003 Life is all memory. - untitled – The State of the Art
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jochen gerz<br />
116 Frühjahr 2012 <strong>untitled</strong> <strong>003</strong><br />
den fremden Beitrag <strong>is</strong>t notwendig. Sie<br />
informiert nicht nur mich und andere,<br />
sie „zeigt“ auch Menschen. Kunst <strong>is</strong>t<br />
ursprünglich wohl ein solcher Zeiger.<br />
Gerade in meiner beschränkten Solidarität<br />
mit mir selbst und den anderen<br />
brauche ich die Kunst, die ich mache.<br />
Man könnte Ihnen angesichts Ihres<br />
Einbezugs derjenigen Teilnehmer,<br />
die Sie Autoren nennen, unterstellen,<br />
dass sie Verantwortung nicht mehr<br />
<strong>all</strong>ein tragen wollen, auf eine breitere<br />
Zusammenarbeit zurückgreifen, gar an<br />
Ihrer subjektiven Verantwortungsbereitschaft<br />
zweifeln. Ich denke zuvorderst<br />
an die monumentale, mehrere Kilogramm<br />
schwere Publikation zu Ihrer<br />
Arbeit „2<strong>–</strong>3 Straßen“ von 2010, für die<br />
sich 1457 Menschen aus verschiedenen<br />
Regionen Europas und der Welt<br />
auf Ihre Anzeige „Grundgehalt: 1 Jahr<br />
mietfrei wohnen“ gemeldet haben. 900<br />
Autoren zählt der Band, der mich beim<br />
Hineinlesen sogar ein wenig an die<br />
Unendlichkeit der Sätze in James Joyces<br />
„Ulysses“ erinnert hat. Ich sehe in<br />
diesem Monumentalwerk auch wieder<br />
den, verzeihen Sie, nicht „gelebten“<br />
Schriftsteller Jochen Gerz.<br />
Gelebt/nicht gelebt waren schon die<br />
Foto/Text-Arbeiten der 70er-Jahre gestempelt.<br />
Sie haben vielleicht recht. Ich<br />
dachte b<strong>is</strong>her, es geht hier um den Betrachter<br />
und das, was er vor sich sieht,<br />
die Kunst. Man spricht wohl immer<br />
von sich selbst.<br />
Gehen wir nochmals zurück zum Hamburger<br />
Mahnmal. Wie hat das konkret<br />
funktioniert im Laufe der Zeit, während<br />
es nach und nach in der Erde „versenkt“<br />
wurde und nur noch eine Tafel<br />
an seine Ex<strong>is</strong>tenz erinnert?<br />
Vor der Real<strong>is</strong>ierung haben wir Freunde<br />
gebeten zu unterschreiben, auf einem<br />
blanken Stück Blei. Das war schön und<br />
delikat, aber es war auch etwas lächerlich.<br />
Es war wie Schönschreiben und es<br />
<strong>is</strong>t keinem aufgef<strong>all</strong>en. Die Wirklichkeit<br />
<strong>is</strong>t immer anders. Ganz unten auf dem<br />
Jochen Gerz und Es<strong>the</strong>r Shalev-Gerz<br />
Mahnmal gegen Fasch<strong>is</strong>mus<br />
1986, Säule aus galvan<strong>is</strong>iertem Stahl mit<br />
Bleiummantelung, Hamburg, 12 x 1 x 1 m<br />
<strong>untitled</strong> <strong>003</strong> Frühjahr 2012<br />
Boden, am Ende der sichtbaren Säule<br />
mit der Haut aus Blei, lagen zwei Griffel.<br />
Man hat geschätzt, dass insgesamt<br />
70.000 Beiträge <strong>all</strong>er <strong>Art</strong>, nicht nur<br />
Signaturen gegen den Fasch<strong>is</strong>mus, das<br />
Mahnmal b<strong>is</strong> zur letzten Absenkung<br />
im Jahr 1994 gezeichnet haben. Die<br />
me<strong>is</strong>ten Unterschriften sind durchgestrichen<br />
worden. Aber trotzdem konnte<br />
man nichts wegnehmen von dem, was<br />
geschehen war, nichts reparieren. Ist ein<br />
Einschuss keine Signatur? Auch das war<br />
an diesem Ort, dem Mahnmal gegen<br />
Fasch<strong>is</strong>mus, richtig. Nach sieben Jahren<br />
war die zwölf Meter hohe Säule im<br />
Boden abgesenkt. Da <strong>is</strong>t sie noch heute.<br />
Der letzte Satz der Einladung zur Teilnahme<br />
und zur Signatur heißt: „Denn<br />
nichts kann an unserer Stelle sich gegen<br />
Jede neue Arbeit <strong>is</strong>t eine<br />
Einladung, und jedes<br />
Mal kann ich mir meine<br />
Teilnehmer nicht aussuchen.<br />
Ich suche Autoren und nicht<br />
Betrachter. Nicht Leute,<br />
die spurlos am fixfertigen<br />
Werk eines anderen<br />
vorüberhuschen.<br />
das Unrecht erheben.“ Manchen Medien<br />
war vor <strong>all</strong>em die „Verschandelung“<br />
des Mahnmals wichtig. Man kann vielleicht<br />
zwei Antworten geben auf diese<br />
Reaktion. Kann oder soll ein Mahnmal<br />
gegen Fasch<strong>is</strong>mus schön sein? Die<br />
Kunst des 20. Jahrhunderts „lebt“ von<br />
der Hässlichkeit, Verletzung, Banalität<br />
und Unansehnlichkeit. Sie <strong>is</strong>t, wie Werner<br />
H<strong>of</strong>mann schreibt, Marsyas näher<br />
als Apollo. Und: Der öffentliche Raum<br />
<strong>is</strong>t ja weder avantgard<strong>is</strong>t<strong>is</strong>ch noch museal.<br />
Er gehört nicht der Kunst, er wird<br />
von <strong>all</strong>en benutzt. Er <strong>is</strong>t ein wahrhaftiger<br />
Raum. Man kann ihn sich nicht<br />
malen. Im Museum wird Kunst schön.<br />
Das färbt leider auf sie selbst und auch<br />
auf uns ab. Vielleicht <strong>is</strong>t der öffentliche<br />
Raum aus dem Museumsfenster betrachtet<br />
eine schlechte Hängung.<br />
Das <strong>is</strong>t ja auch gut so, denn im herkömmlichen<br />
Museum <strong>is</strong>t ohnehin <strong>all</strong>es<br />
b<strong>is</strong> ins kleinste Detail durchorgan<strong>is</strong>iert.<br />
Auch krit<strong>is</strong>che, polit<strong>is</strong>che Kunst, die aufbegehrt,<br />
landet schlussendlich wieder<br />
in den heiligen weißen H<strong>all</strong>en und wird<br />
vom Kunstmarkt verehrt. Sie selbst haben,<br />
wie Sie schon gesagt haben, eine<br />
geraume Zeit durchaus museums- und<br />
markttaugliche Foto/Text-Arbeiten gefertigt.<br />
Ende der 90er-Jahre haben Sie<br />
sich dann von Ihren Galerien getrennt.<br />
Hatten Sie da eine so starke Aversion<br />
gegenüber dem Fet<strong>is</strong>ch an der Wand<br />
entwickelt?<br />
Ich kam ja nicht von der Kunst, ich<br />
war nicht auf der Kunsthochschule.<br />
Die Kr<strong>is</strong>en der Bildkunst im frühen<br />
20. Jahrhundert, die Alternativen zur<br />
Jochen Gerz und Es<strong>the</strong>r Shalev-Gerz<br />
Mahnmal gegen Fasch<strong>is</strong>mus<br />
1986, Säule aus galvan<strong>is</strong>iertem Stahl mit<br />
Bleiummantelung, Hamburg, 12 x 1 x 1 m<br />
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