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ZESO 4/16

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<strong>ZESO</strong><br />

ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />

04/<strong>16</strong><br />

ERMESSEN SPIELRÄUME ZUR BEMESSUNG DER HILFELEISTUNG SIND EIN<br />

SCHWIERIGER BALANCEAKT IM INTERVIEW ALTERSFORSCHER FRANÇOIS HÖPFLINGER<br />

ZUR ARBEIT IM ALTER WOHLBEFINDEN JE REICHER, UMSO GLÜCKLICHER?


SCHWERPUNKT14–23<br />

ErmesseN und SPIELRäume<br />

Sozialarbeitende in der Sozialhilfe leisten täglich<br />

Massarbeit: Sie müssen die individuellen Notsituationen<br />

richtig erfassen sowie Hilfeleistungen auf<br />

die einzelnen Personen und Umstände anpassen.<br />

Dabei werden ihnen vom Gesetz verschiedene<br />

Ermessensspielräume eingeräumt. Der Schwerpunkt<br />

zeigt, wie die Sozialarbeitenden mit dieser<br />

Herausforderung umgehen, und präsentiert<br />

juristische und soziologische Konzepte, die dem<br />

Ermessensbegriff zugrunde liegen.<br />

<strong>ZESO</strong><br />

zeitschrift für sozialhilfe<br />

Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />

www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS, Monbijoustrasse<br />

22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch, Tel.<br />

031 326 19 19 Redaktion Regine Gerber, Ingrid Hess<br />

Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe Catherine Arber,<br />

Monica Budowski, Therese Frösch, Martin Greter, Katrin Haltmeier,<br />

Claudia Hänzi, Cathrin Hüsser, Martin Kaiser, Claudia Kaufmann,<br />

Markus Kaufmann, Paula Krüger, Maurizia Masia, Susanna Niehaus,<br />

Iris Schaller, Benjamin Schindler, Robin Tillmann, Daniela Tschudi,<br />

Felix Wolffers, Titelbild Rudolf Steiner layout Marco Bernet,<br />

mbdesign Zürich Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung<br />

Rub Media, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch,<br />

Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement CHF 82.– (SKOS-<br />

Mitglieder CHF 69.–), Jahresabonnement ausland CHF 120.–,<br />

Einzelnummer CHF 25.–.<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN 1422-0636 / 113. Jahrgang<br />

Bild: Keystone<br />

Erscheinungsdatum: 5. Dezember 20<strong>16</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint im März 2017.<br />

2 ZeSo 4/<strong>16</strong> inhalt


INHALT<br />

5 Sichere Altersvorsorge braucht eine<br />

stärkere AHV. Kommentar von<br />

Therese Frösch und Felix Wolffers<br />

6 13 Fragen an den neuen SKOS-<br />

Geschäftsführer Markus Kaufmann<br />

8 Praxis: Wohnkosten und Sanktionen<br />

bei jungen Erwachsenen<br />

9 Trotz Anspruch keine Sozialhilfe<br />

bezogen – Scham oder Unwissen?<br />

10 «Arbeiten im Alter wird immer mehr<br />

zum Thema werden»<br />

Interview mit François Höpflinger<br />

14 SCHWERPUNKT:<br />

Ermessen und SPIELRäume<br />

<strong>16</strong> Die Verwaltung muss über<br />

Spielräume verfügen<br />

18 Massgebend ist der Mensch in seiner<br />

individuellen Notsituation<br />

20 Ermessensentscheide gehören zur<br />

alltäglichen Arbeit in den<br />

Sozialdiensten<br />

22 Ermessen ist Auftrag und Kompetenz,<br />

keine Frage des Beliebens<br />

24 Führt Wohlstand zu Wohlbefinden?<br />

26 Wie viel Misstrauen verträgt die<br />

Soziale Arbeit?<br />

28 Der interkommunale Ausgleich der<br />

Soziallasten<br />

30 Reportage über die Sozialfirma<br />

Réalise in Genf<br />

32 Plattform: Der Dachverband offene<br />

Kinder- und Jugendarbeit Schweiz<br />

34 Forum: Gemeinsam gegen die<br />

«Verrentung» der Sozialhilfe.<br />

35 Lesetipps und Veranstaltungen<br />

36 Porträt: Heinz von Arb hat einen<br />

minderjährigen unbegleiteten<br />

Flüchtling aufgenommen<br />

Armut im Alter<br />

Misstrauen<br />

sozialfirma réalise<br />

Der Pflegevater<br />

Der Soziologe und Altersforscher François<br />

Höpflinger über die alternde Gesellschaft<br />

und die Herausforderungen, die diese<br />

Entwicklung für den Arbeitsmarkt und das<br />

Sozialsystem darstellt.<br />

10<br />

Einzelne Fälle von Sozialhilfemissbrauch<br />

sorgten für heftige Debatten in Medien<br />

und Politik. Das System Sozialhilfe und<br />

dessen Klientel standen in der Folge unter<br />

scharfer Beobachtung. Das hat bei den<br />

Sozialarbeitenden Spuren hinterlassen. Die<br />

Unsicherheit und Furcht vor Fehlern nahmen<br />

erheblich zu.<br />

26<br />

Die Sozialfirma Réalise in Genf bildet jährlich<br />

300 Frauen und Männer aus, die Mühe auf<br />

dem Arbeitsmarkt haben. Sie arbeiten in<br />

verschiedenen Berufsfeldern und erlernen<br />

die dafür notwendigen Kenntnisse. Viele<br />

von ihnen finden später wieder eine Stelle.<br />

Réalise arbeitet dafür eng mit einem Netz<br />

von Firmen zusammen.<br />

30<br />

Mit Sack und Pack stand der 14-jährige<br />

Flüchtling aus Afghanistan vor ein<br />

paar Monaten vor dem Gartentor des<br />

schmucken Einfamilienhauses – und blieb.<br />

Hausbesitzer Heinz von Arb übernahm die<br />

Pflegschaft für den unbegleiteten Flüchtling.<br />

36<br />

inhalt 4/<strong>16</strong> ZeSo<br />

3


13 Fragen an Markus Kaufmann<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Womit beschäftigen Sie sich im Moment?<br />

Wenn die <strong>ZESO</strong> erscheint, dann habe ich meine<br />

neue Aufgabe bei der SKOS schon in Angriff genommen.<br />

Darauf freue ich mich im Moment sehr. Bei<br />

meinem bisherigen Job bei der Gesundheitsdirektorenkonferenz<br />

habe ich mich um die Koordination von<br />

Gesundheitsförderungsprogrammen in den Kantonen<br />

gekümmert. In der Freizeit bereiten wir mit dem<br />

Quartierverein gerade die Eröffnung eines Begegnungscafés<br />

für Flüchtlinge und Quartierbewohner<br />

im ehemaligen Zieglerspital in Bern vor.<br />

Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />

In meiner vorherigen Arbeit sah ich mich vor allem<br />

als Vernetzer. Ich kann nur zusammen mit anderen<br />

etwas bewirken. In unserem sehr föderalen System<br />

ist es wichtig, möglichst alle miteinzubeziehen und<br />

gemeinsam tragbare Lösungen zu finden. Manchmal<br />

braucht das viel Geduld, aber dafür ist es nachhaltiger.<br />

Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />

Meine Frau und ich haben beide eine Stelle mit<br />

Führungsverantwortung. Dies gibt uns ein überdurchschnittliches<br />

Haushaltseinkommen, mit dem<br />

wir uns als eher reich bezeichnen können. Für uns<br />

ist es wichtig, dass das Steuersystem ein Korrektiv<br />

schafft zu den Einkommensunterschieden mit einer<br />

progressiven Besteuerung.<br />

Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />

Glauben scheint mir hier nicht das richtige Wort.<br />

Ich weiss, dass die Chancen in unserem Land nicht<br />

gleich verteilt sind. Deutlich sieht man das zum<br />

Beispiel an der Lebenserwartung, die bei einem arbeitslosen<br />

Mann mehr als zehn Jahre tiefer ist als<br />

bei einem Kaderangestellten. Es braucht deshalb<br />

in allen Bereichen der Gesellschaft Anstrengungen,<br />

um die Chancengerechtigkeit zu verbessern, vom<br />

Lebensanfang an bis zur Pflege im hohen Alter. Ein<br />

ganz zentraler Punkt ist das Bildungssystem. Hier<br />

schneidet die Schweiz heute deutlich besser ab als<br />

andere Staaten, etwa bei der Integration der zweiten<br />

Generation von Migrantinnen und Migranten. Diese<br />

Stärke gilt es auszubauen.<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />

Meine Unihockeykollegen würden sagen: Nicht<br />

so gut. Wenn ich mich für etwas einsetze, wurmt es<br />

mich, wenn es nicht gelingt. Im Beruf kann ich aber<br />

gut damit umgehen, in Spiel und Sport zeige ich gern<br />

auch mal Emotionen.<br />

Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />

welche wären das?<br />

Erstens sollten wir weniger Gartenhag-Denken<br />

haben und ganzheitlichere Lösungen vorziehen – im<br />

Sinne der interinstitutionellen Zusammenarbeit, die<br />

in den SKOS-Richtlinien festgehalten ist. Zweitens<br />

sollten wir die sprachliche Vielfalt unseres Landes<br />

nutzen. Sie ermöglicht, verschiedene Blickwinkel zu<br />

haben und so gute Lösungen zu finden. Und drittens<br />

sollte die Schweiz ihren Beitrag für eine friedliche<br />

und gerechte Welt leisten, gerne noch etwas engagierter<br />

als heute.<br />

Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />

Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />

Im Moment versuche ich, möglichst nicht so weit<br />

zu reisen, dass ich das Flugzeug nehmen muss, damit<br />

mein ökologischer Fussabdruck nicht zu gross<br />

wird. Immer gelingt mir das aber nicht. Spannend<br />

wäre für mich, in ein Land zu reisen, das gerade im<br />

Aufbruch ist. Vor Kurzem habe ich einen Artikel gelesen<br />

über ein Pilotprojekt in Ruanda, wo Blutkonserven<br />

per Drohnen verschickt und so die Probleme der<br />

schlechten Verkehrswege gelöst werden sollen.<br />

Welche drei Gegenstände würden Sie auf eine verlassene<br />

Insel mitnehmen?<br />

Zuerst mal Jasskarten und gute Freunde. Auf dieser<br />

Insel hätte ich sicher viel Zeit zum Jassen und<br />

zusammen mit den Freunden würde es nicht langweilig.<br />

Und dann noch mein Rennvelo, mit dem ich<br />

einmal pro Tag rund um die Insel fahren würde.<br />

Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />

Solidarität ist für mich ein wichtiger Teil des<br />

Menschseins. In unserer Verfassung steht ja auch<br />

schon am Anfang: Die Stärke des Volkes misst sich<br />

am Wohl der Schwachen, ein sehr starker Satz. In<br />

der Schweiz haben wir in den letzten rund 70 Jahren<br />

ein Instrumentarium geschaffen, das die Solidarität<br />

sichert: So etwa die AHV, die obligatorische<br />

Krankenversicherung, die IV und als letztes Netz<br />

6 ZeSo 4/<strong>16</strong> 13 fragen


Markus kaufmann<br />

Bild: B. Devènes<br />

Markus Kaufmann, geboren 1962, lebt und arbeitet in Bern. Er hat als Nachfolger<br />

von Dorothee Guggisberg am 1. Dezember die Leitung der Geschäftsstelle<br />

der SKOS in Bern übernommen. Der ausgebildete Sozialarbeiter ist seit<br />

vielen Jahren im Sozial- und Gesundheitswesen tätig; in den letzten Jahren<br />

war er Projektleiter Gesundheitsförderung und Prävention der Gesundheitsdirektorenkonferenz<br />

(GDK) sowie Geschäftsführer der Vereinigung der<br />

kantonalen Beauftragten für Gesundheitsförderung (VBGF).<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

die Sozialhilfe. Alle diese Einrichtungen sind unter<br />

Druck. Es gilt, sie zu verteidigen und gleichzeitig so<br />

anzupassen, dass sich die Solidarität dem gesellschaftlichen<br />

Wandel anpasst und neue Armutsrisiken<br />

einbezieht.<br />

An welches Ereignis in Ihrem Leben denken Sie besonders<br />

gerne zurück?<br />

Schon fast erwachsene Kinder haben keine Freude,<br />

in solchen Interviews vorzukommen. Deshalb<br />

gehe ich etwas weiter zurück. Im Sommer 1989<br />

stand ich mit Bekannten aus Ostberlin auf jener Seite<br />

der Mauer, an der sich der Todesstreifen befand.<br />

Die Mauer schien unverrück- und unbezwingbar.<br />

Vier Monate später wurde sie von feiernden Menschen<br />

überwunden. Das war der Abend vor meiner<br />

letzten Uni-Prüfung. Die Welt veränderte sich mit einer<br />

friedlichen Revolution und ich stand mittendrin.<br />

Ein euphorisches Gefühl, an das ich mich gerne erinnere,<br />

auch wenn sich nicht alles so gut entwickelte,<br />

wie wir damals dachten.<br />

Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />

Ich habe einen recht guten Schlaf, aber es gibt<br />

schon Momente, in denen ich mich im Bett drehe<br />

und mir den Kopf zerbreche. Das kann ein Konflikt<br />

oder ein schwieriges Projekt sein. Manchmal kommen<br />

mir aber gerade in solchen Momenten neue Lösungsideen<br />

in den Sinn.<br />

Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />

Eigentlich halte ich nichts von den Unwort-<br />

Debatten. Sie laufen meist nach dem Muster: Provokateure<br />

gegen politisch Korrekte und bringen einen<br />

kaum weiter. Ich störe mich oft an einem zu starken<br />

Fachjargon, der in jeder Berufsgruppe anzutreffen<br />

ist, das meine ich sehr wohl auch selbstkritisch. Am<br />

deutlichsten merke ich es jeweils, wenn unser Übersetzer<br />

mich fragt, was ich mit diesem Satz in einem<br />

Konzept gemeint hätte und ich eingestehen muss,<br />

dass ich es selber nicht mehr verstehe.<br />

Haben Sie eine persönliche Vision?<br />

Auf mein neues Arbeitsfeld bezogen: eine Gesellschaft,<br />

die Armut und Ausgrenzung frühzeitig und<br />

wirksam verhindert, sodass weniger Menschen auf<br />

Sozialhilfe angewiesen sind.<br />

13 fragen 4/<strong>16</strong> ZeSo<br />

7


Wohnkosten und Sanktionen<br />

bei jungen Erwachsenen<br />

Der 20-jährige Markus Künzi erhält nach dem Tod seiner Mutter Sozialhilfe. Nach der obligatorischen<br />

Schule tritt er keine Lehrstelle an und bricht auch das auferlegte Jugendprogramm ab. Nun stellt<br />

sich die Frage, ob die Sozialhilfe gekürzt werden kann und in welcher Höhe?<br />

Markus Künzi* ist 20 Jahre alt und nach<br />

dem unerwarteten Tod seiner Mutter auf<br />

Sozialhilfe angewiesen. Nach dem Auflösen<br />

der Familienwohnung hat er ein Zimmer<br />

bei einer älteren Dame im Kellergeschoss<br />

bezogen. Markus Künzi schloss die<br />

obligatorische Schule zwar ab, trat jedoch<br />

danach keine Lehrstelle an. Ihm wurde seitens<br />

der Sozialbehörde die Auflage gemacht,<br />

ein Jugendprogramm zu besuchen,<br />

welches ihm den Anschluss an eine Berufsausbildung<br />

ermöglichen würde. Der<br />

20-Jährige zeigte von Anfang an wenig<br />

Motivation, das Programm zu absolvieren.<br />

Nach wenigen Wochen brach er es ab.<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

Frage<br />

Kann in der Folge eine Kürzung verfügt<br />

werden und wie hoch darf diese ausfallen?<br />

Grundlagen<br />

Auf den 1. Januar 20<strong>16</strong> sind die SKOS-<br />

Richtlinien angepasst worden. Seither gelten<br />

für junge Erwachsene, also Personen<br />

zwischen dem vollendeten 18. und dem<br />

vollendeten 25. Altersjahr, besondere<br />

Empfehlungen beim Grundbedarf und bei<br />

den Wohnkosten. Gleichzeitig wurde für<br />

alle Anspruchsgruppen der Ansatz für die<br />

maximale Kürzung des Grundbedarfs von<br />

15 auf 30 Prozent erhöht.<br />

Generell gilt, dass junge Erwachsene<br />

verpflichtet sind, Bildungs- und Integrationsangebote<br />

konsequent zu nutzen. Dies<br />

mit dem Ziel, eine langfristige Sozialhilfeabhängigkeit<br />

zu vermeiden. Wie alle<br />

anderen Anspruchsgruppen sind auch sie<br />

angehalten, alles Zumutbare zu unternehmen,<br />

um ihre Situation zu verbessern. Was<br />

im Einzelfall gilt, ist im Rahmen einer Auflage<br />

zu konkretisieren. Eine enge Betreuung<br />

und Begleitung steht in solchen Fällen<br />

allerdings noch mehr im Vordergrund als<br />

bei älteren Personen.<br />

Werden Auflagen und Weisungen nicht<br />

eingehalten, können angemessene Sanktionen<br />

angeordnet werden. Bei jungen<br />

Erwachsenen dienen Sanktionen primär<br />

der Erwirkung von Auflagen. Deshalb ist<br />

zu empfehlen, eine Sanktion dann zu beenden,<br />

sobald die erstrebte Auflage erfüllt<br />

wird.<br />

Die Spannbreite für die Kürzung des<br />

Grundbedarfs im Umfang von 5 bis 30<br />

Prozent gilt auch im Falle von Sanktionen<br />

bei jungen Erwachsenen. Die Kürzung<br />

muss stets der Schwere der Pflichtverletzung<br />

entsprechen; die maximale Kürzung<br />

von 30 Prozent darf also generell nur bei<br />

besonders stossendem oder mehrfach<br />

wiederholtem, unentschuldbarem Fehlverhalten<br />

angeordnet werden. Besonderes<br />

Augenmass ist bei jungen Erwachsenen<br />

geboten, weil sie oft bereits einen tieferen<br />

Grundbedarf erhalten und so durch eine<br />

Kürzung härter getroffen werden. Eine<br />

Kürzung um 30 Prozent ist entsprechend<br />

nur in wenigen Ausnahmefällen rechtlich<br />

haltbar.<br />

Antwort<br />

In der vorliegenden Situation ist rasch und<br />

sorgfältig zu prüfen, weshalb die Motivation<br />

zur Teilnahme an einem Jugendprogramm<br />

bei einem jungen Menschen derart<br />

gering ausfällt, und was nötig wäre, damit<br />

eine Berufsausbildung gelingen kann. Der<br />

Beizug von Fachpersonen ist zu empfehlen.<br />

Der Abbruch des Jugendprogramms<br />

durch Herrn Künzi ist nicht als Bagatelle<br />

einzustufen. Eine Sanktion ist angezeigt,<br />

damit die Schwere der Pflichtverletzung<br />

verdeutlicht werden kann und die aufgestellten<br />

Regeln an Verbindlichkeit gewinnen.<br />

Wegen der bereits bestehenden<br />

Einschränkungen beim Grundbedarf, des<br />

Förderaspekts und weil es sich um einen<br />

erstmaligen Vorfall handelt, ist eine gewisse<br />

Zurückhaltung geboten. Angemessen<br />

erscheint eine Kürzung von maximal<br />

15 Prozent, welche in einem ersten Schritt<br />

auf drei Monate zu befristen ist. Wird das<br />

Jugendprogramm bereits vor Ablauf dieser<br />

Frist wieder aufgenommen, ist auch die<br />

Sanktion vorzeitig aufzuheben. •<br />

*Name geändert<br />

Claudia Hänzi<br />

Kommission Richtlinien und Praxis der SKOS<br />

8<br />

ZeSo 4/<strong>16</strong> praxis


«Arbeiten im Alter wird immer mehr<br />

zum Thema werden»<br />

François Höpflinger, Prof. für Soziologie, hat sich überJahrzehnte mit der demografischen<br />

Entwicklung, Familienfragen, und schliesslich zunehmend mit dem Alter befasst. «Eigentlich sollte<br />

man eine Erwerbsersatzversicherung einführen», schlägt der Wissenschaftler vor.<br />

«<strong>ZESO</strong>»: Herr Professor Höpflinger,<br />

die AHVplus-Initiative wurde von der<br />

Stimmbevölkerung verworfen. Die<br />

Altersreform des Bundes läuft Gefahr,<br />

ebenfalls zu scheitern. Die Altersvorsorge<br />

an künftige Entwicklungen anzupassen,<br />

scheint ein schier unmögliches<br />

Unterfangen; was ist da los?<br />

François Höpflinger: Vielen ist wohl<br />

aufgestossen, dass die Initiative auch die<br />

AHV-Renten der Millionäre angehoben<br />

hätte. Damit stellte man die Generationensolidarität<br />

in Frage. Von Armut betroffen<br />

sind heute noch mehr Familien als Rentner.<br />

Ausserdem hat die AHV-Kasse letztes<br />

Jahr erstmals schwarze Zahlen geschrieben.<br />

Im Moment hat Sozialausbau grundsätzlich<br />

keine Chance. Sozialabbau wird allerdings<br />

auch nicht akzeptiert. Es bräuchte<br />

vielleicht eine ganz andere Lösung.<br />

Woran denken Sie?<br />

Eigentlich sollte man eine Erwerbsersatzversicherung<br />

einführen. Egal ob<br />

jemand krank, arbeitslos, im Mutterschaftsurlaub<br />

oder alt ist, würde er oder<br />

sie Beiträge aus der Erwerbsersatzversicherung<br />

erhalten. Alle nicht erwerbsfähigen<br />

Menschen, also auch Kinder, bekämen<br />

zusätzlich Ergänzungsleistungen. Die<br />

Erwerbsersatzversicherung für alle hätte<br />

auch den Vorteil, dass man die Schnittstellenprobleme<br />

nicht mehr hätte, wo Einsparungen<br />

bei der einen Kasse zu Mehrausgaben<br />

in der anderen führen. Diesen Effekt<br />

spürt man gerade im Bereich der Sozialhilfe<br />

als letztes Auffangnetz immer wieder<br />

deutlich.<br />

Es wird ja viel argumentiert, es gebe<br />

gar keine Altersarmut. Stimmt das?<br />

Mit der AHV und den Ergänzungsleistungen<br />

ist die Existenzsicherung im Alter<br />

theoretisch gewährleistet. Hingegen genügt<br />

dies nicht für einkommensschwache<br />

Personen, die etwas Vermögen oder<br />

Wohneigentum haben. Auch Rentner, die<br />

aus einer günstigen Mietwohnung ausziehen<br />

müssen, haben häufig keine Chance,<br />

eine mit ihrer Rente finanzierbare Wohnung<br />

zu finden. Die anrechenbaren Mietkosten<br />

bei den Ergänzungsleistungen sind<br />

zudem tiefer als das heutige Mietzinsniveau<br />

in Städten. Viele sind sich dieser Situation<br />

nicht bewusst, solange sie in einer<br />

günstigen Wohnung leben. Natürlich betrifft<br />

das auch junge Familien, die manchmal<br />

grosse Schwierigkeiten haben, mehr<br />

als 2000 Franken pro Monat für die Miete<br />

aufzubringen. In Pflegeheimen leben deshalb<br />

auch Menschen, die an und für sich<br />

keine Pflege benötigen, aber keine andere<br />

bezahlbare Wohnform finden. Es wäre sicher<br />

sinnvoll, die anrechenbaren Mietkosten<br />

bei den EL zu erhöhen.<br />

Es heisst überall: Wohneigentum –<br />

Ihre sichere Altersvorsorge. Warum<br />

haben Hauseigentümer Probleme?<br />

Der grösste Teil der jetzt ins Rentenalter<br />

kommenden Personen – etwa 54 Prozent<br />

– sind Hauseigentümer. Eine ansehnliche<br />

Zahl von ihnen besitzt sogar noch eine<br />

Zweitwohnung. Viele haben für den Kauf<br />

des Wohneigentums Gelder aus der beruflichen<br />

Altersvorsorge vorbezogen. Sie<br />

erhalten dann im Alter weniger Rente. Zu<br />

Problemen führt es vor allem bei Wohneigentümern,<br />

die nach der Pensionierung in<br />

einer zu grossen oder zu luxuriösen Wohnung<br />

leben, die sie sich nicht mehr leisten<br />

können.<br />

Probleme haben also nicht nur diejenigen,<br />

die immer schon arm waren,<br />

sondern gerade auch die mittleren<br />

Einkommen, die besonders unter den<br />

sinkenden Renten der beruflichen<br />

Vorsorge zu leiden haben – ob mit<br />

oder ohne Wohneigentum.<br />

françois höpflinger<br />

François Höpflinger (geb. 1948) hat zwei<br />

erwachsene Kinder und vier Enkelkinder.<br />

Er war bis 2013 Titularprofessor an der<br />

Universität Zürich, leitete Forschungsprojekte<br />

zu demografischen und familiensoziologischen<br />

Themen und 1992–1998 das<br />

Nationale Forschungsprogramm (NFP 32)<br />

Alter/ Vieillesse/ Anziani. Seit 2014 ist er Mitglied<br />

der Leitungsgruppe des Zentrums für<br />

Gerontologie an der Universität Zürich.<br />

Es gibt in der Tat eine grosse Polarisierung<br />

bei den Renteneinkommen aus der<br />

zweiten Säule. Bei der beruflichen Vorsorge<br />

ist das Ungleichheitsmass 0.73, bei<br />

der AHV nur 0.11 (1 entspricht völliger<br />

Ungleichheit, 0 völliger Gleichverteilung,<br />

Anm. der Red.). 44 Prozent der Menschen<br />

im Rentenalter geben das Geld aus, das<br />

reinkommt. Sie sind also nicht in der Lage,<br />

Reserven anzulegen. Und weitere <strong>16</strong> bis<br />

18 Prozent müssen ihr angespartes Vermögen<br />

aufbrauchen. Vor allem längere<br />

Pflegebedürftigkeit im Alter kann selbst<br />

grosse Vermögen auf Null reduzieren.<br />

Tatsache ist, dass die Menschen<br />

immer älter werden und die Altersvorsorge<br />

immer mehr in Finanzierungsprobleme<br />

rutschen wird. Als Lösung<br />

in aller Munde ist jetzt die längere<br />

Erwerbsarbeit im Alter. Auch Sie wären<br />

ja eigentlich schon im Ruhestand. Ist<br />

das Rentenalter 65 zu tief?<br />

Langfristig wird die Erhöhung des Rentenalters<br />

unumgänglich sein, schon allein<br />

deshalb, weil wir einen Fachkräftemangel<br />

haben.<br />

Stellen wir uns vor, die Politik setzt<br />

in einigen Jahren das Rentenalter auf<br />

10 ZeSo 4/<strong>16</strong> interview


«Man muss die<br />

Lernhierarchie<br />

umkehren. Die<br />

Jungen müssen<br />

den Alten sagen,<br />

wie Management<br />

heute funktioniert.»<br />

67-70 Jahre fest. Was wären Ihrer einschätzung<br />

nach die Folgen?<br />

Ein höheres Rentenalter braucht eine<br />

Reihe von Begleitmassnahmen: Eine Weiterbildungspolitik<br />

50Plus, neue Arbeitszeiten<br />

mit Ruhephasen etc. Vieles müsste<br />

überdacht werden. Auch die klassischen<br />

Karriereverläufe. Förderlich wäre auch die<br />

Einführung von AHV-Timeout-Phasen, es<br />

müsste möglich sein, während zwei Jahren<br />

AHV-Rente zu beziehen, dann aber wieder<br />

in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Jetzt<br />

ist es ja so, dass man die AHV ab einem<br />

bestimmten Alter bezieht, ob man nun will<br />

oder nicht.<br />

Aber auch mit einem höheren Rentenalter<br />

wird die Rente für viele nicht<br />

genügen, und sie werden auch im Rentenalter<br />

noch etwas dazu verdienen<br />

müssen, sofern das möglich ist.<br />

Das wird sicher immer häufiger der Fall<br />

sein. Das Problem ist, dass jetzt viel höhere<br />

Renten ausbezahlt werden, als das in Zukunft<br />

der Fall sein wird. Das ist eigentlich<br />

nicht nachhaltig. Arbeiten im Alter wird –<br />

wie in den USA – auch in der Schweiz immer<br />

mehr ein Thema werden. Dabei kann es<br />

dazu kommen, dass pensionierte Menschen<br />

vermehrt eine Art Reservearmee für den Arbeitsmarkt<br />

bilden und die Erwerbsarbeit im<br />

Alter je nach Konjunktur schwankt.<br />

In der Sozialhilfe wächst die Gruppe<br />

der 56- bis 65-jährigen deutlich. Es ist<br />

nach wie vor für die meisten älteren<br />

Arbeitnehmer enorm schwierig, eine<br />

neue Stelle zu finden. Sozialversicherungstechnisch<br />

fände also mit einer<br />

Rentenaltererhöhung eine Verschiebung<br />

von der AHV in die ALV resp.<br />

Sozialhilfe statt.<br />

Das stimmt natürlich. Stellen für<br />

60Plus gibt es praktisch keine. Selbst sozial<br />

engagierte Unternehmen stellen lieber<br />

einen jungen Arbeitslosen an als einen<br />

alten, weil sie es als wichtig erachten, den<br />

jungen in den Arbeitsmarkt zu verhelfen.<br />

Wer mal draussen ist, kommt deshalb so<br />

leicht nicht mehr in den Arbeitsmarkt zurück.<br />

Viele, die 20 bis 30 Jahre lang im<br />

selben Betrieb gearbeitet haben, wissen<br />

zudem schlicht nicht, wie man sich bewirbt,<br />

was heute verlangt wird, wie sie die<br />

eigenen Kompetenzen richtig einschätzen.<br />

Viele Betroffene machen sich selbständig. <br />

interview 4/<strong>16</strong> ZeSo<br />

11


«Der Trend wird sein, dass die pensionierte Generation<br />

eine Art Reservearmee für den Arbeitsmarkt bildet.»<br />

<br />

Zwei von fünf erwerbstätigen Rentnern<br />

sind heute selbständig, 14 Prozent arbeiten<br />

im Familienbetrieb weiter.<br />

Was bräuchte es denn für Massnahmen,<br />

damit die älteren Arbeitnehmer<br />

länger berufstätig bleiben können?<br />

Müssen Betriebe zum Beispiel gezwungen<br />

werden, ihren Angestellten<br />

Weiterbildung zu ermöglichen?<br />

Man kann das Thema Weiterbildung<br />

nicht allein den Betrieben überlassen.<br />

Diese verfolgen ihre eigenen Interessen.<br />

Aber man könnte aus der AHV Beiträge<br />

an die Weiterbildung bezahlen. In vielen<br />

Branchen müssen Angestellte ihre Weiterbildung<br />

selbst bezahlen, auch wenn sie<br />

sehr sinnvoll wäre, wie zum Beispiel eine<br />

Weiterbildung in der Pflege von Demenzkranken<br />

für Pflegefachfrauen. Nicht alle<br />

können sich so eine Weiterbildung leisten.<br />

Gesundheitsvorsorge, Altersteilzeit, Umschulung<br />

gibt es nur für Arbeitslose und<br />

nicht für ältere Stelleninhaber, denen diese<br />

Massnahmen einen längeren Verbleib auf<br />

dem Arbeitsmarkt oder Selbständigkeit ermöglichen<br />

würden. Die OECD hat in einer<br />

in diesem Jahr publizierten Untersuchung<br />

kritisiert, dass in der Schweiz die Massnahmen<br />

für die Arbeitnehmenden 50+ ganz<br />

der Wirtschaft überlassen sind. Immerhin<br />

passiert jetzt immer mehr hinter den Kulissen.<br />

Offenbar wird Attraktivität für 50+ allmählich<br />

als Wettbewerbsvorteil anerkannt.<br />

Wichtig ist, dass jetzt sehr viele Projekte<br />

realisiert werden.<br />

Was sind das für Projekte?<br />

Es gibt eine ganze Reihe von Organisationen,<br />

Verbänden oder auch Unternehmen,<br />

die hinter den Kulissen neue Modelle erarbeiten<br />

und einüben. Das Netzwerk Silberfuchs<br />

befasst sich beispielsweise mit dem<br />

späteren Rückzug aus dem Arbeitsleben,<br />

andere Initiativen mit dem Thema «mit 55<br />

noch eine neue Unternehmung gründen».<br />

Es passiert viel, auch in der Wirtschaft. Es<br />

wird jetzt hinter geschlossenen Vorhängen<br />

das neue Stück geprobt, während auf der<br />

Bühne noch das alte gespielt wird. Es ist<br />

manchmal besser, die Politik nicht aufzuscheuchen.<br />

Sie sind auf diesem Gebiet selbst aktiv.<br />

Was sind Ihre Erfahrungen?<br />

Viele Angehörige der aktuellen Generation<br />

50+ leben noch in der Welt einer<br />

linearen beruflichen Karriere ohne Brüche<br />

und Neuorientierungen. Verantwortung an<br />

jüngere Personen im Betrieb abzugeben,<br />

wird oft noch als Statusverlust betrachtet.<br />

Doch genau das müsste geschehen. Vielerorts<br />

muss man die Lernhierarchie umkehren.<br />

Die Jungen müssen den Alten sagen,<br />

wie Management heute funktioniert.<br />

Was wären Ihrer Meinung nach wichtige<br />

Elemente einer neuen Arbeitswelt,<br />

in der auch ältere Menschen noch<br />

aktiv bleiben können?<br />

Wir müssen die Trennung von bezahlter<br />

und unbezahlter Arbeit aufheben, beispielsweise<br />

mit Zeitgutschriften für die<br />

Pflege im Alter. Wir müssen ganz andere<br />

Berufskarrieren verstehen lernen. Wir<br />

müssen das Hintereinander von Lernen<br />

– Arbeiten – Rente in ein Neben- und<br />

Miteinander verwandeln. Wichtig wird lebenslanges<br />

Lernen, lebenslanges Aktivsein<br />

– bezahlt und unbezahlt, möglicherweise<br />

auch in Form eines Zivildienstes; Praktika<br />

für Universitätsangehörige, lebenslange<br />

Möglichkeiten, Unternehmen oder Firmen<br />

zu gründen, und immer wieder Ruhephasen<br />

– Mutter- und Vaterschaftsurlaub, mal<br />

ein Sabbatical, Teilzeit-Arbeit. Es braucht<br />

aber in jedem Fall eine soziale Abfederung<br />

für die, die es nicht schaffen.<br />

Auch Sie sind eigentlich im Rentenalter<br />

und widmen immer noch einen<br />

grossen Teil Ihrer Zeit der Forschung.<br />

Was treibt Sie an?<br />

Ich muss betonen, dass ich nie in fester<br />

Anstellung war. Ich habe immer projektbezogen<br />

gearbeitet. Wir haben uns einfach<br />

interessante Themen gesucht. Am Anfang<br />

war das die Unternehmenskonzentration,<br />

12 ZeSo 4/<strong>16</strong> interview


da haben wir dann aber so viel herausgefunden,<br />

dass uns die Forschungsgelder abgestellt<br />

wurden (lacht).<br />

Anhand der langen Liste Ihrer Veröffentlichungen,<br />

kann man erkennen,<br />

dass Sie in der Forschung von der Familienplanung,<br />

der Familie,und dem<br />

demografischen Wandel zum Thema<br />

Armut, Alter wanderten und damit den<br />

Phasen des eigenen Lebens folgten. Ist<br />

das eigene Leben für Sie die wichtigste<br />

Quelle der Inspiration?<br />

Das stimmt. Ich habe mich gern mit<br />

den Themen beschäftigt, die mit dem eigenen<br />

Lebenszyklus zu tun haben. Dadurch<br />

ergibt sich auch eine gewisse Verankerung<br />

meiner wissenschaftlichen Arbeit in der<br />

Praxis. Man versteht besser, was die Zahlen<br />

real bedeuten können. Seit den 90er-<br />

Jahren widme ich mich dem Alter.<br />

Eigentlich selbst schon im Rentenalter, ist François<br />

Höpflinger auf seinem Forschungsgebiet immer noch<br />

aktiv. <br />

Bilder: Palma Fiacco<br />

Was waren Ihre wichtigsten Erkenntnisse<br />

in der Altersforschung?<br />

Zunächst lautete mein Auftrag herauszufinden,<br />

was das Alter für Katastrophen<br />

auslöst. Ich war schliesslich positiv überrascht<br />

festzustellen, dass das Alter gar<br />

nicht so katastrophal ist. Im Gegenteil,<br />

die Zahlen zeigen zu einem grossen Teil<br />

positive Trends: Beispielsweise hat die<br />

Einsamkeit eher abgenommen und auch<br />

die Altersarmut, wobei diese jetzt eher wieder<br />

ansteigen dürfte. Auch das altersspezifische<br />

Risiko einer Demenz erkrankung<br />

sinkt derzeit. Arme Alte werden deshalb<br />

immer mehr marginalisiert, weil sie in der<br />

Schweiz – anders als beispielsweise in den<br />

meisten osteuropäischen Ländern – eine<br />

kleine Minderheit darstellen. Das Problem<br />

ist, dass es denen, denen es schlecht geht,<br />

noch schlechter geht, wenn es der Mehrheit<br />

besser geht. Armsein in einem reichen<br />

Quartier ist noch schwieriger und macht<br />

einsam.<br />

•<br />

Das Gespräch führte:<br />

Ingrid Hess<br />

interview 4/<strong>16</strong> ZeSo<br />

13


Massgebend ist der Mensch in seiner<br />

individuellen Notsituation<br />

Die Sozialhilfegesetze der Kantone sehen (explizit oder implizit) vor, dass grundsätzlich die<br />

individuellen Bedürfnisse und die Gegebenheiten des Einzelfalles massgebend sind. Das<br />

sogenannte Individualisierungsprinzip gilt als typischer Leitsatz der Sozialhilfe.<br />

Mit der Aufklärung und der in der Soziologie bekannten<br />

Individualisierung erhielt das Individuum eine neue Kernstellung<br />

in der Gesellschaft. Der Mensch als autonomes Wesen mit eigener<br />

Würde, persönlichen Bedürfnissen und Interessen wurde zur<br />

Zweckbestimmung, Gestaltungs- und Beurteilungsnorm. In<br />

der Folge fand um die Wende zum 20. Jahrhundert auch im<br />

Armenwesen ein Umdenken statt. Anstelle des Almosenverteilens<br />

an das Bettlervolk trat die sogenannte rationelle Armenpflege.<br />

Neu wurden die einzelnen bedürftigen Personen regelhaft aus<br />

der Masse hervorgehoben und eine Hilfe unter Berücksichtigung<br />

ihrer individuellen Bedürfnisse und Verhältnisse gewährt<br />

(Individualisierungsprinzip). Das Ziel war eine humane,<br />

zweckdienliche und planmässige Unterstützung.<br />

Um die Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich die aus den USA<br />

und Kanada stammende Methode des «social casework» durch.<br />

Die Bedürftigen wurden neu als Individuen mit eigener Subjektstellung<br />

wahrgenommen. Ihnen wurde eine Mitwirkung im<br />

Hilfeprozess zugestanden und es wurde auf eine Hilfe zur Selbsthilfe,<br />

Aktivierung der eigenen Ressourcen sowie Übernahme von<br />

Selbstverantwortung geachtet. Während die Individualisierung<br />

der Hilfe zuerst nur in Ansätzen in den kantonalen Gesetzen über<br />

das Armenwesen verankert war, figurierte sie ab Mitte des 20.<br />

Jahrhunderts als positiv-rechtlicher Grundsatz der Sozialhilfe in<br />

den Fürsorge- und späteren Sozialhilfegesetzen. Staatliche Unterstützung<br />

soll auf die individuelle Situation zugeschnitten werden.<br />

Entsprechend dieser rechtlichen Vorgabe müssen die Akteure<br />

der Sozialen Arbeit bis heute Massarbeit leisten. Im Zentrum der<br />

Fallarbeit stehen die in Not geratene Person und ihre individuelle<br />

Situation. Ihre sozialen Probleme werden methodisch erfasst. Die<br />

Bedürftigkeit wird durch die individuellen Verhältnisse, die stets<br />

auch im sozialen Kontext zu betrachten sind, bestimmt und die<br />

Hilfe entsprechend bemessen.<br />

«Die Sozialhilfe bewegt<br />

sich im Grundrechtsbereich<br />

des Persönlichkeitsschutzes,<br />

weshalb<br />

die persönlichen<br />

Bedürfnisse und<br />

Verhältnisse besonders<br />

zu beachten sind.»<br />

Der Individualisierungsgrundsatz wird auch im umfassenderen<br />

Sinne, das heisst in seiner Funktion der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit,<br />

verstanden. Er dient nicht nur als Massstab<br />

für die Bemessung, sondern auch für die Anspruchsklärung, Kürzung<br />

und Rückerstattung von Leistungen. In der Sozialhilfe wird<br />

durchwegs individualisiert. Sozialhilfeentscheide erfordern eine<br />

eingehende Sachverhaltsabklärung und eine umfassende Abwägung<br />

von Zumutbarkeits-, Bedürfnis-, Verhältnismässigkeits- und<br />

Härtefallaspekten. Es geht darum, den Menschen in einer individuellen<br />

Notsituation richtig zu sehen und in jedem Einzelfall den<br />

materiell richtigen Entscheid zu finden. Da sich die Sozialhilfe im<br />

Grundrechtsbereich des Persönlichkeitsschutzes bewegt, sind das<br />

Gebot der Menschlichkeit und die persönlichen Bedürfnisse und<br />

Verhältnisse besonders zu beachten.<br />

Wirtschaftliche Hilfe relativ bestimmt geregelt<br />

Um die Individualisierung sicherzustellen, räumen die kantonalen<br />

Gesetze, die zur Bemessung der Hilfe teilweise auf die SKOS-<br />

Richtlinien verweisen, den Sozialhilfebehörden Ermessens- und<br />

Beurteilungsspielräume bei der Gewährung von Sozialhilfe ein.<br />

Entsprechend haben die Sozialhilfebehörden unbestimmte<br />

Rechtsbegriffe im Einzelfall anzuwenden, beispielsweise «situationsbedingte<br />

Leistungen im Ermessen der Sozialhilfebehörden<br />

[SIL]» gemäss SKOS-Richtlinien oder «soweit zumutbar». Weiter<br />

haben sie aus mehreren Arten von Hilfeleistungen wie Geld- oder<br />

Sachleistungen, Kostengutsprachen, Beratung, Information, Vermittlung,<br />

Betreuung und Begleitung die im Einzelfall passenden<br />

auszuwählen. Sie müssen die Hilfeleistungen kombinieren und<br />

über die Ausgestaltung und den Umfang entsprechend den individuellen<br />

Bedürfnissen und Gegebenheiten befinden. Die wirtschaftliche<br />

Hilfe ist mit Ausnahme der erwähnten SIL in den kantonalen<br />

Gesetzen relativ bestimmt geregelt. Bei der persönlichen<br />

Hilfe ist hingegen relativ wenig festgelegt. Teilweise bestehen besondere<br />

Härtefallklauseln.<br />

Die Gewährung von Hilfe muss rechtmässig, zweckmässig und<br />

insgesamt sachlich nachvollziehbar sein, damit das Ermessen als<br />

pflichtgemäss und nicht rein subjektiv ausgeübt gilt. Die Behörden<br />

haben eine Rechtspflicht zur Objektivität. Die Entscheide<br />

müssen zudem eingehend begründet werden. Um die Angemessenheit<br />

von individuellen Leistungen, insbesondere von situationsbedingten<br />

Leistungen (SIL) beurteilen zu können, kann ein<br />

Prüfschema dienen (s. Kasten).<br />

Die Zusammenarbeit mit der hilfesuchenden Person ist von<br />

erheblicher Bedeutung. Ihre persönliche Notsituation kann nur<br />

durch Kooperation und professionelle Soziale Arbeit angemessen<br />

erhoben und bearbeitet werden. Die Betroffenen sind zur Mitwir-<br />

18 ZeSo 4/<strong>16</strong> SCHWERPUNKT


ermessen und Spielräume<br />

Eine gute Zusammenarbeit ist von grosser Bedeutung, um die Notsituation richtig zu erfassen.<br />

Bild: Keystone<br />

kung verpflichtet und berechtigt. Sie verfügen jedoch über kein<br />

explizites Wunsch- oder Wahlrecht in bestimmten Situationen.<br />

Solche Rechte sind beispielsweise im Erwachsenenschutzrecht<br />

oder deutschen Sozialgesetzbuch enthalten. Zu den Methoden der<br />

Beratung und Betreuung wird in den kantonalen Gesetzen wenig<br />

geregelt. Vereinzelt wird auf fachliche Grundsätze verwiesen, die<br />

eingehalten werden müssen. Es kann demnach eine Vielfalt von<br />

fachlich anerkannten Methoden angewendet werden. Diese Methodenvielfalt<br />

sollte gesetzlich stets gewährleistet bleiben, damit<br />

die Sozialarbeitenden im kommunikativen Hilfsprozess angemessen<br />

auf die betroffene Person und ihre Situation eingehen und bei<br />

Bedarf neue Methoden anwenden können. Vorgaben der Sozialdienste<br />

zwecks Vereinheitlichung der internen Beratungspraxis<br />

sind denkbar.<br />

In der Sozialhilfe wird auch generalisiert. So wird beispielsweise<br />

der Grundbedarf für den Lebensunterhalt in Form einer Pauschale<br />

ausgerichtet (GBL-Pauschale gemäss SKOS-Richtlinien).<br />

Soll die Pauschale im Einzelfall unterlaufen werden, müssen triftige<br />

Gründe vorliegen. Das Interesse an einer genau den individuellen<br />

Verhältnissen entsprechenden Hilfe muss das Interesse<br />

an einem praktikablen und ökonomischen Vollzug der Sozialhilfe<br />

und an minimaler Rechtssicherheit über die monatliche Hilfeleistung<br />

und Möglichkeit der selbstbestimmten Budgeteinteilung<br />

klar überwiegen (deutliche Privilegierung). Ansonsten könnte<br />

der Staat unter dem Deckmantel des Individualisierungsprinzips<br />

jederzeit die aufgrund einer komplexen Berechnung festgelegte<br />

GBL-Pauschale wieder unterlaufen.<br />

•<br />

Iris Schaller<br />

Amt für Erwachsenen- und Kindesschutz Stadt Bern, Abteilungsjuristin<br />

Prüfschema für die<br />

Angemessenheit von SIL<br />

(1) Vorliegen einer umfassenden Sachverhaltsabklärung<br />

(2) Deckung des individuellen Bedarfs<br />

(3) Geeignetheit/Wirksamkeit<br />

(4) Zielgerichtetheit<br />

(5) Zumutbarkeit<br />

(6) Kosten-Nutzen-Verhältnis<br />

(7) Risiken-Chancen-Verhältnis<br />

(8) Wahrung der Untergrenze (Grundrecht auf Hilfe in Notlagen)<br />

(9) Wahrung der Obergrenze (soziales Existenzminimum)<br />

(10) Vermeidung eines Härtefalls<br />

(11) Rechtsgleichheit (Hilfe im Rahmen des Gesetzes und der<br />

Richtlinien; bei besonderem Einzelfall in Abweichung von<br />

Richtlinien).<br />

publikation<br />

Iris Schaller Schenk, Das Individualisierungsprinzip, Bedeutung in der<br />

Sozialhilfe aus verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Perspektive, DIKE<br />

Verlag, 20<strong>16</strong>.<br />

SCHWERPUNKT 4/<strong>16</strong> ZeSo<br />


Ermessen ist Auftrag und Kompetenz,<br />

keine Frage des Beliebens<br />

Die Ombudsstelle der Stadt Zürich macht immer wieder die Erfahrung, dass Mitarbeitende der<br />

Sozialhilfe befürchten, den Ermessensspielraum zu überreizen. Das Gegenteil ist der Fall: In der<br />

Praxis werden die bestehenden Spielräume zu wenig ausgenutzt.<br />

Ermessen ist eine Gestaltungskompetenz für die gesamte Verwaltungstätigkeit<br />

und ist bei der Anwendung in allen Bereichen der<br />

Rechtsordnung wahrzunehmen und auszufüllen. Ihr kommt aber<br />

in der Sozialhilfe aufgrund des Individualisierungsgrundsatzes<br />

besondere Bedeutung zu. Die Gesetzgebung trägt dem auch mit<br />

vielen «Kann»-Vorschriften, alternativen Handlungsmöglichkeiten<br />

und unbestimmten Rechtsbegriffen Rechnung. Die Gesetzgebung<br />

zur Sozialhilfe wie auch die SKOS-Richtlinien erfuhren in den letzten<br />

Jahren vor allem aufgrund des politischen Drucks eine grössere<br />

Regeldichte und wurden in der Regel restriktiver. Einzelfragen,<br />

beispielsweise das Autoverbot im Kanton Zürich, wurden teils heftig<br />

debattiert. Doch die Problematik liegt vor allem bei der mangelnden<br />

Ausnutzung des nach wie vor bestehenden Handlungsspielraums<br />

durch die Akteurinnen und Akteure in der Praxis.<br />

Der politische Diskurs, dem oftmals eine mediale Skandalisierung<br />

von Einzelfällen vorausgeht, verfehlt aber seine Wirkung<br />

nicht: Mitarbeitende der Sozialhilfe berichten der Ombudsstelle<br />

immer wieder, dass sie sich unter Druck fühlen, den Ermessensspielraum<br />

nicht überreizen möchten und nicht verantwortlich sein<br />

wollen für allfällig neue Polemiken, die dann wiederum zu neuen<br />

Einschränkungen und restriktiveren Regelungen führen könnten.<br />

Anderseits fehlt es teils auch am Bewusstsein, dass das dichte<br />

Regelwerk eine kritische Überprüfung des Anzuwendenden und<br />

damit die Berücksichtigung des Ermessens erfordert und nicht<br />

einfach in Stein gemeisselt ist.<br />

Bereichen Gesundheit, Erziehung und Bildung, Ausbildung und<br />

Berufsleben, Wohnen sowie gesellschaftliche und kulturelle Teilnahme-<br />

und Teilhabemöglichkeiten. Nicht zu vergessen sind die<br />

spezifischen Bedürfnisse der Kinder der Klientinnen und Klienten.<br />

Spricht die Ombudsstelle diese Bedürfnisse an und erkundigt sich<br />

nach konkreter fachlicher Unterstützung und intensiverer Begleitung,<br />

stösst sie zwar häufig auf Verständnis und die Einsicht, dass<br />

diesbezüglich im konkreten Einzelfall durchaus Handlungsbedarf<br />

bestehe. Gleichzeitig wird immer wieder bedauernd auf die beschränkten<br />

Ressourcen hingewiesen, die eine Konzentration auf<br />

die korrekte Ausrichtung der Wirtschaftshilfe erforderten und andere<br />

Unterstützungsformen in den Hintergrund drängten. In diesen<br />

Fällen kommt die Sozialhilfe ihrem gesetzlichen Auftrag nicht<br />

oder zumindest nicht in genügendem Ausmass nach. Parallel dazu<br />

wird auch der Ermessensspielraum eingeengt, indem bei der Prüfung<br />

von einzelnen Massnahmen dem Verständnis für die Gesamtzusammenhänge<br />

und die gegenseitige Beeinflussung der einzelnen<br />

Faktoren nicht genügend Beachtung geschenkt wird.<br />

Fokus auf korrekter Ausrichtung der Wirtschaftshilfe<br />

In der politischen Diskussion steht bei der Sozialhilfe die Wirtschaftshilfe<br />

im Fokus der Aufmerksamkeit. In der Öffentlichkeit interessieren<br />

die Ausgaben für die Wirtschaftshilfe, die Kosten für die<br />

gewährten einzelnen Leistungen und die Einzelheiten zu den jeweiligen<br />

Budgets der Bezügerinnen und Bezüger. Aber auch in der<br />

Praxis selbst ist eine Konzentration auf die Wirtschaftshilfe und damit<br />

auf die pekuniären Leistungen wahrzunehmen. Dies engt nicht<br />

nur den Blickwinkel auf die Aufgabe der Sozialhilfe unzulässig ein,<br />

sondern führt automatisch zu einer Einschränkung des Ermessens.<br />

Denn: Auftrag und Zielsetzung der Sozialhilfe ist die soziale Integration<br />

der Betroffenen – mit sämtlichen Facetten. Damit verbunden<br />

ist ein breiter Blickwinkel, der sämtliche Lebensbereiche miteinbeziehen<br />

muss. Sozialhilfe heisst so verstanden auch die<br />

Förderung und Unterstützung mit geeigneten Massnahmen in den<br />

Sozialhilfe betrifft viele Themenbereiche.<br />

Bild: Keystone<br />

22 ZeSo 4/<strong>16</strong> SCHWERPUNKT


Ermessen und Spielräume<br />

Stattdessen wird der Schwerpunkt darauf gelegt, bei der Ausrichtung<br />

der finanziellen Leistungen ja keine Fehler zu machen und vor<br />

allem keine zu grosszügigen Auszahlungen vorzunehmen.<br />

Ermessensausübung ist aufwändige Alltagsarbeit<br />

Ermessensausübung verursacht Arbeit und kann zeitaufwändig<br />

sein. Sie löst zuweilen auch Verunsicherung aus und stellt eine Herausforderung<br />

dar. Es braucht die Bereitschaft, die Verantwortung<br />

für die eigenen Überlegungen und vielleicht neue Lösungen zu<br />

übernehmen und dafür einzutreten. Sie verlangt namentlich, dass<br />

die zu treffende Entscheidung auf einer eigenständigen, situativen<br />

Begründung basiert. Die Hinweise, man habe dies bisher immer so<br />

gemacht oder das Gleichbehandlungsgebot verlange dies eben, wären<br />

nicht ausreichend. Steigende Fallzahlen, mehr Klientinnen und<br />

Klienten für die einzelnen Fallführenden und Sachbearbeitenden<br />

wie auch der überall spürbare Spardruck sind sicherlich nicht förderlich<br />

für die an sich erforderliche Berücksichtigung der Gerechtigkeit,<br />

die es im Einzelfall zu beachten gilt, also für die angemessene<br />

Ausübung des Ermessens. Sie widersprechen diesem Gebot,<br />

erschweren dessen Wahrnehmung und sind für die Mitarbeitenden<br />

im Arbeitsalltag auch spürbar. Den Hinweis auf die fehlenden zeitlichen<br />

Kapazitäten hören wir öfters als Argument, wenn die Ombudsfrau<br />

ein unsorgfältiges, auf den Einzelfall zu wenig ausgerichtetes<br />

Abwägen des Ermessens kritisiert. In der Regel werden sich<br />

Ombudsstelle und die für die Sozialhilfe Zuständigen in der Beurteilung<br />

der Sache einig. Die Mitarbeitenden verweisen aber wiederholt<br />

auf den grossen Aufwand, den eine angemessene Entscheidfindung<br />

verlange und deren präjudizielle Wirkung, wenn nun immer<br />

nach diesen Anforderungen und Kriterien vorzugehen sei. Mit ihren<br />

personellen Ressourcen könne dieses an sich auch von ihnen gewünschte<br />

Vorgehen schlicht nicht geleistet werden.<br />

Die Ausübung des Ermessens stellt keine Verletzung des<br />

Gleichbehandlungsgebots dar und steht auch in keinem Widerspruch<br />

oder Spannungsverhältnis zu ihm. Im Gegenteil: Sie trägt<br />

wesentlich zur Umsetzung des Gleichbehandlungsgebots bei,<br />

konkretisiert und gestaltet es im Einzelfall. Sie ist auch nicht eine<br />

Ausnahme, die nur zurückhaltend Beachtung finden und gröbste<br />

Fehlentscheide korrigieren soll. Dieses Missverständnis begegnet<br />

der Ombudsstelle aber in der Praxis immer wieder. Wo immer<br />

die rechtlichen Vorschriften der Sozialhilfe einen Ermessensspielraum<br />

einräumen, ist dieser wahrzunehmen. Die Ermessensausübung<br />

ist also Alltagsarbeit. Ihr kann am besten Folge geleistet<br />

werden, wenn die Mitarbeitenden bei einem Entscheid sich stets<br />

überlegen, wie sie ihn für sich materiell, inhaltlich begründen,<br />

welche Güter- und Interessenabwägungen sie vornehmen, welches<br />

Argument schliesslich für sie ausschlaggebend ist. Dieses Begründungsgebot<br />

kann die Rolle einer wirkungsvollen «Neunerprobe»<br />

gegenüber der Macht der Gewohnheit, der langjährigen Praxis<br />

oder dem Zeitdruck einnehmen.<br />

Das Bewusstsein für die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte<br />

in der Sozialhilfe ist in den letzten Jahren erfreulicherweise<br />

gestiegen. Dennoch erleben wir, wie schwierig es ist, dass das<br />

Thema nicht nur als «nice to have» wahrgenommen, sondern als<br />

Pflichtstoff erkannt wird, mit dem sich alle in der Sozialarbeit<br />

und in der Sozialhilfe Tätigen ernsthaft auseinandersetzen und<br />

beschäftigen sollten. Die Berücksichtigung der Grund- und Menschenrechte<br />

in der Sozialhilfe stellt eine weitere, inhaltlich unerlässliche<br />

Dimension für die Entscheidfindung dar. Sie hat daher<br />

einen gewichtigen, selbständigen Platz einzunehmen. Gleichzeitig<br />

beeinflusst sie aber auch die Ermessensausübung und liefert<br />

relevante Begründungshilfen im Einzelfall. <br />

•<br />

Claudia Kaufmann<br />

Ombudsfrau Stadt Zürich<br />


Wie viel Misstrauen verträgt<br />

die Soziale Arbeit?<br />

Fälle von Sozialhilfemissbrauch sorgen für heftige Debatten in Medien und Politik. In der Folge<br />

stehen das System Sozialhilfe und dessen Klientel unter scharfer Beobachtung. Ein Forschungsteam<br />

der Hochschule Luzern untersuchte, wie latentes Misstrauen die Sozialarbeitenden beeinflusst.<br />

In den letzten zehn Jahren fand eine ausgedehnte<br />

Missbrauchsdebatte bezüglich der<br />

Sozialleistungssysteme IV und Sozialhilfe<br />

statt, die angefacht wurde durch die mediale<br />

Verbreitung von Skandalfällen. Die Forderung<br />

der Bevölkerung nach Transparenz<br />

erscheint vor diesem Hintergrund legitim,<br />

denn sie hat ein Recht darauf, zu erfahren,<br />

wofür Steuergelder verwendet werden.<br />

Ist das Misstrauen gerechtfertigt? In der<br />

Schweiz beziehen über eine Viertelmillion<br />

Menschen Sozialhilfe, hinzu kommen nach<br />

seriösen Schätzungen genauso viele, die<br />

zwar hilfsbedürftig sind, sich aber nicht an<br />

den Staat wenden. Die Quote unrechtmässigen<br />

Sozialhilfebezugs bewegt sich seit<br />

Jahren um die ein bis zwei Prozent, selten<br />

handelt es sich um Fälle eindrucksvollen<br />

Ausmasses. Dennoch gerieten Sozialhilfebeziehende<br />

durch die mediale Skandalisierung<br />

spektakulärer Einzelfälle unter den<br />

Generalverdacht des Sozialschmarotzertums.<br />

Entsprechend gross war der politische<br />

Druck auf die Sozialbehörden, das beschädigte<br />

Ansehen der wirtschaftlichen Sozialhilfe<br />

wieder herzustellen. Eine einschneidende<br />

Massnahme war die Entscheidung<br />

für den Einsatz polizeilich ausgebildeter Sozialhilfedetektive.<br />

Hierdurch sollte u.a. das<br />

verloren gegangene Vertrauen in das soziale<br />

Sicherungssystem wieder gestärkt werden.<br />

Die Gemüter mag diese Massnahme<br />

beruhigt haben, dem Ansehen der Sozialen<br />

Arbeit als Profession dürfte sie geschadet<br />

haben. Das in dieser sozialpolitischen Entscheidung<br />

zum Ausdruck kommende Misstrauen<br />

richtete sich nämlich ebenso gegen<br />

die Institution Sozialhilfe. Durch das Einschalten<br />

Fachexterner wird die Funktionsfähigkeit<br />

des Sicherungssystems selbst in<br />

Zweifel gezogen, muss doch ein System,<br />

von dem angenommen wird, dass es auf<br />

fachexterne Hilfe angewiesen ist, schutzlos<br />

erscheinen und dessen Mitarbeitende nicht<br />

kompetent genug.<br />

Unter Generalverdacht: Mitarbeitende der Sozialämter haben mit dem Misstrauen gegenüber der<br />

Sozialhilfe zu kämpfen.<br />

Bild: I.Hess<br />

Informationen zur Studie<br />

Für das Forschungsprojekt «Wie viel<br />

Misstrauen verträgt die Soziale Arbeit?»<br />

wurden verschiedene Untersuchungsmethoden<br />

kombiniert, um der Komplexität des<br />

Phänomens gerecht zu werden. Es wurden<br />

59 Dossiers von Sozialhilfebeziehenden<br />

sowie 338 Ermittlungsberichte analysiert<br />

und 34 Interviews mit fallführenden<br />

Sozialarbeitenden und Führungspersonen<br />

geführt. Ferner wurden 136 mit Fallführung<br />

betraute Mitarbeitende eines Sozialdienstes<br />

einer Schweizer Stadt schriftlich befragt. Ergänzend<br />

gaben 137 Bürgerinnen und Bürger<br />

mit und ohne Sozialhilfeerfahrung zu ihren<br />

Erfahrungen und Annahmen schriftlich<br />

Auskunft. Das Projekt wurde vom Schweizerischen<br />

Nationalfonds gefördert.<br />

Diesen Schaden für ihre Profession beklagten<br />

auch Sozialarbeitende, die im Rahmen<br />

einer Studie der Hochschule Luzern –<br />

Soziale Arbeit befragt wurden. Untersucht<br />

wurde, welche unerwünschten Nebenwirkungen<br />

auftreten, wenn der politische<br />

Druck auf eine Sozialbehörde, ihre Kompetenz<br />

bei der Missbrauchsbekämpfung<br />

unter Beweis zu stellen, beherrschend wird.<br />

Innerhalb der untersuchten Sozialbehörde<br />

führte dieser Druck zu einer Kultur<br />

des Misstrauens: Der Druck von aussen<br />

wurde an die Mitarbeitenden weitergegeben<br />

und wirkte in der Organisation fort.<br />

Die Führung erliess eine Vielzahl neuer<br />

Regeln, der Aufwand für die Überprüfung,<br />

Absicherung und Kontrolle der Fälle stieg<br />

stark an. Viele Mitarbeitende werteten diese<br />

Massnahmen als mangelndes Zutrauen der<br />

26 ZeSo 4/20<strong>16</strong> Sozialarbeit


Führung in ihre Fähigkeiten. Dadurch war<br />

das Verhältnis auch Jahre nach der vorerst<br />

letzten Hochphase der öffentlichen Missbrauchsdebatte<br />

noch angespannt: Rund<br />

die Hälfte der befragten Sozialarbeitenden<br />

war sich zum Zeitpunkt der Untersuchung<br />

unsicher, ob sie nach einem Fehler Rückendeckung<br />

vom Arbeitgeber bekommen<br />

würde. Entsprechend gross waren die Unsicherheit<br />

und Furcht vor Fehlern, 80 Prozent<br />

der Interviewten berichteten hiervon.<br />

Mehr Misstrauen<br />

Und diese Furcht hat weitergehende Konsequenzen.<br />

Steigt nämlich der Druck auf die<br />

fallführenden Sozialarbeitenden, möglichst<br />

viele Missbräuche aufzudecken, dann steigt<br />

auch das generalisierte (das vom Einzelfall<br />

unabhängige) Misstrauen gegenüber der<br />

Klientel. Acht Prozent der befragten Sozialarbeitenden<br />

gaben an, bereits grundsätzlich<br />

der Klientel gegenüber misstrauisch zu<br />

sein, weitere acht Prozent gaben an, teilweise<br />

Schwierigkeiten zu haben, neuen Bezügerinnen<br />

und Bezügern Vertrauen entgegenzubringen.<br />

Beschleunigt wird diese<br />

Entwicklung durch Benchmarking, ein organisationsinternes<br />

Leistungsranking (Wer<br />

deckt die meisten Missbrauchsfälle auf?).<br />

Wer generalisiertes Misstrauen entwickelt<br />

hat, ist als Sozialarbeiter oder Sozialarbeterin<br />

im engeren Sinne nicht mehr<br />

arbeitsfähig. Sozialarbeiter können nur<br />

helfen, wenn die Klienten und Klientinnen<br />

ihre sehr persönlichen Probleme offenlegen.<br />

Dafür braucht es zwingend Vertrauen<br />

– und zwar beidseitig. Mit naiver Vertrauensseligkeit<br />

hat dies nichts zu tun. Die<br />

Sozialhilfe bewegt sich von jeher im Spannungsfeld<br />

zwischen Hilfe und Kontrolle.<br />

Kontrolle ist aber nicht mit Misstrauen zu<br />

verwechseln.<br />

Misstrauen hat eine ganz andere Qualität,<br />

ist ängstlich bis feindselig. Wer misstrauisch<br />

ist, zweifelt die Aufrichtigkeit des<br />

Gegenübers an. Der Fokus liegt nicht mehr<br />

darauf, einen Verdacht ergebnisoffen zu<br />

prüfen, vielmehr geht es darum, negative<br />

Erwartungen zu bestätigen. Beispielsweise<br />

wird die Unterstützung gekürzt, um die<br />

Reaktion der Person darauf zu erfahren.<br />

Wehrt sie sich nicht, wird dies als Beweis<br />

für mangelnde Bedürftigkeit gewertet.<br />

Oder ein Termin wird früh morgens angesetzt,<br />

um zu testen, ob die Person auch<br />

dann noch pünktlich erscheint. Jene, die<br />

das System missbrauchen wollen, erwischt<br />

man auf diese Weise weniger, denn wer etwas<br />

im Schilde führt, bemüht sich um Unauffälligkeit.<br />

Fortbleiben wird aber etwa,<br />

wer unter Depressionen leidet. Misstrauen<br />

ist grundsätzlich nicht dazu geeignet, das<br />

Gegenüber besser zu durchschauen, weil<br />

es den Blick auf wenig hilfreiche Hinweise<br />

verengt und zur einseitigen Bestätigung eigener<br />

Vorannahmen führt.<br />

Misstrauen lässt sich nicht<br />

verstecken<br />

Misstrauen lässt sich im persönlichen Gespräch<br />

zudem nicht verstecken und vergiftet<br />

so die Arbeitsbeziehung. Sozialarbeitenden,<br />

deren Selbst- und Fremdverständnis<br />

zu einem grossen Teil der Helferrolle entspricht,<br />

kann es erhebliche Rollenkonflikte<br />

bescheren, wenn die Furcht vor dem öffentlichen<br />

Scheitern eine misstrauische Grundhaltung<br />

forciert oder diese sogar von einer<br />

Behördenleitung erwartet wird. Alle Interviewten<br />

thematisierten Rollenkonflikte und<br />

90 Prozent der schriftlich befragten Mitarbeitenden<br />

gaben an, dass es vorkomme,<br />

dass sie entgegen ihrer eigenen Überzeugungen<br />

handeln müssten.<br />

Nun sind Ergebnisse aus einem Kanton<br />

oder einer Behörde nicht repräsentativ für<br />

die ganze Schweiz, und es war auch nicht<br />

das Anliegen der Studie, eine Aussage darüber<br />

zu treffen, was in Schweizer Sozialbehörden<br />

abläuft. Die belegten ungünstigen<br />

sozialen Prozesse können jedoch grundsätzlich<br />

überall auftreten. Und zwar dann,<br />

wenn eine Institution unter Druck gerät,<br />

ihre Kompetenzen bei der Missbrauchsbekämpfung<br />

besonders unter Beweis stellen<br />

zu müssen. Positiv hervorzuheben ist<br />

die Bereitschaft einer Sozialbehörde einer<br />

Schweizer Stadt, die Auswirkungen dieses<br />

Drucks genauer analysieren zu lassen.<br />

Letztlich liegt es in der Verantwortung jeder<br />

einzelnen Behörde, sich ernsthaft damit<br />

auseinanderzusetzen, wie innerhalb der eigenen<br />

Organisation mit dem Thema der Arbeit<br />

im Spannungsfeld zwischen Vertrauen<br />

und Misstrauen umgegangen wird.<br />

Konstruktive Fehlerkultur nötig<br />

Werden unerwünschte Nebenwirkungen<br />

sozialpolitischer Entscheidungen nicht reflektiert,<br />

könnte dies ungünstige Folgen haben,<br />

die kaum dazu angetan sein dürften,<br />

das Vertrauen in das System Sozialhilfe wieder<br />

zu stärken. Wichtig erscheint es, den in<br />

der Untersuchung deutlich gewordenen<br />

Rollenkonflikt Sozialarbeitender nicht noch<br />

zu verstärken: Misstrauen darf nicht zur<br />

Routine werden. Organisationen, die dies<br />

verhindern möchten, brauchen eine konstruktive<br />

Fehlerkultur: Mitarbeitende benötigen<br />

Rückendeckung von ihren Vorgesetzten,<br />

aus Fehlern sollte man lernen können,<br />

ohne sich davor über alle Massen fürchten<br />

zu müssen. Seitens der Führung braucht es<br />

hierfür Zutrauen in die Kompetenz und<br />

Vertrauenswürdigkeit der Mitarbeitenden;<br />

zu viele Vorschriften machen die Arbeit<br />

nicht besser, sondern allenfalls komplizierter.<br />

Die Soziale Arbeit verträgt zwar berechtigte<br />

Kontrollen, Misstrauen aber nicht.<br />

Susanna Niehaus<br />

Professorin Hochschule Luzern<br />

Paula Krüger<br />

Dozentin Hochschule Luzern<br />

Sozialarbeit 4/20<strong>16</strong> ZeSo<br />

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