Grundschule aktuell 97
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Heft Nr. <strong>97</strong> • I. Quartal • Februar 2007 • Best. Nr. 6032 • D9607F<br />
Grundschulverband – Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V. • Niddastraße 52 • 60329 Frankfurt/Main • Tel. 0 69 / 77 60 06 • www.grundschulverband.d<br />
Arme Kinder<br />
Kinderarmut und Bildungsgerechtigkeit
Editorial<br />
2,62 € am Tag<br />
Tagebuch<br />
S. 2 Strukturen verändern … (Maresi Lassek)<br />
Thema: Kinderarmut<br />
S. 3 Armutszeugnis Kinderarbeit (Roland Merten)<br />
S. 6 Bildungsgerechtigkeit – ein hohles<br />
Versprechen? (Angelika Speck-hamdan)<br />
Praxis: Pädagogik im Kontext von Armut<br />
S. 11 An den Kindern kann es nicht liegen<br />
(Reinhard Stähling)<br />
S. 14 Schulversammlungen (Inge Hirschmann)<br />
S. 17 Schülerhilfe-Projekt in Halle (Ada Sasse)<br />
Dokumentation<br />
Standpunkt …<br />
S. 20 … zur Zusammenarbeit von Elementarund<br />
Primarbereich<br />
S. 21 … zum Sprachenlernen in der <strong>Grundschule</strong><br />
S. 22 … zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung<br />
S. 23 Schulpreis an <strong>Grundschule</strong> Kleine Kielstraße<br />
Diskussion<br />
S. 24 Echo auf Heft 96,<br />
»Freies Schreiben von Anfang an«<br />
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen, u. a.<br />
S. 27 Brandenburg: Diagnostik und Leistungsförderung<br />
S. 28 Mecklenburg-Vorpommern:<br />
Schultüte für den Minister<br />
S. 30 Saarland: Qualitätskontrollen<br />
– genug fürs Leben?<br />
2,62 € für alle Mahlzeiten und Getränke ergeben sich aus dem Regelsatz für<br />
ein Kind unter 14 Jahren, das von Sozialhilfe leben muss. Kinderarmut, so<br />
Roland Merten in seinem einleitenden Beitrag, ist mehr als ein Randphänomen.<br />
Er liefert die Fakten und skizziert, was geschehen muss (S. 3 ff.).<br />
Kinderarmut ist auch ein bildungspolitisch wie pädagogisch brisantes<br />
Thema, in der pädagogischen Diskussion fast noch ein blinder Fleck.<br />
Angelika Speck-hamdan untersucht, wie Armut und Bildungsmöglichkeiten<br />
zusammenhängen und welche Rolle die Schule dabei spielt oder<br />
spielen könnte (S. 6 ff.).<br />
Die Beiträge in unserem Praxisteil geben Einblicke in pädagogische Arbeit<br />
im Kontext von Armut: Ada Sasse berichtet von einem Schülerhilfe-Projekt<br />
mit »armen Kindern«, in dem Studierende Handlungswissen und pädagogische<br />
Haltungen erwerben. Reinhard Stähling zeigt Möglichkeiten<br />
»inklusiver« Pädagogik, Inge Hirschmann weiß, das gerade »arme Kinder«<br />
vielfältige Gelegenheiten brauchen zu zeigen, was sie können. Sie weiß<br />
aber auch: »Es braucht mehr, um Chancengerechtigkeit für arme Kinder<br />
(…) zu erreichen.«<br />
»Freies Schreiben von Anfang an?«<br />
Ein lebhaftes Echo fand unser letztes Heft. Grund genug, sich damit eingehender<br />
zu beschäftigen. Und Anlass zum Nachdenken darüber, was<br />
»Streitkultur« ist und wie sie herzustellen ist. Für den Grundschulverband<br />
gilt: Gegen Dogmatismus! (S. 24 f.)<br />
Standpunkte des Grundschulverbandes<br />
Mit seinen »Standpunkten« präzisiert der Grundschulverband seine Option<br />
für eine kindgerechte Schule zu <strong>aktuell</strong>en Diskussionsfeldern. Drei<br />
neue Standpunkte werden in diesem Heft dokumentiert (S. 19 ff.).<br />
Plakat für eine kindgerechte <strong>Grundschule</strong><br />
»Moderne <strong>Grundschule</strong>« – ein Begriff aus Politiker-Sonntagsreden. Der<br />
schulpolitischen Falschmünzerei setzt der Grundschulverband »7 Prüfsteine<br />
für die moderne <strong>Grundschule</strong>« entgegen. Horst Bartnitzky erläutert<br />
die Argumente (siehe 3. Umschlagseite).<br />
Diesem Heft liegt das Plakat mit den Prüfsteinen bei. Wir hoffen, dass es<br />
eine weite Verbreitung findet: In Hochschulen, Seminaren, Schulen. Bitte<br />
helfen Sie dabei!<br />
Ulrich Hecker<br />
Impressum<br />
, die Zeitschrift des Grundschulverbandes erscheint<br />
vierteljährlich und wird allen Mitgliedern zugestellt.<br />
Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Das einzelne Heft kostet 5 €;<br />
für Mitglieder und bei Sammelbestellungen ab 10 Hefte 3 € (incl. Versand).<br />
Verlag: Grundschulverband – Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V.<br />
Niddastraße 52, 60329 Frankfurt / Main, Tel. 0 69 / 77 60 06, Fax: 0 69 / 7 07 47 80;<br />
Internet: www.grundschulverband.de, E-Mail: info@grundschulverband.de<br />
Herausgeber: Horst Bartnitzky (für den Vorstand des Grundschulverbandes)<br />
Redaktion: Ulrich Hecker, Hülsdonker Str. 64, 47441 Moers, Tel. 0 28 41 / 2 17 14,<br />
E-Mail: ulrichhecker@aol.com<br />
Fotos: Titel: Bert Butzke, Mülheim/Ruhr; S. 3, 7, 18, 19: Foto-AG Hauptschule Alstadenn<br />
Herstellung: novuprint Agentur für Mediendesign, Werbung, Publikationen GmbH,<br />
Bödekerstr. 73, 30161 Hannover, Tel. 05 11 / 9 61 69 – 11, Fax: 05 11 / 9 61 69 – 99<br />
Anzeigenverwaltung: Claudia Klinger, Verlagsgruppe Beltz, Tel. 0 62 01 / 6 00 73 86,<br />
Fax 0 62 01 / 6 00 73 93<br />
Druck: Druck Partner Rübelmann, 69502 Hemsbach<br />
ISSN 1860-8604<br />
Beilagen: »Eine Welt in der Schule« als ständige Beilage,<br />
Plakat »7 Prüfsteine« des Grundschulverbandes<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Tagebuch<br />
Strukturen verändern,<br />
Netzwerke bilden,<br />
gemeinsam handeln<br />
Maresi Lassek<br />
Stellvertretende<br />
Vorsitzende des<br />
Grundschulverbandes<br />
Unfassbares hat sich in den vergangenen Monaten im<br />
wohlhabenden Deutschland ereignet. Jugendliche verübten<br />
Gewalttaten in Schulen. In Bremen überlebte der<br />
kleine Kevin seine unerträglichen Lebensumstände nicht.<br />
Schule und Sozialarbeit sehen sich auf dem<br />
Prüfstand, nach den Schuldigen wird gefragt.<br />
Immer mehr Kinder leben in unserem Land<br />
unterhalb des Armutsniveaus. Kinder aus Familien<br />
mit Migrationshintergrund erfahren<br />
zu wenig Förderung, bleiben hinter ihren Bildungsmöglichkeiten<br />
zurück. Kinder werden<br />
körperlich und emotional vernachlässigt und<br />
das in einem Land, dem es an Nachwuchs<br />
mangelt. Wer ist verantwortlich?<br />
In Bremen arbeitet dazu ein Untersuchungsausschuss.<br />
Die Prüfung der Schulen erfolgt<br />
über Vergleichsarbeiten. Am Ende gibt es ein<br />
Etikett: erfolgreich oder nicht erfolgreich. Den Lehrkräften<br />
wird für schlechte Ergebnisse die Verantwortung zugeschrieben.<br />
Die Frage ist: Werden die Probleme der Familien und<br />
Schulen über die <strong>aktuell</strong>en politischen Maßnahmen tatsächlich<br />
an der Wurzel gepackt? Ich denke nein, denn<br />
Grundzüge im System stimmen nicht. Geprüft werden<br />
müssen die Bedingungen für Erziehung und Bildung in<br />
Familien und Institutionen. Davon sind im wesentlichen<br />
Kindeswohl, Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit<br />
abhängig. Die Qualität der strukturellen und finanziellen<br />
Gegebenheiten in Deutschlands Bildungswesen hielt<br />
mehrfach dem internationalen Vergleich nicht stand, Veränderungsnotwendigkeiten<br />
wurden deutlich, entscheidende<br />
Konsequenzen nicht gezogen. Die Einrichtung von<br />
mehr Ganztagsschulen ist richtig, reicht aber nicht aus.<br />
Der Trend zu einer Schulqualitätsentwicklung, die sich<br />
überwiegend auf die Erfüllung von Standards konzentriert,<br />
schafft kein positives Schulklima. Einseitige Schuldzuweisungen<br />
an Lehrkräfte untergraben das Vertrauen.<br />
Worum es gehen muss, ist, dem Auseinanderdriften der<br />
Gesellschaft in Chancenlose und Gewinner entgegenzuwirken.<br />
Dieser Prozess setzt schon sehr früh ein. Doch<br />
sind der Vorschul- und der Grundschulbereich im Vergleich<br />
zu anderen Ländern in Deutschland unzureichend<br />
ausgestattet und die Konzepte für Frühförderung mangelhaft.<br />
Eine bessere finanzielle Versorgung des Elementarbereichs<br />
und familienergänzender Maßnahmen muss<br />
nach Jahren des Einsparens umgesetzt, die überfällige<br />
Schulstrukturdebatte endlich geführt werden. Wir brauchen<br />
ein integratives auf längere gemeinsame Lernzeit<br />
angelegtes Bildungssystem. Die bildungspolitisch gewollte<br />
Ausrichtung auf Erfüllung von Standards verstärkt<br />
die ohnehin bestehenden Selektionsmechanismen, ihr<br />
Einfluss wirkt immer früher. Schülerinnen und Schüler<br />
mit Lebensproblemen erfahren darüber keine Hilfe. Schulen<br />
fehlt es an sozialpädagogisch ausgerichteten Unterstützungssystemen.<br />
Netzwerke zwischen dem Bildungs- und Sozialbereich<br />
müssen geknüpft werden. Dazu tragen bei: Soziale Betreuung<br />
von Geburt an, der obligatorische Besuch einer<br />
Kindertagesstätte, Gebührenfreiheit für deren Besuch,<br />
Einbindung von Eltern in die Arbeit von Kindertagesstätten<br />
und Schulen, niedrigschwellige Elternbildungsangebote,<br />
die vor Ort und kostenfrei Eltern unterstützen,<br />
eine konsequente Vernetzung der an der Erziehung und<br />
Bildung beteiligten Institutionen, die Einstellung, dass<br />
Eltern gemeinsam mit den Pädagoginnen verantwortlich<br />
sind für Kontinuität in der Entwicklung der Kinder (gerade<br />
im Hinblick auf die in unserem System schwierigen Übergänge).<br />
Ein Klima ist zu schaffen, in dem Kinder willkommen sind.<br />
Das kann gelingen, wenn mehr Ressourcen für Betreuung,<br />
Erziehung und Bildung bereitstehen. Eltern benötigen<br />
Entlastung bei der Betreuung, Eltern in schwierigen sozialen<br />
Verhältnissen ebenso wie Eltern, die berufstätig sind.<br />
Vermehrte Angebote für unter Dreijährige sind genauso<br />
erforderlich wie noch mehr Ganztagsschulen.<br />
Der Handlungsbedarf ist offensichtlich, gemeinsames<br />
Handeln gefordert. Die Praktiker/innen sind bereit, es bedarf<br />
der politischen Schritte.<br />
Maresi Lassek<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Thema: Kinderarmut<br />
Armutszeugnis Kinderarmut<br />
Kinderarmut in Deutschland – mehr als nur ein Randphänomen!<br />
von<br />
Roland Merten<br />
Kinderarmut in der reichen Bundesrepublik,<br />
das mutet fremd an. Wir leben<br />
in einem der reichsten Länder der Welt<br />
und niemand braucht hier Hunger zu<br />
leiden oder muss obdachlos sein. Denn<br />
die Sozialhilfe garantiert innerhalb des<br />
sozialen Sicherungssystems als nachrangiges<br />
Hilfesystem, dass das soziokulturelle<br />
Existenzminimum gesichert<br />
ist. Und diese Hilfe wird unabhängig<br />
vom Ansehen der Person gewährt. Somit<br />
ist in Deutschland für jedermann<br />
ein Leben gewährleistet, das der Würde<br />
des Menschen entspricht, wie Art. 1<br />
Abs. 1 des Grundgesetzes verlangt. Und<br />
damit ist das Thema ›Kinderarmut‹<br />
schon auf den ersten Blick erledigt.<br />
Nun ist Wissenschaft keine Veranstaltung,<br />
die sich mit dem ersten Blick<br />
zufrieden gibt, sie schaut genauer hin<br />
und entdeckt dabei oft überraschende<br />
Tatsachen, die sich dem ersten Hinsehen<br />
entziehen. Das ist beim Thema<br />
›Kinderarmut‹ nicht anders. So soll im<br />
Folgenden zunächst deutlich gemacht<br />
werden, was unter Armut verstanden<br />
wird, um daran anschließend die Entwicklung<br />
der Kinderarmut in Deutschland<br />
von 1980 bis 2004 zu untersuchen.<br />
Am 1. 1. 2005 traten die sog. Hartz-IV-<br />
Gesetze in Kraft, und es bedarf einer<br />
besonderen Betrachtung, welchen<br />
Einfluss diese auf die Armutsentwicklung<br />
unter Kindern und Jugendlichen<br />
genommen haben. Abschließend werden<br />
Überlegungen vorgestellt, die als<br />
politische Forderungen zur Überwindung<br />
des gesellschaftlichen Skandals<br />
»Kinderarmut« beitragen sollen.<br />
1. Armut – Was ist das?<br />
Armut lässt sich grundsätzlich in zwei<br />
große Kategorien einteilen: (1) Absolute<br />
Armut, d. h. hier ist die physische<br />
Existenzgrundlage (z. B. genug zu essen,<br />
um zu überleben; eine Wohnung,<br />
die vor Kälte schützt, etc.) nicht gesichert.<br />
Obwohl diese Form der Armut<br />
in Deutschland eigentlich nicht mehr<br />
vorkommen dürfte, hat der Zweite Armuts-<br />
und Reichtumsbericht der Bundesregierung<br />
gezeigt, dass sie insbes.<br />
bei Nicht-Sesshaften bzw. Straßenkindern<br />
existiert. (2) Demgegenüber wird<br />
in der Sozialforschung der Begriff der<br />
relativen Armut gewählt, um deutlich<br />
zu machen, dass es bei der Bestimmung<br />
von Armut in modernen Staaten<br />
um einen Vergleich zur Gesamtbevölkerung<br />
und ihrer Einkommenssituation<br />
geht. Danach gilt derjenige als arm,<br />
der lediglich über 50 % des mittleren<br />
Erwerbseinkommens verfügt.<br />
In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht<br />
vor Jahren festgehalten,<br />
dass derjenige als arm gilt, der das<br />
sozioökonomische Existenzminimum<br />
selbst nicht sichern kann; dieses muss<br />
durch die Sozialhilfe garantiert werden.<br />
Allerdings muss in diesem Zusammenhang<br />
erwähnt werden, dass das<br />
Sicherungsniveau der Soziahilfe lediglich<br />
40 % des mittleren Einkommens<br />
beträgt; in der Armutsforschung gilt<br />
dies als strenge Armut. Konkret heißt<br />
das, dass für ein Kind im Alter bis zu<br />
14 Jahren, das von Sozialhilfe leben<br />
muss, 207 € im Monat zur Verfügung<br />
stehen (plus anteilige Miet- und Heizkosten).<br />
Von diesem Regelbetrag entfallen<br />
38 % auf Ernährung bzw. 2,62 €<br />
für alle Mahlzeiten und Getränke am<br />
Tag! Davon ist selbst bei strenger Haushaltführung<br />
eine gesunde Ernährung<br />
von Kindern nicht sicherzustellen.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Thema: Kinderarmut<br />
Kinder und Jugendlichen! Kinder und<br />
Jugendliche bilden zwar nur 14,5 unserer<br />
Bevölkerung, sie sind aber zu 100<br />
Prozent unser aller Zukunft. Wir gehen<br />
wenig pfleglich mit dieser Generation,<br />
wir gehen insofern wenig pfleglich<br />
mit unserer eigenen Zukunft um. Dies<br />
alles ist kein Ausdruck besonderer<br />
Weitsicht …<br />
3. Kinderarmut<br />
nach Hartz IV<br />
Abb. 1:<br />
Kinder in Armut<br />
im Vergleich zur<br />
Altersgruppe<br />
Abb. 2:<br />
Armutsquoten<br />
1980 – 1991 – 2002<br />
2. Entwicklung der Kinderarmut<br />
von 1980 bis 2004<br />
Ab 1980 wurden die Sozialhilfedaten<br />
differenziert nach dem Alter der Bezieher<br />
erfasst. Seit diesem Zeitpunkt<br />
haben wir aussagekräftige Daten vorliegen,<br />
die einen genaueren Einblick<br />
in die Armutssituation von Kindern<br />
geben. Abbildung 1 zeigt, wie sich die<br />
Zahl der Kinder in Armut zwischen<br />
1980 und 2004 entwickelt hat.<br />
Wie sich erkennen lässt, liegt der<br />
Anteil der Kinder in Armut in allen Altersklassen<br />
jeweils deutlich über der<br />
Sozialhilfequote in der Gesamtbevölkerung.<br />
Kinder und Jugendliche sind also<br />
deutlich häufiger von Armut betroffen<br />
als Erwachsene; bei den Kindern unter<br />
7 Jahren lebte zum Ende 2004 jedes<br />
zehnte Kind in strenger Armut! Und<br />
wie die Folgeabbildung deutlich macht,<br />
hat sich zwischen 1980 und 2002 jeweils<br />
die Kinderarmutsquote deutlich<br />
erhöht, während die Quote der älteren<br />
Bürger im Wesentlichen unverändert<br />
geblieben ist.<br />
Die besondere Brisanz dieser Entwicklung<br />
wird dann deutlich, wenn man<br />
sich vergegenwärtigt, dass die nachwachsende<br />
Generation seit Jahren<br />
zahlenmäßig zurückgeht, während<br />
der Anteil der älteren Bevölkerung<br />
stetig anwächst. Mit anderen Worten:<br />
Wir benachteiligen systematisch die<br />
Zum 1. 1. 2005 ist die sog. Hartz-IV-Gesetzgebung<br />
in Kraft getreten. Hartz IV<br />
– unter diesem Begriff wurde im Wesentlichen<br />
eine arbeitsmarktpolitische<br />
Gesetzgebung geschaffen, die zwei<br />
unterschiedliche Sicherungssysteme<br />
zusammengeführt hat, nämlich die<br />
Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe.<br />
Beide Sicherungssysteme waren steuerfinanziert,<br />
so dass man gute Gründe<br />
hatte, diese beiden Systeme zusammenzulegen.<br />
Zusammenlegung hat in<br />
diesem konkreten Fall jedoch bedeutet,<br />
dass das bis dahin höhere Niveau<br />
der Arbeitslosenhilfe auf das deutlich<br />
niedrigere Niveau der Sozialhilfe gesenkt<br />
wurde, um einen finanziellen<br />
Anreiz zu schaffen, wieder Arbeit aufzunehmen.<br />
Ob die Grundannahme<br />
stimmte, nämlich dass die zu hohe Arbeitslosenhilfe<br />
den Anreiz zur Arbeitsaufnahme<br />
zerstöre, wurde nie geprüft.<br />
Unabhängig von diesem Mangel wurde<br />
jedoch bei der Einführung dieser neuen<br />
Gesetzgebung übersehen, dass im<br />
Haushalt der neuen Hartz-IV-Empfänger<br />
(sog. Arbeitslosengeld II) auch Kinder<br />
leben, die zwar von den Kürzungen<br />
der Leistungsbezüge mit betroffen<br />
sind, selbst jedoch keinerlei Möglichkeit<br />
haben, zur Überwindung der Bedarfssituation<br />
beizutragen. Durch die<br />
neue Gesetzgebung wurde eine große<br />
Zahl von Kindern und Jugendlichen<br />
in eine Lebenssituation gedrängt, die<br />
dem Sicherungsniveau der Sozialhilfe<br />
entspricht, also als strenge Armut charakterisiert<br />
werden muss. Die folgende<br />
Abbildung zeigt, in welchem Ausmaß<br />
sich die Armutsquote für Kinder und<br />
Jugendliche durch die Einführung der<br />
Hartz-IV-Gesetze erhöht hat.<br />
Es scheint angesichts der hier präsentierten<br />
Zahlen keine Übertreibung, von<br />
einem sozialpolitischen Skandal zu<br />
sprechen, der bis heute jedoch weitest-<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Thema: Kinderarmut<br />
gehend unthematisiert geblieben ist.<br />
Mehr noch: Die Zahl der auf Sozialhilfeniveau<br />
lebenden Kinder hat sich seit<br />
2005 weiter stetig erhöht!<br />
4. Gesellschaftlicher<br />
Skandal »Kinderarmut«<br />
In keinem anderen OECD-Land ist der<br />
Zusammenhang von Bildungserfolg<br />
und sozialer Herkunft so eng wie in<br />
Deutschland; das ist eines der ernüchterndsten<br />
Ergebnisse der PISA-Studie.<br />
»Die Herausforderung besteht darin,<br />
die Wurzeln der sozialen Ungleichheit<br />
anzugreifen – und das erfordert vor<br />
allem eine auf die am stärksten gefährdeten<br />
Haushalte ausgerichtete Strategie<br />
mit dem Ziel, den gleichen Erwerb<br />
an Humankapital zu ermöglichen«, so<br />
Gøsta Esping-Andersen. Und damit<br />
sind wir beim Thema »schulische Bildung«.<br />
Auf Grund der Kulturhoheit haben<br />
die Bundesländer hier die größten<br />
Gestaltungsmöglichkeiten. Es kommt<br />
darauf an, Bildungsbarrieren abzubauen<br />
und schulische Entwicklungsmöglichkeiten<br />
zu eröffnen. Hieraus folgen<br />
notwendig die Lernmittelfreiheit sowie<br />
der kostenlose Transport von (armen)<br />
Kindern zu weiterführenden Schulen.<br />
In diesem Zusammenhang ist in den<br />
letzten Jahren immer wieder das Thema<br />
›Kleidung‹ virulent. Es kommt verstärkt<br />
zu sozialer Ausgrenzung von armen<br />
Kindern, weil ihnen die Möglichkeiten<br />
fehlen, sich im Sinne der Gruppennorm<br />
(Markenkleidung) zu kleiden. Da sich<br />
über den freien Markt ohnehin eine<br />
Form sozialer Uniformierung (wildwüchsig)<br />
eingestellt hat, muss eine<br />
Auseinandersetzung mit dem Thema<br />
»Schuluniform« erfolgen. Andere Länder<br />
(z. B. Frankreich, Großbritannien, …)<br />
zeigen, dass mit dieser Kleiderordnung<br />
Ausgrenzungsprozessen entgegengewirkt<br />
werden kann.<br />
Auch steht das lange Zeit ausgeblendete<br />
Thema »Schulspeisung« als<br />
gesamtgesellschaftliche Aufgabe<br />
zur Diskussion an. Viele Kinder sind<br />
vermeintlich unbegabt, weil sie dem<br />
Unterricht nicht folgen können. Dass<br />
dabei viele Kinder ohne Frühstück zur<br />
Schule kommen und unterzuckert<br />
sind, so dass sie physiologisch in ihrer<br />
Aufnahmefähigkeit eingeschränkt<br />
sind, ist Schulärzten wohl bekannt; bei<br />
Bildungspolitikern fehlt solches Hintergrundwissen<br />
oftmals.<br />
Vor all diesen Dingen ist es jedoch<br />
unabdingbar, dass wir endlich zu einer<br />
wirklich angemessenen, die kindlichen<br />
Bedürfnisse befriedigenden Grundsicherung<br />
von Kindern und Jugendlichen<br />
kommen. Dabei ist es keineswegs<br />
sinnvoll, eine solche Grundsicherung<br />
in Form von Geld auszuschütten, von<br />
dem nicht klar ist, wie es im familiären<br />
Haushalt verwendet wird. Viel-<br />
mehr kann man Kinder mit<br />
Anrechten auf Sach- und<br />
Dienstleistungen ausstatten.<br />
Diese Art von indirekten<br />
Transferleistungen hat den<br />
großen Vorzug, dass sie direkt<br />
beim Kind ankommen,<br />
ein Missbrauch ist insofern<br />
ausgeschlossen.<br />
Der erwartbare Hinweis,<br />
dass eine solche Grundsicherung<br />
viel zu teuer sei,<br />
überzeugt nicht. Denn wir<br />
geben heute schon in einem<br />
großen Maße Geld für Familien<br />
und Kinder aus, ohne<br />
Friedrich-Schiller-Universität<br />
Prof. Dr. Roland Merten, M.A.<br />
dass bisher eine kritische<br />
Jena<br />
Prüfung erfolgt wäre, ob<br />
Institut für Erziehungswissenschaft<br />
damit auch der gewünschte<br />
Zweck erreicht wird. Der<br />
und außerschulische Bildung<br />
Lehrstuhl für Sozialpädagogik<br />
Blick auf die hier präsentierten<br />
Armutszahlen lässt<br />
D-07737 Jena<br />
Carl-Zeiß-Platz 1<br />
daran erheblich Zweifel aufkommen.<br />
Es bedarf insofern<br />
http://www.uni-jena.de/<br />
team.html<br />
einer offenen und klaren<br />
Analyse, wofür wir Geld ausgeben<br />
und ob sich dieses Geld nicht<br />
besser anlegen lässt – in die Zukunft<br />
unserer Kinder und damit nicht zuletzt<br />
auch in unsere eigene Zukunft. Wenn<br />
wir erkennen, dass das nicht Kosten<br />
sind, sondern Investitionen, dann ist<br />
die erste Hälfte des Wegs bereits beschritten.<br />
Der Rest ist die kluge Umsetzung<br />
des für richtig Erkannten!<br />
200<br />
150<br />
143<br />
155<br />
146<br />
131 136 162<br />
Abb. 3:<br />
Zunahme<br />
der Kinderarmutsquote<br />
nach Hartz IV<br />
100<br />
50<br />
0<br />
Schleswig-Holstein<br />
Saarland<br />
Rheinland-Pfalz<br />
NRW<br />
Niedersachsen<br />
He ssen<br />
Hamburg<br />
Bremen<br />
Berlin<br />
Bayern<br />
Baden-Württemberg<br />
56<br />
71<br />
51<br />
32 31 39 56 61 85<br />
32<br />
60 56<br />
Durchschnitt<br />
Neue Bundesländer<br />
Durchschnitt<br />
Alte Bundesländer<br />
Thüringen<br />
Sachsen-Anhalt<br />
Sachsen<br />
M-VP<br />
Brandenburg<br />
linke Seite:<br />
Zunahme der<br />
Kinderarmut in<br />
den Alten Bundesländern<br />
(56 %);<br />
dunkle Säulen:<br />
durchschnittlicher<br />
bzw. überdurchschnittlicher<br />
Zuwachs;<br />
rechte Seite:<br />
Zunahme der<br />
Kinderarmut in<br />
den Neuen Bundesländern<br />
(143 %);<br />
dunkle Säulen:<br />
durchschnittlicher<br />
bzw. überdurchschnittlicher<br />
Zuwachs<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Thema: Kinderarmut<br />
Bildungsgerechtigkeit – ein hohles Versprechen?<br />
Wie Armut und Bildungsmöglichkeiten zusammenhängen und<br />
welche Rolle die Schule dabei spielt oder spielen könnte.<br />
von<br />
Angelika<br />
Speck-Hamdan<br />
Artikel 26<br />
Der Artikel 26 der allgemeinen Menschenrechte,<br />
von der UN-Vollversammlung<br />
im Jahr 1948 verabschiedet,<br />
schreibt das Recht auf Bildung für jeden<br />
Menschen fest.<br />
1. Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. Der<br />
Unterricht muss wenigstens in den Elementar- und<br />
<strong>Grundschule</strong>n unentgeltlich sein. Der Elementarunterricht<br />
ist obligatorisch. Fachlicher und beruflicher<br />
Unterricht soll allgemein zugänglich sein;<br />
die höheren Studien sollen allen nach Maßgabe<br />
ihrer Fähigkeiten und Leistungen in gleicher Weise<br />
offen stehen.<br />
2. Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der<br />
menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der<br />
Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />
zum Ziele haben. Sie soll Verständnis, Duldsamkeit<br />
und Freundschaft zwischen allen Nationen und<br />
allen rassischen oder religiösen Gruppen fördern<br />
und die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung<br />
des Friedens begünstigen.<br />
3. In erster Linie haben die Eltern das Recht, die<br />
Art der ihren Kindern zuteil werdenden Bildung zu<br />
bestimmen.<br />
Dahinter steht die Überzeugung, dass<br />
Bildung ein unabdingbares Menschenrecht<br />
ist. Enthalten ist auch der Anspruch,<br />
dass jedem Kind und Jugendlichen<br />
eine seinen Fähigkeiten oder<br />
Begabungen entsprechende Bildung<br />
ermöglicht werden soll. In den Landesverfassungen,<br />
die das Bildungswesen<br />
in Deutschland regeln, wird dieser Bildungsanspruch<br />
vielfach noch durch<br />
den Hinweis darauf untermauert,<br />
dass nicht die gesellschaftliche oder<br />
wirtschaftliche Stellung der Eltern für<br />
die Wahl eines Ausbildungsganges<br />
maßgeblich sein darf. Jedes Kind und<br />
jeder Jugendliche soll die Bildungsmöglichkeiten<br />
ausschöpfen können,<br />
die seinen Potenzialen entsprechen.<br />
Soweit die Grundüberzeugung, die den<br />
bildungspolitischen Gestaltungsraum<br />
bestimmt und über die mit Sicherheit<br />
Einigkeit über alle politischen Lager<br />
hinweg herrscht.<br />
Zur Lage<br />
Doch entzündet sich in letzter Zeit<br />
wieder einmal der Streit daran, wie diesem<br />
Recht auf bestmögliche Bildung<br />
für alle bildungspolitisch und pädagogisch<br />
Rechnung getragen werden<br />
kann. Denn die Schulleistungsstudien<br />
der letzten Jahre haben vor allem einen<br />
Mangel besonders hervorgehoben:<br />
die äußerst enge Koppelung des Schulerfolgs<br />
an den sozioökonomischen<br />
Status des Elternhauses. Damit steht<br />
fest, dass trotz übereinstimmender<br />
Grundüberzeugung es dem Bildungswesen<br />
in Deutschland nicht möglich<br />
ist, den Bildungserfolg an den Potenzialen<br />
– sprich der Leistungsfähigkeit der<br />
Schülerinnen und Schüler – zu orientieren.<br />
Zur Erinnerung noch einmal zwei<br />
wesentliche Befunde:<br />
n PISA 2000 wies in keinem anderen<br />
Land einen so engen Zusammenhang<br />
zwischen dem beruflichen Status der<br />
Eltern und der Lesekompetenz der untersuchten<br />
15-Jährigen wie in Deutschland<br />
nach. Auch in den anderen Kompetenzbereichen<br />
war eine ähnliche,<br />
ungewöhnlich straffe Koppelung von<br />
sozialer Herkunft und Leistung zu beobachten.<br />
n Die soziale Herkunft bestimmt in<br />
äußerst hohem Maße die Zuteilung<br />
zur Schulform. So haben Kinder aus<br />
höheren Schichten bei gleicher Leistung<br />
drei- bis viermal bessere Chancen<br />
auf ein Gymnasium statt auf eine<br />
Realschule zu kommen als Kinder aus<br />
Facharbeiterhaushalten.<br />
Um die Brisanz dieser Befunde einschätzen<br />
zu können, ist es notwendig,<br />
sich die Bedeutung von Bildungsabschlüssen<br />
für die weitere Lebensgestaltung<br />
vor Augen zu führen. Ein hochwertiger<br />
Bildungsabschluss schützt auch<br />
heute noch am besten vor Arbeitslosigkeit.<br />
Er lässt sich in der Regel auch<br />
in ein gutes Einkommen und einen hohen<br />
Lebensstandard umsetzen. Rainer<br />
Geißler (2006) zählt eine ganze Reihe<br />
von Vorteilen auf, die mit einer hohen<br />
Qualifizierung einhergehen:<br />
n »Besserqualifizierte leben tendenziell<br />
gesünder als Niedrigqualifizierte.<br />
So sind z. B. ihre Arbeitsplätze weniger<br />
gesundheitsschädigend, sie rauchen<br />
weniger, ernähren sich gesünder, treiben<br />
mehr Sport, nutzen häufiger die<br />
Gesundheitsvorsorge. Daher treten bei<br />
ihnen auch viele Krankheiten seltener<br />
auf und sie leben länger (Weber 1994,<br />
Mielck 2000, Morschhäuser 2005)«<br />
(a. a. O., S. 34 / 35).<br />
n »Das Risiko der Ungelernten, arbeitslos<br />
zu werden, lag in den letzten<br />
25 Jahren stets um mindestens das 3-<br />
bis 6-fache über dem der Studierten«<br />
(a. a. O., S. 35).<br />
n »Circa Zweidrittel der Häftlinge im<br />
Jugendstrafvollzug haben die Hauptschule<br />
nicht abgeschlossen, und nur<br />
etwa jeder Tausendste hat ein Gymnasium<br />
besucht« (a. a. O., S. 35).<br />
n »Die viel beschworene Individualisierung<br />
des Lebens in der Moderne vollzieht<br />
sich nicht etwa mit gleichmäßiger<br />
Intensität in allen Bildungsschichten,<br />
..., sondern sie ist vor allem ein Phänomen<br />
im Umfeld akademischer Milieus<br />
(Konietzka 1995: 125)« (a. a. O., S. 35).<br />
Bildung ist somit ein mächtiges Kapital<br />
für das ganze Leben. Es fungiert<br />
als hoch bedeutsame Ressource für<br />
die Chancen der persönlichen Lebensgestaltung.<br />
Diese Einschätzung ist der<br />
Hauptmotor für den Druck, den Eltern<br />
oft bei anstehenden Schullaufbahnentscheidungen<br />
ausüben. Aus ihr erwächst<br />
aber auch – gekoppelt mit dem<br />
oben angesprochenen Menschenrecht<br />
auf Bildung – die gesellschaftlich zu<br />
lösende Aufgabe der Bildungsgerechtigkeit.<br />
Die Ressource Bildung muss<br />
gleichermaßen allen Kindern und Jugendlichen<br />
offenstehen.<br />
Die Diskussion um diese wichtige<br />
soziale Frage beschäftigt Wissenschaft<br />
und Fachöffentlichkeit nicht erst seit<br />
gestern. Der Anstoß zur Bildungsre-<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Thema: Kinderarmut<br />
form der sechziger und siebziger Jahre<br />
des letzten Jahrhunderts speiste sich<br />
genau aus dieser prekären Ungleichheitsbeobachtung.<br />
Die Kunstfigur des<br />
»katholischen Arbeitermädchens vom<br />
Lande« vereinte all jene Benachteiligungsfaktoren,<br />
die seinerzeit ausfindig<br />
gemacht wurden. Die bildungspolitischen<br />
Anstrengungen richteten sich<br />
in der Folge auf Chancenausgleich und<br />
die Förderung von Begabungsreserven,<br />
wie es der damalige Sprachgebrauch<br />
ausdrückte. In der Tat konnte das Niveau<br />
der Abschlüsse verbessert werden,<br />
d. h. die Bildungschancen stiegen<br />
für alle Schichten. Auch konnten regionale,<br />
konfessionelle und geschlechtsspezifische<br />
Unterschiede abgebaut<br />
werden, doch konnten die schichttypischen<br />
Ungleichheiten insbesondere<br />
für das Gymnasium und die Hauptschule<br />
nicht beseitigt werden. Bei den<br />
mittleren Schulabschlüssen konnten<br />
die Unterschiede verringert werden.<br />
Es muss aber konstatiert werden, dass<br />
trotz vielfacher Anstrengungen insgesamt<br />
das Ziel der Chancengleichheit<br />
für alle nur ansatzweise erreicht werden<br />
konnte. LAU, TIMSS, PISA, IGLU und<br />
einige andere Studien wiesen übereinstimmend<br />
und unmissverständlich auf<br />
immer noch vorhandene soziale Disparitäten<br />
im Bildungswesen hin.<br />
Geradezu aufgeschreckt reagierte<br />
die interessierte Öffentlichkeit, als<br />
im vergangenen Jahr der UN-Sonderberichterstatter<br />
für das Recht auf Bildung,<br />
Prof. Dr. Vernor Munoz Villalobos,<br />
Deutschland bereiste, um sich<br />
über die Einhaltung dieses Rechts ein<br />
Bild zu verschaffen. Der Bericht darüber<br />
ist noch nicht erschienen.<br />
Zusammenhänge<br />
Wie hängt nun aber die sozioökonomische<br />
Lage der Eltern mit den zu erreichenden<br />
Bildungsabschlüssen bzw.<br />
dem Schulerfolg zusammen? Einfache<br />
Erklärungen gibt es ebenso wenig wie<br />
eine umfassende Theorie. Es lassen<br />
sich lediglich einige Hinweise geben,<br />
die sich auch empirisch untermauern<br />
lassen.<br />
In engem Zusammenhang mit der<br />
sozioökonomischen Lage ist das Bildungsniveau<br />
der Eltern zu sehen. Wie<br />
oben erwähnt, ist die Erreichung eines<br />
sozialen Status in erheblichem Maß an<br />
den erreichten Bildungsabschluss gekoppelt.<br />
Das Bildungsniveau und der<br />
sozioökonomische Status zählen zusammen<br />
mit der Komponente Migrationsstatus<br />
zu den so genannten Strukturmerkmalen<br />
der sozialen Herkunft,<br />
wie sie beispielsweise in PISA erhoben<br />
wurden. Diese Strukturmerkmale korrespondieren<br />
mit den so genannten<br />
Prozessmerkmalen, über die direkte<br />
Einflüsse auf die Bildungsverläufe vermutet<br />
werden. Als Prozessmerkmale<br />
halten Watermann und Baumert<br />
(2006, S. 65 ff.) das konsumtive Verhalten<br />
(Wohlstandsgüter), die kulturelle<br />
Praxis sowie die kommunikative<br />
und soziale Praxis in einer Familie fest.<br />
Während der Einfluss des konsumtiven<br />
Verhaltens auf die Unterschiede im<br />
Bildungsverlauf hier eher als gering<br />
eingeschätzt wird, werden der kulturellen<br />
sowie der kommunikativen und<br />
sozialen Praxis mehr Gewicht zugemessen.<br />
Eltern geben über diese Praxen<br />
bildungsrelevante Einstellungen,<br />
Gewohnheiten oder auch einfach nur<br />
Informationen weiter, die von den Kindern<br />
in Bildungserfolge umgewandelt<br />
werden können. Eltern aus höheren<br />
sozialen Milieus und mit einem höheren<br />
Bildungsniveau sind besser in<br />
der Lage, sich auf die Anforderungen<br />
des Bildungssystems einzustellen. Sie<br />
fördern all jene Fähigkeiten und Einstellungen,<br />
die sich in der Schule als<br />
nützlich erweisen. Sie sind in der Lage,<br />
die Bedingungen des Aufwachsens<br />
für ihre Kinder auch im Hinblick auf<br />
deren Bildungsansprüche zu optimieren.<br />
Schichttypische Familienmilieus<br />
bewirken schichttypische Kompetenzund<br />
Leistungsunterschiede bei den<br />
Kindern und Jugendlichen. Geißler<br />
(2006) warnt davor, an dieser Stelle in<br />
schichtspezifische Denk-Klischees zu<br />
verfallen und weist »mit Nachdruck«<br />
darauf hin, »dass es bei den Leistungen<br />
erhebliche Überlappungen zwischen<br />
den Schichten gibt« (Geißler 2006,<br />
S. 41).<br />
Schließlich sind es auch nicht nur<br />
die Leistungen, die sich in den erreichten<br />
Bildungsabschlüssen widerspiegeln;<br />
an mehreren Nahtstellen des<br />
Schulsystems werden Entscheidungen<br />
getroffen, die von weit reichender<br />
Konsequenz für die weiteren Bildungsmöglichkeiten<br />
sind. Der Eintritt in<br />
eine bestimmte Schulform gibt einen<br />
Rahmen für den zu erreichenden Abschluss<br />
vor; das trifft in besonderer<br />
Weise für die Nahtstelle <strong>Grundschule</strong> –<br />
Sekundarstufe zu. Grundlage für diese<br />
Entscheidungen sollen die erbrachten<br />
Leistungen bzw. die zu erwartenden<br />
Leistungserfolge sein. Nun zeigen<br />
aber die empirischen Daten, dass sich<br />
zwar bei den besonders schwachen<br />
und besonders starken Schülerinnen<br />
und Schülern eine relativ klare Zuordnung<br />
von Leistung und Schulform<br />
finden lässt, dass es aber im mittleren<br />
Leistungsbereich einen relativ großen<br />
Anteil an unklaren Zuordnungen<br />
gibt. Es scheint geradezu vom Zufall<br />
abzuhängen, welcher Schulform ein<br />
Grundschulkind beim Übergang in die<br />
Sekundarstufe zugewiesen wird. Bei<br />
genauerem Hinsehen wirkt sich der<br />
Herkunftsfaktor aus. Kinder aus Familien<br />
mit ungünstigen Strukturmerkmalen<br />
wechseln bei gleicher Leistung eher<br />
zu den weniger anspruchsvollen Schulformen.<br />
Umgekehrt gilt dasselbe. Wie<br />
erklärt sich dies?<br />
Grundsätzlich lassen sich hier zwei<br />
Mechanismen beobachten. Zum einen<br />
sind es die Eltern selbst, die ihren<br />
Entscheidungsspielraum im Sinne des<br />
Statuserhalts nutzen. Das gilt sowohl<br />
für die Angehörigen der so genannten<br />
höheren als auch die der so genannten<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Thema: Kinderarmut<br />
Dr. Angelika Speck-Hamdan,<br />
Professorin für Grundschulpädagogik<br />
und -didaktik<br />
an der Universität München,<br />
Fachreferentin für Bildungsgerechtigkeit<br />
im Grundschulverband<br />
unteren Schichten. Während bei Eltern<br />
mit günstigeren sozioökonomischen<br />
Bedingungen die Vermeidung des sozialen<br />
Abstiegs das vorherrschende<br />
Motiv zu sein scheint, für das auch<br />
hohe Investitionen in Kauf genommen<br />
werden, scheinen Eltern mit ungünstigeren<br />
sozioökonomischen Voraussetzungen<br />
für ihre Kinder das Risiko des<br />
Scheiterns vermeiden zu wollen, indem<br />
sie sie auch bei guten Leistungen häufig<br />
nicht auf ein Gymnasium geben.<br />
Dagegen setzen Eltern bildungsbewusster<br />
Milieus ihren Wunsch nach<br />
dem Gymnasium oft auch gegen die<br />
Empfehlung der <strong>Grundschule</strong> durch. In<br />
beiden Fällen orientieren sich die Eltern<br />
nicht an der tatsächlichen Leistung des<br />
Kindes, sondern vielmehr an der Zukunftsvorstellung,<br />
die mit der Schulformwahl<br />
verbunden wird.<br />
Zum andern sind es die Lehrerinnen<br />
und Lehrer, die bei der Formulierung<br />
ihrer Übertrittsempfehlung nicht nur<br />
die tatsächliche Leistung des einzelnen<br />
Kindes im Auge haben. In nahezu allen<br />
Ländern wird darauf Wert gelegt, dass<br />
sich die Empfehlung der <strong>Grundschule</strong><br />
auf das gesamte Lern- und Leistungsverhalten<br />
des Kindes stützen soll. Die<br />
Schule soll eine möglichst verlässliche<br />
Prognose über den weiteren Schulerfolg<br />
treffen. Zur Absicherung einer<br />
solchen Vorhersage werden demnach<br />
auch »weichere« Faktoren herangezogen,<br />
wie z. B. das Arbeitsverhalten, die<br />
Selbstständigkeit beim Lernen oder<br />
auch die Einschätzung der häuslichen<br />
Unterstützung – Faktoren, die zweifellos<br />
Auswirkungen auf die schulische<br />
Leistungsfähigkeit haben. Grundschullehrer/innen<br />
sprechen sich bei<br />
Kindern aus bildungsferneren Elternhäusern<br />
eher gegen eine Empfehlung<br />
für das Gymnasium aus, auch wenn<br />
die Leistungen dies zulassen würden.<br />
Faktisch verringern sich damit die Bildungschancen<br />
ohnehin benachteiligter<br />
Schülerinnen und Schüler noch weiter.<br />
Es wäre aber nicht fair, den Lehrerinnen<br />
und Lehrern eine bewusste Benachteiligung<br />
von Kindern mit ungünstigen<br />
Strukturmerkmalen ihrer Herkunft zu<br />
unterstellen. Vielmehr scheint es sich<br />
um eine vorausschauende Abschätzung<br />
der Risiken zu handeln, mit der<br />
versucht wird, die Kinder vor Misserfolgen<br />
zu bewahren.<br />
Bildung und Armut<br />
Was geschieht, wenn die vorgenannten<br />
Wirkmechanismen in ungünstiger Weise<br />
zum Tragen kommen? Welche Bildungsrisiken<br />
haben diejenigen Kinder<br />
und Jugendlichen zu tragen, die unter<br />
ungünstigen sozialen Bedingungen<br />
aufwachsen, die als arm zu bezeichnen<br />
sind, wie es Roland Merten in seinem<br />
Beitrag in diesem Heft beschreibt?<br />
Von Armut betroffen zu sein, bedeutet<br />
für Kinder vor allem dreierlei:<br />
n Einschränkung<br />
n Ausgrenzung<br />
n Belastung.<br />
Einschränkung bezieht sich vor allem<br />
auf die Erfahrungs-, Erlebens- und Lernmöglichkeiten,<br />
an die das schulische<br />
Lernen in der Regel anknüpft. Eine Lebensbewältigung<br />
auf elementarem Niveau<br />
lässt gewisse Möglichkeiten wie<br />
den Besuch von Zoo, Theater, Museum<br />
oder Sportveranstaltungen, die Urlaubsreise<br />
ans Meer oder in die Berge,<br />
den Wochenendausflug ins Erlebnisbad<br />
oder in den Wildpark einfach nicht zu.<br />
Auch der Kauf von hochwertigen Kinderbüchern<br />
oder gutem Edutainment<br />
lässt sich mit einem schmalen Budget<br />
nicht bewerkstelligen. Die damit zu erwartenden<br />
Lern- und Entwicklungsimpulse<br />
sind nicht vorhanden. Auch die<br />
Einschränkung von Konsummöglichkeiten<br />
kann mit einer Einengung von<br />
Erfahrungsmöglichkeiten einhergehen.<br />
Erfahrungen als Basis aber stecken sozusagen<br />
den Rahmen für mögliche<br />
Kontakte, für Kommunikation, soziale<br />
Praxis und kognitive Verstehensprozesse<br />
ab. Während diese Basis unter Armutsbedingungen<br />
stark eingeschränkt<br />
wird, können Familien mit günstigen<br />
strukturellen Bedingungen sie in hohem<br />
Maß verbreitern, indem sie ihren<br />
Kindern von Anfang an zusätzliche Förderangebote<br />
zuteil werden lassen, wie<br />
z. B. Englisch im Kindergarten oder Malen<br />
unter künstlerischer Anleitung.<br />
Verstärkt wird diese Einschränkung<br />
der Erfahrungsmöglichkeiten durch die<br />
oft zu beobachtende räumliche Segregation<br />
armer Bevölkerungsschichten<br />
in so genannte soziale Brennpunkte,<br />
die sich gerade durch Anregungsarmut<br />
auszeichnen. In diesem Zusammenhang<br />
wird auch in Deutschland von<br />
sozialen Gettos gesprochen.<br />
Die Ausgrenzung, die sich bereits in<br />
der räumlichen Segregation zeigt, manifestiert<br />
sich aber vor allem in einer<br />
sozialen Ausgrenzung. Wenn allgemeine<br />
Erfahrungen nicht geteilt werden<br />
können, kann nicht nur die Kommunikation<br />
darüber nicht hinreichend<br />
geführt werden, es stellt sich auch ein<br />
Gefühl des Nichtdazugehörens ein.<br />
Stigmatisierung und Diskriminierung<br />
sind die negativen Folgen des Ausgegrenztseins.<br />
Darunter leiden auch<br />
schon Grundschulkinder. Die Gruppe<br />
der Gleichaltrigen spielt für die soziale<br />
Entwicklung für Kinder eine entscheidende<br />
Rolle. Anerkennung und<br />
Eingebundensein sind wichtige Bedingungen<br />
für das Wohlbefinden und das<br />
Selbstwertgefühl. Ausgrenzungserfahrungen<br />
führen zu Isolation und möglicherweise<br />
zur eigenen Abwertung.<br />
Wenn – wie in einer Münchner Hauptschulklasse<br />
beobachtet (Süddeutsche<br />
Zeitung vom 25. 11. 2006) – ein Großteil<br />
der Schülerinnen und Schüler auf das<br />
Namensschild der Hefte nur noch »Loser«<br />
schreibt, ist dies wohl als ein Ausdruck<br />
dieses Gefühls zu verstehen.<br />
Von Belastung sind Kinder in Armut in<br />
vielfacher Weise betroffen. So können<br />
negative Auswirkungen auf Ernährung,<br />
Körperpflege und Gesundheitsvorsorge<br />
beobachtet werden. Auch bergen<br />
die Armutserfahrungen ein höheres<br />
Konfliktpotenzial in den Familien, das<br />
sich nicht selten in häuslicher Gewalt<br />
niederschlägt. Palentien (2005, S. 162)<br />
berichtet zudem von Schlafstörungen,<br />
Lernproblemen und Rückzugstendenzen<br />
aus sozialen Kontakten. Arme<br />
Kinder geben ihren Gesundheitszu-<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Thema: Kinderarmut<br />
stand häufiger als nur einigermaßen<br />
gesund oder schlecht an. Das betrifft<br />
die verschiedensten gesundheitlichen<br />
Beschwerden, wie im von der Universität<br />
Bielefeld erstellten Jugendgesundheitssurvey<br />
(zit. in Becker 2002)<br />
festgestellt wurde. Der Zusammenhang<br />
zwischen Armut und belasteter<br />
Gesundheit lässt sich dabei nicht nur<br />
für psychosomatische, sondern auch<br />
für physische Beschwerden nachweisen.<br />
Allerdings sind diese Belastungen<br />
nicht allein durch die Folgen der materiellen<br />
Armut erklärbar, sie müssen vor<br />
allem als Folge psychosozialer Armut<br />
im Sinne von Einschränkung und Ausgrenzung<br />
gesehen werden (vgl. Becker<br />
2002).<br />
Einschränkung, Ausgrenzung und<br />
Belastung erschweren die Nutzung<br />
von Bildungsangeboten erheblich, zumal<br />
– bedingt durch die häufig anzutreffende<br />
Koppelung von materieller<br />
Armut und Bildungsarmut – die Unterstützungsleistungen<br />
der Eltern, die das<br />
deutsche Schulsystem stillschweigend<br />
voraussetzt, kaum zu erbringen sind.<br />
Was ist also zu tun?<br />
Die Rolle der Schule<br />
In der bekannten Kauai-Studie von<br />
Werner und Smith, in der eine ganze<br />
Geburtskohorte (Jahrgang 955) der<br />
Hawai-Insel Kauai über Jahre hinweg in<br />
ihrer Entwicklung begleitet und untersucht<br />
wurde, zeigte sich die Gruppe der<br />
Resilienten, also derjenigen, die trotz<br />
widriger Entwicklungsbedingungen<br />
wie chronischer Armut relativ gut durch<br />
Kindheit und Jugendalter gekommen<br />
waren, in besonderer Weise »bildungsbeflissen«<br />
(vgl. Göppel 999, S. 79). Sie<br />
erreichte ein überdurchschnittliches<br />
Bildungsniveau, das weit über dem<br />
ihrer Herkunftsfamilie lag. Die Kinder<br />
und Jugendlichen waren in der Lage,<br />
die Bildungsangebote für sich zu nutzen<br />
und konnten deshalb ihr Leben<br />
meistern. Emmy Werner schreibt dazu:<br />
»Die meisten Studien haben festgestellt,<br />
dass resiliente Kinder die Schule<br />
lieben, sei es die Vorschule, die Primarschule<br />
oder die High School ... In vielen<br />
Fällen machen diese Kinder die Schule<br />
zu einem Heim fern von daheim, einem<br />
Zufluchtsort vor einer konfusen Familiensituation<br />
(Werner 990, 09, übers.<br />
R.G.)« (Göppel 999, S. 80). Die Schule<br />
stellt für diese Kinder eine Schutzfunktion<br />
bereit, indem sie einen Raum für<br />
relativ unbelastete Lernerfahrungen<br />
mit Anschlusskommunikationen und<br />
Verarbeitungen bietet. Damit können<br />
sich Kompetenzgefühle entwickeln,<br />
die zur Stabilisierung eines positiven<br />
Selbstvertrauens beitragen.<br />
Schule trägt zweifellos zur Persönlichkeitsbildung<br />
wie zur Allgemeinbildung<br />
bei. Die Kinder verbringen<br />
schließlich einen Großteil ihrer Zeit<br />
in der Schule. Der Anteil ihres Einflusses<br />
gegenüber der Familie wird<br />
unterschiedlich angegeben, er ist aber<br />
nicht unerheblich und hängt mit Sicherheit<br />
auch davon ab, wie Schule<br />
organisiert ist. Schule kann zur Quelle<br />
von Versagen werden, sie kann die<br />
Pädagogische Leistungskultur<br />
Band 118<br />
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Herbst 2007<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
9
Thema: Kinderarmut<br />
sozialen Abwertungsprozesse verstärken<br />
und kann so zur Kumulation der<br />
belastenden Bedingungen beitragen.<br />
Schule kann aber auch zum Schutzfaktor<br />
werden, ähnlich wie von Emmy<br />
Werner beschrieben. Konkret sollen<br />
im Folgenden sieben protektive Möglichkeiten<br />
aufgezeigt werden.<br />
Sieben Möglichkeiten<br />
n Ausbau der (kostenfreien)<br />
vorschulischen Bildung<br />
Da sich Armutseffekte auf die Erfahrungs-<br />
und Lernmöglichkeiten nicht<br />
erst in der Schule zeigen, scheint es<br />
geboten, das Bildungsangebot bereits<br />
früher als bisher und kostenfrei zur<br />
Verfügung zu stellen. Ob ein verpflichtendes<br />
Jahr vor der Schule, wie es der<br />
Grundschulverband bisher fordert, die<br />
schwierige Aufgabe des Nachteilsausgleichs<br />
zumindest weitgehend leisten<br />
kann, sollte weiter untersucht werden.<br />
Es sollte ebenso überlegt werden, ob<br />
nicht durch die Kostenfreiheit vor allem<br />
auch jüngere Kinder in den Genuss erweiterter<br />
Entwicklungsmöglichkeiten<br />
kommen können.<br />
n Ganztagsschule<br />
Die Ganztagsschule bietet ohne Zweifel<br />
hervorragende Möglichkeiten, die<br />
Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten<br />
von armen Kindern zu erweitern und zu<br />
vertiefen (vgl. Band 122 des Grundschulverbandes).<br />
Ein breit gefächertes Angebot<br />
kann Interessen wecken, vielfältige<br />
Kompetenzerfahrungen ermöglichen<br />
und zudem einen geeigneten Rahmen<br />
für geteilte Erfahrungen und Kommunikationen<br />
schaffen. Dass außerdem<br />
die Ernährungssituation dadurch für<br />
viele Kinder verbessert werden kann,<br />
auch die Gesundheitsvorsorge einen<br />
festen Platz im Leben der Kinder erhält,<br />
sei nur am Rand erwähnt.<br />
n Spezielle, individuell abgestimmte<br />
Förderangebote<br />
Die Einschränkungen des lebensweltlichen<br />
Horizonts machen sich u. a. in<br />
fehlenden Lernvoraussetzungen bemerkbar,<br />
was viele Lehrerinnen und<br />
Lehrer gerade im Hinblick auf die<br />
Sprache bestätigen. Vor allem in einer<br />
Schule mit mehr Zeit zum Lernen<br />
lassen sich vermehrt individuelle Förderangebote<br />
platzieren. Es ist anzunehmen,<br />
dass gerade Kinder, die wenig<br />
Lernerfahrungen haben, mehr auf die<br />
unterstützende Hilfe eines zuverlässigen<br />
Erwachsenen angewiesen sind.<br />
Die Devise muss lauten: Fördern statt<br />
Auslesen!<br />
n Verzicht auf frühe Selektion<br />
Im Sinne dieser Devise ergibt sich als<br />
weitere protektive Möglichkeit der Verzicht<br />
auf die frühe und – wie gezeigt<br />
– durchaus nicht immer leistungsgerechte<br />
Auslese. Sie grenzt aus statt Zugehörigkeit<br />
zu schaffen. Sie verstärkt<br />
das wenig motivierende Gefühl des<br />
Versagens. Eine längere gemeinsame<br />
Schulzeit für alle Kinder bietet dagegen<br />
Gelegenheit Entwicklungen Zeit zu geben<br />
und etwaige versäumte Lerngelegenheiten<br />
nachzuholen.<br />
n Positives Klassenklima<br />
Der Ausgrenzung kann vor allem durch<br />
ein beschützendes und Sicherheit vermittelndes<br />
Klassenklima entgegengewirkt<br />
werden, das Diskriminierung<br />
ausschließt und vor allem auf einer<br />
Haltung des gegenseitigen Respekts<br />
und der gegenseitigen Achtung fußt.<br />
Auch dafür gibt es ausgezeichnete<br />
Beispiele. Gerade Kinder, die Ausgrenzung<br />
im Alltag oft genug erleben, an<br />
sich selbst, an ihrer Familie, an ihrer<br />
Wohngegend, sind äußerst empfindlich,<br />
was Anerkennung angeht. Schädlich<br />
ist es auch, wenn in der Klasse<br />
Misserfolge zu sehr öffentlich gemacht<br />
werden, Kinder also beschämenden<br />
Situationen ausgesetzt sind. Viele Kinder<br />
reagieren darauf mit Verweigerung<br />
oder Rückzug, d. h. sie werden, um der<br />
Situation zu entgehen, zum Kind mit<br />
Verhaltensproblemen, zum Klassenclown<br />
oder zum permanenten Störer.<br />
n Verzicht auf Noten<br />
Noten machen den sozialen Vergleich<br />
öffentlich. Sie schaden Kindern,<br />
die im Vergleich ständig schlecht<br />
abschneiden. Die Mechanismen des<br />
Zusammenhangs zwischen Selbstvertrauen<br />
und Leistungsfähigkeit sind<br />
hinlänglich bekannt. Kinder mit eingeschränkten<br />
Lerndispositionen werden<br />
zusätzlich behindert durch Vergleiche<br />
mit denen, die von völlig anderen Positionen<br />
aus gestartet sind. Wenn Noten<br />
schädlich sind, dann sind sie es für<br />
arme Kinder ganz besonders.<br />
n Schaffung sozialer Netzwerke<br />
Die Schule allein ist möglicherweise<br />
mit der weit reichenden Aufgabe<br />
Entwicklungs- und Bildungsrisiken zu<br />
entschärfen oder abzupuffern, überfordert,<br />
zumal die familiäre Situation<br />
von ihr nicht zu ändern ist. Es ist daher<br />
ein viel versprechender Ansatz, um<br />
Kinder in Armutslagen wirksame soziale<br />
Netzwerke aufzubauen, die nicht<br />
nur den Kindern, sondern auch ihren<br />
Familien unterstützend zur Seite stehen<br />
können.<br />
Lässt sich durch die aufgezeigten Maßnahmen<br />
mehr Bildungsgerechtigkeit<br />
schaffen? Der internationale Vergleich<br />
spricht dafür. Denn andere Länder sind<br />
erfolgreicher in der Einlösung des Bildungsanspruchs<br />
für Kinder aus ungünstigen<br />
Herkunftsmilieus. Bildungsangebote<br />
müssen gerade für arme<br />
Kinder leicht erreichbar, ganztägig vorgehalten,<br />
förderorientiert und nichtdiskriminierend<br />
gestaltet sein. Dann<br />
kann die Schule einen kleinen Beitrag<br />
zur Bildungsgerechtigkeit leisten. Um<br />
Wirksamkeit tatsächlich entfalten zu<br />
können, müssen jedoch solche bildungspolitischen<br />
Maßnahmen durch<br />
sozialpolitische ergänzt werden.<br />
Literatur<br />
Becker, Ulrich (2002) Armut und Gesundheit – Macht Armut Kinder<br />
krank? Vortrag auf dem Remscheider Jugendhilfetag am 28. 10. 2002,<br />
http://www.fb4.fh-frankfurt.de/projekte/hbsc/dokumente/vortrag_<br />
remscheid.pdf (5. 1. 2007)<br />
Geißler, Rainer (2006) Bildungschancen und soziale Herkunft.<br />
In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 4/ 2006,<br />
S. 34 – 49<br />
Göppel, Rolf (1999) Bildung als Chance. In: Opp, G., Fingerle, M. &<br />
Freytag, A. (Hrsg.) Was kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und<br />
Resilienz. München: Reinhardt Verlag, S. 170 – 190<br />
Palentien, Christian (2005) Aufwachsen in Armut – Aufwachsen in<br />
Bildungsarmut. Über den Zusammenhang von Armut und Schulerfolg.<br />
In: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 2, Jahrgang 51, S. 154 – 169<br />
Rühle, Alex (26 .11. 2006) Jugend ohne Traum. Endstation Hauptschule.<br />
In: Süddeutsche Zeitung http://www.sueddeutsche.de/deutschland/<br />
artikel/793/92701/ (5.1.2007)<br />
Watermann, Rainer / Baumert, Jürgen (2006) Entwicklung eines<br />
Strukturmodells zum Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und<br />
fachlichen und überfachlichen Kompetenzen: Befunde national und<br />
international vergleichender Analysen. In: Baumert, J.; Stanat, P. &<br />
Watermann, R. (Hrsg.) Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen.<br />
Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden:<br />
Verlag für Sozialwissenschaften, S. 61 – 94<br />
10 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />
»An den Kindern kann es nicht liegen!«<br />
– Über die Aussonderung der Armen in Deutschland<br />
In Armutsgebieten gibt es mehr als<br />
anderswo Kinder, die ihre Freizeit<br />
selbstständig im sozialen Nahraum<br />
verbringen. Sie werden mehr allein gelassen<br />
und müssen sich häufig selbst<br />
ernähren. Medienkonsum bestimmt<br />
häufig den Tag. Nicht selten sollen sie<br />
alleine morgens aufstehen, frühstücken,<br />
rechtzeitig zur Schule gehen, die<br />
Versorgung der Geschwister übernehmen.<br />
Kinder in benachteiligten Lebenslagen<br />
sind gezwungen, solche »Behinderungen«<br />
ihrer Entwicklung auf dem<br />
Weg zu »allgemeiner Bildung« zu überwinden.<br />
Wegen schwacher Schulleistungen<br />
und unangepasstem Verhalten<br />
»landen« die meisten auf Schulen, wo<br />
sich überwiegend Kinder aus armen<br />
Familien und Migranten treffen: auf<br />
Haupt- und »Behinderten«-Schulen.<br />
Den Gipfel der Aussonderung erlebt die<br />
Bevölkerungsgruppe der Roma in Mittel-<br />
und Osteuropa: Bis zu 75 % der Romakinder<br />
gehen in Schulen für geistig<br />
Behinderte.<br />
Der Teufelskreis beginnt in der Regel<br />
recht harmlos, nämlich damit, dass<br />
sich eine Grundschullehrerin durch ein<br />
Kind aus benachteiligten Lebenslagen<br />
überfordert fühlt. Nicht selten fangen<br />
auch Mitschüler an, sich wegen eines<br />
auffälligen Verhaltens zu beschweren.<br />
Sie grenzen sich ab, isolieren es und<br />
berichten zu Hause den Eltern. Einige<br />
Eltern suchen die Lehrerin auf und<br />
bitten darum, dass ihr Kind nicht mit<br />
dem »Störer« zusammen sitzen solle,<br />
er lenke ihr Kind vom Arbeiten ab. Die<br />
Lehrerin mahnt die Eltern des »schwierigen«<br />
Schülers mehrmals an und bittet<br />
um Mithilfe. Falls sie mit den Eltern<br />
keine Lösung findet, empfiehlt sie,<br />
eine Beratungsstelle aufzusuchen. Es<br />
vergehen Monate, in denen sich wenig<br />
verändert. Um sich zu entlasten, berichtet<br />
die Lehrerin den Kollegen und<br />
der Schulleitung von ihren Problemen.<br />
Die Schule schaltet eine Beratungsstelle<br />
oder einen sozialen Dienst ein, da die<br />
Eltern selbst keine Initiative ergreifen.<br />
Bei den üblichen Wartezeiten vergehen<br />
weitere Monate und das nächste Zeugnis<br />
rückt näher.<br />
In den Zensuren oder Gutachten spiegeln<br />
sich oft drastisch die hilflosen<br />
Versuche wider, dem Kind und den<br />
Eltern eine »letzte Warnung« mitzugeben.<br />
Spätestens jetzt droht die Nichtversetzung<br />
oder die Überweisung in<br />
eine »(Aus-)Sonder-Schule«. Der Fall<br />
belastet die ganze Klasse. Fachlehrer<br />
beklagen sich ebenfalls über Schwierigkeiten.<br />
Der Schüler erfährt, dass er<br />
in der Klassengemeinschaft keinen<br />
sicheren Platz hat. Ihm wird gesagt,<br />
dass er »rausfliegt«, wenn er »so weiter<br />
macht«. Kind, Eltern, Lehrerin und<br />
Klassengemeinschaft erleben sich fast<br />
täglich als hilflos. Die Abwärtsspirale<br />
ist nicht mehr zu bremsen. Ein sonderpädagogisches<br />
Verfahren wird eingeleitet,<br />
der IQ des Kindes getestet, seine<br />
Gesundheit geprüft, sein Verhalten<br />
von einem »Sonder«-Schullehrer beobachtet<br />
und protokolliert. Das Ergebnis<br />
dieser »Überprüfung« steht zwar nicht<br />
vorher fest, aber niemand kann sich in<br />
dieser verfahrenen Lage vorstellen, wie<br />
es weiterginge, wenn das Kind wider<br />
Erwarten doch in dieser Klasse bleiben<br />
müsste. Mindestens ein Wechsel wird<br />
empfohlen: »Das Kind gehört hier nicht<br />
hin. Wir sind die falsche Schule!« Am<br />
Ende finden wir ein entmutigtes Kind<br />
vor, das keine Chance hatte zu lernen,<br />
sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.<br />
Ein solches Kind war Thema einer Tagung<br />
mit dem Titel »Straßenkarrieren<br />
im Schnittpunkt von Jugendhilfe, Schule<br />
und Polizei«, die schon 1999 beispielhaft<br />
aufzeigte, wie öffentliche Institutionen<br />
an solche Probleme herangehen<br />
(vgl. Hansbauer 2000; Stähling 2006).<br />
Den Jungen nennen wir Uwe. Er gehört<br />
zu den 15 % der Schüler in Deutschland,<br />
die von Beginn der Pubertät an<br />
die Schule schwänzen.<br />
von<br />
Reinhard<br />
Stähling<br />
Uwe<br />
Uwe ist 2 Jahre alt: Vater hatte die Mutter<br />
öfter geschlagen. Mutter verlässt die<br />
Familie. Sie versucht Uwe zu sich zu<br />
nehmen, scheitert damit. Vater bedroht<br />
sie. Alkoholmissbrauch des Vaters. Vater<br />
verhindert, dass Uwe zu seiner Mutter<br />
Kontakt aufnimmt. Der Allgemeine Sozialdienst<br />
(ASD) besucht Vater und Uwe<br />
zu Hause, Vater bekommt vorläufiges<br />
Sorgerecht; Tagespflege: Betreuung bei<br />
Nachbarin.<br />
Ab 3 Jahre: Der Kontakt zwischen Mutter<br />
und Uwe ist abgebrochen. Neue<br />
Lebensgefährtin des Vaters mit 5-jähriger<br />
Tochter (bisher in Pflegefamilie)<br />
»Streit«<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
11
Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />
»Trösten«<br />
»Kinderversammlung«<br />
zieht in die Wohnung. Vater streitet sich<br />
lautstark mit der neuen Frau unter Alkoholeinfluss.<br />
Vater ist arbeitslos. Nach<br />
der Scheidung bekommt der Vater das<br />
Sorgerecht mit der Begründung, dass<br />
die leibliche Mutter den Kontakt zu Uwe<br />
abgebrochen hat. ASD hat keine weiteren<br />
Kontakte zum Vater. Nachts wird<br />
mehrfach die Polizei gerufen, um die<br />
Alkoholisierten zur Ruhe zu bringen.<br />
6 Jahre: Uwe fällt auf durch starke<br />
Aggressivität, Angst vor Menschen,<br />
Sprachstörungen. Das Verhältnis vom<br />
Vater und dessen Lebensgefährtin zu<br />
Uwe scheint zerstört. Uwes Verhaltensauffälligkeiten<br />
sind Thema im Kindergarten.<br />
Er wird vom Schulbesuch<br />
zurückgestellt.<br />
Ab 7 Jahre: Uwe besucht die Sprachheilschule<br />
und fällt dort durch sein Verhalten<br />
auf. Uwe verbringt ohne Wissen<br />
der Eltern ganze Nachmittage außer<br />
Haus. Lebensgefährtin des Vaters bittet<br />
um Hilfe durch den ASD, weil Uwe<br />
sich ihr gegenüber aggressiv verhält.<br />
ASD-Beratungsgespräche: das Angebot<br />
einer Erziehungsbeistandschaft<br />
wird abgelehnt. Vater weist Einblick des<br />
ASD in familiäre Verhältnisse zurück.<br />
ASD vermittelt Besuch der Familie bei<br />
einer Erziehungsberatungsstelle. Dort<br />
lehnt der Vater persönliche Fragen ab<br />
und sagt, dass nur Uwe eine psychologische<br />
Beratung benötige. Die Psychologin<br />
berät daraufhin die Familie nicht<br />
mehr weiter.<br />
10 Jahre: Uwe wechselt nach drei Jahren<br />
Sprachheilschule auf die Regelgrundschule,<br />
dann auf eine Gesamtschule.<br />
11 Jahre: Uwe ist durch den Unterricht<br />
der Gesamtschule überfordert, erledigt<br />
seine Hausaufgaben nicht und bleibt der<br />
Schule einige Male fern. Lehrer ermahnen<br />
ihn wegen der fehlenden Hausaufgaben.<br />
Der Vater verprügelt ihn, als er<br />
informiert wird. Daraufhin flüchtet Uwe<br />
für zwei Tage aus dem Haus. Uwe wird<br />
bei einem Ladendiebstahl mit einer<br />
Gruppe gefasst. Polizei kann die Eltern<br />
nach dem Ladendiebstahl nicht erreichen<br />
und bringt Uwe in ein Aufnahmeheim.<br />
Ein Sozialpädagoge spricht mit<br />
Uwe und den Eltern. Uwe kann sich<br />
kaum äußern. Vater beschimpft ihn und<br />
spricht resigniert über die Entwicklung<br />
seines Sohnes: Trotz aller Strenge<br />
habe er ihn nicht mehr im Griff. Er solle<br />
ins Heim. Es erfolgt keine Heimeinweisung.<br />
Stattdessen wird ein Kontakt zu<br />
einer Erziehungsberatungsstelle hergestellt;<br />
Uwe ist nicht bereit und in der<br />
Lage, die Hilfe anzunehmen. Die Beratung<br />
wird schon nach der ersten Sitzung<br />
abgebrochen.<br />
12 Jahre: Ladendiebstahl; Uwe wird<br />
gefasst. Polizei bringt Uwe nochmals in<br />
das Aufnahmeheim. Er wird auf eigenen<br />
Wunsch von dort nach Hause entlassen.<br />
Uwe fehlt drei Wochen unentschuldigt<br />
in der Schule. Weiterer Ladendiebstahl,<br />
bei dem Uwe flieht und beim Herauslaufen<br />
eine Frau in die Fensterscheibe<br />
stößt. Aus Angst vor dem Vater will er<br />
nicht mehr nach Hause und bittet beim<br />
Jugendamt, in ein Heim aufgenommen<br />
zu werden. Im Aufnahmeheim hält sich<br />
Uwe nicht an die Regeln. Uwe wohnt<br />
wieder zu Hause. Er fehlt weiterhin in<br />
der Schule. Vater versucht durch starken<br />
Druck Uwes Verhalten zu ändern.<br />
Unter Alkoholeinfluss kommt es zu körperlichen<br />
Übergriffen.<br />
In den folgenden Jahren überschlagen<br />
sich die Ereignisse bei Uwe. Seine Lage<br />
spitzt sich weiter zu: Sucht und Delinquenz<br />
folgen. Uwe wird in eine Schule<br />
für Lernbehinderte und – sogar noch<br />
mit 16 Jahren – in eine Schule für Erziehungshilfe<br />
überwiesen. Es ist zu erwarten,<br />
dass Uwe zu den 23 % der Schüler<br />
in Deutschland gehört, die mit 15 Jahren<br />
kaum oder gar nicht lesen können. Uwe<br />
findet trotz Förderung, Begleitung und<br />
Beratung wie viele andere »Sozialbenachteiligte«<br />
mit Lern-, Leistungs- und<br />
Verhaltensproblemen keine Arbeit. Im<br />
»Verschiebebahnhof« zwischen Schulen,<br />
ASD, Heim, Polizei, Beratungsstelle<br />
u. a. übernimmt niemand dafür Verantwortung,<br />
dass Uwe wirksame Hilfe<br />
bekommt.<br />
Zwei weitere Kinder aus Armutsgebieten,<br />
Susan und Mike, mögen zeigen,<br />
wie verschieden die belastenden Situationen<br />
sein können:<br />
Susan<br />
Susan, ein Kind von Asylbewerbern, hat<br />
starke Sprechstörungen. Ich kann sie<br />
kaum verstehen. Häufig verschluckt sie<br />
Silben. Ich habe das Gefühl, dass sie mir<br />
viel mitzuteilen hat. Sie will mir immer<br />
wieder in ihrer gebrochenen Lautsprache<br />
ihre Freude und ihre Sorgen erzählen.<br />
Nach einem Jahr sind die Eltern<br />
bereit, das Gehör untersuchen zu lassen.<br />
Sie gehen aber nicht zum Arzt. Als<br />
die Lehrerin anbietet, selbst das Kind<br />
und die Eltern mit dem eigenen Auto<br />
zum Arzt zu bringen, stimmen die Eltern<br />
zu. Am Untersuchungstag kommen die<br />
Eltern nicht. Die Lehrerin fährt alleine<br />
mit dem Kind. Der Ohrenarzt stellt bei<br />
dem Mädchen eine gravierende Hörstörung<br />
auf einem Ohr fest, die u. a. durch<br />
falsche Ohrhygiene verursacht ist. Hinter<br />
dieser so genannten »Sprachbehinderung«<br />
entdecken wir ein Problemgemisch,<br />
das typisch ist für solche<br />
Lebenslagen:<br />
Das Mädchen stammt aus einem Land,<br />
in dem die Eltern politisch verfolgt wurden.<br />
Sie sind misstrauisch gegenüber<br />
allen »staatlichen« Eingriffen und stehen<br />
sonderpädagogischer Förderung und<br />
ärztlichen Untersuchungen misstrauisch<br />
gegenüber.<br />
Die Familie ist überfordert mit der<br />
Bewältigung des Alltags. Die Kinder<br />
kommen häufig zu spät zur Schule, vergessen<br />
ihre Pflichtaufgaben. Schulanmeldungen<br />
und andere amtliche<br />
Pflichten werden nur nach mehrfacher<br />
Aufforderung erledigt.<br />
Die Mutter spricht kaum Deutsch, der<br />
Vater etwas besser. Zur Verständigung<br />
mit den Eltern ist meist ein Dolmetscher<br />
erforderlich.<br />
Um Susan also helfen zu können<br />
reicht eine pure sprachtherapeutische<br />
Behandlung nicht aus. Auch Deutschunterricht<br />
in Einzelförderung zeigt<br />
kaum Erfolg. Ebenso ist die ohrenärztliche<br />
Behandlung nur ein erster Schritt.<br />
Somit ist bei diesem Kind die »Gesundheitsförderung«<br />
gleichzusetzen mit<br />
aufsuchender Elternarbeit und dem<br />
Leben im Schulalltag. Erst auf dieser<br />
Basis können »Therapiemaßnahmen«<br />
wie Sprechübungen und Deutschförderung<br />
auf fruchtbaren Boden fallen.<br />
Mike<br />
Wenn Mike morgens die Klasse betritt,<br />
sieht man, dass er wieder erst um Mitternacht<br />
ins Bett gekommen ist. Er hat<br />
mit dem großen Bruder zusammen<br />
vor dem Fernseher gesessen. Mutter<br />
hat es nicht geschafft, ihn ins Bett zu<br />
bringen. So muss er erst mal auf den<br />
»Lesehimmel« und sich ausruhen. Mike<br />
ist 9 Jahre alt und lernt zögernder als viele<br />
seines Alters, aber er ist kein »Schlusslicht«.<br />
Er betreut sogar ein Patenkind,<br />
das gerade in die Schule gekommen ist.<br />
12 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />
Als Mike selbst noch Erstklässler war,<br />
hatte er noch viel Angst. Inzwischen<br />
ist er besonders eifrig, wenn es darum<br />
geht, seinem Patenkind die Furcht vor<br />
dem Wald zu nehmen. Dieser Erstklässler<br />
war nämlich noch nie im Wald und<br />
glaubt dort auf Tiger und Schlangen zu<br />
stoßen.<br />
Mike kennt die Regeln seiner Klasse ganz<br />
genau. Und er erklärt seinem Patenkind<br />
die Regeln in der Turnhalle. Oft hat Mike<br />
Streit mit anderen Kindern. Dann geht er<br />
wutschnaubend zum Klassenratbuch,<br />
trägt ein, was ihm der andere getan hat<br />
– und sein Ärger verfliegt meist erstaunlich<br />
schnell. Einige Tage später ist Zeit<br />
für ein ausführliches Gespräch im Klassenrat.<br />
Mike weiß auch, was auf dem Tagesprogramm<br />
steht. Wichtig für Mike ist, dass er<br />
über alle Vorhaben bereits morgens am<br />
Tagesplan informiert wird. Er ist durchaus<br />
in der Lage, Tätigkeiten zu bewältigen,<br />
die er nicht mag, wenn er zuvor<br />
erfahren hat, was auf ihn zukommt.<br />
»Inklusive Schule«<br />
Wie müsste eine allgemeine Schule,<br />
ein »Haus des Lernens« beschaffen<br />
sein, wenn sie Uwe, Mike und Susan<br />
zum Schulabschluss bringen könnte?<br />
Was hätten Uwe, Mike und Susan gebraucht,<br />
um sich trotz ihres belasteten<br />
privaten Lebens positiv entwickeln zu<br />
können? Unter welchen schulischen<br />
Bedingungen hätten sie im Unterricht<br />
Fortschritte erzielt und ein verantwortungsbewusstes<br />
Leben lernen können?<br />
Zuerst einmal stabile Beziehungen<br />
zu förderlichen Menschen, durchschaubare<br />
und feste Strukturen und schließlich<br />
das konsequente und umgehende<br />
Reagieren auf Fehlverhalten.<br />
Eine Schule, die dies leisten kann,<br />
sagt nicht: »Du gehörst hier nicht hin!«<br />
Jeder ist willkommen, der in der Nähe<br />
wohnt: Inklusive die »Schwachen«,<br />
»Schwierigen«, »Hochbegabten«, »Behinderten«<br />
oder »Roma« (ausführlicher<br />
siehe Stähling 2006). Eine solche humane<br />
oder »inklusive« Schule hat folgende<br />
Qualitätsmerkmale:<br />
1. Aufsuchende Elternarbeit als fester<br />
Bestandteil des Schulkonzepts: Unterstützt<br />
und in enger Kooperation mit<br />
Schulsozialarbeitern und Jugendhilfe<br />
bekommen Uwes Eltern (und die Eltern<br />
von Susan und Mike) Hilfe.<br />
2. Effiziente Klassenführung als Faktor<br />
der Unterrichtsqualität. Kennzeichen:<br />
n Regelsystem, das mit Uwe und seinen<br />
Mitschülern gemeinsam im<br />
Klassenrat erarbeitet wird.<br />
n Konsequente Reaktionen auf Regelverstöße<br />
im Sinne der Klassenrats-<br />
Verabredungen: Uwes Verhalten ist<br />
niemandem gleichgültig, er spürt<br />
umgehend die Konsequenzen seines<br />
Handelns.<br />
n Transparente Unterrichtsorganisation:<br />
Uwe, Susan und Mike können<br />
genau einschätzen, was von ihnen<br />
verlangt wird und welche Aufgaben<br />
auf sie zukommen. Sie können mitreden<br />
und mitbestimmen.<br />
n Zusammengehörigkeitsgefühl:<br />
Uwe, Susan und Mike werden ermutigt,<br />
aktive Beiträge zur Klassengemeinschaft<br />
zu leisten.<br />
3. Ganztägige Erziehung, in der Uwe,<br />
Mike und Susan stabile Strukturen für<br />
ihre Entwicklung und verlässliche Bezugspersonen<br />
finden.<br />
4. Kinder mit besonderem Förderbedarf<br />
in jede Klasse, ohne dass sie als<br />
»Sonderschüler« etikettiert werden<br />
(Inklusion).<br />
5. »Multiprofessionelle Teams« in jeder<br />
Klasse: Klassenlehrer, Fachlehrer,<br />
Sonderpädagogen sind gemeinsam für<br />
alle Kinder zuständig. Uwe kann weder<br />
abgewiesen, noch ausgesondert werden<br />
(Inklusion). Als Stützmaßnahme<br />
für das Team ist externe Supervision<br />
erforderlich.<br />
6. Eine einheitliche Schule von der<br />
Vorschule bis zur zehnten bzw. dreizehnten<br />
Klasse ohne Schulwechsel.<br />
Weil er in der Einrichtung bleibt, können<br />
Fördermaßnahmen und Kontakte<br />
ohne Unterbrechung fortgeführt werden.<br />
Heterogene und altersgemischte<br />
Klassen verzichten auf das Sitzenbleiben<br />
und bieten somit Uwe zusätzliche<br />
Chancen, sich in einer stabilen Gruppe<br />
zu erleben.<br />
Es gibt und gab eine Reihe reformpädagogischer<br />
Schulen oder Tagesheime,<br />
die viele dieser Qualitätsmerkmale<br />
erfüllen. Inklusive Schulen können<br />
»Treibhäuser der Zukunft« (Reinhard<br />
Kahl) sein. Verhaltensauffällige Kinder<br />
in allgemeine Schulen zu integrieren<br />
gilt heute unter Sonderpädagogen als<br />
sehr schwierig. 31 000 Schüler besuchen<br />
entsprechende Sonderschulen.<br />
Trotzdem gehen solche Kinder nicht<br />
überall in Sondereinrichtungen. Auch<br />
in Deutschland werden 12 000 Schüler<br />
Dr. Reinhard Stähling,<br />
Schulleiter einer Schule im<br />
sozialen Brennpunkt in Münster<br />
www.ggs-bergfidel.de<br />
mit sonderpädagogischem Förderbedarf<br />
im Bereich »Emotionale und soziale<br />
Entwicklung« in allgemeinen Schulen<br />
integriert. Erfolge sind empirisch<br />
belegt (vgl. Preuss-Lausitz/Textor<br />
2006). Fast 30 000 Schüler mit »Lernbehinderungen«<br />
lernen im Gemeinsamen<br />
Unterricht. Ausländische Schüler werden<br />
anteilmäßig häufiger als deutsche<br />
mit dem Etikett »lernbehindert« eingestuft.<br />
Wie ratlos und überfordert das<br />
deutsche Schulwesen ist, wird daran<br />
deutlich, wie unterschiedlich die einzelnen<br />
Bundesländer auf Folgen von<br />
Kinderarmut reagieren. So gehen »erziehungsschwierige«<br />
Kinder in Hamburg<br />
zu 100 % in die Allgemeinen Schulen,<br />
während sie in Rheinland-Pfalz<br />
zu 100 % in der Sonderschule lernen.<br />
Sachlogische und fachliche Gründe<br />
bestimmen offensichtlich nicht den<br />
Förderort. In einigen Bundesländern<br />
werden kaum ausländische Schüler mit<br />
sonderpädagogischem Förderbedarf in<br />
allgemeinen Schulen integriert, sondern<br />
diese Benachteiligten gehen fast<br />
alle in Sonderschulen. Anderswo ist es<br />
umgekehrt, sie besuchen mehrheitlich<br />
die allgemeinen Schulen. Wer weitere<br />
deutsche Kuriositäten dieser Art sucht,<br />
dem empfehle ich die Lektüre der KMK-<br />
Statistik (www.kmk.org).<br />
An den Kindern kann es nicht liegen!<br />
Wie lange können und müssen sich die<br />
vielen verantwortungsbewussten und<br />
engagierten Grundschulkolleg/innen<br />
noch an diesem Aussonderungssystem<br />
beteiligen?<br />
Literatur<br />
Hansbauer, Peter (Hrsg.): Entwicklung und Chancen junger Menschen<br />
in sozialen Brennpunkten. Bonn: Bundesministerium für Familie,<br />
Senioren, Frauen und Jugend 2000<br />
Preuss-Lausitz, Ulf / Textor, Annette: Verhaltensauffällige sinnvoll<br />
integrieren – eine Alternative zur Schule für Erziehungshilfe.<br />
In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 57, 2006, 1, S. 2 – 8<br />
Stähling, Reinhard: »Du gehörst zu uns« – Inklusive <strong>Grundschule</strong>.<br />
Ein Praxisbuch für den Umbau der Schule. Baltmannsweiler 2006:<br />
Schneider<br />
Die Kinderzeichnungen in diesem Beitrag sind dem neuen Buch des<br />
Autors entnommen.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
13
Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />
Schulversammlungen –<br />
Verantwortung für das Schulleben übernehmen<br />
von Inge<br />
Hirschmann<br />
Im Mittelpunkt der letzten Schulversammlung<br />
vor ein paar Tagen steht der<br />
Vorlesewettbewerb. Drei Jungen und<br />
drei Mädchen aus den beiden 6. Klassen<br />
präsentieren ein Buch ihrer Wahl,<br />
tragen als beste Vorleser/in ihrer Klassen<br />
den Mitschülern eine vorbereitete<br />
Textstelle vor und lesen anschließend<br />
auch noch einen fremden Text vor. Kinder<br />
aus den 5. Klassen und zwei Lehrerinnen<br />
bilden die Jury. Durchführung<br />
und Moderation der Schulversammlungen<br />
liegen allein in der Hand der<br />
Kinder der AG »Schulversammlung«.<br />
Vorlesewettbewerb<br />
als<br />
Schulversammlung<br />
für die<br />
Klassen 4 bis 6<br />
Unsere Ziele<br />
Schulversammlungen waren in unserem<br />
ersten schriftlichen Schulprogramm<br />
vor drei Jahren eines der ausgewiesenen<br />
Entwicklungsprojekte. Wir<br />
hatten dabei folgende Absichten:<br />
Die Kinder sollen<br />
n stärker für Stärken und Schwächen<br />
ihrer Mitschüler/innen sensibilisiert<br />
werden, mehr Verständnis aufbringen<br />
und tolerantes Verhalten zeigen,<br />
n ihre eigenen Fähigkeiten reflektieren,<br />
n erkennen, dass in der Schulgemeinschaft<br />
Werte existieren, die für ein demokratisches<br />
Zusammenleben wichtig<br />
sind,<br />
n erleben, dass praktizierte Verhaltensweisen<br />
wie zum Beispiel »Verantwortung<br />
übernehmen«, »Engagement<br />
für die Schulgemeinschaft zeigen«<br />
oder »anderen helfen« positive Anerkennung<br />
finden,<br />
n Verhaltensweisen lernen, die für das<br />
Zusammensein in größeren Gemeinschaften<br />
notwendig sind,<br />
n in Schulversammlungen beispielhaft<br />
»wirkungsvolles Präsentieren«,<br />
»einander zuhören«, »sich einordnen«,<br />
»zur Ruhe kommen« üben.<br />
Souverän interviewen inzwischen die<br />
Moderator/innen die Wettbewerbsteilnehmer<br />
über Lesegewohnheiten und<br />
Lieblingslektüren. Gekonnt führen sie<br />
durch das Programm. Selbst die schon<br />
wegen der Spannung so schwer zu ertragende<br />
15-minütige Pause – die Jury<br />
ermittelt unter Ausschluss der Öffentlichkeit<br />
die Sieger/innen – ist mit kurzweiligem<br />
Programm gefüllt. Es gibt<br />
Klaviermusik, türkische Jungen präsentieren<br />
einen selbstverfassten Rap<br />
und ein paar Mädchen führen einen<br />
witzigen Sketch vor, in dem die mit<br />
Händen zu greifende Spannung Thema<br />
ist. Auch die anschließende Ehrung der<br />
besten Leser/innen liegt ganz in der<br />
Verantwortung eines Moderators. Alle<br />
werden mit gut überlegten Worten<br />
gewürdigt und erhalten eine Rose. Die<br />
beiden Erstplatzierten erfahren besondere<br />
Würdigung und Anerkennung für<br />
ihre herausragenden Leseleistungen.<br />
Sie werden vom Publikum bejubelt, auf<br />
der Bühne finden spontan herzliche<br />
Umarmungen statt. Besser könnte<br />
eine Preisverleihung im Fernsehen<br />
auch nicht laufen.<br />
Eigentlich ist doch alles bestens: Kinder<br />
übernehmen Verantwortung für<br />
die Gestaltung ihres Schullebens, Lesen<br />
steht im Mittelpunkt, sehr gute<br />
Leistungen werden einer Schulöffentlichkeit<br />
präsentiert, die Anstrengung<br />
der Kinder wird belohnt.<br />
Wo ist das Problem?<br />
Nun, die Teilnehmer/innen des Vorlesewettbewerbs<br />
spiegeln nicht die<br />
Zusammensetzung unserer Schülerschaft<br />
wider. Trotz aller Bemühungen<br />
erreichen viel zu wenige Kinder mit<br />
Migrationshintergrund eine altersgerechte,<br />
mit den deutschsprachig aufgewachsenen<br />
Kindern vergleichbare<br />
Lesekompetenz. Folglich werden sie<br />
auch sehr viel seltener als Klassensieger<br />
für einen Vorlesewettbewerb auf<br />
der Schulebene benannt. Wie mögen<br />
sich die anstrengungs- und leistungsbereiten<br />
türkischen Kinder bei Veranstaltungen<br />
dieser Art fühlen? Wie sehr<br />
spornt es sie an, noch mehr Kräfte zu<br />
mobilisieren, um ihre Leistungen zu<br />
steigern, oder entmutigt es sie eher?<br />
An unserer Schule lernen in den 1. bis 6.<br />
Klassen 56 % Kinder mit einem nichtdeutschen<br />
Familienhintergrund. Im<br />
Gegensatz zur Situation der meisten<br />
benachbarten <strong>Grundschule</strong>n ist es uns<br />
gelungen, trotz des hoch belasteten<br />
Einzugsbereichs deutsche Kinder an<br />
unserer Schule zu halten. Statistiken<br />
können wir entnehmen, dass 10 % aller<br />
Kinder in der Bundesrepublik in relativer<br />
Armut aufwachsen; wir können<br />
aber davon ausgehen, dass 50 % unserer<br />
Kinder arme Kinder sind. Alljährlich<br />
steigt die Zahl der Familien, die<br />
von der finanziellen Beteiligung an den<br />
Lern- und Lehrmitteln ihrer Kinder befreit<br />
sind. Das Familieneinkommen ist<br />
entsprechend niedrig. Wir wissen auch<br />
von der hohen Arbeitslosigkeit in den<br />
Migrantenfamilien.<br />
14 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />
Keines der Kinder leidet Hunger und<br />
Durst. Aber wir wissen auch: Das reicht<br />
längst nicht mehr aus, um als Kind<br />
gleiche Bildungschancen zu haben. In<br />
manchen Familien hat sich Armut seit<br />
vielen Jahren verfestigt, das Aufwachsen<br />
dieser Kinder ist oft von Bildungsferne<br />
gekennzeichnet. Armut ist für<br />
unsere Schülerschaft ohne Zweifel ein<br />
nicht zu unterschätzender Risikofaktor<br />
für ihren Lebens- und Bildungsweg. Armut<br />
macht es den Kindern schwerer,<br />
selbstbewusst und freudig in die Zukunft<br />
zu blicken. In sozial belasteten<br />
Familien erfahren Kinder oft zu wenig<br />
emotionale Geborgenheit und Förderung.<br />
Die Folgen sind oft Störungen in<br />
der sozial-emotionalen Entwicklung,<br />
die dazu führen können, dass Kinder<br />
kein positives Selbstgefühl entwickeln.<br />
Es fehlt ihnen die eigene Wertschätzung<br />
und sie kompensieren dies<br />
durch Angebereien, einige auch durch<br />
aggressives Abgrenzen gegenüber vermeintlich<br />
Schwächeren.<br />
In den letzten Jahren beobachten<br />
wir eine zunehmende Tendenz, dass<br />
sich auch schon jüngere Schüler/innen<br />
in ihrer Freizeit Cliquen und Banden<br />
anschließen und darin einen Ersatz für<br />
das ihnen fehlende Gemeinschaftsund<br />
Zugehörigkeitsgefühl finden. Dort<br />
werden ihnen Werte vermittelt, die den<br />
Zielsetzungen und Grundsätzen für ein<br />
demokratisches Zusammenleben entgegenstehen:<br />
In unserm schulischen<br />
Umfeld prägen immer stärker Einordnung<br />
in Hierarchien und das Recht des<br />
– körperlich – Stärkeren das Zusammenleben.<br />
Wir sahen es deshalb als wichtige Aufgabe<br />
der Schule an, »einen Gegenpol<br />
zum Werteverfall und zu Verwahrlosungstendenzen<br />
im Umfeld der Kinder<br />
zu setzen«. So formulierten wir es damals<br />
in unserem Schulprogramm: »Es<br />
reicht aber nicht aus, ein Wertegefüge<br />
als Wissensgut zu vermitteln, sondern<br />
es muss im Schulalltag auch praktiziert<br />
und in seiner Wirksamkeit erlebt<br />
werden. Kinder müssen Merkmale für<br />
ein demokratisches, tolerantes, verantwortungsvolles<br />
und rücksichtsvolles<br />
Verhalten kennenlernen und selbst<br />
üben.«<br />
Seither führen wir pro Schuljahr<br />
– neben anderem – auch etwa 4 bis<br />
6 Schulversammlungen durch. Dazu<br />
treffen sich in der Regel für eine Stunde<br />
die Klassen 1 – 3 und anschließend<br />
die Schüler/innen der 4. – 6. Klassen.<br />
380 Kinder und 50 Erwachsene passen<br />
nun mal nicht in unsere Aula. Diese<br />
Vollversammlungen werden von einer<br />
AG »Schulversammlung« – türkisch<br />
und deutsch sprechende Kinder – mit<br />
Unterstützung ihrer Vertrauenslehrerin<br />
geplant, durchgeführt und beständig<br />
weiterentwickelt.<br />
Typische Inhalte und Themen<br />
Für alle Schüler/innen ist die Schulversammlung<br />
eine besondere Gelegenheit<br />
der Identifikation mit ihrer Schule und<br />
eine Stärkung des Gemeinschaftsgefühls<br />
über die Klasse hinaus. Die Mitglieder<br />
der AG »Schulversammlung«<br />
sind gleichzeitig auch die Schülervertreter/innen<br />
in der Schulkonferenz. Sie<br />
haben so die Möglichkeit, das Schulleben<br />
aktiv mitzugestalten und auch Einfluss<br />
auf schulinterne Entscheidungen<br />
zu nehmen.<br />
Typische Inhalte/Themen unserer Schülerversammlungen<br />
waren und sind:<br />
n Beiträge von Klassen und Arbeitsgemeinschaften<br />
unter dem laufenden<br />
Motto »Wir zeigen, was wir können«<br />
n Würdigung besonderer Leistungen<br />
(Vorlesewettbewerb, Bekanntgabe<br />
der Sieger von Sportveranstaltungen<br />
etc.)<br />
n Vergabe von konkreten Aufträgen<br />
an die Klassen als Projektauftakt<br />
(z. B. Stolpersteine beim Lernen beseitigen<br />
/ Malwettbewerb zur Schulhofgestaltung)<br />
n Stellungnahmen zu <strong>aktuell</strong>en Ereignissen<br />
(z. B. Ausstellungen, besondere<br />
Projekte)<br />
n Aufgreifen von gesellschaftspolitischen<br />
Ereignissen (z. B. Patenschaft<br />
zu einer von der Flutkatastrophe<br />
in Asien betroffenen Schule<br />
in Weligama/Sri Lanka)<br />
n neue Mitarbeiter (z. B. die neuen<br />
Erzieher/innen im neuen offenen<br />
Ganztagsbereich) vorstellen<br />
Die AG »Schulversammlung« greift<br />
gerne auch auf Elemente unserer Theaterarbeit<br />
zurück. So gab es schon<br />
Schulversammlungen, bei denen die<br />
Moderatoren in die Rolle von Aliens geschlüpft<br />
sind, um mit einem gespielten<br />
Blick von außen das Lernklima in den<br />
Die strahlende Schulsiegerin<br />
Vorlesewettbewerb 2006 – Juroren bei der Arbeit<br />
Klassen oder das Pausengeschehen zu<br />
kommentieren.<br />
Die Schule hat seit langem einen<br />
Schwerpunkt im musisch-kreativen Bereich.<br />
Die intensive Theaterarbeit hilft<br />
mit, eine nachhaltige und ganzheitliche<br />
Erziehung und Bildung für alle<br />
Kinder zu verwirklichen. Die Idee mit<br />
den Außerirdischen war dem Theaterstück<br />
»Fremde Welten« entliehen und<br />
die Kinder hatten sie wirkungsvoll<br />
in drei Schulversammlungen<br />
umgesetzt.<br />
Begonnen haben sie damit,<br />
Inge Hirschmann ist Rektorin<br />
der Heinrich-Zille-<strong>Grundschule</strong><br />
in Berlin (http://heinrich-zillegrundschule.de)<br />
und Vorsitzende<br />
der Berliner Landesgruppe<br />
des Grundschulverbandes.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
15
Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />
Außerirdische<br />
berichten auf einer<br />
Schulversammlung<br />
von ihren Beobachtungen<br />
in der Schule<br />
Zuschauer –<br />
gespannt,<br />
skeptisch,<br />
abwartend<br />
Vollversammlung<br />
der Klassen 1 bis 3<br />
dass die Aliens überraschend während<br />
einer Vollversammlung auftauchten<br />
und von ihren Beobachtungen im<br />
Unterricht und auf dem Pausenhof<br />
berichteten. Die Konfliktlotsen der<br />
Schule bekamen Gelegenheit, sich und<br />
ihre Arbeit vorzustellen. Alle Kinder erhielten<br />
den Auftrag, in ihren Klassen<br />
gemeinsam über die Beobachtungen<br />
der Außerirdischen nachzudenken. Sie<br />
wurden aufgefordert, Stolpersteine<br />
– Was hindert uns am Lernen? – in ihrer<br />
Klasse ausfindig zu machen und Ideen<br />
zu sammeln, wie man gemeinsam für<br />
eine Verbesserung der Lernatmosphäre<br />
sorgen könne. Es gab schriftliche<br />
Arbeitsaufträge, passend zugeschnittene<br />
graue und gelbe Pappen – in der<br />
Form von Steinen und Sternen – für die<br />
weitere Arbeit.<br />
In der darauffolgenden Schulversammlung<br />
brachten die Sprecher ihre<br />
beschrifteten Stolperstein- und Sternplakate<br />
mit und berichteten über ihre<br />
Erfahrungen in der Klasse und ihre Pläne,<br />
das Lernklima positiv zu beeinflussen.<br />
Sie gaben Auskunft zum Stand der<br />
Umsetzung der gemeinsam abgesprochenen<br />
Maßnahmen. Etwa zwei Monate<br />
später – zwischenzeitlich konnte<br />
man im Rahmen einer Ausstellung im<br />
Schulhaus die Plakate aller Klassen im<br />
Schulhaus nachlesen – berichteten<br />
Kinder über die Erfolge, aber auch über<br />
die besonderen Schwierigkeiten bei<br />
der Umsetzung. Wir alle erfuhren über<br />
positive Veränderungen, aber auch<br />
wie schwierig Verhaltensänderungen<br />
sein können. Eine Klasse hatte sich<br />
ein Barometer gebastelt, auf dem sich<br />
tagtäglich einstellen ließ, ob die Klasse<br />
beim selbständigen Arbeiten schon<br />
leiser geworden ist. Dieses Barometer<br />
zeigte aber über Wochen nicht die angestrebte<br />
Verbesserung. Wie mutig,<br />
dies in einer Schulversammlung vor<br />
allen zu bekennen und trotzdem den<br />
Beitrag zu beenden »Wir wollen es aber<br />
weiter versuchen.«<br />
Damals lag die Durchführung der<br />
Schulversammlung noch bei einem<br />
Lehrer. Inzwischen haben unsere<br />
Kinder den Beweis schon mehrfach<br />
erbracht, dass sie es sehr gut selbst<br />
können. Sie brauchen uns Erwachsene<br />
nicht mehr auf dem Podium.<br />
… und die Lehrerinnen<br />
und Lehrer?<br />
Umso mehr sind die Lehrer/innen im<br />
Vorfeld eingebunden. Die Hauptlast<br />
trägt eine Kollegin, die gleichzeitig<br />
Mitglied in der Schulkonferenz ist und<br />
die AG »Schulversammlung« der Schüler/innen<br />
leitet. Nach unserer innerschulischen<br />
Aufgabenverteilung trägt<br />
sie die Verantwortung für das Gelingen<br />
der Schulversammlungen, vier Kolleg/<br />
innen gehören zur Lehrerarbeitsgruppe.<br />
Zu ihren Aufgaben gehört es,<br />
n die im Schulprogramm festgelegten<br />
Ziele und Absichten umzusetzen,<br />
n die Schulversammlungen den schulischen<br />
Bedingungen anzupassen,<br />
n in Absprache mit den Kindern die<br />
Schwerpunktthemen festzulegen,<br />
n das Kollegium bei Bedarf einzubinden,<br />
n im Rahmen der Schulkonferenz die<br />
Eltern zu informieren,<br />
n die Kooperation mit den Fachkonferenzen<br />
zu pflegen sowie<br />
n die Schulversammlungen auszuwerten.<br />
Initiativen der Schüler/innen – noch<br />
so gut auf Schulversammlungen eingebracht<br />
– können leicht ins Leere<br />
laufen, wenn nicht alle Lehrer- und<br />
Erzieher/innen die dahinterstehenden<br />
Anliegen kennen und unterstützen. Die<br />
eine oder andere Dienstbesprechung<br />
mit den Lehrer/innen und Erzieher/innen<br />
wurde deshalb notwendig: Alle Erwachsenen<br />
sollten wissen, was geplant<br />
ist und welche Unterstützung sie ihren<br />
Kindern geben müssen. Zur Zeit arbeiten<br />
wir alle an einem neuen Regelwerk<br />
für die großen Pausen auf dem Schulhof.<br />
Noch werden viele Fragen unter<br />
den Erwachsenen ausgiebig diskutiert.<br />
Es sind die nur scheinbar einfachen<br />
Fragen wie: Nehmen wir Erwachsenen<br />
unsere Aufsichten ernst genug? Was<br />
muss konsequent von uns allen von<br />
allen Kindern eingefordert werden?<br />
Was soll passieren, wenn Kinder sich<br />
nicht an die Regeln halten? Und nicht<br />
zuletzt, wie binden wir die Kinder von<br />
Anfang an ein? Auf der nächsten Schul-<br />
Schüler als Moderatoren führen<br />
durch eine Schulversammlung<br />
versammlung wird dann dieses neue<br />
Thema, das jetzt hinter den Kulissen<br />
vorbereitet wird, schulöffentlich.<br />
Unsere Schulversammlungen bieten<br />
vielen Kindern vielfältige Gelegenheiten<br />
zu zeigen, was sie können. Aber<br />
machen wir uns nichts vor: Es braucht<br />
mehr, um Chancengerechtigkeit für<br />
arme Kinder – insbesondere für Kinder<br />
mit Migrationshintergrund – zu<br />
erreichen. Arme Kinder müssen sehr<br />
viel intensiver auf ihrem individuellen<br />
Bildungsweg gefördert werden. Solange<br />
den Berliner <strong>Grundschule</strong>n nicht die<br />
dazu notwendigen personellen und<br />
sächlichen Ressourcen zur Verfügung<br />
gestellt werden, wird sich an der Chancenungleichheit<br />
auch nichts ändern<br />
können.<br />
16 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />
Vier Jahre Schülerhilfe-Projekt in Halle (Saale)<br />
Kindliche Bildungsprozesse im Kontext von Armut – Studierende<br />
verstehen Kinder und Kinder verstehen sich gut mit Studierenden<br />
Wer in der Bundesrepublik ein Studium<br />
beginnen kann, beispielsweise ein Studium<br />
der Grundschulpädagogik, hat<br />
im Leben Glück gehabt. Sie bzw. er ist<br />
zumeist in einer bildungsnahen und<br />
sozial wie ökonomisch abgesicherten<br />
Familie aufgewachsen, hat die Hürden<br />
der Auslese in der Grund- und an den<br />
weiterführenden Schulen unbeschadet<br />
überstanden und kann während des<br />
Studiums zumeist mit der finanziellen<br />
Unterstützung durch die Eltern rechnen.<br />
Wer als Studienanfänger in die<br />
Hochschule eintritt, hat spätestens<br />
nach dem Verlassen der Grundschulzeit<br />
kaum je einen Mitschüler oder<br />
eine Mitschülerin aus einer armen Familie<br />
kennen gelernt.<br />
Armut und die Lebenssituation<br />
Studierender<br />
Die soziale Selektion, die nach dem<br />
Verlassen der <strong>Grundschule</strong> bei allen<br />
weiteren bildungsbiographischen<br />
Übergängen wirkmächtig ist, sorgt<br />
schließlich an den Hochschulen und<br />
Universitäten für eine weitreichende<br />
soziale Entmischung: Hier stellt Armut<br />
für die übergroße Mehrheit der<br />
Studierenden nicht ein reales Alltagsphänomen,<br />
sondern wohl eher ein<br />
Phänomen dar, das ab und zu durch<br />
die Medien geistert. Erinnert sei beispielsweise<br />
an die Diskussion um das<br />
so genannte »Prekariat«, die zum Beginn<br />
des Wintersemesters 2006/07<br />
knappe anderthalb Wochen öffentliche<br />
Aufmerksamkeit erregen konnte,<br />
bevor das Medieninteresse sich,<br />
ebenfalls nur kurzzeitig, dem Schicksal<br />
des zweijährigen Kevin in Bremen<br />
zuwandte. Dieses Kind war, wie etwa<br />
170 weitere Kinder in der Bundesrepublik<br />
im Jahr 2006, zu Hause infolge<br />
sozialer Desintegration und massiver<br />
Vernachlässigung gestorben. Armut<br />
tritt hier als monströser Ausnahmezustand<br />
mit katastrophalen Folgen in die<br />
öffentliche Wahrnehmung. In dieser<br />
Gestalt hat sie mit der Lebenssituation<br />
der allermeisten Studierenden nichts<br />
gemeinsam.<br />
Studierende der Grundschulpädagogik<br />
und auch Studierende der Sonderpädagogik<br />
haben darüber hinaus während<br />
des Studiums kaum hinreichend Gelegenheit,<br />
Armut als sozial- bzw. erziehungswissenschaftliches<br />
Thema zur<br />
Kenntnis zu nehmen. Dies ist aus drei<br />
Gründen außerordentlich problematisch:<br />
1. Personen, die sich in der Phase der<br />
professionellen Erstsozialisation befinden<br />
bzw. die in pädagogischen Arbeitsfeldern<br />
bereits professionell tätig<br />
sind, beurteilen andere Alltagspraxen<br />
und andere Wertorientierungen als die<br />
eigenen eher skeptisch. Vom eigenen<br />
Alltag und von den eigenen Wertvorstellungen<br />
stark abweichende Milieus<br />
werden mitunter einer moralischen<br />
Bewertung unterzogen oder biologistisch<br />
erklärt. So erinnert sich Jantzen<br />
(2002, 21) an die Wahrnehmung der<br />
Lebenswirklichkeit eines Schülers wie<br />
folgt: »Dass Harry, den sie alle den ›Pisser‹<br />
nannten, nicht lernen konnte, das<br />
lag nicht daran, dass Harry dumm war,<br />
sondern das lag daran, dass sie zu sechst<br />
in einem nicht richtig heizbaren Spritzenhaus<br />
auf dem Land gewohnt haben<br />
– das war ein Problem der Armut und<br />
nicht des Hirndefekts.« Grundlegende<br />
Wissensbestände über Armut und über<br />
die Auswirkungen von Kinderarmut auf<br />
kindliche Bildungsprozesse stellen somit<br />
die notwendige theoretische Reflexionsfolie<br />
dar, vor der Lehrerinnen und<br />
Lehrer auf die eigenen Alltagspraxen<br />
und Wertorientierungen als Vergleichgröße<br />
sowie auf moralische oder biologistische<br />
Bewertungsmuster zugunsten<br />
professionellen Wissens verzichten<br />
können.<br />
2. Armut ist kein Randproblem, Kinderarmut<br />
ebenso wenig. Zum Weltkindertag<br />
am 1. September des vergangenen<br />
Jahres machte der Kinderschutzbund<br />
mit einer bundesweiten Aktion darauf<br />
aufmerksam, dass zu diesem Zeitpunkt<br />
bereits 2,5 Millionen Kinder und<br />
Jugendliche in Deutschland in Armut<br />
lebten. In den alten Bundesländern<br />
ist durchschnittlich jedes zehnte Kind<br />
von Armut betroffen; in den neuen<br />
Bundesländern jedes vierte Kind. Und<br />
in ostdeutschen Großstädten lebt<br />
jedes dritte Kind in Armut. Die heutigen<br />
Studierenden der Grund- und<br />
Sonderschulpädagogik werden somit<br />
in ihrem künftigen Berufsleben auch<br />
Kinder und Jugendliche aus armen<br />
Familien unterrichten. Sie sind auf diese<br />
Schülerschaft jedoch nicht gut vorbereitet,<br />
denn kindliche Bildungsprozesse<br />
im Kontext von Armut sind kein<br />
zentrales Thema der meisten Studienund<br />
Prüfungsordnungen.<br />
3. Auch auf die <strong>Grundschule</strong>n in der<br />
Bundesrepublik trifft zu »dass … durch<br />
den sozialen Hintergrund bedingte<br />
Unterschiede beunruhigende Ausmaße<br />
annehmen« (Schwippert / Bos /<br />
Lankes 2004, 187). So heißt es an gleicher<br />
Stelle, dass »eine höhere Sozialschicht<br />
der Eltern bzw. der familiären<br />
Bezugspersonen mit höheren Bil-dungsabschlüssen<br />
und zudem auch besseren<br />
Einkommensverhältnissen zusammenhängt<br />
… Kinder hingegen, deren Eltern<br />
Berufe ausüben, die eher auf ein geringes<br />
Prestige verweisen, haben auch ein bildungsferneres<br />
Zuhause und verfügen<br />
auch ökonomisch über weniger Ressourcen«.<br />
von Ada Sasse<br />
Dr. ADA SASSE<br />
ist Juniorprofessorin<br />
für Sonder- und<br />
Sozialpädagogik<br />
an der Universität<br />
Erfurt.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
17
Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />
Das Schülerhilfeprojekt<br />
Ohne grundlegende Strukturveränderungen<br />
im Bildungssystem wird die<br />
Chancengerechtigkeit mit Blick auf<br />
Bildung für die Schülerinnen und Schüler<br />
aus sozial benachteiligten Familien<br />
nicht zu haben sein. Ebenso bedeutsam<br />
ist es jedoch, bei den Lehrerinnen<br />
und Lehrern professionelle Wissensbestände<br />
und pädagogische Haltungen<br />
zu entwickeln, um den Bildungsbedürfnissen<br />
dieser Kinder entsprechen<br />
zu können. Beides, der Erwerb professionellen<br />
Wissens und die Entwicklung<br />
pädagogischer Haltungen, beginnen in<br />
der 1. Phase der Lehrerbildung.<br />
Aus diesen Gründen wurde zum<br />
Wintersemester 2002/03 an der Universität<br />
Halle-Wittenberg (Frau Prof. Dr.<br />
Ute Geiling, Abt. Lernbehindertenpädagogik)<br />
in Kooperation der Universität<br />
Erfurt (Dr. Ada Sasse, Abt. Sonder- und<br />
Sozialpädagogik) ein Schülerhilfeprojekt<br />
ins Leben gerufen.<br />
An diesem Schülerhilfeprojekt nehmen<br />
jährlich bis zu 20 Studierende der<br />
Grundschul- bzw. Sonderpädagogik<br />
sowie 70 bis 80 Kinder der Stadt Halle<br />
(Saale) teil, die in sozial benachteiligten<br />
Familien aufwachsen und in den Klassenstufen<br />
1 und 2 an der <strong>Grundschule</strong><br />
gravierende Lernschwierigkeiten entwickelt<br />
haben.<br />
Jeweils zwei Studierende treffen sich<br />
über die Dauer eines Schuljahres einmal<br />
wöchentlich mit »ihrer« Spiel- und<br />
Lerngruppe, der maximal acht Kinder<br />
angehören. Nachdem Studierende und<br />
Kinder sich kennen gelernt haben, und<br />
neben Projekten, die sich der Freizeitgestaltung<br />
widmen, unterbreitet jedes<br />
studentische Zweiterteam einmal wöchentlich<br />
konkrete Förderangebote.<br />
Der wöchentlichen Kleingruppenarbeit,<br />
die jeweils im Oktober beginnt,<br />
gehen Hospitationen der Studierenden<br />
in den <strong>Grundschule</strong>n und Gespräche<br />
mit den Lehrerinnen und Hortnerinnen<br />
der Kinder voraus. Jeweils am Ende des<br />
1. und 2. Schulhalbjahres treffen sich<br />
Studierende, Lehrerinnen und Hortnerinnen,<br />
um sich über die Entwicklung<br />
der einzelnen Kinder jeder »Spiel-und<br />
Lerngruppe« auszutauschen. Kinder,<br />
die nach dem ersten Jahr im Schülerhilfeprojekt<br />
weiterhin Unterstützung<br />
benötigen, nehmen für ein weiteres<br />
Jahr am Projekt teil. Viele Studierende,<br />
die zum Start des Projektes Schwierigkeiten<br />
damit haben, sich nicht nur für<br />
ein, sondern für zwei Semester an der<br />
Mitarbeit zu verpflichten, entscheiden<br />
sich nach dem ersten Projektjahr ebenfalls,<br />
eine weiteres Jahr mitzuarbeiten.<br />
Die Stiftung »humalios« der Arbeiterwohlfahrt<br />
Halle zahlt jedem Studierenden<br />
für die Mitarbeit am Projekt eine<br />
monatliche Aufwandsentschädigung<br />
von 50 Euro; für jede Kleingruppe stehen<br />
darüber aus Stiftungsmitteln pro<br />
Schulhalbjahr weitere 50 Euro für Materialien,<br />
Lebensmittel usw. zur Verfügung.<br />
Durch diese Stiftung können<br />
außerdem Extrakosten für Ausflüge<br />
(Spaßbad, Weihnachtsmarkt, Zoobesuch<br />
usw.) zur Verfügung gestellt<br />
werden. Alle Kinder, die im Schülerhilfeprojekt<br />
gefördert werden, nehmen<br />
am Jahresende an einer großen Kinderweihnachtsfeier<br />
teil, die ebenfalls<br />
von »humalios« finanziert und von den<br />
Studierenden ausgerichtet wird. Die<br />
Studierenden verständigen sich mit<br />
»ihren« Kindern über Weihnachtswünsche;<br />
durch »humalios« kann für jedes<br />
Kind ein Weihnachtsgeschenk im Wert<br />
von 15 Euro ermöglicht werden.<br />
Durch die Kleingruppenarbeit, durch<br />
Ausflüge am Wochenende, durch<br />
Kontakte zu den Eltern oder zu anderen<br />
Sorgeberechtigen gewinnen die<br />
Studierenden einen genauen Einblick<br />
in die Lebensumstände der Kinder, in<br />
die Beschränkungen und auch in die<br />
Ressourcen, die in ihren alltäglichen<br />
Lebensumfeldern enthalten sind. Studierende<br />
lernen beispielsweise Kinder<br />
kennen, die im Winter ohne Strümpfe<br />
und in Schafanzughosen in die Schule<br />
kommen und die sich in der Kleingruppenarbeit<br />
nicht konzentrieren<br />
können, weil sie Hunger haben. Sie<br />
lernen Kinder kennen, die im ersten<br />
Schulbesuchsjahr zum ersten Mal mit<br />
Kinderbüchern in Berührung kommen<br />
und die keine Zootiere benennen<br />
können, weil sie noch nie im Hallenser<br />
Zoo gewesen sind. Zugleich lernen die<br />
Studierenden in diesem Projekt Kinder<br />
kennen, die sich gern anstrengen, die<br />
sich durch Lob und Ermutigung bestätigt<br />
fühlen und in den Spiel- und<br />
Lerngruppen Kompetenzen gewinnen<br />
und zu Arbeitsergebnissen gelangen<br />
können, die ihnen in der Schule einfach<br />
nicht zugetraut wurden.<br />
»Gewinner« sind im Schülerhilfeprojekt<br />
alle – die Kinder und die Studierenden:<br />
Die Kinder<br />
n kommen gern in die Spiel- und Lerngruppe,<br />
n finden sich in der Kleingruppensituation<br />
zurecht; sie finden Kinder, mit<br />
denen sie zusam-men spielen und ler-<br />
18 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Praxis: Pädagogik im Kontext von Kinderarmut<br />
nen möchten und sind an den Angeboten<br />
der Studierenden interessiert,<br />
n bringen ihre Interessen, ihre besonderen<br />
Fähigkeiten, aber auch ihren<br />
Kummer und ihre Schwierigkeiten in<br />
die Kleingruppe ein,<br />
n machen die Erfahrung, dass sie gern<br />
tüchtig sind und bestimmte Dinge besonders<br />
gut können,<br />
n zeigen Fortschritte beim Erwerb<br />
schriftsprachlicher und mathematischer<br />
Kompetenzen.<br />
Die Studierenden<br />
n setzen sich als professionelle Erwachsene<br />
zu Kindern ins Verhältnis<br />
(ohne dabei während der Arbeit von<br />
anderen professionellen Erwachsenen<br />
wie Lehrerinnen, Hochschulangehörigen<br />
oder Personen aus der zweiten<br />
Phase der Lehrerbildung kontrolliert<br />
und bewertet zu werden),<br />
n halten die Beziehung zu verschiedenen<br />
Kindern über die Dauer eines<br />
Schuljahres aufrecht und beobachten<br />
die Entwicklung jedes einzelnen Kindes<br />
sowie die Entwicklung der Beziehungen<br />
der Kinder untereinander genau,<br />
n lernen es, im Zweier-Team Verantwortung<br />
für die Gestaltung von Lernsituationen<br />
für eine Gruppe von bis zu<br />
acht Kindern zu übernehmen,<br />
n entwickeln angemessene Angebote<br />
für die Kinder in ihrer Kleingruppe;<br />
dabei sammeln sie Erfahrungen bei<br />
der Gestaltung von unterschiedlichen<br />
Lernsituationen wie Kleingruppen-,<br />
Einzel-, Projekt- und Freiarbeit, entwickeln<br />
und probieren verschiedene Materialien<br />
und Arbeitstechniken aus,<br />
n sammeln Eindrücke und Informationen<br />
über die sozialen und psychischen<br />
Aspekte der Kind-Umfeld-<br />
Beziehungen unter den Bedingungen<br />
sozialer Benachteiligung sowie über<br />
die Vorlieben, Fähigkeiten, Bedürfnisse<br />
und Schwierigkeiten der einzelnen Kinder,<br />
n erfahren, dass Nähe sowie Distanz<br />
in pädagogischen Beziehungen enthalten<br />
sind,<br />
n reflektieren ihre Arbeit im Schülerhilfe-Projekt<br />
(Beziehungen zu den<br />
Kindern, Wirksamkeit der Angebote<br />
für die Entwicklung der Kinder, Zusammenarbeit<br />
im Team, eigenes Lern- und<br />
Erfahrungsinteresse im Schülerhilfe-<br />
Projekt),<br />
n kommunizieren mit den verantwortlichen<br />
Lehrerinnen und Erzieherinnen<br />
und<br />
n dokumentieren ihre pädagogische<br />
Arbeit durch Tagebuch, Fotos, Videos,<br />
Portfolios.<br />
(vgl. Geiling 2006, 220)<br />
Die außerordentlich positiven Wirkungen<br />
des Schülerhilfeprojektes für<br />
die Kinder und für die Studierenden<br />
(vgl. Geiling 2006; Sasse 2006) überzeugen<br />
davon, dass vergleichbare Projektstrukturen<br />
eine notwendige Ergänzung<br />
der Ausbildung von Studierenden<br />
der Grund- bzw- Sonderpädagogik<br />
sind. Die derzeit an vielen Hochschu-<br />
len der Bundesrepublik stattfindenden<br />
Reformprozesse im Kontext der Einführung<br />
konsekutiver Studiengänge<br />
stellen eine bedeutsame Chance dar,<br />
solche Strukturen zu etablieren, die<br />
im Überschneidungsbereich zwischen<br />
theoretischer und praktischer Ausbildung<br />
liegen.<br />
Literatur<br />
Geiling, U.: Das Schülerhilfeprojekt Halle – ein universitäres Praxisprojekt<br />
als kompensatorisches Angebot für sozial benachteiligte<br />
Grundschulkinder. In: Sasse, A. / Valtin, R.<br />
(Hg.): Schriftspracherwerb und soziale Ungleichheit. Zwischen kompensatorischer<br />
Erziehung und Familiy Literacy. Berlin 2006 (218 – 229)<br />
Jantzen, W. / Feuser, G.: Behindertenpädagogik: Fragen der Zeit<br />
und zum ›Zeitgeist‹. Ein Interview vom 19. April 2001. In: Feuser, G. /<br />
Berger, E. (Hg.): Erkennen und Handeln. Momente einer kulturhistorischen<br />
(Behinderten-)Pädagogik und Therapie. Berlin, Verlag Pro<br />
Business<br />
Sasse, A.: Soziale Benachteiligung und Professionalität als Grundkategorien<br />
der Arbeit im Hallenser Schülerhilfeprojekt. In: Sasse,<br />
A. / Valtin, R. (Hg.): Schriftspracherwerb und soziale Ungleichheit.<br />
Zwischen kompensatorischer Erziehung und Familiy Literacy. Berlin<br />
2006 (230 – 239)<br />
Schwippert, K. / Bos, W. / Lankes, E.-M.: Heterogenität und Chancengleichheit<br />
am Ende der vierten Jahrgangsstufe in den Ländern der<br />
Bundesrepublik Deutschland und im internationalen Vergleich. In:<br />
IGLU. Einige Länder der Bundesrepublik im Vergleich. Münster 2004<br />
(165 – 190)<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
19
Dokumentation<br />
Standpunkt<br />
Zusammenarbeit von Elementar- und Primarbereich<br />
Zur Lage<br />
Kinder sind bildungsbedürftig und auf Erziehung<br />
angewiesen. Daraus leitet sich ihr Recht<br />
auf Bildung und auf förderliche Bedingungen<br />
für ihre Entwicklung ab. Dies ist die gemeinsame<br />
Verantwortung von Familie, Elementarerziehung<br />
und Schule.<br />
Da Entwicklungs- und Bildungsprozesse in<br />
starkem Maß von individuellen und sozialen<br />
Bedingungen abhängen, verlaufen sie von<br />
Kind zu Kind unterschiedlich. Auf die Heterogenität<br />
der Kinder müssen Kindertagesstätte<br />
und Schule eine adäquate Antwort finden, die<br />
auch aufeinander abgestimmt ist.<br />
Derzeit ist bei allen Bemühungen um Zusammenarbeit<br />
die Anschlussfähigkeit bundesweit<br />
nur unzureichend gelungen. Der Erfolg hängt<br />
häufig lediglich vom Engagement einzelner<br />
Beteiligter ab. Wirkungsvolle, nachhaltige Kooperation<br />
muss aber institutionalisiert und<br />
professioneller gestaltet werden.<br />
Erschwert wird die Kooperation durch die<br />
in Deutschland unterschiedliche Ausbildung<br />
und Besoldung, die auch Ausdruck der unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen Wertschätzung<br />
der Arbeit in der Kindertagesstätte und<br />
in der <strong>Grundschule</strong> ist. Zusätzlich trennend<br />
wirkt in den meisten Bundesländern die Anbindung<br />
an verschiedene Ministerien (Soziales<br />
und Bildung).<br />
Zudem nehmen noch zu viele der Kinder<br />
mit besonderem institutionellem Bildungsbedarf<br />
an den vorschulischen Bildungsmöglichkeiten<br />
nicht teil. Jedem Kind ab drei Jahren<br />
steht zwar nach dem Kindergartengesetz ein<br />
Kindertagesheimplatz zur Verfügung, jedoch<br />
ist der Elementarbereich in Deutschland nicht<br />
in die Bildungspflichtzeit einbezogen.<br />
Die tatsächliche Inanspruchnahme eines<br />
Kindergartenplatzes erfährt ihre Grenzen in<br />
der Kostenpflicht. Gerade Risikogruppen werden<br />
durch sie von den vorschulischen Bildungsangeboten<br />
noch zu häufig abgekoppelt.<br />
Der Grundschulverband fordert<br />
Gemeinsamkeit des Bildungsauftrags<br />
von Kindertagestätte<br />
und <strong>Grundschule</strong><br />
Nicht erst in der Schule werden soziale und<br />
emotionale Kompetenzen entwickelt, Sachund<br />
Umweltwissen erworben, beginnen das<br />
Mathematiklernen und der Schriftspracherwerb<br />
Kindertagesstätte und <strong>Grundschule</strong><br />
verbindet der Auftrag, tragfähige Bildungsgrundlagen<br />
zu schaffen, dabei die Unterschiedlichkeit<br />
der Kinder als Normalität wahrzunehmen<br />
und individuelle Lernwege zu<br />
unterstützen. Immer muss an Lernprozesse<br />
angeknüpft und Begonnenes weiter geführt<br />
werden. Um in diesem Sinne miteinander zu<br />
arbeiten, müssen sich beide Einrichtungen<br />
in ihrem Bildungsverständnis einander annähern,<br />
über Lerninhalte, Methoden und angestrebte<br />
Kompetenzen miteinander abstimmen.<br />
Verankerung von Kooperation<br />
in den Bildungskonzepten<br />
und in der Ausbildung<br />
Aufgabe von Familie, Kindertagesstätte und<br />
<strong>Grundschule</strong> ist, die jeweiligen Übergänge<br />
gemeinsam zu gestalten. Zum Wohl des einzelnen<br />
Kindes müssen miteinander Vereinbarungen<br />
über Grundlagen getroffen und ein<br />
jeweils individueller Weg gefunden werden.<br />
Diese Kooperation zwischen den Institutionen<br />
ist ein Gebot der Bildungsverantwortung.<br />
Dabei sollen einerseits die Spezifika der Institutionen<br />
zum Tragen kommen, andererseits<br />
soll die Anschlussfähigkeit in den individuellen<br />
Lern- und Entwicklungsprozessen gesichert<br />
werden.<br />
Schulanfang, die Nahtstelle zwischen der<br />
elementaren und der schulischen Bildung,<br />
bedeutet für alle Kinder einen wichtigen Einschnitt,<br />
verbunden mit einem Statuswechsel.<br />
Er beinhaltet für das Lernen der Kinder Neubeginn<br />
und Fortsetzung zugleich.<br />
Auf der Basis der bisherigen Erfahrungen<br />
sind Konzepte zur Zusammenarbeit zu entwickeln,<br />
veränderte Rahmenbedingungen zu<br />
schaffen und Ressourcen zur Verfügung zu<br />
stellen. Entsprechende Inhalte gehören in die<br />
Ausbildung des sozialpädagogischen Fachpersonals<br />
und in die Lehrerbildung. Eine Plattform<br />
für gleichwertige, von gegenseitiger<br />
Akzeptanz und Vertrauen geprägte, konkurrenzarme<br />
Kooperation ist zu erarbeiten.<br />
Über die Institutionalisierung der Kooperation<br />
werden die Institutionen ihre Arbeit<br />
zunehmend als individuelle Begleitung des<br />
Kindes begreifen, sich an dessen Lernentwicklung<br />
orientieren und die Heterogenität der<br />
Kinder annehmen können.<br />
Abbau struktureller Barrieren:<br />
Kindertagesstätten<br />
als Bildungseinrichtungen,<br />
gegenseitige Praktika<br />
und Hospitationen,<br />
höheres Ausbildungsniveau<br />
für Erzieher/innen<br />
Ohne die Eigenständigkeit der beiden Institutionen<br />
in Frage stellen zu wollen, ist die differente<br />
Ausgangslage und die in den letzten Jahren<br />
intensiv geführte Diskussion zur (Qualitäts-)<br />
Entwicklung von Kindertagesstätten und<br />
Schulen in den Blick zu nehmen. An der Nahtstelle<br />
Schulanfang muss über die pädagogische<br />
Zusammenarbeit und den Austausch<br />
über die individuellen Bedingungen eine fundierte<br />
Grundlage für den weiteren Lern- und<br />
Entwicklungsprozess des Kindes geschaffen<br />
werden.<br />
Um strukturelle Barrieren abzubauen, gilt<br />
es deutliche Zeichen zu setzen, etwa auch in<br />
Form erweiterter Möglichkeiten von Praktika<br />
oder Hospitationen in der jeweils anderen Institution.<br />
Grundlegender aber ist die notwendige<br />
Anhebung des Ausbildungsniveaus der Ausbildung<br />
von Erziehern und Erzieherinnen.<br />
Bildungsangebote vom<br />
3. Lebensjahr an, Bildungspflicht<br />
für Fünfjährige<br />
Angesichts nicht genutzter Bildungschancen<br />
im Elementarbereich muss die Bildungspflicht<br />
aller Kinder zumindest für das Jahr vor der Einschulung<br />
eingeführt werden, zudem ist der<br />
gesamte Besuch einer Kindertagesstätte kostenfrei<br />
zu halten.<br />
20 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Dokumentation<br />
Standpunkt Sprachenlernen in der <strong>Grundschule</strong><br />
Mehrsprachigkeit von Kindern fördern –<br />
mit Deutsch, Fremdsprache, Herkunftssprache<br />
Zur Lage<br />
Kinder im Grundschulalter begegnen bereits vor<br />
und während ihrer Schulzeit auf vielfältige Weise<br />
der Sprache. Ihre Lebenswirklichkeit ist nicht die<br />
muttersprachlich begrenzte Welt. Massenmedien<br />
und Freizeitverhalten, Wanderungsbewegungen<br />
zwischen Sprachräumen haben andere Sprachen<br />
und Kulturen zum Bestandteil außer- und innerschulischer<br />
Wirklichkeit der Kinder werden lassen.<br />
Hinzu kommt, dass durch das Zusammenwachsen<br />
Europas und der Welt die Kenntnis von<br />
Fremdsprachen an Bedeutung gewinnt.<br />
Sprachenlernen ist deshalb eine der zentralen<br />
Aufgaben von Schule, Sprachenkönnen hat eine<br />
Schlüsselfunktion für den Einzelnen wie für die<br />
Gesellschaft. Dazu gehören insbesondere Deutsch<br />
als vorherrschende Schul- und Gesellschaftssprache,<br />
Englisch als internationale Verkehrssprache,<br />
bei Kindern mit Migrationshintergrund die jeweilige<br />
Herkunftssprache sowie fakultativ weitere<br />
Sprachen. Jedes Kind muss künftig mehrsprachig<br />
sein und in der Gesellschaft sollten in der Summe<br />
so viele Sprachen wie möglich präsent sein.<br />
Schulen in Deutschland stellen bereits heute eine<br />
beachtliche Vielfalt von Sprachlernangeboten bereit,<br />
die auch von einem Teil der Kinder und Jugendlichen<br />
intensiv genutzt werden.<br />
Zunehmend bemühen sich Eltern darum, dass<br />
das Sprachenlernen schon in der <strong>Grundschule</strong><br />
ihren Bildungsinteressen als Eltern gerecht<br />
wird. Gleichzeitig ist unstrittig, dass viele Kinder<br />
– nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund –<br />
Defizite in der Beherrschung der deutschen Sprache<br />
haben. Die Gefahr besteht, dass die großen<br />
Unterschiede in der Sprachkompetenz von Kindern<br />
zum Zeitpunkt ihrer Einschulung sowie die<br />
Bereitstellung spezieller Sprachlernangebote für<br />
einen Teil der Kinder schon bei Schulbeginn zur<br />
sozialen Entmischung der Lerngruppen beitragen.<br />
Die <strong>Grundschule</strong> ist gemäß ihres Verfassungsauftrags<br />
aber keine Vorschule für besondere<br />
Bildungsgänge, sondern der allgemeinen<br />
grundlegenden Bildung verpflichtet. Dem haben<br />
auch das Sprachenangebot und die Sprachenfolge<br />
Rechnung zu tragen.<br />
Was bisher fehlt, ist der gesellschaftliche Konsens<br />
über für alle Kinder und Jugendliche geltende<br />
schulische Minimalstandards für das Sprachenlernen.<br />
Der Grundschulverband fordert<br />
Einheitliches Rahmenkonzept<br />
Sprachenlernen für alle Bundesländer<br />
Die Kultusministerkonferenz entwickelt und<br />
beschließt ein Rahmenkonzept für das Sprachenlernen<br />
aller Kinder und Jugendlichen innerhalb<br />
ihrer Pflichtschulzeit.<br />
Dabei hat sich die Förderung des Sprachenlernens<br />
der Kinder in den ersten sechs<br />
Schuljahren auf folgende Sprachen zu beziehen:<br />
Vorrangigkeit von Deutsch<br />
Vorrangig ist die Förderung in der deutschen<br />
Sprache, gerade auch für Kinder anderer Herkunftssprachen,<br />
aber auch für alle anderen<br />
Kinder, insbesondere für Kinder aus sprachlich<br />
wenig geförderten Milieus.<br />
Unerlässliche Voraussetzung für erfolgreiches<br />
Deutschlernen sind für diese Aufgabe<br />
entsprechend aus- und fortgebildete<br />
Lehrer(innen) und Erzieher(innen). Erforderlich<br />
ist eine verpflichtende Bildungszeit<br />
in der Kita mit situativem und explizitem<br />
Deutschlernen sowie der Verzicht auf aufwändige<br />
Sprachtests; im Umgang mit Kindern<br />
wird besser offensichtlich, wie Kinder<br />
weiter zu fördern sind.<br />
Schulen mit Kindern ohne hinreichende<br />
Deutschfähigkeiten brauchen zusätzliche<br />
Lehrerdeputate für ergänzende, den Regelunterricht<br />
unterstützende Förderung und<br />
dies ggf. über die <strong>Grundschule</strong> hinaus bis<br />
ans Ende der Pflichtschulzeit. Wichtig ist die<br />
Beachtung des fachsprachlichen Lernens in<br />
der <strong>Grundschule</strong>, der koordinierte Übergang<br />
in die Sekundarschulen mit Fortführung des<br />
fachsprachlichen Lernens und gegebenenfalls<br />
erforderliche Unterstützungen bis zum<br />
Ende der Pflichtschulzeit.<br />
Fremdsprache Englisch als<br />
international besonders wichtiger<br />
Kommunikationssprache<br />
Bei vielen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund<br />
besteht in der Schuleingangsphase<br />
jedoch die Notwendigkeit,<br />
vorrangig die Fähigkeiten in der deutschen<br />
Sprache zu fördern und hier die schriftsprachlichen<br />
Fähigkeiten zu entwickeln.<br />
Der Unterricht in Englisch hat demgegenüber<br />
zurückzustehen. Er sollte als regulärer<br />
Fremdsprachenunterricht mit kommunikativer<br />
Progression zumindest in Klasse 3 einsetzen.<br />
Die Lehrpläne der Sekundarstufe I sind<br />
auf die Lehrpläne für Englisch der <strong>Grundschule</strong><br />
abzustimmen.<br />
Wo in Bundesländern anstelle von Englisch<br />
eine andere Sprache in allen <strong>Grundschule</strong>n<br />
einer Region vermittelt wird, wie<br />
z. B. Französisch im Saarland, tritt diese<br />
Sprache in den Klassen 3 und 4 an die Stelle<br />
des Englischen. In diesen Ländern muss<br />
Unterricht in Englisch ab Jahrgangsstufe 5<br />
angeboten werden.<br />
Förderung in der (den) Herkunftssprache(n)<br />
der Kinder<br />
Grundsätzlich sind die Herkunftssprachen<br />
aller Kinder innerhalb der Schule aufzuwerten.<br />
Dazu gehört, dass diese Sprachen in<br />
der Schule – bis hin zum Abitur – den Rang<br />
»einer weiteren Fremdsprache« erhalten.<br />
Kinder mit Migrationshintergrund sollten<br />
– wo immer dies in vertretbaren Lerngruppen<br />
möglich ist – in ihrer Herkunftssprache<br />
schulisch gefördert werden. Darüber hinaus<br />
müssen insbesondere an <strong>Grundschule</strong>n in<br />
sozialen Brennpunkten Pädagoginnen und<br />
Pädagogen tätig sein, die eine der häufigen<br />
Migrationssprachen beherrschen. Die Eltern<br />
der Kinder mit anderen Herkunftssprachen<br />
sind darin zu unterstützen, ihre Kinder in deren<br />
Herkunftssprache zu fördern.<br />
Andere Sprachen<br />
als Begegnungssprachen<br />
Schon in Kitas und in der Schuleingangsphase<br />
können Englisch und andere Sprachen<br />
einbezogen werden, z. B. die Herkunftssprachen,<br />
die in der Schule durch Kinder präsent<br />
sind, oder Sprachen des Nachbarlandes als<br />
Begegnungssprachen in kommunikativen<br />
Sprachlernkonzepten. Dies öffnet früh das<br />
Tor zu anderen Sprachen, es schärft Interesse<br />
und die Wahrnehmung für andere Sprachen<br />
und die Freude am Umgang mit ihnen.<br />
Sprachenlernen trägt damit wesentlich zur<br />
interkulturellen Erziehung bei.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
21
Dokumentation<br />
Standpunkt Lehrerinnen- und Lehrerbildung<br />
Professionalität fordern und fördern<br />
Zur Lage<br />
In vielen Bundesländern fanden und finden<br />
einschneidende Reformen in der Lehrerinnen-<br />
und Lehrerbildung statt. Bundesweit<br />
werden verschiedene Modelle<br />
umgesetzt. Zwar ist die Bedeutung einer<br />
qualifizierten Ausbildung allgemein anerkannt,<br />
z. B. stellte die KMK 2005 fest: »Für<br />
die Qualität des Schulunterrichts ist die<br />
Qualität der Lehrerbildung von wesentlicher<br />
Bedeutung. Dennoch werden bei<br />
den derzeitigen Veränderungen bekannte<br />
strukturelle und inhaltliche Probleme oft<br />
zu wenig berücksichtigt, z. B.<br />
n mangelnde Orientierung am Berufsfeld,<br />
n einseitige Konzentration auf die fachwissenschaftliche<br />
Ausbildung,<br />
n Vernachlässigung der didaktisch-methodischen<br />
Qualifizierung,<br />
n fehlende Gleichstellung der Lehrämter,<br />
n unzureichende Verbindung der Ausbildungsphasen.<br />
Eine veränderte Lehrerinnen- und Lehrerausbildung<br />
kann nicht nur mit den derzeitigen<br />
Strukturveränderungen der Universitäten<br />
begründet werden (Bologna:<br />
Bachelor-/Master-Struktur als Folge der<br />
europäischen Angleichung). Die Gründe<br />
für eine Veränderung sind vielfältiger:<br />
sich verändernde Lebensbedingungen von<br />
Kindern und Jugendlichen, heterogene<br />
Schülerschaft in allen Schulstufen und<br />
Schularten, steigende Erwartungen an die<br />
Unterrichts- und Erziehungsqualität sowie<br />
Ergebnisse internationaler und nationaler<br />
Schulleistungsstudien.<br />
Zudem sind die Ergebnisse der Lehrerbildungsforschung<br />
zu berücksichtigen:<br />
Lehrerinnen und Lehrer benötigen neben<br />
Fach-, Methoden- und Medienkompetenz<br />
weitere Kompetenzen in sozialer, kommunikativer<br />
und diagnostischer Hinsicht,<br />
sowie Förder-, Beratungs- und Innovationskompetenz<br />
auf der Basis wissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse. Aufgaben der<br />
Schulentwicklung und Schulprofilbildung<br />
erfordern außerdem qualifizierte Teamarbeit<br />
mit allen pädagogischen Fachkräften<br />
an der Schule.<br />
Der Grundschulverband fordert<br />
Die Ausbildung für alle Lehrkräfte:<br />
wissenschaftlich,<br />
gleich lang, gemeinsam<br />
Die Ausbildung muss für die Lehrerinnen<br />
und Lehrer aller Schulstufen wissenschaftlich,<br />
gleich lang und gemeinsam sein – mit<br />
schulstufenbezogenen Schwerpunktsetzungen.<br />
Das Studium findet an Universitäten<br />
statt. Nur Masterabschlüsse sind<br />
qualifizierend für die anspruchsvolle und<br />
verantwortungsvolle Tätigkeit als Lehrer/<br />
in.<br />
Einrichtung von zwei Lehrämtern<br />
mit stufenspezifischen Schwerpunkten<br />
Einzurichten sind zwei gleichwertige und<br />
gleich besoldete Lehrämter, eines für die<br />
Grund- und Mittelstufe (Jahrgangsstufe<br />
1 – 0), das andere für die Mittel- und Oberstufe<br />
(Jahrgangsstufe 5 – 12/13). Das Studium<br />
hat neben gemeinsamen Studienanteilen<br />
in den Fächern, den Fachdidaktiken<br />
und der Erziehungswissenschaft auch<br />
schulstufenspezifische Schwerpunkte.<br />
Kooperation der drei Phasen<br />
der Lehrerbildung<br />
Die drei Phasen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung<br />
(Studium, Referendariat, Fortund<br />
Weiterbildung) sind institutionalisiert<br />
und inhaltlich miteinander zu verknüpfen.<br />
Ausbildung individueller<br />
Kompetenzprofile<br />
In allen drei Phasen müssen zum Erwerb<br />
individueller Kompetenzprofile Angebote<br />
vorhanden sein. Kompetenzen werden in<br />
Portfolios dokumentiert und bei Einstellungen<br />
und Laufbahnentscheidungen berücksichtigt.<br />
Wissenschaftliche Begleitung<br />
der Reform<br />
Angesichts der <strong>aktuell</strong>en Veränderungen<br />
im Bereich der Lehrerbildung, vor allem in<br />
der ersten Phase, müssen die Reformbemühungen<br />
wissenschaftlich begleitet und<br />
evaluiert werden.<br />
Zu den drei Phasen der Lehrerbildung<br />
Erste Phase (Studium):<br />
Grundständige und konsekutive Bachelor-Master-Modelle<br />
müssen erprobt und evaluiert werden. Beide genügen<br />
denselben Anforderungen und Kriterien wie z. B. Verbindlichkeit<br />
und Vernetzung der Bereiche. Eine bundesweite Anerkennung<br />
der verschiedenen Modelle muss gewährleistet<br />
sein, damit auch künftig Studierende in und nach der ersten<br />
Phase die Hochschule oder das Bundesland wechseln<br />
können.<br />
Zu Beginn des Studiums findet für alle Lehramtsstudierenden<br />
eine wissenschaftlich begleitete Orientierungsphase<br />
in der Schule statt, in der sie ihr künftiges Berufsfeld<br />
erkunden und ihre Berufswahlentscheidung überprüfen<br />
können. Ein dadurch erworbener reflexiver Theorie-Praxis-<br />
Bezug ist Grundlage für das wissenschaftliche Studium. Im<br />
BA-/Grundstudium muss ein qualifizierter Berufsfeldbezug<br />
hergestellt werden. Lehrerbildungszentren an Universitäten<br />
haben die wichtige Aufgabe der Integration der verschiedenen<br />
Studienbereiche und ihrer Orientierung auf die<br />
spezifischen Erfordernisse von Lehramtsstudierenden.<br />
Im MA-/Hauptstudium zielt die Ausbildung auf eine vertiefte<br />
wissenschaftliche Qualifizierung und weiterhin auf<br />
einen reflexiven Praxisbezug. »Bildungswissenschaften«<br />
(KMK 2004) spielen eine zentrale Rolle im Studium. Sie<br />
enthalten neben gemeinsamen auch stufenspezifische Anteile.<br />
Die Fachdidaktik nimmt einen höheren Stellenwert als<br />
bisher ein.<br />
Wissenschaftlich begleitete Praktika erstrecken sich über<br />
die gesamte Dauer des Studiums. Lernformen wie forschungsorientierte<br />
Projektstudien oder Fallarbeit unterstützen<br />
die Ausbildung einer forschenden und reflektierenden<br />
professionellen Haltung.<br />
Zweite Phase (Referendariat /<br />
Vorbereitungsdienst):<br />
In der zweiten Phase werden in Seminar und Schule Grundlagen<br />
für eine breite und fundierte Theorie- und Praxisvernetzung<br />
erworben. Berufspraktische und reflektierte<br />
Handlungskompetenz stellt das Ziel der Ausbildung im<br />
Vorbereitungsdienst dar. Lehren und Lernen orientiert sich<br />
an Prinzipien der Erwachsenenbildung, Ausbildung erfolgt<br />
im Dialog und in Selbstverantwortung. Geeignete Schulen<br />
weisen sich durch ein Ausbildungsprofil aus, der Vorbereitungsdienst<br />
leistet dadurch auch einen wichtigen Beitrag<br />
zur Schulentwicklung.<br />
Dritte Phase (Fort- und Weiterbildung):<br />
In den ersten fünf Jahren der Berufstätigkeit, der Berufseingangsphase,<br />
werden Lehrerinnen und Lehrer in besonderer<br />
Weise durch Fortbildungs- und Supervisionsangebote sowie<br />
durch Arbeits- und Gesprächskreise unterstützt und<br />
gefördert.<br />
Die dritte Phase der Lehrerinnen und Lehrerbildung ist<br />
als postgraduale Phase verpflichtend und durch berufsbegleitende,<br />
individuelle und institutionelle Fort- und Weiterbildung<br />
gekennzeichnet. Weitere Qualifikationen für alle<br />
Lehrämter müssen ermöglicht werden. Für neue Tätigkeitsbereiche<br />
sind sie erforderlich.<br />
22 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Dokumentation<br />
Deutscher Schulpreis an eine <strong>Grundschule</strong><br />
Den ersten »Deutschen Schulpreis«<br />
überreichte Bundespräsident Horst<br />
Köhler im Dezember in Berlin an eine<br />
<strong>Grundschule</strong>:<br />
Die <strong>Grundschule</strong> Kleine Kielstraße<br />
in Dortmund erhielt den mit 50 000<br />
Euro dotierten Preis. »In einem<br />
schwierigen Umfeld verbindet sie pädagogische<br />
Leidenschaft mit professionellem<br />
Können und modernem Qualitätsmanagement«,<br />
begründete die<br />
Jury ihre Entscheidung.<br />
Die <strong>Grundschule</strong> hatte sich als<br />
eine der ersten Schulen in Deutschland<br />
ein Leitbild gegeben: zukunftsorientiertes<br />
Lernen, professionelle<br />
Zusammenarbeit im Kollegium,<br />
Elternarbeit, ganztägige Betreuung<br />
und Öffnung zum Stadtteil. Der Ausländeranteil<br />
an der Schule beträgt<br />
83 Prozent.<br />
Unter dem Motto »Es geht auch<br />
anders« hatten Robert Bosch Stiftung<br />
und Heidehof Stiftung gemeinsam<br />
mit den Medienpartnern stern<br />
und ZDF den Deutschen Schulpreis<br />
2006 erstmalig ausgeschrieben. 481<br />
Schulen hatten sich beworben.<br />
(Informationen: http://schulpreis.<br />
bosch-stiftung.de)<br />
In einem Brief gratulierte der Vorsitzende<br />
des Grundschulverbandes:<br />
Liebe Frau Schultebraucks-Burgkart, liebe Frau Thiel,<br />
sehr geehrte Mitglieder des Lehrerkollegiums,<br />
sehr geehrte Eltern, hallo Kinder<br />
der <strong>Grundschule</strong> Kleine Kielstraße in Dortmund,<br />
im Namen des Grundschulverbandes gratuliere ich Ihnen allen herzlich zum<br />
1. Schulpreis der Robert-Bosch-Stiftung. Wir freuen uns mit Ihrer Schule aus<br />
mehreren Gründen:<br />
– In der Konkurrenz zu vielen weiterführenden Schulen erhielt hier den Preis<br />
eine <strong>Grundschule</strong>. Das unterstreicht die Wertschätzung der Juroren, die sie<br />
der Entwicklungsleistung und der pädagogischen Qualität einer <strong>Grundschule</strong><br />
entgegenbringen. Das ist ja in Deutschland nicht verbreitetes Denken.<br />
– Hier erhielt mit Ihrer Schule eine Schule den Preis, die »in einem schwierigen<br />
Umfeld« wider allgemeinem Erwarten höchst erfolgreich arbeitet, wohl<br />
auch, weil sie die Kinder in ihrem Können und in ihrem Bildungsanspruch<br />
ernst nimmt und aus dieser Grundeinstellung ihre pädagogische Qualität<br />
entwickelt.<br />
– Zudem ist die Kleine Kielstraße als Schule Mitglied im Grundschulverband<br />
und dies befördert natürlich auch unsere Freude über den Preis.<br />
– Zuletzt, und dies kann ich ganz persönlich sagen, habe ich mit Ihnen,<br />
Frau Schultebraucks-Burgkart, und Ihnen, Frau Thiel, in Arbeitsgruppen des<br />
Schulministeriums Nordrhein-Westfalen sehr erfolgreich zusammen gearbeitet<br />
und hierbei auch Ihre pädagogische Kompetenz und Ihre förderliche und<br />
fordernde Zuneigung zu Kindern kennen lernen können. Das hat sich dann<br />
auch auf die Qualität unserer Arbeiten ausgewirkt. Hier spiegelte sich in Ihren<br />
Personen, was in der Preis-Begründung für die Schule hervorgehoben wurde:<br />
dass sich »pädagogische Leidenschaft mit professionellem Können« verbindet.<br />
Jawohl, das ist es.<br />
Ihnen und euch allen eine weiterhin so gedeihliche Arbeit.<br />
Horst Bartnitzky<br />
Vorsitzender des Grundschulverbandes<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
23
Diskussion<br />
Gegen den Dogmatismus<br />
Zum Echo auf Heft 96: Freies Schreiben<br />
von Anfang an – wichtig oder schädlich?<br />
von<br />
Ulrich Hecker<br />
Zahlreicher als sonst und teilweise<br />
heftig waren die Reaktionen auf unser<br />
letztes Heft. Die Zustimmung überwog<br />
bei weitem, zum Beispiel:<br />
»Vielen Dank für ein gelungenes<br />
Heft zu einem <strong>aktuell</strong>en Streit-Thema.«<br />
(Christian Kraus, Hanau)<br />
»DANKE! Dieses Heft war dringend<br />
nötig! Hoffentlich hilft es, die Verunsicherung<br />
wieder abzumildern, die der<br />
unsägliche SPIEGEL-Artikel gebracht<br />
hat bei Kolleginnen UND Eltern. Die<br />
Schulen … haben sehr unter dieser Störung<br />
gelitten. (Wolfhard Kluge, Gießen)<br />
»… was zu sagen mir nach der Lektüre<br />
eben heftig am Herzen liegt: Super.<br />
Gleichsam wie ein rettender Luftröhrenschnitt.«<br />
(Heide Bambach, Hamburg)<br />
Es gab aber auch empörte Briefe und<br />
gar einen Austritt im Zorn.<br />
Worum ging es<br />
und was empörte?<br />
»Kann jeder schreiben wie er will?« war<br />
der Angelpunkt einer aufgeregten Debatte<br />
in den Medien. Die Diskussion<br />
hatte sich an der angeblichen Laxheit<br />
entzündet, mit der in <strong>Grundschule</strong>n das<br />
Thema Rechtschreiblernen betrachtet<br />
werde. Und dies wurde vermengt mit<br />
dem Begriff des »Freien Schreibens«.<br />
Ziel unseres Heftes war, diese Diskussion<br />
auf eine sachliche Ebene zu<br />
bringen, aber auch die Funktionsweise<br />
solcher Medienkampagnen zu hinterfragen<br />
und sachlichen, informierten<br />
Journalismus einzufordern.<br />
Dabei war uns für den Grundschulverband<br />
ein Grundsatz wichtig:<br />
Ein kindgerechter Anfangsunterricht<br />
baut auf den Kompetenzen auf,<br />
die Kinder bereits in die Schule mitbringen,<br />
setzt Kinder frei für Entdeckungen<br />
in der »Welt der Schrift« und begleitet<br />
ihren Weg in die Schriftkultur. Dabei<br />
spielt die normgerechte Schreibweise<br />
von Anfang an eine Rolle. Wie das im<br />
Einzelnen zu geschehen hat, hierzu<br />
gehen die Meinungen und Methoden<br />
auseinander – und hier sollten Voraussetzungen<br />
geklärt und Kontroversen<br />
benannt werden.<br />
Von diesem Grundsatz her hatten<br />
wir vier Meinungen zu vier zentralen<br />
Fragen eingeholt, so dass ein Spektrum<br />
von Konzepten deutlich wurde (Heft<br />
96, S. 6 – 3). Mit Ute Andresen, Horst<br />
Bartnitzky, Hans Brügelmann und<br />
Erika Brinkmann hatten wir den Fibelautor<br />
Wilfried Metze zu Stellungnahmen<br />
eingeladen.<br />
Wilfried Metze ist ein entschiedener<br />
Gegner des Konzepts »Lesen durch<br />
Schreiben« von Jürgen Reichen und<br />
behauptete nun, alle anderen Artikel<br />
im Heft und damit der Grundschulverband<br />
insgesamt würden dieses<br />
Konzept vertreten, er selbst erhielte<br />
dadurch eine Außenseiterrolle als ein<br />
»ewig Gestriger«:<br />
»Ich habe soeben das <strong>aktuell</strong>e Heft<br />
überflogen und muss meinem Ärger<br />
Luft machen. Ich erwäge, den Grundschulverband<br />
zu verlassen. Die sog.<br />
Diskussion, zu der Sie mich gebeten<br />
hatten, ist nichts als ein Feigenblatt,<br />
unverblümt die einseitig auf Freies<br />
Schreiben ausgerichtete Haltung der<br />
im Verband dominierenden Gruppe erneut<br />
in die Lehrerschaft zu tragen. (…)<br />
Die inhaltliche Ausrichtung des<br />
Heftes ist eindeutig. Dass in der Diskussion<br />
innerhalb eines Beitrags auch abweichende<br />
Meinungen zu Wort kamen,<br />
wirkt im Gesamtrahmen eher wie ein<br />
Feigenblatt. Wieder – wie so oft – überwiegen<br />
die positiven, blumigen Schilderungen<br />
des Unterrichts, in dem Freies<br />
Schreiben eine zentrale Rolle spielt.<br />
Dass es Kritik an diesem Konzept<br />
gibt, wird auf die Schiene des Sensationsjournalismus<br />
geschoben, frustrierten<br />
Lehrerhasserinnen zugeordnet und<br />
in der reaktionären Ecke geortet.<br />
Der Grundschulverband hat sich (…)<br />
zu einem Instrument einer bestimmten<br />
didaktischen Richtung entwickelt.<br />
Abweichende Auffassungen werden als<br />
Aufgeregtheiten, Halbwahrheien, Fehlund<br />
Falschinformationen diffamiert,<br />
so wie Sie es in Ihrem Beitrag getan<br />
haben. Der Abstand zur Demagogie ist<br />
nicht mehr sehr groß.«<br />
Soweit Wilfried Metzes Wahrnehmung.<br />
Christian Kraus aus Hanau<br />
dagegen schrieb: »Die Darstellung<br />
einer Gegenposition wie der von<br />
Wilfried Metze finde ich wichtig und<br />
bereichernd, auch wenn er sich wohl<br />
hauptsächlich zum Ziel gesetzt hat,<br />
die Methode ›Lesen durch Schreiben‹<br />
in Misskredit zu bringen.«<br />
Unterdrückte Debatte?<br />
Was Wilfried Metze noch mehr erzürnte:<br />
Die Mit-Stellungnehmer Hans Brügelmann<br />
und Erika Brinkmann hatten<br />
eine wissenschaftliche Expertise zum<br />
derzeitigen Methodenstreit erarbeitet,<br />
die wir nicht in »<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>«,<br />
sondern auf unserer Homepage untergebracht<br />
haben (http://www.grund<br />
schulverband.de/forschung.html). Das<br />
Fazit der Expertise ist:<br />
Es gibt keine eindeutigen Belege<br />
dafür, dass die eine oder die andere<br />
Methode bessere und nachhaltigere<br />
Lernergebnisse erbringt, weil die Methode<br />
sich immer nur mit der jeweiligen<br />
Lehrperson realisiert und dies in<br />
einem komplexen Faktorengefüge von<br />
Klassenzusammensetzung, Vorerfahrungen<br />
der Kinder, Unterstützungen,<br />
Lehrstil, Anregungspotential der Lernumgebung<br />
und vielem anderen.<br />
Auch hierin sah Wilfried Metze eine<br />
einseitige Stellungnahme für »Lesen<br />
durch Schreiben«. Er kommentierte in<br />
roter Schrift in den Originaltext von<br />
Brügelmann/Brinkmann hinein und<br />
verlangte die Veröffentlichung dieser<br />
24 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
Diskussion<br />
durchkommentierten Fassung an gleicher<br />
Stelle.<br />
Dies lehnten wir ab, weil ein solch<br />
schulmeisterlicher Umgang mit einem<br />
Manuskript anderer Autoren von uns<br />
nicht akzeptiert werden kann. Wilfried<br />
Metze wurde angeboten, eine eigene<br />
Stellungnahme zu schreiben, die wir<br />
dann veröffentlichen wollten. Dies<br />
aber wollte Wilfried Metze erst einmal<br />
nicht, sondern bot an, seine Anmerkungen<br />
statt in rote in blaue Schriftfarbe<br />
zu setzen!<br />
Der Vorstand des Grundschulverbandes<br />
beschäftigte sich mit dieser Kontroverse<br />
und stellte fest, dass die Diskussionsbreite<br />
im Heft 96 der Meinungsbildung<br />
der Leserinnen und Leser diente,<br />
denen er nicht vorschreiben wolle, was<br />
sie zu meinen haben. Horst Bartnitzky<br />
schrieb im Auftrag des Vorstands<br />
an Wilfried Metze: »Dabei ist ja auch<br />
ohne jede Einschränkung Ihr Beitrag<br />
enthalten. Sie haben zudem zuvor die<br />
Beiträge der anderen drei Stellungnehmer<br />
erhalten. Insgesamt ist dies ein<br />
transparenter Prozess. Von Einseitigkeit<br />
oder gar der Unterdrückung kritischer<br />
Stimmen kann nun wirklich keine<br />
Rede sein. Die Positionen – die Ihre<br />
und andere – wurden deutlich und das<br />
war Zweck des Heftes.«<br />
Daraufhin erklärte Wilfried Metze seinen<br />
Austritt mit der Ankündigung weiterer<br />
Aktionen:<br />
»Selbstverständlich werde ich alles<br />
versuchen, die vom GSV unterdrückte<br />
Debatte über den Brügelmann / Brinkmann-Aufsatz<br />
in die Öffentlichkeit zu<br />
bringen. Der Grundschulverband beraubt<br />
sich mit einem derartigen Vorgehen<br />
jeglicher Glaubwürdigkeit und<br />
Seriosität.«<br />
Kurze Zeit später schickte Wilfried<br />
Metze dann doch einen eigenen Text<br />
zur Expertise. Und postwendend fanden<br />
sich seine – nach eigenen Worten<br />
– »pointiert gehaltenen« Anmerkungen<br />
auf der Homepage des Grundschulverbandes<br />
(siehe http://www.grund<br />
schulverband.de/forschung.html). Auf<br />
Metzes Homepage allerdings heißt es<br />
auch weiterhin:<br />
»Der Grundschulverband hat lange<br />
sich geweigert, meine Stellungnahme<br />
neben den Aufsatz von Brügelmann /<br />
Brinkmann zu stellen. Ein direkter Vergleich<br />
durch meine direkte Kommentierung<br />
innerhalb des Brügelmann /<br />
Brinkmann-Aufsatzes ist dem Leser<br />
durch die Ablehnung des GSVs leider<br />
nicht möglich« (http://www.wilfried<br />
metze.de/html/gsv.html).<br />
Festzuhalten bleibt:<br />
Der Grundschulverband folgt in allen<br />
seinen Veröffentlichungen nicht<br />
dem Konzept von Jürgen Reichens<br />
»Lesen durch Schreiben«. Unsere Position<br />
ist stattdessen: »Lesen und Schreiben<br />
im Zusammenspiel, einschließlich<br />
Rechtschreiben von Anfang an«.<br />
Dabei gibt es unterschiedliche Realisierungskonzepte<br />
(siehe z. B. die<br />
Beiträge in »Schatzkiste Sprache 1«,<br />
Band 104, dort auch eine Diskussion<br />
zwischen Jürgen Reichen und Heiko<br />
Balhorn). Wilfried Metze übersieht<br />
diese bedeutungsvollen Unterschiede<br />
und packt alles, was nicht von Beginn<br />
an normorientiert ist, in die Schublade<br />
»Lesen durch Schreiben«.<br />
Es gab übrigens auch eine Reihe von<br />
Reaktionen, die ihr Unverständnis darüber<br />
äußerten, dass Metze seine Auffassung<br />
in der Zeitschrift des Grundschulverbandes<br />
überhaupt kundtun<br />
durfte.<br />
Marion Lorber und Katrin Ströbl<br />
aus Dresden beispielsweise schrieben:<br />
»Mit Erstaunen, Verwunderung und<br />
abschließend Entsetzen haben wir die<br />
letzte Ausgabe der ›<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>‹<br />
gelesen. Wie ist es möglich, dass<br />
jemandem wie Herrn Metze darin so<br />
viel Raum zur Darstellung seiner offenbar<br />
völlig abstrusen Vorstellungen<br />
vom Unterrichtsalltag in Lesen-durch-<br />
Schreiben-Klassen, die den Namen verdienen,<br />
geboten wird? (…)<br />
Wir laden gern alle diejenigen in unsere<br />
Klassen ein, die immer wieder behaupten,<br />
›Lesen wäre bei Reichen verboten‹.<br />
Unsere Kinder finden in ihren<br />
Klassenzimmern vom ersten Schultag<br />
an mehr als einhundert Kinderbücher<br />
in vielen verschiedenen Leseniveaus<br />
vor. Keinem Kind ist es verboten, diese<br />
Bücher immer wieder zur Hand zu nehmen,<br />
sich von älteren Kindern vorlesen<br />
zu lassen – wofür es zusätzlich regelmäßige,<br />
festgelegte Zeiten gibt – oder<br />
selbst Leseversuche zu unternehmen,<br />
wenn es das von sich aus möchte. Tägliches<br />
Vorlesen durch die Lehrerin hat<br />
seinen Platz genauso wie Gespräche<br />
und das Schreiben zu den gelesenen<br />
Büchern.«<br />
Wir sind der Auffassung, dass dem<br />
Grundschulverband jede Form des<br />
Dogmatismus fremd sein sollte. Wir<br />
wollen vielmehr bei strittigen Themen<br />
durch unterschiedliche Meinungen zu<br />
professioneller Meinungsbildung der<br />
Mitglieder beitragen, Kontroversen benennen<br />
und klären sowie Gemeinsamkeiten<br />
fördern.<br />
Freies Schreiben ist mehr …<br />
Auf einen wichtigen Zusammenhang<br />
weist Michael Ritter, Autor des Beitrags<br />
»Freies und kreatives Schreiben«<br />
in Heft 96, in einer Zuschrift hin:<br />
»Mir liegt nun eine Tatsache doch<br />
recht schwer im Magen. Der Begriff<br />
›Freies Schreiben‹ wird im Heft als Begriff<br />
des Anfangsunterrichts Deutsch<br />
verwendet, der schwerpunktmäßig die<br />
Entwicklung wichtiger Einsichten in die<br />
Normsysteme der Schriftsprache im<br />
Blick hat, und diese nicht so sehr durch<br />
einen systematischen Vermittlungsund<br />
Übungsprozess entwickeln will,<br />
sondern der Annahme folgt, im freien<br />
Verwenden von Schriftsprache gleiche<br />
sich die Schreibung der Kinder – besonders<br />
die Orthographie – den gängigen<br />
Regelungen auf natürliche Weise an.<br />
Für mich – und darauf ist mein Artikel<br />
ja auch ausgerichtet – hat der Begriff<br />
eine völlig andere Bedeutung.<br />
Ich sehe im freien Schreiben keinen<br />
ausgemachten Begriff des Anfangsunterrichts,<br />
sondern der Schreibdidaktik,<br />
wobei diese natürlich auch in den Anfangsunterricht<br />
hineinreicht.<br />
Jedoch steht bei meinem Begriffsbild<br />
vom freien Schreiben nicht der<br />
Aufbau des Normsystems, sondern die<br />
Entwicklung des individuellen kindlichen<br />
Ausdrucks im Mittelpunkt.<br />
Es geht also viel mehr um das Eigene,<br />
das sich im Text artikuliert. Die<br />
Kinder sollen die Fähigkeit erlangen,<br />
sich durch Schriftsprache mitzuteilen,<br />
Inneres zu veräußerlichen, Schrift vielfältig<br />
zu nutzen. Das ist eine ganz andere<br />
Perspektive auf den Begriff.«<br />
Dem ist zuzustimmen. Wenn aber<br />
über freies Schreiben diskutiert wird,<br />
dann gehört der Zusammenhang zum<br />
Lesen und zum Rechtschreiben stets<br />
dazu. Genau dies bestimmte denn<br />
auch die Debatte des vorigen Jahres<br />
und das Thema unseres Heftes.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
25
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Bayern<br />
Vorsitzende: Dr. Gudrun Schönknecht, Berliner Allee 22d, 86153 Augsburg<br />
Arbeit in Regionalgruppen<br />
In Regionalgruppen versucht die<br />
Landesgruppe der Flächenstruktur<br />
des Bundeslandes entgegenzuwirken<br />
und ihrer Arbeit ein<br />
breites und praktisches Fundament<br />
zu geben. Momentan<br />
existieren drei Regionalgruppen,<br />
während eine vierte Gruppe<br />
gerade in Unterfranken gegründet<br />
wird.<br />
Regionalgruppe Augsburg<br />
sucht weitere MitarbeiterInnen<br />
Die Augsburger Gruppe wurde<br />
von Katja Entfellner als Studentengruppe<br />
an der Universität<br />
gegründet. Sie übernahm<br />
die Organisation von Bücherund<br />
Informationstischen bei<br />
Tagungen und Vorträgen. Durchgeführt<br />
wurden auch schon<br />
Workshops zu den Arbeitsschwerpunkten<br />
der Landesgruppe.<br />
Besonders freuen würde<br />
sich diese Gruppe auch über<br />
LehramtsanwärterInnen und<br />
LehrerInnen, die die Arbeit weiter<br />
bereichern würden. Arbeitsschwerpunkte<br />
werden gerade<br />
gemeinsam überlegt. Angedacht<br />
ist eine Vertiefung im Bereich<br />
der pädagogischen Leistungskultur.<br />
Kontakt: grundschulverband.<br />
augsburg@web.de<br />
Regionalgruppe Zukunftswerkstatt<br />
Cham<br />
Vor drei Jahren gründete Bianca<br />
Ederer mit Unterstützung der<br />
Schulrätin Melanie Heigl des<br />
Schulamtes Cham eine regionale<br />
Arbeitsgruppe. In einer Zukunftswerkstatt<br />
– daher auch der Name<br />
– wurden gemeinsame Ziele festgelegt.<br />
Zu Beginn lag der Schwerpunkt<br />
auf best practice Ideen im<br />
Bereich Richtig schreiben. Letztes<br />
Jahr plante das Team gemeinsam<br />
mit der Landesgruppe einen<br />
Grundschultag zur Thematik<br />
»Fördern und Fordern in einer<br />
pädagogischen Leistungskultur«,<br />
die viele LehrerInnen aus der<br />
Region und Grundschulverbandsmitglieder<br />
ansprach. In diesem<br />
Schuljahr liegt der Schwerpunkt<br />
auf dem Bereich Mathematik: Zu<br />
Beginn des Schuljahres traf sich<br />
die Gruppe zum Austausch von<br />
gelungenen Materialien. An Möglichkeiten<br />
kompetenzorientierter<br />
Lernbegleitung und Lernortbestimmungen<br />
wird weiter gear-<br />
beitet werden. Ideen aus bereits<br />
bestehenden Verfahren aus der<br />
Praxis der LehrerInnen und dem<br />
BLK-Projekt SINUS TRANSFER werden<br />
ausgetauscht, ausprobiert<br />
und weiterentwickelt. Kontakt:<br />
biancaederer@web.de<br />
Regionalgruppe Mittelfranken<br />
bereits fest etabliert<br />
In Mittelfranken hat sich die von<br />
Gabriele Klenk gegründete Regionalgruppe<br />
bereits etabliert.<br />
Ging es in ihrer Arbeit vor zehn<br />
Jahren um die Verbreitung eines<br />
entwicklungsorientierten Schriftspracherwerbs<br />
und anschließend<br />
um die Erarbeitung eines kompetenzorientierten<br />
Sachunterrichts,<br />
steht momentan die Beschäftigung<br />
mit dem Modul 1 des BLK<br />
Programms »SINUS TRANSFER«<br />
im Vordergrund. LehrerInnen entwickeln<br />
hierbei gerade gute Aufgaben<br />
im Mathematikunterricht<br />
und tauschen sich mit folgenden<br />
Zielen im Arbeitskreis aus:<br />
n Am Ende eine Sammlung an<br />
guten Aufgaben in allen mathematischen<br />
Bereichen zur Verfügung<br />
zu haben.<br />
n Eine Aufgabenart auf unterschiedlichen<br />
Niveaus in unterschiedlichen<br />
Klassenstufen<br />
durchgeführt zu haben.<br />
n Schülerergebnisse dazu mitzubringen.<br />
n Die Ziele, die die Lehrkraft mit<br />
diesen Aufgaben verfolgte, darzulegen.<br />
Kontakt: gabriele.klenk@<br />
t-online.de<br />
Landesgruppe plant<br />
Information per E-Mail<br />
Sollten Sie als Mitglied an <strong>aktuell</strong>en<br />
Informationen interessiert<br />
sein, so senden Sie bitte eine<br />
kurze E-Mail mit dem Stichwort<br />
»Aktuelle Informationen<br />
erwünscht« an gabriele.klenk@<br />
t-online.de<br />
(für die Landesgruppe: Bianca Ederer<br />
und Gabriele Klenk)<br />
5. Mai 2007,<br />
Grundschultag Landshut,<br />
Thema: »Fördern und<br />
Fordern in einer pädagogischen<br />
Leistungskultur«, genauere Informationen<br />
unter www.grundschulverband.de<br />
Berlin<br />
Kontakt: Ingrid Kornmesser, Kohlfurter Str. 4, 10999 Berlin; www.gsv-berlin.de<br />
Hohe Erwartungen<br />
an den Neuen<br />
Berlins neuem Schulsenator<br />
Zöllner (SPD), Import aus Rheinland-Pfalz,<br />
geht ein guter Ruf<br />
voraus. So wurde zum Beispiel<br />
dem Land Rheinland-Pfalz 2002<br />
für von ihm initiierte bildungspolitische<br />
Entwicklungen im Grundschulbereich<br />
der Politikpreis des<br />
Grundschulverbandes zuerkannt.<br />
Die Berliner Landesgruppe setzt<br />
deshalb hohe Erwartungen in<br />
Zöllners Wirken zugunsten<br />
der Berliner <strong>Grundschule</strong> und<br />
hat dies auch dem neuen Berliner<br />
Senator für Bildung, Wissenschaft<br />
und Forschung in einem<br />
Begrüßungsschreiben (www.gsvberlin.de)<br />
deutlich zu erkennen<br />
gegeben. Die Richtung der in<br />
Berlin für die <strong>Grundschule</strong>n eingeleiteten<br />
Reformen stimmt.<br />
Aber bei deren Umsetzung in<br />
eine »flächendeckende Alltagspraxis«<br />
stimmt vieles noch nicht.<br />
Hier haben die Berliner <strong>Grundschule</strong>n<br />
einen großen Nachholbedarf<br />
an verlässlicher Unterstützung<br />
durch Schulverwaltung<br />
und Schulträger.<br />
Wowereit redet Kreuzbergs<br />
Schulen schlecht<br />
Es stimmt: Kreuzberg gehört<br />
zu den sozial benachteiligten<br />
Ortsteilen Berlins mit besonders<br />
hoher Arbeitslosenquote.<br />
Kreuzbergs Erstklässler haben<br />
einen Ausländeranteil von über<br />
60% und gehören in allen untersuchten<br />
Kategorien zu Berlins<br />
Schlusslichtern, ob es sich um<br />
Motorik und Koordination, den<br />
Zustand der Zähne oder auch das<br />
Übergewicht der Kinder handelt.<br />
Öffentlich zu erklären, wie es<br />
der Regierende Bürgermeister<br />
Wowereit (SPD) jetzt tat, er<br />
würde seine Kinder, wenn er welche<br />
hätte, auch nicht in Kreuzberg<br />
zur Schule schicken, ist ein<br />
Skandal, eine Bankrotterklärung<br />
der Politik. Kreuzbergs <strong>Grundschule</strong>n<br />
gehören großenteils<br />
zu den innovativsten Schulen<br />
Berlins. Was oftmals fehlt, sind<br />
unerlässliche Rahmenbedingungen.<br />
Wir verlangen als Grundschulverband:<br />
Der Berliner Regierungschef<br />
hat hier für Abhilfe<br />
zu sorgen. Kreuzbergs Schulen<br />
müssen künftig als Nachteilsausgleich<br />
zu den bestausgestatteten<br />
Schulen Berlins gehören, auf die<br />
selbst Spitzenpolitiker gern ihre<br />
Kinder schicken.<br />
(für die Landesgruppe: Peter Heyer<br />
peterheyer@snafu.de)<br />
26 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Brandenburg<br />
Vorsitzende: Denise Sommer, Weinbergweg 21, 15834 Rangsdorf; www.gsv-brandenburg.de<br />
Chancen von ILeA in der <strong>aktuell</strong>en<br />
Debatte um Diagnostik<br />
und Leistungsförderung<br />
Die Rahmenlehrpläne für die<br />
<strong>Grundschule</strong> fordern explizit<br />
das Anknüpfen an individuelle<br />
Erfahrungen und Lernvoraussetzungen<br />
der Schülerinnen<br />
und Schüler. Dabei eröffnen<br />
individuelle Lernstandsanalysen<br />
als diagnostisch-pädagogische<br />
Instrumente eine besondere<br />
Perspektive. Zum Schuljahr<br />
2005/2006 wurden ein Leitfaden<br />
sowie ein Schülerarbeitsheft für<br />
die Jahrgangsstufe1 zum Einsatz<br />
in allen <strong>Grundschule</strong>n des Landes<br />
bereitgestellt. Mit Beginn dieses<br />
Schuljahres liegen weitere Materialien<br />
zu den individuellen Lernstandsanalysen<br />
(ILeA) vor. Zu<br />
den bisher entwickelten Publikationen<br />
von ILeA 2 – 6 gehören<br />
der ILeA-Leitfaden 2 – 6 sowie die<br />
dazu gehörenden Materialien. In<br />
der Jahrgangsstufe 2 beziehen<br />
sich die Analysen auf die Bereiche<br />
Lesen und Rechtschreiben, in<br />
den Jahrgangsstufen 3 – 6 auf<br />
den Bereich der Lesegeschwindigkeit.<br />
Materialien für weitere<br />
Analysen im Fach Deutsch sowie<br />
für Mathematik sind in der Erprobung<br />
und werden nachfolgend<br />
bereitgestellt.<br />
Das Material soll dazu beitragen,<br />
dass Lehrkräfte auf möglichst<br />
zeitsparende und praxistaugliche<br />
Weise die Lernausgangslagen<br />
der Kinder ihrer Klassen erfassen,<br />
verstehen und dokumentieren.<br />
Auf der Basis einer möglichst<br />
genauen Kenntnis der Lernausgangslage<br />
können individuelle<br />
Lernpläne entwickelt werden und<br />
ein effektiver Unterricht für alle<br />
Kinder gestaltet werden.<br />
Chancen von ILeA sehen wir<br />
vor allen Dingen darin, dass es<br />
zukünftig zum professionellen<br />
Handeln Brandenburger Grundschullehrkräfte<br />
gehören wird,<br />
kontinuierlich und systematisch<br />
Lernvoraussetzungen im Detail<br />
zu betrachten, Lernfortschritte<br />
zu beobachten und zu dokumentieren.<br />
Damit kann das einzelne<br />
Kind stärker in den Mittelpunkt<br />
der Überlegungen zur Gestaltung<br />
eines effektiven Unterrichtes<br />
rücken.<br />
Grundschullernen ist jedoch<br />
stets vielfältig und vielschichtig.<br />
Lernbeobachtung, Lerndokumentation<br />
und Lernberatung<br />
muss diese Vielfalt aufnehmen<br />
und über die jetzigen Inhalte der<br />
Lernstandsanalysen hinaus sinnvoll<br />
ergänzen.<br />
(für die Landesgruppe:<br />
Marion Gutzmann)<br />
Grundschultag zum<br />
Thema: Schulvisitation<br />
– Chance für Schulentwicklung<br />
?<br />
29. Mai 2007, 9.30 – 15 Uhr<br />
im LISUM Brandenburg<br />
Bremen<br />
Vorsitzende: Karin Sanders, Langenstr. 11, 28816 Stuhr; www.grundschulverband-bremen.de<br />
Mitgliederversammlung<br />
Oktober 2006<br />
Der Vorstand der Landesgruppe<br />
ist sehr froh über die positiven<br />
Entwicklungen für die Vorstandsarbeit.<br />
In der Jahresmitgliederversammlung<br />
haben sich Nina<br />
Bode-Kirchhoff, Dr. Ulrike<br />
Graf, Elke Grunwald und Ilona<br />
Rother bereit erklärt, langfristig<br />
im Vorstand mitzuarbeiten.<br />
Günter Griesch wird als Delegierter<br />
Bremens im Bundesverband<br />
tätig werden.<br />
Unterrichtsausfall in<br />
Bremer <strong>Grundschule</strong>n<br />
Nach Aussage des Senators<br />
für Bildung und Wissenschaft<br />
sind die Unterrichtsausfälle im<br />
Bereich der <strong>Grundschule</strong>n bedeutend<br />
geringer als in den übrigen<br />
Schulstufen. Es muss vermutet<br />
werden, dass die Statistik<br />
für <strong>Grundschule</strong>n nur deshalb<br />
so günstig ist, weil die Schulen<br />
verpflichtet sind, alle Kinder in<br />
der Zeit von 8.00 – 13.00 Uhr zu<br />
beschulen. Schulen lösen ihre<br />
Personalprobleme, indem<br />
n Doppelbesetzungen gestrichen<br />
werden,<br />
n Kinder auf andere Klassen aufgeteilt<br />
werden,<br />
n eine Lehrkraft zwei Klassen<br />
gleichzeitig beaufsichtigt,<br />
n Praktikantinnen oder Studentinnen<br />
Klassen beaufsichtigen,<br />
n die Schulleitung vertreten<br />
muss.<br />
Es stellt sich somit die Frage der<br />
Unterrichtsqualität, denn negative<br />
Auswirkungen werden verdeckt.<br />
Die den Schulen zugewiesene<br />
Geldressource hilft wenig,<br />
wenn von heute auf morgen eine<br />
Lehrkraft ersetzt werden muss.<br />
Die Landesgruppe fordert deshalb,<br />
dass Eltern über diese einschränkenden<br />
Maßnahmen<br />
informiert werden. Je nach individuellen<br />
Bedingungen einer<br />
Schule sollte die Wahl zwischen<br />
Geld- und Personalressourcen<br />
in die Entscheidung der einzelnen<br />
Schule gelegt werden. Die<br />
Landesgruppe hat sich mit einer<br />
Stellungnahme an den Senator<br />
für Bildung gewandt.<br />
Zentrum für schülerbezogene<br />
Beratung (ZfsB)<br />
Die Neustrukturierung dieses<br />
Zentrums löst bei den bisherigen<br />
Beratungsstellen große Sorge<br />
aus. In den neu einzurichtenden<br />
Regionalteams sollen »multiprofessionelle«<br />
Mitarbeiterinnen für<br />
alle Probleme Hilfe anbieten<br />
(z. B. Rechenschwierigkeiten,<br />
Lese-Rechtschreibprobleme,<br />
Suchtberatung usw.).<br />
Bewährte kompetente Beratungsstellen<br />
werden aufgelöst<br />
und viele dieser Lehrkräfte werden<br />
diese Arbeit nicht weiter<br />
leisten können, da von den 40<br />
zugewiesenen Stellen nur acht<br />
Lehrerstellen vorgesehen sind.<br />
Der Hauptanteil soll durch Psychologen<br />
besetzt werden.<br />
Mit Sorge verfolgt die Landesgruppe<br />
diese Entwicklung, da zu<br />
befürchten ist, dass die Unterstützung<br />
für die Probleme des<br />
einzelnen Kindes nicht ausreichend<br />
aufgefangen werden können.<br />
Ausbildung von Lehrerinnen<br />
und Lehrern in der ersten und<br />
zweiten Phase<br />
Mit Sorge verfolgt die Landesgruppe<br />
die Umsetzung der neuen<br />
Ausbildungsverordnung. Die<br />
<strong>Grundschule</strong>n fühlen sich überfordert,<br />
die Anzahl der in die<br />
Schule strömenden Studierenden<br />
und Referendarinnen/Referendare<br />
zu bewältigen und ihnen<br />
eine angemessene Ausbildung<br />
zuteil werden zu lassen. Für die<br />
freiwillige Qualifizierungsmaßnahme<br />
melden sich nur wenige<br />
Mentorinnen und Mentoren an.<br />
Viele Referendarinnen und Referendare<br />
beklagen, dass sie keine<br />
ausreichende fachliche Betreuung<br />
an den Schulen haben.<br />
Zudem wird es immer schwieriger,<br />
für die 2. Phase Ausbildungsschulen<br />
zu finden, weil die<br />
Referendarinnen/Referendare<br />
den Schulen in ihrer Stundenzuweisung<br />
angerechnet werden.<br />
Diesen Missstand hat die<br />
Landesgruppe bereits mehrmals<br />
bei der senatorischen Behörde<br />
angemahnt. Eine Antwort steht<br />
immer noch aus.<br />
Der Deutsche Schulpreis 2006<br />
Wir freuen uns, dass die Bremer<br />
<strong>Grundschule</strong> Am Pfälzer Weg,<br />
die auch Mitglied im Grundschulverband<br />
ist, für den Deutschen<br />
Schulpreis 2006 nominiert<br />
wurde.<br />
Herzlichen Glückwunsch!<br />
(für die Landesgruppe:<br />
Roswitha Kremin)<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
27
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Hamburg<br />
Kontakt: Susanne Peters, Güntherstraße 10 , 22087 Hamburg; www.gsvhh.de<br />
Eingangsklassen im kommenden<br />
Jahr wieder kleiner<br />
In diesem Jahr gab es Eingangsklassen<br />
mit bis zu 30 Kindern in<br />
Hamburg. Damit war Hamburg<br />
das Bundesland mit den größten<br />
Grundschulklassen. Für das kommende<br />
Schuljahr hat die Senatorin<br />
nun angekündigt, die Richtfrequenz<br />
zu senken. Vor allem in<br />
Stadtteilen mit vielen Risikoschülern<br />
sollen die Grundschulklassen<br />
ab dem kommenden Jahr spürbar<br />
kleiner werden.<br />
Die Landesgruppe begrüßt es,<br />
dass die Senatorin aus ihren Fehlern<br />
gelernt hat. Wir fragen uns,<br />
warum die Frequenz erst hoch<br />
gesetzt werden musste, um zu<br />
der Erkenntnis zu gelangen, dass<br />
Kinder in kleineren Klassen besser<br />
gefördert werden. Wir wünschen<br />
uns ein noch konsequenteres<br />
Vorgehen und wesentlich<br />
kleinere Klassen für alle Schulen.<br />
Englisch<br />
Im Oktober ereilte alle Hamburger<br />
Schulen eine Neuigkeit aus<br />
der Behörde für Bildung und<br />
Sport: In Englisch muss ab sofort<br />
eine Zensur in Klasse 3 und 4<br />
erteilt werden. Bislang war in<br />
Englisch im Grundschulbereich<br />
lediglich eine Verbalbeurteilung<br />
erforderlich, die sich nach Mei-<br />
nung aller Beteiligten bewährt<br />
hat. Wir bedauern, dass die Motivation<br />
der Kinder am Lernen der<br />
ersten Fremdsprache gemindert<br />
wird und wundern uns. Ob die<br />
Expertise des Grundschulverbandes<br />
wohl gelesen wurde?<br />
Neuer Vorstand<br />
der Landesgruppe<br />
Am Montag, dem 20.11.2006 fand<br />
unsere Mitgliederversammlung<br />
mit Vorstandswahlen statt. Dem<br />
neuen Vorstand gehören an:<br />
Susanne Peters, Maik Becker,<br />
Marion Lindner und Prof.<br />
Hubert Wudtke.<br />
Wer nicht kommen konnte und<br />
Informationen über den Vortrag<br />
von Frau Prof. Dr. Prengel zur<br />
Individuellen Lernstandsanalyse<br />
(ILeA) möchte, findet diese auf<br />
unserer Homepage unter der<br />
Rubrik »Aktuelles«:<br />
www.gsvhh.de<br />
(für die Landesgruppe: Susanne Peters<br />
susanne.peters@gsvhh.de)<br />
Hessen<br />
Anschrift: Ilse Marie Krauth, Steigerwaldweg 3, 63456 Hanau<br />
Und raus bist du …<br />
Zahlreichen Lehrerinnen und Lehrern<br />
der vierten Klassen werden<br />
in den nächsten Wochen vom<br />
hessischen Schulalltag eingeholt,<br />
wenn es darum geht Empfehlungen<br />
für die weiterführenden<br />
Schulen auszusprechen.<br />
Sie erleben, wie ihre bisherige<br />
engagierte Arbeit auf einen ganz<br />
einfachen Nenner gebracht wird:<br />
Sie werden plötzlich nur noch<br />
daran gemessen wird, wie »gymnasial«<br />
sie die Kinder gemacht<br />
haben. Sie werden konfrontiert<br />
mit einer hohen Erwartungshaltung<br />
der Eltern, die für ihre<br />
Kinder nach Möglichkeit diese<br />
Schulform anstreben. Stimmen<br />
Elternwunsch und Empfehlung<br />
der <strong>Grundschule</strong> nicht überein,<br />
sind Konflikte vorprogrammiert.<br />
Der Ton in Elterngesprächen und<br />
an Elternabenden ändert sich.<br />
Der Ruf nach umfangreichen<br />
Hausaufgaben und mehr Druck<br />
seitens der Schule wird laut.<br />
Nicht selten verlangen Eltern,<br />
dass der Leistungsdruck des<br />
Gymnasiums – ohne dass er in<br />
Frage gestellt wird – bereits im<br />
vierten Schuljahr praktiziert wird.<br />
Da werden Nachhilfelehrer engagiert<br />
und mehr oder minder sinnvolle<br />
Lernprogramme bearbeitet.<br />
Die Lehrerinnen und Lehrer<br />
erleben Kinder, die dem Druck<br />
nicht standhalten und mit Lernstörungen<br />
oder körperlichen<br />
Symptomen reagieren.<br />
Natürlich wünschen sich alle<br />
diese Eltern für ihre Kinder aus<br />
Sorge um deren Zukunft die<br />
bestmögliche Schullaufbahn. Sie<br />
sehen sich konfrontiert mit der<br />
frühen Selektion, dem Einsortieren<br />
in die Schubladen des dreigliedrigen<br />
Systems.<br />
Die Lehrerinnen und Lehrer<br />
stehen vor der Aufgabe, Begabungen<br />
der Kinder nach nur dreieinhalb<br />
Jahren zu erkennen, sie<br />
richtig einzuschätzen und eine<br />
für die Kinder weitreichende Entscheidung<br />
zu treffen.<br />
Stand bisher die Integration<br />
aller Kinder im Mittelpunkt ihrer<br />
Arbeit, sind sie nun gezwungen<br />
zu selektieren, wohl wissend,<br />
dass bei so jungen Kindern jede<br />
Prognose immer Unsicherheiten<br />
in sich birgt.<br />
Länger gemeinsam Lernen<br />
– mehr Lern- und Entwicklungszeit<br />
für alle Kinder – ist einer der<br />
Standpunkte des Grundschulverbandes.<br />
Auch in Hessen wollen<br />
wir ihn nicht aus dem Auge verlieren.<br />
(für die Landesgruppe: Ilse Marie Krauth)<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
Vorsitzender: Ralph Grothe, Hasengang 3, 17309 Pasewalk<br />
Eine Schultüte für den Minister<br />
Im Dezember besuchte der Vorstand<br />
unserer Landesgruppe den<br />
neuen Bildungsminister Herrn<br />
Henry Tesch in Schwerin. Grundschulgerecht<br />
wurde er durch uns<br />
in seinem neuen Amt mit einer<br />
Schultüte begrüßt.<br />
Im Verlauf des gut zweistündigen<br />
Gesprächs standen an diesem<br />
Nachmittag viele Fragen.<br />
Welche Schwerpunkte will die<br />
neuen Landesregierung im<br />
Bereich der <strong>Grundschule</strong> setzen?<br />
Hier verwies der Minister auf die<br />
Koalitionsvereinbarungen, die<br />
vor allem auf die innere Entwicklung<br />
der Schule setzen will.<br />
Unser Verband wies auf Probleme<br />
hin, die <strong>Grundschule</strong>n in Ganztagsform<br />
haben.<br />
<strong>Grundschule</strong> mit festen Öffnungszeiten<br />
und Volle Halbtagsschulen<br />
kämpfen immer noch<br />
mit ungenügender Mittelzuteilung.<br />
So wurde von uns der Faktor<br />
zur Berechnung der Stunden<br />
für die Ganztagsformen kritisiert.<br />
Allein aus haushaltstechnischer<br />
Sicht ist es schwer, hier eine Verbesserung<br />
zu erreichen, so der<br />
Minister.<br />
Ein weiterer Punkt war der<br />
Umgang mit Ausfallstunden. Der<br />
Minister räumte ein, dass es hier<br />
zu Verzögerungen im Bereich der<br />
Zuweisung von Vertretungsstunden<br />
kommt, da oftmals der Weg<br />
durch die Instanzen eine schnelle<br />
Entscheidung verhindert.<br />
Ebenso viel Handlungsbedarf<br />
sieht unser Verband in der<br />
schnelleren Umsetzung des<br />
sonderpädagogischen Förderbedarfes<br />
für Kinder im Bereich LRS,<br />
Dyskalkulie und Verhalten. Diese<br />
Förderung muss unmittelbar an<br />
eine Diagnostizierung ansetzen.<br />
von links nach rechts: Herr Nickel, Grundschulreferent,<br />
Bildungsminister Herr Tesch, Ralph Grothe, Cornelia Dan<br />
28 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Niedersachsen<br />
Kontakt: Dr. Eva Gläser, Fasanenstr. 1, 38102 Braunschweig; www.gsv-nds.de<br />
Anmeldungen an weiterführende<br />
Schulen – Hauptschule<br />
vor dem Aus?<br />
Jedes Schuljahr zeigt es erneut:<br />
Die Hauptschule verliert für<br />
Eltern und SchülerInnen an<br />
Attraktivität. Im letzten Schuljahr<br />
waren im Landesdurchschnitt<br />
nur noch 16,5 % aller<br />
SchülerInnen des 5. Jahrganges<br />
an einer Hauptschule angemeldet<br />
worden. Zudem ist davon<br />
auszugehen, dass die Anmeldezahlen<br />
in Zukunft noch weiter<br />
sinken werden. Betrachtet man<br />
einzelne Regionen, so fällt die<br />
Bilanz noch drastischer aus:<br />
In Hannover lagen an 5 der<br />
14 Hauptschulen die Anmeldungen<br />
bei unter 10 SchülerInnen,<br />
an 2 Schulen lagen gar keine<br />
Anmeldungen vor. Und auch in<br />
der zweitgrößten Stadt Niedersachsens,<br />
in Braunschweig,<br />
sieht die Situation nicht anders<br />
aus. Aus diesem Grund ist nicht<br />
nur die Frage interessant, was<br />
aus der Hauptschule werden soll.<br />
Grundsätzlich gilt es zu hinterfragen,<br />
ob ein Übergang in ein<br />
dreigliedriges Schulsystem vor<br />
diesem Hintergrund noch vertretbar<br />
ist, zumal das bestehende<br />
System jährlich etwa 4000<br />
Schülerinnen und Schüler her-<br />
vorbringt, also rund 15 – 20 Prozent,<br />
die die Hauptschule ohne<br />
Abschluss verlassen.<br />
(für die Landesgruppe: Dr. Eva Gläser)<br />
Fachtagung »Alle reden<br />
von individueller Förderung<br />
– geht denn das?«<br />
Am Donnerstag,<br />
22. Februar 2007, veranstaltet das<br />
Niedersächsische Bildungsbündnis<br />
Niedersachsen, das seit vielen<br />
Jahren aktiv vom Grundschulverband<br />
mitgetragen wird, eine<br />
ganztägige Fachtagung. In den<br />
Räumen der Technischen Universität<br />
Braunschweig werden ab<br />
Uhr Referenten Antworten zu<br />
der Frage, »Wie kann schulische<br />
Bildung die Entwicklung der<br />
Kinder optimal unterstützen?«<br />
geben und dabei auch Erkenntnisse<br />
der psychologischen und<br />
schulpädagogischen Forschung<br />
näher erläutern. Unterschiedliche<br />
praxisnahe Workshops zum<br />
Thema werden am Nachmittag<br />
angeboten (Übergang Kindergarten<br />
<strong>Grundschule</strong>; schuleigene<br />
Förderpläne etc.).<br />
Mitgliederversammlung<br />
mit Vorstandswahlen<br />
Donnerstag,<br />
22. Februar 2007<br />
in Braunschweig von 17 bis 19 Uhr<br />
Weitere Informationen:<br />
www.gsv-nds.de<br />
Das Konzept für den Frühbeginnenden<br />
Fremdsprachenunterricht<br />
bildete den Abschluss des<br />
Gesprächs.<br />
Hier ist nun die Ausweitung des<br />
Fremdsprachenunterrichts auf<br />
3 Stunden ab Klasse 3 beschlossene<br />
Sache.<br />
Dabei ist in Zukunft auch der Einsatz<br />
von Sekundarstufenlehrerinnen<br />
und -lehrern in der <strong>Grundschule</strong><br />
geplant, da die Zahl der<br />
ausgebildeten Grundschullehrerinnen<br />
nicht ausreichend ist.<br />
Dies kann aber nicht zu Lasten<br />
der Kinder gehen. Eine andere<br />
methodische Herangehensweise<br />
ist für den Sekundarunterricht<br />
typisch, jedoch für die <strong>Grundschule</strong><br />
nicht geeignet.<br />
Unser Verband fordert weiterhin,<br />
dass dies nicht zur Absenkung<br />
der vertraglich festgelegten<br />
Stunden der Lehrkräfte im<br />
Grundschulbereich führen darf.<br />
Ein erfreuliches Thema zum<br />
Schluss. Der zentrale Grundschultag<br />
in Güstrow soll in diesem<br />
Jahr wieder stattfinden.<br />
Nordrhein-Westfalen<br />
Vorsitzende: Gisela Cappel, Habichtstr. 1 d, 58285 Gevelsberg<br />
Mitgliederversammlung am<br />
28. 10. 2006 – Landesgruppe<br />
wählt neuen Vorstand<br />
Am 28. 10. 2006 fand in der Wartburgschule<br />
in Münster-Gievenbeck<br />
die diesjährige Mitgliederversammlung<br />
der Landesgruppe<br />
NRW statt. Sie stand unter dem<br />
Motto: ›Das neue Schulgesetz<br />
oder die moderne Schule –<br />
welche Gestaltungsspielräume<br />
bleiben für eine reformorientierte<br />
Grundschularbeit?‹<br />
Nach einem in die Thematik einführenden<br />
Eingangsreferat von<br />
Baldur Bertling hatten die Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmer<br />
Gelegenheit, die Räumlichkeiten<br />
und das pädagogische Konzept<br />
der Wartburgschule kennen zu<br />
lernen. Dabei wurde deutlich,<br />
dass die Entwicklung einer inneren<br />
Schulreform mit einem langen<br />
Atem, Mut und Engagement<br />
das erfolgreiche Lernen aller Kinder<br />
bewirken kann, dass das neue<br />
Schulgesetz aber in zentralen<br />
Punkten diese erfolgreiche Arbeit<br />
verhindert.<br />
Dies zeigte auch die nachfolgenden<br />
Diskussion zum Thema<br />
›Pädagogische Leistungskultur<br />
und frühe Notengebung‹, in<br />
der sich die Widersprüchlichkeiten<br />
und Unvereinbarkeiten<br />
der Gesetzesvorgaben mit einer<br />
von links: Christiane Mika, Helga Kleingeist-Poensgen, Kirsten Bartnitzky-Burg,<br />
Ute Rohrlack, Rosemarie Möhle-Buschmeyer, Gisela Cappel, Baldur Bertling,<br />
Beate Schweitzer und Gisela Gravelaer<br />
pädagogischen Leistungskultur<br />
fokussierten. Die Abschlussüberlegungen<br />
konzentrierten sich<br />
darauf, nach Möglichkeiten zu<br />
suchen, um die Arbeit des Grundschulverbandes<br />
noch stärker in<br />
die Öffentlichkeit zu bringen und<br />
die eigene Position gerade unter<br />
den gegebenen Rahmenbedingungen<br />
deutlich zu vertreten.<br />
Mit Heinz Wiemer und Gertraud<br />
Greiling schieden zwei langjährige<br />
und hochverdiente Gründungsmitglieder<br />
des Landesvorstands<br />
aus der aktiven Arbeit<br />
aus. In ihrer Abschiedsrede würdigte<br />
Gisela Cappel die Arbeit<br />
und das vielfältige Engagement<br />
der nicht mehr kandidierenden<br />
Vorstandsmitglieder und sprach<br />
beiden ein herzliches Dankeschön<br />
aus !<br />
Neugewählt wurden: Rosemarie<br />
Moehle-Buschmeier, Helga<br />
Kleingeist-Pönschen, Kirsten<br />
Bartnitzky-Burg, Christiane<br />
Mika. Wiedergewählt wurden:<br />
Cisela Cappel, Baldur Bertling,<br />
Gisela Gravelaar, Ute Rohrlack<br />
und Beate Schweitzer.<br />
In seiner Klausurtagung im<br />
Januar wird der neugewählte Vorstand<br />
seine Arbeitsschwerpunkte<br />
für das kommende Jahr definieren.<br />
Weitere Informationen: www.<br />
grundschulverband-nrw.de<br />
(für die Landesgruppe:<br />
Beate Schweitzer)<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
29
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Rheinland-Pfalz<br />
Anschrift: Werner Lang, Am Wingertsberg 8, 67756 Hinzweiler<br />
BLK-Projekt »Demokratie –<br />
leben und lernen«<br />
Der Landesverband unterstützt<br />
das Projekt »Demokratie – leben<br />
und lernen« von Beginn an. Es<br />
erscheint uns dringend notwendig,<br />
die Erkenntnisse über die<br />
Pilotschulen hinweg auf breiter<br />
Ebene bekannt zu machen.<br />
Ein Schritt dahin ist der Besuch<br />
aller Studienseminare des Landes<br />
zusammen mit der Leiterin des<br />
Projektes. Die ersten Veranstaltungen<br />
zeigten leider deutlich,<br />
welch geringen Stellenwert die<br />
Thematik in der Lehrerausbildung<br />
erst hat und wie wenig sich die<br />
LehramtsanwärterInnen bisher<br />
damit beschäftigten, gemessen<br />
an der Bedeutung. Bis alle verinnerlicht<br />
haben, wie wichtig das<br />
Einüben demokratischer Grundstrukturen<br />
schon in der <strong>Grundschule</strong><br />
ist, scheint es noch ein<br />
weiter Weg.<br />
Mathematische Frühförderung<br />
im Elementar- und Primarbereich<br />
Der Übergang von der Kindertagesstätte<br />
zur <strong>Grundschule</strong> ist<br />
eine entscheidende Phase im Kindesalter.<br />
Die Landesgruppe veranstaltete<br />
dazu in Zusammenarbeit<br />
mit dem Pädagogischen<br />
Zentrum zwei Fortbildungen. An<br />
beiden Veranstaltungen nahmen<br />
LehrerInnen und ErzieherInnen<br />
jeweils einer Verbandsgemeinde<br />
teil. Dabei wurde erörtert, welche<br />
mathematischen Vorerfahrungen<br />
die Kinder vor der Einschulung<br />
machen, wie sie schon im Kindergarten<br />
gefördert werden können<br />
und welche Formen der Zusammenarbeit<br />
notwendig sind, um<br />
den Übergang so problemlos wie<br />
möglich zu gestalten. Die Teilnehmer<br />
zeigten sich sehr zufrieden,<br />
dass Kindergarten und<br />
Schule an einen Tisch geführt<br />
wurden und die beiden Institutionen<br />
sehen in der weiteren<br />
Zusammenarbeit eine Zukunftsaufgabe.<br />
(für die Landesgruppe: Rainer Mies<br />
rmies@gmx.de)<br />
Grundschultag 2007<br />
am 13. März 2007 an der<br />
Universität Trier.<br />
»<strong>Grundschule</strong> auf dem<br />
Weg zur neuen Lernkultur –<br />
Schwerpunkt Sachunterricht«<br />
mit Grundsatzreferat von<br />
Prof. Dr. Helmut Schreier und<br />
zwei Workshoprunden. Nähere<br />
Informationen auf unserer<br />
Homepage: www.wl-lang.de<br />
Saarland<br />
Vorsitzende: Lilo Groll, Holbeinstr. 11, 66128 Saarbrücken<br />
Qualitätskontrollen an<br />
saarländischen <strong>Grundschule</strong>n<br />
Die Schulstrukturmaßnahmen<br />
an saarländischen <strong>Grundschule</strong>n,<br />
bei der 40 % der Schulen ihre<br />
Eigenständigkeit verloren haben,<br />
sind noch nicht abgeschlossen,<br />
da statten nun Schulinspektoren<br />
oder, wie sie jetzt heißen, Qualitätsberater<br />
den <strong>Grundschule</strong>n<br />
ihren Besuch ab. Nach Abschluss<br />
der nun angelaufenen Erprobungsphase<br />
sollen alle <strong>Grundschule</strong>n<br />
im Rhythmus von drei<br />
Jahren überprüft werden.<br />
Es ist schon sehr verwunderlich,<br />
dass das Bildungsministerium<br />
nur für die <strong>Grundschule</strong>n ein<br />
neues Programm zur Qualitätssicherung<br />
auflegt und die »PISA-<br />
Schulen« der Sekundarstufe I<br />
zunächst außen vor lässt, obwohl<br />
die internationalen Vergleichsstudien<br />
den <strong>Grundschule</strong>n ein<br />
recht gutes Zeugnis ausgestellt<br />
haben. Selbst in der Bewältigung<br />
der »Vielfalt« der Begabungsbreiten<br />
und im Umgang mit Kindern<br />
unterschiedlicher Kulturen<br />
zeigen sich nach Aussage der<br />
Kultusministerkonferenz »die<br />
pädagogischen Konzepte an den<br />
<strong>Grundschule</strong>n in einem höheren<br />
Maße altersmäßig und geeignet,<br />
heterogenen Lerngruppen<br />
gerecht zu werden und – damit<br />
zusammenhängend – Schülerinnen<br />
und Schüler individuell zu<br />
fördern.«<br />
Mittels Fragebögen, bei Unterrichtsbeobachtungen<br />
und in<br />
Gesprächen stehen vier Qualitätsbereiche<br />
zur Kontrolle<br />
an: Ergebnisse der schulischen<br />
Arbeit, der Unterricht, die Schulkultur<br />
und das Schulmanagement<br />
einschließlich der Qualitätsentwicklung.<br />
Zu kritisieren ist vor allem die<br />
Tatsache, dass eine klare Definition<br />
einer guten Schule fehlt,<br />
auf deren Basis als erster Schritt<br />
eine interne Evaluation verbindlich<br />
stattgefunden hätte. Zwar<br />
liegen »Richtlinien für die Arbeit<br />
in der <strong>Grundschule</strong>« aus dem<br />
Jahre 1987 vor, aber die angekündigten<br />
neuen Lehrpläne, insbesondere<br />
für die Fächer Deutsch<br />
und Mathematik auf der Basis<br />
der KMK-Bildungsstandards,<br />
sind noch in Arbeit. Somit bildet<br />
der vorliegende »Entwurf eines<br />
Orientierungsrahmens« den<br />
Ausgangspunkt der Qualitätssicherung,<br />
der die wichtigsten<br />
Kriterien für das Gelingen schulischer<br />
Arbeit auflistet und systematisiert.<br />
Nach Auffassung der<br />
Landesgruppe hätte dies an den<br />
Anfang der Qualitätssicherung<br />
gehört.<br />
Zur Qualitätsverbesserung<br />
gehört für die Landesgruppe aber<br />
vor allem die Verbesserung der<br />
Rahmenbedingungen. Immer<br />
noch sitzen zu viele Kinder in<br />
zu großen Klassen, in denen die<br />
Lehrkräfte die Beschäftigung mit<br />
dem Einzelnen kaum leisten können.<br />
Aber alle Kinder, sowohl die<br />
hoch begabten als auch die Kinder<br />
mit Entwicklungsstörungen,<br />
sind auf diese Hilfe angewiesen.<br />
Die anzuwendenden Messzahlen<br />
zur Klassenbildung berücksichtigen<br />
mit Ausnahme der Kinder<br />
ohne ausreichende Deutschkenntnisse<br />
weder die Kinder in<br />
Integrationsmaßnahmen noch<br />
Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten<br />
oder erheblichen Sprachstörungen.<br />
Bei der Klassenbildung<br />
gibt es anscheinend nur<br />
das »Einheitskind«.<br />
Die Landesgruppe fordert daher<br />
ein schrittweises Vorgehen:<br />
zunächst eine an den Förderbedürfnissen<br />
der Schülerinnen und<br />
Schüler orientierte Definition<br />
einer guten Schule, danach die<br />
interne Evaluation mit anschließenden<br />
Zielangaben einschließlich<br />
der daran angepassten Rahmenbedingungen<br />
und erst dann<br />
eine externe Evaluation mit dem<br />
Aufzeigen der Schwächen und<br />
Stärken – und nicht umgekehrt.<br />
30 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Sachsen-Anhalt<br />
Vorsitzende: Petra Uhlig, Wilhelm-Külz-Str. 14, 06108 Halle<br />
Neue Lehrpläne<br />
Mit Beginn des Schuljahres<br />
2005/06 wurden in Sachsen-<br />
Anhalt neue Lehrpläne in<br />
der <strong>Grundschule</strong> eingeführt,<br />
zunächst für die Klassenstufen<br />
1 und 3, in diesem Schuljahr nun<br />
für die Klassenstufen 2 und 4.<br />
Das Lehrplanwerk umfasst einen<br />
Grundsatzband und die Fachlehrpläne.<br />
Im Grundsatzband sind Leitideen<br />
für eine zeitgemäße Arbeit in<br />
der <strong>Grundschule</strong> formuliert, die<br />
von jeder Schule in ihr Schulprogramm<br />
eingearbeitet werden<br />
sollen. Die Aussagen dieser<br />
Leitideen decken sich durchaus<br />
mit entsprechenden Veröffentlichungen<br />
des Grundschulverbandes,<br />
allerdings wird an fest<br />
gefügten Strukturen nicht gerüttelt.<br />
So gibt es zum Beispiel keine<br />
Aussagen zur längeren gemeinsamen<br />
Lernzeit und zum gemeinsamen<br />
Unterricht. Weiterhin sind<br />
fünf verbindliche fächerübergreifende<br />
Themen festgeschrieben,<br />
die – schulintern geplant –<br />
gestaltet werden müssen. Dabei<br />
ist den Schulen freigestellt, in<br />
welchem Schuljahrgang welcher<br />
Schwerpunkt Vorrang hat.<br />
In den Fachlehrplänen steht nicht<br />
mehr der »Lehrstoff« im Mittelpunkt,<br />
sondern die Kompetenzentwicklung<br />
der Kinder. Dabei<br />
wird zwischen inhaltsbezogenen<br />
und prozessbezogenen Kompetenzen<br />
unterschieden. Die zu<br />
erreichenden inhaltsbezogenen<br />
Kompetenzen sind für die Schuljahrgänge<br />
2 (Ende der Schuleingangsphase)<br />
und 4 (Ende der<br />
Grundschulzeit), die zu erreichenden<br />
prozessbezogenen als<br />
Endniveau Klasse 4 formuliert. In<br />
schulinternen Lehrplänen müssen<br />
nun die konkreten schulischen<br />
Bedingungen mit den<br />
Anforderungen der Lehrpläne verknüpft<br />
werden. Leider wurden in<br />
den Anfangsmonaten statt kompetenzorientierter<br />
schulinterner<br />
Lehrpläne in vielen Schulen mehr<br />
oder weniger detaillierte Stoffverteilungspläne<br />
erstellt. Erst<br />
langsam setzen sich jetzt wirkliche<br />
Neuerungen durch. Zehn<br />
<strong>Grundschule</strong>n des Landes arbeiten<br />
in einem Schulversuch an<br />
einer Handreichung, die im Sommer<br />
2007 vorliegen soll.<br />
Der Vorstand plant im Frühjahr<br />
einen Erfahrungsaustausch mit<br />
unseren Mitgliedsschulen und<br />
Schulen aus dem Bereich Halle.<br />
(für die Landesgruppe: Gisela Schmidt)<br />
Schleswig-Holstein<br />
Vositzender: Bent Hirschelmann, Flörkendorfer Weg 15, 23623 Ahrensbök; www. grundschulverband-sh.de<br />
Bildungspolitisches Gespräch<br />
im Landeshaus Kiel<br />
Die Grüne Landtagsfraktion lud<br />
im Dezember zum Thema »Wie<br />
kann gemeinsames Lernen gelingen«<br />
ein. Nachdem Gabriela<br />
Schulz, die Mitverfasserin der<br />
Ifo- Studie, die Ergebnisse über<br />
die Chancengleichheit im Schulsystem<br />
dargestellt hatte, gab es<br />
einen Gedankenaustausch mit<br />
den geladenen Gästen aus verschiedenen<br />
Verbänden. Dass<br />
es eine Abhängigkeit zwischen<br />
bildungsnahen Elternhäusern<br />
(gemessen an der Anzahl der<br />
Bücher) und Schulerfolg, sowie<br />
bildungsfernem sozialen Umfeld<br />
und Schwierigkeiten im Bildungsprozess<br />
von Kindern und<br />
Jugendlichen gibt, war nicht die<br />
Überraschung des Abends. Neu<br />
war, dass das Ifo-Institut Studienergebnisse<br />
herausstellt, die unser<br />
dreigliederiges Schulsystem<br />
angreifen.<br />
Anhörung zum<br />
neuen Schulgesetz<br />
In unserem Bundesland wird<br />
ein Reförmchen auf den Weg<br />
gebracht. Für die <strong>Grundschule</strong><br />
werden vorschulische Sprachintensivmaßnahmen<br />
per Gesetz<br />
festgeschrieben, Klassenwiederholungen<br />
sollen die Ausnahme<br />
sein, Zurückstellungen<br />
vom Schulbesuch soll es nicht<br />
mehr geben. Das Beglückende<br />
aus unserer Sicht ist aber der<br />
per Gesetz mögliche Schritt zur<br />
Gemeinschaftsschule. Damit<br />
wäre es für einige Kinder tatsächlich<br />
möglich, länger gemeinsam<br />
zu lernen! Dass es bis 2010<br />
zu einem Zusammenlegen von<br />
Haupt- und Realschulen zu Regionalschulen<br />
kommen soll, ist ein<br />
weiterer begrüßenswerter Schritt<br />
in die Richtung zum heterogenen<br />
Lernen.<br />
Die Stellungnahme der Landesgruppe<br />
ist im Internet nachlesbar<br />
unter www. grundschulverbandsh.de<br />
(für die Landesgruppe:<br />
Sabine Jesumann, Andrea Klimmek)<br />
Ankündigung des pädagogischen<br />
Frühstücks<br />
»Frühbeete der<br />
Gegenwart«<br />
Im Frühjahr lädt der Grundschulverband<br />
S-H Lehrerinnen und<br />
Lehrer unter dem Motto »Frühbeete<br />
der Gegenwart« zu einem<br />
Austausch über veränderten<br />
Unterricht bei einem Frühstück<br />
nach Kiel ein. Ort und Zeit sind<br />
nach abgeschlossener Planung<br />
auf der Homepage der Landesgruppe<br />
zu erfahren.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007<br />
31
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Thüringen<br />
Vositzende: Steffi Jünemann, Hauptstr. 7, 9<strong>97</strong>34 Nordhausen<br />
Mehr Eigenverantwortung an<br />
Thüringer Schulen<br />
Das Entwicklungsvorhaben<br />
»Eigenverantwortliche Schule«<br />
steht derzeit als langfristige<br />
Entwicklungsstrategie im Mittelpunkt<br />
aller schulischer Arbeit<br />
in Thüringen.<br />
Nachdem in einer Erprobungsphase<br />
sich ca. 100 Schulen freiwillig<br />
beteiligt haben, wird es<br />
nun zur Pflicht für alle Schulen.<br />
Die Landesgruppe Thüringen<br />
sieht in diesem Entwicklungsvorhaben<br />
den Vorteil, dass es<br />
mit einer systematischen und<br />
zielgerichteten Schulentwicklung<br />
einhergeht.<br />
n Durch das Ausfüllen der<br />
Checkliste kommen vielfältige<br />
Gespräche zustande, wesentliche<br />
Qualitätsbereiche schulischer<br />
Arbeit werden eingeschätzt.<br />
n Durch den Blick von außen<br />
bekommt die Schule eine Rückkopplung<br />
ihrer bisherigen Arbeit<br />
n Sie erfahren Wertschätzung<br />
und Anerkennung.<br />
n Die entwicklungsfördernden<br />
Hinweise und Empfehlungen sind<br />
hilfreich für die weitere Schulentwicklung.<br />
n Durch die Zielvereinbarung<br />
konzentriert sich die Schule auf<br />
wenige realistische und messbare<br />
Schwerpunkte.<br />
n Notwendige Unterstützungsangebote<br />
werden mit dem Schulamt<br />
vereinbart.<br />
Jedoch sind auch einige Fragen<br />
und Probleme der Schulen offengeblieben:<br />
n Wie weit geht »Eigenverantwortung«?<br />
n Warum bekommen die Schulen<br />
kein eigenes Budget, über<br />
welches sie eigenverantwortlich<br />
verfügen können?<br />
n Wie kann ein Expertenteam<br />
nach drei Tagen den Entwicklungsstand<br />
einer Schule objektiv<br />
einschätzen?<br />
n Wie kann Entwicklung trotz<br />
schwieriger Personalsituation<br />
realisiert werden?<br />
(für die Landesgruppe: Katrin Heckert)<br />
Der Arbeitskreis »Sonderpädagogische<br />
Förderung in Thüringen«<br />
plant im Mai 2007 eine<br />
Konferenz zum gemeinsamen<br />
Lernen. Der Vorstand<br />
der Landesgruppe<br />
Thüringen wird sich intensiv an<br />
diesem Vorhaben beteiligen. Als<br />
Themen sind vorgeschlagen:<br />
n Unterstützersysteme für<br />
die sonderpädagogische Förderung<br />
in den Schulamtsbereichen<br />
(z. B. Mobile Sonderpädagogische<br />
Dienste, Berater für<br />
gemeinsamen Unterricht, Schuleingangsphase,<br />
Begleitung des<br />
Übergangs vom Kindergarten in<br />
die <strong>Grundschule</strong>)<br />
n Lehrerausbildung (GS, FÖS) in<br />
der ersten, zweiten und dritten<br />
Phase der Lehrerausbildung<br />
Gleichzeitig wollen wir diese Veranstaltung<br />
für unsere Mitgliederversammlung<br />
nutzen.<br />
Die Einladung dazu erfolgt<br />
gesondert.<br />
OFZ Grundschultag 2007<br />
Bildungsstandards und Kindorientierung<br />
Das Oldenburger Fortbildungszentrum<br />
(OFZ) an der Carl von<br />
Ossietzky Universität veranstaltet<br />
in Kooperation mit dem<br />
Grundschulverband den »OFZ<br />
Grundschultag 2007«:<br />
Dienstag, 6. März 2007,<br />
Carl von Ossietzky Universität<br />
Oldenburg,<br />
Hörsaalzentrum<br />
Auch in Niedersachsen wurden<br />
inzwischen Bildungsstandards<br />
für die Kindertagesstätten<br />
empfehlend und für die Schulen<br />
verbindlich eingeführt. Bei der<br />
Umsetzung der Vorgaben bleiben<br />
Fragen:<br />
Haben die Bildungsstandards<br />
tatsächlich eine orientierende<br />
Funktion für die Einrichtungen?<br />
Werden die Standards den individuellen<br />
Bildungsansprüchen und<br />
Bedürfnissen der Kinder gerecht?<br />
Tragen die Standards wirklich<br />
dazu bei, die Bildungsqualität<br />
von Kindertagesstätten und<br />
Schulen zu verbessern?<br />
Handelt es sich um Bildungsstandards<br />
oder eher um Leistungsstandards?<br />
Wie werden diejenigen gefördert,<br />
die diese Standards nicht erreichen?<br />
Der Grundschultag 2007 richtet<br />
sich wieder an Lehrkräfte aus<br />
<strong>Grundschule</strong>n und an sozialpädagogische<br />
Fachkräfte aus Kindertagesstätten.<br />
Damit wird auch<br />
ein Forum für den Austausch und<br />
die Zusammenarbeit zu zentralen<br />
Fragen des Übergangs des<br />
Elementar- und Primarbereichs<br />
geboten.<br />
Eröffnungsvortrag<br />
»KITA und <strong>Grundschule</strong>: standardisiert<br />
und individualisiert?«<br />
Prof. Dr. Annedore Prengel,<br />
Universität Potsdam<br />
Lernbereichs- und fachspezifische<br />
Vorträge sowie praxisbezogene<br />
Workshops<br />
An den Eröffnungsvortrag schließen<br />
sechs Fachvorträge an, die<br />
das Tagungsthema bezogen auf<br />
einzelne Lern- und Erfahrungsfelder<br />
bzw. Unterrichtsfächer<br />
vertiefen. Darauf aufbauend<br />
stehen bei den 19 Workshops<br />
(unterrichts-)praktische Beispiele<br />
für die fachspezifische und fachübergreifende<br />
Umsetzung von<br />
Bildungsstandards sowie der<br />
Erfahrungsaustausch im Vordergrund.<br />
Kosten: € 18,–<br />
(inkl. Tagungsgetränke)<br />
Anmeldungen und<br />
weitere Informationen:<br />
Oldenburger Fortbildungszentrum<br />
im Didaktischen<br />
Zentrum der Carl von Ossietzky<br />
Universität Oldenburg in<br />
26 Oldenburg;<br />
Tel.: (04 41) 7 98-30 36 u. -30-39;<br />
Fax: (04 41) 7 98-19 30 39;<br />
E-Mail: ofz@uni-oldenburg.de;<br />
Internet: www.ofz.de<br />
32 GS <strong>aktuell</strong> <strong>97</strong> • Februar 2007
7 Prüfsteine für die<br />
moderne <strong>Grundschule</strong><br />
– ein Plakat gegen<br />
schulpolitische Falschmünzerei<br />
PISA war der Schock. Nun wird geklotzt. »Wir schaffen das modernste<br />
Schulwesen in Deutschland!«, so oder ähnlich formulieren Ministerpräsidenten<br />
ihr Schulziel. Und dann folgen die Taten wie Kopfnoten,<br />
früherer Einsatz der Zensuren, Auslaufenlassen integrativer Regelklassen,<br />
die Weigerung, über das Thema »Länger gemeinsam lernen« auch<br />
nur nachzudenken …<br />
Kopfschütteln ob solcher schulpolitischen Falschmünzerei reicht nicht.<br />
Prüfsteine für die moderne <strong>Grundschule</strong> müssen dem entgegengesetzt<br />
werden.<br />
Prüfsteine, an denen sich messen lässt, was an den Maßnahmen falsch<br />
ist und was statt dessen nötig wäre.<br />
Damit uns und der Öffentlichkeit klar wird, was an den politischen Taten<br />
Kindern schadet und was ihnen dient.<br />
Der erste Schritt aber ist, uns selber zu vergewissern. Deshalb haben wir<br />
die Prüfsteine auf ein Plakat gebracht.<br />
■ Hängen Sie es aus – im Lehrerzimmer, im Seminar, in der Uni.<br />
■ Besprechen Sie einzelne Prüfsteine – zum Qualitäts check Ihrer Schule<br />
und der rechtlichen Vorgaben.<br />
Woher der Grundschulverband die Prüfsteine nimmt?<br />
Sie stammen aus der Diskurstradition des Verbandes, der immer vom<br />
Bildungsrecht aller Kinder ausgeht.<br />
Von ihrem Recht auf individuelle unversehrte Entwicklung und vom<br />
Recht auf gleiche Chancen aller.<br />
So wie es auch das Grundgesetz vorsieht und in den wohlfeilen Präambeln<br />
vieler Rahmenrichtlinien formuliert ist.<br />
Sie entsprechen der pädagogischen Ethik einer Schule, die Kindern bei<br />
ihrem seelischen und geistigen Wachstum hilfreich sein will.<br />
Allen Kindern!<br />
Horst Bartnitzky<br />
Vorsitzender des Grundschulverbandes<br />
Das Plakat liegt dem Heft <strong>97</strong> von <strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong> bei.<br />
Es kann zudem angefordert werden beim Grundschulverband,<br />
Niddastr. 52, 60329 Frankfurt (solange der Vorrat reicht).<br />
Mehr Informationen und Argumente finden Sie bei<br />
www.grundschulverband.de, besonders unter:<br />
Initiative Länger gemeinsam lernen; Standpunkte; Veröffentlichungen.<br />
Die gegenwärtige »Output-Orientierung« der Schulpolitik<br />
meint, durch Standards und Tests absichern zu können,<br />
»was hinten herauskommt«.<br />
Kinder sind aber keine Stopfgänse, sondern Subjekte<br />
ihres Lernens.<br />
Deshalb gilt der 1. Prüfstein dem Bild vom Kind:<br />
Mit Kindern Schule machen.<br />
Fördern und fordern lautet eine gängige Formel.<br />
Verlage überbieten sich mit Material zur individuellen<br />
Förderung.<br />
Dabei wird häufig übersehen, dass die Schule dem<br />
Zwillingsprinzip verpflichtet ist: Individualität und<br />
Sozialität.<br />
Den 2. Prüfstein nennen wir deshalb:<br />
Individuell fördern – Gemeinsamkeit stärken.<br />
Frühe Auslese ist ein Kennzeichen der deutschen Schule.<br />
Schulisch erfolgreichere Länder verzichten darauf und<br />
fahren damit besser.<br />
Den Titel des 3. Prüfsteins übernehmen wir von einem<br />
Grundprinzip finnischer Schulen:<br />
Kein Kind beschämen.<br />
Frühes Zensieren ist ein weiteres Kennzeichen der<br />
deutschen Schule.<br />
Damit werden früh die Kinder in Gewinner und Verlierer<br />
eingeteilt. Ihre Motivation vom Sachinteresse wird auf<br />
das Noteninteresse abgelenkt.<br />
Zensieren ist ein würdeloser Umgang mit Kinderleistungen.<br />
Dem halten wir den 4. Prüfstein entgegen:<br />
Leistungen der Kinder würdigen.<br />
Unterricht plus Betreuung ist die gegenwärtig verbreitete<br />
Lösung zum Thema Ganztag.<br />
Dabei hat der Unterricht in der <strong>Grundschule</strong> nach wie vor<br />
die knappste Stundentafel aller Schulformen.<br />
Was Kinder brauchen ist nicht nur längere »Verweildauer« in<br />
der Schule, sondern was wir als 5. Prüfstein formulieren:<br />
Mehr Bildungszeit für Kinder.<br />
Freie Schulwahl ist das Motto derer, die Schulen mit<br />
Firmen verwechseln.<br />
<strong>Grundschule</strong>n sollen in Konkurrenz gesetzt werden,<br />
damit sich das pädagogische Geschäft belebe und<br />
»schlechte« Schulen vom Markt verschwänden.<br />
Der pädagogische Flurschaden, der dabei entsteht,<br />
bleibt unbeachtet.<br />
Deshalb formulieren wir als 6. Prüfstein:<br />
Schule im Wohnbezirk stärken.<br />
Erhalt der vierjährigen <strong>Grundschule</strong>, jeder, der anders<br />
denkt, ist ein Ideologe, so die Gralshüter des deutschen<br />
Sonderweges.<br />
Mit diesem Killerwort versuchen sie, die Debatte zu<br />
unterbinden.<br />
Andere Länder sind aber schulisch erfolgreicher mit viel<br />
längerer gemeinsamer Schulzeit.<br />
Deshalb nennen wir den 7. Prüfstein:<br />
Länger gemeinsam lernen.
An den<br />
Grundschulverband · Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V.<br />
Niddastraße 52 · 60329 Frankfurt/Main · Fax 0 69 / 7 07 47 80<br />
oder per Internet: www.grundschulverband.de<br />
Beitrittserklärung<br />
Als Mitglied im Grundschulverband …<br />
… unterstützen Sie mit ca. 12.000 weiteren<br />
Mitgliedern die satzungsmäßigen (§ 2,1)<br />
Kernaufgaben des Grundschulverbandes:<br />
»Die pädagogisch begründeten Ansprüche<br />
der Kinder dieser Schulstufe zu vertreten,<br />
die Grundschulpädagogik weiter zu entwickeln<br />
und die Stellung der <strong>Grundschule</strong> im öffent lichen<br />
Bildungswesen zu verbessern.«<br />
… erhalten Sie jährlich zwei neue Bände der<br />
Reihe »Beiträge zur Reform der <strong>Grundschule</strong>«<br />
… erhalten Sie viermal jährlich die 32-seitige<br />
Mitglieder zeitschrift »Grundschulverband <strong>aktuell</strong>«<br />
mit Bildungspolitik, Forschung und Praxis<br />
Ich beantrage die Mitgliedschaft im Grundschulverband · Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong> e. V.<br />
Als Mitglied erhalte ich jährlich zwei neue Mitgliedsbände aus der Reihe »Beiträge zur Reform der<br />
<strong>Grundschule</strong>« sowie die 32-seitige Vierteljahreszeitschrift »Grundschulverband <strong>aktuell</strong>« jeweils<br />
nach Fertigstellung kostenfrei zugesandt.<br />
Den angekreuzten Betrag<br />
Mitgliedsbeitrag 50,– €<br />
Ermäßigter Beitrag (bitte belegen!) 30,– €<br />
(für Studierende, Arbeitslose, Lehramts anwärter/innen<br />
sowie für Teilzeitbeschäftigte in den neuen Ländern)<br />
Förderbeitrag, mindestens 30,– €<br />
(keine Mitgliedsbände, nur Zeitschrift – für Pensionäre, die weiterhin <strong>aktuell</strong> informiert werden<br />
wollen und andere Förderer, die die Arbeit des Grundschulverbandes unterstützen möchten)<br />
zahle ich nach Erhalt der Jahresrechnung zahle ich per Bankeinzug vom<br />
Konto Nr.<br />
Bankleitzahl<br />
Name<br />
bei<br />
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