Die Dixie-Bande
und der ‹Goldene Löwe›
Die Dixie-Bande
Bevor wir uns in das Abenteuer stürzen, sollten wir erst
einmal die Dixie-Bande etwas genauer unter die Lupe
nehmen. Es handelt sich um fünf gewöhnliche Schüler,
die in Brig, einem kleinen Städtchen im Wallis, das Gymnasium
besuchen. Gewöhnliche Schüler? Nicht ganz, wie
wir im Folgenden sehen werden. Es sind zwei Mädchen
und drei Jungen, die eine grosse Leidenschaft teilen: ihre
Musikinstrumente. Zwar ist ihnen jede Musik recht, aber
so richtig wegtreten können sie nur beim guten alten
Jazz. Deshalb nennen sie sich auch sinnigerweise „Die
Dixie-Bande“.
Als Erste wäre da Lara Naville zu nennen, die den belesenen
Pol der Bande bildet. In Martigny geboren, ist
sie ein richtiges zweisprachiges Exemplar. Wenn man sie
auf die Palme bringt (und das geht rasch), kann sie einem
eine regelrechte Dusche eines deutsch-französischen
Gemisches verpassen. Viel lieblicher klingt es, wenn sie
hingebungsvoll ihre Klarinette ertönen lässt.
Thomas Jordan lebt im tiefsten Süden des Wallis, direkt
an der Landesgrenze. Zu gern hätt er schon jetzt
die Posaune geblasen, aber der Musiklehrer besteht zu
seiner Verzweiflung immer noch darauf, dass er erst einmal
das Tenorhorn richtig erlernt. Das Traumziel, einmal
eine richtige, grosse, goldene Posaune zu spielen, lässt ihn
täglich verbissen die öden Tonleitern und Etüden einüben.
Sein grösster Stolz ist sein Schulweg, denn der führt
zuerst per Bahn nach Italien, weil das schneller ist als
die lange Fahrt über den Simplonpass nach Brig. Natürlich
brüstet er sich regelmässig damit, dass er der einzige
Schüler mit reger Auslanderfahrung ist. Sein Spitzname?
Italo natürlich.
Wenn es um technische Dinge geht, rennt jeder gleich zu
Heinz Perren, einem eingefleischten Zermatter, für den es
diesbezüglich keine Geheimnisse gibt. Während der letzten
Jahre hatte er mancher Uhr und manchem Radio den
Garaus gemacht, alles in Einzelteile zerlegt und wieder
zusammengeschraubt. Jetzt aber hat er seine Elektroorgel,
die er mit einigen ausgeklügelten Handgriffen zu einem
richtigen Schaltpult und Tonstudio aufmotzen konnte.
Der gewiefte Techniker hat eigentlich nur ein Problem,
das er nicht lösen kann: Er ist mit Abstand der Kleinste
im Quartett und wird deshalb nur allzu oft gehänselt, was
sich auch in seinem Rufnamen äussert: Kleinstein.
Aus der Sonnenstube des Wallis stammt Marco Pavoni,
Sohn einer alteingesessenen Familie. Ja, alteingesessen in
Palermo auf Sizilien. Wenn er etwas sagt, wagt so schnell
keiner zu widersprechen; besonders dann, wenn er seine
Trompete zum Schmettern bringt. Obwohl schon seine
Grosseltern ins Wallis gezogen waren, hat jeder das Gefühl,
in diesem grossgewachsenen (und auch wohlgenährten)
Knaben fliesse immer noch Mafiablut. Kein Wunder,
dass ihn jeder Don Marco ruft.
Bleibt noch Brigitte Leuenberg. Eigentlich gehört es
nicht zum guten Ton, eine junge Dame zuletzt vorzustellen,
aber Brigitte ist einfach immer zuhinterst und trudelt
überall zuletzt ein. So ist es geradezu typisch, dass die
zierliche Bernerin als letztes Mitglied in die Dixie-Bande
aufgenommen wurde. Ja, Eile ist für Brigitte ein Fremdwort
– es sei denn, sie dresche mit den Trommelschlegeln
auf ihr Schlagzeug ein. Dann ist sie imstande, die ganze
Band ins Allegro vivace zu treiben. Ach ja, ihr Name:
Mutz.
Allen Jungs und Mädchen gewidmet, die mutig
ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen.
© 2016, Rotten Verlags AG, Visp
Autor
Silvio Pacozzi
Herstellung
Mengis Druck AG, Visp
Satz und Gestaltung
Yannic Wymann, Mengis Druck AG
Umschlagbild
Barbara Seiler, www.seilerkreativ.ch
ISBN 978-3-906118-55-0
Gedruckt im Wallis
Kapitel I
«Eine Affenhitze ist das», beschwerte sich Don Marco
und zog den Verschluss einer Cola-Dose auf. Sogleich
spritzte die klebrige Flüssigkeit in alle Richtungen.
«He, kannst du nicht aufpassen», rief Lara.
Kleinstein, Mutz und Italo waren schon aufgesprungen
und wischten sich unter Protest das braune Zeug aus dem
Gesicht.
«Verzeihung», sagte Don Marco und wischte der Dame
ihm gegenüber mit seinem Taschentuch einen Fleck vom
Ärmel. «Tut mir wirklich leid.»
Das Zugabteil war bis auf den letzten Platz besetzt.
«Oh, das macht doch nichts», beschwichtigte die ältere
Dame. «Der Zug hat wohl zu sehr gerüttelt.» Lächelnd
nahm sie ihr Strickzeug wieder auf und klapperte mit den
Nadeln. Immer wieder warf sie interessierte Blicke nach
oben zur Gepäckablage. Plötzlich legte sie das, was wohl
einmal ein Pullover werden sollte, zur Seite.
«Ich glaube, meine Neugier ist stärker als ich. Seit einer
geschlagenen Stunde überlege ich, was ihr in diesen komischen
Koffern mitführt.» Es schien ihr äusserst peinlich
zu sein, sodass sie schleunigst die Augen hinter der
dicken Hornbrille zu Boden senkte und verärgert über
sich den Kopf schüttelte.
«Das sind unsere Instrumente», erklärte Mutz bereitwillig.
«Wir sind die Dixie-Bande.» Gespannt wartete sie
auf die Reaktion der Dame. Scheinbar gelangweilt blickte
sie zum Fenster hinaus. Dabei beobachtete sie aus dem
Augenwinkel die alte Dame. ‹Fein›, dachte Mutz, ‹sie
steigt drauf ein.›
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«Die Dixie-Bande?», staunte die Dame. «Ihr wollt nicht
etwa sagen, ihr dudelt dieses moderne Zeugs?» Sie riss
entsetzt die Augen auf.
«Dudeln? Modern? Wo denken Sie hin», ereiferte sich
Italo. «Unsere Stücke sind absolute Klassiker.»
«Nicht doch, ich wollte euch gewiss nicht beleidigen.»
Dann räusperte sie sich. «Ich bin übrigens Rosalie von
Gunten. Wisst ihr, in Locarno findet in den kommenden
Tagen das grosse Blumenfest statt – Festa dei fiori – ein
herrlicher Gedanke. Stellt euch vor, eine ganze Woche
lang werde ich in dieser Blumenpracht schwelgen.» Verzückt
klatschte sie in die Hände. Dann hielt sie inne und
lachte. «Ach, was erzähle ich da. Das wird euch kaum
interessieren.»
Da strahlten die fünf Freunde. «Und ob! Genau da fahren
wir auch hin.» Mutz nahm einen Schluck aus Don
Marcos Dose und begann, mit roten Wangen zu erzählen:
«Am letzten Tag findet der grosse Blumenregen statt – aus
den umliegenden Ländern starten kleine Sportflugzeuge
und lassen Tausende von Blumen hinunterregnen.»
«Ich weiss, ich weiss», japste Rosalie von Gunten und
klatschte abermals in die Hände. «Ich werde dabei sein –
und zwar an der Seite von Alfonso Stavic, dem Ehrenpräsidenten
des Festes – na, was sagt ihr jetzt?» Ihre Augen
funkelten vor lauter Glück. Einen Augenblick schien sie
weit weg zu sein. In ihrer weissen Seidenbluse mit den
bauschigen Rüschen vor der Brust und dem geblümten
Faltenrock sah sie selbst aus wie ein lebendes Blumenbouquet.
Plötzlich zuckte sie zusammen und fuhr sich über
die weiss gepuderte Nasenspitze. «Die Dixie-Bande und
Blumen? Wie passt denn das zusammen?»
Italo beeilte sich zu erklären: «Ganz einfach, wir werden
den grossen Blumenregen musikalisch umrahmen.»
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Er warf sich stolz in die Brust und ergänzte: «Wissen Sie,
wir haben ein Stipendium von unserer Mittelschule bekommen.»
Dass der Grossteil der Auslagen für die kommende
Woche von der Walliser Kantonspolizei berappt
wurde, verschwieg er. Ja, das war der Lohn dafür, dass sie
vor einem Jahr den gefürchteten ‹Weissen Drachen› mit
seiner Falschgeldbande dingfest gemacht hatten. Während
der nächsten Woche durften sie an einem Musiklager
in Locarno teilnehmen. Tagsüber würden sie unter der
Anleitung eines Berufsmusikers üben, und abends durften
sie die eingeübten Stücke vor verschiedenen Restaurants,
Pizzerias und sogar auf der Piazza Grande zum Besten
geben. Ein bisschen aufgeregt waren sie schon, aber die
Gelegenheit, vor so viel Publikum aufzutreten, würden sie
so schnell nicht wieder bekommen. Besonders der Tag des
Blumenregens lag ihnen auf dem Magen. Das Fernsehen
würde dabei sein. Wer weiss, vielleicht kamen auch sie
kurz ins Bild.
«Oh, ich liebe Musik», schwärmte Rosalie von Gunten
und machte eine Geste, als wolle sie die ganze Welt
umarmen. Dabei quoll eine Wolke von Kölnischwasser
von ihrem Ärmel-Umschlag herüber. «Ich liebe eigentlich
alles Schöne, wisst ihr.» Sie lehnte sich nach vorn und
raunte vielsagend: «Besonders ganz, ganz alte Dinge. Ja,
das sind die schönsten Kunstschätze.»
Italo rutschte unruhig auf der Sitzbank hin und her. Zu
gut war ihm die Jahresabschlussprüfung über die Ägypter
und alten Griechen in Erinnerung. Besonders glanzvoll
hatte er dabei nicht abgeschnitten.
Dann ertönte eine blecherne Stimme aus dem Zuglautsprecher:
«Meine Damen und Herren, wir treffen in wenigen
Minuten in Locarno ein.»
Rosalie von Gunten verstaute ihr Strickzeug in einer
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auchigen Umhängetasche und presste die beiden Druckknöpfe
zu. Dann stand sie trotz ihres Alters erstaunlich
behände auf und strich sich den Rock glatt.
«So, schliesslich muss ich einen guten Eindruck auf Alfonso
machen. Ich habe ihn seit über dreissig Jahren nicht
mehr gesehen.» Sie kicherte und hielt sich die Hand vor
den Mund. «Damals war ich knappe vierzig – und die
jüngste Bibliothekarin in Bern.» Sie war ganz aufgeregt.
Schliesslich schlängelte sie sich seitwärts den schmalen
Gang entlang zum Ausstieg, wo sie ihnen augenzwinkernd
zuwinkte.
«So möchte ich auch mal werden», sinnierte Lara, während
sie ihren Klarinettenkasten herunterhob und sich die
Tragtasche umhängte.
«Wie?», frotzelte Kleinstein. «Du möchtest mit einem
Blumenrock herumreisen und Teenagern die Ohren volllabern?»
«Iiih, bist du gemein», schimpfte Mutz. «Rosalie von
Gunten ist eine sehr nette, alte Dame, jawohl!»
«Ist ja schon gut», verteidigte sich Kleinstein. «Sie erinnerte
mich irgendwie an unsere frühere Biologielehrerin.
Die flippte auch immer aus, wenn sie Blumen sah!»
Mutz schenkte ihm einen letzten feindseligen Blick,
bevor sie alle ausstiegen.
Sie waren keine zehn Meter gelaufen, als ihnen ein
Mädchen entgegeneilte. Sie musste etwa zwei oder drei
Jahre älter als sie selber sein. Das Mädchen ging in diesen
modernen Espadrilles, Schuhen aus farbigem Segeltuch
mit geflochtenen Bastsohlen, und trug ein paar Shorts.
Dazu ein T-Shirt, das der Dixie-Bande auf Anhieb imponierte
– quer über den Bauch stand da in grossen Buchstaben:
l. Nationales Musiklager Locarno.
«Hallo, ihr müsst die – Moment mal», sie blätterte in
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einem kleinen Heft. «Ach ja, ihr seid die Dixie-Bande!
Ich bin Gina und hole euch ab.» Sie blickte in die Runde
und musterte die Freunde belustigt. «Ihr seid ja total
zerknittert. War wohl eine lange Reise, was? Wie heisst
ihr denn?»
Sie stellten ihre Koffer auf den Boden und streckten
Gina einzeln die Hand entgegen, um sich vorzustellen.
«Nun, wie sieht’s aus? Habt ihr noch genügend Saft in
den Knochen, um gleich ins Lager zu fahren, oder braucht
ihr erst eine Abkühlung?»
«Eine Abkühlung?» Kleinstein trat interessiert näher.
Gina zwinkerte belustigt. Mit meinem MINI Cooper
sind wir in fünf Minuten am Lido.
Gina bemerkte die ratlosen Gesichter der Dixie-Bande
und lachte hell auf. «Ach so, das Lido! Das ist unser
Strandbad. Wir wär’s mit einem Sprung ins kühle Nass?»
«Also, ich weiss nicht. Ich lasse mein Schlagzeug nicht
gern unbewacht herumstehen», gab Mutz naserümpfend
zu bedenken.
«Na schön, ist auch gut so. Wie ich meinen Vater kenne,
würde er es sowieso vorziehen, dass wir gleich ins Lager
fahren. Er ist euer Musiklehrer für diese Woche. Wartet,
ich helfe euch mit dem Gepäck.» Sie stellte sich auf die
Zehenspitzen und blickte suchend umher.
«Da!», rief sie. «Wir nehmen einen Gepäckwagen.» Gemeinsam
liefen sie den Bahnsteig entlang.
Italo stupfte Don Marco in die Seite. «Sieh mal, da vorne
steht Rosalie von Gunten.» Die alte Dame trug nun einen
weit ausschweifenden Hut und eilte mit ausgebreiteten
Armen einem vornehm gekleideten Herrn entgegen. Der
nahm ihr die Tasche ab und küsste ihren Handrücken.
«Mann, oh Mann», gluckste Kleinstein. «Das ist einer
von der ganz alten Schule.»
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«Ja, mach dich nur lustig», ärgerte sich Mutz. «Das ist
eben noch ein richtiger Gentleman.»
Nach einem zustimmenden Blick von Lara ergänzte sie:
«Was man von den heutigen jungen Männern leider nicht
mehr behaupten kann.»
Gina lachte auf. Ihre pechschwarzen, kurzen Haare waren
an den Spitzen leicht nach innen gerollt und gaben
ihrem Gesicht eine erfrischende Note. «Ich glaube nicht,
dass das für deine Freunde gilt. Die machen mir einen
sehr feinen Eindruck.»
Don Marco hätte sie dafür umarmen mögen, aber er
dachte an das Gejohle und die blöden Sprüche der andern
und liess es bleiben. Er schloss Gina augenblicklich ins
Herz. Endlich eine junge Frau, die ihn richtig einschätzte.
Lara musterte ihn spöttisch und raunte: «Sie wird schon
noch merken, wie du wirklich bist.»
«Ja», brummte Italo: «Fies und gefährlich.»
Da brachen sie in Gelächter aus und rannten mit dem
Gepäckwagen hinter Gina her. Als sie die grosse Bahnhofshalle
verliessen, brandete ihnen der mittägliche Verkehrslärm
entgegen. In der heissen Julisonne flimmerte
die Luft zwischen den Autos und liess die gegenüberliegenden
Häuserreihen zu verschwommenen Linien zerfliessen.
«Puh, hier ist es ja kein bisschen kühler als in einem
Backofen», beschwerte sich Lara.
«Warte mal, bis wir in meinem MINI Cooper sitzen.
Dann kommt dir das hier wie ein Kühlschrank vor.» Gina
wies mit dem Finger zum Parkplatz hinüber. «Gleich da
hinten steht er.»
Völlig verschwitzt kamen sie bei dem Wagen an, der
knapp halb so gross wie die darumstehenden Autos war.
Don Marco kratzte sich am Kopf. «Tia, ich fürchte, das
wird ein wenig eng.»
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«Keine Bange», grinste Gina verschmitzt. «Das hier ist
noch lange nicht der Rekord. Letzte Woche sind wir zu
siebt damit herumgeflitzt.»
«Donnerwetter», staunte Italo und schwenkte sein
Tenorhorn über dem Kopf herum. «Da hattet ihr aber
nicht noch ein Horn, eine Trompete, eine Klarinette, ein
Keyboard und ein Schlagzeug dabei.»
«Gewiss nicht.» Gina überlegte kurz und gab zu bedenken:
«Wir hatten nur ein Klavier auf dem Dach.»
Italo betrachtete sie misstrauisch, bis er das verdächtige
Zucken um ihre Lippen bemerkte, bevor sie ein klirrendes
Lachen ausstiess.
«Iwoh, ich nehme euch nur auf die Schippe. Los jetzt,
versuchen wir, uns in dieses Ungetüm zu zwängen.»
Sie musterte Don Marco eine Weile und entschied
dann: «Du setzt dich am besten vorne neben mich und
stellst das Keyboard und das Horn zwischen die Beine.»
Als sie sich in das kleine Gefährt setzten, mussten sie
zugeben, dass Gina nicht übertrieben hatte. Im Vergleich
zur Aussentemperatur herrschte hier drinnen eine wahre
Gluthitze.
«Das kann ja nur noch besser werden», stöhnte Mutz,
während sie vergeblich versuchte, sich mit dem Stadtplan
frische Luft ins Gesicht zu fächern.
«He, hat jemand einen Schuhlöffel für mich?», japste
Kleinstein, der sich verzweifelt abmühte, sein zweites
Bein in den Wagen zu hieven. Die Tür schnappte erst zu,
als sich Gina von aussen dagegenstemmte. Sie wischte
sich mit der Hand über die Stirn und schwang sich auf
den Fahrersitz. «Na dann Hals- und Beinbruch», flötete
sie. «Schliesslich ist das meine zweite Alleinfahrt.»
«Wie?», stiess Mutz entsetzt aus, während Gina den
Wagen in halsbrecherischer Fahrt in den Verkehr einfädelte.
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«Richtig. Vorgestern habe ich meinen Führerausweis
gemacht. Und vor drei Tagen bin ich achtzehn geworden.»
Stolz warf sie den Kopf in den Nacken.
«Gratuliere», presste Kleinstein mit gemischten Gefühlen
heraus. Zumindest war von jetzt an die Hitze im Auto
nicht mehr seine Hauptsorge.
«Es dauert nur ein paar Minuten», beruhigte Gina.
«Das Lager befindet sich gleich da unten.»
«Direkt am See?», fragte Lara.
«Wo denn sonst? Du wirst dich stundenlang am Strand
aalen können. Schau, in ein paar Tagen siehst du aus wie
ich.» Triumphierend hob sie ihre braungebrannten Arme
in die Höhe.» Dass sie dabei im dichtesten Verkehr das
Lenkrad loslassen musste, schien sie nicht im Geringsten
zu stören.
«Und ich mit meinen Sommersprossen kriege wieder einen
Sonnenbrand vom Feinsten.» Mutz fuhr sich besorgt
über die Nasenspitze.
«Du wirst aussehen wie ein gekochter Hummer», grinste
Italo und rieb sich voller Vorfreude die Hände.
«Autsch, bist du grässlich», ärgerte sich Mutz.
Sie bogen von der Hauptstrasse ab und schwenkten auf
einen kiesbestreuten Weg ein. Zu beiden Seiten war er
von jungen Palmen und blühenden Rhododendronsträuchern
gesäumt. Während sie den Weg entlangratterten,
zuckte die Sonne sekundenweise wie ein riesiges Blitzlicht
durch die Palmenblätter. Nach zweihundert Metern
versperrte eine rot-weisse Barriere den Weg. Am rechten
Strassenrand prangte ein grosses Schild. «Camping Azurro
Lago» stand darauf, und darunter in grossen Lettern:
«Nationales Musik-Camp».
«Ich werd verrückt. Wir wohnen auf einem Camping.
Davon habe ich lange geträumt.» Don Marco war zufrieden.
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«Die drei Jungs haben ein Zelt für sich und die Mädchen
bekommen eines gerade daneben. Zum Üben und
für die Mahlzeiten werdet ihr in die Gemeinschaftsräume
gehen.» Der MINI Cooper kam wackelnd zum Stehen.
Gina sprang hinaus und befreite die eingepferchte Dixie-Bande
aus dem fahrbaren Ofen.
Im vordersten Wohnwagen wurden die Gardinen zur Seite
geschoben. Dann sprang die Tür auf und ein etwa fünfundvierzigjähriger
Mann mit einem kohlrabenschwarzen,
keck geschwungenen Schnurrbart trat hervor. Er trug
dasselbe T-Shirt wie Gina mit der Aufschrift des Musiklagers.
Es spannte sich lustig über den Ansatz seines
kleinen Schmerbauchs. «Da seid ihr ja», rief er und hob
die Arme, um Gina zu begrüssen.
«Ist alles gut gegangen?», wandte er sich an die anderen.
«Ich mache mir noch ein bisschen Sorgen, wenn Gina
alleine in die Stadt fährt, vor allem, weil es das erste Mal
war.»
«Aber Papa, musst du denn alles verraten?» Gina sah
zerknirscht zu Boden.
«Ich bin Wladimir Maliescu», sagte er und streckte jedem
der Ankömmlinge seine behaarte Hand entgegen.
Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete die
Dixie-Bande.
«Ihr seht aus, als müsstet ihr in der nächsten Sekunde
zusammenklappen.» Er drehte sich um und verschwand
im Wohnwagen. Eine Minute später erschien er mit einem
Tablett gefüllter Gläser. Die Dixie-Bande und Gina
stürzten den eisgekühlten Tee gierig hinunter und stöhnten
vor Genuss.
«Ihr seid also die Dixie-Bande», brummte Wladimir
mit seiner tiefen, sonoren Stimme. «Dann werden wir uns
ja täglich sehen. Er machte eine ruckartige Bewegung,
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ging in die Knie und blies die Wangen auf.
«Jazz – Louis Amstrong – Dixieland – Ragtime. Das
ist mein Leben.» Er richtete sich lachend auf und klopfte
Kleinstein auf die Schulter. «Ich zeige euch jetzt, wo ihr
schlafen werdet.» Ginas Vater lief vor ihnen her. Erst jetzt
bemerkten sie, dass er die Haare hinten zu einem Pferdeschwanz
gebunden hatte.
Kleinstein stiess Lara an: «Von hinten sieht er beinahe
aus wie du.»
«Sei doch still», zischte Lara und zupfte beleidigt ihren
Pferdeschwanz zurecht.
Ihre beiden Zelte waren unter einer kleinen Birkengruppe
bereits aufgespannt. Daneben stand wie eine Lanzette
eine spitze, giftgrüne Zypresse. Die Dixie-Bande war begeistert.
In ihnen stieg augenblicklich Ferienstimmung
auf. Am Abend würden sie ein Feuer machen und Würste
braten. Es versprach, eine herrliche Woche zu werden. In
diesem Augenblick konnten sie noch nicht wissen, dass
ein neues, gefährliches Abenteuer mit der Bekanntschaft
von Rosalie von Gunten bereits seinen Anfang genommen
hatte.
Sie rollten ihre Schlafsäcke im Zelt aus und verpufften
die Taschen in den Ecken. Im Zelt blieben sie nur kurz,
da es über Mittag hier drinnen wie in einem Treibhaus
war. Sie tauschten ihre langen Hosen gegen kurze und
streiften sich bequeme Sandalen über. Als sie vor das Zelt
traten, lagen auf einem Stein fünf dieser T-Shirts, wie
sie Gina und ihr Vater trugen. Am obersten steckte ein
Zettel: ‹Viel Spass beim Umziehen. Das Nachtessen gibt’s
pünktlich um sechs!› Lara warf einen Blick auf die Uhr.
«Das ist ja in zehn Minuten. Kommt, lasst uns gehen.»
Sie schlenderten zwischen den Zelten und Wohnwagen
hindurch und erreichten bald das Verwaltungsgebäude,
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das aus einer riesigen, abbildungsgetreu nachgeahmten
Windmühle und einem hölzernen Anbau mit einer gedeckten
Veranda bestand. Hier herrschte bereits emsiges
Treiben von jungen Musikanten aus der ganzen Schweiz.
Es mussten mindestens dreissig Leute sein, die auf der
Veranda an den roten Metalltischen sassen und mit Heisshunger
über das Nachtessen herfielen. Das Geklapper und
Geklimper der Teller und Bestecke weckte ihren Appetit.
Hinter zwei aneinandergestellten Tischen stand Gina und
winkte mit der Schöpfkelle. «Nur zu, ihr Walliser, es hat
noch genug für euch.»
«Von wegen Walliser», empörte sich Mutz. «Das möchte
ich mir doch verbitten.»
Kleinstein legte ihr den Arm um die Schultern und
raunte gönnerhaft: «Wir machen dich hiermit zur Ehrenwalliserin
– du Berner Mutz.»
Sie bekamen einen eigenen Tisch am Rand der Terrasse,
wo sich ihnen ein herrlicher Ausblick über die Grünanlage
und den Lago Maggiore präsentierte. Das einzig
Störende war ein laut summender Abzugsventilator, der
über einem der Fenster seine eintönige Arbeit verrichtete.
Dahinter musste die Küche liegen. Sie holten ihre Teller
und liefen gleich zu Gina hinüber.
«Zur Begrüssung im Tessin gibt es Pizza aus dem Holzofen.»
Don Marco lief das Wasser im Mund zusammen.
«Herrlich», sagte er und wollte gerade betonen, was für
einen Bärenhunger er habe, als drinnen ein Teller zu Boden
fiel und zwei Männerstimmen lauthals zu streiten
begannen. Einer der beiden schien Wladimir Maliescu
zu sein.
Gina wurde blass und streifte die Schürze ab. «Entschuldigt
bitte, ich bin gleich zurück.» Sie schlüpfte ins
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Haus. Kleinstein zuckte mit den Schultern und schaufelte
sich ein grosses Pizzastück auf den Teller.
Es schmeckte ausgezeichnet, aber irgendwie lag eine
angespannte Atmosphäre in der Luft.
«Was das wohl bedeuten sollte?», wunderte sich Lara.
Hinter dem Fenster hörte man immer noch die beiden
Stimmen.
«Wenn dieser blöde Ventilator nicht so einen Lärm machen
würde …»
«He, du bist schon wieder im Jagdfieber! Vergiss es –
nicht überall laufen Gangster herum – und schon gar
nicht im Musiklager.»
Lara sagte kein Wort. Sie kaute auf der Pizza herum
und grinste Kleinstein an, bis der sich erhob.
«Okay, du hast gewonnen. Er schaute sich verstohlen
um und fasste durch das gekippte Fenster in die Küche,
um am Bändel zu ziehen, der vom Ventilator herabbaumelte.
Der stotterte noch einige Male und gab nach ein
paar ruckartigen Umdrehungen seinen Dienst auf.
«… und das auch nur, weil ich in so kurzer Zeit keinen
neuen Trompetenlehrer finden kann. Sonst wären Sie
draussen, das garantiere ich Ihnen – Sie – Sie Zigeuner!»
Eine Tür knallte zu, dann war es still.
Die Dixie-Bande war sprachlos. Weshalb sollte man
Wladimir Maliescu entlassen wollen? Was hatte er getan?
Wer war der andere Mann? Das Jagdfieber hatte sie
aufs Neue gepackt. Sie hofften, von Gina noch etwas zu
erfahren, aber sie zeigte sich an diesem Abend nicht mehr.
Sie beschlossen, noch einen kleinen Spaziergang zu machen
und dann früh schlafen zu gehen. Es war ein langer
Tag gewesen.
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