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Grundschule aktuell 97

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Heft Nr. <strong>97</strong> • I. Quartal • Februar 2007 • Best. Nr. 6032 • D9607F<br />

Grundschulverband – Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V. • Niddastraße 52 • 60329 Frankfurt/Main • Tel. 0 69 / 77 60 06 • www.grundschulverband.d<br />

Arme Kinder<br />

Kinderarmut und Bildungsgerechtigkeit


Editorial<br />

2,62 € am Tag<br />

Tagebuch<br />

S. 2 Strukturen verändern … (Maresi Lassek)<br />

Thema: Kinderarmut<br />

S. 3 Armutszeugnis Kinderarbeit (Roland Merten)<br />

S. 6 Bildungsgerechtigkeit – ein hohles<br />

Versprechen? (Angelika Speck-hamdan)<br />

Praxis: Pädagogik im Kontext von Armut<br />

S. 11 An den Kindern kann es nicht liegen<br />

(Reinhard Stähling)<br />

S. 14 Schulversammlungen (Inge Hirschmann)<br />

S. 17 Schülerhilfe-Projekt in Halle (Ada Sasse)<br />

Dokumentation<br />

Standpunkt …<br />

S. 20 … zur Zusammenarbeit von Elementarund<br />

Primarbereich<br />

S. 21 … zum Sprachenlernen in der <strong>Grundschule</strong><br />

S. 22 … zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung<br />

S. 23 Schulpreis an <strong>Grundschule</strong> Kleine Kielstraße<br />

Diskussion<br />

S. 24 Echo auf Heft 96,<br />

»Freies Schreiben von Anfang an«<br />

<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen, u. a.<br />

S. 27 Brandenburg: Diagnostik und Leistungsförderung<br />

S. 28 Mecklenburg-Vorpommern:<br />

Schultüte für den Minister<br />

S. 30 Saarland: Qualitätskontrollen<br />

– genug fürs Leben?<br />

2,62 € für alle Mahlzeiten und Getränke ergeben sich aus dem Regelsatz für<br />

ein Kind unter 14 Jahren, das von Sozialhilfe leben muss. Kinderarmut, so<br />

Roland Merten in seinem einleitenden Beitrag, ist mehr als ein Randphänomen.<br />

Er liefert die Fakten und skizziert, was geschehen muss (S. 3 ff.).<br />

Kinderarmut ist auch ein bildungspolitisch wie pädagogisch brisantes<br />

Thema, in der pädagogischen Diskussion fast noch ein blinder Fleck.<br />

Angelika Speck-hamdan untersucht, wie Armut und Bildungsmöglichkeiten<br />

zusammenhängen und welche Rolle die Schule dabei spielt oder<br />

spielen könnte (S. 6 ff.).<br />

Die Beiträge in unserem Praxisteil geben Einblicke in pädagogische Arbeit<br />

im Kontext von Armut: Ada Sasse berichtet von einem Schülerhilfe-Projekt<br />

mit »armen Kindern«, in dem Studierende Handlungswissen und pädagogische<br />

Haltungen erwerben. Reinhard Stähling zeigt Möglichkeiten<br />

»inklusiver« Pädagogik, Inge Hirschmann weiß, das gerade »arme Kinder«<br />

vielfältige Gelegenheiten brauchen zu zeigen, was sie können. Sie weiß<br />

aber auch: »Es braucht mehr, um Chancengerechtigkeit für arme Kinder<br />

(…) zu erreichen.«<br />

»Freies Schreiben von Anfang an?«<br />

Ein lebhaftes Echo fand unser letztes Heft. Grund genug, sich damit eingehender<br />

zu beschäftigen. Und Anlass zum Nachdenken darüber, was<br />

»Streitkultur« ist und wie sie herzustellen ist. Für den Grundschulverband<br />

gilt: Gegen Dogmatismus! (S. 24 f.)<br />

Standpunkte des Grundschulverbandes<br />

Mit seinen »Standpunkten« präzisiert der Grundschulverband seine Option<br />

für eine kindgerechte Schule zu <strong>aktuell</strong>en Diskussionsfeldern. Drei<br />

neue Standpunkte werden in diesem Heft dokumentiert (S. 19 ff.).<br />

Plakat für eine kindgerechte <strong>Grundschule</strong><br />

»Moderne <strong>Grundschule</strong>« – ein Begriff aus Politiker-Sonntagsreden. Der<br />

schulpolitischen Falschmünzerei setzt der Grundschulverband »7 Prüfsteine<br />

für die moderne <strong>Grundschule</strong>« entgegen. Horst Bartnitzky erläutert<br />

die Argumente (siehe 3. Umschlagseite).<br />

Diesem Heft liegt das Plakat mit den Prüfsteinen bei. Wir hoffen, dass es<br />

eine weite Verbreitung findet: In Hochschulen, Seminaren, Schulen. Bitte<br />

helfen Sie dabei!<br />

Ulrich Hecker<br />

Impressum<br />

, die Zeitschrift des Grundschulverbandes erscheint<br />

vierteljährlich und wird allen Mitgliedern zugestellt.<br />

Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Das einzelne Heft kostet 5 €;<br />

für Mitglieder und bei Sammelbestellungen ab 10 Hefte 3 € (incl. Versand).<br />

Verlag: Grundschulverband – Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V.<br />

Niddastraße 52, 60329 Frankfurt / Main, Tel. 0 69 / 77 60 06, Fax: 0 69 / 7 07 47 80;<br />

Internet: www.grundschulverband.de, E-Mail: info@grundschulverband.de<br />

Herausgeber: Horst Bartnitzky (für den Vorstand des Grundschulverbandes)<br />

Redaktion: Ulrich Hecker, Hülsdonker Str. 64, 47441 Moers, Tel. 0 28 41 / 2 17 14,<br />

E-Mail: ulrichhecker@aol.com<br />

Fotos: Titel: Bert Butzke, Mülheim/Ruhr; S. 3, 7, 18, 19: Foto-AG Hauptschule Alstadenn<br />

Herstellung: novuprint Agentur für Mediendesign, Werbung, Publikationen GmbH,<br />

Bödekerstr. 73, 30161 Hannover, Tel. 05 11 / 9 61 69 – 11, Fax: 05 11 / 9 61 69 – 99<br />

Anzeigenverwaltung: Claudia Klinger, Verlagsgruppe Beltz, Tel. 0 62 01 / 6 00 73 86,<br />

Fax 0 62 01 / 6 00 73 93<br />

Druck: Druck Partner Rübelmann, 69502 Hemsbach<br />

ISSN 1860-8604<br />

Beilagen: »Eine Welt in der Schule« als ständige Beilage,<br />

Plakat »7 Prüfsteine« des Grundschulverbandes<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Tagebuch<br />

Strukturen verändern,<br />

Netzwerke bilden,<br />

gemeinsam handeln<br />

Maresi Lassek<br />

Stellvertretende<br />

Vorsitzende des<br />

Grundschulverbandes<br />

Unfassbares hat sich in den vergangenen Monaten im<br />

wohlhabenden Deutschland ereignet. Jugendliche verübten<br />

Gewalttaten in Schulen. In Bremen überlebte der<br />

kleine Kevin seine unerträglichen Lebensumstände nicht.<br />

Schule und Sozialarbeit sehen sich auf dem<br />

Prüfstand, nach den Schuldigen wird gefragt.<br />

Immer mehr Kinder leben in unserem Land<br />

unterhalb des Armutsniveaus. Kinder aus Familien<br />

mit Migrationshintergrund erfahren<br />

zu wenig Förderung, bleiben hinter ihren Bildungsmöglichkeiten<br />

zurück. Kinder werden<br />

körperlich und emotional vernachlässigt und<br />

das in einem Land, dem es an Nachwuchs<br />

mangelt. Wer ist verantwortlich?<br />

In Bremen arbeitet dazu ein Untersuchungsausschuss.<br />

Die Prüfung der Schulen erfolgt<br />

über Vergleichsarbeiten. Am Ende gibt es ein<br />

Etikett: erfolgreich oder nicht erfolgreich. Den Lehrkräften<br />

wird für schlechte Ergebnisse die Verantwortung zugeschrieben.<br />

Die Frage ist: Werden die Probleme der Familien und<br />

Schulen über die <strong>aktuell</strong>en politischen Maßnahmen tatsächlich<br />

an der Wurzel gepackt? Ich denke nein, denn<br />

Grundzüge im System stimmen nicht. Geprüft werden<br />

müssen die Bedingungen für Erziehung und Bildung in<br />

Familien und Institutionen. Davon sind im wesentlichen<br />

Kindeswohl, Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit<br />

abhängig. Die Qualität der strukturellen und finanziellen<br />

Gegebenheiten in Deutschlands Bildungswesen hielt<br />

mehrfach dem internationalen Vergleich nicht stand, Veränderungsnotwendigkeiten<br />

wurden deutlich, entscheidende<br />

Konsequenzen nicht gezogen. Die Einrichtung von<br />

mehr Ganztagsschulen ist richtig, reicht aber nicht aus.<br />

Der Trend zu einer Schulqualitätsentwicklung, die sich<br />

überwiegend auf die Erfüllung von Standards konzentriert,<br />

schafft kein positives Schulklima. Einseitige Schuldzuweisungen<br />

an Lehrkräfte untergraben das Vertrauen.<br />

Worum es gehen muss, ist, dem Auseinanderdriften der<br />

Gesellschaft in Chancenlose und Gewinner entgegenzuwirken.<br />

Dieser Prozess setzt schon sehr früh ein. Doch<br />

sind der Vorschul- und der Grundschulbereich im Vergleich<br />

zu anderen Ländern in Deutschland unzureichend<br />

ausgestattet und die Konzepte für Frühförderung mangelhaft.<br />

Eine bessere finanzielle Versorgung des Elementarbereichs<br />

und familienergänzender Maßnahmen muss<br />

nach Jahren des Einsparens umgesetzt, die überfällige<br />

Schulstrukturdebatte endlich geführt werden. Wir brauchen<br />

ein integratives auf längere gemeinsame Lernzeit<br />

angelegtes Bildungssystem. Die bildungspolitisch gewollte<br />

Ausrichtung auf Erfüllung von Standards verstärkt<br />

die ohnehin bestehenden Selektionsmechanismen, ihr<br />

Einfluss wirkt immer früher. Schülerinnen und Schüler<br />

mit Lebensproblemen erfahren darüber keine Hilfe. Schulen<br />

fehlt es an sozialpädagogisch ausgerichteten Unterstützungssystemen.<br />

Netzwerke zwischen dem Bildungs- und Sozialbereich<br />

müssen geknüpft werden. Dazu tragen bei: Soziale Betreuung<br />

von Geburt an, der obligatorische Besuch einer<br />

Kindertagesstätte, Gebührenfreiheit für deren Besuch,<br />

Einbindung von Eltern in die Arbeit von Kindertagesstätten<br />

und Schulen, niedrigschwellige Elternbildungsangebote,<br />

die vor Ort und kostenfrei Eltern unterstützen,<br />

eine konsequente Vernetzung der an der Erziehung und<br />

Bildung beteiligten Institutionen, die Einstellung, dass<br />

Eltern gemeinsam mit den Pädagoginnen verantwortlich<br />

sind für Kontinuität in der Entwicklung der Kinder (gerade<br />

im Hinblick auf die in unserem System schwierigen Übergänge).<br />

Ein Klima ist zu schaffen, in dem Kinder willkommen sind.<br />

Das kann gelingen, wenn mehr Ressourcen für Betreuung,<br />

Erziehung und Bildung bereitstehen. Eltern benötigen<br />

Entlastung bei der Betreuung, Eltern in schwierigen sozialen<br />

Verhältnissen ebenso wie Eltern, die berufstätig sind.<br />

Vermehrte Angebote für unter Dreijährige sind genauso<br />

erforderlich wie noch mehr Ganztagsschulen.<br />

Der Handlungsbedarf ist offensichtlich, gemeinsames<br />

Handeln gefordert. Die Praktiker/innen sind bereit, es bedarf<br />

der politischen Schritte.<br />

Maresi Lassek<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Thema: Kinderarmut<br />

Armutszeugnis Kinderarmut<br />

Kinderarmut in Deutschland – mehr als nur ein Randphänomen!<br />

von<br />

Roland Merten<br />

Kinderarmut in der reichen Bundesrepublik,<br />

das mutet fremd an. Wir leben<br />

in einem der reichsten Länder der Welt<br />

und niemand braucht hier Hunger zu<br />

leiden oder muss obdachlos sein. Denn<br />

die Sozialhilfe garantiert innerhalb des<br />

sozialen Sicherungssystems als nachrangiges<br />

Hilfesystem, dass das soziokulturelle<br />

Existenzminimum gesichert<br />

ist. Und diese Hilfe wird unabhängig<br />

vom Ansehen der Person gewährt. Somit<br />

ist in Deutschland für jedermann<br />

ein Leben gewährleistet, das der Würde<br />

des Menschen entspricht, wie Art. 1<br />

Abs. 1 des Grundgesetzes verlangt. Und<br />

damit ist das Thema ›Kinderarmut‹<br />

schon auf den ersten Blick erledigt.<br />

Nun ist Wissenschaft keine Veranstaltung,<br />

die sich mit dem ersten Blick<br />

zufrieden gibt, sie schaut genauer hin<br />

und entdeckt dabei oft überraschende<br />

Tatsachen, die sich dem ersten Hinsehen<br />

entziehen. Das ist beim Thema<br />

›Kinderarmut‹ nicht anders. So soll im<br />

Folgenden zunächst deutlich gemacht<br />

werden, was unter Armut verstanden<br />

wird, um daran anschließend die Entwicklung<br />

der Kinderarmut in Deutschland<br />

von 1980 bis 2004 zu untersuchen.<br />

Am 1. 1. 2005 traten die sog. Hartz-IV-<br />

Gesetze in Kraft, und es bedarf einer<br />

besonderen Betrachtung, welchen<br />

Einfluss diese auf die Armutsentwicklung<br />

unter Kindern und Jugendlichen<br />

genommen haben. Abschließend werden<br />

Überlegungen vorgestellt, die als<br />

politische Forderungen zur Überwindung<br />

des gesellschaftlichen Skandals<br />

»Kinderarmut« beitragen sollen.<br />

1. Armut – Was ist das?<br />

Armut lässt sich grundsätzlich in zwei<br />

große Kategorien einteilen: (1) Absolute<br />

Armut, d. h. hier ist die physische<br />

Existenzgrundlage (z. B. genug zu essen,<br />

um zu überleben; eine Wohnung,<br />

die vor Kälte schützt, etc.) nicht gesichert.<br />

Obwohl diese Form der Armut<br />

in Deutschland eigentlich nicht mehr<br />

vorkommen dürfte, hat der Zweite Armuts-<br />

und Reichtumsbericht der Bundesregierung<br />

gezeigt, dass sie insbes.<br />

bei Nicht-Sesshaften bzw. Straßenkindern<br />

existiert. (2) Demgegenüber wird<br />

in der Sozialforschung der Begriff der<br />

relativen Armut gewählt, um deutlich<br />

zu machen, dass es bei der Bestimmung<br />

von Armut in modernen Staaten<br />

um einen Vergleich zur Gesamtbevölkerung<br />

und ihrer Einkommenssituation<br />

geht. Danach gilt derjenige als arm,<br />

der lediglich über 50 % des mittleren<br />

Erwerbseinkommens verfügt.<br />

In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht<br />

vor Jahren festgehalten,<br />

dass derjenige als arm gilt, der das<br />

sozioökonomische Existenzminimum<br />

selbst nicht sichern kann; dieses muss<br />

durch die Sozialhilfe garantiert werden.<br />

Allerdings muss in diesem Zusammenhang<br />

erwähnt werden, dass das<br />

Sicherungsniveau der Soziahilfe lediglich<br />

40 % des mittleren Einkommens<br />

beträgt; in der Armutsforschung gilt<br />

dies als strenge Armut. Konkret heißt<br />

das, dass für ein Kind im Alter bis zu<br />

14 Jahren, das von Sozialhilfe leben<br />

muss, 207 € im Monat zur Verfügung<br />

stehen (plus anteilige Miet- und Heizkosten).<br />

Von diesem Regelbetrag entfallen<br />

38 % auf Ernährung bzw. 2,62 €<br />

für alle Mahlzeiten und Getränke am<br />

Tag! Davon ist selbst bei strenger Haushaltführung<br />

eine gesunde Ernährung<br />

von Kindern nicht sicherzustellen.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Thema: Kinderarmut<br />

Kinder und Jugendlichen! Kinder und<br />

Jugendliche bilden zwar nur 14,5 unserer<br />

Bevölkerung, sie sind aber zu 100<br />

Prozent unser aller Zukunft. Wir gehen<br />

wenig pfleglich mit dieser Generation,<br />

wir gehen insofern wenig pfleglich<br />

mit unserer eigenen Zukunft um. Dies<br />

alles ist kein Ausdruck besonderer<br />

Weitsicht …<br />

3. Kinderarmut<br />

nach Hartz IV<br />

Abb. 1:<br />

Kinder in Armut<br />

im Vergleich zur<br />

Altersgruppe<br />

Abb. 2:<br />

Armutsquoten<br />

1980 – 1991 – 2002<br />

2. Entwicklung der Kinderarmut<br />

von 1980 bis 2004<br />

Ab 1980 wurden die Sozialhilfedaten<br />

differenziert nach dem Alter der Bezieher<br />

erfasst. Seit diesem Zeitpunkt<br />

haben wir aussagekräftige Daten vorliegen,<br />

die einen genaueren Einblick<br />

in die Armutssituation von Kindern<br />

geben. Abbildung 1 zeigt, wie sich die<br />

Zahl der Kinder in Armut zwischen<br />

1980 und 2004 entwickelt hat.<br />

Wie sich erkennen lässt, liegt der<br />

Anteil der Kinder in Armut in allen Altersklassen<br />

jeweils deutlich über der<br />

Sozialhilfequote in der Gesamtbevölkerung.<br />

Kinder und Jugendliche sind also<br />

deutlich häufiger von Armut betroffen<br />

als Erwachsene; bei den Kindern unter<br />

7 Jahren lebte zum Ende 2004 jedes<br />

zehnte Kind in strenger Armut! Und<br />

wie die Folgeabbildung deutlich macht,<br />

hat sich zwischen 1980 und 2002 jeweils<br />

die Kinderarmutsquote deutlich<br />

erhöht, während die Quote der älteren<br />

Bürger im Wesentlichen unverändert<br />

geblieben ist.<br />

Die besondere Brisanz dieser Entwicklung<br />

wird dann deutlich, wenn man<br />

sich vergegenwärtigt, dass die nachwachsende<br />

Generation seit Jahren<br />

zahlenmäßig zurückgeht, während<br />

der Anteil der älteren Bevölkerung<br />

stetig anwächst. Mit anderen Worten:<br />

Wir benachteiligen systematisch die<br />

Zum 1. 1. 2005 ist die sog. Hartz-IV-Gesetzgebung<br />

in Kraft getreten. Hartz IV<br />

– unter diesem Begriff wurde im Wesentlichen<br />

eine arbeitsmarktpolitische<br />

Gesetzgebung geschaffen, die zwei<br />

unterschiedliche Sicherungssysteme<br />

zusammengeführt hat, nämlich die<br />

Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe.<br />

Beide Sicherungssysteme waren steuerfinanziert,<br />

so dass man gute Gründe<br />

hatte, diese beiden Systeme zusammenzulegen.<br />

Zusammenlegung hat in<br />

diesem konkreten Fall jedoch bedeutet,<br />

dass das bis dahin höhere Niveau<br />

der Arbeitslosenhilfe auf das deutlich<br />

niedrigere Niveau der Sozialhilfe gesenkt<br />

wurde, um einen finanziellen<br />

Anreiz zu schaffen, wieder Arbeit aufzunehmen.<br />

Ob die Grundannahme<br />

stimmte, nämlich dass die zu hohe Arbeitslosenhilfe<br />

den Anreiz zur Arbeitsaufnahme<br />

zerstöre, wurde nie geprüft.<br />

Unabhängig von diesem Mangel wurde<br />

jedoch bei der Einführung dieser neuen<br />

Gesetzgebung übersehen, dass im<br />

Haushalt der neuen Hartz-IV-Empfänger<br />

(sog. Arbeitslosengeld II) auch Kinder<br />

leben, die zwar von den Kürzungen<br />

der Leistungsbezüge mit betroffen<br />

sind, selbst jedoch keinerlei Möglichkeit<br />

haben, zur Überwindung der Bedarfssituation<br />

beizutragen. Durch die<br />

neue Gesetzgebung wurde eine große<br />

Zahl von Kindern und Jugendlichen<br />

in eine Lebenssituation gedrängt, die<br />

dem Sicherungsniveau der Sozialhilfe<br />

entspricht, also als strenge Armut charakterisiert<br />

werden muss. Die folgende<br />

Abbildung zeigt, in welchem Ausmaß<br />

sich die Armutsquote für Kinder und<br />

Jugendliche durch die Einführung der<br />

Hartz-IV-Gesetze erhöht hat.<br />

Es scheint angesichts der hier präsentierten<br />

Zahlen keine Übertreibung, von<br />

einem sozialpolitischen Skandal zu<br />

sprechen, der bis heute jedoch weitest-<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Thema: Kinderarmut<br />

gehend unthematisiert geblieben ist.<br />

Mehr noch: Die Zahl der auf Sozialhilfeniveau<br />

lebenden Kinder hat sich seit<br />

2005 weiter stetig erhöht!<br />

4. Gesellschaftlicher<br />

Skandal »Kinderarmut«<br />

In keinem anderen OECD-Land ist der<br />

Zusammenhang von Bildungserfolg<br />

und sozialer Herkunft so eng wie in<br />

Deutschland; das ist eines der ernüchterndsten<br />

Ergebnisse der PISA-Studie.<br />

»Die Herausforderung besteht darin,<br />

die Wurzeln der sozialen Ungleichheit<br />

anzugreifen – und das erfordert vor<br />

allem eine auf die am stärksten gefährdeten<br />

Haushalte ausgerichtete Strategie<br />

mit dem Ziel, den gleichen Erwerb<br />

an Humankapital zu ermöglichen«, so<br />

Gøsta Esping-Andersen. Und damit<br />

sind wir beim Thema »schulische Bildung«.<br />

Auf Grund der Kulturhoheit haben<br />

die Bundesländer hier die größten<br />

Gestaltungsmöglichkeiten. Es kommt<br />

darauf an, Bildungsbarrieren abzubauen<br />

und schulische Entwicklungsmöglichkeiten<br />

zu eröffnen. Hieraus folgen<br />

notwendig die Lernmittelfreiheit sowie<br />

der kostenlose Transport von (armen)<br />

Kindern zu weiterführenden Schulen.<br />

In diesem Zusammenhang ist in den<br />

letzten Jahren immer wieder das Thema<br />

›Kleidung‹ virulent. Es kommt verstärkt<br />

zu sozialer Ausgrenzung von armen<br />

Kindern, weil ihnen die Möglichkeiten<br />

fehlen, sich im Sinne der Gruppennorm<br />

(Markenkleidung) zu kleiden. Da sich<br />

über den freien Markt ohnehin eine<br />

Form sozialer Uniformierung (wildwüchsig)<br />

eingestellt hat, muss eine<br />

Auseinandersetzung mit dem Thema<br />

»Schuluniform« erfolgen. Andere Länder<br />

(z. B. Frankreich, Großbritannien, …)<br />

zeigen, dass mit dieser Kleiderordnung<br />

Ausgrenzungsprozessen entgegengewirkt<br />

werden kann.<br />

Auch steht das lange Zeit ausgeblendete<br />

Thema »Schulspeisung« als<br />

gesamtgesellschaftliche Aufgabe<br />

zur Diskussion an. Viele Kinder sind<br />

vermeintlich unbegabt, weil sie dem<br />

Unterricht nicht folgen können. Dass<br />

dabei viele Kinder ohne Frühstück zur<br />

Schule kommen und unterzuckert<br />

sind, so dass sie physiologisch in ihrer<br />

Aufnahmefähigkeit eingeschränkt<br />

sind, ist Schulärzten wohl bekannt; bei<br />

Bildungspolitikern fehlt solches Hintergrundwissen<br />

oftmals.<br />

Vor all diesen Dingen ist es jedoch<br />

unabdingbar, dass wir endlich zu einer<br />

wirklich angemessenen, die kindlichen<br />

Bedürfnisse befriedigenden Grundsicherung<br />

von Kindern und Jugendlichen<br />

kommen. Dabei ist es keineswegs<br />

sinnvoll, eine solche Grundsicherung<br />

in Form von Geld auszuschütten, von<br />

dem nicht klar ist, wie es im familiären<br />

Haushalt verwendet wird. Viel-<br />

mehr kann man Kinder mit<br />

Anrechten auf Sach- und<br />

Dienstleistungen ausstatten.<br />

Diese Art von indirekten<br />

Transferleistungen hat den<br />

großen Vorzug, dass sie direkt<br />

beim Kind ankommen,<br />

ein Missbrauch ist insofern<br />

ausgeschlossen.<br />

Der erwartbare Hinweis,<br />

dass eine solche Grundsicherung<br />

viel zu teuer sei,<br />

überzeugt nicht. Denn wir<br />

geben heute schon in einem<br />

großen Maße Geld für Familien<br />

und Kinder aus, ohne<br />

Friedrich-Schiller-Universität<br />

Prof. Dr. Roland Merten, M.A.<br />

dass bisher eine kritische<br />

Jena<br />

Prüfung erfolgt wäre, ob<br />

Institut für Erziehungswissenschaft<br />

damit auch der gewünschte<br />

Zweck erreicht wird. Der<br />

und außerschulische Bildung<br />

Lehrstuhl für Sozialpädagogik<br />

Blick auf die hier präsentierten<br />

Armutszahlen lässt<br />

D-07737 Jena<br />

Carl-Zeiß-Platz 1<br />

daran erheblich Zweifel aufkommen.<br />

Es bedarf insofern<br />

http://www.uni-jena.de/<br />

team.html<br />

einer offenen und klaren<br />

Analyse, wofür wir Geld ausgeben<br />

und ob sich dieses Geld nicht<br />

besser anlegen lässt – in die Zukunft<br />

unserer Kinder und damit nicht zuletzt<br />

auch in unsere eigene Zukunft. Wenn<br />

wir erkennen, dass das nicht Kosten<br />

sind, sondern Investitionen, dann ist<br />

die erste Hälfte des Wegs bereits beschritten.<br />

Der Rest ist die kluge Umsetzung<br />

des für richtig Erkannten!<br />

200<br />

150<br />

143<br />

155<br />

146<br />

131 136 162<br />

Abb. 3:<br />

Zunahme<br />

der Kinderarmutsquote<br />

nach Hartz IV<br />

100<br />

50<br />

0<br />

Schleswig-Holstein<br />

Saarland<br />

Rheinland-Pfalz<br />

NRW<br />

Niedersachsen<br />

He ssen<br />

Hamburg<br />

Bremen<br />

Berlin<br />

Bayern<br />

Baden-Württemberg<br />

56<br />

71<br />

51<br />

32 31 39 56 61 85<br />

32<br />

60 56<br />

Durchschnitt<br />

Neue Bundesländer<br />

Durchschnitt<br />

Alte Bundesländer<br />

Thüringen<br />

Sachsen-Anhalt<br />

Sachsen<br />

M-VP<br />

Brandenburg<br />

linke Seite:<br />

Zunahme der<br />

Kinderarmut in<br />

den Alten Bundesländern<br />

(56 %);<br />

dunkle Säulen:<br />

durchschnittlicher<br />

bzw. überdurchschnittlicher<br />

Zuwachs;<br />

rechte Seite:<br />

Zunahme der<br />

Kinderarmut in<br />

den Neuen Bundesländern<br />

(143 %);<br />

dunkle Säulen:<br />

durchschnittlicher<br />

bzw. überdurchschnittlicher<br />

Zuwachs<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Thema: Kinderarmut<br />

Bildungsgerechtigkeit – ein hohles Versprechen?<br />

Wie Armut und Bildungsmöglichkeiten zusammenhängen und<br />

welche Rolle die Schule dabei spielt oder spielen könnte.<br />

von<br />

Angelika<br />

Speck-Hamdan<br />

Artikel 26<br />

Der Artikel 26 der allgemeinen Menschenrechte,<br />

von der UN-Vollversammlung<br />

im Jahr 1948 verabschiedet,<br />

schreibt das Recht auf Bildung für jeden<br />

Menschen fest.<br />

1. Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. Der<br />

Unterricht muss wenigstens in den Elementar- und<br />

<strong>Grundschule</strong>n unentgeltlich sein. Der Elementarunterricht<br />

ist obligatorisch. Fachlicher und beruflicher<br />

Unterricht soll allgemein zugänglich sein;<br />

die höheren Studien sollen allen nach Maßgabe<br />

ihrer Fähigkeiten und Leistungen in gleicher Weise<br />

offen stehen.<br />

2. Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der<br />

menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der<br />

Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />

zum Ziele haben. Sie soll Verständnis, Duldsamkeit<br />

und Freundschaft zwischen allen Nationen und<br />

allen rassischen oder religiösen Gruppen fördern<br />

und die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung<br />

des Friedens begünstigen.<br />

3. In erster Linie haben die Eltern das Recht, die<br />

Art der ihren Kindern zuteil werdenden Bildung zu<br />

bestimmen.<br />

Dahinter steht die Überzeugung, dass<br />

Bildung ein unabdingbares Menschenrecht<br />

ist. Enthalten ist auch der Anspruch,<br />

dass jedem Kind und Jugendlichen<br />

eine seinen Fähigkeiten oder<br />

Begabungen entsprechende Bildung<br />

ermöglicht werden soll. In den Landesverfassungen,<br />

die das Bildungswesen<br />

in Deutschland regeln, wird dieser Bildungsanspruch<br />

vielfach noch durch<br />

den Hinweis darauf untermauert,<br />

dass nicht die gesellschaftliche oder<br />

wirtschaftliche Stellung der Eltern für<br />

die Wahl eines Ausbildungsganges<br />

maßgeblich sein darf. Jedes Kind und<br />

jeder Jugendliche soll die Bildungsmöglichkeiten<br />

ausschöpfen können,<br />

die seinen Potenzialen entsprechen.<br />

Soweit die Grundüberzeugung, die den<br />

bildungspolitischen Gestaltungsraum<br />

bestimmt und über die mit Sicherheit<br />

Einigkeit über alle politischen Lager<br />

hinweg herrscht.<br />

Zur Lage<br />

Doch entzündet sich in letzter Zeit<br />

wieder einmal der Streit daran, wie diesem<br />

Recht auf bestmögliche Bildung<br />

für alle bildungspolitisch und pädagogisch<br />

Rechnung getragen werden<br />

kann. Denn die Schulleistungsstudien<br />

der letzten Jahre haben vor allem einen<br />

Mangel besonders hervorgehoben:<br />

die äußerst enge Koppelung des Schulerfolgs<br />

an den sozioökonomischen<br />

Status des Elternhauses. Damit steht<br />

fest, dass trotz übereinstimmender<br />

Grundüberzeugung es dem Bildungswesen<br />

in Deutschland nicht möglich<br />

ist, den Bildungserfolg an den Potenzialen<br />

– sprich der Leistungsfähigkeit der<br />

Schülerinnen und Schüler – zu orientieren.<br />

Zur Erinnerung noch einmal zwei<br />

wesentliche Befunde:<br />

n PISA 2000 wies in keinem anderen<br />

Land einen so engen Zusammenhang<br />

zwischen dem beruflichen Status der<br />

Eltern und der Lesekompetenz der untersuchten<br />

15-Jährigen wie in Deutschland<br />

nach. Auch in den anderen Kompetenzbereichen<br />

war eine ähnliche,<br />

ungewöhnlich straffe Koppelung von<br />

sozialer Herkunft und Leistung zu beobachten.<br />

n Die soziale Herkunft bestimmt in<br />

äußerst hohem Maße die Zuteilung<br />

zur Schulform. So haben Kinder aus<br />

höheren Schichten bei gleicher Leistung<br />

drei- bis viermal bessere Chancen<br />

auf ein Gymnasium statt auf eine<br />

Realschule zu kommen als Kinder aus<br />

Facharbeiterhaushalten.<br />

Um die Brisanz dieser Befunde einschätzen<br />

zu können, ist es notwendig,<br />

sich die Bedeutung von Bildungsabschlüssen<br />

für die weitere Lebensgestaltung<br />

vor Augen zu führen. Ein hochwertiger<br />

Bildungsabschluss schützt auch<br />

heute noch am besten vor Arbeitslosigkeit.<br />

Er lässt sich in der Regel auch<br />

in ein gutes Einkommen und einen hohen<br />

Lebensstandard umsetzen. Rainer<br />

Geißler (2006) zählt eine ganze Reihe<br />

von Vorteilen auf, die mit einer hohen<br />

Qualifizierung einhergehen:<br />

n »Besserqualifizierte leben tendenziell<br />

gesünder als Niedrigqualifizierte.<br />

So sind z. B. ihre Arbeitsplätze weniger<br />

gesundheitsschädigend, sie rauchen<br />

weniger, ernähren sich gesünder, treiben<br />

mehr Sport, nutzen häufiger die<br />

Gesundheitsvorsorge. Daher treten bei<br />

ihnen auch viele Krankheiten seltener<br />

auf und sie leben länger (Weber 1994,<br />

Mielck 2000, Morschhäuser 2005)«<br />

(a. a. O., S. 34 / 35).<br />

n »Das Risiko der Ungelernten, arbeitslos<br />

zu werden, lag in den letzten<br />

25 Jahren stets um mindestens das 3-<br />

bis 6-fache über dem der Studierten«<br />

(a. a. O., S. 35).<br />

n »Circa Zweidrittel der Häftlinge im<br />

Jugendstrafvollzug haben die Hauptschule<br />

nicht abgeschlossen, und nur<br />

etwa jeder Tausendste hat ein Gymnasium<br />

besucht« (a. a. O., S. 35).<br />

n »Die viel beschworene Individualisierung<br />

des Lebens in der Moderne vollzieht<br />

sich nicht etwa mit gleichmäßiger<br />

Intensität in allen Bildungsschichten,<br />

..., sondern sie ist vor allem ein Phänomen<br />

im Umfeld akademischer Milieus<br />

(Konietzka 1995: 125)« (a. a. O., S. 35).<br />

Bildung ist somit ein mächtiges Kapital<br />

für das ganze Leben. Es fungiert<br />

als hoch bedeutsame Ressource für<br />

die Chancen der persönlichen Lebensgestaltung.<br />

Diese Einschätzung ist der<br />

Hauptmotor für den Druck, den Eltern<br />

oft bei anstehenden Schullaufbahnentscheidungen<br />

ausüben. Aus ihr erwächst<br />

aber auch – gekoppelt mit dem<br />

oben angesprochenen Menschenrecht<br />

auf Bildung – die gesellschaftlich zu<br />

lösende Aufgabe der Bildungsgerechtigkeit.<br />

Die Ressource Bildung muss<br />

gleichermaßen allen Kindern und Jugendlichen<br />

offenstehen.<br />

Die Diskussion um diese wichtige<br />

soziale Frage beschäftigt Wissenschaft<br />

und Fachöffentlichkeit nicht erst seit<br />

gestern. Der Anstoß zur Bildungsre-<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Thema: Kinderarmut<br />

form der sechziger und siebziger Jahre<br />

des letzten Jahrhunderts speiste sich<br />

genau aus dieser prekären Ungleichheitsbeobachtung.<br />

Die Kunstfigur des<br />

»katholischen Arbeitermädchens vom<br />

Lande« vereinte all jene Benachteiligungsfaktoren,<br />

die seinerzeit ausfindig<br />

gemacht wurden. Die bildungspolitischen<br />

Anstrengungen richteten sich<br />

in der Folge auf Chancenausgleich und<br />

die Förderung von Begabungsreserven,<br />

wie es der damalige Sprachgebrauch<br />

ausdrückte. In der Tat konnte das Niveau<br />

der Abschlüsse verbessert werden,<br />

d. h. die Bildungschancen stiegen<br />

für alle Schichten. Auch konnten regionale,<br />

konfessionelle und geschlechtsspezifische<br />

Unterschiede abgebaut<br />

werden, doch konnten die schichttypischen<br />

Ungleichheiten insbesondere<br />

für das Gymnasium und die Hauptschule<br />

nicht beseitigt werden. Bei den<br />

mittleren Schulabschlüssen konnten<br />

die Unterschiede verringert werden.<br />

Es muss aber konstatiert werden, dass<br />

trotz vielfacher Anstrengungen insgesamt<br />

das Ziel der Chancengleichheit<br />

für alle nur ansatzweise erreicht werden<br />

konnte. LAU, TIMSS, PISA, IGLU und<br />

einige andere Studien wiesen übereinstimmend<br />

und unmissverständlich auf<br />

immer noch vorhandene soziale Disparitäten<br />

im Bildungswesen hin.<br />

Geradezu aufgeschreckt reagierte<br />

die interessierte Öffentlichkeit, als<br />

im vergangenen Jahr der UN-Sonderberichterstatter<br />

für das Recht auf Bildung,<br />

Prof. Dr. Vernor Munoz Villalobos,<br />

Deutschland bereiste, um sich<br />

über die Einhaltung dieses Rechts ein<br />

Bild zu verschaffen. Der Bericht darüber<br />

ist noch nicht erschienen.<br />

Zusammenhänge<br />

Wie hängt nun aber die sozioökonomische<br />

Lage der Eltern mit den zu erreichenden<br />

Bildungsabschlüssen bzw.<br />

dem Schulerfolg zusammen? Einfache<br />

Erklärungen gibt es ebenso wenig wie<br />

eine umfassende Theorie. Es lassen<br />

sich lediglich einige Hinweise geben,<br />

die sich auch empirisch untermauern<br />

lassen.<br />

In engem Zusammenhang mit der<br />

sozioökonomischen Lage ist das Bildungsniveau<br />

der Eltern zu sehen. Wie<br />

oben erwähnt, ist die Erreichung eines<br />

sozialen Status in erheblichem Maß an<br />

den erreichten Bildungsabschluss gekoppelt.<br />

Das Bildungsniveau und der<br />

sozioökonomische Status zählen zusammen<br />

mit der Komponente Migrationsstatus<br />

zu den so genannten Strukturmerkmalen<br />

der sozialen Herkunft,<br />

wie sie beispielsweise in PISA erhoben<br />

wurden. Diese Strukturmerkmale korrespondieren<br />

mit den so genannten<br />

Prozessmerkmalen, über die direkte<br />

Einflüsse auf die Bildungsverläufe vermutet<br />

werden. Als Prozessmerkmale<br />

halten Watermann und Baumert<br />

(2006, S. 65 ff.) das konsumtive Verhalten<br />

(Wohlstandsgüter), die kulturelle<br />

Praxis sowie die kommunikative<br />

und soziale Praxis in einer Familie fest.<br />

Während der Einfluss des konsumtiven<br />

Verhaltens auf die Unterschiede im<br />

Bildungsverlauf hier eher als gering<br />

eingeschätzt wird, werden der kulturellen<br />

sowie der kommunikativen und<br />

sozialen Praxis mehr Gewicht zugemessen.<br />

Eltern geben über diese Praxen<br />

bildungsrelevante Einstellungen,<br />

Gewohnheiten oder auch einfach nur<br />

Informationen weiter, die von den Kindern<br />

in Bildungserfolge umgewandelt<br />

werden können. Eltern aus höheren<br />

sozialen Milieus und mit einem höheren<br />

Bildungsniveau sind besser in<br />

der Lage, sich auf die Anforderungen<br />

des Bildungssystems einzustellen. Sie<br />

fördern all jene Fähigkeiten und Einstellungen,<br />

die sich in der Schule als<br />

nützlich erweisen. Sie sind in der Lage,<br />

die Bedingungen des Aufwachsens<br />

für ihre Kinder auch im Hinblick auf<br />

deren Bildungsansprüche zu optimieren.<br />

Schichttypische Familienmilieus<br />

bewirken schichttypische Kompetenzund<br />

Leistungsunterschiede bei den<br />

Kindern und Jugendlichen. Geißler<br />

(2006) warnt davor, an dieser Stelle in<br />

schichtspezifische Denk-Klischees zu<br />

verfallen und weist »mit Nachdruck«<br />

darauf hin, »dass es bei den Leistungen<br />

erhebliche Überlappungen zwischen<br />

den Schichten gibt« (Geißler 2006,<br />

S. 41).<br />

Schließlich sind es auch nicht nur<br />

die Leistungen, die sich in den erreichten<br />

Bildungsabschlüssen widerspiegeln;<br />

an mehreren Nahtstellen des<br />

Schulsystems werden Entscheidungen<br />

getroffen, die von weit reichender<br />

Konsequenz für die weiteren Bildungsmöglichkeiten<br />

sind. Der Eintritt in<br />

eine bestimmte Schulform gibt einen<br />

Rahmen für den zu erreichenden Abschluss<br />

vor; das trifft in besonderer<br />

Weise für die Nahtstelle <strong>Grundschule</strong> –<br />

Sekundarstufe zu. Grundlage für diese<br />

Entscheidungen sollen die erbrachten<br />

Leistungen bzw. die zu erwartenden<br />

Leistungserfolge sein. Nun zeigen<br />

aber die empirischen Daten, dass sich<br />

zwar bei den besonders schwachen<br />

und besonders starken Schülerinnen<br />

und Schülern eine relativ klare Zuordnung<br />

von Leistung und Schulform<br />

finden lässt, dass es aber im mittleren<br />

Leistungsbereich einen relativ großen<br />

Anteil an unklaren Zuordnungen<br />

gibt. Es scheint geradezu vom Zufall<br />

abzuhängen, welcher Schulform ein<br />

Grundschulkind beim Übergang in die<br />

Sekundarstufe zugewiesen wird. Bei<br />

genauerem Hinsehen wirkt sich der<br />

Herkunftsfaktor aus. Kinder aus Familien<br />

mit ungünstigen Strukturmerkmalen<br />

wechseln bei gleicher Leistung eher<br />

zu den weniger anspruchsvollen Schulformen.<br />

Umgekehrt gilt dasselbe. Wie<br />

erklärt sich dies?<br />

Grundsätzlich lassen sich hier zwei<br />

Mechanismen beobachten. Zum einen<br />

sind es die Eltern selbst, die ihren<br />

Entscheidungsspielraum im Sinne des<br />

Statuserhalts nutzen. Das gilt sowohl<br />

für die Angehörigen der so genannten<br />

höheren als auch die der so genannten<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Thema: Kinderarmut<br />

Dr. Angelika Speck-Hamdan,<br />

Professorin für Grundschulpädagogik<br />

und -didaktik<br />

an der Universität München,<br />

Fachreferentin für Bildungsgerechtigkeit<br />

im Grundschulverband<br />

unteren Schichten. Während bei Eltern<br />

mit günstigeren sozioökonomischen<br />

Bedingungen die Vermeidung des sozialen<br />

Abstiegs das vorherrschende<br />

Motiv zu sein scheint, für das auch<br />

hohe Investitionen in Kauf genommen<br />

werden, scheinen Eltern mit ungünstigeren<br />

sozioökonomischen Voraussetzungen<br />

für ihre Kinder das Risiko des<br />

Scheiterns vermeiden zu wollen, indem<br />

sie sie auch bei guten Leistungen häufig<br />

nicht auf ein Gymnasium geben.<br />

Dagegen setzen Eltern bildungsbewusster<br />

Milieus ihren Wunsch nach<br />

dem Gymnasium oft auch gegen die<br />

Empfehlung der <strong>Grundschule</strong> durch. In<br />

beiden Fällen orientieren sich die Eltern<br />

nicht an der tatsächlichen Leistung des<br />

Kindes, sondern vielmehr an der Zukunftsvorstellung,<br />

die mit der Schulformwahl<br />

verbunden wird.<br />

Zum andern sind es die Lehrerinnen<br />

und Lehrer, die bei der Formulierung<br />

ihrer Übertrittsempfehlung nicht nur<br />

die tatsächliche Leistung des einzelnen<br />

Kindes im Auge haben. In nahezu allen<br />

Ländern wird darauf Wert gelegt, dass<br />

sich die Empfehlung der <strong>Grundschule</strong><br />

auf das gesamte Lern- und Leistungsverhalten<br />

des Kindes stützen soll. Die<br />

Schule soll eine möglichst verlässliche<br />

Prognose über den weiteren Schulerfolg<br />

treffen. Zur Absicherung einer<br />

solchen Vorhersage werden demnach<br />

auch »weichere« Faktoren herangezogen,<br />

wie z. B. das Arbeitsverhalten, die<br />

Selbstständigkeit beim Lernen oder<br />

auch die Einschätzung der häuslichen<br />

Unterstützung – Faktoren, die zweifellos<br />

Auswirkungen auf die schulische<br />

Leistungsfähigkeit haben. Grundschullehrer/innen<br />

sprechen sich bei<br />

Kindern aus bildungsferneren Elternhäusern<br />

eher gegen eine Empfehlung<br />

für das Gymnasium aus, auch wenn<br />

die Leistungen dies zulassen würden.<br />

Faktisch verringern sich damit die Bildungschancen<br />

ohnehin benachteiligter<br />

Schülerinnen und Schüler noch weiter.<br />

Es wäre aber nicht fair, den Lehrerinnen<br />

und Lehrern eine bewusste Benachteiligung<br />

von Kindern mit ungünstigen<br />

Strukturmerkmalen ihrer Herkunft zu<br />

unterstellen. Vielmehr scheint es sich<br />

um eine vorausschauende Abschätzung<br />

der Risiken zu handeln, mit der<br />

versucht wird, die Kinder vor Misserfolgen<br />

zu bewahren.<br />

Bildung und Armut<br />

Was geschieht, wenn die vorgenannten<br />

Wirkmechanismen in ungünstiger Weise<br />

zum Tragen kommen? Welche Bildungsrisiken<br />

haben diejenigen Kinder<br />

und Jugendlichen zu tragen, die unter<br />

ungünstigen sozialen Bedingungen<br />

aufwachsen, die als arm zu bezeichnen<br />

sind, wie es Roland Merten in seinem<br />

Beitrag in diesem Heft beschreibt?<br />

Von Armut betroffen zu sein, bedeutet<br />

für Kinder vor allem dreierlei:<br />

n Einschränkung<br />

n Ausgrenzung<br />

n Belastung.<br />

Einschränkung bezieht sich vor allem<br />

auf die Erfahrungs-, Erlebens- und Lernmöglichkeiten,<br />

an die das schulische<br />

Lernen in der Regel anknüpft. Eine Lebensbewältigung<br />

auf elementarem Niveau<br />

lässt gewisse Möglichkeiten wie<br />

den Besuch von Zoo, Theater, Museum<br />

oder Sportveranstaltungen, die Urlaubsreise<br />

ans Meer oder in die Berge,<br />

den Wochenendausflug ins Erlebnisbad<br />

oder in den Wildpark einfach nicht zu.<br />

Auch der Kauf von hochwertigen Kinderbüchern<br />

oder gutem Edutainment<br />

lässt sich mit einem schmalen Budget<br />

nicht bewerkstelligen. Die damit zu erwartenden<br />

Lern- und Entwicklungsimpulse<br />

sind nicht vorhanden. Auch die<br />

Einschränkung von Konsummöglichkeiten<br />

kann mit einer Einengung von<br />

Erfahrungsmöglichkeiten einhergehen.<br />

Erfahrungen als Basis aber stecken sozusagen<br />

den Rahmen für mögliche<br />

Kontakte, für Kommunikation, soziale<br />

Praxis und kognitive Verstehensprozesse<br />

ab. Während diese Basis unter Armutsbedingungen<br />

stark eingeschränkt<br />

wird, können Familien mit günstigen<br />

strukturellen Bedingungen sie in hohem<br />

Maß verbreitern, indem sie ihren<br />

Kindern von Anfang an zusätzliche Förderangebote<br />

zuteil werden lassen, wie<br />

z. B. Englisch im Kindergarten oder Malen<br />

unter künstlerischer Anleitung.<br />

Verstärkt wird diese Einschränkung<br />

der Erfahrungsmöglichkeiten durch die<br />

oft zu beobachtende räumliche Segregation<br />

armer Bevölkerungsschichten<br />

in so genannte soziale Brennpunkte,<br />

die sich gerade durch Anregungsarmut<br />

auszeichnen. In diesem Zusammenhang<br />

wird auch in Deutschland von<br />

sozialen Gettos gesprochen.<br />

Die Ausgrenzung, die sich bereits in<br />

der räumlichen Segregation zeigt, manifestiert<br />

sich aber vor allem in einer<br />

sozialen Ausgrenzung. Wenn allgemeine<br />

Erfahrungen nicht geteilt werden<br />

können, kann nicht nur die Kommunikation<br />

darüber nicht hinreichend<br />

geführt werden, es stellt sich auch ein<br />

Gefühl des Nichtdazugehörens ein.<br />

Stigmatisierung und Diskriminierung<br />

sind die negativen Folgen des Ausgegrenztseins.<br />

Darunter leiden auch<br />

schon Grundschulkinder. Die Gruppe<br />

der Gleichaltrigen spielt für die soziale<br />

Entwicklung für Kinder eine entscheidende<br />

Rolle. Anerkennung und<br />

Eingebundensein sind wichtige Bedingungen<br />

für das Wohlbefinden und das<br />

Selbstwertgefühl. Ausgrenzungserfahrungen<br />

führen zu Isolation und möglicherweise<br />

zur eigenen Abwertung.<br />

Wenn – wie in einer Münchner Hauptschulklasse<br />

beobachtet (Süddeutsche<br />

Zeitung vom 25. 11. 2006) – ein Großteil<br />

der Schülerinnen und Schüler auf das<br />

Namensschild der Hefte nur noch »Loser«<br />

schreibt, ist dies wohl als ein Ausdruck<br />

dieses Gefühls zu verstehen.<br />

Von Belastung sind Kinder in Armut in<br />

vielfacher Weise betroffen. So können<br />

negative Auswirkungen auf Ernährung,<br />

Körperpflege und Gesundheitsvorsorge<br />

beobachtet werden. Auch bergen<br />

die Armutserfahrungen ein höheres<br />

Konfliktpotenzial in den Familien, das<br />

sich nicht selten in häuslicher Gewalt<br />

niederschlägt. Palentien (2005, S. 162)<br />

berichtet zudem von Schlafstörungen,<br />

Lernproblemen und Rückzugstendenzen<br />

aus sozialen Kontakten. Arme<br />

Kinder geben ihren Gesundheitszu-<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Thema: Kinderarmut<br />

stand häufiger als nur einigermaßen<br />

gesund oder schlecht an. Das betrifft<br />

die verschiedensten gesundheitlichen<br />

Beschwerden, wie im von der Universität<br />

Bielefeld erstellten Jugendgesundheitssurvey<br />

(zit. in Becker 2002)<br />

festgestellt wurde. Der Zusammenhang<br />

zwischen Armut und belasteter<br />

Gesundheit lässt sich dabei nicht nur<br />

für psychosomatische, sondern auch<br />

für physische Beschwerden nachweisen.<br />

Allerdings sind diese Belastungen<br />

nicht allein durch die Folgen der materiellen<br />

Armut erklärbar, sie müssen vor<br />

allem als Folge psychosozialer Armut<br />

im Sinne von Einschränkung und Ausgrenzung<br />

gesehen werden (vgl. Becker<br />

2002).<br />

Einschränkung, Ausgrenzung und<br />

Belastung erschweren die Nutzung<br />

von Bildungsangeboten erheblich, zumal<br />

– bedingt durch die häufig anzutreffende<br />

Koppelung von materieller<br />

Armut und Bildungsarmut – die Unterstützungsleistungen<br />

der Eltern, die das<br />

deutsche Schulsystem stillschweigend<br />

voraussetzt, kaum zu erbringen sind.<br />

Was ist also zu tun?<br />

Die Rolle der Schule<br />

In der bekannten Kauai-Studie von<br />

Werner und Smith, in der eine ganze<br />

Geburtskohorte (Jahrgang 955) der<br />

Hawai-Insel Kauai über Jahre hinweg in<br />

ihrer Entwicklung begleitet und untersucht<br />

wurde, zeigte sich die Gruppe der<br />

Resilienten, also derjenigen, die trotz<br />

widriger Entwicklungsbedingungen<br />

wie chronischer Armut relativ gut durch<br />

Kindheit und Jugendalter gekommen<br />

waren, in besonderer Weise »bildungsbeflissen«<br />

(vgl. Göppel 999, S. 79). Sie<br />

erreichte ein überdurchschnittliches<br />

Bildungsniveau, das weit über dem<br />

ihrer Herkunftsfamilie lag. Die Kinder<br />

und Jugendlichen waren in der Lage,<br />

die Bildungsangebote für sich zu nutzen<br />

und konnten deshalb ihr Leben<br />

meistern. Emmy Werner schreibt dazu:<br />

»Die meisten Studien haben festgestellt,<br />

dass resiliente Kinder die Schule<br />

lieben, sei es die Vorschule, die Primarschule<br />

oder die High School ... In vielen<br />

Fällen machen diese Kinder die Schule<br />

zu einem Heim fern von daheim, einem<br />

Zufluchtsort vor einer konfusen Familiensituation<br />

(Werner 990, 09, übers.<br />

R.G.)« (Göppel 999, S. 80). Die Schule<br />

stellt für diese Kinder eine Schutzfunktion<br />

bereit, indem sie einen Raum für<br />

relativ unbelastete Lernerfahrungen<br />

mit Anschlusskommunikationen und<br />

Verarbeitungen bietet. Damit können<br />

sich Kompetenzgefühle entwickeln,<br />

die zur Stabilisierung eines positiven<br />

Selbstvertrauens beitragen.<br />

Schule trägt zweifellos zur Persönlichkeitsbildung<br />

wie zur Allgemeinbildung<br />

bei. Die Kinder verbringen<br />

schließlich einen Großteil ihrer Zeit<br />

in der Schule. Der Anteil ihres Einflusses<br />

gegenüber der Familie wird<br />

unterschiedlich angegeben, er ist aber<br />

nicht unerheblich und hängt mit Sicherheit<br />

auch davon ab, wie Schule<br />

organisiert ist. Schule kann zur Quelle<br />

von Versagen werden, sie kann die<br />

Pädagogische Leistungskultur<br />

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erscheint im<br />

Herbst 2007<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

9


Thema: Kinderarmut<br />

sozialen Abwertungsprozesse verstärken<br />

und kann so zur Kumulation der<br />

belastenden Bedingungen beitragen.<br />

Schule kann aber auch zum Schutzfaktor<br />

werden, ähnlich wie von Emmy<br />

Werner beschrieben. Konkret sollen<br />

im Folgenden sieben protektive Möglichkeiten<br />

aufgezeigt werden.<br />

Sieben Möglichkeiten<br />

n Ausbau der (kostenfreien)<br />

vorschulischen Bildung<br />

Da sich Armutseffekte auf die Erfahrungs-<br />

und Lernmöglichkeiten nicht<br />

erst in der Schule zeigen, scheint es<br />

geboten, das Bildungsangebot bereits<br />

früher als bisher und kostenfrei zur<br />

Verfügung zu stellen. Ob ein verpflichtendes<br />

Jahr vor der Schule, wie es der<br />

Grundschulverband bisher fordert, die<br />

schwierige Aufgabe des Nachteilsausgleichs<br />

zumindest weitgehend leisten<br />

kann, sollte weiter untersucht werden.<br />

Es sollte ebenso überlegt werden, ob<br />

nicht durch die Kostenfreiheit vor allem<br />

auch jüngere Kinder in den Genuss erweiterter<br />

Entwicklungsmöglichkeiten<br />

kommen können.<br />

n Ganztagsschule<br />

Die Ganztagsschule bietet ohne Zweifel<br />

hervorragende Möglichkeiten, die<br />

Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten<br />

von armen Kindern zu erweitern und zu<br />

vertiefen (vgl. Band 122 des Grundschulverbandes).<br />

Ein breit gefächertes Angebot<br />

kann Interessen wecken, vielfältige<br />

Kompetenzerfahrungen ermöglichen<br />

und zudem einen geeigneten Rahmen<br />

für geteilte Erfahrungen und Kommunikationen<br />

schaffen. Dass außerdem<br />

die Ernährungssituation dadurch für<br />

viele Kinder verbessert werden kann,<br />

auch die Gesundheitsvorsorge einen<br />

festen Platz im Leben der Kinder erhält,<br />

sei nur am Rand erwähnt.<br />

n Spezielle, individuell abgestimmte<br />

Förderangebote<br />

Die Einschränkungen des lebensweltlichen<br />

Horizonts machen sich u. a. in<br />

fehlenden Lernvoraussetzungen bemerkbar,<br />

was viele Lehrerinnen und<br />

Lehrer gerade im Hinblick auf die<br />

Sprache bestätigen. Vor allem in einer<br />

Schule mit mehr Zeit zum Lernen<br />

lassen sich vermehrt individuelle Förderangebote<br />

platzieren. Es ist anzunehmen,<br />

dass gerade Kinder, die wenig<br />

Lernerfahrungen haben, mehr auf die<br />

unterstützende Hilfe eines zuverlässigen<br />

Erwachsenen angewiesen sind.<br />

Die Devise muss lauten: Fördern statt<br />

Auslesen!<br />

n Verzicht auf frühe Selektion<br />

Im Sinne dieser Devise ergibt sich als<br />

weitere protektive Möglichkeit der Verzicht<br />

auf die frühe und – wie gezeigt<br />

– durchaus nicht immer leistungsgerechte<br />

Auslese. Sie grenzt aus statt Zugehörigkeit<br />

zu schaffen. Sie verstärkt<br />

das wenig motivierende Gefühl des<br />

Versagens. Eine längere gemeinsame<br />

Schulzeit für alle Kinder bietet dagegen<br />

Gelegenheit Entwicklungen Zeit zu geben<br />

und etwaige versäumte Lerngelegenheiten<br />

nachzuholen.<br />

n Positives Klassenklima<br />

Der Ausgrenzung kann vor allem durch<br />

ein beschützendes und Sicherheit vermittelndes<br />

Klassenklima entgegengewirkt<br />

werden, das Diskriminierung<br />

ausschließt und vor allem auf einer<br />

Haltung des gegenseitigen Respekts<br />

und der gegenseitigen Achtung fußt.<br />

Auch dafür gibt es ausgezeichnete<br />

Beispiele. Gerade Kinder, die Ausgrenzung<br />

im Alltag oft genug erleben, an<br />

sich selbst, an ihrer Familie, an ihrer<br />

Wohngegend, sind äußerst empfindlich,<br />

was Anerkennung angeht. Schädlich<br />

ist es auch, wenn in der Klasse<br />

Misserfolge zu sehr öffentlich gemacht<br />

werden, Kinder also beschämenden<br />

Situationen ausgesetzt sind. Viele Kinder<br />

reagieren darauf mit Verweigerung<br />

oder Rückzug, d. h. sie werden, um der<br />

Situation zu entgehen, zum Kind mit<br />

Verhaltensproblemen, zum Klassenclown<br />

oder zum permanenten Störer.<br />

n Verzicht auf Noten<br />

Noten machen den sozialen Vergleich<br />

öffentlich. Sie schaden Kindern,<br />

die im Vergleich ständig schlecht<br />

abschneiden. Die Mechanismen des<br />

Zusammenhangs zwischen Selbstvertrauen<br />

und Leistungsfähigkeit sind<br />

hinlänglich bekannt. Kinder mit eingeschränkten<br />

Lerndispositionen werden<br />

zusätzlich behindert durch Vergleiche<br />

mit denen, die von völlig anderen Positionen<br />

aus gestartet sind. Wenn Noten<br />

schädlich sind, dann sind sie es für<br />

arme Kinder ganz besonders.<br />

n Schaffung sozialer Netzwerke<br />

Die Schule allein ist möglicherweise<br />

mit der weit reichenden Aufgabe<br />

Entwicklungs- und Bildungsrisiken zu<br />

entschärfen oder abzupuffern, überfordert,<br />

zumal die familiäre Situation<br />

von ihr nicht zu ändern ist. Es ist daher<br />

ein viel versprechender Ansatz, um<br />

Kinder in Armutslagen wirksame soziale<br />

Netzwerke aufzubauen, die nicht<br />

nur den Kindern, sondern auch ihren<br />

Familien unterstützend zur Seite stehen<br />

können.<br />

Lässt sich durch die aufgezeigten Maßnahmen<br />

mehr Bildungsgerechtigkeit<br />

schaffen? Der internationale Vergleich<br />

spricht dafür. Denn andere Länder sind<br />

erfolgreicher in der Einlösung des Bildungsanspruchs<br />

für Kinder aus ungünstigen<br />

Herkunftsmilieus. Bildungsangebote<br />

müssen gerade für arme<br />

Kinder leicht erreichbar, ganztägig vorgehalten,<br />

förderorientiert und nichtdiskriminierend<br />

gestaltet sein. Dann<br />

kann die Schule einen kleinen Beitrag<br />

zur Bildungsgerechtigkeit leisten. Um<br />

Wirksamkeit tatsächlich entfalten zu<br />

können, müssen jedoch solche bildungspolitischen<br />

Maßnahmen durch<br />

sozialpolitische ergänzt werden.<br />

Literatur<br />

Becker, Ulrich (2002) Armut und Gesundheit – Macht Armut Kinder<br />

krank? Vortrag auf dem Remscheider Jugendhilfetag am 28. 10. 2002,<br />

http://www.fb4.fh-frankfurt.de/projekte/hbsc/dokumente/vortrag_<br />

remscheid.pdf (5. 1. 2007)<br />

Geißler, Rainer (2006) Bildungschancen und soziale Herkunft.<br />

In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 4/ 2006,<br />

S. 34 – 49<br />

Göppel, Rolf (1999) Bildung als Chance. In: Opp, G., Fingerle, M. &<br />

Freytag, A. (Hrsg.) Was kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und<br />

Resilienz. München: Reinhardt Verlag, S. 170 – 190<br />

Palentien, Christian (2005) Aufwachsen in Armut – Aufwachsen in<br />

Bildungsarmut. Über den Zusammenhang von Armut und Schulerfolg.<br />

In: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 2, Jahrgang 51, S. 154 – 169<br />

Rühle, Alex (26 .11. 2006) Jugend ohne Traum. Endstation Hauptschule.<br />

In: Süddeutsche Zeitung http://www.sueddeutsche.de/deutschland/<br />

artikel/793/92701/ (5.1.2007)<br />

Watermann, Rainer / Baumert, Jürgen (2006) Entwicklung eines<br />

Strukturmodells zum Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und<br />

fachlichen und überfachlichen Kompetenzen: Befunde national und<br />

international vergleichender Analysen. In: Baumert, J.; Stanat, P. &<br />

Watermann, R. (Hrsg.) Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen.<br />

Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden:<br />

Verlag für Sozialwissenschaften, S. 61 – 94<br />

10 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />

»An den Kindern kann es nicht liegen!«<br />

– Über die Aussonderung der Armen in Deutschland<br />

In Armutsgebieten gibt es mehr als<br />

anderswo Kinder, die ihre Freizeit<br />

selbstständig im sozialen Nahraum<br />

verbringen. Sie werden mehr allein gelassen<br />

und müssen sich häufig selbst<br />

ernähren. Medienkonsum bestimmt<br />

häufig den Tag. Nicht selten sollen sie<br />

alleine morgens aufstehen, frühstücken,<br />

rechtzeitig zur Schule gehen, die<br />

Versorgung der Geschwister übernehmen.<br />

Kinder in benachteiligten Lebenslagen<br />

sind gezwungen, solche »Behinderungen«<br />

ihrer Entwicklung auf dem<br />

Weg zu »allgemeiner Bildung« zu überwinden.<br />

Wegen schwacher Schulleistungen<br />

und unangepasstem Verhalten<br />

»landen« die meisten auf Schulen, wo<br />

sich überwiegend Kinder aus armen<br />

Familien und Migranten treffen: auf<br />

Haupt- und »Behinderten«-Schulen.<br />

Den Gipfel der Aussonderung erlebt die<br />

Bevölkerungsgruppe der Roma in Mittel-<br />

und Osteuropa: Bis zu 75 % der Romakinder<br />

gehen in Schulen für geistig<br />

Behinderte.<br />

Der Teufelskreis beginnt in der Regel<br />

recht harmlos, nämlich damit, dass<br />

sich eine Grundschullehrerin durch ein<br />

Kind aus benachteiligten Lebenslagen<br />

überfordert fühlt. Nicht selten fangen<br />

auch Mitschüler an, sich wegen eines<br />

auffälligen Verhaltens zu beschweren.<br />

Sie grenzen sich ab, isolieren es und<br />

berichten zu Hause den Eltern. Einige<br />

Eltern suchen die Lehrerin auf und<br />

bitten darum, dass ihr Kind nicht mit<br />

dem »Störer« zusammen sitzen solle,<br />

er lenke ihr Kind vom Arbeiten ab. Die<br />

Lehrerin mahnt die Eltern des »schwierigen«<br />

Schülers mehrmals an und bittet<br />

um Mithilfe. Falls sie mit den Eltern<br />

keine Lösung findet, empfiehlt sie,<br />

eine Beratungsstelle aufzusuchen. Es<br />

vergehen Monate, in denen sich wenig<br />

verändert. Um sich zu entlasten, berichtet<br />

die Lehrerin den Kollegen und<br />

der Schulleitung von ihren Problemen.<br />

Die Schule schaltet eine Beratungsstelle<br />

oder einen sozialen Dienst ein, da die<br />

Eltern selbst keine Initiative ergreifen.<br />

Bei den üblichen Wartezeiten vergehen<br />

weitere Monate und das nächste Zeugnis<br />

rückt näher.<br />

In den Zensuren oder Gutachten spiegeln<br />

sich oft drastisch die hilflosen<br />

Versuche wider, dem Kind und den<br />

Eltern eine »letzte Warnung« mitzugeben.<br />

Spätestens jetzt droht die Nichtversetzung<br />

oder die Überweisung in<br />

eine »(Aus-)Sonder-Schule«. Der Fall<br />

belastet die ganze Klasse. Fachlehrer<br />

beklagen sich ebenfalls über Schwierigkeiten.<br />

Der Schüler erfährt, dass er<br />

in der Klassengemeinschaft keinen<br />

sicheren Platz hat. Ihm wird gesagt,<br />

dass er »rausfliegt«, wenn er »so weiter<br />

macht«. Kind, Eltern, Lehrerin und<br />

Klassengemeinschaft erleben sich fast<br />

täglich als hilflos. Die Abwärtsspirale<br />

ist nicht mehr zu bremsen. Ein sonderpädagogisches<br />

Verfahren wird eingeleitet,<br />

der IQ des Kindes getestet, seine<br />

Gesundheit geprüft, sein Verhalten<br />

von einem »Sonder«-Schullehrer beobachtet<br />

und protokolliert. Das Ergebnis<br />

dieser »Überprüfung« steht zwar nicht<br />

vorher fest, aber niemand kann sich in<br />

dieser verfahrenen Lage vorstellen, wie<br />

es weiterginge, wenn das Kind wider<br />

Erwarten doch in dieser Klasse bleiben<br />

müsste. Mindestens ein Wechsel wird<br />

empfohlen: »Das Kind gehört hier nicht<br />

hin. Wir sind die falsche Schule!« Am<br />

Ende finden wir ein entmutigtes Kind<br />

vor, das keine Chance hatte zu lernen,<br />

sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.<br />

Ein solches Kind war Thema einer Tagung<br />

mit dem Titel »Straßenkarrieren<br />

im Schnittpunkt von Jugendhilfe, Schule<br />

und Polizei«, die schon 1999 beispielhaft<br />

aufzeigte, wie öffentliche Institutionen<br />

an solche Probleme herangehen<br />

(vgl. Hansbauer 2000; Stähling 2006).<br />

Den Jungen nennen wir Uwe. Er gehört<br />

zu den 15 % der Schüler in Deutschland,<br />

die von Beginn der Pubertät an<br />

die Schule schwänzen.<br />

von<br />

Reinhard<br />

Stähling<br />

Uwe<br />

Uwe ist 2 Jahre alt: Vater hatte die Mutter<br />

öfter geschlagen. Mutter verlässt die<br />

Familie. Sie versucht Uwe zu sich zu<br />

nehmen, scheitert damit. Vater bedroht<br />

sie. Alkoholmissbrauch des Vaters. Vater<br />

verhindert, dass Uwe zu seiner Mutter<br />

Kontakt aufnimmt. Der Allgemeine Sozialdienst<br />

(ASD) besucht Vater und Uwe<br />

zu Hause, Vater bekommt vorläufiges<br />

Sorgerecht; Tagespflege: Betreuung bei<br />

Nachbarin.<br />

Ab 3 Jahre: Der Kontakt zwischen Mutter<br />

und Uwe ist abgebrochen. Neue<br />

Lebensgefährtin des Vaters mit 5-jähriger<br />

Tochter (bisher in Pflegefamilie)<br />

»Streit«<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

11


Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />

»Trösten«<br />

»Kinderversammlung«<br />

zieht in die Wohnung. Vater streitet sich<br />

lautstark mit der neuen Frau unter Alkoholeinfluss.<br />

Vater ist arbeitslos. Nach<br />

der Scheidung bekommt der Vater das<br />

Sorgerecht mit der Begründung, dass<br />

die leibliche Mutter den Kontakt zu Uwe<br />

abgebrochen hat. ASD hat keine weiteren<br />

Kontakte zum Vater. Nachts wird<br />

mehrfach die Polizei gerufen, um die<br />

Alkoholisierten zur Ruhe zu bringen.<br />

6 Jahre: Uwe fällt auf durch starke<br />

Aggressivität, Angst vor Menschen,<br />

Sprachstörungen. Das Verhältnis vom<br />

Vater und dessen Lebensgefährtin zu<br />

Uwe scheint zerstört. Uwes Verhaltensauffälligkeiten<br />

sind Thema im Kindergarten.<br />

Er wird vom Schulbesuch<br />

zurückgestellt.<br />

Ab 7 Jahre: Uwe besucht die Sprachheilschule<br />

und fällt dort durch sein Verhalten<br />

auf. Uwe verbringt ohne Wissen<br />

der Eltern ganze Nachmittage außer<br />

Haus. Lebensgefährtin des Vaters bittet<br />

um Hilfe durch den ASD, weil Uwe<br />

sich ihr gegenüber aggressiv verhält.<br />

ASD-Beratungsgespräche: das Angebot<br />

einer Erziehungsbeistandschaft<br />

wird abgelehnt. Vater weist Einblick des<br />

ASD in familiäre Verhältnisse zurück.<br />

ASD vermittelt Besuch der Familie bei<br />

einer Erziehungsberatungsstelle. Dort<br />

lehnt der Vater persönliche Fragen ab<br />

und sagt, dass nur Uwe eine psychologische<br />

Beratung benötige. Die Psychologin<br />

berät daraufhin die Familie nicht<br />

mehr weiter.<br />

10 Jahre: Uwe wechselt nach drei Jahren<br />

Sprachheilschule auf die Regelgrundschule,<br />

dann auf eine Gesamtschule.<br />

11 Jahre: Uwe ist durch den Unterricht<br />

der Gesamtschule überfordert, erledigt<br />

seine Hausaufgaben nicht und bleibt der<br />

Schule einige Male fern. Lehrer ermahnen<br />

ihn wegen der fehlenden Hausaufgaben.<br />

Der Vater verprügelt ihn, als er<br />

informiert wird. Daraufhin flüchtet Uwe<br />

für zwei Tage aus dem Haus. Uwe wird<br />

bei einem Ladendiebstahl mit einer<br />

Gruppe gefasst. Polizei kann die Eltern<br />

nach dem Ladendiebstahl nicht erreichen<br />

und bringt Uwe in ein Aufnahmeheim.<br />

Ein Sozialpädagoge spricht mit<br />

Uwe und den Eltern. Uwe kann sich<br />

kaum äußern. Vater beschimpft ihn und<br />

spricht resigniert über die Entwicklung<br />

seines Sohnes: Trotz aller Strenge<br />

habe er ihn nicht mehr im Griff. Er solle<br />

ins Heim. Es erfolgt keine Heimeinweisung.<br />

Stattdessen wird ein Kontakt zu<br />

einer Erziehungsberatungsstelle hergestellt;<br />

Uwe ist nicht bereit und in der<br />

Lage, die Hilfe anzunehmen. Die Beratung<br />

wird schon nach der ersten Sitzung<br />

abgebrochen.<br />

12 Jahre: Ladendiebstahl; Uwe wird<br />

gefasst. Polizei bringt Uwe nochmals in<br />

das Aufnahmeheim. Er wird auf eigenen<br />

Wunsch von dort nach Hause entlassen.<br />

Uwe fehlt drei Wochen unentschuldigt<br />

in der Schule. Weiterer Ladendiebstahl,<br />

bei dem Uwe flieht und beim Herauslaufen<br />

eine Frau in die Fensterscheibe<br />

stößt. Aus Angst vor dem Vater will er<br />

nicht mehr nach Hause und bittet beim<br />

Jugendamt, in ein Heim aufgenommen<br />

zu werden. Im Aufnahmeheim hält sich<br />

Uwe nicht an die Regeln. Uwe wohnt<br />

wieder zu Hause. Er fehlt weiterhin in<br />

der Schule. Vater versucht durch starken<br />

Druck Uwes Verhalten zu ändern.<br />

Unter Alkoholeinfluss kommt es zu körperlichen<br />

Übergriffen.<br />

In den folgenden Jahren überschlagen<br />

sich die Ereignisse bei Uwe. Seine Lage<br />

spitzt sich weiter zu: Sucht und Delinquenz<br />

folgen. Uwe wird in eine Schule<br />

für Lernbehinderte und – sogar noch<br />

mit 16 Jahren – in eine Schule für Erziehungshilfe<br />

überwiesen. Es ist zu erwarten,<br />

dass Uwe zu den 23 % der Schüler<br />

in Deutschland gehört, die mit 15 Jahren<br />

kaum oder gar nicht lesen können. Uwe<br />

findet trotz Förderung, Begleitung und<br />

Beratung wie viele andere »Sozialbenachteiligte«<br />

mit Lern-, Leistungs- und<br />

Verhaltensproblemen keine Arbeit. Im<br />

»Verschiebebahnhof« zwischen Schulen,<br />

ASD, Heim, Polizei, Beratungsstelle<br />

u. a. übernimmt niemand dafür Verantwortung,<br />

dass Uwe wirksame Hilfe<br />

bekommt.<br />

Zwei weitere Kinder aus Armutsgebieten,<br />

Susan und Mike, mögen zeigen,<br />

wie verschieden die belastenden Situationen<br />

sein können:<br />

Susan<br />

Susan, ein Kind von Asylbewerbern, hat<br />

starke Sprechstörungen. Ich kann sie<br />

kaum verstehen. Häufig verschluckt sie<br />

Silben. Ich habe das Gefühl, dass sie mir<br />

viel mitzuteilen hat. Sie will mir immer<br />

wieder in ihrer gebrochenen Lautsprache<br />

ihre Freude und ihre Sorgen erzählen.<br />

Nach einem Jahr sind die Eltern<br />

bereit, das Gehör untersuchen zu lassen.<br />

Sie gehen aber nicht zum Arzt. Als<br />

die Lehrerin anbietet, selbst das Kind<br />

und die Eltern mit dem eigenen Auto<br />

zum Arzt zu bringen, stimmen die Eltern<br />

zu. Am Untersuchungstag kommen die<br />

Eltern nicht. Die Lehrerin fährt alleine<br />

mit dem Kind. Der Ohrenarzt stellt bei<br />

dem Mädchen eine gravierende Hörstörung<br />

auf einem Ohr fest, die u. a. durch<br />

falsche Ohrhygiene verursacht ist. Hinter<br />

dieser so genannten »Sprachbehinderung«<br />

entdecken wir ein Problemgemisch,<br />

das typisch ist für solche<br />

Lebenslagen:<br />

Das Mädchen stammt aus einem Land,<br />

in dem die Eltern politisch verfolgt wurden.<br />

Sie sind misstrauisch gegenüber<br />

allen »staatlichen« Eingriffen und stehen<br />

sonderpädagogischer Förderung und<br />

ärztlichen Untersuchungen misstrauisch<br />

gegenüber.<br />

Die Familie ist überfordert mit der<br />

Bewältigung des Alltags. Die Kinder<br />

kommen häufig zu spät zur Schule, vergessen<br />

ihre Pflichtaufgaben. Schulanmeldungen<br />

und andere amtliche<br />

Pflichten werden nur nach mehrfacher<br />

Aufforderung erledigt.<br />

Die Mutter spricht kaum Deutsch, der<br />

Vater etwas besser. Zur Verständigung<br />

mit den Eltern ist meist ein Dolmetscher<br />

erforderlich.<br />

Um Susan also helfen zu können<br />

reicht eine pure sprachtherapeutische<br />

Behandlung nicht aus. Auch Deutschunterricht<br />

in Einzelförderung zeigt<br />

kaum Erfolg. Ebenso ist die ohrenärztliche<br />

Behandlung nur ein erster Schritt.<br />

Somit ist bei diesem Kind die »Gesundheitsförderung«<br />

gleichzusetzen mit<br />

aufsuchender Elternarbeit und dem<br />

Leben im Schulalltag. Erst auf dieser<br />

Basis können »Therapiemaßnahmen«<br />

wie Sprechübungen und Deutschförderung<br />

auf fruchtbaren Boden fallen.<br />

Mike<br />

Wenn Mike morgens die Klasse betritt,<br />

sieht man, dass er wieder erst um Mitternacht<br />

ins Bett gekommen ist. Er hat<br />

mit dem großen Bruder zusammen<br />

vor dem Fernseher gesessen. Mutter<br />

hat es nicht geschafft, ihn ins Bett zu<br />

bringen. So muss er erst mal auf den<br />

»Lesehimmel« und sich ausruhen. Mike<br />

ist 9 Jahre alt und lernt zögernder als viele<br />

seines Alters, aber er ist kein »Schlusslicht«.<br />

Er betreut sogar ein Patenkind,<br />

das gerade in die Schule gekommen ist.<br />

12 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />

Als Mike selbst noch Erstklässler war,<br />

hatte er noch viel Angst. Inzwischen<br />

ist er besonders eifrig, wenn es darum<br />

geht, seinem Patenkind die Furcht vor<br />

dem Wald zu nehmen. Dieser Erstklässler<br />

war nämlich noch nie im Wald und<br />

glaubt dort auf Tiger und Schlangen zu<br />

stoßen.<br />

Mike kennt die Regeln seiner Klasse ganz<br />

genau. Und er erklärt seinem Patenkind<br />

die Regeln in der Turnhalle. Oft hat Mike<br />

Streit mit anderen Kindern. Dann geht er<br />

wutschnaubend zum Klassenratbuch,<br />

trägt ein, was ihm der andere getan hat<br />

– und sein Ärger verfliegt meist erstaunlich<br />

schnell. Einige Tage später ist Zeit<br />

für ein ausführliches Gespräch im Klassenrat.<br />

Mike weiß auch, was auf dem Tagesprogramm<br />

steht. Wichtig für Mike ist, dass er<br />

über alle Vorhaben bereits morgens am<br />

Tagesplan informiert wird. Er ist durchaus<br />

in der Lage, Tätigkeiten zu bewältigen,<br />

die er nicht mag, wenn er zuvor<br />

erfahren hat, was auf ihn zukommt.<br />

»Inklusive Schule«<br />

Wie müsste eine allgemeine Schule,<br />

ein »Haus des Lernens« beschaffen<br />

sein, wenn sie Uwe, Mike und Susan<br />

zum Schulabschluss bringen könnte?<br />

Was hätten Uwe, Mike und Susan gebraucht,<br />

um sich trotz ihres belasteten<br />

privaten Lebens positiv entwickeln zu<br />

können? Unter welchen schulischen<br />

Bedingungen hätten sie im Unterricht<br />

Fortschritte erzielt und ein verantwortungsbewusstes<br />

Leben lernen können?<br />

Zuerst einmal stabile Beziehungen<br />

zu förderlichen Menschen, durchschaubare<br />

und feste Strukturen und schließlich<br />

das konsequente und umgehende<br />

Reagieren auf Fehlverhalten.<br />

Eine Schule, die dies leisten kann,<br />

sagt nicht: »Du gehörst hier nicht hin!«<br />

Jeder ist willkommen, der in der Nähe<br />

wohnt: Inklusive die »Schwachen«,<br />

»Schwierigen«, »Hochbegabten«, »Behinderten«<br />

oder »Roma« (ausführlicher<br />

siehe Stähling 2006). Eine solche humane<br />

oder »inklusive« Schule hat folgende<br />

Qualitätsmerkmale:<br />

1. Aufsuchende Elternarbeit als fester<br />

Bestandteil des Schulkonzepts: Unterstützt<br />

und in enger Kooperation mit<br />

Schulsozialarbeitern und Jugendhilfe<br />

bekommen Uwes Eltern (und die Eltern<br />

von Susan und Mike) Hilfe.<br />

2. Effiziente Klassenführung als Faktor<br />

der Unterrichtsqualität. Kennzeichen:<br />

n Regelsystem, das mit Uwe und seinen<br />

Mitschülern gemeinsam im<br />

Klassenrat erarbeitet wird.<br />

n Konsequente Reaktionen auf Regelverstöße<br />

im Sinne der Klassenrats-<br />

Verabredungen: Uwes Verhalten ist<br />

niemandem gleichgültig, er spürt<br />

umgehend die Konsequenzen seines<br />

Handelns.<br />

n Transparente Unterrichtsorganisation:<br />

Uwe, Susan und Mike können<br />

genau einschätzen, was von ihnen<br />

verlangt wird und welche Aufgaben<br />

auf sie zukommen. Sie können mitreden<br />

und mitbestimmen.<br />

n Zusammengehörigkeitsgefühl:<br />

Uwe, Susan und Mike werden ermutigt,<br />

aktive Beiträge zur Klassengemeinschaft<br />

zu leisten.<br />

3. Ganztägige Erziehung, in der Uwe,<br />

Mike und Susan stabile Strukturen für<br />

ihre Entwicklung und verlässliche Bezugspersonen<br />

finden.<br />

4. Kinder mit besonderem Förderbedarf<br />

in jede Klasse, ohne dass sie als<br />

»Sonderschüler« etikettiert werden<br />

(Inklusion).<br />

5. »Multiprofessionelle Teams« in jeder<br />

Klasse: Klassenlehrer, Fachlehrer,<br />

Sonderpädagogen sind gemeinsam für<br />

alle Kinder zuständig. Uwe kann weder<br />

abgewiesen, noch ausgesondert werden<br />

(Inklusion). Als Stützmaßnahme<br />

für das Team ist externe Supervision<br />

erforderlich.<br />

6. Eine einheitliche Schule von der<br />

Vorschule bis zur zehnten bzw. dreizehnten<br />

Klasse ohne Schulwechsel.<br />

Weil er in der Einrichtung bleibt, können<br />

Fördermaßnahmen und Kontakte<br />

ohne Unterbrechung fortgeführt werden.<br />

Heterogene und altersgemischte<br />

Klassen verzichten auf das Sitzenbleiben<br />

und bieten somit Uwe zusätzliche<br />

Chancen, sich in einer stabilen Gruppe<br />

zu erleben.<br />

Es gibt und gab eine Reihe reformpädagogischer<br />

Schulen oder Tagesheime,<br />

die viele dieser Qualitätsmerkmale<br />

erfüllen. Inklusive Schulen können<br />

»Treibhäuser der Zukunft« (Reinhard<br />

Kahl) sein. Verhaltensauffällige Kinder<br />

in allgemeine Schulen zu integrieren<br />

gilt heute unter Sonderpädagogen als<br />

sehr schwierig. 31 000 Schüler besuchen<br />

entsprechende Sonderschulen.<br />

Trotzdem gehen solche Kinder nicht<br />

überall in Sondereinrichtungen. Auch<br />

in Deutschland werden 12 000 Schüler<br />

Dr. Reinhard Stähling,<br />

Schulleiter einer Schule im<br />

sozialen Brennpunkt in Münster<br />

www.ggs-bergfidel.de<br />

mit sonderpädagogischem Förderbedarf<br />

im Bereich »Emotionale und soziale<br />

Entwicklung« in allgemeinen Schulen<br />

integriert. Erfolge sind empirisch<br />

belegt (vgl. Preuss-Lausitz/Textor<br />

2006). Fast 30 000 Schüler mit »Lernbehinderungen«<br />

lernen im Gemeinsamen<br />

Unterricht. Ausländische Schüler werden<br />

anteilmäßig häufiger als deutsche<br />

mit dem Etikett »lernbehindert« eingestuft.<br />

Wie ratlos und überfordert das<br />

deutsche Schulwesen ist, wird daran<br />

deutlich, wie unterschiedlich die einzelnen<br />

Bundesländer auf Folgen von<br />

Kinderarmut reagieren. So gehen »erziehungsschwierige«<br />

Kinder in Hamburg<br />

zu 100 % in die Allgemeinen Schulen,<br />

während sie in Rheinland-Pfalz<br />

zu 100 % in der Sonderschule lernen.<br />

Sachlogische und fachliche Gründe<br />

bestimmen offensichtlich nicht den<br />

Förderort. In einigen Bundesländern<br />

werden kaum ausländische Schüler mit<br />

sonderpädagogischem Förderbedarf in<br />

allgemeinen Schulen integriert, sondern<br />

diese Benachteiligten gehen fast<br />

alle in Sonderschulen. Anderswo ist es<br />

umgekehrt, sie besuchen mehrheitlich<br />

die allgemeinen Schulen. Wer weitere<br />

deutsche Kuriositäten dieser Art sucht,<br />

dem empfehle ich die Lektüre der KMK-<br />

Statistik (www.kmk.org).<br />

An den Kindern kann es nicht liegen!<br />

Wie lange können und müssen sich die<br />

vielen verantwortungsbewussten und<br />

engagierten Grundschulkolleg/innen<br />

noch an diesem Aussonderungssystem<br />

beteiligen?<br />

Literatur<br />

Hansbauer, Peter (Hrsg.): Entwicklung und Chancen junger Menschen<br />

in sozialen Brennpunkten. Bonn: Bundesministerium für Familie,<br />

Senioren, Frauen und Jugend 2000<br />

Preuss-Lausitz, Ulf / Textor, Annette: Verhaltensauffällige sinnvoll<br />

integrieren – eine Alternative zur Schule für Erziehungshilfe.<br />

In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 57, 2006, 1, S. 2 – 8<br />

Stähling, Reinhard: »Du gehörst zu uns« – Inklusive <strong>Grundschule</strong>.<br />

Ein Praxisbuch für den Umbau der Schule. Baltmannsweiler 2006:<br />

Schneider<br />

Die Kinderzeichnungen in diesem Beitrag sind dem neuen Buch des<br />

Autors entnommen.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

13


Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />

Schulversammlungen –<br />

Verantwortung für das Schulleben übernehmen<br />

von Inge<br />

Hirschmann<br />

Im Mittelpunkt der letzten Schulversammlung<br />

vor ein paar Tagen steht der<br />

Vorlesewettbewerb. Drei Jungen und<br />

drei Mädchen aus den beiden 6. Klassen<br />

präsentieren ein Buch ihrer Wahl,<br />

tragen als beste Vorleser/in ihrer Klassen<br />

den Mitschülern eine vorbereitete<br />

Textstelle vor und lesen anschließend<br />

auch noch einen fremden Text vor. Kinder<br />

aus den 5. Klassen und zwei Lehrerinnen<br />

bilden die Jury. Durchführung<br />

und Moderation der Schulversammlungen<br />

liegen allein in der Hand der<br />

Kinder der AG »Schulversammlung«.<br />

Vorlesewettbewerb<br />

als<br />

Schulversammlung<br />

für die<br />

Klassen 4 bis 6<br />

Unsere Ziele<br />

Schulversammlungen waren in unserem<br />

ersten schriftlichen Schulprogramm<br />

vor drei Jahren eines der ausgewiesenen<br />

Entwicklungsprojekte. Wir<br />

hatten dabei folgende Absichten:<br />

Die Kinder sollen<br />

n stärker für Stärken und Schwächen<br />

ihrer Mitschüler/innen sensibilisiert<br />

werden, mehr Verständnis aufbringen<br />

und tolerantes Verhalten zeigen,<br />

n ihre eigenen Fähigkeiten reflektieren,<br />

n erkennen, dass in der Schulgemeinschaft<br />

Werte existieren, die für ein demokratisches<br />

Zusammenleben wichtig<br />

sind,<br />

n erleben, dass praktizierte Verhaltensweisen<br />

wie zum Beispiel »Verantwortung<br />

übernehmen«, »Engagement<br />

für die Schulgemeinschaft zeigen«<br />

oder »anderen helfen« positive Anerkennung<br />

finden,<br />

n Verhaltensweisen lernen, die für das<br />

Zusammensein in größeren Gemeinschaften<br />

notwendig sind,<br />

n in Schulversammlungen beispielhaft<br />

»wirkungsvolles Präsentieren«,<br />

»einander zuhören«, »sich einordnen«,<br />

»zur Ruhe kommen« üben.<br />

Souverän interviewen inzwischen die<br />

Moderator/innen die Wettbewerbsteilnehmer<br />

über Lesegewohnheiten und<br />

Lieblingslektüren. Gekonnt führen sie<br />

durch das Programm. Selbst die schon<br />

wegen der Spannung so schwer zu ertragende<br />

15-minütige Pause – die Jury<br />

ermittelt unter Ausschluss der Öffentlichkeit<br />

die Sieger/innen – ist mit kurzweiligem<br />

Programm gefüllt. Es gibt<br />

Klaviermusik, türkische Jungen präsentieren<br />

einen selbstverfassten Rap<br />

und ein paar Mädchen führen einen<br />

witzigen Sketch vor, in dem die mit<br />

Händen zu greifende Spannung Thema<br />

ist. Auch die anschließende Ehrung der<br />

besten Leser/innen liegt ganz in der<br />

Verantwortung eines Moderators. Alle<br />

werden mit gut überlegten Worten<br />

gewürdigt und erhalten eine Rose. Die<br />

beiden Erstplatzierten erfahren besondere<br />

Würdigung und Anerkennung für<br />

ihre herausragenden Leseleistungen.<br />

Sie werden vom Publikum bejubelt, auf<br />

der Bühne finden spontan herzliche<br />

Umarmungen statt. Besser könnte<br />

eine Preisverleihung im Fernsehen<br />

auch nicht laufen.<br />

Eigentlich ist doch alles bestens: Kinder<br />

übernehmen Verantwortung für<br />

die Gestaltung ihres Schullebens, Lesen<br />

steht im Mittelpunkt, sehr gute<br />

Leistungen werden einer Schulöffentlichkeit<br />

präsentiert, die Anstrengung<br />

der Kinder wird belohnt.<br />

Wo ist das Problem?<br />

Nun, die Teilnehmer/innen des Vorlesewettbewerbs<br />

spiegeln nicht die<br />

Zusammensetzung unserer Schülerschaft<br />

wider. Trotz aller Bemühungen<br />

erreichen viel zu wenige Kinder mit<br />

Migrationshintergrund eine altersgerechte,<br />

mit den deutschsprachig aufgewachsenen<br />

Kindern vergleichbare<br />

Lesekompetenz. Folglich werden sie<br />

auch sehr viel seltener als Klassensieger<br />

für einen Vorlesewettbewerb auf<br />

der Schulebene benannt. Wie mögen<br />

sich die anstrengungs- und leistungsbereiten<br />

türkischen Kinder bei Veranstaltungen<br />

dieser Art fühlen? Wie sehr<br />

spornt es sie an, noch mehr Kräfte zu<br />

mobilisieren, um ihre Leistungen zu<br />

steigern, oder entmutigt es sie eher?<br />

An unserer Schule lernen in den 1. bis 6.<br />

Klassen 56 % Kinder mit einem nichtdeutschen<br />

Familienhintergrund. Im<br />

Gegensatz zur Situation der meisten<br />

benachbarten <strong>Grundschule</strong>n ist es uns<br />

gelungen, trotz des hoch belasteten<br />

Einzugsbereichs deutsche Kinder an<br />

unserer Schule zu halten. Statistiken<br />

können wir entnehmen, dass 10 % aller<br />

Kinder in der Bundesrepublik in relativer<br />

Armut aufwachsen; wir können<br />

aber davon ausgehen, dass 50 % unserer<br />

Kinder arme Kinder sind. Alljährlich<br />

steigt die Zahl der Familien, die<br />

von der finanziellen Beteiligung an den<br />

Lern- und Lehrmitteln ihrer Kinder befreit<br />

sind. Das Familieneinkommen ist<br />

entsprechend niedrig. Wir wissen auch<br />

von der hohen Arbeitslosigkeit in den<br />

Migrantenfamilien.<br />

14 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />

Keines der Kinder leidet Hunger und<br />

Durst. Aber wir wissen auch: Das reicht<br />

längst nicht mehr aus, um als Kind<br />

gleiche Bildungschancen zu haben. In<br />

manchen Familien hat sich Armut seit<br />

vielen Jahren verfestigt, das Aufwachsen<br />

dieser Kinder ist oft von Bildungsferne<br />

gekennzeichnet. Armut ist für<br />

unsere Schülerschaft ohne Zweifel ein<br />

nicht zu unterschätzender Risikofaktor<br />

für ihren Lebens- und Bildungsweg. Armut<br />

macht es den Kindern schwerer,<br />

selbstbewusst und freudig in die Zukunft<br />

zu blicken. In sozial belasteten<br />

Familien erfahren Kinder oft zu wenig<br />

emotionale Geborgenheit und Förderung.<br />

Die Folgen sind oft Störungen in<br />

der sozial-emotionalen Entwicklung,<br />

die dazu führen können, dass Kinder<br />

kein positives Selbstgefühl entwickeln.<br />

Es fehlt ihnen die eigene Wertschätzung<br />

und sie kompensieren dies<br />

durch Angebereien, einige auch durch<br />

aggressives Abgrenzen gegenüber vermeintlich<br />

Schwächeren.<br />

In den letzten Jahren beobachten<br />

wir eine zunehmende Tendenz, dass<br />

sich auch schon jüngere Schüler/innen<br />

in ihrer Freizeit Cliquen und Banden<br />

anschließen und darin einen Ersatz für<br />

das ihnen fehlende Gemeinschaftsund<br />

Zugehörigkeitsgefühl finden. Dort<br />

werden ihnen Werte vermittelt, die den<br />

Zielsetzungen und Grundsätzen für ein<br />

demokratisches Zusammenleben entgegenstehen:<br />

In unserm schulischen<br />

Umfeld prägen immer stärker Einordnung<br />

in Hierarchien und das Recht des<br />

– körperlich – Stärkeren das Zusammenleben.<br />

Wir sahen es deshalb als wichtige Aufgabe<br />

der Schule an, »einen Gegenpol<br />

zum Werteverfall und zu Verwahrlosungstendenzen<br />

im Umfeld der Kinder<br />

zu setzen«. So formulierten wir es damals<br />

in unserem Schulprogramm: »Es<br />

reicht aber nicht aus, ein Wertegefüge<br />

als Wissensgut zu vermitteln, sondern<br />

es muss im Schulalltag auch praktiziert<br />

und in seiner Wirksamkeit erlebt<br />

werden. Kinder müssen Merkmale für<br />

ein demokratisches, tolerantes, verantwortungsvolles<br />

und rücksichtsvolles<br />

Verhalten kennenlernen und selbst<br />

üben.«<br />

Seither führen wir pro Schuljahr<br />

– neben anderem – auch etwa 4 bis<br />

6 Schulversammlungen durch. Dazu<br />

treffen sich in der Regel für eine Stunde<br />

die Klassen 1 – 3 und anschließend<br />

die Schüler/innen der 4. – 6. Klassen.<br />

380 Kinder und 50 Erwachsene passen<br />

nun mal nicht in unsere Aula. Diese<br />

Vollversammlungen werden von einer<br />

AG »Schulversammlung« – türkisch<br />

und deutsch sprechende Kinder – mit<br />

Unterstützung ihrer Vertrauenslehrerin<br />

geplant, durchgeführt und beständig<br />

weiterentwickelt.<br />

Typische Inhalte und Themen<br />

Für alle Schüler/innen ist die Schulversammlung<br />

eine besondere Gelegenheit<br />

der Identifikation mit ihrer Schule und<br />

eine Stärkung des Gemeinschaftsgefühls<br />

über die Klasse hinaus. Die Mitglieder<br />

der AG »Schulversammlung«<br />

sind gleichzeitig auch die Schülervertreter/innen<br />

in der Schulkonferenz. Sie<br />

haben so die Möglichkeit, das Schulleben<br />

aktiv mitzugestalten und auch Einfluss<br />

auf schulinterne Entscheidungen<br />

zu nehmen.<br />

Typische Inhalte/Themen unserer Schülerversammlungen<br />

waren und sind:<br />

n Beiträge von Klassen und Arbeitsgemeinschaften<br />

unter dem laufenden<br />

Motto »Wir zeigen, was wir können«<br />

n Würdigung besonderer Leistungen<br />

(Vorlesewettbewerb, Bekanntgabe<br />

der Sieger von Sportveranstaltungen<br />

etc.)<br />

n Vergabe von konkreten Aufträgen<br />

an die Klassen als Projektauftakt<br />

(z. B. Stolpersteine beim Lernen beseitigen<br />

/ Malwettbewerb zur Schulhofgestaltung)<br />

n Stellungnahmen zu <strong>aktuell</strong>en Ereignissen<br />

(z. B. Ausstellungen, besondere<br />

Projekte)<br />

n Aufgreifen von gesellschaftspolitischen<br />

Ereignissen (z. B. Patenschaft<br />

zu einer von der Flutkatastrophe<br />

in Asien betroffenen Schule<br />

in Weligama/Sri Lanka)<br />

n neue Mitarbeiter (z. B. die neuen<br />

Erzieher/innen im neuen offenen<br />

Ganztagsbereich) vorstellen<br />

Die AG »Schulversammlung« greift<br />

gerne auch auf Elemente unserer Theaterarbeit<br />

zurück. So gab es schon<br />

Schulversammlungen, bei denen die<br />

Moderatoren in die Rolle von Aliens geschlüpft<br />

sind, um mit einem gespielten<br />

Blick von außen das Lernklima in den<br />

Die strahlende Schulsiegerin<br />

Vorlesewettbewerb 2006 – Juroren bei der Arbeit<br />

Klassen oder das Pausengeschehen zu<br />

kommentieren.<br />

Die Schule hat seit langem einen<br />

Schwerpunkt im musisch-kreativen Bereich.<br />

Die intensive Theaterarbeit hilft<br />

mit, eine nachhaltige und ganzheitliche<br />

Erziehung und Bildung für alle<br />

Kinder zu verwirklichen. Die Idee mit<br />

den Außerirdischen war dem Theaterstück<br />

»Fremde Welten« entliehen und<br />

die Kinder hatten sie wirkungsvoll<br />

in drei Schulversammlungen<br />

umgesetzt.<br />

Begonnen haben sie damit,<br />

Inge Hirschmann ist Rektorin<br />

der Heinrich-Zille-<strong>Grundschule</strong><br />

in Berlin (http://heinrich-zillegrundschule.de)<br />

und Vorsitzende<br />

der Berliner Landesgruppe<br />

des Grundschulverbandes.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

15


Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />

Außerirdische<br />

berichten auf einer<br />

Schulversammlung<br />

von ihren Beobachtungen<br />

in der Schule<br />

Zuschauer –<br />

gespannt,<br />

skeptisch,<br />

abwartend<br />

Vollversammlung<br />

der Klassen 1 bis 3<br />

dass die Aliens überraschend während<br />

einer Vollversammlung auftauchten<br />

und von ihren Beobachtungen im<br />

Unterricht und auf dem Pausenhof<br />

berichteten. Die Konfliktlotsen der<br />

Schule bekamen Gelegenheit, sich und<br />

ihre Arbeit vorzustellen. Alle Kinder erhielten<br />

den Auftrag, in ihren Klassen<br />

gemeinsam über die Beobachtungen<br />

der Außerirdischen nachzudenken. Sie<br />

wurden aufgefordert, Stolpersteine<br />

– Was hindert uns am Lernen? – in ihrer<br />

Klasse ausfindig zu machen und Ideen<br />

zu sammeln, wie man gemeinsam für<br />

eine Verbesserung der Lernatmosphäre<br />

sorgen könne. Es gab schriftliche<br />

Arbeitsaufträge, passend zugeschnittene<br />

graue und gelbe Pappen – in der<br />

Form von Steinen und Sternen – für die<br />

weitere Arbeit.<br />

In der darauffolgenden Schulversammlung<br />

brachten die Sprecher ihre<br />

beschrifteten Stolperstein- und Sternplakate<br />

mit und berichteten über ihre<br />

Erfahrungen in der Klasse und ihre Pläne,<br />

das Lernklima positiv zu beeinflussen.<br />

Sie gaben Auskunft zum Stand der<br />

Umsetzung der gemeinsam abgesprochenen<br />

Maßnahmen. Etwa zwei Monate<br />

später – zwischenzeitlich konnte<br />

man im Rahmen einer Ausstellung im<br />

Schulhaus die Plakate aller Klassen im<br />

Schulhaus nachlesen – berichteten<br />

Kinder über die Erfolge, aber auch über<br />

die besonderen Schwierigkeiten bei<br />

der Umsetzung. Wir alle erfuhren über<br />

positive Veränderungen, aber auch<br />

wie schwierig Verhaltensänderungen<br />

sein können. Eine Klasse hatte sich<br />

ein Barometer gebastelt, auf dem sich<br />

tagtäglich einstellen ließ, ob die Klasse<br />

beim selbständigen Arbeiten schon<br />

leiser geworden ist. Dieses Barometer<br />

zeigte aber über Wochen nicht die angestrebte<br />

Verbesserung. Wie mutig,<br />

dies in einer Schulversammlung vor<br />

allen zu bekennen und trotzdem den<br />

Beitrag zu beenden »Wir wollen es aber<br />

weiter versuchen.«<br />

Damals lag die Durchführung der<br />

Schulversammlung noch bei einem<br />

Lehrer. Inzwischen haben unsere<br />

Kinder den Beweis schon mehrfach<br />

erbracht, dass sie es sehr gut selbst<br />

können. Sie brauchen uns Erwachsene<br />

nicht mehr auf dem Podium.<br />

… und die Lehrerinnen<br />

und Lehrer?<br />

Umso mehr sind die Lehrer/innen im<br />

Vorfeld eingebunden. Die Hauptlast<br />

trägt eine Kollegin, die gleichzeitig<br />

Mitglied in der Schulkonferenz ist und<br />

die AG »Schulversammlung« der Schüler/innen<br />

leitet. Nach unserer innerschulischen<br />

Aufgabenverteilung trägt<br />

sie die Verantwortung für das Gelingen<br />

der Schulversammlungen, vier Kolleg/<br />

innen gehören zur Lehrerarbeitsgruppe.<br />

Zu ihren Aufgaben gehört es,<br />

n die im Schulprogramm festgelegten<br />

Ziele und Absichten umzusetzen,<br />

n die Schulversammlungen den schulischen<br />

Bedingungen anzupassen,<br />

n in Absprache mit den Kindern die<br />

Schwerpunktthemen festzulegen,<br />

n das Kollegium bei Bedarf einzubinden,<br />

n im Rahmen der Schulkonferenz die<br />

Eltern zu informieren,<br />

n die Kooperation mit den Fachkonferenzen<br />

zu pflegen sowie<br />

n die Schulversammlungen auszuwerten.<br />

Initiativen der Schüler/innen – noch<br />

so gut auf Schulversammlungen eingebracht<br />

– können leicht ins Leere<br />

laufen, wenn nicht alle Lehrer- und<br />

Erzieher/innen die dahinterstehenden<br />

Anliegen kennen und unterstützen. Die<br />

eine oder andere Dienstbesprechung<br />

mit den Lehrer/innen und Erzieher/innen<br />

wurde deshalb notwendig: Alle Erwachsenen<br />

sollten wissen, was geplant<br />

ist und welche Unterstützung sie ihren<br />

Kindern geben müssen. Zur Zeit arbeiten<br />

wir alle an einem neuen Regelwerk<br />

für die großen Pausen auf dem Schulhof.<br />

Noch werden viele Fragen unter<br />

den Erwachsenen ausgiebig diskutiert.<br />

Es sind die nur scheinbar einfachen<br />

Fragen wie: Nehmen wir Erwachsenen<br />

unsere Aufsichten ernst genug? Was<br />

muss konsequent von uns allen von<br />

allen Kindern eingefordert werden?<br />

Was soll passieren, wenn Kinder sich<br />

nicht an die Regeln halten? Und nicht<br />

zuletzt, wie binden wir die Kinder von<br />

Anfang an ein? Auf der nächsten Schul-<br />

Schüler als Moderatoren führen<br />

durch eine Schulversammlung<br />

versammlung wird dann dieses neue<br />

Thema, das jetzt hinter den Kulissen<br />

vorbereitet wird, schulöffentlich.<br />

Unsere Schulversammlungen bieten<br />

vielen Kindern vielfältige Gelegenheiten<br />

zu zeigen, was sie können. Aber<br />

machen wir uns nichts vor: Es braucht<br />

mehr, um Chancengerechtigkeit für<br />

arme Kinder – insbesondere für Kinder<br />

mit Migrationshintergrund – zu<br />

erreichen. Arme Kinder müssen sehr<br />

viel intensiver auf ihrem individuellen<br />

Bildungsweg gefördert werden. Solange<br />

den Berliner <strong>Grundschule</strong>n nicht die<br />

dazu notwendigen personellen und<br />

sächlichen Ressourcen zur Verfügung<br />

gestellt werden, wird sich an der Chancenungleichheit<br />

auch nichts ändern<br />

können.<br />

16 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />

Vier Jahre Schülerhilfe-Projekt in Halle (Saale)<br />

Kindliche Bildungsprozesse im Kontext von Armut – Studierende<br />

verstehen Kinder und Kinder verstehen sich gut mit Studierenden<br />

Wer in der Bundesrepublik ein Studium<br />

beginnen kann, beispielsweise ein Studium<br />

der Grundschulpädagogik, hat<br />

im Leben Glück gehabt. Sie bzw. er ist<br />

zumeist in einer bildungsnahen und<br />

sozial wie ökonomisch abgesicherten<br />

Familie aufgewachsen, hat die Hürden<br />

der Auslese in der Grund- und an den<br />

weiterführenden Schulen unbeschadet<br />

überstanden und kann während des<br />

Studiums zumeist mit der finanziellen<br />

Unterstützung durch die Eltern rechnen.<br />

Wer als Studienanfänger in die<br />

Hochschule eintritt, hat spätestens<br />

nach dem Verlassen der Grundschulzeit<br />

kaum je einen Mitschüler oder<br />

eine Mitschülerin aus einer armen Familie<br />

kennen gelernt.<br />

Armut und die Lebenssituation<br />

Studierender<br />

Die soziale Selektion, die nach dem<br />

Verlassen der <strong>Grundschule</strong> bei allen<br />

weiteren bildungsbiographischen<br />

Übergängen wirkmächtig ist, sorgt<br />

schließlich an den Hochschulen und<br />

Universitäten für eine weitreichende<br />

soziale Entmischung: Hier stellt Armut<br />

für die übergroße Mehrheit der<br />

Studierenden nicht ein reales Alltagsphänomen,<br />

sondern wohl eher ein<br />

Phänomen dar, das ab und zu durch<br />

die Medien geistert. Erinnert sei beispielsweise<br />

an die Diskussion um das<br />

so genannte »Prekariat«, die zum Beginn<br />

des Wintersemesters 2006/07<br />

knappe anderthalb Wochen öffentliche<br />

Aufmerksamkeit erregen konnte,<br />

bevor das Medieninteresse sich,<br />

ebenfalls nur kurzzeitig, dem Schicksal<br />

des zweijährigen Kevin in Bremen<br />

zuwandte. Dieses Kind war, wie etwa<br />

170 weitere Kinder in der Bundesrepublik<br />

im Jahr 2006, zu Hause infolge<br />

sozialer Desintegration und massiver<br />

Vernachlässigung gestorben. Armut<br />

tritt hier als monströser Ausnahmezustand<br />

mit katastrophalen Folgen in die<br />

öffentliche Wahrnehmung. In dieser<br />

Gestalt hat sie mit der Lebenssituation<br />

der allermeisten Studierenden nichts<br />

gemeinsam.<br />

Studierende der Grundschulpädagogik<br />

und auch Studierende der Sonderpädagogik<br />

haben darüber hinaus während<br />

des Studiums kaum hinreichend Gelegenheit,<br />

Armut als sozial- bzw. erziehungswissenschaftliches<br />

Thema zur<br />

Kenntnis zu nehmen. Dies ist aus drei<br />

Gründen außerordentlich problematisch:<br />

1. Personen, die sich in der Phase der<br />

professionellen Erstsozialisation befinden<br />

bzw. die in pädagogischen Arbeitsfeldern<br />

bereits professionell tätig<br />

sind, beurteilen andere Alltagspraxen<br />

und andere Wertorientierungen als die<br />

eigenen eher skeptisch. Vom eigenen<br />

Alltag und von den eigenen Wertvorstellungen<br />

stark abweichende Milieus<br />

werden mitunter einer moralischen<br />

Bewertung unterzogen oder biologistisch<br />

erklärt. So erinnert sich Jantzen<br />

(2002, 21) an die Wahrnehmung der<br />

Lebenswirklichkeit eines Schülers wie<br />

folgt: »Dass Harry, den sie alle den ›Pisser‹<br />

nannten, nicht lernen konnte, das<br />

lag nicht daran, dass Harry dumm war,<br />

sondern das lag daran, dass sie zu sechst<br />

in einem nicht richtig heizbaren Spritzenhaus<br />

auf dem Land gewohnt haben<br />

– das war ein Problem der Armut und<br />

nicht des Hirndefekts.« Grundlegende<br />

Wissensbestände über Armut und über<br />

die Auswirkungen von Kinderarmut auf<br />

kindliche Bildungsprozesse stellen somit<br />

die notwendige theoretische Reflexionsfolie<br />

dar, vor der Lehrerinnen und<br />

Lehrer auf die eigenen Alltagspraxen<br />

und Wertorientierungen als Vergleichgröße<br />

sowie auf moralische oder biologistische<br />

Bewertungsmuster zugunsten<br />

professionellen Wissens verzichten<br />

können.<br />

2. Armut ist kein Randproblem, Kinderarmut<br />

ebenso wenig. Zum Weltkindertag<br />

am 1. September des vergangenen<br />

Jahres machte der Kinderschutzbund<br />

mit einer bundesweiten Aktion darauf<br />

aufmerksam, dass zu diesem Zeitpunkt<br />

bereits 2,5 Millionen Kinder und<br />

Jugendliche in Deutschland in Armut<br />

lebten. In den alten Bundesländern<br />

ist durchschnittlich jedes zehnte Kind<br />

von Armut betroffen; in den neuen<br />

Bundesländern jedes vierte Kind. Und<br />

in ostdeutschen Großstädten lebt<br />

jedes dritte Kind in Armut. Die heutigen<br />

Studierenden der Grund- und<br />

Sonderschulpädagogik werden somit<br />

in ihrem künftigen Berufsleben auch<br />

Kinder und Jugendliche aus armen<br />

Familien unterrichten. Sie sind auf diese<br />

Schülerschaft jedoch nicht gut vorbereitet,<br />

denn kindliche Bildungsprozesse<br />

im Kontext von Armut sind kein<br />

zentrales Thema der meisten Studienund<br />

Prüfungsordnungen.<br />

3. Auch auf die <strong>Grundschule</strong>n in der<br />

Bundesrepublik trifft zu »dass … durch<br />

den sozialen Hintergrund bedingte<br />

Unterschiede beunruhigende Ausmaße<br />

annehmen« (Schwippert / Bos /<br />

Lankes 2004, 187). So heißt es an gleicher<br />

Stelle, dass »eine höhere Sozialschicht<br />

der Eltern bzw. der familiären<br />

Bezugspersonen mit höheren Bil-dungsabschlüssen<br />

und zudem auch besseren<br />

Einkommensverhältnissen zusammenhängt<br />

… Kinder hingegen, deren Eltern<br />

Berufe ausüben, die eher auf ein geringes<br />

Prestige verweisen, haben auch ein bildungsferneres<br />

Zuhause und verfügen<br />

auch ökonomisch über weniger Ressourcen«.<br />

von Ada Sasse<br />

Dr. ADA SASSE<br />

ist Juniorprofessorin<br />

für Sonder- und<br />

Sozialpädagogik<br />

an der Universität<br />

Erfurt.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

17


Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />

Das Schülerhilfeprojekt<br />

Ohne grundlegende Strukturveränderungen<br />

im Bildungssystem wird die<br />

Chancengerechtigkeit mit Blick auf<br />

Bildung für die Schülerinnen und Schüler<br />

aus sozial benachteiligten Familien<br />

nicht zu haben sein. Ebenso bedeutsam<br />

ist es jedoch, bei den Lehrerinnen<br />

und Lehrern professionelle Wissensbestände<br />

und pädagogische Haltungen<br />

zu entwickeln, um den Bildungsbedürfnissen<br />

dieser Kinder entsprechen<br />

zu können. Beides, der Erwerb professionellen<br />

Wissens und die Entwicklung<br />

pädagogischer Haltungen, beginnen in<br />

der 1. Phase der Lehrerbildung.<br />

Aus diesen Gründen wurde zum<br />

Wintersemester 2002/03 an der Universität<br />

Halle-Wittenberg (Frau Prof. Dr.<br />

Ute Geiling, Abt. Lernbehindertenpädagogik)<br />

in Kooperation der Universität<br />

Erfurt (Dr. Ada Sasse, Abt. Sonder- und<br />

Sozialpädagogik) ein Schülerhilfeprojekt<br />

ins Leben gerufen.<br />

An diesem Schülerhilfeprojekt nehmen<br />

jährlich bis zu 20 Studierende der<br />

Grundschul- bzw. Sonderpädagogik<br />

sowie 70 bis 80 Kinder der Stadt Halle<br />

(Saale) teil, die in sozial benachteiligten<br />

Familien aufwachsen und in den Klassenstufen<br />

1 und 2 an der <strong>Grundschule</strong><br />

gravierende Lernschwierigkeiten entwickelt<br />

haben.<br />

Jeweils zwei Studierende treffen sich<br />

über die Dauer eines Schuljahres einmal<br />

wöchentlich mit »ihrer« Spiel- und<br />

Lerngruppe, der maximal acht Kinder<br />

angehören. Nachdem Studierende und<br />

Kinder sich kennen gelernt haben, und<br />

neben Projekten, die sich der Freizeitgestaltung<br />

widmen, unterbreitet jedes<br />

studentische Zweiterteam einmal wöchentlich<br />

konkrete Förderangebote.<br />

Der wöchentlichen Kleingruppenarbeit,<br />

die jeweils im Oktober beginnt,<br />

gehen Hospitationen der Studierenden<br />

in den <strong>Grundschule</strong>n und Gespräche<br />

mit den Lehrerinnen und Hortnerinnen<br />

der Kinder voraus. Jeweils am Ende des<br />

1. und 2. Schulhalbjahres treffen sich<br />

Studierende, Lehrerinnen und Hortnerinnen,<br />

um sich über die Entwicklung<br />

der einzelnen Kinder jeder »Spiel-und<br />

Lerngruppe« auszutauschen. Kinder,<br />

die nach dem ersten Jahr im Schülerhilfeprojekt<br />

weiterhin Unterstützung<br />

benötigen, nehmen für ein weiteres<br />

Jahr am Projekt teil. Viele Studierende,<br />

die zum Start des Projektes Schwierigkeiten<br />

damit haben, sich nicht nur für<br />

ein, sondern für zwei Semester an der<br />

Mitarbeit zu verpflichten, entscheiden<br />

sich nach dem ersten Projektjahr ebenfalls,<br />

eine weiteres Jahr mitzuarbeiten.<br />

Die Stiftung »humalios« der Arbeiterwohlfahrt<br />

Halle zahlt jedem Studierenden<br />

für die Mitarbeit am Projekt eine<br />

monatliche Aufwandsentschädigung<br />

von 50 Euro; für jede Kleingruppe stehen<br />

darüber aus Stiftungsmitteln pro<br />

Schulhalbjahr weitere 50 Euro für Materialien,<br />

Lebensmittel usw. zur Verfügung.<br />

Durch diese Stiftung können<br />

außerdem Extrakosten für Ausflüge<br />

(Spaßbad, Weihnachtsmarkt, Zoobesuch<br />

usw.) zur Verfügung gestellt<br />

werden. Alle Kinder, die im Schülerhilfeprojekt<br />

gefördert werden, nehmen<br />

am Jahresende an einer großen Kinderweihnachtsfeier<br />

teil, die ebenfalls<br />

von »humalios« finanziert und von den<br />

Studierenden ausgerichtet wird. Die<br />

Studierenden verständigen sich mit<br />

»ihren« Kindern über Weihnachtswünsche;<br />

durch »humalios« kann für jedes<br />

Kind ein Weihnachtsgeschenk im Wert<br />

von 15 Euro ermöglicht werden.<br />

Durch die Kleingruppenarbeit, durch<br />

Ausflüge am Wochenende, durch<br />

Kontakte zu den Eltern oder zu anderen<br />

Sorgeberechtigen gewinnen die<br />

Studierenden einen genauen Einblick<br />

in die Lebensumstände der Kinder, in<br />

die Beschränkungen und auch in die<br />

Ressourcen, die in ihren alltäglichen<br />

Lebensumfeldern enthalten sind. Studierende<br />

lernen beispielsweise Kinder<br />

kennen, die im Winter ohne Strümpfe<br />

und in Schafanzughosen in die Schule<br />

kommen und die sich in der Kleingruppenarbeit<br />

nicht konzentrieren<br />

können, weil sie Hunger haben. Sie<br />

lernen Kinder kennen, die im ersten<br />

Schulbesuchsjahr zum ersten Mal mit<br />

Kinderbüchern in Berührung kommen<br />

und die keine Zootiere benennen<br />

können, weil sie noch nie im Hallenser<br />

Zoo gewesen sind. Zugleich lernen die<br />

Studierenden in diesem Projekt Kinder<br />

kennen, die sich gern anstrengen, die<br />

sich durch Lob und Ermutigung bestätigt<br />

fühlen und in den Spiel- und<br />

Lerngruppen Kompetenzen gewinnen<br />

und zu Arbeitsergebnissen gelangen<br />

können, die ihnen in der Schule einfach<br />

nicht zugetraut wurden.<br />

»Gewinner« sind im Schülerhilfeprojekt<br />

alle – die Kinder und die Studierenden:<br />

Die Kinder<br />

n kommen gern in die Spiel- und Lerngruppe,<br />

n finden sich in der Kleingruppensituation<br />

zurecht; sie finden Kinder, mit<br />

denen sie zusam-men spielen und ler-<br />

18 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />

nen möchten und sind an den Angeboten<br />

der Studierenden interessiert,<br />

n bringen ihre Interessen, ihre besonderen<br />

Fähigkeiten, aber auch ihren<br />

Kummer und ihre Schwierigkeiten in<br />

die Kleingruppe ein,<br />

n machen die Erfahrung, dass sie gern<br />

tüchtig sind und bestimmte Dinge besonders<br />

gut können,<br />

n zeigen Fortschritte beim Erwerb<br />

schriftsprachlicher und mathematischer<br />

Kompetenzen.<br />

Die Studierenden<br />

n setzen sich als professionelle Erwachsene<br />

zu Kindern ins Verhältnis<br />

(ohne dabei während der Arbeit von<br />

anderen professionellen Erwachsenen<br />

wie Lehrerinnen, Hochschulangehörigen<br />

oder Personen aus der zweiten<br />

Phase der Lehrerbildung kontrolliert<br />

und bewertet zu werden),<br />

n halten die Beziehung zu verschiedenen<br />

Kindern über die Dauer eines<br />

Schuljahres aufrecht und beobachten<br />

die Entwicklung jedes einzelnen Kindes<br />

sowie die Entwicklung der Beziehungen<br />

der Kinder untereinander genau,<br />

n lernen es, im Zweier-Team Verantwortung<br />

für die Gestaltung von Lernsituationen<br />

für eine Gruppe von bis zu<br />

acht Kindern zu übernehmen,<br />

n entwickeln angemessene Angebote<br />

für die Kinder in ihrer Kleingruppe;<br />

dabei sammeln sie Erfahrungen bei<br />

der Gestaltung von unterschiedlichen<br />

Lernsituationen wie Kleingruppen-,<br />

Einzel-, Projekt- und Freiarbeit, entwickeln<br />

und probieren verschiedene Materialien<br />

und Arbeitstechniken aus,<br />

n sammeln Eindrücke und Informationen<br />

über die sozialen und psychischen<br />

Aspekte der Kind-Umfeld-<br />

Beziehungen unter den Bedingungen<br />

sozialer Benachteiligung sowie über<br />

die Vorlieben, Fähigkeiten, Bedürfnisse<br />

und Schwierigkeiten der einzelnen Kinder,<br />

n erfahren, dass Nähe sowie Distanz<br />

in pädagogischen Beziehungen enthalten<br />

sind,<br />

n reflektieren ihre Arbeit im Schülerhilfe-Projekt<br />

(Beziehungen zu den<br />

Kindern, Wirksamkeit der Angebote<br />

für die Entwicklung der Kinder, Zusammenarbeit<br />

im Team, eigenes Lern- und<br />

Erfahrungsinteresse im Schülerhilfe-<br />

Projekt),<br />

n kommunizieren mit den verantwortlichen<br />

Lehrerinnen und Erzieherinnen<br />

und<br />

n dokumentieren ihre pädagogische<br />

Arbeit durch Tagebuch, Fotos, Videos,<br />

Portfolios.<br />

(vgl. Geiling 2006, 220)<br />

Die außerordentlich positiven Wirkungen<br />

des Schülerhilfeprojektes für<br />

die Kinder und für die Studierenden<br />

(vgl. Geiling 2006; Sasse 2006) überzeugen<br />

davon, dass vergleichbare Projektstrukturen<br />

eine notwendige Ergänzung<br />

der Ausbildung von Studierenden<br />

der Grund- bzw- Sonderpädagogik<br />

sind. Die derzeit an vielen Hochschu-<br />

len der Bundesrepublik stattfindenden<br />

Reformprozesse im Kontext der Einführung<br />

konsekutiver Studiengänge<br />

stellen eine bedeutsame Chance dar,<br />

solche Strukturen zu etablieren, die<br />

im Überschneidungsbereich zwischen<br />

theoretischer und praktischer Ausbildung<br />

liegen.<br />

Literatur<br />

Geiling, U.: Das Schülerhilfeprojekt Halle – ein universitäres Praxisprojekt<br />

als kompensatorisches Angebot für sozial benachteiligte<br />

Grundschulkinder. In: Sasse, A. / Valtin, R.<br />

(Hg.): Schriftspracherwerb und soziale Ungleichheit. Zwischen kompensatorischer<br />

Erziehung und Familiy Literacy. Berlin 2006 (218 – 229)<br />

Jantzen, W. / Feuser, G.: Behindertenpädagogik: Fragen der Zeit<br />

und zum ›Zeitgeist‹. Ein Interview vom 19. April 2001. In: Feuser, G. /<br />

Berger, E. (Hg.): Erkennen und Handeln. Momente einer kulturhistorischen<br />

(Behinderten-)Pädagogik und Therapie. Berlin, Verlag Pro<br />

Business<br />

Sasse, A.: Soziale Benachteiligung und Professionalität als Grundkategorien<br />

der Arbeit im Hallenser Schülerhilfeprojekt. In: Sasse,<br />

A. / Valtin, R. (Hg.): Schriftspracherwerb und soziale Ungleichheit.<br />

Zwischen kompensatorischer Erziehung und Familiy Literacy. Berlin<br />

2006 (230 – 239)<br />

Schwippert, K. / Bos, W. / Lankes, E.-M.: Heterogenität und Chancengleichheit<br />

am Ende der vierten Jahrgangsstufe in den Ländern der<br />

Bundesrepublik Deutschland und im internationalen Vergleich. In:<br />

IGLU. Einige Länder der Bundesrepublik im Vergleich. Münster 2004<br />

(165 – 190)<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

19


Dokumentation<br />

Standpunkt<br />

Zusammenarbeit von Elementar- und Primarbereich<br />

Zur Lage<br />

Kinder sind bildungsbedürftig und auf Erziehung<br />

angewiesen. Daraus leitet sich ihr Recht<br />

auf Bildung und auf förderliche Bedingungen<br />

für ihre Entwicklung ab. Dies ist die gemeinsame<br />

Verantwortung von Familie, Elementarerziehung<br />

und Schule.<br />

Da Entwicklungs- und Bildungsprozesse in<br />

starkem Maß von individuellen und sozialen<br />

Bedingungen abhängen, verlaufen sie von<br />

Kind zu Kind unterschiedlich. Auf die Heterogenität<br />

der Kinder müssen Kindertagesstätte<br />

und Schule eine adäquate Antwort finden, die<br />

auch aufeinander abgestimmt ist.<br />

Derzeit ist bei allen Bemühungen um Zusammenarbeit<br />

die Anschlussfähigkeit bundesweit<br />

nur unzureichend gelungen. Der Erfolg hängt<br />

häufig lediglich vom Engagement einzelner<br />

Beteiligter ab. Wirkungsvolle, nachhaltige Kooperation<br />

muss aber institutionalisiert und<br />

professioneller gestaltet werden.<br />

Erschwert wird die Kooperation durch die<br />

in Deutschland unterschiedliche Ausbildung<br />

und Besoldung, die auch Ausdruck der unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen Wertschätzung<br />

der Arbeit in der Kindertagesstätte und<br />

in der <strong>Grundschule</strong> ist. Zusätzlich trennend<br />

wirkt in den meisten Bundesländern die Anbindung<br />

an verschiedene Ministerien (Soziales<br />

und Bildung).<br />

Zudem nehmen noch zu viele der Kinder<br />

mit besonderem institutionellem Bildungsbedarf<br />

an den vorschulischen Bildungsmöglichkeiten<br />

nicht teil. Jedem Kind ab drei Jahren<br />

steht zwar nach dem Kindergartengesetz ein<br />

Kindertagesheimplatz zur Verfügung, jedoch<br />

ist der Elementarbereich in Deutschland nicht<br />

in die Bildungspflichtzeit einbezogen.<br />

Die tatsächliche Inanspruchnahme eines<br />

Kindergartenplatzes erfährt ihre Grenzen in<br />

der Kostenpflicht. Gerade Risikogruppen werden<br />

durch sie von den vorschulischen Bildungsangeboten<br />

noch zu häufig abgekoppelt.<br />

Der Grundschulverband fordert<br />

Gemeinsamkeit des Bildungsauftrags<br />

von Kindertagestätte<br />

und <strong>Grundschule</strong><br />

Nicht erst in der Schule werden soziale und<br />

emotionale Kompetenzen entwickelt, Sachund<br />

Umweltwissen erworben, beginnen das<br />

Mathematiklernen und der Schriftspracherwerb<br />

Kindertagesstätte und <strong>Grundschule</strong><br />

verbindet der Auftrag, tragfähige Bildungsgrundlagen<br />

zu schaffen, dabei die Unterschiedlichkeit<br />

der Kinder als Normalität wahrzunehmen<br />

und individuelle Lernwege zu<br />

unterstützen. Immer muss an Lernprozesse<br />

angeknüpft und Begonnenes weiter geführt<br />

werden. Um in diesem Sinne miteinander zu<br />

arbeiten, müssen sich beide Einrichtungen<br />

in ihrem Bildungsverständnis einander annähern,<br />

über Lerninhalte, Methoden und angestrebte<br />

Kompetenzen miteinander abstimmen.<br />

Verankerung von Kooperation<br />

in den Bildungskonzepten<br />

und in der Ausbildung<br />

Aufgabe von Familie, Kindertagesstätte und<br />

<strong>Grundschule</strong> ist, die jeweiligen Übergänge<br />

gemeinsam zu gestalten. Zum Wohl des einzelnen<br />

Kindes müssen miteinander Vereinbarungen<br />

über Grundlagen getroffen und ein<br />

jeweils individueller Weg gefunden werden.<br />

Diese Kooperation zwischen den Institutionen<br />

ist ein Gebot der Bildungsverantwortung.<br />

Dabei sollen einerseits die Spezifika der Institutionen<br />

zum Tragen kommen, andererseits<br />

soll die Anschlussfähigkeit in den individuellen<br />

Lern- und Entwicklungsprozessen gesichert<br />

werden.<br />

Schulanfang, die Nahtstelle zwischen der<br />

elementaren und der schulischen Bildung,<br />

bedeutet für alle Kinder einen wichtigen Einschnitt,<br />

verbunden mit einem Statuswechsel.<br />

Er beinhaltet für das Lernen der Kinder Neubeginn<br />

und Fortsetzung zugleich.<br />

Auf der Basis der bisherigen Erfahrungen<br />

sind Konzepte zur Zusammenarbeit zu entwickeln,<br />

veränderte Rahmenbedingungen zu<br />

schaffen und Ressourcen zur Verfügung zu<br />

stellen. Entsprechende Inhalte gehören in die<br />

Ausbildung des sozialpädagogischen Fachpersonals<br />

und in die Lehrerbildung. Eine Plattform<br />

für gleichwertige, von gegenseitiger<br />

Akzeptanz und Vertrauen geprägte, konkurrenzarme<br />

Kooperation ist zu erarbeiten.<br />

Über die Institutionalisierung der Kooperation<br />

werden die Institutionen ihre Arbeit<br />

zunehmend als individuelle Begleitung des<br />

Kindes begreifen, sich an dessen Lernentwicklung<br />

orientieren und die Heterogenität der<br />

Kinder annehmen können.<br />

Abbau struktureller Barrieren:<br />

Kindertagesstätten<br />

als Bildungseinrichtungen,<br />

gegenseitige Praktika<br />

und Hospitationen,<br />

höheres Ausbildungsniveau<br />

für Erzieher/innen<br />

Ohne die Eigenständigkeit der beiden Institutionen<br />

in Frage stellen zu wollen, ist die differente<br />

Ausgangslage und die in den letzten Jahren<br />

intensiv geführte Diskussion zur (Qualitäts-)<br />

Entwicklung von Kindertagesstätten und<br />

Schulen in den Blick zu nehmen. An der Nahtstelle<br />

Schulanfang muss über die pädagogische<br />

Zusammenarbeit und den Austausch<br />

über die individuellen Bedingungen eine fundierte<br />

Grundlage für den weiteren Lern- und<br />

Entwicklungsprozess des Kindes geschaffen<br />

werden.<br />

Um strukturelle Barrieren abzubauen, gilt<br />

es deutliche Zeichen zu setzen, etwa auch in<br />

Form erweiterter Möglichkeiten von Praktika<br />

oder Hospitationen in der jeweils anderen Institution.<br />

Grundlegender aber ist die notwendige<br />

Anhebung des Ausbildungsniveaus der Ausbildung<br />

von Erziehern und Erzieherinnen.<br />

Bildungsangebote vom<br />

3. Lebensjahr an, Bildungspflicht<br />

für Fünfjährige<br />

Angesichts nicht genutzter Bildungschancen<br />

im Elementarbereich muss die Bildungspflicht<br />

aller Kinder zumindest für das Jahr vor der Einschulung<br />

eingeführt werden, zudem ist der<br />

gesamte Besuch einer Kindertagesstätte kostenfrei<br />

zu halten.<br />

20 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Dokumentation<br />

Standpunkt Sprachenlernen in der <strong>Grundschule</strong><br />

Mehrsprachigkeit von Kindern fördern –<br />

mit Deutsch, Fremdsprache, Herkunftssprache<br />

Zur Lage<br />

Kinder im Grundschulalter begegnen bereits vor<br />

und während ihrer Schulzeit auf vielfältige Weise<br />

der Sprache. Ihre Lebenswirklichkeit ist nicht die<br />

muttersprachlich begrenzte Welt. Massenmedien<br />

und Freizeitverhalten, Wanderungsbewegungen<br />

zwischen Sprachräumen haben andere Sprachen<br />

und Kulturen zum Bestandteil außer- und innerschulischer<br />

Wirklichkeit der Kinder werden lassen.<br />

Hinzu kommt, dass durch das Zusammenwachsen<br />

Europas und der Welt die Kenntnis von<br />

Fremdsprachen an Bedeutung gewinnt.<br />

Sprachenlernen ist deshalb eine der zentralen<br />

Aufgaben von Schule, Sprachenkönnen hat eine<br />

Schlüsselfunktion für den Einzelnen wie für die<br />

Gesellschaft. Dazu gehören insbesondere Deutsch<br />

als vorherrschende Schul- und Gesellschaftssprache,<br />

Englisch als internationale Verkehrssprache,<br />

bei Kindern mit Migrationshintergrund die jeweilige<br />

Herkunftssprache sowie fakultativ weitere<br />

Sprachen. Jedes Kind muss künftig mehrsprachig<br />

sein und in der Gesellschaft sollten in der Summe<br />

so viele Sprachen wie möglich präsent sein.<br />

Schulen in Deutschland stellen bereits heute eine<br />

beachtliche Vielfalt von Sprachlernangeboten bereit,<br />

die auch von einem Teil der Kinder und Jugendlichen<br />

intensiv genutzt werden.<br />

Zunehmend bemühen sich Eltern darum, dass<br />

das Sprachenlernen schon in der <strong>Grundschule</strong><br />

ihren Bildungsinteressen als Eltern gerecht<br />

wird. Gleichzeitig ist unstrittig, dass viele Kinder<br />

– nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund –<br />

Defizite in der Beherrschung der deutschen Sprache<br />

haben. Die Gefahr besteht, dass die großen<br />

Unterschiede in der Sprachkompetenz von Kindern<br />

zum Zeitpunkt ihrer Einschulung sowie die<br />

Bereitstellung spezieller Sprachlernangebote für<br />

einen Teil der Kinder schon bei Schulbeginn zur<br />

sozialen Entmischung der Lerngruppen beitragen.<br />

Die <strong>Grundschule</strong> ist gemäß ihres Verfassungsauftrags<br />

aber keine Vorschule für besondere<br />

Bildungsgänge, sondern der allgemeinen<br />

grundlegenden Bildung verpflichtet. Dem haben<br />

auch das Sprachenangebot und die Sprachenfolge<br />

Rechnung zu tragen.<br />

Was bisher fehlt, ist der gesellschaftliche Konsens<br />

über für alle Kinder und Jugendliche geltende<br />

schulische Minimalstandards für das Sprachenlernen.<br />

Der Grundschulverband fordert<br />

Einheitliches Rahmenkonzept<br />

Sprachenlernen für alle Bundesländer<br />

Die Kultusministerkonferenz entwickelt und<br />

beschließt ein Rahmenkonzept für das Sprachenlernen<br />

aller Kinder und Jugendlichen innerhalb<br />

ihrer Pflichtschulzeit.<br />

Dabei hat sich die Förderung des Sprachenlernens<br />

der Kinder in den ersten sechs<br />

Schuljahren auf folgende Sprachen zu beziehen:<br />

Vorrangigkeit von Deutsch<br />

Vorrangig ist die Förderung in der deutschen<br />

Sprache, gerade auch für Kinder anderer Herkunftssprachen,<br />

aber auch für alle anderen<br />

Kinder, insbesondere für Kinder aus sprachlich<br />

wenig geförderten Milieus.<br />

Unerlässliche Voraussetzung für erfolgreiches<br />

Deutschlernen sind für diese Aufgabe<br />

entsprechend aus- und fortgebildete<br />

Lehrer(innen) und Erzieher(innen). Erforderlich<br />

ist eine verpflichtende Bildungszeit<br />

in der Kita mit situativem und explizitem<br />

Deutschlernen sowie der Verzicht auf aufwändige<br />

Sprachtests; im Umgang mit Kindern<br />

wird besser offensichtlich, wie Kinder<br />

weiter zu fördern sind.<br />

Schulen mit Kindern ohne hinreichende<br />

Deutschfähigkeiten brauchen zusätzliche<br />

Lehrerdeputate für ergänzende, den Regelunterricht<br />

unterstützende Förderung und<br />

dies ggf. über die <strong>Grundschule</strong> hinaus bis<br />

ans Ende der Pflichtschulzeit. Wichtig ist die<br />

Beachtung des fachsprachlichen Lernens in<br />

der <strong>Grundschule</strong>, der koordinierte Übergang<br />

in die Sekundarschulen mit Fortführung des<br />

fachsprachlichen Lernens und gegebenenfalls<br />

erforderliche Unterstützungen bis zum<br />

Ende der Pflichtschulzeit.<br />

Fremdsprache Englisch als<br />

international besonders wichtiger<br />

Kommunikationssprache<br />

Bei vielen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund<br />

besteht in der Schuleingangsphase<br />

jedoch die Notwendigkeit,<br />

vorrangig die Fähigkeiten in der deutschen<br />

Sprache zu fördern und hier die schriftsprachlichen<br />

Fähigkeiten zu entwickeln.<br />

Der Unterricht in Englisch hat demgegenüber<br />

zurückzustehen. Er sollte als regulärer<br />

Fremdsprachenunterricht mit kommunikativer<br />

Progression zumindest in Klasse 3 einsetzen.<br />

Die Lehrpläne der Sekundarstufe I sind<br />

auf die Lehrpläne für Englisch der <strong>Grundschule</strong><br />

abzustimmen.<br />

Wo in Bundesländern anstelle von Englisch<br />

eine andere Sprache in allen <strong>Grundschule</strong>n<br />

einer Region vermittelt wird, wie<br />

z. B. Französisch im Saarland, tritt diese<br />

Sprache in den Klassen 3 und 4 an die Stelle<br />

des Englischen. In diesen Ländern muss<br />

Unterricht in Englisch ab Jahrgangsstufe 5<br />

angeboten werden.<br />

Förderung in der (den) Herkunftssprache(n)<br />

der Kinder<br />

Grundsätzlich sind die Herkunftssprachen<br />

aller Kinder innerhalb der Schule aufzuwerten.<br />

Dazu gehört, dass diese Sprachen in<br />

der Schule – bis hin zum Abitur – den Rang<br />

»einer weiteren Fremdsprache« erhalten.<br />

Kinder mit Migrationshintergrund sollten<br />

– wo immer dies in vertretbaren Lerngruppen<br />

möglich ist – in ihrer Herkunftssprache<br />

schulisch gefördert werden. Darüber hinaus<br />

müssen insbesondere an <strong>Grundschule</strong>n in<br />

sozialen Brennpunkten Pädagoginnen und<br />

Pädagogen tätig sein, die eine der häufigen<br />

Migrationssprachen beherrschen. Die Eltern<br />

der Kinder mit anderen Herkunftssprachen<br />

sind darin zu unterstützen, ihre Kinder in deren<br />

Herkunftssprache zu fördern.<br />

Andere Sprachen<br />

als Begegnungssprachen<br />

Schon in Kitas und in der Schuleingangsphase<br />

können Englisch und andere Sprachen<br />

einbezogen werden, z. B. die Herkunftssprachen,<br />

die in der Schule durch Kinder präsent<br />

sind, oder Sprachen des Nachbarlandes als<br />

Begegnungssprachen in kommunikativen<br />

Sprachlernkonzepten. Dies öffnet früh das<br />

Tor zu anderen Sprachen, es schärft Interesse<br />

und die Wahrnehmung für andere Sprachen<br />

und die Freude am Umgang mit ihnen.<br />

Sprachenlernen trägt damit wesentlich zur<br />

interkulturellen Erziehung bei.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

21


Dokumentation<br />

Standpunkt Lehrerinnen- und Lehrerbildung<br />

Professionalität fordern und fördern<br />

Zur Lage<br />

In vielen Bundesländern fanden und finden<br />

einschneidende Reformen in der Lehrerinnen-<br />

und Lehrerbildung statt. Bundesweit<br />

werden verschiedene Modelle<br />

umgesetzt. Zwar ist die Bedeutung einer<br />

qualifizierten Ausbildung allgemein anerkannt,<br />

z. B. stellte die KMK 2005 fest: »Für<br />

die Qualität des Schulunterrichts ist die<br />

Qualität der Lehrerbildung von wesentlicher<br />

Bedeutung. Dennoch werden bei<br />

den derzeitigen Veränderungen bekannte<br />

strukturelle und inhaltliche Probleme oft<br />

zu wenig berücksichtigt, z. B.<br />

n mangelnde Orientierung am Berufsfeld,<br />

n einseitige Konzentration auf die fachwissenschaftliche<br />

Ausbildung,<br />

n Vernachlässigung der didaktisch-methodischen<br />

Qualifizierung,<br />

n fehlende Gleichstellung der Lehrämter,<br />

n unzureichende Verbindung der Ausbildungsphasen.<br />

Eine veränderte Lehrerinnen- und Lehrerausbildung<br />

kann nicht nur mit den derzeitigen<br />

Strukturveränderungen der Universitäten<br />

begründet werden (Bologna:<br />

Bachelor-/Master-Struktur als Folge der<br />

europäischen Angleichung). Die Gründe<br />

für eine Veränderung sind vielfältiger:<br />

sich verändernde Lebensbedingungen von<br />

Kindern und Jugendlichen, heterogene<br />

Schülerschaft in allen Schulstufen und<br />

Schularten, steigende Erwartungen an die<br />

Unterrichts- und Erziehungsqualität sowie<br />

Ergebnisse internationaler und nationaler<br />

Schulleistungsstudien.<br />

Zudem sind die Ergebnisse der Lehrerbildungsforschung<br />

zu berücksichtigen:<br />

Lehrerinnen und Lehrer benötigen neben<br />

Fach-, Methoden- und Medienkompetenz<br />

weitere Kompetenzen in sozialer, kommunikativer<br />

und diagnostischer Hinsicht,<br />

sowie Förder-, Beratungs- und Innovationskompetenz<br />

auf der Basis wissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse. Aufgaben der<br />

Schulentwicklung und Schulprofilbildung<br />

erfordern außerdem qualifizierte Teamarbeit<br />

mit allen pädagogischen Fachkräften<br />

an der Schule.<br />

Der Grundschulverband fordert<br />

Die Ausbildung für alle Lehrkräfte:<br />

wissenschaftlich,<br />

gleich lang, gemeinsam<br />

Die Ausbildung muss für die Lehrerinnen<br />

und Lehrer aller Schulstufen wissenschaftlich,<br />

gleich lang und gemeinsam sein – mit<br />

schulstufenbezogenen Schwerpunktsetzungen.<br />

Das Studium findet an Universitäten<br />

statt. Nur Masterabschlüsse sind<br />

qualifizierend für die anspruchsvolle und<br />

verantwortungsvolle Tätigkeit als Lehrer/<br />

in.<br />

Einrichtung von zwei Lehrämtern<br />

mit stufenspezifischen Schwerpunkten<br />

Einzurichten sind zwei gleichwertige und<br />

gleich besoldete Lehrämter, eines für die<br />

Grund- und Mittelstufe (Jahrgangsstufe<br />

1 – 0), das andere für die Mittel- und Oberstufe<br />

(Jahrgangsstufe 5 – 12/13). Das Studium<br />

hat neben gemeinsamen Studienanteilen<br />

in den Fächern, den Fachdidaktiken<br />

und der Erziehungswissenschaft auch<br />

schulstufenspezifische Schwerpunkte.<br />

Kooperation der drei Phasen<br />

der Lehrerbildung<br />

Die drei Phasen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung<br />

(Studium, Referendariat, Fortund<br />

Weiterbildung) sind institutionalisiert<br />

und inhaltlich miteinander zu verknüpfen.<br />

Ausbildung individueller<br />

Kompetenzprofile<br />

In allen drei Phasen müssen zum Erwerb<br />

individueller Kompetenzprofile Angebote<br />

vorhanden sein. Kompetenzen werden in<br />

Portfolios dokumentiert und bei Einstellungen<br />

und Laufbahnentscheidungen berücksichtigt.<br />

Wissenschaftliche Begleitung<br />

der Reform<br />

Angesichts der <strong>aktuell</strong>en Veränderungen<br />

im Bereich der Lehrerbildung, vor allem in<br />

der ersten Phase, müssen die Reformbemühungen<br />

wissenschaftlich begleitet und<br />

evaluiert werden.<br />

Zu den drei Phasen der Lehrerbildung<br />

Erste Phase (Studium):<br />

Grundständige und konsekutive Bachelor-Master-Modelle<br />

müssen erprobt und evaluiert werden. Beide genügen<br />

denselben Anforderungen und Kriterien wie z. B. Verbindlichkeit<br />

und Vernetzung der Bereiche. Eine bundesweite Anerkennung<br />

der verschiedenen Modelle muss gewährleistet<br />

sein, damit auch künftig Studierende in und nach der ersten<br />

Phase die Hochschule oder das Bundesland wechseln<br />

können.<br />

Zu Beginn des Studiums findet für alle Lehramtsstudierenden<br />

eine wissenschaftlich begleitete Orientierungsphase<br />

in der Schule statt, in der sie ihr künftiges Berufsfeld<br />

erkunden und ihre Berufswahlentscheidung überprüfen<br />

können. Ein dadurch erworbener reflexiver Theorie-Praxis-<br />

Bezug ist Grundlage für das wissenschaftliche Studium. Im<br />

BA-/Grundstudium muss ein qualifizierter Berufsfeldbezug<br />

hergestellt werden. Lehrerbildungszentren an Universitäten<br />

haben die wichtige Aufgabe der Integration der verschiedenen<br />

Studienbereiche und ihrer Orientierung auf die<br />

spezifischen Erfordernisse von Lehramtsstudierenden.<br />

Im MA-/Hauptstudium zielt die Ausbildung auf eine vertiefte<br />

wissenschaftliche Qualifizierung und weiterhin auf<br />

einen reflexiven Praxisbezug. »Bildungswissenschaften«<br />

(KMK 2004) spielen eine zentrale Rolle im Studium. Sie<br />

enthalten neben gemeinsamen auch stufenspezifische Anteile.<br />

Die Fachdidaktik nimmt einen höheren Stellenwert als<br />

bisher ein.<br />

Wissenschaftlich begleitete Praktika erstrecken sich über<br />

die gesamte Dauer des Studiums. Lernformen wie forschungsorientierte<br />

Projektstudien oder Fallarbeit unterstützen<br />

die Ausbildung einer forschenden und reflektierenden<br />

professionellen Haltung.<br />

Zweite Phase (Referendariat /<br />

Vorbereitungsdienst):<br />

In der zweiten Phase werden in Seminar und Schule Grundlagen<br />

für eine breite und fundierte Theorie- und Praxisvernetzung<br />

erworben. Berufspraktische und reflektierte<br />

Handlungskompetenz stellt das Ziel der Ausbildung im<br />

Vorbereitungsdienst dar. Lehren und Lernen orientiert sich<br />

an Prinzipien der Erwachsenenbildung, Ausbildung erfolgt<br />

im Dialog und in Selbstverantwortung. Geeignete Schulen<br />

weisen sich durch ein Ausbildungsprofil aus, der Vorbereitungsdienst<br />

leistet dadurch auch einen wichtigen Beitrag<br />

zur Schulentwicklung.<br />

Dritte Phase (Fort- und Weiterbildung):<br />

In den ersten fünf Jahren der Berufstätigkeit, der Berufseingangsphase,<br />

werden Lehrerinnen und Lehrer in besonderer<br />

Weise durch Fortbildungs- und Supervisionsangebote sowie<br />

durch Arbeits- und Gesprächskreise unterstützt und<br />

gefördert.<br />

Die dritte Phase der Lehrerinnen und Lehrerbildung ist<br />

als postgraduale Phase verpflichtend und durch berufsbegleitende,<br />

individuelle und institutionelle Fort- und Weiterbildung<br />

gekennzeichnet. Weitere Qualifikationen für alle<br />

Lehrämter müssen ermöglicht werden. Für neue Tätigkeitsbereiche<br />

sind sie erforderlich.<br />

22 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Dokumentation<br />

Deutscher Schulpreis an eine <strong>Grundschule</strong><br />

Den ersten »Deutschen Schulpreis«<br />

überreichte Bundespräsident Horst<br />

Köhler im Dezember in Berlin an eine<br />

<strong>Grundschule</strong>:<br />

Die <strong>Grundschule</strong> Kleine Kielstraße<br />

in Dortmund erhielt den mit 50 000<br />

Euro dotierten Preis. »In einem<br />

schwierigen Umfeld verbindet sie pädagogische<br />

Leidenschaft mit professionellem<br />

Können und modernem Qualitätsmanagement«,<br />

begründete die<br />

Jury ihre Entscheidung.<br />

Die <strong>Grundschule</strong> hatte sich als<br />

eine der ersten Schulen in Deutschland<br />

ein Leitbild gegeben: zukunftsorientiertes<br />

Lernen, professionelle<br />

Zusammenarbeit im Kollegium,<br />

Elternarbeit, ganztägige Betreuung<br />

und Öffnung zum Stadtteil. Der Ausländeranteil<br />

an der Schule beträgt<br />

83 Prozent.<br />

Unter dem Motto »Es geht auch<br />

anders« hatten Robert Bosch Stiftung<br />

und Heidehof Stiftung gemeinsam<br />

mit den Medienpartnern stern<br />

und ZDF den Deutschen Schulpreis<br />

2006 erstmalig ausgeschrieben. 481<br />

Schulen hatten sich beworben.<br />

(Informationen: http://schulpreis.<br />

bosch-stiftung.de)<br />

In einem Brief gratulierte der Vorsitzende<br />

des Grundschulverbandes:<br />

Liebe Frau Schultebraucks-Burgkart, liebe Frau Thiel,<br />

sehr geehrte Mitglieder des Lehrerkollegiums,<br />

sehr geehrte Eltern, hallo Kinder<br />

der <strong>Grundschule</strong> Kleine Kielstraße in Dortmund,<br />

im Namen des Grundschulverbandes gratuliere ich Ihnen allen herzlich zum<br />

1. Schulpreis der Robert-Bosch-Stiftung. Wir freuen uns mit Ihrer Schule aus<br />

mehreren Gründen:<br />

– In der Konkurrenz zu vielen weiterführenden Schulen erhielt hier den Preis<br />

eine <strong>Grundschule</strong>. Das unterstreicht die Wertschätzung der Juroren, die sie<br />

der Entwicklungsleistung und der pädagogischen Qualität einer <strong>Grundschule</strong><br />

entgegenbringen. Das ist ja in Deutschland nicht verbreitetes Denken.<br />

– Hier erhielt mit Ihrer Schule eine Schule den Preis, die »in einem schwierigen<br />

Umfeld« wider allgemeinem Erwarten höchst erfolgreich arbeitet, wohl<br />

auch, weil sie die Kinder in ihrem Können und in ihrem Bildungsanspruch<br />

ernst nimmt und aus dieser Grundeinstellung ihre pädagogische Qualität<br />

entwickelt.<br />

– Zudem ist die Kleine Kielstraße als Schule Mitglied im Grundschulverband<br />

und dies befördert natürlich auch unsere Freude über den Preis.<br />

– Zuletzt, und dies kann ich ganz persönlich sagen, habe ich mit Ihnen,<br />

Frau Schultebraucks-Burgkart, und Ihnen, Frau Thiel, in Arbeitsgruppen des<br />

Schulministeriums Nordrhein-Westfalen sehr erfolgreich zusammen gearbeitet<br />

und hierbei auch Ihre pädagogische Kompetenz und Ihre förderliche und<br />

fordernde Zuneigung zu Kindern kennen lernen können. Das hat sich dann<br />

auch auf die Qualität unserer Arbeiten ausgewirkt. Hier spiegelte sich in Ihren<br />

Personen, was in der Preis-Begründung für die Schule hervorgehoben wurde:<br />

dass sich »pädagogische Leidenschaft mit professionellem Können« verbindet.<br />

Jawohl, das ist es.<br />

Ihnen und euch allen eine weiterhin so gedeihliche Arbeit.<br />

Horst Bartnitzky<br />

Vorsitzender des Grundschulverbandes<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

23


Diskussion<br />

Gegen den Dogmatismus<br />

Zum Echo auf Heft 96: Freies Schreiben<br />

von Anfang an – wichtig oder schädlich?<br />

von<br />

Ulrich Hecker<br />

Zahlreicher als sonst und teilweise<br />

heftig waren die Reaktionen auf unser<br />

letztes Heft. Die Zustimmung überwog<br />

bei weitem, zum Beispiel:<br />

»Vielen Dank für ein gelungenes<br />

Heft zu einem <strong>aktuell</strong>en Streit-Thema.«<br />

(Christian Kraus, Hanau)<br />

»DANKE! Dieses Heft war dringend<br />

nötig! Hoffentlich hilft es, die Verunsicherung<br />

wieder abzumildern, die der<br />

unsägliche SPIEGEL-Artikel gebracht<br />

hat bei Kolleginnen UND Eltern. Die<br />

Schulen … haben sehr unter dieser Störung<br />

gelitten. (Wolfhard Kluge, Gießen)<br />

»… was zu sagen mir nach der Lektüre<br />

eben heftig am Herzen liegt: Super.<br />

Gleichsam wie ein rettender Luftröhrenschnitt.«<br />

(Heide Bambach, Hamburg)<br />

Es gab aber auch empörte Briefe und<br />

gar einen Austritt im Zorn.<br />

Worum ging es<br />

und was empörte?<br />

»Kann jeder schreiben wie er will?« war<br />

der Angelpunkt einer aufgeregten Debatte<br />

in den Medien. Die Diskussion<br />

hatte sich an der angeblichen Laxheit<br />

entzündet, mit der in <strong>Grundschule</strong>n das<br />

Thema Rechtschreiblernen betrachtet<br />

werde. Und dies wurde vermengt mit<br />

dem Begriff des »Freien Schreibens«.<br />

Ziel unseres Heftes war, diese Diskussion<br />

auf eine sachliche Ebene zu<br />

bringen, aber auch die Funktionsweise<br />

solcher Medienkampagnen zu hinterfragen<br />

und sachlichen, informierten<br />

Journalismus einzufordern.<br />

Dabei war uns für den Grundschulverband<br />

ein Grundsatz wichtig:<br />

Ein kindgerechter Anfangsunterricht<br />

baut auf den Kompetenzen auf,<br />

die Kinder bereits in die Schule mitbringen,<br />

setzt Kinder frei für Entdeckungen<br />

in der »Welt der Schrift« und begleitet<br />

ihren Weg in die Schriftkultur. Dabei<br />

spielt die normgerechte Schreibweise<br />

von Anfang an eine Rolle. Wie das im<br />

Einzelnen zu geschehen hat, hierzu<br />

gehen die Meinungen und Methoden<br />

auseinander – und hier sollten Voraussetzungen<br />

geklärt und Kontroversen<br />

benannt werden.<br />

Von diesem Grundsatz her hatten<br />

wir vier Meinungen zu vier zentralen<br />

Fragen eingeholt, so dass ein Spektrum<br />

von Konzepten deutlich wurde (Heft<br />

96, S. 6 – 3). Mit Ute Andresen, Horst<br />

Bartnitzky, Hans Brügelmann und<br />

Erika Brinkmann hatten wir den Fibelautor<br />

Wilfried Metze zu Stellungnahmen<br />

eingeladen.<br />

Wilfried Metze ist ein entschiedener<br />

Gegner des Konzepts »Lesen durch<br />

Schreiben« von Jürgen Reichen und<br />

behauptete nun, alle anderen Artikel<br />

im Heft und damit der Grundschulverband<br />

insgesamt würden dieses<br />

Konzept vertreten, er selbst erhielte<br />

dadurch eine Außenseiterrolle als ein<br />

»ewig Gestriger«:<br />

»Ich habe soeben das <strong>aktuell</strong>e Heft<br />

überflogen und muss meinem Ärger<br />

Luft machen. Ich erwäge, den Grundschulverband<br />

zu verlassen. Die sog.<br />

Diskussion, zu der Sie mich gebeten<br />

hatten, ist nichts als ein Feigenblatt,<br />

unverblümt die einseitig auf Freies<br />

Schreiben ausgerichtete Haltung der<br />

im Verband dominierenden Gruppe erneut<br />

in die Lehrerschaft zu tragen. (…)<br />

Die inhaltliche Ausrichtung des<br />

Heftes ist eindeutig. Dass in der Diskussion<br />

innerhalb eines Beitrags auch abweichende<br />

Meinungen zu Wort kamen,<br />

wirkt im Gesamtrahmen eher wie ein<br />

Feigenblatt. Wieder – wie so oft – überwiegen<br />

die positiven, blumigen Schilderungen<br />

des Unterrichts, in dem Freies<br />

Schreiben eine zentrale Rolle spielt.<br />

Dass es Kritik an diesem Konzept<br />

gibt, wird auf die Schiene des Sensationsjournalismus<br />

geschoben, frustrierten<br />

Lehrerhasserinnen zugeordnet und<br />

in der reaktionären Ecke geortet.<br />

Der Grundschulverband hat sich (…)<br />

zu einem Instrument einer bestimmten<br />

didaktischen Richtung entwickelt.<br />

Abweichende Auffassungen werden als<br />

Aufgeregtheiten, Halbwahrheien, Fehlund<br />

Falschinformationen diffamiert,<br />

so wie Sie es in Ihrem Beitrag getan<br />

haben. Der Abstand zur Demagogie ist<br />

nicht mehr sehr groß.«<br />

Soweit Wilfried Metzes Wahrnehmung.<br />

Christian Kraus aus Hanau<br />

dagegen schrieb: »Die Darstellung<br />

einer Gegenposition wie der von<br />

Wilfried Metze finde ich wichtig und<br />

bereichernd, auch wenn er sich wohl<br />

hauptsächlich zum Ziel gesetzt hat,<br />

die Methode ›Lesen durch Schreiben‹<br />

in Misskredit zu bringen.«<br />

Unterdrückte Debatte?<br />

Was Wilfried Metze noch mehr erzürnte:<br />

Die Mit-Stellungnehmer Hans Brügelmann<br />

und Erika Brinkmann hatten<br />

eine wissenschaftliche Expertise zum<br />

derzeitigen Methodenstreit erarbeitet,<br />

die wir nicht in »<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>«,<br />

sondern auf unserer Homepage untergebracht<br />

haben (http://www.grund<br />

schulverband.de/forschung.html). Das<br />

Fazit der Expertise ist:<br />

Es gibt keine eindeutigen Belege<br />

dafür, dass die eine oder die andere<br />

Methode bessere und nachhaltigere<br />

Lernergebnisse erbringt, weil die Methode<br />

sich immer nur mit der jeweiligen<br />

Lehrperson realisiert und dies in<br />

einem komplexen Faktorengefüge von<br />

Klassenzusammensetzung, Vorerfahrungen<br />

der Kinder, Unterstützungen,<br />

Lehrstil, Anregungspotential der Lernumgebung<br />

und vielem anderen.<br />

Auch hierin sah Wilfried Metze eine<br />

einseitige Stellungnahme für »Lesen<br />

durch Schreiben«. Er kommentierte in<br />

roter Schrift in den Originaltext von<br />

Brügelmann/Brinkmann hinein und<br />

verlangte die Veröffentlichung dieser<br />

24 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


Diskussion<br />

durchkommentierten Fassung an gleicher<br />

Stelle.<br />

Dies lehnten wir ab, weil ein solch<br />

schulmeisterlicher Umgang mit einem<br />

Manuskript anderer Autoren von uns<br />

nicht akzeptiert werden kann. Wilfried<br />

Metze wurde angeboten, eine eigene<br />

Stellungnahme zu schreiben, die wir<br />

dann veröffentlichen wollten. Dies<br />

aber wollte Wilfried Metze erst einmal<br />

nicht, sondern bot an, seine Anmerkungen<br />

statt in rote in blaue Schriftfarbe<br />

zu setzen!<br />

Der Vorstand des Grundschulverbandes<br />

beschäftigte sich mit dieser Kontroverse<br />

und stellte fest, dass die Diskussionsbreite<br />

im Heft 96 der Meinungsbildung<br />

der Leserinnen und Leser diente,<br />

denen er nicht vorschreiben wolle, was<br />

sie zu meinen haben. Horst Bartnitzky<br />

schrieb im Auftrag des Vorstands<br />

an Wilfried Metze: »Dabei ist ja auch<br />

ohne jede Einschränkung Ihr Beitrag<br />

enthalten. Sie haben zudem zuvor die<br />

Beiträge der anderen drei Stellungnehmer<br />

erhalten. Insgesamt ist dies ein<br />

transparenter Prozess. Von Einseitigkeit<br />

oder gar der Unterdrückung kritischer<br />

Stimmen kann nun wirklich keine<br />

Rede sein. Die Positionen – die Ihre<br />

und andere – wurden deutlich und das<br />

war Zweck des Heftes.«<br />

Daraufhin erklärte Wilfried Metze seinen<br />

Austritt mit der Ankündigung weiterer<br />

Aktionen:<br />

»Selbstverständlich werde ich alles<br />

versuchen, die vom GSV unterdrückte<br />

Debatte über den Brügelmann / Brinkmann-Aufsatz<br />

in die Öffentlichkeit zu<br />

bringen. Der Grundschulverband beraubt<br />

sich mit einem derartigen Vorgehen<br />

jeglicher Glaubwürdigkeit und<br />

Seriosität.«<br />

Kurze Zeit später schickte Wilfried<br />

Metze dann doch einen eigenen Text<br />

zur Expertise. Und postwendend fanden<br />

sich seine – nach eigenen Worten<br />

– »pointiert gehaltenen« Anmerkungen<br />

auf der Homepage des Grundschulverbandes<br />

(siehe http://www.grund<br />

schulverband.de/forschung.html). Auf<br />

Metzes Homepage allerdings heißt es<br />

auch weiterhin:<br />

»Der Grundschulverband hat lange<br />

sich geweigert, meine Stellungnahme<br />

neben den Aufsatz von Brügelmann /<br />

Brinkmann zu stellen. Ein direkter Vergleich<br />

durch meine direkte Kommentierung<br />

innerhalb des Brügelmann /<br />

Brinkmann-Aufsatzes ist dem Leser<br />

durch die Ablehnung des GSVs leider<br />

nicht möglich« (http://www.wilfried<br />

metze.de/html/gsv.html).<br />

Festzuhalten bleibt:<br />

Der Grundschulverband folgt in allen<br />

seinen Veröffentlichungen nicht<br />

dem Konzept von Jürgen Reichens<br />

»Lesen durch Schreiben«. Unsere Position<br />

ist stattdessen: »Lesen und Schreiben<br />

im Zusammenspiel, einschließlich<br />

Rechtschreiben von Anfang an«.<br />

Dabei gibt es unterschiedliche Realisierungskonzepte<br />

(siehe z. B. die<br />

Beiträge in »Schatzkiste Sprache 1«,<br />

Band 104, dort auch eine Diskussion<br />

zwischen Jürgen Reichen und Heiko<br />

Balhorn). Wilfried Metze übersieht<br />

diese bedeutungsvollen Unterschiede<br />

und packt alles, was nicht von Beginn<br />

an normorientiert ist, in die Schublade<br />

»Lesen durch Schreiben«.<br />

Es gab übrigens auch eine Reihe von<br />

Reaktionen, die ihr Unverständnis darüber<br />

äußerten, dass Metze seine Auffassung<br />

in der Zeitschrift des Grundschulverbandes<br />

überhaupt kundtun<br />

durfte.<br />

Marion Lorber und Katrin Ströbl<br />

aus Dresden beispielsweise schrieben:<br />

»Mit Erstaunen, Verwunderung und<br />

abschließend Entsetzen haben wir die<br />

letzte Ausgabe der ›<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>‹<br />

gelesen. Wie ist es möglich, dass<br />

jemandem wie Herrn Metze darin so<br />

viel Raum zur Darstellung seiner offenbar<br />

völlig abstrusen Vorstellungen<br />

vom Unterrichtsalltag in Lesen-durch-<br />

Schreiben-Klassen, die den Namen verdienen,<br />

geboten wird? (…)<br />

Wir laden gern alle diejenigen in unsere<br />

Klassen ein, die immer wieder behaupten,<br />

›Lesen wäre bei Reichen verboten‹.<br />

Unsere Kinder finden in ihren<br />

Klassenzimmern vom ersten Schultag<br />

an mehr als einhundert Kinderbücher<br />

in vielen verschiedenen Leseniveaus<br />

vor. Keinem Kind ist es verboten, diese<br />

Bücher immer wieder zur Hand zu nehmen,<br />

sich von älteren Kindern vorlesen<br />

zu lassen – wofür es zusätzlich regelmäßige,<br />

festgelegte Zeiten gibt – oder<br />

selbst Leseversuche zu unternehmen,<br />

wenn es das von sich aus möchte. Tägliches<br />

Vorlesen durch die Lehrerin hat<br />

seinen Platz genauso wie Gespräche<br />

und das Schreiben zu den gelesenen<br />

Büchern.«<br />

Wir sind der Auffassung, dass dem<br />

Grundschulverband jede Form des<br />

Dogmatismus fremd sein sollte. Wir<br />

wollen vielmehr bei strittigen Themen<br />

durch unterschiedliche Meinungen zu<br />

professioneller Meinungsbildung der<br />

Mitglieder beitragen, Kontroversen benennen<br />

und klären sowie Gemeinsamkeiten<br />

fördern.<br />

Freies Schreiben ist mehr …<br />

Auf einen wichtigen Zusammenhang<br />

weist Michael Ritter, Autor des Beitrags<br />

»Freies und kreatives Schreiben«<br />

in Heft 96, in einer Zuschrift hin:<br />

»Mir liegt nun eine Tatsache doch<br />

recht schwer im Magen. Der Begriff<br />

›Freies Schreiben‹ wird im Heft als Begriff<br />

des Anfangsunterrichts Deutsch<br />

verwendet, der schwerpunktmäßig die<br />

Entwicklung wichtiger Einsichten in die<br />

Normsysteme der Schriftsprache im<br />

Blick hat, und diese nicht so sehr durch<br />

einen systematischen Vermittlungsund<br />

Übungsprozess entwickeln will,<br />

sondern der Annahme folgt, im freien<br />

Verwenden von Schriftsprache gleiche<br />

sich die Schreibung der Kinder – besonders<br />

die Orthographie – den gängigen<br />

Regelungen auf natürliche Weise an.<br />

Für mich – und darauf ist mein Artikel<br />

ja auch ausgerichtet – hat der Begriff<br />

eine völlig andere Bedeutung.<br />

Ich sehe im freien Schreiben keinen<br />

ausgemachten Begriff des Anfangsunterrichts,<br />

sondern der Schreibdidaktik,<br />

wobei diese natürlich auch in den Anfangsunterricht<br />

hineinreicht.<br />

Jedoch steht bei meinem Begriffsbild<br />

vom freien Schreiben nicht der<br />

Aufbau des Normsystems, sondern die<br />

Entwicklung des individuellen kindlichen<br />

Ausdrucks im Mittelpunkt.<br />

Es geht also viel mehr um das Eigene,<br />

das sich im Text artikuliert. Die<br />

Kinder sollen die Fähigkeit erlangen,<br />

sich durch Schriftsprache mitzuteilen,<br />

Inneres zu veräußerlichen, Schrift vielfältig<br />

zu nutzen. Das ist eine ganz andere<br />

Perspektive auf den Begriff.«<br />

Dem ist zuzustimmen. Wenn aber<br />

über freies Schreiben diskutiert wird,<br />

dann gehört der Zusammenhang zum<br />

Lesen und zum Rechtschreiben stets<br />

dazu. Genau dies bestimmte denn<br />

auch die Debatte des vorigen Jahres<br />

und das Thema unseres Heftes.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

25


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Bayern<br />

Vorsitzende: Dr. Gudrun Schönknecht, Berliner Allee 22d, 86153 Augsburg<br />

Arbeit in Regionalgruppen<br />

In Regionalgruppen versucht die<br />

Landesgruppe der Flächenstruktur<br />

des Bundeslandes entgegenzuwirken<br />

und ihrer Arbeit ein<br />

breites und praktisches Fundament<br />

zu geben. Momentan<br />

existieren drei Regionalgruppen,<br />

während eine vierte Gruppe<br />

gerade in Unterfranken gegründet<br />

wird.<br />

Regionalgruppe Augsburg<br />

sucht weitere MitarbeiterInnen<br />

Die Augsburger Gruppe wurde<br />

von Katja Entfellner als Studentengruppe<br />

an der Universität<br />

gegründet. Sie übernahm<br />

die Organisation von Bücherund<br />

Informationstischen bei<br />

Tagungen und Vorträgen. Durchgeführt<br />

wurden auch schon<br />

Workshops zu den Arbeitsschwerpunkten<br />

der Landesgruppe.<br />

Besonders freuen würde<br />

sich diese Gruppe auch über<br />

LehramtsanwärterInnen und<br />

LehrerInnen, die die Arbeit weiter<br />

bereichern würden. Arbeitsschwerpunkte<br />

werden gerade<br />

gemeinsam überlegt. Angedacht<br />

ist eine Vertiefung im Bereich<br />

der pädagogischen Leistungskultur.<br />

Kontakt: grundschulverband.<br />

augsburg@web.de<br />

Regionalgruppe Zukunftswerkstatt<br />

Cham<br />

Vor drei Jahren gründete Bianca<br />

Ederer mit Unterstützung der<br />

Schulrätin Melanie Heigl des<br />

Schulamtes Cham eine regionale<br />

Arbeitsgruppe. In einer Zukunftswerkstatt<br />

– daher auch der Name<br />

– wurden gemeinsame Ziele festgelegt.<br />

Zu Beginn lag der Schwerpunkt<br />

auf best practice Ideen im<br />

Bereich Richtig schreiben. Letztes<br />

Jahr plante das Team gemeinsam<br />

mit der Landesgruppe einen<br />

Grundschultag zur Thematik<br />

»Fördern und Fordern in einer<br />

pädagogischen Leistungskultur«,<br />

die viele LehrerInnen aus der<br />

Region und Grundschulverbandsmitglieder<br />

ansprach. In diesem<br />

Schuljahr liegt der Schwerpunkt<br />

auf dem Bereich Mathematik: Zu<br />

Beginn des Schuljahres traf sich<br />

die Gruppe zum Austausch von<br />

gelungenen Materialien. An Möglichkeiten<br />

kompetenzorientierter<br />

Lernbegleitung und Lernortbestimmungen<br />

wird weiter gear-<br />

beitet werden. Ideen aus bereits<br />

bestehenden Verfahren aus der<br />

Praxis der LehrerInnen und dem<br />

BLK-Projekt SINUS TRANSFER werden<br />

ausgetauscht, ausprobiert<br />

und weiterentwickelt. Kontakt:<br />

biancaederer@web.de<br />

Regionalgruppe Mittelfranken<br />

bereits fest etabliert<br />

In Mittelfranken hat sich die von<br />

Gabriele Klenk gegründete Regionalgruppe<br />

bereits etabliert.<br />

Ging es in ihrer Arbeit vor zehn<br />

Jahren um die Verbreitung eines<br />

entwicklungsorientierten Schriftspracherwerbs<br />

und anschließend<br />

um die Erarbeitung eines kompetenzorientierten<br />

Sachunterrichts,<br />

steht momentan die Beschäftigung<br />

mit dem Modul 1 des BLK<br />

Programms »SINUS TRANSFER«<br />

im Vordergrund. LehrerInnen entwickeln<br />

hierbei gerade gute Aufgaben<br />

im Mathematikunterricht<br />

und tauschen sich mit folgenden<br />

Zielen im Arbeitskreis aus:<br />

n Am Ende eine Sammlung an<br />

guten Aufgaben in allen mathematischen<br />

Bereichen zur Verfügung<br />

zu haben.<br />

n Eine Aufgabenart auf unterschiedlichen<br />

Niveaus in unterschiedlichen<br />

Klassenstufen<br />

durchgeführt zu haben.<br />

n Schülerergebnisse dazu mitzubringen.<br />

n Die Ziele, die die Lehrkraft mit<br />

diesen Aufgaben verfolgte, darzulegen.<br />

Kontakt: gabriele.klenk@<br />

t-online.de<br />

Landesgruppe plant<br />

Information per E-Mail<br />

Sollten Sie als Mitglied an <strong>aktuell</strong>en<br />

Informationen interessiert<br />

sein, so senden Sie bitte eine<br />

kurze E-Mail mit dem Stichwort<br />

»Aktuelle Informationen<br />

erwünscht« an gabriele.klenk@<br />

t-online.de<br />

(für die Landesgruppe: Bianca Ederer<br />

und Gabriele Klenk)<br />

5. Mai 2007,<br />

Grundschultag Landshut,<br />

Thema: »Fördern und<br />

Fordern in einer pädagogischen<br />

Leistungskultur«, genauere Informationen<br />

unter www.grundschulverband.de<br />

Berlin<br />

Kontakt: Ingrid Kornmesser, Kohlfurter Str. 4, 10999 Berlin; www.gsv-berlin.de<br />

Hohe Erwartungen<br />

an den Neuen<br />

Berlins neuem Schulsenator<br />

Zöllner (SPD), Import aus Rheinland-Pfalz,<br />

geht ein guter Ruf<br />

voraus. So wurde zum Beispiel<br />

dem Land Rheinland-Pfalz 2002<br />

für von ihm initiierte bildungspolitische<br />

Entwicklungen im Grundschulbereich<br />

der Politikpreis des<br />

Grundschulverbandes zuerkannt.<br />

Die Berliner Landesgruppe setzt<br />

deshalb hohe Erwartungen in<br />

Zöllners Wirken zugunsten<br />

der Berliner <strong>Grundschule</strong> und<br />

hat dies auch dem neuen Berliner<br />

Senator für Bildung, Wissenschaft<br />

und Forschung in einem<br />

Begrüßungsschreiben (www.gsvberlin.de)<br />

deutlich zu erkennen<br />

gegeben. Die Richtung der in<br />

Berlin für die <strong>Grundschule</strong>n eingeleiteten<br />

Reformen stimmt.<br />

Aber bei deren Umsetzung in<br />

eine »flächendeckende Alltagspraxis«<br />

stimmt vieles noch nicht.<br />

Hier haben die Berliner <strong>Grundschule</strong>n<br />

einen großen Nachholbedarf<br />

an verlässlicher Unterstützung<br />

durch Schulverwaltung<br />

und Schulträger.<br />

Wowereit redet Kreuzbergs<br />

Schulen schlecht<br />

Es stimmt: Kreuzberg gehört<br />

zu den sozial benachteiligten<br />

Ortsteilen Berlins mit besonders<br />

hoher Arbeitslosenquote.<br />

Kreuzbergs Erstklässler haben<br />

einen Ausländeranteil von über<br />

60% und gehören in allen untersuchten<br />

Kategorien zu Berlins<br />

Schlusslichtern, ob es sich um<br />

Motorik und Koordination, den<br />

Zustand der Zähne oder auch das<br />

Übergewicht der Kinder handelt.<br />

Öffentlich zu erklären, wie es<br />

der Regierende Bürgermeister<br />

Wowereit (SPD) jetzt tat, er<br />

würde seine Kinder, wenn er welche<br />

hätte, auch nicht in Kreuzberg<br />

zur Schule schicken, ist ein<br />

Skandal, eine Bankrotterklärung<br />

der Politik. Kreuzbergs <strong>Grundschule</strong>n<br />

gehören großenteils<br />

zu den innovativsten Schulen<br />

Berlins. Was oftmals fehlt, sind<br />

unerlässliche Rahmenbedingungen.<br />

Wir verlangen als Grundschulverband:<br />

Der Berliner Regierungschef<br />

hat hier für Abhilfe<br />

zu sorgen. Kreuzbergs Schulen<br />

müssen künftig als Nachteilsausgleich<br />

zu den bestausgestatteten<br />

Schulen Berlins gehören, auf die<br />

selbst Spitzenpolitiker gern ihre<br />

Kinder schicken.<br />

(für die Landesgruppe: Peter Heyer<br />

peterheyer@snafu.de)<br />

26 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Brandenburg<br />

Vorsitzende: Denise Sommer, Weinbergweg 21, 15834 Rangsdorf; www.gsv-brandenburg.de<br />

Chancen von ILeA in der <strong>aktuell</strong>en<br />

Debatte um Diagnostik<br />

und Leistungsförderung<br />

Die Rahmenlehrpläne für die<br />

<strong>Grundschule</strong> fordern explizit<br />

das Anknüpfen an individuelle<br />

Erfahrungen und Lernvoraussetzungen<br />

der Schülerinnen<br />

und Schüler. Dabei eröffnen<br />

individuelle Lernstandsanalysen<br />

als diagnostisch-pädagogische<br />

Instrumente eine besondere<br />

Perspektive. Zum Schuljahr<br />

2005/2006 wurden ein Leitfaden<br />

sowie ein Schülerarbeitsheft für<br />

die Jahrgangsstufe1 zum Einsatz<br />

in allen <strong>Grundschule</strong>n des Landes<br />

bereitgestellt. Mit Beginn dieses<br />

Schuljahres liegen weitere Materialien<br />

zu den individuellen Lernstandsanalysen<br />

(ILeA) vor. Zu<br />

den bisher entwickelten Publikationen<br />

von ILeA 2 – 6 gehören<br />

der ILeA-Leitfaden 2 – 6 sowie die<br />

dazu gehörenden Materialien. In<br />

der Jahrgangsstufe 2 beziehen<br />

sich die Analysen auf die Bereiche<br />

Lesen und Rechtschreiben, in<br />

den Jahrgangsstufen 3 – 6 auf<br />

den Bereich der Lesegeschwindigkeit.<br />

Materialien für weitere<br />

Analysen im Fach Deutsch sowie<br />

für Mathematik sind in der Erprobung<br />

und werden nachfolgend<br />

bereitgestellt.<br />

Das Material soll dazu beitragen,<br />

dass Lehrkräfte auf möglichst<br />

zeitsparende und praxistaugliche<br />

Weise die Lernausgangslagen<br />

der Kinder ihrer Klassen erfassen,<br />

verstehen und dokumentieren.<br />

Auf der Basis einer möglichst<br />

genauen Kenntnis der Lernausgangslage<br />

können individuelle<br />

Lernpläne entwickelt werden und<br />

ein effektiver Unterricht für alle<br />

Kinder gestaltet werden.<br />

Chancen von ILeA sehen wir<br />

vor allen Dingen darin, dass es<br />

zukünftig zum professionellen<br />

Handeln Brandenburger Grundschullehrkräfte<br />

gehören wird,<br />

kontinuierlich und systematisch<br />

Lernvoraussetzungen im Detail<br />

zu betrachten, Lernfortschritte<br />

zu beobachten und zu dokumentieren.<br />

Damit kann das einzelne<br />

Kind stärker in den Mittelpunkt<br />

der Überlegungen zur Gestaltung<br />

eines effektiven Unterrichtes<br />

rücken.<br />

Grundschullernen ist jedoch<br />

stets vielfältig und vielschichtig.<br />

Lernbeobachtung, Lerndokumentation<br />

und Lernberatung<br />

muss diese Vielfalt aufnehmen<br />

und über die jetzigen Inhalte der<br />

Lernstandsanalysen hinaus sinnvoll<br />

ergänzen.<br />

(für die Landesgruppe:<br />

Marion Gutzmann)<br />

Grundschultag zum<br />

Thema: Schulvisitation<br />

– Chance für Schulentwicklung<br />

?<br />

29. Mai 2007, 9.30 – 15 Uhr<br />

im LISUM Brandenburg<br />

Bremen<br />

Vorsitzende: Karin Sanders, Langenstr. 11, 28816 Stuhr; www.grundschulverband-bremen.de<br />

Mitgliederversammlung<br />

Oktober 2006<br />

Der Vorstand der Landesgruppe<br />

ist sehr froh über die positiven<br />

Entwicklungen für die Vorstandsarbeit.<br />

In der Jahresmitgliederversammlung<br />

haben sich Nina<br />

Bode-Kirchhoff, Dr. Ulrike<br />

Graf, Elke Grunwald und Ilona<br />

Rother bereit erklärt, langfristig<br />

im Vorstand mitzuarbeiten.<br />

Günter Griesch wird als Delegierter<br />

Bremens im Bundesverband<br />

tätig werden.<br />

Unterrichtsausfall in<br />

Bremer <strong>Grundschule</strong>n<br />

Nach Aussage des Senators<br />

für Bildung und Wissenschaft<br />

sind die Unterrichtsausfälle im<br />

Bereich der <strong>Grundschule</strong>n bedeutend<br />

geringer als in den übrigen<br />

Schulstufen. Es muss vermutet<br />

werden, dass die Statistik<br />

für <strong>Grundschule</strong>n nur deshalb<br />

so günstig ist, weil die Schulen<br />

verpflichtet sind, alle Kinder in<br />

der Zeit von 8.00 – 13.00 Uhr zu<br />

beschulen. Schulen lösen ihre<br />

Personalprobleme, indem<br />

n Doppelbesetzungen gestrichen<br />

werden,<br />

n Kinder auf andere Klassen aufgeteilt<br />

werden,<br />

n eine Lehrkraft zwei Klassen<br />

gleichzeitig beaufsichtigt,<br />

n Praktikantinnen oder Studentinnen<br />

Klassen beaufsichtigen,<br />

n die Schulleitung vertreten<br />

muss.<br />

Es stellt sich somit die Frage der<br />

Unterrichtsqualität, denn negative<br />

Auswirkungen werden verdeckt.<br />

Die den Schulen zugewiesene<br />

Geldressource hilft wenig,<br />

wenn von heute auf morgen eine<br />

Lehrkraft ersetzt werden muss.<br />

Die Landesgruppe fordert deshalb,<br />

dass Eltern über diese einschränkenden<br />

Maßnahmen<br />

informiert werden. Je nach individuellen<br />

Bedingungen einer<br />

Schule sollte die Wahl zwischen<br />

Geld- und Personalressourcen<br />

in die Entscheidung der einzelnen<br />

Schule gelegt werden. Die<br />

Landesgruppe hat sich mit einer<br />

Stellungnahme an den Senator<br />

für Bildung gewandt.<br />

Zentrum für schülerbezogene<br />

Beratung (ZfsB)<br />

Die Neustrukturierung dieses<br />

Zentrums löst bei den bisherigen<br />

Beratungsstellen große Sorge<br />

aus. In den neu einzurichtenden<br />

Regionalteams sollen »multiprofessionelle«<br />

Mitarbeiterinnen für<br />

alle Probleme Hilfe anbieten<br />

(z. B. Rechenschwierigkeiten,<br />

Lese-Rechtschreibprobleme,<br />

Suchtberatung usw.).<br />

Bewährte kompetente Beratungsstellen<br />

werden aufgelöst<br />

und viele dieser Lehrkräfte werden<br />

diese Arbeit nicht weiter<br />

leisten können, da von den 40<br />

zugewiesenen Stellen nur acht<br />

Lehrerstellen vorgesehen sind.<br />

Der Hauptanteil soll durch Psychologen<br />

besetzt werden.<br />

Mit Sorge verfolgt die Landesgruppe<br />

diese Entwicklung, da zu<br />

befürchten ist, dass die Unterstützung<br />

für die Probleme des<br />

einzelnen Kindes nicht ausreichend<br />

aufgefangen werden können.<br />

Ausbildung von Lehrerinnen<br />

und Lehrern in der ersten und<br />

zweiten Phase<br />

Mit Sorge verfolgt die Landesgruppe<br />

die Umsetzung der neuen<br />

Ausbildungsverordnung. Die<br />

<strong>Grundschule</strong>n fühlen sich überfordert,<br />

die Anzahl der in die<br />

Schule strömenden Studierenden<br />

und Referendarinnen/Referendare<br />

zu bewältigen und ihnen<br />

eine angemessene Ausbildung<br />

zuteil werden zu lassen. Für die<br />

freiwillige Qualifizierungsmaßnahme<br />

melden sich nur wenige<br />

Mentorinnen und Mentoren an.<br />

Viele Referendarinnen und Referendare<br />

beklagen, dass sie keine<br />

ausreichende fachliche Betreuung<br />

an den Schulen haben.<br />

Zudem wird es immer schwieriger,<br />

für die 2. Phase Ausbildungsschulen<br />

zu finden, weil die<br />

Referendarinnen/Referendare<br />

den Schulen in ihrer Stundenzuweisung<br />

angerechnet werden.<br />

Diesen Missstand hat die<br />

Landesgruppe bereits mehrmals<br />

bei der senatorischen Behörde<br />

angemahnt. Eine Antwort steht<br />

immer noch aus.<br />

Der Deutsche Schulpreis 2006<br />

Wir freuen uns, dass die Bremer<br />

<strong>Grundschule</strong> Am Pfälzer Weg,<br />

die auch Mitglied im Grundschulverband<br />

ist, für den Deutschen<br />

Schulpreis 2006 nominiert<br />

wurde.<br />

Herzlichen Glückwunsch!<br />

(für die Landesgruppe:<br />

Roswitha Kremin)<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

27


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Hamburg<br />

Kontakt: Susanne Peters, Güntherstraße 10 , 22087 Hamburg; www.gsvhh.de<br />

Eingangsklassen im kommenden<br />

Jahr wieder kleiner<br />

In diesem Jahr gab es Eingangsklassen<br />

mit bis zu 30 Kindern in<br />

Hamburg. Damit war Hamburg<br />

das Bundesland mit den größten<br />

Grundschulklassen. Für das kommende<br />

Schuljahr hat die Senatorin<br />

nun angekündigt, die Richtfrequenz<br />

zu senken. Vor allem in<br />

Stadtteilen mit vielen Risikoschülern<br />

sollen die Grundschulklassen<br />

ab dem kommenden Jahr spürbar<br />

kleiner werden.<br />

Die Landesgruppe begrüßt es,<br />

dass die Senatorin aus ihren Fehlern<br />

gelernt hat. Wir fragen uns,<br />

warum die Frequenz erst hoch<br />

gesetzt werden musste, um zu<br />

der Erkenntnis zu gelangen, dass<br />

Kinder in kleineren Klassen besser<br />

gefördert werden. Wir wünschen<br />

uns ein noch konsequenteres<br />

Vorgehen und wesentlich<br />

kleinere Klassen für alle Schulen.<br />

Englisch<br />

Im Oktober ereilte alle Hamburger<br />

Schulen eine Neuigkeit aus<br />

der Behörde für Bildung und<br />

Sport: In Englisch muss ab sofort<br />

eine Zensur in Klasse 3 und 4<br />

erteilt werden. Bislang war in<br />

Englisch im Grundschulbereich<br />

lediglich eine Verbalbeurteilung<br />

erforderlich, die sich nach Mei-<br />

nung aller Beteiligten bewährt<br />

hat. Wir bedauern, dass die Motivation<br />

der Kinder am Lernen der<br />

ersten Fremdsprache gemindert<br />

wird und wundern uns. Ob die<br />

Expertise des Grundschulverbandes<br />

wohl gelesen wurde?<br />

Neuer Vorstand<br />

der Landesgruppe<br />

Am Montag, dem 20.11.2006 fand<br />

unsere Mitgliederversammlung<br />

mit Vorstandswahlen statt. Dem<br />

neuen Vorstand gehören an:<br />

Susanne Peters, Maik Becker,<br />

Marion Lindner und Prof.<br />

Hubert Wudtke.<br />

Wer nicht kommen konnte und<br />

Informationen über den Vortrag<br />

von Frau Prof. Dr. Prengel zur<br />

Individuellen Lernstandsanalyse<br />

(ILeA) möchte, findet diese auf<br />

unserer Homepage unter der<br />

Rubrik »Aktuelles«:<br />

www.gsvhh.de<br />

(für die Landesgruppe: Susanne Peters<br />

susanne.peters@gsvhh.de)<br />

Hessen<br />

Anschrift: Ilse Marie Krauth, Steigerwaldweg 3, 63456 Hanau<br />

Und raus bist du …<br />

Zahlreichen Lehrerinnen und Lehrern<br />

der vierten Klassen werden<br />

in den nächsten Wochen vom<br />

hessischen Schulalltag eingeholt,<br />

wenn es darum geht Empfehlungen<br />

für die weiterführenden<br />

Schulen auszusprechen.<br />

Sie erleben, wie ihre bisherige<br />

engagierte Arbeit auf einen ganz<br />

einfachen Nenner gebracht wird:<br />

Sie werden plötzlich nur noch<br />

daran gemessen wird, wie »gymnasial«<br />

sie die Kinder gemacht<br />

haben. Sie werden konfrontiert<br />

mit einer hohen Erwartungshaltung<br />

der Eltern, die für ihre<br />

Kinder nach Möglichkeit diese<br />

Schulform anstreben. Stimmen<br />

Elternwunsch und Empfehlung<br />

der <strong>Grundschule</strong> nicht überein,<br />

sind Konflikte vorprogrammiert.<br />

Der Ton in Elterngesprächen und<br />

an Elternabenden ändert sich.<br />

Der Ruf nach umfangreichen<br />

Hausaufgaben und mehr Druck<br />

seitens der Schule wird laut.<br />

Nicht selten verlangen Eltern,<br />

dass der Leistungsdruck des<br />

Gymnasiums – ohne dass er in<br />

Frage gestellt wird – bereits im<br />

vierten Schuljahr praktiziert wird.<br />

Da werden Nachhilfelehrer engagiert<br />

und mehr oder minder sinnvolle<br />

Lernprogramme bearbeitet.<br />

Die Lehrerinnen und Lehrer<br />

erleben Kinder, die dem Druck<br />

nicht standhalten und mit Lernstörungen<br />

oder körperlichen<br />

Symptomen reagieren.<br />

Natürlich wünschen sich alle<br />

diese Eltern für ihre Kinder aus<br />

Sorge um deren Zukunft die<br />

bestmögliche Schullaufbahn. Sie<br />

sehen sich konfrontiert mit der<br />

frühen Selektion, dem Einsortieren<br />

in die Schubladen des dreigliedrigen<br />

Systems.<br />

Die Lehrerinnen und Lehrer<br />

stehen vor der Aufgabe, Begabungen<br />

der Kinder nach nur dreieinhalb<br />

Jahren zu erkennen, sie<br />

richtig einzuschätzen und eine<br />

für die Kinder weitreichende Entscheidung<br />

zu treffen.<br />

Stand bisher die Integration<br />

aller Kinder im Mittelpunkt ihrer<br />

Arbeit, sind sie nun gezwungen<br />

zu selektieren, wohl wissend,<br />

dass bei so jungen Kindern jede<br />

Prognose immer Unsicherheiten<br />

in sich birgt.<br />

Länger gemeinsam Lernen<br />

– mehr Lern- und Entwicklungszeit<br />

für alle Kinder – ist einer der<br />

Standpunkte des Grundschulverbandes.<br />

Auch in Hessen wollen<br />

wir ihn nicht aus dem Auge verlieren.<br />

(für die Landesgruppe: Ilse Marie Krauth)<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Vorsitzender: Ralph Grothe, Hasengang 3, 17309 Pasewalk<br />

Eine Schultüte für den Minister<br />

Im Dezember besuchte der Vorstand<br />

unserer Landesgruppe den<br />

neuen Bildungsminister Herrn<br />

Henry Tesch in Schwerin. Grundschulgerecht<br />

wurde er durch uns<br />

in seinem neuen Amt mit einer<br />

Schultüte begrüßt.<br />

Im Verlauf des gut zweistündigen<br />

Gesprächs standen an diesem<br />

Nachmittag viele Fragen.<br />

Welche Schwerpunkte will die<br />

neuen Landesregierung im<br />

Bereich der <strong>Grundschule</strong> setzen?<br />

Hier verwies der Minister auf die<br />

Koalitionsvereinbarungen, die<br />

vor allem auf die innere Entwicklung<br />

der Schule setzen will.<br />

Unser Verband wies auf Probleme<br />

hin, die <strong>Grundschule</strong>n in Ganztagsform<br />

haben.<br />

<strong>Grundschule</strong> mit festen Öffnungszeiten<br />

und Volle Halbtagsschulen<br />

kämpfen immer noch<br />

mit ungenügender Mittelzuteilung.<br />

So wurde von uns der Faktor<br />

zur Berechnung der Stunden<br />

für die Ganztagsformen kritisiert.<br />

Allein aus haushaltstechnischer<br />

Sicht ist es schwer, hier eine Verbesserung<br />

zu erreichen, so der<br />

Minister.<br />

Ein weiterer Punkt war der<br />

Umgang mit Ausfallstunden. Der<br />

Minister räumte ein, dass es hier<br />

zu Verzögerungen im Bereich der<br />

Zuweisung von Vertretungsstunden<br />

kommt, da oftmals der Weg<br />

durch die Instanzen eine schnelle<br />

Entscheidung verhindert.<br />

Ebenso viel Handlungsbedarf<br />

sieht unser Verband in der<br />

schnelleren Umsetzung des<br />

sonderpädagogischen Förderbedarfes<br />

für Kinder im Bereich LRS,<br />

Dyskalkulie und Verhalten. Diese<br />

Förderung muss unmittelbar an<br />

eine Diagnostizierung ansetzen.<br />

von links nach rechts: Herr Nickel, Grundschulreferent,<br />

Bildungsminister Herr Tesch, Ralph Grothe, Cornelia Dan<br />

28 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Niedersachsen<br />

Kontakt: Dr. Eva Gläser, Fasanenstr. 1, 38102 Braunschweig; www.gsv-nds.de<br />

Anmeldungen an weiterführende<br />

Schulen – Hauptschule<br />

vor dem Aus?<br />

Jedes Schuljahr zeigt es erneut:<br />

Die Hauptschule verliert für<br />

Eltern und SchülerInnen an<br />

Attraktivität. Im letzten Schuljahr<br />

waren im Landesdurchschnitt<br />

nur noch 16,5 % aller<br />

SchülerInnen des 5. Jahrganges<br />

an einer Hauptschule angemeldet<br />

worden. Zudem ist davon<br />

auszugehen, dass die Anmeldezahlen<br />

in Zukunft noch weiter<br />

sinken werden. Betrachtet man<br />

einzelne Regionen, so fällt die<br />

Bilanz noch drastischer aus:<br />

In Hannover lagen an 5 der<br />

14 Hauptschulen die Anmeldungen<br />

bei unter 10 SchülerInnen,<br />

an 2 Schulen lagen gar keine<br />

Anmeldungen vor. Und auch in<br />

der zweitgrößten Stadt Niedersachsens,<br />

in Braunschweig,<br />

sieht die Situation nicht anders<br />

aus. Aus diesem Grund ist nicht<br />

nur die Frage interessant, was<br />

aus der Hauptschule werden soll.<br />

Grundsätzlich gilt es zu hinterfragen,<br />

ob ein Übergang in ein<br />

dreigliedriges Schulsystem vor<br />

diesem Hintergrund noch vertretbar<br />

ist, zumal das bestehende<br />

System jährlich etwa 4000<br />

Schülerinnen und Schüler her-<br />

vorbringt, also rund 15 – 20 Prozent,<br />

die die Hauptschule ohne<br />

Abschluss verlassen.<br />

(für die Landesgruppe: Dr. Eva Gläser)<br />

Fachtagung »Alle reden<br />

von individueller Förderung<br />

– geht denn das?«<br />

Am Donnerstag,<br />

22. Februar 2007, veranstaltet das<br />

Niedersächsische Bildungsbündnis<br />

Niedersachsen, das seit vielen<br />

Jahren aktiv vom Grundschulverband<br />

mitgetragen wird, eine<br />

ganztägige Fachtagung. In den<br />

Räumen der Technischen Universität<br />

Braunschweig werden ab<br />

Uhr Referenten Antworten zu<br />

der Frage, »Wie kann schulische<br />

Bildung die Entwicklung der<br />

Kinder optimal unterstützen?«<br />

geben und dabei auch Erkenntnisse<br />

der psychologischen und<br />

schulpädagogischen Forschung<br />

näher erläutern. Unterschiedliche<br />

praxisnahe Workshops zum<br />

Thema werden am Nachmittag<br />

angeboten (Übergang Kindergarten<br />

<strong>Grundschule</strong>; schuleigene<br />

Förderpläne etc.).<br />

Mitgliederversammlung<br />

mit Vorstandswahlen<br />

Donnerstag,<br />

22. Februar 2007<br />

in Braunschweig von 17 bis 19 Uhr<br />

Weitere Informationen:<br />

www.gsv-nds.de<br />

Das Konzept für den Frühbeginnenden<br />

Fremdsprachenunterricht<br />

bildete den Abschluss des<br />

Gesprächs.<br />

Hier ist nun die Ausweitung des<br />

Fremdsprachenunterrichts auf<br />

3 Stunden ab Klasse 3 beschlossene<br />

Sache.<br />

Dabei ist in Zukunft auch der Einsatz<br />

von Sekundarstufenlehrerinnen<br />

und -lehrern in der <strong>Grundschule</strong><br />

geplant, da die Zahl der<br />

ausgebildeten Grundschullehrerinnen<br />

nicht ausreichend ist.<br />

Dies kann aber nicht zu Lasten<br />

der Kinder gehen. Eine andere<br />

methodische Herangehensweise<br />

ist für den Sekundarunterricht<br />

typisch, jedoch für die <strong>Grundschule</strong><br />

nicht geeignet.<br />

Unser Verband fordert weiterhin,<br />

dass dies nicht zur Absenkung<br />

der vertraglich festgelegten<br />

Stunden der Lehrkräfte im<br />

Grundschulbereich führen darf.<br />

Ein erfreuliches Thema zum<br />

Schluss. Der zentrale Grundschultag<br />

in Güstrow soll in diesem<br />

Jahr wieder stattfinden.<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

Vorsitzende: Gisela Cappel, Habichtstr. 1 d, 58285 Gevelsberg<br />

Mitgliederversammlung am<br />

28. 10. 2006 – Landesgruppe<br />

wählt neuen Vorstand<br />

Am 28. 10. 2006 fand in der Wartburgschule<br />

in Münster-Gievenbeck<br />

die diesjährige Mitgliederversammlung<br />

der Landesgruppe<br />

NRW statt. Sie stand unter dem<br />

Motto: ›Das neue Schulgesetz<br />

oder die moderne Schule –<br />

welche Gestaltungsspielräume<br />

bleiben für eine reformorientierte<br />

Grundschularbeit?‹<br />

Nach einem in die Thematik einführenden<br />

Eingangsreferat von<br />

Baldur Bertling hatten die Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmer<br />

Gelegenheit, die Räumlichkeiten<br />

und das pädagogische Konzept<br />

der Wartburgschule kennen zu<br />

lernen. Dabei wurde deutlich,<br />

dass die Entwicklung einer inneren<br />

Schulreform mit einem langen<br />

Atem, Mut und Engagement<br />

das erfolgreiche Lernen aller Kinder<br />

bewirken kann, dass das neue<br />

Schulgesetz aber in zentralen<br />

Punkten diese erfolgreiche Arbeit<br />

verhindert.<br />

Dies zeigte auch die nachfolgenden<br />

Diskussion zum Thema<br />

›Pädagogische Leistungskultur<br />

und frühe Notengebung‹, in<br />

der sich die Widersprüchlichkeiten<br />

und Unvereinbarkeiten<br />

der Gesetzesvorgaben mit einer<br />

von links: Christiane Mika, Helga Kleingeist-Poensgen, Kirsten Bartnitzky-Burg,<br />

Ute Rohrlack, Rosemarie Möhle-Buschmeyer, Gisela Cappel, Baldur Bertling,<br />

Beate Schweitzer und Gisela Gravelaer<br />

pädagogischen Leistungskultur<br />

fokussierten. Die Abschlussüberlegungen<br />

konzentrierten sich<br />

darauf, nach Möglichkeiten zu<br />

suchen, um die Arbeit des Grundschulverbandes<br />

noch stärker in<br />

die Öffentlichkeit zu bringen und<br />

die eigene Position gerade unter<br />

den gegebenen Rahmenbedingungen<br />

deutlich zu vertreten.<br />

Mit Heinz Wiemer und Gertraud<br />

Greiling schieden zwei langjährige<br />

und hochverdiente Gründungsmitglieder<br />

des Landesvorstands<br />

aus der aktiven Arbeit<br />

aus. In ihrer Abschiedsrede würdigte<br />

Gisela Cappel die Arbeit<br />

und das vielfältige Engagement<br />

der nicht mehr kandidierenden<br />

Vorstandsmitglieder und sprach<br />

beiden ein herzliches Dankeschön<br />

aus !<br />

Neugewählt wurden: Rosemarie<br />

Moehle-Buschmeier, Helga<br />

Kleingeist-Pönschen, Kirsten<br />

Bartnitzky-Burg, Christiane<br />

Mika. Wiedergewählt wurden:<br />

Cisela Cappel, Baldur Bertling,<br />

Gisela Gravelaar, Ute Rohrlack<br />

und Beate Schweitzer.<br />

In seiner Klausurtagung im<br />

Januar wird der neugewählte Vorstand<br />

seine Arbeitsschwerpunkte<br />

für das kommende Jahr definieren.<br />

Weitere Informationen: www.<br />

grundschulverband-nrw.de<br />

(für die Landesgruppe:<br />

Beate Schweitzer)<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

29


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Rheinland-Pfalz<br />

Anschrift: Werner Lang, Am Wingertsberg 8, 67756 Hinzweiler<br />

BLK-Projekt »Demokratie –<br />

leben und lernen«<br />

Der Landesverband unterstützt<br />

das Projekt »Demokratie – leben<br />

und lernen« von Beginn an. Es<br />

erscheint uns dringend notwendig,<br />

die Erkenntnisse über die<br />

Pilotschulen hinweg auf breiter<br />

Ebene bekannt zu machen.<br />

Ein Schritt dahin ist der Besuch<br />

aller Studienseminare des Landes<br />

zusammen mit der Leiterin des<br />

Projektes. Die ersten Veranstaltungen<br />

zeigten leider deutlich,<br />

welch geringen Stellenwert die<br />

Thematik in der Lehrerausbildung<br />

erst hat und wie wenig sich die<br />

LehramtsanwärterInnen bisher<br />

damit beschäftigten, gemessen<br />

an der Bedeutung. Bis alle verinnerlicht<br />

haben, wie wichtig das<br />

Einüben demokratischer Grundstrukturen<br />

schon in der <strong>Grundschule</strong><br />

ist, scheint es noch ein<br />

weiter Weg.<br />

Mathematische Frühförderung<br />

im Elementar- und Primarbereich<br />

Der Übergang von der Kindertagesstätte<br />

zur <strong>Grundschule</strong> ist<br />

eine entscheidende Phase im Kindesalter.<br />

Die Landesgruppe veranstaltete<br />

dazu in Zusammenarbeit<br />

mit dem Pädagogischen<br />

Zentrum zwei Fortbildungen. An<br />

beiden Veranstaltungen nahmen<br />

LehrerInnen und ErzieherInnen<br />

jeweils einer Verbandsgemeinde<br />

teil. Dabei wurde erörtert, welche<br />

mathematischen Vorerfahrungen<br />

die Kinder vor der Einschulung<br />

machen, wie sie schon im Kindergarten<br />

gefördert werden können<br />

und welche Formen der Zusammenarbeit<br />

notwendig sind, um<br />

den Übergang so problemlos wie<br />

möglich zu gestalten. Die Teilnehmer<br />

zeigten sich sehr zufrieden,<br />

dass Kindergarten und<br />

Schule an einen Tisch geführt<br />

wurden und die beiden Institutionen<br />

sehen in der weiteren<br />

Zusammenarbeit eine Zukunftsaufgabe.<br />

(für die Landesgruppe: Rainer Mies<br />

rmies@gmx.de)<br />

Grundschultag 2007<br />

am 13. März 2007 an der<br />

Universität Trier.<br />

»<strong>Grundschule</strong> auf dem<br />

Weg zur neuen Lernkultur –<br />

Schwerpunkt Sachunterricht«<br />

mit Grundsatzreferat von<br />

Prof. Dr. Helmut Schreier und<br />

zwei Workshoprunden. Nähere<br />

Informationen auf unserer<br />

Homepage: www.wl-lang.de<br />

Saarland<br />

Vorsitzende: Lilo Groll, Holbeinstr. 11, 66128 Saarbrücken<br />

Qualitätskontrollen an<br />

saarländischen <strong>Grundschule</strong>n<br />

Die Schulstrukturmaßnahmen<br />

an saarländischen <strong>Grundschule</strong>n,<br />

bei der 40 % der Schulen ihre<br />

Eigenständigkeit verloren haben,<br />

sind noch nicht abgeschlossen,<br />

da statten nun Schulinspektoren<br />

oder, wie sie jetzt heißen, Qualitätsberater<br />

den <strong>Grundschule</strong>n<br />

ihren Besuch ab. Nach Abschluss<br />

der nun angelaufenen Erprobungsphase<br />

sollen alle <strong>Grundschule</strong>n<br />

im Rhythmus von drei<br />

Jahren überprüft werden.<br />

Es ist schon sehr verwunderlich,<br />

dass das Bildungsministerium<br />

nur für die <strong>Grundschule</strong>n ein<br />

neues Programm zur Qualitätssicherung<br />

auflegt und die »PISA-<br />

Schulen« der Sekundarstufe I<br />

zunächst außen vor lässt, obwohl<br />

die internationalen Vergleichsstudien<br />

den <strong>Grundschule</strong>n ein<br />

recht gutes Zeugnis ausgestellt<br />

haben. Selbst in der Bewältigung<br />

der »Vielfalt« der Begabungsbreiten<br />

und im Umgang mit Kindern<br />

unterschiedlicher Kulturen<br />

zeigen sich nach Aussage der<br />

Kultusministerkonferenz »die<br />

pädagogischen Konzepte an den<br />

<strong>Grundschule</strong>n in einem höheren<br />

Maße altersmäßig und geeignet,<br />

heterogenen Lerngruppen<br />

gerecht zu werden und – damit<br />

zusammenhängend – Schülerinnen<br />

und Schüler individuell zu<br />

fördern.«<br />

Mittels Fragebögen, bei Unterrichtsbeobachtungen<br />

und in<br />

Gesprächen stehen vier Qualitätsbereiche<br />

zur Kontrolle<br />

an: Ergebnisse der schulischen<br />

Arbeit, der Unterricht, die Schulkultur<br />

und das Schulmanagement<br />

einschließlich der Qualitätsentwicklung.<br />

Zu kritisieren ist vor allem die<br />

Tatsache, dass eine klare Definition<br />

einer guten Schule fehlt,<br />

auf deren Basis als erster Schritt<br />

eine interne Evaluation verbindlich<br />

stattgefunden hätte. Zwar<br />

liegen »Richtlinien für die Arbeit<br />

in der <strong>Grundschule</strong>« aus dem<br />

Jahre 1987 vor, aber die angekündigten<br />

neuen Lehrpläne, insbesondere<br />

für die Fächer Deutsch<br />

und Mathematik auf der Basis<br />

der KMK-Bildungsstandards,<br />

sind noch in Arbeit. Somit bildet<br />

der vorliegende »Entwurf eines<br />

Orientierungsrahmens« den<br />

Ausgangspunkt der Qualitätssicherung,<br />

der die wichtigsten<br />

Kriterien für das Gelingen schulischer<br />

Arbeit auflistet und systematisiert.<br />

Nach Auffassung der<br />

Landesgruppe hätte dies an den<br />

Anfang der Qualitätssicherung<br />

gehört.<br />

Zur Qualitätsverbesserung<br />

gehört für die Landesgruppe aber<br />

vor allem die Verbesserung der<br />

Rahmenbedingungen. Immer<br />

noch sitzen zu viele Kinder in<br />

zu großen Klassen, in denen die<br />

Lehrkräfte die Beschäftigung mit<br />

dem Einzelnen kaum leisten können.<br />

Aber alle Kinder, sowohl die<br />

hoch begabten als auch die Kinder<br />

mit Entwicklungsstörungen,<br />

sind auf diese Hilfe angewiesen.<br />

Die anzuwendenden Messzahlen<br />

zur Klassenbildung berücksichtigen<br />

mit Ausnahme der Kinder<br />

ohne ausreichende Deutschkenntnisse<br />

weder die Kinder in<br />

Integrationsmaßnahmen noch<br />

Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten<br />

oder erheblichen Sprachstörungen.<br />

Bei der Klassenbildung<br />

gibt es anscheinend nur<br />

das »Einheitskind«.<br />

Die Landesgruppe fordert daher<br />

ein schrittweises Vorgehen:<br />

zunächst eine an den Förderbedürfnissen<br />

der Schülerinnen und<br />

Schüler orientierte Definition<br />

einer guten Schule, danach die<br />

interne Evaluation mit anschließenden<br />

Zielangaben einschließlich<br />

der daran angepassten Rahmenbedingungen<br />

und erst dann<br />

eine externe Evaluation mit dem<br />

Aufzeigen der Schwächen und<br />

Stärken – und nicht umgekehrt.<br />

30 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Sachsen-Anhalt<br />

Vorsitzende: Petra Uhlig, Wilhelm-Külz-Str. 14, 06108 Halle<br />

Neue Lehrpläne<br />

Mit Beginn des Schuljahres<br />

2005/06 wurden in Sachsen-<br />

Anhalt neue Lehrpläne in<br />

der <strong>Grundschule</strong> eingeführt,<br />

zunächst für die Klassenstufen<br />

1 und 3, in diesem Schuljahr nun<br />

für die Klassenstufen 2 und 4.<br />

Das Lehrplanwerk umfasst einen<br />

Grundsatzband und die Fachlehrpläne.<br />

Im Grundsatzband sind Leitideen<br />

für eine zeitgemäße Arbeit in<br />

der <strong>Grundschule</strong> formuliert, die<br />

von jeder Schule in ihr Schulprogramm<br />

eingearbeitet werden<br />

sollen. Die Aussagen dieser<br />

Leitideen decken sich durchaus<br />

mit entsprechenden Veröffentlichungen<br />

des Grundschulverbandes,<br />

allerdings wird an fest<br />

gefügten Strukturen nicht gerüttelt.<br />

So gibt es zum Beispiel keine<br />

Aussagen zur längeren gemeinsamen<br />

Lernzeit und zum gemeinsamen<br />

Unterricht. Weiterhin sind<br />

fünf verbindliche fächerübergreifende<br />

Themen festgeschrieben,<br />

die – schulintern geplant –<br />

gestaltet werden müssen. Dabei<br />

ist den Schulen freigestellt, in<br />

welchem Schuljahrgang welcher<br />

Schwerpunkt Vorrang hat.<br />

In den Fachlehrplänen steht nicht<br />

mehr der »Lehrstoff« im Mittelpunkt,<br />

sondern die Kompetenzentwicklung<br />

der Kinder. Dabei<br />

wird zwischen inhaltsbezogenen<br />

und prozessbezogenen Kompetenzen<br />

unterschieden. Die zu<br />

erreichenden inhaltsbezogenen<br />

Kompetenzen sind für die Schuljahrgänge<br />

2 (Ende der Schuleingangsphase)<br />

und 4 (Ende der<br />

Grundschulzeit), die zu erreichenden<br />

prozessbezogenen als<br />

Endniveau Klasse 4 formuliert. In<br />

schulinternen Lehrplänen müssen<br />

nun die konkreten schulischen<br />

Bedingungen mit den<br />

Anforderungen der Lehrpläne verknüpft<br />

werden. Leider wurden in<br />

den Anfangsmonaten statt kompetenzorientierter<br />

schulinterner<br />

Lehrpläne in vielen Schulen mehr<br />

oder weniger detaillierte Stoffverteilungspläne<br />

erstellt. Erst<br />

langsam setzen sich jetzt wirkliche<br />

Neuerungen durch. Zehn<br />

<strong>Grundschule</strong>n des Landes arbeiten<br />

in einem Schulversuch an<br />

einer Handreichung, die im Sommer<br />

2007 vorliegen soll.<br />

Der Vorstand plant im Frühjahr<br />

einen Erfahrungsaustausch mit<br />

unseren Mitgliedsschulen und<br />

Schulen aus dem Bereich Halle.<br />

(für die Landesgruppe: Gisela Schmidt)<br />

Schleswig-Holstein<br />

Vositzender: Bent Hirschelmann, Flörkendorfer Weg 15, 23623 Ahrensbök; www. grundschulverband-sh.de<br />

Bildungspolitisches Gespräch<br />

im Landeshaus Kiel<br />

Die Grüne Landtagsfraktion lud<br />

im Dezember zum Thema »Wie<br />

kann gemeinsames Lernen gelingen«<br />

ein. Nachdem Gabriela<br />

Schulz, die Mitverfasserin der<br />

Ifo- Studie, die Ergebnisse über<br />

die Chancengleichheit im Schulsystem<br />

dargestellt hatte, gab es<br />

einen Gedankenaustausch mit<br />

den geladenen Gästen aus verschiedenen<br />

Verbänden. Dass<br />

es eine Abhängigkeit zwischen<br />

bildungsnahen Elternhäusern<br />

(gemessen an der Anzahl der<br />

Bücher) und Schulerfolg, sowie<br />

bildungsfernem sozialen Umfeld<br />

und Schwierigkeiten im Bildungsprozess<br />

von Kindern und<br />

Jugendlichen gibt, war nicht die<br />

Überraschung des Abends. Neu<br />

war, dass das Ifo-Institut Studienergebnisse<br />

herausstellt, die unser<br />

dreigliederiges Schulsystem<br />

angreifen.<br />

Anhörung zum<br />

neuen Schulgesetz<br />

In unserem Bundesland wird<br />

ein Reförmchen auf den Weg<br />

gebracht. Für die <strong>Grundschule</strong><br />

werden vorschulische Sprachintensivmaßnahmen<br />

per Gesetz<br />

festgeschrieben, Klassenwiederholungen<br />

sollen die Ausnahme<br />

sein, Zurückstellungen<br />

vom Schulbesuch soll es nicht<br />

mehr geben. Das Beglückende<br />

aus unserer Sicht ist aber der<br />

per Gesetz mögliche Schritt zur<br />

Gemeinschaftsschule. Damit<br />

wäre es für einige Kinder tatsächlich<br />

möglich, länger gemeinsam<br />

zu lernen! Dass es bis 2010<br />

zu einem Zusammenlegen von<br />

Haupt- und Realschulen zu Regionalschulen<br />

kommen soll, ist ein<br />

weiterer begrüßenswerter Schritt<br />

in die Richtung zum heterogenen<br />

Lernen.<br />

Die Stellungnahme der Landesgruppe<br />

ist im Internet nachlesbar<br />

unter www. grundschulverbandsh.de<br />

(für die Landesgruppe:<br />

Sabine Jesumann, Andrea Klimmek)<br />

Ankündigung des pädagogischen<br />

Frühstücks<br />

»Frühbeete der<br />

Gegenwart«<br />

Im Frühjahr lädt der Grundschulverband<br />

S-H Lehrerinnen und<br />

Lehrer unter dem Motto »Frühbeete<br />

der Gegenwart« zu einem<br />

Austausch über veränderten<br />

Unterricht bei einem Frühstück<br />

nach Kiel ein. Ort und Zeit sind<br />

nach abgeschlossener Planung<br />

auf der Homepage der Landesgruppe<br />

zu erfahren.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />

31


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Thüringen<br />

Vositzende: Steffi Jünemann, Hauptstr. 7, 9<strong>97</strong>34 Nordhausen<br />

Mehr Eigenverantwortung an<br />

Thüringer Schulen<br />

Das Entwicklungsvorhaben<br />

»Eigenverantwortliche Schule«<br />

steht derzeit als langfristige<br />

Entwicklungsstrategie im Mittelpunkt<br />

aller schulischer Arbeit<br />

in Thüringen.<br />

Nachdem in einer Erprobungsphase<br />

sich ca. 100 Schulen freiwillig<br />

beteiligt haben, wird es<br />

nun zur Pflicht für alle Schulen.<br />

Die Landesgruppe Thüringen<br />

sieht in diesem Entwicklungsvorhaben<br />

den Vorteil, dass es<br />

mit einer systematischen und<br />

zielgerichteten Schulentwicklung<br />

einhergeht.<br />

n Durch das Ausfüllen der<br />

Checkliste kommen vielfältige<br />

Gespräche zustande, wesentliche<br />

Qualitätsbereiche schulischer<br />

Arbeit werden eingeschätzt.<br />

n Durch den Blick von außen<br />

bekommt die Schule eine Rückkopplung<br />

ihrer bisherigen Arbeit<br />

n Sie erfahren Wertschätzung<br />

und Anerkennung.<br />

n Die entwicklungsfördernden<br />

Hinweise und Empfehlungen sind<br />

hilfreich für die weitere Schulentwicklung.<br />

n Durch die Zielvereinbarung<br />

konzentriert sich die Schule auf<br />

wenige realistische und messbare<br />

Schwerpunkte.<br />

n Notwendige Unterstützungsangebote<br />

werden mit dem Schulamt<br />

vereinbart.<br />

Jedoch sind auch einige Fragen<br />

und Probleme der Schulen offengeblieben:<br />

n Wie weit geht »Eigenverantwortung«?<br />

n Warum bekommen die Schulen<br />

kein eigenes Budget, über<br />

welches sie eigenverantwortlich<br />

verfügen können?<br />

n Wie kann ein Expertenteam<br />

nach drei Tagen den Entwicklungsstand<br />

einer Schule objektiv<br />

einschätzen?<br />

n Wie kann Entwicklung trotz<br />

schwieriger Personalsituation<br />

realisiert werden?<br />

(für die Landesgruppe: Katrin Heckert)<br />

Der Arbeitskreis »Sonderpädagogische<br />

Förderung in Thüringen«<br />

plant im Mai 2007 eine<br />

Konferenz zum gemeinsamen<br />

Lernen. Der Vorstand<br />

der Landesgruppe<br />

Thüringen wird sich intensiv an<br />

diesem Vorhaben beteiligen. Als<br />

Themen sind vorgeschlagen:<br />

n Unterstützersysteme für<br />

die sonderpädagogische Förderung<br />

in den Schulamtsbereichen<br />

(z. B. Mobile Sonderpädagogische<br />

Dienste, Berater für<br />

gemeinsamen Unterricht, Schuleingangsphase,<br />

Begleitung des<br />

Übergangs vom Kindergarten in<br />

die <strong>Grundschule</strong>)<br />

n Lehrerausbildung (GS, FÖS) in<br />

der ersten, zweiten und dritten<br />

Phase der Lehrerausbildung<br />

Gleichzeitig wollen wir diese Veranstaltung<br />

für unsere Mitgliederversammlung<br />

nutzen.<br />

Die Einladung dazu erfolgt<br />

gesondert.<br />

OFZ Grundschultag 2007<br />

Bildungsstandards und Kindorientierung<br />

Das Oldenburger Fortbildungszentrum<br />

(OFZ) an der Carl von<br />

Ossietzky Universität veranstaltet<br />

in Kooperation mit dem<br />

Grundschulverband den »OFZ<br />

Grundschultag 2007«:<br />

Dienstag, 6. März 2007,<br />

Carl von Ossietzky Universität<br />

Oldenburg,<br />

Hörsaalzentrum<br />

Auch in Niedersachsen wurden<br />

inzwischen Bildungsstandards<br />

für die Kindertagesstätten<br />

empfehlend und für die Schulen<br />

verbindlich eingeführt. Bei der<br />

Umsetzung der Vorgaben bleiben<br />

Fragen:<br />

Haben die Bildungsstandards<br />

tatsächlich eine orientierende<br />

Funktion für die Einrichtungen?<br />

Werden die Standards den individuellen<br />

Bildungsansprüchen und<br />

Bedürfnissen der Kinder gerecht?<br />

Tragen die Standards wirklich<br />

dazu bei, die Bildungsqualität<br />

von Kindertagesstätten und<br />

Schulen zu verbessern?<br />

Handelt es sich um Bildungsstandards<br />

oder eher um Leistungsstandards?<br />

Wie werden diejenigen gefördert,<br />

die diese Standards nicht erreichen?<br />

Der Grundschultag 2007 richtet<br />

sich wieder an Lehrkräfte aus<br />

<strong>Grundschule</strong>n und an sozialpädagogische<br />

Fachkräfte aus Kindertagesstätten.<br />

Damit wird auch<br />

ein Forum für den Austausch und<br />

die Zusammenarbeit zu zentralen<br />

Fragen des Übergangs des<br />

Elementar- und Primarbereichs<br />

geboten.<br />

Eröffnungsvortrag<br />

»KITA und <strong>Grundschule</strong>: standardisiert<br />

und individualisiert?«<br />

Prof. Dr. Annedore Prengel,<br />

Universität Potsdam<br />

Lernbereichs- und fachspezifische<br />

Vorträge sowie praxisbezogene<br />

Workshops<br />

An den Eröffnungsvortrag schließen<br />

sechs Fachvorträge an, die<br />

das Tagungsthema bezogen auf<br />

einzelne Lern- und Erfahrungsfelder<br />

bzw. Unterrichtsfächer<br />

vertiefen. Darauf aufbauend<br />

stehen bei den 19 Workshops<br />

(unterrichts-)praktische Beispiele<br />

für die fachspezifische und fachübergreifende<br />

Umsetzung von<br />

Bildungsstandards sowie der<br />

Erfahrungsaustausch im Vordergrund.<br />

Kosten: € 18,–<br />

(inkl. Tagungsgetränke)<br />

Anmeldungen und<br />

weitere Informationen:<br />

Oldenburger Fortbildungszentrum<br />

im Didaktischen<br />

Zentrum der Carl von Ossietzky<br />

Universität Oldenburg in<br />

26 Oldenburg;<br />

Tel.: (04 41) 7 98-30 36 u. -30-39;<br />

Fax: (04 41) 7 98-19 30 39;<br />

E-Mail: ofz@uni-oldenburg.de;<br />

Internet: www.ofz.de<br />

32 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007


7 Prüfsteine für die<br />

moderne <strong>Grundschule</strong><br />

– ein Plakat gegen<br />

schulpolitische Falschmünzerei<br />

PISA war der Schock. Nun wird geklotzt. »Wir schaffen das modernste<br />

Schulwesen in Deutschland!«, so oder ähnlich formulieren Ministerpräsidenten<br />

ihr Schulziel. Und dann folgen die Taten wie Kopfnoten,<br />

früherer Einsatz der Zensuren, Auslaufenlassen integrativer Regelklassen,<br />

die Weigerung, über das Thema »Länger gemeinsam lernen« auch<br />

nur nachzudenken …<br />

Kopfschütteln ob solcher schulpolitischen Falschmünzerei reicht nicht.<br />

Prüfsteine für die moderne <strong>Grundschule</strong> müssen dem entgegengesetzt<br />

werden.<br />

Prüfsteine, an denen sich messen lässt, was an den Maßnahmen falsch<br />

ist und was statt dessen nötig wäre.<br />

Damit uns und der Öffentlichkeit klar wird, was an den politischen Taten<br />

Kindern schadet und was ihnen dient.<br />

Der erste Schritt aber ist, uns selber zu vergewissern. Deshalb haben wir<br />

die Prüfsteine auf ein Plakat gebracht.<br />

■ Hängen Sie es aus – im Lehrerzimmer, im Seminar, in der Uni.<br />

■ Besprechen Sie einzelne Prüfsteine – zum Qualitäts check Ihrer Schule<br />

und der rechtlichen Vorgaben.<br />

Woher der Grundschulverband die Prüfsteine nimmt?<br />

Sie stammen aus der Diskurstradition des Verbandes, der immer vom<br />

Bildungsrecht aller Kinder ausgeht.<br />

Von ihrem Recht auf individuelle unversehrte Entwicklung und vom<br />

Recht auf gleiche Chancen aller.<br />

So wie es auch das Grundgesetz vorsieht und in den wohlfeilen Präambeln<br />

vieler Rahmenrichtlinien formuliert ist.<br />

Sie entsprechen der pädagogischen Ethik einer Schule, die Kindern bei<br />

ihrem seelischen und geistigen Wachstum hilfreich sein will.<br />

Allen Kindern!<br />

Horst Bartnitzky<br />

Vorsitzender des Grundschulverbandes<br />

Das Plakat liegt dem Heft <strong>97</strong> von <strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong> bei.<br />

Es kann zudem angefordert werden beim Grundschulverband,<br />

Niddastr. 52, 60329 Frankfurt (solange der Vorrat reicht).<br />

Mehr Informationen und Argumente finden Sie bei<br />

www.grundschulverband.de, besonders unter:<br />

Initiative Länger gemeinsam lernen; Standpunkte; Veröffentlichungen.<br />

Die gegenwärtige »Output-Orientierung« der Schulpolitik<br />

meint, durch Standards und Tests absichern zu können,<br />

»was hinten herauskommt«.<br />

Kinder sind aber keine Stopfgänse, sondern Subjekte<br />

ihres Lernens.<br />

Deshalb gilt der 1. Prüfstein dem Bild vom Kind:<br />

Mit Kindern Schule machen.<br />

Fördern und fordern lautet eine gängige Formel.<br />

Verlage überbieten sich mit Material zur individuellen<br />

Förderung.<br />

Dabei wird häufig übersehen, dass die Schule dem<br />

Zwillingsprinzip verpflichtet ist: Individualität und<br />

Sozialität.<br />

Den 2. Prüfstein nennen wir deshalb:<br />

Individuell fördern – Gemeinsamkeit stärken.<br />

Frühe Auslese ist ein Kennzeichen der deutschen Schule.<br />

Schulisch erfolgreichere Länder verzichten darauf und<br />

fahren damit besser.<br />

Den Titel des 3. Prüfsteins übernehmen wir von einem<br />

Grundprinzip finnischer Schulen:<br />

Kein Kind beschämen.<br />

Frühes Zensieren ist ein weiteres Kennzeichen der<br />

deutschen Schule.<br />

Damit werden früh die Kinder in Gewinner und Verlierer<br />

eingeteilt. Ihre Motivation vom Sachinteresse wird auf<br />

das Noteninteresse abgelenkt.<br />

Zensieren ist ein würdeloser Umgang mit Kinderleistungen.<br />

Dem halten wir den 4. Prüfstein entgegen:<br />

Leistungen der Kinder würdigen.<br />

Unterricht plus Betreuung ist die gegenwärtig verbreitete<br />

Lösung zum Thema Ganztag.<br />

Dabei hat der Unterricht in der <strong>Grundschule</strong> nach wie vor<br />

die knappste Stundentafel aller Schulformen.<br />

Was Kinder brauchen ist nicht nur längere »Verweildauer« in<br />

der Schule, sondern was wir als 5. Prüfstein formulieren:<br />

Mehr Bildungszeit für Kinder.<br />

Freie Schulwahl ist das Motto derer, die Schulen mit<br />

Firmen verwechseln.<br />

<strong>Grundschule</strong>n sollen in Konkurrenz gesetzt werden,<br />

damit sich das pädagogische Geschäft belebe und<br />

»schlechte« Schulen vom Markt verschwänden.<br />

Der pädagogische Flurschaden, der dabei entsteht,<br />

bleibt unbeachtet.<br />

Deshalb formulieren wir als 6. Prüfstein:<br />

Schule im Wohnbezirk stärken.<br />

Erhalt der vierjährigen <strong>Grundschule</strong>, jeder, der anders<br />

denkt, ist ein Ideologe, so die Gralshüter des deutschen<br />

Sonderweges.<br />

Mit diesem Killerwort versuchen sie, die Debatte zu<br />

unterbinden.<br />

Andere Länder sind aber schulisch erfolgreicher mit viel<br />

längerer gemeinsamer Schulzeit.<br />

Deshalb nennen wir den 7. Prüfstein:<br />

Länger gemeinsam lernen.


An den<br />

Grundschulverband · Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V.<br />

Niddastraße 52 · 60329 Frankfurt/Main · Fax 0 69 / 7 07 47 80<br />

oder per Internet: www.grundschulverband.de<br />

Beitrittserklärung<br />

Als Mitglied im Grundschulverband …<br />

… unterstützen Sie mit ca. 12.000 weiteren<br />

Mitgliedern die satzungsmäßigen (§ 2,1)<br />

Kernaufgaben des Grundschulverbandes:<br />

»Die pädagogisch begründeten Ansprüche<br />

der Kinder dieser Schulstufe zu vertreten,<br />

die Grundschulpädagogik weiter zu entwickeln<br />

und die Stellung der <strong>Grundschule</strong> im öffent lichen<br />

Bildungswesen zu verbessern.«<br />

… erhalten Sie jährlich zwei neue Bände der<br />

Reihe »Beiträge zur Reform der <strong>Grundschule</strong>«<br />

… erhalten Sie viermal jährlich die 32-seitige<br />

Mitglieder zeitschrift »Grundschulverband <strong>aktuell</strong>«<br />

mit Bildungspolitik, Forschung und Praxis<br />

Ich beantrage die Mitgliedschaft im Grundschulverband · Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V.<br />

Als Mitglied erhalte ich jährlich zwei neue Mitgliedsbände aus der Reihe »Beiträge zur Reform der<br />

<strong>Grundschule</strong>« sowie die 32-seitige Vierteljahreszeitschrift »Grundschulverband <strong>aktuell</strong>« jeweils<br />

nach Fertigstellung kostenfrei zugesandt.<br />

Den angekreuzten Betrag<br />

Mitgliedsbeitrag 50,– €<br />

Ermäßigter Beitrag (bitte belegen!) 30,– €<br />

(für Studierende, Arbeitslose, Lehramts anwärter/innen<br />

sowie für Teilzeitbeschäftigte in den neuen Ländern)<br />

Förderbeitrag, mindestens 30,– €<br />

(keine Mitgliedsbände, nur Zeitschrift – für Pensionäre, die weiterhin <strong>aktuell</strong> informiert werden<br />

wollen und andere Förderer, die die Arbeit des Grundschulverbandes unterstützen möchten)<br />

zahle ich nach Erhalt der Jahresrechnung zahle ich per Bankeinzug vom<br />

Konto Nr.<br />

Bankleitzahl<br />

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bei<br />

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