong> wir hätten keine Ahnung, welche<br />

frühere Erfahrung in der neuen Situation relevant wäre.<br />

Wie Sie in diesem Kapitel sehen werden, treten bei der Erforschung<br />

der Konzeptentwicklung einige Themen besonders<br />

hervor. Eines davon betrifft Anlage <strong>und</strong> Umwelt; die Begriffe von<br />

Kindern spiegeln die Interaktion ihrer spezifischen Erfahrungen<br />

mit ihrer biologischen Prädisposition wider, Informationen<br />

auf best<strong>im</strong>mte Weise zu verarbeiten. Ein weiteres wiederholt<br />

auftretendes Thema ist das aktive Kind: Schon ab der frühesten<br />

Kindheit spiegeln viele Konzepte die aktiven Versuche der Kinder<br />

wider, der Welt Bedeutung zu verleihen. Ein drittes wichtiges<br />

Thema betrifft die Mechanismen der Veränderung: Forscher<br />

untersuchen die Konzeptentwicklung nicht nur um der Begriffe<br />

willen, die Kinder bilden, sondern auch, um die Prozesse zu<br />

verstehen, mit deren Hilfe sie die Konzepte bilden. Ein vierter<br />

Aspekt ist schließlich der soziokulturelle Kontext: Die Konzepte,<br />

die wir bilden, ergeben sich unter dem Einfluss der Gesellschaft,<br />

in der wir leben.<br />

Weitgehende Übereinst<strong>im</strong>mung herrscht darüber, dass<br />

die Begriffsentwicklung das Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong><br />

Umwelt widerspiegelt; wie das <strong>im</strong> Einzelnen funktioniert, ist<br />

jedoch heiß umstritten. Die Kontroverse verläuft analog zur


Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />

241 7<br />

Kontroverse der Nativisten <strong>und</strong> der Empiristen, die wir <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit der Wahrnehmungsentwicklung (▶ Kap. 5)<br />

<strong>und</strong> der Sprachentwicklung (▶ Kap. 6) bereits beschrieben haben.<br />

Nativisten wie Liz Spelke, Alan Leslie <strong>und</strong> Karen Wynn<br />

glauben, dass ein angeborenes Verständnis gr<strong>und</strong>legender<br />

Konzepte eine zentrale Rolle in der Entwicklung spielt. Sie argumentieren,<br />

dass Säuglinge mit einem Sinn für f<strong>und</strong>amentale<br />

Konzepte wie Zeit, Raum, Kausalität, Zahl sowie menschliches<br />

Denken <strong>und</strong> Fühlen zur Welt kommen oder auch mit spezialisierten<br />

Lernmechanismen, die sie dazu befähigen, ein rud<strong>im</strong>entäres<br />

Verständnis dieser Konzepte ungewöhnlich schnell<br />

<strong>und</strong> leicht zu erwerben. In nativistischer Sicht ist die Umwelt<br />

für die Weiterentwicklung dieser Konzepte über das anfängliche<br />

Niveau hinaus von Bedeutung, nicht aber für die Bildung<br />

des Ausgangsverständnisses.<br />

Im Unterschied dazu argumentieren Empiristen wie Vlad<strong>im</strong>ir<br />

Sloutsky, Scott Johnson, David Rakison <strong>und</strong> Marianella Casasola,<br />

dass die Erbanlage Säuglinge nur mit allgemeinen Lernmechanismen<br />

ausstattet, etwa mit der Fähigkeit, wahrzunehmen,<br />

zu assoziieren, zu verallgemeinern <strong>und</strong> sich zu erinnern. In empiristischer<br />

Perspektive erwächst die schnelle <strong>und</strong> universelle<br />

Bildung f<strong>und</strong>amentaler Konzepte wie Zeit, Raum, Kausalität,<br />

Zahl <strong>und</strong> Bewusstsein daraus, dass das Kind massiv mit Erfahrungen<br />

konfrontiert wird, die für diese Konzepte bedeutsam<br />

sind. Empiristen behaupten zudem, dass die Daten, auf denen<br />

viele nativistische Argumente fußen – etwa die Fixationszeit von<br />

Säuglingen in Untersuchungen zur Habituation <strong>und</strong> Dishabituation<br />

– nicht hinreichen, um die nativistische Schlussfolgerung<br />

zu stützen, dass Säuglinge die fraglichen Konzepte verstünden<br />

(Campos et al. 2008; Kagan 2008). Die anhaltende Debatte zwischen<br />

Nativisten <strong>und</strong> Empiristen verweist auf eine gr<strong>und</strong>legende,<br />

ungelöste Frage über das Wesen des Menschen: Bilden Kinder<br />

alle Konzepte mit denselben Lernmechanismen, oder besitzen<br />

sie auch spezielle Mechanismen, um einige wenige besonders<br />

wichtige Konzepte zu formen?<br />

Im Zentrum des vorliegenden Kapitels steht die Entwicklung<br />

der gr<strong>und</strong>legendsten Begriffe, die sich in den allermeisten Situationen<br />

als nützlich erweisen. Diese Konzepte gliedern sich in<br />

zwei Gruppen. Die eine Gruppe wird verwendet, um Dinge zu<br />

klassifizieren, die in der Welt vorkommen: Menschen, Lebewesen<br />

insgesamt <strong>und</strong> unbelebte Objekte. Die andere Gruppe f<strong>und</strong>amentaler<br />

Konzepte umfasst die D<strong>im</strong>ensionen, mit deren Hilfe wir<br />

unsere Erfahrungen repräsentieren: Raum (wo etwas auftrat),<br />

Zeit (wann es auftrat), Kausalität (warum es passierte) <strong>und</strong> Zahl<br />

(wie oft es passierte).<br />

Vielleicht haben Sie bemerkt, dass diese Gr<strong>und</strong>begriffe eng<br />

mit den Fragen übereinst<strong>im</strong>men, die jeder Bericht über neue<br />

Ereignisse beantworten muss: Wer oder was? Wo? Wann? Warum?<br />

Wie viele? Diese Ähnlichkeit zwischen den Begriffen, die<br />

für Kinder gr<strong>und</strong>legend sind, <strong>und</strong> den wichtigsten Aspekten von<br />

Nachrichten ist nicht zufällig. Für das Verstehen fast jedes Ereignisses<br />

ist es wesentlich zu wissen, wer oder was wo, wann, warum<br />

<strong>und</strong> wie oft aktiv war.<br />

Weil die frühe Begriffsentwicklung so entscheidend ist, konzentrieren<br />

wir uns in diesem Kapitel auf die Entwicklung in den<br />

ersten fünf Jahren. Das bedeutet natürlich nicht, dass die konzeptuelle<br />

Entwicklung mit fünf Jahren zum Stillstand kommt.<br />

Das kindliche Verständnis der Gr<strong>und</strong>begriffe vertieft sich auch<br />

danach noch viele weitere Jahre, <strong>und</strong> ältere Kinder erwerben<br />

eine große Anzahl zusätzlicher, speziellerer Konzepte. Die Konzentration<br />

auf die Begriffsentwicklung in den ersten fünf Jahren<br />

spiegelt vielmehr die Tatsache wider, dass Kinder in dieser Phase<br />

ein gr<strong>und</strong>legendes Verständnis derjenigen Konzepte entwickeln,<br />

die über Gesellschaften hinweg universell sind, mit deren Hilfe<br />

Kinder ihre eigenen Erfahrungen <strong>und</strong> die anderer Menschen<br />

verstehen können <strong>und</strong> die eine Gr<strong>und</strong>lage für die nachfolgende<br />

Begriffsentwicklung bilden.<br />

Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />

Objekte in Klassen einteilen<br />

Schon früh in ihrer Entwicklung versuchen Kinder zu verstehen,<br />

welche Arten von Dingen es auf der Welt gibt. Zunächst<br />

einmal teilen sie die Dinge, die sie wahrnehmen, in die drei<br />

allgemeine Kategorien ein: unbelebte Objekte, Menschen <strong>und</strong><br />

andere Lebewesen (dabei sind sie jedoch noch einige Jahre unsicher,<br />

ob Pflanzen eher den Tieren oder den unbelebten Objekten<br />

ähneln) (Gelman <strong>und</strong> Kalish 2006). Die Ausbildung dieser<br />

groben Unterscheidungen ist ein wichtiger Entwicklungsschritt,<br />

weil bei unterschiedlichen Objekttypen unterschiedliche Konzepttypen<br />

gelten (Keil 1979). Manche Konzepte treffen auf alles<br />

zu – alle Dinge besitzen Höhe, Gewicht, Farbe, Größe <strong>und</strong><br />

so weiter. Andere Begriffe lassen sich nur auf Lebewesen anwenden;<br />

beispielsweise können nur Lebewesen essen, trinken,<br />

wachsen <strong>und</strong> atmen. Wieder andere Begriffe – lesen, einkaufen,<br />

nachdenken <strong>und</strong> sprechen – passen auf Menschen. Die Unterscheidung<br />

dieser Klassen ist wichtig, weil sie den Kindern<br />

dabei hilft, zutreffende Schlüsse über unbekannte Objekte zu<br />

ziehen. Wenn man ihnen sagt, dass ein Rhinozeros eine Tierart<br />

ist, dann wissen sie sofort, dass es sich bewegen kann, frisst,<br />

wächst, Nachwuchs hat <strong>und</strong> so weiter.<br />

Einige Forscher vermuten, dass Kinder ihre Beobachtungen<br />

zu diesen Kategorien anhand informeller Theorien organisieren<br />

(z. B. Carey 2009; Murphy <strong>und</strong> Medin 1985; Vamvakoussi <strong>und</strong><br />

Vosniadou 2010). Wellman <strong>und</strong> Gelman (1998) schlugen drei<br />

solcher Theorien vor, mit deren Hilfe kleine Kinder ihr Wissen<br />

über die Welt ordnen: eine Theorie der Physik (unbelebte Objekte),<br />

eine Theorie der Psychologie (Menschen) <strong>und</strong> eine Theorie<br />

der Biologie (andere Lebewesen). Diesen Theorien wird ein<br />

angeborener Kern zugeschrieben, aber es wird zugleich davon<br />

ausgegangen, dass auch Lernprozesse in diese Theorien eingebaut<br />

werden – <strong>und</strong> sie transformieren: Prozesse wie Assoziation, Beobachtung<br />

<strong>und</strong> Feststellungen über andere Menschen (Gelman<br />

<strong>und</strong> Kalish 2006). Die formlosen Theorien sind rud<strong>im</strong>entär, aber<br />

sie haben drei wichtige Merkmale gemeinsam, durch die sich<br />

auch wissenschaftliche Theorien auszeichnen:<br />

1. Sie spezifizieren gr<strong>und</strong>legende Einheiten, um Objekte <strong>und</strong><br />

Ereignisse in gr<strong>und</strong>legende Kategorien einzuordnen.<br />

2. Sie erklären viele Phänomene anhand weniger Gr<strong>und</strong>prinzipien.<br />

3. Sie erklären Ereignisse anhand nicht beobachtbarer Kausalzusammenhänge.


242<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

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16<br />

17<br />

18<br />

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21<br />

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23<br />

..<br />

Tab. 7.1 Objekthierarchien<br />

Ebene<br />

Objekttyp<br />

Ontologische Ebene Unbelebte Dinge Menschen Lebewesen<br />

Übergeordnete Ebene Möbel, Fahrzeuge … Europäer, Asiaten … …<br />

Basisebene Stühle, Tische … Spanier, Finnen … Katzen, H<strong>und</strong>e …<br />

Untergeordnete Ebene Barhocker, Sessel … Picasso, Cervantes … Löwen, Luchse …<br />

Jedes dieser Merkmale ist <strong>im</strong> Kindergartenalter deutlich ausgeprägt<br />

(Evans 2008; Gelman 2003; Inagaki <strong>und</strong> Hatano 2008).<br />

Dem ersten Merkmal entspricht, dass Kindergartenkinder alle<br />

Objekte in Menschen, andere Tiere, Pflanzen <strong>und</strong> unbelebte Objekte<br />

kategorisieren. Entsprechend dem zweiten Merkmal verstehen<br />

Kindergartenkinder breit anwendbare Prinzipien, zum<br />

Beispiel dass viele Verhalten von Tieren auf Hunger <strong>und</strong> Durst<br />

nach Nahrung beruhen. Und dem dritten Prinzip entspricht das<br />

Wissen von Kindergartenkindern, dass viele Lebensfunktionen<br />

von Tieren wie Bewegung oder auch das Heilen von W<strong>und</strong>en<br />

durch interne Ursachen entstehen, die <strong>im</strong> Tier liegen – <strong>im</strong> Gegensatz<br />

zu externen Einflüssen wie äußeren Kräften, die die Bewegungen<br />

unbelebter Objekte best<strong>im</strong>men.<br />

Wann bilden Kinder erstmals solche rud<strong>im</strong>entären Theorien?<br />

Spelke (2003) mutmaßt, dass Kinder von Beginn an über eine<br />

pr<strong>im</strong>itive Theorie der Physik verfügen, die für unbelebte Objekte<br />

gilt. Diese Theorie schließt das Wissen ein, dass es in der Welt<br />

physikalische Objekte gibt, die Raum einnehmen <strong>und</strong> nur infolge<br />

äußerer Krafteinwirkungen in Bewegung versetzt werden,<br />

dass sie sich kontinuierlich durch den Raum bewegen, statt von<br />

einer Position zur nächsten zu springen, <strong>und</strong> schließlich, dass<br />

verschiedene physikalische Objekte nicht denselben Raum einnehmen<br />

können.<br />

Wellman <strong>und</strong> Gelman (1998) vermuten, dass die Theorie<br />

der Psychologie <strong>im</strong> Aller von ungefähr 18 Monaten auftritt <strong>und</strong><br />

die erste Theorie der Biologie <strong>im</strong> Alter von etwa drei Jahren.<br />

Die erste Theorie der Psychologie entsteht <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit dem Verständnis dafür, dass das Verhalten anderer Menschen<br />

deren Bedürfnisse widerspiegelt. So erkennt ein zweijähriger<br />

Junge, dass seine Mutter, wenn sie hungrig ist, etwas<br />

essen möchte, unabhängig davon, ob er selbst ebenfalls gerade<br />

hungrig ist. Die Theorie der Biologie organisiert sich aus dem<br />

Kernwissen, dass Menschen <strong>und</strong> andere Tiere Lebewesen sind,<br />

die sich von unbelebten Objekten <strong>und</strong> von Pflanzen unterscheiden.<br />

Beispielsweise erkennen Drei- <strong>und</strong> Vierjährige, dass sich<br />

Tiere aus eigener Kraft bewegen, unbelebte Objekte jedoch<br />

nicht (Gelman 2003).<br />

Natürlich findet zudem eine weit über diese Theorien hinausgreifende<br />

Entwicklung statt. Zum Teil stützt sich diese Entwicklung<br />

auf die ursprüngliche Organisation <strong>und</strong> ergänzt Details. Wie<br />

in ▶ Kap. 5 erwähnt, verstehen beispielsweise schon drei Monate<br />

alte Säuglinge, dass ein Objekt (wie etwa ein Glas) zu Boden fallen<br />

wird, wenn es nicht durch ein anderes Objekt (etwa einen<br />

Tisch) unterstützt wird; allerdings dauert es bis zum Alter von<br />

fünf Monaten, bis die Säuglinge auch verstehen, dass ein Objekt<br />

dann herunterfallen wird, wenn nur ein kleiner Teil des Objekts<br />

gestützt wird (Baillargeon 1994). Bisweilen werden Kinder ihre<br />

rud<strong>im</strong>entären Theorien durch weiter entwickelte ersetzen. So<br />

unterscheiden sie zunächst in ihrer Theorie der Biologie Tiere<br />

von unbelebten Objekten <strong>und</strong> Pflanzen; aber erst <strong>im</strong> Alter von<br />

etwa sieben Jahren sind sie davon überzeugt, dass die Kategorie<br />

der Lebewesen Pflanzen ebenso einschließt wie Tiere (Inagaki<br />

<strong>und</strong> Hatano 2008).<br />

Ähnlich wie diese Theorien den Kindern helfen, Objekte<br />

allgemeinen Kategorien zuzuordnen, trägt die Entwicklung von<br />

Klassenhierarchien – d. h. Klassen oder Mengen von Objekten,<br />

die durch Ober-/Unterbegriff-Relationen verknüpft sind – dazu<br />

bei, dass Kinder Objekte innerhalb einer Kategorie unterscheiden<br />

können. Ein Beispiel aus . Tab. 7.1 ist die Beziehung Möbel –<br />

Stuhl – Barhocker. Zur Kategorie „Möbel“ gehören alle Stühle;<br />

die Kategorie „Stuhl“ umfasst alle Barhocker. Die Bildung solcher<br />

Klassenhierarchien vereinfacht die Welt für Kinder wiederum<br />

sehr stark, indem sie mit ihrer Hilfe zutreffende Schlüsse ziehen<br />

können. Wenn Kinder erfahren, dass ein Barhocker eine Art von<br />

Stuhl ist, dann können sie aus ihrem allgemeinen Wissen über<br />

Stühle schließen, dass Menschen auf Barhockern sitzen <strong>und</strong> dass<br />

mit Barhocker nicht – analog zu Stubenhocker oder Nesthocker<br />

– ein Lebewesen gemeint ist.<br />

Klassenhierarchie – Klassen oder Kategorien, die durch Ober-/Unterbegriff-<br />

Relationen verknüpft sind wie zum Beispiel Tier – H<strong>und</strong> – Pudel.<br />

Natürlich kommen Kinder nicht mit Wissen über Stühle <strong>und</strong><br />

Barhocker auf die Welt, auch nicht mit Wissen über die anderen<br />

Kategorien in . Tab. 7.1. Eine wichtige Frage lautet daher: Wie<br />

bilden Kinder Kategorien, die für alle Arten von Objekten – belebte<br />

<strong>und</strong> unbelebte – gelten?


Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />

243 7<br />

Kategorienbildung von Objekten<br />

in der frühen Kindheit<br />

Schon in den ersten Monaten ihres Lebens bilden Kinder Klassen<br />

von Objekten. Zum Beispiel fanden Quinn <strong>und</strong> E<strong>im</strong>as (1996),<br />

dass Kinder <strong>im</strong> Alter von drei <strong>und</strong> vier Monaten habituierten,<br />

wenn man ihnen Fotos von Katzen verschiedener Rassen zeigte<br />

– sie betrachteten die nacheinander folgenden Fotos einer neuen<br />

Katzenrasse <strong>im</strong>mer kürzer. Zeigte man den Kindern anschließend<br />

jedoch ein Foto von einem H<strong>und</strong>, einem Löwen oder einem<br />

anderen Tier, dann dishabituierten sie, schauten also wieder<br />

länger hin. Ihre Habituation auf die Katzenfotos lässt darauf<br />

schließen, dass sie alle Katzen trotz der Unterschiede als Mitglied<br />

einer einzigen Kategorie wahrnahmen; die anschließende Dishabituation<br />

auf das Foto eines H<strong>und</strong>es oder eines anderen Tieres<br />

deutet darauf hin, dass sie diese Lebewesen als Mitglieder einer<br />

anderen Kategorie als „Katzen“ betrachteten.<br />

Kleine Kinder können auch allgemeinere Kategorien als<br />

„Katzen“ bilden. Behl-Chadha (1996) fand, dass sechs Monate<br />

alte Kinder habituierten, wenn man ihnen mehrmals hintereinander<br />

Bilder von verschiedenen Arten von Säugetieren (H<strong>und</strong>e,<br />

Zebras, Elefanten usw.) zeigte, <strong>und</strong> dishabituierten, wenn man<br />

ihnen anschließend das Bild eines Vogels oder eines Fisches<br />

zeigte. Offenbar konnten die Kinder Ähnlichkeiten zwischen den<br />

verschiedenen Säugetieren wahrnehmen, was dazu führte, dass<br />

sie schließlich ihr Interesse an ihnen verloren. Auch schienen die<br />

Kinder Unterschiede zwischen den Säugetieren <strong>und</strong> dem Vogel<br />

oder dem Fisch wahrgenommen zu haben, was bei ihnen erneut<br />

Interesse <strong>und</strong> damit Zuwendung zu dem Reiz auslöste.<br />

Dieses Beispiel lässt erkennen, dass die wahrnehmungsbasierte<br />

Klassifikation – die Gruppierung von Objekten mit ähnlichem<br />

Erscheinungsbild – ein zentrales Element der Kategorisierungsfähigkeiten<br />

des <strong>Kindes</strong> darstellt (Cohen <strong>und</strong> Cashon 2006;<br />

Madole <strong>und</strong> Oakes 1999). Wenn überhaupt, hatten wohl nur<br />

wenige der Kinder, die an der Untersuchung von Behl-Chadha<br />

(1996) teilnahmen, zuvor bereits irgendwelche Erfahrungen mit<br />

Zebras oder Elefanten. Die Unterscheidung zwischen den großen<br />

vierbeinigen Säugetieren <strong>und</strong> den Vögeln <strong>und</strong> Fischen konnte<br />

nur auf der Wahrnehmung des unterschiedlichen Erscheinungsbildes<br />

der Tiere beruhen.<br />

Wahrnehmungsbasierte Klassifikation – Die Gruppierung von Objekten mit<br />

ähnlichem Erscheinungsbild.<br />

Kinder klassifizieren Objekte anhand vieler Wahrnehmungsd<strong>im</strong>ensionen<br />

wie Farbe, Größe <strong>und</strong> Bewegung. Oft stützt sich ihre<br />

Klassifikation in hohem Maße auf spezifische Teile der Objekte<br />

<strong>und</strong> nicht auf die Objekte als Ganzes; beispielsweise verlassen<br />

sich Kinder unter 18 Monaten sehr stark auf das Vorhandensein<br />

von Beinen, um Objekte als Tiere zu klassifizieren, <strong>und</strong> sie beziehen<br />

sich auf das Vorhandensein von Rädern, um Objekte als<br />

Fahrzeuge zu klassifizieren (Rakison <strong>und</strong> Lupyan 2008; Rakison<br />

<strong>und</strong> Poulin-Dubois 2001).<br />

Wenn der zweite Geburtstag näher rückt, klassifizieren Kinder<br />

Objekte zunehmend auf der Basis ihrer Gesamtform. Zeigt<br />

man ihnen ein unbekanntes Objekt <strong>und</strong> sagt, dass es sich dabei<br />

um ein Daz handelt (. Abb. 6.10), dann nehmen sie an, dass andere<br />

Objekte mit derselben Form ebenfalls Daz heißen, selbst<br />

wenn sie sich hinsichtlich ihrer Größe, ihrer Textur <strong>und</strong> ihrer<br />

Farbe unterscheiden (Landau et al. 1998). Dies ist eine nützliche<br />

Annahme, weil bei vielen Objekten tatsächlich die Form über<br />

die verschiedenen Mitglieder einer Kategorie hinweg ähnlich ist.<br />

Wenn wir den Umriss einer Katze, eines Hammers oder eines<br />

Stuhles sehen, können wir anhand der Form angeben, worum es<br />

sich handelt. Dasselbe ist jedoch selten möglich, wenn wir nur die<br />

Farbe, die Größe oder die Oberflächenbeschaffenheit des Objekts<br />

kennen.<br />

Kategorienbildung nach der frühen Kindheit<br />

Mit dem Hinauswachsen aus der frühen Kindheit erfassen Kinder<br />

zunehmend nicht nur Einzelkategorien, sondern auch hierarchische<br />

<strong>und</strong> kausale Beziehungen zwischen Kategorien.<br />

Klassenhierarchien<br />

Die Klassenhierarchien, die kleine Kinder bilden, besitzen oft<br />

drei der in . Tab. 7.1 aufgeführten Hauptebenen: eine allgemeine<br />

Ebene, die übergeordnete Ebene oder Oberbegriffsebene genannt<br />

wird,; eine sehr spezielle Ebene, die untergeordnete<br />

Ebene oder Unterbegriffsebene; <strong>und</strong> eine Ebene dazwischen, die<br />

sogenannte Basisebene (Rosch et al. 1976). Wie der Name schon<br />

sagt, ist die Basisebene diejenige, die Kinder normalerweise<br />

zuerst lernen, wenn sie anfangen zu sprechen. Sie verwenden<br />

sprachlich normalerweise Begriffe mittleren Allgemeinheitsgrades,<br />

zum Beispiel „Baum“, bevor sie allgemeinere Begriffe, wie<br />

„Pflanze“, oder spezifischere Klassen, wie „Eiche“, benutzen.<br />

Übergeordnete Ebene – Die allgemeinste Ebene einer Klassenhierarchie, so<br />

wie „Tier“ <strong>im</strong> Beispiel Tier – H<strong>und</strong> – Pudel.<br />

Untergeordnete Ebene – Die niedrigste Ebene einer Klassenhierarchie, so wie<br />

„Pudel“ <strong>im</strong> Beispiel Tier – H<strong>und</strong> – Pudel.<br />

Basisebene – Die mittlere <strong>und</strong> oft zuerst gelernte Ebene einer Klassenhierarchie,<br />

so wie „H<strong>und</strong>“ <strong>im</strong> Beispiel Tier – H<strong>und</strong> – Pudel.<br />

Die Gründe dafür, dass Kinder die Basisebene <strong>im</strong> Allgemeinen<br />

zuerst bilden, sind leicht einzusehen. Ein Konzept der Basisebene,<br />

so wie „Baum“, beschreibt Exemplare, die alle eine Reihe<br />

gleichbleibender Eigenschaften besitzen: Rinde, Zweige, Höhenwachstum<br />

<strong>und</strong> so weiter. Im Gegensatz dazu besitzen die Mitglieder<br />

der allgemeineren Kategorie „Pflanze“ weniger einheitliche<br />

Eigenschaften: Pflanzen haben sehr unterschiedliche Formen,<br />

Größen <strong>und</strong> Farben. (Man denke an eine Eiche, eine Rose <strong>und</strong><br />

einen Grashalm.) Die Mitglieder der untergeordneten Ebene<br />

besitzen dieselben durchgängigen Eigenschaften wie die der zugehörigen<br />

Basisebene <strong>und</strong> einige zusätzliche Merkmale: Alle Eichen,<br />

aber nicht alle Bäume haben beispielsweise eine raue Rinde<br />

<strong>und</strong> gelappte Blätter. Es ist jedoch relativ schwer, die Mitglieder<br />

der untergeordneten Kategorienebene von denen der Basisebene<br />

zu unterscheiden (z. B. Eiche gegenüber Ahorn). So überrascht<br />

es nicht, dass Kinder dazu neigen, sprachliche Kategorien auf<br />

Basisebene zuerst zu bilden.<br />

Zu beachten ist, dass die Basiskategorien sehr kleiner Kinder<br />

nicht <strong>im</strong>mer mit denen Erwachsener übereinst<strong>im</strong>men. Anstatt<br />

getrennte Klassen für Autos, Motorräder <strong>und</strong> Busse zu bilden,<br />

scheinen kleine Kinder diese Objekte zusammen in eine Kategorie<br />

„Objekte mit Rädern“ zu gruppieren (Mandler <strong>und</strong> McDonough


244<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

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20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

“Wug”<br />

“Gilly”<br />

..<br />

Abb. 7.1 Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Vorschulkinder konnten<br />

neuartige Bilder wie diese besser als Wugs oder Gillies klassifizieren, wenn sie<br />

vorher erklärt bekamen, dass Wugs zum Kämpfen <strong>und</strong> Gillies zum Flüchten<br />

ausgestattet sind (Krascum <strong>und</strong> Andrews 1998). Allgemein hilft das Verstehen<br />

von Ursache-Wirkungs-Beziehungen Menschen jeden Alters be<strong>im</strong> Lernen<br />

<strong>und</strong> Behalten<br />

1998). Doch selbst in solchen Fällen sind die ursprünglichen<br />

Kategorien weniger allgemein als Kategorien wie „bewegliche<br />

Dinge“ <strong>und</strong> zugleich allgemeiner als Kategorien wie „Toyotas“.<br />

Wenn Kinder bereits Kategorien <strong>und</strong> sprachliche Begriffe auf<br />

dem Niveau der Basisebene gebildet haben, wie gelangen sie weiter<br />

zu übergeordneten <strong>und</strong> untergeordneten Kategorien? Ein Teil der<br />

Antwort liegt darin, dass Eltern <strong>und</strong> andere Personen die Basisebenenkategorien<br />

als Gr<strong>und</strong>lage für das Erklären spezifischerer <strong>und</strong><br />

allgemeinerer Kategorien nutzen (Gelman et al. 1998). Wenn Eltern<br />

ihren Kindern Oberbegriffe wie Säugetiere erklären <strong>und</strong> vermitteln,<br />

illustrieren sie diese typischerweise mit Beispielen der Basisebene,<br />

die das Kind bereits kennt (Callanan 1990). Sie sagen vielleicht:<br />

„Säugetiere sind Tiere wie zum Beispiel Füchse, Bären <strong>und</strong> Kühe,<br />

die von ihren Müttern Milch bekommen, wenn sie Babys sind.“<br />

Auch bei der Erläuterung von Begriffen der untergeordneten<br />

Ebene beziehen sich Eltern auf Basisbegriffe (Callanan <strong>und</strong><br />

Sabbagh 2004; Waxman <strong>und</strong> Senghas 1992). Beispielsweise sagen<br />

sie: „Belugas sind Wale.“ Kindergartenkinder sind sehr sensitiv<br />

für die Nuancierungen in solchen Aussagen. So generalisieren sie<br />

viel häufiger bei kategoriale Aussagen wie „Belugas sind Wale“<br />

als bei Einzelaussagen wie „Dieser Beluga ist ein Wal“ (C<strong>im</strong>pian<br />

<strong>und</strong> Scott 2012). Solche Aussagen über spezifische Beziehungen<br />

zwischen Kategorien ermöglichen es Kindern, ihr bereits vorhandenes<br />

Wissen über Begriffe auf der Basisebene heranzuziehen,<br />

um Ober- <strong>und</strong> Unterbegriffskategorien zu bilden.<br />

Bisweilen kann man aber auch beobachten, dass Kinder ihr bisheriges<br />

Begriffsverständnis auf höchst amüsante <strong>und</strong> kreative Weise<br />

nutzen, um eigene Differenzierungen vorzunehmen. So verwendete<br />

die vierjährige Tochter der Herausgeberin das Wort „reparieren“<br />

stets in zwei verschiedenen Varianten: Sie sprach von „mammarieren“,<br />

wenn es um das Flicken ihrer Kleidung ging, <strong>und</strong> von „paparieren“,<br />

wenn der Computer in Ordnung gebracht werden musste.<br />

Kausales Verstehen <strong>und</strong> Kategorisierung<br />

Vorschulkinder sind berüchtigt für ihre endlosen Fragen nach<br />

Gründen <strong>und</strong> Ursachen: „Warum bellen H<strong>und</strong>e?“ „Wie weiß das<br />

Handy, wo es anrufen soll?“ „Wo kommt der Regen her?“ Wenn<br />

solche Fragen die Eltern auch manchmal zur Verzweiflung treiben,<br />

so hilft es den Kindern be<strong>im</strong> Lernen, wenn man diese Fragen<br />

ernst n<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> beantwortet (Chouinard 2007).<br />

Für die Bildung vieler Begriffsklassen ist das Verstehen von<br />

Kausalbeziehungen unerlässlich. Wie sollten Kinder beispielsweise<br />

die Kategorie „Lichtschalter“ bilden, wenn sie nicht verstünden,<br />

dass Lichtschalter der Auslöser dafür sind, dass das Licht<br />

an- <strong>und</strong> ausgeht? Um zu untersuchen, wie das Verstehen von Ursachen<br />

die Kategorienbildung beeinflusst, erzählten Krascum <strong>und</strong><br />

Andrews (1998) zwei Gruppen von vier <strong>und</strong> fünf Jahre alten Kindern<br />

von zwei Klassen von Fantasietieren, den Wugs <strong>und</strong> den Gillies.<br />

Einigen der Vorschulkinder beschrieb man nur das Äußere<br />

dieser Tiere; man erklärte ihnen, dass die Wugs normalerweise<br />

Krallen an den Füßen haben, Stacheln an der Schwanzspitze, Hörner<br />

auf dem Kopf <strong>und</strong> einen Rückenpanzer; die Gillies, so hieß es,<br />

haben typischerweise große Ohren, Flügel, einen langen Schwanz<br />

<strong>und</strong> lange Zehen. Andere Kinder erhielten dieselbe äußerliche<br />

Beschreibung zusammen mit einer einfachen Erklärung, warum<br />

die Wugs <strong>und</strong> die Gillies so sind, wie sie sind. Ihnen wurde gesagt,<br />

dass die Wugs Krallen, Stacheln, Hörer <strong>und</strong> Panzer haben, weil sie<br />

gerne kämpfen; die Gillies dagegen kämpfen nicht gern <strong>und</strong> verstecken<br />

sich lieber in Bäumen. Mit ihren großen Ohren können<br />

sie hören, wenn sich ein Wug nähert, mit ihren Flügeln können<br />

sie hoch auf die Bäume fliegen, <strong>und</strong> so weiter. Nachdem man nun<br />

beiden Kindergruppen Informationen über diese Tiere gegeben<br />

hatte, zeigte man ihnen die Bilder von . Abb. 7.1 <strong>und</strong> fragte sie,<br />

welches der Tiere ein Wug ist <strong>und</strong> welches ein Gillie.<br />

Die Kinder, denen man erklärt hatte, warum Wugs <strong>und</strong><br />

Gillies ihre jeweiligen Merkmale besitzen, konnten die Bilder<br />

besser der zutreffenden Kategorie zuordnen. Bei einem Test am<br />

nächsten Tag erinnerten diese Kinder sich auch besser an die<br />

Kategorien als die Kinder, die keine Erklärung erhalten hatten.<br />

Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu verstehen, hilft Kindern also,<br />

neue Begriffsklassen zu lernen <strong>und</strong> zu behalten.<br />

Das Wissen über sich selbst <strong>und</strong> andere<br />

Auch wenn wir uns in unseren Kenntnissen über uns selbst<br />

<strong>und</strong> andere Menschen enorm unterscheiden, gibt es doch einen<br />

allgemeinen Grad an Menschenkenntnis, über den praktisch<br />

jeder verfügt. Wie in ▶ Kap. 4 bereits angesprochen, ist diese<br />

Alltagspsychologie bei Kindern schon ab drei Jahren erkennbar.<br />

Diese naive Psychologie ist unabdingbar für die normale Lebenstüchtigkeit<br />

von Menschen <strong>und</strong> gehört zu den entscheidenden<br />

Fähigkeiten, die uns als Menschen auszeichnen. Bei vielen<br />

Aufgaben, die physikalisches Schlussfolgern erfordern, erreichen<br />

erwachsene Sch<strong>im</strong>pansen durchaus ähnliche Leistungen wie<br />

zweieinhalbjährige Menschen, wenn es etwa darum geht, Werkzeuge<br />

zu nutzen, um an Nahrung heranzukommen. Müssen bei<br />

einer Aufgabe aber Rückschlüsse auf soziale Ursachen gezogen<br />

werden, wenn es beispielsweise darum geht, die Intentionen eines<br />

Menschen aus seinem Verhalten zu erschließen, liegen ihre<br />

Leistungen weit hinter denen von Kleinkindern (Herrmann et al.<br />

2007; Tomasello 2008).<br />

Naive Psychologie – Das Alltagsverständnis von sich selbst <strong>und</strong> anderen Menschen.


Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />

245 7<br />

Im Zentrum der naiven Psychologie stehen drei Konzepte, die<br />

wir alle normalerweise heranziehen, um das menschliche Verhalten<br />

zu verstehen: Wünsche, Überzeugungen <strong>und</strong> Handlungen.<br />

Wir wenden diese Konzepte fast <strong>im</strong>mer an, wenn wir uns<br />

fragen, warum jemand etwas tat. Warum zum Beispiel ging Kevin<br />

zu Josefs Wohnung? Er wollte mit Josef spielen (ein Wunsch);<br />

er glaubte, Josef sei zu Hause (eine Annahme). Warum hat Ursula<br />

am Samstagmorgen um acht den Fernseher eingeschaltet?<br />

Sie wollte die Sendung Akte X sehen (ein Wunsch); sie dachte,<br />

dass sie um diese Zeit läuft (eine Annahme). Und sie schaltete<br />

zur passenden Zeit den entsprechenden Fernsehkanal ein (eine<br />

Handlung).<br />

Drei Eigenschaften naiver psychologischer Konzepte sind zu<br />

beachten. Erstens beziehen sie sich auf nicht sichtbare mentale<br />

Zustände. Niemand kann einen Wunsch, eine Überzeugung, eine<br />

Wahrnehmung, eine Erinnerung oder einen physiologischen<br />

Zustand <strong>und</strong> Ähnliches sehen. Wir können nur die Verhaltensweisen<br />

sehen, die mit den nicht sichtbaren psychologischen Zuständen<br />

zusammenhängen, etwa wenn Kevin bei Josef an der Tür<br />

klingelt, aber den zugr<strong>und</strong>e liegenden mentalen Zustand – etwa<br />

Kevins Wunsch, Josef zu sehen – können wir nur erschließen.<br />

Zweitens sind psychologische Konzepte durch Ursache-Wirkungs-Beziehungen<br />

miteinander verknüpft. Zum Beispiel fühlt<br />

sich Kevin vielleicht frustriert, wenn Josef nicht zu Hause ist, weil<br />

er einen anderen Fre<strong>und</strong> besuchen ging, was Kevin später dazu<br />

veranlassen könnte, seine Laune an seinem kleinen Bruder auszulassen.<br />

Die dritte bemerkenswerte Eigenschaft solcher naiver<br />

psychologischer Konzepte besteht darin, dass sie sich – wie wir<br />

gleich sehen werden – früh <strong>im</strong> Leben entwickeln.<br />

Mental – Bezieht sich gleichermaßen auf Geist <strong>und</strong> Psyche, also alle psychologischen<br />

Aspekte des Erlebens <strong>und</strong> Verhaltens.<br />

Über die Ursprünge dieses frühen psychologischen Verständnisses<br />

gehen die Meinungen zwischen Nativisten <strong>und</strong> Empiristen<br />

stark auseinander. Nativisten (z. B. Leslie 2000) vertreten<br />

den Standpunkt, das frühe Verständnis sei nur möglich, weil<br />

Kinder mit einem angeborenen gr<strong>und</strong>legenden Verständnis für<br />

die menschliche Psyche zur Welt kommen. Im Gegensatz dazu<br />

sind Empiristen (z. B. Frye et al. 1996; Ruffman et al. 2002) der<br />

Überzeugung, dass das frühe Verstehen anderer Menschen <strong>im</strong><br />

Wesentlichen auf die Erfahrungen mit anderen <strong>und</strong> die allgemeinen<br />

Informationsverarbeitungskapazitäten zurückgeht. Beide<br />

Sichtweisen können sich auf Belege stützen.<br />

Naive Psychologie in der frühen Kindheit<br />

Wie wir in ▶ Kap. 5 gesehen haben, finden Säuglinge andere<br />

Menschen interessant, richten sehr viel Aufmerksamkeit auf sie<br />

<strong>und</strong> lernen <strong>im</strong> Verlauf des ersten Lebensjahres beeindruckend<br />

viel über sie. Selbst sehr kleine Kinder betrachten lieber menschliche<br />

Gesichter als andere Objekte. Auch machen sie Gesichtsbewegungen<br />

von Menschen nach <strong>und</strong> strecken beispielsweise<br />

die Zunge heraus, aber die Bewegungen unbelebter Gegenstände<br />

<strong>im</strong>itieren sie nicht. Und nicht allein das Gesicht interessiert Säuglinge;<br />

auch sich bewegende Menschenkörper beobachten sie lieber<br />

als andere ähnliche Bewegungen nichtmenschlicher Objekte<br />

(Bertenthal 1993).<br />

Dieses frühe Interesse an den Gesichtern <strong>und</strong> Körpern anderer<br />

Menschen macht es den Babys leicht, etwas über das Verhalten<br />

anderer Menschen zu lernen. Andere Menschen nachzumachen<br />

<strong>und</strong> emotionale Bindungen mit ihnen einzugehen, regt<br />

diese Menschen dazu an, mehr mit dem Kind zu interagieren <strong>und</strong><br />

ihm dadurch zusätzliche Möglichkeiten zu verschaffen, psychologisches<br />

Verstehen zu entwickeln.<br />

Wie bereits erwähnt, treten viele wichtige Aspekte psychologischen<br />

Verständnisses gegen Ende des ersten <strong>und</strong> zu Beginn<br />

des zweiten Lebensjahres hervor. Einer davon ist ein Verstehen<br />

der Absicht, also des Wunsches, auf best<strong>im</strong>mte Weise zu handeln.<br />

Weitere wichtige psychologische Konzepte, die sich zur selben<br />

Zeit zeigen, sind die geteilte Aufmerksamkeit, bei der zwei oder<br />

mehr Menschen sich bewusst auf denselben Referenten konzentrieren,<br />

<strong>und</strong> die Intersubjektivität, das wechselseitige Verständnis,<br />

das Menschen be<strong>im</strong> Kommunizieren teilen (▶ Kap. 4).<br />

Zum Verständnis für andere Menschen gehört bei Einjährigen<br />

ein Verstehen ihrer Emotionen. Betrachten wir folgende<br />

Spielszene:<br />

» Michael, 15 Monate alt, streitet sich mit seinem Fre<strong>und</strong> Paul<br />

um ein Spielzeug. Paul fängt an zu weinen. Michael scheint<br />

betroffen <strong>und</strong> lässt das Spielzeug los; nun hat es Paul. Paul<br />

weint weiter. Michael hält inne, dann gibt er Paul seinen eigenen<br />

Teddybären; Paul weint <strong>im</strong>mer noch. Wieder hält Michael<br />

inne, läuft ins Nebenz<strong>im</strong>mer, holt Pauls Kuscheldecke <strong>und</strong><br />

reicht sie ihm hin. Paul hört auf zu weinen (Hoffman 1976,<br />

S. 129 f.).<br />

Solche Anekdoten zu interpretieren, ist <strong>im</strong>mer schwierig, aber<br />

vermutlich verstand Michael, dass Paul sich vielleicht besser fühlen<br />

würde (oder wenigstens aufhören würde zu weinen), wenn<br />

er ihm etwas gibt, das Paul sich wünscht. Dass Michael das Z<strong>im</strong>mer<br />

verließ, Pauls Kuscheldecke holte <strong>und</strong> sie ihm brachte, lässt<br />

vermuten, dass Michael darüber hinaus die beruhigende Wirkung<br />

von Pauls Decke begriff. Diese Interpretation st<strong>im</strong>mt mit<br />

einer Vielzahl von Belegen dafür überein, dass Einjährige ihre<br />

unglücklichen Spielkameraden häufig mit körperlicher Zuwendung<br />

(Umarmungen, Küsschen, Tätscheln) <strong>und</strong> Zuspruch („Du<br />

bist lieb“) trösten. Wahrscheinlich hilft den Kleinkindern ihre<br />

Erfahrung mit eigenen Emotionen <strong>und</strong> den dazugehörigen Verhaltensweisen<br />

dabei, die Emotionen anderer zu verstehen, wenn<br />

diese sich ähnlich verhalten (Harris 2006).<br />

Entwicklung <strong>im</strong> späteren <strong>Kindes</strong>alter<br />

Im Kleinkind- <strong>und</strong> Vorschulalter bauen Kinder auf ihren früh<br />

entstandenen psychologischen Gr<strong>und</strong>kenntnissen auf, um ein<br />

<strong>im</strong>mer differenzierteres Verständnis von sich selbst <strong>und</strong> anderen<br />

Menschen zu entwickeln <strong>und</strong> auf <strong>im</strong>mer komplexere Weise mit<br />

anderen zu interagieren. In zwei Bereichen ist diese Entwicklung<br />

besonders eindrucksvoll: bei den Spielaktivitäten <strong>und</strong> be<strong>im</strong> Verstehen<br />

des menschlichen Erlebens <strong>und</strong> Verhaltens.<br />

Die Entwicklung einer alltagspsychologischen Theorie<br />

Ihre naive Psychologie zusammen mit ihrem starken Interesse<br />

an anderen Menschen liefert Klein- <strong>und</strong> Vorschulkindern das<br />

F<strong>und</strong>ament für die Entwicklung einer alltagspsychologischen


246<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

1<br />

2<br />

Was glaubst du, was in der Schachtel ist?<br />

Mach doch mal auf <strong>und</strong> sieh nach!<br />

Machen wir die Schachtel wieder zu.<br />

Was glaubst du: Was würde deine<br />

Fre<strong>und</strong>in Jenny sagen, was in der<br />

Schachtel ist, wenn sie sie sieht?<br />

3<br />

Smarties!<br />

Oh, es sind Bleistifte.<br />

Bleistifte!<br />

4<br />

5<br />

6<br />

SMARTIES<br />

SMARTIES<br />

SMARTIES<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

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18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

Abb. 7.2 Das Testen der kindlichen Theory of Mind. Die Smarties-Aufgabe wird häufig verwendet, um das Verständnis falscher Überzeugungen bei Vorschulkindern<br />

zu untersuchen. Die meisten Dreijährigen antworten wie das Kind in der Zeichnung, was auf einen Mangel an Verständnis dafür schließen lässt,<br />

dass die Handlungen von anderen Menschen auf deren eigenen Überzeugungen basieren, auch wenn diese Überzeugungen von dem abweichen, was das<br />

Kind bereits sicher weiß<br />

Theorie, die als Theory of Mind (TOM) bezeichnet wird, weil sie<br />

ein strukturiertes <strong>und</strong> integriertes Verständnis darüber bietet,<br />

wie mentale Prozesse – Intentionen, Wünsche, Überzeugungen,<br />

Wahrnehmungen <strong>und</strong> Emotionen – das Verhalten beeinflussen.<br />

Zur Theory of Mind von Vorschulkindern gehört zum Beispiel<br />

das Wissen, dass Überzeugungen häufig auf Wahrnehmungen<br />

beruhen, auf dem, was man selbst sieht oder erzählt bekommt;<br />

dass Wünsche physiologisch bedingt sein können wie Hunger<br />

oder Schmerz oder psychisch wie das Bedürfnis, einen Fre<strong>und</strong><br />

zu sehen; <strong>und</strong> dass Wünsche <strong>und</strong> Überzeugungen Handlungen<br />

hervorbringen (Miller 2012).<br />

Theory of Mind (TOM) – Ein gr<strong>und</strong>legendes Verständnis davon, wie Geist <strong>und</strong><br />

Psyche das Erleben <strong>und</strong> Verhalten beeinflussen – <strong>im</strong> Gegensatz zu einer Theorie<br />

des Geistes, die nur geistige Einflüsse auf das Bewusstsein beschreibt.<br />

Ein wichtiger Bestandteil einer solchen Theory of Mind, das<br />

Verstehen der Verbindung zwischen den Wünschen anderer<br />

Menschen <strong>und</strong> ihren Handlungen, taucht gegen Ende des ersten<br />

Lebensjahres auf. In einer Studie von Phillips et al. (2002)<br />

sahen zwölf Monate alte Kinder, wie die Versuchsleiterin<br />

auf eines von zwei Stoffkätzchen schaute <strong>und</strong> mit fröhlicher<br />

St<strong>im</strong>me rief: „Oh, schaut nur, das Kätzchen!“ Dann senkte sich<br />

ein Wandschirm, <strong>und</strong> als er sich 2 s später wieder hob, hielt<br />

die Versuchsleiterin entweder das Kätzchen <strong>im</strong> Arm, auf das<br />

sich ihr Ausruf bezog, oder aber das andere Kätzchen. Kinder<br />

<strong>im</strong> Alter von zwölf Monaten schauten länger hin, wenn sie<br />

das andere Kätzchen <strong>im</strong> Arm hielt; sie vermuteten offenbar,<br />

dass die Versuchsleiterin dasjenige Kätzchen <strong>im</strong> Arm halten<br />

wollte, das sie so begeistert hatte, <strong>und</strong> waren überrascht, dass<br />

sie das andere Kätzchen <strong>im</strong> Arm hielt. Kinder von acht Monaten<br />

schauten gleich lange hin, egal welches Kätzchen die Versuchsleiterin<br />

hielt; gegen Ende des ersten Lebensjahres – so<br />

vermutete man daraufhin – entwickelt sich das Verständnis dafür,<br />

dass die Wünsche eines Menschen seine Handlungen leiten<br />

(Philips et al. 2002). Diese Schlussfolgerung steht <strong>im</strong> Einklang<br />

damit, dass Kinder <strong>im</strong> Alter von zehn Monaten Informationen<br />

über die früheren Wünsche eines Menschen nutzen können,<br />

um die späteren Wünsche desselben Menschen vorherzusagen,<br />

allerdings nur dann, wenn die Begleitumstände identisch sind<br />

(Sommerville <strong>und</strong> Crane 2009).<br />

Im Alter von zwei Jahren hat sich das Verständnis der Kinder<br />

fest verankert, dass Wünsche zu Handlungen führen. Zum<br />

Beispiel können zweijährige Kinder vorhersagen, dass die Personen<br />

in Geschichten in Übereinst<strong>im</strong>mung mit ihren eigenen<br />

Wünschen handeln werden, auch wenn sich diese Wünsche<br />

von denen der Kinder unterscheiden (Gopnik <strong>und</strong> Slaughter<br />

1991; Lillard <strong>und</strong> Flavell 1992). Wenn also das zweijährige<br />

Kind selbst lieber mit Autos als mit Puppen spielen würde, ihm<br />

aber erzählt wird, dass eine Figur in einer Geschichte lieber mit<br />

Puppen als mit Autos spielen würde, dann sagen sie voraus,<br />

dass sich die Person in der Geschichte für Puppen entscheiden<br />

wird, wenn sie wählen kann, ob sie mit Autos oder mit Puppen<br />

spielen will.<br />

Die meisten Zweijährigen verstehen zwar, dass Wünsche<br />

das Verhalten beeinflussen können; sie wissen aber wenig darüber,<br />

dass auch Überzeugungen einflussreich sind. Wenn man<br />

Zweijährigen also sagt, in einer Geschichte gebe es eine Person<br />

namens Sam, die glaubt, dass Bananen nur <strong>im</strong> Küchenschrank<br />

zu finden sind, während die Kinder selbst wissen, dass auch <strong>im</strong><br />

Kühlschrank Bananen liegen, dann sagen sie gleich oft beides<br />

vorher, dass Sam – seiner Annahme entsprechend – <strong>im</strong> Küchenschrank<br />

suchen wird, wie sie vorhersagen, dass er <strong>im</strong> Kühlschrank<br />

nachsehen wird (Wellman <strong>und</strong> Woolley 1990).<br />

Mit drei Jahren bringen Kinder ein gewisses Verständnis<br />

für den Zusammenhang von Überzeugungen <strong>und</strong> Handlungen<br />

auf. So beantworten sie zum Beispiel Fragen wie „Warum sucht<br />

Billy nach seinem H<strong>und</strong>?“ mit dem Verweis auf Überzeugungen<br />

beziehungsweise Wissensmodalitäten („Er glaubt, der H<strong>und</strong> sei<br />

ihm weggelaufen.“) wie auch mit Bezug zu Wünschen („Er will<br />

ihn bei sich haben.“) (Bartsch <strong>und</strong> Wellman 1995). Auch wissen<br />

Dreijährige einiges darüber, wie Überzeugungen entstehen. Sie<br />

wissen beispielsweise, dass das eigene Zusehen bei einem best<strong>im</strong>mten<br />

Ereignis eine Überzeugung von diesem Ereignis her-


Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />

247 7<br />

vorruft, die aber nicht zustande kommt, wenn man nur neben<br />

jemandem steht, der das Ereignis sieht (Pillow 1988).<br />

Gleichzeitig ist bei Dreijährigen das Verständnis des Zusammenhangs<br />

zwischen den Überzeugungen anderer Menschen <strong>und</strong><br />

deren Handlungen – einem zentralen Teil ihrer Theory of Mind,<br />

auf entscheidende Weise begrenzt. Diese Einschränkungen werden<br />

erkennbar, wenn man Kindern Aufgaben vom Typ falsche<br />

Überzeugungen vorgibt; in diesen Aufgaben hält ein anderer<br />

Mensch etwas für wahr, von dem das Kind weiß, dass es falsch<br />

ist. Die Frage ist, ob das Kind meint, dass der andere Mensch sich<br />

gemäß seiner falschen Überzeugung verhalten wird oder so, wie<br />

es der tatsächlichen Situation <strong>im</strong> Verständnis des <strong>Kindes</strong> entspricht.<br />

In Untersuchungen solcher Situationen zeigt sich, ob die<br />

Kinder verstehen, dass die Handlungen anderer Menschen von<br />

deren Verständnis best<strong>im</strong>mt sind <strong>und</strong> nicht von der objektiven<br />

Wahrheit oder dem Wissen des <strong>Kindes</strong>.<br />

Aufgabentyp „falsche Überzeugung“ – Aufgaben, mit denen getestet wird,<br />

ob ein Kind versteht, dass andere Menschen in Übereinst<strong>im</strong>mung mit ihren<br />

eigenen Überzeugungen handeln, auch wenn das Kind weiß, dass diese Annahmen<br />

falsch sind.<br />

Be<strong>im</strong> Aufgabentyp „falsche Überzeugungen“ zeigt man Vorschulkindern<br />

beispielsweise eine Schachtel mit Smarties, die auf<br />

dem Deckel der Schachtel auch abgebildet sind (. Abb. 7.2). Die<br />

Kinder sollen angeben, was sich in der Schachtel befindet. Logischerweise<br />

sagen sie „Smarties“. Danach öffnet der Versuchsleiter<br />

die Schachtel, <strong>und</strong> es kommen Bleistifte zum Vorschein. Die<br />

meisten Fünfjährigen müssen lachen <strong>und</strong> zeigen sich überrascht.<br />

Wenn man sie danach fragt, was ein anderes Kind sagen würde,<br />

wenn es die geschlossene Schachtel sieht <strong>und</strong> ihren Inhalt erraten<br />

soll, sagen sie, dass das Kind „Smarties“ sagen würde, so wie sie<br />

selbst zunächst gedacht hatten. Anders aber Dreijährige! Mehrheitlich<br />

behaupten sie, sie hätten <strong>im</strong>mer schon gewusst, was sich<br />

in der Schachtel befindet, <strong>und</strong> sie geben an, dass andere Kinder,<br />

denen man die Schachtel zeigt, ebenso glauben würden, dass die<br />

Schachtel Bleistifte enthält (Gopnik <strong>und</strong> Astington 1988). Die<br />

Antworten der Dreijährigen zeigen, dass es ihnen schwerfällt zu<br />

verstehen, dass andere Menschen entsprechend ihren eigenen<br />

Überzeugungen handeln, auch dann, wenn diese Überzeugungen<br />

falsch sind.<br />

Dieser Bef<strong>und</strong> erweist sich als überaus robust. Ein Überblick<br />

über 178 Studien zum kindlichen Verständnis von falschen<br />

Überzeugungen zeigte, dass ähnliche Ergebnisse auch bei anderen<br />

Formen dieser Aufgabe, bei anderen Fragen <strong>und</strong> in anderen<br />

Gesellschaften auftauchen (Wellman et al. 2001). In einer<br />

bemerkenswerten kulturvergleichenden Studie präsentierte man<br />

Vorschulkindern in Kanada, Indien, Peru, Thailand <strong>und</strong> Samoa<br />

Aufgaben mit falschen Überzeugungen (Callaghan et al. 2005).<br />

In allen fünf Gesellschaften verbesserte sich die Leistung vom<br />

dritten bis zum fünften Lebensjahr bedeutend: von 14 % korrekter<br />

Antworten bei Dreijährigen zu 85 % korrekter Antworten bei<br />

Fünfjährigen. Besonders verblüffend war die Übereinst<strong>im</strong>mung<br />

der Leistungen über die sehr verschiedenartigen Gesellschaften<br />

hinweg: In keinem der Länder beantworteten mehr als 25 % der<br />

Dreijährigen die Fragen korrekt, <strong>und</strong> in keinem gaben weniger<br />

als 72 % der Fünfjährigen korrekte Antworten.<br />

..<br />

Auch wenn sie ein sehr unterschiedliches Leben führen, reagieren afrikanische<br />

Pygmäenkinder <strong>und</strong> gleichaltrige Kinder in den Industrienationen<br />

Nordamerikas <strong>und</strong> Europas in gleicher Weise bei Aufgaben vom Typ „falsche<br />

Überzeugung“. (© Superstock)<br />

Dreijährige irren zwar in aller Regel bei Aufgaben mit falschen<br />

Überzeugungen; aber vielen Dreijährigen gelingt die richtige Lösung,<br />

wenn die Aufgabe so dargeboten wird, dass sie das Verständnis<br />

erleichtert. Erklärt eine Versuchsleiterin einem dreijährigen<br />

Kind zum Beispiel, dass sie beide sich zusammentun werden, um<br />

einem anderen Kind einen Streich zu spielen, indem sie Bleistifte in<br />

der Süßigkeitenschachtel verstecken, <strong>und</strong> fordert sie das Kind dazu<br />

auf, be<strong>im</strong> Füllen der Schachtel mit Bleistiften zu helfen, dann sagen<br />

die meisten Dreijährigen richtig vorher, dass das andere Kind angeben<br />

wird, die Schachtel enthalte Smarties (Sullivan <strong>und</strong> Winner<br />

1993). Vermutlich half es den dreijährigen Kindern, die Rolle des<br />

„Betrügers“ einzunehmen <strong>und</strong> die Stifte in der Süßigkeitenschachtel<br />

zu verstecken, um die Situation aus der Perspektive des anderen<br />

<strong>Kindes</strong> zu sehen. Dennoch ist es verblüffend, welche Schwierigkeiten<br />

drei Jahre alte Kinder mit normalen Aufgaben vom Typ „falsche<br />

Überzeugung“ haben. Bislang hat noch keine Versuchsanordnung<br />

Dreijährige befähigt, die Standardfragen zu falschen Überzeugungen<br />

öfter als zufällig richtig zu lösen (Harris 2006).


248<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

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23<br />

Exkurs 7.1: Individuelle Unterschiede: Kinder mit autistischen Störungen | |<br />

Mit fünf Jahren kommen die meisten Kinder<br />

mit Aufgaben zu falschen Überzeugungen<br />

leicht zurecht; aber für einige bleiben<br />

diese Aufgaben noch bis ins Teenageralter<br />

sehr schwierig, zum Beispiel für Kinder mit<br />

autistischen Störungen. Wie in ▶ Exkurs 3.1<br />

dargestellt, ist be<strong>im</strong> autistischen Störungsspektrum<br />

in den USA grob geschätzt eines von<br />

100 Kindern betroffen, meist Jungen (Centers<br />

for Disease Control and Prevention 2012); die<br />

autistischen Störungen führen zu Schwierigkeiten<br />

bei der sozialen Interaktion <strong>und</strong><br />

Kommunikation sowie bei weiteren geistigen<br />

<strong>und</strong> emotionalen Funktionen.<br />

Von einer ausgeprägten Form der autistischen<br />

Störung ist etwa in Kind von 100 in den USA<br />

betroffen. In Deutschland ging man zunächst<br />

von einer Autismushäufigkeit von vier bis fünf<br />

Fällen auf 10.000 Kinder oder Neugeborene<br />

aus. Inzwischen gibt es Experten, die von 15–<br />

40 Autisten auf 10.000 Kinder ausgehen. Autistische<br />

Kinder wiederholen oft ein best<strong>im</strong>mtes<br />

Verhalten, das sie für sich allein ausführen;<br />

zum Beispiel schaukeln sie fortgesetzt vor <strong>und</strong><br />

zurück oder hüpfen endlos <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer umher.<br />

Mit anderen Kindern <strong>und</strong> mit Erwachsenen<br />

interagieren sie kaum, entwickeln selten enge<br />

Beziehungen <strong>und</strong> neigen dazu, sich mehr für<br />

Gegenstände als für Menschen zu interessieren<br />

(Willis 2009). Diese <strong>und</strong> andere Verhaltensauffälligkeiten<br />

führten einige Forscher<br />

zu der Vermutung, dass der eingeschränkten<br />

Anteilnahme dieser Kinder an ihrer sozialen<br />

Umwelt ein Manko be<strong>im</strong> Verstehen anderer<br />

Menschen zugr<strong>und</strong>e liegen könnte.<br />

Neuere Forschungsergebnisse stützen diese<br />

Hypothese. Autistische Kinder haben Defizite,<br />

mit anderen Menschen geteilte Aufmerksamkeit<br />

aufzubauen; wenig spricht dafür, dass<br />

sie das tun (Klin et al. 2004). Im Vergleich zu<br />

normalen <strong>und</strong> geistig retardierten Kindern<br />

Die Theory of Mind eines <strong>Kindes</strong> entwickelt sich später noch<br />

weit länger als in dieser frühen Phase weiter, wobei zumindest einige<br />

Aspekte dieser Entwicklung von spezifischen Erfahrungen abhängen.<br />

So zeigten 14-jährige amerikanische Teenager, die in der<br />

Schule Erfahrungen be<strong>im</strong> Theaterspielen gesammelt hatten, am<br />

Ende eines einjährigen Kurses ein besseres Verständnis für die Gedanken<br />

anderer Menschen als zu Beginn des Kurses (Goldstein <strong>und</strong><br />

Winner 2011). Hingegen ließen sich bei Kindern, die Kurse in anderen<br />

Kunstfächern (Musik oder bildende Kunst) absolviert hatten,<br />

keine Gewinne be<strong>im</strong> Verständnis des Denkens anderer beobachten.<br />

Erklärungen für die Entwicklung einer Theory of Mind<br />

Ohne eine vernünftig durchdachte alltagspsychologische Theorie<br />

würden Menschenleben sicherlich sehr anders verlaufen. Allerdings<br />

sagen uns die Bef<strong>und</strong>e zur Verbesserung dieser Theorie<br />

bei Kindern zwischen dem dritten <strong>und</strong> dem fünften Lebensjahr<br />

noch nichts über die Ursachen dieser Verbesserung. Diese Frage<br />

hat eine heftige Kontroverse hervorgerufen, <strong>und</strong> zurzeit besteht<br />

große Uneinigkeit darüber, wie sie zu beantworten ist.<br />

zeigen autistische Kinder weniger Betroffenheit,<br />

wenn andere Menschen Schmerz erleiden<br />

(Sigman <strong>und</strong> Ruskin 1999) oder Lebensumstände<br />

erfahren, die den meisten Menschen<br />

Schmerz bereiten (Hobson et al. 2009). Zudem<br />

haben autistische Kinder tendenziell schlechtere<br />

Sprachfähigkeiten (Tager-Flusberg <strong>und</strong><br />

Joseph 2005), was zum einen ihre fehlende<br />

Aufmerksamkeit für andere Menschen widerspiegelt<br />

<strong>und</strong> zum anderen ihre Gelegenheiten<br />

einschränkt, durch Gespräche mehr über die<br />

Gedanken <strong>und</strong> Gefühle von Menschen zu erfahren.<br />

Entsprechend diesen Mustern werden<br />

autistische Kinder durch Fragen zu falschen<br />

Überzeugungen in bemerkenswertem Maße<br />

verwirrt (Baron-Cohen 1991). Beispielsweise<br />

findet nicht einmal die Hälfte der sechs- bis<br />

14-jährigen Autisten die richtige Lösung<br />

für solche Aufgaben, die normalerweise für<br />

Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige einfach zu lösen sind<br />

(Peterson et al. 2005). Autistische Kinder<br />

verstehen zwar, wie Wünsche das Verhalten<br />

beeinflussen, aber auf welche Art sich Überzeugungen<br />

auf das Verhalten auswirken, bleibt<br />

ihnen weitgehend unverständlich (Harris 2006;<br />

Tager-Flusberg 2007).<br />

Beeinträchtigungen be<strong>im</strong> Umsetzen alltagspsychologischer<br />

Theorien sind nicht die einzigen<br />

Schwierigkeiten, die autistische Kinder<br />

be<strong>im</strong> Verstehen anderer Menschen <strong>im</strong> Wege<br />

stehen. Auch Defizite be<strong>im</strong> Planen, bei der Anpassung<br />

an veränderte Situationen <strong>und</strong> be<strong>im</strong><br />

Regulieren des Arbeitsgedächtnisses tragen<br />

zu den kommunikativen Beeinträchtigungen<br />

bei (Ozonoff et al. 2004). Gleichwohl scheint<br />

die Beeinträchtigung der TOM-Mechanismen<br />

eine Quelle der Verständnisschwierigkeiten in<br />

Situationen zu sein, in denen die Überzeugungen<br />

anderer Menschen nicht der Wirklichkeit<br />

entsprechen (Baron-Cohen 1993; Tager-Flusberg<br />

2007).<br />

Glücklicherweise lassen sich viele Schwierigkeiten,<br />

die durch Autismus entstehen,<br />

abschwächen, wenn man die Kinder früh <strong>und</strong><br />

nachhaltig behandelt. Dawson et al. (2010)<br />

verglichen zwei randomisierte Gruppen<br />

von ein <strong>und</strong> zwei Jahre alten autistischen<br />

Kindern, die in einer Gruppe nach dem<br />

Early Start Denver Model (ESDM) gefördert<br />

wurden, während die Kontrollgruppe ein<br />

kommunales Förderprogramm durchlief. Die<br />

ESDM-Intervention bestand darin, dass die<br />

Kinder in etwa 15 h pro Woche mit speziell<br />

ausgebildeten Therapeuten alltägliche<br />

Aktivitäten wie essen <strong>und</strong> spielen einübten<br />

<strong>und</strong> mithilfe von Methoden der operanten<br />

Konditionierung an erwünschte Verhaltensweisen<br />

herangeführt wurden. Dabei handelte<br />

es sich um ein Training von Verhalten, die die<br />

Eltern als wünschenswert best<strong>im</strong>mt hatten.<br />

Die Eltern wurden ebenfalls darin geschult,<br />

den Therapieansatz zu nutzen, <strong>und</strong> dazu<br />

ermutigt, ihn bei gemeinsamen Unternehmungen<br />

mit dem Kind – etwa be<strong>im</strong> Spielen<br />

oder Baden – anzuwenden. Die Wirkungen<br />

der ESDM-Intervention wurden mit denen der<br />

kommunalen Förderung verglichen, die unter<br />

anderem mit diagnostischen Tests, Informationsmaterial<br />

<strong>und</strong> Hilfsmaterialien arbeitete<br />

<strong>und</strong> den Eltern Vorträge zu verschiedenen<br />

Therapieformen anbot.<br />

Nach zwei Jahren erreichten die Kinder, die<br />

die ESDM-Intervention durchlaufen hatten,<br />

signifikant größere Leistungsverbesserungen<br />

<strong>im</strong> Intelligenztest, in ihrer Sprache <strong>und</strong> den<br />

Fähigkeiten <strong>im</strong> Alltagsleben als die Kinder<br />

der Kontrollgruppe nach dem kommunalen<br />

Förderprogramm. Diese <strong>und</strong> andere Studien<br />

(z. B. Voss et al. 2012) zeigen, dass ein frühes<br />

intensives Förderprogramm bei autistischen<br />

Kindern enorm helfen kann.<br />

Forscher, die eine nativistische Position vertreten, nehmen<br />

an, dass es ein eigenes Modul – ein Theory-of-Mind-Modul<br />

(TOMM) gibt, d. h. einen hypothetischen Gehirnmechanismus,<br />

der speziell zum Verstehen anderer Menschen best<strong>im</strong>mt ist<br />

(Baron-Cohen 1995; Leslie 2000). Anhänger dieser Position behaupten,<br />

dass dieses Modul bei normalen Kindern, die in einer<br />

typischen Umwelt aufwachsen, <strong>im</strong> Verlauf der ersten fünf Lebensjahre<br />

reift <strong>und</strong> ein zunehmend differenziertes Verstehen der<br />

inneren Funktionen anderer Menschen mit sich bringt. Diese<br />

Forscher berufen sich auf Belege aus Untersuchungen des Gehirns<br />

mit bildgebenden Verfahren, die zeigen, dass best<strong>im</strong>mte<br />

Gehirnregionen be<strong>im</strong> Repräsentieren von Überzeugungen über<br />

unterschiedliche Aufgaben hinweg durchgängig aktiv sind <strong>und</strong><br />

dass dies andere Gehirnregionen sind als diejenigen, die an anderen<br />

komplexen kognitiven Prozessen wie dem Grammatikverständnis<br />

beteiligt sind (Saxe <strong>und</strong> Powell 2006).<br />

Theory-of-Mind-Modul (TOMM) – Ein hypothetischer Gehirnmechanismus,<br />

der das Verstehen anderer Menschen ermöglichen soll.


Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />

249 7<br />

Weitere Belege, die man oft heranzieht, um den Gedanken eines<br />

TOM-Moduls zu stützen, stammen von autistischen Kindern.<br />

Wie ▶ Exkurs 7.1 darlegt, tun sich diese Kinder mit Aufgaben<br />

zu falschen Überzeugungen besonders schwer, eine Schwierigkeit,<br />

die eng mit einer großen Bandbreite von Begrenztheiten<br />

ihrer sozialen Interaktionen verb<strong>und</strong>en ist. Ein Gr<strong>und</strong> für diese<br />

Schwierigkeiten be<strong>im</strong> Verstehen der sozialen Umwelt scheint in<br />

der atypischen Größe best<strong>im</strong>mter Gehirnbereiche zu liegen, die<br />

für das Verstehen anderer Menschen entscheidend sind (Amaral<br />

et al. 2008) – ein Bef<strong>und</strong>, der zur Annahme eines TOM-Moduls<br />

passen würde.<br />

..<br />

Das Kind auf dem Schoß seiner Mutter zeigt Desinteresse an ihrer Zuneigung.<br />

Ein solches Desinteresse an anderen Menschen kommt bei autistischen<br />

Kindern häufig vor <strong>und</strong> scheint mit ihren sehr schlechten Leistungen bei<br />

Aufgaben zusammenzuhängen, bei denen man das Innenleben anderer<br />

Menschen verstehen muss. (© Jan Sonnenmayr/Aurora)<br />

Eine andere Erklärung als die Nativisten schlagen die Vertreter<br />

eines empiristischen Standpunktes für die Entwicklung der Theory<br />

of Mind vor. Diese Theoretiker gehen davon aus, dass alltagspsychologisches<br />

Verständnis aus den Interaktionen mit anderen<br />

Menschen erwächst (Jenkins <strong>und</strong> Astington 1996; Ruffman et al.<br />

2002). Sie berufen sich auf Bef<strong>und</strong>e, nach denen Vorschulkinder<br />

mit Geschwistern bei Aufgaben über falsche Überzeugungen<br />

besser abschneiden als Kinder ohne Geschwister. Dieser Bef<strong>und</strong><br />

scheint besonders ausgeprägt zu sein, wenn die Geschwister älter<br />

oder vom anderen Geschlecht sind, vermutlich weil der Umgang<br />

mit Menschen, deren Interessen, Wünsche <strong>und</strong> Motive sich von<br />

den eigenen unterscheiden, das Verständnis der Kinder für die<br />

mentalen Vorgänge in anderen Menschen erweitert (Jenkins <strong>und</strong><br />

Astington 1996; Miller 2012). So gesehen trägt die Tendenz autistischer<br />

Kinder, nicht mit anderen Menschen zu interagieren,<br />

wesentlich zu ihrer Schwierigkeit be<strong>im</strong> Verstehen anderer Menschen<br />

bei.<br />

Eine dritte Gruppe von Forschern, die den empiristischen<br />

Standpunkt einnehmen, hebt die Entwicklung der allgemeinen<br />

Informationsverarbeitungsfähigkeiten als entscheidend für das<br />

Verstehen der mentalen Vorgänge bei anderen Menschen hervor.<br />

Sie berufen sich auf Hinweise darauf, dass das Verständnis<br />

von Aufgaben über falsche Überzeugungen wesentlich mit den<br />

Fähigkeiten zusammenhängt, komplizierte wahrheitswidrige<br />

Behauptungen logisch zu durchdenken (German <strong>und</strong> Nichols<br />

2003), <strong>und</strong> die eigenen relativ automatischen Verhaltensreaktionen<br />

zu unterdrücken (Carlson et al. 2004; Frye et al. 1996).<br />

Die Fähigkeit, sachlich falsche Behauptungen logisch zu durchdenken,<br />

ist deswegen wichtig, weil Aufgaben vom Typ „falsche<br />

Überzeugungen“ voraussetzen, dass die Kinder vorhersagen, was<br />

eine andere Person aufgr<strong>und</strong> ihrer falschen Überzeugung tun<br />

würde. Die Fähigkeit zur Unterdrückung weitgehend automatischer<br />

Reaktionen ist deswegen wichtig, weil Kinder bei Aufgaben<br />

vom Typ „falsche Überzeugungen“ auch die Annahme aufgeben<br />

müssen, dass die andere Person entsprechend der wahren Sachlage<br />

handeln würde. Vertreter dieser Richtung argumentieren,<br />

dass normalen Kindern unter vier Jahren <strong>und</strong> autistischen Kindern<br />

die nötigen Informationsverarbeitungsfähigkeiten fehlen,<br />

um die mentalen Vorgänge in anderen Menschen zu verstehen,<br />

wohingegen viele normale ältere Kinder diese Verarbeitungsprozesse<br />

bewältigen.<br />

Alle drei Erklärungsansätze scheinen ihre Vorzüge zu haben.<br />

Die Reifung von Gehirnregionen, die für das Verstehen anderer<br />

Menschen besonders wichtig sind, die wachsende Erfahrung mit<br />

anderen Menschen, eine erhöhte Informationsverarbeitungskapazität<br />

– all dies trägt zur Entwicklung des psychologischen Verstehens<br />

<strong>im</strong> Verlauf der Vorschuljahre bei. Zusammengenommen<br />

ermöglichen sie fast allen Kindern, mit ungefähr fünf Jahren zu<br />

einer zwar noch anfängerhaften, aber nützlichen Theory of Mind<br />

zu gelangen.<br />

Die Entwicklung des Spieles<br />

Als Spiel werden Tätigkeiten bezeichnet, denen man um ihrer<br />

selbst willen nachgeht, ohne andere Motivation als das Vergnügen<br />

an der Betätigung als solcher. Die frühesten spielerischen Aktivitäten,<br />

beispielsweise den Löffel auf die Tischplatte schlagen,<br />

werden für gewöhnlich allein durchgeführt. In den folgenden<br />

Jahren trägt das zunehmende Verstehen anderer Menschen jedoch<br />

dazu bei, dass das Spiel sowohl sozialer als auch komplexer<br />

wird.<br />

Ein früher Meilenstein in der Spielentwicklung ist das Alsob-Spiel,<br />

das mit etwa 18 Monaten auftritt <strong>und</strong> sich dadurch<br />

auszeichnet, dass Aktivitäten nur dem Anschein nach ausgeführt<br />

werden. Dabei schaffen die Kinder symbolische Beziehungen. Sie<br />

handeln so, als ob sie sich in einer anderen als der tatsächlichen<br />

Situation befänden. Häufig benutzen sie Gegenstände so, als wären<br />

sie etwas anderes <strong>und</strong> lassen bei dieser Objektsubstitution<br />

viele der Merkmale des Gegenstands außer Acht. Ein typisches<br />

Beispiel für eine solche Objektsubstitution wäre, wenn ein Kind<br />

einen Holzstab wie eine Trinkflasche verwenden <strong>und</strong> so tun<br />

würde, als ob es daraus trinke, oder wenn es einen Seifenbehälter<br />

aus Kunststoff wie ein Boot <strong>im</strong> Badewasser schw<strong>im</strong>men lässt.<br />

Als-ob-Spiel – Spiel, bei dem Kinder neue symbolische Beziehungen erfinden<br />

<strong>und</strong> handeln, als ob sie sich in einer anderen als der tatsächlichen Situation<br />

befänden.<br />

Objektsubstitution – Eine Form des Als-ob, bei der ein Objekt dem Anschein<br />

nach als etwas anderes verwendet wird, als es tatsächlich ist. So kann auf einem<br />

Besen als Repräsentanten eines Pferdes geritten werden.<br />

Etwa ein Jahr später fangen Kleinkinder damit an, sich an sozialen<br />

Rollenspielen zu beteiligen, bei denen sie mit anderen<br />

Kindern oder mit Erwachsenen kleine soziale Situationen nach-


250<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

1<br />

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spielen, wie „Mutter tröstet ihr Baby“ oder „Doktor hilft krankem<br />

Kind“ (O’Reilly <strong>und</strong> Bornstein 1993). Soziale Rollenspiele sind<br />

komplexer <strong>und</strong> sozialer als die Objektsubstitution <strong>im</strong> einfachen<br />

Als-ob-Spiel. Man denke etwa an die Rituale bei einer „Einladung<br />

zum Tee“, bei der das Kind <strong>und</strong> ein Elternteil einander aus<br />

<strong>im</strong>aginären Teekannen „Tee einschenken“, geziert daran „nippen“,<br />

<strong>im</strong>aginäre Küchlein „verzehren“ <strong>und</strong> sich darüber unterhalten,<br />

wie lecker alles doch schmeckt.<br />

Soziale Rollenspiele – Das Nachspielen sozialer Alltagserfahrungen in Spielszenen,<br />

bei denen Kinder mit anderen Kindern oder mit Erwachsenen verschiedene<br />

soziale Rollen darstellen, zum Beispiel „Mutter tröstet Baby“.<br />

..<br />

Rollenspiele, bei denen Kinder auf der Gr<strong>und</strong>lage ihrer eigenen Erfahrungen<br />

kleine Situationen nachspielen, spiegeln das kindliche Verstehen der<br />

jeweiligen Situation wider <strong>und</strong> helfen den Kindern auch dabei, ihr Verstehen<br />

zu erweitern. (© Lisa Eastman/fotolia)<br />

Die sozialen Rollenspiele kleiner Kinder sind normalerweise<br />

anspruchsvoller, wenn sie mit einem Elternteil oder einem älteren<br />

Geschwister spielen, die die Spielabfolge stützen können,<br />

als wenn sie mit einem Gleichaltrigen spielen (Bornstein 2006;<br />

Lillard 2007). Derartige soziale Stützung be<strong>im</strong> Spiel verschafft<br />

Kindern Gelegenheiten zum Lernen, insbesondere zum Verbessern<br />

ihrer Fähigkeiten <strong>im</strong> Geschichtenerzählen (Nicolopoulou<br />

2007). Betrachten wir den Kommentar einer Mutter, während<br />

ihr zweijähriges Kind mit zwei Action-Figuren spielt:<br />

» Sieh nur, der Bösewicht jagt den Spiderman. O nein, jetzt<br />

stößt er ihn zu Boden. Der Spiderman ruft: „Hilfe, der Schurke<br />

greift mich an!“ Schau, der Spiderman läuft davon (Kavanaugh<br />

<strong>und</strong> Engel 1998, S. 88).<br />

Solche expliziten Erläuterungen der Erwachsenen zu <strong>im</strong>pliziten<br />

Geschichten <strong>im</strong> Spiel vermitteln den Kindern ein nützliches<br />

Modell für Als-ob-Spiele, die sie später allein oder mit anderen<br />

Kindern spielen.<br />

In der Gr<strong>und</strong>schulzeit werden die Spiele noch komplexer <strong>und</strong><br />

sozialer. Sie schließen zunehmend Sport- oder Brettspiele ein, bei<br />

denen es vorgegebene Regeln gibt, die für alle Mitspieler gelten.<br />

Die kognitiven <strong>und</strong> emotionalen Anforderungen, die diese Spiele<br />

stellen, zeigen sich daran, dass es zwischen kleinen Gr<strong>und</strong>schulkindern<br />

bei aufflammenden Streitigkeiten meist darum geht, wer sich<br />

an die Regeln hält <strong>und</strong> fair spielt <strong>und</strong> wer nicht (Rubin et al. 1983).<br />

Das Als-ob-Spiel wird zwar oft als ein Verhalten betrachtet,<br />

das auf die frühe Kindheit beschränkt ist, tatsächlich hält es aber<br />

weit darüber hinaus an. Bei einer Befragung von College-Studenten<br />

gab die Mehrzahl von ihnen an, noch <strong>im</strong> Alter von zehn oder<br />

elf Jahren mindestens einmal pro Woche ein Als-ob-Spiel gespielt<br />

zu haben, <strong>und</strong> die meisten gaben an, das <strong>im</strong> Alter von zwölf oder<br />

13 Jahren mindestens einmal <strong>im</strong> Monat getan zu haben (Smith<br />

<strong>und</strong> Lillard 2011). Bei Jungen <strong>und</strong> Einzelkindern wurden tendenziell<br />

Als-ob-Spiele in höherem Alter berichtet als bei Mädchen<br />

<strong>und</strong> Kindern mit einem oder mehreren Geschwistern.<br />

Außer dem Spaß, den die Als-ob-Spiele den Kindern bereiten,<br />

können sie zur Erweiterung des sozialen Wissens beitragen.<br />

Kinder, die sich häufiger mit Als-ob-Spielen beschäftigen, zeigen<br />

tendenziell ein größeres Verständnis für das Denken (Lillard<br />

2007) <strong>und</strong> Fühlen anderer Menschen (Youngblade <strong>und</strong> Dunn<br />

1995). Auch der Typ der Als-ob-Spiele, die Kinder spannend<br />

finden, spielt eine Rolle: Soziale Als-ob-Spiele hängen enger mit<br />

dem Verstehen der Denkweisen anderer Menschen zusammen<br />

als nichtsoziale Als-ob-Spiele (Harris 2000). Kindergartenkinder<br />

lernen auch vom Zusehen be<strong>im</strong> Als-ob-Spielen anderer Kinder<br />

(Sutherland <strong>und</strong> Friedman 2012). Aus diesen Bef<strong>und</strong>en haben einige<br />

Spezialisten auf diesem Gebiet (z. B. Hirsh-Pasek et al. 2009;<br />

Tomlinson 2009) den Schluss gezogen, dass ein hohes Maß an<br />

Als-ob-Spielen in kausalem Zusammenhang mit einem hohen<br />

Maß an sozialem Verständnis stünde. Allerdings zeigte eine umfassende<br />

neue Sichtung der Untersuchungen zum Als-ob-Spiel,<br />

dass es nur sehr eingeschränkte Hinweise auf solch einen Kausalzusammenhang<br />

gibt (Lillard et al. 2013). Es scheint vielmehr<br />

so zu sein, dass häufiges Als-ob-Spiel <strong>und</strong> hohes soziales Verständnis<br />

gleichermaßen durch Eltern bewirkt werden, die beides<br />

fördern. Einige Kinder mit hohem sozialen Verständnis spielen<br />

einfach gern <strong>und</strong> oft Als-ob-Spiele. Es lässt sich noch nicht beurteilen,<br />

ob Als-ob-Spiele die kausale Ursache des sozialen Verständnisses<br />

sind, aber es steht außer Zweifel, dass diese Spiele<br />

unbedenklich sind <strong>und</strong> von vielen Kinder als Bereicherung erlebt<br />

werden.<br />

Das Wissen über lebende Dinge<br />

Kinder finden lebende Dinge faszinierend, vor allem Tiere. Ein<br />

Zeichen ihrer Faszination ist die Häufigkeit, mit der sie sich auf<br />

Lebewesen beziehen, wenn sie anfangen zu sprechen. In einer<br />

Untersuchung der ersten 50 Wörter, die Kinder verwenden, waren<br />

– außer „Mama“, „Papa“ oder „dada“ – die Wörter für Katze<br />

<strong>und</strong> H<strong>und</strong> (einschließlich ihrer Verniedlichungsvarianten) die<br />

meist genannten (Nelson 1973). Auch Wörter für Ente, Pferd,<br />

Bär, Vogel <strong>und</strong> Kuh fanden sich unter den häufigsten früh verwendeten<br />

Ausdrücken. Im Alter von vier oder fünf Jahren mündet<br />

die Faszination für Lebewesen in ein überraschendes Ausmaß<br />

an Wissen über sie, einschließlich des Wissens über nicht beobachtbare<br />

biologische Vorgänge wie Vererbung, Krankheit <strong>und</strong><br />

Genesung (Gelman 2003).<br />

Neben diesen vergleichsweise fortgeschrittenen Wissensbeständen<br />

existieren jedoch eine Vielzahl unreifer Überzeugungen


Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />

251 7<br />

Exkurs 7.2: Individuelle Unterschiede: Fiktive Begleiter | |<br />

Viele Kinder haben einen <strong>im</strong>aginären Gefährten,<br />

den sie anscheinend als ein reales Wesen<br />

betrachten. Marjorie Taylor (1999) fand, dass<br />

63 % der Kinder, die sie mit drei oder vier<br />

Jahren <strong>und</strong> dann noch einmal mit sieben oder<br />

acht Jahren interviewte, in einem oder in beiden<br />

Altersabschnitten angaben, einen fiktiven<br />

Begleiter zu haben. In einer weiteren Untersuchung<br />

fanden Taylor et al. (2004), dass annähernd<br />

genauso viele Sechs- <strong>und</strong> Siebenjährige<br />

von einem <strong>im</strong>aginären Gefährten berichteten<br />

wie Drei- <strong>und</strong> Vierjährige: 31 % der größeren<br />

<strong>und</strong> 28 % der kleineren Kinder. Manche Eltern<br />

sorgen sich um die geistige Ges<strong>und</strong>heit ihrer<br />

Kinder, wenn sie diese über ihre unsichtbaren<br />

Fre<strong>und</strong>e sprechen hören; aber wie diese Statistiken<br />

zeigen, ist es völlig normal, wenn sich<br />

Kinder solche Begleiter erfinden.<br />

Die meisten dieser fiktiven Spielgefährten waren<br />

normale Jungen <strong>und</strong> Mädchen, die zufällig<br />

unsichtbar waren, aber einige waren schillerndere<br />

Figuren. Da gab es Derek, einen 91-jährigen<br />

Mann, der angeblich nur einen guten halben<br />

Meter groß war, aber Bären besiegen konnte;<br />

„das Mädchen“, eine Vierjährige, die <strong>im</strong>mer Pink<br />

trug <strong>und</strong> „eine bildhübsche Person“ war; Joshua,<br />

ein Opossum, das in San Francisco lebte; <strong>und</strong><br />

Nobby, einen 160 Jahre alten Geschäftsmann.<br />

Andere fiktive Begleiter waren best<strong>im</strong>mten<br />

Menschen nachempf<strong>und</strong>en, beispielsweise<br />

MacKenzie, ein fiktiver Spielgenosse, der einem<br />

Cousin gleichen Namens glich, den das Kind<br />

tatsächlich hatte, oder die „falsche Rachel“, die<br />

der richtigen Fre<strong>und</strong>in Rachel ähnlich war.<br />

Wie an wirklichen Fre<strong>und</strong>en haben Kinder an<br />

ihren fiktiven Begleitern einiges auszusetzen.<br />

In einer Untersuchung an 36 Vorschulkindern<br />

mit <strong>im</strong>aginären Gefährten hatte nur eines der<br />

Kinder keine Klagen; die übrigen 35 Kinder<br />

beschwerten sich, dass ihr fiktiver Begleiter<br />

mit ihnen stritt, sich weigerte, mit ihnen zu<br />

teilen, sie versetzte, wenn sie ihn eingeladen<br />

hatten, <strong>und</strong> nicht rechtzeitig wieder ging,<br />

wenn er nicht länger willkommen war (Taylor<br />

<strong>und</strong> Mannering 2007). Hinsichtlich ihres Eigenlebens,<br />

das fiktive Begleiter unabhängig von<br />

ihrem Schöpfer haben, ähneln sie den Charakteren,<br />

die Schriftsteller erfinden. Oft berichten<br />

Autoren davon, dass ihre Figuren zuweilen aus<br />

eigenem Willen zu handeln scheinen <strong>und</strong> dass<br />

sie auch mit ihrem Erfinder streiten <strong>und</strong> ihn<br />

kritisieren (Taylor <strong>und</strong> Mannering 2007).<br />

Im Gegensatz zu der allgemeinen Vermutung<br />

fand Taylor (1999), dass sich Kinder, die fiktive<br />

Spielgefährten erfinden, nicht von ihren Altersgenossen<br />

ohne fiktiven Begleiter unterscheiden,<br />

was allgemeine Eigenschaften wie Persönlichkeit,<br />

Intelligenz <strong>und</strong> Kreativität betrifft. Jedoch<br />

konnte sie wie auch andere Forscher ein paar<br />

relativ spezifische Unterschiede feststellen.<br />

Kinder, die fiktive Spielgefährten erfinden, sind<br />

mit größerer Wahrscheinlichkeit (1) Erstgeborene<br />

oder Einzelkinder, (2) schauen relativ wenig<br />

fern, (3) sind verbal geschickt <strong>und</strong> (4) besitzen<br />

eine fortgeschritten entwickelte Theory of Mind<br />

(Carlson et al. 2003; Taylor <strong>und</strong> Carlson 1997; Taylor<br />

et al. 2004). Diese Zusammenhänge ergeben<br />

Sinn: Keine Geschwister zu haben, kann manche<br />

Erstgeborene <strong>und</strong> Einzelkinder dazu anregen,<br />

sich Fre<strong>und</strong>e zu erfinden, die ihnen Gesellschaft<br />

leisten; wenig Fernsehen schafft Freizeit für fantasievolles<br />

Spiel; <strong>und</strong> verbales Geschick <strong>und</strong> eine<br />

entwickelte Theorie zum psychologischen Funktionieren<br />

anderer Menschen könnte Kinder in<br />

die Lage versetzen, sich besonders interessante<br />

Begleiter vorzustellen, mit denen sie besonders<br />

interessante Abenteuer erleben.<br />

Gesellschaft, Unterhaltung <strong>und</strong> Vergnügen an<br />

der Fantasie sind nicht die einzigen Gründe,<br />

warum Kinder fiktive Begleiter erfinden. Mit<br />

ihrer Hilfe kann man Schuld von sich abweisen<br />

(„Ich war es nicht; Blebbi Ussi hat es getan“),<br />

Wut abreagieren („Ich hasse dich, Blebbi Ussi“)<br />

<strong>und</strong> Informationen vermitteln, die man ungern<br />

direkt geben möchte („Blebbi Ussi hat Angst,<br />

ins Töpfchen zu fallen“). Taylor (1999, S. 63)<br />

sagt es so: „Fiktive Begleiter mögen dich, wenn<br />

du dich von anderen zurückgewiesen fühlst,<br />

sie hören dir zu, wenn du mit jemandem sprechen<br />

willst, <strong>und</strong> sie sagen das, was du ihnen<br />

sagst, best<strong>im</strong>mt nicht weiter.“ So ist es kein<br />

W<strong>und</strong>er, dass so viele Kinder einen erfinden.<br />

..<br />

Seinem Kind dabei zuzusehen, wie es jemanden versorgt, der gar nicht da ist, löst bei manchen Eltern<br />

Besorgnis aus, aber die Erfindung fiktiver Fre<strong>und</strong>e ist völlig normal, <strong>und</strong> die meisten Kinder freuen sich<br />

irgendwann in ihrer frühen Kindheit an der Gesellschaft erf<strong>und</strong>ener Begleiter. (Foto: Bernadette Berg)<br />

<strong>und</strong> Denkweisen. So scheitern sie oft an der Unterscheidung zwischen<br />

Gegenständen, die wie Stühle oder Autos von Menschen zu<br />

einem best<strong>im</strong>mten Zweck hergestellt werden, <strong>und</strong> Lebewesen wie<br />

Affen, die nicht mit einer best<strong>im</strong>mten Zwecksetzung von Menschen<br />

geschaffen wurden. Als beispielsweise Kelemen <strong>und</strong> DiYanni<br />

(2005) sechs- bis zehnjährige Kinder fragten, warum der erste Affe<br />

entstand, brachten sie oft Antworten vor wie „Der Zoodirektor<br />

wollte welche haben“ oder „Damit da einer auf die Bäume klettert“.<br />

Kleine Kinder irren sich auch oft be<strong>im</strong> Best<strong>im</strong>men, welche<br />

Dinge lebendig sind <strong>und</strong> welche nicht. Die meisten Fünfjährigen<br />

sagen beispielsweise, dass Pflanzen nicht lebendig sind, <strong>und</strong> einige<br />

von ihnen sagen, der Mond <strong>und</strong> die Berge seien lebendig (Hatano<br />

et al. 1993; Inagaki <strong>und</strong> Hatano 2002). Irrtümer wie diese ließen<br />

manche Forscher schließen, dass Kinder nur ein oberflächliches<br />

<strong>und</strong> bruchstückhaftes Verständnis von Lebewesen haben, bevor sie<br />

sieben bis zehn Jahre alt sind (Carey 1999; Slaughter et al. 1999).<br />

Andere sehen das anders <strong>und</strong> nehmen an, dass Kinder mit fünf<br />

Jahren die wesentlichen Eigenschaften von Lebewesen <strong>und</strong> das,<br />

was sie von unbelebten Objekten unterscheidet, durchaus verstehen,<br />

wenngleich sie bei einigen Punkten noch etwas durcheinanderkommen<br />

(Gelman 2003). Eine dritte Ansicht besteht darin,<br />

dass kleine Kinder sowohl über reife als auch über unreife Theorien<br />

von lebenden <strong>und</strong> unbelebten Dingen verfügen (Inagaki <strong>und</strong><br />

Hatano 2008). Mit dieser Kontroverse <strong>im</strong> Hinterkopf wenden wir<br />

uns nun der Frage zu, was kleine Kinder über lebende Dinge wissen<br />

<strong>und</strong> was nicht <strong>und</strong> wie sie zu diesem Wissen kommen.


252<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

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20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Die Unterscheidung lebender <strong>und</strong><br />

unbelebter Dinge<br />

Wie bereits erwähnt, interessieren sich Kinder schon <strong>im</strong> ersten<br />

Lebensjahr für Menschen <strong>und</strong> unterscheiden sie von unbelebten<br />

Dingen (. Abb. 7.3). Auch Tiere ziehen das Interesse von Kindern<br />

auf sich, wobei diese sich gegenüber Tieren anders verhalten<br />

als gegenüber Menschen. Kinder mit neun Monaten beachten<br />

beispielsweise Kaninchen stärker als unbelebte Objekte, aber sie<br />

lächeln Kaninchen nicht so häufig an wie Menschen (Poulin-<br />

Dubois 1999; Ricard <strong>und</strong> Allard 1993).<br />

Diese Verhaltensreaktionen deuten darauf hin, dass Säuglinge<br />

<strong>im</strong> ersten Lebensjahr zwischen Menschen <strong>und</strong> Tieren <strong>und</strong> diese<br />

beiden Gruppen lebender Organs<strong>im</strong>en von unbelebten Objekten<br />

unterscheiden. Die Reaktionen zeigen jedoch nicht, wann die<br />

Kinder eine allgemeine Klasse „Lebewesen“ aufbauen, die sowohl<br />

Pflanzen als auch Tiere umfasst, oder ab wann sie Menschen als<br />

eine besondere Art von Tieren begreifen. Es ist schwer, das Wissen<br />

der Kinder zu diesen <strong>und</strong> vielen anderen Merkmalen lebender<br />

oder unbelebter Objekte einzuschätzen, bevor die Kinder drei<br />

oder vier Jahre alt sind <strong>und</strong> ihre Sprachentwicklung so weit fortgeschritten<br />

ist, dass sie entsprechende Fragen über diese Kategorien<br />

verstehen <strong>und</strong> beantworten können. In diesem Alter wissen<br />

sie definitiv einiges über die Ähnlichkeiten zwischen Lebewesen<br />

<strong>und</strong> über ihre Unterschiede gegenüber unbelebten Objekten.<br />

Diese Kenntnisse umfassen nicht nur wahrnehmbare Eigenschaften<br />

wie das Vorhandensein von Beinen, die Fortbewegung oder<br />

die Produktion einschlägiger Geräusche; sie erstrecken sich auch<br />

auf biologische Prozesse wie Verdauung <strong>und</strong> Vererbung (Gelman<br />

2003). Jedoch bestreiten viele Kinder zumindest bis ins Alter von<br />

fünf Jahren, dass Menschen zu den Tieren zählen (Carey 1985).<br />

Auch die Beantwortung der Frage, wie man sich den Lebensstatus<br />

von Pflanzen vorstellen soll, ist für kleine Kinder eine Herausforderung.<br />

Einerseits wissen die meisten Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter,<br />

dass Pflanzen – so wie Tiere, aber anders als unbelebte Dinge<br />

– wachsen (Hickling <strong>und</strong> Gelman 1995; Inagaki <strong>und</strong> Hatano 1996),<br />

sich selbst heilen (Backscheider et al. 1993) <strong>und</strong> sterben (Springer<br />

et al. 1996). Andererseits glauben die meisten Kinder in diesem<br />

Alter, dass Pflanzen nicht lebendig sind; erst mit sieben bis neun<br />

Jahren beurteilt die deutliche Mehrheit der Kinder Pflanzen als<br />

..<br />

Abb. 7.3 Die Unterscheidung<br />

zwischen Menschen <strong>und</strong> unbelebten<br />

Dingen. Diese Fotos zeigen eine<br />

Aufgabe, die Poulin-Dubois (1999)<br />

einsetzte, um die Reaktionen von<br />

Kleinkindern zu untersuchen, wenn<br />

sie Menschen <strong>und</strong> unbelebte Objekte<br />

(in diesem Fall einen Roboter) bei<br />

denselben Handlungen beobachten.<br />

Sowohl mit neun als auch mit zwölf<br />

Monaten zeigen sie sich überrascht,<br />

wenn sie sehen, wie sich unbelebte<br />

Objekte von selbst bewegen, was darauf<br />

schließen lässt, dass sie verstehen,<br />

dass Eigenbewegung eine exklusive<br />

Eigenschaft von Menschen <strong>und</strong> Tieren<br />

darstellt. (© Diane Poulin-Dubois;<br />

mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

lebende Wesen (Hatano et al. 1993). Ein Teil der Ursache, warum<br />

sich diese Erkenntnis über Pflanzen erst so spät entwickelt, besteht<br />

darin, dass Kinder das Lebendigsein mit der Fähigkeit gleichsetzen,<br />

sich in Anpassung an die Umwelt so bewegen zu können, dass<br />

es das Überleben fördert <strong>und</strong> dass die adaptiven Bewegungen von<br />

Pflanzen (z. B. das Sich-dem-Sonnenlicht-Zuwenden) schwer zu<br />

beobachten sind, weil sie zu langsam vor sich gehen (Opfer <strong>und</strong><br />

Gelman 2001). Wenn man – dieser Interpretation folgend – fünfjährigen<br />

Kindern erklärt, dass sich Pflanzen zum Sonnenlicht <strong>und</strong><br />

ihre Wurzeln zum Wasser hinbewegen, damit sie leben können,<br />

gelangen auch sie zu dem Schluss, dass Pflanzen ebenso wie Tiere<br />

lebende Wesen sind (Opfer <strong>und</strong> <strong>Siegler</strong> 2004).<br />

Allgemeiner gesprochen, beeinflussen Kultur <strong>und</strong> unmittelbare<br />

Erfahrung das Alter, in dem Kinder verstehen, dass Pflanzen<br />

tatsächlich lebendig sind. Kinder beispielsweise, die in ländlichen<br />

Gebieten aufwachsen, begreifen früher als Kinder, die in Städten<br />

aufwachsen, dass Pflanzen Lebewesen sind (Coley 2000; Ross<br />

et al. 2003).<br />

..<br />

Kinder interessieren sich für lebende Dinge, für Pflanzen wie für Tiere –<br />

besonders, wenn die Pflanzen auch noch gut schmecken. (© Suwanna <strong>und</strong><br />

David <strong>Siegler</strong>; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)


Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />

253 7<br />

Das Verstehen biologischer Prozesse<br />

Vorschulkinder verstehen, dass sich biologische Eigenschaften wie<br />

Wachstum, Verdauung <strong>und</strong> Genesung von psychischen <strong>und</strong> physikalischen<br />

Prozessen unterscheiden (Wellman <strong>und</strong> Gelman 1998).<br />

Während Drei- <strong>und</strong> Vierjährige also erkennen, dass psychische<br />

Prozesse wie beispielsweise Wünsche das Handeln von Menschen<br />

beeinflussen, erkennen sie auch, dass es rein biologische Prozesse<br />

gibt, die unabhängig von den eigenen Wünschen ablaufen. Diese<br />

Unterscheidung psychologischer <strong>und</strong> biologischer Prozesse führt<br />

Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter zu der Vorhersage, dass Menschen, die abnehmen<br />

wollen, aber viel essen, nicht ans Ziel ihrer Wünsche gelangen<br />

werden (Inagaki <strong>und</strong> Hatano 1993; Schult <strong>und</strong> Wellman 1997).<br />

Vorschulkinder erkennen auch, dass die Eigenschaften von<br />

Lebewesen oft wichtige Funktionen für den Organismus besitzen,<br />

was für die Eigenschaften unbelebter Objekte nicht gilt. Mit<br />

fünf Jahren erkennen Kinder, dass für Pflanzen ihre grüne Farbe<br />

wichtig ist, um sich zu ernähren, während die grüne Farbe von<br />

Smaragden für die Smaragde selbst keine Funktion besitzt (Keil<br />

1992). Das Ausmaß, in dem Kinder in diesem Alter biologische<br />

Prozesse verstehen, lässt sich deutlicher erkennen, wenn man<br />

die spezifischen Vorstellungen über Vererbung, Wachstum <strong>und</strong><br />

Krankheit untersucht.<br />

Vererbung<br />

Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter wissen zwar nichts über DNA oder<br />

Vererbungsmechanismen, aber sie wissen sehr wohl, dass körperliche<br />

Eigenschaften in der Regel von den Eltern an ihren<br />

Nachwuchs weitergegeben werden. Wenn sie erfahren, dass die<br />

Herzen von Herrn <strong>und</strong> Frau Bull eine ungewöhnliche Farbe aufweisen,<br />

dann erwarten sie, dass auch Baby Bull ein ungewöhnlich<br />

gefärbtes Herz haben wird (Springer <strong>und</strong> Keil 1991). In gleicher<br />

Weise glauben sie, dass ein Mäusebaby Haare in der gleichen<br />

Farbe wie seine Eltern bekommen wird, auch wenn es <strong>im</strong> Moment<br />

noch keine Haare besitzt.<br />

Ältere Vorschulkinder wissen auch, dass best<strong>im</strong>mte Aspekte<br />

der Entwicklung angeboren sind <strong>und</strong> nicht von der Umwelt best<strong>im</strong>mt<br />

werden. So erkennen Kinder mit fünf Jahren, dass ein<br />

Tier, das von Eltern einer anderen Spezies aufgezogen wurde,<br />

als Erwachsener dennoch der eigenen Art angehören wird (Solomon<br />

2002).<br />

Neben diesem Verständnis existiert gleichzeitig eine ganze<br />

Reihe von irreführenden Annahmen über Vererbung. Viele Vorschulkinder<br />

glauben, dass die Wünsche der Mütter eine Rolle<br />

dabei spielen können, welche körperlichen Eigenschaften Kinder<br />

erben, beispielsweise blaue Augen (Weissman <strong>und</strong> Kalish 1999).<br />

Auch glauben viele Vorschulkinder, dass Adoptivkinder wahrscheinlich<br />

ihren Adoptiveltern mindestens ebenso stark ähneln<br />

wie ihren leiblichen Eltern (Solomon et al. 1996). In anderen Situationen<br />

ist der Glaube an die Vererbung bei Vorschulkindern<br />

zu stark ausgeprägt, sodass sie auch den geringsten Einfluss der<br />

Umwelt abstreiten. So neigen sie zu der Annahme, dass die Unterschiede<br />

zwischen Jungen <strong>und</strong> Mädchen, was die bevorzugten<br />

Spiele <strong>und</strong> die vorhandenen Fähigkeiten betrifft, vollständig auf<br />

Vererbung zurückgehen (Taylor 1993).<br />

Mit diesem allgemeinen Glauben an die Bedeutsamkeit der<br />

Vererbung hängt einer der gr<strong>und</strong>legendsten Aspekte der biologischen<br />

Überzeugungen von Kindern zusammen: ihr Essenzialismus,<br />

die Annahme, dass jedes lebende Ding <strong>im</strong> Inneren ein<br />

Wesen (eine Essenz) besitzt, das (die) es zu dem macht, was es ist<br />

(Gelman 2003). So glauben die meisten Vorschulkinder (genauso<br />

wie die meisten größeren Kinder <strong>und</strong> die meisten Erwachsenen),<br />

dass Welpen etwas „H<strong>und</strong>haftes“ innewohnt, Kätzchen etwas<br />

„Katzenhaftes“, Rosen eine best<strong>im</strong>mte „Rosenhaftigkeit“ <strong>und</strong> so<br />

weiter. Dieser gemeinsame Wesenskern ist das, was alle Mitglieder<br />

einer Klasse einander ähnlich macht <strong>und</strong> sie von Mitgliedern<br />

anderer Klassen unterscheidet; beispielsweise ist es ihre innere<br />

„H<strong>und</strong>haftigkeit“, die H<strong>und</strong>e bellen <strong>und</strong> Katzen jagen lässt, sie<br />

dazu bringt, gestreichelt werden zu wollen, <strong>und</strong> so weiter. Dieser<br />

Wesenskern wird als von den Eltern geerbt betrachtet <strong>und</strong><br />

bleibt das ganze Leben des Organismus hindurch bestehen. Dieses<br />

Denken in essenziellen Begriffen scheint es sowohl Kindern<br />

als auch vielen Erwachsenen schwerzumachen, die biologische<br />

Evolution zu verstehen <strong>und</strong> anzuerkennen (Evans 2008). Wenn<br />

Tiere ein unwandelbares Wesen von ihren Eltern erben, wie – so<br />

mag man sich fragen – sollte es möglich sein, dass, sagen wir,<br />

Mäuse <strong>und</strong> Wale gemeinsame Vorfahren haben?<br />

Essenzialismus – Die Ansicht, dass lebende Dinge <strong>im</strong> Inneren ein Wesen besitzen,<br />

das sie zu dem macht, was sie sind.<br />

Wachstum, Krankheit <strong>und</strong> Genesung<br />

Im vorschulischen Alter erkennen Kinder, dass Wachstum wie<br />

die Vererbung ein Produkt innerer Prozesse ist. Sie erkennen beispielsweise,<br />

dass Pflanzen <strong>und</strong> Tiere <strong>im</strong> Lauf der Zeit aufgr<strong>und</strong><br />

von irgendetwas, das <strong>im</strong> Inneren passiert (wobei sich die Kinder<br />

nicht sicher sind, was das ist), größer <strong>und</strong> komplexer werden<br />

(Rosengren et al. 1991). Drei- <strong>und</strong> Vierjährige erkennen auch,<br />

dass das Wachstum von Lebewesen nur in eine Richtung verläuft<br />

(von klein zu groß), jedenfalls bis zum höheren Alter, während<br />

unbelebte Objekte, beispielsweise Ballons, zu jedem beliebigen<br />

Zeitpunkt kleiner oder größer werden können.<br />

Vorschulkinder zeigen auch ein Gr<strong>und</strong>verständnis von<br />

Krankheit. Mit drei Jahren haben sie von Ke<strong>im</strong>en <strong>und</strong> Erregern<br />

gehört <strong>und</strong> haben eine allgemeine Vorstellung, wie diese wirken.<br />

Sie wissen, dass man krank werden kann, wenn man Nahrung<br />

zu sich n<strong>im</strong>mt, die mit Krankheitserregern verseucht ist, selbst<br />

wenn man sich der Erreger nicht bewusst ist (Kalish 1997). Umgekehrt<br />

erkennen sie, dass psychische Prozesse – beispielsweise<br />

die Tatsache, dass man weiß, dass das Essen Erreger enthält –<br />

keine Krankheiten verursachen.<br />

Schließlich wissen Vorschulkinder auch, dass Pflanzen <strong>und</strong><br />

Tiere, aber nicht unbelebte Objekte, über innere Prozesse verfügen,<br />

die es ihnen ermöglichen, einen vorangehenden Zustand<br />

oder frühere Merkmale wiederzugewinnen. Zum Beispiel erkennen<br />

vier Jahre alte Kinder, dass eine Katze oder eine Tomatenpflanze,<br />

die einen Kratzer aufweist, sich selbst reparieren kann,<br />

was ein zerkratztes Auto oder ein zerkratzter Stuhl nicht vermag.<br />

Auch wissen sie, dass die Haare eines Tieres, die man abschneidet,<br />

wieder nachwachsen, nicht aber die Haare, die man einer Puppe<br />

abschneidet (Backscheider et al. 1993). Sie erkennen andererseits<br />

die Grenzen dieser ges<strong>und</strong>heitlichen Wiederherstellung: Sie verstehen,<br />

dass sowohl Krankheit als auch Lebensalter zum Tod führen<br />

können, einem Zustand, von dem sie wissen, dass sich nichts<br />

<strong>und</strong> niemand mehr davon erholt (Nguyen <strong>und</strong> Gelman 2002).


254<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

1<br />

2<br />

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4<br />

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Wie erwerben Kinder biologisches Wissen?<br />

Ebenso wie bei anderen Aspekten der begrifflichen Entwicklung<br />

haben Nativisten <strong>und</strong> Empiristen sehr unterschiedliche<br />

Vorstellungen davon, wie das biologische Verständnis von Kindern<br />

entsteht. Nativisten nehmen an, dass Menschen mit einem<br />

„Biologiemodul“ geboren werden, ganz ähnlich dem Theory-of-<br />

Mind-Modul, das wir bereits beschrieben haben. Diese Gehirnstruktur<br />

oder dieser neuronale Mechanismus verhilft Kindern<br />

dazu, schnell etwas über Lebewesen zu lernen (Atran 1990,<br />

2002). Nativisten verfechten die Vorstellung von einem Biologiemodul<br />

– mit drei Hauptargumenten:<br />

-<br />

Im Verlauf früherer Perioden unserer Evolution war es<br />

für das menschliche Überleben entscheidend, dass Kinder<br />

schnell etwas über Tiere <strong>und</strong> Pflanzen lernen.<br />

Weltweit sind Kinder von Pflanzen <strong>und</strong> Tieren fasziniert<br />

-<br />

<strong>und</strong> lernen schnell <strong>und</strong> leicht etwas über sie.<br />

Weltweit strukturieren Kinder Informationen über Pflanzen<br />

<strong>und</strong> Tiere auf sehr ähnliche Weise (nach Wachstum,<br />

Fortpflanzung, Vererbung, Krankheit <strong>und</strong> Genesung).<br />

Die empiristische Gegenposition besagt, dass Erfahrung zum<br />

biologischen Verständnis von Kindern führt, weil sie aus ihren<br />

eigenen Beobachtungen <strong>und</strong> aus Informationen, die sie von<br />

Eltern, Lehrern <strong>und</strong> der jeweiligen Kultur insgesamt erhalten,<br />

lernen (Callanan 1990). Wenn Mütter ihren ein <strong>und</strong> zwei Jahre<br />

alten Kindern beispielsweise Bücher über Tiere vorlesen, legen<br />

viele der mütterlichen Kommentare <strong>und</strong> Fragen nahe, dass<br />

Tiere Absichten <strong>und</strong> Ziele haben, dass verschiedene Mitglieder<br />

derselben Spezies sehr viel gemeinsam haben <strong>und</strong> dass sich<br />

Tiere stark von unbelebten Dingen unterscheiden (Gelman<br />

et al. 1998). Solche Unterweisungen durch die Eltern werden oft<br />

durch Fragen der Kinder ausgelöst: Wenn drei- bis fünfjährige<br />

Kinder etwas Neuem begegnen, fragen sie bei Dingen, die anscheinend<br />

von Menschen gemacht wurden, etwas häufiger nach<br />

den Funktionen, während sie umgekehrt bei etwas, das wie ein<br />

Tier oder eine Pflanze aussieht, häufiger Fragen zu biologischen<br />

Eigenschaften stellen (Margett <strong>und</strong> Witherington 2011). Solche<br />

Fragen spiegeln das biologische Wissen wider <strong>und</strong> tragen zu<br />

dessen Erweiterung bei.<br />

Die Empiristen halten ebenfalls fest, dass das biologische<br />

Verständnis von Kindern die Sichtweisen ihrer Kultur<br />

widerspiegelt. Beispielsweise schreiben Fünfjährige in Japan<br />

unbelebten Objekten <strong>und</strong> Pflanzen körperliche Empfindungen<br />

wie Schmerz- <strong>und</strong> Kältewahrnehmungen mit größerer<br />

Wahrscheinlichkeit zu als Kinder gleichen Alters in den USA<br />

oder in Israel (Hatano et al. 1993). Die Neigung japanischer<br />

Kinder zu der Annahme, unbelebte Objekte besäßen solche<br />

Eigenschaften, kann als Widerhall der in der japanischen<br />

Gesellschaft <strong>im</strong>mer noch einflussreichen buddhistischen Tradition<br />

gelten, der zufolge alle Objekte best<strong>im</strong>mte psychische<br />

Eigenschaften besitzen.<br />

Wie bei den Ursprüngen des psychologischen Verständnisses<br />

spielt be<strong>im</strong> Erwerb biologischen Wissens zweifellos beides,<br />

Anlage <strong>und</strong> Umwelt, eine wichtige Rolle. Kleine Kinder sind von<br />

Natur aus fasziniert von Tieren <strong>und</strong> lernen viel schneller etwas<br />

über sie als über andere Aspekte ihrer Umwelt, die sie weniger<br />

interessieren. Gleichzeitig werden die Besonderheiten dessen,<br />

was Kinder lernen, offensichtlich durch Informationen, Überzeugungen<br />

<strong>und</strong> Werte beeinflusst, die Eltern <strong>und</strong> die jeweilige<br />

Gesellschaft vermitteln. Und wie <strong>im</strong>mer reagiert die Umwelt auf<br />

die Anlagen der Kinder, etwa wenn Eltern auf die vielen Fragen<br />

informativ beantworten, die ihre Kinder zu Lebewesen haben<br />

<strong>und</strong> die zugleich Ausdruck des Interesses der Kinder an Lebewesen<br />

sind.<br />

In Kürze | |<br />

Von frühester Kindheit an bilden Kinder Kategorien ähnlicher<br />

Objekte. Mithilfe solcher Klassifikationen können sie<br />

die Eigenschaften unbekannter Objekte innerhalb einer<br />

Kategorie besser erschließen. Wenn Kinder beispielsweise<br />

lernen, dass es sich bei einem neuen Objekt um ein Tier<br />

handelt, dann wissen sie bereits, dass es wächst, sich bewegt<br />

<strong>und</strong> frisst. Kinder bilden neue Kategorien – <strong>und</strong> weisen<br />

neue Objekte bestehenden Kategorien zu – auf der Basis<br />

von Ähnlichkeiten in Aussehen <strong>und</strong> Funktion des neuen<br />

Objekts mit anderen Objekten, deren Klassenzugehörigkeit<br />

sie bereits kennen.<br />

Eine besonders wichtige Kategorie sind Menschen. Von den<br />

ersten Tagen ihres Lebens an interessieren sich Kinder für<br />

andere Menschen <strong>und</strong> verwenden sehr viel Zeit darauf, sie<br />

anzusehen. Mit drei Jahren bilden sie eine einfache alltagspsychologische<br />

Theory of Mind, die ein gewisses Verständnis<br />

der Kausalbeziehungen zwischen Intentionen, Wünschen,<br />

Überzeugungen <strong>und</strong> Handlungen einschließt. Aber<br />

erst mit vier oder fünf Jahren können die meisten Kinder<br />

Aufgaben vom Typ „falsche Überzeugung“ erfolgreich meistern,<br />

die ein Verständnis dafür voraussetzen, dass andere<br />

Menschen entsprechend ihren Überzeugungen handeln,<br />

<strong>und</strong> zwar auch dann, wenn diese Überzeugungen aus der<br />

Sicht des <strong>Kindes</strong> falsch sind. Die Entwicklung des Verstehens<br />

der psychischen Funktionen anderer Menschen <strong>im</strong> Verlauf<br />

der Vorschuljahre wurde der biologischen Reifung eines<br />

Theory-of-Mind-Moduls zugeschrieben, alternativ aber auch<br />

der Erfahrung <strong>im</strong> Umgang mit anderen Menschen oder der<br />

Entwicklung der Informationsverarbeitungsfähigkeiten, mit<br />

deren Hilfe Kinder <strong>im</strong>mer komplexere soziale Situationen<br />

verstehen können.<br />

Eine weitere wichtige Kategorie betrifft Lebewesen. Im<br />

Vorschulalter gewinnen Kinder ein Gr<strong>und</strong>verständnis von<br />

den Eigenschaften biologischer Sachverhalte wie Wachstum,<br />

Vererbung, Krankheit <strong>und</strong> Genesung. Aber erst <strong>im</strong><br />

Schulalter zählen die meisten Kinder Pflanzen zur Klasse<br />

der lebenden Dinge. Erklärungen für den relativ schnellen<br />

Erwerb biologischen Wissens beziehen sich auf die<br />

ausgiebige Konfrontation mit biologischen Informationen<br />

vonseiten der Familien <strong>und</strong> der umgebenden Kultur ihrer<br />

Gesellschaft ebenso wie auf ihrem eigenen Frageverhalten,<br />

das informative Antworten auslöst, <strong>und</strong> schließlich die<br />

Existenz von Gehirnmechanismen, die Kinder dahin führen,<br />

an Lebewesen interessiert zu sein <strong>und</strong> schnell <strong>und</strong> leicht<br />

mehr über sie zu lernen.


Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />

255 7<br />

..<br />

Das Gefühl von Ehrfurcht, das viele Kinder (<strong>und</strong> Erwachsene) be<strong>im</strong> Anblick der Überreste von großen Tieren aus der Vergangenheit <strong>und</strong> der Gegenwart ergreift<br />

– Dinosaurier, Elefanten oder Wale –, bildete einen wichtigen Anlass für die Gründung naturhistorischer Museen. Trotz aller Darstellungen von Monstern<br />

<strong>und</strong> Superhelden <strong>im</strong> Fernsehen, in Filmen <strong>und</strong> in Computerspielen lösen diese Fossile <strong>und</strong> Modelle bei Kindern, die heute aufwachsen, <strong>im</strong>mer noch dasselbe<br />

Gefühl des Staunens aus. (© James Mccormick Getty Images)<br />

Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum<br />

<strong>und</strong> wie viel<br />

Um in den Dingen <strong>und</strong> Abläufen des Lebens einen Sinn zu erkennen,<br />

muss man nicht nur genau repräsentieren, wer oder was<br />

an einem Ereignis beteiligt war, sondern auch, wo, wann, warum<br />

<strong>und</strong> wie oft das Ereignis auftrat. Um die Bedeutung dieser Aspekte<br />

begreifen zu können, stellen wir uns vor, wie das Leben aussähe,<br />

wenn wir unsere Auffassung von irgendeinem dieser Konzepte<br />

verlören, beispielsweise unser Gefühl für Zeit. Ohne Zeitgefühl<br />

wüssten wir nicht einmal die Reihenfolge, in der die Ereignisse<br />

eintraten. Haben wir uns zuerst angezogen <strong>und</strong> dann gefrühstückt,<br />

oder war es umgekehrt? Unser gesamter Eindruck vom<br />

Leben als einem kontinuierlichen Strom von Ereignissen wäre<br />

erschüttert. Ähnliche Probleme entstünden, wenn wir den Sinn<br />

für Raum oder Kausalität oder Zahl verlieren würden. Die Wirklichkeit<br />

erschiene uns wie ein Albtraum, in dem Ordnung <strong>und</strong><br />

Vorhersagbarkeit außer Kraft gesetzt sind <strong>und</strong> das Chaos regiert.<br />

Im vorigen Abschnitt wurde bereits beschrieben, dass Kinder<br />

die Kategorien, die sie zur Beantwortung der Frage nach dem<br />

Wer oder Was benötigen, schon früh in ihrer Entwicklung bilden,<br />

wobei sich das Verständnis noch viele Jahre lang vertieft. Die Entwicklung<br />

des Verstehens von Kausalität, Raum, Zeit, <strong>und</strong> Zahl<br />

beschreibt einen ähnlichen Weg. In jedem der Fälle beginnt die<br />

Entwicklung in frühester Kindheit, aber wichtige Verbesserungen<br />

ergeben sich während der gesamten Kindheit <strong>und</strong> Jugend.<br />

Kausalität<br />

Der berühmte schottische Philosoph des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts David<br />

Hume beschrieb Kausalität als den „Kitt des Universums“. Ihm<br />

ging es darum, dass kausale Zusammenhänge eigenständige Er-<br />

eignisse zu einem Ganzen verknüpfen. Übereinst<strong>im</strong>mend mit<br />

Humes Sicht verlassen sich Kinder ab einem frühen Zeitpunkt<br />

in ihrer Entwicklung sehr stark auf ihr Verständnis kausaler<br />

Mechanismen, um zu erschließen, warum physikalische <strong>und</strong><br />

psychologische Ereignisse eintreten. Wenn Kinder ein Spielzeug<br />

auseinandernehmen, um herauszufinden, wie es funktioniert,<br />

oder wenn sie fragen, warum das Licht angeht, wenn man den<br />

Schalter umlegt, oder auch wenn sie wissen wollen, warum ihre<br />

Mutter verärgert ist, dann versuchen sie, kausale Mechanismen<br />

zu verstehen.<br />

Nativisten <strong>und</strong> Empiristen erklären die Ursprünge des Verständnisses<br />

für physikalische Ursachen auf gr<strong>und</strong>legend unterschiedliche<br />

Weise. Die Nativisten gehen von der Tatsache<br />

aus, dass sich die Welt ohne ein elementares Verständnis der<br />

Kausalität nicht in einen sinnvollen Zusammenhang bringen<br />

ließe <strong>und</strong> dass Kinder bereits in frühester Kindheit ein entsprechendes<br />

Verständnis zeigen; daraus leiten sie die Annahme ab,<br />

dass Säuglinge ein angeborenes Kausalmodul oder eine Kerntheorie<br />

der Kausalität besitzen, mit deren Hilfe sie aus den Ereignissen,<br />

die sie beobachten, Kausalbeziehungen extrahieren<br />

können (z. B. Leslie 1986; Spelke 2003). Dagegen schlugen die<br />

Empiristen vor, dass das Verständnis von Säuglingen für Kausalität<br />

aus ihren Beobachtungen unzähliger Ereignisse in der<br />

Umwelt hervorgeht (z. B. Cohen <strong>und</strong> Cashon 2006; Rogers <strong>und</strong><br />

McClelland 2004). In einem Punkt sind sich beide jedoch einig:<br />

Kinder lassen von klein auf eindrucksvolle kausale Schlussfolgerungen<br />

erkennen.<br />

Kausales Schlussfolgern in der frühen Kindheit<br />

Mit ungefähr sechs Monaten nehmen Kinder kausale Verknüpfungen<br />

zwischen einigen physikalischen Ereignissen wahr<br />

(Cohen <strong>und</strong> Cashon 2006; Leslie 1986). In einem typischen<br />

Exper<strong>im</strong>ent zum Nachweis der Fähigkeit von Säuglingen, sol-


256<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

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..<br />

Abb. 7.4 Die Nachahmung von Handlungssequenzen. Es hilft Kindern, die Handlungen, die sie nachahmen, zu verstehen, um sie in der richtigen Reihenfolge<br />

auszuführen. In dieser Illustration eines Verfahrens von Bauer (1995) <strong>im</strong>itiert das Kind eine zuvor beobachtete Sequenz aus drei Handlungsschritten, um<br />

eine Rassel zu bauen. Das Kind (a) n<strong>im</strong>mt den Holzklotz, (b) legt ihn in die untere Hälfte des Behälters, (c) setzt die obere Hälfte des Behälters auf die untere<br />

Hälfte, womit die Rassel fertig ist, <strong>und</strong> (d) schüttelt sie. (© Patricia Bauer; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

che Verknüpfungen wahrzunehmen, zeigten Oakes <strong>und</strong> Cohen<br />

(1995) Kindern zwischen sechs <strong>und</strong> zehn Monaten eine Reihe<br />

von Videoclips, in denen ein sich bewegendes Objekt mit einem<br />

ruhenden Objekt zusammenstößt, worauf sich das ruhende Objekt<br />

sofort in die physikalisch zu erwartende Richtung zu bewegen<br />

beginnt. In jedem Clip wurden andere sich bewegende <strong>und</strong><br />

ruhende Objekte verwendet, aber der Ablauf als solcher blieb<br />

derselbe. Nachdem die Kinder einige dieser Videoclips gesehen<br />

hatten, habituierten sie auf die Zusammenstöße. Dann zeigte man<br />

ihnen einen leicht veränderten Clip, in dem das ruhende Objekt<br />

sich in Bewegung setzte, bevor das andere Objekt es anstieß. Die<br />

Kinder betrachteten das ungewöhnliche Ereignis länger, als sie<br />

die vorangegangenen Durchgänge betrachtet hatten, vermutlich<br />

weil der neue Videoclip ihrer Auffassung widersprach, dass sich<br />

unbelebte Objekte nicht von selbst bewegen.<br />

Das Verständnis von Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern von physikalischer<br />

Kausalität beeinflusst nicht nur, was sie von unbelebten<br />

Objekten erwarten, sondern auch ihre Fähigkeit, sich an<br />

Handlungssequenzen zu erinnern <strong>und</strong> sie zu <strong>im</strong>itieren. Zeigt<br />

man neun bis elf Monate alten Kindern kausal verknüpfte Handlungen<br />

(z. B. wenn man einen kleinen Gegenstand <strong>und</strong> zwei zusammenschraubbare<br />

Becher zu einer Klapper zusammenbaut),<br />

so können sie diese Handlungen für gewöhnlich nachmachen<br />

(. Abb. 7.4). Zeigt man ihnen hingegen kausal unverb<strong>und</strong>ene<br />

Handlungen, so <strong>im</strong>itieren sie diese verlässlich erst mit 20 bis<br />

22 Monaten (Bauer 2007).<br />

Gegen Ende des zweiten Lebensjahres <strong>und</strong> manchmal sogar<br />

früher können Kinder die verursachende Wirkung einer Variable<br />

anhand von indirekten relevanten Informationen über eine<br />

andere Variable erschließen. Zum Beispiel präsentierten Sobel<br />

<strong>und</strong> Kirkham (2006) 19 bis 24 Monate alten Kindern einen Kasten,<br />

den sie den „Blicket-Detektor“ nannten <strong>und</strong> der, wie der<br />

Versuchsleiter erklärte, Musik spielt, wenn man einen „Blicket“<br />

genannten Gegenstand daraufsetzt. Dann setzte der Exper<strong>im</strong>entator<br />

zwei Gegenstände, A <strong>und</strong> B, auf den „Blicket-Detektor“, <strong>und</strong><br />

es war Musik zu hören. Als er nur Gegenstand A auf den Kasten<br />

setzte, ertönte keine Musik. Nun forderte er die Kinder auf,<br />

den „Blicket-Detektor“ anzuschalten. Durchgängig wählten die<br />

24 Monate alten Kinder Gegenstand B <strong>und</strong> ließen so erkennen,<br />

dass sie aus der Unwirksamkeit von Gegenstand A geschlossen<br />

hatten, dass Gegenstand B den Detektor aktiviert. Im Unterschied<br />

dazu wählten die 19 Monate alten Kinder Gegenstand A


Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />

257 7<br />

..<br />

Abb. 7.5 Problemlösen bei Kleinkindern. Diese Aufgabe verwendeten<br />

Chen <strong>und</strong> <strong>Siegler</strong> (2000) bei der Untersuchung des Kausaldenkens <strong>und</strong> Problemlösens<br />

von Kleinkindern. Um das geeignete Werkzeug auszuwählen, mit<br />

dem man an das Spielzeug herankommt, mussten die Kinder die Bedeutung<br />

sowohl der Länge des Stieles als auch des Winkels des Kopfteils relativ zum<br />

Stiel erkennen. Das größere Verständnis älterer Kinder für solche kausalen<br />

Relationen führte dazu, dass sie häufiger überhaupt Werkzeuge verwenden<br />

<strong>und</strong> nicht nur nach dem Spielzeug greifen <strong>und</strong> dass sie häufiger das für die<br />

Problemlösung geeignete Werkzeug wählen<br />

genauso häufig wie Gegenstand B, zogen diese Schlussfolgerung<br />

also offenbar nicht.<br />

Diese Weiterentwicklung verdeutlicht eine Untersuchung<br />

von Chen <strong>und</strong> <strong>Siegler</strong> (2000) über den Werkzeuggebrauch von<br />

Ein- <strong>und</strong> Zweijährigen. Sie präsentierten den Kleinkindern ein<br />

attraktives Spielzeug, das auf einem Tisch etwa 30 cm außerhalb<br />

ihrer Reichweite lag. Zwischen dem Kind <strong>und</strong> dem Spielzeug<br />

befanden sich sechs potenzielle Werkzeuge unterschiedlicher<br />

Länge <strong>und</strong> unterschiedlicher Formgebung am Ende ihres Stieles<br />

(. Abb. 7.5). Um bei dieser Aufgabe Erfolg zu haben, mussten<br />

die Kinder die kausale Beziehung erkennen, die eines der Werkzeuge<br />

gegenüber den anderen geeigneter macht, das Spielzeug<br />

heranzuziehen. Insbesondere mussten sie erkennen, dass ein<br />

hinreichend langer Stiel <strong>und</strong> ein geeignet gebogenes Kopfende<br />

entscheidend sind.<br />

Die zweijährigen Kinder lösten das Problem, an das Spielzeug<br />

heranzukommen, deutlich häufiger erfolgreich als die einjährigen,<br />

<strong>und</strong> zwar sowohl bei ihren anfänglichen eigenen Bemühungen<br />

als auch, nachdem ihnen der Versuchsleiter gezeigt hatte,<br />

wie sie das opt<strong>im</strong>ale Werkzeug einsetzen konnten. Ein Gr<strong>und</strong><br />

für den größeren Erfolg der älteren Kinder lag darin, dass sie<br />

überhaupt häufiger die Werkzeuge verwendeten <strong>und</strong> nicht nur<br />

mit den Händen über den Tisch zu greifen versuchten oder ihre<br />

Mütter um Hilfe baten. Ein weiterer Gr<strong>und</strong> bestand darin, dass<br />

die größeren Kinder, sofern sie ein Werkzeug einsetzten, häufiger<br />

das opt<strong>im</strong>al geeignete Werkzeug wählten. Auch konnten die<br />

älteren Kinder das, was sie bei der ersten Aufgabe dieser Art gelernt<br />

hatten, häufiger auf neue, auf den ersten Blick andersartige<br />

Aufgaben übertragen, zu denen Werkzeuge <strong>und</strong> Spielzeuge mit<br />

anderen Formen, Farben <strong>und</strong> Musterungen gehörten. Alle diese<br />

Ergebnisse weisen darauf hin, dass die älteren Kleinkinder ein<br />

tieferes Verständnis von den Kausalbeziehungen zwischen den<br />

Merkmalen der Werkzeuge <strong>und</strong> ihrer Nützlichkeit zum Spielzeugheranziehen<br />

besaßen.<br />

Die Entwicklung des Kausaldenkens<br />

<strong>im</strong> Kindergartenalter<br />

Das kausale Schlussfolgern entwickelt sich <strong>im</strong> Kindergartenalter<br />

weiter. Vorschulkinder erwarten offenbar, dass eine Variable,<br />

die eine Wirkung verursacht, dies durchgängig tut (Schulz <strong>und</strong><br />

Sommerville 2006). Wenn Vierjährige sehen, dass eine mögliche<br />

Ursache eine best<strong>im</strong>mte Wirkung nur manchmal auslöst, dann<br />

schließen sie daraus, dass irgendeine andere Variable, die sie<br />

nicht sehen können, die Wirkung verursachen muss; wenn aber<br />

dieselbe Wirkung bei derselben Ursache <strong>im</strong>mer eintritt, dann<br />

schließen sie nicht darauf, dass eine verborgene Variable wichtig<br />

wäre. Wenn Vierjährige beispielsweise gesehen haben, wie<br />

einige H<strong>und</strong>e auf Gestreicheltwerden mit eifrigem Schwanzwedeln<br />

reagieren, während andere jedoch knurren, dann dürften sie<br />

daraus den Schluss ziehen, dass ein anderer Einfluss als nur das<br />

Gestreicheltwerden die Wirkung mit verursachte, zum Beispiel<br />

die H<strong>und</strong>erasse.<br />

Die Erkenntnis, dass Ereignisse Ursachen haben müssen,<br />

scheint auch die Reaktionen von Kindern auf Zauberkunststücke<br />

zu beeinflussen. Die meisten Drei- <strong>und</strong> Vierjährigen erkennen<br />

die Pointe eines Zaubertricks nicht; sie verstehen, dass irgendetwas<br />

Merkwürdiges geschehen ist, aber finden den Trick nicht<br />

witzig <strong>und</strong> versuchen auch nicht, dem seltsamen Phänomen<br />

aktiv auf den Gr<strong>und</strong> zu gehen (Rosengren <strong>und</strong> Hickling 2000).<br />

Mit ungefähr fünf Jahren sind Kinder von Zaubertricks jedoch<br />

fasziniert, gerade weil die Effekte nicht von offensichtlichen Kausalmechanismen<br />

hervorgerufen werden (▶ Exkurs 7.3), <strong>und</strong> viele<br />

wollen den Zauberhut oder andere Utensilien durchsuchen, um<br />

zu sehen, wie ein solches Kunststück möglich war. Diese zunehmende<br />

Erkenntnis, dass selbst merkwürdige Ereignisse eine Ursache<br />

haben müssen, zusammen mit dem wachsenden Verstehen<br />

der Mechanismen, die Ursachen <strong>und</strong> ihre Wirkungen verknüpfen,<br />

spiegeln die Weiterentwicklung des kausalen Schlussfolgerns<br />

wider.<br />

Raum<br />

Die Debatte zwischen Nativisten <strong>und</strong> Empiristen entzündete sich<br />

besonders heftig bei der Erklärung des räumlichen Denkens. Die<br />

Nativisten behaupten, dass Kinder ein angeborenes Modul besitzen,<br />

das auf die Repräsentation des Raumes <strong>und</strong> das räumliche<br />

Lernen spezialisiert ist <strong>und</strong> räumliche Informationen getrennt<br />

von allen anderen Informationsarten verarbeitet (Hermer <strong>und</strong><br />

Spelke 1996; Hespos <strong>und</strong> Spelke 2004). Auf der anderen Seite<br />

behaupten die Empiristen, dass Kinder räumliche Repräsentationen<br />

durch dieselben Lernmechanismen <strong>und</strong> Erfahrungen erwerben,<br />

die ganz allgemein zur kognitiven Entwicklung führen;<br />

dass Kinder außerdem räumliche <strong>und</strong> nichträumliche Informationen<br />

anpassend verbinden, um ihre Ziele zu erreichen, indem<br />

sie sich in der Umwelt bewegen; <strong>und</strong> schließlich, dass Sprache<br />

<strong>und</strong> weitere Kulturwerkzeuge die Entwicklung des räumlichen<br />

Denkens formen (Gentner <strong>und</strong> Boroditsky 2001; Levine et al.<br />

2012; Newcombe <strong>und</strong> Huttenlocher 2006).<br />

In einigen Punkten besteht jedoch Einvernehmen. So zeigen<br />

Kinder nach allgemein akzeptierten Bef<strong>und</strong>en von früher Kindheit<br />

an ein beeindruckendes Verständnis räumlicher Konzepte


258<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

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Exkurs 7.3: Näher betrachtet: Magisches Denken <strong>und</strong> Fantasie | |<br />

Falls Sie jetzt denken, das kausale Schlussfolgern<br />

fünfjähriger Kinder gleiche dem von<br />

Erwachsenen, betrachten Sie die folgende<br />

Unterhaltung zwischen zwei Kindergartenkindern<br />

<strong>und</strong> ihrer Erzieherin:<br />

Lisa: Wünschen sich Pflanzen kleine Babypflanzen?<br />

Deana: Ich glaube, nur Menschen können<br />

Wünsche haben. Aber Gott könnte einen<br />

Wunsch in eine Pflanze tun. […]<br />

Erzieherin: Ich stelle mir Menschen <strong>im</strong>mer so<br />

vor, dass sie Ideen haben.<br />

Deana: Das ist doch dasselbe. Gott tut eine<br />

kleine Idee in die Pflanze, die ihr sagt, was sie<br />

sein soll.<br />

Lisa: Meine Mutter wünschte sich mich, <strong>und</strong><br />

ich kam an meinem Geburtstag auf die Welt.<br />

(Paley 1981, S. 79 f.)<br />

Dieses Gespräch würde mit zwei Zehnjährigen<br />

so nicht stattgef<strong>und</strong>en haben. Vielmehr spiegelt<br />

es, so der Psychologe Jacqui Woolley, der<br />

die Fantasien von Vorschulkindern untersucht<br />

hat, eine der bezauberndsten Seiten der frühen<br />

Kindheit wider: Vorschulkinder <strong>und</strong> Schulanfänger<br />

„leben in einer Welt, in der Fantasie<br />

<strong>und</strong> Realität stärker miteinander verwoben<br />

sind als bei Erwachsenen“ (Woolley 1997).<br />

Dass kleinere Kinder an Fantasie <strong>und</strong> Magie,<br />

aber auch an normale Ursachen glauben, ist<br />

auf vielerlei Art erkennbar. Die meisten Vierbis<br />

Sechsjährigen glauben, dass sie andere<br />

Menschen beeinflussen können, indem sie<br />

sie durch eigenes Wünschen dazu bringen,<br />

etwas zu tun, beispielsweise ein best<strong>im</strong>mtes<br />

Geburtstagsgeschenk zu kaufen (Vikan <strong>und</strong><br />

Clausen 1993). Sie glauben, dass wirksames<br />

Wünschen große Fähigkeiten, vielleicht sogar<br />

Zauberkraft erfordert, aber dass es möglich<br />

ist. In ähnlichem Zusammenhang steht die<br />

Überzeugung mancher Kinder, dass ihre<br />

Wünsche wahr werden, wenn sie sich mit<br />

dem Nikolaus gutstellen. Solche kindlichen<br />

Fantasien können auch eine dunkle Seite<br />

haben, etwa wenn sich Kinder vor Monstern<br />

fürchten, die ihnen nachts etwas antun<br />

könnten (Woolley 1997). Forschungsarbeiten<br />

haben gezeigt, dass kleinere Kinder nicht nur<br />

an Zauberei glauben; sie handeln auch ihrem<br />

Glauben entsprechend. In einem Exper<strong>im</strong>ent<br />

wurde Vorschulkindern gesagt, dass eine<br />

best<strong>im</strong>mte Schachtel eine Zauberschachtel<br />

sei; wenn man eine Zeichnung hineinlege <strong>und</strong><br />

einen Zauberspruch sage, dann werde das auf<br />

der Zeichnung dargestellte Objekt erscheinen.<br />

Dann ließ der Versuchsleiter das Kind mit der<br />

Schachtel <strong>und</strong> einer Reihe von Zeichnungen<br />

allein. Die Kinder legten Zeichnungen der<br />

attraktivsten Gegenstände in die Schachtel,<br />

sagten die „Zauberformel“ <strong>und</strong> waren deutlich<br />

enttäuscht, als sie die Schachtel wieder<br />

öffneten <strong>und</strong> nur die Zeichnungen vorfanden<br />

(Subbotsky 1993, 1994).<br />

Wie lassen sich die Fähigkeiten von Vorschulkindern<br />

zum logischen kausalen Denken<br />

mit dem Glauben an Zauberei, an die Kraft<br />

des Wünschens <strong>und</strong> an den Nikolaus in<br />

Einklang bringen? Im Wesentlichen muss<br />

man erkennen, dass Kinder hier wie in vielen<br />

anderen Situationen eine Vielzahl von ziemlich<br />

widersprüchlichen Vorstellungen gleichzeitig<br />

besitzen <strong>und</strong> für wahr halten. Sie glauben<br />

vielleicht, dass Zauberei oder ihre Vorstellungskraft<br />

Dinge verursacht <strong>und</strong> geschehen<br />

lässt, aber verlassen sich nicht darauf, wenn<br />

es sie in Verlegenheit bringen könnte. In einer<br />

Demonstration dieses begrenzten Glaubens<br />

an die Magie (Woolley <strong>und</strong> Phelps 1994) zeigte<br />

der Versuchsleiter Vorschulkindern eine leere<br />

Schachtel, schloss sie <strong>und</strong> forderte sie dann<br />

auf, sich darin einen Bleistift vorzustellen.<br />

Dann fragte er die Kinder, ob jetzt ein Bleistift<br />

in der Schachtel ist; viele sagten „ja“. Dann<br />

betrat eine erwachsene Person den Raum <strong>und</strong><br />

sagte, sie brauche einen Bleistift für ihre Arbeit.<br />

Nur sehr wenige der Kinder öffneten die<br />

Schachtel oder gaben sie dem Erwachsenen.<br />

Wenn es also keine weiteren Folgen hatte, dass<br />

sie sich möglicherweise irrten, sagten viele<br />

Kinder, dass die Schachtel einen Bleistift enthalte,<br />

aber sie glaubten es nicht stark genug,<br />

um so zu handeln, dass es einem Erwachsenen<br />

dumm erscheinen könnte.<br />

Wie überwinden Kinder ihren Glauben an<br />

Zauberkraft <strong>und</strong> Magie? Ein Mittel dazu besteht<br />

darin, mehr über wirkliche Ursachen zu<br />

erfahren; je mehr Kinder über die tatsächlichen<br />

Ursachen von Ereignissen wissen, umso<br />

unwahrscheinlicher ist es, dass sie magische<br />

Erklärungen heranziehen (Woolley 1997).<br />

Ein weiteres Mittel betrifft Erfahrungen, die<br />

den ursprünglichen Glauben untergraben,<br />

etwa wenn Gleichaltrige das Glauben an den<br />

Nikolaus belächeln oder wenn man selbst zwei<br />

Nikoläuse sieht, die einander auf der Straße<br />

begegnen. Manchmal jedoch retten Kinder<br />

ihre Hoffnungen, indem sie zwischen falschen<br />

<strong>und</strong> echten Zauberwesen unterscheiden. Zum<br />

Beispiel können sie leidenschaftlich zwischen<br />

dem wirklichen Nikolaus <strong>und</strong> Schwindlern<br />

unterscheiden, die sich nur als Nikolaus<br />

verkleiden.<br />

Der Glaube an Zauberwesen <strong>und</strong> Fantasiegeschöpfe<br />

ist bei Zwei- bis Fünfjährigen<br />

besonders augenscheinlich, aber er bleibt oft<br />

auch Jahre später erkennbar. In einer Studie,<br />

die das Anhalten magischen Denkens nachwies,<br />

ließen sich viele Neunjährige <strong>und</strong> auch<br />

einige Erwachsene auf magische Erklärungen<br />

für einen Zaubertrick ein, der sich physikalisch<br />

nicht leicht erklären ließ (Subbotsky 2005).<br />

Bei einer neueren Meinungsumfrage in einer<br />

repräsentativen Stichprobe gaben 31 % der<br />

amerikanischen Erwachsenen an, an Geister<br />

<strong>und</strong> Spukhäuser zu glauben (Rasmussen<br />

2011). Diese Einstellungen lassen sich nicht<br />

mit dem Argument wegwischen, dass sie einen<br />

Mangel an Bildung widerspiegeln würden.<br />

Subbotsky (2005) berichtet, dass von 17 an der<br />

Untersuchung teilnehmenden College-Studenten<br />

niemand bereit war, einer als Hexe beschriebenen<br />

Person zu erlauben, einen Fluch<br />

über sie auszusprechen. Unzählige weitere<br />

Erwachsene geben sich dem Aberglauben hin,<br />

nicht unter Leitern durchzugehen, auf Holz zu<br />

klopfen <strong>und</strong> nicht auf die Ritzen zwischen den<br />

Gehwegplatten zu treten. So sind viele von<br />

uns, vielleicht wir alle, dem magischen Denken<br />

niemals völlig entwachsen.<br />

wie „über“, „unter“, „rechts“ <strong>und</strong> „links“ von einem Bezugspunkt<br />

(Casasola 2008; Quinn 2005). Außerdem wird allgemein angenommen,<br />

dass selbst erzeugte Bewegung in der Umgebung die<br />

Verarbeitung räumlicher Information st<strong>im</strong>uliert. Eine dritte gemeinsame<br />

Annahme besagt, dass best<strong>im</strong>mte Gehirnbereiche für<br />

die Codierung best<strong>im</strong>mter Arten von räumlicher Information<br />

verantwortlich sind, zum Beispiel scheint die Entwicklung des<br />

Hippocampus zu Verbesserungen be<strong>im</strong> Ortslernen zu führen<br />

(Sluzenski et al. 2004; Sutton et al. 2010). Eine vierte übereinst<strong>im</strong>mende<br />

Schlussfolgerung beinhaltet, dass geometrische Information<br />

– Information über Längen, Winkel <strong>und</strong> Richtungen<br />

– für die räumliche Verarbeitung äußerst wichtig sind. Wenn<br />

Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder Hinweise auf den Ort bekommen,<br />

an dem sich ein Objekt befindet, dann ziehen sie diese geometrische<br />

Information oft stärker in Erwägung als scheinbar einfachere<br />

Hinweise wie die Beschreibung, dass sich das Objekt vor<br />

der einen blauen Wand <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer befindet (Hermer <strong>und</strong> Spelke<br />

1996; Newcombe <strong>und</strong> Ratliff 2007).<br />

Erfolgreiches räumliches Denken setzt voraus, dass der Raum<br />

relativ zur jeweils eigenen Position <strong>und</strong> relativ zur äußeren Umgebung<br />

codiert wird. In den folgenden Abschnitten behandeln<br />

wir diese beiden Arten der Codierung.<br />

Die Repräsentation des Raumes<br />

relativ zu sich selbst<br />

Von früher Kindheit an codieren Kinder die Orte von Objekten<br />

in Beziehung zu ihrem eigenen Körper. In ▶ Kap. 5 wurde bereits<br />

erwähnt, dass kleine Kinder dazu neigen, nach dem näheren von


Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />

259 7<br />

zwei Objekten zu greifen (van Wermeskerken et al. 2013). Dies<br />

zeigt, dass sie erkennen können, welches Objekt näher ist, <strong>und</strong><br />

dass sie auch die allgemeine Richtung dieses Objekts relativ zu<br />

sich selbst erkennen.<br />

Im Verlauf der folgenden Monate wird die raumbezogene<br />

Repräsentation der Kinder <strong>im</strong>mer dauerhafter, sodass sie Objekte<br />

lokalisieren können, die einige Sek<strong>und</strong>en zuvor vor ihren Augen<br />

versteckt wurden. Wie in ▶ Kap. 4 erörtert, greifen die meisten<br />

Kinder <strong>im</strong> Alter von sieben Monaten zielgenau nach Objekten,<br />

die 2 s vorher unter einer von zwei identisch aussehenden Decken<br />

versteckt wurden, aber nicht nach Objekten, deren Verstecken<br />

bereits 4 s zurückliegt. Mit zwölf Monaten greifen die meisten<br />

Kinder dann zielgenau nach Objekten, die schon 10 s vorher unter<br />

einer der beiden Decken versteckt worden waren (Diamond<br />

1985). Diese <strong>im</strong>mer dauerhafteren Objektrepräsentationen spiegeln<br />

zum Teil die Gehirnreifung wider, insbesondere die Reifung<br />

des dorsolateralen präfrontalen Cortex, einer Region <strong>im</strong> Frontallappen,<br />

die an der Bildung <strong>und</strong> Aufrechterhaltung von Plänen<br />

<strong>und</strong> an der Integration neuer <strong>und</strong> früher gelernter Informationen<br />

beteiligt ist (Diamond <strong>und</strong> Goldman-Rakic 1989; Nelson<br />

2005). Diese verbesserten Objektrepräsentationen spiegeln jedoch<br />

ebenso Lernprozesse wider. Wenn man Säuglingen in einer<br />

Situation Lernerfahrungen mit einem versteckten Gegenstand<br />

ermöglicht, so zeigen sie in anderen Situationen eine bessere Lokalisierung<br />

der versteckten Gegenstände (Johnson et al. 2003).<br />

Man beachte, dass in allen bisherigen Beispielen das Kind<br />

selbst am gleichen Ort blieb <strong>und</strong> die Orte relativ zu seinem Körper<br />

codierte. Piaget (1998) behauptete, dass dies die einzige Art<br />

räumlicher Codierung sei, die Kinder beherrschen. Der Gr<strong>und</strong><br />

dafür liegt seiner Theorie gemäß darin, dass während der sensumotorischen<br />

Phase die einzig möglichen räumlichen Repräsentationen<br />

egozentrische Repräsentationen sind, bei denen der<br />

Ort von Objekten relativ zur eigenen Position <strong>im</strong> Moment der<br />

Encodierung dieses Ortes erinnert wird. Als Beleg dafür berichtete<br />

Piaget über Exper<strong>im</strong>ente, denen zufolge sich Kinder, die ein<br />

Spielzeug mehrere Male rechts von sich fanden, weiterhin nach<br />

rechts drehen, um es zu finden, auch nachdem man sie so umgedreht<br />

hatte, dass sich das Objekt nun links von ihnen befand.<br />

Spätere Untersuchungen haben diesen Bef<strong>und</strong> bestätigt (z. B.<br />

Acredolo 1978; Bremner 1978).<br />

Egozentrische Repräsentation – Die Codierung eines Ortes relativ zum eigenen<br />

Körper, unabhängig von der Umgebung.<br />

Dieser frühkindliche Egozentrismus bei der räumlichen Repräsentation<br />

ist nicht absolut. Wird ein Spielzeug rechts neben<br />

einem auffallenden Orientierungspunkt – beispielsweise einem<br />

großen Turm aus Bauklötzen – versteckt, dann finden Kinder das<br />

Spielzeug trotz einer Veränderung ihrer eigenen Position (Lew<br />

2011). Doch es bleibt die Frage: Wie erwerben Kinder die Fähigkeit,<br />

Objekte zu finden, wenn sich ihre eigene Position geändert<br />

hat <strong>und</strong> wenn keine Orientierungspunkte vorhanden sind, die<br />

ihnen bei der Suche helfen?<br />

Die Fähigkeit zur eigenen Fortbewegung scheint ein wichtiger<br />

Faktor zu sein, wenn es darum geht, ein Raumgefühl unabhängig<br />

von der eigenen Position zu entwickeln. Deshalb können<br />

Kinder, die krabbeln oder mit der eigenen Fortbewegung in einem<br />

Laufstuhl Erfahrung haben, den Ort von Objekten bei der<br />

Aufgabe zur Objektpermanenz häufiger erinnern als gleichaltrige<br />

Kinder ohne solche Fortbewegungserfahrungen (Bertenthal et al.<br />

1994; Campos et al. 2000). Kinder, die sich aus eigener Kraft in<br />

Räumen umherbewegt haben, können <strong>im</strong> Vergleich zu anderen<br />

Kindern, denen solche Erfahrungen noch fehlen, auch räumliche<br />

Tiefe <strong>und</strong> abschüssige Stellen in den überquerten Oberflächen<br />

besser repräsentieren, was sich an Veränderungen ihrer Herzfrequenz<br />

bei der Annäherung an eine visuelle Klippe (▶ Exkurs 5.5)<br />

ablesen lässt.<br />

Die Gründe dafür, warum selbst herbeigeführte Fortbewegung<br />

die räumliche Codierung bei Kindern verbessert, dürften jedem<br />

vertraut sein, der selbst Auto fährt, aber auch schon einmal Beifahrer<br />

war. So wie das Selbstfahren die permanente Aktualisierung<br />

der Umgebungsinformation erfordert, so ergeht es dem Kind auch<br />

be<strong>im</strong> Krabbeln oder Laufen. Ist man dagegen nur Beifahrer, muss<br />

man die eigene Raumposition nicht permanent aktualisieren, was<br />

ebenso gilt, wenn man als Kind lediglich umhergetragen wird.<br />

Wie nach dieser Analyse zu erwarten ist, erweitert Selbstbewegung<br />

auch die räumliche Codierung bei älteren Kindern.<br />

Einen überzeugenden Beleg für diese Folgerung erbrachte eine<br />

Studie an Kindergartenkindern der Vorschulstufe, die in den<br />

Küchen ihres jeweiligen Zuhauses getestet wurden (Rieser et al.<br />

1994). Man bat einige der Vorschulkinder, stillzustehen <strong>und</strong> sich<br />

vorzustellen, wie sie von ihrem Platz <strong>im</strong> Unterrichtsz<strong>im</strong>mer zum<br />

Stuhl der Lehrerin gehen <strong>und</strong> sich dann mit dem Gesicht zur<br />

Klasse drehen. Nun bat man sie, von diesem <strong>im</strong>aginierten Ort<br />

aus dorthin zu zeigen, wo sich <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer diverse Gegenstände<br />

befanden – das Goldfischglas, die Tafel mit dem Alphabet,<br />

die Tür zur Garderobe <strong>und</strong> so weiter. Unter diesen Bedingungen<br />

zeigten die Fünfjährigen nur sehr ungenau die tatsächlichen<br />

Positionen an. Andere Kinder wurden bei dieser Untersuchung<br />

zusätzlich instruiert, durch die Küche zu gehen <strong>und</strong> sich umzudrehen,<br />

während sie sich vorstellten, zum Lehrerpult zu gehen<br />

<strong>und</strong> sich dann mit dem Gesicht zur Klasse zu wenden. Unter<br />

diesen Bedingungen zeigten die Kinder wesentlich genauer in die<br />

Richtung der vorgestellten Gegenstände <strong>im</strong> vorgestellten Klassenz<strong>im</strong>mer.<br />

Dieses Ergebnis beleuchtet ebenso wie die Bef<strong>und</strong>e<br />

bei Säuglingen die Vernetzung des Systems, das Eigenbewegungen<br />

hervorbringt, mit dem System, das mentale Repräsentationen<br />

des Raumes produziert (Adolph <strong>und</strong> Berger 2006).<br />

Eine weitere Erfahrung, die zur Entwicklung des räumlichen<br />

Vorstellens über das Kleinkindalter hinaus beiträgt, ist das Zusammenfügen<br />

von Puzzles. Kinder, die <strong>im</strong> Alter zwischen einem<br />

<strong>und</strong> vier Jahren häufiger puzzelten als Gleichaltrige, konnten mit<br />

viereinhalb Jahren die in . Abb. 7.6 gezeigte Aufgabe zur räumlichen<br />

Transformation besser lösen (Levine et al. 2012). Der Zusammenhang<br />

zwischen Puzzlespiel <strong>und</strong> anschließendem räumlichen<br />

Schlussfolgern ergab sich unabhängig vom Erziehungsstil<br />

der Eltern, von ihrem Einkommen oder auch der elterlichen Verwendung<br />

von räumlichen Bezeichnungen <strong>im</strong> Umgang mit ihren<br />

Kindern. Der Zusammenhang zwischen dem Zusammensetzen<br />

von Puzzles <strong>und</strong> dem räumlichen Schlussfolgern ergibt Sinn.<br />

Be<strong>im</strong> Zusammensetzen von Puzzles müssen die passenden Teile<br />

für die richtigen Positionen identifiziert <strong>und</strong> in die richtige Orientierung<br />

gedreht werden; wenn man die Teile mental rotieren<br />

kann, um für eine Lücke das passende Teil zu identifizieren, kann


260<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

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Abb. 7.6 Zur Messung des frühen räumlichen Schließens. Diese Vorlagen<br />

verwendeten Levine et al. (2012) bei der Untersuchung zum Einfluss des<br />

Puzzlespieles auf die räumlichen Fähigkeiten von Vorschulkindern. Die Aufgabe<br />

bestand darin anzugeben, welche der vier oberen Figuren sich aus den<br />

beiden unten gezeigten Teilfiguren zusammensetzen lässt<br />

man das Puzzle leichter lösen. Die Übung des mentalen Rotierens<br />

führt vermutlich zum Aufbau von Fähigkeiten des räumlichen<br />

Schlussfolgerns, die in vielen späteren Situationen angewandt<br />

werden können.<br />

Die Entwicklung räumlicher Konzepte<br />

bei Blinden <strong>und</strong> Sehbehinderten<br />

Oft wird das räumliche Denken mit dem Sehen gleichgesetzt,<br />

<strong>und</strong> man n<strong>im</strong>mt an, dass wir aufgr<strong>und</strong> der räumlichen Anordnungen,<br />

die wir gesehen haben, räumlich denken könnten. Aber<br />

selbst in der frühen Kindheit kann bereits räumliches Denken<br />

aufgr<strong>und</strong> anderer Sinnesmodalitäten als dem Gesichtssinn entstehen.<br />

Bringt man drei Monate alte Babys in einen vollkommen<br />

dunklen Raum, in dem sie gar nichts sehen können, dann<br />

nutzen sie Geräusche, die von Objekten in der Nähe ausgehen,<br />

um diese Objekte zu orten <strong>und</strong> danach zu greifen (Keen <strong>und</strong><br />

Berthier 2004).<br />

Säuglinge können zwar unter anderem ihren Hörsinn benutzen,<br />

um räumliche Repräsentationen zu bilden, aber die visuellen<br />

Erfahrungen spielen in der frühen Kindheit eine wichtige Rolle<br />

für das räumliche Denken. Das belegen Fälle, in denen ein chirurgischer<br />

Eingriff das Sehvermögen sehbehinderter Menschen<br />

wiederhergestellt hatte, die blind geboren waren (Carlson et al.<br />

1986) oder durch Katarakte (Linsentrübungen) von frühester<br />

Kindheit an beeinträchtigt waren, weil die variierenden Lichtreize<br />

die Netzhaut nicht erreichten (Le Grand et al. 2001, 2003).<br />

Man operierte frühzeitig, durchschnittlich <strong>im</strong> vierten Lebensmonat,<br />

<strong>und</strong> testete die Raumcodierung erst neun bis 21 Jahre nach<br />

der Operation. Trotz dieser langen Seherfahrungen nach dem<br />

korrigierenden Eingriff konnten diese Menschen visuelle Informationen<br />

nicht so gut wie andere Menschen für die räumliche<br />

Repräsentation nutzen. Probleme zeigten sich insbesondere bei<br />

der Repräsentation von Gesichtern, <strong>und</strong> das sogar noch 20 Jahre<br />

nach der Operation (also nach 20 Jahren visueller Erfahrung).<br />

Der Mangel an Seherfahrung während weniger Monate <strong>im</strong> Säuglingsalter<br />

schränkte die weitere visuelle Entwicklung ein.<br />

Diese Bef<strong>und</strong>e bedeuten nicht, dass blind geborene Kinder<br />

Räumliches nicht repräsentieren können. Sie haben <strong>im</strong> Allgemeinen<br />

ein erstaunlich gutes Raumgefühl. Bei Aufgaben, die eine<br />

Repräsentation sehr kleiner Raumausschnitte erfordern, sind<br />

blind geborene Kinder genauso gut wie sehende Kinder, denen<br />

man die Augen verb<strong>und</strong>en hat, beispielsweise wenn man ihnen<br />

be<strong>im</strong> Zeichnen zweier Kanten eines Dreiecks die Hand führt <strong>und</strong><br />

sie den dritten Schenkel des Dreiecks dann freihändig vervollständigen<br />

sollen (Thinus-Blanc <strong>und</strong> Gaunet 1997). Bei Aufgaben,<br />

die auf die Repräsentation größerer Raumausschnitte zurückgreifen,<br />

beispielsweise wenn man ein unbekanntes Z<strong>im</strong>mer erk<strong>und</strong>en<br />

muss, sind die räumlichen Repräsentationen von Blindgeborenen<br />

ebenfalls überraschend gut – fast so gut wie die Repräsentationen<br />

sehender Menschen, denen während der Erk<strong>und</strong>ungsphase die<br />

Augen verb<strong>und</strong>en wurden. Obwohl unsere Repräsentation größerer<br />

Raumausschnitte also von frühen visuellen Erfahrungen<br />

zu profitieren scheint, entwickeln viele blinde Menschen eine<br />

beeindruckende Raumorientierung, ohne die Welt jemals gesehen<br />

zu haben.<br />

..<br />

Blinde Jugendliche <strong>und</strong> Erwachsene, selbst wenn sie von Geburt an blind<br />

sind, besitzen meistens ein recht genaues Raumgefühl, mit dem sie sich<br />

geschickt in ihrer Umwelt bewegen können. (© Karin Lau/fotolia.com)<br />

Die Repräsentation des Raumes<br />

relativ zur äußeren Umwelt<br />

Wie bereits angeführt, können Babys schon mit sechs Monaten<br />

den Ort von Objekten, die vor ihren Augen versteckt werden,<br />

anhand von Orientierungspunkten codieren (Lew 2011). Damit<br />

so kleine Kinder einen Orientierungspunkt erfolgreich einsetzen<br />

können, muss es sich jedoch um den einzigen auffälligen Punkt


Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />

261 7<br />

in der Umgebung handeln, der sich zudem in der unmittelbaren<br />

Nähe des versteckten Objekts befinden sollte.<br />

Im Verlauf der Entwicklung steigt die Fähigkeit von Kindern,<br />

sich aus mehreren möglichen Bezugspunkten einen auszuwählen.<br />

In einer Untersuchung an zwölf Monate alten Kindern, die ein einzelnes<br />

gelbes Kissen, ein einzelnes grünes Kissen <strong>und</strong> eine große<br />

Anzahl blauer Kissen sahen, hatten diese kein Problem damit, ein<br />

Objekt zu finden, das unter dem gelben oder dem grünen Kissen<br />

versteckt war (Bushnell et al. 1995). Mit 22 Monaten, aber noch<br />

nicht mit 16 Monaten, verbesserten solche Orientierungspunkte die<br />

Fähigkeit der Kinder, auch Objekte zu orten, die nicht unmittelbar<br />

an diesem Orientierungspunkt versteckt wurden (Newcombe et al.<br />

1998). Mit etwa fünf Jahren können Kinder die Position eines Objekts<br />

auch relativ zu mehreren Bezugspunkten repräsentieren, beispielsweise<br />

wenn es sich auf halbem Weg zwischen einem Baum <strong>und</strong><br />

einer Straßenlaterne befindet (Newcombe <strong>und</strong> Huttenlocher 2006).<br />

Schwieriger für den Aufbau räumlicher Repräsentationen<br />

sind für Kinder ebenso wie für Erwachsene Situationen, in denen<br />

sie sich in einer Umgebung ohne besondere Orientierungspunkte<br />

bewegen oder in denen solche Bezugspunkte weit von<br />

der Zielposition entfernt sind. Um die Herausforderung solcher<br />

Aufgaben zu verstehen, stelle man sich vor, sich irgendwo in einem<br />

Wald abseits von Wegen wiederzufinden, ohne sich daran<br />

erinnern zu können, wie man dorthin gelangt ist. Fiele es Ihnen<br />

leicht, den Weg zurück zum Ausgangspunkt zu finden?<br />

Selbst Kleinkinder zeigen in einem gewissen Grad die erforderliche<br />

Navigationsfähigkeit, die <strong>im</strong>merhin gut genug ist, um die<br />

richtige allgemeine Richtung einzuschlagen (Loomis et al. 1993). In<br />

einem Exper<strong>im</strong>ent sahen Ein- <strong>und</strong> Zweijährige zuerst, wie ein kleines<br />

Spielzeug in einem langen rechteckigen Sandkasten versteckt wurde,<br />

<strong>und</strong> dann, wie sich ein Vorhang r<strong>und</strong> um den Sandkasten senkte <strong>und</strong><br />

das Spielzeug den Blicken entzog. Nun gingen die Kinder anderswohin,<br />

<strong>und</strong> danach bat man sie, das Spielzeug zu finden. Obwohl<br />

es keine Orientierungspunkte gab, hatten sie sich den Ort, an dem<br />

das Spielzeug versteckt war, gut genug gemerkt, um mit mehr als<br />

zufälliger Genauigkeit nach ihm zu suchen (Newcombe et al. 1998).<br />

Andererseits bleibt der Aufbau einer relativ präzisen Positionscodierung<br />

in Abwesenheit eindeutiger Orientierungspunkte<br />

auch für Menschen, die weit älter als zwei Jahre sind, eine schwierige<br />

Angelegenheit (Bremner et al. 1994). Sechs- <strong>und</strong> Siebenjährige<br />

können das nicht besonders gut (Overman et al. 1996), <strong>und</strong><br />

Erwachsene unterscheiden sich enorm in ihrer Fähigkeit, diesen<br />

Typ von Navigation zu bewältigen. Wenn Erwachsene beispielsweise<br />

die Aufgabe erhalten, um das Gelände eines ihnen fremden<br />

Universitätscampus herumzugehen <strong>und</strong> dann direkt zum Ausgangspunkt<br />

zurückzukehren, finden sich zwar einige ganz gut<br />

zurecht, aber viele wählen eine Route, die sie nicht einmal in die<br />

Nähe des tatsächlichen Startpunktes bringt (Cornell et al. 1996).<br />

Das Ausmaß, in dem Menschen räumliche Fähigkeiten entwickeln,<br />

ist stark dadurch beeinflusst, wie wichtig diese Fähigkeiten<br />

in der jeweiligen Kultur sind. Um diesen Zusammenhang<br />

nachzuweisen, verglich Kearins (1981) die räumlichen Fähigkeiten<br />

von Kindern der halbnomadischen Aborigines, die in der<br />

australischen Wüste aufwachsen, mit denen gleichaltriger Euro-<br />

Australier aus australischen Städten. In der Kultur der Aborigines<br />

sind räumliche Fähigkeiten entscheidend, weil ein Großteil des<br />

Lebens in dieser Kultur aus langen Märschen zwischen weit auseinanderliegenden<br />

Wasserlöchern besteht. Es muss nicht eigens<br />

erwähnt werden, dass sich die Aborigines dabei nicht auf Straßenschilder<br />

verlassen können; sie müssen sich auf ihre Raumorientierung<br />

verlassen, um das Wasser zu finden. In Übereinst<strong>im</strong>mung<br />

mit der Bedeutung räumlicher Fähigkeiten in ihrem<br />

täglichen Leben sind die Kinder der Aborigines den Stadtbewohnern<br />

bei der Gedächtnisleistung für Raumpositionen überlegen,<br />

<strong>und</strong> das selbst bei Brettspielen, die eher für die Stadtkinder einen<br />

vertrauten Kontext darstellen (Kearins 1981). In Einklang mit der<br />

allgemeinen Bedeutsamkeit des soziokulturellen Kontexts wirkt<br />

sich also die Art <strong>und</strong> Weise, in der Menschen räumliches Denken<br />

bei ihren täglichen Aktivitäten einsetzen, stark auf die Qualität<br />

ihres räumlichen Denkens aus.<br />

..<br />

Räumliche Orientierungsfähigkeiten sind in Kulturen, in denen sie<br />

überlebenswichtig sind, besonders gut entwickelt. (© Penny Tweedy/Panos<br />

Pictures)<br />

Zeit<br />

» Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti<br />

explicare vel<strong>im</strong>, nescio. (Was ist also die Zeit? Wenn mich<br />

niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem,<br />

der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht.) (Aurelius<br />

Augustinus, Confessiones XI, 14)<br />

Das Zitat zeigt, dass sich selbst die tiefgründigsten Denker – von<br />

Augustinus, der seine Confessiones <strong>im</strong> vierten nachchristlichen<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert schrieb, bis zu Albert Einstein, der seine Schriften<br />

<strong>im</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert verfasste – vom Wesen der Zeit vor ein Rätsel<br />

gestellt sahen. Und dennoch besitzen Säuglinge schon <strong>im</strong> ersten<br />

halben Lebensjahr ein rud<strong>im</strong>entäres Zeitgefühl, das es ihnen ermöglicht,<br />

sowohl die Aufeinanderfolge als auch die Dauer von<br />

Ereignissen wahrzunehmen (Friedman 2008).<br />

Das Erleben der Zeit<br />

Der vielleicht gr<strong>und</strong>legendste Aspekt des Zeitgefühls betrifft das<br />

Wissen um die zeitliche Abfolge, also zu wissen, was zuerst passierte,<br />

was als Nächstes geschah, <strong>und</strong> so weiter. Führt man sich<br />

vor Augen, wie verwirrend das Leben ohne ein solches gr<strong>und</strong>legendes<br />

Zeitgefühl wäre, so überrascht es nicht, dass Säuglinge die<br />

Reihenfolge, in der Ereignisse geschehen, schon zum frühesten<br />

Zeitpunkt repräsentieren, zu dem diese Fähigkeit effektiv mess-


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Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

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bar ist. In einer Untersuchung sahen drei Monate alte Kinder<br />

interessante Fotos zuerst zu ihrer Linken, dann zu ihrer Rechten,<br />

dann wieder zu ihrer Linken <strong>und</strong> so weiter. Innerhalb von<br />

20 s begannen sie zu der Seite hinzublicken, auf der das nächste<br />

Foto erscheinen würde, schon bevor es tatsächlich gezeigt wurde<br />

(Adler et al. 2008; Haith et al. 1993). Dieses Blickmuster ließ<br />

erkennen, dass die Kinder mit ihren drei Monaten die sich <strong>im</strong><br />

Zeitverlauf wiederholende Ereignisfolge entdeckten <strong>und</strong> diese<br />

Information dazu benutzten, Erwartungen darüber zu bilden, wo<br />

das nächste Foto erscheinen würde. Mit anderen exper<strong>im</strong>entellen<br />

Methoden ergaben sich dieselben Schlussfolgerungen: Vier<br />

Monate alte Kinder beispielsweise, die darauf habituierten, dass<br />

drei Gegenstände in gleichbleibender Reihenfolge hinunterfielen<br />

<strong>und</strong> auf eine Oberfläche prallten, dishabituierten, wenn sich<br />

die Reihenfolge, in der die Gegenstände hinunterfielen, änderte<br />

(Lewkowicz 2004).<br />

Säuglinge besitzen auch ein ungefähres Gefühl für die Dauer<br />

von Ereignissen. In einer Untersuchung sahen vier Monate alte<br />

Kinder Helligkeits- <strong>und</strong> Dunkelheitsphasen, die sich über acht<br />

Zyklen alle 5 s abwechselten, bis die Ereignisabfolge nach dem<br />

achten Durchgang abbrach <strong>und</strong> das Licht ausgeschaltet blieb. Innerhalb<br />

einer halben Sek<strong>und</strong>e nach dem Abbruch verlangsamte<br />

sich der Herzschlag der Kinder – ein Anzeichen für erhöhte Aufmerksamkeit.<br />

In diesem Fall ließ die Verlangsamung des Herzschlages<br />

vermuten, dass die Säuglinge ein ungefähres Gefühl für<br />

das 5-s-Intervall hatten, am Ende des Intervalls das Angehen des<br />

Lichtes erwarteten <strong>und</strong>, als das nicht geschah, mit einem plötzlichen<br />

Anstieg der Aufmerksamkeit reagierten (Colombo <strong>und</strong><br />

Richman 2002).<br />

Auch zwischen längerer <strong>und</strong> kürzerer Zeitdauer können<br />

Säuglinge unterscheiden. Ausschlaggebend für diese Diskr<strong>im</strong>inationsleistungen<br />

sind nicht die absoluten Unterschiede, sondern<br />

das Verhältnis der Zeiträume (Brannon et al. 2007). Kinder<br />

von sechs Monaten unterschieden beispielsweise zwischen<br />

Zeiträumen, wenn sie <strong>im</strong> Verhältnis 2:1 standen (1 versus 0,5 s<br />

oder 3 versus 1,5 s), nicht aber bei einem Verhältnis von 1,5:1<br />

(1,5 versus 1 s oder 4,5 versus 3 s). Im Verlauf des ersten Lebensjahres<br />

wächst die Präzision dieser Unterscheidungen. Anders als<br />

mit sechs Monaten unterscheiden Kinder mit zehn Monaten ein<br />

Verhältnis von Zeiträumen von 1,5:1 (allerdings kein Verhältnis<br />

von 1,33:1).<br />

Wie steht es mit längeren Zeitphasen – Wochen, Monaten<br />

oder Jahren? Ob Säuglinge ein Gefühl für so lange Zeiträume<br />

haben, ist unbekannt, aber Vorschulkinder wissen einiges darüber.<br />

Fragte man zum Beispiel Vierjährige, welches von zwei<br />

Ereignissen kürzer zurückliegt, wussten die meisten, dass ein<br />

best<strong>im</strong>mtes Ereignis, beispielsweise der Valentinstag, der vor<br />

einer Woche stattfand, noch nicht so lange zurücklag wie ein<br />

Ereignis, das bereits vor sieben Wochen stattfand, beispielsweise<br />

Weihnachten (Friedman 1991). Jedoch können Vorschulkinder<br />

solche Fragen nur dann richtig beantworten, wenn das kürzer<br />

zurückliegende Ereignis noch nicht lange her ist <strong>und</strong> viel näher<br />

am Jetzt liegt als das weiter zurückliegende. Die Fähigkeit,<br />

präziser zwischen den Zeitpunkten vergangener Ereignisse<br />

zu unterscheiden, entwickelt sich allmählich in der mittleren<br />

Kindheit (Friedman 2003). Wenn man Kinder beispielsweise<br />

drei Monate später nach dem Monat fragte, in dem man ihnen<br />

<strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer ein besonderes Ereignis dargeboten hatte,<br />

so lag der Prozentsatz richtiger Antworten für Fünfjährige bei<br />

20 %, für Siebenjährige bei 46 % <strong>und</strong> für Neunjährige bei 64 %<br />

(Friedman <strong>und</strong> Lyon 2005).<br />

In dieser Altersspanne wächst ebenso das Verständnis für den<br />

zeitlichen Ablauf zukünftiger Ereignisse (Friedman 2000, 2003).<br />

Vorschüler verwechseln häufig Vergangenheit <strong>und</strong> Zukunft. Eine<br />

Woche nach dem Valentinstag sagen beispielsweise Fünfjährige<br />

vorher, dass der nächste Valentinstag früher stattfinden wird als<br />

das nächste Erntedankfest oder das nächste Weihnachtsfest; <strong>und</strong><br />

sie sagen eine gleich lange Zeitspanne bis zum nächsten Mittagessen<br />

vorher – unabhängig davon, ob man sie kurz vor oder kurz<br />

nach dem Mittagessen testet. Im Unterschied dazu treffen Sechsjährige<br />

bei beiden Fragen in der Regel korrekte Vorhersagen.<br />

Diese Verbesserung des kindlichen Zeitgefühls für die Zukunft<br />

zwischen dem fünften <strong>und</strong> dem sechsten Lebensjahr könnte von<br />

den Erfahrungen der Fünfjährigen in den Vorschulgruppen beeinflusst<br />

sein, in denen die Abläufe von Schulhalbjahren, Ferien<br />

<strong>und</strong> Alltagsroutinen besonders <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong> stehen.<br />

Kinder erliegen ebenso wie Erwachsene best<strong>im</strong>mten Täuschungen<br />

hinsichtlich der Zeit, teilweise wegen der Rolle, die<br />

die Aufmerksamkeit für die Zeitwahrnehmung spielt. Wenn sich<br />

die Aufmerksamkeit von Achtjährigen auf das Vergehen der Zeit<br />

konzentriert (weil sie beispielsweise nach einem 2-min-Intervall<br />

eine Belohnung erwarten), dann erleben sie die Zeitdauer als<br />

länger, nicht aber, wenn sie <strong>im</strong> selben Zeitintervall keine Belohnung<br />

antizipieren. Sie erleben die Zeitdauer umgekehrt als<br />

kürzer, wenn sie sehr beschäftigt sind, als dann, wenn sie wenig<br />

zu tun haben (Zakay 1992, 1993). So hat die Redewendung, dass<br />

einem be<strong>im</strong> Warten die Zeit lang wird, ihre psychologische Berechtigung.<br />

Zeitliches Schlussfolgern<br />

In den mittleren Jahren ihrer Kindheit werden Kinder <strong>im</strong>mer<br />

besser darin, zeitliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Insbesondere<br />

können sie den Schluss ziehen, dass von zwei Ereignissen,<br />

die gleichzeitig anfingen, von denen aber das eine später endete<br />

als das andere, dasjenige Ereignis, das später endete, länger gedauert<br />

hat.<br />

Schon mit fünf Jahren gelingen Kindern solche Schlussfolgerungen<br />

über die Zeit, aber nur dann, wenn die Situation einfach<br />

<strong>und</strong> eindeutig (ohne ablenkende Alternativen) ist. Erzählt man<br />

ihnen, dass zwei Puppen zum gleichen Zeitpunkt eingeschlafen<br />

sind <strong>und</strong> dass die eine Puppe vor der anderen aufgewacht ist,<br />

kommen Fünfjährige zu dem korrekten Schluss, dass die Puppe,<br />

die später noch schlief, als die andere schon wach war, auch länger<br />

schlief (Levin 1982). Wenn aber Fünfjährige zwei Spielzeugzüge<br />

auf parallelen Geleisen in dieselbe Richtung fahren sehen<br />

<strong>und</strong> der eine Zug hält an einer weiter entfernten Stelle als der<br />

andere, sagen sie in der Regel, dass der Zug, der weiter hinten erst<br />

angehalten hat, auch längere Zeit gefahren ist, unabhängig davon,<br />

wann die Züge losfuhren <strong>und</strong> wann sie anhielten (Acredolo <strong>und</strong><br />

Schmid 1981). Das Problem liegt darin, dass die Aufmerksamkeit<br />

der fünfjährigen Kinder von dem einen Zug in Anspruch genommen<br />

ist, der weiter hinten angehalten hat, was sie dazu bringt,<br />

sich auf die räumliche Position der Züge zu konzentrieren statt<br />

auf ihre relative Start- <strong>und</strong> Stoppzeiten. Dies erinnert an Piagets


Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />

263 7<br />

Konzept der Zentrierung (Piaget 1974). Seine Beobachtungen<br />

der Leistungen bei dieser Aufgabe führten ihn zu der Schlussfolgerung,<br />

dass sich Kinder in der präoperationalen Phase oft auf<br />

eine einzelne D<strong>im</strong>ension konzentrieren <strong>und</strong> andere, relevantere<br />

D<strong>im</strong>ensionen nicht beachten.<br />

Zahl<br />

Der Konzept der Zahl ist ebenso wie das des Raumes, der Zeit<br />

<strong>und</strong> der Kausalität eine zentrale D<strong>im</strong>ension der menschlichen<br />

Erfahrung. Man kann sich kaum vorstellen, wie die Welt erscheinen<br />

würde, wenn wir nicht eine zumindest grobe Vorstellung<br />

von Anzahlen hätten; wir wüssten zum Beispiel nicht, wie viele<br />

Finger wir besitzen. Wie zu erwarten, debattieren Nativisten <strong>und</strong><br />

Empiristen auch über das Konzept der Zahl. Dabei behaupten<br />

die Nativisten, dass Kinder mit einem Kernkonzept der Zahl zur<br />

Welt kommen <strong>und</strong> über spezielle angeborene Mechanismen für<br />

die Repräsentation <strong>und</strong> das Erlernen der relativen Häufigkeiten<br />

in Objektmengen, des Zählens sowie einfacher Addition <strong>und</strong><br />

Subtraktion verfügen (Wynn 2000). Auch verweisen sie auf best<strong>im</strong>mte<br />

Gehirnregionen, insbesondere die intraparietale Furche,<br />

die be<strong>im</strong> Repräsentieren numerischer Größen stark beteiligt sind<br />

(Ansari 2008; Nieder <strong>und</strong> Dehaene 2009), <strong>und</strong> auf spezifische<br />

Neurone, die auf eine best<strong>im</strong>mte Zahl von Objekten (z. B. fünf<br />

Objekte) besonders stark ansprechen (Nieder 2012). Im Gegensatz<br />

dazu behaupten die Empiristen, dass Kinder ihr Zahlkonzept<br />

durch dieselben Lernmechanismen <strong>und</strong> Arten von Erfahrung<br />

erlernen wie bei anderen Konzepten <strong>und</strong> dass die numerische<br />

Kompetenz von Säuglingen bei Weitem nicht so hoch ist, wie<br />

die Nativisten annehmen (Clearfield 2006; Mix et al. 2002). Sie<br />

verweisen zudem auf die großen Unterschiede <strong>im</strong> numerischen<br />

Verständnis von Kindern unterschiedlicher Kulturen <strong>und</strong> belegen<br />

den Einfluss von Anleitung, Sprache <strong>und</strong> kulturellen Werten<br />

auf diese Unterschiede (Geary 2006; Miller et al. 1995). Im folgenden<br />

Abschnitt erläutern wir neuere Bef<strong>und</strong>e zur Entwicklung<br />

des Konzepts der Zahl <strong>und</strong> auch die jeweiligen Sichtweisen der<br />

Nativisten <strong>und</strong> der Empiristen.<br />

Numerische Gleichheit<br />

Das wohl gr<strong>und</strong>legendste numerische Verständnis betrifft die<br />

numerische Gleichheit, die Erkenntnis, dass alle Mengen, die<br />

N Objekte enthalten, ein gemeinsames Merkmal besitzen. Wenn<br />

Kinder zum Beispiel erkennen, dass zwei H<strong>und</strong>e, zwei Tassen,<br />

zwei Bälle <strong>und</strong> zwei Schuhe alle die Eigenschaft der „Zweiheit“<br />

teilen, besitzen sie ein elementares Verständnis der numerischen<br />

Gleichheit.<br />

Numerische Gleichheit – Die Erkenntnis, dass alle Mengen mit gleicher Anzahl<br />

N an Elementen etwas gemeinsam haben.<br />

Schon <strong>im</strong> Alter von fünf Monaten scheinen Kinder eine solche<br />

Ahnung der numerischen Gleichheit zu besitzen, zumindest was<br />

Mengen von bis zu drei Objekten betrifft. Wir wissen das aus<br />

Untersuchungen mit dem bekannten Habituationsparadigma, in<br />

denen Säuglinge eine Folge von Bildern sahen, die alle dieselbe<br />

Anzahl von Objekten enthielten, welche sich jedoch auf andere<br />

Weise von Bild zu Bild unterschieden. Zum Beispiel wurden den<br />

Kindern drei senkrecht angeordnete Sterne gezeigt, dann drei<br />

waagerecht angeordnete Kreise, dann drei Rauten in diagonaler<br />

Anordnung <strong>und</strong> so weiter. Nach eingetretener Habituation auf<br />

die Bilder mit drei Objekten kam ein Bild mit einer anderen Anzahl<br />

von Objekten (z. B. zwei Quadrate). Diese Untersuchungen<br />

lassen erkennen, dass Kinder mit fünf Monaten <strong>im</strong> Allgemeinen<br />

ein Objekt von zwei Objekten <strong>und</strong> zwei Objekte von drei Objekten<br />

unterscheiden können (van Loosbroek <strong>und</strong> Smitsman 1990).<br />

Diese Tendenz ist jedoch schwach: Die Unterscheidungen der<br />

Kinder beruhen häufig auf der Gesamtfläche, welche die Objekte<br />

einnehmen, oder auf der Länge ihrer Konturen statt auf ihrer<br />

Anzahl, wenn man beide Parameter variiert (Clearfield <strong>und</strong> Mix<br />

1999; Feigenson et al. 2002a). Die Tatsache jedoch, dass Kinder<br />

auch kleine Anzahlen von Ereignissen unterscheiden, bei denen<br />

keine Flächen <strong>und</strong> Konturen <strong>im</strong> Spiel sind, weist darauf hin, dass<br />

sie unabhängig von Fläche <strong>und</strong> Kontur ein Zahlgefühl besitzen.<br />

Dieses elementare Zahlenverstehen wies Wynn (1995) nach,<br />

indem er sechs Monate alten Babys eine Puppe zeigte, die wiederholt<br />

genau zwe<strong>im</strong>al hochsprang. Nach erfolgter Habituation<br />

sahen die Kinder, wie die Puppe entweder einmal oder dre<strong>im</strong>al<br />

hochsprang. Die Blickdauer der Kinder erhöhte sich, woraus man<br />

schließen kann, dass die Halbjährigen den Unterschied zwischen<br />

zwei Sprüngen <strong>und</strong> einem oder drei Sprüngen erkannten.<br />

Wie bei der Unterscheidung von Zeitspannen hängt die Diskr<strong>im</strong>inationsfähigkeit<br />

von Säuglingen zwischen numerisch ungleichen<br />

Mengen vom Verhältnis der Elementzahlen dieser Mengen<br />

ab. Sechs Monate alte Kinder können zum Beispiel Mengen aus<br />

Punkten oder Tönen unterscheiden, deren Elementzahlen in einem<br />

Verhältnis von 2:1 stehen (z. B. 16 versus 8 Punkte oder Töne),<br />

nicht aber zwischen Mengen mit einem Verhältnis von 1,5:1 (z. B.<br />

12 versus 8 Elemente) (Brannon 2002; Lipton <strong>und</strong> Spelke 2003).<br />

Wie die Unterscheidungen zwischen Zeitspannen werden auch die<br />

Unterscheidungen von numerisch ungleichen Mengen mit wachsendem<br />

Alter präziser; sechs Monate alte Kinder können nicht<br />

zwischen Mengenverhältnissen von 1,5:1 unterscheiden, neun<br />

Monate alte Kinder können das (Wood <strong>und</strong> Spelke 2005). Be<strong>im</strong><br />

Unterscheiden zwischen unterschiedlicher Anzahl von Objekten<br />

spielt jedoch auch die absolute Anzahl der Elemente eine Rolle; bei<br />

einigen Aufgaben unterscheiden neun <strong>und</strong> elf Monate alte Kinder<br />

zwischen einem <strong>und</strong> zwei Objekten <strong>und</strong> zwischen zwei <strong>und</strong> drei<br />

Objekten, nicht aber zwischen zwei <strong>und</strong> vier oder zwischen drei<br />

<strong>und</strong> sechs Objekten (Feigenson et al. 2002b).<br />

Rechnen in der frühen Kindheit<br />

Einige Experten des kindlichen Zahlverstehens kamen zu dem<br />

Schluss, dass Kleinkinder bereits über Gr<strong>und</strong>kenntnisse <strong>im</strong><br />

Rechnen verfügen (Gelman <strong>und</strong> Williams 1998; Wynn 1992).<br />

Ihre Schlussfolgerungen beruhen auf Belegen der folgenden Art<br />

(. Abb. 7.7): Ein fünf Monate altes Kind sieht eine Puppe auf einer<br />

Bühne. Ein Schirm fährt hoch, der die Puppe verbirgt. Dann sieht<br />

das Kind, wie eine Hand eine zweite Puppe hinter den Schirm<br />

stellt <strong>und</strong> sich ohne die Puppe wieder zurückzieht, sodass es den<br />

Anschein hat, als habe sie die zweite Puppe bei der ersten Puppe<br />

auf der Bühne gelassen. Schließlich bewegt sich der Sichtschirm<br />

wieder nach unten <strong>und</strong> gibt den Blick entweder auf eine oder auf<br />

zwei Puppen frei. Die meisten Kinder in diesem Alter schauen


264<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

1. Objekt erscheint<br />

Reihenfolge der Ereignisse: 1 + 1 = 1 oder 2<br />

2. Wandschirm erscheint 3. 2. Objekt erscheint 4. Leere Hand verschwindet<br />

5<br />

6<br />

7<br />

Dann entweder (a) mögliches Ereignis<br />

oder (b) unmögliches Ereignis<br />

5. Wandschirm fällt.<br />

6. 2 Objekte vorhanden 7. Wandschirm fällt 8. 1 Objekt vorhanden<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

..<br />

Abb. 7.7 Das Verständnis der Addition bei Kleinkindern. Bei dieser Aufgabe, die Wynn (1992) einsetzte, um zu untersuchen, ob Säuglinge ein elementares<br />

Verständnis der Addition besitzen, sahen fünf Monate alte Kinder, (1) wie eine Puppe auf die Bühne gestellt wurde. (2) Ein Wandschirm verdeckte die Sicht auf<br />

die Puppe. (3) Eine Hand, die eine weitere Puppe hielt, bewegte sich auf die Bühne <strong>und</strong> hinter den Schirm, (4) <strong>und</strong> die leere Hand bewegte sich wieder zurück.<br />

Dann fiel der Wandschirm <strong>und</strong> ließ entweder das mögliche Ereignis mit zwei Puppen auf der Bühne (5 <strong>und</strong> 6) oder das anscheinend unmögliche Ereignis mit<br />

einer Puppe auf der Bühne (7 <strong>und</strong> 8) erkennen. Kinder unter sechs Monaten blickten länger auf das anscheinend unmögliche Ereignis, was ihre Überraschung<br />

be<strong>im</strong> Anblick nur einer Puppe erkennen lässt<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

länger hin, wenn nur ein Objekt erscheint <strong>und</strong> nicht zwei Objekte;<br />

sie erwarteten offenbar, dass ein Objekt plus ein weiteres<br />

Objekt zwei Objekte ergeben sollte, sodass sie Überraschung<br />

zeigten, wenn sie am Ende nur eine Puppe sahen. Ähnliche Ergebnisse<br />

erhält man für die Subtraktion: Fünf Monate alte Kinder<br />

schauen länger hin, wenn von zwei Objekten eines weggenommen<br />

wurde <strong>und</strong> <strong>im</strong>mer noch zwei Objekte vorhanden sind, als<br />

wenn nach dem Wegnehmen eines Objekts nur noch eines übrig<br />

bleibt (Wynn 1992).<br />

Aber zeigen diese Ergebnisse wirklich, dass Kleinkinder Rechenoperationen<br />

verstehen? Die entsprechende Behauptung hat<br />

heftige Diskussionen <strong>und</strong> Kontroversen ausgelöst. Das liegt zum<br />

Teil daran, dass Versuche, die Originalergebnisse zu replizieren,<br />

nur zum Teil Erfolg hatten: Manche Untersuchungen konnten die<br />

Bef<strong>und</strong>e replizieren (S<strong>im</strong>on et al. 1995), andere nicht (Wakeley<br />

et al. 2000). Ein allgemeiner Gr<strong>und</strong> für die Kontroverse hat damit<br />

zu tun, dass die Kinder wie schon bei den <strong>im</strong> vorangegangenen<br />

Abschnitt beschriebenen Aufgaben nur in solchen Situationen<br />

arithmetische Kompetenzen erkennen ließen, in denen die Gesamtzahl<br />

der Objekte max<strong>im</strong>al 3 betrug. Ein ähnliches Verständnis<br />

der Effekte, wenn man zwei Objekte zu zwei weiteren Objekten<br />

hinzuaddiert, zeigen Kinder erst in weit höherem Alter – mit<br />

drei bis fünf Jahren (Huttenlocher et al. 1994; Starkey 1992).<br />

Die Tatsache, dass die Kompetenz kleiner Kinder auf Mengen<br />

von drei oder weniger Objekten begrenzt bleibt, führte eine<br />

zweite Gruppe von Experten (Clearfield <strong>und</strong> Mix 1999; Cohen<br />

<strong>und</strong> Marks 2002; S<strong>im</strong>on 1997) zu dem Schluss, dass die Reaktionen<br />

der Kinder auf solche Rechentests nicht auf ihrem Verstehen<br />

arithmetischer Operationen beruhen, sondern auf Wahrnehmungsprozessen.<br />

Zum Beispiel nehmen Haith <strong>und</strong> Benson<br />

(1998) an, dass Kinder auf einen Wahrnehmungsprozess zurückgreifen,<br />

über den auch Erwachsene verfügen, <strong>und</strong> der be<strong>im</strong> Anblick<br />

von einem, zwei oder drei Objekten sofort <strong>und</strong> unmittelbar<br />

erkennen lässt, um wie viele Objekte es sich handelt: das Auf-einen-Blick-Erfassen.<br />

(Im Englischen wurde für diesen Prozess der<br />

Ausdruck subitizing geprägt.) Nach dieser Interpretation bilden<br />

Kinder eine bildliche Repräsentation der zu Beginn vorhandenen<br />

Objekte sowie derjenigen Objekte, die später hinzugefügt oder<br />

weggenommen werden, <strong>und</strong> sie zeigen längeres Blickverhalten,<br />

wenn die Objekte, die sie zum Schluss sehen, mit ihrer mentalen<br />

Repräsentation nicht übereinst<strong>im</strong>men. Dieser Interpretation<br />

entspricht die Beobachtung bei fünf Monate alten Kindern unter<br />

Bedingungen, in denen die Schwierigkeit des Aufbaus eines<br />

mentalen Bildes erhöht wurde – etwa wenn sie eine Hand sehen,<br />

die ein Objekt hinter dem hochgezogenen Schirm abstellt <strong>und</strong><br />

dann ein weiteres, wobei aber <strong>im</strong> Unterschied zum üblichen Verfahren<br />

bis zum Ende kein Hinweis auf den Verbleib der Objekte<br />

zu sehen ist. Unter diesen erschwerten Bedingungen zeigen fünf<br />

Monate alte Kinder keine Überraschung, wenn am Ende 1 + 1 = 1<br />

ist (Uller et al. 1999). Demnach zeigen Kinder unter best<strong>im</strong>mten<br />

Umständen numerische Kompetenzen bei kleinen Objektmengen,<br />

aber diese Kompetenz könnte auf der Fähigkeit beruhen,<br />

mentale Bilder zu erzeugen, <strong>und</strong> weniger mit einem Verständnis<br />

für Arithmetik zusammenhängen.


Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />

265 7<br />

a<br />

b<br />

Fehlerhaftes Zählen<br />

Gesagte Zahl:<br />

Gezeigt auf:<br />

Objekte:<br />

Unübliches, aber korrektes Zählen<br />

Gesagte Zahl:<br />

Gezeigt auf:<br />

Objekte:<br />

Zählen<br />

Mit drei Jahren erwerben die meisten Kinder die Fähigkeit zu zählen;<br />

das ermöglicht es ihnen, die Anzahl von Objekten in Mengen,<br />

die mehr als drei Elemente enthalten, präzise anzugeben, sofern<br />

die Objekte sichtbar sind. Die meisten Dreijährigen können fehlerfrei<br />

bis zu zehn Objekte abzählen. Zusätzlich zu Zählverfahren<br />

lernen Vorschulkinder auch die Gr<strong>und</strong>prinzipien, die dem Zählen<br />

zugr<strong>und</strong>e liegen. Sie werden <strong>im</strong> Einzelnen mit den folgenden fünf<br />

Prinzipien des Zählens vertraut (Gelman <strong>und</strong> Gallistel 1978):<br />

1. Eins-zu-eins-Korrespondenz: Jedes Objekt soll mit genau einem<br />

Zahlwort bezeichnet werden.<br />

2. Stabile Reihenfolge: Die Zahlen sollen <strong>im</strong>mer in derselben<br />

Reihenfolge aufgesagt werden.<br />

3. Kardinalzahlprinzip: Die Anzahl der Objekte in der Menge<br />

entspricht der letzten genannten Zahl.<br />

4. Irrelevanz der Reihenfolge: Die Objekte können von links<br />

nach rechts, von rechts nach links oder in jeder beliebigen<br />

anderen Reihenfolge abgezählt werden.<br />

5. Abstraktion: Jede (endliche) Menge diskreter Objekte oder<br />

Ereignisse kann gezählt werden.<br />

Viele Belege dafür, dass Kinder <strong>im</strong> Vorschulalter diese Prinzipien<br />

verstehen, ergeben sich aus ihrer Beurteilung von zwei Arten von<br />

Zählverfahren: falsche Zählweisen <strong>und</strong> unübliche, aber korrekte<br />

Zählweisen. Wenn Vier- oder Fünfjährige sehen, wie eine Puppe<br />

in einer Weise zählt, die das Prinzip der Eins-zu-eins-Korrespondenz<br />

verletzt, zum Beispiel, indem dasselbe Objekt mit zwei<br />

Zahlwörtern bezeichnet wird (. Abb. 7.8a), sagen sie einheitlich,<br />

dass falsch gezählt wurde (Frye et al. 1989; Gelman et al. 1986).<br />

Sehen sie dagegen, wie die Puppe zwar auf ungewohnte Weise<br />

zählt, dabei aber keines der Prinzipien verletzt, zum Beispiel, indem<br />

sie in der Mitte einer Reihe mit dem Zählen beginnt, aber<br />

dennoch alle Objekte mitzählt (. Abb. 7.8b), beurteilen sie den<br />

Zählvorgang auch dann als korrekt, wenn sie selbst, wie sie sagen,<br />

anders zählen würden. Die Fähigkeit zu erkennen, dass Verfahren,<br />

die sie selbst nicht anwenden würden, dennoch korrekt sind,<br />

zeigt, dass sie die Prinzipien verstehen, die korrektes Zählen von<br />

fehlerhaftem Zählen unterscheiden.<br />

Überall auf der Welt lernen Kinder Zahlwörter, aber die<br />

Geschwindigkeit der betreffenden Lernprozesse hängt von dem<br />

1<br />

2 3 4<br />

3 1 2<br />

..<br />

Abb. 7.8 Zählweisen. Zählweisen, wie sie bei Frye et al. (1989) sowie Gelman<br />

et al. (1986) verwendet wurden. a Ein fehlerhaftes Zählverfahren. b Ein<br />

unübliches, aber korrektes Zählverfahren<br />

Höchste gezählte Zahl<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

3<br />

China<br />

USA<br />

Alter (Jahre)<br />

..<br />

Abb. 7.9 Wie weit Kinder zählen können. Mit drei Jahren können Kinder in<br />

China <strong>und</strong> in den USA etwa gleich weit zählen, aber mit vier <strong>und</strong> fünf Jahren<br />

können chinesische Kinder viel weiter zählen als ihre amerikanischen Altersgenossen.<br />

Ein Gr<strong>und</strong> für die schnellere Entwicklung des Zählvermögens bei<br />

chinesischen Kindern dürfte darin liegen, dass die chinesischen Zahlwörter<br />

<strong>im</strong> Zehnerbereich einem einheitlichen, leicht erkennbaren Muster folgen,<br />

während die englischen Zahlwörter zwischen 10 <strong>und</strong> 20 praktisch einzeln<br />

gelernt werden müssen. (Daten aus Miller et al. 1995)<br />

System der Zahlwörter in ihrer Kultur ab. Zum Beispiel bemerkten<br />

Miller et al. (1995), dass die meisten Fünfjährigen in China<br />

bis 100 oder weiter zählen können, während die meisten ihrer<br />

Altersgenossen in den USA nicht annähernd so weit zählen können.<br />

Die höheren Zählleistungen der chinesischen Kinder dürften<br />

zum Teil daran liegen, dass ihr Zahlensystem regelmäßiger<br />

ist, insbesondere zwischen 10 <strong>und</strong> 20. Im Chinesischen wie <strong>im</strong><br />

Englischen werden die Zahlen über 20 nach einer Regel gebildet:<br />

zuerst der Name der Zehnerstelle, dann der Name der Einerstelle<br />

(also z. B. twenty-one, twenty-two). Im Deutschen ist es übrigens<br />

gerade andersherum; wir nennen – auch anders als <strong>im</strong> Französischen<br />

oder Italienischen – bei Zahlen über 20 zuerst die Einer-<br />

<strong>und</strong> dann die Zehnerstelle („ein-<strong>und</strong>-zwanzig“, „zwei-<strong>und</strong>zwanzig“),<br />

was nicht mit der Schreibweise der Zahlzeichen von<br />

links nach rechts korrespondiert <strong>und</strong> zu Zahlendrehern führen<br />

kann. Im Chinesischen folgen jedoch, anders als <strong>im</strong> Englischen,<br />

auch die Zahlen zwischen 11 <strong>und</strong> 19 der genannten Regel (also in<br />

der Art von „zehn-eins“, „zehn-zwei“ etc.). Im Englischen gibt es<br />

keine Regel, nach der sich alle Zahlen zwischen 11 <strong>und</strong> 19 bilden<br />

lassen, sodass man praktisch jede Zahl einzeln lernen muss. In<br />

diesem Zahlenbereich st<strong>im</strong>men das Deutsche <strong>und</strong> das Englische<br />

überein, sowohl hinsichtlich der Sonderwörter für 11 <strong>und</strong> 12 als<br />

auch hinsichtlich des weiteren Wortbildungsprinzips der Zahlen<br />

von 13 bis 19 (z. B. „vier-zehn“, four-teen).<br />

. Abbildung 7.9 illustriert den offenk<strong>und</strong>igen Einfluss dieses<br />

kulturellen Unterschieds der Zahlensysteme. Dreijährige zählen<br />

in den USA <strong>und</strong> in China vergleichbar weit – beide können<br />

von 1 bis 10 zählen, deren Zahlnamen weder in der englischen<br />

noch in der chinesischen Sprache irgendeiner ersichtlichen Regel<br />

folgen. Chinesische Vierjährige lernen dann jedoch schnell die<br />

Zehnerzahlen <strong>und</strong> die folgenden Zehnerschritte, während die<br />

4<br />

5


266<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

1<br />

Habituationsphase<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

a<br />

Kongruente Bedingung<br />

Testphase<br />

Inkongruente Bedingung<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

b<br />

..<br />

Abb. 7.10 Die allgemeine Repräsentation von Größe bei Säuglingen. Um zu prüfen, ob Säuglinge über ein allgemeines Gefühl für Größe verfügen, zeigten<br />

Lourenco <strong>und</strong> Longo (2010) ihnen Bildpaare (a), bei denen die Dekorationsmuster mit einer quantitativen Größe verknüpft waren – hier das Muster weißer<br />

Streifen auf schwarzem Gr<strong>und</strong> mit der größeren Länge <strong>und</strong> Breite von Objekten. b Nach der Habituationsphase sahen die Kinder das Muster weißer Streifen<br />

auf schwarzem Gr<strong>und</strong> nun entweder bei der größeren Zahl von Objekten (kongruente Bedingung) oder aber bei der geringeren Zahl von Objekten (inkongruente<br />

Bedingung), wobei statt der Länge <strong>und</strong> Breite als Größend<strong>im</strong>ension die Zahl ausschlaggebend war. Bei den inkongruenten Bildpaaren schauten<br />

die Kinder länger hin <strong>und</strong> ließen damit ihre Erwartung erkennen, dass das Muster, das bei der Habituierung mit der größeren Quantität in einer D<strong>im</strong>ension<br />

verb<strong>und</strong>en war, auch be<strong>im</strong> Test weiterhin mit der größeren Quantität in einer anderen D<strong>im</strong>ension einhergehen sollte. Dabei ergab sich der gleiche Bef<strong>und</strong> bei<br />

wechselnden Kombinationen der D<strong>im</strong>ensionen Zahl, räumlicher Ausdehnung oder Zeit während der Habituations- bzw. Testphase<br />

Gleichaltrigen in den USA mit den Zehnerzahlen noch längere<br />

Zeit Schwierigkeiten haben. Der Unterschied <strong>im</strong> Sprachsystem<br />

ist aber nicht der einzige Gr<strong>und</strong>, warum das Zählvermögen amerikanischer<br />

Kinder hinter dem der chinesischen Kinder zurückbleibt.<br />

Die chinesische Kultur legt viel mehr Wert auf mathematische<br />

Fertigkeiten als die US-amerikanische, <strong>und</strong> chinesische<br />

Vorschulkinder sind demzufolge <strong>im</strong> allgemeinen Umgang mit<br />

Zahlen fortgeschrittener als ihre amerikanischen Altersgenossen,<br />

sowohl was das Rechnen als auch was das Zahlenstrahlschätzen<br />

anbetrifft (<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Mu 2008). Gleichwohl scheint die größere<br />

Einfachheit des chinesischen Zahlwörtersystems <strong>im</strong> Bereich der<br />

Zehnerzahlen dazu beizutragen, dass Kinder das Zählen früher<br />

beherrschen.<br />

Die Beziehungen zwischen den Konzepten<br />

von Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl<br />

Piaget (1941/1994) ging davon aus, dass Säuglinge nur über einen<br />

allgemeinen, <strong>und</strong>ifferenzierten Begriff von Größe verfügen<br />

<strong>und</strong> noch keine spezifischen Konzepte von Raum, Zahl <strong>und</strong> Zeit<br />

entwickelt haben. Er nahm an, dass sie zwar wissen, wenn etwas<br />

groß ist, aber das, was größere Ausdehnung, größere Zahl <strong>und</strong><br />

größere Zeitdauer ausmacht, in ihrem Konzept von Größe oder<br />

Menge nicht unterscheiden. Wie die spätere Forschung gezeigt<br />

hat, unterscheiden Säuglinge durchaus zwischen Ausdehnung,<br />

Zahl <strong>und</strong> Zeit. Wenn man ihnen wiederholt Anordnungen aus<br />

gleich vielen Objekten zeigt, dann aber die Anzahl der Objekte<br />

ändert, dishabituieren die Kinder, auch wenn die Darbietungszeit<br />

<strong>und</strong> die räumliche Ausdehnung der Objekte unverändert bleibt<br />

(Xu <strong>und</strong> Arriaga 2007; Xu <strong>und</strong> Spelke 2000).<br />

Die Tatsache, dass die Säuglinge bereits über spezifische<br />

Raum-, Zeit- <strong>und</strong> Zahlkonzepte verfügen, bedeutet allerdings<br />

nicht, dass sie kein allgemeines <strong>und</strong>ifferenziertes Größen- oder<br />

Mengenkonzept hätten, wie es Piaget angenommen hat. Tatsächlich<br />

fanden Lourenco <strong>und</strong> Longo (2010), dass neun Monate<br />

alte Säuglinge ein allgemeines Konzept von Größe in Bezug auf<br />

Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl zeigen. Die Kinder wurde bei dieser Untersuchung<br />

auf Dekorationsmuster bei zwei unterschiedlichen<br />

Objektgrößen habituiert (. Abb. 7.10a), wobei jedes Dekorationsmuster<br />

(z. B. schwarz mit weißen Streifen) stets bei dem kleineren<br />

bzw. größeren Objekt auftrat (größere Länge <strong>und</strong> Breite<br />

als D<strong>im</strong>ension der räumlichen Ausdehnung). Anschließend<br />

wurden Objekte gezeigt, bei denen die Beziehung zwischen Dekorationsmuster<br />

<strong>und</strong> relativer Objektgröße in einer anderen D<strong>im</strong>ension<br />

übernommen oder aber geändert wurde (. Abb. 7.10b).<br />

Beispielsweise konnten Kinder, die auf einen Zusammenhang<br />

zwischen dem Muster aus weißen Streifen auf schwarzem Gr<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> räumlicher Größe des Objekts habituiert hatten, anschließend<br />

dieses Muster bei einer relativ viele Objekte umfassenden<br />

Anordnung (kongruente Bedingung) oder aber bei einer Anordnung<br />

von weniger Objekten (inkongruente Bedingung) sehen.<br />

Laurenco <strong>und</strong> Longo stellten fest, dass die Säuglinge dishabituierten,<br />

wenn das Dekorationsmuster, das zuvor mit dem größeren<br />

St<strong>im</strong>ulus assoziiert gewesen war, nun mit dem in der neuen<br />

D<strong>im</strong>ension kleineren St<strong>im</strong>ulus einherging; allerdings trat keine<br />

Dishabituierung ein, solange das Muster in Verbindung mit dem<br />

größeren St<strong>im</strong>ulus in der neuen D<strong>im</strong>ension auftrat. Ähnliche<br />

Bef<strong>und</strong>e ergaben sich unabhängig davon, ob die zuerst habituierte<br />

D<strong>im</strong>ension die räumliche Ausdehnung, die Zahl oder die<br />

Zeit betraf, <strong>und</strong> zu welcher der drei D<strong>im</strong>ensionen anschließend<br />

gewechselt wurde.


Zusammenfassung<br />

267 7<br />

Andere Studien führten zum gleichen Schluss (de Hevia <strong>und</strong><br />

Spelke 2010; Srinivasan <strong>und</strong> Carey 2010). Beispielsweise müssen<br />

bei solchen Diskr<strong>im</strong>inierungsaufgaben die relativen Größen der<br />

St<strong>im</strong>uli ein best<strong>im</strong>mtes Verhältnis aufweisen, damit Kinder eines<br />

best<strong>im</strong>mten Alters sie unterscheiden können – <strong>und</strong> das gilt unabhängig<br />

davon, ob Raum, Zeit oder Zahl jeweils als Größend<strong>im</strong>ension<br />

verglichen wird (Brannon et al. 2006, 2007). Außerdem<br />

sind überlappende Gehirnbereiche der intraparietalen Furche bei<br />

der Repräsentation aller drei D<strong>im</strong>ensionen beteiligt (Dehaene<br />

<strong>und</strong> Brannon 2011). Offenbar haben Säuglinge beides, ein allgemeines<br />

Konzept von Größe, wie es Piaget vermutet hat, <strong>und</strong><br />

zusätzlich spezifische Konzepte von Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl, von<br />

denen Piaget angenommen hat, dass sie Säuglingen noch fehlen.<br />

In Kürze | |<br />

Das Gr<strong>und</strong>verständnis für Kausalität tritt extrem früh in der<br />

Entwicklung auf. In ihrem ersten Lebensjahr unterscheiden<br />

Kinder zwischen physikalischen Ursachen, bei denen Bewegungen<br />

durch direkten Kontakt entstehen, <strong>und</strong> psychischen<br />

Ursachen, bei denen Handlungen durch Aufforderung,<br />

psychologische Bedürfnisse, Überzeugungen <strong>und</strong> Wünsche<br />

entstehen. Im Verlauf der Vor- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schulzeit werden<br />

Kinder zunehmend versierter <strong>im</strong> Erschließen von Kausalbeziehungen,<br />

auch wenn diese Beziehungen komplexer sind <strong>und</strong><br />

ein tieferes Verständnis von Ursachen, Wirkungen <strong>und</strong> den<br />

sie verbindenden Mechanismen erfordern. Jedoch existiert<br />

der Glaube an Zauberei <strong>und</strong> Übernatürliches gleichzeitig mit<br />

dem wachsenden Verständnis kausaler Mechanismen weiter,<br />

insbesondere in der Zeit vor dem Schuleintritt.<br />

Menschen sind, ebenso wie Tiere, biologisch darauf vorbereitet,<br />

best<strong>im</strong>mte Arten räumlicher Information in speziellen Bereichen<br />

des Gehirns zu codieren. Ab ihrem ersten Lebensjahr<br />

repräsentieren Kinder räumliche Positionen relativ zu ihrem<br />

eigenen Körper <strong>und</strong> auch relativ zu anderen Merkmalen der<br />

Umgebung, zum Beispiel auffälligen Orientierungspunkten.<br />

Eigene Fortbewegung scheint für die Entwicklung räumlicher<br />

Repräsentationen entscheidend zu sein.<br />

Ein elementares Zeitgefühl ist ebenfalls schon sehr früh vorhanden;<br />

mit drei Monaten, wenn nicht schon früher, besitzen<br />

Kinder ein Gefühl für die Reihenfolge, in der Ereignisse auftraten.<br />

Es dauert jedoch bis zum Alter von drei bis fünf Jahren,<br />

ein akkurates Gefühl für die Zeitdauer zu entwickeln, <strong>und</strong> die<br />

Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken über Zeit wird noch<br />

später erworben.<br />

Ein gr<strong>und</strong>legendes Erkennen von Unterschieden zwischen<br />

Mengen mit einem, zwei oder drei Elementen oder Ereignissen<br />

ist <strong>im</strong> ersten Lebensjahr vorhanden. Für auch nur geringfügig<br />

größere Mengen bringen Kinder ein vergleichbares Verständnis<br />

erst mit drei oder vier Jahren auf. In der Vorschulzeit<br />

lernen Kinder auch die Prinzipien, die dem Zählen zugr<strong>und</strong>e<br />

liegen, zum Beispiel, dass jedes Objekt nur genau einmal<br />

gezählt werden darf. Mit fünf Jahren lernen die meisten das<br />

Zählsystem ihrer Sprache. Beeinflusst wird das Zählenlernen<br />

sowohl von der Regelhaftigkeit des Zahlensystems in der<br />

jeweiligen Muttersprache als auch davon, welchen Wert die<br />

jeweilige Kultur auf mathematische Fähigkeiten legt.<br />

Zusätzlich zu den spezifischen Repräsentationen von Raum,<br />

Zeit <strong>und</strong> Zahl verfügen Säuglinge über eine allgemeine Repräsentation<br />

von Größe, die alle drei D<strong>im</strong>ensionen umspannt.<br />

Wenn ein Dekorationsmuster mit einem größeren Wert in<br />

einer der drei D<strong>im</strong>ensionen assoziiert ist, erwarten die Kinder,<br />

dass dieses Muster auch bei einer anderen D<strong>im</strong>ension mit<br />

dem größeren Wert einhergeht. Möglicherweise trägt die<br />

Überlappung der Gehirnbereiche, die an der Repräsentation<br />

dieser drei D<strong>im</strong>ensionen beteiligt sind, zur allgemeinen<br />

Repräsentation von Größe oder Menge bei.<br />

Zusammenfassung<br />

-<br />

Um zu verstehen, was sie erleben, müssen Kinder lernen,<br />

dass die Welt verschiedenartige Typen von Objekten enthält:<br />

Menschen, andere Lebewesen <strong>und</strong> unbelebte Gegenstände.<br />

Auch benötigen Kinder ein Gr<strong>und</strong>verständnis von<br />

Kausalität, Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl, sodass sie in der Lage<br />

sind, ihre Erfahrungen danach zu codieren, warum, wo,<br />

wann <strong>und</strong> wie oft Ereignisse auftreten.<br />

-<br />

Die Dinge verstehen: Wer oder was<br />

Die ersten Objektkategorien von Kindern beruhen größtenteils<br />

auf perzeptueller Ähnlichkeit, insbesondere auf<br />

Formähnlichkeit. Zum Ende des ersten Lebensjahres bilden<br />

-<br />

sie auch Klassen von Objekten mit gleicher Funktion.<br />

Im Alter von zwei oder drei Jahren bilden Kinder Klassenhierarchien<br />

vom Typ Tier – H<strong>und</strong> – Pudel oder Möbel –<br />

-<br />

Stuhl – Barhocker.<br />

Ab der frühen Kindheit verhalten sich Kinder gegenüber<br />

Menschen anders als gegenüber Tieren oder unbelebten<br />

Objekten. Zum Beispiel lächeln sie Menschen mehr an als<br />

-<br />

Kaninchen oder Roboter.<br />

Mit vier oder fünf Jahren entwickeln Vorschulkinder eine<br />

elementare, aber wohlorganisierte alltagspsychologische<br />

Theory of Mind, in der sie ihr Verständnis von menschlichem<br />

Verhalten strukturieren. Eine wichtige Prämisse besteht<br />

darin, dass Wünsche <strong>und</strong> Überzeugungen best<strong>im</strong>mte<br />

-<br />

Handlungsweisen motivieren.<br />

Dreijährigen fällt es sehr schwer zu begreifen, dass andere<br />

Menschen aufgr<strong>und</strong> ihrer Überzeugungen handeln, insbesondere<br />

auch dann, wenn diese Überzeugungen falsch sind;<br />

viele Kinder verstehen das vor dem fünften Lebensjahr noch<br />

-<br />

nicht.<br />

Tiere <strong>und</strong> Pflanzen, besonders aber Tiere, sind für kleine<br />

Kinder von größtem Interesse. Wenn Tiere anwesend sind,<br />

-<br />

werden sie mit großer Aufmerksamkeit betrachtet.<br />

Mit vier Jahren haben Kinder ein recht differenziertes<br />

Verständnis von Lebewesen entwickelt, das kohärente<br />

Vorstellungen über unsichtbare Prozesse wie Wachstum,<br />

Vererbung, Krankheit <strong>und</strong> Heilung einschließt. Sowohl<br />

ihre natürliche Begeisterung für Lebewesen als auch der<br />

Informationsinput, den sie aus der Umwelt erhalten, trägt<br />

zur Erweiterung ihres Wissens über Pflanzen <strong>und</strong> Tiere bei.


1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

268<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

-<br />

Die Umstände verstehen: Wo, wann, warum <strong>und</strong> wie viel<br />

Die Entwicklung des kausalen Denkens beginnt bei physikalischen<br />

Ereignissen ebenfalls in der frühen Kindheit.<br />

Zwischen sechs <strong>und</strong> zwölf Monaten verstehen Kinder, was<br />

vermutlich passieren wird, wenn zwei Objekte kollidieren.<br />

Das Verständnis der kausalen Beziehungen zwischen<br />

Handlungen hilft einjährigen Kindern, diese Handlungen<br />

-<br />

<strong>im</strong> Gedächtnis zu behalten.<br />

Mit vier oder fünf Jahren scheinen Kinder zu erkennen, dass<br />

Ursachen notwendig sind, damit Ereignisse eintreten. Wenn<br />

keine Ursache offensichtlich ist, suchen sie nach einer. Im<br />

Vorschulalter glauben Kinder jedoch sowohl an Magie <strong>und</strong><br />

-<br />

Zauberei als auch an Ursache-Wirkungs-Beziehungen.<br />

Menschen sind, wie andere Tiere auch, biologisch darauf<br />

vorbereitet, räumliche Sachverhalte zu codieren. In frühester<br />

Kindheit codieren sie die Orte anderer Objekte hauptsächlich<br />

relativ zu ihrer eigenen Position <strong>und</strong> zu externen<br />

Orientierungspunkten. Mit dem Erwerb der Fähigkeit, sich<br />

aus eigener Kraft fortzubewegen, bekommen sie ein Gefühl<br />

für Raumpositionen relativ zur allgemeinen Umgebung wie<br />

-<br />

auch relativ zu ihrer aktuellen Position.<br />

Blind geborene Kinder besitzen überraschend gute räumliche<br />

Repräsentationen; einige Aspekte ihrer Verarbeitung<br />

von räumlichen Informationen, insbesondere die Verarbeitung<br />

von Gesichtern, erreichen jedoch nicht das normale<br />

Maß, selbst wenn in früher Kindheit chirurgisch eingegriffen<br />

wurde, um die Sehbehinderung zu korrigieren.<br />

-<br />

So wie Kinder mit der Fähigkeit auf die Welt kommen,<br />

best<strong>im</strong>mte Aspekte des Raumes zu codieren, so sind sie<br />

auch mit der Fähigkeit geboren, best<strong>im</strong>mte Aspekte der<br />

Zeit zu codieren. Schon mit drei Monaten codieren sie die<br />

Reihenfolge, in der Ereignisse auftreten. Säuglinge dieses<br />

Alters können auch anhand von regelmäßigen Abfolgen<br />

-<br />

vergangener Ereignisse zukünftige Ereignisse antizipieren.<br />

Mit fünf Jahren können Kinder in gewissem Sinn logisch<br />

über Zeit nachdenken; wenn zwei Ereignisse gleichzeitig<br />

begannen <strong>und</strong> eines später endete als das andere, können<br />

sie erschließen, dass das später endende länger gedauert haben<br />

muss. Kinder sind zu solchen Schlüssen aber nur in der<br />

Lage, wenn sie in ihrer Wahrnehmung nicht durch störende<br />

-<br />

Reize abgelenkt sind.<br />

Ein elementares Verstehen von sehr kleinen Zahlen existiert<br />

schon in frühester Kindheit. Säuglinge bemerken Unterschiede<br />

in der Anzahl sehr kleiner Mengen von Objekten<br />

<strong>und</strong> zwischen Ereignissen, die unterschiedlich oft wiederholt<br />

werden. Sie erkennen auch bereits Unterschiede zwischen<br />

Mengen von Objekten oder Ereignissen, wenn die Anzahlen<br />

der Mengenelemente relativ zueinander stark abweichen,<br />

-<br />

also in einem großen Verhältnis zueinander stehen.<br />

Im Alter von drei Jahren lernen die meisten Kinder, bis zu<br />

zehn Objekte abzuzählen. Ihr Zählen scheint ein Verständnis<br />

der Prinzipien widerzuspiegeln, die dem Zählen zugr<strong>und</strong>e<br />

liegen, beispielsweise dass jedes gezählte Objekt nur mit einem<br />

einzigen Zahlwort bezeichnet werden darf. Wie schnell Dreijährige<br />

dann über 10 hinaus zählen lernen, ist auch ein Spiegel<br />

kultureller Einflüsse durch die sprachliche Struktur von Zahlwörtern<br />

<strong>und</strong> die Wertschätzung mathematischen Wissens.<br />

-<br />

Kinder<br />

verfügen in einem Alter von neun Monaten über<br />

eine allgemeine Repräsentation von Größe in Bezug auf die<br />

D<strong>im</strong>ensionen Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl.<br />

Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />

1. Warum ist es nützlich für Menschen, ihre Begriffskategorien<br />

hierarchisch zu strukturieren in der Art Tier – H<strong>und</strong> –<br />

Pudel oder Fahrzeug – Auto – Ferrari?<br />

2. Hatten Sie als Kind einen fiktiven Begleiter, oder kennen<br />

Sie jemanden, der einen solchen hatte? Welche Funktionen<br />

erfüllte der unsichtbare Fre<strong>und</strong>, <strong>und</strong> warum, glauben<br />

Sie, haben Sie oder dieser andere Mensch aufgehört, sich<br />

einen Begleiter vorzustellen?<br />

3. Warum sind Ihrer Meinung nach Fünfjährige so viel besser<br />

als Dreijährige, wenn es um Aufgaben zu falschen Überzeugungen<br />

geht?<br />

4. Eigene Fortbewegung verbessert die räumliche Repräsentation.<br />

Welcher evolutionäre Sinn könnte dahinterstecken?<br />

5. Beschreiben Sie die Gedanken, die einem fünfjährigen<br />

Kind durch den Kopf gehen mögen, wenn es zwei Nikoläuse<br />

aneinander vorbeigehen sieht.<br />

6. Meinen Sie, dass Säuglinge ein elementares Verständnis<br />

vom Rechnen haben? Warum sind Sie dieser Meinung –<br />

beziehungsweise warum nicht?<br />

7. Welchen Vorteil könnte es für Kinder haben, über eine allgemeine<br />

Repräsentation von Größe zu verfügen <strong>und</strong> nicht<br />

nur spezifische Repräsentationen von Raum, Zeit <strong>und</strong> Zahl?<br />

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270<br />

Kapitel 7 • Die Entwicklung von Konzepten<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

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4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

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275 8<br />

Intelligenz <strong>und</strong> schulische<br />

Leistungen<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Was ist Intelligenz? – 277<br />

Intelligenz als einheitliche Persönlichkeits eigenschaft – 277<br />

Intelligenz als Kombination weniger gr<strong>und</strong>legender Fähigkeiten – 277<br />

Intelligenz als Zusammenspiel vieler Prozesse – 278<br />

Ein Lösungsvorschlag – 278<br />

Intelligenzmessung – 279<br />

Die Inhalte von Intelligenztests – 279<br />

Der Intelligenzquotient (IQ) – 280<br />

IQ-Werte als Prädiktoren von Lebenserfolg – 283<br />

Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung – 284<br />

Eigenschaften des <strong>Kindes</strong> – 284<br />

Der Einfluss der unmittelbaren Umwelt – 285<br />

Der Einfluss der Gesellschaft – 287<br />

Alternative Ansätze zur Intelligenz – 293<br />

Der Erwerb schulischer Fähigkeiten:<br />

Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik – 294<br />

Lesen – 294<br />

Individuelle Unterschiede – 298<br />

Schreiben – 299<br />

Mathematik – 300<br />

Angstfach Mathematik – 303<br />

Zusammenfassung – 305<br />

Literatur – 306<br />

S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


276<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

© Sabina Pauen<br />

Im Jahre 1904 sah sich der französische Minister für Bildung<br />

<strong>und</strong> Erziehung einem Problem gegenüber. Frankreich hatte<br />

1882 die allgemeine Schulpflicht eingeführt, wie damals viele<br />

andere Staaten in Westeuropa <strong>und</strong> Nordamerika; in Deutschland<br />

war die Schulpflicht bereits 1592 <strong>im</strong> Herzogtum Pfalz-<br />

Zweibrücken weltweit zum ersten Mal proklamiert <strong>und</strong> von<br />

Friedrich dem Großen bereits Mitte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>im</strong><br />

Zuge der Aufklärung eingeführt worden, bevor sie 1917 Eingang<br />

in die We<strong>im</strong>arer Verfassung fand. Das Problem bestand<br />

darin, dass manche Kinder <strong>im</strong> Schulunterricht nicht gut lernten.<br />

Deshalb drängte der Minister auf ein Mittel, mit dem sich<br />

Kinder identifizieren lassen, die bei dem normalen Unterricht<br />

Schwierigkeiten haben mitzukommen <strong>und</strong> besondere Maßnahmen<br />

erforderlich machen. Sein Problem war: Wie konnte man<br />

solche Kinder identifizieren?<br />

Ein offensichtlicher Weg bestand darin, Lehrer diejenigen<br />

Schüler aus ihren Klassen angeben zu lassen, die besondere<br />

Schwierigkeiten hatten. Der Minister machte sich Gedanken darüber,<br />

dass die Lehrer voreingenommene Bewertungen abgeben<br />

könnten. Insbesondere befürchtete er, dass einige der Lehrer Vorurteile<br />

gegenüber armen Kindern haben könnten <strong>und</strong> deshalb<br />

auch solchen Kindern Lernschwierigkeiten attestieren würden,<br />

die sehr wohl lernfähig waren. Er beauftragte daher Alfred Binet,<br />

einen französischen Psychologen, der sich seit 15 Jahren mit<br />

Intelligenz befasste, einen leicht anwendbaren, objektiven Intelligenztest<br />

zu entwickeln.<br />

Zur damaligen Zeit herrschte allgemein die Ansicht, dass<br />

Intelligenz auf einfachen Fähigkeiten beruhe: beispielsweise auf<br />

der Fähigkeit, Objekte mit den von ihnen produzierten Geräuschen<br />

zu assoziieren (etwa Enten mit Quaken, Glocken mit Läuten<br />

usw.), auf einer schnellen Reaktionsfähigkeit auf Reize <strong>und</strong><br />

auf der Fähigkeit herauszufinden, ob zwei Objekte gleich oder<br />

verschieden sind. Entsprechend dieser Sichtweise lernen Kinder,<br />

die bei solchen einfachen Aufgaben besser abschneiden als<br />

ihre Altersgenossen, schneller <strong>und</strong> werden deshalb intelligenter.<br />

Die Theorie war plausibel, aber falsch. Inzwischen ist klar, dass<br />

einfache Fähigkeiten nur schwach mit den breiteren, alltäglichen<br />

Indikatoren der Intelligenz zusammenhängen, beispielsweise mit<br />

der schulischen Leistung.<br />

Binets Theorie wich von den allgemeinen Lebensweisheiten<br />

seiner Zeit ab. Er glaubte, dass die zentralen Komponenten der<br />

Intelligenz höhere <strong>und</strong> komplexere Fähigkeiten seien, wie etwa<br />

Problemlösen, schlussfolgerndes Denken <strong>und</strong> Urteilsfähigkeit,<br />

<strong>und</strong> er behauptete, dass Intelligenztests solche Fähigkeiten direkt<br />

bewerten könnten. Deshalb sollten die Kinder in dem Test,<br />

den er <strong>und</strong> sein Mitarbeiter Théophile S<strong>im</strong>on entwickelte – dem<br />

Binet-S<strong>im</strong>on-Intelligenztest –, unter anderem Sprichwörter interpretieren,<br />

Rätsel lösen, Objekte benennen <strong>und</strong> Einzelbilder von<br />

Bildergeschichten so anordnen, dass die Abfolge einen Sinn ergab.<br />

Binets Ansatz war insofern erfolgreich, als er Kinder identifizieren<br />

konnte, die <strong>im</strong> normalen Unterricht <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer<br />

Lernschwierigkeiten haben würden. Allgemeiner gesprochen,<br />

korrelierte die Leistung der Kinder <strong>im</strong> Binet-S<strong>im</strong>on-Test nicht<br />

nur hoch mit ihren Schulnoten zum Zeitpunkt der Testung,<br />

sondern auch mit ihren Noten in späteren Jahren. Der Test war<br />

insofern ein Erfolg, als er das angestrebte Ziel von Intelligenztests<br />

erreichte – ein objektives Messinstrument der schulischen<br />

Eignung bereitzustellen, das gerechtere Entscheidungen über<br />

die Bildungsangebote ermöglicht <strong>und</strong> vorhersagt, welche Kinder<br />

ausgezeichnete Schulleistungen erbringen können, welche<br />

Kinder Förderunterricht brauchen werden <strong>und</strong> welche für die<br />

hochgradig selektive Auswahl für weiterführende Schulen <strong>und</strong><br />

Hochschulen zugelassen werden sollten.<br />

Über die praktische Bedeutung seines Tests hinaus beeinflusst<br />

Binets Ansatz zur Intelligenzmessung die Forschung auf<br />

diesem Gebiet bis heute. In den meisten Bereichen der kognitiven<br />

Entwicklung – Wahrnehmung, Sprache, Begriffsverstehen <strong>und</strong> so<br />

weiter – werden heute altersbezogene Veränderungen geprüft;<br />

man fragt danach, wie sich jüngere Kinder von älteren Kindern<br />

unterscheiden. Aber die Intelligenzforschung folgt insofern<br />

weiterhin Binet, als sie sich auch auf individuelle Unterschiede<br />

konzentriert – also auf die Frage, wie <strong>und</strong> warum sich Kinder<br />

<strong>im</strong> gleichen Alter voneinander unterscheiden <strong>und</strong> inwieweit die<br />

individuellen Unterschiede <strong>im</strong> Zeitverlauf eine Kontinuität aufweisen.<br />

Das Wesen individueller Unterschiede ist ein durchgängiges<br />

Thema <strong>im</strong> Bereich der <strong>Kindes</strong>entwicklung, aber nirgends<br />

ist die Konzentration auf individuelle Unterschiede intensiver als<br />

bei der Untersuchung der Intelligenz.<br />

Fragen, die die Entwicklung der Intelligenz betreffen, erhitzen<br />

die Gemüter, was nicht weiter verw<strong>und</strong>ert. Schließlich wirft<br />

die Forschung auf diesem Gebiet viele der gr<strong>und</strong>legendsten Fragen<br />

über das Wesen des Menschen auf: die Rolle von Vererbung<br />

<strong>und</strong> Umwelt, den Einfluss ethnischer Unterschiede, die Effekte<br />

von Reichtum <strong>und</strong> Armut <strong>und</strong> die Möglichkeit zu Fortschritten.<br />

Fast jeder vertritt – oft aus tiefster Überzeugung – eine eigene<br />

Meinung dazu, warum manche Menschen intelligenter sind als<br />

andere.<br />

Die Intelligenzforschung hat stark zum Verständnis aller<br />

Leitthemen dieses Buches beigetragen: des Wesens <strong>und</strong> der Ursprünge<br />

von individuellen Unterschieden, der Beiträge des aktiven<br />

<strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> des soziokulturellen Kontexts, der Art, wie Anlage <strong>und</strong><br />

Umwelt gemeinsam die Entwicklung formen, des Ausmaßes der<br />

Kontinuität bei Persönlichkeit <strong>und</strong> Charakter, der Mechanismen<br />

der Veränderung <strong>und</strong> schließlich des Zusammenhangs zwischen<br />

Forschung <strong>und</strong> <strong>Kindes</strong>wohl. Bevor wir jedoch Forschungsarbeiten<br />

zur Entwicklung der Intelligenz eingehender betrachten, wollen<br />

wir zuerst eine Frage aufwerfen, die einfach klingt, aber <strong>im</strong> Zentrum<br />

vieler Kontroversen steht: Was ist Intelligenz?


Was ist Intelligenz?<br />

277 8<br />

Was ist Intelligenz?<br />

Intelligenz ist bekannt dafür, dass sie sich schwer definieren lässt.<br />

Aber das hält die wenigsten Menschen davon ab, es trotzdem zu<br />

versuchen. Die Schwierigkeit besteht zum Teil darin, dass sich Intelligenz<br />

auf drei Analyseebenen beschreiben lässt: als einheitliches<br />

Merkmal, als zusammengesetzte Eigenschaft aus wenigen Komponenten<br />

<strong>und</strong> als komplexere Eigenschaft aus vielen Komponenten.<br />

Intelligenz als einheitliche Persönlichkeitseigenschaft<br />

Manche Forscher betrachten Intelligenz als eine einzige Eigenschaft,<br />

die alle Aspekte von kognitiven Funktionen beeinflusst.<br />

Für diese Vorstellung spricht die Tatsache, dass die Leistungen<br />

fast aller geistigen Aufgaben positiv miteinander korrelieren.<br />

Kinder, die bei einer intellektuellen Aufgabe gut abschneiden,<br />

sind <strong>im</strong> Allgemeinen auch bei anderen Aufgaben gut (Geary<br />

2005). Diese positiven Korrelationen treten sogar zwischen<br />

recht unähnlichen intellektuellen Aufgaben auf, zum Beispiel<br />

zwischen dem Behalten von Zahlenfolgen <strong>und</strong> dem Falten von<br />

Papier nach einer Mustervorlage. Die allgegenwärtigen positiven<br />

Korrelationen führten zu der Hypothese, dass jeder von uns<br />

über ein best<strong>im</strong>mtes Ausmaß an allgemeiner Intelligenz verfügt.<br />

Diese allgemeine Intelligenz wird in der Psychologie kurz als g<br />

(von general) bezeichnet. Es wird angenommen, dass g unsere<br />

Denk- <strong>und</strong> Lernfähigkeit bei allen geistigen Aufgaben beeinflusst<br />

(Jensen 1998; Spearman 1927).<br />

Allgemeine Intelligenz (g) – Der Teil der Intelligenz, der allen geistigen Aufgaben<br />

gemeinsam ist.<br />

Zahlreiche Quellen belegen die Nützlichkeit, Intelligenz als eine<br />

einheitliche Persönlichkeitseigenschaft zu betrachten. Maße der<br />

allgemeinen Intelligenz g, so wie sie die Gesamtwerte von Intelligenztests<br />

liefern, korrelieren positiv mit dem Schulabschluss <strong>und</strong><br />

dem Abschneiden bei Leistungstests (Gottfredson 2011). Auf der<br />

Ebene kognitiver Prozesse <strong>und</strong> Gehirnmechanismen korreliert g<br />

mit der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung (Coyle<br />

et al. 2012; Deary 2000), mit der Übertragungsgeschwindigkeit<br />

von Nerven<strong>im</strong>pulsen (Vernon et al. 2000) <strong>und</strong> mit dem Gehirnvolumen<br />

(McDaniel 2005). Auch korrelieren Maße von g sehr<br />

hoch mit dem Wissen von Menschen über Sachgebiete, die sie<br />

nicht in der Schule gelernt haben, beispielsweise Medizin, Recht,<br />

Kunstgeschichte, die Bibel <strong>und</strong> so weiter (Lubinski <strong>und</strong> Humphreys<br />

1997). Es gibt somit gute Gründe, Intelligenz als einheitliche<br />

Persönlichkeitseigenschaft anzusehen, die unsere Fähigkeit<br />

zu denken <strong>und</strong> zu lernen umfasst.<br />

Intelligenz als Kombination<br />

weniger gr<strong>und</strong>legender Fähigkeiten<br />

Es gibt aber auch gute Gründe dafür, Intelligenz als eine aus mehreren<br />

Komponenten zusammengesetzte Eigenschaft zu betrachten.<br />

Die einfachste Annahme dieser Art geht davon aus, dass es<br />

zwei Typen von Intelligenz gibt: flüssige Intelligenz <strong>und</strong> kristalline<br />

-<br />

Intelligenz (Cattell 1987).<br />

Flüssige Intelligenz bezeichnet die Fähigkeit zu spontanem<br />

Denken, beispielsweise Schlussfolgerungen zu ziehen <strong>und</strong><br />

Beziehungen zwischen Konzepten zu verstehen, mit denen<br />

man zuvor noch nie etwas zu tun hatte. Sie ist eng verb<strong>und</strong>en<br />

mit der Fähigkeit, sich auf neue Aufgaben einzustellen,<br />

mit der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, mit der<br />

Kapazität des Arbeitsgedächtnisses <strong>und</strong> mit der Fähigkeit<br />

zur Aufmerksamkeitssteuerung (Blair 2006; Geary 2005).<br />

Flüssige Intelligenz – Die Fähigkeit zu spontanen Denkleistungen, um neuartige<br />

Probleme zu lösen.<br />

-<br />

Kristalline Intelligenz ist Faktenwissen über die Welt:<br />

Wissen über Wortbedeutungen, Rechenoperationen,<br />

Hauptstädte etc. Sie spiegelt das Langzeitgedächtnis für vorangegangene<br />

Erfahrungen wider <strong>und</strong> ist eng mit verbalen<br />

Fähigkeiten verknüpft.<br />

Kristalline Intelligenz – Das Faktenwissen über die Welt.<br />

Die Unterscheidung zwischen flüssiger <strong>und</strong> kristalliner Intelligenz<br />

wird durch die Tatsache unterstützt, dass Tests des einen<br />

Intelligenztyps untereinander höher korrelieren als mit Tests<br />

des jeweils anderen Intelligenztyps (Horn <strong>und</strong> McArdle 2007).<br />

Kinder, die bei einem Test der flüssigen Intelligenz gut abschneiden,<br />

werden dies also <strong>im</strong> Allgemeinen auch bei anderen Tests der<br />

flüssigen Intelligenz tun, aber nicht notwendigerweise auch bei<br />

Tests zur kristallinen Intelligenz. Außerdem folgen die beiden<br />

Intelligenztypen unterschiedlichen Entwicklungsverläufen. Die<br />

kristalline Intelligenz wächst kontinuierlich von frühen Lebensphasen<br />

bis ins hohe Alter, während die flüssige Intelligenz ihren<br />

Höhepunkt <strong>im</strong> frühen Erwachsenenalter <strong>im</strong> Alter von ungefähr<br />

20 Jahren erreicht <strong>und</strong> sich danach langsam verringert (Salthouse<br />

2009). Außerdem unterscheiden sich die Gehirnregionen, die bei<br />

den beiden Typen von Intelligenz jeweils erhöhte Aktivität zeigen:<br />

Der präfrontale Cortex ist besonders aktiv, wenn ein hohes<br />

Maß an fluider Intelligenz zu beobachten ist, <strong>und</strong> weniger aktiv<br />

bei einem höheren Maß an kristalliner Intelligenz (Blair 2006;<br />

Jung <strong>und</strong> Haier 2007).<br />

Eine etwas kompliziertere Betrachtungsweise der Intelligenz<br />

geht davon aus, dass sich die menschliche Intelligenz aus<br />

sieben pr<strong>im</strong>ären geistigen Fähigkeiten zusammensetzt, den<br />

Pr<strong>im</strong>ärfaktoren der Intelligenz (Thurstone 1938): Wortflüssigkeit,<br />

Sprachverständnis, schlussfolgerndes Denken, räumliches<br />

Vorstellungsvermögen, Rechenfertigkeit, Merkfähigkeit<br />

<strong>und</strong> Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Der wichtigste Beleg für<br />

die Zweckmäßigkeit dieser Aufteilung der Intelligenz in sieben<br />

Pr<strong>im</strong>ärfaktoren ähnelt dem Gr<strong>und</strong> für die Unterscheidung<br />

zwischen kristalliner <strong>und</strong> flüssiger Intelligenz: Die Leistungen<br />

bei verschiedenen Tests zur selben Fähigkeit korrelieren in der<br />

Regel stärker als be<strong>im</strong> Vergleich zu Tests einer der anderen Intelligenzfaktoren.<br />

Zum Beispiel sind die Faktoren „räumliches<br />

Vorstellungsvermögen“ <strong>und</strong> „Wahrnehmungsgeschwindigkeit“<br />

beides Maße der flüssigen Intelligenz, doch Kinder erbringen bei<br />

zwei Tests zum räumlichen Vorstellungsvermögen ähnlichere


278<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

Allgemeine Intelligenz g<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Flüssige<br />

Intelligenz<br />

• Sequenzielles<br />

Schlussfolgern<br />

• Induktives<br />

Schließen<br />

• Qualitatives<br />

Schließen<br />

Kristalline<br />

Intelligenz<br />

• Geschriebene<br />

Sprache<br />

• Sprachverstehen<br />

• Wortschatz<br />

Leistungen als bei einem Test zum räumlichen Vorstellungsvermögen<br />

<strong>und</strong> einem Test zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit.<br />

Im Vergleich der beiden Perspektiven geht die Einfachheit der<br />

Unterscheidung (die bei kristallin versus flüssig größer ist) zu<br />

Lasten der Genauigkeit (die bei den sieben Pr<strong>im</strong>ärfaktoren größer<br />

ist) <strong>und</strong> umgekehrt.<br />

Pr<strong>im</strong>ärfaktoren der Intelligenz – Sieben Fähigkeiten, die nach Thurstone entscheidend<br />

zur Intelligenz beitragen.<br />

Intelligenz als Zusammenspiel vieler Prozesse<br />

Einem dritten Ansatz zufolge umfasst Intelligenz zahlreiche<br />

voneinander getrennte Prozesse. Analysen der Informationsverarbeitungsprozesse<br />

be<strong>im</strong> Lösen von Intelligenztest-Items<br />

<strong>und</strong> bei alltäglichen geistigen Tätigkeiten wie Lesen, Schreiben<br />

<strong>und</strong> Rechnen lassen erkennen, dass viele unterschiedliche Prozesse<br />

beteiligt sind (z. B. Geary 2005). Dazu gehören Erinnern,<br />

Wahrnehmen, Aufmerksamkeit, Verstehen, Encodieren, Assoziieren,<br />

Generalisieren, Planen, schlussfolgerndes Denken,<br />

Konzeptbildung, Problemlösen, Entwickeln <strong>und</strong> Anwenden<br />

von Strategien <strong>und</strong> so weiter. Wenn man Intelligenz als vielschichtige<br />

Eigenschaft begreift, lassen sich die Prozesse, die an<br />

intelligentem Verhalten beteiligt sind, genauer beschreiben als<br />

mit Ansätzen, die Intelligenz als eine einzige Eigenschaft oder<br />

als eine aus wenigen Teilkomponenten zusammengesetzte Eigenschaft<br />

betrachten.<br />

Ein Lösungsvorschlag<br />

Lernen <strong>und</strong><br />

Gedächtnis<br />

(allgemein)<br />

• Gedächtnisspanne<br />

• Assoziatives<br />

Gedächtnis<br />

Visuelle<br />

Wahrnehmung<br />

(allgemein)<br />

• Visuelle<br />

Vorstellung<br />

• Raumrelation<br />

• Geschwindigkeit<br />

der Gestaltbildung<br />

Wie lassen sich diese widersprüchlichen Ansätze zur Intelligenz<br />

miteinander in Einklang bringen? Nach mehr als einem halben<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert des Studiums der Intelligenz gelang John B. Carroll<br />

(1993, 2005) eine große hierarchische Integration: das Drei-<br />

Schichten-Modell der Intelligenz (. Abb. 8.1). An der Spitze der<br />

Hierarchie steht g; in der Mitte befinden sich acht Fähigkeiten<br />

Auditive<br />

Wahrnehmung<br />

(allgemein)<br />

• Diskr<strong>im</strong>ination<br />

sprachlicher<br />

Laute<br />

• Allgemeine<br />

Diskr<strong>im</strong>ination<br />

von Geräuschen<br />

Gedächtnisabruf<br />

(allgemein)<br />

• Kreativität<br />

• Ideenflüssigkeit<br />

• Benennungsgeschwindigkeit<br />

mittlerer Allgemeinheit (welche sowohl flüssige <strong>und</strong> kristalline<br />

Intelligenz als auch spezifischere Fähigkeiten ähnlich der sieben<br />

von Thurstone vorgeschlagenen Pr<strong>im</strong>ärfaktoren umfassen); am<br />

unteren Ende der Hierarchie sind viele spezifische Prozesse angeordnet.<br />

Die allgemeine Intelligenz beeinflusst alle Fähigkeiten<br />

von mittlerem Allgemeinheitsgrad, <strong>und</strong> diese beeinflussen zusammen<br />

mit der allgemeinen Intelligenz die spezifischen Prozesse.<br />

Wenn man beispielsweise die allgemeine Intelligenz einer<br />

Person kennt, kann man ihre allgemeine Gedächtnisfähigkeit<br />

recht zuverlässig vorhersagen; kennt man beide Ausprägungen,<br />

ist eine recht gute Vorhersage der Gedächtnisspanne dieser Person<br />

möglich; mit der Kenntnis aller drei Ausprägungen kann<br />

man die Gedächtnisspanne dieser Person für den Umgang mit<br />

best<strong>im</strong>mten Inhaltstypen wie Wörtern, Buchstaben oder Zahlen<br />

sehr exakt vorhersagen.<br />

Drei-Schichten-Modell der Intelligenz – Ein Intelligenzstrukturmodell von<br />

Carroll mit der allgemeinen Intelligenz g an der Spitze, acht Fähigkeiten mittlerer<br />

Allgemeinheit in der Mitte <strong>und</strong> vielen spezifischen Prozessen am unteren<br />

Ende der Hierarchie.<br />

Carrolls umfassende Analyse der Forschungsliteratur weist darauf<br />

hin, dass alle drei Analyseebenen nötig sind, um die Gesamtheit aller<br />

bekannten Fakten über Intelligenz zu erklären. Die zutreffende<br />

Antwort auf die Frage „Ist Intelligenz eine einheitliche oder eine<br />

aus wenigen beziehungsweise vielen Komponenten zusammengesetzte<br />

Eigenschaft?“ scheint also „sowohl als auch“ zu lauten.<br />

In Kürze | |<br />

Kognitive<br />

Schnelligkeit<br />

(allgemein)<br />

• Bearbeitungstempo<br />

von Tests<br />

• Zahlengewandtheit<br />

• Wahrnehmungsgeschwindigkeit<br />

Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />

• Einfache<br />

Reaktionszeit<br />

• Reaktionszeit<br />

bei Wahlreaktion<br />

• Semantische<br />

Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />

..<br />

Abb. 8.1 In Carrolls Drei-Schichten-Modell der Intelligenz beeinflusst die allgemeine Intelligenz (g) mehrere Fähigkeiten auf mittlerer Ebene, die wiederum<br />

jeweils eine Vielzahl spezifischer Prozesse beeinflussen. Wie dieses Modell erkennen lässt, kann man Intelligenz sinnvoll als ein einheitliches Konstrukt, als ein<br />

kleines Konglomerat von Fähigkeiten <strong>und</strong> als eine sehr große Anzahl spezifischer Prozesse auffassen<br />

Intelligenz lässt sich als eine allgemeine Fähigkeit zu<br />

denken <strong>und</strong> zu lernen, als eine Kombination aus mehreren<br />

allgemeinen Fähigkeiten wie fluider <strong>und</strong> kristalliner<br />

Intelligenz oder auch als Zusammenspiel von zahlreichen<br />

spezifischen Fertigkeiten, Prozessen <strong>und</strong> Inhaltswissen<br />

verstehen. Alle drei Ebenen tragen zum Verständnis der<br />

Intelligenz bei.


Intelligenzmessung<br />

279 8<br />

Intelligenzmessung<br />

Auch wenn Intelligenz normalerweise als eine unsichtbare Fähigkeit<br />

des Denkens <strong>und</strong> Lernens betrachtet wird, muss jedes Intelligenzmaß<br />

auf beobachtbarem Verhalten beruhen. Wenn wir also<br />

sagen, eine Person sei intelligent, dann meinen wir, dass sich diese<br />

Person auf intelligente Weise verhält. Eine prof<strong>und</strong>e Erkenntnis<br />

Binets war, dass der beste Weg, Intelligenz zu messen, darin besteht,<br />

das Verhalten von Menschen bei Aufgaben zu beobachten,<br />

die viele unterschiedliche Typen von Intelligenz erfordern: Problemlösen,<br />

Gedächtnis, Sprachverstehen, räumliches Denken <strong>und</strong><br />

so weiter. Auch heutige Intelligenztests setzen den Gedanken fort,<br />

anhand von Stichproben aus Aufgaben unterschiedlichen Typs die<br />

verschiedenen Aspekte der Intelligenz zu erfassen.<br />

Intelligenztests werden sehr kontrovers diskutiert. Kritiker<br />

wie Ceci (1996) <strong>und</strong> Sternberg (2008) argumentieren, dass be<strong>im</strong><br />

Messen einer so komplexen <strong>und</strong> facettenreichen Qualität wie der<br />

Intelligenz ein wesentlich breiteres Spektrums von Fähigkeiten<br />

einbezogen werden müsste, als es bei derzeitigen Intelligenztests<br />

der Fall ist, dass die derzeitigen Intelligenztests kulturell verzerrt<br />

sowie vereinfachend <strong>und</strong> ethisch fragwürdig sind, weil sie die<br />

Intelligenz eines Menschen auf eine Zahl (den IQ) reduzieren.<br />

Auf der Gegenseite argumentieren die Befürworter der Intelligenztests<br />

(z. B. Gottfredson 1997; Horn <strong>und</strong> McArdle 2007),<br />

dass diese Tests besser als jede andere Methode Schulabschlüsse,<br />

Leistungsbenotung <strong>und</strong> beruflichen Erfolg vorhersagen können,<br />

dass sie wichtige Anhaltspunkte für die Entscheidungen liefern,<br />

welche schulische Förderung ein Kind erhalten sollte, <strong>und</strong> dass<br />

sie anderen Leistungsbewertungen wie der Benotung durch Lehrer<br />

oder den Einschätzungen von Psychologen überlegen sind,<br />

die noch größere Risiken kulturell beeinflusster Fehlurteile in<br />

sich bergen dürften. Um über die Stärken <strong>und</strong> Schwächen von<br />

Intelligenztests urteilen zu können, muss man die Fakten kennen<br />

<strong>und</strong> die Probleme bei der Anwendung dieser Tests verstehen.<br />

Die Inhalte von Intelligenztests<br />

Intelligenz spiegelt sich auf unterschiedlichen Altersstufen in unterschiedlichen<br />

Fähigkeiten wider. Zum Beispiel sind sprachliche<br />

Fähigkeiten <strong>im</strong> Alter von sechs Monaten kein Teil der Intelligenz,<br />

weil so kleine Kinder Wörter weder verwenden noch verstehen,<br />

aber mit sechs Jahren bilden sie einen wichtigen Teil der Intelligenz.<br />

Die Aufgaben der Tests, die zur Messung der Intelligenz in<br />

verschiedenen Altersabschnitten entwickelt wurden, berücksichtigen<br />

diese Entwicklungsaspekte von Intelligenz. Zum Beispiel sollen<br />

be<strong>im</strong> Stanford-Binet-Intelligenztest (einer Weiterentwicklung des<br />

Binet-S<strong>im</strong>on-Tests) zweijährige Kinder Objekte identifizieren, die<br />

als Strichzeichnungen dargestellt sind (ein Test für Objekterkennung),<br />

sie sollen ein Objekt finden, das vorher vor ihren Augen versteckt<br />

wurde (ein Test für Lernen <strong>und</strong> Gedächtnis), <strong>und</strong> sie sollen<br />

drei unterschiedlich geformte Gegenstände in Löcher mit dem jeweils<br />

passenden Ausschnitt stecken (ein Test für Wahrnehmungsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> motorische Koordination). In der Version des Stanfort-<br />

Binet-Tests für Zehnjährige müssen sie für vorgegebene Wörter<br />

die Bedeutungen definieren (ein Test für verbale Fähigkeiten), sie<br />

müssen erklären, warum best<strong>im</strong>mte Institutionen existieren (ein<br />

Test für allgemeine Informiertheit <strong>und</strong> verbales Schlussfolgern),<br />

<strong>und</strong> sie müssen die Bauklötze auf einem Bild zählen, auf dem die<br />

Existenz einiger Blöcke nur erschlossen werden kann (ein Test für<br />

Problemlösen <strong>und</strong> räumliches Schlussfolgern).<br />

Intelligenztests werden am häufigsten <strong>und</strong> erfolgreichsten bei<br />

Kindern von mindestens fünf oder sechs Jahren angewendet. Von<br />

Test zu Test werden <strong>im</strong> Detail jeweils andere Fähigkeiten untersucht,<br />

<strong>und</strong> auch die Aufgaben dafür variieren ein wenig, aber<br />

zwischen den führenden Tests bestehen letztlich beträchtliche<br />

Übereinst<strong>im</strong>mungen.<br />

Das am häufigsten eingesetzte Messinstrument für Kinder ab<br />

sechs Jahren ist <strong>im</strong> englischen wie <strong>im</strong> deutschen Sprachraum der<br />

Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder. Die derzeitige USamerikanische<br />

Ausgabe dieses Tests WISC-IV, auf dem der HAWIK-<br />

IV basiert, wurde 2003 revidiert, um die aktuellen theoretischen<br />

Konzeptionen von Intelligenz <strong>und</strong> die derzeitige Kinderpopulation<br />

in den Vereinigten Staaten zugr<strong>und</strong>e zu legen, die kulturell <strong>und</strong><br />

sprachlich wesentlich vielgestaltiger ist als zum Zeitpunkt der Revision<br />

in den 1990er Jahren. Ausgehend von dieser Vorlage wurde<br />

inzwischen auch <strong>im</strong> deutschen Sprachraum eine neue Version des<br />

WISC-IV publiziert (Petermann <strong>und</strong> Petermann 2011).<br />

Das Intelligenzkonzept, das diesem Test zugr<strong>und</strong>e liegt, entspricht<br />

dem Drei-Schichten-Modell von Carroll <strong>und</strong> geht davon<br />

aus, dass Intelligenz einen allgemeinen Faktor g enthält, mehrere<br />

Fähigkeiten auf einer mittleren Ebene <strong>und</strong> zahlreiche spezifische<br />

Fertigkeiten. Der Test erbringt nicht nur einen Gesamtwert, sondern<br />

auch getrennte Leistungsindizes für vier Fähigkeiten auf<br />

der mittleren Ebene: Sprachverständnis, wahrnehmungsbasiertes<br />

schlussfolgerndes Denken, Arbeitsgedächtnis <strong>und</strong> Bearbeitungsgeschwindigkeit.<br />

Diese Fähigkeiten misst der Test, weil sie<br />

Fertigkeiten widerspiegeln, die in Informationsverarbeitungstheorien<br />

wichtig sind, weil sie positiv mit anderen Aspekten von<br />

Intelligenz korrelieren <strong>und</strong> mit bedeutsamen Ergebnissen wie<br />

den Schulabschlüssen <strong>und</strong> dem späteren beruflichen Erfolg zusammenhängen<br />

(Flanagan <strong>und</strong> Kaufman 2004).<br />

Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder (HAWIK-IV)/Wechsler-Intelligence-Scale<br />

(WISC-IV) – Ein weitverbreiteter Intelligenztest für Kinder zwischen<br />

sechs <strong>und</strong> 16 Jahren.<br />

Der Test ist in vier Hauptabschnitte untergliedert. Der Abschnitt<br />

zum Sprachverständnis (SV) ist auf allgemeines Weltwissen <strong>und</strong><br />

sprachliche Fähigkeiten gerichtet; der Abschnitt zum Wahrnehmungsbasierten<br />

logischen Denken untersucht das räumliche <strong>und</strong><br />

logische Denken; der Abschnitt zum Arbeitsgedächtnis misst die<br />

Fähigkeit, Informationen <strong>im</strong> Kurzzeitgedächtnis zu behalten <strong>und</strong><br />

zu verarbeiten; <strong>und</strong> der Abschnitt zur Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />

schätzt die Fähigkeit ein, die Aufmerksamkeit zu zentrieren<br />

<strong>und</strong> visuelle Informationen schnell zu überblicken, zu<br />

unterscheiden <strong>und</strong> zu ordnen. Der HAWIK-IV umfasst in der<br />

deutschen Version 15 Untertests, von denen fünf optional sind<br />

<strong>und</strong> eingesetzt werden können, um das Gesamtbild abzur<strong>und</strong>en<br />

– wenn Zweifel daran bestehen, dass die anderen Tests die<br />

Fähigkeiten des <strong>Kindes</strong> angemessen widerspiegeln. (Falls beispielsweise<br />

die Aufmerksamkeit eines <strong>Kindes</strong> während eines best<strong>im</strong>mten<br />

Untertests abschweifte oder das Kind einige der Fragen<br />

nicht verstand, kann der Testleiter die Ergebnisse dieses Unter-


280<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

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15<br />

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17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Typische Testfragen zum Sprachverständnis<br />

Wortschatztest: „Was ist ein Helikopter?“<br />

Gemeinsamkeitenfinden „Was haben ein Berg <strong>und</strong> ein Fluss<br />

gemeinsam?“<br />

Typische Testaufgaben zum wahrnehmungsbasierten<br />

logischen Denken<br />

Mosaiktest: „Leg diese neun Klötzchen so, dass sie genau wie<br />

die Vorlage aussehen.“<br />

Bildkonzepte: „Wähle aus jedem Kasten ein Ding aus <strong>und</strong><br />

mach daraus eine Gruppe von zusammengehörigen Dingen.“<br />

Typische Testaufgaben zum Arbeitsgedächtnis<br />

Zahlennachsprechen: „Wiederhole die folgenden Zahlen in derselben<br />

Reihenfolge, wenn ich sie vorgelesen habe: 5, 3, 7, 4, 9.“<br />

„Nun sag diese Zahlen von hinten nach vorn: 2, 9, 5, 7, 3.“<br />

Buchstaben-Zahlen-Folgen: „Wiederhole die Zahlen <strong>und</strong> fang mit<br />

der kleinsten Zahl an, <strong>und</strong> wiederhole dann die Buchstaben <strong>und</strong><br />

fang mit dem Buchstaben an, der <strong>im</strong> Alphabet am weitesten vorn<br />

steht: 4, D, 2, G, 7.“<br />

Typische Testaufgaben zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit<br />

Codieren: „Schreib unter jedes Quadrat ein Pluszeichen, unter<br />

jeden Kreis ein Minuszeichen <strong>und</strong> unter jedes Dreieck ein X.“<br />

Symbolsuche: „Erscheint die Figur, die du links von der Linie siehst,<br />

auch rechts von der Linie?“<br />

Ja<br />

Nein<br />

..<br />

Abb. 8.2 Beispiele für die Aufgabentypen, die der HAWIK-IV einsetzt,<br />

um die Intelligenz von Kindern zu messen. Bei den meisten Untertests<br />

wird die Leistung einfach danach bemessen, ob die richtigen Antworten<br />

gegeben wurden oder nicht, aber bei einigen Leistungsmaßen wie etwa der<br />

Wahrnehmungsgeschwindigkeit ist die Zahl der in einer best<strong>im</strong>mten Zeit<br />

produzierten richtigen Antworten ausschlaggebend. Die Aufgaben sind nicht<br />

genau dieselben wie <strong>im</strong> Test, sondern es sind Aufgaben desselben Typs; aus<br />

urheber- <strong>und</strong> berufsrechtlichen Gründen dürfen wir die <strong>im</strong> Test verwendeten<br />

Aufgaben nicht abbilden<br />

tests verwerfen <strong>und</strong> durch einen der optionalen Tests ersetzen.)<br />

. Abbildung 8.2 zeigt Beispiele für den Typ der Aufgaben, die in<br />

dem Test gestellt werden. (Die tatsächlichen Items sind aus verlagsrechtlichen<br />

<strong>und</strong> testdiagnostischen Gründen geschützt <strong>und</strong><br />

können deshalb nicht <strong>im</strong> Original wiedergegeben werden.)<br />

Der Intelligenzquotient (IQ)<br />

Intelligenztests wie der WISC-IV oder der Stanford-Binet-Test<br />

liefern ein quantitatives Gesamtmaß der Intelligenz eines <strong>Kindes</strong><br />

relativ zu anderen Kindern gleichen Alters. Dieses Gesamtmaß<br />

wird als der Intelligenzquotient (IQ) des <strong>Kindes</strong> bezeichnet. (Der<br />

Wortbestandteil „-quotient“ rührt daher, dass ursprünglich das<br />

sogenannte Intelligenzalter eines <strong>Kindes</strong> durch sein Lebensalter<br />

geteilt <strong>und</strong> mit 100 multipliziert wurde; nach heutiger Definition<br />

ist der IQ jedoch ein reines Abweichungsmaß.)<br />

Intelligenzquotient (IQ) – Ein Gesamtmaß, mit dem die Intelligenz eines <strong>Kindes</strong><br />

relativ zu der eines anderen <strong>Kindes</strong> gleichen Alters angegeben wird.<br />

Man braucht ein wenig Hintergr<strong>und</strong>wissen, um zu verstehen,<br />

wie IQ-Werte <strong>und</strong> warum sie auf diese Art <strong>und</strong> Weise berechnet<br />

werden. Die ersten Entwickler von Intelligenztests beobachteten,<br />

dass viele der leicht zu messenden Eigenschaften des Menschen,<br />

beispielsweise die Körpergröße <strong>und</strong> das Gewicht von Männern<br />

beziehungsweise von Frauen, eine Normalverteilung aufweisen.<br />

Wie . Abb. 8.3 zeigt, sind Normalverteilungen in Bezug auf einen<br />

Mittelwert symmetrisch, wobei die meisten Messwerte relativ<br />

nahe am Mittelwert liegen. Je weiter ein Messwert vom Mittelwert<br />

entfernt liegt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass ein Mensch diesen Messwert aufweist. Zum Beispiel beträgt<br />

die durchschnittliche Körpergröße von Männern etwa 1,78 m.<br />

Viele Männer sind 1,75 oder 1,80 m groß, aber wenige 1,60 oder<br />

1,98 m. Je weiter eine Körpergröße vom Mittelwert abweicht,<br />

desto weniger Männer mit dieser Körpergröße gibt es.<br />

Normalverteilung – Eine Verteilung der relativen Häufigkeiten von Messwerten,<br />

bei der alle Messwerte symmetrisch um einen Mittelwert verteilt sind. Die<br />

meisten Messwerte liegen in der Nähe des Mittelwertes, <strong>und</strong> mit zunehmender<br />

Entfernung vom Mittelwert treten die Messwerte <strong>im</strong>mer seltener auf.<br />

Eine ähnliche Verteilung findet sich bei den Intelligenztestmesswerten<br />

großer, repräsentativer Gruppen von Kindern eines best<strong>im</strong>mten<br />

Alters. Diese Normalverteilung bedeutet, dass die meisten IQ-Werte<br />

recht nahe am jeweiligen Mittelwert liegen <strong>und</strong> wenige Kinder sehr<br />

hohe oder sehr niedrige Messwerte erzielen. Die historisch frühen


Intelligenzmessung<br />

281 8<br />

0,13% 2,14% 13,59% 34,13% 34,13% 13,59% 2,14% 0,13%<br />

55 70 85 100 115 130 145<br />

–3 SD –2 SD –1 SD Mittelwert +1 SD +2 SD +3 SD<br />

..<br />

Abb. 8.3 Eine Normalverteilung der IQ-Werte mit den zugehörigen Standardabweichungen<br />

(standard deviations, SDs). IQ-Werte sind normalverteilt.<br />

Die obere Zahlenreihe unter der Abbildung entspricht den IQ-Werten. Darunter<br />

ist angegeben, um wie viele Standardabweichungen (SDs) der IQ über<br />

oder unter dem Mittelwert liegt; ein IQ von 55 beispielsweise liegt drei SDs<br />

unter dem Mittelwert. Die Prozentzahlen innerhalb der SD-Intervalle geben<br />

an, wie groß der Anteil der Kinder mit einem IQ-Wert in diesem Intervall ist;<br />

beispielsweise haben deutlich weniger als 1 % der Kinder IQ-Werte unter 55,<br />

<strong>und</strong> etwas mehr als 2 % haben Werte zwischen 55 <strong>und</strong> 70<br />

Entwickler von Intelligenztests trafen eine willkürliche Entscheidung,<br />

die bis heute beibehalten wurde: Ein Kind, dessen Leistung<br />

exakt dem Mittelwert seiner Altersgruppe (zum Zeitpunkt der<br />

Testentwicklung) entspricht, erhält den Messwert 100. (Der Gruppenmittelwert<br />

kann sich in den Jahren nach der Testentwicklung<br />

nach oben oder unten verändern, <strong>und</strong> tatsächlich ergaben sich in<br />

der industrialisierten Welt in den vergangenen 75 Jahren solche<br />

Veränderungen des mittleren IQ; wir kommen darauf zurück.)<br />

IQ-Werte sind nicht nur Ausdruck des Testmittelwertes, sondern<br />

auch seiner Standardabweichung. Dabei handelt es sich um<br />

ein Maß für die Variabilität der Messwerte in einer Verteilung. Eine<br />

Normalverteilung ist so definiert, dass 68 % der Messwerte <strong>im</strong> Bereich<br />

zwischen einer Standardabweichung oberhalb <strong>und</strong> unterhalb<br />

des Mittelwerts liegen; 95 % der Messwerte liegen <strong>im</strong> Bereich zwischen<br />

zwei Standardabweichungen über <strong>und</strong> unter dem Mittelwert.<br />

Standardabweichung – Ein Maß für die Variabilität von Messwerten in einer<br />

Verteilung. Bei einer Normalverteilung liegen 68 % der Messwerte innerhalb<br />

einer Standardabweichung links <strong>und</strong> rechts vom Mittelwert <strong>und</strong> 95 % der Messwerte<br />

innerhalb von zwei Standardabweichungen.<br />

Bei den meisten Intelligenztests beträgt eine Standardabweichung<br />

15 Punkte. (Dies ist genauso willkürlich gesetzt wie der<br />

Wert 100 für den Mittelwert.) Ein Kind, dessen Intelligenz eine<br />

Standardabweichung über dem seinem Alter gemäßen Mittelwert<br />

liegt, erzielt somit einen IQ-Wert von 115, nämlich den<br />

Mittelwert von 100 plus 15 für eine Standardabweichung. Dieser<br />

Wert von 115 bedeutet, dass 84 % der Kinder, die zu derselben<br />

Verteilung gehören, einen niedrigeren IQ besitzen (. Abb. 8.3).<br />

Analog erzielt ein Kind, dessen Messwert eine Standardabweichung<br />

unter dem Mittelwert liegt, einen IQ von 85 (100 minus<br />

15); dieser Wert bedeutet, dass nur 16 % der Vergleichsgruppe<br />

einen niedrigeren Wert erzielen. Aus . Abb. 8.3 wird außerdem<br />

erkennbar, dass bei etwa 95 % der Kinder die IQ-Werte innerhalb<br />

von zwei Standardabweichungen über <strong>und</strong> unter dem Mittelwert<br />

liegen, also zwischen 70 <strong>und</strong> 130.<br />

..<br />

Die IQ-Werte von Kindern, deren Eltern sich für ihren schulischen Erfolg<br />

interessieren, steigen häufig <strong>im</strong> Verlauf der Zeit. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Ein Vorteil dieses Messwertsystems besteht darin, dass sich IQ-<br />

Werte in verschiedenen Altersstufen trotz der großen Wissenszuwächse,<br />

die bei allen Kindern die Entwicklung begleiten, leicht<br />

miteinander vergleichen lassen. Ein Wert von 130 <strong>im</strong> Alter von fünf<br />

Jahren bedeutet, dass die Leistung des <strong>Kindes</strong> r<strong>und</strong> 98 % der Altersgenossen<br />

übertrifft; ein IQ von 130 <strong>im</strong> Alter von zehn Jahren bedeutet<br />

genau dasselbe. Diese Eigenschaft der heutigen Definition des Intelligenzquotienten<br />

hat die Analyse der Stabilität von IQ-Werten <strong>im</strong><br />

Zeitverlauf sehr erleichtert; diesem Thema wenden wir uns nun zu.<br />

Die Kontinuität von IQ-Werten<br />

Wenn der IQ eine gleichbleibende Eigenschaft einer Person ist,<br />

dann sollten die IQ-Werte, die jemand in unterschiedlichem<br />

Alter erzielt, hoch miteinander korrelieren. Langzeitstudien, in<br />

denen der IQ derselben Kinder in unterschiedlichem Alter gemessen<br />

wurde, haben tatsächlich eine beeindruckende Kontinuität<br />

ab dem fünften Lebensjahr gezeigt. In einer Untersuchung<br />

beispielsweise ergab sich eine Korrelation von 0,67 zwischen dem<br />

IQ mit fünf Jahren <strong>und</strong> dem IQ mit 15 Jahren (Humphreys 1989).<br />

Dies zeigt ein recht bemerkenswertes Ausmaß an Kontinuität<br />

über zehn Jahre hinweg. (Eine Korrelation von 1.00 bedeutet, wie<br />

in ▶ Kap. 1 erläutert, eine vollkommene Korrelation zwischen<br />

zwei Variablen.) Der IQ dürfte die stabilste aller psychologischen<br />

Persönlichkeitseigenschaften sein (Brody 1992).


282<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

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19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Als KyLee gerade 18 Monate alt war, war er<br />

schon von Zahlen fasziniert: Sein Lieblingsspielzeug<br />

waren Plastikzahlen <strong>und</strong> Bauklötze<br />

mit Zahlen darauf. Be<strong>im</strong> Spielen mit diesen<br />

Gegenständen sagte er <strong>im</strong>mer wieder die<br />

Namen der Zahlen. Mit zwei Jahren sah er ein<br />

Autokennzeichen, auf dem zwe<strong>im</strong>al die 8 zu<br />

sehen war, <strong>und</strong> sagte: „8 + 8 = 16“; weder er<br />

noch seine Eltern konnten erklären, wie er das<br />

wissen konnte. Mit drei Jahren spielte KyLee<br />

täglich Mathematikspiele auf dem Computer.<br />

Dabei entdeckte er den Begriff der Pr<strong>im</strong>zahlen<br />

<strong>und</strong> war von nun an in der Lage, neue Pr<strong>im</strong>zahlen<br />

zu erkennen. Wiederum wussten weder<br />

er noch seine Eltern, wie ihm das gelang.<br />

Schon vor Eintritt in den Kindergarten konnte<br />

er addieren, subtrahieren, multiplizieren, dividieren,<br />

Überschlagsrechnungen durchführen<br />

<strong>und</strong> komplizierte Textaufgaben lösen. Auf die<br />

Frage, ob er der Zahlen jemals müde werde,<br />

sagte er „Nein, niemals“; er sei ein „Zahlenjunge“<br />

(Winner 1996, 38 f.). Er stellte dann<br />

be<strong>im</strong> nationalen Mathematikwettbewerb<br />

MATHCOUNTS als Siebtklässler seinen Wissensstand<br />

unter Beweis <strong>und</strong> studiert inzwischen<br />

Computerwissenschaft an der Ivy League<br />

University; seine berufliche Karriere sieht er in<br />

der Entwicklung von Algorithmen, mit denen<br />

sich die Effizienz <strong>im</strong> Alltagsleben verbessern<br />

lässt (E. Winner, persönliche Mitteilung 26. Dezember<br />

2012).<br />

Ellen Winner, eine Psychologin, die intellektuell<br />

<strong>und</strong> künstlerisch hochbegabte Kinder<br />

untersucht, bemerkte, dass manche Kinder wie<br />

KyLee erstaunlich frühe Fähigkeiten auf einem<br />

best<strong>im</strong>mten Gebiet aufweisen, z. B. Zahlen,<br />

Zeichnen, Lesen, Musik. Eine kleinere Anzahl<br />

von Kindern bringt in einem breiten Spektrum<br />

intellektueller Bereiche außergewöhnliche<br />

Leistungen. Diese universell begabten Kinder<br />

zeigten meistens mehrere der folgenden<br />

Anzeichen für Hochbegabung schon sehr früh<br />

in ihrer Entwicklung (Robinson <strong>und</strong> Robinson<br />

1992):<br />

ungewöhnliche Aufmerksamkeit <strong>und</strong><br />

- lange Aufmerksamkeitsspanne in der<br />

frühen Kindheit,<br />

schnelle Sprachentwicklung,<br />

-<br />

Es gibt mehrere Variablen, die das Ausmaß an Stabilität zwischen<br />

den IQ-Werten <strong>im</strong> Zeitverlauf beeinflussen. Je näher die<br />

IQ-Tests zeitlich beieinanderliegen, desto mehr Stabilität sollte<br />

man erwarten. Tatsächlich fand sich in derselben Untersuchung,<br />

in der die IQ-Werte <strong>im</strong> Alter von fünf <strong>und</strong> 15 Jahren mit 0,67 korrelierten,<br />

eine Korrelation von 0,79 zwischen den IQs bei fünf <strong>und</strong><br />

neun Jahren sowie eine Korrelation von 0,87 zwischen den IQs bei<br />

fünf <strong>und</strong> sechs Jahren. Überdies sind bei allen Zeitintervallen zwischen<br />

zwei Testungen die Werte <strong>im</strong> höheren Alter stabiler. In einer<br />

Untersuchung beispielsweise korrelierten die IQ-Werte <strong>im</strong> Alter<br />

von vier <strong>und</strong> fünf Jahren mit 0,80, bei sechs <strong>und</strong> sieben Jahren mit<br />

0,87 <strong>und</strong> zwischen acht <strong>und</strong> neun Jahren mit 0,90 (Brody 1992).<br />

Neugier – tiefgehende Verständnisfragen<br />

- stellen <strong>und</strong> mit oberflächlichen Antworten<br />

nicht zufrieden sein,<br />

hohes Energieniveau, oft an der Grenze<br />

zur Hyperaktivität,<br />

intensive Reaktionen auf Frustration,<br />

sehr frühes Lesenkönnen <strong>und</strong> Interesse an<br />

Zahlen,<br />

außergewöhnliche logische <strong>und</strong> abstrakte<br />

Denkfähigkeit,<br />

ungewöhnlich gutes Gedächtnis,<br />

Vergnügen be<strong>im</strong> Alleinspielen.<br />

Außergewöhnliche - frühe Fähigkeiten kündigen<br />

oft (aber keineswegs <strong>im</strong>mer) herausragende<br />

spätere Leistungen an. Betrachten wir<br />

eine Langzeituntersuchung an 320 Kindern,<br />

die mit 13 Jahren <strong>im</strong> Rahmen einer nationalen<br />

Talentsuche ihren Studieneignungstest (SAT)<br />

für das College ablegten <strong>und</strong> in sprachlichen<br />

sowie mathematischen Fähigkeiten Werte<br />

erreichten, die nur einer von 10.000 Menschen<br />

erbringt. Zehn Jahre später gehörte zu den besonderen<br />

Leistungen einiger Untersuchungsteilnehmer<br />

beispielsweise ein Arrangement<br />

von Pink Floyds The Wall in einer mult<strong>im</strong>edialen<br />

Rockoper, die Entwicklung eines der<br />

bekanntesten Videospiele in den Vereinigten<br />

Staaten <strong>und</strong> die Entwicklung eines Navigationssystems<br />

für die Landung einer Marsrakete<br />

(Lubinski et al. 2001). Als Gruppe hatten sie<br />

damals elf Artikel in wissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

medizinischen Zeitschriften veröffentlicht <strong>und</strong><br />

individuelle Auszeichnungen in verschiedenen<br />

Bereichen zwischen Physik <strong>und</strong> kreativem<br />

Schreiben bekommen.<br />

Als man die Teilnehmer mit 33 Jahren erneut<br />

kontaktierte, hatten über die Hälfte der<br />

ursprünglichen Stichprobe ihre Hochschulabschlüsse<br />

als Doktor der Philosophie, der Medizin<br />

oder der Rechtswissenschaften gemacht<br />

(Lubinski et al. 2006). Der Anteil der Promovierten<br />

unter den Teilnehmern lag über 50-mal<br />

so hoch wie in der Gesamtbevölkerung, <strong>und</strong><br />

der Anteil derer, die ein Patent angemeldet<br />

hatten, war elfmal so hoch. Innerhalb dieser<br />

Elitestichprobe sagten hohe Ausgangswerte in<br />

Mathematik hohe Leistungen vorher. Je höher<br />

der Wert mit 13 Jahren be<strong>im</strong> Aufnahmetest<br />

für das College gewesen war, desto höher war<br />

Exkurs 8.1: Individuelle Unterschiede: Begabte Kinder | |<br />

mit 33 Jahren beispielsweise die Anzahl der<br />

Patente <strong>und</strong> der Publikationen in wissenschaftlichen<br />

Fachzeitschriften, insbesondere<br />

<strong>im</strong> Bereich der Naturwissenschaften, der<br />

Ingenieurwissenschaften <strong>und</strong> der Mathematik<br />

(Park et al. 2008).<br />

Außergewöhnliche Fähigkeiten, die ein Kind<br />

schon früh in einem best<strong>im</strong>mten Bereich zeigt,<br />

sind jedoch keine Garantie dafür, dass auch <strong>im</strong><br />

Erwachsenenalter die Leistungen auf diesem<br />

Gebiet hervorragend sind. Entscheidend sind<br />

hier auch Faktoren wie das Ausmaß des Interesses<br />

an einem Fachgebiet, die Bereitschaft zu<br />

langen Arbeitszeiten, Kreativität <strong>und</strong> Durchhaltevermögen<br />

angesichts von Schwierigkeiten<br />

(Lubinski <strong>und</strong> Benbow 2006; Wai et al.<br />

2010). Allerdings ist es beeindruckend, wie gut<br />

die Werte eines einzigen Tests, durchgeführt<br />

an 13-Jährigen, vorhersagen, dass zehn <strong>und</strong><br />

20 Jahre später außergewöhnliche Leistungen<br />

auftreten.<br />

..<br />

Außergewöhnlich frühe Leser wie dieses<br />

dreieinhalbjährige Kind behalten <strong>im</strong> Allgemeinen<br />

während ihres ganzen Lebens eine exzellente<br />

Lesefähigkeit. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Zwar sind die IQ-Werte einer Person in unterschiedlichem Alter<br />

meistens ähnlich, aber identisch sind sie selten. Kinder, die mit<br />

vier <strong>und</strong> dann wieder mit 17 Jahren einen IQ-Test machen, zeigen<br />

eine Veränderung von durchschnittlich 13 Punkten nach oben oder<br />

nach unten; zwischen der Testung mit acht <strong>und</strong> mit 17 Jahren beträgt<br />

die durchschnittliche Veränderung neun Punkte; zwischen<br />

zwölf <strong>und</strong> 17 Jahren sieben Punkte (Brody 1992). Diese Veränderungen<br />

beruhen zum Teil auf Zufallsvariation, zum Beispiel hinsichtlich<br />

der Tagesform des <strong>Kindes</strong> während der Testung. Veränderungen<br />

in der Umwelt des <strong>Kindes</strong>, beispielsweise durch Scheidung<br />

der Eltern oder durch Umzug in eine bessere Wohngegend, können<br />

ebenfalls Auswirkungen auf den IQ haben (Sameroff et al. 1993).


IQ-Werte als Prädiktoren von Lebenserfolg<br />

283 8<br />

Eine Frage, die Wissenschaftler <strong>und</strong> Eltern gleichermaßen<br />

beschäftigt, lautet, ob es bereits bei kleinen Kindern möglich<br />

ist, diejenigen herauszufinden, die eine höhere Intelligenz oder<br />

besondere intellektuelle oder künstlerische Fähigkeiten haben.<br />

Forschung an Kindern, die oft als besonders begabt beschrieben<br />

werden, stellen wir in ▶ Exkurs 8.1 vor.<br />

In Kürze | |<br />

Intelligenztests untersuchen eine Bandbreite von Fähigkeiten<br />

<strong>und</strong> Wissenstypen, zum Beispiel Wortschatz, Sprachverstehen,<br />

Rechnen, Gedächtnis <strong>und</strong> räumliches Schlussfolgern.<br />

Mithilfe der Tests erhält man ein allgemeines Maß<br />

für die Intelligenz, den IQ-Wert. IQ-Tests sind so gestaltet,<br />

dass ihr Durchschnittswert bei 100 liegt <strong>und</strong> höhere Werte<br />

überdurchschnittliche, niedrigere Werte unterdurchschnittliche<br />

Intelligenz bedeuten. Nach dem fünften oder sechsten<br />

Lebensjahr bleiben die IQ-Werte einzelner Kinder auch<br />

über lange Zeitintervalle hinweg in der Regel sehr stabil,<br />

wobei sie dennoch von einer Testung zur anderen ein wenig<br />

variieren können.<br />

IQ-Werte als Prädiktoren von Lebenserfolg<br />

Die Behauptung, dass der IQ einen starken Prädiktor für akademischen,<br />

ökonomischen <strong>und</strong> beruflichen Erfolg darstellt, ist<br />

wohlbegründet (Sackett et al. 2008; Schmidt <strong>und</strong> Hunter 2004).<br />

Wie schon dargelegt, korrelieren IQ-Werte positiv <strong>und</strong> ziemlich<br />

hoch mit Schulnoten <strong>und</strong> dem Ergebnis bei Leistungstests, <strong>und</strong><br />

zwar sowohl zum Zeitpunkt der IQ-Messung als auch in späteren<br />

Jahren (Geary 2005). So korrelieren der IQ <strong>und</strong> Leistungstestwerte<br />

normalerweise mit 0,50 bis 0,60 (Deary et al. 2007). Auch<br />

korrelieren IQ-Werte positiv mit längerfristigen Schul- <strong>und</strong> Ausbildungsleistungen.<br />

In den USA korreliert die Intelligenz in der<br />

sechsten Klasse etwa mit 0,60 mit der Anzahl an Ausbildungsjahren,<br />

welche die betreffende Person letztendlich absolvieren wird<br />

(Jencks 1979). Beträchtliche Zusammenhänge zwischen dem IQ<br />

<strong>und</strong> der Arbeitsleistung in hochkomplexen Berufen existieren<br />

mindestens noch zehn Jahre nach dem Berufseinstieg (Sackett<br />

et al. 2008).<br />

Zum Teil geht der positive Zusammenhang zwischen IQ <strong>und</strong><br />

Berufserfolg einschließlich Einkommen auf die Tatsache zurück,<br />

dass standardisierte Testleistungen als Türöffner wirken, also darüber<br />

best<strong>im</strong>men, welche Schüler Zugang zu Ausbildungsgängen<br />

<strong>und</strong> Abschlüssen bekommen, die für lukrative Positionen<br />

benötigt werden. Aber selbst von den Menschen, die am Anfang<br />

denselben Beruf haben, neigen diejenigen mit höherem IQ zu<br />

besseren Leistungen, verdienen mehr Geld <strong>und</strong> werden eher befördert<br />

(Schmidt <strong>und</strong> Hunter 2004; Wilk et al. 1995).<br />

Der IQ eines <strong>Kindes</strong> hängt enger mit seinem späteren Berufserfolg<br />

zusammen als der sozioökonomische Status der Familie,<br />

in der es aufwächst, die Schule, die das Kind besucht, oder<br />

irgendeine andere untersuchte Variable (Ceci 1993). Diese Zusammenhänge<br />

bestätigen sich auch für den obersten Verteilungsbereich<br />

der Testwerte. Zwar wird in einigen populären Büchern<br />

wie Überflieger (Gladwell 2009) behauptet, dass Menschen mit<br />

relativ hohen Testleistungen ähnlich gute Abschlüsse <strong>und</strong> Berufserfolge<br />

erzielen wie Personen mit extrem hohen Testwerten,<br />

aber die empirische Forschung zeigt, das auch in diesem obersten<br />

Verteilungsbereich mit zunehmenden Testleistungen auch zunehmende<br />

Leistungsniveaus wahrscheinlicher werden.<br />

So starke Vorhersagekraft der IQ auch für den akademischen,<br />

ökonomischen <strong>und</strong> beruflichen Erfolg haben mag, er ist keineswegs<br />

der einzige Einflussfaktor. Andere Eigenschaften eines <strong>Kindes</strong><br />

wie Erfolgsmotivation, Gewissenhaftigkeit, intellektuelle Neugier,<br />

Kreativität, körperliche <strong>und</strong> geistige Ges<strong>und</strong>heit sowie soziale<br />

Fähigkeiten sind ebenso wichtige Einflüsse (Roberts et al. 2007;<br />

Sternberg 2004; von Stumm et al. 2011). Selbstkontrolle, d. h. die<br />

Fähigkeit, Handlungen zu steuern, Regeln einzuhalten <strong>und</strong> <strong>im</strong>pulsive<br />

Reaktionen zu vermeiden, ist ein besserer Prädiktor für<br />

die Veränderungen der Zeugnisnoten zwischen der fünften <strong>und</strong><br />

achten Klasse als der IQ, obwohl der IQ die Veränderungen bei<br />

Leistungstests innerhalb des gleichen Zeitraumes besser vorhersagt<br />

(Duckworth et al. 2012). Ähnlich einflussreich für den Erfolg<br />

in vielen Situationen ist die „praktische Intelligenz“, die wichtige<br />

mentale Fähigkeiten umfasst, die in traditionellen IQ-Tests nicht<br />

gemessen werden: das Erkennen der Emotionen <strong>und</strong> Absichten<br />

anderer Menschen <strong>und</strong> das Motivieren anderer, in einem Team<br />

effektiv zusammenzuarbeiten. Die praktische Intelligenz sagt den<br />

beruflichen Erfolg auch dann vorher, wenn man den Einfluss des<br />

IQ herausrechnet (Cianciolo et al. 2006; Sternberg 2003). Ähnlich<br />

einflussreich sind Umweltmerkmale: Wenn Eltern ihre Kinder ermutigen<br />

<strong>und</strong> produktive Berufswege entwerfen, so ist auch dies ein<br />

Prädiktor für den beruflichen Erfolg der Kinder (Kalil et al. 2005).<br />

Selbstkontrolle – Die Fähigkeit, Handlungen kontrolliert zu steuern, Regeln<br />

einzuhalten <strong>und</strong> <strong>im</strong>pulsive Reaktionen zu vermeiden.<br />

. Abbildung 8.4 illustriert, wie derselbe Datensatz Nachweise für<br />

die Bedeutung sowohl des IQ als auch anderer Faktoren bringen<br />

kann. In Übereinst<strong>im</strong>mung mit der hervorgehobenen Bedeutung<br />

des IQ zeigt die Grafik, dass bei Menschen mit demselben Ausbildungsniveau<br />

diejenigen mehr Geld verdienen, die den höheren<br />

IQ besitzen. In Übereinst<strong>im</strong>mung mit der hervorgehobenen<br />

Bedeutung anderer Faktoren zeigt die Grafik aber auch, dass bei<br />

Menschen mit vergleichbarem IQ diejenigen mehr Geld verdienen,<br />

die eine längere Ausbildungszeit hatten. Während der IQ<br />

also einen zentralen Beitrag zum Erfolg in Schule, Ausbildung,<br />

Beruf <strong>und</strong> Einkommen leistet, sind andere Faktoren hier ebenfalls<br />

einflussreich.<br />

In Kürze | |<br />

IQ-Werte hängen positiv mit Schulnoten <strong>und</strong> dem Abschneiden<br />

bei Leistungstests zusammen, sowohl zum gleichen<br />

Messzeitpunkt als auch in späteren Jahren. Auch hängen sie<br />

positiv mit dem Berufserfolg als Erwachsener zusammen.<br />

Der IQ ist jedoch nicht der einzige Einflussfaktor. Motivation,<br />

Kreativität, Selbstkontrolle, soziale Fähigkeiten <strong>und</strong> eine<br />

Vielzahl anderer Faktoren leisten ebenfalls ihren Beitrag zu<br />

dem, was man <strong>im</strong> Leben erreicht.


284<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Wocheneinkommen 1992 in Dollar<br />

650<br />

600<br />

550<br />

500<br />

450<br />

400<br />

350<br />

300<br />

250<br />

200<br />

IQ-Quintil IQ-Quintil IQ-Quintil<br />

Highschool 2-jähriges Studium 4-jähriges Studium<br />

..<br />

Abb. 8.4 Effekte von IQ <strong>und</strong> Ausbildung auf das Einkommen. Diese<br />

erhobenen Daten zeigen die Zusammenhänge für das Durchschnittseinkommen<br />

von Menschen mit unterschiedlichem Ausbildungsniveau, deren IQ-<br />

Testwerte in unterschiedlichen Quintilen der IQ-Verteilung (fünf Quintile von<br />

jeweils 20-%-Intervallen) liegen. Auf jedem Ausbildungsniveau verdienten<br />

Menschen mit höherem IQ mehr. Unter denjenigen, die nur den Highschool-<br />

Abschluss hatten, verdienten diejenigen, die in einem Intelligenztest Werte<br />

<strong>im</strong> Bereich der untersten 20 % erzielten (blauer Balken), durchschnittlich<br />

kaum mehr als 250 US-Dollar in der Woche, während diejenigen, die Werte<br />

<strong>im</strong> Bereich der obersten 20 % erzielten (violetter Balken), durchschnittlich<br />

fast 450 US-Dollar in der Woche verdienten. Wie die violetten Balken zeigen,<br />

verdienten Menschen, deren IQ-Werte zu den obersten 20 % gehören, die<br />

aber nur den Highschool-Abschluss hatten, durchschnittlich ungefähr<br />

450 US-Dollar in der Woche, während diejenigen mit vergleichbarem IQ, aber<br />

vierjährigem Studium, fast 650 US-Dollar in der Woche verdienten. (Daten aus<br />

Ceci 1996)<br />

Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />

Keine Fragestellung hat in der Psychologie eine längere oder heftigere<br />

Debatte ausgelöst als die Frage, wie Vererbung <strong>und</strong> Umwelt<br />

die Intelligenz beeinflussen. Selbst Personen, die erkennen, dass<br />

die Intelligenz, wie alle menschlichen Eigenschaften, durch die<br />

fortwährende Interaktion zwischen Genen <strong>und</strong> Umwelt entsteht,<br />

vergessen diese Tatsache häufig <strong>und</strong> vertreten extreme Positionen,<br />

die mehr auf Emotionen <strong>und</strong> Ideologien gegründet sind<br />

denn auf Fakten.<br />

Einen nützlichen Ausgangspunkt für die Beurteilung der<br />

Einflüsse von Genen <strong>und</strong> Umwelt auf die Intelligenz bietet das<br />

bioökologische Entwicklungsmodell von Bronfenbrenner (1993),<br />

das in ▶ Kap. 9 eingehend behandelt wird. Nach diesem Modell<br />

ist das Leben von Kindern in eine Reihe von zunehmend umfassenderen<br />

Umwelten eingebettet. Im Mittelpunkt steht das Kind<br />

mit seinen einzigartigen Eigenschaften einschließlich seiner genetischen<br />

Ausstattung <strong>und</strong> seiner persönlichen Erfahrung. Zur<br />

unmittelbaren Umgebung des <strong>Kindes</strong> gehören insbesondere<br />

Menschen <strong>und</strong> Institutionen, mit denen das Kind direkt zu tun<br />

hat: Familie, Schule, Klassenkameraden, Lehrern, Nachbarn <strong>und</strong><br />

so weiter. Jenseits der unmittelbaren Umgebung befinden sich die<br />

entfernteren, weniger greifbaren Umwelten, die sich ebenfalls<br />

auf die Entwicklung auswirken: kulturelle Einstellungen, das Sozial-<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftssystem, die Massenmedien, die Regierung<br />

<strong>und</strong> so weiter. Wir werden <strong>im</strong> Folgenden untersuchen, wie die<br />

Eigenschaften des <strong>Kindes</strong>, seine unmittelbare Umwelt <strong>und</strong> die<br />

weiter abgesteckte Umgebung zur Entwicklung der Intelligenz<br />

beitragen.<br />

Varianzkomponente<br />

1,0<br />

0,8<br />

0,6<br />

0,4<br />

0,2<br />

0,0<br />

4 bis 6 6 bis 12 12 bis 16 16 bis 20 Ewachsener<br />

Altersgruppe<br />

Genetisch<br />

Eigenschaften des <strong>Kindes</strong><br />

Geteilte Umwelt<br />

..<br />

Abb. 8.5 Varianzaufklärung des IQ durch Gene <strong>und</strong> Umwelt <strong>im</strong> Entwicklungsverlauf.<br />

Mit zunehmendem Alter lässt sich die Varianz der IQ-Werte <strong>im</strong>mer<br />

mehr durch genetische Einflüsse erklären, während der Varianzanteil aufgr<strong>und</strong><br />

geteilter Umwelt sinkt. In der Altersgruppe der Vier- bis Sechsjährigen tragen<br />

beide Faktoren noch fast gleich stark zur Varianzaufklärung bei, <strong>und</strong> <strong>im</strong> Erwachsenenalter<br />

dominiert der genetische Faktor. (Daten aus McGue et al. 1993)<br />

Kinder tragen viel zu ihrer eigenen intellektuellen Entwicklung<br />

bei. Der Beitrag ergibt sich aus ihrer genetischen Ausstattung, aus<br />

den Reaktionen, die sie bei anderen Menschen hervorrufen, <strong>und</strong><br />

aus der Wahl ihrer Umgebungen.<br />

Genetische Beiträge zur Intelligenz<br />

Wie in ▶ Kap. 3 dargestellt, haben die Gene einen beträchtlichen<br />

Einfluss auf die Intelligenz. Dieser genetische Einfluss variiert stark<br />

mit dem Alter (. Abb. 8.5): In der frühen Kindheit ist er relativ<br />

mäßig <strong>und</strong> wird in der Pubertät <strong>und</strong> <strong>im</strong> Erwachsenenalter sehr<br />

groß (Bouchard 2004; Plomin et al. 2008). Die Korrelationen zwischen<br />

den IQ-Werten eineiiger Zwillinge, die sich in allen ihren<br />

Genen gleichen, steigen vom Vorschulalter zum Erwachsenenalter,<br />

wohingegen die Korrelationen zwischen den IQ-Werten zweieiiger<br />

Zwillinge (mit nichtidentischen Genen) sinken (Plomin et al. 1997).<br />

Ein Gr<strong>und</strong> für diesen wachsenden genetischen Einfluss besteht<br />

darin, dass bei einigen der genetischen Prozesse die Auswirkungen<br />

auf den IQ erst ab der späteren Kindheit <strong>und</strong> dem <strong>Jugendalter</strong> sichtbar<br />

werden. Zum Beispiel sind einige der Verbindungen zwischen<br />

best<strong>im</strong>mten, weit voneinander entfernten Gehirnbereichen erst <strong>im</strong><br />

<strong>Jugendalter</strong> ausgebildet, <strong>und</strong> das Ausmaß solcher Verbindungen<br />

spiegelt genetische Einflüsse wider (Thatcher 1992). Ein weiterer<br />

Gr<strong>und</strong> besteht darin, dass die mit dem Alter zunehmende Unabhängigkeit<br />

der Kinder ihnen größere Freiheiten gibt, sich solche<br />

Umgebungen auszusuchen, die zu ihren eigenen, genetisch basierten<br />

Präferenzen passen, aber nicht notwendigerweise zu denen der<br />

sozialen Eltern, die sie großziehen (McAdams <strong>und</strong> Olson 2010).<br />

Die Fortschritte in der Genetik haben Forschungen angeregt,<br />

bei denen eine kleine Gruppe von Genen identifiziert werden soll,<br />

um die individuellen Unterschiede in der Intelligenz auf diese Gene<br />

zurückzuführen. So wurden nahezu 300 Gene identifiziert, die mit<br />

mentalen Beeinträchtigungen einhergehen (Inlow <strong>und</strong> Restifo


Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />

285 8<br />

2004). Allerdings wurde kein Gen gef<strong>und</strong>en, das die Variation der<br />

Intelligenz konsistent erklären könnte (Butcher et al. 2008; Chabris<br />

et al. 2012). Die wohl wahrscheinlichste Erklärung lautet, dass der<br />

genetische Einfluss auf die Intelligenz durch eine Vielzahl von Genen<br />

zustande kommt, die jeweils einen kleinen Beitrag liefern <strong>und</strong><br />

auf komplexe Weise zusammenwirken (Nisbett et al. 2012).<br />

Interaktionen zwischen Genotyp <strong>und</strong> Umwelt<br />

Wie in ▶ Kap. 3 dargestellt, hängt es zum Teil vom Genotyp der<br />

Kinder ab, mit welchen Umwelttypen sie in Berührung kommen.<br />

Sandra Scarr (1992) nahm an, dass an diesen Beziehungen zwischen<br />

Genotyp <strong>und</strong> Umwelt drei Arten von Wirkungen beteiligt<br />

-<br />

sind: passive, evozierende <strong>und</strong> aktive Wirkungen.<br />

Passive Wirkungen des Genotyps entstehen, wenn Kinder bei<br />

ihren biologischen Eltern aufwachsen. Diese Wirkungen treten<br />

nicht ein, weil die Kinder irgendetwas tun, sondern weil<br />

sich ihre eigenen Gene <strong>und</strong> die ihrer Eltern überlappen. Kinder,<br />

deren Genotyp sie dazu veranlagt, gern zu lesen, wachsen<br />

wahrscheinlich in einem Haus mit Büchern, Zeitschriften<br />

<strong>und</strong> Zeitungen auf, weil ihre Eltern ebenfalls gern lesen. Die<br />

passiven Effekte des Genotyps erklären zumindest teilweise,<br />

warum die Intelligenzquotienten von leiblichen Eltern <strong>und</strong><br />

ihren Kindern höher korrelieren, wenn die Kinder bei ihren<br />

-<br />

leiblichen Eltern leben, als wenn sie bei Adoptiveltern leben.<br />

Evozierende Wirkungen des Genotyps ergeben sich daraus,<br />

dass Kinder ein best<strong>im</strong>mtes Verhalten anderer Menschen hervorrufen<br />

oder deren Verhalten beeinflussen. Selbst wenn die<br />

Eltern eines kleinen Mädchens beispielsweise keine begeisterten<br />

Leser sind, werden sie ihr dennoch mehr Gutenachtgeschichten<br />

vorlesen, wenn sie an den Geschichten Interesse<br />

-<br />

zeigt, als wenn sie einen gelangweilten Eindruck macht.<br />

Aktive Wirkungen des Genotyps bestehen unter anderem darin,<br />

dass Kinder sich Umgebungen wählen, die ihnen gefallen.<br />

Ein Gymnasiast, der gern liest, wird sich Bücher aus der Bibliothek<br />

ausleihen <strong>und</strong> anderweitig besorgen, gleich ob seine<br />

Eltern ihm, als er klein war, vorgelesen haben oder nicht.<br />

Mithilfe der evozierenden <strong>und</strong> aktiven Effekte des Genotyps lässt<br />

sich erklären, wie der IQ von Kindern sich dem seiner biologischen<br />

Eltern angleicht, selbst wenn die Kinder adoptiert wurden<br />

<strong>und</strong> ihre leiblichen Eltern nie gesehen haben.<br />

Robert Bradley <strong>und</strong> Bettye Caldwell (1979) nahmen dieses<br />

komplizierte Problem in Angriff, indem sie ein Maß entwickelten,<br />

das als HOME bekannt ist (Home Observation for Measurement<br />

of the Environment). Dieses Maß vereinigt verschiedene Aspekte<br />

des häuslichen Lebens von Kindern, zum Beispiel die Ordnung<br />

<strong>und</strong> Sicherheit des Lebensraumes, die intellektuelle St<strong>im</strong>ulation<br />

durch die Eltern, ob die Kinder eigene Bücher besitzen oder nicht,<br />

wie viel Interaktion zwischen Eltern <strong>und</strong> Kind stattfindet, die elterliche<br />

emotionale Unterstützung für das Kind <strong>und</strong> dergleichen<br />

mehr. . Tabelle 8.1 zeigt die Items <strong>und</strong> Unterskalen, die in der<br />

Originalversion von HOME verwendet werden; sie wurde für die<br />

Beurteilung der familiären Umwelt von Kindern von der Geburt<br />

bis zum Alter von drei Jahren entwickelt. Folgeversionen von<br />

HOME wurden für die Anwendung bei Kindern <strong>im</strong> Vorschulalter,<br />

bei Schulkindern <strong>und</strong> bei Jugendlichen entwickelt (Bradley 1994).<br />

Während der gesamten Kindheit korrelieren die IQ-Werte<br />

<strong>und</strong> auch die Rechen- <strong>und</strong> Leseleistungen von Kindern positiv<br />

mit der Qualität ihrer familiären Umwelt, gemessen mit HOME<br />

(Bradley et al. 2001). Die HOME-Werte von Familien mit sechs<br />

Monate alten Kindern korrelieren positiv mit dem IQ der Kinder<br />

<strong>im</strong> Alter von vier Jahren, <strong>und</strong> die HOME-Werte von Zweijährigen<br />

korrelieren positiv mit den später gemessenen IQ-Werten <strong>und</strong><br />

Schulleistungen der Kinder <strong>im</strong> Alter von elf Jahren (Olson et al.<br />

1992). Wenn die mit HOME gemessenen Werte <strong>im</strong> Zeitverlauf relativ<br />

stabil bleiben, sind auch die IQ-Werte <strong>im</strong> Allgemeinen stabil;<br />

wenn sich die HOME-Werte ändern, ändern sich häufig auch die<br />

IQ-Werte in dieselbe Richtung (Bradley 1989). Die Beurteilung<br />

unterschiedlicher Aspekte der familiären Umwelt eines <strong>Kindes</strong><br />

erlaubt somit eine gute Vorhersage seiner gemessenen Intelligenz.<br />

Angesichts dieser Bef<strong>und</strong>e wäre der Schluss verlockend, dass<br />

häusliche Umwelten von höherer Qualität einen höheren IQ der<br />

Kinder verursachen. Noch weiß man jedoch nicht, ob dies tatsächlich<br />

der Fall ist. Die Unsicherheit darüber spiegelt sich in<br />

zwei Faktoren wider: Erstens dürfte die Art der häuslichen intellektuellen<br />

Umwelt, die Eltern einrichten, mit Sicherheit auch von<br />

ihrer genetischen Ausstattung beeinflusst sein. Zweitens haben<br />

sich fast alle Untersuchungen, in denen HOME eingesetzt wurde,<br />

auf Familien konzentriert, in denen Kinder mit ihren biologischen<br />

Eltern zusammenleben.<br />

Der Einfluss der unmittelbaren Umwelt<br />

Der Einfluss der Umwelt auf die Entwicklung der Intelligenz beginnt<br />

mit der unmittelbaren Umgebung in Familie <strong>und</strong> Schule.<br />

Familieneinflüsse<br />

Auf die Frage, was der wichtigste Umwelteinfluss auf ihre Intelligenz<br />

gewesen sei, würden die meisten Menschen wahrscheinlich auf ihre<br />

Familie verweisen. Um den Einfluss der familiären Umwelt auf die<br />

Intelligenz des <strong>Kindes</strong> zu testen, bedarf es jedoch einiger Mittel, um<br />

die Beschaffenheit der familiären Umwelt zu best<strong>im</strong>men. Wie können<br />

wir etwas so Komplexes <strong>und</strong> Facettenreiches wie ein familiäres<br />

Umfeld messen, zumal dieses Umfeld schon für die verschiedenen<br />

Kinder innerhalb derselben Familie unterschiedlich sein kann?<br />

..<br />

Eine anregende häusliche Umwelt, in der Erwachsene <strong>und</strong> Kinder<br />

gemeinsam etwas unternehmen, stehen mit hohen IQ-Werten <strong>und</strong> hohen<br />

schulischen Leistungen in Zusammenhang. (© somenski/fotolia)


286<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

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11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

Tab. 8.1 Auswahl von Items <strong>und</strong> Unterskalen von HOME (Kleinkindversion).<br />

(Aus Bradley <strong>und</strong> Caldwell 1984, S. 7 f.)<br />

I. Emotionale <strong>und</strong> verbale Reaktivität der Mutter<br />

1. Mutter spricht während des Besuchs mindestens zwe<strong>im</strong>al zu<br />

dem Kind (außer sch<strong>im</strong>pfen).<br />

2. Mutter reagiert auf die Vokalisationen des <strong>Kindes</strong> mit einer<br />

verbalen Reaktion.<br />

3. Mutter nennt dem Kind während des Besuchs den Namen<br />

eines Objekts oder sagt den Namen einer Person oder eines<br />

Objekts in einem „Lehrerinnen-Stil“.<br />

II.<br />

Vermeidung von Einschränkung <strong>und</strong> Bestrafung<br />

4. Mutter schreit das Kind während des Besuchs nicht an.<br />

5. Mutter bringt keinen offenen Ärger über das Kind oder Feindseligkeit<br />

zum Ausdruck.<br />

6. Nicht mehr als dre<strong>im</strong>al während des Besuchs unterbricht<br />

die Mutter die Handlungen des <strong>Kindes</strong> oder schränkt seine<br />

Bewegungen ein.<br />

III.<br />

Organisation der materiellen <strong>und</strong> zeitlichen Umwelt<br />

7. Wenn die Mutter abwesend ist, erfolgt die Versorgung durch<br />

einen von drei regelmäßigen Vertretern.<br />

8. Kind wird regelmäßig dem Arzt vorgestellt.<br />

9. Kind hat einen best<strong>im</strong>mten Platz für seine Spielsachen <strong>und</strong><br />

„Schätze“.<br />

IV.<br />

Bereitstellung angemessener Spielmaterialien<br />

10. Kind besitzt Spielsachen oder Gerätschaften, die Muskelkraft<br />

erfordern.<br />

11. Kind besitzt ein Laufgestell, einen Bobbycar, einen Roller oder<br />

ein Dreirad.<br />

12. Altersgemäße Ausstattung mit Lernmöglichkeiten vorhanden<br />

– Kuscheltier oder Spielzeug für Rollenspiele.<br />

V. Mütterliche Beteiligung an dem Kind<br />

13. Mutter hält das Kind meistens in Blickweite <strong>und</strong> schaut öfter<br />

nach ihm.<br />

14. Mutter „spricht“ zu dem Kind, während sie ihre Arbeit tut.<br />

15. Mutter strukturiert die Spielphasen des <strong>Kindes</strong>.<br />

VI.<br />

Gelegenheit zu vielfältigen Anregungen <strong>im</strong> Alltag<br />

16. Mutter liest mindestens dre<strong>im</strong>al in der Woche eine Geschichte<br />

vor.<br />

17. Kind n<strong>im</strong>mt mindestens eine Mahlzeit am Tag mit beiden<br />

Eltern ein.<br />

18. Kind besitzt drei oder mehr eigene Bücher.<br />

Diese beiden Umstände könnten bedeuten, dass die Gene der<br />

Eltern sowohl die intellektuelle Qualität der häuslichen Umwelt<br />

als auch den IQ der Kinder beeinflussen; demnach wäre es nicht<br />

die häusliche Umwelt als solche, die den höheren oder niedrigeren<br />

IQ der Kinder verursacht. Zu dieser Möglichkeit passen die<br />

Bef<strong>und</strong>e weniger Studien, in denen mit HOME Adoptivfamilien<br />

untersucht wurden. Die Korrelationen zwischen den HOME-<br />

Werten <strong>und</strong> dem IQ war bei den Studien mit Adoptivkindern<br />

niedriger als in den Studien mit Kindern, die bei ihren leiblichen<br />

Eltern lebten (Plomin et al. 1997). Obwohl die Messwerte<br />

von HOME eindeutig mit dem IQ der Kinder korrelieren, bleibt<br />

unklar, ob es kausale Zusammenhänge zwischen den Maßen für<br />

Intelligenz <strong>und</strong> der Qualität der familiären Umgebung gibt.<br />

Gemeinsame <strong>und</strong> nicht gemeinsame familiäre<br />

Umgebung<br />

Wenn wir uns das intellektuelle Umfeld einer Familie vorstellen,<br />

dann denken wir normalerweise an Merkmale, die für alle<br />

Kinder einer Familie gleich sind: die Bedeutung der Bildung für<br />

die Eltern, die Anzahl vorhandener Bücher, die Häufigkeit anspruchsvoller<br />

Diskussionen am Esstisch <strong>und</strong> so weiter. Wie wir<br />

in ▶ Kap. 3 jedoch bereits dargelegt haben, kommt jedes Kind<br />

einer best<strong>im</strong>mten Familie auch mit speziellen, nicht allen gemeinsamen<br />

Umgebungsfaktoren in Kontakt. So kann in jeder<br />

Familie nur ein Kind das Erstgeborene sein <strong>und</strong> zu Beginn seines<br />

Lebens die intensive, ungeteilte Aufmerksamkeit erhalten, die<br />

dieser Status oft mit sich bringt. Genauso kann ein Kind, das<br />

Interessen oder Persönlichkeitseigenschaften besitzt, die denen<br />

eines Elternteils oder beider Elternteile gleichen, mehr positive<br />

Aufmerksamkeit erhalten als andere Kinder der Familie. Schließt<br />

man besonders unzureichende häusliche Umgebungen aus der<br />

Betrachtung aus, so scheinen sich die Unterschiede innerhalb<br />

von Familien stärker auf die Intelligenzentwicklung auszuwirken<br />

als die Unterschiede zwischen Familien (Petrill et al. 2004).<br />

Hinzu kommt, dass sich der Einfluss nicht geteilter Umwelten<br />

mit zunehmendem Alter erhöht <strong>und</strong> der Einfluss geteilter Umwelten<br />

mit zunehmendem Alter sinkt, während die Kinder ihre<br />

Umwelten – Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Aktivitäten – in wachsendem Maße<br />

selbst wählen können (Bouchard 2004; Segal et al. 2007).<br />

Der Einfluss geteilter Umwelt <strong>im</strong> Verhältnis zum Einfluss der<br />

Gene variiert mit dem Familieneinkommen. Bei Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen aus Familien mit geringem Einkommen erklärt<br />

die geteilte Umwelt einen größeren Anteil der Varianz bei den<br />

IQ-Werten als die Gene. Bei Familien mit mittlerem oder hohem<br />

Einkommen kehrt sich der relative Einfluss von geteilter<br />

Umwelt <strong>und</strong> Genen bei Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen um (Harden<br />

et al. 2007; Rowe et al. 1999; Turkhe<strong>im</strong>er et al. 2003). Diese abweichenden<br />

Muster finden sich bereits bei Kindern <strong>im</strong> Alter von<br />

zwei Jahren (Tucker-Drob et al. 2011). Die Erklärung für diese<br />

Unterschiede steht noch aus.<br />

Einflüsse des Schulbesuchs<br />

Kinder werden klüger, wenn sie zur Schule gehen. Ein Beleg für<br />

diese Annahme stammt aus einer Studie, in der die IQ-Werte von<br />

älteren <strong>und</strong> jüngeren israelischen Kindern in der vierten, fünften<br />

<strong>und</strong> sechsten Klasse untersucht wurden (Cahan <strong>und</strong> Cohen<br />

1989). Wie die leichten Aufwärtstrends der einzelnen Linien in<br />

. Abb. 8.6 erkennen lassen, erzielten in beiden Testteilen innerhalb<br />

jeder Klassenstufe die älteren Kinder etwas bessere Leistungen<br />

als die jüngeren Kinder. Die Sprünge zwischen den Klassenstufen<br />

zeigen jedoch, dass die nur wenig älteren Kinder, die bereits ein<br />

Jahr länger in der Schule waren, viel besser abschnitten als die<br />

nur wenig jüngeren Kinder in der Klasse darunter. Zum Beispiel<br />

zeigen die Ergebnisse <strong>im</strong> Untertest „kuriose Wörter“ (bei dem<br />

man angeben soll, welches Wort aus einer Reihe von Wörtern<br />

nicht zu den anderen passt) einen kleinen Abstand zwischen 123<br />

<strong>und</strong> 124 Monate alten Viertklässlern, aber einen großen Abstand


Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />

287 8<br />

Kuriose Wörter<br />

Textaufgaben<br />

60<br />

Standardisierter Wert<br />

1,00<br />

0,75<br />

0,50<br />

0,25<br />

0<br />

−0,25<br />

112 120 128 136 144 112 120 128 136 144<br />

Alter (in Monaten)<br />

IQ-Test, Rohwerte<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

Klasse 4 Klasse 5 Klasse 6<br />

..<br />

Abb. 8.6 Die Beziehung zwischen Alter <strong>und</strong> Klassenstufe bei der Leistung<br />

in zwei IQ-Teiltests. Die Sprünge zwischen den Klassenstufen lassen erkennen,<br />

dass der Schulbesuch einen Einfluss auf die Leistung in Intelligenztests<br />

hat, der über den des Alters hinausgeht. (Daten aus Cahan <strong>und</strong> Cohen 1989)<br />

0<br />

1942 1947 1952 1957 1968 1980<br />

Geburtsjahr<br />

10. Perzentil 90. Perzentil<br />

zwischen diesen Viertklässlern <strong>und</strong> den 125 Monate alten Fünftklässlern.<br />

Ein anderer Typ von Belegen dafür, dass Kinder durch den<br />

Schulbesuch klüger werden, besteht darin, dass die durchschnittlichen<br />

Werte bei IQ <strong>und</strong> Leistungstests während des Schuljahres<br />

steigen, aber nicht während der Sommerferien (Ceci 1991;<br />

Huttenlocher et al. 1998). Und diese Veränderungen hängen<br />

zudem mit dem Familienhintergr<strong>und</strong> von Kindern zusammen,<br />

<strong>und</strong> zwar auf eine Weise, die ebenfalls die Annahme stützt, dass<br />

der Schulbesuch die Kinder klüger macht. Kinder aus Familien<br />

mit niedrigem sozioökonomischem Status <strong>und</strong> aus Familien<br />

mit hohem sozioökonomischem Status erzielen während des<br />

Schuljahres vergleichbare Zuwächse bei ihren Schulleistungen.<br />

Im schulfreien Sommer sinken die Leistungstestwerte bei den<br />

Kindern mit niedrigem sozioökonomischem Status jedoch ab,<br />

während die Werte der Kinder mit hohem sozioökonomischem<br />

Status gleich bleiben oder leicht ansteigen (Alexander et al. 2007;<br />

Burkam et al. 2004). Eine wahrscheinliche Erklärung könnte lauten,<br />

dass die Schule <strong>im</strong> Verlauf des Schuljahres allen Kindern eine<br />

relativ anregende intellektuelle Umgebung bietet, aber Kinder aus<br />

Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status während der<br />

Ferien viel weniger anregende Erfahrungen machen können, um<br />

das, was sie gelernt haben, auszubauen <strong>und</strong> ihre intellektuellen<br />

Leistungen zu steigern.<br />

Der Einfluss der Gesellschaft<br />

Die intellektuelle Entwicklung wird nicht nur durch Eigenschaften<br />

der Kinder, ihre Familien <strong>und</strong> ihre Schulen beeinflusst, sondern<br />

auch durch die allgemeinen Einflüsse der Gesellschaft, in<br />

der sich Kinder entwickeln. Diese Einflüsse zeigen sich daran,<br />

dass der durchschnittliche IQ in vielen Ländern auf der Welt<br />

<strong>im</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert stetig gestiegen ist – ein Effekt, den man zu<br />

Ehren seines Entdeckers den Flynn-Effekt nennt (Flynn 1987,<br />

2009). In manchen Ländern, zum Beispiel in den Niederlanden<br />

<strong>und</strong> in Israel, betrugen die IQ-Zugewinne insgesamt 20 Punkte;<br />

in den Vereinigten Staaten liegt der Anstieg bei r<strong>und</strong> zehn Punkten<br />

(Dickens <strong>und</strong> Flynn 2001; Flynn <strong>und</strong> Weiss 2007). Setzt man<br />

..<br />

Abb. 8.7 Veränderungen des IQ über längere Zeiträume bei erwachsenen<br />

Dänen mit relativ niedrigem (10. Perzentil) <strong>und</strong> mit relativ hohem<br />

IQ-Wert (90. Perzentil). Wie diese Daten zeigen, haben sich die IQ-Werte von<br />

Menschen am unteren Ende der Verteilung <strong>im</strong> Lauf der Jahre beträchtlich<br />

verbessert, während sie bei Menschen am oberen Ende praktisch konstant<br />

geblieben sind. (Nach Geary 2005)<br />

voraus, dass sich der Genpool während dieser Zeitspanne nicht<br />

bemerkenswert verändert hat, dann muss der Anstieg der IQ-<br />

Werte auf Veränderungen der Gesellschaft zurückzuführen sein.<br />

Flynn-Effekt – Der Anstieg der durchschnittlichen IQ-Werte, der in vielen Ländern<br />

<strong>im</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert aufgetreten ist.<br />

Die Ursachen des Flynn-Effekts sind umstritten. Einige Forscher<br />

halten die Verbesserungen der Lebensumstände von Familien<br />

mit niedrigem Einkommen für einen entscheidenden Faktor,<br />

insbesondere bei der Ernährung (Lynn 2009), der Ges<strong>und</strong>heit<br />

(Eppig et al. 2010) <strong>und</strong> der schulischen Bildung (Blair et al. 2005).<br />

Diese Forscher verweisen darauf, dass der Anstieg bei Menschen<br />

<strong>im</strong> unteren Verteilungsbereich von IQ <strong>und</strong> Einkommen am größten<br />

ist. Wie . Abb. 8.7 zeigt, änderten sich beispielsweise bei Dänen<br />

der Geburtsjahrgänge zwischen 1942 <strong>und</strong> 1980 IQ-Werte der<br />

untersten 10 % in der Verteilung erheblich, während sie bei den<br />

obersten 10 % gleich blieben (Geary 2005). In anderen Ländern<br />

wie Spanien <strong>und</strong> Norwegen zeigen die Veränderungen des IQ<br />

ein ähnliches Muster. Und in Ländern wie den USA, Frankreich<br />

<strong>und</strong> Großbritannien ziehen sich die Anstiege durch die gesamte<br />

Verteilung des IQ bzw. der Einkommen (Nisbett et al. 2012). So<br />

war in den USA auch bei den obersten 5 % der Bevölkerung ein<br />

Zugewinn be<strong>im</strong> IQ zu verzeichnen (Wai et al. 2012).<br />

Eine andere plausible Erklärung für den Anstieg der IQ-<br />

Werte könnte in der zunehmenden gesellschaftlichen Fokussierung<br />

auf abstraktes Problemlösen <strong>und</strong> Schlussfolgern liegen<br />

(Flynn 2009). Für diese Erklärung spricht die Tatsache, dass Leistungen<br />

bei Tests der flüssigen Intelligenz (die sich <strong>im</strong> abstrakten<br />

Problemlösen <strong>und</strong> Schlussfolgern zeigt) sehr viel stärker anstiegen<br />

als bei den Tests der kristallinen Intelligenz (Nisbett et al.<br />

2012). Eine Ursache dieses Anstiegs be<strong>im</strong> Leistungswert für die<br />

flüssige Intelligenz könnten neue Technologien wie Videospiele<br />

sein. Haier et al. (2009) fanden heraus, dass bei heranwachsenden


288<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Richtiglösungen in Prozent<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

0 25 50 75 100<br />

Status des väterlichen Berufs<br />

Kanada<br />

Japan<br />

USA<br />

..<br />

Abb. 8.8 Die Beziehung zwischen dem beruflichen Status des Vaters <strong>und</strong><br />

der Mathematikleistung der Kinder in drei Ländern. US-amerikanische Kinder,<br />

deren Väter Berufe mit niedrigem sozioökonomischem Status ausüben,<br />

erbringen bei einem mathematischen Leistungstest weit schlechtere Leistungen<br />

als Kinder, deren Väter vergleichbare Tätigkeiten in Kanada oder Japan<br />

ausüben. Im Gegensatz dazu schneiden Kinder mit Vätern in Berufen mit<br />

hohem sozioökonomischem Staus genauso gut ab wie Kinder von Vätern mit<br />

vergleichbarem beruflichem Status in Kanada <strong>und</strong> fast so gut wie japanische<br />

Kinder mit ähnlichem familiärem Hintergr<strong>und</strong>. (Daten aus Case et al. 1999)<br />

Mädchen ein Videospiel (Tetris), das sie über drei Monate spielten,<br />

zu einer Verdickung des Cortex in Gehirnbereichen führte,<br />

die be<strong>im</strong> Spielen von Tetris spezifische Aktivierung zeigen <strong>und</strong><br />

auch bei solchen Aufgaben aktiviert werden, wie sie zur Messung<br />

der flüssigen Intelligenz verwendet werden.<br />

Ein Fazit, das außer Diskussion steht, lautet: Armut kann<br />

sich stark auf die Intelligenzentwicklung auswirken. In den folgenden<br />

Abschnitten betrachten wir zunächst, wie sich Armut in<br />

unterschiedlichen Gesellschaften auf die <strong>Kindes</strong>entwicklung auswirkt,<br />

<strong>und</strong> untersuchen dann, wie sie zu Intelligenz- <strong>und</strong> Schulleistungsunterschieden<br />

zwischen ethnischen Gruppen beiträgt.<br />

Danach betrachten wir weitere mit Armut einhergehende Faktoren,<br />

die die intellektuelle Entwicklung gefährden. Abschließend<br />

behandeln wir Programme, die auf eine Förderung der intellektuellen<br />

Entwicklung benachteiligter Kinder gerichtet sind.<br />

Auswirkungen von Armut<br />

Die negativen Auswirkungen von Armut auf die IQ-Werte von<br />

Kindern sind unbestreitbar. Selbst wenn man solche Faktoren<br />

herausrechnet wie den Bildungsstand der Mutter, die Zugehörigkeit<br />

zu einer ethnischen Gruppe oder alleinerziehende Mütter als<br />

Haushaltsvorstand, hängt die Angemessenheit des Familieneinkommens<br />

für die Befriedigung der familiären Bedürfnisse mit<br />

dem IQ der Kinder zusammen (Duncan et al. 1998). Es kommt<br />

hinzu, dass der IQ der Kinder meistens umso niedriger ist, je<br />

mehr Jahre sie in Armut verbringen.<br />

Armut kann sich auf vielerlei Weise negativ auf die intellektuelle<br />

Entwicklung auswirken. Zum Beispiel kann eine chronisch<br />

unzureichende Ernährung in den ersten Lebensjahren die Gehirnentwicklung<br />

nachhaltig stören, <strong>und</strong> fehlende Mahlzeiten an<br />

einem best<strong>im</strong>mten Tag (z. B. einem Leistungstesttag) können<br />

die Tagesform bei intellektuellen Aufgaben beeinträchtigen.<br />

Eine schlechte Ges<strong>und</strong>heit durch unzulängliche medizinische<br />

Versorgung kann zu vielen Fehltagen in der Schule führen; Konflikte<br />

zwischen den Erwachsenen, in deren Haushalt ein Kind<br />

lebt, können es emotional so verstören, dass die Lernfähigkeit<br />

leidet. Unzulängliche geistige Anregung kann dazu führen, dass<br />

das Allgemeinwissen fehlt, das zum Lernen neuer Inhalte gebraucht<br />

wird. Und so fort. Ein Beleg für den Zusammenhang<br />

zwischen Armut <strong>und</strong> IQ ist die Tatsache, dass in allen untersuchten<br />

Ländern Kinder aus einkommensstarken Familien bei Intelligenz-<br />

<strong>und</strong> Leistungstests höhere Werte erzielen als Kinder aus<br />

einkommensschwachen Elternhäusern (Case et al. 1999; Keating<br />

<strong>und</strong> Hertzman 1999). Noch aussagekräftiger ist die Beobachtung,<br />

dass in Ländern wie den USA, in denen die Einkommenskluft<br />

zwischen Arm <strong>und</strong> Reich am größten ist, der intellektuelle Leistungsunterschied<br />

zwischen Kindern aus reichen <strong>und</strong> armen Elternhäusern<br />

weitaus größer ist als in Ländern, in denen diese<br />

Kluft weniger stark ausgeprägt ist, wie in den skandinavischen<br />

Ländern oder, in reduziertem Ausmaß, auch in Deutschland,<br />

Kanada <strong>und</strong> Großbritannien. . Abbildung 8.8 zeigt, dass Kinder<br />

aus einkommensstarken Familien in den USA bei mathematischen<br />

Leistungstests ähnlich hohe Werte erzielen wie Kinder aus<br />

einkommensstarken Familien in anderen Ländern. Im Gegensatz<br />

dazu erreichen Kinder aus armen Familien in den USA weit<br />

geringere Werte als Kinder aus armen Familien in Ländern mit<br />

höherer Einkommensgleichheit. Der entscheidende Unterschied<br />

liegt darin, dass arme Familien in den USA weit ärmer sind als<br />

in anderen wirtschaftlich entwickelten Ländern. 2011 lebten in<br />

den USA 23 % der Kinder in Familien, deren Einkünfte unterhalb<br />

der Hälfte des Einkommensmedians liegen. Dagegen sind in 35<br />

anderen Industrienationen <strong>im</strong> Mittel nur 11 % der Kinder von<br />

Armut <strong>im</strong> Sinne eines Familieneinkommens von weniger als der<br />

Hälfte des Einkommensmedians betroffen (UNICEF 2012). In<br />

Deutschland waren es <strong>im</strong> Jahr 2011 laut Mikrozensus 18,9 % der<br />

unter 18-jährigen, wobei der Anteil in den neuen B<strong>und</strong>esländern<br />

mit 25,7 % deutlich höher ausfiel als mit 17,6 % in den alten B<strong>und</strong>esländern<br />

(▶ www.amtliche-sozialberichterstattung.de).<br />

In den Vereinigten Staaten ist, wie schon in ▶ Kap. 1 erwähnt,<br />

der Prozentsatz von Kindern, die in armen Familien leben, unter<br />

Afroamerikanern <strong>und</strong> Latinos viel höher als unter Amerikanern<br />

europäischer oder asiatischer Herkunft, <strong>und</strong> er ist viel höher in<br />

Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand als in Familien,<br />

an deren Spitze ein verheiratetes Paar steht. Diese ökonomischen<br />

Unterschiede helfen die Gruppenunterschiede be<strong>im</strong> IQ zu<br />

erklären, die wir <strong>im</strong> nächsten Abschnitt untersuchen.<br />

Ethnische Abstammung <strong>und</strong> Intelligenz<br />

Kaum eine Behauptung ruft so leidenschaftliche Reaktionen hervor<br />

wie die, dass ethnische Gruppen unterschiedlich intelligent<br />

seien. Umso wichtiger ist es, die diesbezüglichen Tatsachen zu<br />

kennen <strong>und</strong> zu wissen, was daraus geschlossen werden kann <strong>und</strong><br />

was nicht.<br />

Es ist eine Tatsache, dass sich die durchschnittlichen IQ-<br />

Werte verschiedener ethnischer Gruppen unterscheiden. Beispielsweise<br />

liegt der durchschnittliche IQ euroamerikanischer<br />

Kinder zehn bis elf Punkte über dem afroamerikanischer Kinder<br />

(Dickens <strong>und</strong> Flynn 2006). Die durchschnittlichen IQ-Werte von<br />

Kindern lateinamerikanischer oder indianischer Abstammung<br />

liegen dazwischen, während die Durchschnittswerte amerika-


Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />

289 8<br />

nischer Kinder asiatischer Abstammung um etwa drei Punkte<br />

höher sind als bei euroamerikanischen Kindern (Nisbett et al.<br />

2012). Diese Unterschiede erklären sich zum Teil durch Unterschiede<br />

der sozialen Schichtenzugehörigkeit. Jedoch sind auch<br />

innerhalb jeder sozialen Schicht Unterschiede zwischen den<br />

mittleren IQs von Afro- <strong>und</strong> Euroamerikanern vorhanden, auch<br />

wenn diese Unterschiede innerhalb der gleichen Schicht kleiner<br />

ausfallen als bei unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit (Suzuki<br />

<strong>und</strong> Valencia 1997).<br />

Eine weitere Tatsache besteht darin, dass sich Aussagen<br />

über Gruppenunterschiede des IQ auf statistische Mittelwerte<br />

beziehen <strong>und</strong> nicht auf die Werte best<strong>im</strong>mter Einzelpersonen.<br />

Man muss diese statistische Tatsache verstehen, um die faktischen<br />

Gruppenunterschiede interpretieren zu können. Millionen<br />

afroamerikanischer Kinder besitzen einen höheren IQ als<br />

das durchschnittliche euroamerikanische Kind, <strong>und</strong> Millionen<br />

euroamerikanischer Kinder besitzen einen niedrigeren IQ als<br />

das durchschnittliche afroamerikanische Kind. Es gibt weitaus<br />

mehr Variabilität innerhalb jeder Abstammungsgruppe als zwischen<br />

diesen Gruppen. Die Daten über den IQ-Mittelwert für<br />

irgendeine ethnische Gruppe sagen also nichts über ein einzelnes<br />

Individuum aus.<br />

Eine dritte entscheidende Tatsache ist, dass die Unterschiede<br />

zwischen den IQ-Werten von Kindern aus verschiedenen ethnischen<br />

Gruppen die Leistungen der Kinder nur in der Umgebung<br />

beschreiben, in der die Kinder jeweils leben. Die Bef<strong>und</strong>e<br />

sind keine Indikatoren ihres intellektuellen Potenzials <strong>und</strong> sagen<br />

auch nichts darüber aus, was passieren würde, wenn die Kinder<br />

in einer anderen Umwelt lebten. Tatsächlich haben sich die Unterschiede<br />

bei den Testleistungen von euroamerikanischen <strong>und</strong><br />

afroamerikanischen Kindern <strong>im</strong> Lauf von 40 Jahren, in denen<br />

sich die Diskr<strong>im</strong>inierung <strong>und</strong> Ungleichbehandlung reduziert hat,<br />

deutlich verringert. Eine gründliche Analyse des Wandels von<br />

IQ-Werten über längere Zeiträume hinweg zeigt, dass afroamerikanische<br />

Schulkinder den Abstand zu den euroamerikanischen<br />

Schulkindern von 1972 bis 2002 um vier auf sieben Punkte verringerten<br />

(Dickens <strong>und</strong> Flynn 2006); Leistungstestwerte zeigten<br />

denselben Trend (Brody 1992).<br />

Risikofaktoren <strong>und</strong> intellektuelle Entwicklung<br />

Beiträge in populären Zeitschriften darüber, wie man allen<br />

Kindern helfen kann, ihr intellektuelles Potenzial auszuschöpfen,<br />

konzentrieren sich oft auf einen einzigen Faktor. Manche<br />

Beiträge betonen, dass man die Armut bekämpfen müsse; andere<br />

betonen, wie wichtig es wäre, den Rassismus zu beenden;<br />

wieder andere stellen die Notwendigkeit in den Vordergr<strong>und</strong>,<br />

die Zwei-Eltern-Familie zu erhalten, <strong>und</strong> so weiter. Man kann<br />

jedoch keinen einzelnen Faktor <strong>und</strong> auch keine kleine Gruppe<br />

von Faktoren als den Schlüssel zur Lösung des Problems bezeichnen.<br />

Vielmehr trägt eine Vielzahl von Faktoren gemeinsam zu<br />

dem Problem bei, dass eine beträchtliche Anzahl von Kindern<br />

ihr intellektuelles Potenzial nicht voll ausschöpft.<br />

Um das Ausmaß dieser multiplen Einflussgrößen zu erfassen,<br />

entwickelten Arnold Sameroff et al. (1993) eine Skala der<br />

Entwicklungsrisiken. Diese Skala beruht auf zehn Umweltmerkmalen,<br />

die für Kinder als Risiken für einen niedrigen IQ gelten<br />

können:<br />

IQ<br />

120<br />

110<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

0<br />

1<br />

2<br />

3 4<br />

Anzahl der Risiken<br />

1. Der Haushaltsvorstand ist arbeitslos oder arbeitet in einem<br />

einfachen Beruf.<br />

2. Die Mutter hat die Highschool nicht abgeschlossen.<br />

3. Die Familie umfasst mindestens vier Kinder.<br />

4. Zu Hause gibt es keinen Vater oder Stiefvater.<br />

5. Es handelt sich um eine afroamerikanische Familie.<br />

6. Es gab viele stressreiche Ereignisse in den vergangenen Jahren.<br />

7. Die Eltern haben rigide Überzeugungen hinsichtlich der <strong>Kindes</strong>entwicklung.<br />

8. Die Mutter ist sehr ängstlich.<br />

9. Die geistige Ges<strong>und</strong>heit der Mutter ist eingeschränkt.<br />

10. Es gibt negative Interaktionen zwischen Mutter <strong>und</strong> Kind.<br />

Der Risikowert für jedes Kind ergibt sich einfach aus der Summe<br />

der Hauptrisiken, denen das Kind ausgesetzt ist. Das Kind einer<br />

Mutter, die arbeitslos <strong>und</strong> unverheiratet ist, ängstliche Besorgtheit<br />

zeigt <strong>und</strong> die Highschool vorzeitig verließ, hätte den Risikofaktor<br />

4 (sofern keiner der anderen Risikofaktoren zutrifft).<br />

Sameroff et al. (1993) maßen die IQs <strong>und</strong> die Entwicklungsrisiken<br />

bei mehr als 100 Kindern <strong>im</strong> Alter von vier Jahren <strong>und</strong><br />

dann noch einmal mit 13 Jahren. Sie fanden, dass der IQ eines<br />

<strong>Kindes</strong> tendenziell umso niedriger war, je mehr Risiken seine<br />

Umwelt enthielt. Wie . Abb. 8.9 zeigt, war der Effekt stark ausgeprägt.<br />

Der durchschnittliche IQ derjenigen Kinder, deren Umwelt<br />

keinen einzigen Risikofaktor enthielt, lag bei 115; der durchschnittliche<br />

IQ der Kinder mit sechs oder mehr vorhandenen<br />

Risiken lag bei 85. Die bloße Anzahl der Risiken in der Umwelt<br />

des <strong>Kindes</strong> war ein besserer Prädiktor für den IQ des <strong>Kindes</strong> als<br />

jeder einzelne Risikofaktor. Folgestudien zeigten ähnlich enge<br />

Beziehungen zwischen der Anzahl von Risikofaktoren <strong>und</strong> den<br />

Schulnoten (Gassman-Pines <strong>und</strong> Yoshikawa 2006; Gutman et al.<br />

2003).<br />

Die Untersuchung von Sameroff et al. (1993) lieferte auch<br />

eine interessante Perspektive <strong>im</strong> Hinblick auf die Stabilität der<br />

IQ-Werte bei einzelnen Kindern. Es bleiben nämlich nicht nur<br />

5<br />

4-Jährige<br />

13-Jährige<br />

..<br />

Abb. 8.9 Risikofaktoren <strong>und</strong> IQ. Für die jüngeren <strong>und</strong> die älteren Kinder<br />

gilt: Der durchschnittliche IQ ist umso niedriger, je mehr Risikofaktoren es in<br />

der Umwelt gibt. (Daten aus Sameroff et al. 1993)<br />

6<br />

7–8


290<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

die Gene der Kinder dieselben, sondern auch ihre Umgebung<br />

bleibt häufig ziemlich unverändert. Die Untersuchung ergab bei<br />

den Risikofaktoren, die an den Messzeitpunkten <strong>im</strong> Alter von<br />

vier bzw. 13 Jahren in der Umwelt der Kinder vorhanden waren,<br />

die gleiche Stabilität wie bei den jeweiligen IQ-Werten.<br />

Die Anzahl der Risikofaktoren in der Umwelt eines vierjährigen<br />

<strong>Kindes</strong> korreliert nicht nur hoch mit seinem IQ in diesem<br />

Alter, sondern sagt auch die zu erwartenden Veränderungen des<br />

IQ für das Alter von 13 Jahren voraus. Wenn zwei Kinder also<br />

<strong>im</strong> Alter von vier Jahren denselben IQ besitzen, wobei die Umwelt<br />

des einen <strong>Kindes</strong> mehr Risikofaktoren enthält, dann wird<br />

dieses Kind mit 13 Jahren wahrscheinlich einen niedrigeren IQ<br />

aufweisen als das andere Kind. Umweltrisiken haben also sowohl<br />

unmittelbare als auch langfristige Auswirkungen auf die intellektuelle<br />

Entwicklung von Kindern. Genetische Einflüsse sind nicht<br />

auszuschließen – Ängstlichkeit, schlechte psychische Verfassung<br />

<strong>und</strong> weitere Risikofaktoren können biologisch von den Eltern an<br />

das Kind weitergegeben sein –, aber auch diese Risikofaktoren<br />

sind fraglos mit niedrigen IQ-Werten verb<strong>und</strong>en.<br />

Sameroff <strong>und</strong> Mitarbeiter beschrieben ihr Maß als einen „Risikoindex“,<br />

doch ist es ebenso sehr ein Maß für eine hohe Qualität<br />

der kindlichen Umwelt wie für das Gefährdungspotenzial.<br />

Hohe IQ-Werte sind mit günstigen Umwelten genauso verb<strong>und</strong>en<br />

wie niedrige IQ-Werte mit ungünstigen. Das trifft für Kinder<br />

aus einkommensschwachen Familien genauso zu wie für alle anderen<br />

Kinder: Wenn Eltern in einkommensschwachen Familien<br />

auf ihre Kinder eingehen <strong>und</strong> ihnen sichere Spielmöglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Lernmaterial bieten, dann haben sie Kinder mit einem entsprechend<br />

höheren IQ (Bradley et al. 1994). Die Qualität elterlicher<br />

Betreuung kann also dazu beitragen, die armutsbedingten<br />

Risiken zu reduzieren.<br />

Hilfsprogramme für Kinder in Armut<br />

Anfang der 1960er Jahre entwickelte sich in den USA ein politischer<br />

Konsens, dass es nationale Priorität besitzt, Kindern aus armen<br />

Familien zu helfen. Psychologische Forschung trug zu dieser<br />

Konsensbildung bei, indem sie nachwies, dass die Umwelten der<br />

Kinder bedeutsame Auswirkungen auf ihre kognitive Entwicklung<br />

haben (Dennis <strong>und</strong> Najarian 1957; Hunt 1961). In der Folge<br />

wurden <strong>im</strong> Verlauf der darauffolgenden Jahre viele Interventionsprogramme<br />

initiiert, um die intellektuelle Entwicklung von<br />

Vorschulkindern aus verarmten Familien zu fördern.<br />

In einer umfassenden Analyse von elf der profiliertesten ersten<br />

Frühinterventionsprogramme – die sich alle auf zwei- bis<br />

fünfjährige afroamerikanische Kinder aus einkommensschwachen<br />

Familien konzentrierten – fanden Irving Lazar et al. (1982)<br />

ein einheitliches Muster. Die Teilnahme an den Programmen,<br />

die meistens auf ein oder zwei Jahre angelegt waren, erhöhte<br />

die IQ-Werte der Kinder am Anfang beträchtlich – um zehn bis<br />

15 Punkte. Im Verlauf der nächsten zwei oder drei Jahre baute sich<br />

der Zugewinn jedoch wieder ab, <strong>und</strong> vier Jahre nach Beendigung<br />

des Programms waren zwischen den IQ-Werten der Teilnehmer<br />

<strong>und</strong> denjenigen von Kindern aus vergleichbaren Wohnvierteln<br />

<strong>und</strong> Familienhintergründen, die nicht teilgenommen hatten,<br />

keine Unterschiede mehr erkennbar. Ähnliche Muster ergaben<br />

sich in einer Analyse von Programmen, bei denen Rechen- <strong>und</strong><br />

Leseleistungen <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong> standen (McKey et al. 1985).<br />

Glücklicherweise hielten andere Wirkungen dieser exper<strong>im</strong>entellen<br />

Programme länger an. Nur halb so viele Programmteilnehmer<br />

wie Kinder, die an keinem Programm teilgenommen<br />

hatten, wurden später einer Sonderschul- oder Förderklasse<br />

zugewiesen – 14 gegenüber 29 %. Auch blieben die Teilnehmer<br />

in der Schule nicht so oft sitzen, machten später häufiger einen<br />

Highschool-Abschluss, <strong>und</strong> waren <strong>im</strong> Alter von 18 Jahren seltener<br />

verhaftet worden als in der Vergleichsgruppe ohne die Förderung<br />

(Reynolds et al. 2001).<br />

Diese Bef<strong>und</strong>lage wirft Fragen auf. Wenn die Interventionsprogramme<br />

nicht zu lang anhaltenden IQ-Zuwächsen oder<br />

Verbesserungen bei Leistungstests führten, wie konnten sie trotzdem<br />

die geförderten Kinder vor der Sonderschule oder vor dem<br />

Sitzenbleiben bewahren? Wahrscheinlich liegt der Gr<strong>und</strong> in den<br />

langfristigen Auswirkungen der Intervention auf die Motivation<br />

der Kinder <strong>und</strong> auf ihr Verhalten. Diese Effekte könnten Kinder<br />

unabhängig vom unveränderten IQ befähigen, gut genug in der<br />

Klasse zurechtzukommen, um zusammen mit ihren Klassenkameraden<br />

versetzt zu werden, was wiederum den Highschool-Abschluss<br />

wahrscheinlicher <strong>und</strong> ein Abrutschen in die Kr<strong>im</strong>inalität<br />

unwahrscheinlicher macht.<br />

Die Teilnahme an solchen Förderprogrammen wirkte sich<br />

auch nach Beendigung der Schule vorteilhaft aus. Als Erwachsene<br />

nahmen die ehemaligen Teilnehmer solcher Programme<br />

später weniger Sozialfürsorge in Anspruch <strong>und</strong> erreichten höhere<br />

Einkommen <strong>im</strong> Vergleich zu nicht geförderten Kindern des<br />

gleichen sozialen Umfeldes (Haskins 1989; McLoyd 1998). Diese<br />

positiven Effekte lassen vermuten, dass die Frühintervention den<br />

Kindern nicht nur dazu verhelfen kann, ihr Leben erfolgreicher<br />

zu meistern, sondern auch die Kosten sich mehr als bezahlt machen,<br />

indem die Programme den Bedarf an Sozialleistungen um<br />

erheblich höhere Beträge senken. Wie ▶ Exkurs 8.2 zeigt, kann<br />

ein intensives Spezialprogramm zudem nachhaltige Zuwächse<br />

bei IQ <strong>und</strong> Schulleistung bewirken.<br />

Das Projekt Head Start<br />

Als Reaktion auf denselben politischen Konsens aus den 1960er<br />

Jahren, der zu Frühinterventionsprogrammen kleineren Umfangs<br />

führte, initiierte die Regierung der USA ein umfassendes<br />

Interventionsprogramm: das Projekt Head Start (wörtlich<br />

übersetzt: Vorsprung). In den vergangenen 45 Jahren hat dieses<br />

Programm für mehr als 25 Mio. Kinder eine breite Palette an<br />

Leistungen erbracht.<br />

Derzeit hilft Head Start über 900.000 Drei- bis Fünfjährigen<br />

pro Jahr in ungefähr 2000 Zentren überall in den USA. Die<br />

meisten Teilnehmer sind vier Jahre alt. Die Dienstleistungen des<br />

Programms kommen einer Vielfalt von ethnischen Gruppen zugute:<br />

2010 waren 39 % der Head-Start-Kinder Afroamerikaner,<br />

31 % europäischen Ursprungs <strong>und</strong> 34 % lateinamerikanischer<br />

Abstammung – die Summe liegt über 100 %, weil ein kleiner<br />

Anteil der Kinder mehreren Abstammungsgruppen zugeordnet<br />

wurde (Schmit 2011). Fast alle diese Kinder kommen aus Familien<br />

mit Einkünften unterhalb der Armutsgrenze, meistens<br />

handelt es sich um Familien von Alleinerziehenden. In dem<br />

Programm erhalten die Kinder medizinische <strong>und</strong> zahnärztliche<br />

Versorgung <strong>und</strong> nährstoffreiche Mahlzeiten, <strong>und</strong> eine Tagesstätte<br />

bietet ihnen eine sichere <strong>und</strong> anregende Umgebung. Viele Eltern


Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />

291 8<br />

Exkurs 8.2: Anwendungen: Eine äußerst erfolgreiche Frühintervention: Das Carolina-Abecedarian-Projekt | |<br />

Die Schwierigkeit, anhaltende Zugewinne be<strong>im</strong><br />

IQ <strong>und</strong> anderen Leistungstestwerten armer<br />

Kinder zu erzielen, führte einige Begutachter<br />

entsprechender Interventionsprogramme zu<br />

dem Schluss, dass die Intelligenz unveränderbar<br />

wäre (Jensen 1973; Westinghouse Learning<br />

Corporation 1969). Dieselben Ergebnisse motivierten<br />

andere Forscher jedoch zu überprüfen,<br />

ob langjährige Interventionen, die in der<br />

frühesten Kindheit ansetzen <strong>und</strong> versuchen,<br />

viele Aspekte des Lebens von Kindern parallel<br />

zu verbessern, nicht doch zu lang anhaltenden<br />

Steigerungen des IQ führen können, auch<br />

wenn das kürzeren, weniger intensiven <strong>und</strong><br />

später beginnenden Maßnahmen nicht gelungen<br />

war. Ein Programm, das zu einer positiven<br />

Antwort auf diese Frage geführt hat, ist das<br />

Carolina-Abecedarian-Projekt, das anschaulich<br />

demonstriert, wie Forschung zum <strong>Kindes</strong>wohl<br />

beitragen kann (Campbell <strong>und</strong> Ramey 2007;<br />

Ramey <strong>und</strong> Ramey 2004). („Abecedarian“ ist<br />

ein Kunstwort aus den Anfangsbuchstaben des<br />

Alphabets, <strong>im</strong> Deutschen etwa durch ein Wort<br />

wie „ABCler“ nachbildbar.)<br />

Carolina-Abecedarian-Projekt – Ein umfassendes<br />

<strong>und</strong> erfolgreiches Unterstützungsprogramm<br />

für Kinder aus einkommensschwachen Familien<br />

in den USA.<br />

Ausgewählt waren die an dem Programm<br />

teilnehmenden Kinder nach den Kriterien geringes<br />

Familieneinkommen, Abwesenheit des<br />

Vaters <strong>im</strong> häuslichen Leben, geringer IQ <strong>und</strong><br />

Bildungsstand der Mutter <strong>und</strong> anderen Faktoren,<br />

die auf drohende Entwicklungsprobleme<br />

hindeuten. Mehr als 95 % der teilnehmenden<br />

Kinder waren afroamerikanischer Abstammung.<br />

Das Programm basierte auf sieben<br />

Prinzipien (Ramey <strong>und</strong> Ramey 2004):<br />

1. Erk<strong>und</strong>ungsverhalten ermutigen,<br />

2. elementare Fähigkeiten unterstützen,<br />

3. Entwicklungsfortschritte feiern,<br />

4. neue Fähigkeiten üben <strong>und</strong> verallgemeinern,<br />

5. die Kinder vor unangemessener Missbilligung,<br />

Spott <strong>und</strong> Strafe schützen,<br />

6. ausgiebig <strong>und</strong> antwortbereit kommunizieren,<br />

7. Verhalten anleiten <strong>und</strong> Grenzen setzen.<br />

In dem Programm fingen die Kinder mit sechs<br />

Monaten an, eine spezielle Tagesstätte zu<br />

besuchen, <strong>und</strong> setzten dies bis zum Alter von<br />

fünf Jahren fort. Sie waren fünf Jahre lang<br />

den ganzen Arbeitstag über, von 7.45 Uhr bis<br />

17.30 Uhr, in der Tagesstätte, fünf Tage in der<br />

Woche, 50 Wochen <strong>im</strong> Jahr. Das Verhältnis von<br />

Lehrern zu Kindern war opt<strong>im</strong>al: 1:3 für Kinder<br />

bis zu drei Jahren <strong>und</strong> 1:6 für Vierjährige.<br />

Das Programm für Kinder bis zu drei Jahren<br />

betonte die allgemeine soziale, kognitive <strong>und</strong><br />

motorische Entwicklung; für Kinder über drei<br />

Jahre kam systematischer Unterricht in Mathematik,<br />

Naturwissenschaften, Lesen <strong>und</strong> Musik<br />

hinzu. Auf allen Altersstufen betonte das Programm<br />

die Sprachentwicklung <strong>und</strong> stellte eine<br />

ausgiebige verbale Kommunikation zwischen<br />

Lehrern <strong>und</strong> Kindern sicher. Die Beschäftigten<br />

des Programms arbeiteten auch mit den Müttern<br />

der Kinder außerhalb des Zentrums, um<br />

deren Kenntnisse über die <strong>Kindes</strong>entwicklung<br />

zu verbessern. Die Familien der Kinder, die sich<br />

in dem Pilotprogramm befanden, erhielten<br />

Nahrungsergänzungen <strong>und</strong> Zugang zu guter<br />

Ges<strong>und</strong>heitsversorgung. Die Familien von Kindern<br />

einer Kontrollgruppe erhielten dieselben<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Ernährungsvorteile, aber die<br />

Kinder besuchten nicht die Tagesstätte.<br />

Dieses sorgfältig geplante, vielseitige Programm<br />

erbrachte anhaltende positive Effekte<br />

auf die IQ-Werte <strong>und</strong> Leistungsgrade der Kinder<br />

in der Exper<strong>im</strong>entalgruppe. (Da in den USA<br />

<strong>und</strong> Kanada der Zugang zu weiterführenden<br />

Schulen <strong>und</strong> Ausbildungsgängen stark von<br />

landesweit standardisierten Leistungstests wie<br />

dem GRE oder dem SAT abhängt, werden in<br />

den Programmen neben dem IQ in der Regel<br />

auch diese Art von Leistungsfähigkeitsnachweisen<br />

auf Verbesserungen geprüft.) Im Alter<br />

von 21 Jahren, 15 Jahre nach Beendigung des<br />

Programms, besaßen diese Kinder um fünf<br />

Punkte höhere mittlere IQ-Werte als die Kinder<br />

der Kontrollgruppe: 90 gegenüber 85 (Campbell<br />

et al. 2001). Die Leistungstestwerte in<br />

Mathematik <strong>und</strong> Lesen waren ebenfalls höher.<br />

Wie bei den weniger umfassenden Interventionsprogrammen<br />

blieben weniger Teilnehmer<br />

jemals sitzen oder wurden speziellen Förderoder<br />

Sonderschulklassen zugewiesen. Im<br />

Alter von 30 Jahren lag die die Quote be<strong>im</strong><br />

College-Abschluss in der Interventionsgruppe<br />

bei 26 % der Teilnehmer, gegenüber 6 % in der<br />

Kontrollgruppe (Campbell et al. 2012). Eine<br />

Neuauflage des Programms zeigte, dass der<br />

vom Programm bewirkte Unterschied umso<br />

größer ausfiel, je niedriger der Bildungsstand<br />

der Mutter war (Ramey <strong>und</strong> Ramey 2004).<br />

Was kann man aus dem Abecedarian-Projekt<br />

lernen? Zunächst scheint es von Vorteil zu<br />

sein, Interventionen sehr früh zu beginnen<br />

<strong>und</strong> sie über lange Zeiträume aufrechtzuerhalten.<br />

Eine Version des Programms, die<br />

endete, als die Kinder drei Jahre alt waren,<br />

produzierte genauso wenig Langzeiteffekte<br />

auf die Intelligenz wie ein Programm, das pädagogische<br />

Unterstützung vom Kindergarten<br />

bis zur zweiten Klasse anbot (Burchinal et al.<br />

1997; Ramey et al. 2000). Eine zweite entscheidende<br />

Lehre bezieht sich auf die Notwendigkeit,<br />

dass die Betreuungspersonen<br />

mit den Kindern auf positive, interessierte<br />

Weise interagieren. Eine hohe Quote von<br />

Erwachsenen zu Kindern in den Tagesstätten<br />

macht solche Interaktionen wahrscheinlicher;<br />

auch hilft es, die Mitarbeiter hinsichtlich<br />

der Notwendigkeit solcher Interaktionen<br />

zu schulen. Eine dritte Lehre aus dieser<br />

erfolgreichen Frühförderung besteht darin,<br />

dass die Erfolge vermutlich nachhaltig sind,<br />

<strong>und</strong> zwar bei Verbesserungen der Selbstkontrolle<br />

<strong>und</strong> des Durchhaltevermögens der<br />

Kinder ebenso wie bei den Steigerungen des<br />

IQ (Heckman 2011; Knudsen et al. 2006). Die<br />

vielleicht wichtigste Lehre ist zugleich die<br />

gr<strong>und</strong>legendste: Es ist möglich, Interventionen<br />

so zu gestalten, dass sie erhebliche,<br />

überdauernde positive Effekte auf die<br />

intellektuelle Entwicklung von Kindern aus<br />

einkommensschwachen Familien haben.<br />

..<br />

Die positive Wirkung des Abecedarian-Programms blieb auch 15 Jahre nach Beendigung<br />

der Förderung offenk<strong>und</strong>ig, wie dieser Vergleich der Mathematikleistungen in<br />

der Förder- bzw. Kontrollgruppe veranschaulicht. Im Vergleich zum durchschnittlichen<br />

Leistungsniveau von US-amerikanischen Kindern <strong>im</strong> Fach Mathematik sank die Leistung<br />

zwar in beiden Gruppen zwischen dem achten <strong>und</strong> dem 21. Lebensjahr, aber auf jeder<br />

Altersstufe waren die Leistungen der Kinder, die am Programm teilnahmen, besser als die<br />

Leistungen von Kindern aus vergleichbar benachteiligten Familien, die zur Kontrollgruppe<br />

gehörten


292<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

Punktwerte in Mathematik<br />

105<br />

100<br />

95<br />

90<br />

85<br />

..<br />

Kinder, die wie die hier abgebildeten Jungen an<br />

Head-Start-Programmen teilnehmen, bleiben in<br />

späteren Jahren seltener sitzen <strong>und</strong> erreichen häufiger<br />

den Highschool-Abschluss als Kinder mit ähnlichem<br />

familiären Hintergr<strong>und</strong>, die nicht an diesen Förderprogrammen<br />

teilnehmen. (© Michael Doolittle/The Image<br />

Works)<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

80<br />

8<br />

10<br />

12<br />

der teilnehmenden Kinder arbeiten als Betreuungspersonen in<br />

den Programmzentren, beteiligen sich an der Gremienarbeit, um<br />

die speziellen Richtlinien der jeweiligen Einrichtung zu planen,<br />

<strong>und</strong> erhalten Hilfe hinsichtlich ihrer beruflichen <strong>und</strong> emotionalen<br />

Bedürfnisse.<br />

In Übereinst<strong>im</strong>mung mit den Bef<strong>und</strong>en der kleineren exper<strong>im</strong>entellen<br />

Interventionsprogramme, die ebenfalls auf Drei- <strong>und</strong><br />

Vierjährige zielten, führt die Teilnahme an Head Start zu höheren<br />

IQ-Werten <strong>und</strong> Leistungstestwerten bei Programmende <strong>und</strong> ein<br />

paar Jahre später. Der zwingendste Beleg ergibt sich aus einer<br />

sorgfältigen Studie zur Wirkung des Head-Start-Programms<br />

(U.S. Department of Health and Human Services 2010), an der<br />

5000 drei- <strong>und</strong> vierjährige Kinder aus einkommensschwachen<br />

Familien teilnahmen; es handelte sich dabei um Kinder auf den<br />

Wartelisten für die Head-Start-Förderung, die nach dem Zufallsprinzip<br />

zwei Gruppen zugeteilt wurden: entweder dem Head-<br />

Start-Programm oder einer anderen kommunalen Förderung,<br />

die sie entsprechend der Wahl ihrer Eltern durchliefen. Die<br />

Kinder bildeten eine repräsentative Stichprobe für die einkommensschwache<br />

Bevölkerung in den USA, <strong>und</strong> die Head-Start-<br />

Einrichtungen, in denen die Kinder begleitet wurden, waren <strong>im</strong><br />

Hinblick auf ihre Betreuungsqualität ebenfalls repräsentativ.<br />

Die Kinder, die am Head-Start-Programm teilnahmen, zeigten<br />

nach einem Jahr be<strong>im</strong> frühen Lesen <strong>und</strong> Schreiben (allerdings<br />

nicht <strong>im</strong> Rechnen) bessere Fertigkeiten (U.S. Department<br />

of Health and Human Services 2010). Nach Abschluss des ersten<br />

Schuljahres waren die Leistungen jedoch nicht mehr von den<br />

Leistungen der Kinder unterscheidbar, die nicht an dem Programm<br />

teilnahmen <strong>und</strong> aus ähnlichen familiären Verhältnissen<br />

stammten (U.S. Department of Health and Human Services<br />

2010). Weniger umfassende Evaluationen des Head-Start-Programms<br />

waren zu ähnlichen Ergebnissen gekommen (McKey<br />

et al. 1985; McLoyd 1998).<br />

Andererseits hat die Teilnahme an Head Start eine Reihe<br />

von nachhaltigen positiven Wirkungen, ähnlich wie bei exper<strong>im</strong>entellen<br />

Vorschulprogrammen: bessere soziale Fähigkeiten<br />

14<br />

16<br />

Alter in Jahren<br />

Förderung<br />

18 20<br />

22<br />

Kontrollgruppe<br />

<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit, geringere Häufigkeit des Sitzenbleibens, höhere<br />

Wahrscheinlichkeit, den Highschool-Abschluss zu erreichen <strong>und</strong><br />

das College zu besuchen, geringere Prozentsätze von Drogenabhängigkeit<br />

<strong>und</strong> Kr<strong>im</strong>inalität (Love et al. 2007; Zigler <strong>und</strong> Styfco<br />

2004). Dies sind wichtige Erfolge, die zu der anhaltenden politischen<br />

Popularität von Head Start beigetragen haben. (Ein vergleichbares<br />

überregionales Programm für sozial benachteiligte<br />

Kinder in Deutschland gibt es bis heute noch nicht!)<br />

In Kürze | |<br />

Die Entwicklung der Intelligenz wird durch Eigenschaften<br />

des <strong>Kindes</strong>, seiner unmittelbaren Umgebung <strong>und</strong> der Gesellschaft<br />

<strong>im</strong> weiteren Sinne beeinflusst. Das genetische Erbe<br />

des <strong>Kindes</strong> stellt einen wichtigen Einfluss dar, insbesondere<br />

bei Kindern aus Familienmit mit mittlerem oder gehobenem<br />

Einkommen; dieser Einfluss n<strong>im</strong>mt <strong>im</strong> Entwicklungsverlauf<br />

stetig zu. Auch die intellektuelle Umwelt in der Familie des<br />

<strong>Kindes</strong> <strong>und</strong> die Erfahrung des Schulbesuchs wirken sich auf<br />

die Intelligenz aus. Allgemeinere Faktoren wie der ökonomische<br />

Status <strong>und</strong> der Bildungsstand der Familie sowie das<br />

Vorhandensein beider Elternteile sind ebenfalls wichtig.<br />

Bei Kindern aus unteren Einkommensschichten sind diese<br />

Umweltgegebenheiten <strong>im</strong> Hinblick auf die intellektuelle<br />

Entwicklung einflussreicher als die Gene. Der gesellschaftliche<br />

Einfluss zeigt sich deutlich be<strong>im</strong> Flynn-Effekt, einer<br />

stetigen Zunahme der IQ-Werte in den hoch entwickelten<br />

Industrieländern.<br />

Förderprogramme wie Head Start zeigen viele positive<br />

Ergebnisse, wobei ihre Wirkung auf den IQ <strong>und</strong> andere<br />

Leistungstestwerte in vielen Fällen mit der Zeit verblasst.<br />

Aber mindestens ein Frühinterventionsprogramm, das<br />

Carolina-Abecedarian-Projekt, berichtet über nachhaltig positive<br />

Effekte auf IQ <strong>und</strong> Leistungsmaße bis ins Jugend- <strong>und</strong><br />

Erwachsenenalter.


Alternative Ansätze zur Intelligenz<br />

293 8<br />

Alternative Ansätze zur Intelligenz<br />

Die Diskussion der intellektuellen Entwicklung hat sich in diesem<br />

Kapitel bislang auf den IQ-Testwert als zentrales Maß der<br />

Intelligenzentwicklung gestützt, <strong>und</strong> die Forschungsarbeiten auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage von IQ-Tests haben sehr viel über die Entwicklung<br />

der Intelligenz zutage gefördert. Aber eine Reihe von Theoretikern<br />

hat darauf hingewiesen, dass viele ebenfalls wichtige<br />

Aspekte der Intelligenz mit IQ-Tests nicht erfasst würden. Solche<br />

Tests erheben verbale, mathematische <strong>und</strong> räumliche Fähigkeiten,<br />

untersuchen jedoch nicht unmittelbar andere Fähigkeiten,<br />

die genauso Teil der Intelligenz sein dürften: Kreativität, soziales<br />

Verstehen, Wissen um die eigenen Stärken <strong>und</strong> Schwächen<br />

<strong>und</strong> so weiter. Diese Sichtweise brachte Howard Gardner <strong>und</strong><br />

Robert Sternberg dazu, Intelligenztheorien zu formulieren, die<br />

einen größeren Bereich menschlicher Fähigkeiten umfassen als<br />

traditionelle Intelligenzkonzeptionen.<br />

Howard Gardner (1993) nannte seinen Ansatz Theorie der<br />

multiplen Intelligenzen. Die Gr<strong>und</strong>annahme besteht darin,<br />

dass Menschen über acht verschiedene Intelligenztypen verfügen:<br />

sprachliche, logisch-mathematische <strong>und</strong> räumliche Fähigkeiten,<br />

wie sie in den Vorgängertheorien bereits betont <strong>und</strong> in<br />

den IQ-Tests erfasst werden, <strong>und</strong> außerdem musikalische, naturalistische,<br />

kinästhetische, intrapersonale <strong>und</strong> interpersonale<br />

Fähigkeiten (. Tab. 8.2).<br />

Theorie multipler Intelligenzen – Gardners Theorie des Intellekts, die auf der<br />

Annahme beruht, dass es mindestens acht Typen von Intelligenz gibt.<br />

..<br />

Tab. 8.2 Gardners Theorie der multiplen Intelligenzen<br />

Intelligenztyp Beschreibung Beispiele<br />

Sprachliche<br />

Intelligenz<br />

Gardner zog mehrere Arten von Belegen <strong>und</strong> Hinweisen heran,<br />

um diese Gruppe von Intelligenzen zu identifizieren. Ein Belegtyp<br />

bezieht sich auf Defizite, die bei Menschen mit Gehirnschädigungen<br />

auftreten. Beispielsweise verfügen einige hirngeschädigte<br />

Patienten zwar in den meisten Bereichen noch über uneingeschränkte<br />

Funktionen, besitzen aber kein Verständnis mehr für<br />

die Belange anderer Menschen (Damasio 1999). Aus diesem<br />

Phänomen schloss Gardner, dass sich die interpersonale Intelligenz<br />

von anderen Typen der Intelligenz unterscheiden lässt.<br />

Eine zweite Kategorie von Belegen, anhand derer Gardner seine<br />

Gruppe von Intelligenzen identifizierte, finden sich bei W<strong>und</strong>erkindern,<br />

die schon sehr früh <strong>im</strong> Leben außergewöhnliche<br />

Fähigkeiten auf einem Gebiet zeigen, aber nicht in anderen Bereichen.<br />

Ein Beispiel hierfür ist Wolfgang Amadeus Mozart, der<br />

schon als Kind musikalisches Genie offenbarte, ansonsten aber<br />

nicht ungewöhnlich war. Die Existenz derart hochspezialisierter<br />

musikalischer Talente wie Mozart kann als Beleg dafür gelten,<br />

musikalische Fähigkeiten als eine separate Form der Intelligenz<br />

zu betrachten. Gardners Intelligenztheorie kann sich nicht auf<br />

so viele Bef<strong>und</strong>e stützen wie traditionelle Intelligenztheorien,<br />

aber sie hat mit ihrer opt<strong>im</strong>istischen Botschaft, dass Kinder viele<br />

Stärken haben, auf denen Lehrer <strong>im</strong> Schulunterricht aufbauen<br />

können, einen starken Einfluss auf die Pädagogik.<br />

Robert Sternberg (1999) behauptet ebenfalls, dass die<br />

Schwerpunktsetzung von IQ-Tests auf den Typ von Intelligenz,<br />

der für Erfolg in der Schule gebraucht wird, zu eng gefasst ist.<br />

Seine alternative Sicht auf die Intelligenz unterscheidet sich aber<br />

von Gardners Vorschlägen. Sternbergs Theorie der Erfolgs-<br />

Logischmathematische<br />

Intelligenz<br />

Räumliche<br />

Intelligenz<br />

Musikalische<br />

Intelligenz<br />

Naturalistische<br />

Intelligenz<br />

Kinästhetische<br />

Intelligenz<br />

Intrapersonale<br />

Intelligenz<br />

Interpersonale<br />

Intelligenz<br />

Gespür für die Bedeutungen<br />

<strong>und</strong> Laute von Wörtern;<br />

Beherrschung der Syntax;<br />

Verständnis dafür, wie sich<br />

die Sprache verwenden lässt<br />

Verstehen von Objekten <strong>und</strong><br />

Symbolen, der Handlungen,<br />

die man mit ihnen ausführen<br />

kann, <strong>und</strong> der Beziehungen<br />

zwischen diesen Handlungen;<br />

Fähigkeit zur Abstraktion;<br />

Fähigkeit, Probleme zu<br />

erkennen <strong>und</strong> nach Erklärungen<br />

zu suchen<br />

Fähigkeit zur akkuraten<br />

Wahrnehmung der sichtbaren<br />

Welt; zur Ausführung<br />

von Transformationen<br />

dieser Wahrnehmungen<br />

<strong>und</strong> zur Wiederherstellung<br />

von Aspekten der visuellen<br />

Erfahrung in Abwesenheit<br />

der physikalischen Reize;<br />

Gespür für Spannung, Ausgewogenheit<br />

<strong>und</strong> Komposition;<br />

Fähigkeit, ähnliche Muster zu<br />

entdecken<br />

Gespür für einzelne musikalische<br />

Töne, Klänge <strong>und</strong><br />

Phrasen; Verständnis für<br />

die Kombination von Tönen<br />

<strong>und</strong> Phrasen zu größeren<br />

musikalischen Rhythmen<br />

<strong>und</strong> Strukturen; Bewusstsein<br />

für emotionale Aspekte der<br />

Musik<br />

Gespür <strong>und</strong> Verstehen von<br />

Pflanzen, Tieren <strong>und</strong> anderen<br />

Aspekten der Natur<br />

Einsatz des eigenen Körpers<br />

in äußerst befähigter Weise<br />

für expressive oder zielgerichtete<br />

Zwecke; Fähigkeit<br />

zum geschickten Umgang<br />

mit Objekten<br />

Zugang zum eigenen<br />

Gefühlsleben; Fähigkeit, sich<br />

be<strong>im</strong> Leiten <strong>und</strong> Verstehen<br />

des eigenen Verhaltens auf<br />

die eigenen Emotionen zu<br />

beziehen<br />

Fähigkeit, die St<strong>im</strong>mungen,<br />

Temperamentseigenschaften,<br />

Motive <strong>und</strong> Absichten<br />

anderer Menschen zu bemerken<br />

<strong>und</strong> zu unterscheiden<br />

<strong>und</strong> nach Möglichkeit<br />

aufgr<strong>und</strong> dieses Wissens zu<br />

handeln<br />

Dichter<br />

Politischer<br />

Redner<br />

Lehrer<br />

Mathematiker<br />

Wissenschaftler<br />

Künstler<br />

Ingenieur<br />

Schachmeister<br />

Musiker<br />

Komponist<br />

Biologe<br />

Tänzer<br />

Athlet<br />

Schauspieler<br />

Romancier<br />

Therapeut<br />

Patient<br />

Politischer<br />

Führer<br />

Religiöser Führer<br />

Eltern, Lehrer<br />

Therapeut


294<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

intelligenz betrachtet Intelligenz als „die Fähigkeit, <strong>im</strong> Leben<br />

erfolgreich zu sein, unter der Voraussetzung der persönlichen<br />

Standards <strong>und</strong> innerhalb des soziokulturellen Kontexts“ (Sternberg<br />

1999, S. 4). Aus seiner Sicht spiegelt Erfolg <strong>im</strong> Leben die<br />

Fähigkeit von Menschen wider, auf ihre Stärken zu setzen, ihre<br />

Schwächen zu kompensieren <strong>und</strong> Umgebungen auszuwählen,<br />

in denen sie erfolgreich sein können. Wenn sich jemand zum<br />

Beispiel für einen Job entscheidet, kann das Erkennen der Bedingungen,<br />

die ihn motivieren, sein Bestes zu geben, für den Erfolg<br />

genauso wichtig sein wie seine sprachlichen, räumlichen <strong>und</strong><br />

mathematischen Fähigkeiten.<br />

Theorie der Erfolgsintelligenz – Sternbergs Theorie der Intelligenz, die die<br />

Fähigkeit, <strong>im</strong> Leben erfolgreich zu sein, betont.<br />

Sternberg behauptet, dass das Ausmaß, in dem Menschen <strong>im</strong><br />

Leben Erfolg haben können, von drei Fähigkeitstypen abhängt:<br />

von analytischen, praktischen <strong>und</strong> kreativen Fähigkeiten. Analytische<br />

Fähigkeiten umfassen die Arten sprachlicher, mathematischer<br />

<strong>und</strong> räumlicher Fähigkeiten, wie sie in traditionellen<br />

Intelligenztests gemessen werden. Praktische Fähigkeiten beziehen<br />

sich auf das vernünftige Nachdenken über Alltagsprobleme,<br />

etwa die Konfliktlösung mit anderen Menschen. Kreative<br />

Fähigkeiten sind geistige Flexibilität <strong>und</strong> Innovationskraft, die<br />

effektives logisches Denken unter neuartigen Umständen ermöglichen.<br />

Die Intelligenztheorien von Gardner <strong>und</strong> Sternberg haben<br />

dazu angeregt, lang gehegte Annahmen zur Intelligenz zu überdenken.<br />

Intelligenz <strong>und</strong> Lebenserfolg umfassen klarerweise ein<br />

breiteres Fähigkeitenspektrum als dasjenige, was traditionelle<br />

Intelligenztests messen, <strong>und</strong> es könnte durchaus sein, dass sich<br />

Intelligenz besser einschätzen lässt, wenn man diesen breiteren<br />

Bereich von Fähigkeiten misst. Es gibt bis dato keine allumfassende<br />

korrekte Intelligenztheorie, <strong>und</strong> es wird vermutlich auch in<br />

Zukunft keine solche geben. Vorstellbar ist dagegen eine Vielfalt<br />

von Theorien <strong>und</strong> darauf aufbauenden Tests, die zusammen die<br />

unterschiedlichen Möglichkeiten identifizieren, wie Menschen<br />

intelligent denken <strong>und</strong> handeln.<br />

In Kürze | |<br />

Howard Gardner <strong>und</strong> Robert Sternberg haben neue Intelligenztheorien<br />

formuliert. Gardners Theorie der multiplen<br />

Intelligenzen n<strong>im</strong>mt acht Intelligenzen an: sprachliche,<br />

logisch-mathematische, räumliche, musikalische, naturalistische,<br />

kinästhetische, intrapersonale <strong>und</strong> interpersonale<br />

Intelligenz. Sternbergs Theorie der Erfolgsintelligenz<br />

n<strong>im</strong>mt an, dass Erfolg <strong>im</strong> Leben von drei Fähigkeitstypen<br />

abhängt: analytischen, praktischen <strong>und</strong> kreativen Fähigkeiten.<br />

Beide Theorien verstehen unter Intelligenz ein<br />

breiteres Spektrum von Fähigkeiten, als es in traditionellen<br />

Theorien der Fall ist.<br />

Der Erwerb schulischer Fähigkeiten:<br />

Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />

Zu den wichtigsten Intelligenzleistungen von Kindern gehört das<br />

Erlernen der Fähigkeiten <strong>und</strong> Begriffe, die in der Schule vermittelt<br />

werden. Weil diese Fähigkeiten <strong>und</strong> Begriffe so entscheidend<br />

sind, um in der heutigen Gesellschaft Erfolg zu haben, <strong>und</strong> weil<br />

sie nicht ganz einfach zu beherrschen sind, verbringen Kinder<br />

von der ersten bis zur zwölften Klasse mehr als 2000 Tage in der<br />

Schule. Ein großer Teil dieser Zeit wird dafür aufgewandt, lesen,<br />

schreiben <strong>und</strong> rechnen zu lernen. In diesem Abschnitt konzentrieren<br />

wir uns darauf, wie Kinder diese Fähigkeiten erwerben<br />

<strong>und</strong> warum manche Kinder solche Schwierigkeiten dabei haben.<br />

Lesen<br />

Viele Kinder lernen mühelos lesen, andere nicht. Wer könnte sich<br />

nicht an die Peinlichkeiten be<strong>im</strong> Lesen erinnern, wenn Klassenkameraden<br />

– oder man selbst – scheinbar ewig brauchten, um<br />

einfache Sätze vorzulesen, <strong>und</strong> das noch in der zweiten <strong>und</strong> dritten<br />

Klasse. Wie kommt es, dass manche Kinder so mühelos lesen<br />

lernen, während andere damit große Schwierigkeit haben? Um<br />

diese Frage zu beantworten, müssen wir den typischen Weg der<br />

Leseentwicklung untersuchen <strong>und</strong> dann sehen, wie <strong>und</strong> warum<br />

Kinder von ihm abweichen.<br />

Chall (1979) beschrieb fünf Stufen der Leseentwicklung.<br />

Diese Stufen bieten einen guten Überblick über den typischen<br />

Weg bis zum Lesenkönnen:<br />

1. Stufe 0 (von der Geburt bis zur Einschulung): In dieser Zeit<br />

erwerben viele Kinder zentrale Voraussetzungen des Lesens.<br />

Dazu gehören die Kenntnis der Buchstaben des Alphabets<br />

<strong>und</strong> der Erwerb phonologischer Bewusstheit; darunter versteht<br />

man die Fähigkeit, lautliche Bestandteile in gesprochenen<br />

Wörtern zu identifizieren.<br />

2. Stufe 1 (erste <strong>und</strong> zweite Klasse): Die Kinder erwerben die<br />

Fähigkeit zur phonologischen Recodierung; das ist die<br />

Fähigkeit, Buchstaben in Laute zu übersetzen <strong>und</strong> diese zu<br />

Wörtern zu verbinden. (In alltäglicher Terminologie ist das<br />

die Fähigkeit, ein Wort laut auszubuchstabieren.)<br />

3. Stufe 2 (zweite <strong>und</strong> dritte Klasse): Die Kinder erreichen Flüssigkeit<br />

be<strong>im</strong> Lesen einfacher sprachlicher Materialien.<br />

4. Stufe 3 (vierte bis achte Klasse): Die Kinder werden fähig, Gedrucktem<br />

recht komplexe neue Informationen zu entnehmen.<br />

Oder mit Chall (1979, S. 24): „In den unteren Klassen lernen die<br />

Kinder lesen, in den höheren Klassen lesen sie, um zu lernen.“<br />

5. Stufe 4 (achte bis zwölfte Klasse): Jugendliche werden fähig,<br />

nicht nur Information, die aus einer Perspektive dargeboten<br />

wird, zu verstehen, sondern auch mehrere Perspektiven zu<br />

koordinieren. Das ermöglicht es ihnen, sich an den Feinsinnigkeiten<br />

in anspruchsvollen Romanen <strong>und</strong> Theaterstücken<br />

zu erfreuen, die fast <strong>im</strong>mer mehrere Sichtweisen enthalten.<br />

Phonologische Bewusstheit – Die Fähigkeit, die lautliche Struktur von Wörtern<br />

zu identifizieren.<br />

Phonologische Recodierung – Die Fähigkeit, Buchstaben in Laute zu übersetzen<br />

<strong>und</strong> diese zu Wörtern zu verbinden.


Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />

295 8<br />

Diese Beschreibung der Entwicklungsstufen erlaubt ein allgemeines<br />

Verständnis des Leselernprozesses <strong>und</strong> bietet einen Erklärungsrahmen<br />

dafür, wie sich spezielle Entwicklungen in das<br />

Gesamtbild einfügen.<br />

Vorläuferfähigkeiten des Lesens<br />

Vor Schuleintritt erwerben Kinder eine best<strong>im</strong>mte Gr<strong>und</strong>information<br />

über das Lesen allein dadurch, dass sie Bücher betrachten<br />

<strong>und</strong> sich von ihren Eltern vorlesen lassen. Sie lernen, dass (<strong>im</strong><br />

Deutschen <strong>und</strong> anderen europäischen Sprachen) Texte von links<br />

nach rechts gelesen werden, dass man bei Erreichen des Zeilenendes<br />

links außen in der nächsten Zeile weiterliest <strong>und</strong> dass<br />

Wörter durch kleine Zwischenräume voneinander getrennt sind.<br />

Kinder gebildeter Eltern lernen oft auch bereits die Namen<br />

der meisten oder aller Buchstaben des Alphabets, bevor sie in<br />

die Schule kommen. Für die Kinder von Eltern mit geringem<br />

Bildungsniveau gilt das <strong>im</strong> Allgemeinen jedoch nicht. In einer<br />

Studie an Kindergartenkindern, zu Beginn der Vorschule, kannten<br />

86 % der Kinder, deren Mütter einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss<br />

hatten, die Buchstaben, aber nur 38 % der<br />

Kinder von Müttern ohne Highschool-Abschluss beherrschten<br />

das Buchstabenerkennen (West et al. 2000).<br />

Die Beherrschung der Buchstabennamen bei Kindergartenkindern<br />

korreliert positiv mit ihrer späteren Leseleistung<br />

zumindest bis zur siebten Klasse (Vellutino <strong>und</strong> Scanlon 1987).<br />

Es besteht jedoch keine kausale Beziehung zwischen beidem; es<br />

erhöht nicht die spätere Leseleistung, wenn man zufällig ausgewählten<br />

Vorschulkindern die Namen der Buchstaben beibringt<br />

(Piasta <strong>und</strong> Wagner 2010). Stattdessen scheinen andere Variable<br />

sowohl das frühe Kennen des Alphabets als auch die spätere hohe<br />

Leseleistung anzuregen, beispielsweise das Interesse des <strong>Kindes</strong><br />

an Büchern <strong>und</strong> das Interesse der Eltern am Lesen ihrer Kinder.<br />

Die phonologische Bewusstheit hingegen ist mit der späteren<br />

Leseleistung nicht nur korreliert, sondern auch eine Ursache<br />

dafür. Um die Bewusstheit der Lautbestandteile in Wörtern zu<br />

messen, fragt man die Kinder bei Tests beispielsweise, ob zwei<br />

Wörter mit demselben Laut beginnen, welche Lautkomponenten<br />

in einem Wort vorkommen <strong>und</strong> was übrig bleibt, wenn man<br />

einen best<strong>im</strong>mten Laut aus dem Wort weglässt. Die Leistung in<br />

solchen Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit <strong>im</strong> Kindergartenalter<br />

ist der stärkste Prädiktor für die Fähigkeit der Kinder<br />

in den ersten Schuljahren, Wörter herauszufinden <strong>und</strong> zu buchstabieren<br />

– stärker noch als der IQ oder die Bildungsschicht, der<br />

ihre Eltern angehören (Nation 2008; Rayner et al. 2001). Dieser<br />

Zusammenhang mit der Leseleistung besteht auch noch elf<br />

Jahre später, neben oder zusätzlich zu dem Einfluss der sozialen<br />

Schicht (MacDonald <strong>und</strong> Cornwall 1995).<br />

Noch eindrucksvoller hat sich bei der Auswertung von 52 gut<br />

kontrollierten exper<strong>im</strong>entellen Untersuchungen gezeigt, dass Kinder,<br />

die als Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige zu phonologischer Bewusstheit<br />

angeleitet worden waren, noch Jahre nach dem Training bessere<br />

Leser <strong>und</strong> Buchstabierer blieben als untrainierte Kinder (National<br />

Reading Panel 2000). Wenn man Kindern beibringt, Wörter in<br />

ihre Lautkomponenten zu zerlegen <strong>und</strong> dann nacheinander die<br />

Buchstaben aufzuschreiben, die am besten zu den aufeinanderfolgenden<br />

Lauten passen, ergeben sich enorme Verbesserungen<br />

<strong>im</strong> Buchstabieren (Levin <strong>und</strong> Aram 2013).<br />

Explizites Training kann die phonologische Bewusstheit mit<br />

fördern, aber die meisten Kinder erhalten kein solches explizites<br />

Training. Wie entsteht dann phonologische Bewusstheit in natürlicher<br />

Umgebung? Eine wichtige Erfahrung ist das Hören von<br />

Kinderre<strong>im</strong>en. Viele Kinderre<strong>im</strong>e heben den Beitrag einzelner<br />

Laute zu den Unterschieden zwischen Wörtern hervor. („Frau<br />

von Hagen, darf ich’s wagen, Sie zu fragen, wie viel Kragen Sie<br />

getragen, als Sie lagen krank am Magen <strong>im</strong> Spital zu Kopenhagen?“).<br />

In Übereinst<strong>im</strong>mung mit dieser Hypothese korreliert<br />

das Kennen von Kinderversen bei Dreijährigen positiv mit ihrer<br />

späteren phonologischen Bewusstheit, über die Einflüsse ihres<br />

IQs <strong>und</strong> des Bildungsstands ihrer Mutter hinaus (Maclean et al.<br />

1987). Weitere Faktoren, die zur Entwicklung der phonologischen<br />

Bewusstheit beitragen, sind unter anderem der zunehmende<br />

Umfang des Arbeitsgedächtnisses, die zunehmend effizientere<br />

Sprachverarbeitung <strong>und</strong> insbesondere das Lesen selbst<br />

(Anthony <strong>und</strong> Francis 2005; McBride-Chang 2004). Kinder mit<br />

höherer phonologischer Bewusstheit lesen mehr <strong>und</strong> besser, was<br />

seinerseits zu weiterem Anwachsen ihrer phonologischen Bewusstheit<br />

sowie der Quantität <strong>und</strong> Qualität ihres Lesens führt.<br />

..<br />

Der Reiz von Kinderre<strong>im</strong>en für kleine Kinder war schon <strong>im</strong>mer offensichtlich,<br />

doch erst kürzlich erkannte man den Nutzen solcher Re<strong>im</strong>e für die<br />

phonologische Bewusstheit <strong>und</strong> das Lesenlernen. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Worterkennung<br />

Das schnelle, mühelose Erkennen von Wörtern ist nicht nur für<br />

das Leseverstehen entscheidend, sondern auch für die Freude<br />

am Lesen. Ein bemerkenswerter Bef<strong>und</strong> bringt es auf den Punkt:<br />

40 % der Viertklässler, die bei der Worterkennung nicht besonders<br />

gut waren, sagten, sie würden lieber ihr Z<strong>im</strong>mer aufräumen<br />

als lesen (Juel 1988). Einer ging so weit zu sagen: „Ich würde<br />

lieber den Sch<strong>im</strong>mel neben der Badewanne wegputzen als zu<br />

lesen.“ Eine schlechte Worterkennung macht den Leseprozess<br />

nicht nur langsam <strong>und</strong> mühselig; sie bringt die Kinder auch dazu,<br />

nicht mehr als das absolut Notwendige zu lesen, was wiederum<br />

die Verbesserung der Lesefähigkeit verhindert.<br />

Wörter kann man hauptsächlich mithilfe von zwei Prozessen<br />

erkennen: durch phonologische Recodierung oder durch direkten<br />

visuell gestützten Abruf. Wie zuvor angedeutet, <strong>im</strong>pliziert phonologische<br />

Recodierung die Umwandlung der visuellen Form


296<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Prozent Fehler<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

Lesen<br />

r = ,86<br />

Cherries<br />

White<br />

House Paper<br />

Dig<br />

Now<br />

Cookie<br />

Thumb<br />

Hand Purple Shells<br />

People Pet<br />

Ride Duck<br />

Horse<br />

Pair<br />

Mother Apples Sandwich<br />

Here Game<br />

Foot<br />

Shop<br />

Play<br />

Put<br />

Kitten<br />

Eating<br />

Saw<br />

Bat<br />

Find<br />

Book<br />

She, All Sit<br />

Cake<br />

Wig<br />

Ran Baby Them<br />

Puppy Pie<br />

Eight<br />

Seven<br />

Do<br />

Little Hat Ten<br />

Over<br />

Bird<br />

Your We<br />

Like<br />

Can<br />

Then<br />

Three<br />

It<br />

Green<br />

Got<br />

Blue Not Bed<br />

Dog Five Big Sun<br />

Her<br />

Fish<br />

Black<br />

You Car Nine<br />

Brown<br />

Up<br />

Six Boy Pig At<br />

Look<br />

Red<br />

Zoo Two One<br />

And Box To<br />

Four<br />

On<br />

The Girl<br />

Man<br />

Orange<br />

Cat<br />

In Fox<br />

Yellow<br />

10 20<br />

30 40 50 60 70 80 90<br />

Prozent Verwendung beobachtbarer Strategien<br />

eines Wortes in eine verbale, phonologische Form (als ob man<br />

es aussprechen würde), mit deren Hilfe man die Bedeutung des<br />

Wortes best<strong>im</strong>men kann. Be<strong>im</strong> visuell gestützten Abruf aus dem<br />

Gedächtnis greift man von der wahrgenommenen visuellen Form<br />

des Wortes direkt auf seine Bedeutung zu.<br />

Visuell gestützter Abruf – Das direkte Übergehen von der visuellen Form eines<br />

Wortes zu seiner Bedeutung.<br />

Die meisten kleinen Kinder nutzen beide Wege (Share 2004) <strong>und</strong><br />

wählen schon früh in der ersten Klasse je nach Bedarf zwischen<br />

ihnen. Das tun sie mithilfe eines Strategiewahlprozesses, bei<br />

dem sie den schnelleren Weg wählen, der wahrscheinlich zum<br />

richtigen Ergebnis führen wird. Im Zusammenhang mit dem<br />

Lesen bedeutet das, dass sich die Kinder bei leichten Wörtern<br />

stark auf den schnellen, aber nicht <strong>im</strong>mer akkuraten Ansatz des<br />

visuell gestützten Abrufs verlassen, während sie sich bei schweren<br />

Wörtern auf die langsamere, aber sicherere Strategie der phonologischen<br />

Recodierung stützen. Wie . Abb. 8.10 zeigt, sind Erstklässler<br />

sehr geschickt darin, ihre Strategien an die Schwierigkeit<br />

des jeweiligen Wortes anzupassen.<br />

Strategiewahlprozess – Ein Verfahren für die Wahl zwischen verschiedenen<br />

Wegen, ein Problem zu lösen.<br />

Father<br />

Perform<br />

Parade<br />

..<br />

Abb. 8.10 Die Strategiewahlen<br />

jüngerer Kinder be<strong>im</strong> Lesen. Es besteht<br />

eine starke positive Korrelation<br />

zwischen der Schwierigkeit eines<br />

Wortes, definiert durch die Anzahl<br />

der Fehler, die Kinder be<strong>im</strong> Lesen<br />

dieses Wortes machen, <strong>und</strong> der<br />

Häufigkeit, mit der jüngere Kinder<br />

be<strong>im</strong> Lesen eine beobachtbare<br />

Strategie verwenden, beispielsweise<br />

hörbares phonologisches Recodieren.<br />

Bei leichten Wörtern, die Kinder<br />

fast <strong>im</strong>mer korrekt lesen, etwa bei<br />

dem Wort „in“, verwenden sie selten<br />

beobachtbare Strategien, um das<br />

Wort zu identifizieren. Aber bei<br />

schwierigen Wörtern, die viele Fehler<br />

hervorrufen, etwa bei dem Wort „Parade“,<br />

greifen die Kinder häufig auf<br />

Strategien wie das laute Ausbuchstabieren<br />

zurück. (<strong>Siegler</strong> 1986)<br />

Dieser anpassungsfähigen Strategiewahl liegt unter anderem eine<br />

Form des assoziativen Lernens zugr<strong>und</strong>e, bei dem vorangehendes<br />

Verhalten das künftige Verhalten der Kinder formt (<strong>Siegler</strong><br />

1996). Leseanfänger stützen sich stark auf phonologisches Recodieren,<br />

weil die Assoziationen zwischen der visuellen Wortgestalt<br />

<strong>und</strong> den Lauten zu schwach sind, um den Gedächtnisabruf sinnvoll<br />

nutzen zu können. Richtig angewandt stärkt das phonologische<br />

Recodieren jedoch die Assoziationen zwischen visueller<br />

Wortgestalt <strong>und</strong> den zugehörigen Lauten, was wiederum erlaubt,<br />

den direkten visuell gestützten Abruf zunehmend erfolgreich anzuwenden.<br />

Entsprechend wird am ehesten bei solchen Wörtern<br />

zum direkten Gedächtnisabruf gewechselt, bei denen die Kinder<br />

das phonologische Recodieren am häufigsten richtig anwenden<br />

konnten: bei Wörtern, die kurz sind, die regelmäßige Buchstaben-Laut-Beziehungen<br />

aufweisen <strong>und</strong> die oft vorkommen. Und<br />

– ebenfalls <strong>im</strong> Einklang mit dem Konzept des assoziativen Lernens<br />

– hören Kinder, die das phonologische Recodieren besonders<br />

früh beherrschen, auch besonders früh damit auf, weil ihr<br />

Erfolg mit dieser Strategie sie befähigt, schneller zu visuellem<br />

Gedächtnisabruf überzugehen. Als dritte Konsequenz bestätigte<br />

sich, dass Leseanleitungen, die auf die lautlichen Strukturen <strong>und</strong><br />

die Strategie des phonologischen Recodierens hinweisen, eine<br />

schnelle <strong>und</strong> genaue Wortidentifikation fördern (Adams et al.<br />

1998; Xue <strong>und</strong> Meisels 2004).<br />

Mit fortschreitendem Alter <strong>und</strong> wachsender Erfahrung beeinflusst<br />

auch der bereits gelernte Wortschatz <strong>im</strong>mer stärker die<br />

Wortidentifikation, besonders bei Wörtern mit unregelmäßigen<br />

Laut-Symbol-Entsprechungen (Nation 2008). Jedoch bleibt auch<br />

das phonologische Recodieren bis ins Erwachsenenalter wichtig,


Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />

297 8<br />

Exkurs 8.3: Individuelle Unterschiede: Dyslexie | |<br />

Manche Kinder, die über normale Intelligenz<br />

verfügen <strong>und</strong> mit Eltern groß werden, die sie<br />

zum Lesen anhalten <strong>und</strong> ermutigen, können<br />

dennoch nur schlecht lesen. Diese Unfähigkeit<br />

zu lesen, obwohl keine Intelligenzminderung<br />

vorliegt, wird Dyslexie genannt <strong>und</strong> betrifft<br />

etwa 5–10 % der Kinder in den USA (Anthony<br />

<strong>und</strong> Francis 2005) <strong>und</strong> Europa. Die Ursachen von<br />

Dyslexie kennt man bislang kaum, aber die Gene<br />

gehören sicher dazu. Wenn bei einem eineiigen<br />

Zwilling Dyslexie diagnostiziert wird, dann<br />

beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass man diese<br />

Leseschwäche auch bei dem anderen Zwilling<br />

diagnostiziert, 84 %, bei zweieiigen Zwillingen<br />

hingegen nur 48 % (Kovas <strong>und</strong> Plomin 2007;<br />

Oliver et al. 2004). Das Ausmaß genetischer Einflüsse<br />

unterscheidet sich nach dem elterlichen<br />

Bildungsstand; wie be<strong>im</strong> IQ sind auch bei der<br />

Dyslexie die genetischen Einflüsse bei Kindern<br />

hochgebildeter Eltern stärker als bei Kindern<br />

weniger gebildeter Eltern (Friend et al. 2008).<br />

Dyslexie – Die Unfähigkeit, trotz normal ausgeprägter<br />

Intelligenz flüssig zu lesen.<br />

Auf der Ebene kognitiver Analyse beruht die<br />

Dyslexie vorwiegend auf einer unzureichenden<br />

Fähigkeit der Phonemdiskr<strong>im</strong>inierung, einem<br />

schlechten Kurzzeitgedächtnis für verbales<br />

Material (was sich beispielsweise in einer sehr<br />

lückenhaften Wiedergabe einer Liste beliebig<br />

aneinandergereihter Wörter zeigt) <strong>und</strong> in<br />

einer langsamen Wiedergabe der Namen von<br />

Objekten (Vellutino et al. 1995; W<strong>im</strong>mer et al.<br />

1999). Die Laute zu best<strong>im</strong>men, die mit einem<br />

Vokalbuchstaben einhergehen, ist für dyslexische<br />

Kinder besonders schwer, zumindest<br />

<strong>im</strong> Englischen, wo dasselbe Vokalzeichen auf<br />

mehrerlei Weise ausgesprochen werden kann<br />

(wie beispielsweise das a in „hate“, „hat“, „hall“<br />

<strong>und</strong> „hard“). Wegen dieser eingeschränkten<br />

phonologischen Verarbeitung haben dyslexische<br />

Kinder große Schwierigkeiten damit, die<br />

Buchstaben-Laut-Korrespondenzen zu beherrschen,<br />

die be<strong>im</strong> phonologischen Recodieren<br />

genutzt werden, insbesondere in Sprachen mit<br />

unregelmäßigen Laut-Symbol-Entsprechungen<br />

wie dem Englischen (Sprenger-Charolles 2004).<br />

Zum Beispiel erreichen 13 <strong>und</strong> 14 Jahre alte<br />

Kinder mit Dyslexie bei der Aufgabe, Pseudowörter<br />

vorzulesen, nur das Leistungsniveau,<br />

das normalerweise für Sieben- <strong>und</strong> Achtjährige<br />

typisch ist (Siegel 1993). (Pseudowörter<br />

sind Wörter, die es in einer Sprache nicht<br />

gibt, die aber phonologisch möglich wären;<br />

<strong>im</strong> Deutschen zum Beispiel Pirsel.) Nach dem<br />

oben beschriebenen Strategiewahlmodell<br />

ist zu erwarten, dass diese Schwierigkeit der<br />

phonologischen Verarbeitung bei den meisten<br />

dyslexischen Kindern auch den visuell gestützten<br />

Abruf <strong>und</strong> das laute Lesen von Wörtern<br />

beeinträchtigt (Manis et al. 1996).<br />

Das Problem kann lange anhalten: Kinder mit<br />

schlechten phonologischen Verarbeitungsfähigkeiten<br />

zu Beginn der Gr<strong>und</strong>schule sind<br />

meistens auch als Erwachsene schlechte Leser<br />

(Wagner et al. 1997). Dies gilt besonders für<br />

Kinder aus benachteiligten Familien; dyslexische<br />

Kinder aus günstigeren Familienverhältnissen,<br />

die bessere Schulen besuchen, legen<br />

wahrscheinlicher beträchtliche Verbesserungen<br />

an den Tag (Shaywitz et al. 2006).<br />

Untersuchungen der Gehirnfunktionen unterstützen<br />

die Annahme, dass eine schlechte phonologische<br />

Verarbeitung den Kern der Dyslexie<br />

ausmacht. Wenn dyslexische Kinder lesen, sind<br />

zwei Areale ihres Gehirns weniger aktiv als die<br />

entsprechenden Areale typischer Kinder be<strong>im</strong><br />

Lesen derselben Wörter (Schlaggar <strong>und</strong> Church<br />

2009; Tanaka et al. 2011). Eines dieser Areale<br />

ist direkt an der phonologischen Verarbeitung<br />

beteiligt; das andere Areal ist an der Integration<br />

visueller <strong>und</strong> auditiver Daten beteiligt (in<br />

diesem Fall der Integration der Buchstaben auf<br />

dem Blatt mit den zugehörigen Lauten).<br />

Wie kann man dyslexischen Kindern helfen? Ein<br />

verlockender Schluss wäre, dass diese Kinder wegen<br />

ihrer Schwierigkeiten be<strong>im</strong> Lernen der Laute<br />

besser mit einem Ansatz zurechtkämen, der nicht<br />

so sehr auf die Beziehungen zwischen Buchstaben<br />

<strong>und</strong> Lauten abhebt, sondern stattdessen den<br />

visuell gestützten Abruf oder das Schließen aus<br />

dem Kontext betont. Diese alternativen Methoden<br />

funktionieren jedoch schlecht (Lyon 1995).<br />

Es gibt einfach keinen Ersatz für die Fähigkeit,<br />

die Aussprache unbekannter Wörter lautlich aus<br />

den Buchstaben zusammensetzen zu können.<br />

Was am besten zu funktionieren scheint, ist die<br />

Vermittlung von Strategien, welche die phonologische<br />

Recodierung verbessern (Lovett et al.<br />

1994). Wirksame Strategien sind zum Beispiel<br />

Analogieschlüsse auf bekannte Wörter mit ähnlicher<br />

Schreibweise; die Erzeugung alternativer<br />

Aussprachevarianten der Vokale, wenn der erste<br />

Versuch, das Wort auszusprechen, zu keinem<br />

plausiblen Wort geführt hat, <strong>und</strong> bei langen<br />

Wörtern Vor- <strong>und</strong> Nachsilben erst einmal abzutrennen<br />

<strong>und</strong> den Rest des Wortes zu identifizieren<br />

versuchen. Der Einsatz solcher Strategien hilft<br />

Kindern mit Dyslexie, ihre Lese- <strong>und</strong> Rechtschreibleistungen<br />

zu verbessern (Lovett et al. 1994).<br />

Anzahl korrekt erkannter Pseudowörter<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

7–8 9–10 11–12 13–14<br />

Alter<br />

Kinder mit Lesestörung<br />

Normale Kinder<br />

..<br />

Die Anzahl der korrekt identifizierten Pseudowörter<br />

bei Sieben- bis 14-Jährigen mit <strong>und</strong><br />

ohne Leseschwäche. 13- <strong>und</strong> 14-Jährige mit<br />

einer beeinträchtigten Lesefähigkeit konnten<br />

nicht mehr Wörter korrekt identifizieren als<br />

typische Sieben- <strong>und</strong> Achtjährige. Die schlechte<br />

phonologische Recodierfähigkeit von Kindern<br />

mit Leseschwächen bereitet ihnen besondere<br />

Schwierigkeit mit Pseudowörtern, die man nur<br />

durch phonologische Recodierung aussprechen<br />

kann, weil sie ja völlig unbekannt sind. (Daten<br />

aus Siegel 1993)<br />

wenn wir auf unbekannte Wörter stoßen. ▶ Exkurs 8.3 erläutert<br />

die Beziehung zwischen schwacher phonologischer Recodierfähigkeit<br />

<strong>und</strong> der als Dyslexie bezeichneten Lesestörung.<br />

Verstehen<br />

Einzelne Wörter lernt man lesen, um den längeren Text verstehen<br />

zu können, in dem die einzelnen Wörter vorkommen. Zum Leseverstehen<br />

gehören die Bildung eines mentalen Modells von der<br />

Situation oder Vorstellung, die <strong>im</strong> Text dargestellt wird, <strong>und</strong> das<br />

fortwährende Aktualisieren dieses Modells, wenn neue Information<br />

auftaucht (Oakhill <strong>und</strong> Cain 2000). Alle Arten von geistigen<br />

Handlungen, welche die Entwicklung der allgemeinen Kognition<br />

beeinflussen – Basisprozesse, Strategien, Metakognition (das<br />

Wissen über das Denken von Menschen) <strong>und</strong> Inhaltswissen –,<br />

beeinflussen auch die Entwicklung des Leseverständnisses.<br />

Mentales Modell – Das Ergebnis von Prozessen der Repräsentation einer Situation<br />

oder Ereignisfolge.<br />

Gr<strong>und</strong>legende Prozesse <strong>und</strong> Fähigkeiten wie die Encodierung<br />

(die Identifikation der zentralen Merkmale eines Objekts oder<br />

Ereignisses) <strong>und</strong> Automatisierung (die Ausführung eines Prozesses<br />

mit min<strong>im</strong>alem Bedarf an kognitiven Ressourcen) sind<br />

für das Leseverständnis entscheidend. Der Gr<strong>und</strong> dafür ist ein-


298<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

fach: Kinder, welche die Gr<strong>und</strong>züge einer Geschichte best<strong>im</strong>men<br />

können, verstehen die Geschichte besser, <strong>und</strong> Kinder, die zentrale<br />

Merkmale von Wörtern automatisch identifizieren können,<br />

haben mehr unverbrauchte Ressourcen übrig, die sie für den<br />

Verstehensprozess einsetzen können. Eine schnelle <strong>und</strong> akkurate<br />

Worterkennung korreliert positiv mit dem Leseverständnis<br />

– <strong>und</strong> zwar zu allen Zeitpunkten von der ersten Klasse bis ins<br />

Erwachsenenalter (Cunningham <strong>und</strong> Stanovich 1997).<br />

Auch der Erwerb von Lesestrategien unterstützt die Entwicklung<br />

des Leseverstehens. Gute Leser gehen beispielsweise langsam<br />

vor, wenn sie das schriftliche Material nachher gründlich<br />

beherrschen müssen, <strong>und</strong> lesen schneller, wenn sie nur ungefähr<br />

verstehen müssen, worum es geht (Pressley <strong>und</strong> Hilden 2006).<br />

Der gekonnte Umgang mit solchen strategischen Anpassungsleistungen<br />

entwickelt sich jedoch überraschend spät. Selbst wenn<br />

Kindern <strong>im</strong> Alter von zehn Jahren gesagt wird, dass ein Teil des<br />

Lesestoffs entscheidend ist <strong>und</strong> ein anderer nicht, lesen sie das<br />

gesamte Textmaterial meistens mit gleichbleibender Geschwindigkeit.<br />

Im Gegensatz dazu überfliegen 14-Jährige die unwesentlichen<br />

Teile <strong>und</strong> widmen den wichtigen Abschnitten mehr Zeit<br />

(Kobasigawa et al. 1980).<br />

Zunehmendes metakognitives Wissen trägt ebenfalls zur Verbesserung<br />

des Leseverstehens bei. Mit zunehmendem Alter <strong>und</strong><br />

zunehmender Erfahrung überwachen <strong>und</strong> kontrollieren Leser<br />

in wachsendem Maße ihr Verständnis dessen, was sie lesen, <strong>und</strong><br />

Abschnitte, die sie nicht verstanden haben, lesen sie ein zweites<br />

Mal (Nicholson 1999). Eine solche Verständniskontrolle unterscheidet<br />

gute Leser von schlechten, <strong>und</strong> zwar in jedem Alter von<br />

der ersten Klasse bis über das gesamte Erwachsenenalter. Ansätze<br />

für den Unterricht, die sich auf die Verständniskontrolle <strong>und</strong> andere<br />

metakognitive Fähigkeiten konzentrieren, beispielsweise das<br />

Antizipieren von Fragen, die der Lehrer über den Lesestoff stellen<br />

könnte, erwiesen sich als geeignetes Mittel, um das Leseverstehen<br />

zu verbessern (Magnusson <strong>und</strong> Palincsar 2001; Rosenshine <strong>und</strong><br />

Meister 1994).<br />

Verständniskontrolle – Der Prozess, das eigene Verstehen eines gelesenen<br />

Textes oder gehörter Rede zu kontrollieren.<br />

Ein weiterer wichtiger Einfluss auf die Entwicklung des Leseverstehens<br />

ist das zunehmende Inhaltswissen. Der Zuwachs an<br />

Inhaltswissen setzt kognitive Ressourcen frei, die sich darauf<br />

richten können, was <strong>im</strong> Text neu oder kompliziert ist. Mithilfe<br />

von Inhaltswissen können Leser auch sinnvolle Schlüsse über<br />

Informationen ziehen, die nicht explizit <strong>im</strong> Text stehen. Be<strong>im</strong><br />

Lesen der Überschrift „Gladbacher Fohlen schlagen die roten<br />

Teufel“ erkennen informierte Leser, dass es um Fußball geht; es<br />

ist unklar, wie weniger bewanderte Leser eine solche Überschrift<br />

interpretieren würden.<br />

Die Entwicklung eines guten oder schlechten Leseverständnisses<br />

beginnt schon vor dem Schuleintritt der Kinder. Vorschulkinder,<br />

deren Eltern ihnen Geschichten erzählen <strong>und</strong> vorlesen,<br />

lernen, wie solche Geschichten normalerweise aufgebaut sind,<br />

was ihnen dabei hilft, neue Geschichten zu verstehen, wenn sie<br />

mit dem Lesen beginnen. Dies hebt auch ihr allgemeines Niveau<br />

der Sprachentwicklung (Raikes et al. 2006; Whitehurst <strong>und</strong><br />

Lonigan 1998). Unterschiede in den Fähigkeiten des Leseverständnisses<br />

zwischen Kindern aus Familien mit mittlerem <strong>und</strong><br />

niedrigem Einkommen sind zum Teil darauf zurückzuführen,<br />

wie viel ihre Eltern ihnen in der Zeit vor Schuleintritt vorgelesen<br />

haben. So zeigte eine in Israel durchgeführte Untersuchung, dass<br />

in einem Schulbezirk mit wohlhabenden Bewohnern <strong>und</strong> hohen<br />

Leseleistungstestwerten 96 % der Eltern ihren Vorschulkindern<br />

täglich etwas vorlesen. In einem ärmlichen Bezirk mit niedrigen<br />

Lesetestleistungen war dies nur bei 15 % der Eltern von Vorschulkindern<br />

der Fall (Feitelson <strong>und</strong> Goldstein 1986).<br />

Die einfache Bedeutung dieser Bef<strong>und</strong>e lautet: Würde den Vorschulkindern<br />

aus armen Familien täglich vorgelesen, würden sie<br />

ebenfalls bessere Leser werden. Die Bef<strong>und</strong>lage st<strong>im</strong>mt mit diesem<br />

Schluss überein. Als noch hilfreicher erweist es sich, wenn<br />

man geringverdienende Eltern dazu ermutigt, ihre Kinder in den<br />

Leseprozess einzubeziehen, indem sie die Kinder zum Beispiel danach<br />

fragen, was das Vorgelesene mit ihren eigenen Erfahrungen<br />

verbindet, oder indem sie den Kindern die Ziele <strong>und</strong> Motive der Figuren<br />

erklären (Zevenbergen <strong>und</strong> Whitehurst 2003). Aufgr<strong>und</strong> der<br />

Zeiterfordernisse <strong>und</strong> – in vielen Fällen – des Drucks, die Kinder<br />

allein erziehen zu müssen, ist es nicht leicht, einkommensschwache<br />

Eltern zu überreden, sich an solchen Programmen zu beteiligen<br />

<strong>und</strong> ihren Kindern regelmäßig vorzulesen (Whitehurst et al. 1999),<br />

aber wenn sich die Eltern darauf einlassen, profitieren ihre Kinder.<br />

Bei der Einschulung gibt es enorme Unterschiede <strong>im</strong> Hinblick<br />

darauf, wie viel die Kinder lesen <strong>und</strong> wie das ihr Leseverständnis<br />

beeinflusst. So lesen amerikanische Fünftklässler, deren<br />

Leistungen be<strong>im</strong> Lesetest <strong>im</strong> Bereich der obersten 10 % lagen,<br />

nach eigenen Angaben etwa 200-mal so oft aus eigenem Antrieb<br />

wie ihre Klassenkameraden mit Leistungen <strong>im</strong> Bereich der untersten<br />

10 % (Anderson et al. 1988). Hohe Lesefähigkeiten bringen<br />

Kinder dazu, mehr zu lesen, was seinerseits mit der Zeit zu<br />

größeren Verbesserungen des Leseverständnisses führt als bei<br />

Kindern mit gleichen Lesefähigkeiten, die jedoch weniger Zeit<br />

mit Lesen verbringen (Guthrie et al. 1999).<br />

Individuelle Unterschiede<br />

Die individuellen Unterschiede be<strong>im</strong> Lesen bleiben tendenziell<br />

<strong>im</strong> Lauf der Entwicklung stabil. Kinder, die bereits mit relativ<br />

fortgeschrittenen Lesefertigkeiten in den Kindergarten kommen,<br />

werden auch in der Gr<strong>und</strong>schule <strong>und</strong> den weiterführenden Schulen<br />

bessere Leser sein (Duncan et al. 2007; Harlaar et al. 2007).<br />

Vergleichsuntersuchungen an adoptierten <strong>und</strong> nicht adoptierten<br />

Geschwistern sowie eineiigen <strong>und</strong> zweieiigen Zwillingen weisen<br />

darauf hin, dass diese Kontinuität der individuellen Unterschiede<br />

sowohl mit gemeinsamen Genen als auch mit gemeinsamen<br />

Umwelten zusammenhängen (Petrill et al. 2007; Wadsworth et<br />

al. 2006). Wie schon erwähnt, verstärken sich genetische <strong>und</strong><br />

umweltbedingte Einflüsse wechselseitig: Wenn Eltern selbst gut<br />

<strong>und</strong> häufig lesen, ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass<br />

ihre Kindern sowohl die Gene als auch die Umwelt mitbekommen,<br />

die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für gutes Lesen<br />

in der frühen Kindheit einhergehen. Das wiederum macht es<br />

wahrscheinlicher, dass sich die Kinder selbst Gelegenheiten zum<br />

Lesen suchen, was zusätzlich die Lesefähigkeiten verbessert, <strong>und</strong><br />

so fort (Petrill et al. 2007).


Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />

299 8<br />

..<br />

Abb. 8.11 Der Versuch eines dreieinhalb Jahre alten <strong>Kindes</strong>, eine<br />

Einkaufsliste für einen Teddybären zu schreiben. Die Symbole, die das Kind<br />

verwendet, sind zwar unkonventionell, lassen aber das Verständnis erkennen,<br />

dass jedes Wort ein eigenes Symbol erfordert<br />

Schreiben<br />

Über die kindliche Entwicklung des Schreibens ist viel weniger<br />

bekannt als über die Entwicklung des Lesens; aber das, was man<br />

weiß, lässt interessante Parallelen zwischen beidem erkennen.<br />

Vorläuferfertigkeiten des Schreibens<br />

Die Entwicklung des Schreibens beginnt wie die Entwicklung des<br />

Lesens schon vor der Schulzeit. . Abbildung 8.11 zeigt die „Einkaufsliste“<br />

eines typischen Dreieinhalbjährigen. Die Zeichen sind<br />

keine konventionellen Buchstaben des Alphabets, aber sie besitzen<br />

eine vage Ähnlichkeit mit ihnen <strong>und</strong> stehen waagerecht in einer<br />

Reihe. Mit vier Jahren ist das „Schreiben“ von Kindern so weit<br />

fortgeschritten, dass Erwachsene es problemlos von den Figuren<br />

unterscheiden können, welche die Vierjährigen produzieren, wenn<br />

sie eine Blume oder ein Haus malen sollen (Tolchinsky 2003).<br />

Das „Schreiben“ <strong>im</strong> Vorschulalter lässt die Erwartung der<br />

Kinder erkennen, dass sich in der Schrift Bedeutung widerspiegelt.<br />

Sie verwenden mehr Zeichen, um Wörter darzustellen, die<br />

viele Objekte bezeichnen, beispielsweise „Wald“, als zum Darstellen<br />

von Wörtern, die nur ein einzelnes Objekt bezeichnen, zum<br />

Beispiel „Baum“ (Levin <strong>und</strong> Korat 1993). Wenn sie raten sollen,<br />

welches von mehreren Wörtern ein best<strong>im</strong>mtes Objekt bezeichnet,<br />

wählen sie für größere Objekte <strong>im</strong> Allgemeinen längere Wörter<br />

(Bialystok 2000). Auch wenn die geschriebene Sprache dieser<br />

„Regel“ ganz offenk<strong>und</strong>ig nicht folgt, sind die Vermutungen der<br />

Kinder doch nachvollziehbar.<br />

Die Produktion schriftlicher Texte<br />

Schreiben lernen – <strong>im</strong> Sinne von eine Geschichte schreiben können<br />

– ist wesentlich schwieriger als lesen lernen. Das ist nicht überraschend,<br />

weil man sich be<strong>im</strong> Schreiben gleichzeitig auf mehrere<br />

Ziele konzentrieren muss, hochrangige wie nachgeordnete. Ziele<br />

auf einer niedrigen Hierarchieebene (Low-Level-Ziele) betreffen<br />

die Formung von Buchstaben, die Rechtschreibung der Wörter<br />

sowie eine korrekte Zeichensetzung <strong>und</strong> Groß- <strong>und</strong> Kleinschreibung.<br />

Zu den Zielen auf höherer Hierarchieebene (High-Level-<br />

Ziele) gehört es, seine Aussagen <strong>und</strong> Argumente auch ohne Intonation<br />

<strong>und</strong> Gestik verständlich zu machen, die uns be<strong>im</strong> Sprechen<br />

unterstützen, <strong>und</strong> die einzelnen Punkte zu einem zusammenhängenden<br />

Ganzen anzuordnen sowie Hintergr<strong>und</strong>informationen zu<br />

liefern, die der Leser benötigt, um das Geschriebene zu verstehen<br />

(Berninger <strong>und</strong> Richards 2002). Die Schwierigkeiten, all diesen<br />

Zielen gerecht zu werden, führen zu Schreibversuchen vom Typ<br />

der in . Abb. 8.12 wiedergegebenen Geschichte.<br />

Wie die Entwicklung des Leseverstehens spiegelt auch der<br />

Zuwachs an Schreibkompetenz Fortschritte in gr<strong>und</strong>legenden<br />

..<br />

Abb. 8.12 Eine Geschichte, geschrieben von einem Gr<strong>und</strong>schulkind. Es<br />

handelt sich hier um den Versuch eines <strong>Kindes</strong> aus dem alemannisch-dialektalen<br />

Sprachraum, die Geschichte vom Vater, der seinen H<strong>und</strong> be<strong>im</strong> Baden<br />

nass macht <strong>und</strong> anschließend von ihm selbst nass gespritzt wird, anhand<br />

einer Bildervorlage niederzuschreiben. (Aus Röber-Siekmeyer 2004)<br />

Fähigkeiten, Strategien, Metakognition <strong>und</strong> Inhaltswissen wider.<br />

Die Automatisierung von Low-Level-Fertigkeiten wie Rechtschreibung<br />

<strong>und</strong> Zeichensetzung unterstützt das Schreiben nicht<br />

nur deshalb, weil man das Geschriebene leichter verstehen kann,<br />

wenn es in der üblichen Schreibweise der Wörter <strong>und</strong> mit den<br />

Satzzeichen an der richtigen Stelle geschrieben ist, sondern auch<br />

deshalb, weil automatisierte Low-Level-Prozesse mehr kognitive<br />

Ressourcen übrig lassen, um die High-Level-Ziele des Schreibens<br />

zu verfolgen. Dementsprechend korreliert die Kompetenz von<br />

Kindern <strong>im</strong> Bereich der Low-Level-Fertigkeiten wie Rechtschreibung<br />

positiv mit der Qualität ihrer Aufsätze (Juel 1994).<br />

Auch der Erwerb von Strategien des Schreibens trägt zu<br />

Verbesserungen des Schreibens bei. Eine häufige Strategie besteht<br />

darin, in einer Art Drehbuch oder Skript eine best<strong>im</strong>mte<br />

Standardreihenfolge für einzelne Handlungen <strong>und</strong> Ereignisse<br />

festzulegen, die <strong>im</strong> Alltag wiederholt auftreten. Die Psychologin<br />

Harriet Waters hatte als Kind einen solchen strategischen Ansatz<br />

bei ihrem „Schultagebuch“ herangezogen (Waters 1980), das ihre<br />

Mutter vom zweiten Schuljahr an aufgehoben hat. Wie die Box<br />

„Texte für das Klassentagebuch“ zeigt, gab Waters bei jedem Tagebucheintrag<br />

zuerst das Datum an, beschrieb dann das Wetter <strong>und</strong><br />

berichtet danach über Ereignisse des Schultages; diese Strategie<br />

dürfte die Schreibaufgabe deutlich vereinfacht haben. Bei älteren<br />

Kindern dient die Inhaltsübersicht in Stichwörtern dem gleichen<br />

Zweck, die Schreibaufgabe in überschaubare Teile zu gliedern:<br />

Finde erst heraus, was du sagen willst; finde dann heraus, in welcher<br />

Reihenfolge du die wichtigsten Punkte sagen willst.<br />

Skript – Eine best<strong>im</strong>mte Standardreihenfolge für wiederkehrende Handlungsabläufe<br />

<strong>und</strong> Ereignisse, die das Verstehen oder Gestalten von Abläufen strukturiert.<br />

Beispiele sind Restaurant- oder Arztbesuche oder auch Beschreibungen<br />

<strong>und</strong> Berichte.


300<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Texte für das Klassentagebuch zu Beginn, in der Mitte <strong>und</strong><br />

am Ende des zweiten Schuljahres (Aus Waters 1980).<br />

24. SEPTEMBER 1956<br />

Heute ist Montag, der 24. September 1956. Es ist ein Regentag.<br />

Wir hoffen, dass die Sonne scheint.<br />

Wir bekamen neue Fibeln. Es wurden Bilder von uns gemacht.<br />

Wir sangen für Barbara ein Geburtstagslied.<br />

22. JANUAR 1957<br />

Heute ist Dienstag, der 22. Januar 1957. Es ist neblig. Wir müssen<br />

aufpassen, wenn wir über die Straße gehen.<br />

Heute Morgen hatten wir Musik. Wir lernten ein neues Lied.<br />

Linda fehlt. Wie hoffen, dass sie bald wiederkommt.<br />

Wir hatten Rechnen. Wir taten so, als ob wir Süßigkeiten<br />

kaufen. Das machte Spaß.<br />

Wir arbeiten in unseren Englischbüchern. Wir lernen, wann<br />

man „ist“ <strong>und</strong> „sind“ sagen muss.<br />

27. MAI 1957<br />

Heute ist Montag, der 27. Mai 1957. Es ist warm <strong>und</strong> bewölkt.<br />

Wir hoffen, dass die Sonne scheint.<br />

Heute Nachmittag hatten wir Musik. Das gefiel uns. Wir gingen<br />

nach draußen zum Spielen.<br />

Carole fehlt. Wir hoffen, dass sie bald wiederkommt.<br />

Wir haben eine St<strong>und</strong>e Buchstabieren, wir lernten, was ein<br />

Dutzend ist.<br />

Morgen haben wir Zeigen <strong>und</strong> Erzählen.<br />

Manche von uns haben Sätze auf, die sie richtig schreiben<br />

müssen.<br />

Danny brachte einen Kokon mit. Er wird sich in einen Schmetterling<br />

verwandeln.<br />

Das metakognitive Verstehen spielt be<strong>im</strong> Schreiben in mehrfacher<br />

Hinsicht eine entscheidende Rolle. Der vielleicht gr<strong>und</strong>legendste<br />

Typ metakognitiven Verstehens ist die Erkenntnis, dass<br />

die Leser vielleicht nicht dasselbe Wissen haben wie der Schreiber<br />

<strong>und</strong> dass man deshalb alle diejenigen Informationen, die<br />

man als Leser braucht, um das Geschriebene zu begreifen, mit<br />

in den Text aufnehmen sollte. Gute Schreiber lassen ein solches<br />

Verständnis spätestens in der Sek<strong>und</strong>arstufe durchgehend erkennen;<br />

schlechten Schreibern fehlt es häufig daran (Berninger<br />

<strong>und</strong> Richards 2002). Ein zweiter wichtiger Typ des metakognitiven<br />

Wissens betrifft die Notwendigkeit, das eigene Schreiben<br />

zu planen <strong>und</strong> nicht einfach nur loszulegen. Gute Schreiber<br />

verbringen viel mehr Zeit als schlechte Schreiber mit der Planung,<br />

was sie sagen wollen, insbesondere mit der Stoffsammlung<br />

<strong>und</strong> Gliederung des Inhalts, bevor sie den eigentlichen Text<br />

zu schreiben beginnen (Kellogg 1994). Die Notwendigkeit der<br />

Überarbeitung ist ein dritter zentraler Typ des metakognitiven<br />

Wissens. Gute Schreiber verwenden mehr Zeit auf die Überarbeitung<br />

ihrer schon recht guten ersten Entwürfe als schlechte<br />

Schreiber mit der Überarbeitung ihrer schlechteren Entwürfe<br />

(Fitzgerald 1992).<br />

Glücklicherweise lassen sich ähnlich wie be<strong>im</strong> Lesen die<br />

Schreibfähigkeiten erhöhen, wenn <strong>im</strong> Unterricht gezielt die<br />

metakognitiven Prozesse eingeübt werden (Graham <strong>und</strong> Harris<br />

1996). Besonders verbessert sich das Schreiben sowohl von<br />

typischen als auch von lernschwachen Kindern, wenn man<br />

ihnen beibringt, die schriftlichen Arbeiten anderer Kinder zu<br />

überarbeiten <strong>und</strong> sich selbst best<strong>im</strong>mte gr<strong>und</strong>legende Fragen<br />

zu stellen: Wer ist in dieser Geschichte die Hauptfigur? Was<br />

macht die Hauptfigur? Wie reagieren die anderen Personen?<br />

Wie reagiert die Hauptfigur auf die Reaktionen der anderen<br />

Personen? Was passiert am Schluss? Das Schreiben kann sich<br />

auch dadurch verbessern, dass man die Kinder anhält, über die<br />

relative Qualität von Aufsätzen anderer Kinder nachzudenken<br />

<strong>und</strong> darüber, warum manche Aufsätze besser sind als andere<br />

(Braaksma et al. 2004).<br />

Schließlich spielt wie be<strong>im</strong> Lesen auch das Inhaltswissen eine<br />

entscheidende Rolle be<strong>im</strong> Schreiben. Kinder schreiben insgesamt<br />

bessere Texte, wenn sie mit dem Thema vertraut sind, als wenn<br />

sie nur wenig darüber wissen (Bereiter <strong>und</strong> Scardamalia 1982).<br />

Der Standardratschlag „Schreib über das, was du kennst“ gilt für<br />

Kinder also genauso wie für angehende Schriftsteller.<br />

Mathematik<br />

In ▶ Kap. 7 wurde bereits angesprochen, dass Kinder schon früh<br />

in ihrem ersten Lebensjahr ein elementares Zahlenverständnis<br />

erkennen lassen <strong>und</strong> mit drei oder vier Jahren die Fähigkeit zu<br />

zählen entwickeln <strong>und</strong> das Wissen um die relative Größe von<br />

einstelligen Zahlen erwerben. Hier geht es um die Entwicklung<br />

der mathematischen Fertigkeiten, die auf beiden Zahlenkonzepten<br />

aufbauen.<br />

Rechnen<br />

Rechnen lernen wird oft als reines Auswendiglernen verstanden,<br />

aber es ist tatsächlich viel komplexer <strong>und</strong> interessanter. Wie gut<br />

Kinder rechnen lernen, hängt davon ab, welche Strategien sie<br />

einsetzen, wie präzise sie numerische Größen repräsentieren <strong>und</strong><br />

wie gut sie gr<strong>und</strong>legende mathematische Konzepte <strong>und</strong> Prinzipien<br />

verstehen.<br />

Strategien<br />

Wenn Kinder <strong>im</strong> Alter von vier oder fünf Jahren anfangen, sich<br />

mit Zahlen auseinanderzusetzen, greifen sie auf vielfältige Problemlösestrategien<br />

zurück. Die am häufigsten zu beobachtenden<br />

ersten Rechenstrategien bestehen darin, von 1 hochzuzählen<br />

(zum Beispiel für die Lösung der Aufgabe 2 + 2 zwei Finger an<br />

jeder Hand auszustrecken <strong>und</strong> „1, 2, 3, 4“ abzuzählen) oder die<br />

Strategie des Abrufs zu verwenden (also die auswendig gelernte<br />

Lösung unmittelbar aus dem Gedächtnis abzurufen). Zunächst<br />

können die Kinder diese beiden Strategien nur bei einigen wenigen<br />

Aufgaben wie 1 + 2 oder 2 + 2 anwenden, aber allmählich<br />

dehnen sie die Anwendung über einen größeren Bereich von<br />

einstelligen Zahlen aus (Geary 2006).<br />

In der ersten Klasse, wenn die Kinder anfangen, jeden Tag<br />

zu rechnen, kommen mehrere neue Strategien hinzu. Die häufigste<br />

ist das Zählen vom größeren Summanden aus (also Aufgaben<br />

wie 3 + 9 zu lösen, indem man „9, 10, 11, 12“ zählt). Eine<br />

andere häufige Strategie ist die Zerlegung, bei der eine Aufgabe<br />

in zwei leichtere Aufgaben aufgeteilt wird (um zum Beispiel<br />

3 + 9 mit „Rechenvorteil“ zu lösen, indem man „3 + 10 = 13“ <strong>und</strong><br />

„13 − 1 = 12“ denkt). Die Kinder wenden die früher entwickelten<br />

Strategien auch später weiterhin an; so nutzen die meisten Erst-


Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />

301 8<br />

Summanden 5<br />

Summe 10<br />

100<br />

90<br />

Addition<br />

50<br />

45<br />

Subtraktion<br />

Prozent Fehler<br />

a<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

r = 0,91<br />

4 + 3<br />

3 + 4<br />

5 + 4<br />

4 + 5<br />

4 + 4<br />

2 + 5<br />

3 + 5<br />

1 + 3 4 + 2 2 + 4<br />

1 + 4<br />

5 + 3<br />

3 + 3<br />

4 + 1 1 + 5<br />

3 + 2<br />

2 + 3<br />

3 + 1 5 + 2<br />

2 + 2 5 + 1<br />

2 + 1<br />

1 + 2<br />

1 + 1<br />

10 20 30 40 50 60 70 80<br />

Prozent Verwendung beobachtbarer Strategien<br />

Prozent Fehler<br />

b<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

0<br />

r = 0,83<br />

6 – 5<br />

7 – 5<br />

8 – 4 8 – 3 9 – 4<br />

9 – 5 8 – 5<br />

7 – 2 7 – 3 7 – 4<br />

4 – 2<br />

6 – 2 6 – 4<br />

5 – 4<br />

6 – 3<br />

4 – 3<br />

10 – 5<br />

6 – 1<br />

3 – 2<br />

5 – 1<br />

5 – 3<br />

5 – 2<br />

3 – 1<br />

2 – 1 4 – 1<br />

10 20 30 40 50 60 70 80<br />

Prozent Verwendung beobachtbarer Strategien<br />

Prozent Fehler<br />

c<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

Multiplikation<br />

7 x 9<br />

8 x 9<br />

4 x 5, 5 x 5<br />

9 x 6 8 x 7<br />

9 x 9 9 x 7<br />

r = 0,83<br />

6 x 7 8 x 8<br />

8 x 6<br />

7 x 7 7 x 8 9 x 8<br />

5 x 9<br />

6 x 8<br />

4 x 8 9 x 4<br />

4 x 9<br />

7 x 6<br />

7 x 5 6 x 9 6 x 6<br />

4 x 3 6 x 3 5 x 7 7 x 4<br />

4 x 4<br />

7 x 3<br />

8 x 4<br />

9 x 2<br />

5 x 6<br />

4 x 7<br />

8 x 3<br />

2 x 6<br />

3 x 9<br />

5 x 8<br />

3 x 4<br />

3 x 7<br />

4 x 6<br />

9 x 5<br />

2 x 9<br />

3 x 5 8 x 2<br />

9 x 3<br />

8 x 2<br />

7 x 2 3 x 6<br />

2 x 4<br />

2 x 8 6 x 4<br />

3 x 3, 2 x 7<br />

4 x 2 6 x 2 5 x 3 6 x 5<br />

2 x 3<br />

8 x 5, 3 x 8, 5 x 4<br />

2 x 2<br />

10 20 30 40 50 60 70 80 90<br />

Prozent Verwendung beobachtbarer Strategien<br />

..<br />

Abb. 8.13 Die Strategiewahlen jüngerer Kinder bei der Addition (a), Subtraktion (b) <strong>und</strong> Multiplikation (c). Wie bereits in . Abb. 8.10 für das Lesen gezeigt<br />

wurde, besteht eine starke positive Korrelation zwischen der Schwierigkeit einer Aufgabe, die durch den Prozentsatz der falschen Lösungen definiert ist, <strong>und</strong><br />

der Häufigkeit der jeweils gewählten Strategie wie etwa das Abzählen an den Fingern. Bei Aufgaben wie 2 + 2, die Vier- <strong>und</strong> Fünfjährige einfach fanden, verwendeten<br />

sie häufig den direkten Gedächtnisabruf (der keine beobachtbare Strategie darstellt). Bei Aufgaben, die sie schwierig fanden, beispielsweise 4 + 3,<br />

verwendeten sie meistens beobachtbare Strategien wie das Zählen von 1 an. (<strong>Siegler</strong> 1986)<br />

klässler drei oder mehr Strategien bei der Addition einstelliger<br />

Zahlen (<strong>Siegler</strong> 1987).<br />

Eine ähnliche Verwendung unterschiedlicher Strategien<br />

kommt bei allen vier Gr<strong>und</strong>rechenartenvor. Um beispielsweise<br />

eine Multiplikationsaufgabe wie 3 × 4 zu lösen, schreiben Kinder<br />

manchmal dre<strong>im</strong>al die 4 auf <strong>und</strong> zählen sie zusammen, manchmal<br />

machen sie drei Bündel aus je vier Strichen <strong>und</strong> zählen diese<br />

ab, <strong>und</strong> manchmal rufen sie die Lösung 12 direkt aus dem Gedächtnis<br />

ab (Mabbott <strong>und</strong> Bisanz 2003). Die Anwendung solcher<br />

Rechenstrategien ist erstaunlich dauerhaft; sogar Studenten benutzen<br />

für 15–30 % der Rechenaufgaben mit einstelligen Zahlen<br />

andere Strategien als den Gedächtnisabruf (LeFevre et al. 1996;<br />

Lemaire 2010).<br />

Ebenso wie die Wahl zwischen den Strategien der Worterkennung<br />

bei Kindern sehr anpassungsfähig ist, sind es auch ihre<br />

Rechenstrategien zum Lösen von Rechenaufgaben mit einstelligen<br />

Zahlen (<strong>Siegler</strong> 1996). Schon Vierjährige wählen auf vernünftige<br />

Weise <strong>und</strong> lösen leichte Aufgaben schnell <strong>und</strong> korrekt<br />

durch direkten Gedächtnisabruf, während sie schwerere Aufgaben<br />

langsamer, aber <strong>im</strong>mer noch richtig durch Abzählen lösen<br />

(. Abb. 8.13). Wenn die Kinder Erfahrungen <strong>im</strong> Rechnen mit<br />

einstelligen Zahlen gewinnen, verschieben sich ihre Strategiewahlen<br />

hin zur häufigeren Verwendung des Gedächtnisabrufs.<br />

Der Lernprozess scheint derselbe zu sein wie bei der analogen<br />

Verschiebung be<strong>im</strong> Lesen hin zum visuell gestützten Abruf. Je<br />

häufiger ein Kind die korrekte Lösung einer Aufgabe hervorbringt,<br />

gleich mit welcher Strategie dies gelungen ist, desto häufiger<br />

wird es in der Lage sein, die Lösung aus dem Gedächtnis abzurufen,<br />

wodurch die Notwendigkeit vermieden wird, auf einen<br />

langsameren Prozess wie den des Abzählens zurückzugreifen.


302<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

a<br />

Median der Positionsschätzungen<br />

b<br />

Median der Positionsschätzungen<br />

c<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

0 20 40<br />

60<br />

80<br />

100<br />

Präsentierte Zahl<br />

Median der Positionsschätzungen von Zweitklässlern<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

Zahlenstrahl<br />

0 100<br />

Median der Positionsschätzungen von Kindergartenkindern<br />

0<br />

0 20 40<br />

60<br />

80<br />

100<br />

Präsentierte Zahl<br />

..<br />

Abb. 8.14 Die Aufgabe zur Positionierung von Zahlen auf dem Zahlenstrahl<br />

<strong>und</strong> die typischen entwicklungsbedingten Leistungsänderungen. a Bei jedem<br />

Durchgang müssen die Kinder für eine vorgegebene Zahl die Position auf dem<br />

Zahlenstrahl zwischen 0 <strong>und</strong> 100 einschätzen. b Bei den Kindergartenkindern<br />

verlagerte sich der Median der geschätzten Position einer Zahl auf dem Zahlenstrahl<br />

mit zunehmenden Zahlenwerten in Richtung 100, aber die niedrigen Zahlen<br />

wurden in Bezug auf die Nähe zu 100 überschätzt, die hohen unterschätzt,<br />

was sich in einer logarithmischen Kurve widerspiegelt. Bei den Zweitklässlern<br />

verschieben sich die Mediane der geschätzten Positionen bei dieser Aufgabe<br />

dagegen linear mit den Zahlenwerten <strong>und</strong> liegen ziemlich dicht an den korrekten<br />

Positionen auf einer Geraden. (Nach Daten aus <strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Booth 2004)<br />

Verstehen numerischer Größe<br />

Die Repräsentation von numerischer Größe ist ein mentales<br />

Modell, das quantitative Größen nach niedrigeren <strong>und</strong> höheren<br />

Zahlenwerten in einer D<strong>im</strong>ension einordnet. Unabhän-<br />

Leistung be<strong>im</strong> Mathematiktest (Punkte)<br />

2200<br />

2000<br />

1800<br />

1600<br />

1400<br />

1200<br />

R 2 = 0.74<br />

1000<br />

0 10 20 30 40 50 60<br />

Abweichung von der korrekten Position (Prozent)<br />

..<br />

Abb. 8.15 Die Beziehung zwischen der Genauigkeit von Achtklässlern bei<br />

der Einschätzung von Zahlenpositionen auf dem Zahlenstrahl <strong>und</strong> ihren Leistungen<br />

bei einem mathematischen Leistungstest. Die Genauigkeit der Positionseinschätzungen<br />

korreliert stark mit den allgemeinen mathematischen<br />

Fähigkeiten. Diese Daten geben die Beziehungen zwischen der Genauigkeit<br />

der Positionierung von Brüchen auf dem Zahlenstrahl <strong>und</strong> den Leistungen<br />

in einem Mathematiktest bei amerikanischen Mittelstufenschülern wieder.<br />

Ähnliche Beziehungen ergaben sich bei Gr<strong>und</strong>schülern, die für ganze Zahlen<br />

die Positionen auf dem Zahlenstrahl einschätzten. Die Korrelation ist negativ,<br />

weil die kleineren prozentualen Abweichungen von den korrekten Positionen<br />

auf dem Zahlenstrahl einer besseren Einschätzung der Zahlengröße entsprechen.<br />

(Nach Daten aus <strong>Siegler</strong> et al. 2011)<br />

gig davon, ob sich eine Zahl wie 7 auf eine Länge (7 cm), ein<br />

Gewicht (7 kg), eine Zeitspanne (7 s) oder eine Menge (7 Elemente)<br />

bezieht, repräsentiert 7 etwas Größeres als 6 <strong>und</strong> etwas<br />

Kleineres als 8, sofern diese Ziffern für dieselben Größeneinheiten<br />

(Zent<strong>im</strong>eter, Kilogramm, Sek<strong>und</strong>e oder Anzahlen)<br />

stehen.<br />

Repräsentation numerischer Größe – Ein mentales Modell für die Zuordnung<br />

von kleineren <strong>und</strong> größeren Zahlenwerten in Bezug auf eine Größend<strong>im</strong>ension.<br />

Die Vorstellung, dass Zahlen als Symbole Größe repräsentieren,<br />

mag offensichtlich scheinen, aber das richtige Verknüpfen von<br />

Zahlen <strong>und</strong> der von ihnen repräsentierten Größen erweist sich<br />

als enorme Herausforderung, die über einen langen Entwicklungszeitraum<br />

bestehen bleibt. Dazu einige Beispiele: Viele Vorschulkinder,<br />

die noch nicht von 1 bis 10 zählen können, können<br />

nicht richtig angeben, ob 4 oder 8 für die größere Zahl von Objekten<br />

steht (Le Corre <strong>und</strong> Carey 2007); viele Gr<strong>und</strong>schulkinder<br />

geben als Position der Zahl 150 auf einem Zahlenstrahl zwischen<br />

0 <strong>und</strong> 1000 die Mitte an (<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Opfer 2003); viele Kinder<br />

<strong>und</strong> Erwachsene haben keine Vorstellung davon, ob 3/5 größer<br />

oder kleiner ist als 5/11 (Meert et al. 2010). Was in all diesen<br />

Fällen fehlt, ist eine Repräsentation der numerischen Größe.<br />

Das Mengenverständnis symbolischer Zahlenwerte hängt<br />

eng mit den Verständnis be<strong>im</strong> Rechnen <strong>und</strong> darüber hinausgehenden<br />

mathematischen Fähigkeiten zusammen. Diese Beziehung<br />

zeigt sich deutlich bei Rechenfehlern, wenn die Abweichungen<br />

vom richtigen Ergebnis nur gering sind (8 × 7 = 54) <strong>und</strong> nicht<br />

allzu groß werden (8 × 7 = 24). Wenn man Erwachsene oder Kinder<br />

nach der Richtigkeit von Aufgabenlösungen befragt, erkennen<br />

sie die falschen Antworten schneller, wenn der Fehler groß


Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />

303 8<br />

ist (8 + 4 = 18), als wenn der Fehler klein ist (8 + 4 = 14) (Ashcraft<br />

1982; <strong>Siegler</strong> 1988).<br />

Symbolische Zahlenwerte – Die Größe einer als Symbol wie 7 oder als Wort<br />

wie sieben dargestellten Zahl.<br />

Der Umfang des Zahlenraumes, in dem Kinder die Größen<br />

der Zahlen mit angemessener Genauigkeit bei Zahlenvergleichen<br />

oder Positionierungen auf dem Zahlenstrahl repräsentieren,<br />

variiert enorm mit zunehmendem Alter <strong>und</strong> Erfahrung<br />

(. Abb. 8.14). Bei den Zahlen von 1 bis 10 n<strong>im</strong>mt die Genauigkeit<br />

der Größenrepräsentation <strong>im</strong> Alter zwischen drei <strong>und</strong> sechs<br />

Jahren enorm zu (Bertelletti et al. 2010). Entsprechendes gilt für<br />

Zahlen von 1 bis 100 bei sechs- bis achtjährigen Kindern (Geary<br />

et al. 2007) <strong>und</strong> für die Zahlen von 1 bis 1000 für Acht- bis<br />

Zwölfjährige (<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Opfer 2003).<br />

In allen Altersstufen unterscheiden sich Kinder in ihren<br />

Vorstellungen zur Größe von Zahlen. Diese Vorstellungen<br />

hängen eng mit dem Wissen über Zahlen zusammen. In der<br />

Gr<strong>und</strong>schule schneiden Kinder, die für ganze Zahlen auf dem<br />

Zahlenstrahl die Position genauer angeben können, auch bei<br />

Rechenaufgaben besser ab. In der weiterführenden Schule gilt<br />

Entsprechendes für die Positionierung von Brüchen auf dem<br />

Zahlenstrahl (. Abb. 8.15) (Bailey et al. 2012; Jordan et al. 2013;<br />

<strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Pyke 2012).<br />

Diese Zusammenhänge beruhen zum Teil darauf, dass die<br />

genauere Repräsentation der numerischen Größe den Kindern<br />

be<strong>im</strong> Rechnenlernen hilft. Je genauer ein Kind die Zahlengröße<br />

anhand der jeweiligen Position auf dem Zahlenstrahl angeben<br />

kann, desto bessere Rechenleistungen erreicht es (Booth <strong>und</strong><br />

<strong>Siegler</strong> 2006; 2008; Geary et al. 2007). Darüber hinaus fördert<br />

die Anleitung der Kinder zum genaueren Größenverständnis der<br />

symbolischen Zahlenwerte das spätere Rechnenlernen (Booth<br />

<strong>und</strong> <strong>Siegler</strong> 2008; Fuchs et al. 2013; <strong>Siegler</strong> <strong>und</strong> Ramani 2009).<br />

Genaue Repräsentationen der Größe unterstützen das Rechnenlernen<br />

möglicherweise dadurch, dass plausible Lösungen genauer<br />

betrachtet <strong>und</strong> unplausible verworfen werden können.<br />

Verstehen mathematischer Konzepte<br />

Für viele Kinder bedeutet es eine enorme Herausforderung zu<br />

verstehen, warum best<strong>im</strong>mte Rechenverfahren zur richtigen Lösung<br />

führen <strong>und</strong> andere nicht – <strong>und</strong> zwar selbst dann, wenn sie<br />

das jeweils geeignete Verfahren noch <strong>im</strong> Gedächtnis haben. Ein<br />

solches konzeptionelles Verständnis des Rechnens beginnt sich<br />

in den Vorschuljahren zu entwickeln; viele Vierjährige verstehen<br />

zum Beispiel das Kommutativgesetz der Addition, dem zufolge<br />

das Addieren von a + b dasselbe ist wie das Addieren von b + a<br />

(Canobi et al. 2002). Andere arithmetische Konzepte meistern sie<br />

jedoch erst viel später, etwa bei der mathematischen Gleichheit,<br />

die auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens gleiche Zahlenwerte<br />

fordert. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle, in denen jüngere<br />

Kinder einem Gleichheitszeichen begegnen, stehen nur auf<br />

seiner linken Seite Zahlen (z. B. 3 + 4 = _; 3 + 4 + 5 = _). Um solche<br />

Aufgaben zu lösen, kann man das Gleichheitszeichen als eine Art<br />

Startsignal betrachten, um mit dem Addieren anzufangen.<br />

Mathematische Gleichheit – Das Konzept des Gleichheitszeichens besagt,<br />

dass auf beiden Seiten einer Gleichung die gleichen Gesamtwerte stehen.<br />

Irgendwann stoßen Kinder aber auch auf Aufgaben mit Zahlen<br />

auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens wie bei 3 + 4 + 5 = _ + 5.<br />

Noch in der vierten Klasse lösen die meisten Kinder in den USA<br />

solche Aufgaben falsch (Goldin-Meadow et al. 2009). Der häufigste<br />

falsche Lösungsansatz besteht darin, einfach alle Zahlen<br />

links vom Gleichheitszeichen zusammenzuzählen <strong>und</strong> die<br />

Summe als Lösung der Aufgabe zu nehmen, was bei der obigen<br />

Aufgabe zu 12 führen würde. Solche Fehler zeigen nicht nur ein<br />

fehlendes Verständnis dafür, dass bei einem Gleichheitszeichen<br />

die Werte auf beiden Seiten einander entsprechen müssen, sondern<br />

auch einen Störeinfluss des riesigen Erfahrungsschatzes,<br />

den die Kinder mit dem Lösen typischer Additionsaufgaben haben,<br />

bei denen hinter dem Gleichheitszeichen keine Zahl folgt<br />

(McNeil et al. 2011).<br />

In vielen Fällen zeigen die Gesten der Kinder, dass sie die<br />

mathematische Gleichheit besser verstanden haben, als ihre<br />

mündlichen Antworten oder Erklärungen zeigen. Bei der Aufgabe<br />

3 + 4 + 5 = _ + 5 beispielsweise sagen Kinder häufig „12“<br />

<strong>und</strong> erläutern, dass sie die Aufgabe durch Zusammenzählen von<br />

3 + 4 + 5 gelöst haben; aber während sie ihren Lösungsweg erklären,<br />

zeigen sie auf alle vier Zahlen <strong>und</strong> nicht nur auf die drei<br />

Zahlen vor dem Gleichheitszeichen. Dieses Zeigen deutet auf das<br />

<strong>im</strong>plizite Erkennen hin, dass es da eine vierte Zahl gibt, die berücksichtigt<br />

werden muss, obwohl sie diese nicht in ihre Berechnung<br />

mit einbezogen hatten (Goldin-Meadow <strong>und</strong> Alibali 2011).<br />

Kinder, die am Anfang solche Sprache-Gesten-Widersprüche<br />

zeigen, bei denen ihre Gesten andere Informationen vermitteln<br />

als ihre verbalen Aussagen, lernen <strong>im</strong> Unterricht mehr als gleichaltrige<br />

Kinder, deren Gestik <strong>und</strong> Sprache übereinst<strong>im</strong>men (die<br />

also „12“ sagen <strong>und</strong> nur auf die drei Zahlen vor dem Gleichheitszeichen<br />

deuten).<br />

Sprache-Gesten-Widersprüche – Ein Verhalten, bei dem die Handbewegungen<br />

<strong>und</strong> die verbalen Äußerungen unterschiedliche Gedanken vermitteln.<br />

Die Gesten stehen außerdem in einem kausalen Zusammenhang<br />

mit dem Lernen: Kinder, die dazu ermutigt werden, ihre Antworten<br />

bei Aufgaben zur mathematischen Gleichheit auch mit<br />

angemessen Gesten zu erläutern, lernen dabei mehr als Kinder,<br />

die keine Gesten einbeziehen (Goldin-Meadow et al. 2009). Die<br />

positive Korrelation zwischen Sprache-Gesten-Widersprüchen<br />

<strong>und</strong> anschließendem Lernen hat sich bei einer Reihe von Invarianz-<br />

<strong>und</strong> Physikaufgeben sowie Aufgaben zur mathematischen<br />

Gleichheit ergeben. Diese Bef<strong>und</strong>e verdeutlichen einen allgemeingültigen<br />

Schluss: Variabilität <strong>im</strong> Denken <strong>und</strong> Handeln (wie<br />

es sich in Widersprüchen zwischen produzierten Gesten <strong>und</strong> verbalen<br />

Erklärungen oder auch be<strong>im</strong> Entwickeln verschiedener Erklärungen<br />

zum selben Problem – <strong>und</strong> nicht nur einer – zeigt) ist<br />

häufig ein Hinweis auf eine besondere Bereitschaft zum Lernen<br />

(Church 1999; <strong>Siegler</strong> 2006; Thelen <strong>und</strong> Smith 2006).<br />

Angstfach Mathematik<br />

Viele Kinder haben Angst vor Mathematik, <strong>und</strong> dieser negative<br />

emotionale Zustand führt dazu, dass sie die Mathematik meiden<br />

(Ashcraft <strong>und</strong> Ridley 2005). Solche Ängste können sich bereits<br />

in der ersten Klasse zeigen (Ramirez et al. 2012) <strong>und</strong> bleiben bei


304<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

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23<br />

Exkurs 8.4: Anwendungen: Rechenschwäche | |<br />

Zwischen 5 <strong>und</strong> 8 % der Kinder zeigen <strong>im</strong> Umgang<br />

mit Zahlen so schlechte Leistungen, dass<br />

ihnen eine Rechenschwäche attestiert wird (Shalev<br />

2007). Der Intelligenzquotient dieser Kinder<br />

liegt <strong>im</strong> Normalbereich (mindestens 85), aber<br />

<strong>im</strong> Rechnen sind sie extrem schlecht. Meistens<br />

sind sie langsam <strong>im</strong> Lernen des Zählens <strong>und</strong> der<br />

relativen Größe einstelliger Zahlen <strong>und</strong> <strong>im</strong> richtigen<br />

Lösen von Rechenaufgaben mit einstelligen<br />

Zahlen (Geary et al. 2008; Jordan 2007). Ihre<br />

Leistungen verbessern sich mit zunehmender<br />

Erfahrung, aber selbst als Erwachsene bleiben<br />

die meisten von ihnen langsam be<strong>im</strong> Rechnen<br />

mit einstelligen Zahlen <strong>und</strong> haben mit vielen darauf<br />

aufbauenden mathematischen Fertigkeiten<br />

Probleme, etwa bei Textaufgaben, be<strong>im</strong> Rechnen<br />

mit mehrstelligen Zahlen <strong>und</strong> bei der Algebra<br />

(Geary et al. 2012; Hecht <strong>und</strong> Vagi 2010).<br />

Oft hört man die Meinung, Mathematik sei ein<br />

Wissenstyp, den man in der Schule braucht<br />

<strong>und</strong> dann nie wieder; aber die Aussagen<br />

Erwachsener mit Rechenschwäche bestätigen<br />

die lähmende Auswirkung dieses Problems<br />

über die Schuljahre hinaus:<br />

Ich habe für einen Keksfabrikanten gearbeitet.<br />

Be<strong>im</strong> Mischen muss man das richtige Maß<br />

vielen Menschen lebenslang ein Problem. Mathematik löst mehr<br />

Angst aus als jedes andere Schulfach, vermutlich weil bei vielen<br />

mathematischen Aufgaben eine Lösung eindeutig als richtig oder<br />

falsch bewertet werden kann, weil Mathematik häufig mit Intelligenz<br />

in engen Zusammenhang gebracht wird <strong>und</strong> weil es oft lange<br />

Durststrecken ohne Fortschritte be<strong>im</strong> Mathematiklernen gibt.<br />

Die Angst vor Mathematik tritt bei Mädchen häufiger auf als<br />

bei Jungen (Devine et al. 2012). Sie korreliert mit schlechten Leistungen<br />

in Mathematik, auch wenn einige Personen sie teilen, die<br />

hohe Leistungen in Mathematik erreichen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Allgemeinen<br />

kaum Ängste entwickeln (Ashcraft <strong>und</strong> Krause 2007; Maloney<br />

<strong>und</strong> Beilock 2012). Das Gefühl der Bedrohung, die in Bezug auf<br />

Mathematik empf<strong>und</strong>en wird, kann dazu beitragen, dass das gefürchtete<br />

negative Abschneiden in Mathematik eintritt; vermutlich<br />

beruht das darauf, dass die Angst die <strong>im</strong> Arbeitsgedächtnis<br />

verfügbaren Ressourcen für die Lösung der mathematischen<br />

Aufgabe reduziert (Beilock <strong>und</strong> DeCaro 2007). Für diese Erklärung<br />

spricht die Beobachtung, dass Personen mit hoher Mathematikangst<br />

be<strong>im</strong> Lösen von Mathematikaufgaben auffällig hohe<br />

Gehirnaktivität in der rechten Amygdala zeigen, einem Bereich,<br />

der mit den negativen Emotionen zusammenhängt, während die<br />

Aktivität in den für das Arbeitsgedächtnis wichtigen Bereichen<br />

vergleichsweise niedrig ist (Young et al. 2012).<br />

Wodurch bekommen einige Kinder Angst vor der Mathematik?<br />

Die Mechanismen sind noch nicht gut verstanden, aber die<br />

Sicht der Erwachsenen, die für Kinder <strong>im</strong>mer wichtig ist, scheint<br />

eine Rolle zu spielen. Eltern <strong>und</strong> Lehrer, die selbst Angst vor Mathematik<br />

haben, übertragen diese Abneigung <strong>und</strong> Einstellung<br />

auf ihre Kinder. Das ist besonders bei Mädchen ein Problem,<br />

wenn ihre Eltern <strong>und</strong> Lehrer Mädchen nur geringe Fähigkeiten<br />

in Mathematik zutrauen (Beilock et al. 2010; Meece et al. 1990).<br />

<strong>und</strong> die Rezepturen kennen. Immer habe ich<br />

es durcheinandergebracht. Da hat man mich<br />

entlassen (Curry et al. 1996, S. 63).<br />

Das Fast-Food-Unternehmen würde mich gar<br />

nicht erst einstellen, weil ich das Wechselgeld<br />

<strong>im</strong> Kopf nicht ausrechnen kann (Curry et al.<br />

1996, S. 63).<br />

Solange ich denken kann, stand ich mit Zahlen<br />

<strong>im</strong>mer auf Kriegsfuß (Blackburn, zit. nach<br />

McCloskey 2007, S. 415).<br />

Mehrere spezifische Probleme tragen zur<br />

Rechenschwäche bei (Geary et al. 2012). In<br />

schweren Fällen ist die Ursache häufig eine<br />

Schädigung von Teilen des Gehirns, die für das<br />

Verarbeiten von Zahlen unverzichtbar sind, etwa<br />

des intraparietalen Sulcus (Butterworth 2010;<br />

S<strong>im</strong>on <strong>und</strong> Rivera 2007). In weniger schweren<br />

Fällen liegt eine der Hauptursachen darin, dass<br />

die Kinder bis zum Schuleintritt kaum mit Zahlen<br />

zu tun hatten. Kinder, denen bei Schuleintritt die<br />

Kenntnis wichtiger mathematischer Konzepte<br />

<strong>und</strong> Fertigkeiten fehlt, die andere Kinder schon<br />

mitbringen <strong>und</strong> die entscheidend für das weitere<br />

Lernen sind, hinken meist die ganze Schulzeit<br />

hindurch weit hinterher (Duncan et al. 2007).<br />

Andere Variablen, die mit der Rechenschwäche<br />

Der negative Einfluss der Angst vor Mathematik hat inzwischen<br />

Gegenmaßnahmen ausgelöst. Eine dieser Interventionen<br />

ist überraschend einfach: Schüler sollten unmittelbar vor einem<br />

Test ihre Emotionen kurz schriftlich festhalten. Solch eine explizite<br />

Beschreibung reduziert die Angst <strong>und</strong> erhöht die Leistung in<br />

vielen Bereichen wie Mathematik, in denen negative Emotionen<br />

mit dem Lernen interferieren (Ramirez <strong>und</strong> Beilock 2011). Die<br />

negativen Emotionen zu Papier zu bringen, hilft Schülern vermutlich<br />

dabei, die Situation nüchterner zu betrachten <strong>und</strong> sich<br />

ganz auf die mathematischen Aufgaben zu konzentrieren.<br />

Selbst Kinder, die Angst vor Mathematik haben, lernen die<br />

Gr<strong>und</strong>lagen meist ziemlich gut. Allerdings fällt einigen Kindern,<br />

die <strong>im</strong> allgemeinen Umgang mit Zahlen Schwierigkeiten haben,<br />

d. h. an einer Rechenschwäche leiden, das Lernen schwer (▶ Exkurs<br />

8.4).<br />

In Kürze | |<br />

zusammenhängen <strong>und</strong> sie möglicherweise mit<br />

verursachen, sind ein schlechtes Arbeitsgedächtnis<br />

für Zahlen, schwache Exekutivfunktionen,<br />

langsames Verarbeiten numerischer Information<br />

<strong>und</strong> Angst vor Mathematik (Blair <strong>und</strong> Razza<br />

2007; Lyons <strong>und</strong> Beilock 2012; Mazzocco <strong>und</strong><br />

Kover 2007; Raghubar et al. 2010).<br />

Eine Vielzahl von Programmen wurde entwickelt,<br />

um die Fähigkeiten der Kinder mit<br />

Rechenschwäche zu fördern. Ein besonders<br />

erfolgreiches Programm (Fuchs et al. 2013) stellt<br />

den Größenvergleich bei Brüchen in den Mittelpunkt,<br />

indem etwa gefragt wird, ob 1/2 oder 1/5<br />

größer ist <strong>und</strong> die Werte der Brüche auf einem<br />

Zahlenstrahl dargestellt werden (wo steht 1/2<br />

auf dem Zahlenstrahl <strong>und</strong> wo 1/5?). Diese Instruktion<br />

führte bei neun- <strong>und</strong> zehnjährigen Kindern<br />

mit Rechenschwäche nicht nur dazu, dass<br />

sie die Fähigkeit zu solchen Vergleichen lernten,<br />

sondern sie lernten auch das Bruchrechnen<br />

ganz allgemein besser <strong>im</strong> Vergleich zu Kindern,<br />

die zwar <strong>im</strong> Schulunterricht erheblich mehr<br />

Regeln zum Bruchrechnen lernten, aber weniger<br />

Anleitung zum Vergleichen der Größen von Brüchen<br />

bekamen. Die Art der Anleitung kann also,<br />

wie diese Bef<strong>und</strong>e zeigen, die Schwierigkeiten<br />

be<strong>im</strong> Mathematiklernen verringern.<br />

Das Lesenlernen beginnt schon vor Schuleintritt, wenn viele<br />

Kinder die Buchstaben des Alphabets bereits kennen <strong>und</strong><br />

phonologische Bewusstheit erwerben. In der Gr<strong>und</strong>schule<br />

lernen die Kinder früh, Wörter durch zwei wichtige Prozesse<br />

zu erkennen – die phonologische Recodierung <strong>und</strong> den Gedächtnisabruf<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage der visuellen Wortform; <strong>und</strong><br />

sie können je nach Situation die Wahl der Strategie anpassen.<br />

Das Leseverstehen verbessert sich durch Automatisierung der<br />

Worterkennung, durch die Entwicklung von Strategien <strong>und</strong><br />

den Erwerb von Metakognition <strong>und</strong> Inhaltswissen. Die Leseentwicklung<br />

wird auch dadurch beeinflusst, wie viel Kinder<br />

lesen <strong>und</strong> wie viel ihnen ihre Eltern vorlesen.


Zusammenfassung<br />

305 8<br />

Schreiben lernen ist schwer. Es erfordert, sich gleichzeitig<br />

auf mehrere Ziele auf verschiedenen Hierarchieebenen zu<br />

konzentrieren: gr<strong>und</strong>legende Ziele wie Rechtschreibung,<br />

Zeichensetzung, Groß- <strong>und</strong> Kleinschreibung <strong>und</strong> hochrangige<br />

Ziele, wie Aussagen <strong>und</strong> Argumente klar <strong>und</strong> überzeugend zu<br />

formulieren. Viele westliche Kinder wissen bei Schuleintritt,<br />

dass man waagerecht von links nach rechts schreibt, dass der<br />

Text in der jeweils nächsten Zeile weitergeht <strong>und</strong> dass Wörter<br />

durch kleine Zwischenräume getrennt werden. Verbesserungen<br />

des Schreibens mit Alter <strong>und</strong> Erfahrung sind Ausdruck<br />

der Automatisierung von Zielen auf elementaren Ebenen der<br />

Hierarchie, neuer Strategien des Textaufbaus, eines wachsenden<br />

metakognitiven Verständnisses für die Bedürfnisse der<br />

Leser <strong>und</strong> einer Zunahme des Inhaltswissens.<br />

Die mathematische Entwicklung folgt einem ähnlichen allgemeinen<br />

Muster. Die meisten Kinder kommen schon mit nützlichen<br />

Kenntnissen in die Schule <strong>und</strong> können zum Beispiel von<br />

1 an zählen, um Additionsaufgaben zu lösen. In der Schule<br />

lernen Kinder dann ein breites Spektrum an Strategien für die<br />

Lösung von Rechen- <strong>und</strong> anderen mathematischen Aufgaben,<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Allgemeinen setzen sie diese Strategien sinnvoll<br />

ein. Außerdem lernen sie, sich in einem zunehmend größeren<br />

Zahlenraum zu bewegen, wobei das Verständnis der Größen<br />

von Zahlen die Rechenfähigkeiten verbessert. Zum Mathematiklernen<br />

muss man vor allem auch gr<strong>und</strong>legende Begriffe<br />

<strong>und</strong> Prinzipien verstehen. Auf der anderen Seite können das<br />

Lernen <strong>und</strong> die Leistungen durch die Angst vor Mathematik<br />

behindert werden, weil die starken Emotionen die verfügbaren<br />

Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses reduzieren.<br />

Zusammenfassung<br />

-<br />

Alfred Binet <strong>und</strong> sein Mitarbeiter Théophile S<strong>im</strong>on entwickelten<br />

den ersten weitverbreiteten Intelligenztest. Sie wollten<br />

damit Kinder identifizieren, die vom normalen Unterricht in<br />

der Klasse wahrscheinlich nicht profitieren würden. Moderne<br />

-<br />

Intelligenztests sind Nachkommen des Binet-S<strong>im</strong>on-Tests.<br />

Eine zentrale Erkenntnis Binets war, dass Intelligenz<br />

verschiedene Teilfähigkeiten umfasst, die man beurteilen<br />

muss, um Intelligenz genau messen zu können.<br />

-<br />

Was ist Intelligenz?<br />

Man kann Intelligenz als eine einzige Eigenschaft betrachten<br />

wie g, als Zusammensetzung aus wenigen verschiedenen<br />

Fähigkeiten wie Thurstones Pr<strong>im</strong>ärfaktoren oder als<br />

große Anzahl spezifischer Prozesse, wie sie in Analysen der<br />

-<br />

Informationsverarbeitung beschrieben werden.<br />

Intelligenz wird oft mit IQ-Tests wie dem Stanford-Binet-<br />

Text oder dem HAWIK gemessen. Diese Tests untersuchen<br />

Allgemeinwissen, Wortschatz, Rechnen, Sprachverstehen,<br />

räumliches Denken <strong>und</strong> eine Vielzahl anderer intellektueller<br />

Fähigkeiten.<br />

-<br />

Intelligenzmessung<br />

Der Gesamtwert einer Person in einem Intelligenztest, der<br />

IQ, ist ein Maß der allgemeinen Intelligenz. Der IQ spiegelt<br />

die geistigen Fähigkeiten der Person <strong>im</strong> Vergleich mit<br />

-<br />

Gleichaltrigen wider.<br />

Die IQ-Werte der meisten Kinder sind über Jahre hinweg<br />

recht stabil, können <strong>im</strong> Zeitverlauf aber etwas schwanken.<br />

IQ-Werte als Prädiktoren von Lebenserfolg<br />

IQ-Werte korrelieren positiv mit langfristigem Bildungs-<br />

-<br />

<strong>und</strong> Berufserfolg.<br />

Andere Faktoren wie soziales Verständnis, Kreativität <strong>und</strong><br />

Motivation beeinflussen ebenfalls den Lebenserfolg.<br />

-<br />

Gene, Umwelt <strong>und</strong> Intelligenzentwicklung<br />

Die Intelligenzentwicklung wird durch die Eigenschaften<br />

des <strong>Kindes</strong> selbst, durch die unmittelbare Umgebung <strong>und</strong><br />

-<br />

durch den breiteren gesellschaftlichen Kontext beeinflusst.<br />

Ein wichtiger Einfluss auf den IQ ist das genetische Erbe.<br />

Dieser Einfluss vergrößert sich meistens mit dem Alter,<br />

zum Teil, weil Gene erst in der späten Kindheit <strong>und</strong> <strong>im</strong><br />

<strong>Jugendalter</strong> zur Ausprägung kommen, <strong>und</strong> zum Teil, weil<br />

die Gene auch beeinflussen, welche Umgebungen sich das<br />

-<br />

Kind aussucht.<br />

Das familiäre Umfeld eines <strong>Kindes</strong>, wie es mit HOME<br />

gemessen werden kann, hängt mit seinem IQ zusammen.<br />

Dieser Zusammenhang spiegelt Einflüsse innerhalb der<br />

Familie wider, etwa die intellektuelle <strong>und</strong> emotionale<br />

Unterstützung der Eltern für das jeweilige Kind, aber auch<br />

interfamiliäre Einflüsse, beispielsweise Unterschiede hinsichtlich<br />

Bildung <strong>und</strong> Wohlstand der Eltern.<br />

Der Schulbesuch wirkt sich positiv auf den IQ <strong>und</strong> die<br />

-<br />

Schulleistungen aus.<br />

Allgemeine gesellschaftliche Faktoren wie Armut <strong>und</strong> Diskr<strong>im</strong>inierung<br />

ethnischer Minderheiten beeinflussen den IQ<br />

-<br />

von Kindern ebenfalls.<br />

Um die negativen Auswirkungen der Armut zu mindern,<br />

gab es in den USA sowohl kleinere vorschulische Interventionsprogramme<br />

als auch das weit umfangreichere Projekt<br />

Head Start. Beide bewirken zu Anfang positive Veränderungen<br />

von Intelligenz <strong>und</strong> Schulleistung, die mit der<br />

Zeit jedoch verblassen. Langfristig haben die Programme<br />

jedoch anhaltende positive Auswirkungen in dem Sinn,<br />

dass die Wahrscheinlichkeit, nicht sitzenzubleiben <strong>und</strong> die<br />

-<br />

Highschool erfolgreich abzuschließen, steigt.<br />

Intensive Interventionsprogramme wie das Carolina-<br />

Abecedarian-Projekt, die <strong>im</strong> ersten Lebensjahr der Kinder<br />

einsetzen <strong>und</strong> opt<strong>im</strong>ale Bedingungen der <strong>Kindes</strong>betreuung<br />

<strong>und</strong> strukturierte inhaltliche Lehrpläne bereitstellen, haben<br />

Intelligenzzuwächse hervorgerufen, die bis in das Jugend<strong>und</strong><br />

Erwachsenenalter hineinreichen.<br />

-<br />

Alternative Ansätze zur Intelligenz<br />

Neue Ansätze zur Intelligenz, beispielsweise Gardners Theorie<br />

der multiplen Intelligenzen oder Sternbergs Theorie<br />

der Erfolgsintelligenz, sind Versuche, traditionelle Intelligenzkonzepte<br />

zu erweitern.


306<br />

Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

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Der Erwerb schulischer Fähigkeiten: Lesen, Schreiben <strong>und</strong> Mathematik<br />

-<br />

Viele Kinder lernen die Buchstabenbezeichnungen <strong>und</strong><br />

erwerben phonologische Bewusstheit schon vor Schuleintritt.<br />

Beides korreliert mit der späteren Leseleistung, wobei<br />

die phonologische Bewusstheit einen kausalen Faktor<br />

darstellt.<br />

Die Worterkennung gelingt durch zwei Strategien: phonologische<br />

Recodierung <strong>und</strong> visuell gestützten Gedächtnisabruf.<br />

-<br />

Das Leseverstehen profitiert von der Automatisierung der<br />

Worterkennung, weil dies kognitive Ressourcen für das<br />

Textverstehen freisetzt. Weitere Einflüsse auf das Leseverständnis<br />

sind der Einsatz von Strategien, metakognitives<br />

Verständnis <strong>und</strong> Inhaltswissen, außerdem das Ausmaß, in<br />

dem Eltern ihren Kindern vorlesen, <strong>und</strong> das Ausmaß, in<br />

-<br />

dem die Kinder später selbst lesen.<br />

Auch wenn viele Kinder schon <strong>im</strong> Vorschulalter mit dem<br />

Schreiben anfangen, bleibt gutes Schreiben für die meisten<br />

Kinder noch jahrelang recht schwierig. Ein Großteil der<br />

Schwierigkeit resultiert aus der Tatsache, dass die Kinder<br />

be<strong>im</strong> Schreiben gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit auf<br />

Low-Level-Prozesse wie Rechtschreibung <strong>und</strong> Zeichensetzung<br />

<strong>und</strong> auf High-Level-Prozesse wie die Antizipation<br />

dessen, was der Leser bereits weiß <strong>und</strong> was nicht, richten<br />

-<br />

müssen.<br />

Die Automatisierung der gr<strong>und</strong>legenden Prozesse, der<br />

Einsatz von Strategien, metakognitives Verständnis <strong>und</strong><br />

Inhaltswissen beeinflussen das Schreiben ebenso wie das<br />

-<br />

Lesen.<br />

Die meisten Kinder verwenden, wenn sie rechnen lernen,<br />

mehrere Strategien, beispielsweise das Abzählen von 1<br />

ausgehend <strong>und</strong> den Abruf der fertigen Lösungen aus dem<br />

Gedächtnis. Sie wählen die Strategien je nach Situation <strong>und</strong><br />

verwenden die zeitaufwendigeren <strong>und</strong> mühsameren Strategien<br />

nur bei schwierigeren Aufgaben, bei denen sie diese<br />

-<br />

Strategien für die richtige Lösung brauchen.<br />

Die genaue Repräsentation der unterschiedlichen Zahlengrößen<br />

ist entscheidend be<strong>im</strong> Rechnenlernen wie be<strong>im</strong><br />

-<br />

Erwerb weiterer mathematischer Fertigkeiten.<br />

Im weiteren Umgang mit Mathematik gewinnt das Verständnis<br />

gr<strong>und</strong>legender Begriffe eine wachsende Bedeutung.<br />

So muss man das Konzept der mathematischen Gleichheit<br />

verstehen, um Probleme der Arithmetik <strong>und</strong> Algebra zu<br />

bewältigen, die über bloßes Rechnen hinausgehen.<br />

Fragen <strong>und</strong> Denkanstöße<br />

1. Intelligenz kann man als einheitliche oder aus mehreren<br />

beziehungsweise vielen Teilkomponenten zusammengesetzte<br />

Eigenschaft verstehen. Machen Sie eine Liste<br />

der nach Ihrer Auffassung wichtigen Komponenten der<br />

Intelligenz <strong>und</strong> erklären Sie deren Bedeutung.<br />

2. Individuelle Intelligenzunterschiede sind stabiler als individuelle<br />

Unterschiede in anderen psychischen Funktionsbereichen,<br />

beispielsweise der emotionalen Regulation oder<br />

der Aggressivität. Warum ist das wohl so?<br />

3. Bei Kindern aus Familien mit mittlerem oder hohem<br />

Einkommen sind die individuellen Intelligenzunterschiede<br />

zu einem größeren Teil auf genetische Einflüsse als auf die<br />

ihnen gemeinsame soziale Umgebung zurückzuführen,<br />

während bei Kindern aus einkommensschwachen Familien<br />

umgekehrt der Umwelteinfluss überwiegt. Warum,<br />

glauben Sie, ist das so?<br />

4. Die Teilnahme an Head Start führt nicht zu einem höheren<br />

IQ oder zu besseren Testleistungen am Ende der Schulzeit,<br />

aber zu geringeren Abbrecherquoten <strong>und</strong> weniger Schulwechseln<br />

in Sonderschulen. Warum ist das der Fall?<br />

5. Erläutern Sie die Aussage von Chall (1979): „In den unteren<br />

Klassen lernen die Kinder lesen, in den höheren Klassen<br />

lesen sie, um zu lernen.“<br />

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Kapitel 8 • Intelligenz <strong>und</strong> schulische Leistungen<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

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313 9<br />

Theorien der sozialen<br />

Entwicklung<br />

Robert <strong>Siegler</strong>, Nancy <strong>Eisenberg</strong>, Judy <strong>DeLoache</strong>, Jenny Saffran<br />

Psychoanalytische Theorien – 315<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 315<br />

Zentrale Entwicklungsfragen – 315<br />

Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung – 315<br />

Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung – 318<br />

Aktuelle Perspektiven – 320<br />

Lerntheorien – 321<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 321<br />

Zentrale Entwicklungsfragen – 321<br />

Der Behaviorismus von Watson – 321<br />

Das operante Konditionieren von Skinner – 323<br />

Die Theorie des sozialen Lernens – 324<br />

Aktuelle Perspektiven – 327<br />

Theorien der sozialen Kognition – 327<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 327<br />

Zentrale Entwicklungsfragen – 328<br />

Selmans Stufentheorie der Perspektivenübernahme – 328<br />

Dodges Informationsverarbeitungstheorie des sozialen Problemlösens – 329<br />

Dwecks Theorie der Selbstattribution <strong>und</strong> Leistungsmotivation – 330<br />

Aktuelle Perspektiven – 331<br />

Ökologische Entwicklungstheorien – 332<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong> – 332<br />

Zentrale Entwicklungsfragen – 332<br />

Ethologische <strong>und</strong> evolutionsbezogene Theorien – 332<br />

Das bioökologische Modell – 336<br />

Aktuelle Perspektiven – 346<br />

Zusammenfassung – 346<br />

Literatur – 347<br />

S. Pauen (Hrsg.), <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>im</strong> <strong>Kindes</strong>- <strong>und</strong> <strong>Jugendalter</strong>,<br />

DOI 10.1007/978-3-662-47028-2_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016


314<br />

Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

1<br />

Ihrem neuen elektronischen Fre<strong>und</strong> kommt Ihnen ganz natürlich<br />

vor. Sie fangen sogar an, ihn liebzugewinnen.<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

© Sabina Pauen<br />

Stellen Sie sich vor, Sie spielen mit einem Säugling. Wie wäre das<br />

wohl? Natürlich lächeln Sie <strong>und</strong> sprechen in gefühlvollem Tonfall,<br />

<strong>und</strong> das Baby lächelt vielleicht zurück <strong>und</strong> antwortet Ihnen, indem<br />

es glücklich gluckst. Wenn Sie aus irgendeinem Gr<strong>und</strong> mit lauter,<br />

harter St<strong>im</strong>me sprechen, wird das Baby verstummen <strong>und</strong> auf der<br />

Hut sein. Wenn Sie nach links schauen, folgt das Kind Ihrem Blick,<br />

als erwarte es, dass in dieser Richtung etwas Interessantes zu sehen<br />

ist. Natürlich reagiert das Baby nicht nur auf das, was Sie tun;<br />

es verhält sich auch unabhängig davon, mustert unterschiedliche<br />

Gegenstände oder verfolgt Ereignisse <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer oder quengelt<br />

aus einem nicht ersichtlichen Gr<strong>und</strong>. Ihr Umgang mit dem Baby<br />

weckt Gefühle in Ihnen – Freude, Zuneigung, Fürsorglichkeit <strong>und</strong><br />

so weiter. Im Lauf der Zeit lernen Sie <strong>und</strong> der Säugling einander<br />

durch wiederholte Interaktionen besser kennen <strong>und</strong> gehen stärker<br />

mit Gesten oder verbal aufeinander ein als auf andere Leute.<br />

Und nun stellen Sie sich vor, dass man Sie auffordert, mit<br />

Kismet, einem Roboter, genauso umzugehen wie mit einem<br />

Menschenbaby. Ein solches Ansinnen mag Ihnen befremdlich<br />

vorkommen, aber weil Kismet gesichtsähnliche Züge hat, sind<br />

Sie dazu bereit, es einmal zu versuchen. Sie lächeln also <strong>und</strong> sagen<br />

in liebevollem Ton: „Hallo, Kismet, wie geht es dir?“ Kismet<br />

lächelt zurück <strong>und</strong> gurgelt glücklich. Sie sagen rau: „Kismet, hör<br />

sofort damit auf.“ Der Roboter sieht erstaunt aus, sogar ein wenig<br />

erschrocken, <strong>und</strong> gibt einen w<strong>im</strong>mernden Laut von sich. Schon<br />

wollen Sie ihn ganz spontan trösten <strong>und</strong> sagen: „Tut mir leid, Kismet,<br />

so habe ich es nicht gemeint.“ Nach wenigen Augenblicken<br />

haben Sie Ihre Befangenheit abgestreift, <strong>und</strong> der Umgang mit<br />

..<br />

Auch zur Interaktion von Kismet <strong>und</strong> seiner Konstrukteurin gehören das<br />

Sprechen, das beidseitige Gurren <strong>und</strong> die Reaktion auf den Gesichtsausdruck<br />

des Gegenübers. (© Sam Ogden/Science Source)<br />

Kismet gibt es wirklich, <strong>und</strong> „er“ verhält sich ziemlich genauso,<br />

wie wir es gerade beschrieben haben. Ein Wissenschaftlerteam<br />

um Cynthia Breazeal hat ihn entworfen; ihr vornehmliches Ziel<br />

bestand darin, einen Roboter herzustellen, der nicht auf best<strong>im</strong>mte<br />

Einzelverhalten programmiert werden sollte, sondern<br />

auf Lernen in sozialen Interaktionen, ähnlich wie es Säuglinge<br />

tun. Entsprechend wurde Kismet als umgänglicher, niedlicher<br />

kindähnlicher Roboter gestaltet, der die Aufmerksamkeit Erwachsener<br />

auf sich lenken <strong>und</strong> von ihnen gleichsam erzogen<br />

werden kann. Kismets Verhalten lässt sich leicht mit Begriffen<br />

versehen, die sich auf Menschen beziehen; er scheint so etwas wie<br />

innere geistige <strong>und</strong> emotionale Zustände <strong>und</strong> sogar eine Persönlichkeit<br />

zu besitzen. Aus den Interaktionen mit Menschen lernt<br />

Kismet auf der Basis ihrer Anleitungen <strong>und</strong> ihrer Reaktionen auf<br />

sein Verhalten. Durch diese Interaktionen mit anderen findet<br />

Kismet heraus, was Gesichtsausdrücke bedeuten, wie man kommuniziert,<br />

welche Verhaltensweisen akzeptabel <strong>und</strong> welche inakzeptabel<br />

sind, <strong>und</strong> so fort. Auf diese Weise entwickelt sich Kismet<br />

<strong>im</strong> Lauf der Zeit durch die Interaktion zwischen den gleichsam<br />

„angeborenen“ eingebauten Strukturen <strong>und</strong> sozial vermittelten<br />

Lernerfahrungen. Genau wie ein Baby!<br />

Die Herausforderung, der sich Kismets Konstrukteure gegenübersahen,<br />

gleicht in vieler Hinsicht der Aufgabe von Entwicklungstheoretikern,<br />

die nachzuweisen versuchen, wie sich<br />

die <strong>Kindes</strong>entwicklung durch Interaktionen mit anderen Menschen<br />

formt. Jeder erfolgreiche Erklärungsversuch der sozialen<br />

Entwicklung muss die vielen Einflussmöglichkeiten berücksichtigen,<br />

die wir aufeinander haben. Es beginnt bereits damit, dass<br />

kein menschlicher Säugling ohne intensive Langzeitpflege durch


Psychoanalytische Theorien<br />

315 9<br />

andere Menschen überlebt. Wir lernen durch die Reaktionen anderer<br />

unser eigenes Verhalten; daraus, wie andere uns behandeln,<br />

lernen wir uns selbst zu verstehen; <strong>und</strong> wir interpretieren andere<br />

Menschen in Analogie zu uns selbst – all dies <strong>im</strong> Kontext sozialer<br />

Interaktion <strong>und</strong> menschlicher Gesellschaft. Inzwischen haben die<br />

Entwickler von Kismet wie andere Pioniere in der Roboterentwicklung<br />

enorme Fortschritte erreicht, sodass ihre Roboterkinder<br />

<strong>im</strong>mer gewandter <strong>und</strong> lernfähiger <strong>im</strong> Umgang mit anderen werden.<br />

Einige Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass es schon<br />

in wenigen Jahren Cyberbabys geben wird, die die kognitiven <strong>und</strong><br />

sozialen Fähigkeiten eines dreijährigen <strong>Kindes</strong> erwerben können.<br />

Wir geben in diesem Kapitel einen Überblick über einige der<br />

wichtigsten <strong>und</strong> einflussreichsten allgemeinen Theorien der sozialen<br />

Entwicklung. Solche Theorien versuchen zu erklären, wie<br />

Menschen <strong>und</strong> soziale Institutionen in der Umwelt von Kindern<br />

auf ihre Entwicklung einwirken. Am Anfang von ▶ Kap. 4 haben<br />

wir <strong>im</strong> Zusammenhang mit Theorien der kognitiven Entwicklung<br />

bereits einige Gründe benannt warum Theorien wichtig<br />

sind. Diese Gründe gelten gleichermaßen für die Theorien der<br />

sozialen Entwicklung.<br />

Theorien der sozialen Entwicklung sind auf die Erklärung<br />

vieler wichtiger Entwicklungsaspekte gerichtet, beispielsweise<br />

Emotion, Persönlichkeit, Bindung, Selbst, Beziehungen zu<br />

Gleichaltrigen, Moral <strong>und</strong> Geschlecht. In diesem Kapitel beschreiben<br />

wir vier gr<strong>und</strong>legende Theorien, die diese Themen<br />

ansprechen – psychoanalytische Theorien, Lerntheorien, sozialkognitive<br />

Theorien <strong>und</strong> ökologische Theorien –, <strong>und</strong> erläutern<br />

die jeweiligen Kernannahmen <strong>und</strong> wichtigsten Bef<strong>und</strong>e.<br />

Alle sieben Leitthemen dieses Buches kommen in diesem Kapitel<br />

wieder vor, wobei drei besonders hervortreten. Vor allem<br />

das Thema individuelle Unterschiede durchzieht das gesamte Kapitel,<br />

wenn wir untersuchen, wie die soziale Umwelt des <strong>Kindes</strong><br />

seine Entwicklung <strong>im</strong> Einzelnen beeinflusst. Am Thema Anlage<br />

<strong>und</strong> Umwelt werden die Unterschiede der Theorien deutlich, die<br />

biologische Einflüsse <strong>und</strong> Umweltfaktoren auf unterschiedliche<br />

Weise betonen. Auch das Thema des aktiven <strong>Kindes</strong> steht <strong>im</strong> Mittelpunkt,<br />

weil einige der Theorien die aktive Beteiligung der Kinder<br />

an ihrer eigenen Sozialisation <strong>und</strong> die daraus entstehenden<br />

Wirkungen hervorheben, während andere Theorien die Entwicklung<br />

eines <strong>Kindes</strong> vor allem auf äußere Einflüsse zurückführen.<br />

Psychoanalytische Theorien<br />

Keine psychologische Theorie hatte mehr Einfluss auf die westliche<br />

Kultur <strong>und</strong> ihr Verständnis der Persönlichkeit <strong>und</strong> der sozialen<br />

Entwicklung als die psychoanalytische Theorie Sigm<strong>und</strong><br />

Freuds (1856–1939). In der Nachfolge von Freuds Theorie, hatte<br />

außerdem die Entwicklungstheorie der Lebensspanne von Erik<br />

Erikson (1902–1994) enormen Einfluss.<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />

Reifung vorangetrieben wird. Für Freud ist Verhalten dadurch<br />

motiviert, dass gr<strong>und</strong>legende Triebe befriedigt werden müssen.<br />

Diese Triebe <strong>und</strong> die verschiedenen Motive, die sich aus ihnen<br />

ergeben, sind weitestgehend unbewusst, sodass Menschen oft<br />

nur dunkel ahnen, warum sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten.<br />

Eriksons Theorie zufolge wird die Entwicklung durch<br />

eine Reihe von Entwicklungskrisen vorangetrieben, die mit dem<br />

Alter <strong>und</strong> der biologischen Reifung zusammenhängen. Um sich<br />

ges<strong>und</strong> zu entwickeln, muss der Mensch diese Krisen erfolgreich<br />

bewältigen.<br />

Zentrale Entwicklungsfragen<br />

Bei der psychoanalytischen Theorie spielen drei der sieben Leitthemen<br />

eine wichtige Rolle: Kontinuität versus Diskontinuität,<br />

individuelle Unterschiede <strong>und</strong> Anlage <strong>und</strong> Umwelt. Bei den Entwicklungsannahmen<br />

von Freud <strong>und</strong> Erikson handelt es sich,<br />

wie bei der in ▶ Kap. 4 dargestellten Theorie Piagets, um Stufentheorien,<br />

die die Diskontinuität der Entwicklung betonen.<br />

Im Rahmen dieser diskontinuierlichen Entwicklung heben die<br />

psychoanalytischen Theorien jedoch auf die Kontinuität individueller<br />

Unterschiede ab, indem sie behaupten, dass die frühen<br />

Erfahrungen von Kindern ihre spätere Entwicklung prägen. Das<br />

Zusammenspiel von Anlage <strong>und</strong> Umwelt ergibt sich bei Freud<br />

<strong>und</strong> Erikson vor allem durch die biologischen Gr<strong>und</strong>lagen der<br />

Entwicklungsstufen <strong>und</strong> ihre Interaktion mit den Erfahrungen<br />

des <strong>Kindes</strong>.<br />

Freuds Theorie der psychosexuellen<br />

Entwicklung<br />

Freud befasste sich ursprünglich als Neurologe mit den Ursprüngen<br />

von Geisteskrankheiten <strong>und</strong> ihrer Behandlung. Dabei<br />

faszinierte ihn besonders die Beobachtung, dass die neurologischen<br />

Symptome seiner Patientinnen <strong>und</strong> Patienten wie die<br />

Gefühlstaubheit einer Hand oder Blindheit manchmal keine erkennbare<br />

körperliche Ursache hatten. Aufgr<strong>und</strong> der Krankenberichte,<br />

die er von diesen Patienten hörte, kam er zu dem Schluss,<br />

dass die unerklärlichen Symptome auf vollständig unbewussten,<br />

aber mächtigen Angst- oder Schuldgefühlen beruhen könnten,<br />

beispielsweise auf der Angst, etwas Verbotenes zu berühren<br />

oder auch nur anzusehen. Freuds Interesse an der psychischen<br />

Entwicklung hing mit seiner zunehmenden Überzeugung zusammen,<br />

dass die Mehrzahl der emotionalen Probleme seiner<br />

Patienten ihren Ursprung in den frühen Beziehungen der Kindheit<br />

hat, insbesondere in den Beziehungen zu den Eltern. Freuds<br />

Beiträge zur <strong>Entwicklungspsychologie</strong> sind gr<strong>und</strong>legend <strong>und</strong><br />

nachhaltig, auch wenn diese Beiträge, wie wir später erläutern<br />

werden, mehr mit best<strong>im</strong>mten allgemeinen psychologischen<br />

Konzepten zu tun hatten als mit den Besonderheiten seiner<br />

Theorie.<br />

Die Theorien von Freud <strong>und</strong> Erikson gehen gleichermaßen<br />

davon aus, dass die Entwicklung sehr stark durch biologische


316<br />

Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

..<br />

Sigm<strong>und</strong> Freud, der Vater der Psychoanalyse, hatte einen nachhaltigen<br />

Einfluss auf die <strong>Entwicklungspsychologie</strong>, vor allem wegen der Betonung des<br />

lebenslangen Einflusses früher emotionaler Beziehungen. (© Corbis)<br />

Bei unserer Diskussion der theoretischen Ansichten Freuds konzentrieren<br />

wir uns vorrangig auf ihre entwicklungsbezogenen<br />

Aspekte, insbesondere auf die allgemeinen Themen, die weiterhin<br />

maßgebend sind.<br />

Gr<strong>und</strong>legende Merkmale der Freud’schen<br />

Theorie<br />

Freuds Entwicklungstheorie wird als eine Theorie der psychosexuellen<br />

Entwicklung bezeichnet, weil er annahm, dass auch sehr<br />

kleine Kinder bereits eine Sexualität haben, die ihr Verhalten motiviert<br />

<strong>und</strong> ihre Beziehungen zu anderen Menschen beeinflusst.<br />

Er behauptete, dass Kinder eine Reihe von universell auftretenden<br />

Phasen durchlaufen. Nach Freud fokussiert sich dabei die psychische<br />

Energie – die biologisch gegebenen Triebe, die Verhalten,<br />

Gedanken <strong>und</strong> Gefühle in Gang setzen – in den verschiedenen<br />

Entwicklungsphasen auf verschiedene erogene Zonen des Körpers<br />

(z. B. den M<strong>und</strong>, den Anus <strong>und</strong> das Genital), die sinnliche<br />

Lustgefühle auslösen. Freud war der Meinung, dass Kinder in<br />

jeder Entwicklungsphase in Bezug auf eine best<strong>im</strong>mte erogene<br />

Zone auf Konflikte stoßen, wobei sich der Erfolg oder Misserfolg<br />

be<strong>im</strong> Lösen dieser Konflikte lebenslang auf die Entwicklung<br />

auswirkt.<br />

Psychische Energie – Freuds Ausdruck für die Gesamtheit der biologisch begründeten<br />

instinktiven Triebe, die Verhalten, Gedanken <strong>und</strong> Gefühle seiner<br />

Ansicht nach antreiben.<br />

Erogene Zonen – In der Freud’schen Theorie diejenigen Körperbereiche, die<br />

in den einzelnen Entwicklungsphasen erotische Empfindungen (Lustgefühle)<br />

auslösen.<br />

Der Entwicklungsprozess<br />

Nach Ansicht Sigm<strong>und</strong> Freuds beginnt die Entwicklung mit einem<br />

hilflosen Säugling, der von Trieben beherrscht wird, in erster<br />

Linie von Hunger, die Spannung erzeugen. Das kleine Baby<br />

weiß nicht, wie es diese Spannung abbauen kann <strong>und</strong> drückt den<br />

bedrängenden Hunger durch Weinen aus, was die Mutter zum<br />

Stillen veranlasst. (In Freuds Zeit wurden praktisch alle Babys<br />

gestillt.) Die resultierende Befriedigung des Hungers sowie die Erfahrung<br />

des Stillens sind für das Kind eine Quelle intensiver Lust.<br />

Die biologischen Triebe, mit denen das Kind auf die Welt<br />

kommt, bilden das Es – die früheste <strong>und</strong> pr<strong>im</strong>itivste der drei<br />

Persönlichkeitsstrukturen, die Freud postuliert. Das Es ist völlig<br />

unbewusst <strong>und</strong> bildet die Quelle der psychischen Energie. Es ist<br />

der „dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit […] ein<br />

Kessel voll brodelnder Erregungen“, die der Befriedigung bedürfen<br />

(Freud 1933). Das Es wird vom Lustprinzip geleitet – dem<br />

Ziel, schnellstmöglich max<strong>im</strong>ale Befriedigung zu erlangen. Ob<br />

die Erfüllung nun Essen, Trinken, das Beseitigen von etwas oder<br />

Wohlbefinden ist, das Es will es jetzt. Das Es bleibt lebenslang<br />

die Quelle der psychischen Energie. Seine Aktivität ist bei egoistischem<br />

oder <strong>im</strong>pulsivem Verhalten am offensichtlichsten, wenn<br />

die unmittelbare Befriedigung ohne oder mit nur wenig Rücksicht<br />

auf die Folgen angestrebt wird.<br />

Es – In der psychoanalytischen Theorie die früheste <strong>und</strong> pr<strong>im</strong>itivste Persönlichkeitsstruktur.<br />

Das Es ist unbewusst <strong>und</strong> folgt dem Ziel des Lustgewinns.<br />

Im ersten Lebensjahr befindet sich der Säugling in Freuds erster<br />

Phase der psychosexuellen Entwicklung, der oralen Phase.<br />

Diese wird so genannt, weil die pr<strong>im</strong>äre Quelle für Befriedigung<br />

<strong>und</strong> Lust orale Tätigkeiten wie Saugen, Lutschen <strong>und</strong> Essen sind.<br />

„Wenn sich der Säugling selbst ausdrücken könnte, würde er<br />

zweifellos anerkennen, dass das Saugen an der Mutterbrust mit<br />

Abstand das Wichtigste <strong>im</strong> Leben ist“ (Freud 1920). Die mit dem<br />

Stillen assoziierte Lust ist so intensiv, dass andere Tätigkeiten mit<br />

dem M<strong>und</strong> – zum Beispiel am Daumen oder Schnuller zu saugen<br />

– ebenfalls Lust bereiten.<br />

Orale Phase – Die erste Phase in Freuds Theorie <strong>im</strong> ersten Lebensjahr, in der die<br />

pr<strong>im</strong>äre Quelle für Befriedigung <strong>und</strong> Lust in oralen Aktivitäten besteht.<br />

Für Freud sind die Gefühle des Babys für seine Mutter „einzigartig<br />

<strong>und</strong> unvergleichbar“, <strong>und</strong> durch sie ist die Mutter „unverwechselbar<br />

ein Leben lang als das erste <strong>und</strong> stärkste Objekt der<br />

Liebe <strong>und</strong> als Prototyp für alle späteren Liebesbeziehungen eingeführt“<br />

(Freud 1940).<br />

Die Mutter des Säuglings ist auch eine Quelle der Sicherheit.<br />

Diese Sicherheit gibt es jedoch nicht umsonst. Wie <strong>im</strong>mer bei<br />

Freud gibt es auch eine Schattenseite: Säuglinge „bezahlen diese<br />

Sicherheit mit einer Furcht vor Liebesverlust“ (Freud 1940). Für<br />

Freud beruhen die häufigen ängstlichen Reaktionen, wenn man<br />

allein oder <strong>im</strong> Dunkeln ist, darauf, jemanden zu vermissen, den<br />

man liebt <strong>und</strong> nach dem man sich sehnt (Freud 1926).


Psychoanalytische Theorien<br />

317 9<br />

Gegen Ende des ersten Jahres entsteht allmählich die zweite<br />

Persönlichkeitsstruktur, das Ich. Das Ich erwächst aus der Notwendigkeit,<br />

die Konflikte zwischen den ungezügelten Forderungen<br />

nach sofortiger Befriedigung des Es <strong>und</strong> den von der externen<br />

Welt auferlegten Einschränkungen zu versöhnen. „Das Es<br />

steht für die ungezähmten Leidenschaften“, während das Ich „für<br />

Vernunft <strong>und</strong> Verstand steht“ (Freud 1933). Das Ich arbeitet nach<br />

dem Realitätsprinzip <strong>und</strong> versucht Wege zu finden, um das Es in<br />

Einklang mit den Forderungen der Realität zu bringen. Im Lauf<br />

der Zeit, in der das Ich fortwährend die Aussöhnung zwischen<br />

den Anforderungen des Es <strong>und</strong> den Anforderungen der Realität<br />

sucht, wird es stärker <strong>und</strong> differenzierter <strong>und</strong> entwickelt sich<br />

schließlich zu der individuellen Erfahrung des Selbst. Dennoch<br />

übern<strong>im</strong>mt das Ich niemals die vollständige Kontrolle:<br />

» Man könnte das Verhältnis des Ichs zum Es mit dem des Reiters<br />

zu seinem Pferd vergleichen. Das Pferd gibt die Energie<br />

für die Lokomotive her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu<br />

best<strong>im</strong>men, die Bewegung des starken Tieres zu leiten. Aber<br />

zwischen Ich <strong>und</strong> Es ereignet sich allzu häufig der nicht ideale<br />

Fall, daß der Reiter das Roß dahin führen muß, wohin es selbst<br />

gehen will (Freud 1969, S. 514).<br />

Ich – In der psychoanalytischen Theorie die zweite Persönlichkeitsstruktur, die<br />

sich entwickelt. Diese ist die rationale, logische <strong>und</strong> problemlösende Komponente<br />

der Persönlichkeit.<br />

Im Verlauf des zweiten Lebensjahres eines <strong>Kindes</strong> ermöglicht<br />

die Reifung die Entwicklung der Kontrolle über einige Körperprozesse,<br />

zum Beispiel das Urinieren <strong>und</strong> die Darmentleerung.<br />

Zu diesem Zeitpunkt tritt das Kind in Freuds zweite Phase ein,<br />

die anale Phase, die bis zum Alter von etwa drei Jahren andauert.<br />

In dieser Phase konzentriert sich das erotische Interesse des<br />

<strong>Kindes</strong> auf den lustvollen Spannungsabbau be<strong>im</strong> Stuhlgang. Es<br />

ergibt sich ein Konflikt, wenn die Eltern zum ersten Mal spezielle<br />

Anforderungen an das Kind stellen, hauptsächlich wenn sie auf<br />

Sauberkeit bestehen. In den folgenden Jahren werden die Eltern<br />

<strong>und</strong> andere Personen ihre Anforderungen an das Kind erhöhen,<br />

um seine Impulse zu kontrollieren <strong>und</strong> Befriedigungen aufzuschieben.<br />

Anale Phase – Die zweite Phase in Freuds Theorie, etwa zwischen dem ersten<br />

<strong>und</strong> dem dritten Lebensjahr, in der die Körperausscheidungen die pr<strong>im</strong>äre<br />

Lustquelle darstellen.<br />

Freuds dritte Entwicklungsstufe, die phallische Phase, umfasst<br />

das dritte bis sechste Lebensjahr. In dieser Phase verändert sich<br />

der Fokus des Lustempfindens erneut, wenn die Kinder sich für<br />

ihre eigenen Genitalien interessieren <strong>und</strong> neugierig sind, wie es<br />

um die Genitalien ihrer Eltern <strong>und</strong> Spielgefährten bestellt ist.<br />

Sowohl Jungen als auch Mädchen beziehen Lustgefühle aus der<br />

Masturbation – einer Betätigung, die von Eltern zu Zeiten Freuds<br />

in seinem Kulturkreis oft aufs Schwerste bestraft wurde.<br />

Phallische Phase – Die dritte Phase in Freuds Theorie zwischen dem dritten<br />

<strong>und</strong> dem sechsten Lebensjahr, in der sich der sexuelle Lustgewinn auf die Genitalien<br />

richtet.<br />

Freud war der Meinung, dass sich Kinder während der phallischen<br />

Phase mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil identifizieren<br />

<strong>und</strong> auf diese Weise Geschlechterunterschiede in Einstellungen<br />

<strong>und</strong> Verhalten entstehen. Diese Identifikation beginnt,<br />

wenn die Kinder den entscheidenden Unterschied bemerken,<br />

einen Penis zu haben oder keinen. In dieser Zeit interessiert sich<br />

ein Junge sehr für seinen Penis, der „so leicht erregbar <strong>und</strong> veränderbar<br />

ist <strong>und</strong> so reich an Empfindungen“ (Freud 1933, S. 77).<br />

Nach Freuds Meinung bemerken Mädchen die Tatsache, dass<br />

sie keinen Penis haben, <strong>und</strong> empfinden Penisneid, wie es Freud<br />

nannte.<br />

Freud nahm weiterhin an, dass kleine Kinder während der<br />

phallischen Phase intensive sexuelle Wünsche erleben, <strong>und</strong> ihre<br />

Anstrengungen, mit diesen Wünschen klarzukommen, sind es<br />

seiner Meinung nach, die zum Auftauchen der dritten Persönlichkeitsstruktur<br />

führen: des Über-Ich. Das Über-Ich ist <strong>im</strong> Wesentlichen<br />

das, was wir uns als Gewissen vorstellen. Mit seiner<br />

Hilfe kann das Kind sein eigenes Verhalten auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

seiner Überzeugungen zu dem, was richtig <strong>und</strong> was falsch ist,<br />

steuern. Das Über-Ich beruht auf der Internalisierung (oder<br />

Übernahme) der Regeln <strong>und</strong> Normen, welche die Eltern für<br />

akzeptables <strong>und</strong> unangemessenes Verhalten setzen. Das Über-<br />

Ich leitet das Kind bei der Vermeidung von Handlungen, die zu<br />

Schuldgefühlen führen würden, wenn das Kind diese verinnerlichten<br />

Regeln <strong>und</strong> Normen verletzt.<br />

Über-Ich – In der psychoanalytischen Theorie die dritte Persönlichkeitsstruktur,<br />

die verinnerlichte moralische Normen umfasst.<br />

Internalisierung – Der Prozess der Übernahme (Verinnerlichung) der Eigenschaften,<br />

Überzeugungen <strong>und</strong> Normen einer anderen Person.<br />

Bei Jungen führt der Weg zum Über-Ich über den Ödipus-Komplex<br />

<strong>und</strong> seine Überwindung. Dabei handelt es sich um einen<br />

psychosexuellen Konflikt, in dem ein Junge eine Form des sexuellen<br />

Begehrens seiner Mutter empfindet <strong>und</strong> sie ausschließlich<br />

für sich haben möchte. Dieser Gedanke kindlicher sexueller<br />

Wünsche mutet fremdartig an, st<strong>im</strong>mt aber mit vielen Episoden<br />

überein, die Familien berichten. Als beispielsweise einer unserer<br />

Söhne fünf Jahre alt war, teilte er seiner Mutter mit, dass er sie irgendwann<br />

einmal heiraten wolle. Sie sagte, es tue ihr leid, aber sie<br />

sei bereits mit Papa verheiratet, <strong>und</strong> er müsse sich zum Heiraten<br />

wohl eine andere suchen. Darauf antwortete der Junge: „Ich habe<br />

eine gute Idee! Ich stecke Papa in eine große Kiste <strong>und</strong> schicke<br />

ihn mit der Post irgendwohin. Dann können wir heiraten!“<br />

Ödipus-Komplex – Freuds Ausdruck für den Konflikt, den Jungen in der phallischen<br />

Phase erleben, weil sie ihr sexuelles Verlangen auf ihre Mutter richten<br />

<strong>und</strong> sich vor der Vergeltung des Vaters fürchten. (Der Komplex ist nach dem<br />

König der griechischen Mythologie benannt, der unwissentlich seinen Vater<br />

schlug <strong>und</strong> seine Mutter heiratete.)<br />

In Freuds Version des Ödipus-Konflikts erlebt der Sohn sein Verlangen<br />

nach seiner Mutter <strong>und</strong> seine Feindseligkeit gegenüber<br />

dem Vater als so bedrohlich, dass ihn sein Ich durch Verdrängung<br />

davor schützt <strong>und</strong> die gefährlichen Gefühle ins Unbewusste verbannt,<br />

den Aufbewahrungsort für angsterzeugende Gedanken<br />

<strong>und</strong> Impulse, die vor dem Bewusstsein verborgen werden. Eine<br />

Folge dieser weitverbreiteten Verdrängung ist Freud zufolge die


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Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

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infantile Amnesie – der Verlust der Erinnerungen an unsere ersten<br />

Lebensjahre, unter dem wir alle leiden. Zusätzlich verstärkt<br />

der Junge seine Identifizierung mit dem Vater: Indem er danach<br />

strebt, so wie sein Vater zu werden, internalisiert der Junge die<br />

Werte, Überzeugungen <strong>und</strong> Einstellungen des Vaters, was zur<br />

Entwicklung eines starken Gewissens führt. Freud meinte, dass<br />

Mädchen einen ähnlichen, aber weniger intensiven Konflikt erleben<br />

– der bisweilen Elektra-Komplex genannt wird <strong>und</strong> bei dem<br />

sich erotische Gefühle auf den Vater richten; bei Mädchen führt<br />

der Elektra-Komplex dazu, dass sie ein Gewissen entwickeln, das<br />

schwächer als das der Jungen ist.<br />

..<br />

Durch die Identifikation mit seinem Vater sollte dieser Junge nach der<br />

Theorie Freuds ein starkes Über-Ich entwickeln. (Foto: Bernadette Berg)<br />

Elektra-Komplex – Der Konflikt, den Mädchen in der phallischen Phase erleben,<br />

wenn sie nicht akzeptable romantische Gefühle für ihren Vater entwickeln<br />

<strong>und</strong> ihre Mutter als Rivalin betrachten. (Der Komplex ist nach der griechischen<br />

Sagengestalt Elektra benannt, die bei dem Rachemord an ihrer Mutter Klyta<strong>im</strong>nestra<br />

half, nachdem diese den Vater umgebracht hatte.)<br />

Der vierte Entwicklungsabschnitt, die Latenzphase, dauert etwa<br />

vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr. Wie der Name schon<br />

andeutet, ist diese Phase eine Zeit äußerlicher Ruhe, in der die<br />

inneren Veränderungen verborgen bleiben. Sexuelle Wünsche<br />

werden sicher <strong>im</strong> Unbewussten verborgen, <strong>und</strong> die psychische<br />

Energie kanalisiert sich in konstruktiven, sozial akzeptablen<br />

Handlungen intellektueller <strong>und</strong> sozialer Art.<br />

Latenzphase – Die vierte Phase in Freuds Theorie zwischen dem sechsten <strong>und</strong><br />

dem zwölften Lebensjahr, in der sich sexuelle Energie zu sozial akzeptablen<br />

Handlungen kanalisiert.<br />

Die fünfte <strong>und</strong> letzte Phase, die genitale Phase, beginnt mit dem<br />

Eintreten der sexuellen Reifung. Die sexuelle Energie, die viele<br />

Jahre lang unter Kontrolle gehalten wurde, kommt mit voller<br />

Kraft wieder zur Geltung, wobei sie sich nun auf Angehörige des<br />

jeweils anderen Geschlechts richtet. Im Idealfall hat das Individuum<br />

ein starkes Ich entwickelt, welches das Zurechtkommen<br />

mit der Realität erleichtert, <strong>und</strong> ein Über-Ich, das weder zu stark<br />

noch zu schwach ausgeprägt ist.<br />

Genitale Phase – Die fünfte <strong>und</strong> letzte Phase in Freuds Theorie. Sie beginnt <strong>im</strong><br />

<strong>Jugendalter</strong>, wenn die sexuelle Reifung abgeschlossen ist <strong>und</strong> Geschlechtsverkehr<br />

zu einem Hauptziel wird.<br />

Freud glaubte, dass eine ges<strong>und</strong>e Entwicklung letztlich in der<br />

Fähigkeit kulminiert, sich sowohl in Liebe als auch in Arbeit zu<br />

verausgaben <strong>und</strong> daraus Lust zu ziehen. Diese Entwicklung kann<br />

jedoch in vielfacher Hinsicht beeinträchtigt werden. Wenn in<br />

einer der Phasen psychosexueller Entwicklung gr<strong>und</strong>legende<br />

Bedürfnisse nicht erfüllt werden, kann das Kind auf diese Bedürfnisse<br />

fixiert bleiben <strong>und</strong> permanent versuchen, sie zu befriedigen<br />

<strong>und</strong> die begleitenden Fragen <strong>und</strong> Konflikte zu lösen.<br />

Freud zufolge sind diese unbefriedigten Bedürfnisse <strong>und</strong> die<br />

fortdauernden Versuche, sie zu erfüllen, unbewusst <strong>und</strong> kommen<br />

auf indirekte oder symbolische Weise zum Ausdruck. Wenn<br />

eine Mutter beispielsweise den Bedürfnissen ihres <strong>Kindes</strong> nach<br />

oraler Befriedigung nicht angemessen nachkommt, sucht sich<br />

das Kind <strong>im</strong> späteren Lebensverlauf vielleicht andauernd orale<br />

Ersatzhandlungen wie übermäßiges Essen, Nägelkauen, Rauchen<br />

<strong>und</strong> so weiter. Kleinkinder, die in der analen Phase einer sehr<br />

harten Sauberkeitserziehung ausgesetzt waren, bleiben vielleicht<br />

auf Fragen der Sauberkeit fixiert <strong>und</strong> werden entweder zwanghaft<br />

ordentlich <strong>und</strong> rigide oder aber besonders schlampig <strong>und</strong><br />

nachlässig. Nach Ansicht Freuds formt also die Art, in der das<br />

Kind die Phasen der psychosexuellen Entwicklung durchlaufen<br />

hat, die Persönlichkeit des Individuums ein Leben lang. (Hinsichtlich<br />

der oralen <strong>und</strong> analen Fixierungen ist interessant, dass<br />

Freud über 50 Jahre lang 20 Zigarren täglich rauchte – ihm war<br />

es unmöglich, ohne Rauchen zu arbeiten – <strong>und</strong> über den selben<br />

Zeitraum hinweg nahezu täglich demselben ritualisierten Tagesablaufplan<br />

folgte.)<br />

Eriksons Theorie der psychosozialen<br />

Entwicklung<br />

Von den vielen Nachfolgern Freuds hatte keiner einen größeren<br />

Einfluss auf die <strong>Entwicklungspsychologie</strong> als Erik Erikson.<br />

Erikson übernahm die Gr<strong>und</strong>elemente der Theorie Freuds, bezog<br />

aber auch soziale Faktoren mit ein, zum Beispiel kulturelle<br />

Einflüsse <strong>und</strong> aktuelle Fragen wie Jugendkr<strong>im</strong>inalität, veränderte<br />

Geschlechterrollen <strong>und</strong> die Generationsunterschiede. Man betrachtet<br />

seine Theorie folglich als eine Theorie der psychosozialen<br />

Entwicklung.


Psychoanalytische Theorien<br />

319 9<br />

..<br />

Erik Erikson wurde als Kind dänischstämmiger Eltern in Frankfurt am Main<br />

geboren. Er brauchte einige Jahre, um sich seine berufliche Existenz aufzubauen.<br />

Statt zu studieren, reiste er durch Europa, ging seinem Interesse an<br />

Kunst nach <strong>und</strong> begegnete schließlich in Wien Sigm<strong>und</strong> Freuds Tochter Anna<br />

Freud, die ihm eine Anstellung als Kunstlehrer in ihrer Schule vermittelte<br />

<strong>und</strong> bei der er eine Ausbildung zum Analytiker begann. 1933 wurde er zum<br />

ordentlichen Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft ernannt<br />

<strong>und</strong> wanderte nach der Machtergreifung Hitlers über Dänemark in die USA<br />

aus. (© Ted Streshinsky/Corbis)<br />

Fähigkeit, anderen ein angemessenes Vertrauen entgegenzubringen,<br />

nicht entwickelt, so wird es dem Individuum <strong>im</strong><br />

späteren Leben schwerfallen, enge, vertraute Beziehungen zu<br />

gestalten.<br />

2. Autonomie versus Scham <strong>und</strong> Zweifel (ein bis dreieinhalb<br />

Jahre): Die Herausforderung für Kinder zwischen einem <strong>und</strong><br />

dreieinhalb Jahren (dem Zeitraum von Freuds analer Phase)<br />

besteht darin, ein starkes Gefühl der Autonomie aufzubauen,<br />

während sie sich wachsenden sozialen Anforderungen stellen.<br />

Erikson geht dann aber weit über Freuds Konzentration<br />

auf die Sauberkeitserziehung hinaus <strong>und</strong> weist darauf hin,<br />

dass es <strong>im</strong> Verlauf dieser Phase zu dramatischen Erweiterungen<br />

in jedem Bereich der lebensweltlichen Kompetenz<br />

der Kinder kommt – darunter motorische Fertigkeiten, kognitive<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> insbesondere Sprache, die bei den<br />

Kindern den Wunsch <strong>und</strong> die Fähigkeit fördern, selbst zu<br />

wählen <strong>und</strong> Entscheidungen zu treffen. Die neue Fähigkeit<br />

des Kleinkindes, die Umwelt zu erk<strong>und</strong>en, verändert die<br />

Familiendynamik (wie in ▶ Kap. 5 dargestellt) <strong>und</strong> leitet einen<br />

lang anhaltenden Kampf zwischen dem kindlichen <strong>und</strong><br />

dem elterlichen Willen ein, in dem die Eltern versuchen, den<br />

Freiraum des <strong>Kindes</strong> einzuschränken <strong>und</strong> ihm beizubringen,<br />

welche Verhaltensweisen akzeptabel sind <strong>und</strong> welche nicht.<br />

Sofern die Eltern eine unterstützende Atmosphäre bieten, in<br />

der die Kinder Selbstkontrolle erlangen können, ohne dabei<br />

ihre Selbstachtung zu verlieren, entwickeln die Kinder ein<br />

Gefühl der Autonomie. Sofern Kinder jedoch schwer bestraft,<br />

lächerlich gemacht oder beschämt werden, können sie letztlich<br />

an ihren Fähigkeiten zweifeln oder ein generelles Schamgefühl<br />

empfinden.<br />

Der Entwicklungsprozess<br />

Erikson nahm acht altersabhängige Entwicklungsstufen an, welche<br />

die Zeit von der frühen Kindheit bis zum hohen Alter umspannen.<br />

Jede der Erikson’schen Stufen ist durch eine spezielle<br />

Krise oder eine Reihe von Entwicklungsaufgaben gekennzeichnet,<br />

die das Individuum bewältigen muss. Wenn die dominante<br />

Problemstellung einer Phase nicht erfolgreich gelöst wurde,<br />

bevor Reifungsprozesse <strong>und</strong> sozialer Druck die nächste Phase<br />

einleiten, wird die Person weiterhin mit diesen Problemen zu<br />

kämpfen haben. Im Folgenden werden wir nur die ersten fünf<br />

Phasen nach Erikson besprechen, die die Entwicklung <strong>im</strong> Kleinkindalter,<br />

in der Kindheit <strong>und</strong> in der Adoleszenz betreffen.<br />

1. Urvertrauen versus Misstrauen (erstes Lebensjahr): In Eriksons<br />

erster Phase (die Freuds oraler Phase entspricht) besteht<br />

das entscheidende Problem des <strong>Kindes</strong> in der Entwicklung<br />

eines gr<strong>und</strong>legenden Gefühls des Vertrauens – „sowohl ein<br />

wesenhaftes Zutrauen zu anderen als auch ein f<strong>und</strong>amentales<br />

Gefühl der eigenen Vertrauenswürdigkeit“ (Erikson 1981,<br />

S. 97). Ist die Mutter in ihrer Fürsorge gleichbleibend warm<br />

<strong>und</strong> zuverlässig, lernt das Kind, dass man ihr trauen kann.<br />

Allgemeiner gesprochen lernt das Kind, sich in der Nähe<br />

anderer Menschen wohl <strong>und</strong> sicher zu fühlen. Hat sich die<br />

..<br />

Sollte dieses Kind lernen, sich für solch ein natürliches Explorationsverhalten<br />

zu schämen? (© Hannah <strong>und</strong> Valentin Neuser; mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Genehmigung)<br />

3. Initiative versus Schuldgefühl (vier bis sechs Jahre): Wie<br />

schon Freud fasste auch Erikson die Zeit zwischen vier <strong>und</strong><br />

sechs Jahren als eine Phase auf, in der die Kinder begin-


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nen, sich mit ihren Eltern zu identifizieren <strong>und</strong> von ihnen<br />

zu lernen: „Und dabei greift es gleich nach den Sternen: es<br />

will so werden wie Vater <strong>und</strong> Mutter, die ihm sehr mächtig<br />

<strong>und</strong> sehr schön erscheinen“. In dieser dritten Lebensphase<br />

setzt sich das Kind andauernd Ziele (einen höheren Turm<br />

aus Bauklötzen bauen, das Alphabet lernen) <strong>und</strong> arbeitet auf<br />

diese Ziel hin. Erikson glaubte wie Freud, dass ein entscheidender<br />

Schritt in der Entwicklung des Gewissens besteht,<br />

der Internalisierung der elterlichen Regeln <strong>und</strong> Normen,<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Erleben von Schuld, wenn man diesen nicht gerecht<br />

wird. Die Herausforderung für das Kind besteht darin, eine<br />

Balance zwischen Initiative <strong>und</strong> Schuld zu erreichen. Wenn<br />

die Eltern nicht übermäßig kontrollieren oder strafen, können<br />

Kinder hohe normative Standards <strong>und</strong> die Initiative<br />

entwickeln, diesen gerecht zu werden, ohne von den Sorgen<br />

erdrückt zu werden, nicht gut genug zu sein, um diesen Standards<br />

gerecht zu werden.<br />

4. Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl (sechs Jahre bis<br />

zur Pubertät): Eriksons vierte Phase dauert vom sechsten<br />

Lebensjahr bis zur Pubertät <strong>und</strong> entspricht Freuds Latenzphase.<br />

Sie ist entscheidend für die Ich-Entwicklung. Im Verlauf<br />

dieser Phase beherrschen Kinder kognitive <strong>und</strong> soziale<br />

Fähigkeiten, die in ihrer Kultur von Bedeutung sind, <strong>und</strong><br />

lernen, intensiv einer Arbeit nachzugehen <strong>und</strong> mit Gleichaltrigen<br />

zu kooperieren. Erfolgserfahrungen vermitteln dem<br />

Kind ein Gefühl der Kompetenz, aber Misserfolge können<br />

zu übermäßigen Gefühlen der Unzulänglichkeit oder Minderwertigkeit<br />

führen.<br />

5. Identität versus Rollenkonfusion (Pubertät bis frühes Erwachsenenalter):<br />

Erikson sprach der Adoleszenz eine besondere<br />

Bedeutung zu <strong>und</strong> betrachtete sie als eine entscheidende<br />

Phase, um ein Gr<strong>und</strong>gefühl der Identität zu erlangen. Heranwachsende<br />

verändern sich in vielerlei Hinsicht so schnell,<br />

dass sie sich kaum selbst erkennen können, weder <strong>im</strong> Spiegel<br />

noch <strong>im</strong> Geist. Die drastischen körperlichen Veränderungen<br />

der Pubertät <strong>und</strong> das Entstehen starker sexueller Bedürfnisse<br />

gehen mit neuen sozialen Anforderungen <strong>und</strong> Zwängen einher,<br />

beispielsweise der Notwendigkeit, Entscheidungen zu<br />

Ausbildung <strong>und</strong> Beruf zu treffen. Gefangen zwischen ihrer<br />

vorherigen Identität als Kind <strong>und</strong> den vielen Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Unsicherheiten ihrer Zukunft müssen Heranwachsende<br />

die Frage klären, wer sie wirklich sind <strong>und</strong> welche Rolle sie<br />

als Erwachsene ausfüllen wollen, oder aber sie bleiben sich<br />

darüber <strong>im</strong> Unklaren. Wir werden in ▶ Kap. 11 sehen, dass<br />

Entwicklungsforscher dieser Phase der „Identität versus Rollenkonfusion“<br />

in modernen, multikulturellen Gesellschaften<br />

sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet haben.<br />

Aktuelle Perspektiven<br />

Die wichtigsten Beiträge Freuds zur <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />

waren sein Hinweis auf die Bedeutung frühester Lebenserfahrungen<br />

<strong>und</strong> emotionaler Beziehungen <strong>und</strong> auf die besondere<br />

Rolle subjektiver Erfahrungen <strong>und</strong> unbewusster geistiger Aktivität.<br />

Eriksons Fokussierung auf die Suche nach Identität in<br />

der Adoleszenz hatte einen nachhaltigen Einfluss <strong>und</strong> bildet die<br />

Gr<strong>und</strong>lage vielfältiger Forschungsarbeiten zu diesem Aspekt des<br />

<strong>Jugendalter</strong>s. Die eklatante Schwäche beider Theorien besteht<br />

darin, dass ihre zentralen Aussagen oft zu ungenau <strong>und</strong> vage für<br />

eine wissenschaftliche Überprüfung formuliert sind. Manches<br />

gilt, insbesondere in Freuds Theorie, allgemein als fragwürdig.<br />

Dennoch ist Freuds Theorie <strong>im</strong>mer noch sehr einflussreich. Und<br />

in modifizierter Form sind in den letzten Jahren einige der ursprünglichen<br />

Konzepte von Freud <strong>und</strong> Erikson in modifizierter<br />

Form wieder in der psychologischen Forschung <strong>und</strong> den Theorieansätzen<br />

aufgetaucht.<br />

Freuds Beschreibung der infantilen Amnesie zum Beispiel<br />

wurde von einer Vielzahl von Veröffentlichungen gestützt, die<br />

sich mit den frühesten Erinnerungen befassen, die Menschen<br />

abrufen können (Bauer et al. 2002; Hayne 2004; Neisser 2004).<br />

Freuds Feststellung, dass die meisten von uns sich an so gut wie<br />

nichts von all den Erfahrungen unserer ersten Lebensjahre erinnern,<br />

ist zutreffend. Warum diese autobiografischen Erinnerungen<br />

an die ersten drei Lebensjahre fehlen, lässt sich freilich<br />

bislang nicht präzise erklären – <strong>und</strong> praktisch niemand schreibt<br />

die infantile Amnesie wie Freud einer Verdrängung zu.<br />

Auch für die psychosozialen Entwicklungsphasen nach Erikson<br />

liefern Untersuchungen zum autobiografischen Gedächtnis<br />

einige Hinweise. In einer Studie wurden Erwachsene zwischen 62<br />

<strong>und</strong> 89 Jahren nach Erinnerungen an drei Episoden aus jeder Dekade<br />

ihres Lebens gefragt <strong>und</strong> ihre Berichte mit Bezug auf Eriksons<br />

Phasen klassifiziert (Conway <strong>und</strong> Holmes 2004). Die autobiografischen<br />

Berichte dieser älteren Menschen korrespondierten<br />

mit Eriksons Phasen: Beispielsweise handelten die Erinnerungen<br />

aus der zweiten Lebensdekade in erster Linie von Identitätssuche,<br />

der Rollenkonfusion <strong>und</strong> der Festigung der eigenen Identität.<br />

Ein Aspekt der Freud’schen Theorie, der die Psychologie<br />

nachhaltig beeinflusst hat, betrifft den Einfluss früher Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> früher Beziehungen, die das Gr<strong>und</strong>thema der heutigen<br />

Bindungsforschung sind (von der Sie in ▶ Kap. 11 mehr erfahren<br />

werden). Diese Forschung bestätigt, dass die Art der frühkindlichen<br />

Beziehungen zu den Eltern nicht nur das Verhalten in<br />

der frühen Kindheit beeinflusst, sondern für das gesamte Leben<br />

wichtige Langzeitwirkungen <strong>im</strong> Hinblick auf enge Bindungen hat<br />

(Allen et al. 2004; Kobak et al. 2006; Main 2000).<br />

Darüber hinaus gehört Freuds bemerkenswerte Einsicht,<br />

dass unser mentales Leben zum großen Teil außerhalb des Bewusstseins<br />

stattfindet, zu den Gr<strong>und</strong>annahmen der modernen<br />

Kognitionspsychologie <strong>und</strong> Neurowissenschaft. Tatsächlich lässt<br />

die moderne Forschung in diesen Bereichen vermuten, dass ein<br />

erstaunlich großer Anteil menschlichen Verhaltens auf unbewussten<br />

Prozessen beruht. Diesen Forschungen zufolge sind wir uns in<br />

überraschend großem Ausmaß selbst fremd, handeln oft auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage unbewusster Prozesse <strong>und</strong> begründen unser Verhalten<br />

erst <strong>im</strong> Nachhinein rational (Wilson 2002). So erleben wir eine<br />

Art „Illusion eines bewussten Willens“, wenn wir glauben, dass<br />

unser Denken unser Verhalten best<strong>im</strong>mt, obwohl das bewusste<br />

Entscheiden oft erst einsetzt, nachdem das Gehirn die Handlung<br />

schon eingeleitet hat (Wegner 2002). Viele von uns schreien bereits<br />

auf <strong>und</strong> springen zurück, bevor wir uns bewusst werden, dass<br />

da eine Schlange unseren Weg kreuzt (Öhman <strong>und</strong> Mineka 2001).<br />

Auch <strong>im</strong>plizite Einstellungen, derer wir uns nicht bewusst<br />

sind, beeinflussen unser Verhalten – Einstellungen, die oft das


Lerntheorien<br />

321 9<br />

genaue Gegenteil dessen sind, was wir bewusst vertreten. Viele<br />

Menschen, die keine ethnischen Vorurteile zu haben meinen,<br />

schreiben Menschen anderer ethnischer Gruppen gleichwohl<br />

eine Vielzahl negativer Eigenschaften zu (Greenwald <strong>und</strong> Banaji<br />

1995; Nosek <strong>und</strong> Banaji 2009). Bereits Sechsjährige zeigen solche<br />

<strong>im</strong>pliziten Vorurteile (Baron <strong>und</strong> Banaji 2006). Um dieses Phänomen<br />

hautnah zu erleben, können Sie unter ▶ https://<strong>im</strong>plicit.harvard.edu/<strong>im</strong>plicit<br />

online einen Impliziten Assoziationstest (IAT)<br />

machen <strong>und</strong> werden sich vielleicht über das Ergebnis w<strong>und</strong>ern<br />

(das Freud allerdings kaum überrascht hätte).<br />

Wie könnten psychoanalytische Theorien den Konstrukteuren<br />

des menschlichen Roboters Kismet helfen? Das Ziel, Kismet<br />

möglichst sozial zu machen, haben sie bereits in Angriff<br />

genommen. Auf der Gr<strong>und</strong>lage von Freuds <strong>und</strong> Eriksons Theorien<br />

wäre der wohl wichtigste nächste Schritt, Kismet so zu programmieren,<br />

dass er einige wenige sehr enge Beziehungen mit<br />

anderen eingeht. Best<strong>im</strong>mte Personen, denen Kismet begegnet,<br />

sollten ihm wesentlich wichtiger werden als andere, mit denen<br />

er ebenfalls interagiert. Im Idealfall sollte er aus diesen Beziehungen<br />

zu wichtigen Interaktionspartnern ein gewisses Gefühl<br />

der Sicherheit <strong>und</strong> des Wohlbefindens entwickeln. Weiterhin<br />

sollten diese Beziehungen einen nachhaltigen Einfluss auf seine<br />

innere Struktur haben <strong>und</strong> sein ganzes weiteres „Leben“ weiter<br />

beeinflussen.<br />

In Kürze | |<br />

Die psychoanalytischen Theorien von Sigm<strong>und</strong> Freud <strong>und</strong><br />

Erik Erikson besagen, dass die soziale <strong>und</strong> emotionale Entwicklung<br />

in einer Folge von Phasen erfolgt, von denen jede<br />

durch eine best<strong>im</strong>mte Aufgabe oder Krise gekennzeichnet<br />

ist, die für eine ges<strong>und</strong>e weitere Entwicklung bewältigt<br />

werden muss. Zu einer ges<strong>und</strong>en Persönlichkeit gehört eine<br />

angemessene Balance der drei Persönlichkeitsstrukturen Es,<br />

Ich <strong>und</strong> Über-Ich. Reifungsprozesse spielen in beiden Theorien<br />

eine wichtige Rolle. Psychische Energie sowie sexuelle<br />

Impulse werden, besonders von Freud, als zentrale Entwicklungsmotoren<br />

angesehen, während Erikson größeres Gewicht<br />

auf soziale Faktoren legt. Beide Theorien behaupten,<br />

dass die frühen Erfahrungen <strong>im</strong> Kontext der Familie einen<br />

nachhaltigen Einfluss auf die Beziehungen eines Individuums<br />

zu anderen Menschen haben. Diese Theorien haben<br />

enormen Einfluss auf die westliche Kultur <strong>und</strong> ihr Denken.<br />

Lerntheorien<br />

» Ich stelle mir den Geist von Kindern als leicht in diese oder<br />

jene Richtung lenkbar vor, dem Wasser gleich (John Locke).<br />

Vielleicht erinnern Sie sich noch an den empiristischen Philosophen<br />

John Locke in ▶ Kap. 1, der behauptete, dass die Erfahrung<br />

das Wesen des menschlichen Geistes formt. Zu den geistigen<br />

Erben Lockes gehören Psychologen, die <strong>im</strong> Lernen aus Erfahrung<br />

den pr<strong>im</strong>ären Faktor bei der sozialen Entwicklung <strong>und</strong> der<br />

Herausbildung der Persönlichkeit sehen.<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />

Im Gegensatz zu Freuds Betonung der inneren Triebkräfte <strong>und</strong><br />

der subjektiven Erfahrung haben die meisten Lerntheoretiker<br />

die Rolle äußerer Faktoren bei der Formung der Persönlichkeit<br />

<strong>und</strong> des Sozialverhaltens <strong>im</strong> Blick. Sie stellen oft sehr kühne Behauptungen<br />

dazu auf, in welchem Ausmaß sich die Entwicklung<br />

steuern ließe, indem man best<strong>im</strong>mte Verhaltensweisen von Kindern<br />

belohnt oder verstärkt <strong>und</strong> andere Verhalten bestraft oder<br />

ignoriert. Neuere Lerntheorien heben die Bedeutung kognitiver<br />

Faktoren hervor <strong>und</strong> betonen die aktive Rolle, die Kinder bei<br />

ihrer eigenen Entwicklung spielen.<br />

Zentrale Entwicklungsfragen<br />

Eine gr<strong>und</strong>legende Entwicklungsfrage, zu der Lerntheorien<br />

eine einheitliche Position beziehen, betrifft Kontinuität versus<br />

Diskontinuität: Alle betonen die Kontinuität <strong>und</strong> nehmen an,<br />

dass dieselben Prinzipien das Lernen <strong>und</strong> Verhalten über die<br />

gesamte Lebensspanne hinweg steuern <strong>und</strong> dass es deshalb<br />

keine qualitativ verschiedenen Entwicklungsstufen gibt. Wie<br />

die Informationsverarbeitungstheoretiker konzentrieren sich<br />

auch Lerntheoretiker auf die Rolle der spezifischen Mechanismen<br />

der Veränderung, zu denen aus ihrer Sicht Lernprinzipien<br />

wie Verstärkung <strong>und</strong> das Beobachtungslernen gehören. So gesehen<br />

unterscheiden sich Kinder vor allem deshalb voneinander,<br />

weil sie <strong>im</strong> Hinblick auf Verstärkung <strong>und</strong> Beobachtungslernen<br />

verschiedene Lernbiografien durchlaufen haben. Das Thema<br />

Forschung <strong>und</strong> <strong>Kindes</strong>wohl ist insofern relevant, als therapeutische<br />

Ansätze auf der Basis von Lernprinzipien in großem Umfang<br />

eingesetzt wurden, um Kinder mit vielfältigen Problemen<br />

zu behandeln.<br />

Der Behaviorismus von Watson<br />

John B. Watson (1878–1958), der Begründer des Behaviorismus,<br />

nahm an, dass die soziale Umwelt die <strong>Kindes</strong>entwicklung best<strong>im</strong>mt<br />

<strong>und</strong> dass das Lernen durch Konditionieren der pr<strong>im</strong>äre<br />

Entwicklungsmechanismus ist (▶ Kap. 5). Er war der Ansicht,<br />

dass Psychologen nur objektiv nachprüfbare Verhaltensweisen<br />

untersuchen sollten <strong>und</strong> nicht den empirischer Beobachtung<br />

unzugänglichen „Geist“.<br />

Wie sehr Watson an die Macht der Konditionierung glaubte,<br />

zeigt seine berühmte Aussage:<br />

» Gebt mir ein Dutzend ges<strong>und</strong>e, gut gebaute Kinder <strong>und</strong><br />

meine eigene spezifizierte Welt, um sie darin großzuziehen,<br />

<strong>und</strong> ich garantiere, daß ich irgendeines aufs Geratewohl<br />

herausnehme <strong>und</strong> es so erziehe, daß es irgendein beliebiger<br />

Spezialist wird, zu dem ich es erwählen könnte – Arzt, Jurist,<br />

Künstler, Kaufmann, ja sogar Bettler <strong>und</strong> Dieb, ungeachtet<br />

seiner Talente, Neigungen, Absichten, Fähigkeiten <strong>und</strong> Herkunft<br />

seiner Vorfahren (Watson 1924, zit. nach ▶ http://www.<br />

lern-psychologie.de/behavior/watson.htm.


322<br />

Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

1<br />

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Auf wesentlich weniger ambitionierter Ebene demonstrierte<br />

Watson die Macht der klassischen Konditionierung in einem<br />

berühmten – <strong>und</strong> nach den heutigen Maßstäben ethisch unzulässigen<br />

– Exper<strong>im</strong>ent am „kleinen Albert“ (Watson <strong>und</strong> Rayner<br />

1920). Watson bot dem neun Monate alten Albert <strong>im</strong> Labor zunächst<br />

eine gänzlich zahme Ratte dar. Anfangs reagierte Albert<br />

positiv auf die Ratte. In den nächsten Versuchsdurchgängen jedoch<br />

verbanden die Forscher das Erscheinen der Ratte mit einem<br />

lauten Geräusch, das Albert offensichtlich ängstigte. Nach<br />

einigen solcher Versuchsdurchgänge begann sich Albert vor der<br />

Ratte zu fürchten.<br />

..<br />

Um die Macht der Konditionierung zu demonstrieren, konditionierten<br />

John B. Watson <strong>und</strong> seine Assistentin Rosemary Raynor den kleinen Albert<br />

darauf, sich vor einer weißen Ratte zu fürchten. Albert hatte keine Angst vor<br />

der Ratte, bis sie einige Male gepaart mit einem lauten, angsterregenden<br />

Geräusch gezeigt wurde. (© Archives of the History of Psychology, The Drs.<br />

Nicholas and Dorothy Cummings Center for the History of Psychology, The<br />

University of Akron)<br />

Unser Alltag ist voller Beispiele für konditionierte Reaktionen.<br />

Säuglinge <strong>und</strong> Kleinkinder zeigen beispielsweise be<strong>im</strong> Anblick<br />

eines Arztes oder einer Krankenschwester in weißem Kittel häufig<br />

Furcht, die auf ihrer vorangehenden Assoziation zwischen<br />

Menschen in weißen Kitteln <strong>und</strong> unangenehmen Behandlungen<br />

wie schmerzhaften Injektionen beruhen. (Um diesem Problem<br />

entgegenzuwirken <strong>und</strong> in der Hoffnung, bei ihren kleinen Patienten<br />

positive Reaktionen hervorzurufen, verbinden moderne<br />

Kinderärzte die Behandlung oft mit Gesprächen oder kleinen<br />

Belohnungen.)<br />

Watsons Arbeiten über klassisches Konditionieren legten die<br />

Gr<strong>und</strong>lage für Behandlungsverfahren, die auf dem entgegengesetzten<br />

Prozess beruhen – der Dekonditionierung oder Löschung<br />

von Furcht. Ein Student von Watson (Jones 1924) behandelte den<br />

zwei Jahre alten Peter, der sich entsetzlich vor weißen Kaninchen<br />

fürchtete (wie auch vor weißen Ratten, weißen Pelzmänteln, weißen<br />

Federn <strong>und</strong> einer Vielzahl anderer weißer Dinge). Um die<br />

Furchtkonditionierung zu löschen, gab ihm der Versuchsleiter<br />

zuerst einen kleinen Leckerbissen, den er besonders mochte.<br />

Während Peter aß, wurde ein Kaninchen in einem Käfig ganz<br />

langsam nach <strong>und</strong> nach näher zu ihm gebracht, aber nie so nah,<br />

dass er Angst bekam. Nachdem er das gefürchtete Objekt wiederholt<br />

in einem Kontext erlebte, der ihm selbst keine Angst machte,<br />

sondern eine positive Erfahrung mit einem Leckerbissen bedeutete,<br />

überwand Peter seine Furcht. Schließlich schaffte er es sogar,<br />

das Kaninchen zu streicheln. Dieser Ansatz – heute als systematische<br />

Desensibilisierung bekannt – wurde häufig angewandt,<br />

um Menschen von Ängsten <strong>und</strong> Phobien vor allem Möglichen<br />

zu befreien, von H<strong>und</strong>en bis zu Zahnärzten.<br />

Systematische Desensibilisierung – Eine Therapieform, die auf dem klassischen<br />

Konditionieren aufbaut. Dabei werden positive Reaktionen nach <strong>und</strong><br />

nach auf Reize konditioniert, die anfänglich eine sehr negative Reaktion hervorgerufen<br />

haben. Dieser Ansatz erweist sich insbesondere bei der Behandlung<br />

von Ängsten <strong>und</strong> Phobien als nützlich.<br />

In dem Glauben, er habe die Macht des Lernens bei der Entwicklung<br />

bewiesen, übertrug Watson den Eltern die gesamte Verantwortung<br />

für die <strong>Kindes</strong>entwicklung. In seinem Handbuch der<br />

Kindererziehung (Watson 1928), das schon ein Jahr nach der<br />

Veröffentlichung in deutscher Übersetzung unter dem Titel Psychische<br />

Erziehung <strong>im</strong> frühen <strong>Kindes</strong>alter (1929) erschien, gab er<br />

den Eltern strenge Anweisungen. Ein Element seiner Ratschläge,<br />

das in den USA größtenteils übernommen wurde, bestand darin,<br />

Säuglinge nach einem strengen Zeitplan zu füttern. Die Idee war,<br />

dass das Baby darauf konditioniert würde, die Nahrungszufuhr<br />

in regelmäßigen Intervallen zu erwarten, <strong>und</strong> deshalb in der<br />

Zwischenzeit nicht mehr schreien würde. Um diese <strong>und</strong> andere<br />

strenge Maßnahmen durchzuführen, empfahl Watson den Eltern,<br />

<strong>im</strong> Umgang mit ihrem Nachwuchs zu einer distanzierten<br />

<strong>und</strong> objektiven Haltung zu gelangen (so wie er die Psychologen<br />

ermahnte, bei ihrer Forschung objektiv zu sein):<br />

» Behandeln Sie sie, als wären sie junge Erwachsene. Kleiden<br />

<strong>und</strong> baden Sie sie umsichtig. Seien Sie in Ihrem Verhalten<br />

stets objektiv <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich-fest. Umarmen oder küssen<br />

Sie sie niemals, <strong>und</strong> nehmen Sie sie niemals auf den Schoß.<br />

Wenn es denn unbedingt sein muss, küssen Sie sie be<strong>im</strong><br />

Gute-Nacht-Sagen einmal auf die Stirn. Geben Sie ihnen am<br />

Morgen die Hand. Tätscheln Sie ihren Kopf, wenn sie bei einer<br />

schwierigen Aufgabe in außergewöhnlicher Weise ganze<br />

Arbeit geleistet haben. Probieren Sie es aus. Innerhalb einer<br />

Woche werden Sie herausfinden, wie leicht es ist, Ihrem Kind<br />

gegenüber vollkommen objektiv <strong>und</strong> gleichzeitig fre<strong>und</strong>lich<br />

zu sein. Sie werden sich abgr<strong>und</strong>tief schämen für die rührseligen,<br />

sent<strong>im</strong>entalen Umgangsweisen, die Sie bisher praktiziert<br />

haben (Watson 1929, S. 81 f.).<br />

Watsons übertrieben strenge Ratschläge zur Kinderziehung<br />

verloren allmählich an Popularität, als 1946 in den USA Dr.<br />

Spock’s Baby and Child Care erschien <strong>und</strong> breite Zust<strong>im</strong>mung<br />

fand. (Benjamin Spocks Denkweise war sehr stark von Freud<br />

beeinflusst. Sein Werk wurde in viele Sprachen übersetzt <strong>und</strong><br />

erschien 1958 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Säuglings-<br />

<strong>und</strong> Kinderpflege.) Andererseits blieb Watsons behavioristische<br />

Betonung der Umwelt als entscheidendem verhaltensbest<strong>im</strong>mendem<br />

Faktor weiterhin über das Werk von B. F. Skinner<br />

präsent.


Lerntheorien<br />

323 9<br />

Das operante Konditionieren von Skinner<br />

Burrhus F. Skinner (1904–1990) vertrat genauso strikt wie Watson<br />

die Meinung, dass die Umwelt das Verhalten steuert. Er behauptete<br />

einmal sogar, dass ein Mensch nicht auf die Umwelt<br />

einwirkt, sondern dass die Umwelt auf den Menschen einwirkt<br />

(Skinner 1971, S. 211). Wie in ▶ Kap. 5 beschrieben, lautet eine<br />

wichtige Gr<strong>und</strong>überzeugung in Skinners Theorie des operanten<br />

Konditionierens, dass wir dazu neigen, Verhaltensweisen zu wiederholen,<br />

die zu günstigen Ergebnissen (Verstärkung) führen,<br />

<strong>und</strong> jene zu unterdrücken, die zu ungünstigen Ergebnissen (Bestrafung)<br />

führen. Skinner glaubte, dass alles, was wir <strong>im</strong> Leben<br />

tun – jede einzelne Handlung –, eine operante Reaktion ist, die<br />

von den Folgen früheren Verhaltens beeinflusst sei.<br />

darin, dieses Verhalten <strong>im</strong>mer, wenn es auftritt, zu ignorieren.<br />

Die Auszeit oder zeitweilige Isolierung (aufs Z<strong>im</strong>mer, vor die<br />

Tür gehen etc.), eine beliebte Strategie des Verhaltensmanagements,<br />

enthält den systematischen Entzug von Aufmerksamkeit,<br />

wodurch die Verstärkung für unangemessenes Verhalten aus<br />

der Situation entfernt wird, <strong>und</strong> zwar mit dem Ziel, das Verhalten<br />

zu löschen.<br />

Als der Sohn eines der Autoren, noch <strong>im</strong> Kleinkindalter,<br />

sein erstes „Bett für einen großen Jungen“ bekam, stand er <strong>im</strong>mer<br />

wieder auf <strong>und</strong> musste erneut zu Bett gebracht werden;<br />

er gebrauchte einen Vorwand nach dem anderen, um zu seinen<br />

Eltern zurückzukehren. Innerhalb weniger Nächte schaffte<br />

sein Vater es, dieses unerwünschte Verhalten abzustellen: Er<br />

setzte sich auf einen Stuhl gleich neben der Schlafz<strong>im</strong>mertür,<br />

<strong>und</strong> jedes Mal, wenn das Kind erschien, brachte er den Jungen<br />

fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> sanft, aber entschieden <strong>und</strong> schweigend, ins Bett<br />

zurück. Der Schlüssel zu dieser erfolgreichen Intervention bestand<br />

darin, dass es für das Aus-dem-Bett-Aufstehen keinerlei<br />

Belohnung gab – kein Gespräch, kein Gezeter, keinen Schluck<br />

Wasser, keine Interaktion welcher Art auch <strong>im</strong>mer – kurz gesagt,<br />

keinen der wirksamen Verstärker, die elterliche Aufmerksamkeit<br />

liefert.<br />

Eine zweite wichtige Entdeckung besteht in der großen<br />

Schwierigkeit, Verhaltensweisen zu löschen, die intermittierend<br />

verstärkt wurden; das bedeutet, dass auf das Verhalten manchmal<br />

eine Belohnung folgt <strong>und</strong> manchmal nicht. Skinner entdeckte in<br />

seinen Forschungen an Tieren, dass intermittierende Verstärkung<br />

Verhaltensweisen gegen Löschung <strong>im</strong>munisiert: Wird die<br />

gelegentliche Belohnung nach der intermittierenden Verstärkung<br />

vollständig entzogen, bleibt das Verhalten länger bestehen als bei<br />

vorausgehender kontinuierlicher Verstärkung. Wenn ein Verhalten<br />

nicht konsequent jedes Mal belohnt wird, wird die Wirkung<br />

bei einem Tier darauf hinauslaufen, dass es die Erwartung der<br />

Belohnung nicht so leicht aufgibt <strong>und</strong> mit diesem Verhalten be<strong>im</strong><br />

nächsten Mal die Belohnung zu erreichen versucht.<br />

Intermittierende Verstärkung – Inkonsequentes Reagieren auf das Verhalten<br />

eines anderen Menschen, indem man beispielsweise ein unerwünschtes Verhalten<br />

manchmal bestraft <strong>und</strong> manchmal ignoriert.<br />

..<br />

Burrhus F. Skinner nahm an, dass die Entwicklung von Kindern pr<strong>im</strong>är<br />

eine Frage ihrer Verstärkungsgeschichte sei. In einer Liste der 100 wichtigsten<br />

Menschen der Menschheitsgeschichte, aufgestellt von einer populären<br />

Zeitschrift, erschien er einmal auf dem 40. Platz. (© Corbis)<br />

Skinners Forschungen über das Wesen <strong>und</strong> die Funktion der<br />

Verstärkung führte zu vielen Entdeckungen; zwei davon sind<br />

für Eltern <strong>und</strong> Lehrer besonders interessant. Erstens kann Aufmerksamkeit<br />

als solche einen wirksamen Verstärker darstellen:<br />

Kinder tun Dinge oft allein nur deshalb, um Aufmerksamkeit<br />

zu bekommen (Skinner 1953, S. 78). Die beste Strategie, um<br />

Kinder von weiteren Wutausbrüchen abzuhalten, besteht also<br />

Zum Nachteil ihrer Erziehungsziele setzen Eltern oft unbeabsichtigt<br />

intermittierende Verstärker ein. Sie versuchen tapfer,<br />

die heulend oder aggressiv vorgetragenen Forderungen <strong>und</strong><br />

Wünsche ihrer Kinder nicht zu belohnen, aber manchmal geben<br />

sie – aus reiner Menschlichkeit – dann doch nach. Solche intermittierende<br />

Verstärkung wirkt sich sehr nachhaltig aus: Selbst<br />

wenn ein Elternteil, der gelegentlich be<strong>im</strong> Heulen des <strong>Kindes</strong><br />

nachgegeben hat, dies niemals wieder tut, würde das Kind dennoch<br />

lange Zeit <strong>im</strong>mer wieder zum Mittel des Weinens zurückgreifen<br />

in der Annahme: Was in der Vergangenheit funktionierte,<br />

sollte auch zukünftig wieder funktionieren. Diese Wirkung der<br />

intermittierenden Verstärkung ist eine Ursache dafür, warum die<br />

meisten Eltern Kinder haben, die zumindest ein paar anhaltende<br />

schlechte Gewohnheiten besitzen. Im oben beschriebenen Beispiel<br />

des <strong>Kindes</strong>, das <strong>im</strong>mer wieder aus seinem Bett aufstand,<br />

war das Verhalten des Vaters teilweise deswegen wirksam, weil<br />

es unbeirrbar war.


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Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

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..<br />

Das Aussch<strong>im</strong>pfen eines <strong>Kindes</strong> hat zum Ziel, das Kind dazu zu bringen,<br />

mit etwas aufzuhören, das der Elternteil missbilligt, aber es ist auch eine Art<br />

von Aufmerksamkeit gegenüber dem Kind, die unerwünschte Verhaltensweisen<br />

verstärkt oder dazu beiträgt, dass diese fortbestehen. (© Stockdisc<br />

Premium/Getty Images)<br />

Skinners Arbeiten über die Verstärkung führten zu der Therapieform<br />

der Verhaltensmodifikation, die sich bei der Veränderung<br />

unerwünschter Verhaltensweisen als hilfreich erwiesen<br />

hat. Ein einfaches Beispiel für diesen Ansatz betraf ein Vorschulkind,<br />

das zu häufig allein vor sich hin spielte. Beobachter<br />

stellten fest, dass die Betreuungspersonen unwillentlich das<br />

Rückzugsverhalten des Jungen verstärkten: Sie sprachen mit<br />

ihm <strong>und</strong> trösteten ihn, wenn er allein war, aber schenkten ihm<br />

meistens keine Beachtung mehr, wenn er mit anderen Kindern<br />

spielte. Das Rückzugsverhalten des <strong>Kindes</strong> wurde verändert,<br />

indem die Verstärkungskontingenzen umgekehrt wurden: Die<br />

Erzieherinnen schenkten dem Jungen nun <strong>im</strong>mer dann Aufmerksamkeit,<br />

wenn er sich einer Gruppe anschloss, <strong>und</strong> ignorierten<br />

ihn, wenn er sich zurückzog. Bald verbrachte das Kind<br />

den größten Teil seiner Zeit <strong>im</strong> Spiel mit seinen Klassenkameraden<br />

(Harris et al. 1967).<br />

Verhaltensmodifikation – Eine Therapieform, die auf Prinzipien des operanten<br />

Konditionierens beruht. Dabei werden Verstärkungskontingenzen verändert,<br />

um ein angepassteres Verhalten zu fördern.<br />

Die Theorie des sozialen Lernens<br />

Die Theorie des sozialen Lernens versucht wie andere Lerntheorien<br />

auch, die Persönlichkeit <strong>und</strong> andere Aspekte der sozialen<br />

Entwicklung anhand von Lernmechanismen zu erklären.<br />

Um den Einfluss der Umwelt auf die Entwicklung von Kindern<br />

abzuschätzen, betonen soziale Lerntheorien jedoch Beobachtung<br />

<strong>und</strong> Nachahmung – <strong>und</strong> weniger die Verstärkung – als<br />

hauptsächliche Entwicklungsmechanismen. Albert Bandura<br />

(1977, 1986) zum Beispiel behauptet, dass der größte Teil des<br />

menschlichen Lernens dem Wesen nach sozialer Natur ist <strong>und</strong><br />

auf der Beobachtung des Verhaltens anderer Menschen beruht.<br />

Kinder lernen am schnellsten <strong>und</strong> wirksamsten, indem sie einfach<br />

zuschauen, was andere Menschen machen, <strong>und</strong> sie dann<br />

<strong>im</strong>itieren. Verstärkung kann zwar die Wahrscheinlichkeit der<br />

Imitation erhöhen, ist aber zum Lernen nicht notwendig. Weil<br />

Lernen keine unmittelbare Verstärkung erfordert, können Kinder<br />

auch von symbolischen Modellen lernen, also aus dem, was<br />

sie in Büchern lesen oder in Filmen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Fernsehen sehen<br />

(▶ Exkurs 9.1).<br />

Im Laufe der Zeit betonte Bandura <strong>im</strong>mer mehr die kognitiven<br />

Aspekte des Beobachtungslernens <strong>und</strong> bezeichnete seinen<br />

Ansatz schließlich als „sozial-kognitive Lerntheorie“. Das Beobachtungslernen<br />

hängt eindeutig von gr<strong>und</strong>legenden kognitiven<br />

Prozessen ab: der Aufmerksamkeit auf das Verhalten anderer, der<br />

Encodierung des Beobachteten, der Speicherung der Information<br />

<strong>im</strong> Gedächtnis <strong>und</strong> ihrem Abruf zu einem späteren Zeitpunkt,<br />

um das zuvor beobachtete Verhalten zu reproduzieren. Dank des<br />

Beobachtungslernens wissen viele Kinder bereits einiges über<br />

Tätigkeiten wie Autofahren – den Schlüssel ins Zündschloss stecken,<br />

aufs Gaspedal treten, das Lenkrad drehen –, lange bevor<br />

sie sich selbst hinter das Steuer setzen dürfen.<br />

Anders als die meisten anderen Lerntheoretiker betonte Bandura<br />

die aktive Rolle von Kindern bei ihrer eigenen Entwicklung<br />

<strong>und</strong> beschrieb Entwicklung als einen reziproken Determinismus<br />

von Kindern <strong>und</strong> ihrer sozialen Umgebung. Der diesem<br />

Konzept zugr<strong>und</strong>e liegende Gedanke besteht darin, dass jedes<br />

Kind zunächst aufgr<strong>und</strong> charakteristischer Eigenschaften nach<br />

best<strong>im</strong>mten Arten von Wechselwirkungen mit der Außenwelt<br />

strebt, dann aber diese Interaktionen auf das Kind zurück wirken<br />

<strong>und</strong> so beeinflussen, welcher Art von Interaktionen das Kind<br />

künftig anstrebt. Dieses Konzept illustriert . Abb. 9.1, in der dargestellt<br />

wird, wie die aggressiven Neigungen eines <strong>Kindes</strong> seine<br />

Spielkameraden beeinflussen <strong>und</strong> wie es wiederum dadurch geformt<br />

wird, wie diese Spielkameraden reagieren.<br />

Reziproker Determinismus – Nach Bandura die Wechselbeziehung zwischen<br />

Kindern <strong>und</strong> ihrer Umwelt, die Veränderungen auf beiden Seiten best<strong>im</strong>mt:<br />

Kinder werden durch ihre jeweilige Umgebung beeinflusst, haben zugleich<br />

aber auch umgekehrt Einfluss auf diese Umgebung.<br />

Bandura betonte auch die Bedeutsamkeit eines kognitiven Faktors,<br />

den er wahrgenommene Selbstwirksamkeit nannte – die<br />

Selbsteinschätzung eines Menschen, wie wirksam er oder sie<br />

das eigene Verhalten, die Gedanken <strong>und</strong> Gefühle kontrollieren<br />

kann, um gewünschte Ziele zu erreichen (Bandura 1997; Bandura<br />

et al. 2003). So hängt die wahrgenommene Selbstwirksamkeit der<br />

Affektregulierung damit zusammen, wie gut man <strong>im</strong> Leben mit<br />

seinen Gefühlen umgehen kann. Im Hinblick auf positive Affekte<br />

gehört zur wahrgenommenen Selbstwirksamkeit beispielsweise<br />

das Gefühl, Zuneigung zu einem anderen Menschen ausdrücken<br />

<strong>und</strong> darin Erfüllung finden zu können. Im Hinblick auf negative<br />

Affekte gehört dazu, wie gut man nach eigener Einschätzung bei<br />

Bedrohungen <strong>und</strong> Provokationen mit Angst <strong>und</strong> Wut umgehen<br />

<strong>und</strong> Ruhe bewahren kann. Die wahrgenommene Selbstwirksamkeit<br />

in Bezug auf schulische Leistungen betrifft die Fähigkeit, wie<br />

gut Schüler ihre Lernanstrengungen regulieren, ihr Lernpensum


Lerntheorien<br />

325 9<br />

Exkurs 9.1: Näher betrachtet: Bandura <strong>und</strong> die Stehaufpuppe | |<br />

Eine Reihe klassischer Untersuchungen<br />

von Albert Bandura <strong>und</strong> seinen Mitautoren<br />

(Bandura 1965; Bandura et al. 1963) vermittelt<br />

eine gute Vorstellung von den Fragestellungen<br />

<strong>und</strong> Methoden, die für Forschungsarbeiten<br />

<strong>im</strong> Rahmen der sozialen Lerntheorien typisch<br />

sind. Die Forscher fingen damit an, dass sie<br />

Kindern <strong>im</strong> Vorschulalter einzeln einen kurzen<br />

Film zeigten, in dem ein erwachsenes Modell<br />

eine große aufblasbare Stehaufpuppe ungewöhnlich<br />

gewaltsam behandelte. (Wie auf den<br />

Fotos zu sehen, richtet sich die Puppe <strong>im</strong>mer<br />

wieder auf, wenn sie an- beziehungsweise umgestoßen<br />

wird, weil sich in ihrem unteren Teil<br />

ein Gewicht befindet.) Das Modell boxte die<br />

Puppe, schlug sie mit einem Holzhammer <strong>und</strong><br />

rief dabei „sockeroo“, warf mit Bällen nach ihr,<br />

wobei es „bang, bang“ schrie, <strong>und</strong> so weiter.<br />

In einer Untersuchung beobachteten drei<br />

Gruppen von Kindern, wie das Modell<br />

jeweils verschiedene Konsequenzen seines<br />

aggressiven Verhaltens erlebte. Ein Drittel<br />

der Kinder sah, wie das Modell belohnt<br />

wurde (ein Erwachsener gab dem Modell<br />

etwas Süßes <strong>und</strong> ein Getränk <strong>und</strong> lobte die<br />

„Meisterleistung“). Ein zweites Drittel sah,<br />

wie das Modell für das aggressive Verhalten<br />

bestraft (ausgesch<strong>im</strong>pft) wurde. In der Version<br />

für die dritte Gruppe erfuhr das Modell<br />

keine Konsequenzen. Die Frage war, ob sich<br />

stellvertretende Verstärkung – die Beobachtung,<br />

wie jemand anders eine Belohnung oder<br />

Bestrafung erhält – darauf auswirken würde,<br />

inwieweit ein Kind später das beobachtete<br />

Verhalten reproduziert. Nachdem es einen der<br />

Filme gesehen hatte, wurde jedes Kind allein<br />

in einem Spielz<strong>im</strong>mer gelassen, in dem sich<br />

die Stehaufpuppe befand. Es wurde versteckt<br />

beobachtet, ob es nachmacht, was es be<strong>im</strong><br />

Modell zuvor beobachtete hatte. Unabhängig<br />

davon, ob ein Kind das Modell nachgemacht<br />

hatte oder nicht, wurden ihm nachher Saft<br />

<strong>und</strong> ein Geschenk angeboten, wenn es alle<br />

Handlungen des Modells nachmachte, an die<br />

es sich erinnern konnte.<br />

Stellvertretende Verstärkung – Die Beobachtung,<br />

wie jemand anders eine Belohnung oder<br />

Bestrafung erhält.<br />

Die Ergebnisse sind in der Grafik dargestellt.<br />

Die Kinder, die eine Bestrafung des Modells gesehen<br />

hatten, <strong>im</strong>itierten das Verhalten seltener<br />

als die Kinder in den beiden anderen Gruppen.<br />

Doch hatten die Kinder aller drei Gruppen aus<br />

der Beobachtung des Modellverhaltens gelernt<br />

<strong>und</strong> konnten sich erinnern, was sie gesehen<br />

hatten; nachdem man ihnen eine Belohnung<br />

versprochen hatte, wenn sie die aggressiven<br />

Handlungen wiederholten, taten sie dies, auch<br />

wenn sie die Handlungen <strong>im</strong> ersten Teil des<br />

Tests nicht spontan ausgeführt hatten.<br />

Ein besonders interessantes Merkmal dieser<br />

Forschungsarbeit waren die auftretenden<br />

Geschlechterunterschiede: Jungen waren<br />

gegenüber der Puppe körperlich aggressiver<br />

als Mädchen. Die Mädchen hatten jedoch genauso<br />

viel vom Verhalten des Modells gelernt<br />

wie die Jungen, was sich an ihrer erhöhten<br />

Nachahmungsrate zeigt, nachdem ihnen<br />

eine Belohnung versprochen worden war.<br />

Wahrscheinlich lernen Jungen <strong>und</strong> Mädchen<br />

generell viel darüber, welche Verhaltensweisen<br />

für beide Geschlechter als angemessen<br />

betrachtet werden, aber unterdrücken jene<br />

Verhaltensweisen, die nach ihrer Ansicht für<br />

das eigene Geschlecht unpassend sind.<br />

Diese klassische Forschungsarbeit liefert den<br />

Nachweis, dass Kinder neue Verhaltensweisen<br />

schnell durch Beobachten anderer erwerben<br />

können, dass ihre Tendenz, das Gelernte selbst<br />

zu reproduzieren, davon abhängt, ob das Modell<br />

für die jeweils beobachteten Handlungen<br />

belohnt oder bestraft wurde, <strong>und</strong> dass nicht<br />

notwendigerweise alles, was Kinder aus der<br />

Beobachtung anderer lernen, in ihrem eigenen<br />

Verhalten zutage tritt.<br />

5<br />

..<br />

Die durchschnittliche Anzahl der <strong>im</strong>itierten<br />

aggressiven Handlungen, welche die Kinder<br />

bei einem Modell beobachtet hatten, das für<br />

sein Verhalten belohnt oder bestraft wurde<br />

beziehungsweise keine Konsequenzen erlebte.<br />

In dem Test ohne Anreiz blieben die Kinder einfach<br />

in einem Raum mit der Puppe allein, ohne<br />

best<strong>im</strong>mte Anweisungen zu erhalten. In dem<br />

Test mit positivem Anreiz wurde ihnen eine<br />

Belohnung versprochen, wenn sie das nachmachten,<br />

was sie bei dem Modell beobachtet<br />

hatten. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die<br />

Kinder aus dem Beobachteten lernten <strong>und</strong> dass<br />

sie mehr lernten, als sie in der ersten Testphase<br />

zum Ausdruck brachten. (Nach Bandura 1965)<br />

Mittlere Anzahl der <strong>im</strong>itierten Reaktionen<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

Jungen Mädchen Jungen Mädchen Jungen Mädchen<br />

Modell belohnt<br />

Modell bestraft Keine Konsequenzen<br />

Kein Anreiz<br />

Positiver Anreiz


326<br />

Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

1<br />

Exkurs 9.1 (Fortsetzung) | |<br />

2<br />

3<br />

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8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

..<br />

Diese Fotos zeigen, wie ein Erwachsener eine Reihe aggressiver Handlungen an einer aufblasbaren Stehaufpuppe ausführt. Der Junge, der das<br />

Verhalten des Erwachsenen beobachtet hat, <strong>im</strong>itiert es anschließend, während er sich allein in einem Raum mit der Puppe befindet. Das Mädchen<br />

reproduziert die aggressiven Handlungen des Erwachsenen zunächst nicht, aber nachdem ihm dafür eine Belohnung versprochen wurde, wird es<br />

genauso aggressiv. (© Albert Bandura/Stanford University; mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung)<br />

13<br />

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20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

Verhalten des <strong>Kindes</strong><br />

Kind spielt gern Gewalt enthaltende<br />

Computerspiele.<br />

Bei der Interaktion mit Spielgefährten<br />

spielt das Kind <strong>im</strong>mer öfter solche<br />

Computerspiele.<br />

Die wachsenden Fähigkeiten des <strong>Kindes</strong><br />

führen zu gesteigertem Vergnügen bei<br />

solchen Spielen <strong>und</strong> zu mehr Zeit, die<br />

mit den Computerspielgefährten verbracht<br />

wird, <strong>und</strong> zu weniger Zeit, die<br />

mit anderen Fre<strong>und</strong>en verbracht wird.<br />

Das Kind stumpft gegenüber Gewalt<br />

auch in anderen Kontexten ab <strong>und</strong> wird<br />

weniger empathisch.<br />

Das Kind wird aggressiver gegenüber<br />

seiner Bezugsgruppe, was zur Zurückweisung<br />

durch Kinder führt, die der<br />

Gruppe nicht angehören, <strong>und</strong> dadurch<br />

zu stärkerer Bindung an die<br />

Computerspielgruppe.<br />

Soziale Umwelt<br />

Kind regt Spielgfährten dazu an,<br />

gemeinsam Gewalt enthaltende<br />

Computerspiele zu spielen.<br />

Das Kind <strong>und</strong> die anderen spielen<br />

häufiger Gewaltcomputerspiele.<br />

Das Kind <strong>und</strong> andere Gruppenmitglieder<br />

stumpfen gegenüber<br />

der Gewalt in den Spielen ab.<br />

Das Kind <strong>und</strong> die Computerspielgruppe<br />

ermutigen sich wechselseitig<br />

zu generell aggressiverem Verhalten.<br />

..<br />

Abb. 9.1 Reziproker Determinismus.<br />

Ein hypothetisches Beispiel,<br />

das an einem fiktiven Beispiel zeigt,<br />

wie ein Kind seine soziale Umwelt<br />

beeinflusst <strong>und</strong> zugleich von ihr<br />

beeinflusst wird. (Nach Daten von<br />

Anderson <strong>und</strong> Bushman 2001)


Theorien der sozialen Kognition<br />

327 9<br />

bewältigen <strong>und</strong> ihre eigenen Erwartungen sowie die Erwartungen<br />

anderer Menschen erfüllen können. Ein Mensch mit hoher<br />

Selbstwirksamkeit be<strong>im</strong> Lernen wird beispielsweise seine Umwelt<br />

so gestalten, dass sie effektives Lernen ermöglicht, <strong>und</strong> sich<br />

außerdem Informationen <strong>und</strong> Hilfe von Lehrern, Eltern oder<br />

Schulkameraden holen.<br />

Wahrgenommene Selbstwirksamkeit – Die Einschätzung eines Menschen<br />

zur Wirksamkeit des eigenen Verhaltens, eigener Gedanken <strong>und</strong> Gefühle be<strong>im</strong><br />

Erreichen erwünschter Ziele.<br />

Die wahrgenommene Selbstwirksamkeit folgt oft auf verschiedenen<br />

Gebieten demselben Muster (Bandura et al. 2003). So<br />

haben beispielsweise Jugendliche mit geringer Selbstwirksamkeit<br />

bei der Affektregulierung meist auch eine geringe Selbstwirksamkeit<br />

be<strong>im</strong> Erfüllen der Ausbildungsanforderungen. Mit<br />

anderen Worten, Schüler, denen das Vertrauen in die eigene<br />

Fähigkeit fehlt, ihr Gefühlsleben zu regulieren, halten sich auch<br />

für unfähig, ihre schulischen Leistungen <strong>im</strong> Griff zu behalten.<br />

Sie neigen stärker zu Fehlverhalten (lügen, betrügen, stehlen,<br />

tätlich werden etc.), als es bei höherer wahrgenommener Selbstwirksamkeit<br />

der Fall ist – vermutlich deshalb, weil die Einschätzung,<br />

das eigene Verhalten nicht kontrollieren zu können, auch<br />

die Fähigkeit unterminiert, negativem Gruppendruck zu widerstehen.<br />

In Kürze | |<br />

In Lerntheorien wird angenommen, dass sich die soziale<br />

Entwicklung zu großen Teilen auf das zurückführen lässt,<br />

was Kinder durch ihre Interaktionen mit anderen Menschen<br />

lernen. Frühe Behavioristen wie Watson <strong>und</strong> Skinner<br />

betonten die Verstärkungsgeschichte des Individuums <strong>und</strong><br />

glaubten, dass das Sozialverhalten der Kinder durch das<br />

Muster an Belohnungen <strong>und</strong> Bestrafungen geformt wird,<br />

die sie von anderen erhalten. Soziale Lerntheoretiker, allen<br />

voran Albert Bandura, betonen die Rolle der Kognition be<strong>im</strong><br />

sozialen Lernen <strong>und</strong> stellen fest, dass Kinder sehr viel durch<br />

einfaches Beobachten von Verhalten anderer Menschen<br />

lernen. Das schließt auch Beobachtungen von Verhaltenskonsequenzen<br />

wie <strong>im</strong> Fall des Stehaufpuppen-Exper<strong>im</strong>ents<br />

(▶ Exkurs 9.1) ein, bei dem Belohnungen <strong>und</strong> Bestrafungen<br />

beobachtet wurden. Die wahrgenommene Selbstwirksamkeit<br />

beeinflusst das Verhalten von Kindern in vielerlei Weise,<br />

etwa auch durch ihre Selbsteinschätzung <strong>im</strong> Hinblick auf<br />

die Kontrolle ihrer Gefühle oder schulischen Leistungen.<br />

Lernpsychologische Ansätze haben eine Fülle von therapeutischen<br />

Maßnahmen angeregt, die sich für ein breites<br />

Spektrum von Verhaltensproblemen bei Kindern als nützlich<br />

erwiesen haben.<br />

Aktuelle Perspektiven<br />

Im Gegensatz zu den psychoanalytischen Theorien beruhen<br />

Lerntheorien auf Prinzipien, die aus empirischen Forschungsarbeiten<br />

abgeleitet sind. Infolgedessen treffen sie klare, explizite<br />

Vorhersagen, die sich empirisch prüfen lassen. Unter anderem<br />

deshalb haben sie eine Fülle weiterer Forschungsarbeiten angeregt,<br />

die viel zum Verständnis elterlicher Erziehungspraktiken<br />

<strong>und</strong> des Lernens sozialen Verhaltens in vielen Bereichen beigetragen<br />

haben. Zudem ergaben sich wichtige Anwendungsmöglichkeiten,<br />

zum Beispiel die klinisch-psychologischen Verfahren<br />

zur systematischen Desensibilisierung <strong>und</strong> zur Verhaltensmodifikation.<br />

Die Hauptschwäche des lerntheoretischen Ansatzes<br />

liegt in der fehlenden Berücksichtigung biologischer Einflüsse<br />

<strong>und</strong>, abgesehen von Banduras Theorie, der kognitiven Einflüsse<br />

auf das Verhalten.<br />

Kismets Konstrukteure beherzigten von Anfang an die Lerntheorien<br />

<strong>und</strong> verliehen ihrem Roboter die wichtige Fähigkeit,<br />

das zu lernen, was Menschen ihm vermitteln. Die emotionalen<br />

<strong>und</strong> verbalen Reaktionen von Menschen auf sein Verhalten<br />

lehren Kismet, ob das, was er tut, angemessen ist. Der Roboter<br />

besitzt auch die Fähigkeit, neue Verhaltensweisen zu erwerben,<br />

indem er nachahmt, was er Menschen tun „sieht“ <strong>und</strong> „hört“.<br />

Kismets Fähigkeit, von Menschen zu lernen, ist entscheidend,<br />

um ihn wirklich sozial erscheinen zu lassen. Was müsste Kismet<br />

machen, um so etwas wie wahrgenommene Selbstwirksamkeit<br />

in Banduras Sinn zu entwickeln? Könnte Kismet jemals „einschätzen“,<br />

was er kann <strong>und</strong> was nicht, <strong>und</strong> sein Verhalten danach<br />

ausrichten?<br />

Theorien der sozialen Kognition<br />

Entwicklungstheorien der sozialen Kognition befassen sich mit<br />

der Fähigkeit von Kindern, über Gedanken, Gefühle, Motive<br />

<strong>und</strong> Verhaltensweisen, die sie bei sich <strong>und</strong> anderen Menschen<br />

feststellen, nachzudenken <strong>und</strong> daraus Schlüsse zu ziehen. Kinder<br />

verarbeiten soziale Informationen gleichermaßen aktiv wie<br />

Erwachsene. Sie achten darauf, was andere Menschen tun <strong>und</strong><br />

sagen, <strong>und</strong> sie leiten aus dem, was sie beobachten, permanent<br />

Schlüsse <strong>und</strong> Deutungen ab, oder konstruieren Erklärungen<br />

<strong>und</strong> nehmen Zuschreibungen vor. Sie verarbeiten Informationen<br />

zu eigenem Verhalten <strong>und</strong> eigenen Erfahrungen in vergleichbarer<br />

Weise.<br />

Die Komplexität des kindlichen Denkens <strong>und</strong> Schlussfolgerns<br />

über die soziale Welt hängt mit der Komplexität ihrer allgemeinen<br />

Denkprozesse zusammen <strong>und</strong> ist durch diese begrenzt. So ist es<br />

derselbe Denkapparat, der Rechen- <strong>und</strong> Erhaltungsaufgaben löst<br />

<strong>und</strong> auch mit dem Problem umzugehen weiß, wie man Fre<strong>und</strong>e<br />

gewinnt oder wie man moralische Dilemmas löst. Mit Fortschreiten<br />

der allgemeinen kognitiven Entwicklung verändert sich auch<br />

die Art <strong>und</strong> Weise, wie Kinder über ihre eigene Person <strong>und</strong> andere<br />

Menschen nachdenken. Beides wird zunehmend abstrakter.<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />

Theorien der sozialen Kognition stehen in scharfem Kontrast zu<br />

psychoanalytischen Ansätzen <strong>und</strong> zu den Theorien des sozialen<br />

Lernens, was äußere Einflüsse als gr<strong>und</strong>legende Motoren der<br />

Entwicklung betrifft. Sozial-kognitive Theorien heben den Pro-


328<br />

Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

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zess der Selbstsozialisation hervor – der aktiven Gestaltung der<br />

eigenen Entwicklung. Danach motivieren Annahmen über sich<br />

selbst <strong>und</strong> über andere Menschen die Kinder dazu, best<strong>im</strong>mte<br />

Ziele <strong>und</strong> Normen zu übernehmen, die in der Folge ihr eigenes<br />

Verhalten leiten sollen.<br />

Selbstsozialisation – Die Vorstellung, dass Kinder zum Beispiel durch ihre bevorzugten<br />

Tätigkeiten oder ihre Auswahl von Fre<strong>und</strong>en eine sehr aktive Rolle<br />

bei ihrer eigenen Sozialisation spielen.<br />

Zentrale Entwicklungsfragen<br />

Das aktive Kind ist für Theorien der sozialen Kognition das zentrale<br />

Thema. Ein weiteres wichtiges Thema sind die individuellen<br />

Unterschiede – insbesondere <strong>im</strong> Hinblick auf die vielen Vergleiche<br />

zwischen dem Denken <strong>und</strong> Verhalten von Jungen <strong>und</strong> Mädchen,<br />

zwischen aggressiven <strong>und</strong> nicht aggressiven Kindern <strong>und</strong> so weiter.<br />

Die Frage nach Kontinuität versus Diskontinuität ist in einigen<br />

Stufentheorien wichtig, die auf altersabhängige Veränderungen<br />

<strong>im</strong> kindlichen Denken über die soziale Welt abheben. Demgegenüber<br />

unterstreichen Informationsverarbeitungstheorien die<br />

Kontinuität der Prozesse, die zum sozialen Schlussfolgern gehören.<br />

Beide Typen von Theorien der sozialen Kognition werden<br />

wir <strong>im</strong> Folgenden näher betrachten. Den ersten Typ repräsentiert<br />

Selmans Stufentheorie zur Perspektivenübernahme; den zweiten<br />

Typ repräsentieren Dodges Informationsverarbeitungstheorie<br />

zum sozialen Problemlösen <strong>und</strong> Dwecks attributionstheoretischer<br />

Ansatz zur schulischen Leistungsmotivation.<br />

Selmans Stufentheorie<br />

der Perspektivenübernahme<br />

Bei der Formulierung seiner Theorie der sozialen Kognition konzentrierte<br />

sich Robert Selman (Selman 1980; Yeates <strong>und</strong> Selman<br />

1989) auf die Entwicklung der Perspektivenübernahme – der<br />

Fähigkeit, den Blickwinkel einer anderen Person einzunehmen<br />

<strong>und</strong> über einen Sachverhalt aus der Sicht eines anderen nachzudenken.<br />

Er nahm an, dass eine solche Perspektivenübernahme<br />

notwendig ist, um die Gedanken, Gefühle <strong>und</strong> Motive eines anderen<br />

Menschen zu verstehen.<br />

Perspektivenübernahme – Das Beachten der Perspektive einer anderen Person,<br />

durch das sich Verhalten, Denken <strong>und</strong> Fühlen dieser Person besser verstehen<br />

lässt.<br />

Nach Selman ist die soziale Kognition kleiner Kinder sehr begrenzt,<br />

weil ihnen die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme<br />

fehlt. Wie vor ihm schon Piaget, nahm auch Selman an, dass<br />

Kinder bis zum Alter von sechs Jahren praktisch nicht bemerken,<br />

dass es auch andere Perspektiven als ihre eigene geben könnte; sie<br />

glauben, dass andere in allem genauso denken wie sie selbst. Die<br />

Unfähigkeit, die Sichtweise einer anderen Person zu erkennen,<br />

könnte vielleicht den endlosen Streitereien zwischen Geschwistern<br />

zugr<strong>und</strong>e liegen, die sich in dem bekannten Muster erschöpfen:<br />

„Hab ich nicht“ – „Hast du doch“ – „Hab ich nicht“ – „Doch“.<br />

..<br />

Viele Streitereien unter Kindern entstehen deshalb, weil sie Schwierigkeiten<br />

damit haben, sich bewusst zu machen, dass ein anderer Mensch einen<br />

anderen Standpunkt haben kann als man selbst. (© David Young-Wolff/<br />

Photoedit)<br />

Selman behauptete, dass Kinder in ihrem Denken über andere<br />

Menschen vier zunehmend komplexe <strong>und</strong> abstrakte Phasen<br />

-<br />

durchlaufen.<br />

In Phase 1 (etwa zwischen sechs <strong>und</strong> acht Jahren) bemerken<br />

Kinder, dass andere eine Perspektive einnehmen<br />

können, die von der eigenen abweicht, aber sie führen diese<br />

andere Perspektive darauf zurück, dass diese Person nicht<br />

-<br />

über dieselbe Information verfügt wie sie selbst.<br />

In Phase 2 (acht bis zehn Jahre) erkennen die Kinder nicht<br />

nur, dass andere eine andere Perspektive einnehmen können,<br />

sondern sind auch in der Lage, über die Perspektive<br />

-<br />

der anderen Person nachzudenken.<br />

Erst in Phase 3 (zehn bis zwölf Jahre) können Kinder<br />

systematisch ihre eigene Perspektive mit der von anderen<br />

Menschen vergleichen. In dieser Phase können sie auch die<br />

Perspektive einer dritten Partei einnehmen <strong>und</strong> aus dieser<br />

-<br />

die Sichtweisen der beiden anderen Beteiligten bewerten.<br />

In Phase 4 (ab zwölf Jahre) versuchen die Jugendlichen, die<br />

Perspektive einer anderen Person zu verstehen, indem sie<br />

diese mit einer „Generalisierung anderer Perspektiven“ vergleichen,<br />

um einzuschätzen, ob die Sichtweise einer Person


Theorien der sozialen Kognition<br />

329 9<br />

mit der Perspektive der meisten Menschen in ihrer sozialen<br />

Gruppe übereinst<strong>im</strong>mt.<br />

Man beachte, dass Kinder in Selmans Phasen der Perspektivenübernahme<br />

bei ihren Schlussfolgerungen <strong>im</strong>mer weniger egozentrisch<br />

werden <strong>und</strong> zunehmend in der Lage sind, mehrere Perspektiven<br />

gleichzeitig zu berücksichtigen (also beispielsweise ihre<br />

eigene, die einer anderen Person <strong>und</strong> die allgemeine Perspektive<br />

der „meisten Menschen“). Diese beiden Veränderungen bei der sozialen<br />

Kognition spiegeln die von Piaget (in ▶ Kap. 4) identifizierten<br />

kognitiven Veränderungen wider. So ist es nicht überraschend,<br />

dass das Voranschreiten von Kindern durch die Selman’schen Phasen<br />

der Perspektivenübernahme stark mit ihrem Durchlaufen der<br />

Stufen Piagets zusammenhängt (Keating <strong>und</strong> Clark 1980).<br />

Dodges Informationsverarbeitungstheorie<br />

des sozialen Problemlösens<br />

Der Informationsverarbeitungsansatz der sozialen Kognition<br />

betont die entscheidende Rolle kognitiver Prozesse für das Sozialverhalten.<br />

Dieser Ansatz lässt sich am Beispiel von Kenneth<br />

Dodges Analyse des kindlichen Einsatzes von Aggression als Problemlösestrategie<br />

illustrieren (Dodge 1986; Dodge et al. 2006).<br />

Dodges Theorie gründete sich ursprünglich auf Untersuchungen,<br />

in denen die Kinder Geschichten hörten, in denen ein Kind unter<br />

den Handlungen eines anderen <strong>Kindes</strong> leidet, dessen Absichten<br />

jedoch in der Situation nicht eindeutig erkennbar ist. In einer Geschichte<br />

zum Beispiel strengt sich ein Kind sehr an, ein Puzzle<br />

zusammenzulegen, <strong>und</strong> ein anderes Kind stößt gegen den Tisch,<br />

sodass die Puzzleteile in der Gegend herumfliegen, <strong>und</strong> sagt lediglich<br />

„hoppla“. Die Kinder sollten sich vorstellen, in dieser Szene<br />

das Opfer zu sein, <strong>und</strong> beschreiben, was sie tun würden <strong>und</strong> warum.<br />

Manche Kinder interpretierten den Stoß gegen das Puzzle als<br />

Missgeschick <strong>und</strong> ignorierten das Ereignis einfach. Andere kamen<br />

zu dem Schluss, dass das andere Kind absichtlich gegen den Tisch<br />

stieß, <strong>und</strong> verkündeten, dass sie einen Weg finden würden, ihm<br />

das he<strong>im</strong>zuzahlen. (Viele waren der Ansicht, dieses Ziel ließe sich<br />

gut erreichen, indem sie dem Täter einen Schlag versetzen.)<br />

Dodge <strong>und</strong> seine Mitarbeiter fanden heraus, dass einige Kinder<br />

einem feindlichen Attributionsfehler unterliegen, also der<br />

falschen allgemeinen Erwartung, dass andere ihnen feindlich gegenüberstehen.<br />

Diese Erwartungsverzerrung bringt die Kinder<br />

dazu, bei der anderen Person in der Szene nach Anzeichen für<br />

feindliche Absichten zu suchen <strong>und</strong> dem Gegenüber den Wunsch<br />

zu unterstellen, ihnen schaden zu wollen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

gelangen sie zu dem Schluss, dass Vergeltung die angemessene<br />

Reaktion auf das Verhalten des anderen <strong>Kindes</strong> darstellt.<br />

Der feindliche Attributionsfehler wird zur sich selbst erfüllenden<br />

Prophezeiung: Die aggressive Vergeltung eines <strong>Kindes</strong> für den<br />

unterstellten feindlichen Akt eines anderen <strong>Kindes</strong> ruft Gegenangriffe<br />

<strong>und</strong> Zurückweisung durch die Bezugsgruppe hervor, was<br />

dem Glauben des <strong>Kindes</strong> an die Feindseligkeit der anderen weitere<br />

Nahrung gibt.<br />

Feindlicher Attributionsfehler – Nach Dodges Theorie die Fehleinschätzung<br />

mehrdeutiger Handlungen anderer durch Unterstellen feindlicher Absichten.<br />

..<br />

Der Junge, dem der andere Junge Milch übergeschüttet hat, scheint<br />

einem feindlichen Attributionsfehler zu unterliegen. Weil er bereitwillig<br />

ann<strong>im</strong>mt, andere Menschen wollten ihm nur schaden, unterstellt er dem anderen<br />

Jungen eine feindselige Absicht, was seinerseits zu einer aggressiven<br />

Reaktion führt. (© Mary Kate Denny/Photoedit)<br />

Dodge wies darauf hin, dass es in Schulen besondere Probleme<br />

be<strong>im</strong> Umgang mit solchen Kindern gibt. Eine verbreitete Strategie<br />

besteht darin, diese Kinder wegen ihres störenden Verhaltens<br />

aus dem regulären Unterricht auszuschließen <strong>und</strong> sie<br />

zusammen mit anderen Störern in spezielle Unterrichtsräume<br />

zu setzen, in denen sie intensiver beaufsichtigt werden können<br />

(Dodge et al. 2007). Aber diese Lösung bringt Kinder mit dem<br />

feindlichen Attributionsfehler zusammen, was andere negative<br />

Folgen verursacht. Erst einmal liefert dies den jungen Leuten den<br />

Beweis <strong>und</strong> bestärkt sie in ihrer falschen Erwartung, von anderen<br />

Feindseligkeit zu erfahren, <strong>und</strong> es eröffnet ihnen die Möglichkeit,<br />

sich gegenseitig in ihren aggressiven Tendenzen zu verstärken.<br />

Zugleich trennt es sie von besser angepassten Gleichaltrigen, von<br />

denen sie gemäßigtere Einstellungen <strong>und</strong> soziale Strategien lernen<br />

könnten.<br />

Feindliche Attributionsfehler entwickeln Kinder aufgr<strong>und</strong><br />

vielfältiger Ursachen. Allerdings ist bemerkenswert, dass Kinder,<br />

die körperlich misshandelt wurden, besonders dazu neigen,<br />

anderen in neutralen Situationen Ärger zuzuschreiben (Pollak<br />

et al. 2000). Möglicherweise führt die Misshandlung dazu, dass<br />

die Kinder potenzielle Hinweise auf Ärger besonders sensibel<br />

wahrnehmen. Beispielsweise können körperlich misshandelte<br />

Kinder Ärger <strong>im</strong> Gesichtsausdruck besser erkennen als nicht<br />

misshandelte, <strong>und</strong> mit welcher Geschwindigkeit sie den Ärger<br />

wahrnehmen, hängt davon ab, wie viel Wut <strong>und</strong> Feindseligkeit<br />

sie selbst erlebt haben (Pollak et al. 2009). Körperlich misshandelte<br />

Kinder haben oft Schwierigkeiten, aus negativen Emotionen<br />

Schlüsse zu ziehen. So zeigte sich in einer entsprechenden Untersuchung,<br />

dass es misshandelten Kindern schwerfiel zu beurteilen,<br />

welche Situationen bei ihren Eltern Wut auslösen – sie vermuteten<br />

ebenso in positiven wie negativen Ereignissen mögliche Ursachen<br />

von elterlichem Ärger (Perlman et al. 2008). Beispielsweise<br />

stuften misshandelte Kinder, denen fiktive Situationen zwischen<br />

Eltern <strong>und</strong> Kindern gezeigt wurden, positive Ereignisse, bei denen<br />

ein Kind mit einem Schulpreis ausgezeichnet wird oder <strong>im</strong><br />

Haus hilft, als potenzielle Anlässe für elterlichen Ärger ein. Die<br />

Neigung, anderen Ärger zu unterstellen (selbst wenn er nicht


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Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

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vorhanden ist), führt nicht selten zu einem feindlichen Attributionsfehler.<br />

(Wir gehen später noch genauer auf die Misshandlung<br />

von Kindern ein.)<br />

Dwecks Theorie der Selbstattribution<br />

<strong>und</strong> Leistungsmotivation<br />

Stellen Sie sich zwei Schülerinnen der zweiten Klasse vor, Diana<br />

<strong>und</strong> Megan, die beide angestrengt an einer Rechenaufgabe arbeiten<br />

<strong>und</strong> bei der Lösung zunächst beide scheitern. Diana findet<br />

diese Aufgabe recht schwierig <strong>und</strong> fühlt sich herausgefordert, die<br />

Lösung zu finden; sie arbeitet beharrlich daran. Megan hingegen<br />

hat Angst <strong>und</strong> untern<strong>im</strong>mt nur einen halbherzigen Versuch, die<br />

Aufgabe zu lösen. Wie erklärt sich dieser Unterschied der Kinder<br />

in ihren Reaktionen auf das anfängliche Scheitern?<br />

Aus der Perspektive der sozialen Kognition nach Carol<br />

Dweck (2006) lässt sich der Unterschied zwischen beiden Reaktionen<br />

einer unterschiedlichen Leistungsmotivation zuschreiben,<br />

also unterschiedlicher Motivation <strong>im</strong> Hinblick auf Lernziele<br />

<strong>und</strong> Leistungserfolge; <strong>im</strong> Fall der Lernziele geht es um die eigenen<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> das Aneignen neuer Inhalte, während es be<strong>im</strong><br />

Leistungserfolg um gute Noten <strong>und</strong> die Fähigkeit zur Vermeidung<br />

negativer Beurteilungen geht. Aus dieser Sicht hält Diana<br />

die Intelligenz für schrittweise veränderbar <strong>und</strong> glaubt, dass sich<br />

Intelligenz durch Anstrengung entwickeln kann. Sie konzentriert<br />

sich auf das Bewältigen, stellt sich Herausforderungen <strong>und</strong> will<br />

Fehlschläge überwinden, <strong>und</strong> sie erwartet ganz allgemein, dass<br />

ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sein werden. Und wirklich<br />

werden ihre vermehrten Anstrengungen <strong>und</strong> ihre Beharrlichkeit<br />

nach einem anfänglichen Fehlschlag ihre weiteren Leistungen<br />

aller Wahrscheinlichkeit nach verbessern.<br />

Megan hingegen hält Intelligenz für eine unveränderbare Gegebenheit<br />

<strong>und</strong> glaubt, dass ihre Intelligenz insgesamt feststeht.<br />

Ihr Ziel ist es, erfolgreich zu sein, <strong>und</strong> solange sie erfolgreich<br />

ist, steht alles zum Besten. Wenn sie jedoch bei irgendetwas versagt,<br />

fühlt sie sich „hilflos“. Nicht erfolgreich zu sein, bereitet ihr<br />

Unbehagen <strong>und</strong> weckt Zweifel an ihren Fähigkeiten <strong>und</strong> ihrem<br />

Selbstwert.<br />

Diesen beiden Mustern der Leistungsmotivation liegen Unterschiede<br />

in der Selbstattribution der Kinder zugr<strong>und</strong>e, insbesondere<br />

be<strong>im</strong> Selbstwertgefühl. Kinder mit einer Hilflosigkeitsorientierung<br />

neigen dazu, ihr Wesen als unveränderlich zu<br />

betrachten <strong>und</strong> ihr Selbstwertgefühl auf das Lob zu gründen, das<br />

sie von anderen Menschen hinsichtlich ihrer Intelligenz, ihrer<br />

Talente <strong>und</strong> der Qualitäten ihrer Persönlichkeit erhalten (oder<br />

nicht erhalten). Um sich wohl in ihrer Haut zu fühlen, suchen<br />

sie sich Situationen aus, in denen sie sich des Erfolgs <strong>und</strong> des Lobes<br />

sicher sein können, <strong>und</strong> sie meiden Situationen, in denen sie<br />

kritisiert werden könnten. Im Unterschied dazu gründet sich die<br />

Selbstachtung von Kindern mit Bewältigungsorientierung mehr<br />

auf die Veränderbarkeit, die sie mit ihren eigenen Anstrengungen<br />

<strong>und</strong> ihren Lernleistungen erreichen, <strong>und</strong> nicht darauf, wie<br />

andere sie einschätzen. Weil sie das Scheitern an einer Aufgabe<br />

nicht mit einer persönlichen Niederlage gleichsetzen, können<br />

Bewältigungsorientierte die Herausforderung eines schwierigen<br />

Problems spannend finden <strong>und</strong> es beharrlich zu lösen versuchen.<br />

Hilflosigkeitsorientierung – Eine allgemeine Tendenz, Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg<br />

unveränderlichen Aspekten des Selbst zuzuschreiben <strong>und</strong> angesichts von Misserfolgen<br />

aufzugeben.<br />

Bewältigungsorientierung – Eine allgemeine Tendenz, Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg<br />

veränderbarem Anstrengungsaufwand zuzuschreiben <strong>und</strong> angesichts von<br />

Misserfolgen beharrlich zu bleiben.<br />

Diese unterschiedlichen Motivationsmuster treten schon in der<br />

Vorschule zutage (Smiley <strong>und</strong> Dweck 1994). Lässt man vier- <strong>und</strong><br />

fünfjährige Kinder wählen, ob sie an einem Puzzle arbeiten wollen,<br />

das sie schon einmal gelöst haben, oder an einem, an dem<br />

sie zuvor gescheitert sind, so bevorzugen manche eindeutig dasjenige,<br />

das sie bereits lösen können, während andere an dem, das<br />

ihnen misslang, weiterarbeiten wollen.<br />

Bei älteren Kindern folgen ihre Selbstsicht <strong>und</strong> ihre Fähigkeiten<br />

einem ähnlichen Muster, aber beides schließt nun komplexere<br />

Begriffe <strong>und</strong> Schlussfolgerungen ein als bei jüngeren Kindern.<br />

Einige Kinder verfügen über etwas, das Dweck <strong>und</strong> ihre<br />

Mitautoren (Cain <strong>und</strong> Dweck 1995; Dweck 1999; Dweck <strong>und</strong><br />

Leggett 1988) als Unveränderbarkeitstheorie der Intelligenz<br />

bezeichnen. Diese Theorie beruht wie Megans Unveränderlichkeitsauffassung<br />

von Intelligenz auf der Überzeugung, dass das<br />

Intelligenzniveau eines Menschen feststeht <strong>und</strong> unveränderbar<br />

ist. Im Lauf der Zeit kommt die Überzeugung hinzu, dass Erfolg<br />

oder Misserfolg in der Schule davon abhängen, wie klug man ist.<br />

Wenn sie ihre eigene Leistung einschätzen, konzentrieren sich<br />

Kinder mit einer Unveränderbarkeitstheorie auf die Ergebnisse<br />

– Erfolg oder Misserfolg – <strong>und</strong> nicht auf die Bemühungen oder<br />

auf das Lernen aus Fehlern. Wenn sie nun einen Fehlschlag erleiden<br />

(so wie das jedem Menschen zuweilen widerfährt), meinen<br />

sie, dass sie nicht besonders klug seien <strong>und</strong> dass sie daran nichts<br />

ändern können. Sie fühlen sich hilflos.<br />

Unveränderbarkeitstheorie – Die Gr<strong>und</strong>annahme, dass das Intelligenzniveau<br />

eines Menschen unveränderbar fixiert ist.<br />

Andere Kinder sind auf eine Veränderbarkeitstheorie abonniert.<br />

Diese Theorie entspricht Dianas Sicht der Intelligenz<br />

<strong>und</strong> geht davon aus, dass Intelligenz veränderbar ist <strong>und</strong> mit<br />

zunehmender Erfahrung wachsen kann. Kinder, die sich an<br />

eine Veränderbarkeitstheorie halten, glauben, dass der Schulerfolg<br />

durch Anstrengung <strong>und</strong> Beharrlichkeit erreichbar ist.<br />

Wenn sie ihre Leistung einschätzen, konzentrieren sie sich auf<br />

das, was sie gelernt haben, selbst wenn sie bei einzelnen Lernaufgaben<br />

gescheitert sind, <strong>und</strong> sie glauben, dass sie es künftig<br />

besser machen können, wenn sie sich mehr Mühe geben. Sie<br />

sind zuversichtlich.<br />

Veränderbarkeitstheorie – Die Gr<strong>und</strong>annahme, dass sich das Intelligenzniveau<br />

eines Menschen verändern lässt <strong>und</strong> nicht fixiert ist.<br />

Was meinen Sie, welcherart Lob <strong>und</strong> Kritik nach dem, was Sie<br />

gerade gelesen haben, diese beiden Muster verstärkt? Die Antwort<br />

hängt vom Schwerpunkt der Rückmeldung ab. Ein Veränderbarkeits-<br />

<strong>und</strong> Bewältigungsmuster wird dadurch verstärkt, dass man<br />

auf die Anstrengung des <strong>Kindes</strong> abhebt <strong>und</strong> es für die Mühe lobt,<br />

die es sich gegeben hat („Da hast du dir aber wirklich Mühe ge-


Theorien der sozialen Kognition<br />

331 9<br />

geben“, „Es gefällt mir, wie du bei der Sache geblieben bist“), eine<br />

Kritik aber an unzureichendem Bemühen festmacht („Das nächste<br />

Mal musst du dich ein bisschen mehr anstrengen“, „Ich glaube,<br />

wenn du dich mehr bemühen würdest, könntest du es besser machen“).<br />

Ein Unveränderbarkeits- <strong>und</strong> Hilflosigkeitsmuster hingegen<br />

wird durch Lob <strong>und</strong> Tadel verstärkt, die sich auf überdauernde<br />

Charakterzüge oder auf das Kind als Ganzes richten („Bei diesen<br />

Aufgaben stellst du dich sehr klug an. Ich bin stolz auf dich“, „In<br />

Mathematik bist du unfähig. Ich bin enttäuscht von dir“).<br />

Haben diese beiden Gr<strong>und</strong>einstellungen konkrete Auswirkungen<br />

in der realen Welt? Diese Frage wurde vor allem in Zusammenhang<br />

mit der mathematischen Bildung untersucht. In<br />

einer wichtigen Untersuchung an städtischen Schulen in New<br />

York untersuchten Dweck <strong>und</strong> ihre Koautoren (Blackwell et al.<br />

2007) die Mathematikleistungen von Siebtklässlern <strong>und</strong> stellten<br />

fest, dass die Schüler mit einer Veränderbarkeitstheorie der Intelligenz<br />

ihre Mathematikleistungen in den beiden folgenden<br />

Schuljahren steigern konnten, während die Siebtklässler mit<br />

Unveränderbarkeitstheorie nur einen flachen Anstieg in der<br />

Leistungskurve erreichten. Später untersuchten sie ein andere<br />

Gruppe von Siebtklässlern mit Unveränderbarkeitstheorie, denen<br />

in acht Interventionssitzungen erläutert wurde, dass sich<br />

die Intelligenz schrittweise verändern lässt – anhand derselben<br />

Konzepte, wie sie in ▶ Kap. 3 vorgestellt wurden: Das Gehirn ist<br />

plastisch <strong>und</strong> verändert sich ständig, Lernen geht mit der Ausbildung<br />

neuer oder stärkerer Verbindungen zwischen Synapsen<br />

einher <strong>und</strong> so weiter. Eine Kontrollgruppe erhielt in den acht<br />

Sitzungen Unterricht in gr<strong>und</strong>legenden Fähigkeiten des Lernens.<br />

Interessanterweise zeigten die Kinder der Interventionsgruppe<br />

positive Veränderungen in der Motivation <strong>und</strong> ebenso in den<br />

Leistungsbewertungen, während die Kinder der Kontrollgruppe<br />

sich in ihren Noten verschlechterten.<br />

Eine weitere Frage betrifft die Auswirkungen der beiden<br />

Einstellungen zur Veränderbarkeit bzw. Unveränderbarkeit von<br />

Intelligenz auf die Entwicklung der Kinder in außerschulischen<br />

Bereichen. Dafür sprechen neuere Untersuchungen von Yeager<br />

et al. (2013). Der oben beschriebene feindliche Attributionsfehler<br />

tritt bei Jugendlichen mit einer Unveränderbarkeitstheorie in<br />

Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale häufiger auf als bei Jugendlichen<br />

mit einer Veränderbarkeitstheorie. Mit anderen Worten,<br />

wenn sie die Verhalten anderer Menschen vor allem auf fixe Persönlichkeitsmerkmale<br />

(eines guten oder schlechten Menschen)<br />

<strong>und</strong> weniger auf die jeweilige Situation oder äußere Umstände<br />

zurückführen, dann deuten sie schädliches Verhalten anderer<br />

tendenziell eher als feindlich <strong>und</strong> weniger als situationsbedingtes<br />

oder versehentliches Verhalten. Wenn dieser Zusammenhang<br />

tatsächlich besteht, dann sollten sich die feindlichen Attributionsfehler<br />

reduzieren lassen, wenn die Jugendlichen mehr über<br />

die Veränderbarkeit der Persönlichkeit lernen. Tatsächlich war<br />

das bei einem Exper<strong>im</strong>ent der Fall, in dem eine Intervention<br />

(eine kurze Einführung in neurowissenschaftliche Konzepte wie<br />

oben beschrieben, jedoch nichts zur feindlichen Absicht) die<br />

Einstellung der Jugendlichen in Richtung Veränderbarkeitstheorie<br />

verschob: Die feindlichen Attributionsfehler nahmen in der<br />

Interventionsgruppe ab. Die innere Einstellung zur den eigenen<br />

Charakterzügen <strong>und</strong> denen anderer haben also wichtigen Einfluss<br />

auf verschiedene Entwicklungsaspekte.<br />

Woher könnten dabei die individuellen Unterschiede bei den<br />

inneren Theorien kommen? Eine mögliche Ursache liegt offensichtlich<br />

bei den Eltern, die oft sehr viel dafür tun, das Selbstwertgefühl<br />

zu stärken. Leider kann etwas, das ganz <strong>und</strong> gar positiv<br />

erscheint – nämlich das Kind zu loben, weil es etwas gut kann<br />

–, auf lange Sicht die Motivation des <strong>Kindes</strong> unterminieren, sich<br />

zu verbessern. Eine zweite mögliche Ursache sind Lehrer. Wie<br />

eine Studie vor kurzem gezeigt hat, können Lehrer mit Unveränderbarkeitstheorie<br />

die Motivation leistungsschwacher Schüler<br />

<strong>und</strong> deren Erwartungen an sich selbst unterminieren, indem sie<br />

tröstende Kommentare geben wie „Es ist ok, nicht jeder kann gut<br />

in Mathematik sein“ (Rattan et al. 2012). Eltern <strong>und</strong> auch Lehrer<br />

sollten sich darüber <strong>im</strong> Klaren sein, dass einige Arten von Lob<br />

förderlich sind, andere nicht.<br />

Aktuelle Perspektiven<br />

Theorien der sozialen Kognition liefern wichtige Beiträge zur<br />

Erforschung der sozialen Entwicklung. Ein Beitrag besteht <strong>im</strong><br />

Aufweis, dass Kinder aktiv Information über die soziale Welt<br />

suchen. Ein weiterer Beitrag liegt in der Erkenntnis, dass die<br />

Wirkung der sozialen Erfahrungen von Kindern davon abhängt,<br />

wie sie diese Erfahrungen interpretieren. Kinder, die einem best<strong>im</strong>mten<br />

sozialen Ereignis andere Ursachen zuschreiben (z. B.,<br />

dass ihnen jemand Schaden zufügen will) oder ein schulisches<br />

Ereignis anders auslegen (z. B., dass sie bei einer Klassenarbeit<br />

schlecht abschneiden), werden auch anders darauf reagieren. Außerdem<br />

haben sehr viele Forschungsbef<strong>und</strong>e die sozial-kognitive<br />

Position untermauert. Zwar liefern diese Theorien ein wirksames<br />

Gegenmittel gegen soziale Theorien, in denen die Kognitionen<br />

der Kinder keine Rolle spielen, aber auch die sozial-kognitiven<br />

Theorien liefern nur unvollständige Erklärungen. Vor allem sagen<br />

sie wenig über die biologischen Faktoren bei der sozialen<br />

Entwicklung aus.<br />

Kismet wurde so entworfen, dass er seine eigene Entwicklung<br />

gestaltet, indem er das Verhalten der Menschen ihm gegenüber<br />

versteht – eine Form der Selbstsozialisation, wie die<br />

Theoretiker der sozialen Kognition sie betonen. Was würde<br />

geschehen, wenn Kismet weiterginge <strong>und</strong> Schlussfolgerungen<br />

aus den Erkenntnissen, Gefühlen <strong>und</strong> Motivationen der anderen<br />

zöge? Wäre es ihm beispielsweise jemals möglich, zwei<br />

Menschen bei gleichem Verhalten Unterschiedliches zu unterstellen,<br />

indem er subtile Aspekte des sozialen Kontexts seiner<br />

Erfahrungen mit diesen Menschen heranzieht? Und könnte er<br />

– noch anspruchsvoller – eines Tages begreifen, dass Menschen<br />

Standpunkte haben, die sich untereinander <strong>und</strong> vom eigenen<br />

Standpunkt unterscheiden? Und kann Kismet letztendlich ein<br />

gewisses Selbstwertgefühl entwickeln, das sich auf seine Selbstzuschreibungen<br />

auswirkt? Diese Fragen über Kismets Potenzial,<br />

soziale Kognition zu <strong>im</strong>itieren, werfen ein Schlaglicht auf die<br />

enorme Komplexität der sozialen Entwicklung des Menschen<br />

<strong>und</strong> insbesondere auch auf die Herausforderung, die eine Theorie<br />

der sozialen Entwicklung stellt.


332<br />

Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

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22<br />

23<br />

In Kürze | |<br />

Theorien der sozialen Kognition betonen die Rolle kognitiver<br />

Prozesse – Aufmerksamkeit, Wissen, Interpretieren,<br />

Schlussfolgern, Attribuieren, Erklären – bei der sozialen<br />

Entwicklung von Kindern. Ein zentraler Aspekt dieser Theorien<br />

ist die Selbstsozialisation, durch den Kinder ihre eigene<br />

Umwelt aktiv gestalten. Selmans Theorie der Perspektivenübernahme<br />

geht davon aus, dass Kinder <strong>im</strong> Hinblick auf<br />

ihre Fähigkeit zu verstehen, dass andere Menschen andere<br />

Standpunkte haben können, verschiedenen Phasen durchlaufen.<br />

Der Informationsverarbeitungsansatz von Dodge<br />

bezieht sich auf die Untersuchung der Aggression <strong>und</strong> hebt<br />

die Rolle der Deutung des Verhaltens anderer Menschen<br />

hervor. Aggressive Kinder unterliegen häufig dem feindlichen<br />

Attributionsfehler, der generellen Erwartung, dass sich<br />

andere ihnen gegenüber feindselig verhalten werden. Nach<br />

Dwecks Theorie der Leistungsmotivation hängt die Reaktion<br />

von Kindern auf Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg in schulischen<br />

Situationen davon ab, ob sie die Ergebnisse ihren Anstrengungen<br />

zuschreiben (Bewältigungsorientierung) oder ihrer<br />

Intelligenz (Hilflosigkeitsorientierung).<br />

Ökologische Entwicklungstheorien<br />

Wir wenden uns jetzt einer Reihe von Theorien zu, denen gemeinsam<br />

ist, dass sie eine enorme Bandbreite von Kontexten<br />

bei der sozialen Entwicklung <strong>im</strong> Blick haben. Fast alle psychologischen<br />

Theorien, <strong>und</strong> sicherlich alle, die wir <strong>im</strong> vorliegenden<br />

Kapitel bislang behandelt haben, betonen die Rolle der Umwelt<br />

für die Entwicklung des einzelnen <strong>Kindes</strong>. Die „Umwelt“ wird<br />

in vielen dieser Theorien jedoch häufig recht eng ausgelegt <strong>und</strong><br />

betrifft nur den unmittelbaren Kontext – Familie, Altersgenossen,<br />

Schule. Die ersten beiden Ansätze, die <strong>im</strong> Folgenden dargestellt<br />

werden – das ethologische <strong>und</strong> das evolutionspsychologische<br />

Modell – setzen die <strong>Kindes</strong>entwicklung mit dem Gesamtkontext<br />

der menschlichen Evolutionsgeschichte in Beziehung. Der dritte<br />

Ansatz – das bioökologische Modell – berücksichtigt mehrere<br />

Ebenen der Umwelteinflüsse, die sich gleichzeitig auf die individuelle<br />

Entwicklung auswirken.<br />

Die Sicht auf das Wesen des <strong>Kindes</strong><br />

Ethologische <strong>und</strong> evolutionäre Theorien sehen Kinder als die<br />

Erben genetisch basierter Fähigkeiten <strong>und</strong> Veranlagungen. Der<br />

Schwerpunkt der evolutionspsychologischen Verhaltenstheorien<br />

liegt weitgehend auf Verhaltensaspekten, die eine adaptive Funktion<br />

besitzen oder ehemals besaßen.<br />

Zwar hebt das bioökologische Modell die Kontexteinflüsse<br />

auf die Entwicklung eines <strong>Kindes</strong> hervor, doch betont es auch<br />

die aktive Rolle des <strong>Kindes</strong> bei der Auswahl <strong>und</strong> Beeinflussung<br />

dieser Kontexte. Die persönlichen Eigenschaften von Kindern –<br />

Temperament, intellektuelle Fähigkeiten, Sportlichkeit <strong>und</strong> so<br />

weiter – lassen sie best<strong>im</strong>mte Umgebungen aufsuchen <strong>und</strong> auch<br />

Einfluss auf die Menschen in ihrer Umgebung nehmen.<br />

Zentrale Entwicklungsfragen<br />

Die entwicklungsbezogene Fragestellung, die <strong>im</strong> Mittelpunkt<br />

ökologischer Theorien steht, ist die Wechselwirkung zwischen<br />

Anlage <strong>und</strong> Umwelt. Die Bedeutung des soziokulturellen Kontexts<br />

<strong>und</strong> der Kontinuität von Entwicklung sind weitere <strong>im</strong>plizite<br />

Schwerpunkte aller dieser Theorien. Auch die aktive Rolle des<br />

<strong>Kindes</strong> bei seiner eigenen Entwicklung steht <strong>im</strong> Zentrum des<br />

Interesses, insbesondere be<strong>im</strong> bioökologischen Ansatz.<br />

Ethologische <strong>und</strong> evolutionsbezogene<br />

Theorien<br />

Ethologische <strong>und</strong> evolutionsbezogene Theorien befassen sich mit<br />

Aspekten der menschlichen Entwicklung, die gemeinhin dem<br />

evolutionären Erbe zugeschrieben werden. Solche Theorien konzentrieren<br />

sich hauptsächlich auf artspezifisches Verhalten.<br />

Ethologie<br />

Die Ethologie untersucht das Verhalten in einem evolutionären<br />

Kontext <strong>und</strong> versucht es mit Blick auf seinen adaptiven Wert<br />

(seinen Überlebenswert) zu verstehen. Ethologen betrachten eine<br />

Vielzahl angeborener Verhaltensmuster von Tieren genauso als<br />

Ergebnis der Evolution wie ihre körperlichen Merkmale (Crain<br />

1985).<br />

Ethologie – Die Verhaltensforschung, die die evolutionsbiologischen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

des Verhaltens untersucht.<br />

Ethologische Ansätze werden häufig auch auf entwicklungsbezogene<br />

Fragen angewandt. Das prototypische <strong>und</strong> bekannteste<br />

Beispiel ist die Verhaltensforschung zur Prägung von Graugänsen<br />

durch Konrad Lorenz (1903–1989), der häufig als der Vater<br />

der modernen Ethologie bezeichnet wird (Lorenz 1935, 1952).<br />

Prägung ist ein Prozess, bei dem frisch geschlüpfte Vögel <strong>und</strong><br />

neugeborene Säugetiere einiger Arten be<strong>im</strong> ersten Anblick an<br />

ihre Mutter geb<strong>und</strong>en werden <strong>und</strong> ihr überallhin folgen; dieses<br />

Verhalten gewährleistet, dass sich das Junge <strong>im</strong>mer in der Nähe<br />

einer Schutz- <strong>und</strong> Nahrungsquelle aufhält. Damit Prägung erfolgt,<br />

muss das Junge seiner Mutter in einer sehr frühen kritischen<br />

Phase begegnen.<br />

Prägung – Eine Form des Lernens, die bei manchen Vogel- <strong>und</strong> Säugetierarten<br />

auftritt <strong>und</strong> insbesondere die Bindung an die Mutter unmittelbar nach der<br />

Geburt beeinflusst; bei der Bindungsprägung binden sich die Neugeborenen<br />

fest an einen erwachsenen Vertreter ihrer Art (meistens ihre Mutter) <strong>und</strong> folgen<br />

ihm überall hin.


Ökologische Entwicklungstheorien<br />

333 9<br />

..<br />

Dieses berühmte Foto zeigt Konrad Lorenz (1952) <strong>und</strong> eine Schar von<br />

Graugänsen, die auf ihn geprägt wurden <strong>und</strong> ihm überall hin folgten. Lorenz<br />

entdeckte, dass Stockenten genauer hinsehen: Sie lassen sich nur auf ihn prägen,<br />

wenn er sich hinkauert <strong>und</strong> in dieser Haltung herumkriecht <strong>und</strong> dabei<br />

die st<strong>und</strong>enlang ununterbrochen schnattert. Lorenz war ein hingebungsvoller<br />

Verhaltensforscher. (© Thomas D. McAvoy/Getty Images)<br />

Die Gr<strong>und</strong>lage der Prägung ist nicht die Mutter an sich; vielmehr<br />

sind die Neugeborenen einiger Spezies genetisch prädisponiert,<br />

dem ersten sich bewegenden Objekt mit best<strong>im</strong>mten<br />

Eigenschaften zu folgen, das sie sehen, nachdem sie zur Welt<br />

gekommen sind. Bei Hühnerküken beispielsweise wird die<br />

Prägung speziell durch den Anblick von Kopf <strong>und</strong> Halsbereich<br />

eines Vogels ausgelöst (Johnson 1992). Welchem Objekt das einzelne<br />

Neugeborene gehorsam hinterherlaufen wird, ist somit<br />

eine Frage der Erfahrung; es handelt sich hier um einen Fall<br />

von erfahrungserwartendem Lernen (▶ Kap. 3). Typischerweise<br />

handelt es sich bei dem ersten sich bewegenden Objekt, das<br />

ein Küken sieht, um seine Mutter, sodass sich alles aufs Beste<br />

zusammenfügt.<br />

Menschliche Neugeborene werden nicht „geprägt“; sie besitzen<br />

jedoch starke Tendenzen, die sie zu Mitgliedern der eigenen<br />

Spezies hinziehen. Zu den in ▶ Kap. 5 genannten Beispielen gehört<br />

eine angeborene visuelle Bevorzugung von Gesichtern, die<br />

sich, näher betrachtet, als ein Hingezogensein zu Gesichtskonturen<br />

erweist, deren obere Hälfte ausdifferenzierter ist. Selbst wenn<br />

es sich nicht um ein spezifisch menschliches Gesichtsmodell handelt,<br />

veranlasst es das Neugeborene, diesen bedeutungsvollsten<br />

Wesen in der Umwelt Aufmerksamkeit zu schenken. Wie andere<br />

Säugetiere auch orientieren sich menschliche Neugeborene an<br />

Geräuschen, Aromen <strong>und</strong> Düften, die ihnen aus dem Mutterleib<br />

vertraut sind – eine Prädisposition, die sie zu ihrer eigenen Mutter<br />

hinzieht (▶ Kap. 5). Eine der einflussreichsten Anwendungen<br />

der Ethologie auf das menschliche Verhalten, das wir in ▶ Kap. 11<br />

darlegen werden, ist Bowlbys (1969) Erweiterung des Prägungsbegriffs<br />

auf den Vorgang, durch den sich Neugeborene emotional<br />

an ihre Mutter binden.<br />

Ein weiteres Beispiel menschlichen Verhaltens, das man aus<br />

ethologischer Perspektive untersucht hat, sind Unterschiede in<br />

den Spielpräferenzen von Mädchen <strong>und</strong> Jungen. (In ▶ Kap. 15<br />

werden Sie mehr darüber erfahren.) Jungen ziehen es beispielsweise<br />

vor, mit Miniaturfahrzeugen zu spielen (Lastwagen, Autos<br />

etc.), die ein handlungsorientiertes Spielen erfordern, während<br />

Mädchen lieber mit Puppen spielen, was ein begleitendes <strong>und</strong><br />

umsorgendes Spielen erfordert. Die landläufigen Erklärungen für<br />

diese Unterschiede, die aus den Theorien des sozialen Lernens<br />

<strong>und</strong> der sozialen Kognition stammen, behaupten, dass Kinder<br />

(insbesondere Jungen) von ihren Eltern dazu ermutigt werden,<br />

mit „geschlechtsangemessenen“ Spielzeugen zu spielen, <strong>und</strong> dass<br />

die Kinder das tun, weil sie so sein wollen wie ihre Geschlechtsgenossen.<br />

Einige Forscher behaupten allerdings, dass dies nicht die<br />

ganze Wahrheit ist <strong>und</strong> evolutionär herausgebildete Prädispositionen<br />

diese geschlechtsspezifischen Vorlieben bewirken. In einer<br />

Untersuchung dazu blickten neugeborene Mädchen tatsächlich<br />

länger auf soziale St<strong>im</strong>uli – menschliche Gesichter – als auf<br />

nichtsoziale wie etwa Mobiles, während die Jungen die nichtsozialen<br />

St<strong>im</strong>uli bevorzugten (Connellan et al. 2000). Ähnlich<br />

schauten einjährige Jungen einem Video mit fahrenden Autos<br />

länger zu als einem menschlichen Gesicht mit lebhafter M<strong>im</strong>ik,<br />

während die Mädchen das Gesicht bevorzugten (Lutchmaya <strong>und</strong><br />

Baron-Cohen 2002).


334<br />

Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

..<br />

Evolutionspsychologisch betrachtet haben Geschlechterunterschiede <strong>im</strong> Spielverhalten ihren Ursprung wahrscheinlich in der Entwicklungsgeschichte der<br />

menschlichen Spezies. Jungen sind stärker zu Dominanzverhalten prädisponiert <strong>und</strong> Mädchen stärker zu Fürsorgeverhalten. (Fotos: Bernadette Berg)<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

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Evolutionspsychologie<br />

Die Evolutionspsychologie ist ein relativ neues Teilgebiet der<br />

Psychologie, das der Ethologie eng verwandt ist; sie wendet die<br />

Darwin’schen Konzepte der natürlichen Selektion <strong>und</strong> Anpassung<br />

auf das menschliche Verhalten an (Bjorkl<strong>und</strong> 2007; Geary<br />

2009). Die Gr<strong>und</strong>idee dieses Ansatzes besteht darin, dass in der<br />

Evolutionsgeschichte unserer Spezies best<strong>im</strong>mte Gene die Individuen<br />

dafür prädisponierten, sich so zu verhalten, dass sie in ihrer<br />

jeweiligen Umwelt die Adaptationsprobleme (Nahrungsgewinnung,<br />

Abwehr von Raubtieren, Herstellen sozialer Bindungen)<br />

lösen <strong>und</strong> dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöhen konnten, zu<br />

überleben, sich zu paaren <strong>und</strong> fortzupflanzen <strong>und</strong> ihre Gene an<br />

ihren Nachwuchs weiterzugeben. Diese adaptiven Gene verbreiteten<br />

sich zunehmend <strong>und</strong> wurden schließlich an den heutigen<br />

Menschen weitergegeben, sodass viele unserer heutigen Verhaltensweisen<br />

ein Vermächtnis unserer prähistorischen Vorfahren<br />

sind (Geary 2009).<br />

Eines der wichtigsten adaptiven Charakteristika der menschlichen<br />

Spezies – eines, das uns eindeutig von anderen Spezies<br />

unterscheidet – ist die (<strong>im</strong> Vergleich zur Körpergröße) beträchtliche<br />

Größe unseres Gehirns. Dafür handelten sich die Menschen<br />

eine verlängerte Phase der kindlichen Unreife <strong>und</strong> Abhängigkeit<br />

ein. Wir sind eine sich langsam entwickelnde, kopflastige<br />

Spezies (Bjorkl<strong>und</strong> <strong>und</strong> Pellegrini 2002), wie . Abb. 9.2 zeigt. In<br />

▶ Kap. 2 haben wir erwähnt, dass die Größe des weiblichen Beckens<br />

die Größe des menschlichen Gehirns bei der Geburt begrenzt.<br />

Als der heutige Mensch entstand, ermöglichte die Geburt<br />

in einem „unreiferen“ Entwicklungsstadium, als dies für andere<br />

Säugetiere charakteristisch ist, die Vergrößerung des Gehirns.<br />

Diese evolutionären Veränderungen wurden durch wachsende<br />

soziale Komplexität möglich, die notwendig ist, um hochgradig<br />

hilflosen Nachwuchs erfolgreich zu versorgen. Eine mit unseren<br />

großen Gehirnen <strong>und</strong> unserer langsamen Entwicklung zusammenhängende<br />

Folge ist unser arttypisch hohes Niveau der neuralen<br />

Plastizität, die unsere beispiellose Kapazität unterstützt,<br />

aus Erfahrungen zu lernen. Bjorkl<strong>und</strong> (1997) beleuchtete die<br />

adaptiven Vorteile unserer verlängerten Unreife <strong>und</strong> wies darauf<br />

hin, dass<br />

Gehirngröße (ml)<br />

1,300<br />

Menschen<br />

1,200<br />

1,100<br />

1,000<br />

900<br />

800<br />

700<br />

600<br />

Gorillas<br />

500<br />

Orang-Utans<br />

400<br />

300<br />

Sch<strong>im</strong>pansen<br />

200<br />

100<br />

Rhesusaffen<br />

Gibbons<br />

Lemuren<br />

0<br />

0 2 4 6 8 10 12 14<br />

Jugendphase in Jahren<br />

..<br />

Abb. 9.2 Vergleich der Gehirngrößen von Pr<strong>im</strong>aten <strong>und</strong> Mensch. Menschen<br />

sind <strong>im</strong> Vergleich zu anderen Pr<strong>im</strong>aten eine sich langsam entwickelnde,<br />

kopflastige Spezies. Je größer das Gehirn der unterschiedlichen Pr<strong>im</strong>aten<br />

ist, desto länger dauert ihre Entwicklung bis zur Geschlechtsreife. (Nach<br />

Bonner 1988)<br />

» eine verlängerte Kindheit mehr als für jede andere Spezies für<br />

Menschen notwendig ist, [die] durch Gewitztheit überleben<br />

müssen; menschliche Gemeinschaften sind komplexer <strong>und</strong><br />

verschiedenartiger als die Gemeinschaften aller anderen<br />

Arten, <strong>und</strong> dies erfordert bei Menschen nicht nur eine flexible<br />

Intelligenz, um die Konventionen ihrer jeweiligen Gesellschaft<br />

zu lernen, sondern auch viel Zeit (Bjorkl<strong>und</strong> 1997, S. 153).<br />

Viele Evolutionspsychologen sehen <strong>im</strong> Spiel, das bei den meisten<br />

Säugern zu den hervorstechendsten Verhaltensformen während<br />

der Unreifephase gehört, eine evolutionär entstandene Bühne<br />

des Lernens (Bjorkl<strong>und</strong> <strong>und</strong> Pellegrini 2002). Kinder entwickeln<br />

motorische Fertigkeiten, wenn sie mit anderen um die Wette<br />

laufen oder balgen, wenn sie Bälle oder Spielzeugpfeile werfen<br />

oder einen Fußball ins Tor schießen. Sie erproben <strong>und</strong> üben eine


Ökologische Entwicklungstheorien<br />

335 9<br />

Leibliche Väter<br />

Stiefväter<br />

500<br />

500<br />

Jährliche Mordopfer pro Million<br />

zusammenlebender Eltern-Kind-Paare<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

0<br />

0<br />

0–2 3–5 6–8 9–11 12–14 15–17 0–2 3–5 6–8 9–11 12–14 15–17<br />

Alter des <strong>Kindes</strong> (in Jahren)<br />

..<br />

Abb. 9.3 Geschätzte Häufigkeiten von <strong>Kindes</strong>tötungen durch Stiefväter <strong>im</strong> Vergleich zu leiblichen Vätern in Kanada von 1974 bis 1990. Es wird in schockierender<br />

Weise deutlich, dass Kinder, insbesondere in sehr jungem Alter, mit weit höherer Wahrscheinlichkeit vom Stiefvater ermordet werden als von ihrem<br />

leiblichen Vater. (Nach Daly <strong>und</strong> Wilson 1996)<br />

Vielzahl sozialer Rollen (▶ Kap. 7), indem sie nachspielen, was<br />

es für sie heißt, beispielsweise ein Vater, eine Mutter oder ein<br />

Polizist zu sein. Einer der größten Vorzüge des Spieles besteht<br />

darin, dass Kinder in einer weitgehend folgenlosen Situation exper<strong>im</strong>entieren<br />

können; niemandem geschieht Arges, wenn eine<br />

Babypuppe aus Versehen auf den Kopf fällt oder man mit einer<br />

Spielzeugpistole auf einen Bösewicht zielt.<br />

Um von ihrer verlängerten Kindheit zu profitieren, müssen<br />

die Kinder diese Unreifephase überleben; ihre ges<strong>und</strong>e Entwicklung<br />

erfordert, dass Eltern einen enormen Aufwand an Zeit,<br />

Energie <strong>und</strong> Ressourcen aufwenden (Bjorkl<strong>und</strong> 2007). Warum<br />

sind Eltern bereit, so viel für das Wohl ihres Nachwuchses zu<br />

opfern? Nach der Theorie der elterlichen Investition (Trivers<br />

1972) liegt eine pr<strong>im</strong>äre Motivationsquelle darin, dass die Eltern<br />

so ihre Gene <strong>im</strong> menschlichen Genpool erhalten können: Nur<br />

dann, wenn ihr Nachwuchs lange genug überlebt, werden die<br />

Gene an die nächste Generation weitergegeben.<br />

Theorie der elterlichen Investition – Eine Theorie, welche die evolutionäre<br />

Gr<strong>und</strong>lage vieler Aspekte des elterlichen Verhaltens betont, einschließlich der<br />

umfangreichen Investitionen von Eltern in ihren Nachwuchs.<br />

Die Theorie der elterlichen Investition verweist auch auf eine potenziell<br />

dunkle Stelle des evolutionären Bildes – den sogenannten<br />

Aschenputtel- oder Cinderella-Effekt. Wie . Abb. 9.3 zeigt, liegen<br />

die Schätzungen, wie oft Stiefväter Kinder töten beziehungsweise<br />

ermorden, mit denen sie zusammenleben, um ein H<strong>und</strong>ertfaches<br />

höher als bei Vätern <strong>und</strong> ihren biologischen Kindern. In<br />

Familien, in denen sowohl leibliche als auch Stiefkinder leben,<br />

richtet sich die Misshandlung von Eltern zudem meist gegen ihre<br />

Stiefkinder (Daly <strong>und</strong> Wilson 1996). Außerdem scheinen Todesfälle<br />

(wie Ertrinken) bei Kindern in Familien mit einem Stiefelter<br />

häufiger aufzutreten als bei Familien mit leiblichen Eltern, was<br />

vermuten lässt, dass Kinder in Stieffamilien weniger sorgsam<br />

behütet werden (Tooley et al. 2006). Sicherlich gibt es viele Faktoren,<br />

die zu diesen Bef<strong>und</strong>mustern beitragen; doch st<strong>im</strong>men<br />

sie mit der Theorie der elterlichen Investition gut überein: Weil<br />

die Elternschaft so aufwendig ist, lohnt es sich aus evolutionärer<br />

Sicht nicht, in Kinder zu investieren, die zur Erhaltung der eigenen<br />

Gene nichts beitragen können.<br />

Aus der evolutionstheoretischen Sicht auf Entwicklung ergibt<br />

sich <strong>im</strong>plizit, dass einschneidende Veränderungen der arttypischen<br />

Umwelt negative Folgen für den Nachwuchs haben könnten.<br />

Es gibt gute Belege für die schädlichen Wirkungen auf die<br />

Entwicklung, die durch Umweltreize bei Jungtieren <strong>und</strong> ungeborenen<br />

Tieren unterschiedlicher Arten erzeugt werden, wenn<br />

diese Reize außerhalb der normalen St<strong>im</strong>ulationsbandbreite für<br />

diese Spezies <strong>und</strong> dieses Alter liegt (z. B. Gottlieb 1992; Kenny<br />

<strong>und</strong> Turkewitz 1986). Virginiawachteln zum Beispiel erleben<br />

normalerweise kein Licht, keine visuelle St<strong>im</strong>ulation, während<br />

sie sich <strong>im</strong> Ei entwickeln. Entfernt man ein Stück Eischale, sodass<br />

während der Embryonalentwicklung Licht einfällt, so wird die<br />

normale Entwicklung gestört <strong>und</strong> das arttypische Verhalten der<br />

Jungen verändert (Lickliter 1995).<br />

Könnte dasselbe auch auf Menschen zutreffen? Die Neonatologin<br />

Heideliese Als et al. (2003) meinen, dass wir uns über diese<br />

Frage <strong>im</strong> Hinblick auf Frühgeburten Gedanken machen müssen.<br />

Wie in ▶ Kap. 2 dargelegt, hat die moderne Medizin das Überleben<br />

einer wachsenden Zahl von <strong>im</strong>mer winzigeren Frühgeburten<br />

ermöglicht. Sie verbringen ihre ersten Lebenswochen oder gar<br />

Lebensmonate in einer Umgebung, die sich radikal von der arttypischen<br />

Umwelt <strong>im</strong> Mutterleib unterscheidet. Statt weiterhin<br />

in ihrer dunklen, vergleichsweise ruhigen Umgebung reifen zu<br />

können, finden sich diese Frühchen in oft hell ausgeleuchteten<br />

Brutkästen wieder, in denen es sehr laut zugeht. Zwischen dieser<br />

atypischen Umgebung <strong>und</strong> vielen der neurologischen <strong>und</strong> Verhaltensprobleme<br />

von Frühgeborenen nach dieser Intensivpflege,<br />

sieht Als Zusammenhänge <strong>und</strong> plädiert für radikale Veränderungen<br />

der Neugeborenen-Intensivstationen, die der Umwelt<br />

<strong>im</strong> Mutterleib nachgebildet sein sollten. In den Neugeborenen-<br />

Intensivstationen an Spezialkliniken werden Beleuchtung <strong>und</strong><br />

Geräuschpegel gedämpft <strong>und</strong> die Kontinuität der elterlichen


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Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

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Nähe unterstützt (s. ▶ http://www.klinikum.uni-heidelberg.de/<br />

Fruehgeborenen-Intensivpflegestation-FIPS.102796.0.html).<br />

Im Zusammenhang mit den möglichen negativen Wirkungen<br />

von artenuntypischen Reizumgebungen sei hier an die in<br />

▶ Kap. 2 erwähnte pränatale pädagogische St<strong>im</strong>ulation erinnert.<br />

Unsere Spezies bildete sich mit einem best<strong>im</strong>mten St<strong>im</strong>ulationsgrad<br />

heraus, der dem Fetus <strong>im</strong> Uterus zugänglich ist, <strong>und</strong> ein<br />

beträchtliches Anwachsen der pränatalen St<strong>im</strong>ulation könnte<br />

durchaus negative Folgen haben.<br />

..<br />

Die Umgebung der frühgeborenen Babys auf einer Neugeborenen-<br />

Intensivstation unterscheidet sich radikal von der intrauterinen Umwelt;<br />

das Licht <strong>und</strong> die hohen Geräuschpegel sind Veränderungen, die es in der<br />

evolutionären Vergangenheit des Menschen noch nie gegeben hat <strong>und</strong> die<br />

sich schädlich auf die Entwicklung auswirken könnten. (© Fanfo/fotolia)<br />

Das bioökologische Modell<br />

Das umfassendste Modell des allgemeinen Entwicklungskontexts<br />

ist das bioökologische Modell von Urie Bronfenbrenner<br />

(Bronfenbrenner 1979; Bronfenbrenner <strong>und</strong> Morris 1998). Bronfenbrenner<br />

begreift die Umwelt als „einen Satz verschachtelter<br />

Strukturen, jede innerhalb der nächsten, wie bei russischen Puppen“<br />

(1979, S. 22). Jede Struktur stellt eine andere Ebene des Einflusses<br />

auf die Entwicklung dar (. Abb. 9.4). Das individuelle Kind<br />

mit seiner besonderen Konstellation von Merkmalen <strong>und</strong> Eigenschaften<br />

(Genen, Geschlecht, Alter, Temperament, Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Intelligenz, körperlicher Attraktivität <strong>und</strong> so weiter) befindet sich<br />

<strong>im</strong> Zentrum der verschiedenen Einflussebenen.<br />

Im Lauf der Entwicklung interagieren diese individuellen<br />

Merkmale mit den Umwelteinflüssen, die sich auf jeder der Ebenen<br />

finden. Die verschiedenen Ebenen unterscheiden sich in der<br />

Unmittelbarkeit ihrer Wirkungen, wobei Bronfenbrenner darauf<br />

abhebt, dass sich jede Ebene, vom engen Kontext der Kernfamilie<br />

eines <strong>Kindes</strong> bis zur allgemeinen Kultur, in der die Familie lebt,<br />

auf die Entwicklung des <strong>Kindes</strong> auswirkt. Man beachte, dass jede<br />

der in . Abb. 9.4 dargestellten Ebenen als ein „System“ bezeichnet<br />

wird, was die Komplexität <strong>und</strong> Verwobenheit der Abläufe auf<br />

jeder der Ebenen betonen soll. Diese Theorie ist insofern ökologisch,<br />

als sie Einflüsse auf verschiedenen Ebenen betrachtet, so<br />

wie es in der Ökologie bei anderen Lebewesen untersucht wird.<br />

Statt Bodenmikroben oder natürlichen Fressfeinden <strong>im</strong> ökologischen<br />

Kontext anderer Pflanzen- <strong>und</strong> Tierarten geht es hier um<br />

die ökologischen Systeme, die Kinder beeinflussen: von der Familie<br />

über die Nachbarschaft bis hinauf zur Regierung eines Landes.<br />

Die erste Ebene, in die das Kind eingebettet ist, ist das Mikrosystem<br />

– aus Aktivitäten, Rollen <strong>und</strong> Beziehungen, an denen<br />

das Kind <strong>im</strong> Laufe der Zeit direkt teiln<strong>im</strong>mt. Die Familie des<br />

<strong>Kindes</strong> ist eine entscheidende Komponente des Mikrosystems,<br />

deren Einfluss <strong>im</strong> Säuglingsalter <strong>und</strong> in der frühen Kindheit vorherrscht.<br />

Das Mikrosystem wird reicher <strong>und</strong> komplexer, wenn<br />

das Kind älter wird <strong>und</strong> zunehmend häufiger mit Gleichaltrigen,<br />

Lehrern <strong>und</strong> anderen Personen <strong>im</strong> Rahmen von Schule, Nachbarschaft,<br />

Sport- <strong>und</strong> anderen Freizeitvereinen, religiösen Gemeinschaften<br />

<strong>und</strong> so weiter interagiert.<br />

Mikrosystem – Im bioökologischen Modell die unmittelbare Umgebung, die<br />

ein Individuum persönlich erfährt.<br />

Bronfenbrenner betont die bidirektionale Natur aller Beziehungen<br />

innerhalb des Mikrosystems. Zum Beispiel kann sich die<br />

Ehebeziehung zwischen Eltern auf ihre Kinder auswirken, <strong>und</strong><br />

das Verhalten der Kinder kann die eheliche Beziehung beeinflussen.<br />

Eine gute, unterstützende Ehebeziehung hilft den Eltern, mit<br />

ihren Kindern sensibler <strong>und</strong> wirkungsvoller umzugehen (Cowan<br />

et al. 1998; Cox et al. 1989), aber ein chronisch schwieriges Baby<br />

kann Reibungen hervorrufen <strong>und</strong> die Beziehung zwischen den<br />

Eltern sogar beschädigen (Belsky et al. 1995).<br />

Die zweite Ebene in Bronfenbrenners Modell ist das Mesosystem,<br />

das die Verbindungen zwischen den verschiedenen<br />

Mikrosystemen wie Familie, Gleichaltrige <strong>und</strong> Schule umfasst.<br />

Unterstützende Beziehungen zwischen diesen Kontexten können<br />

dem Kind zugutekommen. Zum Beispiel wird der Schulerfolg<br />

eines <strong>Kindes</strong> erleichtert, wenn die Eltern seine Anstrengungen<br />

für die schulischen Belange wertschätzen <strong>und</strong> positiven Kontakt<br />

zu den Lehrern pflegen (Luster <strong>und</strong> McAdoo 1996; Stevenson<br />

et al. 1993) <strong>und</strong> wenn der Fre<strong>und</strong>eskreis schulische Leistungen<br />

gut findet (Steinberg et al. 1995). Wenn die Beziehungen <strong>im</strong> Mesosystem<br />

nicht unterstützend sind, werden negative Ergebnisse<br />

wahrscheinlicher.<br />

Mesosystem – Im bioökologischen Modell die Verbindungen zwischen den<br />

unmittelbaren Rahmenbedingungen des Mikrosystems.<br />

Die dritte Ebene des sozialen Kontexts, das Exosystem, umfasst<br />

Umgebungen, denen die Kinder vielleicht nicht direkt angehören,<br />

die sich aber dennoch auf ihre Entwicklung auswirken können.<br />

Der Arbeitsplatz ihrer Eltern kann Kinder beispielsweise<br />

auf vielerlei Weise beeinflussen, von der Unternehmenspolitik,<br />

was flexible Arbeitszeiten, Elternzeit <strong>und</strong> Kinderbetreuung vor<br />

Ort betrifft, bis hin zu der allgemeinen Atmosphäre, in der die<br />

Eltern arbeiten. Ob die Eltern ihrer Arbeit gern oder nur mit<br />

starker Aversion nachgehen, kann die emotionalen Beziehungen<br />

innerhalb der Familie stark beeinflussen. Selbst etwas vom Kind<br />

scheinbar so Entferntes wie die wirtschaftliche Lage des elterlichen<br />

Arbeitsgebers kann entscheidend sein: Der Verlust des<br />

Arbeitsplatzes steht beispielsweise mit elterlicher Misshandlung<br />

oder elterlicher Vernachlässigung in Zusammenhang (Emery<br />

<strong>und</strong> Laumann-Billings 1998).


Ökologische Entwicklungstheorien<br />

337 9<br />

Makrosystem<br />

Allgemeine, Ideologie, Gesetze <strong>und</strong> Bräuche in<br />

der eigenen Kultur, Subkultur oder sozialen Schicht<br />

Exosystem<br />

Erweiterte<br />

Familie<br />

Mesosystem<br />

Chronosystem<br />

(zeitbedingte<br />

Veränderungen<br />

von Person oder<br />

Umwelt)<br />

Schule<br />

Spielplatz<br />

Fre<strong>und</strong>e oder<br />

Familie<br />

Mikrosystem<br />

Nachbarn<br />

Zeit<br />

Massenmedien<br />

Familie<br />

Kind<br />

Kindertagesstätte,<br />

Kindergarten<br />

Rechtssystem<br />

Kirche, Synagoge,<br />

Moschee<br />

Gleichaltrige,<br />

Fre<strong>und</strong>e<br />

Arztpraxis<br />

Schulbehörde<br />

Arbeitsplatz<br />

Ges<strong>und</strong>heitssystem <strong>und</strong><br />

öffentliche Einrichtungen<br />

..<br />

Abb. 9.4 Das bioökologische Modell. Urie Bronfenbrenner stellt sich die Umwelt des <strong>Kindes</strong> als Zusammensetzung einer Reihe ineinandergeschachtelter<br />

Strukturen vor, zu denen das Mikrosystem (die unmittelbare Umwelt, mit der das Kind direkt interagiert), das Mesosystem (die Verbindungen, die zwischen Mikrosystemen<br />

bestehen), das Exosystem (soziale Rahmenbedingungen, an denen das Kind nicht teilhat, aber die es dennoch beeinflussen) <strong>und</strong> das Makrosystem<br />

(der allgemeine kulturelle Kontext, in den alle anderen Systeme eingebettet sind) gehören. Diese Abbildung illustriert die typische Umwelt eines <strong>Kindes</strong> in<br />

der westlichen Welt. (Nach Bronfenbrenner 1979)<br />

Exosystem – Im bioökologischen Modell Umweltbedingungen, die eine Person<br />

nicht direkt erfährt, welche die Person aber indirekt beeinflussen können.<br />

Die äußere Ebene in Bronfenbrenners Modell ist das Makrosystem,<br />

das aus den allgemeinen Überzeugungen, Werten, Bräuchen<br />

<strong>und</strong> Gesetzen der gesamten Gesellschaft besteht, in die alle<br />

anderen Ebenen eingebettet sind. Es enthält die Hauptgruppen<br />

von Kultur, Subkultur <strong>und</strong> sozialer Schicht, zu denen das Kind<br />

gehört. Kulturelle <strong>und</strong> schichtspezifische Unterschiede durchdringen<br />

nahezu jeden Aspekt des Lebens von Kindern, darunter<br />

auch die unterschiedlichen Überzeugungen, welche Eigenschaften<br />

man bei Kindern fördern sollte <strong>und</strong> auf welche Weise dies<br />

am besten gelingt.<br />

Kulturelle Einflüsse zeigen sich bereits in den frühesten Erinnerungen,<br />

die Erwachsene aus verschiedenen Teilen der Welt<br />

berichten. In einer kulturübergreifenden Studie (Wang 2006)<br />

berichteten euroamerikanische Erwachsene von Erinnerungen<br />

aus einer früheren Altersphase als beispielsweise taiwanesische<br />

Erwachsene, wobei sich diese früheren Erinnerungen auf spezifische<br />

Ereignisse <strong>und</strong> die eigene Rolle dabei zentrierten. Im<br />

Gegensatz dazu konnten die Taiwaner eher von alltäglichen Ereignissen<br />

aus der frühen Kindheit berichten, <strong>und</strong> sie betonten


338<br />

Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

1<br />

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dabei die Rolle anderer Personen bei den erinnerten Ereignissen.<br />

Vermutlich spiegeln diese Unterschiede die kulturellen Werte wider,<br />

unter deren Einfluss Eltern ihre Kinder dazu ermutigen, über<br />

etwas Best<strong>im</strong>mtes zu reden – insbesondere über sich selbst oder<br />

andere Personen.<br />

Makrosystem – Im bioökologischen Modell der größere kulturelle <strong>und</strong> soziale<br />

Kontext, in den die anderen Systeme eingebettet sind.<br />

Schließlich weist Bronfenbrenners Modell auch eine Zeitd<strong>im</strong>ension<br />

auf, die er als Chronosystem bezeichnet. In jeder Gesellschaft<br />

verändern sich die Gr<strong>und</strong>überzeugungen, Werte, Bräuche,<br />

Technologien <strong>und</strong> sozialen Lebensumstände <strong>im</strong> Laufe der Zeit,<br />

was für die Entwicklung von Kindern Folgen nach sich zieht.<br />

Beispielsweise haben Kinder heute, als Ergebnis der technischen<br />

Fortschritte, die das „digitale Zeitalter“ einleiteten, Zugang zu<br />

einer gewaltigen Menge an Information <strong>und</strong> Unterhaltung, die<br />

für frühere Generationen unvorstellbar gewesen wäre. Außerdem<br />

hängen die Wirkungen von Umweltereignissen auch noch von<br />

einer anderen Zeitvariablen ab – dem Alter des <strong>Kindes</strong>. Zum<br />

Beispiel wirkt sich die elterliche Scheidung auf Kleinkinder <strong>und</strong><br />

Pubertierende unterschiedlich aus; in beiden Altersgruppen ist<br />

das für Kinder schl<strong>im</strong>m, aber <strong>im</strong> Allgemeinen müssen nur die<br />

jüngeren Kinder mit der zusätzlichen Belastung zurechtkommen,<br />

dass sie sich selbst die Schuld an der Scheidung geben (Hetherington<br />

<strong>und</strong> Clingempeel 1992). Ein weiterer wichtiger Aspekt<br />

der Zeitd<strong>im</strong>ension, auf den wir schon verschiedentlich hingewiesen<br />

haben, betrifft die Tatsache, dass Kinder mit zunehmendem<br />

Alter eine <strong>im</strong>mer aktivere Rolle bei ihrer Entwicklung einnehmen,<br />

indem sie ihre Fre<strong>und</strong>e, Aktivitäten <strong>und</strong> Umgebungen<br />

selbst wählen. Wie ▶ Exkurs 9.2 über Aufmerksamkeitsstörungen<br />

nahelegt, kann das Chronosystem sogar ein Faktor bei Entwicklungsstörungen<br />

sein.<br />

Chronosystem – Im bioökologischen Modell die historischen Veränderungen,<br />

die sich auf die anderen Systeme auswirken.<br />

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..<br />

Auf welche unterschiedlichen Erfahrungen können Mädchen zurückgreifen,<br />

die in verschiedenen historischen Zeiten geboren wurden? Wie<br />

unterscheiden sich ihre Ausbildungs- <strong>und</strong> Berufsmöglichkeiten? oben: © Anja<br />

Groth, mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung unten: Bernadette Berg)<br />

Um die Reichhaltigkeit des bioökologischen Modells für das<br />

Nachdenken über <strong>Kindes</strong>entwicklung <strong>und</strong> ihre Erforschung zu<br />

illustrieren, werden wir drei ausführliche Beispiele behandeln,<br />

in denen die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen<br />

Ebenen des Modells besonders klar <strong>und</strong> bedeutsam sind: <strong>Kindes</strong>misshandlung,<br />

Kinder <strong>und</strong> Massenmedien sowie sozioökonomischer<br />

Status <strong>und</strong> Entwicklung.


Ökologische Entwicklungstheorien<br />

339 9<br />

Exkurs 9.2: Individuelle Unterschiede: Aufmerksamkeitsstörungen | |<br />

Viele Lern- <strong>und</strong> Verhaltensprobleme lassen<br />

sich mit Gewinn untersuchen, indem man die<br />

unterschiedlichen Ebenen des bioökologischen<br />

Modells <strong>im</strong> Blick behält. Einflüsse <strong>und</strong><br />

Interventionen auf unterschiedlichen Ebenen<br />

können es den Kindern leichter oder auch<br />

schwerer machen, ihre Probleme in den Griff<br />

zu bekommen. Ein gutes Beispiel dafür sind<br />

die Aufmerksamkeitsstörungen (wie ADHS).<br />

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts<br />

störung) – Ein Syndrom, das die Schwierigkeit<br />

mit sich bringt, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten.<br />

Die Bezeichnung Aufmerksamkeitsdefizit-<br />

Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist relativ<br />

neu, die Symptomatik ist schon seit Langem<br />

bekannt; in Deutschland wird gern auf das<br />

Beispiel des Zappelphilipps aus Struwwelpeter<br />

verwiesen. Andere Bezeichnungen sind<br />

Hyperaktivität, min<strong>im</strong>ale cerebrale Dysfunktion<br />

oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS);<br />

die Bezeichnung entstammt dem Klassifikationsmanual<br />

für psychische Störungen DSM-IV<br />

aus dem Jahre 1996. Kinder mit ADHS besitzen<br />

<strong>im</strong> Allgemeinen eine normale Intelligenz<br />

<strong>und</strong> zeigen typischerweise keine schwerwiegenden<br />

emotionalen Störungen. Es fällt<br />

ihnen jedoch schwer, an Plänen festzuhalten,<br />

Regeln <strong>und</strong> Vorschriften einzuhalten <strong>und</strong> bei<br />

Aufgaben durchzuhalten, die anhaltende<br />

Aufmerksamkeit erfordern (besonders, wenn<br />

sie die Aufgaben uninteressant finden).<br />

Viele Betroffene sind hyperaktiv, zappeln<br />

permanent herum, trommeln auf ihre Tische<br />

<strong>und</strong> laufen umher. Kinder mit ADHS haben<br />

typischerweise Probleme be<strong>im</strong> Erwerb schulischer<br />

Fähigkeiten wie Lesen <strong>und</strong> Schreiben,<br />

weil diese Fähigkeiten ihnen abverlangen,<br />

ihre Aufmerksamkeit für längere Zeiträume zu<br />

zentrieren. Vielen fällt es schwer, aggressive<br />

Reaktionen zu unterdrücken, wenn sie<br />

frustriert sind. Alle diese Symptome scheinen<br />

eine zugr<strong>und</strong>e liegende Schwierigkeit zum<br />

Ausdruck zu bringen, Handlungs<strong>im</strong>pulse zu<br />

unterdrücken beziehungsweise zu hemmen<br />

(Barkley 1997). Diese Schwierigkeit ist am<br />

stärksten, wenn interessante Ablenkungsreize<br />

vorhanden sind.<br />

Eine Analyse der Daten des Centers for<br />

Diesease Control für die Jahre 2011 <strong>und</strong> 2012<br />

lässt vermuten, dass 6,4 Mio. Kinder zwischen<br />

vier <strong>und</strong> 17 Jahren in den USA irgendwann<br />

in ihrem Leben die Diagnose ADHS erhielten.<br />

Anders ausgedrückt gab es bei etwa 11 %<br />

der amerikanischen Kinder <strong>im</strong> Schulalter<br />

die Diagnose ADHS. Das entspricht einer<br />

Zunahme von 16 % seit 2007 <strong>und</strong> sogar 41 %<br />

seit 2003. In Deutschland bewegen sich die<br />

Schätzungen zwischen 4,5 <strong>und</strong> 5,4 % (Schlack<br />

et al. 2007). Die Diagnose trifft unter den<br />

amerikanischen Schülern der Highschool<br />

20 % der Jungen <strong>und</strong> 10 % der Mädchen.<br />

Dieser bemerkenswerte Bef<strong>und</strong> ergibt sich<br />

teilweise dadurch, dass sich Jungen mit ADHS<br />

mit höherer Wahrscheinlichkeit störend<br />

verhalten als Mädchen, was dazu führt, dass<br />

sie die entsprechende Diagnose erhalten<br />

(Gaub <strong>und</strong> Carlson 1997). Ähnlich wie be<strong>im</strong><br />

Autismus (▶ Exkurs 3.1) ist unklar, inwieweit<br />

der starke Anstieg bei den ADHS-Diagnosen<br />

eine Zunahme <strong>im</strong> Auftreten dieser Aufmerksamkeitsstörung,<br />

eine wachsende Beachtung<br />

dieser Störung, veränderte Diagnosekriterien<br />

oder alles zusammen widerspiegelt.<br />

Die Ursachen für ADHS sind recht vielfältig.<br />

Eindeutig spielen genetische Faktoren eine<br />

Rolle. Wenn ein eineiiger Zwilling an ADHS<br />

leidet, stehen die Chancen bei 50 %, dass das<br />

auch für den Zwillingspartner gilt – für ihn<br />

ist das Risiko, ungefähr zehnmal höher als für<br />

Kinder allgemein (Silver 1999). Bei adoptierten<br />

Kindern ist ADHS mit ADHS bei einem biologischen<br />

Elternteil assoziiert, nicht aber bei den<br />

Adoptiveltern (Rhee et al. 1999). Tatsächlich ist<br />

die Erblichkeit bei ADHS größer als bei jeder<br />

anderen Entwicklungsstörung außer dem<br />

autistischen Störungsspektrum.<br />

Auch Umweltbedingungen <strong>im</strong> Mikrosystem<br />

beeinflussen die Entwicklung einer Aufmerksamkeitsstörung.<br />

Zum Beispiel gibt es einen<br />

Zusammenhang zwischen pränatalem Kontakt<br />

mit Alkohol, der die Gehirnentwicklung beeinträchtigen<br />

kann, <strong>und</strong> späterer Entwicklung<br />

von ADHS (Milberger et al. 1997). Auch das<br />

elterliche Verhalten ihren Kindern gegenüber<br />

kann zur frühen Entwicklung von ADHS beitragen;<br />

das zeigte sich in einer groß angelegten<br />

Untersuchung an Fünfjährigen, von denen<br />

die Hälfte bei der Geburt untergewichtig<br />

war (Tully et al. 2004). Solche untergewichtig<br />

geborenen Kinder zeigten tendenziell<br />

seltener ADHS-Symptome, wenn ihre Mütter<br />

einen besonders hohen Grad an Wärme ihnen<br />

gegenüber zum Ausdruck brachten („Er ist<br />

mein Sonnenschein“, „Sie ist meine Süße“),<br />

als die Kinder von weniger Wärme zeigenden<br />

Müttern. Allerdings lassen sich hier nur schwer<br />

einzelne Kausalzusammenhänge best<strong>im</strong>men,<br />

denn viele Entwicklungsrisiken treten, wie<br />

wir <strong>im</strong>mer wieder erwähnt haben, tendenziell<br />

gleichzeitig auf.<br />

Die derzeitige Behandlung von ADHS bezieht<br />

Vertreter des Mikrosystems (den Hausarzt), des<br />

Exosystems (die pharmazeutische Industrie)<br />

<strong>und</strong> des Makrosystems (die Regierung) mit ein.<br />

Die häufigste Behandlung von ADHS-Kindern,<br />

die Ärzte durchführen, ist das Verschreiben<br />

anregender Medikamente wie Ritalin. Es<br />

erscheint paradox, dass ein St<strong>im</strong>ulans Kindern<br />

helfen soll, die ohnehin überaktiv sind; aber<br />

Ritalin hilft etwa 70–90 % der Kinder, denen<br />

es verschrieben wird. Das liegt daran, dass <strong>im</strong><br />

Gehirn dieser Kinder tatsächlich die relevanten<br />

Systeme zu wenig Erregung aufweisen; das unruhige<br />

<strong>und</strong> manchmal abrupte Verhalten der<br />

Kinder ist ein Versuch, das Gehirn in Gang zu<br />

bringen. Unter angemessener Medikation können<br />

ADHS-Kinder ihre Aufmerksamkeit besser<br />

bündeln <strong>und</strong> sind nicht so leicht ablenkbar.<br />

Das führt zu einer verbesserten Schulleistung,<br />

besseren Beziehungen zu den Klassenkameraden<br />

<strong>und</strong> einem verringerten Aktivitätsniveau<br />

(Barbaresi et al. 2007a, 2007b).<br />

Es ist wichtig zu wissen, dass die positive<br />

Wirkung von Ritalin nur so lange anhält, wie<br />

es eingenommen wird. Für länger anhaltende<br />

Fortschritte bedarf es nicht nur der Medikation,<br />

sondern auch verhaltenstherapeutischer<br />

Maßnahmen. Dazu ergab eine groß angelegte<br />

Studie, dass die richtige medikamentöse<br />

Einstellung (mit sorgsamer Dosierung <strong>und</strong> extensiver<br />

Überwachung) zusammen mit einer<br />

intensiven Verhaltenstherapie (hier Verhaltensmodifikation<br />

<strong>im</strong> Kontext von Sport <strong>und</strong><br />

sozialen Fähigkeiten) positivere Wirkungen<br />

hatte als Medikation oder Verhaltenstherapie<br />

jeweils für sich genommen (Jensen et al.<br />

2001). Die Disziplinierungsmethoden der<br />

Eltern hatten dabei ebenfalls Einfluss auf die<br />

Wirksamkeit der in dieser Studie untersuchten<br />

Behandlung. Die ADHD-Therapie hatte<br />

insbesondere dann den größten Einfluss<br />

auf das Verhalten der Kinder, wenn deren<br />

Eltern ihr zuvor negatives oder ineffizientes<br />

Verhalten änderten. Dieser Bef<strong>und</strong> verdeutlicht,<br />

wie wichtig multiple Systemeinflüsse bei<br />

der Entwicklung von Verhalten sind. Natürlich<br />

beruht die Verfügbarkeit von Medikamenten,<br />

die ADHS-Kindern helfen, auch darauf, dass<br />

auf Seiten der pharmazeutischen Industrie die<br />

Möglichkeit gesehen wird, diese Medikamente<br />

herstellen, verkaufen <strong>und</strong> davon profitieren<br />

zu können. Entscheidend ist außerdem,<br />

dass das Arzne<strong>im</strong>ittel von den zuständigen<br />

Behörden zugelassen wird, <strong>und</strong> dies geschieht<br />

auf der Basis von klinischen Studien, die die<br />

Wirksamkeit nachweisen <strong>und</strong> die potenziellen<br />

Nebenwirkungen des Mittels best<strong>im</strong>men.<br />

Das Schicksal eines <strong>Kindes</strong>, das Medikamente<br />

braucht, hängt also von Faktoren ab, die weit<br />

außerhalb seines Einflusses <strong>und</strong> desjenigen<br />

seiner Familie liegen.<br />

Aber wären Eingriffe überhaupt vonnöten,<br />

wenn man nicht von jedem Kind erwarten<br />

würde, an den meisten Tagen einen beträchtlichen<br />

Teil der Zeit ruhig auf der Schulbank zu<br />

sitzen <strong>und</strong> sich auf Aufgaben zu konzentrieren,<br />

an denen es vielleicht kaum Interesse hat? Mit<br />

Blick auf die höchste Ebene des bioökologischen<br />

Modells – das Chronosystem – haben<br />

viele nahegelegt, dass ADHS als ein ernst zu<br />

nehmendes Problem vielleicht erst in jüngerer<br />

Zeit auf der Bildfläche erschien, genauer<br />

gesagt, seit Einführung der Schulpflicht.<br />

Vor diesem Zeitpunkt wäre ein Mensch mit<br />

Aufmerksamkeitsstörungen <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer<br />

vielleicht gut <strong>im</strong>stande gewesen, einen<br />

passenderen <strong>und</strong> weniger einengenden<br />

Entfaltungsraum anderswo zu finden, wo die<br />

Defizite keine Folgen hätten <strong>und</strong> sogar unbemerkt<br />

geblieben wären.


340<br />

Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

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Exkurs 9.2 (Fortsetzung) | |<br />

<strong>Kindes</strong>misshandlung<br />

Eine der ernstesten Bedrohungen der <strong>Kindes</strong>entwicklung ist<br />

die <strong>Kindes</strong>misshandlung, definiert als willentliches Angreifen<br />

oder Vernachlässigen, welches das Wohlbefinden von jungen<br />

Menschen unter 18 Jahren gefährdet. Im Jahr 2011 wurden in<br />

den USA schätzungsweise 681.000 Kinder gemeldet, die Opfer<br />

von <strong>Kindes</strong>misshandlung waren (U.S. Department of Health<br />

and Human Services Administration for Children and Families<br />

2012). Wie Häuser et al. (2011) berichten, entsprechen retrospektiv<br />

berichtete Häufigkeiten <strong>und</strong> Korrelationen für verschiedene<br />

Formen von Misshandlungen in Kindheit <strong>und</strong> Jugend, die an einer<br />

repräsentativen deutschen Bevölkerungsstichprobe erhoben<br />

wurden, weitgehend den Ergebnissen vergleichbarer früherer<br />

Studien in Deutschland <strong>und</strong> Amerika (Häuser et al. 2011).<br />

In den meisten Fällen geschieht die Misshandlung durch die<br />

Eltern, am häufigsten durch die Mütter. Dabei sind Mädchen <strong>und</strong><br />

Jungen zu annähernd gleichen Anteilen von <strong>Kindes</strong>misshandlung<br />

betroffen. Am höchsten ist die Misshandlungsquote bei Kindern<br />

unter einem Jahr: 2011 lag sie in Amerika bei 21,2 von 1000<br />

Kindern in dieser Altersgruppe. Und besonders tragisch: Über<br />

1500 Kinder, die meist noch keine vier Jahre alt waren, wurden<br />

von einem Elternteil oder beiden Eltern getötet. Die Anzahl der<br />

Kindstötungen in Deutschland fiel laut Todesursachenstatistik<br />

deutlich geringer aus. Im Zeitraum zwischen 2010 <strong>und</strong> 2012<br />

kamen hierzulande jährlich zwischen 32 <strong>und</strong> 52 Kinder unter<br />

10 Jahren durch einen tätlichen Angriff ums Leben. In Übereinst<strong>im</strong>mung<br />

mit dem bioökologischen Modell erwiesen sich eine<br />

Vielzahl von Faktoren als an den Ursachen <strong>und</strong> Folgen de <strong>Kindes</strong>misshandlung<br />

beteiligt: Eigenschaften des <strong>Kindes</strong>, der Eltern<br />

<strong>und</strong> des sozialen Umfelds.<br />

<strong>Kindes</strong>misshandlung – Vernachlässigung oder absichtlicher Missbrauch, die<br />

das Wohlbefinden von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen unter 18 Jahren beeinträchtigen<br />

oder gefährden..<br />

Ursachen von Misshandlung<br />

Auf der Ebene des Mikrosystems erhöhen best<strong>im</strong>mte Merkmale<br />

der Eltern das Misshandlungsrisiko (Emery <strong>und</strong> Laumann-<br />

Billings 1998). Dazu zählen niedrige Selbstachtung, stark negative<br />

Reaktionen auf Stress <strong>und</strong> schlechte Impulskontrolle.<br />

..<br />

Die kurze Aufmerksamkeitsspanne von Kindern mit einer Aufmerksamkeitsstörung<br />

führt sie häufig dazu, nicht nur sich selbst, sondern<br />

auch andere Kinder in der Klasse zu stören. (© David Young-Wolff/<br />

Photoedit)<br />

Auch Alkohol- <strong>und</strong> Drogenabhängigkeit der Eltern erhöhen<br />

die Wahrscheinlichkeit von Misshandlungen, ebenso eine von<br />

Misshandlung gekennzeichnete Ehebeziehung: Mütter, die von<br />

ihren Partnern misshandelt werden, geben die Misshandlung<br />

mit größerer Wahrscheinlichkeit an ihre Kinder weiter. Zusätzlich<br />

machen es best<strong>im</strong>mte Merkmale des <strong>Kindes</strong> wahrscheinlicher,<br />

dass ihre Eltern ihnen gegenüber tätlich werden; zu diesen<br />

Merkmalen gehören niedriges Geburtsgewicht, körperliche oder<br />

geistige Behinderungen <strong>und</strong> ein schwieriges Temperament (z. B.<br />

Bugental <strong>und</strong> Happaney 2004).<br />

Häufig hängt <strong>Kindes</strong>misshandlung mit zusätzlichen Faktoren<br />

<strong>im</strong> Meso- <strong>und</strong> <strong>im</strong> Exosystem zusammen, die den elterlichen<br />

Stress erhöhen. Viele dieser Faktoren sind mit geringem Familieneinkommen<br />

verb<strong>und</strong>en. Zu diesen Faktoren zählen hohe Arbeitslosigkeit,<br />

unangemessene Wohnverhältnisse <strong>und</strong> häusliche<br />

Gewalt <strong>im</strong> Wohnumfeld (Emery <strong>und</strong> Laumann-Billings 1998;<br />

Lynch <strong>und</strong> Cicchetti 1998).<br />

Besonders wichtige Risikofaktoren <strong>im</strong> Exosystem sind bei<br />

der <strong>Kindes</strong>misshandlung oft die soziale Isolation der Familie<br />

<strong>und</strong> der Mangel an sozialer Unterstützung (was in einkommensschwachen<br />

Familien häufiger ist). Eine solche Isolation kann viele<br />

Gründe haben – Misstrauen gegenüber anderen Menschen, Mangel<br />

an sozialen Fähigkeiten, die zum Aufrechterhalten positiver<br />

Beziehungen notwendig sind, häufiges Umziehen von einem Ort<br />

zum anderen aufgr<strong>und</strong> ökonomischer Faktoren <strong>und</strong> das Leben<br />

in einer Gemeinschaft, die von Gewalt <strong>und</strong> Unverbindlichkeit<br />

gekennzeichnet ist. Wie wichtig die soziale Unterstützung ist,<br />

zeigt sich darin, dass verarmte Eltern ihre Kinder weniger wahrscheinlich<br />

misshandeln, wenn sie in einer Nachbarschaft leben,<br />

in der Gemeinschaftsgeist vorherrscht, mit Nachbarn, die sich<br />

umeinander kümmern <strong>und</strong> einander helfen (Belsky 1993; Coulton<br />

et al. 1995; Garbarino <strong>und</strong> Kostelny 1992).<br />

Folgen von Misshandlung<br />

Die Folgen von <strong>Kindes</strong>misshandlung manifestieren sich pr<strong>im</strong>är<br />

<strong>im</strong> Mikrosystem (auch wenn sie sich auch auf Faktoren <strong>im</strong> Mesosystem<br />

<strong>und</strong> manchmal selbst <strong>im</strong> Exosystem ausweiten <strong>und</strong><br />

umgekehrt von Faktoren dieser Systeme moderiert werden, beispielsweise<br />

durch Gesetze <strong>und</strong> Institutionen zum Kinderschutz).<br />

Im Vergleich zu anderen Kindern haben misshandelte Kinder


Ökologische Entwicklungstheorien<br />

341 9<br />

Exkurs 9.3: Anwendungen: Prävention von <strong>Kindes</strong>misshandlung | |<br />

Angesichts der Vielzahl von Faktoren, die<br />

zur <strong>Kindes</strong>misshandlung beitragen, ist die<br />

Prävention oder Abhilfe bei diesem Problem<br />

überaus schwierig. Ein vielversprechendes<br />

Interventionsprogramm wurde in den USA für<br />

die Intervention auf Mikrosystemebene entwickelt,<br />

<strong>im</strong> Rahmen eines aus amerikanischen<br />

B<strong>und</strong>esmitteln auf der Makrosystemebene<br />

geförderten Forschungsprojekts.<br />

Das Programm, das auf einem sozial-kognitiven<br />

Ansatz beruht, wurde von Daphne<br />

Bugental <strong>und</strong> ihrem Team entworfen <strong>und</strong><br />

<strong>im</strong>plementiert, nachdem sie herausgef<strong>und</strong>en<br />

hatten, dass viele misshandelnde Eltern ein<br />

unangemessenes Bild von ihren Beziehungen<br />

zu ihren Kindern haben. Sie neigen dazu, sich<br />

<strong>und</strong> ihre Kinder in einem Machtkampf zu sehen,<br />

bei dem sie sich selbst als die Opfer sehen<br />

(Bugental et al. 1989; Bugental <strong>und</strong> Happaney<br />

2004). So könnten diese Eltern das anhaltende<br />

Schreien ihres Babys als Hinweis deuten, dass<br />

das Baby wütend auf sie ist oder ein vorenthaltenes<br />

Spielzeug oder Leckerli erzwingen will<br />

<strong>und</strong> dabei absichtlich ihre elterliche Autorität<br />

zu untergraben versucht.<br />

Ziel des Programms war es, solchen Eltern,<br />

die Gefahr laufen, ihre Kinder zu misshandeln,<br />

realistischere Erklärungsmodelle für ihre<br />

Schwierigkeiten be<strong>im</strong> Versorgen ihrer Kinder<br />

anzubieten (Bugental et al. 2002). Wie in<br />

▶ Kap. 2 erwähnt, ist das Risiko, misshandelt<br />

zu werden, bei einigen Kindern besonders<br />

hoch, beispielsweise bei Frühgeborenen oder<br />

Kindern, die mit medizinischen Komplikationen<br />

auf die Welt kamen <strong>und</strong> deshalb<br />

besondere Herausforderungen an die Eltern<br />

stellen. Zur Intervention gehörten häufige<br />

Hausbesuche, bei denen man die Eltern nach<br />

Beispielen für jüngst aufgetretene Probleme<br />

mit den Kindern fragte sowie ihre Meinung<br />

nach der Ursache der Auseinandersetzung<br />

einholte. Dann wurden sie angeleitet, Ursachen<br />

zu finden, die keinen Vorwurf an das Kind<br />

enthielten (also etwas anderes als ein absichtliches<br />

Fehlverhalten des <strong>Kindes</strong> beinhalteten),<br />

<strong>und</strong> sich mögliche Strategien zur Lösung des<br />

Problems auszudenken.<br />

Ein besonders wichtiger Faktor bei der Evaluation<br />

dieses Programms war, dass die Risikofamilien<br />

nach dem Zufallsprinzip der Interventionsbedingung<br />

<strong>und</strong> zwei Kontrollbedingungen<br />

zugeordnet wurden, um auszuschließen, dass<br />

unterschiedliche Ergebnisse auf auswahlbedingten<br />

Unterschieden zwischen den Gruppen<br />

beruhen.<br />

Das Programm war bemerkenswert erfolgreich;<br />

in der Interventionsgruppe herrschte körperliche<br />

Misshandlung nur in 4 % der Fälle vor, verglichen<br />

mit r<strong>und</strong> 25 % in den beiden Kontrollgruppen.<br />

Dieses Interventionsprogramm, das<br />

sich auf die Mikrosystemebene richtete, legt<br />

nahe, dass Familienbetreuungsprogramme,<br />

welche die kognitiven Interpretationen der<br />

Eltern gezielt modifizieren, ein hohes Potenzial<br />

zur Prävention körperlicher Misshandlungen<br />

besitzen. Zudem investierten die Eltern mehr<br />

Fürsorge in ihre (frühgeborenen) Risikokinder<br />

(Bugental et al. 2010), was mit der Theorie der<br />

elterlichen Investition in Einklang steht, die wir<br />

in diesem Kapitel in Zusammenhang mit der<br />

Evolutionspsychologie behandelt haben. Je<br />

besser die Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder<br />

verstehen lernten, desto mehr investierten<br />

sie anschließend in ihre Kinder, die daraufhin<br />

ges<strong>und</strong>heitlich besser gediehen.<br />

..<br />

© Bob Kalman /Image Works<br />

weniger sichere Beziehungen zu ihren Eltern, sie zeigen weniger<br />

Einfühlungsvermögen in andere Menschen <strong>und</strong> haben eine<br />

geringere Selbstachtung (Cicchetti <strong>und</strong> Toth 1998; Main <strong>und</strong><br />

George 1985; Smith <strong>und</strong> Walden 1999). In der Gr<strong>und</strong>schule sind<br />

misshandelte Kinder aggressiver <strong>und</strong> haben mehr Konflikte mit<br />

ihren Mitschülern (Bolger <strong>und</strong> Patterson 2001; McCloskey <strong>und</strong><br />

Stuewig 2001). In den folgenden Jahren haben sie mehr Mühe,<br />

Fre<strong>und</strong>schaften aufrechtzuerhalten (Parker <strong>und</strong> Herrera 1996;<br />

Rogosch et al. 1995; Salzinger et al. 2001). In der Schule sind<br />

misshandelte Kinder oft verunsichert <strong>und</strong> unaufmerksam <strong>und</strong><br />

<strong>im</strong> Übermaß abhängig von Lob <strong>und</strong> Unterstützung ihrer Lehrer.<br />

Mehr als doppelt so oft wie andere Kinder verfehlen sie das Klassenziel<br />

(Eckenrode et al. 1993; Erickson et al. 1989).<br />

Wir können die Folgen von Misshandlung auch auf einer<br />

noch tieferen Mikroebene untersuchen. Wir haben <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit dem feindlichen Attributionsfehler bereits erläutert,<br />

dass Kinder, die Opfer von körperlichen Misshandlungen<br />

wurden, tendenziell stärker auf Anzeichen von Ärger reagieren.<br />

Das lässt sich an ihrem Verhalten ebenso beobachten wie an den<br />

Reaktionen des Gehirns, etwa bei ereigniskorrelierten Potenzialen<br />

(z. B. Pollak et al. 1997), oder an körperlichen Reaktionen wie<br />

insbesondere Herzrate <strong>und</strong> Hautwiderstand (Pollak et al. 2005).<br />

Diese Reaktionen auf emotionale Hinweise sind in vielen sozialen<br />

Situationen vielleicht nicht adaptiv, weil die Kinder sie falsch<br />

deuten <strong>und</strong> überreagieren, aber aus ökologischer Sicht könnte<br />

die übermäßige Aufmerksamkeit für negative Emotionen hochgradig<br />

adaptiv sein, wenn Kinder in einer von Bedrohung <strong>und</strong><br />

Gewalt geprägten Umgebung aufwachsen. Wenn man die Reaktionen<br />

der Kinder auf ihre Umgebung jeweils kontextbezogen als<br />

adaptiv bzw. nichtadaptiv betrachtet, kann die ökologische Perspektive<br />

helfen zu verstehen, warum Misshandlung zu einer best<strong>im</strong>mten<br />

Konstellation von Folgen führt <strong>und</strong> welche Interventionen<br />

am wirksamsten sind (z. B. Frankenhuis <strong>und</strong> de Weerth<br />

2013). Natürlich wäre es ideal, wenn sich <strong>Kindes</strong>misshandlung<br />

generell aus der Welt schaffen ließe. Einen vielversprechenden<br />

Ansatz, <strong>Kindes</strong>misshandlung zu verhindern, zeigt ▶ Exkurs 9.3<br />

für ein amerikanisches Interventionsprogramm. In Deutschland<br />

organisiert die Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe entsprechend den Vorgaben<br />

der Sozialgesetzgebung Betreuung von Familien über die<br />

Jugendämter, Familienberatungsstellen <strong>und</strong> Sozialdienste (zur<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe auch in akuten Notfällen bietet das<br />

B<strong>und</strong>esministerium für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend<br />

<strong>im</strong> Internet über die Broschürenstelle aktuelle Informationen).<br />

Kinder <strong>und</strong> Medien. Das Gute, das Schlechte<br />

<strong>und</strong> das Schreckliche<br />

Ein weiteres gutes Beispiel für die unterschiedlichen bioökonomischen<br />

Ebenen, in die die <strong>Kindes</strong>entwicklung eingebettet ist,<br />

sind die Medieneinflüsse durch Fernsehen, Kinofilme, Computerspiele<br />

<strong>und</strong> Popmusik. Im bioökologischen Modell gehören


342<br />

Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

1<br />

2<br />

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die Massenmedien zum Exosystem. Sie sind aber, wie bereits<br />

erwähnt, auch Einflüssen des Chronosystems unterworfen <strong>und</strong><br />

unterliegen auch Einflüssen des Makrosystems, zu dem etwa<br />

kulturelle Werte <strong>und</strong> Politik gehören. Schließlich haben Faktoren<br />

des Exosystems (etwa Einkommensverhältnisse) sowie des<br />

Mikrosystems (wie elterliche Kontrolle innerhalb der Familie)<br />

Einfluss darauf, welche Wirkungen Medien entfalten. Alle diese<br />

Faktoren sind jederzeit <strong>im</strong> Spiel, wenn Kinder sie einschalten<br />

oder hochladen.<br />

Früher, als sich die Zeit vor dem Bildschirm größtenteils auf<br />

das Fernsehen beschränkte, erwiesen sich einige pädagogisch<br />

orientierte Fernsehprogramme für kleine Kinder als förderlich<br />

(Huston <strong>und</strong> Wright 1998). Am bemerkenswertesten waren die<br />

Wortschatzzuwächse kleiner Kinder durch die Sendungen der<br />

Sesamstraße, die auf den Schuleintritt vorbereiten. Und einige der<br />

positiven Wirkungen hielten sogar die Highschool-Zeit hindurch<br />

an (Anderson et al. 2001; Rice et al. 1990). Allerdings hat sich bei<br />

einigen neueren Lern-DVDs für Babys eine negative Wirkung auf<br />

die Sprachentwicklung gezeigt (▶ Exkurs 6.3).<br />

Inzwischen sind Bildschirme von den Wohnz<strong>im</strong>mern über<br />

die Schlafz<strong>im</strong>mer bis in die Taschen der Kinder vorgedrungen<br />

<strong>und</strong> die Sorgen über die viele Zeit am Bildschirm gewachsen.<br />

US-amerikanische Kinder verbringen heutzutage mehr Zeit mit<br />

Bildschirmmedien als mit jeder anderen Aktivität außer Schulbesuch<br />

<strong>und</strong> Schlafen. Das ergab eine Umfrage zum Medienkonsum<br />

in Haushalten mit Kindern zwischen zwei <strong>und</strong> 17 Jahren,<br />

die in den USA b<strong>und</strong>esweit von der Kaiser Family Fo<strong>und</strong>ation<br />

durchgeführt wurde (Rideout et al. 2010). Der Medienkonsum<br />

n<strong>im</strong>mt unglaublich schnell zu. So schnellte die tägliche Bildschirmzeit<br />

bei Acht- bis 18-Jährigen von <strong>im</strong> Mittel 6 h 25 min <strong>im</strong><br />

Jahr 2005 auf 7 h 38 min <strong>im</strong> Jahr 2010 hoch. In diesem Zeitraum<br />

stieg die Nutzung bei allen elektronischen Medien an, besonders<br />

durch die sozialen Netzwerke (▶ Exkurs 13.2), die Möglichkeit<br />

zeitversetzten Fernsehens (unabhängig von festen Sendezeiten<br />

<strong>im</strong> Fernsehprogramm) <strong>und</strong> die explosionsartige Vermehrung<br />

mobiler elektronischer Geräte. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts<br />

Pew ergab 2012, dass 37 % der amerikanischen<br />

Teenager Smartphones haben <strong>und</strong> 23 % einen Tablet-Computer<br />

besitzen (Madden et al. 2013). Drei Viertel der Teenager nutzen<br />

ihre mobilen Geräte für den Zugang zum Internet. Auch jüngere<br />

Kinder tauchen in diese Medienwelt ein: Kinder unter sechs<br />

Jahren verbringen mehr Zeit mit Unterhaltungselektronik, als<br />

sie für Lesen, Zuhören be<strong>im</strong> Vorlesen <strong>und</strong> Spielen <strong>im</strong> Freien<br />

zusammengenommen verwenden (Rideout et al. 2010).<br />

Bedenken in Bezug auf den Medienkonsum<br />

von Kindern<br />

Das Wesen <strong>und</strong> das Ausmaß kindlichen Medienkonsums wecken<br />

viele Bedenken, die von möglichen Auswirkungen der in den<br />

Medien gezeigten Gewalt <strong>und</strong> Pornografie bis zu Befürchtungen<br />

<strong>im</strong> Hinblick auf Isolation <strong>und</strong> Untätigkeit reichen.<br />

Gewalt in den Medien Bei den vorgebrachten Bedenken<br />

steht vor allem die Befürchtung <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong>, dass eine regelmäßige<br />

Portion an Gewaltszenen in Fernsehsendungen, Computerspielen<br />

<strong>und</strong> Liedertexten die Kinder gewalttätig machen<br />

könnte. Die Befürchtung entstand ursprünglich aus dem Faktum,<br />

dass es <strong>im</strong> Fernsehen eine Flut von Gewaltszenen gibt. Die<br />

umfassende National Television Violence Study berichtete, dass<br />

61 % aller Fernsehsendungen zwischen 1994 <strong>und</strong> 1997 Gewaltepisoden<br />

enthielten (Wilson et al. 1997). Und die Gewalt hat sich<br />

bei den sechs größten amerikanischen TV-Sendern in den Jahren<br />

2005 <strong>und</strong> 2006 auf ein Niveau von 4,4 Gewaltakten pro St<strong>und</strong>e<br />

während der Hauptsendezeiten erhöht (Parents Television Council<br />

2007). Zudem wird Aggression in Fernsehsendungen meist<br />

glorifiziert oder bagatellisiert, wobei die von den Helden ausgeübte<br />

Gewalt selten bestraft oder verurteilt wird.<br />

Ausführliche Überblicksartikel über die kaum überschaubare<br />

Menge an Forschungsarbeiten zu diesem Thema führten<br />

die Forscher zu dem Schluss, dass die wissenschaftliche Debatte,<br />

ob Gewaltdarstellung in den Medien Aggression <strong>und</strong> Gewalt<br />

anheizt, vorüber ist. Die Bef<strong>und</strong>e belegen klar, dass Gewalt in<br />

den Medien negative Auswirkungen auf die Kinder hat. Dazu<br />

gab die Pressestelle der American Academy of Pediatrics 2009<br />

die folgende Erklärung ab: „Die Forschung über gewalthaltige<br />

Fernsehsendungen <strong>und</strong> Filme, Videospiele <strong>und</strong> Musik lieferte<br />

den eindeutigen Beweis, dass Gewalt in den Medien die Wahrscheinlichkeit<br />

aggressiven <strong>und</strong> gewalttätigen Verhaltens erhöht,<br />

<strong>und</strong> dies sowohl in den unmittelbaren als auch in langfristigen<br />

Kontexten.“<br />

Die Gewalt in den Medien wirkt auf vier verschiedenen Wegen<br />

(Anderson et al. 2003):<br />

1. Das Sehen von Schauspielern, die sich aggressiv betätigen,<br />

lehrt aggressive Verhaltensweisen <strong>und</strong> regt zur Imitation an.<br />

2. Das Zuschauen bei Gewalthandlungen aktiviert <strong>im</strong> Betrachter<br />

eigene aggressive Gedanken, Gefühle <strong>und</strong> Neigungen.<br />

Diese Verstärkung eigener Einstellungen zu Aggression <strong>und</strong><br />

Gewalt macht es wahrscheinlicher, dass ein Zuschauer später<br />

neue Ereignisse als aggressives Verhalten interpretiert<br />

<strong>und</strong> darauf aggressiv reagiert. Wenn Gewaltassoziationen<br />

häufig aktiviert werden, dann können sie Bestandteil des<br />

normalen inneren Zustands des betreffenden Menschen<br />

werden.<br />

3. Gewalt in den Medien wirkt auf die meisten Jugendlichen<br />

aufregend <strong>und</strong> st<strong>im</strong>ulierend, <strong>und</strong> ihr erhöhter physiologischer<br />

Aktiviertheitsgrad lässt sie unmittelbar nach dem Anschauen<br />

von Gewalt in Filmen eher gewalttätig auf Provokationen<br />

reagieren.<br />

4. Das langfristige Konsumieren von Gewalt in den Medien<br />

führt allmählich zu emotionaler Abstumpfung – einem Absinken<br />

des Grades an unangenehmer physiologischer Aktiviertheit,<br />

wie sie die meisten Menschen be<strong>im</strong> Beobachten<br />

von Gewalt empfinden. Weil diese Art des Aktiviertseins<br />

normalerweise gewalttätiges Verhalten hemmen hilft, kann<br />

emotionale Desensibilisierung gewaltförmiges Denken <strong>und</strong><br />

Verhalten wahrscheinlicher machen.


Ökologische Entwicklungstheorien<br />

343 9<br />

..<br />

Die verbreitete Praxis, einen Großteil der Zeit mit Fernsehen zu verbringen<br />

<strong>und</strong> dabei Snacks mit hohem Fettgehalt zu konsumieren, erhöht die Wahrscheinlichkeit<br />

kindlicher Fettleibigkeit. (© Donna Day/Getty Images)<br />

..<br />

Forscher kamen zu dem Schluss, dass das Zuschauen bei Gewalt in den<br />

Medien das Auftreten von Aggression <strong>und</strong> gewalttätigem Verhalten erhöht.<br />

(© Edouard Berne/Getty Images)<br />

Körperliche Untätigkeit Eine weitere Befürchtung hat damit zu<br />

tun, dass ein Kind, das sich vom Fernseh- oder Computerbildschirm<br />

nicht losreißen kann, wenig <strong>im</strong> Freien spielt oder sich<br />

anderweitig körperlich betätigt <strong>und</strong> trainiert. Darüber hinaus<br />

enthalten die Tausende von Werbespots <strong>im</strong> Fernsehen, mit denen<br />

man die Kinder bombardiert (zu Werbungskosten von Milliarden<br />

US-Dollar jährlich), zum Großteil Werbung für zuckerhaltige<br />

Getreideprodukte, Süßigkeiten <strong>und</strong> Fast-Food-Restaurants. Die<br />

mit dem Computergebrauch <strong>und</strong> dem Fernsehen verb<strong>und</strong>ene<br />

sitzende Lebensweise, kombiniert mit dem Ansturm von Werbespots,<br />

die zum Verzehr zucker- <strong>und</strong> fetthaltiger Lebensmittel<br />

ermuntern, hat man mit dem seit Kurzem zu verzeichnenden<br />

Anstieg kindlicher Fettleibigkeit in Zusammenhang gebracht,<br />

den wir in ▶ Kap. 3 diskutiert haben. Und wenn ein Kind einen<br />

Fernsehapparat in seinem Z<strong>im</strong>mer hat – was bei über 70 % der<br />

acht bis 18 Jahre alten Kinder der Fall ist (Rideout et al. 2010) –,<br />

dann steigt das Risiko der Fettleibigkeit um 31 %.<br />

Einfluss auf schulische Leistungen Einer Studie der Kaiser Family<br />

Fo<strong>und</strong>ation zufolge gibt es einen engen Zusammenhang<br />

zwischen dem Umfang des Medienkonsums <strong>und</strong> den schulischen<br />

Leistungsbewertungen (Rideout et al. 2010). Kinder mit extremem<br />

Fernsehkonsum (über mehr als 16 h am Tag) berichten<br />

viel öfter von schlechten Schulabschlüssen (schlechter als C in<br />

der amerikanischen Einstufung) als Kinder mit etwas weniger<br />

Fernsehkonsum (von 3–16 h täglich) oder geringem Fernsehkonsum<br />

(unter 3 h täglich). Natürlich gibt es viele andere Faktoren,<br />

die be<strong>im</strong> Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum <strong>und</strong><br />

Schulabschlüssen <strong>im</strong> Spiel sind: beispielsweise mangelnde elterliche<br />

Betreuung oder ein familiäres Umfeld, in dem Lesen <strong>und</strong><br />

Schularbeiten auch von den Eltern zugunsten von Fernsehen<br />

zurückgestellt werden.<br />

Allerdings gibt es eine raffiniert konzipierte Studie, die einen<br />

kausalen Zusammenhang zwischen Videospielen <strong>und</strong> Schulabschlüssen<br />

nachweisen konnte (Weis <strong>und</strong> Cerankosky 2010).<br />

Dabei wurden Jungen von der ersten bis zur dritten Schulklasse<br />

untersucht, die keine Videospielkonsolen besaßen <strong>und</strong> nach dem<br />

Zufallsprinzip in zwei Gruppen aufgeteilt wurden: eine Gruppe,<br />

die zu Beginn der Untersuchung eine Videokonsole bekam, <strong>und</strong><br />

eine, die die Konsole nach Abschluss der Studie erhielt (aus Gerechtigkeitsgründen).<br />

Die Jungen, die sofort eine Videokonsole<br />

hatten, verbrachten danach außerhalb der Schulzeiten weniger<br />

Zeit mit Schulaufgaben als die Jungen in der Vergleichsgruppe,<br />

<strong>und</strong> sie schnitten nach vier Monaten in Schreiben <strong>und</strong> Lesen<br />

schlechter ab <strong>und</strong> hatten auch nach Angaben der Lehrer mehr<br />

schulische Probleme als die Jungen in der Vergleichsgruppe. Diejenigen<br />

Jungen, die am meisten Zeit mit Videospielen verbracht<br />

hatten, waren in ihren Schulleistungen am schwächsten.<br />

Soziale Ungleichheit Eine weitere Sorge betrifft die sozioökonomischen<br />

Ungleichheiten, die sich durch eine „digitale<br />

Trennung“ vergrößern könnten – weil die ungleichen Zugangsmöglichkeiten<br />

zu Computern <strong>und</strong> ihrer Benutzung eine<br />

Funktion des ungleichen sozioökonomischen Status sind. In der<br />

Schule haben die meisten Kinder in gewissem Umfang Zugang<br />

zu Computern, aber es gibt große Unterschiede zwischen Familien<br />

aus unteren <strong>und</strong> höheren Schichten, was die Verfügbarkeit


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Kapitel 9 • Theorien der sozialen Entwicklung<br />

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von Computern <strong>im</strong> Elternhaus betrifft. Privilegiertere Familien<br />

besitzen häufig neuere, leistungsfähigere Computer <strong>und</strong> mehr als<br />

einen. Kinder aus besser situierten Familien können also viel eher<br />

Computer für die Hausaufgaben <strong>und</strong> den Zugang zum Internet<br />

nutzen als Kinder aus ärmeren Familien. Die Ungleichheit be<strong>im</strong><br />

Zugang zu Computern ist innerhalb der Schulen weniger extrem,<br />

in denen Computer auch in ärmeren Wohnbezirken für Schüler<br />

bereitgestellt werden.<br />

Pornografie Eine ernste Befürchtung vieler Eltern ist, dass<br />

Kinder <strong>im</strong> Fernsehen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Internet mit Pornografie in Berührung<br />

kommen könnten, sei es nun versehentlich oder mit Absicht.<br />

Wegen der leichten Zugänglichkeit ist die Online-Pornografie besonders<br />

problematisch. Amerikanische Kinder kommen <strong>im</strong> Alter<br />

von durchschnittlich elf Jahren erstmals mit Pornografie <strong>im</strong> Netz<br />

in Berührung (Ropelato 2009). Die Forschungsbef<strong>und</strong>e lassen<br />

vermuten, dass das Anschauen von Pornografie bei Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen dazu führt, dass sie die Gewalt gegen Frauen eher<br />

tolerieren <strong>und</strong> vor- <strong>und</strong> außerehelichen Geschlechtsverkehr eher<br />

akzeptieren (Greenfield 2004).<br />

Besonders bedenklich ist Pornografie mit Kindern in den<br />

Hauptrollen. Kinderpornografie ist eine Multi-Milliarden-<br />

Dollar-Industrie <strong>und</strong> gehört zu den am schnellsten wachsenden<br />

Kr<strong>im</strong>inalitätsbereichen <strong>im</strong> Internet (Federal Bureau of Investigation,<br />

o.J.). Heutzutage nutzen Pädophile für gewöhnlich das<br />

Internet einschließlich Chatrooms, um gesetzeswidrige Fotos von<br />

Kindern auszutauschen <strong>und</strong> Kinder in sexuelle Beziehungen zu<br />

locken.<br />

Die wirksamsten Waffen gegen die verschiedenen negativen<br />

Wirkungen der Massenmedien auf Kinder bieten sich an auf der<br />

Ebene des Mikrosystems – Eltern können den Zugang ihrer Kinder<br />

zu unerwünschten Medien kontrollieren – <strong>und</strong> auf der Ebene<br />

des Makrosystems – mit Vorschriften <strong>und</strong> Gesetzen lassen sich<br />

die negativen Auswüchse der Massenmedien beschränken, mit<br />

denen Kinder Umgang haben. Die Belange freier Meinungsäußerung<br />

<strong>und</strong>, <strong>im</strong> Fall der Internetpornografie, die globale Struktur<br />

des Problems machen eine wirksame Kontrolle allerdings<br />

schwierig.<br />

Sozioökonomischer Status <strong>und</strong> Entwicklung<br />

Wie schon mehrfach betont, hat der sozioökonomische Status<br />

der Familie eine tiefgreifende Wirkung auf die <strong>Kindes</strong>entwicklung.<br />

Diese Wirkungen entstehen auf jeder Ebene des bioökologischen<br />

Modells. Im Mikrosystem sind die Kinder von Wohnverhältnissen<br />

ihrer Familien <strong>und</strong> von ihrer Nachbarschaft mit<br />

betroffen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Mesosystem vom Zustand ihrer Schule <strong>und</strong><br />

der Qualität ihrer Lehrer. Zu den Exosystemeinflüssen gehört<br />

die Art der elterlichen Arbeitsstelle beziehungsweise Arbeitslosigkeit.<br />

Makrosystemfaktoren sind unter anderem die Regierungspolitik,<br />

die auf den Arbeitsmarkt wirkt <strong>und</strong> Programme<br />

wie Head Start ins Leben ruft, das auf einkommensschwache<br />

Familien abgest<strong>im</strong>mt ist.<br />

Durch die strukturellen Veränderungen, denen der Arbeitsmarkt<br />

<strong>im</strong> Lauf der Zeit unterworfen ist, kommen auch<br />

Chronosystemfaktoren ins Spiel. So sinkt zum Beispiel in den<br />

Vereinigten Staaten seit vielen Jahren die Anzahl gut bezahlter<br />

Fabrikarbeitsplätze, <strong>und</strong> die sprunghaft zunehmende Arbeitslosigkeit<br />

führt zur Verwahrlosung ganzer Kommunen. Wegen der<br />

sinkenden Steuereinnahmen verfügen diese Kommunen über<br />

geringere Mittel für die Ausstattung von Schulen, Spielplätzen<br />

<strong>und</strong> anderen für Kinder in der Entwicklung wichtigen kommunalen<br />

Ressourcen.<br />

Die nachhaltigen Wirkungen der Armut<br />

In vielen Zusammenhängen haben wir in diesem Buch <strong>im</strong>mer<br />

wieder auf einige Faktoren hingewiesen, die für die Entwicklung<br />

von Kindern, die in Armut leben, enorme Auswirkungen haben.<br />

Die von uns erwähnten Faktoren sind jedoch nur die Spitze<br />

des Eisbergs. . Tabelle 9.1 listet ein breites Spektrum der Unterschiede<br />

in der Umwelt armer <strong>und</strong> wohlhabender Kinder in den<br />

Vereinigten Staaten auf (zusammengefasst aus Evans 2004). Viele<br />

der Bereiche in der Tabelle werden Ihnen vertraut sein, andere<br />

haben Sie vielleicht noch nie in Betracht gezogen. Machen Sie<br />

einmal Gedanken darüber, wie diese verschiedenartigen Aspekte<br />

verarmter Umwelten miteinander interagieren <strong>und</strong> was ihre kumulierte<br />

Wirkung sein könnte. Prüfen Sie auch, wie sich die<br />

vielen in der Tabelle aufgelisteten nachteiligen Faktoren auf die<br />

verschiedenen Ebenen des bioökologischen Modells beziehen,<br />

angefangen von den Prioritätensetzungen <strong>und</strong> Maßnahmen der<br />

Regierung bis hin zur körperlichen Ges<strong>und</strong>heit eines einzelnen<br />

<strong>Kindes</strong>, das in Armut aufwächst.<br />

Be<strong>im</strong> Betrachten der Tabelle sollten Sie sich auch zwei Punkte<br />

ins Gedächtnis zurückrufen, die <strong>im</strong> Zusammenhang mit multiplen<br />

Risiken in ▶ Kap. 2 erläutert wurden. Entscheidend ist erstens,<br />

inwieweit mehrere Umweltrisikofaktoren akkumuliert bei<br />

einem Kind wirken (Evans 2004). Ein Kind, das von seinen Eltern<br />

vernachlässigt wird, kann damit vielleicht noch einigermaßen<br />

zurechtkommen; schwieriger wird es, wenn das Kind darüber<br />

hinaus eine schlechte Schule in gefahrenreicher Nachbarschaft<br />

besucht. Zweitens unterscheiden sich Kinder, wie in ▶ Kap. 10<br />

<strong>und</strong> 11 näher erläutert wird, darin, wie stark sie durch Umwelteinflüsse<br />

beeinflussbar sind, seien es nun positive oder negative<br />

Einflüsse (Belsky et al. 2007).<br />

Weil wir innerhalb dieses Buches viele spezifische Auswirkungen<br />

der Armut auf die Entwicklung erörtern, wollen wir sie<br />

hier nicht eingehender beschreiben, sondern einen Effekt des<br />

sozioökonomischen Status diskutieren, der häufig unbemerkt<br />

bleibt: den Preis des Wohlstands.<br />

Der Preis des Wohlstands<br />

Entgegen der landläufigen Meinung kann auch das Aufwachsen<br />

in sehr wohlhabenden Familien negative Wirkungen auf die<br />

Entwicklung haben. Das Stereotyp vom „armen kleinen reichen<br />

Kind“ scheint in der Realität eine gewisse Entsprechung zu finden.<br />

So berichten reiche Jugendliche <strong>im</strong> Vergleich zu ärmeren<br />

von stärkerer Angst, schwereren Depressionen <strong>und</strong> häufigerem<br />

Gebrauch verbotener Substanzen (Zigaretten, Alkohol, Marihuana<br />

<strong>und</strong> anderen Drogen) (Luthar 2003). Zwar ist der Gebrauch<br />

von verbotenen Betäubungsmitteln mit Depressionen<br />

<strong>und</strong> Ängstlichkeit verknüpft, aber er hängt auch mit Beliebtheit<br />

zusammen, was nahelegt, dass die Einflüsse von Gleichaltrigen<br />

dieses Verhalten aktiv fördern.


Ökologische Entwicklungstheorien<br />

345 9<br />

..<br />

Tab. 9.1 Die Umwelt von Kindern in Armut. (Evans 2004)<br />

Einige Faktoren, in denen sich die materiellen <strong>und</strong> sozialen Umwelten von Kindern, die in Armut aufwachsen, von denen der Kinder aus reicherem<br />

Hause unterscheiden<br />

Materielle Umwelt<br />

Das Zuhause<br />

Unzureichende Unterbringung<br />

Strukturelle Mängel<br />

Unzureichende Heizung<br />

Verunreinigtes Trinkwasser<br />

Schlechte Luft <strong>im</strong> Hause (einschließlich elterliches Rauchen)<br />

Ungezieferbefall<br />

Wenige Sicherheitsvorkehrungen (z. B. Rauchmelder)<br />

Überbelegte Wohnungen (Anzahl der Bewohner)<br />

Kleine Höfe (falls überhaupt)<br />

Nachbarschaft<br />

Schadstoffe<br />

– Luftverschmutzung (z. B. in der Nähe von Autobahnen <strong>und</strong> Fabriken)<br />

– Wasser- <strong>und</strong> Bodenverschmutzung (Fabriken, toxische Abfälle)<br />

– Kontaminierungen (Blei, Pestizide)<br />

Kaum Parks oder Freiflächen<br />

Kaum Orte für informelle Zusammenkünfte<br />

Unzureichende kommunale Dienstleistungen (Müllabfuhr, Polizei,<br />

Feuerwehr)<br />

Kaum Läden, Dienstleister, Supermärkte<br />

Geringer öffentlicher Nahverkehr, kaum Taxis<br />

Mehr Bars <strong>und</strong> Kneipen<br />

Mehr physikalische Gefa