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Judentum und Urbanität / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 66 (1/2017)

Die Beiträge des Schwerpunkts präsentieren „einige große europäische Städte als Orte des Aushandelns von Lebensmöglichkeiten und als Räume, deren Lektüre Erkenntnis verspricht“, schreibt Schwerpunktredakteur Joachim Schlör in seinem Vorwort. Diese Staedte sind Warschau, Berlin, London und Antwerpen. Die Themenpalette reicht dabei von Erinnerungskultur über (Post-)kolonialismus, Topophilie, Antisemitismus, Orthodoxie bis zu Großstadtfeindschaft oder Jewish Renaissance. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-66 bestellt werden.

Die Beiträge des Schwerpunkts präsentieren „einige große europäische Städte als Orte des Aushandelns von Lebensmöglichkeiten und als Räume, deren Lektüre Erkenntnis verspricht“, schreibt Schwerpunktredakteur Joachim Schlör in seinem Vorwort. Diese Staedte sind Warschau, Berlin, London und Antwerpen. Die Themenpalette reicht dabei von Erinnerungskultur über (Post-)kolonialismus, Topophilie, Antisemitismus, Orthodoxie bis zu Großstadtfeindschaft oder Jewish Renaissance. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-66 bestellt werden.

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Jan — März 2017

N o 66

Zeitschrift für Stadtforschung

dérive

dérive

ISSN 1608-8131

8 euro

Sampler

MARSEILLE

Guy Debord

Kunsthaus Graz

STREETART

CIT Collective & Gaswerk Leopoldau

Krems/Lerchenfeld

SECRETS & CRISES

JUDENTUM

Marlene Hausegger

UND URBANITÄT

Foucault/HETEROTOPIE

dérive


Editorial

Wie unsere Newsletter- und Facebook-Abonnenten und -Abonnentinnen

wissen, haben wir bei der Stichwahl der Bundespräsidentschaftswahl

in Österreich erstens dazu aufgerufen

wählen zu gehen und zweitens Van der Bellen zu wählen. Wir

haben so einen Aufruf zum ersten Mal in unserer 17-jährigen

Vereinsgeschichte gemacht und auch wenn der Vorsprung von

Van der Bellen schlussendlich 7,6 % bzw. rund 350.000

Stimmen betragen hat und somit viel deutlicher als erwartet

war, bereuen wir den Schritt nicht. Wir haben uns in der

letzten Zeit immer wieder mit der Frage, wer welche Rechte in

der Stadt hat, und dem Thema Urban Citizenship beschäftigt

und werden uns auch in nächster Zukunft damit und mit der

Frage nach den Möglichkeiten einer Neugestaltung der Demokratie

auseinandersetzen. Wir sehen hier sowohl dringenden

Handlungsbedarf als auch spannende Initiativen und blicken

beispielsweise sehr aufmerksam und interessiert nach Barcelona

oder in Städte, die Anstrengungen in Sachen Urban Citizenship

unternehmen.

Bei vielen Wahlen der letzten Jahre zeigen sich in unterschiedlichen

Ländern ähnliche Phänomene. Rechte, ausländerfeindliche

Parteien werden bevorzugt in Gegenden gewählt,

in denen der Anteil der Bewohner und Bewohnerinnen ohne

Staatsbürgerschaft des entsprechenden Landes eher unterdurchschnittlich

ist, und sie werden auf dem Land eher gewählt

als in der Stadt. In Wien schneidet die FPÖ beispielsweise

in den Bezirken mit dem höchsten Anteil an Menschen ohne

österreichischer Staatsbürgerschaft regelmäßig schlechter

ab als in solchen mit geringerem Anteil. Bei der vergangenen

Bundespräsidentschaftswahl hat der Kandidat der FPÖ in

Wien ca. ein Drittel der Stimmen erhalten, in »ländlich geprägten

Regionen« rund 56 Prozent. Dieses Ergebnis wundert

einen nicht besonders, ist die FPÖ doch alles andere als eine

urbane Partei und sie würde aus Wien wohl eine große Gated

Community machen, hätte sie die Möglichkeit dazu.

Antiurbanismus und Großstadtfeindschaft haben bei

rechten Parteien eine lange Tradition und damit schlagen

wir den Bogen zum Schwerpunkt dieser Ausgabe. Der Schwerpunkt

ist dem Thema Judentum und Urbanität gewidmet.

Bodo Kahmann hat dafür einen Text über Großstadtfeindschaft

und Antisemitismus verfasst und stellt darin die These auf,

dass sich »eine wechselseitige Durchdringung von Antisemitismus

und Großstadtfeindschaft« erst zu dem Zeitpunkt Ende

des 19. Jahrhunderts vollzog, als »Antisemitismus zum integralen

Bestandteil einer völkischen Erneuerungs- und Wiedergeburtsrhetorik

wurde, die von agrarromantischen Denkmustern

durchzogen war.«

Wie Schwerpunktredakteur Joachim Schlör, der als

Professor für Jewish/non-Jewish Relations an der Universität

Southampton tätig ist, in seinem Vorwort schreibt, präsentieren

die Beiträge des Schwerpunkts »einige(r) große(r)

europäische(r) Städte als Orte des Aushandelns von Lebensmöglichkeiten

und als Räume, deren Lektüre Erkenntnis

verspricht.« Diese Städte sind Warschau, Berlin, Antwerpen

und London. Im Beitrag über Warschau, den Joachim Schlör

selber verfasst hat, stehen die Erinnerungskultur und die

jüdische Renaissance im Mittelpunkt. Laurence Guillon stellt

das wechselseitige Verhältnis von Berlin und seiner jüdischen

Bevölkerung bzw. die mittlerweile weltweit verbreiteten

Berlinophilie unter Juden und Jüdinnen ins Zentrum ihres Beitrags.

Tobias Metzler zeichnet die jüdische Geschichte des

Londoner East End und die Anglisierung seiner jüdischen

Bevölkerung im 19. Jahrhundert nach und verweist auf Parallelen

zur Kolonisierung in den von Großbritannien unterworfenen

Weltgegenden. Veerle Vanden Daelen schließlich wirft

einen genauen Blick auf die engen Verbindungen des orthodoxen

Judentums mit dem Diamantensektor in Antwerpen und

porträtiert das jüdische Leben der Stadt.

Wenn es um Judentum und Urbanität geht, darf ein

Beitrag über Wien natürlich nicht fehlen. Und so gibt es im

Magazinteil einen Text des Schriftstellers Alexander Peer über

Leo Perutz zu lesen, dessen Todestag sich 2017 zum 60. Mal

jährt. Von ihm, der 1938 aus Wien fliehen musste und sich in

Tel Aviv niederließ, ist ein Zitat überliefert, in dem er seine

Sehnsucht nach Wien folgendermaßen erkennen lässt: »Eigentlich

wäre mein Lebensproblem gelöst, wenn ich ein kleines

Haus bauen könnte, von dessen vorderen Fenstern man die

Omarmoschee sieht und von den hinteren den Kahlenberg.«

Ein gänzlich anderes Thema greift Carina Sacher

in ihrem Beitrag über Zeitungszusteller in Wien auf. Sie beschreibt

die urbanen Nischen, die von diesen nachts für ihre

Arbeit genutzt werden und den stillen, fast unbemerkten Ablauf

ihrer prekären Tätigkeit, von der nur das Ergebnis – die in

der Früh vor der Haustür liegende Zeitung – ein sichtbares

Zeichen hinterlässt.

Das Kunstinsert hat diesmal der dérive-Redakteur

Andreas Fogarasi, der jüngst für sein künstlerisches Werk mit

dem renommierten Otto Mauer Preis ausgezeichnet worden

ist, ausgewählt. Es stammt von Susanne Kriemann, die zuletzt

in der Ausstellung Beton in der Wiener Kunsthalle vertreten

war. Dort hat sie das Werk One Time One Million gezeigt, das

auch ihrem Insert in dérive zugrunde liegt. Eine Ausstellung

von Andreas Fogarasi ist noch bis 17. Januar in Wien im

Jesuiten foyer zu sehen.

In dieser Ausgabe taucht – nach kurzer Pause – auch

die Geschichte der Urbanität wieder auf, diesmal allerdings

nicht als neue Folge der Serie von Manfred Russo, sondern als

umfangreiche Auseinandersetzung von Klaus Ronneberger

mit Manfred Russos Buch Projekt Stadt – Eine Geschichte der

Urbanität. Das Buch gibt es auch – als Paket mit einem

3-Jahres-Abonnement – in unserer aktuellen Aboaktion (siehe

nächste Seite).

Schöne Grüße von der Mazzesinsel

Christoph Laimer

01


»Louis Aragon,

Charles Baudelaire,

Victo Hugo, Gérad de Nerval und

Émile Zola, sie alle kommen zu Wort und geben so

der Geschichte der Urbanität eine große plastische

Anschaulichkeit.«

Klaus Ronneberger in seiner Auseinandersetzung mit

Manfred Russos Buch Projekt Stadt auf S. 47 in dieser Ausgabe.

ANGEBOT: ABONNEMENT + BUCH*

12 Ausgaben (3 Jahre) dérive um 90,-/120, – Euro (Österr./Europa)

inkl. ein Exemplar von:

Manfred Russo

Projekt Stadt – Eine Geschichte der Urbanität

Basel: Birkhäuser, 2016

448 Seiten, 49,95 Euro

Seit 2002 schreibt Manfred Russo in dérive die Serie

»Geschichte der Urbanität«. Nun ist ein Buch zur Serie bei

Birkhäuser erschienen. Es ist eine umfassende Darstellung

der Entwicklung der Stadt: von der Antike bis heute Das

Wesen der Stadt wird an wichtigen urbanen Elementen

und Metaphern entfaltet. Veranschaulicht an Metropolen

wie Athen, Rom, Paris und New York.

Bestellungen an: bestellung@derive.at

*Solange der Vorrat reicht!

dérive

Zeitschrift für Stadtforschung

www.derive.at

www.facebook.com/derivemagazin


Inhalt

01

Editorial

CHRISTOPH LAIMER

04

Schwerpunkt: Judentum und URBANITÄT

Vorwort

JOACHIM SCHLÖR

05 — 10

Das Phänomen der JÜDISCHEN

BERLINOPHILIE

LAURENCE GUILLON

11 — 16

Der DUNKLE Kontinent unweit

des HAUPTPOSTAMTS

Das jüdische London aus

(post)kolonialer Perspektive

TOBIAS METZLER

17 — 21

Warschau – Jüdische ABSENZ,

JÜDISCHE Präsenz

JOACHIM SCHLÖR

22 — 26

Antisemitismus

und Großstadtfeindschaft

BODO KAHMANN

27 — 31

Diamanten und Orthodoxie?

Ein historischer Blick auf jüdisches Leben in

Antwerpen

VEERLE VANDEN DAELEN

32 — 36

Kunstinsert

SUSANNE KRIEMANN

One Time One Million

MAGAZIN

37 — 41

Zwischen An- und Abwesenheit

Mikro-Verteilerzentren

in URBANEN NISCHEN

CARINA SACHER

42 — 46

IN KETTEN durch Wien

LEO PERUTZ – Zwischen NEUN UND NEUN

ALEXANDER PEER

47 — 52

Was ist URBANITÄT?

Eine AUSEINANDERSETZUNG mit Manfred

Russos Buch PROJEKT STADT.

KLAUS RONNEBERGER

53 — 60

BESPRECHUNGEN

Wunschmaschine Gemeindebau S.53

S. 55

Am Ende der Anfang?

Wohnungsfrage – kollektive Inseln

S. 56

und Archipele

Kreativpolitik und städtisches

S. 57

Regierungshandeln

Zweimal Leben! Wie sich durch Film unsere

S. 59

Realität erweitert

65

BACKISSUES

68

IMPRESSUM


dérive – Radio für Stadtforschung

Jeden 1. Dienstag im Monat von

17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0

oder als Webstream http://o94.at/live.

Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235


JOACHIM SCHLÖR

Schwerpunkt:

Judentum und

URBANITÄT

Vorwort

»One person’s Jerusalem is not another’s«, schreiben Esther

Benbassa und Jean-Christophe Attias. Wir alle, Stadtbewohner

und -bewohnerinnen doch zumeist, haben unsere Vorstellungen

von einer guten Stadt, von einem Leben im Zwischenspiel von

Diversität und Harmonie. Zu begreifen, dass der Nachbar –

auf der Straße, im Kaffeehaus, am anderen Ende der Stadt –

womöglich eine andere Vorstellung vom richtigen Leben hat,

und Wege zu finden, wie sich die vielen unterschiedlichen

Hoffnungen miteinander arrangieren können, wäre die erste

Voraussetzung für städtisches Zusammenleben. Das gilt heute,

aber es hat auch eine historische Dimension. Ich lese gerade

wieder einmal Paul Nizon und bin von seiner »Urbomanie«,

seiner Liebe zum Städtischen, begeistert – denke aber auch

beim Lesen, dass wohl keine andere Kultur die Idee und die

Realität des Stadtlebens so konsequent erlebt, geprägt und oft

auch erlitten hat wie die jüdische.

Bin ich damit schon in die Falle des Stereotyps gestolpert?

Juden seien, so Karl Kautsky 1911, »Stadtbewohner par

excellence«, ein Satz, der auf vielfältige Weise gelesen werden

kann, dem auf vielfältige Weise widersprochen werden kann.

Oft genug in der jüdischen Geschichte, die grundsätzlich als

Geschichte jüdisch/nichtjüdischer Beziehungen und im Kontext

der allgemeinen Geschichte studiert werden sollte, war die

Stadt feindliches Gelände, war »Judenviertel« am Rande, war

Ghetto, aber immer gab es darin auch die Hoffnung auf ein

Jerusalem. Das konnte Wilna heißen oder Wien, Antwerpen

oder New York, und für manche hieß (und heißt) es Jerusalem,

und für jeden und jede sah es anders aus.

Dass es möglich ist, solche Fantasien, Hoffnungen und

Ängste, Erfahrungen von Anwesenheit und Flucht, vom Unterwegssein

und vom Ankommen in Stadt-Bildern auszudrücken

und dabei sowohl die Liebe zum Wohnort wie die Furcht

vor ihm zu veranschaulichen, den »Glauben an das Wohnen«

ebenso wie die Rettung in die Emigration, das zeigen die

Beiträge dieser Sammlung. Sie präsentieren, dem Grundgedanken

von dérive gemäß, die Straßen und Wohnviertel einiger

großer europäischer Städte als Orte des Aushandelns von

Lebensmöglichkeiten und als Räume, deren Lektüre Erkenntnis

verspricht. Historische Situationen können beim aufmerksamen

Gehen durch die Städte – und die Archive – wieder aufgerufen

werden, wenn wir ihnen unser forschendes Engagement

zuwenden. Laurence Guillon, Bodo Kahmann, Tobias Metzler

und Veerle Vanden Daelen sind mit mir auf eine historische

Promenade gegangen, in ganz unterschiedlichen Ansätzen, aber

einig in der Zuneigung zum Städtischen. Dafür danke ich

ihnen, wie ebenso Christoph Laimer, der uns den Raum für

dieses Unternehmen gegeben hat.

Berlin und Southampton, im November 2016.

Joachim Schlör wurde 1990 an der Universität Tübingen

promoviert (Nachts in der großen Stadt: Paris, Berlin,

London 1840–1930) und habilitierte sich 2003 an der

Universität Potsdam (Das Ich der Stadt: Debatten über

Judentum und Urbanität, 1822–1938). Er wurde 2006 als

Professor for Modern Jewish/non-Jewish Relations an die

University of Southampton berufen und leitet dort das

Parkes Institute.

04

dérive N o 66Judentum und Urbanität


LAURENCE GUILLON

Berlin, Judentum, Kalter Krieg, Topophilie,

Geschichte nach 1945.

Das Phänomen

der JÜDISCHEN

BERLINOPHILIE

Synagoge in der Oranienburger Straße.

Foto: Gisela Lünskens.

Laurence Guillon — Judentum und URBANITÄT im geteilten BERLIN

05


Heterotopie , Postkolonialismus, Anglisierung, Hybridität,

Raumkonstruktionen

TOBIAS METZLER

Der DUNKLE

Kontinent unweit des

HAUPTPOSTAMTS

Das jüdische London aus

(post)kolonialer Perspektive

Michel Foucault hat für Orte, in denen Räume, die für gewöhnlich unverbunden oder gar

inkompatibel sind, räumlich zusammengeführt werden, den Begriff Heterotopie geprägt. Ein

zentrales Charakteristikum dieser sich in ständigem Wandel befindlichen Andersorte ist ein

Nebeneinander von Öffnung und Abschließung, das sie zugleich gegen ihre Umwelt abschottet

und nach außen hin durchlässig macht und somit die stringente Trennung zwischen Eigenem

und Fremdem, zwischen hier und dort infrage stellt (Foucault 1994, S. 752–762).

Das Ghetto ist einer dieser urbanen Andersorte – eine Heterotopie. In ihm laufen gegenläufige

räumliche Dimensionen und Vorstellungen zusammen: Ort der Exklusion und Rückzugsraum,

Stadt und Schtetl, urbane Peripherie und Zentrum einer Parallelkultur. Das Ghetto ist

also keineswegs ein fixierter, lokaler Mikrokosmos, sondern vielmehr Gegenstand eines fortwährenden

komplexen Wandlungsprozesses. Das Ghetto wird im Verlauf dieses Prozesses zum liminalen

Stadtraum, zum Grenzbereich sich überlagernder imaginärer und materieller Topographien,

lokaler und transnationaler Dimensionen.

Am Beispiel des Londoner East End um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lassen

sich diese Verflechtungen divergierender urbaner Raumkonstruktionen besonders gut aufzeigen.

Darüber hinaus weist der Fall London auf das enge Ineinanderwirken von modernem Stadtentwicklungsdiskurs,

Fortschrittsglauben und kolonialem Projekt hin, der in der Auseinandersetzung

um das urbane Ghetto einen Kristallisationspunkt fand. Indem sich das Ghetto räumlich

wie kulturell dem hegemonialen Zugriff des dominierenden Modernisierungsdiskurses entzog,

verlagerte es die Auseinandersetzung um die für die Legitimierung und damit die Aufrechterhaltung

des kolonialen Projektes essenziellen Dichotomien in den Stadtraum selbst. Neben dieser

allgemeingesellschaftlichen Dimension spielte die dem Topos Ghetto inhärente Ambivalenz eine

entscheidende Rolle in der zeitgenössischen Auseinandersetzung um städtische Andersorte und

führte dazu, dass grundlegende Fragen moderner jüdischer Identität in der Debatte um das

großstädtische Ghetto eine immer zentralere Rolle einnahmen.

Die diskursive Transformation des Ghettos

Das Ghetto ist fraglos einer der emblematischsten jüdischen Stadträume. In ihm laufen

die zentralen Stränge diasporischer Ambivalenz zusammen und verdichten sich. Als räumliche

Manifestation sozialer Exklusion wies das Ghetto der jüdischen Minderheit einen fest umrissenen

Platz innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu. Diese begrenzende Verortung zog einen »radikalen

jüdischen Bewusstseinswandel« innerhalb des Ghettos nach sich und förderte so die Herausbildung

spezifischer Formen jüdischer Gemeinschaftlichkeit (Ruderman 1997, S. 7).

Tobias Metzler — Der DUNKLE Kontinent unweit des HAUPTPOSTAMTS

11


JOACHIM SCHLÖR

Warschau –

Jüdische ABSENZ,

JÜDISCHE Präsenz

Warschau, Erinnerungskultur, jüdisches Leben, Gedenkstätten,

Willy Brandt, Holocaust, Gedächtnistourismus,

Sehenswürdigkeiten, Tel Aviv, Jewish Renaissance

Das POLIN Museum und das

Denkmal für das Warschauer Ghetto.

Foto: Gisela Lünskens.

Mein erster Besuch in Warschau fand 1979 statt, im

Jahr des Papstbesuchs, der bis heute als einer der auslösenden

Momente für die Entstehung der Solidarność und damit für

den Beginn des Systemwandels gilt. Auch ohne dieses Großereignis

konnte man als Besucher schnell feststellen, dass hinter

der offiziellen Maske Sozialismus der Katholizismus die eigentliche

prägende Kraft in der Stadt (und im Land) war, überall

präsent mit gefüllten Kirchen, mit Blumen und Kreuzen.

Dagegen schien das jüdische Warschau – dem Besucher – fast

nur noch in zwei Zeichen verdichtet: dem Denkmal für das

Warschauer Ghetto und seine Zerstörung im Stadtteil

Muranów, einsam fast auf einem großen leeren Platz gelegen

und umgeben von den Plattenbauten der Wiederaufbaujahre,

und dem Jiddischen Theater am Grzybowski-Platz, das bis

1968 – bis zu ihrer Emigration – von Esther Rachel Kamiń ska,

später dann von Szymon Szurmiej geleitet wurde: ein schier

überlebensgroßes Monument des Todes und der Zerstörung,

entworfen 1947/48 von Nathan Rapaport, umgeben von einer

weiten Leere, und ein winziges Symbol des Lebens, ebenso

wertvoll wie unbeachtet.

Joachim Schlör — Warschau – Jüdische ABSENZ, JÜDISCHE Präsenz

17


BODO KAHMANN

Antisemitismus

und Großstadtfeindschaft

(c) KEGNSCHTELIK — YIDDISH RESISTANCE 3.0

Der folgende Text zeichnet die zentralen Entwicklungslinien

großstadtfeindlichen Denkens in

Deutschland und Europa nach und verortet den

historischen Ursprung der modernen Stadtfeindschaft

in dem Funktionswandel des Städtewesens,

mit dem ab der Mitte des 18. Jahrhunderts eine

neue Betrachtungsweise des Stadtlebens eingesetzt

hat, die auf den Zusammenhang zwischen

modernem Stadtleben und Krankheit fokussierte.

Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht die These, dass

sich eine wechselseitige Durchdringung von Antisemitismus

und Großstadtfeindschaft erst gegen

Ende des 19. Jahrhunderts vollzog, als der Antisemitismus

zum integralen Bestandteil einer völkischen

Erneuerungs- und Wiedergeburtsrhetorik

wurde, die von agrarromantischen Denkmustern

durchzogen war. Die projektive Verschmelzung

von Judentum und Großstadt findet in der Gegenwart

sein ideologisches Zentrum hingegen im

globalen Dschihadismus.

Der moderne Antisemitismus hat in seiner Geschichte vielfältige

Belege geliefert, die davon zeugen, dass die von ihm entworfenen

Judenbilder mit negativen Sichtweisen auf das

moderne Großstadtleben verwoben sind. Sieht man die antisemitische

Literatur des deutschen Kaiserreichs durch, so wird

schnell deutlich, dass die Themenkomplexe Judentum und

Großstadt in der Gedankenwelt führender Antisemiten ein verbindendes

Element waren. So führte beispielsweise der Journalist

und Vordenker der völkischen Bewegung, Otto Glagau,

in seiner in den 1870er Jahren erschienen Artikelserie über den

Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin aus, dass das an

sich ungesunde Klima Berlins den Juden gut bekäme und sie

sich in der Hauptstadt »heftig« vermehrten (Glagau 1876,

S. 148–149). Wenige Jahre später behauptete Wilhelm Marr,

dem gemeinhin die Prägung des Begriffes Antisemitismus

zugeschrieben wird, dass Juden zum Ackerbau nicht befähigt

seien und sie in der Geschichte Europas schon immer eine

städtische Bevölkerungsgruppe bildeten (Marr 1879, S. 10). Es

wäre jedoch weit gefehlt, würde man die Verbindung von Antisemitismus

und Großstadtfeindschaft zu einem ausschließlich

historischen Phänomen erklären. Aktuelle Beispiele lassen sich

leicht ausfindig machen: So etwa die ländliche Siedlungsarbeit

von Neonazis, die von diesen in der Tradition der völkischen

Bewegung gesehen wird. In Ungarn erlebte in den letzten

Jahren das Wort Judapest zur Markierung der ungarischen

Antisemitismus, Großstadtfeindschaft, völkischer Nationalismus,

Lebensreformbewegung, Islamismus

22

dérive N o 66Judentum und Urbanität


VEERLE VANDEN DAELEN

Diamanten und

Orthodoxie?

Ein historischer Blick auf jüdisches

Leben in Antwerpen

Antwerpen, Orthodoxes Judentum, Diamantensektor,

Klischeebilder, jüdisches Viertel, Infrastruktur

Foto: Dan Zollmann

Wer nach einer knappen Umschreibung des jüdischen Lebens in Antwerpen

fragt, wird zweifellos Diamanten und Orthodoxie zur Antwort bekommen. An

ihrer schwarzen Tracht und ihrer Kopfbedeckung (Kippa, Fedora oder Streimel)

erkennbar, sind die orthodoxen Juden und Jüdinnen in der Tat im Diamantenviertel

in der Nähe des Antwerpener Hauptbahnhofs und entlang der Eisenbahnlinie

nach Berchem sehr präsent. Aber ist es richtig, sie in Antwerpen

generell mit Diamanten und Orthodoxie zu assoziieren? Die Idee dieses Beitrags

ist es, über jüdische Zeichen in der (ganzen) Stadt zu schreiben und

damit auch die Klischeebilder vom jüdischen Diamantenhandel in Frage zu

stellen. Ziel ist es, die Entwicklungen sowohl im Diamantengeschäft als auch

der jüdischen Orthodoxie aus historischer Perspektive, vom 19. Jahrhundert

bis heute, zu beschreiben. Diese zeitliche Begrenzung wurde gewählt, weil

erst seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts sowohl die jüdische Präsenz

in Antwerpen, als auch die wirtschaftliche Bedeutung des Diamantensektors

an Bedeutung gewonnen hat.

Veerle Vanden Daelen — Diamanten und Orthodoxie?

27


Kunstinsert:

Susanne Kriemann

One Time One Million

Susanne Kriemanns Arbeiten changieren raffiniert zwischen dokumentarischer Genauigkeit

und poetischem Zauber. Immer wieder geht sie geschichtlichen Ereignissen und ihren Auswirkungen

auf die Gegenwart nach, globalen wirtschaftlichen Zusammenhängen und ihren

lokalen Paradoxien.

Ihr Projekt One Time One Million begann mit dem Erwerb einer frühen Hasselblad-

Fotokamera auf einer Auktion im Militärmuseum Stockholm. Victor Hasselblad baute die

ROSS HK 7 als Luftaufklärungskamera 1941 im Auftrag der schwedischen Luftwaffe. Hasselblad,

begeisterter Hobby-Vogelkundler, war schon lange bemüht eine Kamera zu entwickeln, die

es ihm erlaubte, scharfe Aufnahmen von Vögeln im Flug zu machen, und diese Überlegungen

flossen in seine allererste Kamerakonstruktion ein. Sie wurde zu einem Apparat, der zwischen

dem Boden und der Luft, zwischen Natur und Technik vermittelt. Kriemann fängt diesen

Schwebezustand ein, indem sie verschiedene Bildwelten ineinander verwebt. Makellos sachliche

Produktfotografie zeigt die Kamera als ästhetisches Objekt, als sammelnswerten Fetisch, als

technische Leistung, während die Aufnahmen der präparierten Vögel in der Vogelbalgsammlung

des Museums für Naturkunde in Berlin voyeuristisch und beiläufig zugleich wirken.

Für die Luftaufnahmen schließlich setzte sich Kriemann in einen Helikopter und überflog

Vororte Stockholms. Tensta und Rinkeby waren im Rahmen des Miljonprogrammet erbaut

worden, das im Zeitraum von 1964–1974 vorsah eine Million neuer Wohnungen in Schweden zu

errichten. Heute sind diese großen modernistischen Planstädte, wie viele ihrer Artgenossen, zu

Orten des sozialen Konflikts geworden. Kriemanns Fotos zeigen die Wohnblocks – mal streng

rechteckig, mal organisch gekurvt in die zuvor leergeräumte Landschaft gesetzt – als abstrakte

Formationen. Hier trifft der kühl planende Blick aus großer Höhe auf den romantisch verklärten

Blick in den Himmel.

Die Migrationsbewegungen von Zugvogelschwärmen, die beginnende Arbeitsmigration

des Wirtschaftsbooms als heroisch angegangene Herausforderung für den Wohlfahrtsstaat, der

menschliche Traum vom Fliegen und seine Erfüllung in der militärischen Nutzung; aus all diesen

Komponenten entsteht das visuelle Universum von One Time One Million, aus dem Susanne

Kriemann für dérive eine konzentrierte Auswahl getroffen hat.

In installativer Form war One Time One Million zuletzt im Rahmen der Ausstellung

Beton in der Kunsthalle Wien präsentiert. Derzeit sind Arbeiten von Susanne Kriemann in zahlreichen

Gruppenausstellungen zu sehen: im Witte de With Center for Contemporary Art, Rotterdam

(The Belly of the Whale, bis 31.Dezember), im Konstmuseum Malmö (The Society Machine,

bis 15. Januar), im 21er Haus Wien (Die Sprache der Dinge, bis 22. Januar) sowie auf der

11. Shanghai Biennale (bis 12. März).

Andreas Fogarasi

32

dérive N o 66Judentum und Urbanität


Magazin

CARINA SACHER

Zwischen Anund

Abwesenheit

Mikro-Verteilerzentren

in URBANEN NISCHEN

Zeitungsvertrieb, Nischen,

Arbeitsverhältnisse, Verteilerzentrum,

Umschlagplatz

(c) Fotos und Grafik: Carina Sacher

Täglich beziehen wir Produkte und Dienstleistungen, deren Herstellung

und Durchführung aufgrund räumlicher und/oder zeitlicher

Verlagerung kaum mehr Teil unserer Sinneswahrnehmung sind.

Am Morgen liegen die nachts gedruckten Zeitungen bereits vor der

Tür. Entkoppelt ist so gleichsam die bewusste Kenntnisnahme der

damit verbundenen Leistung, die nicht nur still, sondern auch unter

prekärer Beschäftigung ausgeführt wird. Wie die DienstleisterInnen

selbst, treten auch die Räume, die nachts für die Zeitungszustellung

zwischengenutzt werden, tagsüber in den Hintergrund.

Carina Sacher — Zwischen An- und Abwesenheit – Mikro-Verteilerzentren in URBANEN NISCHEN

37


ALEXANDER PEER

IN KETTEN

durch Wien

LEO PERUTZ –

Zwischen NEUN UND NEUN

Leo Perutz, Wien, Prag,

Kaffeehausliteratur, Großstadtroman,

Judentum, Exil

Das heute nicht mehr existente Café Schottenring spielt als

Café Hibernia eine wichtige Rolle in Leo Perutz’ Roman Zwischen neun und neun.

Foto: Alexander Peer.

Stanislaus Demba kann froh sein, dass er heute nicht im Café

Schottenring Zuflucht suchen muss. Diese tragikomische Figur aus

Leo Perutz’ Nachkriegsroman Zwischen neun und neun würde

vergeblich um Einlass bitten. Das Café hat mehr als 130 Jahre existiert.

Ab 2012 wurde das Gebäude saniert. Heute ist das Haus

wieder vollständig vermietet – bis auf das Parterre. Diesbezüglich

wird eben mit möglichen Mietern aus verschiedenen Branchen

verhandelt. Ob es jemals wieder ein klassisches Wiener Café am

Schottenring 19 geben wird?

94 Seiten lang wundern sich die Leser

und Leserinnen von Zwischen neun

und neun über das eigenwillige Verhalten

des Studenten Stanislaus Demba,

der sich mit staunenswerter Ausdauer

von Missgeschick zu Missgeschick

hantelt, bis sich das Geheimnis lüftet.

Anlässlich des zweifachen Leo-Perutz-

Gedenkjahres 2017, in dem sich dessen

Geburtstag zum 135. Mal und dessen

Todestag zum 60. Mal jährt, ist ein Blick

42

dérive N o 66Judentum und Urbanität


KLAUS RONNEBERGER

Was ist

URBANITÄT?

Eine AUSEINANDERSETZUNG

mit Manfred Russos Buch

PROJEKT STADT

Urbanität, öffentlicher Raum, Utopie,

Ideengeschichte, Straße

Seit 2002 veröffentlicht Manfred Russo in dérive eine Artikelserie

zur Geschichte der Urbanität. Nun ist ein Großteil seiner Texte

als voluminöses Buch bei dem renommierten Birkhäuser Verlag

erschienen. Wie der Autor in der Einleitung hervorhebt, erfreut

sich der Begriff Urbanität seit Jahrzehnten sowohl in der Akademie

wie im Feuilleton großer Beliebtheit und ist Gegenstand zahlreicher

wissenschaftlicher und kulturpolitischer Diskussionen. Dabei geht

es auch um die jeweilige hegemoniale Definition des Städtischen,

was den sozialen Zusammenhang von Städtebau, Planungspolitik

und Lebensweisen anbetrifft. Angesichts der Bedeutung dieses

Diskurses erlaubt sich der Rezensent das übliche Format einer Buchbesprechung

zu überschreiten.

Klaus Ronneberger — Was ist URBANITÄT? Eine AUSEINANDERSETZUNG mit Manfred Russos Buch PROJEKT STADT.

47


Besprechungen

Wunschmaschine

Gemeindebau

Robert Temel

Im Wohnbau sieht es mit theoretisch

fundierten und gleichzeitig praxisorientierten

Reformvorschlägen schlecht aus:

ExpertInnen liefern häufig minimale Detaillösungsansätze

für Auswüchse, die dann

im parteipolitischen Gleichgewicht des

Schreckens versanden. Andererseits gibt es

Entwicklungsideen, denen man leider das

mangelnde Wissen über Rahmenbedingungen

und Praxis des heutigen Wohnbaus

sofort ansieht. Andreas Rumpfhuber

versucht mit seinem Band Wunschmaschine

Wohnanlage, basierend auf seiner Arbeit

im Rahmen des Roland-Rainer-Forschungsstipendiums,

einen Vorschlag zu machen,

der diesem Dilemma entkommt. Sein Beitrag

ist theoretisch fundiert, er baut unter

anderem auf seine Forschung zum Thema

Raum und Arbeitswelt auf, und zieht aus

diesem Fundament praktische Konsequenzen.

Er nützt sein Thema, die Wiener

Großwohnanlagen der 1950er bis 1980er

Jahre, für eine generelle Diskussion zur

Weiterentwicklung des Wiener sozialen

Wohnbaus. Es gab in diesem Sektor, der

bis heute vom Mythos des Roten Wien

zehrt, auch in der jüngeren Vergangenheit

zweifellos wichtige Neuerungen: Vor etwa

zwanzig Jahren wurde das Fördersystem

mit Bauträgerwettbewerb und Grundstücksbeirat

eingeführt, welches einerseits

als Liberalisierung bezeichnet werden

kann, andererseits aber hinsichtlich Qualitätssteigerung,

Preisbeschränkung und

Bodenpolitik durchaus erfolgreich war. Vor

acht Jahren wurde die soziale Nachhaltigkeit

als neues Kriterium für den geförderten

Wohnbau eingeführt. Und seit Kurzem

gibt es ein umfangreiches Programm für

besonders preiswerte Wohnungen, die

Smart-Wohnungen, um die Zielgruppe in

Richtung niedrige Einkommen zu erweitern.

Im Gemeinderats-Wahlkampf 2015 wurde

sogar ein Neubeginn des Gemeindebaus,

also des kommunalen Wohnungsneubaus

angekündigt, den es in Wien seit fast 15

Jahren nicht mehr gibt. Doch das Potenzial

für Innovation ist nach wie vor enorm:

Wichtige Themen des Wohnbaus, die in

Wien in einzelnen Pilotprojekten behandelt,

aber nicht zum Standard wurden,

sind etwa Nutzungsmischung, Wohnen

und Arbeiten, hochwertiger öffentlicher

Raum, neue Mobilitätsmodelle, eine Vielfalt

von Wohnbautypen und Akteuren

und Akteurinnen sowie Selbstorganisation

und Aneignung, man könnte generell

sagen: sozialer Städtebau statt allein sozialer

Wohnbau.

Rumpfhubers Studie beschäftigt sich mit

dem Wiener Wohnbau dazwischen – zwischen

dem Roten Wien der 1920er Jahre

und der Phase der Liberalisierung seit den

1990er Jahren, begleitet von einer gewissen

Refokussierung auf die soziale Frage in

der jüngsten Zeit. Sein Ansatz ist es, nicht

die überkommene und nach wie vor gültige

Perspektive einzunehmen, nach der

Wohnsiedlungen allein Orte des Wohnens,

der Hausarbeit und der Freizeit sind, sondern

sie zu Orten des Wohnens und

Arbeitens zu transformieren, um so Urbanität

statt bloß ein »Bild von Urbanität«

herzustellen. Das ist für einen neuen sozialen

Städtebau Wiener Prägung sicher die

richtige Strategie – aktuelle städtebauliche

Ansätze argumentieren heute oft, dass die

Konzentration auf das Wohnen problematisch

sei, imaginieren aber als Alternative

Orte der Freizeit, die von den Leitbildern

der Moderne nicht weit entfernt sind

(Rumpfhuber: »Club Med ohne Animation«).

Sein Ansatz geht von einer Integration

von Wohnen und Arbeiten in der

»Stadt nach der Arbeit« aus, setzt dabei

allerdings vorrangig auf leicht verträgliche

Kreativ- und Wissensarbeit, die ins »wohnliche«

Umfeld passt – dieser Sektor wächst

zweifellos, ein solcher Fokus greift aber

gerade angesichts der aktuellen Debatte

über die Rückkehr der Produktion in die

Stadt etwas zu kurz. Als wichtige Qualität,

als »Luxus« der Wohnanlagen identifiziert

Rumpfhuber die umfangreichen Grünräume,

die allerdings durch ihren Charakter

als Abstandsgrün ihr Potenzial vergeuden.

Wichtige Verfügungsmasse für eine

Weiterentwicklung sind weiters die großflächigen,

ebenerdigen Parkplätze. In seinem

Ansatz werden, um Fläche freizumachen,

Pkws in Parktürmen gesammelt, die

bei Veränderung des Mobilitätsverhaltens

rückgebaut werden können.

Rumpfhuber bezieht sich in seiner Studie

vielfach auf die aktuellen kleinen, innovativen

Ansätze im Wohnbau, die meist nicht

von den großen und politiknahen Akteuren

kommen, etwa Baugemeinschaften,

Coworking Spaces, Planungspartizipation

und die Belebung der Erdgeschoßzone.

Diese sind zweifellos alle nicht so einflussreich,

dass sie zu einer grundlegenden Veränderung

des Wiener Wohnbausystems

werden können – aber dass er auf sie einen

leicht despektierlichen Blick wirft, in dem

man durchaus eine Widerspiegelung der

Ablehnung des selbstorganisierten, genossenschaftlichen

Siedlungsbaus im Wien der

1920er Jahre durch die städtische Sozialdemokratie

sehen kann, haben sie nicht verdient.

So wird in der Studie mehrfach

behauptet, die Wiener Baugemeinschaften

würden vorrangig einer Mehrwertproduktion

für die jeweilige Gruppe dienen –

dabei wird übersehen, dass gerade die

Wiener Baugemeinschaften, im Unterschied

etwa zu Deutschland, meist auf Gemeinschaftseigentum

basieren und damit eine

Rendite aus der Immobilie generell ausschließen

– im Unterschied zur üblichen

Form des Wiener geförderten Mietwohnungsbaus,

wo heute durch die Vorgabe

des Mietkaufs die Privatisierung der geförderten

Wohnungen durchaus üblich ist.

Auch wenn man Rumpfhuber recht geben

muss, dass diese reformistischen Ansätze

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sind auf der dérive-Website nachzulesen.

dérive Nr. 1 (01/2000)

Schwerpunkte: Gürtelsanierung: Sicherheitsdiskurs,

Konzept – und Umsetzungskritik, Transparenzbegriff;

Institutionalisierter Rassismus am Beispiel der »Operation

Spring«

dérive Nr. 2 (02/2000)

Schwerpunkte: Wohnsituation von MigrantInnen und

Kritik des Integrationsbegriffes; Reclaim the Streets/

Politik und Straße

dérive Nr. 3 (01/2001) (vergriffen)

Schwerpunkt: Spektaktelgesellschaft

dérive Nr. 4 (02/2001)

Schwerpunkte: Gentrification, Stadtökologie

dérive Nr. 5 (03/2001)

Sampler: Salzburger Speckgürtel, Museumsquartier,

räumen und gendern, Kulturwissenschaften und Stadtforschung,

Virtual Landscapes, Petrzalka,

Juden/Jüdinnen in Bratislava

dérive Nr. 6 (04/2001)

Schwerpunkt: Argument Kultur

dérive Nr. 7 (01/2002)

Sampler: Ökonomie der Aufmerksamkeit, Plattenbauten,

Feministische Stadtplanung,

Manchester, Augarten/Hakoah

dérive Nr. 8 (02/2002)

Sampler: Trznica Arizona, Dresden, Ottakring,

Tokio, Antwerpen, Graffiti

dérive Nr. 9 (03/2002)

Schwerpunkt in Kooperation mit dem

Tanzquartier Wien: Wien umgehen

dérive Nr. 10 (04/2002) (vergriffen)

Schwerpunkt: Produkt Wohnen

dérive Nr. 11 (01/2003)

Schwerpunkt: Adressierung

dérive Nr. 12 (02/2003)

Schwerpunkt: Angst

dérive Nr. 13 (03/2003)

Sampler: Nikepark, Mumbai,

Radfahren, Belfast

dérive Nr. 14 (04/2003) (vergriffen)

Schwerpunkt: Temporäre Nutzungen

dérive Nr. 15 (01/2004)

Schwerpunkt: Frauenöffentlichkeiten

dérive Nr. 16 (02/2004)

Sampler: Frankfurt am Arsch, Ghetto Realness,

Hier entsteht, (Un)Sicherheit, Reverse Imagineering,

Ein Ort des Gegen

dérive Nr. 17 (03/2004)

Schwerpunkt: Stadterneuerung

dérive Nr. 18 (01/2005)

Sampler: Elektronische Stadt, Erdgeschoßzonen,

Kathmandu, Architektur in Bratislava

dérive Nr. 19 (02/2005)

Schwerpunkt: Wiederaufbau des Wiederaufbaus

dérive Nr. 20 (03/2005)

Schwerpunkt: Candidates and Hosts

dérive Nr. 21/22 (01-02/2006)

Schwerpunkt: Urbane Räume – öffentliche Kunst

dérive Nr. 23 (03/2006) (vergriffen)

Schwerpunkt: Visuelle Identität

dérive Nr. 24 (04/2006)

Schwerpunkt: Sicherheit: Ideologie und Ware

dérive Nr. 25 (05/2006) (vergriffen)

Schwerpunkt: Stadt mobil

dérive Nr. 26 (01/2007)

Sampler: Stadtaußenpolitik, Sofia, Frank Lloyd Wright,

Banlieus, Kreative Milieus, Reflexionen der phantastischen

Stadt, Spatial Practices as a Blueprint for Human

Rights Violations

dérive Nr. 27 (02/2007)

Schwerpunkt: Stadt hören

dérive Nr. 28 (03/2007)

Sampler: Total Living Industry Tokyo, Neoliberale

Technokratie und Stadtpolitik, Planung in der Stadtlandschaft,

Entzivilisierung und Dämonisierung, Stadt-

Beschreibung, Die Unversöhnten

dérive Nr. 29 (04/2007)

Schwerpunkt: Transformation der Produktion

dérive Nr. 30 (01/2008) (vergriffen)

Schwerpunkt: Cinematic Cities – Stadt im Film

dérive Nr. 31 (02/2008) (vergriffen)

Schwerpunkt: Gouvernementalität

dérive Nr. 32 (03/2008)

Schwerpunkt: Die Stadt als Stadion

dérive Nr. 33 (04/2008)

Sampler: Quito, Identität und Kultur des Neuen Kapitalismus,

Pavillonprojekte, Hochschullehre,

Altern, Pliensauvorstadt, Istanbul, privater Städtebau,

Keller, James Ballard

dérive Nr. 34 (01/2009)

Schwerpunkt: Arbeit Leben

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Schwerpunkt: Aufwertung

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Schwerpunkt: Urbanität durch Migration

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und Dekonstruktion

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Redaktion / Mitarbeit: Thomas Ballhausen, Andreas

Fogarasi, Udo Häberlin, Barbara Holub, Holger Hörtnagl,

Michael Klein, André Krammer, Axel Laimer, Iris Meder,

Erik Meinharter, Sabina Prudic-Hartl, Paul Rajakovics,

Elke Rauth, Manfred Russo.

AutorInnen, InterviewpartnerInnen und KünstlerInnen

dieser Ausgabe: AutorInnen, InterviewpartnerInnen und

KünstlerInnen dieser Ausgabe: Adina F. Camhy, Andreas

Fogarasi, Laurence Guillon, Bodo Kahmann, Andre Krammer,

Susanne Kriemann, Tobias Metzler, Alexander Peer, Ursula

Probst, Klaus Ronneberger, Carina Sacher, Robert Temel,

Veerle Vanden Daele

Mitgliedschaften, Netzwerke:

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IG Kultur, INURA – International Network for Urban

Research and Action, Recht auf Stadt – Wien.

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Genehmigung des Herausgebers gestattet.

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dérive N o 66Judentum und Urbanität


»... dass die europäische

Geschichte ohne den

Anteil der jüdischen

Geschichte nicht

geschrieben und die

europäische Zukunft

ohne eine aktive

jüdische Präsenz nicht

gestaltet werden kann.«

Joachim Schlör, S. 21

Warschau, Erinnerungskultur, Berlin, Postkolonialismus, Großstadtfeindschaft,

Antwerpen, London, Orthodoxie,

Leo Perutz, Wien, Zeitungsvertrieb, Kaffeehausliteratur

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