01.11.2016 Aufrufe

Freiräume Vorpommern-Rügen

Erfolgsgeschichten vom Leben auf dem Land im Landkreis Vorpommern-Rügen

Erfolgsgeschichten vom Leben auf dem Land im Landkreis Vorpommern-Rügen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

FREIRÄUME<br />

VORPOMMERN-RÜGEN<br />

FÜR MENSCHEN MIT IDEEN<br />

SURFER DER STRASSE<br />

Startup aus Stralsund mischt<br />

Longboard-Szene auf<br />

KEKSDIEBEN AUF DER SPUR<br />

Selbstgebackene Leckereien für<br />

vierbeinige Gourmets<br />

SCHNELLES GRÜNZEUG<br />

Feinschmeckergemüse<br />

in eleganter Form


FREIRÄUME<br />

FÜR MENSCHEN MIT IDEEN<br />

Vom Fischland im Westen bis zum östlichsten Zipfel der Insel <strong>Rügen</strong><br />

zieht sich der Landkreis <strong>Vorpommern</strong>-<strong>Rügen</strong> im Nordosten Mecklenburg-<strong>Vorpommern</strong>s.<br />

Im Süden grenzt er an die Mecklenburgische<br />

Seenplatte, im Norden erstreckt sich der Nationalpark Vorpommersche<br />

Boddenlandschaft. Dazwischen liegen über 3.000 Quadratkilometer<br />

Land – viel Raum und vor allem Ruhe zum Leben und Arbeiten.<br />

Zahlreiche Raumpioniere haben den Landstrich bereits für sich entdeckt,<br />

wissen die <strong>Freiräume</strong> zu schätzen.<br />

Umgeben von weitläufigen Naturschönheiten wie Boddenlandschaften,<br />

Flusstäler und Ostseeküste, durchsäht von zauberhaften<br />

Städtchen wie Ribnitz-Damgarten, Putbus, Zingst und die Hansestadt<br />

Stralsund. Hier leben Menschen, die ihre Ideen verwirklichen,<br />

hier haben sich Künstler niedergelassen, um abseits der Metropolen<br />

zu wirken. Sie alle machen den Landkreis einzigartig, prägen ihn in<br />

vielerlei Hinsicht, machen ihn auch zu einer attraktiven Ausflugsund<br />

Urlaubsregion im Land. Vor allem aber zeigen sie, welches ungeahnte<br />

Potential für vielfältige Ideen die Region bietet: Auf einem<br />

abgelegenen Gehöft verhilft Silke Ritthaler mit Hilfe der Sprache<br />

ihrer Pferde stressgeplagten Führungskräften zu neuer Power, im<br />

Gutshaus Ehmkendorf lädt Nadin Fischer ihre Gäste zu Yogawochenenden,<br />

Wildkräuterkochabenden und Bewegungsurlauben auf<br />

dem Land ein, in Stralsund bringen zwei junge Gründer ihr Lebensgefühl<br />

mit selbstgebauten Longboards auf die Straße, in Rambin auf<br />

<strong>Rügen</strong> wird Bier in eindrucksvoll gestalteten Flaschen gebraut und<br />

im kleinen Ort Grammendorf verfeinert Olaf Schnelle das exzellente<br />

Gemüse aus seiner Gärtnerei fantasievoll und auf elegante Art zu<br />

Geschmackserlebnissen.<br />

INHALTSVERZEICHNIS<br />

2 • ScHnelleS GrünZeuG<br />

Olaf Schnelle veredelt Gemüse in eleganter Form<br />

4 • BIer-STArS<br />

<strong>Rügen</strong>er Insel-Brauerei kann sich mit weltweit besten Bieren messen<br />

5 • SurFer der STrASSe<br />

Startup aus Stralsund mischt die Longboard-Szene auf


6 • SIcH SelBST BeGeGnen<br />

Im Gutshaus Ehmkendorf wird auf Entertainment bewusst verzichtet<br />

8 • kekSdIeBen AuF der SPur<br />

Selbstgebackene Leckereien für vierbeinige Feinschmecker<br />

10 • VISIOnÄr IM nIeMAndSlAnd<br />

Eine neue Idee von Mathias Schilling nimmt Fahrt auf<br />

12 • Anker GeWOrFen<br />

Künstlerin Anne Hille spart auf dem Land wichtige Lebensenergie<br />

13 • dAS GreTZO<br />

Wuselige Handpuppe erklärt Kindern das Küstenleben<br />

14 • kAFFeekulTur AuF rÄdern<br />

Ein kompletter Neustart aus purer Leidenschaft zum Kaffee<br />

15 • BOdenSTÄndIG<br />

Zeesenbootsbauer Martin Rurik ist seiner Heimat immer treu geblieben<br />

16 • MenScH durcH PFerd<br />

Silke Ritthaler arbeitet mit Pferden als Spiegel der menschlichen Seele


SCHNELLES GRÜNZEUG<br />

OLAF SCHNELLE VEREDELT DAS FEINSCHMECKERGEMÜSE<br />

AUS SEINER GÄRTNEREI IN ELEGANTER FORM<br />

auerkraut ist eines der bekanntesten<br />

deutschen Nationalgerichte.<br />

Seine Herstellung ist schnell erklärt:<br />

Roh geschnittener Weißkohl wird durch<br />

Milchsäuregärung konserviert. Weiterer<br />

Hilfe bedarf es dafür nicht, nur etwas Zeit.<br />

Das Prinzip ist schon seit weit mehr als<br />

1.000 Jahren bekannt – und im Grunde<br />

auch mit anderem Gemüse möglich. Bisher<br />

haben sich jedoch nicht viele daran<br />

gewagt.<br />

Im kleinen Ort Grammendorf bei Tribsees<br />

will das ein ambitionierter Gärtner<br />

nun ändern. Hier soll ein „Zentrum für Gemüse-Fermentation“<br />

entstehen. „Ich habe<br />

keine Ahnung, warum diese Technik hierzulande<br />

nicht schon viel weitreichender<br />

eingesetzt wird“, sagt Olaf Schnelle. „Dabei<br />

ist es eigentlich die eleganteste Variante<br />

2<br />

der Gemüseverarbeitung, denn sie kommt<br />

ohne Zusatzstoffe, Konservierungsmittel<br />

oder hohen Ressourcenverbrauch aus. Eigentlich<br />

genau das, wonach der Verbraucher<br />

immer mehr nachfragt.“ Seit einigen<br />

Jahren schwebt dem gebürtigen Erfurter<br />

diese Idee vor. Irgendwann fing er an, mit<br />

den Überschüssen aus seiner Gärtnerei<br />

zu experimentieren. Seitdem entstehen<br />

immer wieder neue Kombinationen: Rote<br />

Beete mit grünen Fenchelkörnern, Kohlrabi<br />

mit Zitronenmelisse, Karotte mit Holunderblüten<br />

oder Zucchini mit Weinlaub<br />

und Basilikum. Das positive Feedback der<br />

Testesser spornt ihn an. In seiner Manufaktur<br />

sollen bald 200 bis 400 Kilogramm<br />

Gemüse pro Woche auf diese Art veredelt<br />

werden. „Indem ich reifes Gemüse dann<br />

konsequent verarbeiten kann, werde ich<br />

so auch die Abläufe in der Gärtnerei effektiver<br />

gestalten können“, ist der 51-Jährige<br />

überzeugt. Seit 2014 betreibt er seine<br />

Gärtnerei in Grammendorf, nur ein paar<br />

Meter von seinem Wohnhaus entfernt. Zuvor<br />

war er viele Jahre erfolgreich mit der<br />

Idee, wilde Kräuter in die Küche zu holen<br />

und damit die Gastronomie zu bereichern.<br />

Spitzengastronomen aus dem ganzen<br />

Bundesgebiet waren damals Kunden. Ein<br />

Teil davon ist ihm bis heute treu geblieben<br />

und schwört auf das Gemüse aus <strong>Vorpommern</strong>.<br />

Einen halben Hektar bewirtschaftet<br />

Olaf Schnelle derzeit. Darauf wachsen<br />

besondere Sorten von Radieschen in rot,<br />

weiß und violett, Rettich in rosa und violett,<br />

Knollenfenchel im Mini-Format, Rote<br />

Beete in den unterschiedlichsten Farben,<br />

kleine Kürbisse namens Patissons, Gurken,


Zucchini und einiges mehr. Knapp 25 Sendungen<br />

verschickt er pro Woche an Gastronomen<br />

in Berlin, Nordrhein-Westfalen<br />

und Baden-Württemberg. Sie ordern auch<br />

weiterhin Wildkräuter bei ihm: Giersch,<br />

Wiesenkerbel, Brennnessel, Vogelmiere,<br />

Franzosenkraut, Hirtentäschel, alles zu jeder<br />

Zeit erntefrisch und verzehrfertig. Geerntet<br />

wird immer auf Bestellung.<br />

„Wenn nIcHT HIer, WO SOnST?“<br />

Vier Tage die Woche arbeitet Schnelle zusammen<br />

mit seinen mittlerweile vier Mitarbeitern<br />

morgens die Ernteliste ab, am<br />

Nachmittag geht das frische Grünzeug<br />

in den Versand. Freitag ist Gartentag, am<br />

Wochenende ist dann Zeit für die Familie.<br />

Drei Söhne haben Olaf Schnelle und seine<br />

Frau. Der jüngste wohnt noch zu Hause.<br />

„Mitte der Neunziger haben wir einen Ort<br />

gesucht, an dem unsere Kinder aufwachsen<br />

sollten. Wir wollten raus aus Berlin.“<br />

Dort hatte Olaf Schnelle Gartenbau studiert<br />

und dort lernte er auch seine Frau<br />

kennen. In Grammendorf ließen sie sich<br />

nieder. Zehn Jahre lang renovierten und<br />

restaurierten sie das alte Fachwerkhaus<br />

Stück für Stück in Eigenleistung, gestalteten<br />

den Garten nach ihren Ideen. Vielleicht<br />

würde er heute auch noch etwas gezielter<br />

suchen, sagt er. „Es gibt so viele Orte hier<br />

in Mecklenburg-<strong>Vorpommern</strong>, in denen<br />

man als Familie gut leben und sich entfalten<br />

kann.“ Für ihn ist es selbstverständlich,<br />

sich aktiv für seine Region zu engagieren.<br />

So setzt er sich dafür ein, das eigene<br />

Umfeld zu verbessern und zu erhalten,<br />

etwa für den Erhalt von Wanderwegen<br />

im angrenzenden Trebeltal oder für einen<br />

Badeplatz im Nachbardorf. Er kennt viele<br />

Menschen in der Region, die so aktiv mitgestalten,<br />

Kulturveranstaltungen selbst<br />

organisieren, „statt darauf zu warten, dass<br />

vielleicht irgendwann mal irgendjemand<br />

anderes kommt, der das in die Hand<br />

nimmt“. Schon als Jugendlicher war er<br />

davon überzeugt, dass er sich etwas einfallen<br />

lassen muss, etwas anders machen<br />

will. Er befasste sich mit der Essbarkeit von<br />

Wildkräutern als Maßnahme zum Überleben<br />

in der Natur. Später lernte er den<br />

kulinarischen Genuss der Pflanzen immer<br />

mehr zu schätzen. „Wir leben hier mitten in<br />

der Natur. Wenn nicht hier, wo sonst sollen<br />

wir sauberes und lebendiges Gemüse für<br />

den puren Genuss produzieren?“<br />

3


BIER-STARS<br />

DIE RÜGENER INSEL-BRAUEREI KANN SICH MIT<br />

DEN WELTWEIT BESTEN BIEREN MESSEN<br />

rst seit knapp anderthalb Jahren<br />

gibt es die Insel-Brauerei. Trotzdem<br />

ist sie schon ein Star unter<br />

dem Brauhimmel, hat bei den World Beer<br />

Awards 2016 in London gleich acht Goldmedaillen<br />

für ihre Biere eingeheimst. Baltic<br />

Dubbel, Insel Saison, Überseehopfen und<br />

Insel Kreide heißen die Gewinner. Letztere<br />

serviert Braumeister Markus Berberich<br />

im Champagnerglas und empfiehlt es als<br />

Empfangsbier bei festlichen Anlässen.<br />

Den besonderen Kick verleiht hier die<br />

Champagnerhefe. Für jede der insgesamt<br />

zwölf Biersorten verwenden die Brauer<br />

eine eigene Hefe, zunächst bei der offenen<br />

Gärung im Bottich, später bei der Flaschenreifung<br />

mit abgezählten Hefezellen<br />

– „stets naturbelassen und ungefiltert“,<br />

erklärt Berberich. Er hatte die Idee, mit der<br />

Herstellung von ganz neuen, charaktervollen<br />

Bieren noch einmal durchzustarten.<br />

4<br />

Für <strong>Rügen</strong> als Standort entschied er sich,<br />

weil fast jeder mit der Insel etwas verbinden<br />

kann, ein Bild vor sich hat. Erfahrung<br />

in seinem Metier hat der gebürtige Saarländer<br />

mehr als genug. So studierte er das<br />

Brauhandwerk in der Forschungsbrauerei<br />

in Weihenstephan, lebt seit zwanzig Jahren<br />

in <strong>Vorpommern</strong> und hat hier die benachbarte<br />

Brauerei in Stralsund als Störtebeker<br />

Braumanufaktur groß gemacht.<br />

Irgendwann war Zeit für etwas Neues.<br />

Die zunächst in Nordamerika gestartete<br />

Bierrevolution faszinierte Berberich. Immerhin<br />

seien an die 4.000 neue Brauereien<br />

in den USA entstanden. Andere Länder,<br />

wie Großbritannien, Dänemark und<br />

Italien, begannen ebenfalls, sich wieder<br />

alten Braustilen hinzuwenden. „Während<br />

in Deutschland noch vor wenigen Jahren<br />

niemand das Gefühl hatte, in der hiesigen<br />

Bierkultur würde etwas fehlen, hat<br />

sich der Trend innerhalb der letzten drei<br />

bis vier Jahre gewandelt.“ Handwerklich<br />

gebraute Craft-Biere sind so gefragt wie<br />

nie. Markus Berberich ist mit seinem Team<br />

auf diesen Zug aufgesprungen – mit ungeahntem<br />

Erfolg: „Nach nur drei Monaten<br />

war unsere Produktion ausgelastet.“ Heute<br />

werden 300.000 Flaschen im Monat überall<br />

in Deutschland verkauft. Sorgfältig in<br />

Papier eingewickelt, je nach Bierart mit<br />

unterschiedlichen Grafiken und Malereien<br />

bedruckt, stehen sie in Holzkisten für den<br />

Verkauf bereit – zu schade zum Durstlöschen,<br />

aber, so Berberich, genau richtig<br />

zum Genießen.


olz spielt hier offensichtlich eine<br />

besondere Rolle: Die Wände in dem<br />

kleinen Laden in der Stralsunder<br />

Innenstadt sind fast komplett damit beplankt.<br />

„Jede Schraube hier trägt unsere<br />

Handschrift“, erzählt Marius Drüding. Zusammen<br />

mit Frank Mersmann hat er fast<br />

alles selbst gemacht. Seit vergangenem<br />

Juli präsentieren sie an diesem Ort ihre<br />

Kreationen unter dem Label „Treibholz“.<br />

Und da ist es wieder: Holz. Daraus nämlich<br />

bestehen auch die von ihnen hergestellten<br />

Produkte: handgefertigte Longboards. Das<br />

sei im Grunde so eine Art Skateboard, nur<br />

mit etwas anderen Dimensionen, größeren<br />

Rollen, größeren Achsabständen, der<br />

sogenannten wheelbase.<br />

Alles in allem eben etwas größer, berichtet<br />

Marius Drüding. Das schaffe mehr<br />

Fahrsicherheit, ein gutes Fahrgefühl. Und<br />

genau diesem sind die beiden jungen<br />

Männer irgendwie verfallen. Dabei fing alles<br />

recht harmlos an: Bei einem Freund aus<br />

Braunschweig hatte Frank Mersmann das<br />

Longboarden gesehen und es dann auch<br />

schnell selbst ausprobiert. Während des<br />

Studiums in Stralsund begleitete ihn das<br />

Hobby weiter – bis ihm sein Board geklaut<br />

wurde. Er versuchte, sich selbst ein neues<br />

zu bauen und hatte Spaß daran. In der heimischen<br />

Holzwerkstatt des Vaters probierte<br />

und verfeinerte er die Techniken, baute<br />

Boards, die schließlich auch Freunde und<br />

Bekannte haben wollten.<br />

So blieb auch Marius Drüding das Talent<br />

des Studienkollegen nicht verborgen.<br />

Seitdem cruisen sie zusammen entspannt<br />

durch die Straßen der Hansestadt. Schnell<br />

entstand die Idee, das leidenschaftliche<br />

Hobby zum Beruf zu machen. Gemeinsam<br />

entwickelten sie ein Geschäftskonzept,<br />

beantragten ein Gründerstipendium und<br />

SURFER DER STRASSE<br />

EIN STARTUP AUS STRALSUND MISCHT DIE LONGBOARD-SZENE AUF<br />

legten los. Seit knapp zwei Jahren sind sie „Außerdem fühlen wir uns hier sehr wohl.<br />

mit ihren Longboards nun auf dem Markt. Das ist doch das Wichtigste.“<br />

Etwa 150 davon sind in ganz Deutschland Mittlerweile haben sie Werkstatt und<br />

unterwegs. Dass Stralsund der richtige Ort Laden unter einem Dach. Dort setzt Frank<br />

für ihr Startup ist, daran haben die beiden Mersmann nicht nur die eigenen Ideen um,<br />

aus Hamburg und Papenburg stammenden<br />

27-Jährigen nie gezweifelt.<br />

sche und baut Einzelanfertigungen. Auch<br />

sondern erfüllt auch spezielle Kundenwün-<br />

„In der Großstadt wären wir welche von an anderen Varianten zur Erweiterung der<br />

vielen. Hier sind wir mit unserer coolen Produktpalette tüftelt er. Besonders wichtig<br />

ist den beiden aber stets das edle De-<br />

Idee etwas Besonderes“, sagt Marius Drüding.<br />

„Für uns ist der Standort sogar ein sign – aus Holz, versteht sich. Wenngleich<br />

Imageträger.“ Das Feedback spricht dafür. nicht, wie der Name vermuten lässt, aus<br />

„Stralsund hat zwar keine große Longboard-Szene.<br />

Dafür können wir hier noch Metapher doch zu den beiden, für die es<br />

Treibholz. Dennoch: Irgendwie passt die<br />

viele Leute damit begeistern“, stellen beide<br />

immer wieder fest.<br />

den Küstenstraßen treiben zu<br />

ein Lebensgefühl ist, sich wie Surfer auf<br />

lassen.<br />

5


SICH SELBST BEGEGNEN<br />

IM GUTSHAUS EHMKENDORF WIRD BEWUSST<br />

AUF ENTERTAINMENT VERZICHTET<br />

s ist, als falle man aus der Zeit, sagt<br />

Nadin Fischer. Und wirklich: Dort,<br />

wo es nicht mehr weitergeht, wo<br />

die Dorfstraße endet, liegt zwischen Bäumen<br />

und Sträuchern ein goldgelber Sehnsuchtsort<br />

– das Gutshaus Ehmkendorf.<br />

Nadin Fischer war noch nicht einmal zehn<br />

Jahre alt, als sie zum ersten Mal hierherkam.<br />

Damals, 1984, hatte ihre Mutter, die<br />

freischaffende Künstlerin Nora Fischer,<br />

einen Ort abseits des Berliner Hauptstadttrubels<br />

gesucht und in Ehmkendorf<br />

gefunden. In einer kleinen Kemenate im<br />

Haus verbrachte die Familie seither die<br />

Ferien. Heute, über dreißig Jahre später,<br />

leitet Nadin Fischer das Haus, in dem ihre<br />

Mutter zusammen mit ihrem Mann 2007<br />

ein Wildkräuterhotel eröffnete. Über zehn<br />

Jahre hat die Sanierung und Restaurierung<br />

des historischen Gemäuers gedauert.<br />

Besonders wichtig war Nora Fischer,<br />

dass die Salonkultur des Hauses erhalten<br />

bleibt. So gibt es im Erdgeschoss neben<br />

der einladenden Eingangshalle die zwei<br />

großzügigen Salons, einer in rot, der zweite<br />

in blau. Dahinter befindet sich die liebevoll<br />

eingerichtete Gutshausküche, im<br />

Obergeschoss drei Ferienwohnungen und<br />

sieben „Stuben“. So nennt Hausherrin Nadin<br />

Fischer die Doppelzimmer, denen ihre<br />

Mutter wohltuende Namen wie Kamille,<br />

Mohnblume, Jasmin oder Lavendel gegeben<br />

hat. „Nach wie vor sind Wildkräuter<br />

ein wichtiges Thema bei uns, sie stehen<br />

jedoch nicht mehr alleine im Mittelpunkt“,<br />

erzählt Nadin Fischer. „Anders als meine<br />

Mutter bin ich eben keine Kräuterfee. Sie<br />

stand von früh bis spät im Garten, hat sich<br />

mit der Kräuterkunde beschäftigt, mit<br />

Kräutern gekocht und Kräuterwanderungen<br />

gemacht.“ Entstanden ist ein prächtiger<br />

Gutsgarten mit unzähligen Haus- und<br />

6


Wildkräutern, die hier Raum zum Wachsen<br />

und Gedeihen haben. „Dieses Erbe meiner<br />

Mutter tragen wir natürlich weiterhin<br />

fort“, so Nadin Fischer. 2012 ist sie mit ihren<br />

beiden Kindern endgültig von Berlin<br />

nach <strong>Vorpommern</strong> gezogen, widmet<br />

sich seitdem komplett dem Hotelbetrieb<br />

und den Bewegungsangeboten, die nun<br />

im Mittelpunkt stehen. Wanderungen im<br />

Recknitztal, Laufen, Paddeln, Reiten, Pilates<br />

und Wirbelsäulentraining sind ihre<br />

Steckenpferde. Die studierte Sportwissenschaftlerin<br />

hat viele Jahre in Berliner<br />

Rehazentren gearbeitet, heute gibt sie ihr<br />

Wissen an die Gäste weiter. Im Sommer organisiert<br />

sie Yogaferien für Familien – ein<br />

Highlight, das schon ein Jahr im Voraus<br />

ausgebucht ist.<br />

DEM URBANEN LEBEN ENTFLIEHEN<br />

Auf die früher übliche Herrenhausetikette<br />

kann sie dabei gut verzichten: „Hier kann<br />

man gut lernen, den klassischen Blick auf<br />

das Korrekte sein zu lassen“, erzählt sie.<br />

„Und auch Entertainment von früh bis<br />

spät gibt es bei uns nicht. Wir sehen uns<br />

eher als Rückzugsort, als Chance dem<br />

urbanen Leben eine Zeit lang zu entfliehen,<br />

als Ort um sich selbst zu begegnen.“<br />

Genau das ist das Gutshaus Ehmkendorf<br />

für die 41-Jährige noch heute. Als Tochter<br />

einer Künstlerin sei sie „sehr freestyle“<br />

aufgewachsen, wie sie sagt. Heute lebt<br />

sie in einer von Berlinern gegründeten<br />

Wohngemeinschaft im benachbarten Tessin,<br />

nennt es lächelnd „ein Stück Berlin in<br />

Tessin“. Auch ihre Kinder, 16 und 12 Jahre,<br />

sind hier zuhause. Wie es sich für einen<br />

richtigen Familienbetrieb gehört, greifen<br />

sie ihrer Mutter im Hotel auch schon mal<br />

fleißig unter die Arme.<br />

„Wir sind ein kleines Team“, so Nadin Fischer,<br />

die seit einiger Zeit von ihrer Freundin<br />

Friederike Baufeld unterstützt wird.<br />

Auch sie ist von Berlin hierhergezogen,<br />

beide verbindet die gemeinsame Leidenschaft<br />

für das Reiten. Dabei haben sie<br />

sich auch kennengelernt, in einem Berliner<br />

Reitstall. Für das gemeinsame Hobby<br />

nehmen sich die beiden auch in Ehmkendorf<br />

immer wieder Zeit. „Ein Ausritt in die<br />

wunderbare Natur des Recknitz- und Maibachtals<br />

direkt hier hinterm Haus ist einfach<br />

großartig“, so Fischer.<br />

Besonders früh morgens, wenn der Nebel<br />

noch über der Senke liege und Adler<br />

und Greife lautlos über sie hinwegschwebten.<br />

Natürlich tauche sie auch immer wieder<br />

in das Berliner Leben ein, hat dort<br />

viele Freunde, die sie regelmäßig besucht.<br />

„Aber trotzdem bin ich immer froh, wenn<br />

ich wieder zurück bin.“ Auch hier haben<br />

sich über die Jahre viele gute Bekanntschaften<br />

und Freundschaften entwickelt.<br />

Gemeinsam werden Kulturveranstaltungen<br />

oder kulinarische Gutshaustouren<br />

organisiert. So wird in Ehmkendorf jedes<br />

Jahr ab Herbst der über 100 Jahre alte<br />

Herd der Firma „August Speiser Rostock“<br />

angeheizt. Dieser stammt aus dem benachbarten<br />

Gutshaus Stubbendorf und<br />

sollte ursprünglich entsorgt werden. In<br />

Ehmkendorf finden damit nun regelmäßig<br />

Kochabende statt, bei denen die Gäste<br />

zusammen mit Köchen wie Tillmann Hahn<br />

und René Pieper mehrgängige Menüs zubereiten<br />

und anschließend in geselliger<br />

Runde genießen. So ist das Wildkräuterhotel<br />

Ehmkendorf in mehrerer Hinsicht<br />

ein kraftvoller Platz – ganz im Sinne seiner<br />

Gründerin Nora Fischer.<br />

7


KEKSDIEBEN AUF DER SPUR<br />

SELBSTGEBACKENE LECKEREIEN FÜR VIERBEINIGE FEINSCHMECKER<br />

s duftet nach Käse und Kräutern. Auf<br />

der Arbeitsfläche steht eine Schale<br />

mit frischen Äpfeln, daneben Mehl,<br />

Eier, Parmesankäse. „Wir verwenden nur<br />

Zutaten, die wir auch selbst bedenkenlos<br />

essen würden“, sagt Manuela Verhage. So<br />

natürlich wie möglich sollen die Hundekekse<br />

sein, ohne chemische Zusatzstoffe<br />

oder Konservierungsmittel. „Wenn ich die<br />

Verpackungsangaben mancher Hersteller<br />

lese, möchte ich eigentlich gar nicht so<br />

genau wissen, was das alles ist, was da so<br />

draufsteht.“ Dass die Hunde trotzdem darauf<br />

abfahren, liege meist daran, dass sie es<br />

von klein auf gewöhnt sind.<br />

Aber es gibt auch Hunde, die können<br />

mit diesem industriell hergestellten Futter<br />

gar nichts anfangen. Einer davon ist<br />

Chicco. Von Teneriffa aus ist der spanische<br />

Bodeguero über eine Tierschutzorganisation<br />

nach Deutschland zu den Verhages<br />

gekommen. Die wohnten damals noch im<br />

Bergischen Land nahe Wuppertal. „Chicco<br />

war unser erster Hund und bevor er bei<br />

uns einzog, habe ich mich zur richtigen<br />

Haltung und Fütterung belesen“, erinnert<br />

sich Manuela Verhage. Dann war Chicco<br />

da und alles ganz anders.<br />

„Frisches Fleisch, das mochte er, mehr<br />

aber auch nicht.“ Die Hundehalterin war<br />

ratlos. Es musste doch noch etwas anderes<br />

geben, was ihm schmecken könnte.<br />

Sie probierte schließlich verschiedene Rezepte<br />

aus, backte Hundekekse aus unterschiedlichem<br />

Gemüse. Und siehe da: Chicco<br />

war begeistert. Auch seine Kumpels in<br />

der Hundeschule fanden Gefallen an den<br />

Leckereien. Immer häufiger wurde Manuela<br />

Verhage gebeten, beim nächsten Mal<br />

doch gleich ein paar mehr Kekse zu backen.<br />

Was aus einer Verlegenheit entstand,<br />

entwickelte sich rasch zur Geschäftsidee.<br />

Alles wurde zunächst in der heimischen<br />

Küche hergestellt. Die Lagerzone befand<br />

sich im Keller, dehnte sich aber immer<br />

mehr auf den Rest des Hauses aus.<br />

ZuM WAcHSen In den nOrdOSTen<br />

„Uns war klar, wenn wir wachsen wollen,<br />

müssen wir etwas verändern“, sagt Ehemann<br />

Michael Verhage. Er hat seine Frau<br />

von Anfang an unterstützt. Gemeinsam<br />

beschlossen sie, in den Norden an die<br />

Ostsee zu ziehen. Auf <strong>Rügen</strong> hatten sie<br />

geheiratet, in Mecklenburg-<strong>Vorpommern</strong><br />

zu leben konnten sie sich gut vorstellen.<br />

Anderthalb Jahre hat es jedoch gedauert,<br />

bis sie das Passende gefunden hatten.<br />

Schließlich sollte diesmal genug Platz für<br />

Produktion, Lager und Versandvorbereitung<br />

vorhanden sein. Seit knapp zwei<br />

Jahren leben und arbeiten sie nun im<br />

8


ehemaligen Gutshaus von Langendorf –<br />

zusammen mit ihren beiden Hunden und<br />

den Eltern von Manuela Verhage.<br />

Dort, wo vor einigen Jahren noch Veranstaltungen<br />

der Gemeinde stattgefunden<br />

haben, werden heute an die 70 Kilogramm<br />

Hundekekse gebacken. Unterstützt wird<br />

Manuela Verhage dabei von einem gelernten<br />

Bäcker. Ihr Mann kümmert sich vor<br />

allem um Vertrieb und Versand. Bundesweit,<br />

bis nach Österreich und die Schweiz<br />

verschicken die Verhages ihre Produkte<br />

mit dem Namen „Keksdieb“ an Fachhändler.<br />

Auch nach Japan und Singapur haben<br />

sie schon geliefert. Mittlerweile ist auch<br />

eine große Futtermittel-Kette auf die<br />

Produkte aus <strong>Vorpommern</strong> aufmerksam<br />

geworden und hat Interesse, diese unter<br />

eigenem Namen zu vermarkten. „Wir haben<br />

hier das Potential, unsere Produktion<br />

zu verdoppeln“, berichten die Verhages<br />

stolz. „Und sogar im ersten Jahr hier haben<br />

wir schon schwarze Zahlen geschrieben.“<br />

Immer noch gibt es viele neue Ideen, die<br />

das Paar umsetzen möchte. Sogar eine<br />

Ostsee-Edition haben sie entwickelt – aus<br />

Liebe zu ihrer Wahlheimat, die auch bei<br />

Familie und Freunden sehr geschätzt wird.<br />

„Wir bekommen hier wesentlich mehr Besuch<br />

als früher“, verrät Manuela Verhage.<br />

Das liege nicht zuletzt an der Ostsee fast<br />

vor der Haustür, von der auch sie und ihr<br />

Mann noch immer nicht genug bekommen<br />

können. Ihr Ziel ist es, zu wachsen,<br />

weitere Mitarbeiter einzustellen. Vor allem<br />

im Versand werde allmählich Unterstützung<br />

gebraucht. „Aber alles nur nach Maß<br />

und unseren Möglichkeiten“, sagt Michael<br />

Verhage. „Handgemacht und natürlich<br />

werden unsere Produkte auf jeden Fall<br />

bleiben“, ergänzt Manuela Verhage. „Davon<br />

rücken wir nicht ab.“<br />

9


VISIONÄR IM NIEMANDSLAND<br />

EINE NEUE IDEE VON MATHIAS SCHILLING NIMMT FAHRT AUF<br />

angsam tuckert das kleine weiß-blaue<br />

Boot in den Hafen von Schaprode.<br />

Ein Freizeitkapitän, denkt der Besucher.<br />

Aber Mathias Schilling weiß es besser.<br />

Sofort eilt er los, holt zwei rote Kisten<br />

und läuft dem Boot entgegen, das gerade<br />

an der Kaimauer festmacht. Nach einem<br />

kurzen Schnack geht es gleich zur Sache:<br />

„Was hast du heute dabei? Sind die da reserviert?<br />

Davon nehm ich gleich was mit<br />

rüber.“ Kaum zehn Minuten dauert die Begegnung.<br />

Schnell ist sich Mathias Schilling<br />

mit dem Fischer einig.<br />

Der putzt und filetiert gerade noch<br />

einen Teil seines Fangs. Schilling ist da<br />

schon längst wieder woanders beschäftigt,<br />

schaut in seinem gegenüberliegenden<br />

Fischladen nach dem Rechten und<br />

verschwindet dann in der Küche seines<br />

Gasthofs, um mit dem Koch kurz die Zubereitung<br />

des eben besorgten fangfrischen<br />

Fischs zu besprechen. 2011 hat er zusammen<br />

mit seiner Frau die leerstehende<br />

Gaststätte direkt am Hafen übernommen,<br />

10<br />

um das Fleisch der eigenen Salzwiesenrinder<br />

selbst verarbeiten und vermarkten<br />

zu können. Schnell war klar, dass auch der<br />

praktisch vor der Haustür gefangene Fisch<br />

mit auf die Speisekarte gehörte. „Schon<br />

damals hatte ich die Idee, den Fisch der<br />

hiesigen Kutterfischer als eigene Marke zu<br />

etablieren“, erzählt Mathias Schilling. Seit<br />

Sommer 2016 gibt es nun Schillings Fischhaus<br />

direkt um die Ecke des Gasthofs. Im<br />

modern gestalteten Ambiente der ehemaligen<br />

Waschküche des Ortes gibt es<br />

heute Matjes, Bismarckhering und andere<br />

Fischleckereien im Brötchen auf die Hand,<br />

daneben liegt fangfrischer Fisch, im Regal<br />

stehen blau etikettierte Gläser mit der<br />

Aufschrift „Hiddenseer Kutterfisch“. Eine<br />

ganze Produktlinie soll unter dem neuen<br />

Namen entstehen. „Wir wollen das Kulturgut<br />

der Kutterfischerei erhalten und durch<br />

regionale Produkte wieder erlebbar machen“,<br />

sagt Schilling. Sogar ein Verein für<br />

die Fischer wurde gegründet. Mit jedem<br />

verkauften Glas fließt ein Teil des Erlöses<br />

als Spende dorthin zurück. „Unser Ziel ist<br />

es, feste Strukturen zu schaffen, die den


Fischern wirtschaftliche Sicherheit bieten.“<br />

Dieses Prinzip denkt Mathias Schilling<br />

schon lange weiter: Sein Hofladen<br />

ist mittlerweile Regionalversorger, seit<br />

der örtliche Konsum 2013 geschlossen<br />

wurde. „Früher war Schaprode Niemandsland“,<br />

sagt Schilling. „Die Leute sind vom<br />

Parkplatz auf die Fähre nach Hiddensee<br />

und waren weg.“ Auch viele Einheimische<br />

kehrten dem Ort in den letzten Jahren<br />

den Rücken, zogen fort. Für den 35-Jährigen<br />

stand fest, dass Schaprode attraktiver<br />

werden muss, wenn sich das ändern soll.<br />

Von Anfang an versuchte er, regionale<br />

Netzwerke zu schaffen, die Leute in ein<br />

Boot zu holen. Noch heute ist das nicht<br />

immer so einfach, denn Schillings Herkunft<br />

aus dem Westen ist für einige nach<br />

wie vor ein rotes Tuch.<br />

Zurück zu den Wurzeln<br />

Dabei hat seine Familie ihre Wurzeln genau<br />

hier. Seit 700 Jahren wird die Insel<br />

Öhe – direkt gegenüber dem Hafen und<br />

nicht mal eine Fährminute von Schaprode<br />

entfernt – privat bewirtschaftet. Zunächst<br />

von der Familie von Öhe, im 19. Jahrhundert<br />

heiratete die Familie Schilling ein und<br />

führte die Tradition fort. Die Urgroßtanten<br />

Loretta und Ida bewirtschafteten das 75<br />

Hektar große Eiland zwischen 1860 und<br />

1921 sogar selbst, pflanzten doppelreihige<br />

Baumalleen, die bis heute den Weg zum<br />

Gutshaus prägen und in denen Mathias<br />

Schilling auf dem Weg von seinem Boot<br />

zum Haus immer wieder gerne die Seele<br />

baumeln lässt. Später lebten hier Schillings<br />

Großeltern, sein Vater Carsten Schilling<br />

wuchs auf der Insel auf. Für die Enteignung<br />

nach 1945 war diese zu klein. Weil aber die<br />

DDR Carsten Schilling die Aussicht auf ein<br />

Medizinstudium verhagelte, floh er 1965<br />

mit einem Faltboot über die Ostsee gen<br />

Westen und ließ sich in Schleswig-Holstein<br />

nieder, wo später Sohn Mathias aufwächst.<br />

Dieser liebt die Besuche auf der Insel schon<br />

als Kind. 2006 übernimmt der studierte<br />

Landwirt die Insel und zieht mit seiner Familie<br />

mitten in den Nationalpark Vorpommersche<br />

Boddenlandschaft.<br />

Bis zu 150 Rinder beweiden die Salzwiesen<br />

auf der kleinen Insel. Rund dreißig<br />

Monate genießen die Tiere der Fleischrassen<br />

Blonde d‘ Aquitaine und Limousin<br />

die Seeluft, danach wird ihr Fleisch von<br />

einem regionalen Feinkost-Metzger zu<br />

Wurstspezialitäten verarbeitet und im<br />

eigenen Hofladen verkauft. Die besten<br />

Stücke des delikaten Fleisches werden in<br />

Schillings Gasthof serviert. Das nehmen<br />

Besucher wie Einheimische gerne an und<br />

kehren zu jeder Jahreszeit dort ein. Dies<br />

liegt wohl nicht zuletzt an der medialen<br />

Aufmerksamkeit, die der Familie seit Jahren<br />

zuteilwird. Viele haben schon über die<br />

Schillings, ihre Insel und ihr Leben dort<br />

berichtet. Geht man mit Mathias Schilling<br />

durch den Ort, wird er von allen Seiten<br />

gegrüßt, vorbeigehende Fährgäste<br />

raunen sich zu: Das ist doch der aus dem<br />

Fernsehen. Starallüren hat Mathias Schilling<br />

dadurch jedoch nicht entwickelt. Im<br />

Gegenteil: Er freut sich über das Interesse<br />

und sieht vor allem die Vorteile für den Ort<br />

und seiner Vision davon.<br />

Ständig entwickelt er neue Ideen, bleibt<br />

nicht stehen, sondern versucht, vorhandene<br />

Chancen und Gelegenheiten zu nutzen.<br />

So soll demnächst ein Laden für regionale<br />

Wollprodukte von den in der Region grasenden<br />

Schafen entstehen. In einem weiteren<br />

Geschäft möchte er handgemachte<br />

Produkte von hiesigen Erzeugern und<br />

Manufakturen anbieten. „Für den Besucher<br />

Anreize schaffen, wiederzukommen“,<br />

nennt er das und freut sich, wenn diese<br />

Idee funktioniert und die Gäste ihm ihre<br />

Begeisterung mitteilen. „Das zeigt doch,<br />

dass wir den richtigen Weg gehen.“<br />

11


Frau Hille, Sie sind in essen geboren,<br />

haben in Frankreich und Berlin kunst<br />

studiert und lange dort gelebt. Wie sind<br />

Sie hier in dem kleinen Ort Starkow gelandet?<br />

Den habe ich 2001 eher zufällig entdeckt,<br />

während eines Künstlerstipendiums in<br />

Ahrenshoop. Schon damals hat mir die<br />

Gegend sehr gut gefallen. Mit zwei kleinen<br />

Kindern wollte ich dann schließlich irgendwo<br />

den Anker werfen. Die Nähe zur Ostsee<br />

spielte bei der Entscheidung natürlich<br />

auch eine Rolle.<br />

Seit über zwölf Jahren leben Sie mit Ihren<br />

kindern nun hier. War es die richtige<br />

entscheidung?<br />

Unbedingt. Mein Leben ist hier viel erfüllter<br />

und ich werde nicht ständig von unendlich<br />

vielen Reizen abgelenkt. Mir ist hier erst<br />

richtig klar geworden, wie viel Energie es<br />

kostet, in einer Großstadt zu leben. Hier<br />

habe ich einfach mehr Lebensqualität.<br />

Also alles perfekt?<br />

Klar, die Fahrtzeiten sind hier natürlich<br />

manchmal länger und die Entfernungen<br />

größer. Das erfordert dann einfach eine<br />

bessere Planung.<br />

Wie hat das leben hier Ihre Arbeit als<br />

künstlerin beeinflusst?<br />

Es ist immer schwer zu sagen, was wäre gewesen,<br />

wenn. Wie hätte ich mich künstlerisch<br />

entwickelt, wenn ich in Berlin geblieben<br />

wäre, und so weiter. Ich schätze sehr,<br />

dass hier mehr Verbindlichkeit herrscht,<br />

auch dadurch, dass die Künstlerdichte hier<br />

einfach nicht so groß ist wie in Berlin. Außerdem<br />

wird dadurch der einzelne Künstler<br />

ganz anders wahrgenommen.<br />

Ihr Mann arbeitet weiterhin in Berlin.<br />

Fehlt Ihnen das Großstadtleben?<br />

Eigentlich bin ich nur noch sehr selten in<br />

Berlin, zu Jurysitzungen oder Tagungen.<br />

Viel häufiger kommen uns Berliner Freunde<br />

hier besuchen. Mein Lebensschwerpunkt<br />

hat sich nahezu komplett hierher<br />

ANKER GEWORFEN<br />

KÜNSTLERIN ANNE HILLE SPART AUF DEM LAND<br />

WICHTIGE LEBENSENERGIE<br />

verlagert, auch durch die Arbeit mit den<br />

Pferden.<br />

Mittlerweile haben Sie neben Schafen,<br />

Hühnern, kaninchen und Hunden insgesamt<br />

zehn Pferde auf Ihrem Hof. eine<br />

interessante kombination – kunst und<br />

landleben.<br />

In der Tat. Schon von Anfang an haben<br />

wir auf dem Hof auch Ferienwohnungen<br />

vermietet, sozusagen als zweites Standbein.<br />

Die Liebe zum Reiten stammt noch<br />

aus meinen Kindertagen. Es lag nahe, hier<br />

auch Pferde zu halten. Mittlerweile bilde<br />

ich im Bereich Horsemanship und Westernreiten<br />

aus, biete Wanderritte und Ausflüge<br />

zu Pferd an.<br />

Bleibt da noch Zeit für die eigene kunst,<br />

die Bildhauerei?<br />

Oh ja. Außerhalb der Urlaubssaison kehrt<br />

hier ja auch immer wieder Ruhe ein. Dann<br />

konzentriere ich mich auf die künstlerische<br />

Arbeit in meinem Atelier. Das ist immer<br />

auch ein schöner Wechsel mit den Jahreszeiten.<br />

Außerdem veranstalte ich hier auch<br />

Kunstworkshops oder lade ausländische<br />

Künstler zu Arbeitsaufenthalten ein. Sogar<br />

internationale Kunst-Symposien haben wir<br />

hier schon organisiert. Durch meine Arbeit<br />

im Künstlerbund MV bin ich natürlich auch<br />

immer nah dran an der Kunstszene im<br />

Land.<br />

das ist wirklich ein beeindruckend breites<br />

Betätigungsfeld.<br />

Das stimmt. Und ich kann Ihnen sagen,<br />

meine Tage hier sind wirklich immer sehr<br />

erfüllt.<br />

12


DAS GRETZO<br />

WUSELIGE HANDPUPPE ERKLÄRT KINDERN DAS KÜSTENLEBEN<br />

nallroter Kopf, riesige Kartoffelnase,<br />

ein großer Mund und gelbe Gummistiefel<br />

– das Gretzo braucht nicht<br />

viel, um die Aufmerksamkeit von Groß und<br />

Klein auf sich zu ziehen. Sein neugieriges<br />

Mundwerk verleiht ihm Lars Engelbrecht.<br />

Er hat das flauschige Wesen vor knapp<br />

drei Jahren erschaffen – nach den Ideen<br />

seiner kleinen Tochter – und erklärt damit<br />

nun Fragen, die Kinderherzen bewegen.<br />

Auf der Bühne erlebt er dann mit dem<br />

wuseligen Gretzo viele Abenteuer rund<br />

um das Leben an der Küste, etwa bei der<br />

Seemannsmission, in der Sanddornplantage<br />

oder auf einem Segelboot. Wie das<br />

Gretzo liebt auch Lars Engelbrecht das<br />

Meer. Die Ideen für seine Geschichten<br />

entstehen im unmittelbaren Umfeld seiner<br />

Heimatgemeinde Dierhagen auf dem<br />

vorderen Zipfel der Halbinselkette Fischland-Darß-Zingst.<br />

Drei Kinderbücher sind<br />

dort bereits entstanden. Noch größerer<br />

Beliebtheit erfreuen sich die Geschichten<br />

mittlerweile als Hörbuch auf CD. Als<br />

Musiker, ehemaliger Sänger und Songwriter<br />

in einer Mittelalterband kennt er<br />

die Arbeit im Tonstudio sehr gut. Umso<br />

mehr genießt er es, dort jetzt seine eigenen<br />

Geschichten für Kinder produzieren<br />

zu können. Etwa 60 Auftritte – Lesungen<br />

und Singungen, wie er es nennt – hat er im<br />

Jahr. Vor allem die Kurverwaltungen der<br />

Ostseebäder engagieren Engelbrecht für<br />

die Unterhaltung ihrer kleinen Gäste.<br />

Den besonderen Draht zu ihnen bringt<br />

nicht zuletzt sein eigentlicher Beruf mit<br />

sich: Als Jugendsozialarbeiter arbeitet er –<br />

übrigens in Kassel geboren – seit 2005 in<br />

<strong>Vorpommern</strong>. Es war ein glücklicher Zufall,<br />

dass ihn ein Jobangebot nach dem Studium<br />

der sozialen Arbeit in Berlin letztendlich<br />

wieder zu den ursprünglichen Wurzeln<br />

seiner Familie an die vorpommersche<br />

Küste geführt hat. Hier wachsen nun seine<br />

beiden Kinder auf, er selbst kann hier frei<br />

arbeiten. Während einer Pilgerreise nach<br />

Santiago de Compostela entschied er sich<br />

dafür, die anfänglich nur für die eigenen<br />

Kinder erzählten Gretzo-Geschichten in<br />

Form von Kinderbüchern und Hörspielen<br />

für alle erlebbar zu machen. Sein Ziel ist,<br />

dass seine CDs bald überall in Deutschland<br />

erhältlich sind.<br />

13


MOBILE KAFFEEKULTUR<br />

EIN KOMPLETTER NEUSTART AUS PURER LEIDENSCHAFT ZUM KAFFEE<br />

ie es ist, wenn man an einem neuen<br />

Ort noch einmal komplett von vorne<br />

anfängt, wissen Michelle und<br />

Marcel Rost ganz genau. „Eigentlich war<br />

unser Leben bis zur Rente durchgeplant“,<br />

sagt Michelle Rost. „Aber irgendwann haben<br />

wir uns gefragt, ob das so sein muss,<br />

ob es für uns nicht auch einen anderen<br />

Weg geben könnte.“ Dann spielte der Zufall<br />

eine entscheidende Rolle. Die gelernte<br />

Gastronomin, leidenschaftliche Kaffeegenießerin,<br />

lebte und arbeitete lange in<br />

Österreich, absolvierte dort zusätzlich zur<br />

Weinschule eine Ausbildung zum Kaffeekoch,<br />

lernte die Kaffeekultur kennen. Die<br />

Leidenschaft für das schwarze Heißgetränk<br />

aus gerösteten Kaffeebohnen wurde<br />

jedoch immer wieder getrübt, der Genuss<br />

machte ihr gesundheitliche Probleme. „Irgendwann<br />

sagte mein Arzt, ich müsse meinen<br />

Kaffeekonsum einschränken. Aber das<br />

kam für mich nicht infrage. Wir probierten<br />

die Sorten aus dem Handel rauf und runter,<br />

aber ein verträglicher Kaffee war nie<br />

dabei.“ Irgendwann schlug Marcel Rost<br />

vor, es einfach selbst zu versuchen. Da war<br />

sie, die Idee für was Eigenes. Die beiden<br />

beschlossen, damit noch einmal komplett<br />

neu anzufangen.<br />

Sie zogen aus der sächsischen Heimat in<br />

den Nordosten Deutschlands, ließen sich<br />

von einem peruanischen Kaffeebauern im<br />

Rösthandwerk ausbilden, beschäftigten<br />

sich mit der Biologie, Chemie und dem<br />

Mikroklima rund um die Kaffeepflanze.<br />

„Wir wollten den gesamten Kreislauf, die<br />

natürliche Balance verstehen“, erinnert<br />

sich Michelle Rost. Zunächst boten sie ihre<br />

Dienste als Lohn-Röster an, gründeten<br />

einen Handel für regionale Bio-Feinkostprodukte.<br />

Immer mehr rückte jedoch die<br />

Röstung eigener Produkte in den Vordergrund.<br />

Erste Röstexperimente mit Korn<br />

und Lupine liefen an. Heute hat sich das<br />

Unternehmerpaar mit seiner mobilen Rösterei<br />

– der einzigen in Norddeutschland<br />

– einen festen Stand auf den Bio-Märkten<br />

der Region aber auch im Nachbarland<br />

Schleswig-Holstein gemacht. Neben klassischen<br />

Kaffeespezialitäten bieten sie dort<br />

auch Kakaovariationen und Lupinenkaffee<br />

an. Dazu gibt es geröstete und karamellisierte<br />

Kakaobohnen, vegane Naschereien<br />

und andere Spezialitäten. Serviert wird in<br />

Porzellantassen, wer möchte bekommt<br />

dazu einen handbemalten Porzellanlöffel.<br />

Der Erhalt der Kaffeekultur – immerhin<br />

weit mehr als 600 Jahre alt – ist den beiden<br />

sehr wichtig. Deshalb wollen sie auch<br />

auf den Märkten nach wie vor präsent sein<br />

– zusätzlich zur stationären Bio-Rösterei<br />

in Barth, deren Eröffnung unmittelbar bevorsteht<br />

und wo die Kaffeespezialitäten<br />

zukünftig auch im Werksverkauf erhältlich<br />

sein werden. „Wir wollen das schonend<br />

traditionelle Handwerk des Kaffeeröstens<br />

erlebbar machen und die Zunft würdig<br />

vertreten“, sagt Marcel Rost. Seit zwei<br />

Jahren bauen sie einen Teil ihrer Rohstoffe<br />

sogar selbst an. Auf <strong>Rügen</strong> wächst die<br />

blaue Süßlupine, die zu koffeinfreien, reizstoffarmen<br />

und basischen Spezialitäten<br />

verarbeitet wird. Dazu kommen alte und<br />

seltene Getreidesorten, die ebenfalls zu<br />

leckeren Heißgetränken veredelt werden.<br />

Unendlich viele Ideen haben die beiden<br />

noch. „Für uns ist es die Erfüllung, unsere<br />

Leidenschaft hier in der Nationalparkregion<br />

leben zu können, das Tempo dafür<br />

selbst zu bestimmen und den Weg selbst<br />

in der Hand zu haben.“<br />

14


onne und salzige Luft hat das<br />

Gesicht von Martin Rurik schon<br />

reichlich abbekommen. 400 bis<br />

500 Fahrten hat er in der vergangenen<br />

Saison auf dem Bodden zwischen Festland<br />

und Halbinsel Fischland-Darß-Zingst<br />

unternommen. In diesem Jahr könnten<br />

es sogar noch mehr werden, denn der<br />

gelernte Bootsbauer hat seine kleine Segelflotte<br />

aufgestockt. „Charlotte“ heißt die<br />

Neue und wird vom Borner Hafen aus künftig<br />

die Arbeit der „Bernstein“ unterstützen.<br />

Beide „Damen“ haben einiges gemein. Das<br />

wohl markanteste Merkmal sind die dunkelbraunen<br />

Segel. Die Farbe stammt aus<br />

einem Gemisch von Ockererde, Eichenrinde,<br />

Rindertalg und Leinöl und soll den<br />

Segelstoff vor Wind und Wetter schützen.<br />

Jeder Bootsmann schwört auf seine eigene<br />

Mischung. Seit dem 15. Jahrhundert dienten<br />

die Zeesenboote der Schleppnetzfischerei<br />

im Bodden. Der Name stammt<br />

vom verwendeten Fangnetz, der Zeese.<br />

Bei gesetztem Segel vor dem Wind treibend,<br />

zog das Boot dieses Grundschleppnetz<br />

hinter sich her. Auf diese Weise fingen<br />

die Fischer Zander, Hecht und Barsch. Die<br />

wenigen noch existierenden Boote sind<br />

heute meist nur noch als Traditionssegler<br />

und Touristenattraktion auf dem Gewässer<br />

unterwegs.<br />

Martin Rurik hat sein Herz an sie verloren.<br />

2005 hat er sein erstes Boot, die heutige<br />

„Bernstein“ gekauft. Schon seit seiner Lehrzeit<br />

hatte er es im Auge. Drei Jahre lang<br />

hat er das vermutlich aus den zwanziger<br />

Jahren stammende Schiff aufwändig restauriert<br />

und wieder flott gemacht – nach<br />

Feierabend und am Wochenende. Seit<br />

2010 nimmt er darauf Gäste mit und zeigt<br />

ihnen in seiner ruhigen Art die Schönheiten<br />

der Boddenlandschaft vom Schiff aus.<br />

BODENSTÄNDIG<br />

ZEESENBOOTSBAUER MARTIN RURIK IST SEINER<br />

HEIMAT IMMER TREU GEBLIEBEN<br />

Häufig dabei ist Ehefrau Sandra, die ihren<br />

Mann unterstützt, wo sie kann und die Leidenschaft<br />

für das traditionelle Segeln teilt<br />

– genauso wie der sechsjährige Sohn. Anders<br />

als dieser kommt der gebürtige Stralsunder<br />

Martin Rurik nicht aus einer Seglerfamilie.<br />

Vor allem durch sein Hobby, dem<br />

Modellbau, begeisterte er sich als Kind für<br />

Schiffe. Mit 16 fand er durch Zufall eine<br />

Lehrstelle als Bootsbauer auf dem Festland<br />

bei Barth. Nur wenige Kilometer davon<br />

ist er aufgewachsen, in Trinwillershagen.<br />

Bis heute wohnt er mit der Familie in der<br />

Gegend am Bodden. „Ich wollte nie weg<br />

von hier“, sagt der 36-Jährige. Und dabei<br />

ist es auch geblieben. Von der Welt sieht<br />

er trotzdem genug: Außerhalb der Saison,<br />

wenn seine Boote in der Werft liegen, ist er<br />

als Bootsbauer in den Yachthäfen der High<br />

Society unterwegs und bringt die Schiffe<br />

der Reichen und Schönen in den Häfen<br />

von Monaco oder Mallorca wieder auf<br />

Vordermann. Aber auch an seinen beiden<br />

Zeesenbooten findet er immer genug zu<br />

tun, nimmt sich Zeit für die originalgetreue<br />

Restaurierung und bereitet sie vor für ein<br />

weiteres Jahr in den sanften Wellen der<br />

vorpommerschen Boddengewässer.<br />

15


MENSCH DURCH PFERD<br />

SILKE RITTHALER ARBEITET MIT PFERDEN ALS SPIEGEL<br />

DER MENSCHLICHEN SEELE<br />

underte Stare flattern ganz plötzlich<br />

gleichzeitig auf und erheben<br />

sich flink in die Luft, drehen eine<br />

kurze Runde und landen dann wieder<br />

sanft wie ein Schleier auf dem Boden.<br />

Im Gras picken sie emsig nach Würmern<br />

und anderem Kleingetier, die eigentlichen<br />

Herren dieser Weide lassen sich von<br />

ihnen nicht stören. Galina, Florian und<br />

Lisenko sind Warmblutpferde, Trudy eine<br />

gescheckte Tinkerstute. Diese vier genie-<br />

16<br />

ßen hier ihren täglichen Weidegang. Hier<br />

müssen sie aber auch arbeiten. Wenngleich<br />

ihre Arbeit sich um einiges von<br />

der anderer Pferde unterscheidet. Keine<br />

täglichen Ausritte, Reitübungen oder<br />

Springtrainings bestimmen ihren Alltag.<br />

Ihre Aufgabe besteht darin, Pferd zu sein<br />

und die Menschen daran teilhaben zu<br />

lassen. „Die Körpersprache des Pferdes<br />

als Spiegelbild der menschlichen Seele“,<br />

nennt es Silke Ritthaler. Seit 2012 bietet<br />

sie zusammen mit ihrem Mann Andreas<br />

im kleinen Ort Groß Kordshagen, südlich<br />

des Boddengewässers Grabow, Mentaltraining<br />

für Führungskräfte und Soldaten,<br />

Lebenscoaching und tiergestützte Therapie<br />

bei psychischen Erkrankungen an. „In<br />

unserer Arbeit geht es darum, die eigene<br />

Mitte wieder zu finden, bewusst auf sich<br />

zu achten und sich von festgefahrenen<br />

Glaubenssätzen oder Verhaltensmustern<br />

zu befreien“, erzählt Silke Ritthaler.


Um dies zu erreichen, setzt sie ganz bewusst<br />

auf die Arbeit mit Pferden. Das<br />

funktioniert mit speziellen Führübungen,<br />

immer angepasst an den einzelnen Menschen<br />

und die jeweiligen Bedürfnisse.<br />

„Indem ich die Reaktionen der Pferde<br />

und den Menschen am Pferd beobachte,<br />

erhalte ich viele Informationen über die<br />

Persönlichkeit, und zwar auf unbewusster<br />

Ebene“, berichtet die 40-Jährige.<br />

Dafür liest sie neben der unbewussten<br />

Körpersprache des Menschen die feine<br />

Körpersprache der Pferde in allen ihren<br />

Feinheiten, achtet genau auf Mimik und<br />

Gestik, auf Bewegungen der Mundwinkel,<br />

Nüstern, Augenpartie, deutet sogar<br />

das feine Faltenspiel am Pferdemaul.<br />

„Vielen Menschen ist gar nicht bewusst,<br />

wie sensibel diese Tiere tatsächlich sind.<br />

Umso erstaunter sind sie, wenn durch die<br />

Arbeit mit den Pferden dann tatsächlich<br />

seelische Blockaden lokalisiert und vor<br />

allem benannt werden können.“ Häufig<br />

seien es auch schmerzliche Erlebnisse<br />

oder Erinnerungen, die so zum Vorschein<br />

kommen. Deshalb ist für Silke Ritthaler<br />

das ideale Arbeiten auch nur im Einzelcoaching<br />

möglich. „Wenn wir diese Blockaden<br />

finden, können sie gezielt verarbeitet werden.<br />

In den aufbauenden Trainingsstufen<br />

versuchen wir dann auch, diese bewusst<br />

abzuschließen, hinter uns zu lassen und<br />

uns auf eine Zukunft ohne diese negativen<br />

Störungen zu konzentrieren.“<br />

„dieser Hof hat uns gefunden.“<br />

Zwanzig bis vierzig Gäste betreut Silke<br />

Ritthaler derzeit im Jahr. Wie hilfreich die<br />

Arbeit mit Pferden sein kann, weiß sie aus<br />

eigener Erfahrung. Auch ihr haben die<br />

Pferde geholfen, Blockaden zu lösen, sich<br />

mental zu entspannen.<br />

Außerdem hat sich durch den Umgang<br />

mit den Pferden ihr eigenes Führungsverhalten<br />

verändert. „Nach 14 Jahren<br />

Führungserfahrung von bis zu 500 Mitarbeitern<br />

war ich plötzlich viel klarer und<br />

geduldiger als vorher“, erzählt sie. „Aber<br />

mir wurde auch klar: Das ist nicht mein<br />

Job.“ Sie orientierte sich beruflich um und<br />

wurde Coach für pferdegestützte Persönlichkeitsentwicklung<br />

und Therapeutin für<br />

tiergestützte Therapie. Heute kommen<br />

Menschen aus ganz Deutschland zu Silke<br />

Ritthaler nach Groß Kordshagen, um mit<br />

ihr und ihren Pferden an sich zu arbeiten.<br />

Dort haben sie die nötige Ruhe, die solch<br />

ein Prozess braucht. Abseits vom Alltagsstress<br />

und allen möglichen Reizen der<br />

Umgebung. Von allen Seiten nur Felder,<br />

kein Straßenlärm, die nächste größere<br />

Stadt Stralsund ist 20 Kilometer entfernt.<br />

„Dieser Hof hat uns gefunden“, erzählt die<br />

gebürtige Rostockerin. „Hier haben wir<br />

nun die Ruhe und Freiheit, die wir für unsere<br />

Arbeit brauchen.“<br />

die vielfältigen Geschichten in diesem Heft sind nur ein kleiner einblick in die Ideen- und lebenswelt der Menschen im landkreis<br />

<strong>Vorpommern</strong>-rügen. unzählige mehr könnten erzählt werden, immer wieder gibt es neues zu entdecken. den meisten ist<br />

gemein, dass sich die Menschen, die hinter diesen Geschichten stehen, ganz bewusst für die region als land zum leben und<br />

Arbeiten entschieden haben. entweder, weil sie ihrer Heimat treu bleiben wollen oder, weil sie hier die besten chancen für die<br />

Verwirklichung ihrer Ideen sehen. Von allen immer wieder betont wird die liebe zur natur, die sie hier in vollen Zügen genießen<br />

können, und zwar in ganz unterschiedlichen Facetten. Gleich zwei nationalparke befinden sich im landkreis. die dazugehörigen<br />

Buchenwälder auf rügen zählen sogar zum uneScO-Weltkulturerbe, genau wie übrigens die Altstadt der Hansestadt Stralsund.<br />

es gibt ein Biosphärenreservat, über sechzig naturschutz- und landschaftsschutzgebiete. Hunderte alte Herren- und Gutshäuser<br />

prägen die dörfer in der region, viele von ihnen warten noch darauf, aus ihrem dornröschenschlaf erweckt zu werden. denn<br />

obwohl der landkreis der fünftgrößte im gesamten Bundesgebiet ist, zählt er mit knapp 70 einwohnern pro Quadratkilometer<br />

zu den am dünnsten besiedelten – und bietet damit noch jede Menge <strong>Freiräume</strong>. <strong>Freiräume</strong> für Menschen mit Ideen.<br />

17


Herausgeber:<br />

Wirtschaftsfördergesellschaft <strong>Vorpommern</strong> mbH<br />

Brandteichstraße 20, 17489 Greifswald<br />

Tel: +49 (0)3834 550-605<br />

www.invest-in-vorpommern.de/landaufschwung<br />

redaktion: Manuela Heberer<br />

Illustrationen: Claudia Burmeister<br />

Gestaltung und Satz: Dennis Burmeister<br />

Fotos: Georg Hundt

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!