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Zukunft Wohnen – Migration als Impuls für die kooperative Stadt

ISBN 978-3-86859-451-5

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Probleme lassen sich

nicht mit den Denkweisen lösen,

die zu ihnen geführt haben.

Albert Einstein


timeline

Die im Folgenden diagrammatisch

dargestellte Zeitschiene zeigt Entwicklungen

rund um das Thema

Flüchtlinge und Integration in

Deutschland und Europa ab Januar

2015. Die dargestellten Ereignisse

sind der Presse und den Medien entnommen

und zeigen, wie sich die Debatte

um Zuwanderung als Gesamteindruck

innerhalb der Gesellschaft

abzeichnete. Diese Ereignis-Zeit-

Struktur erhebt nicht den Anspruch

einer exakten Datenerhebung und

-auswertung; vielmehr versucht sie

den Abhängigkeiten von Ereignissen

und Stimmungen in der Bundesrepublik

einen visuellen Ausdruck zu

geben und die Vernetzung von Geschehnissen

mit politischem Kalkül

und gesellschaftlichen Meinungsund

Mehrheitsverschiebungen zu

veranschaulichen.

Vorausgesetzt wird das Wissen um

die Fluchtbewegung nach Europa,

die ihren ersten spürbaren Höhepunkt

im Sommer 2015 erreichte

und von da an eine Debatte in Gang

setzte, die die Gesellschaft in Befürworter

der Willkommenskultur

einerseits, Bewegungen wie Pegida

und die AfD andererseits spaltete.

Ihr Ausgang ist noch ungeklärt, jedoch

beeinflusst sie die momentane

prekäre Situation der europäischen

Gemeinschaft mit.

Zufriedenheit mit der

Bundesregierung 1

Entwicklung Asylanträge 2

Tatsächliche Asylanträge 2

Zustimmung zur AfD bei der

Sonntagsfrage 3

Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo in Paris

Frankreich, 7. Januar, zwölf Tote 4

Terror gegen die freien Worte

Mahnwache gegen

den Terror vor dem

Brandenburger Tor

in Berlin 6

13. Januar

"

Der Islam gehört zu

Deutschland und das ist so,

dieser Meinung bin ich auch.

Angela Merkel, Bundeskanzlerin

12. Januar 6

Februar 2015

21%

sind dafür, weniger

Geflüchtete aufzunehmen. 5

57%

22.775

Schätzungen zufolge hat

jede 3.

Familie in Deutschland

ausländische Wurzeln. 7

3. Februar

befürchten terroristische

49% Anschläge in Deutschland. 5

Die Zahl der in Deutschland

lebenden Geflüchteten ist auf

630.000

gestiegen. 8

12. Februar

6%

"

Vorüberlegungen

Innenministerium:

Die Polizei in Bayern bereitet

sich auf die Schließung der

Grenze zu Österreich vor. 10

27. Februar

Karnevalsumzug in

Braunschweig wegen

Terrorverdachts abgesagt 9

15. Februar

64%

sind der Meinung, dass die

Bürger kaum Möglichkeiten

haben, um auf die Politik

Einfluss zu nehmen. 5


GSEducationalVersion

Papst Franziskus bittet

um Hilfe für Italien.

Petersplatz, Vatikan

18. April 21

58%

In Deutschland werden 2015

450.000

Geflüchtete erwartet. 13

7. Mai

56%

28.681

Stadt Witten entwickelt für eine bessere

Orientierung eine App für Geflüchtete. 12

„Pegida“-Demonstranten

gehen

auf Unterstützer

eines Protestcamps

für Flüchtlinge

los. 11

2. März, Dresden

Asylbewerberzahlen aus

dem Kosovo sinken. 14

Zwischen 2004 und 2013 sind

schätzungsweise 1,5 Millionen

deutsche Staatsbürger ins Ausland

ausgewandert, davon 66,9 Prozent

aufgrund beruflicher Chancen. 15

10. März

Die kenianische Regierung will das weltweit

größte UN-Flüchtlingscamp Dadaab mit

etwa 350.000 untergebrachten Personen

innerhalb von drei Monaten räumen lassen. 17

14. April

Zwischen Libyen und

Sizilien werden 1800

Flüchtlinge auf dem

Mittelmeer gerettet. 16

5. April

24.504

Asylbewerberverfahren sollen

schneller bearbeitet werden

und abgelehnte Asylbewerber

zügiger abgeschoben werden. 18

17. April

Europäische Union erhöht

finanzielle Mittel für die

Seerettung auf dem Mittelmeer

um das Dreifache. 19

23. April

Mehr als 700 Menschen

ertrinken im Mittelmeer

vor der libyschen Küste. 20

19. April

März 2015 April 2015

41%

befürworten die

Aufnahme von

Wirtschaftsflüchtlingen. 5


Um Asylverfahren zu beschleunigen,

sollen 2000 neue Mitarbeiter

bundesweit eingestellt werden. 24

8. Mai

23.758

54%

Vor der libyschen Küste

werden innerhalb eines Tages

3400 Flüchtlinge durch die

italienische Marine gerettet. 22

3. Mai

Die deutsche Marine wird erstmals

auf dem Mittelmeer für die Seenotrettung

von Flüchtlingen eingesetzt. 23

6. Mai

Nach der Rettung von

Flüchtlingen sollen Schlepperboote

durch die deutsche Marine unfähig

gemacht werden. 25

UN-Flüchtlingsreport:

60 Millionen

Menschen auf der Flucht 29

Die Zahl der von der Bundeswehr

geretteten Geflüchteten auf dem

Mittelmeer wächst auf knapp 4000. 26

32.705

Bundesagentur für Arbeit:

niedrigste Arbeitslosenquote

für den Monat Mai seit

1991 27

Arbeitsagentur fordert ein

Sofortprogramm für

Flüchtlinge. 28

2. Juni

52%

18. Juni

Schlepperdienste entwickeln sich

zu Milliardengeschäften: Flüchtlinge

haben rund 16 Milliarden Euro an

Schleuser gezahlt. 30

EU-Gipfel beschließt

Verteilung von Flüchtlingen:

EU will 60.000 Flüchtlinge

auf alle 28 Mitgliedstaaten

verteilen allerdings nur auf

freiwilliger Basis. 31

26. Juni

Mai 2015 Juni 2015

39%

befürworten die Aufnahme

von Wirtschaftsflüchtlingen. 5

befürchten terroristische

63% Anschläge in Deutschland. 5

5%


GSEducationalVersion

"

Dagegenhalten,

Mund aufmachen.

Haltung zeigen!

Anja Reschke, NDR-Reporterin

"

"

Wir schaffen das!

"

Angela Merkel, Bundeskanzlerin

31. August 13

5. August 37 Willkommenskultur in

Deutschland darf nicht

gefährdet werden.

Armin Laschet, stellvertretender Vorsitzender der CDU

28. August 34

GSEducationalVersion

57%

Rund

10.000

Geflüchtete pro Tag 36

Sommer 2015

Jahresprognose wird auf

800.000

Geflüchtete korrigiert. 36

19. August

LKW mit 71 toten

Geflüchteten an

Autobahn entdeckt. 40

28. August, Österreich

34.384

Flüchtlings-Stellenbörse:

Einführung einer Jobbörse für

arbeitssuchende Flüchtlinge

in den sozialen Netzwerken 32

Angriffe auf Geflüchtete im

ersten Halbjahr 2015 bereits

mehr als im ganzen Jahr 2014 34

Mitte 2015

Im Juli sind so viele Asylbewerber in

Deutschland angekommen wie noch

nie zuvor in einem Monat. Momentan

sind 209.000 Asylanträge in Bearbeitung. 35

Frontex teilt mit, dass die Zahl der in Griechenland

angekommenen Geflüchteten im Juli einen neuen

Rekordstand erreicht hat. 33

„Wir können nicht alle aufnehmen.“

Angela Merkel zu einem palästinensischen

Flüchtlingsmädchen während

des Bürgerdialogs zur Kampagne

„Gut leben in Deutschland“ 13

16. Juli

Abschreckungskampagne:

Bundespolizei warnt vor

dem Versprechen, in

Deutschland bekäme man

aus wirtschaftlichen

Gründen Asyl gewährt. 34

13. August

33.447

54%

2000 neue Stellen für

Bundesamt für

Migration und Flüchtlinge 39

27. August

Vier Angriffe auf

Flüchtlingsheime binnen

48 Stunden 38

26. August

BAMF bestätigt:

Dublin-Verfahren syrischer

Staatsangehöriger werden

derzeit faktisch nicht

weiter verfolgt. 36

25. August

Juli 2015 August 2015

63%

pro

27%

kontra

Einwanderungsgesetz 5

93%

befürworten die Aufnahme

von Kriegsgeflüchteten. 5

28%

befürworten die Aufnahme

von Wirtschaftsflüchtlingen. 5

4%


Inhalt


TIMELINE

2

TEXTE

Plädoyer für das wachsende Haus

Jörg Friedrich

Von einer Willkommensarchitektur zur Wohnraumfrage

Peter Haslinger und Simon Takasaki

Sozial-räumliche Integration von Flüchtlingen

Jürgen Friedrichs

Von Shrinking Cities zu Arrival Cities

Philipp Oswalt im Interview

Wohnen und … Stadt ist organisierte Öffentlichkeit

Bettina Götz

Wohnen für Flüchtlinge Wohnen für Neuberliner

Thomas Bestgen

Räume des Übergangs stiften

Stiftungsförderung für integratives und bezahlbares Wohnen

Ralph Boch

Solidarische Finanzierung von Hausprojekten

Julian Benz

14

16

28

36

44

52

56

62

68

HINTERGRÜNDE

74

PROJEKTE

Temporär

Modular

Verdichtet

Transformiert

Hybrid

Partizipativ

98

104

120

166

196

214

256

Zukunft des Wohnens am Existenzminimum

Ausblick und Dank

Jörg Friedrich

289

ANHANG

294


jörg friedrich

plädoyer für das

wachsende haus

Architektur ist Handlung eine Handlung, die sich im

Maßstab des Gebauten vollzieht. Durch ihre Bauten setzt eine Kultur sichtbar

bleibende Zeichen. Heute, im Zeitalter des globalisierten Neokolonialismus,

sind bauliche Machtdemonstrationen erneut üblich geworden. Der

Neokolonialismus manifestiert sich in der Kombination von Land Grabbing,

Plantagenlogik, Ausbeutung von Ressourcen und Investitionen in eine Infrastruktur,

die dies ermöglicht. Angesichts dieser Entwicklung möchte ich für

eine „Architektur der Einmischung“ plädieren, die global denkt und die soziale

Agenda der Architektur dabei nicht aus den Augen verliert. Eine solche

Architekturpraxis besitzt drei Merkmale: nicht synthetisierte Hybridität,

nähere Begegnung und Widerständigkeit. 1

Es gibt auch im Jahr 2017 ein Flüchtlingswohnungsproblem in Deutschland,

sowie in Europa. Immer mehr gibt es darüber hinaus ein Wohnproblem für

viele. Die Zahl der Menschen, die sich aufgrund zu niedriger Einkommen

keinen angemessenen Wohnraum mehr in den wachsenden Städten in

Deutschland leisten können, umfasst zurzeit mit knapp sieben Millionen

Einwohnern am Existenzminimum erheblich größere Teile der Bevölkerung

als nur Flüchtlinge. Die berühmte „Wohnungsfrage“, die Friedrich Engels im

19. Jahrhundert bereits gestellt hat, wird 2017 zunehmend zu einer der

zentralen gesellschaftlichen, architektonischen und städtebaulichen Herausforderungen

für die Planung einer sozialen, menschenwürdigen „Wohnstadt

der Zukunftfür alle und nicht nur für Flüchtlinge. 2

Der Mangel an anpassungsfähigem, bezahlbarem Wohnraum für arme

Bevölkerungsschichten ist kein neues Thema. Die Erfahrungen mit dem

„Neuen Bauen“ in den 1920er Jahren, der Umgang mit Zerstörungen und

Flüchtlingsströmen nach den beiden Weltkriegen, Erfahrungen aus dem sozialistischen

Städtebau in der Sowjetunion oder in der DDR, die Unterbringung

von Hunderttausenden von „Gastarbeitern“ aus dem Süden Europas

in Deutschland in den 1960er Jahren sowie die Aufnahme von Millionen

Menschen, die aus den ehemaligen französischen Kolonien nach Frankreich

einströmten, um in schnell aufgebauten Großsiedlungen in der Peripherie

der Städte sich selbst überlassen zu bleiben, haben die Architektur- und

Entwurfsgeschichte des vergangenen Jahrhunderts stark geprägt. All diese

Projekte haben oft vermeidbare, manchmal auch gelungene Erfahrungen

16


im Massenwohnungsbau vermittelt. Architekten und Planer sind seit Jahrzehnten

herausgefordert, fehlenden günstigen Wohnraum sehr schnell mit

Architekturkonzepten entwurflich zu hinterlegen und diese baulich in Gebäudesolitären

umzusetzen heute erkennen wir, dass es nur ganz selten

ein übergeordnetes Gesamtkonzept von Stadt oder vom Stadtkörper gegeben

hat, in welches diese Architekturen hätten eingebettet werden können.

Das Verständnis vom öffentlichen Raum als wichtigstem Bindeglied

zwischen Architektur und Stadt fehlte völlig: ein katastrophaler Fehler.

Architektur und Stadtplanung bekommen mit der Notwendigkeit, schnell

ausreichenden Wohnraum für sehr arme Bevölkerungsschichten bereitstellen

zu müssen, nicht nur die übliche künstlerische, sondern eine kaum

zu erfüllende gesellschaftliche Verantwortung bei der Lösung eines politisch

bedingten Problems zugewiesen. Die Erfahrungen im Umgang mit

der Wohnungsproblematik im Rahmen der Flüchtlingskrise 2015 waren

erst der Anfang; wir können sie jedoch als Chance begreifen, um mit ihnen

einen komplexen, ganzheitlichen, gesellschaftlich sinnvollen Ansatz in der

Lösung der planerischen Herausforderungen zur Wohnungsfrage im Billigwohnsektor

zu finden, der auch die zukünftige Entwicklung der europäischen

Stadt im Blick hat.

Flüchtlingskrise oder:

Der Beginn einer neuen Architekturepoche

Die Gesellschaft der Zukunft wird ohne soziale Architektur

und humanistisch orientierte Planungskreativität nicht auskommen: eine

Chance, eine Herausforderung für Architektur und Stadtplanung, die weit

mehr als bisher die Grenzen ihrer eigenen Disziplinen sprengen müssen.

Ein so groß angelegtes, von der Gesellschaft eingefordertes komplexes architektonisches

und städtebauliches Experiment hat es in der Geschichte

der modernen Architektur lange nicht mehr gegeben. Dabei war es die

Flüchtlingsproblematik, die einem ganzen Berufsstand weltweit einen

iconic turn verordnete: weg von der Stararchitektur für wenige hin zu der

Suche nach einer würdevollen, bezahlbaren Wohnarchitektur für viele in

den urbanen Zentren der Welt. Dabei sind die Flüchtlinge aus den syrischen

Kriegsgebieten nur der kleine Anfang, die Millionen von neuen Armen folgen

erst noch. Für diese Massen gilt es, neue sozial verträgliche Modelle

für die wachsende Stadt, Bilder für den öffentlichen Raum und für ein zukunftsfähiges

bezahlbares Wohnen zu entwerfen.

Den ersten Fehler haben die Architekten, Planer und Politiker bereits gemacht:

Sie sind seit Beginn der Flüchtlingskrise nur allzu gern den schnellen

Weg der Container- und Betonfertigteilindustrielobby mitgegangen. Naiv,

wie Politiker und Planer oft sind, haben sie die Wohnraumnot in Städten

und Kommunen für die ankommenden Flüchtlinge mit temporären Mitteln

städtebaulich und architektonisch zu lösen versucht. Lücken stopfen, könnte

man auch sagen. Die Beteiligten haben bei der Bewältigung eines neuen

Massenwohnungsproblems vergessen, die Unterbringung schnell anwachsender

Stadtbevölkerungen von Anbeginn der Krise bereits langfristig

planerisch vorzudenken. Der Zustrom fremder Menschen und der steigende

Bedarf an bezahlbaren Wohnungen wurde nicht als städtebauliche

17


peter haslinger

und

simon takasaki

von einer

willkommensarchitektur

zur wohnraumfrage

Momentan sind mehr als 65,3 Millionen Menschen weltweit

auf der Flucht. Die Hälfte davon sind Kinder. Würden all diese Menschen

eine Nation bilden, so stünde sie auf Platz 21 der größten Nationen

der Welt. Jeder 113. Erdenbewohner ist inzwischen direkt von Flucht und

Vertreibung betroffen und es kommen 24 Menschen pro Minute hinzu.

(UNHCR: Weltbericht 2015)

Während auf dem Meer täglich erschreckend viele Menschen ihr Leben

verlieren, sind die Fluchtrouten auf dem Land durch geschlossene Grenzen

zunehmend blockiert. Zudem wird in einigen Ländern politisch gegen das

Asylrecht Stimmung gemacht.

Sind die Geflüchteten an einem sicheren Ort angekommen, so stellt sich

unmittelbar die Frage nach geeignetem Wohnraum. Alle wollen selbstbestimmt

wohnen. Einfach nur wohnen oder zumindest einfach wohnen.

Die Brisanz des Themas Wohnen und gerade des einfachen Wohnens betrifft

nicht nur die Gruppe der Geflüchteten, sondern uns alle, inzwischen

vermehrt die Einkommensschwachen und die Mittelschicht. Um in Europa

und Deutschland bezahlbaren Wohnraum anzubieten, bedarf es vielfältiger

Strategien und unterschiedlicher Ansätze in Politik, Wirtschaft und

Gesellschaft, aber gerade auch in den Bereichen der Architektur und des

Städtebaus.

Gesellschaftlicher Integration geht räumliche Integration voraus. So erfordert

die Situation kurzfristige Hilfe, mittelfristige Wohnsituationen und

langfristige Lösungen und das nicht nur für Geflüchtete. In Deutschland

fehlen 350.000 Wohneinheiten pro Jahr. Prognosen gehen davon aus, dass

wir durch die Flüchtlingskrise 450.000 Wohneinheiten pro Jahr vor allem

im sozialverträglichen Segment und besonders in den Ballungsräumen

brauchen. 1 Gebaut wurden im vergangenen Jahr 250.000 Wohneinheiten,

bevorzugt im hochpreisigen Segment. Immer mehr Menschen wollen in

Groß- oder Universitätsstädten leben. Dort jedoch ist der Wohnraum bereits

sehr knapp. Dem steht ein Leerstand von 1,7 Millionen Wohnungen in

meist strukturschwachen Gegenden gegenüber. Es besteht also eine riesige

Lücke zwischen Realität und Bedarf.

Mit den Veränderungen in der Gesellschaft dem Nebeneinander von

klassischen und neuen Familienstrukturen, dem steigenden Durchschnitts-

28


alter, zunehmender kultureller Vermischung, kontroversen Mobilitätsbedürfnissen,

stärkeren sozialen Unterschieden, neuen Verhaltensmustern

und zunehmend extremen Kaufkraftunterschieden ändern sich auch die

Anforderungen an das Wohnen. Dieser Dynamik werden die Wohnkonzepte

der Vergangenheit weitgehend nicht mehr gerecht.

Die Herausforderungen, vor denen Deutschland durch die Migrationsbewegung

steht, gehören zu den größten Herausforderungen seit dem Fall

der Mauer. Die Folgen der Zuwanderung scheinen sich auf alle Ebenen des

gesellschaftlichen Miteinanders, gesellschaftlicher Prozesse und gesellschaftlicher

Auseinandersetzung auszuwirken und enormen Einfluss zu

haben. Dies betrifft nicht nur die Wohnungsfrage, sondern auch das Niveau

des Miteinanders sowie das Erstarken und die zunehmende Gesellschaftsfähigkeit

fremdenfeindlich geprägter Kriminalität und Politik.

Im Thema des Wohnens finden diese Prozesse ihren räumlichen Ausdruck;

die entsprechende Debatte spiegelt sowohl die positive als auch die negative

Stimmung innerhalb unserer Gesellschaft. Es ist die direkte Umsetzung

von Politik in Raum.

Die Frage nach neuen Möglichkeiten der Unterkunft für Geflüchtete hat in

letzter Zeit im architektonischen Diskurs ungeahnte Potenziale geweckt.

Die Herausforderung wird größtenteils auch als Chance begriffen, das

Wohnen neu zu denken, um die Frage des sozial gerechten Wohnens wieder

mehr in den Fokus zu rücken, ja geradezu die Relevanz der architektonischen

Auseinandersetzung für Städte und Gesellschaften hervorzuheben

und dem marktwirtschaftlich gesteuerten Immobilienmarkt eine gerechte

und integrative Idee einer sozialen Stadt gegenüberzustellen.

Die Architekturbiennale 2016 in Venedig mit dem Thema „Reporting From

the Front“ hat die Kuratoren vieler Länderpavillons dazu bewegt, sich mit

dem Thema der Flüchtlingsmigration und dem von Douglas Saunders geprägten

Begriff der „ Arrival City“ auseinanderzusetzen. Dazu zählen unter

anderem der Beitrag im deutschen Pavillon unter dem Titel „Making Heimat“,

der österreichische und der finnische Beitrag. Auch in einer Vielzahl

von Architekturwettbewerben wurde die Fragestellung bearbeitet und

innovativ beantwortet. 2 Zahlreiche Debatten und Tagungen haben Architekten,

Stadtplaner und Politiker zusammengeführt und deren Austausch

gefördert. Viele Architekturfakultäten haben sich diesem Thema gestellt

und es wurden zahlreiche innovative Arbeiten innerhalb der Universitäten

entwickelt. 3

Doch neben all der Euphorie, ja geradezu der Aufbruchsstimmung innerhalb

der Architekturdebatte müssen auch negative Schlagzeilen über Brandstiftung,

Zerstörung, Vandalismus, Attacken gegen bestehende oder zukünftige

Flüchtlingsunterkünfte hier Erwähnung finden und zeugen umso

mehr von der Intensität politischer Räume und der direkten Einflussnahme

von Architektur auf die Gesellschaft.

Gerade diese Bilder der Zerstörung und des Hasses müssen uns aufmerksam

machen und sollen die Architektur ermutigen, neue Bilder, neue Strukturen,

neue Symbiosen, neue Hybride und nicht zuletzt neue soziale Räume

für Geflüchtete und die Gesellschaft zu finden. Massenunterkünfte am

Rande unserer Städte und in unsensiblen Containerarchitekturen, wie sie

29


jürgen friedrichs

sozial-räumliche

integration von

flüchtlingen

100.000 200.000 300.000 400.000 500.000

1990

1995

1995

2000

2000

2005

2005

2010

2010

Anträge (Erst- und Folgeanträge) bis 1994

Erstanträge ab 1995

Folgeanträge ab 1995

Anträge (Erst- und Folgeanträge)

bis 1994

Erstanträge ab 1995

Folgeanträge ab 1995

Abb. 1: Entwicklung der jährlichen

Asylantragszahlen seit 1990 4

Jan 2016

100.000 200.000 300.000 400.000 500.000

Januar

2016

Die Zahl der Flüchtlinge ist seit 2008 kontinuierlich gestiegen,

wobei das Ausmaß der Zuwanderung ständig unterschätzt wurde. Für

das Jahr 2015 ging das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)

zunächst von 250.000 Asylbewerbern aus 1 (BAMF 2015), im Mai prognostizierte

das Bundesinnenministerium 450.000 Flüchtlinge und erhöhte im

August 2015 die Prognose auf 800.000. Tatsächlich waren es 1.091.894

Asylbewerber und 476.649 Asylanträge im Jahr 2015. 2 / Abb. 1 Im ersten Halbjahr

2016 fielen die Zahlen von 91.671 im Januar auf 16.160 im Juli. 3

Diese hohe Zuwanderung stellt die Kommunen vor erhebliche Probleme:

Sie müssen die Flüchtlinge auf die Wohngebiete der Städte verteilen. Das

ist keineswegs unumstritten, wie Scheible zeigt. 5 Die Unterbringung der

Flüchtlinge stellt einen sozialen Eingriff in ein Wohngebiet dar, der in dieser

Form in der Stadtforschung bislang wenig beachtet wurde. Haushalte

wählen ihren Wohnstandort entsprechend ihren Präferenzen für bestimmte

Nachbarn, die Topografie und Ausstattung des Wohngebiets. Je höher

ihr verfügbares Einkommen ist, desto größer sind auch die Wahlmöglichkeiten.

Das Ergebnis ist eine ungleiche Verteilung der sozialen Schichten

und Lebensstilgruppen über die Teilgebiete der Stadt; ein Prozess, der als

Sortierung bezeichnet wird. Wir können ferner davon ausgehen, dass die

sozialen Gruppen unterschiedliche soziale Distanzen zueinander haben,

zum Beispiel Leitende Angestellte zu Arbeitern, Deutsche zu Griechen oder

zu Türken, und diese auch in den städtischen Raum „übersetzt“ werden,

indem sozial entfernte Gruppen auch räumlich getrennt voneinander wohnen.

Das Ergebnis dieser Prozesse ist eine residentielle Segregation. 6

Die Zuweisung von Flüchtlingen in einzelne Wohngebiete durchbricht diese

Segregation, indem Personen, die zur Zeit der Wahl des Wohnstandorts dort

gar nicht vorhanden waren, nun „implantiert“ werden. Die Flüchtlinge werden

in bestehende oder neue Gebäude in Wohngebieten verteilt. Sie werden

nun „sichtbar“. 7 In der Regel haben die Bewohner kein Mitspracherecht

darüber, ob, wie viele und welche Personen in ihr Wohngebiet eingewiesen

werden. Vermutlich gehen die Kommunen davon aus, dass Partizipation

nur dazu führen würde, jegliche Unterbringung in ihrem Wohngebiet abzulehnen.

Es ist aber leicht einzusehen, dass die Anwohner protestieren, denn

die Flüchtlinge waren kein Bestandteil ihrer Wahl des Wohnstandorts.

36


Zudem ist die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, in Deutschland

mit der steigenden Zahl der Flüchtlinge geringer geworden. Waren es im

September 2015 noch 57 Prozent der deutschen Bevölkerung, die sagten,

Deutschland könne „die große Zahl der Flüchtlinge verkraften“, so fiel dieser

Wert auf 37 Prozent Mitte Januar 2016; nun meinten 60 Prozent, man

könne es nicht verkraften. 8 Die Bevölkerung ist gespalten: Im Februar 2016

stimmten der Aussage „die Flüchtlinge stellen eine Bereicherung dar“

45 Prozent zu und 48 Prozent lehnten sie ab. Hingegen gaben in der gleichen

Umfrage 94 Prozent an, Deutschland solle Flüchtlinge aus Bürgerkriegsländern

aufnehmen. 9

Unter diesen schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen muss die sozialräumliche

Integration vollzogen werden. Um diesen Prozess zu analysieren,

unterscheide ich zwischen einer eher baulichen und einer eher

sozialen Integration, weil die Aufgabe der Architektur in beiden unterschiedlich

ist.

Bauliche Integration

Die Integration der Flüchtlinge beginnt im Wohngebiet. Daher

bauen wir nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für die Anwohner. Das hat

meines Erachtens eine Reihe wichtiger Folgen für die Art der Unterbringung.

Erstens: Wir sollten gute Qualität bauen, damit die Gebäude nicht

mit dem Stigma „Da wohnen die Asylanten“ belegt werden können. Zweitens:

Wir sollten nicht zu viele Flüchtlinge in einem Wohngebiet unterbringen.

Es gibt keinen wissenschaftlich belegten Grenzwert. Wenn aber schon

ein Anteil von 18 bis 20 Prozent an Sozialhilfeempfängern in einem Gebiet

negative Folgen für dessen Bewohner hat 10 , dann ist wahrscheinlich bei einer

Minorität mit noch dazu anderer Kultur bei acht bis zehn Prozent die

Grenze. In der Literatur werden solche Schwellenwerte als „tipping point“ 11

bezeichnet, das heißt, ab diesem Wert ziehen Bewohner aufgrund des Anteils

der Minorität aus. Dann setzt eine Kettenreaktion ein: Die Wohnungen

der Ausgezogenen werden von Angehörigen der Minorität gemietet, also

steigt deren Anteil weiter und es ziehen die Nächsten aus. Drittens: Wir

können also von Folgendem ausgehen: Je geringer die Zahl der Flüchtlinge

im Verhältnis zu derjenigen der Anwohner ist, desto eher werden die

Anwohner den Flüchtlingen helfen, desto eher werden sie tolerant sein,

desto eher werden Kontakte entstehen. Und Kontakte sind nun einmal, wie

die sozialwissenschaftliche Forschung mit seltener Einhelligkeit zeigt, die

Basis für verringerte Vorurteile und geringere Diskriminierung. Viertens:

Wir sollten keine Flüchtlingsgebäude errichten, sondern Wohngebäude

für alle. Mischung bedeutet Chancen für Kontakte und soziale Unterstützung.

Wohngebäude nur für Flüchtlinge bedeuten verstärkte Binnenkontakte

und weniger Kontakte zu Einheimischen. Fünftens: Ein Fehler der

meisten Neubausiedlungen war, im Erdgeschoss keine gewerbliche Nutzung

vorzusehen. Dieser Fehler sollte vermieden werden. Im Erdgeschoss

können Läden sein, zum Beispiel ein Friseur, eine Änderungsschneiderei,

ein Gemüsegeschäft oder eine Kita. Hier könnten Migranten ein Geschäft

eröffnen. Sechstens: Grundsätzlich ist die kurzfristige von der langfristigen

Unterbringung zu unterscheiden. Die Strategien der Kommunen sind

37


philipp oswalt im interview

mit peter haslinger

von shrinking cities zu

arrival cities

Es gibt zwei Begriffspaare, die den Diskurs der Stadtentwicklung

in den letzten Jahren mitgeprägt haben: einerseits die Arrival

City, der neuere Begriff, den Doug Saunders mit seinem Buch Arrival Cities

geprägt hat und der inzwischen auch in Deutschland zu einem zentralen

Begriff geworden ist, zu einem Ideal, dem man entsprechen will. Auf der

anderen Seite der vor allem von Ihnen geprägte Begriff der Shrinking Cities.

Können Shrinking Cities zu Arrival Cities werden? Und wenn ja, wie?

Wie viel Planung braucht man und wie viel Freiraum ist nötig? In Deutschland

stehen 1,7 Millionen Wohnungen leer, auf der anderen Seite sind

2015 1,1 Millionen Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Da könnte

man ja meinen, wir könnten diese Menschen einfach in leer stehenden

Wohnungen unterbringen. Ist es so einfach?

Natürlich nicht! Das Schrumpfen der Städte ist eigentlich eine

Abstimmung mit den Füßen. Es gibt den demografischen Wandel, aber was

wir in Deutschland und global als schrumpfende Städte bezeichnen, ist im

Wesentlichen ein Phänomen der älteren Industrieländer und ist vor allem

verursacht durch Binnenmigration innerhalb von Ländern. Das heißt, dass

die betroffenen Standorte von der ansässigen Bevölkerung als weniger attraktiv

angesehen werden als andere und dass man wegzieht. Wenn man

so will, handelt es sich um „Departure Cities“. Obwohl sie ja offenkundig

Raum im Überfluss anbieten, und auch in der Regel zu günstigen Preisen,

zeigt sich, dass dies nicht der primäre Faktor ist, warum jemand wo siedelt.

Insofern kann man sagen, jede schrumpfende Stadt wünscht sich, Arrival

City zu werden.

Die Fantasie, Migranten in den schrumpfenden Städten anzusiedeln, stand

in der Debatte um die schrumpfenden Städte immer im Raum und wurde

immer mal wieder angesprochen. Es hat punktuell Modelle gegeben, die

versucht haben, aus dem Ausland Leute anzusiedeln. Teils mit weniger, teils

mit mehr Erfolg. Die Arrival City ist demnach eine Sehnsuchtsfigur für viele

schrumpfende Städte, aber das stellt sich nicht so einfach ein.

Man könnte ja sagen, die geflüchteten Menschen sind in Not, es könnte

doch egal sein, ob sie in Berlin, Essen oder München leben? Warum wollen

die dahin? Könnten schrumpfende Städte nicht Anreize schaffen, wie

44


günstigen Wohnraum, Kindergartenplätze oder ähnliches?

Gibt es dafür Strategien?

Die Hauptmotivation für diese Wanderungsbewegung im Kontext

der schrumpfenden Städte, die Binnenwanderung, ist die Lebens- und

Arbeitsperspektive: die beruflichen Chancen und sicherlich auch die Chancen

zur Selbstentfaltung und zu kultureller Teilhabe. Dies betrifft die alten

Industriestaaten der nördlichen Hemisphäre, also G7-Länder plus Osteuropa.

Hier lässt sich eine Konzentration der Bevölkerung in großen Agglomerationsräumen

beobachten, egal ob man nach Japan, Russland, Europa

oder in die USA blickt. Die Bevölkerung sucht diese Agglomerationen auf,

weil es dort andere Arbeitschancen gibt und auch andere persönliche Entfaltungsmöglichkeiten.

Die Migration setzt oft mit dem Schulabschluss

ein. Wenn die Lebensphase im Elternhaus abgeschlossen ist, wenn es um

Ausbildungs- und Berufsperspektive geht, dann finden die Abwanderungen

statt.

Jetzt ist die Frage, nach welchen Kriterien wandern eigentlich die Migranten

und die Geflüchteten? Sie verlassen ihr Heimatland, um ein sicheres

Zielland aufzusuchen, es geht also ganz basal um eine Sicherung von Leib

und Leben. Wenn sie dann hier sind und sich innerhalb von Deutschland

frei bewegen können, dann gibt es, und das kennt man aus den ganzen

Migrationsgeschichten, immer diese Migrationsnetzwerke. Zuerst siedeln

sich Pioniere aus einem Herkunftsland an, die dann soziale Netzwerke

aufbauen, die weitere Migranten nach sich ziehen. Wir kennen das aus

Deutschland, wo es Schwerpunkte gibt, an denen sich zum Beispiel Syrer,

Iraker oder Afghanen ansiedeln. Das ist eine wichtige Kernthese aus dem

Buch Arrival City, dass es Migrantennetzwerke gibt und auch Migrantenökonomien,

die die Schwellenräume und Möglichkeiten bieten, sich in der

Ankunftsgesellschaft zu etablieren.

Wenn man also über mögliche Lenkungsstrategien nachdenkt, müsste es

darum gehen, dass man erstmal diese Pioniere in die Shrinking Cities bringt

und Anreize schafft. Das müssten sehr langfristige und sukzessive Strategien

sein. Und es stellt sich die Frage, wie man für diese Pioniere attraktive

Bedingungen schaffen kann.

Es gibt immer wieder einzelne Kommunen, die versuchen, solche Wege

zu gehen. Grundsätzlich glaube ich, dass es Schwierigkeiten bei uns gibt,

durch die starke staatliche Durchregulierung, bundesweit, aber auch europaweit,

die die Handlungsspielräume von lokalen Akteuren extrem beschränkt.

Schauen wir uns etwa die Arbeitsmöglichkeit von Flüchtlingen

an. Die werden still gestellt durch Arbeitsverbote und Alimentierung. Dies

ist besonders widersinnig, da gerade die Migranten besonders aktiv und

motiviert sind und oft zu den besser Ausgebildeten und Motivierten in ihrer

Heimat gehören.

Was wäre etwa, wenn sie in Selbstbauprojekten arbeiten würden, was sie

ja zum Teil aus den Herkunftsländern gewöhnt sind? Dann setzen natürlich

die ganzen versicherungstechnischen und baurechtlichen Instrumentarien

ein. Aber das wäre eine andere Form der Selbstbestimmtheit, die Räume

eröffnet. Dies ist sicherlich keine Strategie für die Mehrheit der Geflüchteten.

Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass man Leute finden wird,

45


ettina götz

wohnen und …

stadt ist organisierte

öffentlichkeit

Abb. 1: BKK-2, Sargfabrik Wien, 1996

Abb. 2: Bologna

Der Bedarf an Wohnraum hat bedenkliche Ausmaße erreicht

und die Ursachen liegen nicht allein in den großen Flüchtlingsströmen,

sondern vor allem in einer ganz allgemein zu geringen Wohnbautätigkeit

in den letzten Jahren. In Zeiten großer Wohnungsknappheit und

ausgeprägten ökonomischen Drucks auf Wohnungsgrößen und -komfort

gewinnt die Qualität des Öffentlichen neue Bedeutung.

Der öffentliche Raum wird zunehmend als Bestandteil des täglichen Lebens

beansprucht, er wird zum erweiterten Wohnzimmer. In allen Bereichen

des urbanen Lebens müssen Shared Spaces von ausgeprägter architektonischer

Qualität in Ergänzung zum knapp bemessenen Privatraum

als temporäre Aneignungsräume vorhanden sein. Abb. 1 Also müssen wir uns

nicht nur mit leistungsfähigen Wohntypologien beschäftigen, sondern

vor allem auch mit den zugehörigen architektonischen Ausprägungen des

öffentlichen Raums, also mit Raumqualitäten, die Emotionen hervorrufen

und „Stadt“ damit „speziell“ und merkfähig machen. Dazu benötigen

wir eindeutige (Spiel-)Regeln, die den Anteil an öffentlichem Raum in ein

Verhältnis zur angestrebten Bebauungsdichte setzen und vor allem diesen

Anspruch als fixen Bestandteil des Urbanen sichern je dichter, desto

öffentlicher. Abb. 2

Die einzelnen Ebenen der Nutzung von öffentlich bis privat sind durch

„Schwellen“ miteinander verknüpft. Diese Schwellen sind durchaus verschiebbar

und können immer wieder neu verhandelt und definiert werden.

Gerade heute, wo vor allem die Grenze zwischen Arbeit und Wohnen eigentlich

bereits aufgehoben ist, stellt sich auch die Frage der Grenze zwischen

privat und öffentlich wieder neu.

Die Wohnung selbst wird immer kleiner und die Gründe dafür sind nicht

nur ökonomischer Natur. Das wäre auch widersinnig: Eine kleine Wohnung

ist in Wirklichkeit teurer als eine große, weil ja der Anteil an hochinstallierten

Flächen (Küche und Sanitär) anteilsmäßig steigt.

Reduzierbar ist nur die „Luft“ in der Wohnung, also genau jener Teil, der

die Wohnung vielseitig nutzbar macht und verhältnismäßig günstig zu errichten

ist wie in der gründerzeitlichen Wohnung, die zwar immer ein

bisschen zu groß oder zu klein ist, aber immer noch irgendwie funktioniert.

Und dieses „irgendwie“ ist eben sehr charmant, weil es Unvorhersehbares

52


möglich macht. Diese Erkenntnis wiederum kann vielleicht in eine neue

Qualität des aneigenbaren Öffentlichen transformiert werden. Die Struktur

eines Wohnraums im Öffentlichen ist ja zum Beispiel eher kein großer, weiter

Platz, sondern müsste im Gegenteil aus Nischen bzw. Ausbuchtungen

oder Erkern bestehen, also aus Strukturelementen, die zwar bekannt sind,

aber neu interpretiert werden müssen. Abb. 3

Genau andersherum funktioniert die Minimalwohnung, wo jedes Teilchen

im besten Falle seinen fixen Platz hat wie in der Frankfurter Küche. Viele

Funktionen und Annehmlichkeiten des täglichen Lebens sind in diesen Minimaleinheiten

unmöglich Arbeiten am Computer geht vielleicht noch,

aber Feste feiern, Essenseinladungen, handwerkliches Arbeiten, gleichzeitiges

Verrichten verschiedener Tätigkeiten sind eigentlich fast nicht

machbar. Abb. 4 Aber die Städte wachsen und eine sinnvolle Reaktion auf das

Wachstum ist die Nachverdichtung und damit das Nutzen bereits vorhandener

Infrastrukturen. Da diese Nachverdichtungen bestehender Strukturen

immer nur begrenzt möglich sind, entsteht auch hier ein Druck auf die

Größe der Wohnung. Minimalapartments mit 30 bis 40 Quadratmetern,

dafür aber in exquisiter Lage, sind ein Trend, den man in den Weltmetropolen

derzeit überall beobachten kann.

Das ist auch nicht weiter verwunderlich, da in den sehr guten, also den innerstädtischen

Lagen der öffentliche Raum als eine über einen langen Zeitraum

gewachsene, immer wieder transformierte und optimierte Struktur

eben sehr gut funktioniert und so die Aufgaben eines „erweiterten Wohnzimmers“

quasi nebenbei erfüllt.

Und daran müssen wir uns ein Beispiel nehmen: je höher die Dichte und je

kleiner die einzelnen Wohneinheiten, desto attraktiver und leistungsfähiger

der öffentliche Raum.

Selbstverständlich ist damit nicht nur der Freiraum gemeint. Alle öffentlich

zugänglichen Räume, vom Bahnhof über den Basar bis zur Bibliothek,

sind Teil der kollektiven Öffentlichkeit. Ein Hauptaugenmerk muss auf einer

Zugänglichkeit möglichst ohne Schwellen und einer nicht kommerziellen

Nutzungsmöglichkeit liegen. Das heißt: Nicht nur der Park und die

Parkbank als Notschlafstelle müssen gesichert sein, sondern ein möglichst

vielfältiges Angebot wird gebraucht. Der öffentliche Raum muss neu

gedacht werden. Unsere Städte müssen hybrider werden und alle öffentlichen

Bauten mit ihnen: Warum zum Beispiel stehen Schulen während der

Ferien leer und Hotels sind nur während der Hochsaison ausgelastet? Völlig

neue Kombinationen sind denkbar und notwendig, wenn wir an die Anforderungen

denken, vor die der Zuzug einerseits, fehlende Raumreserven

andererseits uns stellen.

Wien zum Beispiel ist eine wachsende Stadt, die, seit das „Rote Wien“

zu Beginn der 1920er Jahre das Recht auf Wohnen postuliert hat, kontinuierlich

Sozialwohnungen errichtet, etwa 7000 Einheiten jährlich. Abb. 5

Da Wien aus seiner Geschichte heraus eine sehr kompakte, dichte Stadtstruktur

besitzt, ist eine innere Verdichtung kaum möglich und die Stadt

erweitert sich an ihren Rändern. So entstehen zwangsläufig große neugeplante

Quartiere. Die Dichte am Stadtrand ist dem Zentrum angepasst

(BGF: A= 3,0). Der erste Bezirk als gewachsene Altstadt mit der zugehörigen

Abb. 3: Aldo Rossi, Gallaratese,

Mailand, 1967 74

Abb. 4: Absalon, Ausstellung

Kunstwerke Berlin, 2010 / 11

Abb. 5: Adolf Loos, Winarsky-Hof,

Projekt 1923

53


Abb. 1: Zu Beginn wurden hauptsächlich

Altbauten mit dem MHS

zusammen gekauft und zum Teil in

Eigenleistung saniert.

Abb. 2: Die meisten Häuser im

Projekteverbund liegen in Städten;

Schwerpunkte sind Freiburg, Berlin

und Leipzig.

Abb. 3: Ob Mehrfamilienhäuser, alte

Kasernengebäude oder umgenutzte

Verwaltungsgebäude eine Vielzahl

unterschiedlicher Immobilien wird

in sehr unterschiedlichen Wohnkonstellationen

genutzt.

Zur Übertragbarkeit der Finanzierung von Hausprojekten auf

Projekte zum Wohnen mit Geflüchteten

Alle oben genannten Finanzierungsmöglichkeiten ließen sich

auch auf Projekte übertragen, die das Wohnen mit / von Neuankommenden

zum Gegenstand haben. Dies umso leichter, je mehr es sich dabei

um gemischte Projekte handelt, bei denen explizit Räume für Neuankommende

geschaffen werden sollen. Denn ein Problem ergibt sich aus der

Übertragbarkeit der Direktdarlehen, dem Herzstück der Hausfinanzierung

im MHS, auf zum Beispiel ein Haus, in dem nur Neuankommende leben.

Erfahrungsgemäß kommen 90 Prozent der Direktdarlehen aus der Hausgruppe

beziehungsweise aus deren direktem Umfeld. Nur ein geringer Teil

kommt beispielsweise über andere Hausprojekte oder über öffentliche

Werbung von Leuten, welche keine persönliche Beziehung zum Projekt

haben. Die Neuankommenden haben vermutlich nur sehr eingeschränkte

Möglichkeiten, das eigene Projekt finanziell auf diese Weise zu unterstützen.

Hier bedarf es einer sehr breiten Struktur von Unterstützenden, die

bereit sind, einem Projekt ein Darlehen zu geben, auch wenn sie dort nicht

selber wohnen wollen und es (noch) keine persönlichen Bekanntschaften

zu den zukünftig im Haus Wohnenden gibt. Diese Erschwernis sollte aber

nicht daran hindern, solche Projekte prinzipiell anzugehen; sie kann möglicherweise

aber verhindern, dass Projekte ohne breite gesellschaftliche

Anbindung entstehen. Denn in meinen Augen kann es nicht darum gehen,

einfach „nur“ Wohnraum für Neuankommende zu schaffen (das können

die großen Wohnungsbaugesellschaften deutlich schneller und es handelt

sich um eine staatliche Aufgabe), sondern es geht darum, solidarische

Wohnmöglichkeiten zu schaffen, die ein gemeinsames Leben und einen

Austausch zum Mittelpunkt haben. Hier ist ein breit aufgestellter Kreis aus

UnterstützerInnen eine gute Voraussetzung, um die Potenziale eines solchen

Projekts zu entfalten.

Im Folgenden soll beispielhaft die Finanzierung eines Projekts, das die

oben skizzierten Ziele verfolgt, dargestellt werden. Dadurch, dass das Thema

gesellschaftlich nicht an Aktualität eingebüßt hat, ließen sich hier zum

Beispiel eine Schenkgemeinschaft und ein kleiner Spendenanteil durchaus

realisieren, anders als vielleicht bei einem „ganz normalen“ Wohnprojekt.

Angenommen werden, wie in den oben aufgeführten Beispielen, EUR 1 Million

für Kauf und Bau für ein Gebäude von 500 Quadratmetern.

Abb. 4: Ein sehr einfacher Standard

in manchen Projekten hält die

Miete niedrig. Wie und in welchem

Umfang saniert wird, bestimmen die

Projekte selber.

EUR 30.000 aus einer Schenkgemeinschaft aus dem

UnterstützerInnenumfeld

EUR 30.000 durch Spenden

EUR 140.000 Direktdarlehen zukünftiger BewohnerInnen

und deren Umfeld

EUR 300.000 Direktdarlehen aus dem Unterstützerkreis

EUR 200.000 als Stiftungsdarlehen einer Stiftung, die das Ziel hat,

solche Projekte zu fördern

Hiermit ergäbe sich eine Summe von immerhin EUR 700.000 als Eigenkapital,

somit wäre nur noch ein Betrag von EUR 300.000 über eine Bank

zu finanzieren.

72


Weitere Herausforderungen bezüglich der Übertragbarkeit des MHS-Modells

ergeben sich aus dem Betrieb der Häuser. Im MHS sind die Projekte

selbstverwaltet, die meisten Arbeiten werden von den BewohnerInnen

meist unbezahlt erledigt. Diese Arbeiten erfordern meist kein Wissen von

ExpertInnen, neu ins Haus Einziehende können von den älteren BewohnerInnen

angelernt werden. Trotzdem sind Sprachkenntnisse und das entsprechende

Wissen beispielsweise für die Buchhaltung eine Voraussetzung

für den Alltagsbetrieb der Projekte. Diese Aufgaben könnten nur Stück für

Stück von Neuankommenden übernommen werden, der Wissensvermittlung

muss mehr Zeit und Aufmerksamkeit eingeräumt werden. An dieser

Stelle würden sich auch Projektpatenschaften zwischen bestehenden und

neuen Hausprojekten anbieten. Da in vielen Regionen inzwischen Häuser

mit den entsprechenden Erfahrungen nicht nur aus dem Verbund

des MHS existieren, sollte es möglich sein, sich hier Unterstützung zu

organisieren.

Abb. 5: In den letzten Jahren

wurden vermehrt Neubauprojekte

durch die Hausgruppen umgesetzt.

73


flucht aus afghanistan

Budapest, Ungarn

ein persönliches interview

Friedland

Ein Raum

mit sechs

Personen,

vier Monate

Hannover, Deutschland

Eigenes Zimmer mit Balkon,

vorher: Turnhalle mit 60 Personen

Szeged, Ungarn

Camp mit

2000 Personen,

vier Tage

Grenze Serbien-Ungarn

Gießen

Frankfurt

Passau, Deutschland

Mazedonien

Schlafen im Wald,

zehn Tage

Die Grafik zeigt die Fluchtroute eines

24-Jährigen Geflüchteten von Afghanistan

nach Deutschland. Aufgrund

seines Arbeitsverhältnisses mit

„Nichtmuslimen“ wurde er von der

Taliban überwacht und bedroht, was

ihn dazu zwang, aus seiner Heimat

zu fliehen. Er musste seine Familie

und Freunde zurücklassen und floh

mit nur einem Rucksack, seinem Pass,

Arbeitsdokumenten und 50.000 US-

Dollar Richtung Deutschland.

Auf seiner Flucht überquerte er acht

verschiedene Grenzen auf unterschiedliche

Art und Weise. Teilweise

reiste er tagelang zu Fuß und schlief

unter freiem Himmel. Besonders in

Erinnerung geblieben ist ihm seine

lange Zeit in der Türkei, wo er viereinhalb

Monate verbrachte, weil seine

Flucht über das Meer nach Griechenland

zwei Mal aufgrund überladener,

gekenterter Boote scheiterte. In der

Türkei lebte er in einer Flüchtlingsunterkunft

zusammen mit 35 anderen

Personen in einem Raum mit nur einem

kleinen Fenster und schlief auf

dem Boden.

Wie gefährlich die Flucht eigentlich

war, verdeutlichen Situationen, in

denen er sich in akuter Lebensgefahr

befand, welche auch einige seiner

Wegbegleiter nicht überlebten.

Sein gesamtes Geld gab er bei seiner

Reise für Transport, Schlepper und

Verpflegung aus. Insgesamt dauerte

seine Flucht 269 Tage und er legte

8260 Kilometer zurück.

In Deutschland angekommen, wurde

er über verschiedene Stationen

und Unterkünfte nach Hannover gebracht,

wo er in einer Flüchtlingsunterkunft

in einem eigenen Zimmer

mit Balkon und einer Gemeinschaftsküche

wohnt. Sein Asylantrag wurde

im zweiten Versuch bewilligt und er

hat eine Ausbildung begonnen. Sobald

er seinen Pass hat, möchte er

seine Eltern auch nach Deutschland

holen.

= 8260 km

q

p

München

o n

m

o

n

q

p

700 km,

zwölf Stunden,

150 Personen

400 km,

zwölf Stunden,

2000 Personen

l

m

l

550 km, acht Stunden,

35 Personen

k

170 km, drei Stunden,

500 Personen

600 km,

14 Tage,

50 Personen

k

j i

j

i

h

Athen, Griechenland

Ein Raum mit

50 Personen,

1,5 Monate

Lesbos,

Griechenland

Camp mit

2000 Personen,

vier Tage

Istanbul,

Türkei

Ein Raum mit

35 Personen,

4,5 Monate

e

Mazedonien > Serbien Türkei > Griechenland Iran > Türkei

Mit 150 Personen

zwölf Stunden im Container

ohne Sauerstoffzufuhr

Zweimal mit dem Boot gekentert,

von Küstenwache gerettet,

eine Woche Krankenhaus

Schüsse von iranischen

Grenzpolizisten an der

iranisch-türkischen Grenze

g

h

f

g

f

Aktivität

Inaktivität

= 269 Tage

82


Hannover, Deutschland Mazedonien Istanbul, Türkei

Bis heute

Schlafen im Bett

eigenes Zimmer mit Balkon

Gemeinschaftsbad

Zehn Tage

Schlafen unter freiem Himmel

im Wald unter Bäumen

kein Schutz vor Kälte und Regen

4,5 Monate

Schlafen auf dem Boden

ein Zimmer mit 35 Personen

ein Bad, ein kleines Fenster

Wasser von der Decke

Müllgeruch und Mäuse

Van, Türkei

Grenzgebiet Iran-Türkei

1700 km,

24 Stunden,

50 Personen

Mashhad, Iran

d

80 km, zwei Tage, 90 Personen

c

Drei Versuche: 500 km,

zwölf + zwei Stunden,

20 Personen

1650 km, 24 Stunden, sechs Personen

b

900 km, zwei Stunden, mit 120 weiteren Personen

a

Kabul, Afghanistan

1000 km

e

d

c

b

a

30 Tage

83


mindeststandards für

wohnflächen in

gemeinschaftsunterkünften

Verbindliche Mindeststandards

Empfohlene Mindeststandards

Keine Mindeststandards

90


verbindliche und

empfohlene

mindeststandards

Verbindliche Mindeststandards

[min. Wohnfläche pro Person | max. Personen pro Raum]

Baden-Württemberg

7 qm (seit 2016)

Empfohlene Mindeststandards

[min. Wohnfläche pro Person | max. Personen pro Raum]

Berlin

Bayern

6 qm

7 qm

Brandenburg

Sachsen-Anhalt

6 qm

7 qm

Mecklenburg-Vorpommern

Sachsen

6 qm 6 qm

Thüringen

Schleswig-Holstein

6 qm

6 qm

91


TEMPORÄR

Sofortprogramm Leichtbauhallen

Jan Schabert @ günther & schabert architekten

Emergency Island

pfp architekten

Just a Minute

Temporary House for Nepal Earthquake Emergency

Barberio Colella ARC

Kitchen on the Run

TU Berlin 19 Studierende des Fachgebiets für Entwerfen und

Baukonstruktion, Prof. Donatella Fioretti,

Marc Benjamin Drewes, Simon Mahringer, Christoph Rokitta

Arrival Island

pfp architekten

Diogene The Basic Shelter

Renzo Piano Building Workshop Architects

Liina Transitional Shelter

Aalto University Wood Program

104

106

108

110

112

114

116

118


MODULAR

Habitat '67

Moshe Safdie

Prototyp für die behindertengerechte Unterbringung

von Flüchtlingen

Kollektiv A

SMAQ MAX!

SMAQ GmbH: ARTEC Architekten, wup_wimmerundpartner,

raum & kommunikation

StadtBauKasten

florian krieger architektur und städtebau GmbH

Heimat2

GRAFT

Wohnunterkünfte für Flüchtlinge Späthstraße Berlin

Adldinger Bauunternehmen,

Fiedler + Partner, LANG HUGGER RAMPP ARCHITEKTEN,

TE5T ARCHITEKTEN

Neue Nachbarschaften

Nachverdichtung der Siedlung Uhlenhorst, Berlin-Köpenick

Imke Woelk und Partner Architekten

Integrationsprojekt Gartenstraße 4

Wohnen, auch für Geflüchtete

BBP Berlin, Oliver Langhammer

„Zwischenraum“ Terrassenhäuser für Flüchtlinge

Peter W. Schmidt Architekt GmbH

AllQuartier* Erschwinglich gut behaust

Studio BASEhabitat, Kunstuniversität Linz

Kasseler Modell Making Neighborhood

ARGE Bunsenstraße Kassel Baufrösche

Architekten und Stadtplaner GmbH,

foundation 5+ architekten BDA,

HHS Planer + Architekten AG,

Clemens Kober Architekt BDA,

Reichel Architekten BDA, Spöth Architekten

Temporäre Wohnsiedlung Aargauerstraße (Leutschenbach)

NRS insitu

Hoffnungshäuser Integrative Wohngemeinschaft

andOFFICE Freie Architekten GbR

bed by night

Han Slawik

Neubau Flüchtlingssiedlung Steigertahlstraße

MOSAIK Architekten BDA

Koyasan Guest House

Alphaville Architects

HomeBox

Han Slawik

120

122

124

128

130

134

136

138

142

144

146

152

154

156

158

160

162

164


VERDICHTET

Wohnprojekt für eine Willkommenskultur für alle,

die Menschen sind

PPAG architects ztgmbh

Living Big in a Tiny Home

Albert Laqua, Charlotte Regier

Ter Apel Asylum Seekers Centre

De Zwarte Hond, Felixx

Ankunftsstadt Hamburg

blauraum

Ort des Ankommens

Kollektiv A

Am Rastplatz

Feldschnieders + Kister

Auf Stelzen gegen die Wohnungsnot

HerrmannsArchitekten

Wohnen auf der Lichtung

Jean-Pascal Fuchs, Tina Maria Paschalischwili

Auf der Platte in Berlin

Peter Haslinger, Simon Takasaki

166

168

172

174

178

182

186

188

190

194

TRANSFORMIERT

Grandhotel Cosmopolis

A-ARCHITEKT mit Grandhotel Cosmopolis e. V.

Harzer Straße

Benjamin Marx

magdas HOTEL

AllesWirdGut Architektur

Happy Roof Garden Refugee Paradise

Evelyn Dueck, Martin Mallet,

Carlos Moles Romero, Gregoire Rossignol

Parkhaus 22b

Joanna Gizelska, Daria Glabowska,

Agnieszka Gmaj, Claudia Golaszewska

Biombombastic

elii Uriel Fogué, Eva Gil, Carlos Palacios

Spiel- und Aufenthaltsbus Benrodestraße

Peter Behrens School of Arts

196

198

200

202

204

208

210

212


HYBRID

Haus der Statistik

raumlaborberlin

Vinzirast Mittendrin

gaupenraub + / - Architekten

Wohnhybrid Elbbrückenquartier

pfp architekten

Zurück auf Los

Silvia Kobel

CO-OP Haus

Peter Haslinger, Simon Takasaki

Flüchtlings- und Obdachlosenunterkunft in Ostfildern

u3ba, baumannarchitects

57squaremeterhouse

Paul Jakob Bohlen, Mathis Huismans

Mäander

Giulia Mazzieri, Dersim Namo, Ertan Polat, Wiame Tahlil

Cubity

TU Darmstadt, Prof. Dipl.-Ing. M. Arch. Anett-Maud Joppien

Zuflucht und Begegnung in der Gemeinde Laer

CITYFÖRSTER architecture + urbanism, Berlin

und Mark Niehüser mit Jörn Jacobs

Hof • Haus

Paul Eichholtz, Tobias Hasselder,

Alisa Klauenberg, Fabian Wieczorek

214

216

220

224

226

230

232

236

242

244

248

250

PARTIZIPATIV

Ausbauhaus Neukölln Viel Raum zum Wohnen

für unterschiedliche Lebensentwürfe und Budgets

Praeger Richter Architekten

Neubau On Königsberger Strasse und Allepoer Weg

BeL · Sozietät für Architektur

Vertikales Wohnen

pfp architekten

Arrival City 4.0

Drexler Guinand Jauslin Architekten

DIY Design Involving You!

Katharina Bier, Jan Philipp Drude,

Kira-Marie Klein, Laura Waanders

Das urbane Regal

Studio Schwitalla

New Housing Strategies for Rural Refugees

pasel.künzel architects

bauen.wohnen.leben

Michael Münch, Jallee Litche

Die Gärtnerei Berlin

raumlaborberlin

256

258

262

264

266

270

276

278

280

282


enzo piano building

workshop architects

diogene the basic shelter

weil am rhein, deutschland

fertigstellung 20112013

auftraggeber / -in: vitra

für 1 person

„Diogene“, entwickelt in Weil am

Rhein, ist ein kleines Haus, welches

lediglich die Ausmaße von 2,50 Meter

x 3 Meter besitzt. Die innovative

und dynamische Konstruktion

besteht aus Holzpaneelen, die die

Wände, Böden und Raumtrennungen

bilden.

Die Firma transsolar entwickelte

eine Technik, die das Haus autonom

macht. Die Fenster bestehen aus Vakuumpaneelen

für die bestmögliche

Isolation, Wärmebrücken werden

verhindert und Photovoltaik wie

auch Solarpaneele unterstützen die

Energiegewinnung. Weiter wird von

einer geothermalen Heizungspumpe

und Regenrückgewinnung Gebrauch

gemacht. Es werden ausschließlich

Stromsparleuchten, eine wassersparende

Dusche, eine Toilette ohne

Wasserverbrauch und natürliche Belüftung

verwendet.

Der Tisch besteht aus drei Elementen,

die geöffnet und flexibel umgenutzt

werden können. Die Höhe der

Elemente ist mit faltbaren Stahlprofilen

regulierbar.

Im Wohnraum gibt es ausschließlich

Möbel aus extrem leichtem Aluminium,

die an rostfreie Stahlhalter an

die Wand gehängt werden können.

Der komplette Innenraum wurde

Stück für Stück entwickelt, um die

nützlichen und notwendigen Funktionen

der Komponenten bestmöglich

auszunutzen.

Konstruktionsprinzip

Querschnitte

116


Foto: Ariel Huber / EDIT images © Vitra AG

117


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andoffice freie

architekten gbr

hoffnungshäuser

integrative

wohngemeinschaft

kassel, deutschland

entwurf 2016

auftraggeber / -in:

hoffnungsträger stiftung

für 18 180 personen

4 Felder

1 Wohnung

4 Schlafräume

5 Felder

1 Wohnung

6 Schlafräume

Die Hoffnungsträger Stiftung plant

ein interkulturelles Studierendenwohnheim

mit der CVJM-Hochschule

Kassel. Basis für die inhaltliche Arbeit

ist die Kooperation mit einer lokalen

Einrichtung. Die Hoffnungshäuser

beherbergen integrative Wohngemeinschaften

von Flüchtlingen, Studierenden

und Menschen aus der

Region. andOFFICE Architekten entwickelten

ein Baukastensystem in

Holzbauweise, welches auf die spezifischen

Rahmenbedingungen der

einzelnen Standorte reagieren kann.

Hoffnungshäuser sind keine temporären,

sondern dauerhafte Gebäude,

die durch multifunktionale Grundrisse

einfach umgenutzt werden können.

Ganz bewusst steht eine weiche,

geschwungene Formensprache

der typischen Containerarchitektur

von Flüchtlingslagern und Sammelunterkünften

gegenüber. Gemeinschaftliche

Wohnküchen und große,

private Freibereiche fördern als Zwischenzone

von öffentlichem Raum

und privaten Individualräumen soziale

Integration.

Eine hochwertige Holzständerbauweise

mit hinterlüfteter Holzleistenschalung

und Brettsperrholz-Massivdecken

ermöglicht die komplette

Vorfertigung und damit verkürzte

Bauzeiten. Im Innenraum bleiben

alle Konstruktionsoberflächen sichtbar,

was Kosten reduziert, Ausbauzeiten

minimiert und gleichzeitig

eine warme, wohnliche Atmosphäre

schafft.

6 Felder

2 Wohnungen

2 + 3 oder 1 + 4 Schlafräume

7 Felder

2 Wohnungen

3 + 4 Schlafräume

8 Felder

2 Wohnungen

4 + 5 oder 3 + 6 Schlafräume

156


157


albert laqua,

charlotte regier

living big in a tiny home

hannover, deutschland

entwurf 2016

leibniz universität hannover

für 56 personen

Das Wohnkonzept reagiert auf den

Wohnungsnotstand und kann durch

eine soziale Durchmischung an dem

Ort der Universität die Integration

von Flüchtlingen fördern, aber auch

Wohnraum für Studenten schaffen.

Die Aufstockung mit 28 Wohneinheiten

liegt auf dem Dach des Dekanats

der Architekturfakultät. Das neue Geschoss

wird durch Treppen im Innenhof

betreten. Ein umlaufender Gang

erschließt die 28 Quadratmeter großen

Wohnungen, die jeweils für zwei

Bewohner gedacht sind.

Durch die versetzte Anordnung der

Module zueinander entsteht eine

gemeinsame Erschließungszone für

zwei Wohnungen.

Diese bildet einen orientierten, räumlich

gefassten Eingangsbereich und

als Komplementär dazu einen geschützten

Freiraum.

Verschiebbare Wände ermöglichen

es, die Einzimmerwohnung in zwei

kleine private Räume mit integrierten

Klappbetten zu unterteilen, um

die Nachtruhe zu gewährleisten. Jede

Einheit hat außerdem eine integrierte

Küchenzeile und ein separates Bad

mit Dusche. Die Position der Sanitäranlagen

ist so gewählt, dass die

Leitungen von zwei Wohnungen zusammengelegt

werden können. Das

Konzept ist sowohl als Aufstockung

auf bestehende Gebäude als auch als

komplette Neuanlage realisierbar.

Die Konstruktion ist als Holzrahmenbau

geplant, was einen hohen Vorfertigungsgrad

und entsprechend

schnelles Bauen ermöglicht.

172


173


joanna gizelska,

daria glabowska,

agnieszka gmaj,

claudia golaszewska

parkhaus 22b

hannover, deutschland

entwurf 2016

leibniz universität hannover

für 80 personen

Das umgenutzte Parkhaus 22B in

Hannover schafft eine moderne und

modulare Struktur für die Wohnbedürfnisse

der Bewohner. Es bietet

einen sicheren und angemessenen

Ort zum Leben. Das Modul gliedert

sich in zwei Zonen: Gemeinschaftsund

Einzelzimmer. Die beiden Räume

sind durch eine „Regaltreppe“

verbunden. Im Erdgeschoss befinden

sich eine Küche mit angrenzendem

Wohnschlafzimmer und eine Nasszelle.

Der zweite Typ ist eine Wiederholung

des ersten, aber mit einem

zusätzlichen Schlafzimmer im Eingangsgeschoss.

Das ermöglicht die

Schaffung eines privaten Eingangs,

eines Zimmers für Ältere sowie einer

kleinen Terrasse. Die Beschaffenheit

eines Moduls wird auf die Dimension

von 2,50 Meter gegründet; somit

passt es mit seiner Spannweite in

das Parkhaus. Die Materialien Holz

und Gipskarton wurden wegen ihres

niedrigen Preises, der Leichtbauweise

und der einfachen Verarbeitung

ausgewählt.

Die Idee dieses Komplexes ist es,

Flüchtlinge in die lokale Bevölkerung

zu integrieren, die Kulturen

zu vermischen und Sprachbarrieren

aufzulösen. Außerdem soll das Parkhaus

eine Schreinerei, Schneiderei

oder Geschäfte beinhalten. Das Untergeschoss

beherbergt Werkstätten

und Klassenzimmer. Zwischen den

Wohneinheiten gibt es einen Ort, an

dem die Bewohner ihre Freizeit miteinander

verbringen können.

Grundriss Obergeschoss

Grundriss Erdgeschoss

208


209


pfp architekten

wohnhybrid

elbbrückenquartier

hamburg, deutschland

entwurf 2016

auftraggeber / -in: neue

heimat wohnlabor hamburg

für 1100 personen

Das Projekt „Wohnhybrid Elbbrückenquartier“

in der Hamburger Hafencity

mischt hochwertigen Eigentumswohnungsbau

mit niedrigpreisigen,

öffentlich geförderten Mietund

Genossenschaftswohnungen

(Flächenzuschnitte nach dem sozialen

Wohnungsbauschlüssel) zu einem

neuen städtischen „Wohnhybrid“.

Der Weg dahin:

Die zulässige BGF für hochpreisigen

Wohnungsbau wird über Befreiungen

erhöht; im Gegenzug wird der

Investor verpflichtet, zusätzlich auf

demselben Grundstück die gleiche

Baumasse für einfachen flexiblen

Wohnungsbau und für gemeinschaftliche,

öffentlich geförderte Arbeits-,

Basar- und Lernflächen in den Straßen-

und Platzgeschossen des Wohnhybrids

zu errichten, dies alles als

Partizipationsmodell zum Selbstausbau

nach dem Prinzip des „Wachsenden

Hauses“.

Mietgarantien für den Billigwohnsektor

werden für 15 Jahre von den Förderbehörden

gegeben, eine Teilhabe

der Sozialwohnungsmieter über Umwandlung

der Miete in Eigentumserwerbsraten

nach dem Genossenschaftsmodell

wird angestrebt.

1. Hochpreisiger

Wohnungsbau,

Geschossflächenzahl

nach Planungsrecht

2. Erlaubte

Überschreitung im

hochpreisigen

Wohnungsbau

3. Verpflichtung

zur Errichtung

zusätzlicher

Sozialwohnungen

Konzeptskizzen

224


225


Bauphasen

Grundriss 1. Obergeschoss | Bauphase 02

Grundriss 2. Obergeschoss | Bauphase 04

268


277


Das Thema Wohnen als Teilmenge von Architektur und

Stadtplanung, als Gesellschaftspolitik, Wirtschaftsgeflecht, infrastrukturelles

Durcheinander, als Ware, Ort der Sehnsucht und der Macht, als Heim,

Luxus, Ort der Ausbeutung, Gefängnis oder utilitaristische Reaktion auf

utilitaristische Belange neigt dazu, Expertenwissen anzuziehen und erfordert

das geschulte Auge und die vorsichtige Hand der Wissenschaft genauer

gesagt, der Sozialwissenschaft, wann immer es darum geht, seine

Tücken, Dilemmas und auch seine Geschichte zu diskutieren. 1

Die Hunderttausende Flüchtlinge, die jährlich nach Europa einströmen,

brauchen eine Unterkunft. Hier sind politische Lösungen gefordert, die architektonisch

bereits vorgedacht sein müssten.

Ökonomisch sollte das kein Problem sein: „Flüchtlinge bringen der Volkswirtschaft

einen Gewinn. Die Rendite auf jeden dafür eingesetzten Euro

liege bei 100 Prozent und das innerhalb von fünf Jahren. Die Ausgaben,

welche die Staaten Europas heute schultern, bringen morgen doppelten

ökonomischen Nutzen. Der Gewinn, der an die Gesellschaft zurückfließt,

ist enorm“, so der Ökonom Philippe Legrain. „Mit den derzeit erzielten Einkommen

kurbeln Flüchtlinge die Wirtschaft an, Flüchtlinge steigern die

Nachfrage, stärken das Unternehmertum und wirken dem Fachkräftemangel

entgegen.“ 2 Zu diesem Schluss kommt Legrain in einer Studie der London

School of Economics, die am 18. Mai 2016 dort vorgestellt wurde. Für

Sicherheitsfirmen, Vermieter, Containerfirmen, selbst für die Kirchen und

die weltlichen Sozialkonzerne wird das Flüchtlingsmanagement dank der

Milliardenförderung durch den Bund nicht nur ein humanitärer Erfolg, sondern

auch ein glänzendes Geschäft. Was für ein Glück, könnte man sagen:

Flüchtlinge bringen die Volkswirtschaft erst wieder richtig in Gang. So sieht

auch der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW),

Marcel Fratzscher, in den zusätzlichen Sozialausgaben des Bundes bereits

ein neues Konjunkturprogramm realisiert.

Architektonische Lösungskonzepte zur menschenwürdigen Unterbringung

von Flüchtlingen haben die Herausgeber bereits frühzeitig in dem 2015

erschienenen, inzwischen vergriffenen Buch Refugees Welcome Konzepte

für eine menschenwürdige Architektur entwickelt. 3 Ein Jahr ist seitdem

vergangen. Die politische Landschaft in Europa hat sich mit dem bevorstejörg

friedrich

zukunft des wohnens

am existenzminimum

ausblick und dank

289


peter haslinger

das potenzial von vereinen,

netzwerken und initiativen

„Start where you are.

Use what you have.

Do what you can.“

Arthur Ashe

Migration wird nicht verschwinden. Was wir 2015 in

Europa gesehen haben, wird uns viele Jahre begleiten. Menschen werden

weiterhin flüchten, sie werden weiterhin vertrieben werden. Deutschland

hat im Jahr 2015 nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes 1,2 Millionen

Geflüchtete aufgenommen so viele Menschen wie noch niemals

zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Um diese Anzahl

an Menschen aufzunehmen, zu registrieren und zu versorgen, wurde von

staatlicher Seite, von den Kommunen und Gemeinden Unglaubliches geleistet.

Einen nicht zu unterschätzenden Anteil am Gelingen einer offenen Willkommenskultur

haben dabei Vereine, Netzwerke und Initiativen. Es ist

dieses Engagement der ehrenamtlichen Helfer, das bei den Geflüchteten

oft das erste Samenkorn implementiert, das Früchte tragen wird. Es dokumentiert

deutlich das Funktionieren der Zivilgesellschaft. Ohne diese

vielen freiwilligen Helfer, engagierten Bürger, couragierten Initiativen und

funktionierenden Netzwerke wäre vieles nicht so gelaufen. Dabei geht es

in der Zielsetzung dieser Initiativen nicht nur um kurzfristige Hilfe, sondern

meist um langfristige Strategien der Integration.

Die hier vorgestellten Vereine, Netzwerke und Initiativen agieren architektonisch

oder haben zumindest eine räumliche Komponente. Die Auswahl

erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die ausgewählten Initiativen

sollen vielmehr prototypisch zeigen, wie vielfältig die Ansätze und Lösungen

sind und waren, den hilfesuchenden Menschen direkt und pragmatisch

in ihrer Situation zu helfen und ein Höchstmaß an Selbstständigkeit und

Menschenwürde zurückzugeben. Die Lösungen, Möglichkeiten und Potenziale,

die diese Initiativen entwickelt und umgesetzt haben, sollen hier

dokumentiert werden, um bei anderer Gelegenheit auf diese Erfahrungen

zurückgreifen zu können.

Flüchtlinge sind Menschen wie alle anderen; sie befinden sich nur in besonderen

Umständen. Ihnen die Menschenwürde wieder zurückzugeben,

darum geht es den meisten Initiativen. Ein Ansatz in vielen Initiativen ist

es, nicht nur für Geflüchtete, sondern mit den Geflüchteten zu arbeiten:

Hilfe zur Selbsthilfe auf unterschiedlichsten Ebenen. Dabei sind es oft kleine

Dinge, die viel bewirken.

296


Als Asylbewerber in ein neues Land zu kommen, heißt, dass man verlassen

hat, was zur eigenen Identität gehört: das Zuhause, Familie, Freunde

und Arbeit. Der Prozess des Asylverfahrens und der Unterbringung in Asylunterkünften

und Folgeeinrichtungen verstärkt oft das Gefühl einer „verlorenen“

Identität. Die Chance, seine alltägliche Umgebung zu beeinflussen,

kann eine Maßnahme sein, dieser Entwicklung entgegenzuwirken und damit

ein Weg, die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen.

Wohnraum suchen und finden

Diese Initiativen entwickeln unterschiedliche Strategien, um

Grundstücke und Wohnraum für Geflüchtete zu suchen und zu finden.

Leerstandsmelder 1

Auf dieser Plattform kann man Leerstände melden und abrufen. Sie wurde

2010 in Hamburg gegründet, also bevor die Unterbringung von Flüchtlingen

zum akuten Problem wurde.

FindingPlaces Hamburg 2

„Finding Places“ ist eine Initiative der Hafen City Universität Hamburg und

der Stadt Hamburg, um in unterschiedlichen Stadtteilen städtische Flächen

für Flüchtlingsunterkünfte zu finden.

Flüchtlinge Willkommen 3

„Flüchtlinge Willkommen“ ist eine Internetseite, die Geflüchtete mit bewilligtem

Asylantrag in Wohngemeinschaften vermittelt.

Neue Wege zu Finanzierung und Genehmigung

Die folgenden Projekte gehen progressive Wege bei Genehmigung

und Finanzierung.

ecoFavela Lampedusa Nord 4

Die Künstlergruppe Baltic Raw hat 2014 / 15 einen temporären „Aktionsraum“

für Geflüchtete auf Lampedusa umgesetzt. Finanziert wurde das

Projekt über eine Crowdfunding-Kampagne, genehmigt durch die Deklaration

als Kunstwerk mit „24-Stunden-Performance“.

Neue Nachbarn KG 5

Mit der Idee einer „Bürger-Wohnbau-Gesellschaft!“ wollen die Initiatoren

der „Neue Nachbarn KG“ nach dem Modell des Freiburger Häusersyndikats 6

Finanzierungen für soziale Wohnprojekte aus der Gesellschaft heraus organisieren.

Möbel

Die folgenden Initiativen bauen Möbel zusammen mit Geflüchteten.

Direkt oder indirekt sind die Projekte meist inspiriert von Enzo

Maris Möbelselbstbauprojekt „Autopregettazione?“ 7 von 1974.

Cucula Refugee Company for Crafts and Design 8

„Cucula“ 9 ist Verein, Werkstatt und Schulprogramm, in dem Geflüchtete

Möbelentwürfe von Enzo Mari 10 zum Teil mit Holz aus gestrandeten Flüchtlingsbooten

herstellen.

Social Furniture 11

„Social Furniture“, eine Möbelkollektion mit 23 Möbelelementen 12 , wurde

vom Designteam EOOS für eine Grundversorgungseinrichtung für Asyl-

297


kurzbiografien

Julian Benz lebt und arbeitet in Berlin und ist seit 2006 als

ehrenamtlicher Berater für Hausprojektgruppen tätig, meist im Rahmen

des Mietshäuser Syndikats (MHS). Von Freiburg, dem Entstehungsort des

MHS, zog er 2008 nach Berlin und war Mitbegründer der regionalen Beratungsstruktur

für Berlin-Brandenburg. Seine Schwerpunkte sind die gemeinschaftliche

Finanzierung von Hausprojekten, das Aufstellen von Wirtschaftlichkeitsberechnungen

sowie die Vernetzung mit anderen Akteuren

der Solidarischen Ökonomie. Seit mehreren Jahren arbeitet er als Immobilienkaufmann

für eine Stiftung im Bereich Hausverwaltung.

Thomas Bestgen ist Gründer und seit 1996 geschäftsführender

Gesellschafter der UTB Projektmanagement GmbH. Nach einer Banklehre

absolvierte er sein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Freien Universität

Berlin und arbeitete als Bankenberater für den Genossenschaftsverband

Berlin-Hannover.

Zu den Aufgabenbereichen der UTB zählen unter anderem die Projektentwicklung

im Wohnungsneubau sowie die wirtschaftliche Baubetreuung

und Projektsteuerung in der regionalen Immobilienwirtschaft. Zurzeit entwickelt

die UTB für eigene Projektgesellschaften rund 500 Eigentumswohnungen

sowie für Dritte Bauleitverfahren für rund 4000 Wohnungen in

Berlin und Weimar. Seit zwei Jahren ist Thomas Bestgen zudem als Gastdozent

an der TU Berlin im Rahmen des Weiterbildungsstudiengangs Real

Estate Management tätig.

Dr. Ralph Boch ist Vorstand der Hans Sauer Stiftung in München.

Nach seinem Studium der Neueren und Neuesten Geschichte und der

Kommunikationswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität

München promovierte er mit einer wissenschaftshistorischen Arbeit. Nach

mehrjähriger Forschungstätigkeit für das Deutsche Museum in München

und das GeoForschungsZentrum in Potsdam entwickelte er am Entrepreneurship

Center der LMU München Start-up-Programme. Für die Hans

Sauer Stiftung ist er seit 2006 tätig.

302


Valentina Forsch ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin

am Institut für Entwerfen und Gebäudelehre an der Leibniz Universität

Hannover. Im Rahmen ihres Architektur- und Städtebaustudiums absolvierte

sie ein Auslandssemester an der Staatlichen Universität für Architektur

und Bauwesen in St. Petersburg, Russland. 2016 schloss sie ihr Studium

an der Leibniz Universität Hannover mit Auszeichnung ab und arbeitet

seither interdisziplinär als freie Mitarbeiterin für verschiedene Büros in

den Bereichen Architektur, Grafik und Design. Sie wirkte an der Publikation

Refugees Welcome Konzepte für eine menschenwürdige Architektur mit.

Für beispielhafte, fachübergreifende Leistungen erhielt sie 2016 den Nachwuchspreis

des Fritz-Schumacher-Preises.

Prof. Jörg Friedrich ist verheiratet, hat zwei Kinder und ist seit

2000 Professor für Entwerfen und Gebäudelehre an der Leibniz Universität

Hannover. Seit 1980 arbeitet er als freier Architekt. Sein Architekturbüro

pfp architekten hat Niederlassungen in Hamburg (seit 1988), Genua (seit

1996) und Frankfurt (seit 2014).

Nach seinem Architekturstudium in Stuttgart und Rom arbeitete er von

1982 bis 1985 am Max-Planck-Institut in Rom. 1987 erhielt er den Villa-

Massimo-Preis.

Er lehrt seit 1988 als Architekturprofessor unter anderem in Hamburg,

Mendrisio und Rom und ist seit 1996 Mitglied der Freien Akademie der

Künste in Hamburg. Jörg Friedrich plant und realisiert Kulturprojekte,

Universitätsbauten, sozialen Wohnungsbau und Flüchtlingsunterkünfte,

Hochschulen, Bürogebäude sowie Gesundheitsbauten und Sporthallen in

Deutschland, Österreich, Polen, Italien und in der Schweiz. Sein Schwerpunkt

liegt in den Bereichen Theaterbauten, Konzertsäle und Opernhäuser.

Seine Arbeiten wurden mit zahlreichen Architektur- und Kunstpreisen ausgezeichnet.

Ausstellungen unter anderem in Venedig (Architekturbiennale),

Frankfurt (DAM), Düsseldorf (Kunstsammlung NRW), Rotterdam (NAI), Rom

(Villa Massimo), Hamburg (Freie Akademie der Künste). Er lebt und arbeitet

in Hamburg und Rom.

303


Prof. Dr. Jürgen Friedrichs ist Emeritus am Institut für Soziologie

und Sozialpsychologie der Universität zu Köln und dort weiterhin in der

Lehre und Forschung tätig.

Nach seinem Studium in Berlin und Hamburg wirkte er als Assistent im

Institut für Soziologie in Hamburg und wurde 1974 auf eine Professur für

Soziologie berufen. Er gründete in Hamburg die „Forschungsstelle Vergleichende

Stadtforschung“. 1991 wurde er auf den Lehrstuhl für Soziologie

nach Köln und zum Direktor des Forschungsinstituts für Soziologie berufen.

Von 1992 bis 2012 war er Mitherausgeber der Kölner Zeitschrift für

Soziologie und Sozialpsychologie. Seine aktuellen Forschungsbereiche sind

Integration von Flüchtlingen, Städtische Armutsgebiete und Gentrification.

Prof. Bettina Götz ist seit 1987 Partnerin im Architekturbüro

ARTEC Architekten in Wien mit Richard Manahl und seit 2006 Professorin

für Entwerfen und Baukonstruktion an der Universität der Künste in Berlin.

Sie absolvierte ihr Architekturstudium 1980 bis 1987 an der TU in Graz.

2008 war sie Kommissärin des österreichischen Beitrags der 11. Architekturbiennale

in Venedig. Von 2009 bis 2011 war sie stellvertretende Vorsitzende

des Grundstücksbeirats Wien und gehörte von 2010 bis 2014 dem

Baukollegium Zürich an. Von 2009 bis 2014 war sie Vorsitzende des Beirats

für Baukultur des Bundeskanzleramtes.

Peter Haslinger ist seit 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter

am Institut für Entwerfen und Gebäudelehre an der Leibniz Universität

Hannover und Dozent für konzeptionelles Entwerfen. Er ist Gastkritiker an

verschiedenen Universitäten. Nach seinem Architekturstudium in Wien,

Hannover und Zürich arbeitete er in verschiedenen Architekturbüros als

freischaffender Architekt. 2000 bis 2004 war er Mitarbeiter im Vitra Design

Museum Berlin. 2000 gründete er das Architekturbüro ZONE29 in Berlin

und hat Projekte in Deutschland, Mallorca und Namibia umgesetzt. Seine

Arbeiten wurden unter anderem auf der Architekturbiennale in Venedig

ausgestellt. Er forscht zum Thema „Konzept, Bild und Diagrammatik in der

Architektur“ und arbeitet im Moment zum Thema „Bezahlbarer Wohnraum

für Menschen mit und ohne Fluchterfahrung“.

Er ist Mitherausgeber des Buchs Refugees Welcome Konzepte für eine

menschenwürdige Architektur, das 2015 bei jovis erschienen ist.

304


Prof. Philipp Oswalt ist seit 2006 Professor für Architekturtheorie

und Entwurf an der Uni Kassel und realisiert seit 1999 mit seinem

Projektbüro Studien, Ausstellungen und Projekte.

Von 1988 bis 1994 war er Redakteur der Architekturzeitschrift Arch+,

1996 / 97 Mitarbeiter im Büro OMA / Rem Koolhaas, 2001 bis 2003 Co-Leiter

des Europäischen Forschungsprojekts „Urban Catalyst“, 2004 Mitinitiator

der kulturellen Zwischennutzung des Palastes der Republik „ZwischenPalastNutzung

Volkspalast“, 2002 bis 2008 Leiter des Projekts „Schrumpfende

Städte“ der Kulturstiftung des Bundes. Von 2009 bis 2014 war er Direktor

der Stiftung Bauhaus Dessau.

Seit 2012 ist er darüber hinaus Associated Investigator am Exzellenzcluster

Bild Wissen Gestaltung der Humboldt Universität Berlin.

Simon Takasaki ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am

Institut für Entwerfen und Gebäudelehre an der Leibniz Universität Hannover

und Dozent für Digitales Gestalten am Institute for Architectural Design

Prof. Staab an der TU Braunschweig. Er ist Gastkritiker an der London

Southbank University, dem Royal College of Art London, der TU Berlin und

der Universität Innsbruck. Nach seinem Architektur- und Städtebaustudium

in Kiel, Berlin und London arbeitete er von 2005 bis 2011 für progressive

Büros in Berlin, Wien, London und Peking und gründete 2011 TAKASAKI

LAUW ARCHITECTS in Berlin. Er forscht zum Thema „Zeitbasierte Raumstrategien“

und arbeitet im Moment zum Thema „Bezahlbarer Wohnraum für

Menschen mit und ohne Fluchterfahrung“.

Er ist Mitherausgeber des Buchs Refugees Welcome Konzepte für eine

menschenwürdige Architektur, das 2015 bei jovis erschienen ist.

Seine Arbeiten wurden bereits international publiziert und ausgestellt, unter

anderem auf der Architekturbiennale in Venedig und im Museum of

Modern Art in New York.

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