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Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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Anil K. Ja<strong>in</strong><br />

<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne<br />

Reflexiv-deflexive Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

und die Diffusion des Politischen<br />

<strong>edition</strong> <strong>fatal</strong>


REIHE: MODERNE–POSTMODERNE<br />

Band 1: Anil K. Ja<strong>in</strong>: <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

(<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne – Reflexiv-deflexive<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung und die Diffusion des<br />

Politischen


Vielen Dank an …<br />

… die Ludwig-Maximilians-Universität München, die die Entstehung dieser Arbeit durch e<strong>in</strong> Promotions-Stipendium<br />

för<strong>der</strong>te.<br />

… Ulrich Beck, dessen Theorie +reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung* nicht nur e<strong>in</strong> zentraler Bezugspunkt für mich war,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> auch me<strong>in</strong>e Dissertation hauptverantwortlich betreute.<br />

… He<strong>in</strong>er Keupp, <strong>der</strong> mir während me<strong>in</strong>es gesamten Studiums wichtige Impulse gab.<br />

… Mario Beilhack, Manuel Knoll, Brigitte L<strong>in</strong>k, Markus Le<strong>der</strong>er, Pravu Mazumdar, Beate Schlachter, Christian<br />

Schwaabe, Hitomi Steyerl sowie alle an<strong>der</strong>en, die Teile o<strong>der</strong> die gesamte Arbeit mit mir diskutiert und/o<strong>der</strong><br />

Korrektur gelesen haben.<br />

… Astrid Cannich, die mir als Molekularbiolog<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e kompetente Ansprechpartner<strong>in</strong> betreffend Fragen zum<br />

<strong>in</strong> Kapitel 4 bearbeiteten Fallbeispiel +BSE* war.


Gewidmet allen, die sich auf die beschwerliche Reise<br />

durch das Dickicht dieses Textes e<strong>in</strong>lassen wollen<br />

sowie Krist<strong>in</strong>a, die diese Reise nicht mehr antreten kann.


ANIL K. JAIN<br />

POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Reflexiv-deflexive Mo<strong>der</strong>nisierung und die<br />

Diffusion des Politischen<br />

Und wenn auch alles bereits gesagt wäre,<br />

so wäre es doch nicht von mir gesagt.


+<strong>edition</strong> <strong>fatal</strong>* Verlagsgesellschaft bR, München<br />

Gesellschafter: Mario R. M. Beilhack, Anil K. Ja<strong>in</strong><br />

www.<strong>edition</strong>-<strong>fatal</strong>.de, kontakt@<strong>edition</strong>-<strong>fatal</strong>.de<br />

Reihe: Mo<strong>der</strong>ne–<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, Band 1<br />

Herausgeber: Anil K. Ja<strong>in</strong><br />

Anil K. Ja<strong>in</strong>: <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne –<br />

Reflexiv-deflexiveMo<strong>der</strong>nisierungunddieDiffusion<br />

des Politischen<br />

Orig<strong>in</strong>alausgabe, München 2000<br />

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Titelbild:<br />

Eugène Delacroix (La liberté guidant le peuple)<br />

Die Deutsche Bibliothek – CIP-E<strong>in</strong>heitsaufnahme:<br />

Ja<strong>in</strong>, Anil K.: <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne : reflexiv-deflexive<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung und die Diffusion<br />

des Politischen / Anil K. Ja<strong>in</strong>. – München : Ed.<br />

Fatal, 2000 (Mo<strong>der</strong>ne–<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ; Bd. 1)<br />

Zugl.: München, Univ., Diss., 1999<br />

ISBN 3-935147-00-7


INHALTSVERZEICHNIS


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Entrée Discursive: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Ende o<strong>der</strong> Vollendung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne? ......... XI<br />

1 <strong>Politik</strong> – Etymologie und Semantik e<strong>in</strong>es +recycl<strong>in</strong>gfähigen* Begriffs ...........1<br />

1.1 Das antike und mittelalterliche <strong>Politik</strong>verständnis ....................2<br />

1.2 Der Wandel des <strong>Politik</strong>verständnisses <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit ................19<br />

1.3 Die unterschiedlichen <strong>Politik</strong>verständnisse <strong>in</strong> Konservatismus, Sozialismus und<br />

Liberalismus ............................................34<br />

1.4 Das politische Credo des +mo<strong>der</strong>nen* Nationalstaats ................47<br />

1.5 Horizont e<strong>in</strong>es +postmo<strong>der</strong>nen* Verständnisses von <strong>Politik</strong> ............51<br />

2 Zur Dialektik von sozio-ökonomischem Wandel und politischer Statik – E<strong>in</strong>e Ökologie<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ..................................................67<br />

2.1 Ökonomischer Wandel und se<strong>in</strong>e (fehlende) Umsetzung und Entsprechung im Bereich<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (Wirtschaftssystem) ................................70<br />

2.2 Die Politisierung <strong>der</strong> Justiz und die Verrechtlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (Rechtssystem)<br />

.....................................................97<br />

2.3 Reflexive Technologien und die deflexive Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (Wissen-<br />

schaftssystem und Techniksysteme) ........................... 120<br />

2.4 Öffentlichkeit, (neue) Medien und politische Inszenierung (Medien- und Öffent-<br />

lichkeitssystem) ......................................... 153<br />

2.5 Wertewandel, Individualisierung und politische Kultur(um)brüche (Kultur und<br />

Sozialstruktur) .......................................... 184<br />

3 Die Ant<strong>in</strong>omien +klassischer* <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft ....... 209<br />

3.1 Das ökonomische Dilemma des nationalen Wohlfahrtsstaats .......... 211<br />

3.2 Das <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Dilemma .......................... 231<br />

3.3 Das technologisch-wissenschaftliche Dilemma .................... 239<br />

3.4 Das Dilemma von Präsentation und Repräsentation ................ 252<br />

3.5 Das politische Dilemma <strong>der</strong> Individualisierung ................... 258<br />

4 Der Fall +BSE*: Von unglücklichen Kühen und e<strong>in</strong>er verunglückten B<strong>in</strong>nenmarktpolitik<br />

........................................................ 271<br />

4.1 Ökonomische Aspekte des BSE-Dramas ........................ 282<br />

4.2 Rechtliche Aspekte des BSE-Dramas ........................... 289<br />

4.3 Wissenschaftlich-technische Aspekte des BSE-Dramas .............. 293<br />

4.4 Mediale Aspekte des politischen BSE-Dramas .................... 297<br />

4.5 Kulturelle und sozialstrukturelle Aspekte des BSE-Dramas ............ 304


5 Reflexiv-deflexive Mo<strong>der</strong>nisierung und die Diffusion des Politischen ........ 311<br />

5.1 +Reflexive* Mo<strong>der</strong>nisierung als +objektive* Mo<strong>der</strong>nisierung und das unvollendete<br />

Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ..................................... 326<br />

5.1.1 Neuzeitliche Verunsicherungen und die Flucht <strong>in</strong>s Rationale – Die une<strong>in</strong>-<br />

lösbaren Versprechen <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne .............. 328<br />

5.1.2 Weitergehende Mo<strong>der</strong>nisierung und das Ende <strong>der</strong> Gewißheiten – Die reflexive<br />

(Selbst-)Konfrontation <strong>der</strong> sich +objektivierenden* Mo<strong>der</strong>ne ..... 344<br />

5.2 Die Be- und Entgrenzung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die metapolitische Subpolitik und die<br />

korrelierende Gefahr e<strong>in</strong>er Diffusion und Zersplitterung des Politischen .. 362<br />

5.2.1 Subpolitik als Metapolitik ............................. 363<br />

5.2.2 Subpolitik als diffuse Nicht-<strong>Politik</strong> ....................... 369<br />

5.3 Die Ablenkung <strong>der</strong> reflexiven Herausfor<strong>der</strong>ung durch deflexive Mechanismen: Zum<br />

Zusammenhang von Ideologie und Praxologie ................... 375<br />

5.3.1 Die Spaltung des (politischen) Bewußtse<strong>in</strong>s durch die funktionalistische<br />

Ideologie ......................................... 384<br />

5.3.2 Die Begrenzung des (politischen) Handelns durch deflektorische Übersetzungen<br />

und praxologische Rituale ............................. 403<br />

5.4 Die entpolitisierende Dialektik von Reflexion und Deflexion ......... 411<br />

Excursion Term<strong>in</strong>ale: Politische Aporien und Utopien – Zum Verhältnis von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>,<br />

Kont<strong>in</strong>genz und Konvergenz .................................. LXXXV<br />

Appendix ......................................................1<br />

A: Anmerkungen ..............................................3<br />

B: Literaturverzeichnis ........................................ 103<br />

C: Abkürzungsverzeichnis ...................................... 145


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER<br />

VOLLENDUNG DER MODERNE?


XII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER<br />

VOLLENDUNG DER MODERNE?<br />

Ich möchte diesen Prolog, <strong>in</strong> dem es um e<strong>in</strong>e Problematisierung des allzu vagen und vielleicht<br />

gerade deshalb so schillernden Begriffs +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* gehen wird – ganz dem Thema entspre-<br />

chend – mit e<strong>in</strong>em Zitat beg<strong>in</strong>nen:<br />

+Wir schwanken zwischen verschiedenen Me<strong>in</strong>ungen, nichts wollen wir […] mit festem S<strong>in</strong>n, nichts<br />

mit Beharrlichkeit […]<br />

Von mir selbst habe ich nichts Ganzes aus e<strong>in</strong>em Stücke, nichts E<strong>in</strong>faches, nichts Festes ohne Verwirrung<br />

und […] nichts, was ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Wort fassen könnte […]* (Michel de Montaigne: Über die Unbeständigkeit<br />

<strong>der</strong> menschlichen Handlungen; S. 105 u. S. 108)<br />

Beim Lesen dieser Zeilen Montaignes wird sich <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e vielleicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen<br />

Ambivalenz und Unentschiedenheit wie<strong>der</strong>erkennen. Es sche<strong>in</strong>t, als sei hier <strong>in</strong> plastischen<br />

Worten das vielbeschriebene Dilemma des (post)mo<strong>der</strong>nen Menschen erfaßt, dessen +heimatloses<br />

1<br />

Bewußtse<strong>in</strong>* (Berger/Berger/Kellner) bestenfalls e<strong>in</strong>e +Patchwork-Identität* (Keupp) zu gew<strong>in</strong>nen<br />

vermag. Doch egal ob man, wie Berger et al., eher die negativen Aspekte dieser +Identitäts-<br />

2<br />

Diffusion* (Erikson) beklagt o<strong>der</strong>, wie Keupp, auch e<strong>in</strong>en +Zugew<strong>in</strong>n kreativer Lebensmög-<br />

lichkeiten* <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> Befreiung aus dem +Identitätszwang* zugesteht (Auf <strong>der</strong> Suche nach<br />

3<br />

verlorener Identität; S. 64) – beide beziehen sich auf die psychologischen Nie<strong>der</strong>schläge<br />

e<strong>in</strong>er Gegenwart, die immer häufiger mit dem Etikett +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* versehen wird.<br />

4<br />

Montaigne, <strong>der</strong> auch von Keupp zitiert wird, offenbarte allerd<strong>in</strong>gs dieses so aktuell anmutende<br />

E<strong>in</strong>geständnis se<strong>in</strong>es <strong>in</strong>neren Zwiespalts als Mensch des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts – d.h. zu e<strong>in</strong>er Zeit,<br />

da gemäß <strong>der</strong> gängigen E<strong>in</strong>teilung gerade erst die Epoche <strong>der</strong> Neuzeit heraufzudämmern<br />

begann. Dieser Umstand provoziert die Frage: Wie postmo<strong>der</strong>n war die Mo<strong>der</strong>ne und wie<br />

mo<strong>der</strong>n ist an<strong>der</strong>erseits die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne? Könnte es nicht se<strong>in</strong>, daß die Grenze bei<strong>der</strong> Epochen<br />

nur im Bewußtse<strong>in</strong> des <strong>in</strong>dividuellen Selbst verläuft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>stellung <strong>der</strong> Individuen zu sich<br />

und ihrer Zeit zum Ausdruck kommt? – Würde man dem zustimmen, so ergäbe die begriffliche<br />

Trennung <strong>in</strong> ihrer aktuellen Form, die e<strong>in</strong>e historische Abgrenzbarkeit von +Mo<strong>der</strong>ne* und


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XIII<br />

+<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* suggeriert, wenig S<strong>in</strong>n. Und schließlich stellt schon das Wort +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*<br />

e<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> sich dar, denn die Mo<strong>der</strong>ne hat sich selbst perpetuiert, <strong>in</strong>dem sie sich<br />

als die auf ewig +neue Zeit* festschrieb, woraus folgt, daß e<strong>in</strong> +Danach* erst gar nicht <strong>in</strong> den<br />

S<strong>in</strong>n geriet und somit obsolet wurde. Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist also schon durch den gewählten<br />

Term<strong>in</strong>us <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e unbestimmte Zukunft verlagert, e<strong>in</strong>e Epoche, die niemals beg<strong>in</strong>nt und doch<br />

beständig <strong>in</strong> den Startlöchern hockt, die Gegenwart zu überholen. Ist sie also nur die zum<br />

Begriff gewordene Fiktion e<strong>in</strong>er kommenden Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich die Probleme und Hoffnungen<br />

des aktuellen Se<strong>in</strong>s spiegeln?<br />

E<strong>in</strong>e Reihe von Fragen wurde <strong>in</strong> diesen kurzen E<strong>in</strong>gangssätzen bereits aufgeworfen. Fragen,<br />

die weitgehend unbeantwortet bleiben werden – und auch unbeantwortet bleiben sollen.<br />

Es s<strong>in</strong>d nämlich weniger (notwendigerweise) vere<strong>in</strong>fachende Antworten, die an dieser Stelle<br />

<strong>in</strong>teressieren, als das Bewußtse<strong>in</strong> für die Problematik des Begriffs. Und so gibt sich nicht nur<br />

<strong>der</strong> Titel dieser Arbeit zwiespältig. +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* – die Klammern deuten<br />

es an: Auch ich als Autor b<strong>in</strong> ambivalent <strong>in</strong> bezug auf +unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne* (Welsch).<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist diese (unentschiedene) Ambivalenz ihrerseits bereits Ausdruck e<strong>in</strong>er als +post-<br />

mo<strong>der</strong>n* charakterisierbaren E<strong>in</strong>stellung – e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>stellung, die darauf verzichtet, zu fixieren<br />

und zu identifizieren, und anstelle dessen auch Unsicherheiten und Vielschichtigkeit zuläßt.<br />

In den von mir gesetzten Klammern ist deshalb folgende Möglichkeit bewußt mit e<strong>in</strong>geklammert:<br />

daß unsere Gegenwart gleichzeitig mo<strong>der</strong>n und postmo<strong>der</strong>n ist.<br />

AUF DEN SPUREN DER MODERNE<br />

Die oben getroffene Aussage, daß e<strong>in</strong>e postmo<strong>der</strong>ne Haltung durch das Zulassen von Un-<br />

sicherheiten und Vielschichtigkeit gekennzeichnet se<strong>in</strong> könnte, stellt e<strong>in</strong>en Vorgriff auf die<br />

erst noch zu vollziehenden Annäherung an die Inhalte postmo<strong>der</strong>nen (des sich selbst so ver-<br />

stehenden wie des so bezeichneten) Denkens dar. Da aber die Mo<strong>der</strong>ne <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne<br />

– zum<strong>in</strong>dest als Begriff – vorausgeht, sollte man vor <strong>der</strong> Beschäftigung mit ihren verschiedenen<br />

Richtungen und Spielarten Klarheit über das (Ge)wesen(e) <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne gew<strong>in</strong>nen. Lei<strong>der</strong><br />

besteht jedoch nicht e<strong>in</strong>mal E<strong>in</strong>igkeit bezüglich <strong>der</strong> Datierung. Je nach Betrachtungsperspektive<br />

kann die Schwelle zur Epoche <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne mit dem Anbruch des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts, aber<br />

auch erst wesentlich später (o<strong>der</strong> gar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart) angesetzt werden. 5


XIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Unter Historikern dom<strong>in</strong>iert die Ansicht, daß <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Neuzeit um das Jahr 1500 herum<br />

angesiedelt werden sollte, als technische und soziale Umwälzungen wie die Erf<strong>in</strong>dung des<br />

Buchdrucks o<strong>der</strong> die Ausbildung neuer Grundherrschaftsformen das Leben <strong>der</strong> Menschen<br />

nachhaltig verän<strong>der</strong>t hatten, die Macht <strong>der</strong> (katholischen) Kirche durch die Reformation sowie<br />

die zunehmende Verselbständigung <strong>der</strong> fürstlichen Herrschaft herausgefor<strong>der</strong>t wurde und<br />

6<br />

geographische +Entdeckungen* neue Handelswege und Ressourcen erschlossen. Aber ist<br />

<strong>der</strong> geschichtswissenschaftliche Begriff <strong>der</strong> Neuzeit mit dem <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne tatsächlich identisch?<br />

– Für diese These spricht zum<strong>in</strong>dest, daß etwa im romanischen Sprachraum gar ke<strong>in</strong>e zwei<br />

getrennten Begriffe existieren. Dazu Wolfgang Welsch, <strong>der</strong> hierzulande e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Stimmen im Mo<strong>der</strong>ne-<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskurs darstellt:<br />

+Italienisch ›il mo<strong>der</strong>no‹, o<strong>der</strong> französisch ›les temps mo<strong>der</strong>nes‹, bezeichnet ungetrennt das, was man<br />

im Deutschen als ›Neuzeit‹ und ›Mo<strong>der</strong>ne‹ zwar nicht unterscheiden muß, aber unterscheiden kann.*<br />

(Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 66)<br />

Tatsächlich ist aber auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Sprache <strong>der</strong> Unterschied <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wortbedeutung<br />

zwischen +Mo<strong>der</strong>ne* und +Neuzeit* re<strong>in</strong> virtuell, und e<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> den +Duden* lehrt schnell,<br />

daß das Adjektiv +mo<strong>der</strong>n* sich vom late<strong>in</strong>ischen +mo<strong>der</strong>nus* ableitet, was wie<strong>der</strong>um nichts<br />

an<strong>der</strong>es als eben +neu(zeitlich)* bedeutet. Entsprechend <strong>der</strong> oben von ihm angedeuteten<br />

Möglichkeit zur Differenzierung zwischen Mo<strong>der</strong>ne und Neuzeit me<strong>in</strong>t Welsch nun allerd<strong>in</strong>gs,<br />

daß das Konzept <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne e<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen geradezu<br />

verlange, denn +die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne setzt sich zwar entschieden von <strong>der</strong> Neuzeit, sehr viel weniger<br />

h<strong>in</strong>gegen von <strong>der</strong> eigentlichen Mo<strong>der</strong>ne ab* (ebd.).<br />

Die Neuzeit läßt Welsch (im Gegensatz zur dom<strong>in</strong>anten geschichtswissenschaftlichen Datierung)<br />

erst mit René Descartes (1596–1650) und damit im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t beg<strong>in</strong>nen. Er bef<strong>in</strong>det<br />

sich als Philosoph mit dieser Bestimmung allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> guter Gesellschaft. Fast alle Interpreten<br />

<strong>der</strong> Philosophiegeschichte sehen <strong>in</strong> Descartes jenen Denker, <strong>der</strong> die +Epochenschwelle* markiert<br />

(vgl. z.B. Röd: Philosophie <strong>der</strong> Neuzeit; S. 9) – e<strong>in</strong>e Auffassung, die bereits Hegel vertrat:<br />

+Die […] eigentlich mo<strong>der</strong>ne Philosophie fängt mit Cartesius an*, bemerkt dieser <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Vorlesungen zur +E<strong>in</strong>leitung <strong>in</strong> die Geschichte <strong>der</strong> Philosophie* (S. 238).<br />

Je pense, donc je suis (Ich denke, also b<strong>in</strong> ich) – jener (Kurz-)Schluß Descartes’ ist die<br />

7<br />

solipsistische Basis <strong>der</strong> neuzeitlichen Subjektphilosophie, und er selbst me<strong>in</strong>te, mit diesem


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XV<br />

Satz e<strong>in</strong>e sichere Grundlage für se<strong>in</strong> weiteres philosophisches Denken gefunden zu haben.<br />

Vom radikalen Zweifel ausgehend, gelangte er zur ebenso radikalen, nicht mehr anzweifelbaren<br />

Gewißheit:<br />

+Und sieh da! So b<strong>in</strong> ich schließlich von selbst dah<strong>in</strong> zurückgekehrt, woh<strong>in</strong> ich wollte. Denn da ich<br />

jetzt weiß, daß ja selbst die Körper nicht eigentlich durch die S<strong>in</strong>ne o<strong>der</strong> durch die E<strong>in</strong>bildungskraft,<br />

son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>zig und alle<strong>in</strong> durch den Verstand erkannt werden, nicht dadurch, daß man sie betastet<br />

o<strong>der</strong> sieht, son<strong>der</strong>n, daß man sie denkt: so erkenne ich ganz offenbar, daß ich nichts leichter und<br />

augensche<strong>in</strong>licher erfassen kann – als me<strong>in</strong>en Geist.* (Meditationes; S. 26 [II,16])<br />

8<br />

Mit diesem a priori des Selbst formulierte Descartes e<strong>in</strong>e Erkenntnis, die er mit e<strong>in</strong>em streng<br />

rationalistischen Wissenschaftsprogramm verband, wie es ähnlich auch z.B. Francis Bacon<br />

9<br />

(1551–1626) vertrat. Die von beiden erarbeiteten Pr<strong>in</strong>zipien e<strong>in</strong>er vernunftorientierten, empiri-<br />

schen Wissenschaft und e<strong>in</strong> optimistischer Fortschrittsglaube prägten auch die (Hoch-)Aufklärung<br />

des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Allerd<strong>in</strong>gs machten sich nun zunehmend kritische Stimmen bemerkbar,<br />

die (an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit) nicht e<strong>in</strong>em konservativ-christlichen Impuls folgten,<br />

son<strong>der</strong>n ihre Kritik gerade aus dem neuzeitlichen Bewußtse<strong>in</strong> heraus formulierten. Deshalb<br />

läßt Welsch die +eigentliche* Mo<strong>der</strong>ne, die er ja von <strong>der</strong> (cartesianischen) Neuzeit abzugrenzen<br />

bestrebt ist (und die er gewissermaßen als Vorstufe zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne begreift), erst im 18.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>setzen. Ironisch bemerkt er: +Vielleicht s<strong>in</strong>d die besten Aufklärer gerade die-<br />

jenigen, die mit e<strong>in</strong>em Be<strong>in</strong> auch im an<strong>der</strong>en Lager stehen* (Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne;<br />

S. 73). Denker, die diesen (selbst)kritischen Aspekt <strong>der</strong> +neuzeitlichen Mo<strong>der</strong>ne* verkörpern,<br />

s<strong>in</strong>d für Welsch u.a. Vico, Rousseau und Baumgarten. 10<br />

Auch Jürgen Habermas sieht das 18. Jahrhun<strong>der</strong>t als Wendepunkt zur (eigentlichen) Mo<strong>der</strong>ne<br />

an. Doch stellt er klar, daß <strong>der</strong> Begriff an sich tatsächlich wesentlich älter ist: 11<br />

+Das Wort ›mo<strong>der</strong>n‹ ist zuerst im späten 5. Jahrhun<strong>der</strong>t verwendet worden, um die soeben offiziell<br />

gewordene christliche Gegenwart von <strong>der</strong> heidnisch-römischen Vergangenheit abzugrenzen. Mit<br />

wechselnden Inhalten drückt ›Mo<strong>der</strong>nität‹ immer wie<strong>der</strong> das Bewußtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Epoche aus, die sich<br />

zur Vergangenheit <strong>der</strong> Antike <strong>in</strong> Beziehung setzt, um sich selbst als Resultat e<strong>in</strong>es Übergangs vom<br />

Alten zum Neuen zu begreifen.* (Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt; S. 33)<br />

Im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t än<strong>der</strong>te sich dann aber – als e<strong>in</strong>e wichtige Folge <strong>der</strong> zuvor e<strong>in</strong>geleiteten<br />

Entwicklungen – <strong>der</strong> Gebrauch des Wortes +mo<strong>der</strong>n*, und man gewann e<strong>in</strong> geradezu post-


XVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

historistisches Verständnis für das grundsätzliche Neue, das mit dem 16. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>in</strong> die<br />

Welt getreten war:<br />

+Die noch heute […] übliche Glie<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> Neuzeit, Mittelalter und Altertum […] konnte sich erst<br />

ausbilden, nachdem die Ausdrücke ›neue‹ o<strong>der</strong> ›mo<strong>der</strong>ne‹ Zeit […] ihren bloß chronologischen S<strong>in</strong>n<br />

e<strong>in</strong>gebüßt […] hatten […] Während im christlichen Abendland die ›neue Zeit‹ das […] erst mit dem<br />

Jüngsten Tag anbrechende Weltalter <strong>der</strong> Zukunft bedeutet hatte […], drückt <strong>der</strong> profane Begriff <strong>der</strong><br />

Neuzeit die Überzeugung aus, daß die Zukunft schon begonnen hat […] Damit hat sich die Zäsur<br />

des Neubeg<strong>in</strong>ns <strong>in</strong> die Vergangenheit verschoben; erst im Lauf des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts ist die Epochen-<br />

schwelle um 1500 retrospektiv als dieser Anfang begriffen worden.* (Der philosophische Diskurs <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne; S. 14) 12<br />

Genau mit diesem Bewußtse<strong>in</strong> beg<strong>in</strong>nt für Habermas das wirkliche Projekt <strong>der</strong> Aufklärung.<br />

Es wurde von Philosophen wie Kant (1724–1804) und vor allem Hegel (1770–1831) (vor)-<br />

13<br />

formuliert. Kant beantwortete die Frage +Was ist Aufklärung?* (1784) mit den berühmten<br />

Worten: +Aufklärung ist <strong>der</strong> Ausgang des Menschen aus se<strong>in</strong>er selbstverschuldeten Unmündigkeit*<br />

(S. 1). Er begab sich jedoch lei<strong>der</strong> selbst <strong>in</strong> solche Unmündigkeit, <strong>in</strong>dem er zwischen theo-<br />

retischer und praktischer Vernunft differenzierte und sich damit <strong>der</strong> Möglichkeit zur Transzen-<br />

dierung <strong>der</strong> Immanenz des Sittlichen beraubte. Nur so ist zu erklären, warum <strong>der</strong> kritische<br />

Impuls se<strong>in</strong>es kategorischen Imperativs zur Apologie <strong>der</strong> Macht verkommt, wenn er z.B. <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er +Rechtslehre* (1797) feststellt, daß es +wi<strong>der</strong> das gesetzgebende Oberhaupt […] ke<strong>in</strong>en<br />

rechtmäßigen Wi<strong>der</strong>stand des Volkes* gibt (S. 125).<br />

Kant empfand die von ihm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neuen Dimension <strong>in</strong>s Spiel gebrachte, mith<strong>in</strong> pr<strong>in</strong>zipielle<br />

Trennung zwischen <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en, <strong>der</strong> theoretischen Natur- und Geisteswissenschaft und <strong>der</strong><br />

praktischen Wissenschaft von <strong>der</strong> Moral (die ja bereits auf Aristoteles zurückgeht) nicht als<br />

Entzweiung. Doch das +bedeutet […] nur, daß sich <strong>in</strong> Kants Philosophie die wesentlichen<br />

Züge des Zeitalters wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Spiegel reflektieren, ohne daß Kant die Mo<strong>der</strong>ne als solche<br />

14<br />

begriffen hätte* (Der philosophische Diskurs <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 30). Darum ist Hegel zwar<br />

+nicht <strong>der</strong> erste Philosoph, <strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Zeit angehört, aber <strong>der</strong> erste, für den die Mo<strong>der</strong>ne<br />

zum Problem geworden ist* (ebd.; S. 57). Hier kann man zwar berechtigte Zweifel anmelden<br />

(schließlich waren auch die von Welsch angeführten Denker ihrer Zeit gegenüber kritisch),<br />

aber für Habermas steht fest: Erst Hegel +sieht die Philosophie vor die Aufgabe gestellt, ihre<br />

Zeit, und das ist für ihn die mo<strong>der</strong>ne Zeit, <strong>in</strong> Gedanken zu fassen* (ebd.; S. 26f.). Ergebnis


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XVII<br />

dieses Hegelschen Griffs nach dem +Zeitgeist* ist die Feststellung, daß die Entfaltung <strong>der</strong><br />

Subjektivität zum Kennzeichen <strong>der</strong> +Gegenwart* geworden ist: +Das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> neueren Welt<br />

überhaupt ist Freiheit <strong>der</strong> Subjektivität* (Grundl<strong>in</strong>ien; § 273, Zusatz). 15<br />

16<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist das reale Individuum se<strong>in</strong>em eigentlichen Se<strong>in</strong> entfremdet. Erst wenn sich<br />

die vom Subjekt gespeiste Moralität, die sich im Willen zur Freiheit äußert, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sittlichen<br />

17<br />

Objektivität des Staates Substantialität verleiht, wird diese Freiheit konkret. Das Subjekt<br />

18<br />

gelangt nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit mit dem Absoluten zu sich selbst. +Diese, Hegel eigentümliche<br />

Denkfigur setzt die Mittel <strong>der</strong> Subjektphilosophie zum Zweck e<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> subjekt-<br />

zentrierten Vernunft e<strong>in</strong>* (ebd.; S. 46), stellt Habermas fest. Aber +kaum hatte Hegel die<br />

Entzweiung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf den Begriff gebracht, schickte sich schon die Unruhe und die<br />

Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne an, diesen Begriff zu sprengen* (ebd.; S. 55).<br />

Das für Habermas charakteristische Element <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts ist also<br />

das sich entwickelnde, doch noch nicht über sich h<strong>in</strong>ausgreifende Bewußtse<strong>in</strong> für die +Ent-<br />

zweiung* <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt. Dieses Bewußtse<strong>in</strong> reflektiert e<strong>in</strong>en fundamentalen Wandel<br />

<strong>der</strong> sozialen Strukturen, den Habermas bereits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Habilitationsschrift +Strukturwandel<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit* (1963) analysiert hat: Ende des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts bis Anfang des 18. Jahrhun-<br />

19<br />

<strong>der</strong>ts kam es zu e<strong>in</strong>er Differenzierung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, womit<br />

sich auch <strong>der</strong> Charakter <strong>der</strong> Öffentlichkeit än<strong>der</strong>te. Sie wandelte sich von e<strong>in</strong>em Medium<br />

<strong>der</strong> bloßen Repräsentation (fürstlicher Macht und des sozialen Status) zur politisch orientierten<br />

bürgerlichen Öffentlichkeit. Das Bürgertum nämlich artikulierte nun immer heftiger se<strong>in</strong>e<br />

Mitsprache- und Machtansprüche, die schließlich (<strong>in</strong> Frankreich) <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Grande Révolution*<br />

von 1789 explosiv kulm<strong>in</strong>ierten.<br />

Das 18. Jahrhun<strong>der</strong>t war also ebenso das Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Grundlegung <strong>der</strong> bürgerlichen Gesell-<br />

schaft. Tatsächlich verwirklicht wurde diese allerd<strong>in</strong>gs erst im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Denn nicht<br />

nur die ökonomische, son<strong>der</strong>n zugleich immer mehr politische Macht g<strong>in</strong>g nun <strong>in</strong> die Hände<br />

des Bürgertums über. Dies gilt vor allem für England und Frankreich, während gerade die<br />

20<br />

deutschen Gebiete noch unter e<strong>in</strong>em +demokratischen Defizit* litten. Auch hier war das<br />

soziale Leben jedoch durch e<strong>in</strong>en weiteren strukturellen Wandel gekennzeichnet: Die<br />

beg<strong>in</strong>nende Industrialisierung erlaubte nicht nur die Versorgung <strong>der</strong> stark anwachsenden<br />

21<br />

Bevölkerung mit Massengütern. Sie erzeugte e<strong>in</strong>e neue gesellschaftliche Klasse – das Proletariat.<br />

Versteht man deshalb unter +Mo<strong>der</strong>ne* die bürgerliche, vom grundlegenden Gegensatz zwischen


XVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Arbeit und Kapital bestimmte Industriegesellschaft, so sollten ihre Anfänge erst im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

angesetzt werden.<br />

Der damals sich vollziehende (weitere) Strukturwandel schlug sich natürlich im Bewußtse<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Menschen nie<strong>der</strong>. Man spürte den Aufbruch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue Epoche: die Epoche <strong>der</strong> Industrie.<br />

Dies wird auch anhand <strong>der</strong> ersten soziologischen Konzepte deutlich. Der Autodidakt und<br />

Frühsozialist Claude-Henri de Sa<strong>in</strong>t-Simon (1760–1825) teilte die Gesellschaft <strong>in</strong> Produzierende<br />

und Nicht-Produzierende e<strong>in</strong>. Erstere faßte er als <strong>in</strong>dustrielle Klasse zusammen (wozu also<br />

neben den eigentlichen +Industriellen* auch Arbeiter, Bauern und Handwerker gehörten).<br />

Die <strong>in</strong>dustrielle Klasse sollte gemäß Sa<strong>in</strong>t-Simon aufgrund ihrer enormen Bedeutung endlich<br />

anstelle des Adels den ersten Platz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft e<strong>in</strong>nehmen. Nur so könnten Gleichheit,<br />

das allgeme<strong>in</strong>e Wohl und <strong>der</strong> soziale Friede sichergestellt werden (vgl. Catéchisme des <strong>in</strong>dustriels;<br />

22<br />

S. 141ff.). Auch Auguste Comte (1798–1857) war vom Fortschritts- und Technikglauben<br />

beseelt. Er sah die Ablösung des metaphysischen Stadiums <strong>der</strong> Menschheit durch e<strong>in</strong> positiv-<br />

wissenschaftliches Stadium gekommen, <strong>in</strong> dem Wissenschaft und Technik sich gegenseitig<br />

zum Wohl <strong>der</strong> Menschheit ergänzen (vgl. Discours sur l’ésprit positiv; S. 56–67). Deshalb<br />

for<strong>der</strong>te er e<strong>in</strong> Bündnis <strong>der</strong> Proletarier und <strong>der</strong> Philosophen, die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er höheren<br />

Volksbildung sowie e<strong>in</strong>e +volkstümliche <strong>Politik</strong>* (politique populaire).<br />

Doch nicht nur im fortschrittlichen Frankreich, auch im damals vergleichsweise zurückgebliebenen<br />

23<br />

Bayern war man voll Fortschrittsoptimismus. So führte e<strong>in</strong> Redner im Jahr 1820 zur ersten<br />

Jahresversammlung des Industrie- und Kulturvere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Nürnberg aus:<br />

+Mit <strong>der</strong> Zunahme <strong>der</strong> Kenntnisse des Menschen werden neue Hülfsquellen und Kräfte se<strong>in</strong>em Willen<br />

untertänig gemacht, welche, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em rohen Zustande <strong>der</strong> Gesellschaft als Träume e<strong>in</strong>er ungeregelten<br />

E<strong>in</strong>bildungskraft verlacht worden wären. – Dieß beweist unter an<strong>der</strong>n die außerordentliche Erf<strong>in</strong>dung:<br />

Schriften mit e<strong>in</strong>er Schnelligkeit zu vervielfältigen, welche e<strong>in</strong>en Menschen <strong>in</strong> den Stand setzt, die<br />

Arbeit von zwanzig tausend Abschreibern zu ersetzen, […] desgleichen <strong>der</strong> Plan das Weltmeer zu<br />

beschiffen, die Erf<strong>in</strong>dung des Schießpulvers, die ausgedehnte Anwendung <strong>der</strong> Dampfmasch<strong>in</strong>e […]<br />

Diese und ähnliche Erf<strong>in</strong>dungen haben den Zustand aller menschlichen Verhältnisse geän<strong>der</strong>t und<br />

ihre Folgen haben die <strong>in</strong>tellektuellen Kräfte des menschlichen Geistes bereits zu e<strong>in</strong>er Höhe erhoben,<br />

welche durch ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>n Mittel erreicht werden konnte.* (Johann Harl, zitiert nach Zwehl: Aufbruch<br />

<strong>in</strong>s Industriezeitalter; S. 135f.)<br />

Selbst Karl Marx, <strong>der</strong> radikale Kritiker <strong>der</strong> bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, erkannte<br />

die zum<strong>in</strong>dest partiell revolutionäre Rolle des Bürgertums und die realen Fortschritte durch


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XIX<br />

die <strong>in</strong>dustrielle Produktionsweise an (wobei er allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e stark eurozentrisch geprägte<br />

Sichtweise offenbart):<br />

+An die Stelle <strong>der</strong> Manufaktur trat die mo<strong>der</strong>ne große Industrie, an die Stelle des <strong>in</strong>dustriellen Mittel-<br />

standes traten die <strong>in</strong>dustriellen Millionäre, […] die mo<strong>der</strong>nen Bourgeois […]<br />

Die Bourgeoisie hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte e<strong>in</strong>e höchst revolutionäre Rolle gespielt. Die Bourgeoise, wo<br />

sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört.<br />

Sie […] reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktions<strong>in</strong>strumente, durch die unendlich erleichterte<br />

Kommunikationen alle, auch die barbarischsten [!] Nationen <strong>in</strong> die Zivilisation.* (Marx/Engels: Manifest<br />

<strong>der</strong> kommunistischen Partei; S. 33f.)<br />

Nach Marx gräbt sich die bürgerliche Gesellschaft damit aber nur ihr eigenes Grab, denn<br />

die Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> kapitalistischen Produktionsweise, die auf <strong>der</strong> Ausbeutung <strong>der</strong> Proletarier<br />

beruht und e<strong>in</strong>e +Epidemie <strong>der</strong> Überproduktion* hervorruft (ebd.; S. 36), führen letzendlich<br />

zur proletarischen Erhebung. Erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> kommunistischen Gesellschaft verwirklicht sich dann<br />

– nach e<strong>in</strong>er sozialistischen Übergangsphase <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats – das +Reich <strong>der</strong><br />

Freiheit*, und die Produktionsverhältnisse entsprechen endlich dem erreichten Stand <strong>der</strong><br />

Produktivkräfte.<br />

Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems 1989 sche<strong>in</strong>t diese Thesen Marx’ wi<strong>der</strong>legt<br />

zu haben. Viele sehen <strong>in</strong> jenem Jahr e<strong>in</strong>e Zäsur (vgl. z.B. McNeill: W<strong>in</strong>ds of Change) – e<strong>in</strong>e<br />

Zäsur, die vielleicht auch den Übergang von <strong>der</strong> politischen Mo<strong>der</strong>ne zur politischen <strong>Post</strong>-<br />

mo<strong>der</strong>ne markieren könnte (vgl. Schönherr-Mann: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Theorien des Politischen;<br />

S. 11–16). Diese wäre von Globalisierung, neuen Kommunikationstechnologien und e<strong>in</strong>em<br />

multipolaren Weltsystem geprägt (siehe v.a. Abschnitt 2.1). Und sie wäre auch e<strong>in</strong>e <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne,<br />

die mit dem Ende <strong>der</strong> +traditionellen* Industriegesellschaft zusammenfällt. Diese traditionelle<br />

Industriegesellschaft, die auf sozialer Integration durch Massenkonsum und <strong>der</strong> politischen<br />

Protektion und Steuerung durch die nationalstaatliche <strong>Politik</strong> beruhte, ist jedoch e<strong>in</strong>e Entwicklung<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts und wurde durch die <strong>in</strong>dustrielle Revolution des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts nur<br />

vorbereitet. Man kann deshalb den Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er so verstandenen (<strong>in</strong>dustriellen) Mo<strong>der</strong>ne<br />

auch erst <strong>in</strong> unserem Jahrhun<strong>der</strong>t ansetzen (vgl. z.B. Zapf: Entwicklung und Sozialstruktur<br />

mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften). 24


XX POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ZU EINEM DYNAMISCHEN VERSTÄNDNIS VON MODERNE: DER PROZESS DER MODER-<br />

NISIERUNG AUS SOZIOLOGISCHER PERSPEKTIVE<br />

Die Vielzahl <strong>der</strong> geschichtlichen E<strong>in</strong>ordnungsmöglichkeiten wirkt verwirrend: Die Mo<strong>der</strong>ne<br />

ist je nach Blickw<strong>in</strong>kel e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e und dementsprechend unterschiedlich kann ihr Beg<strong>in</strong>n<br />

festgesetzt werden. Wie ließe sich diese Verwirrung auflösen o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest positiv nutzen?<br />

– Der Begriff +Mo<strong>der</strong>ne* impliziert eher Statik und ist als Epochenbezeichnung auf e<strong>in</strong>e<br />

historische Datierbarkeit angewiesen. In <strong>der</strong> Soziologie spricht man, an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichts-<br />

wissenschaft, jedoch ohneh<strong>in</strong> primär von +Mo<strong>der</strong>nisierung* – es <strong>in</strong>teressiert also weniger die<br />

bloße Abfolge <strong>der</strong> nur unsauber abgrenzbaren Epochen als die Entwicklungsrichtung e<strong>in</strong>es<br />

dynamisch aufgefaßten Prozesses.<br />

Es gibt nun e<strong>in</strong>e ganze Vielzahl von soziologischen Mo<strong>der</strong>nisierungstheorien und auch hier<br />

kommt es wie<strong>der</strong> darauf an, welchen Teilprozeß die e<strong>in</strong>zelne Theorie <strong>in</strong> den Mittelpunkt<br />

stellt. Denn wie bereits klar geworden se<strong>in</strong> dürfte: Die Mo<strong>der</strong>ne ist vielschichtig und eigentlich<br />

nur im Plural zu denken. Entsprechend wird auch die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Gesellschaft nicht<br />

nur durch e<strong>in</strong>en Faktor ausgelöst und <strong>in</strong> Gang gehalten. E<strong>in</strong>en <strong>in</strong>teressanten und vielverspre-<br />

chenden Ansatz, das Phänomen Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en verschiedenen Teilaspekten zu<br />

erfassen, haben deshalb vor kurzem Hans van <strong>der</strong> Loo und Wilhelm van Reijen vorgelegt<br />

– wenngleich natürlich auch ihr Modell ke<strong>in</strong>esfalls alle Momente berücksichtigt. Immerh<strong>in</strong><br />

aber basiert ihr Konzept auf vier Dimensionen, die die beiden nie<strong>der</strong>ländischen Autoren aus<br />

Parsons’ Handlungstheorie entlehnen.<br />

Parsons skizziert <strong>in</strong> dem Band +Toward a General Theory of Action* (1951) sowie <strong>in</strong> den von<br />

ihm (mit)herausgegebenen +Work<strong>in</strong>g Papers <strong>in</strong> the Theory of Action* (1953) e<strong>in</strong>en 4-dimen-<br />

sionalen Handlungsrahmen, durch den er das Verhalten von Individuen determ<strong>in</strong>iert sieht:<br />

Das Subjekt als Aktor (1. Determ<strong>in</strong>ante) wird zum e<strong>in</strong>en von se<strong>in</strong>er sozialen Umwelt (2. Deter-<br />

m<strong>in</strong>ante) bee<strong>in</strong>flußt, d.h. <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne kann nicht e<strong>in</strong>fach se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Impulsen folgen,<br />

son<strong>der</strong>n muß se<strong>in</strong> Tun auf an<strong>der</strong>e und mit an<strong>der</strong>en abstimmen. Diese <strong>in</strong>teraktionistische<br />

Komponente wird dadurch ergänzt, daß (zum großen Teil ver<strong>in</strong>nerlichte) kulturelle Werte<br />

und Normen (3. Determ<strong>in</strong>ante) steuernd E<strong>in</strong>fluß nehmen. Auch die Beschaffenheit <strong>der</strong> materialen<br />

Umwelt und die eigene Körperlichkeit des Organsystems Mensch (4. Determ<strong>in</strong>ante) s<strong>in</strong>d<br />

25<br />

handlungsrelevant. Diese vier Determ<strong>in</strong>anten korrespondieren mit den vier grundlegenden<br />

Subsystemen, die Parsons <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Systemtheorie postuliert: Der Person kommt hier die Aufgabe


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXI<br />

<strong>der</strong> konkreten Zielverwirklichung (Goal Atta<strong>in</strong>ment) zu, während das Sozialsystem für die<br />

Integration <strong>der</strong> Gesellschaft sorgt. Das Kultursystem sichert den Wertebestand und damit die<br />

Strukturerhaltung (Latency/Pattern Ma<strong>in</strong>tenance). Die dem Menschen als +behavioralistischen<br />

Organismus* angeborene Lernfähigkeit wie<strong>der</strong>um ermöglicht die Anpassung an die Umwelt. 26<br />

Es läßt sich also e<strong>in</strong> Handlungsfeld entlang von vier Achsen aufspannen. Diese Achsen bezei-<br />

chnen van <strong>der</strong> Loo und van Reijen mit +Struktur*, +Person*, +Kultur* und +Natur*. Ausgehend<br />

von diesem Modell kann nun das Phänomen Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>in</strong> verschiedene Subprozesse<br />

27<br />

geglie<strong>der</strong>t werden, die sich zu e<strong>in</strong>em relativ kompletten Gesamtbild zusammenfügen. So<br />

ergeben sich die von den beiden Autoren <strong>in</strong>s Zentrum ihrer Überlegungen gestellten vier<br />

Teilprozesse <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung: Differenzierung (als Strukturkomponente), Individualisierung<br />

(als personale Komponente), Rationalisierung (als kulturelle Komponente) und Domestizierung<br />

(als die <strong>in</strong>nere wie äußere Natur betreffende Komponente). (Vgl. Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 28–34<br />

und siehe die untenstehende vergleichende Gegenüberstellung <strong>in</strong> Tabelle 1).<br />

Tabelle 1: Gegenüberstellung von Parsons und van <strong>der</strong> Loo/van Reijen<br />

Handlungsrahmen bei Parsons Teilprozesse <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung nach<br />

van <strong>der</strong> Loo/van Reijen<br />

Struktur bzw. Sozialsystem Differenzierung<br />

Person bzw. Persönlichkeitssystem Individualisierung<br />

Kultur bzw. Kultursystem Rationalisierung<br />

Natur bzw. Organsystem/phys. Umwelt Domestizierung<br />

Van <strong>der</strong> Loo und van Reijen s<strong>in</strong>d natürlich nicht die Schöpfer dieser Begriffe, und sie füllen<br />

sie auch nicht mit neuen Inhalten auf. Vielmehr führen die Autoren die wichtigsten Ansätze<br />

<strong>der</strong> soziologischen Mo<strong>der</strong>nisierungstheorien <strong>in</strong> ihrem Buch systematisch zusammen und stellen<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die paradoxen Elemente des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses heraus. So lautet <strong>der</strong><br />

Untertitel ihres Bandes treffend +Projekt und Paradox*. Ich möchte im folgenden näher auf<br />

die angesprochenen vier, <strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchlichen Teilprozesse e<strong>in</strong>gehen, orientiere mich<br />

dabei aber nicht streng an <strong>der</strong> Darstellung von van <strong>der</strong> Loo und van Reijen, son<strong>der</strong>n greife<br />

nur die mir wirklich zentral ersche<strong>in</strong>enden Ansätze heraus und beziehe mich dabei darüber<br />

h<strong>in</strong>aus z.T. auch auf an<strong>der</strong>e Autoren und Texte, als die von ihnen genannten.


XXII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Als erster Teilprozeß <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung soll die Differenzierung <strong>in</strong>s Blickfeld geraten. Soziale<br />

Differenzierung ist die zentrale strukturelle Komponente des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses und<br />

äußert sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Trennung, Beson<strong>der</strong>ung u. (horizontal wie vertikal) wirksamen Abgrenzung<br />

von zunächst homogenen sozialen Gebilden* (Hartfiel/Hillmann: Wörterbuch <strong>der</strong> Soziologie;<br />

S. 140). Diese Lexikon-Def<strong>in</strong>ition ist lei<strong>der</strong> nicht beson<strong>der</strong>s vielsagend und bedarf <strong>der</strong> <strong>in</strong>haltlichen<br />

Auffüllung: E<strong>in</strong>e zunächst relativ e<strong>in</strong>fach strukturierte und e<strong>in</strong>heitliche Gesellschaft wandelt<br />

sich also (durch Differenzierung) zu e<strong>in</strong>em komplexen sozialen Zusammenhang. Immer mehr<br />

unterschiedliche Aufgabenfel<strong>der</strong> entstehen und werden von unterschiedlichen Personen(gruppen)<br />

besetzt. Diese arbeitsteilige Spezialisierung (horizontale Differenzierung) muß nicht notwen-<br />

digerweise mit <strong>der</strong> Entstehung von hierarchischen Abstufungen (vertikale Differenzierung)<br />

verbunden se<strong>in</strong>, aber es ersche<strong>in</strong>t an<strong>der</strong>erseits durchaus plausibel, daß <strong>der</strong>art bestehende<br />

Ungleichheiten verstärkt werden.<br />

Aus solcher Perspektive bedeutet Mo<strong>der</strong>nisierung zwangsläufig die Zunahme von sozialer<br />

Ungleichheit. Am prom<strong>in</strong>entesten vertritt diese These Gerhard Lenski: Er sieht e<strong>in</strong>e auf Nutzen-<br />

maximierung beruhende Dialektik von <strong>in</strong>dividuellen und gesellschaftlichen Interessen wirken,<br />

die dazu führt, +daß die Menschen das Produkt ihrer Arbeit [nur] <strong>in</strong>soweit teilen, als dies zur<br />

Sicherung ihres Überlebens und <strong>der</strong> Produktivität jener notwendig ist, <strong>der</strong>en Handlungen für<br />

sie selbst nützlich s<strong>in</strong>d* (Macht und Privileg; S. 71). Dieses Verhältnis von Bedürfnis und Macht<br />

führt dazu, daß nur <strong>in</strong> +primitiven*, kaum arbeitsteiligen Jäger- und Sammlergesellschaften<br />

e<strong>in</strong> hohes Maß an Gleichheit herrschen kann, da es wenig zu verteilen gibt und dieses Wenige<br />

folglich zur Überlebenssicherung aller relativ gerecht verteilt werden muß (vgl. ebd.; S. 145ff.).<br />

In den bereits stärker arbeitsteiligen und deshalb +reicheren* Agrargesellschaften ist das Ausmaß<br />

<strong>der</strong> Ungleichheit dagegen hoch. Die durch Machtkämpfe hervorgegangenen Eliten nutzen<br />

ihre Position, um ihre egoistischen Interessen zu verfolgen, und sichern sich e<strong>in</strong>en unverhältnis-<br />

mäßig großen Teil des gesellschaftlichen +Kuchens* (vgl. ebd.; 283ff.). Erst +das Aufkommen<br />

entwickelter Industriegesellschaften bewirkt zum ersten Mal e<strong>in</strong>en Umschwung <strong>der</strong> uralten<br />

evolutionären Entwicklung zu stetig zunehmen<strong>der</strong> Ungleichheit* (ebd.; S. 407). Das liegt gemäß<br />

Lenski nicht am gestiegenen sozialen Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Eliten. Ihre +Ignoranz* für die Situation<br />

an<strong>der</strong>er nimmt sogar zu. Vielmehr hat die nochmals erhöhte Differenzierung zu Produktivitäts-<br />

steigerungen geführt, die es den Privilegierten erlauben, die Massen (zu ihrer Befriedung)<br />

am großen allgeme<strong>in</strong>en Reichtum partizipieren zu lassen (vgl. ebd.; S. 413–420).


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXIII<br />

Ob diese Thesen Lenskis zutreffend s<strong>in</strong>d, sei dah<strong>in</strong>gestellt. Insbeson<strong>der</strong>e se<strong>in</strong>e Annahme e<strong>in</strong>es<br />

Umschwungs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ungleichheitsentwicklung halte ich für fragwürdig. Schließlich weisen<br />

empirische Befunde darauf h<strong>in</strong>, daß die Ungleichheitsrelationen trotz fortschreiten<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ni-<br />

sierung <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten konstant geblieben s<strong>in</strong>d (bzw. sich sogar wie<strong>der</strong> vergrößern), 28<br />

29<br />

was Ulrich Beck als +Fahrstuhleffekt* bezeichnet hat (vgl. Risikogesellschaft; S. 122). Nur<br />

die absolute Armut <strong>in</strong> den Industriestaaten hat sich verr<strong>in</strong>gert – und dies, so ist zu vermuten,<br />

zu e<strong>in</strong>em guten Teil auf Kosten <strong>der</strong> Armen <strong>in</strong> den +unterentwickelten* Län<strong>der</strong>n.<br />

Lei<strong>der</strong> kann aber <strong>der</strong> Dimension <strong>der</strong> sozialen Ungleichheit und ihrer Verknüpfung mit dem<br />

Prozeß <strong>der</strong> sozialen Differenzierung hier nicht die Aufmerksamkeit geschenkt werden, die<br />

sie eigentlich verdiente. Es ist nämlich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> horizontalen Differenzierung,<br />

<strong>der</strong> an dieser Stelle – allerd<strong>in</strong>gs auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en sozialen Auswirkungen – thematisiert werden<br />

soll. Horizontale Differenzierung ist nun weitgehend identisch mit <strong>der</strong> Herausbildung von<br />

Arbeitsteilung. Schon Platon sah e<strong>in</strong>en Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklung<br />

und Arbeitsteilung (vgl. Politeia; Abschnitt 2.2.2). Die soziologische Standardschrift zu diesem<br />

Thema stammt jedoch aus dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t:<br />

Emil Durkheim (1858–1917) entwickelte 1893 e<strong>in</strong>e Theorie +Über die Teilung <strong>der</strong> sozialen<br />

Arbeit*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> bereits e<strong>in</strong>e ambivalente Sichtweise zum Tragen kommt. Er betrachtete nämlich<br />

soziale Arbeitsteilung nicht als ausschließliches Phänomen +mo<strong>der</strong>ner* Gesellschaften. Doch<br />

erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne rückte sie laut Durkheim <strong>in</strong>s allgeme<strong>in</strong>e Bewußtse<strong>in</strong>, entfaltete e<strong>in</strong>e immer<br />

größere Dynamik, und seit Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts bestand schließlich das Bemühen, sie<br />

theoretisch zu fassen. Adam Smith (1723–1790) beispielsweise hielt sie gar für die Grundlage<br />

des Volkswohlstandes (vgl. Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen; S. 9ff.). Die Bedeutung <strong>der</strong> Arbeits-<br />

teilung lag für Durkheim aber weniger <strong>in</strong> ihren ökonomisch positiven Auswirkungen, son<strong>der</strong>n<br />

+ihre wahre Funktion besteht dar<strong>in</strong>, zwischen zwei o<strong>der</strong> mehreren Personen e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong><br />

Solidarität herzustellen* (Über die Teilung <strong>der</strong> sozialen Arbeit; S. 96). Sie ist beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong><br />

höher entwickelten Gesellschaften die Hauptquelle des gesellschaftlichen Zusammenhalts<br />

(vgl. ebd.; S. 102f.). In früheren Gesellschaften konnte Solidarität nämlich noch gleichsam<br />

mechanisch vorausgesetzt werden und beruhte auf <strong>der</strong> Konformität des Bewußtse<strong>in</strong>s <strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>zelnen Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> (vgl. ebd.; S. 146ff. u. S. 169ff.). Diese Konformität des<br />

Bewußtse<strong>in</strong>s hat sich mit <strong>der</strong> Zunahme <strong>der</strong> sozialen Differenzierung aufgelöst. Das bietet<br />

gleichzeitig die Chance e<strong>in</strong>er allerd<strong>in</strong>gs erst herzustellenden organischen Solidarität, wobei


XXIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

dem Individuum e<strong>in</strong> weit größerer Freiraum gelassen wird als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit (vgl. ebd.<br />

30<br />

S. 171f.). Solche Freiräume, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Fehlen e<strong>in</strong>er steuernden Instanz, implizieren<br />

aber auch immer die Möglichkeit <strong>der</strong> Anomie, und die gesellschaftliche Solidarität ist tendenziell<br />

gefährdet. Die vere<strong>in</strong>zelten Individuen können den Kontakt zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verlieren und gesell-<br />

schaftliche Kämpfe drohen auszubrechen (vgl. ebd.; S. 399–410).<br />

Weit weniger problematisch betrachtete dann allerd<strong>in</strong>gs Talcott Parsons soziale Differenzierung.<br />

Sie stellte für ihn schlicht die Grundlage <strong>der</strong> Evolution mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften dar. In dem<br />

Band +The System of Mo<strong>der</strong>n Societies* (1971) def<strong>in</strong>iert er:<br />

+Differentiation is the division of a unit or structure <strong>in</strong> a social system <strong>in</strong>to two or more units of structure<br />

that differ <strong>in</strong> their characteristics and functional significance for the system.* (S. 26)<br />

Differenzierung bietet selbst laut Parsons allerd<strong>in</strong>gs nur dann wirkliche Vorteile, wenn es durch<br />

sie gleichzeitig zu e<strong>in</strong>er Anpassungsverbesserung (adaptive upgrad<strong>in</strong>g) kommt, d.h. wenn<br />

die Fähigkeit des Systems steigt, adäquat auf Umweltverän<strong>der</strong>ungen zu reagieren. Zudem<br />

muß die +systemische* Differenzierung von e<strong>in</strong>er Wertegeneralisierung begleitet werden (ebd.;<br />

S. 27). Dies geschieht z.B. durch e<strong>in</strong> Rechtssystem mit allgeme<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dlichen Gesetzen,<br />

politische Partizipation, wirtschaftliche Verflechtung etc. (vgl. ebd.; S. 18–26). 31<br />

Parsons ist oft e<strong>in</strong>e harmonisierende Sichtweise vorgeworfen worden. Robert K. Merton, e<strong>in</strong><br />

Schüler von Parsons, hat versucht, diese Schieflage zu beseitigen. Dabei greift er bewußt<br />

auf Durkheim zurück und zeigt auf, daß gerade die Übernahme von gesellschaftlichen Ziel-<br />

vorstellungen bei e<strong>in</strong>em gleichzeitigen Fehlen von (legalen) Möglichkeiten zu <strong>der</strong>en Verwirk-<br />

lichung anomisches, d.h. als krim<strong>in</strong>ell def<strong>in</strong>iertes Verhalten provoziert:<br />

+First, <strong>in</strong>centives for success are provided by the established values of the culture and second, the<br />

avenues available for mov<strong>in</strong>g toward this goal are largely limited by the class structure to those of<br />

deviant behavior. It is the comb<strong>in</strong>ation of the cultural emphasis and the social structure which produces<br />

<strong>in</strong>tense pressure for deviation. Recourse to legitimate channels for ›gett<strong>in</strong>g <strong>in</strong> the money‹ is limited<br />

by a class structure which is not fully open at each level to men of good capacity.* (Social Theory<br />

and Social Structure; S. 145).<br />

Zu dieser offensichtlich weitaus kritischeren Sichtweise als Parsons gelangt Merton, <strong>in</strong>dem<br />

er h<strong>in</strong>ter die +Kulissen* <strong>der</strong> Gesellschaft blickt und deshalb zwischen den offen zutage tretenden


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXV<br />

manifesten und den erst zu ermittelnden latenten Funktionen, die e<strong>in</strong>er Struktur zugrunde<br />

liegen, unterscheidet.<br />

Auch Niklas Luhmann setzt bei Parsons an, um sich von ihm zu entfernen. Wie Merton stellt<br />

er den Funktionsbegriff heraus und bezeichnet +se<strong>in</strong>e* Systemtheorie als +funktional-strukturell*.<br />

Wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> ursprünglichen strukturell-funktionalen Variante Parsons’ ist es jedoch e<strong>in</strong> strukturelles<br />

Moment, das mo<strong>der</strong>ne von vormo<strong>der</strong>nen Gesellschaften unterscheidet – allerd<strong>in</strong>gs mit e<strong>in</strong>em<br />

wichtigen Unterschied: Parsons g<strong>in</strong>g noch von e<strong>in</strong>em hierarchisch aufgebauten System und<br />

e<strong>in</strong>er geschichteten Gesellschaft aus. Luhmann dagegen versteht +die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft<br />

im Unterschied zu allen älteren Gesellschaftsformen als funktional differenziertes System […],<br />

das nicht mehr nach sozialen Rangordnungen, son<strong>der</strong>n nur nach [autonomen] Funktionsbereichen<br />

wie Wirtschaft, <strong>Politik</strong>, Erziehung, Recht, Wissenschaft, Religion usw. geglie<strong>der</strong>t ist* (Soziologie<br />

für unsere Zeit; S. 58). Durch diese funktionale Differenzierung wird die stratifikatorische Diffe-<br />

renzierung <strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Schichtungsgesellschaften aufgehoben (vgl. Gesellschaftsstruktur<br />

und Semantik; Band 1, S. 25). 32<br />

Neben funktionaler Differenzierung sieht Luhmann mo<strong>der</strong>ne Gesellschaften vor allem durch<br />

e<strong>in</strong>e hohe Systemkomplexität charakterisiert. Zwar haben +soziale Systeme […] die Funktion<br />

<strong>der</strong> Erfassung und Reduktion von [Umwelt-]Komplexität* (Soziologie als Theorie sozialer Systeme;<br />

S. 116). Um aber diese Aufgabe leisten zu können, müssen sie gerade ihre <strong>in</strong>terne Komplexität<br />

steigern. Denn +das System muß h<strong>in</strong>reichend viele Zustände annehmen können, um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

sich än<strong>der</strong>nden Umwelt bestehen zu können* (ebd.). Aus dieser analytisch-distanzierten<br />

Perspektive rückt weniger die Dependenz des Individuums von den sozialen Machtstrukturen<br />

als die Interdependenz <strong>der</strong> Systemelemente allgeme<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Mittelpunkt. Das Individuum<br />

gilt Luhmann folglich als bloßes Element <strong>der</strong> Systemumwelt – das kann man schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

33 34<br />

frühen Schriften so lesen, tritt aber erst recht <strong>in</strong> jüngerer Zeit hervor. Der Fokus verschiebt<br />

sich nun auch auf e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es +Kennzeichen* mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften: Im Zuge se<strong>in</strong>er Rezeption<br />

des (radikalen) Konstruktivismus wird die Kategorie <strong>der</strong> Selbstreferenz bzw. Autopoiesis immer<br />

35<br />

zentraler <strong>in</strong> Luhmanns Theoriegebäude. Die Gesellschaft, die er als re<strong>in</strong>en Kommunikationszu-<br />

sammenhang versteht, bezieht sich diskursiv auf sich selbst und weitet sich (im Zuge <strong>der</strong><br />

Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien) zum globalen System aus. 36<br />

Mittels neuer Kommunikationsmedien (und natürlich auch durch e<strong>in</strong>en erhöhten wirtschaftlichen<br />

Austausch) kommt es also letztendlich zu e<strong>in</strong>er Globalisierung und Universalisierung auf <strong>der</strong>


XXVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Grundlage gerade <strong>der</strong> Differenzierung von immer autonomer werdenden und gleichzeitig<br />

immer enger verflochtenen sozialen Subsystemen. Damit ist das Paradox <strong>der</strong> Differenzierung<br />

auf den Punkt gebracht: Strukturelle Differenzierung führt zu e<strong>in</strong>er Aufsplitterung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

<strong>in</strong> immer kle<strong>in</strong>ere Untere<strong>in</strong>heiten. Doch dieser Tendenz steht die durch Arbeitsteilung ebenso<br />

erzwungene Vernetzung und Kooperation <strong>der</strong> Teilbereiche entgegen (vgl. hierzu auch van<br />

<strong>der</strong> Loo/van Reijen: Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 115ff.).<br />

• Eng <strong>in</strong> Zusammenhang mit dem Prozeß <strong>der</strong> sozialen Differenzierung steht die Individu-<br />

alisierung. Differenzierung und Individualisierung s<strong>in</strong>d, so könnte man formulieren, die zwei<br />

Seiten e<strong>in</strong> und <strong>der</strong>selben Medaille. Es ist deshalb gar nicht so e<strong>in</strong>fach (und vielleicht nicht<br />

e<strong>in</strong>mal s<strong>in</strong>nvoll) zwischen beiden Prozessen e<strong>in</strong>e klare Trennl<strong>in</strong>ie zu ziehen. Angesichts dessen<br />

muß es auch nicht verwun<strong>der</strong>n, wenn <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Individualisierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> soziologischen<br />

Literatur zum ersten Mal <strong>in</strong> Georg Simmels Schrift +Über sociale Differenzierung* (1890) auf-<br />

37<br />

taucht. Für Simmel (1858–1918) entsteht +Gesellschaft* aus <strong>der</strong> Wechselbeziehung <strong>der</strong> Indi-<br />

viduen zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, doch ist sie an<strong>der</strong>erseits auch mehr als die Summe ihrer Glie<strong>der</strong>:<br />

+Man kann […] die Grenze des eigentlichen socialen Wesens vielleicht dort erblicken, wo die Wechsel-<br />

wirkung <strong>der</strong> Personen untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> nicht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em subjektiven Zustand o<strong>der</strong> Handeln <strong>der</strong>selben<br />

besteht, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> objektives Gebilde zustande br<strong>in</strong>gt, das e<strong>in</strong>e gewisse Unabhängigkeit von den<br />

e<strong>in</strong>zelnen daran teilhabenden Persönlichkeiten besitzt.* (S. 16)<br />

In diesem Zitat drückt sich Simmels dynamisches Gesellschaftsverständnis aus. Letzteres zeigt<br />

sich auch daran, daß er lieber prozeßbetont von <strong>der</strong> +Vergesellschaftung* als statisch von<br />

38<br />

+Gesellschaft* spricht (vgl. Soziologie; S. 4ff.). Wenn Gesellschaft aber e<strong>in</strong> dynamischer Zusam-<br />

menhang ist, so ergeben sich im historischen Ablauf zwangsläufig Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Be-<br />

ziehung zwischen dem Individuum und dem sozialen Ganzen. Die Richtung dieser Verände-<br />

rungen läßt sich zwar nicht <strong>in</strong> sozialen Gesetzmäßigkeiten festschreiben (vgl. Über sociale<br />

Differenzierung; S. 1–9), doch kann man gemäß Simmel trotzdem begründete Aussagen treffen,<br />

die aber, um praktischen S<strong>in</strong>n zu ergeben, den +realen elementaren Kräfte[n]* (ebd.; S. 9),<br />

die im sozialen Zusammenspiel am Wirken s<strong>in</strong>d, Rechnung tragen müssen. Entsprechend<br />

+physikalisch* argumentiert Simmel deshalb, wenn er nach <strong>der</strong> Ursache <strong>der</strong> sozialen Diffe-<br />

renzierung fragt: Dem Differenzierungsprozeß liegt e<strong>in</strong>e (psychologische und soziale) Krafter-


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXVII<br />

sparnis zugrunde, so se<strong>in</strong> Hauptargument (vgl. ebd.; Kapitel VI). Simmel me<strong>in</strong>t damit, daß<br />

arbeitsteilige Organisation den e<strong>in</strong>zelnen von Denkarbeit wie physischer Arbeit entlastet, <strong>in</strong>dem<br />

er sich auf se<strong>in</strong>e konkrete Aufgabe konzentrieren kann.<br />

Diese kräftesparende Spezialisierung führt auf <strong>der</strong> Seite des Individuums zu e<strong>in</strong>er zunehmenden<br />

Individualisierung: Simmel geht nämlich davon aus, daß sich die Konformität e<strong>in</strong>er Gruppe<br />

durch Differenzierung tendenziell auflöst. Da dies für alle Gruppen gilt, nähern sich e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

zunächst unähnliche, <strong>in</strong> sich jedoch homogene Gesellschaften ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong> an (Universalisierung).<br />

Doch <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Gruppe kommt es gleichzeitig zu e<strong>in</strong>em schärferen +Hervortreten<br />

<strong>der</strong> Individualität* (ebd.; S. 48), die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kosmopolitischeren E<strong>in</strong>stellung <strong>der</strong> Individuen<br />

äußert (vgl. ebd; S. 52). Gerade durch stärker ausgeprägte Individualität entsteht so para-<br />

doxerweise e<strong>in</strong> Mehr an Gleichheit:<br />

+Ich glaube, daß die Vorstellung <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Gleichheit psychologisch durch nichts mehr geför<strong>der</strong>t<br />

werden kann, als durch e<strong>in</strong> scharfes Bewußtse<strong>in</strong> von dem Wesen und dem Werte <strong>der</strong> Individualität<br />

[…] gerade wenn je<strong>der</strong> etwas Beson<strong>der</strong>es ist, ist er <strong>in</strong>soweit jedem an<strong>der</strong>n gleich.* (Ebd.; S. 56)<br />

An<strong>der</strong>erseits besteht durch die Individualisierung die Gefahr <strong>der</strong> Schwächung des +socialen<br />

Bewußtse<strong>in</strong>s* durch Egoismus (vgl. ebd.; S. 59) – e<strong>in</strong>e These, die an Durkheims Anomietheorie<br />

er<strong>in</strong>nert.<br />

Erich Fromm (1900–1980) hat zwar nicht direkt den Begriff +Individualisierung* gebraucht.<br />

Wenn er aber von +Individuation* spricht, so ist etwas ähnliches (wenn auch nicht identisches)<br />

geme<strong>in</strong>t. Als Sozialpsychologe versteht Fromm unter Individuation nämlich e<strong>in</strong> Doppeltes:<br />

Zum e<strong>in</strong>en den Prozeß, den je<strong>der</strong> Mensch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Lebensgeschichte durchlaufen muß,<br />

um e<strong>in</strong> selbständiges Individuum zu werden. Zum an<strong>der</strong>en ist <strong>der</strong> historische Prozeß <strong>der</strong><br />

Menschheitsentwicklung h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er immer größeren Freiheit des Individuums geme<strong>in</strong>t. Beide<br />

Aspekte des Individuationsbegriffs sollen im folgenden kurz beleuchtet werden: Die frühe<br />

K<strong>in</strong>dheit ist von starken sog. +primären B<strong>in</strong>dungen*, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Mutter-K<strong>in</strong>d-B<strong>in</strong>dung,<br />

geprägt. Soll aus dem K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e eigenständige Person werden, so muß es lernen, sich von<br />

diesen B<strong>in</strong>dungen zu lösen. Der Prozeß <strong>der</strong> Loslösung von den primären B<strong>in</strong>dungen wird<br />

normalerweise durch die Erziehung geför<strong>der</strong>t. Der Heranwachsende erfährt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge<br />

als e<strong>in</strong> auf sich selbst verwiesenes +Ich* und sucht vermehrt nach Freiheit und Unabhängigkeit.<br />

(Vgl. Die Furcht vor <strong>der</strong> Freiheit; S. 24–27)


XXVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Doch dieser Emanzipationsprozeß verläuft nicht immer problemfrei und reibungslos: Zum<br />

e<strong>in</strong>en wird das K<strong>in</strong>d zwar körperlich, seelisch und geistig kräftiger. Dem Wachstum des Selbst<br />

s<strong>in</strong>d jedoch Grenzen gesetzt, +teils durch <strong>in</strong>dividuelle B<strong>in</strong>dungen, aber im wesentlichen durch<br />

die gesellschaftlichen Umstände* (ebd.; S. 27), wie Fromm bemerkt. Denn die Gesellschaft<br />

verlangt e<strong>in</strong> enormes Maß an Anpassung und Konformität von ihren Mitglie<strong>der</strong>n. Deshalb<br />

erzeugt <strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> primären B<strong>in</strong>dungen auch e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> Ohnmacht und <strong>der</strong> Angst.<br />

Um diese zu überw<strong>in</strong>den, bleibt dem Individuum häufig nur e<strong>in</strong> Ausweg: das Aufgehen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Außenwelt, die Negierung des eigenen Ichs und die verzweifelte Suche nach dem Heil<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Unterwerfung.<br />

Auch <strong>der</strong> historische Individuationsprozeß ist ambivalent: +Je<strong>der</strong> Schritt <strong>in</strong> Richtung wachsen<strong>der</strong><br />

Individuation hat die Menschen mit neuen Unsicherheiten bedroht* (ebd.; S. 32). Zwar sieht<br />

auch Fromm die <strong>in</strong>dividuellen Freiheitsspielräume pr<strong>in</strong>zipiell gestiegen. Trotzdem bleibt er<br />

kritisch:<br />

+Wir haben das Gefühl, die Freiheit <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ungsäußerung sei <strong>der</strong> letzte Schritt auf dem Siegesmarsch<br />

<strong>der</strong> Freiheit. Dabei vergessen wir, daß die freie Me<strong>in</strong>ungsäußerung zwar e<strong>in</strong>en wichtigen Sieg im<br />

Kampf gegen alte Zwänge darstellt, daß <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Mensch sich aber […] nicht die Fähigkeit erworben<br />

hat, auf orig<strong>in</strong>elle Weise (das heißt selbständig) zu denken […] Mit an<strong>der</strong>en Worten: Wir s<strong>in</strong>d von<br />

<strong>der</strong> Zunahme unserer Freiheit von Mächten außerhalb unserer selbst begeistert und s<strong>in</strong>d bl<strong>in</strong>d für<br />

unsere <strong>in</strong>neren Zwänge und Ängste […]* (Ebd.; S. 81)<br />

Diese Ängste beruhen auf e<strong>in</strong>em Gefühl <strong>der</strong> Isolation und (Selbst-)Entfremdung. Denn <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> kapitalistischen Gesellschaftsordnung, <strong>der</strong>en Durchsetzung nur vor<strong>der</strong>gründig e<strong>in</strong>e Befreiung<br />

des Individuums zur Folge hatte, bleibt <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne unfähig zur Bejahung <strong>der</strong> eigenen Person.<br />

Die herkömmliche Auffassung, daß <strong>der</strong> Mensch im Kapitalismus alles, was er tut, für sich<br />

selber tut, beruht nämlich laut Fromm auf e<strong>in</strong>er Fehl<strong>in</strong>terpretation: Während im Mittelalter<br />

das Kapital noch Diener des Menschen war, wurde es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit endgültig zu se<strong>in</strong>em<br />

Herrn (vgl. ebd; S. 84f.).<br />

In <strong>der</strong> Gegenwart ist es vor allem Ulrich Beck, <strong>der</strong> auf den ambivalenten Prozeß <strong>der</strong> Indivi-<br />

dualisierung als Grundkategorie <strong>der</strong> Gesellschaftsanalyse aufmerksam macht, und se<strong>in</strong>e Position<br />

ist deshalb e<strong>in</strong> wichtiger Bezugspunkt <strong>der</strong> aktuellen Debatte, die allerd<strong>in</strong>gs – wo sie sich auf<br />

+Klassiker* rückbezieht – weniger an die oben nachgezeichneten Gedanken Fromms, als an<br />

Simmel und Durkheim anschließt. Da Becks Ansatz <strong>in</strong> dieser Arbeit an an<strong>der</strong>er Stelle noch


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXIX<br />

ausführlicher dargestellt werden wird (siehe z.B. Abschnitt 2.5), möchte ich mich hier auf<br />

e<strong>in</strong>e knappe Zusammenfassung se<strong>in</strong>er Kernaussagen beschränken:<br />

Becks Individualisierungstheorem beruht auf <strong>der</strong> Annahme, daß sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> momentanen<br />

Situation e<strong>in</strong> ambivalenter Gesellschaftswandel vollzieht, <strong>der</strong> +die Menschen aus den Sozialformen<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft – Klasse, Schicht, Familie […]* (Risikogesellschaft; S. 115) –<br />

zunehmend freisetzt und sie damit e<strong>in</strong>em Individualisierungsschub aussetzt, <strong>der</strong> sie, mit allen<br />

Risiken und Chancen, auf sich selbst verweist. Denn <strong>der</strong> schon erwähnte +Fahrstuhl-Effekt*<br />

(siehe S. XXIII) bewirkt, daß die alten Ungleichheitsrelationen zwar weitgehend erhalten geblieben<br />

s<strong>in</strong>d, doch auf e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong> höheren Niveau, weshalb von e<strong>in</strong>er Auflösung <strong>der</strong><br />

Klassengesellschaft gesprochen werden kann (vgl. ebd.; S. 121f.). Bildungslevel und Lebensstile<br />

<strong>der</strong> unterschiedlichen Schichten haben sich angeglichen bzw. auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> ökonomi-<br />

schen Nivellierung <strong>in</strong>dividualisiert (vgl. ebd.; S. 127–130 u. S. 139–143).<br />

Allerd<strong>in</strong>gs gibt es e<strong>in</strong>e große Anzahl Mo<strong>der</strong>nisierungsverlierer, was beispielsweise das Ansteigen<br />

<strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Langzeitarbeitslosen deutlich zeigt (vgl. ebd.; S. 143–151). Und während e<strong>in</strong>erseits<br />

vom e<strong>in</strong>zelnen Initiative, Mobilität und Kreativität verlangt werden, überdauern vormo<strong>der</strong>ne<br />

Institutionen und Muster <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft wie die bürgerliche Familie und traditionelle<br />

Geschlechterrollen, was zunehmend problematisch wird (vgl. ebd.; S. 161–204). Insofern<br />

kann von e<strong>in</strong>er halbierten Mo<strong>der</strong>ne gesprochen werden und +Individualisierung wird dement-<br />

sprechend [von Beck] als e<strong>in</strong> historisch wi<strong>der</strong>sprüchlicher Prozeß <strong>der</strong> Vergesellschaftung ver-<br />

standen* (ebd.; S. 119). Dieser ambivalente Vergesellschaftungsprozeß ist verbunden mit<br />

<strong>der</strong> +Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialisationsformen und -b<strong>in</strong>dungen im S<strong>in</strong>ne<br />

traditioneller Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (›Freisetzungsdimension‹), [dem]<br />

Verlust von traditionalen Sicherheiten im H<strong>in</strong>blick auf Handlungswissen, Glauben und leitende[n]<br />

Normen (›Entzauberungsdimension‹) und […] e<strong>in</strong>e[r] neue[n] Art <strong>der</strong> sozialen E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung (›Kon-<br />

troll- bzw. Re<strong>in</strong>tegrationsdimension‹)* (ebd.; S. 206) – bedeutet also nicht nur die Emanzipation<br />

des Individuums, son<strong>der</strong>n vielleicht das genaue Gegenteil: e<strong>in</strong> vielfach <strong>in</strong>stitutionenabhängiges<br />

Leben, verbunden mit erheblichen Kontrollverlusten und dem gesellschaftlich vermittelten<br />

Zwang, sich e<strong>in</strong>e (stimmige) Biographie zu +basteln* (vgl. ebd.; S. 211–219).<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund und spiegelbildlich zum Paradox <strong>der</strong> Differenzierung läßt sich das<br />

Paradox <strong>der</strong> Individualisierung formulieren, das schon Simmel angedeutet hat, <strong>in</strong>dem er von<br />

e<strong>in</strong>em +Reziprozitätsverhältnis von Individualisierung und Verallgeme<strong>in</strong>erung* sprach (vgl.


XXX POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Über sociale Differenzierung; S. 65): In <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen (westlichen) Gesellschaft kommt dem<br />

Individuum große, wenn nicht zentrale Bedeutung zu. Die Freisetzung aus den traditionalen<br />

B<strong>in</strong>dungen und den strukturellen Zwängen <strong>der</strong> ständischen Gesellschaft hat autonome Freiräume<br />

geschaffen, die aber auch e<strong>in</strong>en bedrohlichen Aspekt <strong>der</strong> Verunsicherung be<strong>in</strong>halten können.<br />

Zusätzlich kommt es anstelle <strong>der</strong> alten zur Ausbildung neuer <strong>in</strong>stitutioneller sowie sozialer<br />

Zwänge, und durch das größere Maß <strong>der</strong> Vernetzung entstehen vielfältige Abhängigkeiten,<br />

die e<strong>in</strong>e immer globalere Natur annehmen (vgl. auch van <strong>der</strong> Loo/van Reijen: Mo<strong>der</strong>nisierung;<br />

S. 194f.).<br />

• Der dritte wesentliche Teilprozeß <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung nach van <strong>der</strong> Loo/van Reijen ist die<br />

Rationalisierung. Viele sehen <strong>in</strong> ihr den eigentlichen Ursprung für die entfaltete Entwicklungs-<br />

dynamik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Und gerade gesellschaftliche Arbeitsteilung, welche die Grundlage<br />

sozialer Differenzierung bildet, kann zu e<strong>in</strong>em großen Teil auf +Rationalisierungsbestrebungen*<br />

zurückgeführt werden, denn durch Spezialisierung erhöht sich (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel) die Produktivität<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen. Dieser Zusammenhang ist auch die Grundprämisse des sog. Taylorismus: Fre<strong>der</strong>ick<br />

W. Taylor (1856–1915), auf den <strong>der</strong> Taylorismus zurückgeht, plädierte für e<strong>in</strong> +scientific manage-<br />

ment* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft und war bestrebt, durch e<strong>in</strong>e rationale Organisation <strong>der</strong> Arbeitsvorgänge<br />

e<strong>in</strong> optimales Kosten-Nutzen-Verhältnis <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Produktion zu erreichen. Der<br />

39<br />

Rhythmus <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>en diktierte den Rhythmus <strong>der</strong> Arbeit. Auch wenn das tayloristische<br />

Denken <strong>in</strong>zwischen zurückgedrängt ist o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest ergänzt wird durch Konzepte<br />

wie Gruppenarbeit, so dienen diese letzendlich dem selben Zweck: Produktionsprozesse<br />

zu optimieren.<br />

Taylor war aber ke<strong>in</strong> Soziologe und er hat auch ke<strong>in</strong>e wissenschaftliche Theorie <strong>der</strong> Rationali-<br />

sierung entwickelt, son<strong>der</strong>n sich auf den praktischen Aspekt konzentriert. Was für Taylor gerade<br />

nicht gilt, trifft um so mehr auf Max Weber zu. Wenn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Soziologie <strong>der</strong> Begriff +Rationali-<br />

sierung* fällt, so bleibt deshalb <strong>der</strong> Verweis auf Weber (1864–1920) meist nicht aus. Dieser<br />

zeigte vor allem die Zusammenhänge zwischen <strong>der</strong> Rationalisierung <strong>der</strong> Lebensführung und<br />

<strong>der</strong> Entwicklung des okzidentalen Kapitalismus auf. Dabei betonte er die för<strong>der</strong>liche Rolle,<br />

die <strong>der</strong> Protestantismus <strong>in</strong> diesem Zusammenhang spielte, und stellte die enge Verwandtschaft<br />

zwischen <strong>der</strong> protestantischen Ethik und dem +Geist des Kapitalismus* heraus. Denn beide<br />

wenden sich gegen Vergeudung und Genuß. Und e<strong>in</strong>e optimale Ausnutzung <strong>der</strong> zur Verfügung


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXXI<br />

stehenden Zeit, Sparsamkeit sowie die Erfüllung <strong>der</strong> Berufspflichten s<strong>in</strong>d für den Kapitalisten<br />

wie den (calv<strong>in</strong>istischen) Protestanten (den Weber als prototypisch behandelt) zentrale Tugenden.<br />

So kann Weber resümieren:<br />

+Die <strong>in</strong>nerweltliche protestantische Askese […] wirkte […] mit voller Wucht gegen den unbefangenen<br />

Genuß des Besitzes, sie schnürte die Konsumption, speziell die Luxuskonsumption, e<strong>in</strong>. Dagegen entlastete<br />

sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen <strong>der</strong> traditionalistischen Ethik,<br />

sie sprengte die Fesseln des Gew<strong>in</strong>nstrebens, <strong>in</strong>dem sie es nicht nur legalisierte, son<strong>der</strong>n […] direkt<br />

als gottgewollt ansah.* (Die protestantische Ethik und <strong>der</strong> Geist des Kapitalismus; S. 179)<br />

Luther sah nämlich gemäß Weber die Pflichterfüllung im Rahmen des weltlichen Berufs als<br />

e<strong>in</strong>zigen Weg an, Gott wohlzugefallen. Die Prädest<strong>in</strong>ationslehre Calv<strong>in</strong>s besagte zwar im<br />

Pr<strong>in</strong>zip das genaue Gegenteil:<br />

+Gott hat zur Offenbarung se<strong>in</strong>er Herrlichkeit durch se<strong>in</strong>en Beschluß e<strong>in</strong>ige Menschen […] bestimmt<br />

[…] zu ewigem Leben und an<strong>der</strong>e verordnet […] zu ewigem Tode.* (Zitiert nach ebd.; S. 119)<br />

Durch se<strong>in</strong>e Handlungen hat <strong>der</strong> Mensch deshalb ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluß auf se<strong>in</strong> Schicksal. Aber<br />

auch Calv<strong>in</strong> verlangte von se<strong>in</strong>en Anhängern strenge Pflichterfüllung und Mäßigung <strong>der</strong> Lebens-<br />

weise. Zudem wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folgezeit die ursprüngliche, psychisch stark belastende calv<strong>in</strong>istische<br />

Lehre modifiziert: Gnadengewißheit konnte nun erlangt werden, <strong>in</strong>dem man von Gott Zeichen<br />

<strong>der</strong> Auserwähltheit wie ökonomischen Wohlstand erhielt. Die Gläubigen strebten also nach<br />

materiellen Gütern, um sich <strong>der</strong> eigenen Erwähltheit zu vergewissern, durften diese aber gemäß<br />

<strong>der</strong> puritanischen Ideologie nicht genießen und verwirklichten somit die oben im Zitat ange-<br />

sprochene <strong>in</strong>nerweltliche Askese. Zusammengenommen zeigen sich starke Parallelen zum<br />

+Geist des Kapitalismus*, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e streng rationale Lebensführung diktiert. Dies veranschaulicht<br />

Weber anhand e<strong>in</strong>iger Äußerungen Benjam<strong>in</strong> Frankl<strong>in</strong>s und filtert die für ihn zentralen Momente<br />

heraus:<br />

• Die Akkumulation von Kapital betrieben als Selbstzweck<br />

• Die Identifizierung des Guten mit dem Nützlichen (Utilitarismus)<br />

• Die Verpflichtung zu Sparsamkeit und Kapital-Re<strong>in</strong>vestition<br />

Diese Merkmale s<strong>in</strong>d jedoch gemäß Weber nur für den mo<strong>der</strong>nen europäischen und nicht<br />

für den traditionalen Kapitalismus typisch, da ersterer (im Gegensatz zu letzerem) schließlich


XXXII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

das Resultat e<strong>in</strong>er übergreifenden Rationalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft darstelle. Denn auch wenn<br />

+die Habgier des ch<strong>in</strong>esischen Mandar<strong>in</strong>, des altrömischen Aristokraten […] jeden Vergleich<br />

[mit e<strong>in</strong>em europäischen Kapitalisten] aus[hält]* (ebd.; S. 47), so fehlte nach Weber <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Antike und im Orient das spezifische rationalistische Element. 40<br />

Diese übergreifende Rationalisierung, die +Entzauberung <strong>der</strong> Welt*, wie Weber verschiedentlich<br />

<strong>in</strong> Anlehnung an Schiller formuliert, äußert sich neben dem Feld <strong>der</strong> Ökonomie vor allem<br />

<strong>in</strong> den Bereichen Recht, Verwaltung, politische Herrschaft und Wissenschaft: Der Staat organisiert<br />

sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er alle Sektoren kontrollierenden Bürokratie, die nur nach zweckrationalen Gesichts-<br />

punkten urteilt und an exakte Verfahrensregeln gebunden ist (vgl. Wirtschaft und Gesellschaft;<br />

S. 551ff.). Die politische Führung beruht als legale Herrschaft auf rational geschaffenen Regeln<br />

(Rechtsnormen) und nicht auf unh<strong>in</strong>terfragter traditionaler Legitimation (vgl. <strong>Politik</strong> als Beruf;<br />

41<br />

S. 8). Auch die +Wissenschaft als Beruf* (1919) ist alle<strong>in</strong>e auf rational-logisch begründete<br />

Sachaussagen beschränkt und sollte jegliche Werturteile vermeiden (vgl. S. 28ff.). Nur so<br />

kann sie <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit dienen. Allerd<strong>in</strong>gs sah Weber auch Probleme e<strong>in</strong>er alles umfassenden<br />

Rationalisierung. Denn die rationale Lebensführung hat e<strong>in</strong> +stahlhartes Gehäuse* geschmiedet,<br />

das den Menschen zu erdrücken droht (vgl. Protestantische Ethik; S. 188).<br />

Diese problematische Seite des Rationalisierungsprozesses stellen Max Horkheimer und Theodor<br />

Adorno <strong>in</strong>s Zentrum ihrer von extremem Pessimismus geprägten Schrift +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung*<br />

(1944), welcher sich aus nur dem Trauma des 2. Weltkriegs und dem allmählichen Bekannt-<br />

werden des tatsächlichen Ausmaßes <strong>der</strong> Verbrechen des Nazismus erklären läßt. Aufklärung<br />

ist für Horkheimer und Adorno nämlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en neuen Mythos umgeschlagen – den Mythos,<br />

daß alles berechenbar ist und nur Nützlichkeitskriterien zählen. In diesem S<strong>in</strong>n ist Aufklärung<br />

totalitär (vgl. S. 12). Der rationale Erklärungsanspruch ist allumfassend, denn <strong>der</strong> emanzipatorische<br />

Impuls <strong>der</strong> Aufklärung entspr<strong>in</strong>gt letztlich e<strong>in</strong>er +radikal gewordene[n], mythische[n] Angst*<br />

(ebd.; S. 22). Diese Angst machte bl<strong>in</strong>d und veranlaßte die Menschen, ihr Heil <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

entfesselten Vernunft, die gegen alle althergebrachten Überzeugungen Sturm lief, zu suchen.<br />

Doch +die re<strong>in</strong>e Vernunft wurde zur Unvernunft* (ebd.; S. 98), und sie besitzt +auch gegen<br />

die Perversion ihrer selbst […] ke<strong>in</strong> Argument* (ebd.; S. 100). Diese Selbstaushöhlung <strong>der</strong><br />

Vernunft ist zugleich <strong>der</strong> Kern des Rationalisierungsparadoxes: Das e<strong>in</strong>seitige Vertrauen des<br />

mo<strong>der</strong>nen Menschen auf die ihrer Basis (dem Emanzipationsgedanken) beraubte Vernunft<br />

weist gewisse Züge von Irrationalität auf. 42


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXXIII<br />

• Eng verbunden mit dem ambivalenten Rationalisierungsprozeß ist <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Domesti-<br />

zierung. Auch zur Erläuterung dieses Zusammenhangs kann auf e<strong>in</strong>e Schrift Horkheimers<br />

zurückgegriffen werden. In dem Band +Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft* (1947), wo<br />

er gedanklich an die +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* anknüpft, stellt er klar, daß die Vernunft heute<br />

zu e<strong>in</strong>em Instrument im Dienst <strong>der</strong> Macht geworden ist: +Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei<br />

<strong>der</strong> Beherrschung von Menschen und <strong>der</strong> Natur, ist zum e<strong>in</strong>zigen Kriterium geworden* (S.<br />

30). E<strong>in</strong>e positivistische E<strong>in</strong>stellung im Verbund mit <strong>der</strong> kapitalistischen Produktionsweise<br />

führt zu e<strong>in</strong>er Unterwerfung <strong>der</strong> Natur des und durch den Menschen. Die Domestizierung<br />

hat also doppelten Charakter:<br />

+Jedes Subjekt hat nicht nur an <strong>der</strong> Unterjochung <strong>der</strong> äußeren Natur teilzunehmen, son<strong>der</strong>n muß,<br />

um das zu leisten, die Natur <strong>in</strong> sich selbst unterjochen. Herrschaft wird um <strong>der</strong> Herrschaft willen<br />

›ver<strong>in</strong>nerlicht‹.* (Ebd.; S. 94)<br />

Die Emanzipation von <strong>der</strong> Naturgewalt durch Technik hat damit auch e<strong>in</strong>en doppelten Preis:<br />

Nicht nur müssen wir, je mehr Apparate zur Naturbeherrschung wir erf<strong>in</strong>den, auch um so<br />

mehr ihnen dienen – die zivilisatorische Kultur for<strong>der</strong>t darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong> hohes Maß an<br />

Triebverzichten. E<strong>in</strong>e begrenzte Entschädigung dafür erfolgt über den Konsum: +Quantitativ<br />

gesprochen, hat e<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>ner Industriearbeiter e<strong>in</strong>e viel reichere Auswahl von Konsumgütern<br />

als e<strong>in</strong> Adliger des Ancien régime* (ebd.; S. 97) – e<strong>in</strong> Aspekt, den Herbert Marcuse mit dem<br />

Begriff <strong>der</strong> +repressiven Entsublimierung* gefaßt hat, denn die Befriedigung <strong>der</strong> Konsumwünsche<br />

wird mit dem Zwang zur Anpassung an die <strong>in</strong>dustrielle Massenkultur bezahlt (vgl. Der e<strong>in</strong>dimen-<br />

sionale Mensch; S. 93ff.). Aufgrund dieses Zusammenhangs resümiert Horkheimer:<br />

+Die Formalisierung <strong>der</strong> Vernunft führt zu e<strong>in</strong>er paradoxen Situation […] Der totalitäre Versuch, die<br />

Natur zu unterwerfen, reduziert das Ich, das menschliche Subjekt, auf e<strong>in</strong> bloßes Instrument <strong>der</strong><br />

Unterdrückung […] Das philosophische Denken […], das die Versöhnung zu versuchen hätte, geht<br />

dazu über, den Antagonismus zu leugnen o<strong>der</strong> zu vergessen.* (Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft;<br />

S. 153)<br />

Der Zusammenhang zwischen Rationalisierung und Domestizierung ersche<strong>in</strong>t also für Horkheimer<br />

evident. Es ist dabei wichtig zu wissen, daß er sich bei se<strong>in</strong>er Argumentation eng an Freuds<br />

43<br />

kulturkritische Schriften anlehnt. Freud hatte unter dem E<strong>in</strong>druck des Ersten Weltkriegs se<strong>in</strong><br />

Augenmerk vermehrt auf die Konstitution <strong>der</strong> menschlichen Kultur gerichtet. In +Zeitgemäßes


XXXIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

über Krieg und Tod* (1915) entlarvt er die +Kulturheuchelei* <strong>der</strong> angeblich so zivilisierten<br />

Gesellschaft, die die Tatsache ignoriert, daß es je<strong>der</strong>zeit zu e<strong>in</strong>em +Rückfall <strong>in</strong> die Barbarei*<br />

kommen kann (vgl. S. 336). Denn +die primitiven, wilden und bösen Impulse <strong>der</strong> Menschheit<br />

[s<strong>in</strong>d] bei ke<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>zelnen verschwunden*, son<strong>der</strong>n bestehen fort, +wenngleich verdrängt,<br />

im Unbewußten* (Brief Freuds an Dr. van Eeden, zitiert nach Lohmann: Freud zur E<strong>in</strong>führung;<br />

S. 44). Diese destruktiven Impulse, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dialektischen Verhältnis zum Eros stehen,<br />

setzen <strong>der</strong> Kulturentwicklung Grenzen: 44<br />

+Während die Menschheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beherrschung <strong>der</strong> Natur ständige Fortschritte gemacht hat und noch<br />

größere erwarten darf, ist e<strong>in</strong> ähnlicher Fortschritt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regelung <strong>der</strong> menschlichen Angelegenheiten<br />

nicht sicher festzustellen.* (Die Zukunft e<strong>in</strong>er Illusion; S. 87)<br />

Die Gesellschaft ist nämlich darauf angewiesen, die destruktiven, antisozialen Tendenzen<br />

im Menschen unter Kontrolle zu halten. Deshalb muß +jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht<br />

aufbauen* (ebd.). So entsteht aber e<strong>in</strong>e latente +Kulturfe<strong>in</strong>dschaft*, e<strong>in</strong> +Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Kultur* (1930). Und je höher die Kultur entwickelt ist, je besser sie es schafft, die antisozialen<br />

Triebe zu kontrollieren, desto mehr steigt folglich dieses Unbehagen. Das bedeutet nicht<br />

unbed<strong>in</strong>gt, daß die Menschen sich von <strong>der</strong> Zivilisation abwenden. Vielmehr suchen sich die<br />

destruktiven Regungen Umwege zur Befriedigung: Dies kann, wie <strong>in</strong> +Zeitgemäßes über Krieg<br />

und Tod* erläutert, die Gestalt e<strong>in</strong>es Krieges annehmen, bei dem die kulturelle Tötungshemmung<br />

zeitweilig und auf die als Fe<strong>in</strong>d def<strong>in</strong>ierte Gruppe begrenzt außer Kraft gesetzt wird. Viel<br />

häufiger, sozusagen <strong>der</strong> kulturelle Normalfall, ist allerd<strong>in</strong>gs folgen<strong>der</strong> Mechanismus, <strong>der</strong> auch<br />

zu krankhaften Ersche<strong>in</strong>ungen wie Neurosen führen kann:<br />

+Die Aggression wird <strong>in</strong>trojiziert, ver<strong>in</strong>nerlicht, eigentlich aber dorth<strong>in</strong> zurückgeschickt, woher sie<br />

gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von e<strong>in</strong>em Anteil des Ichs übernommen,<br />

das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als ›Gewissen‹ gegen das Ich dieselbe strenge<br />

Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an an<strong>der</strong>en, fremden Individuen befriedigt hätte.<br />

[…] Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, <strong>in</strong>dem sie es schwächt,<br />

entwaffnet und durch e<strong>in</strong>e Instanz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Innern, wie durch e<strong>in</strong>e Besatzung <strong>in</strong> <strong>der</strong> eroberten Stadt,<br />

überwachen läßt.* (Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur; S. 111)<br />

Dieser Ansatz Freuds wurde so ausführlich dargestellt, weil auch die vielleicht bedeutendste<br />

soziologische bzw. sozialpsychologische Schrift, die die Domestizierung des Menschen durch


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXXV<br />

die von ihm selbst geschaffene Kultur thematisiert, <strong>in</strong> wesentlichen Elementen auf Freud aufbaut:<br />

Es handelt sich um Norbert Elias’ groß angelegte soziogenetische und psychogenetische Unter-<br />

suchung +Über den Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation* (1939). 45<br />

An vielen e<strong>in</strong>drücklichen Beispielen (vor allem <strong>in</strong> Band 1) schil<strong>der</strong>t Elias, wie es im Verlauf<br />

<strong>der</strong> (europäischen) Geschichte zu e<strong>in</strong>er immer weitreichen<strong>der</strong>en Zivilisierung <strong>der</strong> menschlichen<br />

Affekte kam (vgl. Band 2; 369ff.), wie die Scham- und Pe<strong>in</strong>lichkeitsgrenzen angehoben wurden<br />

(vgl. ebd.; S. 397ff.) und sich <strong>der</strong> +Fremdzwang* zum zivilisierten Umgang mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> immer<br />

mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en +Selbstzwang* verwandelte (vgl. ebd.; S. 312ff.), also ganz im S<strong>in</strong>ne Freuds<br />

e<strong>in</strong>e Internalisierung kultureller Ansprüche stattfand. Ausgelöst wurde diese Dynamik durch<br />

e<strong>in</strong>en ab dem späten Mittelalter e<strong>in</strong>setzenden Wandlungsprozeß: Bevölkerungswachstum,<br />

Aufschwung des Fernhandels und Geldwirtschaft (vgl. ebd.; Erster Teil) führten zu e<strong>in</strong>er Diffe-<br />

renzierung und Komplexitätssteigerung des gesellschaftlichen Lebens: Die +Interdependenzketten*<br />

wurden länger, und damit war auch e<strong>in</strong> höheres Maß an vorausschauen<strong>der</strong> Planung notwendig,<br />

was Elias als Zwang zur +Langsicht* bezeichnet (vgl. ebd.; S. 336ff.).<br />

Noch bedeuten<strong>der</strong> waren jedoch die damit e<strong>in</strong>hergehende Monopolisierung <strong>der</strong> staatlichen<br />

Gewalt und die Zentralisierung <strong>der</strong> Herrschaft: Die ritterlich-höfische Ordnung g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

höfisch-absolutistische Ordnung über, und die rauhen Sitten <strong>der</strong> Burgherren, die früher alle<strong>in</strong>e<br />

an ihre ritterliche Ehre (courtoisie) gebunden waren, mußten sich am zentralen Königshof<br />

den verfe<strong>in</strong>erten Standards <strong>der</strong> +civilité* anpassen. Diese immer elaborierter werdenden höfischen<br />

Verhaltensregeln, die als Mittel zur Dist<strong>in</strong>ktion gegenüber dem +geme<strong>in</strong>en* Volk dienten,<br />

wurden mit <strong>der</strong> Emanzipation des Bürgertums von diesem zum großen Teil übernommen<br />

– <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation verlief also von oben nach unten. 46<br />

Aber die Zivilisierung des Menschen hat (wie bei Freud) auch bei Elias ihren Preis: Sie besteht<br />

im problematischen Zwang zur Unterdrückung <strong>der</strong> Affekte, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Spannung erzeugt, die<br />

sich nicht nur <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuellen Neurosen, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> gesellschaftlichen Kämpfen entladen<br />

kann (vgl. ebd.; S. 447ff.). Doch Elias ist weit weniger pessimistisch als Freud und stellt e<strong>in</strong>e<br />

Utopie ans Ende se<strong>in</strong>er Ausführungen: nämlich, daß es e<strong>in</strong>es Tages möglich se<strong>in</strong> wird, +daß<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne Mensch jenes optimale Gleichgewicht se<strong>in</strong>er Seele f<strong>in</strong>det, das wir so oft mit<br />

großen Worten, wie ›Glück‹ und ›Freiheit‹ beschwören: […] den E<strong>in</strong>klang zwischen […] den<br />

gesamten Anfor<strong>der</strong>ungen se<strong>in</strong>er sozialen Existenz auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite und se<strong>in</strong>en persönlichen<br />

Neigungen und Bedürfnissen auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en* (ebd.; S. 454).


XXXVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Ähnlich wie Elias verfolgt auch Michel Foucault, <strong>der</strong> als +<strong>Post</strong>strukturalist* oft auch als (Vor)-<br />

Denker <strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* herhalten muß, e<strong>in</strong>en sozialhistorischen Ansatz bei se<strong>in</strong>er Analyse<br />

47<br />

<strong>der</strong> gesellschaftlichen Verhältnisse. Er betont, daß im Zuge des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses<br />

auf <strong>der</strong> Grundlage des rationalistischen Ordnungsdenkens alles An<strong>der</strong>sartige aus dem Bereich<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit verbannt wurde. Auf <strong>der</strong> Ausstellungsfläche des öffentlichen Raumes sollte<br />

nur mehr die Normalität <strong>der</strong> Gesellschaft zur Schau gestellt werden. So kam es zu dem, was<br />

Foucault <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Wahns<strong>in</strong>n und Gesellschaft* (1961) die große Gefangenschaft nennt:<br />

Die Kranken und die Irren, die Verbrecher und die sog. +Arbeitsscheuen* wurden <strong>in</strong> Spitälern<br />

und Irrenanstalten, <strong>in</strong> Gefängnissen und Arbeitshäusern verwahrt (vgl. S. 68–98). Allerd<strong>in</strong>gs<br />

geschah die Internierung des An<strong>der</strong>sartigen auch im +humanitären* Bemühen um e<strong>in</strong>e Re<strong>in</strong>te-<br />

gration <strong>in</strong> die Gesellschaft, was Foucault jedoch ganz zu Recht als Ausfluß von Machtdenken<br />

48<br />

+denunziert*. Denn es handelt sich hier um den Versuch, den Bereich <strong>der</strong> sozialen Kontrolle<br />

selbst auf den Wahn und das Verbrechen auszudehnen.<br />

In e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Werk schil<strong>der</strong>t Foucault diesen Prozeß am Beispiel des Umgangs mit Del<strong>in</strong>-<br />

quenten. Dom<strong>in</strong>ierten früher grausame körperliche Strafen, die öffentlich vollzogen wurden,<br />

so entwickelte sich im Zuge <strong>der</strong> Aufklärung die Vorstellung, mit <strong>der</strong> Strafe den Menschen<br />

49<br />

zu +bessern*. Diszipl<strong>in</strong>ierung war aber auch hier das Ziel, und es wurde erreicht, <strong>in</strong>dem<br />

die +Verbrecher* sich die Sichtweise <strong>der</strong> Gesellschaft zu eigen machen sollten. Benthams<br />

Idee e<strong>in</strong>es Panoptikums – e<strong>in</strong>es r<strong>in</strong>gförmigen Gebäudes, das <strong>in</strong> Zellen unterteilt ist, die von<br />

<strong>der</strong> Mitte aus frei e<strong>in</strong>sehbar s<strong>in</strong>d – spiegelt diesen Gedanken:<br />

+Das Pr<strong>in</strong>zip des Kerkers wird [damit] umgekehrt […] Das volle Licht und <strong>der</strong> Blick des Aufsehers<br />

erfassen besser als das Dunkel, das auch schützte. Die Sichtbarkeit ist e<strong>in</strong>e Falle […] Derjenige, welcher<br />

<strong>der</strong> Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel <strong>der</strong> Macht und spielt<br />

sie gegen sich selber aus; er <strong>in</strong>ternalisiert das Machtverhältnis [zwischen Beobachter und Beobachtetem],<br />

<strong>in</strong> welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt.* (Überwachen und Strafen; S. 257)<br />

Foucault hat hier an dem von ihm gewählten Beispiel e<strong>in</strong>en zentralen Punkt herausgearbeitet:<br />

Die gesellschaftlichen Verhältnisse s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – ganz gemäß ihrem Selbstverständnis<br />

als aufgeklärte Gesellschaft, die den Idealen <strong>der</strong> +Freiheit, Gleichheit und Brü<strong>der</strong>lichkeit*<br />

verpflichtet ist – nicht mehr offen unterdrückerisch gestaltet. Das latent immer noch wirksame,<br />

ja <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne geradezu immanente Bestreben nach alles umfassen<strong>der</strong> Kontrolle mußte,<br />

um ke<strong>in</strong>e Wi<strong>der</strong>stände auszulösen, auf subtilere Weise als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit umgesetzt


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXXVII<br />

werden. Die Herrschaft über die Individuen wurde folglich dadurch perfektioniert, daß sie<br />

sich e<strong>in</strong>en fortschrittlichen Anstrich gab, <strong>in</strong> den Bereich des Unsichtbaren wan<strong>der</strong>te und sich<br />

nach <strong>in</strong>nen wendete. Auch die Institutionen des mo<strong>der</strong>nen Rechts- und Sozialstaats geraten<br />

für Foucault deshalb unter +Verdacht*, und selbst im aufklärerischen Humanitätsgedanken<br />

+ist das Donnerrollen <strong>der</strong> Schlachten nicht zu überhören* (ebd.; S. 396).<br />

Im Vergleich zu dieser im Innern des Menschen wirkenden Domestizierung ersche<strong>in</strong>t die<br />

Unterwerfung <strong>der</strong> äußeren Natur, so elaboriert diese auf technischer Ebene heute auch se<strong>in</strong><br />

mag, eher +primitiv*. Und angesichts des bereits im Alten Testament offen formulierten Anspruchs<br />

+[…] erfüllet die Erde und macht sie euch untertan!* (Genesis, Kap. 1, Vers 28) mag man<br />

noch nicht e<strong>in</strong>mal von e<strong>in</strong>er Ideologie sprechen; denn hier wird nichts verschleiert und nichts<br />

beschönigt. An<strong>der</strong>erseits ist <strong>der</strong> erhobene Anspruch umfassend, und er f<strong>in</strong>det sich auch <strong>in</strong><br />

neuzeitlichen philosophischen Konzepten wie<strong>der</strong>, die aus dem und zum Zweck <strong>der</strong> Natur-<br />

beherrschung Richtigkeit für sich beanspruchen. Dies beg<strong>in</strong>nt bereits bei Rationalismus und<br />

Empirismus und führt schließlich weiter zu Utilitarismus und Pragmatismus, die den Wert<br />

<strong>der</strong> Philosophie alle<strong>in</strong>e nach ihrem Nutzen und ihrer Anwendbarkeit beurteilen – worauf<br />

schließlich auch Horkheimer und Adorno nachdrücklich h<strong>in</strong>gewiesen haben. 50<br />

Auf dieser Grundlage e<strong>in</strong>er nahezu ungebrochenen Tradition des menschlichen Herrschafts-<br />

anspruch über die Natur, konnte sich e<strong>in</strong>e Ideologie <strong>der</strong> Technokratie entwickeln, die die<br />

Menschen <strong>der</strong> Diktatur des technischen Sachzwangs unterordnet. Dabei gründete man auch<br />

auf die anthropologischen Lehren Plessners und Gehlens. Helmuth Plessner beantwortet +Die<br />

Frage nach <strong>der</strong> Conditio humana* (1961) mit <strong>der</strong> Notwendigkeit zur Weltoffenheit. Der Mensch<br />

bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er exzentrischen Position, d.h. er ist <strong>in</strong> die Mitte e<strong>in</strong>er Kultur h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gestellt,<br />

die alle<strong>in</strong>e se<strong>in</strong> Überleben sichern kann und aus <strong>der</strong> heraus er sich <strong>der</strong> Welt zu stellen hat. 51<br />

Zynisch bemerkt er gegen die romantische Vorstellung vom +guten Wilden*, <strong>der</strong> zum Vorsche<strong>in</strong><br />

käme, wenn man nur die Zäune <strong>der</strong> Zivilisation entfernte:<br />

+Das von Natur aus harmloseste, schutzloseste aller Tiere, <strong>der</strong> Invalide se<strong>in</strong>er höheren Kräfte, macht<br />

sich, ihnen vertrauend, zum Haustier und bewirkt damit ungewollt se<strong>in</strong>e Verwandlung zu e<strong>in</strong>er<br />

sekundären Wildform, zum Raubtier, zur blonden Bestie – im Stall.* (S. 59)<br />

Denn wie Arnold Gehlen betont, ist das organische +Mängelwesen* Mensch auf die Stützen<br />

<strong>der</strong> +zweiten Natur* <strong>in</strong> Form <strong>der</strong> kulturellen Institutionen sowie <strong>der</strong> Technik angewiesen.


XXXVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

+Die Welt <strong>der</strong> Technik […] ist sozusagen <strong>der</strong> ›große Mensch‹* (Gehlen: Die Seele im technischen<br />

Zeitalter; S. 9). Im technischen Staat, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> +Magie <strong>der</strong> Technik* fußt (vgl. ebd.; S. 13ff.),<br />

verwirklicht sich deshalb das menschliche Bedürfnis nach (politischer) Stabilität bei e<strong>in</strong>em<br />

gleichzeitigen (technisch-praktischen) Fortschritt (vgl. ebd.; S. 33). Es ist Helmuth Schelsky,<br />

<strong>der</strong> diese von Gehlen vorgezeichnete L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> Argumentation politisch weiterdenkt:<br />

+Wir behaupten nun, daß durch die Konstruktion <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischen Zivilisation e<strong>in</strong><br />

neues Grundverhältnis von Mensch zu Mensch geschaffen wird, <strong>in</strong> welchem das Herrschaftsverhältnis<br />

se<strong>in</strong>e alte persönliche Beziehung <strong>der</strong> Macht von Personen über Personen verliert, an die Stelle <strong>der</strong><br />

politischen Normen und Gesetze aber Sachgesetzlichkeiten <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischen Zivilisation<br />

treten […]* (Der Mensch <strong>in</strong> <strong>der</strong> wissenschaftlichen Zivilisation; S. 453)<br />

52<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist sich Schelsky (wie übrigens auch Gehlen) durchaus bewußt, daß die Technisierung<br />

e<strong>in</strong>e ambivalente Entwicklung hervorgerufen hat: +Der Mensch löst sich vom Naturzwang<br />

ab, um sich se<strong>in</strong>em eigenen Produktionszwang zu unterwerfen* (ebd.; S. 449). Nur sieht<br />

Schelsky überwiegend die positiven Aspekte dieser Selbstunterwerfung: +Aber die Phrase,<br />

daß damit die Technik uns beherrscht, ist doch falsch; die ›Technik‹ ist ja ke<strong>in</strong> <strong>in</strong> sich ruhendes,<br />

dem Menschen gegenüberstehendes absolutes Se<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n sie ist <strong>der</strong> Mensch als Wissenschaft<br />

und als Arbeit selbst* (ebd.; S. 450).<br />

So kritisch man gerade die letzte Äußerung betrachten sollte – <strong>in</strong> diesen Sätzen Schelskys<br />

ist das grundlegende Paradox <strong>der</strong> Domestizierung vorformuliert, nämlich daß mit <strong>der</strong> Eman-<br />

zipation von den Naturgewalten gleichzeitig neue Abhängigkeiten sowie technikerzeugte Risiken<br />

entstanden s<strong>in</strong>d (vgl. auch van <strong>der</strong> Loo/van Reijen: Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 234f.). Darüber h<strong>in</strong>aus<br />

ist die Entwicklung <strong>der</strong> Kultur – worauf <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Freud h<strong>in</strong>gewiesen hat – mit e<strong>in</strong>er vielfach<br />

problematischen Internalisierung von sozialen Zwängen e<strong>in</strong>her gegangen, was sich auch <strong>in</strong><br />

sozialen Krisenersche<strong>in</strong>ungen manifestieren kann.<br />

Hiermit s<strong>in</strong>d nun die vier wesentlichen Teilprozesse <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung, <strong>in</strong> all ihrer Wi<strong>der</strong>-<br />

sprüchlichkeit, kurz beleuchtet worden. Dabei ist hoffentlich klar geworden, daß diese unter-<br />

e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> enger Wechselwirkung stehen und nur auf analytischer Ebene vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu<br />

trennen s<strong>in</strong>d.


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XXXIX<br />

WEITERGEHENDE MODERNISIERUNG, POSTMODERNE, POSTHISTOIRE, POSTINDU-<br />

STRIELLE GESELLSCHAFT ODER SPÄTKAPITALISMUS?<br />

Kann e<strong>in</strong> so komplexer Prozeß, wie <strong>der</strong> auch hier zwangsläufig vere<strong>in</strong>fachend und reduziert<br />

dargestellte Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß, sich e<strong>in</strong>fach totlaufen, umschlagen und damit zur +<strong>Post</strong>-<br />

mo<strong>der</strong>nisierung* <strong>der</strong> Gesellschaft führen – was immer das heißen soll? Denn <strong>der</strong> Begriff<br />

+<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* behauptet doch nichts an<strong>der</strong>es, als daß die Mo<strong>der</strong>ne zum Ende gelangt ist.<br />

Und mit dem Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne müßte folglich auch die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

zum erliegen gekommen se<strong>in</strong> – o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e grundsätzlich neue Qualität und<br />

Richtung angenommen haben. Differenzierung und Individualisierung, Rationalisierung und<br />

Domestizierung sche<strong>in</strong>en jedoch, wenn wir e<strong>in</strong>en Blick auf unsere (post?)mo<strong>der</strong>ne Welt werfen,<br />

nur durch ihre eigene Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit gehemmt fortzulaufen, und beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> den<br />

aufstrebenden Schwellenlän<strong>der</strong>n sowie <strong>in</strong> den Län<strong>der</strong>n des ehemaligen Ostblocks ist Mo-<br />

<strong>der</strong>nisierung im traditionellen S<strong>in</strong>n, d.h. als +nachholende Entwicklung* (Senghaas) gemäß<br />

dem Modell <strong>der</strong> westlichen Industriegesellschaften, das dom<strong>in</strong>ante Ziel <strong>der</strong> (Wirtschafts-)<strong>Politik</strong>.<br />

Ulrich Beck spricht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang sogar von e<strong>in</strong>em +Jungbrunnen e<strong>in</strong>facher Mo<strong>der</strong>ni-<br />

sierung* (vgl. Der Konflikt <strong>der</strong> zwei Mo<strong>der</strong>nen; S. 51).<br />

Aber selbst dort, wo das bisherige Modell <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise steckt, wie <strong>in</strong> den zunehmend mit<br />

den Wi<strong>der</strong>sprüchen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung konfrontierten Gesellschaften <strong>der</strong> +fortgeschrittenen*<br />

Industrienationen, ist das klassische Programm ke<strong>in</strong>esfalls ad acta gelegt. So prognostiziert<br />

etwa Wolfgang Zapf e<strong>in</strong>en erneuten Mo<strong>der</strong>nisierungsschub nach <strong>der</strong> aktuellen Phase <strong>der</strong><br />

Stagnation, die nur e<strong>in</strong>er Umstellungs- nicht aber e<strong>in</strong>er Systemkrise geschuldet sei. Denn<br />

er sieht Mo<strong>der</strong>nisierung als evolutionären Prozeß an und geht deshalb von e<strong>in</strong>er weitergehenden<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung bei genereller Richtungskonstanz aus (vgl. Entwicklung und Zukunft mo<strong>der</strong>ner<br />

Gesellschaften seit den 70er Jahren; S. 207 und siehe auch S. XIX). 53<br />

E<strong>in</strong> ähnlicher Fortschrittsoptimismus kommt zum Tragen, wenn Jürgen Habermas vom +unvoll-<br />

54<br />

endeten Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* spricht. Allerd<strong>in</strong>gs geht Habermas als +Ziehsohn* <strong>der</strong> +kritischen<br />

Theoretiker* Horkheimer und Adorno natürlich nicht vom durchaus konservativen Modell<br />

<strong>der</strong> (sozial)marktwirtschaftlich organisierten Konkurrenzdemokratie aus, wie Zapf dies tut. 55<br />

Habermas vertraut anstelle <strong>der</strong> e<strong>in</strong>enden Kraft des Massenkonsums im Wohlfahrtsstaat auf<br />

die Durchsetzungsfähigkeit e<strong>in</strong>er lebensweltlich verankerten (kommunikativen) Rationalität.<br />

Zwar negiert er nicht die Probleme angesichts des +überholten kulturellen Selbstverständnisses


XL POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* (Der philosophische Diskurs <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 12), doch gibt es für ihn ke<strong>in</strong>e<br />

Alternative zum Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Vernunft. Nur auf ihrer Basis kann sich e<strong>in</strong> fruchtbarer Diskurs<br />

entsp<strong>in</strong>nen, <strong>der</strong> mittels <strong>der</strong> wechselseitigen Akzeptanz <strong>der</strong> Geltungsansprüche zu <strong>in</strong>tersubjektiver<br />

Verständigung führt (vgl. ebd.; Kap. XI). 56<br />

Habermas zieht daraus die Konsequenz und bezeichnet das postmo<strong>der</strong>ne Denken, das (wie<br />

noch zu zeigen se<strong>in</strong> wird) den Anspruch auf e<strong>in</strong>e übergeordnete und übergreifende Vernunft<br />

weitgehend aufgegeben hat, als neokonservativ (vgl. Die Mo<strong>der</strong>ne – E<strong>in</strong> unvollendetes Projekt;<br />

S. 32 und siehe hier S. LXX). Niklas Luhmann geht so weit nicht und bekennt:<br />

+Die Proklamation <strong>der</strong> ›<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne‹ hatte m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Verdienst. Sie hat bekannt gemacht, daß<br />

die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft das Vertrauen <strong>in</strong> die Richtigkeit ihrer eigenen Selbstbeschreibungen verloren<br />

hat […] Auch sie s<strong>in</strong>d kont<strong>in</strong>gent geworden.* (Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 7)<br />

Komplexität und Kont<strong>in</strong>genz gelten Luhmann schließlich gerade <strong>in</strong> letzter Zeit immer mehr<br />

als wesentliche Charakteristika mo<strong>der</strong>ner Sozialsysteme (siehe auch S. XXV), die als +offene<br />

57<br />

Gesellschaften* (Popper) für die Individuen zahllose Handlungsalternativen be<strong>in</strong>halten. Noch<br />

mehr gilt die Kont<strong>in</strong>genzfeststellung jedoch für die beobachtende Beschreibung von Gesellschaft. 58<br />

Da <strong>der</strong> Diskurs über die Mo<strong>der</strong>ne weitgehend auf semantischer Ebene geführt wird, kulturellen<br />

Merkmalen e<strong>in</strong>e immer größere Bedeutung zukommt, konnte man entsprechend +leichtfüßig<br />

[…] die Beschreibung von mo<strong>der</strong>n auf postmo<strong>der</strong>n* umstellen (ebd.; S. 13). 59<br />

Weniger +leichtfüßig*, so lautet <strong>der</strong> Umkehrschluß, gelänge dies, wenn man strukturelle Merkmale<br />

heranziehen würde. Ausgerechnet o<strong>der</strong> vielmehr gerade mit Bezug auf Marx versucht deshalb<br />

Luhmann, e<strong>in</strong>en Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Strukturwandel und <strong>der</strong> Ver-<br />

schiebung <strong>der</strong> sozialen Semantik herzustellen. Er übernimmt dazu von Marx das (von diesem<br />

wie<strong>der</strong>um bei Hegel entliehene) Argument <strong>der</strong> Entfremdung. Entfremdung, die für Luhmann<br />

analog zu Marx durch Technisierung (mit) ausgelöst wird, wertet er – <strong>in</strong> impliziter Anlehnung<br />

an Gehlen (siehe Anmerkung 60) – jedoch an sich positiv. Sie zw<strong>in</strong>gt nämlich zu Selbstreflexion<br />

und führt so zu Emanzipation, die damit +unvermeidlicher Nebeneffekt dieser Technisierung*<br />

ist (ebd.; S. 21). Die Selbstreflexion – d.h. <strong>in</strong> marxistischer Term<strong>in</strong>ologie ausgedrückt: die<br />

Erlangung des Bewußtse<strong>in</strong>s für die eigene Klassenlage – führt gemäß Luhmann aber natürlich<br />

60<br />

nicht zur proletarischen Erhebung. Vielmehr erlaubt sie es schlicht, +das eigene Beobachten<br />

zu beobachten* (ebd.; S. 22) und versetzt damit <strong>in</strong> die Lage, zur Lösung <strong>der</strong> technikerzeugten


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XLI<br />

Probleme wie<strong>der</strong>um Technik (als <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sichtweise e<strong>in</strong>zig erfolgversprechendes Mittel)<br />

e<strong>in</strong>zusetzen.<br />

Dieser +technokratische* Aspekt <strong>in</strong> Luhmanns Denken, <strong>der</strong> ansonsten mit se<strong>in</strong>en Kategorien<br />

+Komplexität*, +Kont<strong>in</strong>genz*, +Selbstreferenzialität* und +Autopoiesis* durchaus Bezüge zum<br />

61<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus aufweist (siehe S. XLVIIff.), entspr<strong>in</strong>gt dem Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen,<br />

<strong>der</strong> halbierten Mo<strong>der</strong>ne, wie Beck sie nennt (vgl. z.B. Risikogesellschaft; S. 118). Ihr Horizont<br />

ist die an l<strong>in</strong>earem Fortschritt orientierte und im Glauben an die Macht <strong>der</strong> Technik verhaftete<br />

<strong>in</strong>dustrielle (Schichtungs-)Gesellschaft, <strong>der</strong>en Bild noch immer die soziologische Begrifflichkeit<br />

weitgehend bestimmt, die aber genau genommen bereits aufgehört hat zu existieren – wenn<br />

62<br />

sie denn jemals so existiert hat, wie die Soziologen sie gedacht haben. Wie auch immer:<br />

Jene heute sozial überholte Soziologie <strong>der</strong> +klassischen* Industriegesellschaft war wesentlich<br />

orientiert an Modellen wie standardisierter Erwerbsarbeit, <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>familie mit ihrer geschlechts-<br />

spezifischen Rollenteilung und dem national verfaßten (Wohlfahrts-)Staat etc., und nach Beck<br />

lassen sich folglich drei Grundannahmen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>nisierungssoziologie benennen:<br />

• Da die Industriegesellschaft als Großgruppengesellschaft aufgefaßt wurde, g<strong>in</strong>g man davon<br />

aus, daß +Lebenslagen und Lebensverläufe […] <strong>in</strong> Klassen [bzw. Schichten] sozial organisiert<br />

und soziologisch abbildbar* s<strong>in</strong>d (Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; S. 72).<br />

• Ferner war man von e<strong>in</strong>em relativ ungetrübten Fortschritts- und Vernunftglauben beseelt.<br />

Dieser Fortschritt, +die Auflösung <strong>der</strong> traditionalen Ordnung […] vollzieht sich als e<strong>in</strong> revo-<br />

lutionärer Prozeß, und zwar entwe<strong>der</strong> offen und explosiv (wie die Französische Revolution)<br />

o<strong>der</strong> dauerhaft und eruptiv (wie die Industrielle Revolution)* (ebd.; S. 73). 63<br />

• Mit dem solchermaßen als unaufhaltsam gesehenen Fortschritt geht die Ausdifferenzierung<br />

von Subsystemen e<strong>in</strong>her, die von ihrer +Eigengesetzlichkeit dom<strong>in</strong>iert [s<strong>in</strong>d]. Das heißt:<br />

Das Bewegungsgesetz <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne ist e<strong>in</strong> zwar vielgestaltiger, aber l<strong>in</strong>ear und<br />

e<strong>in</strong>dimensional gedachter Rationalisierungsprozeß im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Steigerung und Entfaltung<br />

systemspezifischer Zweckrationalität.* (Ebd.; S. 74)<br />

Heute s<strong>in</strong>d diese Grundannahmen, wie oben schon angedeutet, fragwürdig geworden. Die<br />

zunehmende Individualisierung löst die Klassen- und Schichtzusammenhänge auf. Angesichts<br />

<strong>der</strong> Nebenfolgen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Produktion, die globale Risiken erzeugt, ist <strong>der</strong> vernunftgläubige<br />

Fortschrittsoptimismus drastisch gesunken, und Krisenszenarien beherrschen die Zukunfts-


XLII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

projektionen am +Ende des Jahrtausends*. Die fortschreitende Differenzierung schließlich<br />

macht die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er Koord<strong>in</strong>ierung und Vernetzung deutlich, und gerade die +weiter-<br />

gehende Mo<strong>der</strong>nisierung hebt die Grundlagen <strong>in</strong>dustriegesellschaftlicher Mo<strong>der</strong>nisierung auf*<br />

64<br />

(ebd.; S. 80). Deshalb plädiert Beck für e<strong>in</strong>e reflexive Mo<strong>der</strong>nisierungstheorie, die <strong>der</strong> vielfach<br />

wi<strong>der</strong>sprüchlich gewordenen Situation Rechnung trägt. Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung me<strong>in</strong>t dabei<br />

vor allem die Tatsache <strong>der</strong> +Selbstkonfrontation [<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne] mit [ihren] risikogesellschaftlichen<br />

Folgen* (ebd.; S. 37) und nicht alle<strong>in</strong>e +Wissenssteigerung und Verwissenschaftlichung im<br />

S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Selbstreflexion von Mo<strong>der</strong>nisierung* (ebd.; S. 36) – das Adjektiv +reflexiv* bezieht<br />

sich also primär auf die +Reflexivität*, die Rückbezüglichkeit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungsfolgen, womit<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung auch e<strong>in</strong>e neue Qualität annimmt. Dieser gegenwärtig stattf<strong>in</strong>dende Umbruch<br />

äußert sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em +Konflikt <strong>der</strong> zwei Mo<strong>der</strong>nen* – wie Beck se<strong>in</strong> Referat auf dem Sozio-<br />

logentag 1990 bezeichnen<strong>der</strong>weise überschreiben hat.<br />

Die hier beabsichtigte Beschäftigung mit +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* setzt bei diesem Verständ-<br />

nis von Mo<strong>der</strong>nisierung an (wird es jedoch um e<strong>in</strong>e dialektische Perspektive erweitern, die<br />

65<br />

auch die +Deflexionspotentiale* des Systems berücksichtigt). Es gilt zu klären, unter welchen<br />

verän<strong>der</strong>ten Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>Politik</strong> heute <strong>in</strong> den +fortgeschrittenen*, also das Stadium<br />

<strong>der</strong> (traditionellen) Industriegesellschaft überw<strong>in</strong>denden Staaten stattf<strong>in</strong>det und welche Dilemmata<br />

66<br />

aus dem vielfach problematischen Prozeß <strong>der</strong> Anpassung erwachsen. Deshalb möchte ich<br />

vorwegnehmen: (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne, wie ich sie <strong>in</strong> Anlehnung an Beck verstehe, bedeutet e<strong>in</strong>e<br />

reflexive, radikalisierte und deshalb wi<strong>der</strong>sprüchlich gewordene Mo<strong>der</strong>ne.<br />

Diese ambivalente Sicht ergibt sich bereits aus <strong>der</strong> konsequenten Rezeption vieler jener<br />

soziologischer +Klassiker*, die im vorangegangenen Abschnitt dargestellt wurden: Schon Durkheim<br />

und Simmel hatten Mo<strong>der</strong>nisierung schließlich als ambivalenten Differenzierungs- und Indivi-<br />

dualisierungsprozeß dargestellt, <strong>der</strong> also durch se<strong>in</strong>e Weiterführung logischerweise auch an<br />

Ambivalenz zunehmen muß. Und auch Max Weber sah klar die Schattenseite <strong>der</strong> Ratio-<br />

nalisierung, die parallel zu dem durch sie bewirkten Fortschritt e<strong>in</strong> +stahlhartes Gehäuse <strong>der</strong><br />

Hörigkeit* entstehen hat lassen. So gesehen liegt Becks Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

sogar <strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>uität zu den klassischen (nicht den +e<strong>in</strong>fachen* als schlicht vere<strong>in</strong>fachenden)<br />

Mo<strong>der</strong>nisierungstheorien. Viele Theoretiker <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne konzentrieren sich h<strong>in</strong>gegen,<br />

wie Beck herausstellt, <strong>in</strong> gleicher Weise vere<strong>in</strong>fachend wie die kurzsichtigen Apologeten des<br />

<strong>in</strong>dustriellen Fortschritts, auf die negativen Folgen von Mo<strong>der</strong>nisierung. Sie übersehen dabei


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XLIII<br />

jedoch die noch ungenutzten positiven Potentiale, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en, e<strong>in</strong>er sich selbst über-<br />

holenden bzw. reflektierenden Mo<strong>der</strong>ne durchaus schlummern könnten:<br />

+Weil Mo<strong>der</strong>ne und <strong>in</strong>dustriegesellschaftliche Mo<strong>der</strong>ne als unauflöslich gelten, spr<strong>in</strong>gt man, wenn<br />

die historische Falschheit dieses Modells zu dämmern beg<strong>in</strong>nt, von <strong>der</strong> kapitalistisch-demokratischen<br />

Industriemo<strong>der</strong>ne nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne.* (Die Erf<strong>in</strong>dung des<br />

Politischen; S. 71)<br />

Dies ist e<strong>in</strong>e These, die es allerd<strong>in</strong>gs erst noch zu belegen gilt und die sich am Ende, d.h.<br />

nach <strong>der</strong> Beschäftigung mit postmo<strong>der</strong>nen Ansätzen, vielleicht auch als falsch o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest<br />

nur e<strong>in</strong>geschränkt richtig herausstellen könnte. Jedoch: +Am Anfang war das Wort* – e<strong>in</strong> treffen-<br />

<strong>der</strong>es E<strong>in</strong>gangs-Zitat läßt sich für e<strong>in</strong>e +Genealogie <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* kaum f<strong>in</strong>den. Michael<br />

Köhler und Wolfgang Welsch haben hier bereits gute Arbeit geleistet, und so möchte ich<br />

67<br />

mich diesbezüglich an ihre Ausführungen anlehnen: Erstmals läßt sich <strong>der</strong> Begriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*<br />

um 1870 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schrift des englischen Salonmalers John Watk<strong>in</strong>s Chapman nachweisen.<br />

Dieser verwendete den Ausdruck, um sich von <strong>der</strong> damals modisch-mo<strong>der</strong>nen Malerei des<br />

Impressionismus abzusetzen – was jedoch weitgehend folgenlos blieb (vgl. Welsch: Unsere<br />

postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 12). Fast e<strong>in</strong> halbes Jahrhun<strong>der</strong>t später, nämlich 1917, tauchte<br />

die heute so geläufige Vokabel schließlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schrift von Rudolf Pannwitz auf, <strong>der</strong> den<br />

postmo<strong>der</strong>nen Menschen als e<strong>in</strong>en +sportlich gestählte[n] nationalistisch bewußte[n]* Über-<br />

menschen konzipierte und sich dabei eng an Nietzsches Diktion und Gedankengut anlehnte<br />

68<br />

(vgl. ebd. sowie Pannwitz: Die Krisis <strong>der</strong> europäischen Kultur; S. 52). 1934 führte Fe<strong>der</strong>ico<br />

de Oníz dann die Bezeichnung +postmo<strong>der</strong>nismo* <strong>in</strong> die spanische Literaturwissenschaft e<strong>in</strong>,<br />

um so die Literatur <strong>der</strong> Jahre 1905 bis 1914 von +mo<strong>der</strong>nismo* (1896–1905) und +ultramo<strong>der</strong>-<br />

nismo* (1914–1932) abzugrenzen (vgl. Köhler: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus; S. 10). 1942 schließlich<br />

charakterisierte <strong>der</strong> Romanist Dudley Fitts e<strong>in</strong> Sonett des südamerikanischen Lyrikers Mart<strong>in</strong>ez<br />

als +manifesto of post-Mo<strong>der</strong>nism* (zitiert nach ebd.). E<strong>in</strong>en historisch-politischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-<br />

Begriff gebrauchte dann erstmals Arnold Toynbee im Jahr 1947 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk +A Study<br />

69<br />

of History*, wo er die Epoche <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne (bzw. <strong>der</strong> +Nach-Neuzeit*) 1875 beg<strong>in</strong>nen<br />

läßt (vgl. Der Gang <strong>der</strong> Weltgeschichte; Band 1, S. 81). Deren negative Signaturen erblickt<br />

er u.a. dar<strong>in</strong>, daß die Idee <strong>der</strong> Demokratie sich mit dem Nationalismus verbunden hat +und<br />

[daß] <strong>der</strong> durch Industrialismus und Technik gegebene Antrieb die [nationalstaatlichen] Kombat-


XLIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

tanten mit Waffen von wachsen<strong>der</strong> Zerstörungskraft versorgt* (vgl. ebd.; Band 2, S. 396).<br />

Allerd<strong>in</strong>gs erkennt Toynbee die Demokratisierung und Ausweitung <strong>der</strong> Bildung als positives<br />

Element <strong>der</strong> +<strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>ne* durchaus an (vgl. ebd.; S. 397f.). 70<br />

Der Begriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* tauchte also bis Mitte des Jahrhun<strong>der</strong>ts nur eher sporadisch auf,<br />

fand kaum Resonanz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er breiteren wissenschaftlichen Diskussion (obwohl Oníz sowie<br />

vor allem Toynbee natürlich rezipiert wurden) und fand schon gar ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> den<br />

allgeme<strong>in</strong>en Sprachgebrauch. Das lag wohl daran, daß <strong>der</strong> gesellschaftliche Horizont bis dah<strong>in</strong><br />

noch stark von Mo<strong>der</strong>nitätsvorstellungen geprägt war und deshalb an e<strong>in</strong>e wie auch immer<br />

geartete +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* gar nicht zu denken war. E<strong>in</strong>e erste, größere Aufmerksamkeit erregende<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Debatte entspann sich dann jedoch Ende <strong>der</strong> 50er/Anfang <strong>der</strong> 60er Jahre unter<br />

amerikanischen Literaturwissenschaftlern. Irv<strong>in</strong>g Howe und Harry Lev<strong>in</strong> konstatierten e<strong>in</strong> Nach-<br />

lassen des <strong>in</strong>novativen Impulses <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwartsliteratur. Im Vergleich zu den bedeutenden<br />

Autoren <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (wie Proust, Eliot o<strong>der</strong> Joyce) sah man die als +post-mo<strong>der</strong>n* titulierte<br />

Literatur <strong>der</strong> damaligen Gegenwart als Ausdruck <strong>der</strong> Ausdruckslosigkeit <strong>der</strong> Massengesellschaft<br />

an (vgl. z.B. Howe: Mass Society and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Fiction). Ganz an<strong>der</strong>s <strong>in</strong>terpretierten dies<br />

h<strong>in</strong>gegen Leslie Fiedler (und an ihn anschließend auch Susan Sontag und Ihab Hassan): Während<br />

die tradierte Mo<strong>der</strong>ne durch ihre elitäre Ausrichtung im Elfenbe<strong>in</strong>turm <strong>der</strong> Kunst gefangen<br />

blieb, gelänge es +postmo<strong>der</strong>nen* Künstlern wie Norman Mailer o<strong>der</strong> Leonard Cohen, die<br />

Grenze zur Populär-Kultur zu überschreiten und den Graben zwischen Publikum und Kunst-<br />

produktion zu schließen (vgl. Cross the Bor<strong>der</strong> – Close the Gap). 71<br />

Von e<strong>in</strong>em ähnlichen Ans<strong>in</strong>nen waren auch Pop-Art-Künstler wie Jim D<strong>in</strong>e, <strong>der</strong> sich durch<br />

e<strong>in</strong> +leidenschaftliches Interesse für das Banale* und e<strong>in</strong>e +sentimentale Zuneigung für das<br />

Alltägliche* auszeichnete (Lucie-Smith: Die mo<strong>der</strong>ne Kunst; S. 194), sowie vor allem Andy<br />

72<br />

Warhol mit se<strong>in</strong>er +Factory* getragen. Aus dieser Kunstfabrik g<strong>in</strong>g z.B. die Musikgruppe<br />

+Velvet Un<strong>der</strong>ground* hervor, <strong>der</strong>en +Stars* Lou Reed und John Cale noch heute zwischen<br />

73<br />

den Kunstwelten vermitteln. Roy Lichtenste<strong>in</strong> schließlich, <strong>der</strong> sich am Comic Strip künstlerisch<br />

orientierte, wandte sich explizit gegen jede malerische Qualität und handelte nach dem Motto,<br />

+e<strong>in</strong> Bild zu schaffen, das abscheulich genug ist, um von jemandem an die Wand gehängt<br />

zu werden* (zitiert nach ebd.; S. 205). 74<br />

Auch die Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre vom italienischen Kunsthistoriker Achille Bonito Oliva<br />

proklamierte Trans-Avantgarde ist Ausdruck des anti-avantgardistischen postmo<strong>der</strong>nen Kunst-


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XLV<br />

verständnisses. Für Bonito Oliva ist Kunst allerd<strong>in</strong>gs per def<strong>in</strong>itionem +e<strong>in</strong>e asoziale Praxis,<br />

die an abgeson<strong>der</strong>ten Orten entsteht […] und die sich offensichtlich ke<strong>in</strong>e Rechenschaft darüber<br />

ablegt, unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen sie sich entwickelt, weil sie ke<strong>in</strong>e Anregungen braucht,<br />

außer den <strong>in</strong>neren Anregungen, die sie leiten* (Im Labyr<strong>in</strong>th <strong>der</strong> Kunst; S. 89). Somit ist das<br />

Ziel für die neue trans-avantgardistische Kunst die +Produktion von Diskont<strong>in</strong>uität* (vgl. ebd.;<br />

75<br />

S. 59), wobei +jedes Werk verschieden vom an<strong>der</strong>en* ist (ebd.; S. 63). Denn Trans-Avantgarde,<br />

+das bedeutet die Übernahme e<strong>in</strong>er nomadischen Position, die ke<strong>in</strong> endgültiges Engagement<br />

respektiert […]* (Die italienische Trans-Avantgarde; S. 126).<br />

Trotz solcher, ganz im oben beschriebenen S<strong>in</strong>n postmo<strong>der</strong>n anmuten<strong>der</strong> Konzepte, konnte<br />

sich <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Begriff <strong>in</strong> <strong>der</strong> bildenden Kunst nicht durchsetzen – zu sehr orientiert<br />

man sich dort noch immer an <strong>der</strong> +klassischen Mo<strong>der</strong>ne*. Umso mehr bestimmt er aber die<br />

Architektur-Diskussion <strong>der</strong> Gegenwart. Wie schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literaturdebatte, so wurde auch<br />

hier zunächst das Attribut +postmo<strong>der</strong>n* <strong>in</strong> diffamieren<strong>der</strong> Absicht gebraucht (vgl. Pevsner:<br />

Architecture <strong>in</strong> Our Time). Charles Jencks wendete Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre dann allerd<strong>in</strong>gs die<br />

76<br />

Negativ-Vokabel (ähnlich wie Fiedler für die Literatur) positiv: Er äußert nämlich die Über-<br />

zeugung, daß sich die so bezeichnete postmo<strong>der</strong>ne Architektur, an<strong>der</strong>s als die streng kompo-<br />

nierten klassisch mo<strong>der</strong>nen Bauten, nicht nur an e<strong>in</strong>ige wenige Architekturkenner wendet,<br />

son<strong>der</strong>n auch das breite Publikum anzusprechen vermag. Damit sei e<strong>in</strong>e +Doppelkodierung*<br />

<strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Architektur gegeben (vgl. Die Sprache <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Architektur; S.<br />

85). Als selbstbewußter +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ner* formuliert er:<br />

+Der Fehler <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Architektur war, daß sie sich an e<strong>in</strong>e Elite richtete. Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne versucht,<br />

den Anspruch des Elitären zu überw<strong>in</strong>den, nicht durch Aufgabe desselben, son<strong>der</strong>n durch Erweiterung<br />

<strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Architektur <strong>in</strong> verschiedene Richtungen […]* (Ebd.; S. 88)<br />

Deshalb plädiert Jencks auch für e<strong>in</strong>en +radikalen Eklektizismus* (vgl ebd.; S. 92ff.). He<strong>in</strong>rich<br />

Klotz sieht es im Pr<strong>in</strong>zip ähnlich, auch wenn ihm die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Vokabel eigentlich nicht<br />

behagt und er lieber <strong>in</strong> Anlehnung an Habermas von e<strong>in</strong>er +unvollendeten Mo<strong>der</strong>ne* sprechen<br />

würde (siehe S. XXXIX). Trotzdem übernimmt er die Bezeichnung +postmo<strong>der</strong>n*, die sich<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Debatte nun e<strong>in</strong>mal durchgesetzt hat. Und die als postmo<strong>der</strong>ne bezeichnete Architektur<br />

ist <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>nen* nach Klotz durchaus überlegen: Während letztere nämlich alle<strong>in</strong>e Funk-<br />

tion(alität) zu bieten hat, schafft erstere zusätzlich auch e<strong>in</strong>en Raum für Imag<strong>in</strong>ation, für das


XLVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Fiktive (vgl. Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 104f.). Weitere Merkmale <strong>der</strong> so verstandenen<br />

(architektonischen) <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne s<strong>in</strong>d:<br />

• Regionalismus anstelle des typisch mo<strong>der</strong>nen, alles vere<strong>in</strong>heitlichenden Internationalismus<br />

• Bedeutungsvielfalt anstelle von langweiliger, phantasieloser E<strong>in</strong>deutigkeit<br />

• Improvisation und Spontaneität anstelle von Planhaftigkeit und Perfektionismus<br />

• Stilvielfalt und (ironisierendes) Zitat anstelle von steriler Stilre<strong>in</strong>heit<br />

• Angepaßung an die Umgebung anstelle e<strong>in</strong>es rücksichtslosen Autonomiestrebens<br />

• Komplexität und Wi<strong>der</strong>spruch statt Simplifizierung sowie e<strong>in</strong>er Flucht <strong>in</strong>s Pittoreske 77<br />

E<strong>in</strong>ige dieser Merkmale <strong>der</strong> architektonischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne lassen sich auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wissenschafts-<br />

theorie von Paul Feyerabend nachweisen, <strong>der</strong> (ohne für sich die das Attribut +postmo<strong>der</strong>n*<br />

78<br />

<strong>in</strong> Anspruch zu nehmen) häufig dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus zugerechnet wird. Mitte <strong>der</strong> 70er<br />

Jahre plädiert er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Wi<strong>der</strong> den Methodenzwang* – angeregt durch se<strong>in</strong>en Freund<br />

79<br />

Imre Lakatos, wie er im Vorwort bekennt – für e<strong>in</strong>en +heiteren Anarchismus* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Forschung,<br />

den er für menschenfreundlicher und letzendlich auch erfolgversprechen<strong>der</strong> hielt als Gesetz-<br />

und Ordnungskonzeptionen: 80<br />

+[…] Anarchismus [ist] vielleicht nicht gerade die anziehendste politische Philosophie, aber gewiß e<strong>in</strong>e<br />

ausgezeichnete Arznei für Wissenschaften und Philosophie.* (S. 13)<br />

Die +Irrwege <strong>der</strong> Vernunft* (1986), so <strong>der</strong> Titel e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Schrift Feyerabends, führen<br />

81<br />

<strong>in</strong> die Sackgasse von Monotonie und Langeweile (vgl. S. 14). Aus dieser kann nur die<br />

relativistische E<strong>in</strong>sicht befreien, daß die festgelegten Verfahren <strong>der</strong> rationalistischen Wissenschaft<br />

nicht rational im S<strong>in</strong>n ihres eigenen Anspruchs s<strong>in</strong>d, denn die Objektivität, die sie als Methode<br />

für sich beanspruchen, gilt nicht für die dah<strong>in</strong>terstehenden E<strong>in</strong>stellungen und Orientierungen<br />

82<br />

<strong>der</strong> Forscher, die immer auch sozialen E<strong>in</strong>flüssen unterliegen (vgl. ebd.; 17–25). Kunst und<br />

Wissenschaft sollten deshalb besser gleich als kreative Unternehmungen verstanden werden<br />

(vgl.; ebd.; S. 193ff.). Der Mythos <strong>der</strong> Vernunft ist gemäß Feyerabend zu demaskieren, denn<br />

diese ist an<strong>der</strong>en Denk- und Handelsformen ke<strong>in</strong>esfalls übergeordnet (vgl. Erkenntnis für freie<br />

Menschen; S. 27ff. u. S. 39). Deshalb muß auch Wissenschaft unter <strong>der</strong> Prämisse stattf<strong>in</strong>den:<br />

+anyth<strong>in</strong>g goes* (ebd.; S. 97).


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XLVII<br />

Mit dem E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen +postmo<strong>der</strong>ner* Inhalte <strong>in</strong> die Wissenschaftstheorie war <strong>der</strong> Schritt zu<br />

83<br />

e<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nen Philosophie nicht mehr weit. Viele sehen sogar bereits <strong>in</strong> Foucault e<strong>in</strong>en<br />

<strong>der</strong> Denker, die ihn gegangen s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs wird Foucault überwiegend unter dem Etikett<br />

des +<strong>Post</strong>-* bzw. des +Ultrastrukturalismus* zum Umfeld <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Philosophie gezählt, 84<br />

da er vom strukturalistischen Denken e<strong>in</strong>es Lévi-Strauss, Barthes o<strong>der</strong> Althusser bee<strong>in</strong>flußt<br />

war, sich aber auch von diesen absetzte und betont, er könne sich +niemanden vorstellen,<br />

<strong>der</strong> mehr Antistrukturalist wäre als* er (Wahrheit und Macht; S. 28).<br />

Auf Foucaults Bücher +Wahns<strong>in</strong>n und Gesellschaft* (1961) sowie +Überwachen und Strafen*<br />

(1975) wurde bereits e<strong>in</strong>gegangen (siehe S. XXXVIf.). Foucault hat hier, wie <strong>in</strong> +Die Geburt<br />

<strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>ik* (1963), den Versuch unternommen, die Praktiken <strong>der</strong> sog. +Humanwissenschaften*<br />

e<strong>in</strong>er kritischen Analyse zu unterziehen sowie die untergründige Macht- und Zwangsstruktur<br />

85<br />

auch und gerade im Zeitalter <strong>der</strong> Vernunft offenzulegen. Foucault folgt dabei zwar e<strong>in</strong>er<br />

historischen Vorgehensweise, legt aber ke<strong>in</strong> teleologisches, evolutionäres Geschichtsbild zugrunde.<br />

In Anlehnung an Nietzsche (vgl. Zur Genealogie <strong>der</strong> Moral) entwickelt er e<strong>in</strong>e genealogische<br />

+Methode*, die – eher genial als streng logisch – gerade die Diskont<strong>in</strong>uitäten und Brüche<br />

86<br />

betont. E<strong>in</strong> Zitat, <strong>in</strong> dem er sich zum genealogischen Pr<strong>in</strong>zip äußert, kann vielleicht deutlich<br />

machen, warum man Foucault häufig dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus zurechnet:<br />

+Die Genealogie <strong>der</strong> Werte, <strong>der</strong> Moral, […] <strong>der</strong> Erkenntnis hat […] nicht von <strong>der</strong> Suche nach ihrem<br />

›Ursprung‹ auszugehen und die vielfältigen Episoden <strong>der</strong> Geschichte wegen ihrer Unzulänglichkeit<br />

auszuklammern. Sie muß sich vielmehr bei den E<strong>in</strong>zelheiten und Zufälligkeiten <strong>der</strong> Anfänge aufhalten;<br />

[…] sie muß darauf gefaßt se<strong>in</strong>, sie nach Ablegung <strong>der</strong> Masken mit an<strong>der</strong>en Gesichtern auftreten zu<br />

sehen; sie darf sich nicht scheuen, sie dort zu suchen, wo sie s<strong>in</strong>d, und ›<strong>in</strong> den Nie<strong>der</strong>ungen zu wühlen‹;<br />

sie muß ihnen Zeit lassen, aus dem Labyr<strong>in</strong>th hervorzukommen, wo sie von ke<strong>in</strong>er Wahrheit bevormundet<br />

waren. Der Genealoge braucht die Historie, um die Chimäre des Ursprungs zu vertreiben; so wie<br />

<strong>der</strong> gute Philosoph den Arzt braucht, um den Schatten <strong>der</strong> Seele zu vertreiben.* (Nietzsche, die<br />

Genealogie, die Historie; S. 72f.)<br />

Nur <strong>der</strong>art, also <strong>in</strong>dem man vom Ursprungsdenken Abschied nimmt und die grundsätzliche<br />

Gleichwertigkeit <strong>der</strong> potentiell möglichen, doch sozial abgesperrten Diskurse anerkennt (vgl.<br />

87<br />

dazu auch Die Ordnung des Diskurses), kann die +Überschreitung* gel<strong>in</strong>gen, +die für unsere<br />

Kultur ebenso entscheidend ist, wie noch vor nicht allzu langer Zeit für das dialektische Denken<br />

die Erfahrung des Wi<strong>der</strong>spruchs* (Vorrede zur Überschreitung; S. 31). E<strong>in</strong>e Möglichkeit zur


XLVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Überschreitung liegt für Foucault <strong>in</strong> <strong>der</strong> F<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>er Sprache, +die uns das Denken als solches<br />

entzieht und bis zur Unmöglichkeit <strong>der</strong> Sprache selbst vorstößt, bis zu jener Grenze, wo das<br />

Se<strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache <strong>in</strong> Frage gestellt wird* (ebd.; S. 36). Auf diese Weise kann schließlich +Das<br />

Denken des Außen* (1966) gel<strong>in</strong>gen, das notwendig ist, um das verlorene Selbst über den<br />

Umweg <strong>der</strong> Entäußerung möglicherweise (wie<strong>der</strong>) zu f<strong>in</strong>den (vgl. S. 48ff.). 88<br />

In dieser Argumentationsfigur deutet sich auch bei Foucault jener +l<strong>in</strong>guistic turn* (Rorty) an,<br />

<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong> für die (post)mo<strong>der</strong>ne Philosophie typisch ist und mit Denkern wie Wittgenste<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>geläutet wurde. War die Philosophie des Altertums im Wesentlichen Ontologie und beschäf-<br />

tigte sich mit Se<strong>in</strong>sfragen, so verschob sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit <strong>der</strong> Schwerpunkt auf das Erkenntnis-<br />

problem. Spätestens seit Habermas’ +Theorie des kommunikativen Handelns* (1981) ist die<br />

Frage von Sprache und Verständigung aber nicht nur zum immer zentraleren philosophischen<br />

Problem geworden, son<strong>der</strong>n avancierte auch zur sozialwissenschaftlichen Schlüsselkategorie.<br />

Die Sozial- und Humanwissenschaften waren für Foucault jedoch selbst Gegenstand e<strong>in</strong>er<br />

+Diskursanalyse*, denn sie bestimmen (heute) wesentlich +Die Ordnung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge* (1966),<br />

<strong>in</strong>dem sie mit ihren Kategorien die Inhalte des gesellschaftlichen Wissens formen. Foucault<br />

sah deshalb die Gefahr e<strong>in</strong>es +Psychologismus* und +Soziologismus* sowie <strong>der</strong> +Anthropo-<br />

logisierung* (vgl. dort S. 417f.). Um diese Gefahr bewußt zu machen, sei e<strong>in</strong>e +Archäologie<br />

des Wissens* (1969) erfor<strong>der</strong>lich, die versucht, +die diskursiven Praktiken, <strong>in</strong>soweit sie e<strong>in</strong>em<br />

Wissen Raum geben und dieses Wissen das Statut und die Rolle von Wissenschaft annimmt*<br />

(S. 271), freizulegen.<br />

Jacques Derrida, e<strong>in</strong> weiterer französischer +<strong>Post</strong>strukturalist*, <strong>der</strong> ebenso wie Foucault häufig<br />

89<br />

dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus zugerechnet wird, schließt <strong>in</strong> vielen Punkten an diesen an. Zum<br />

e<strong>in</strong>en greift er Foucaults Thesen aus +Wahns<strong>in</strong>n und Gesellschaft* auf und radikalisiert sie<br />

90<br />

dah<strong>in</strong>gehend, daß es ihm nicht mehr nur um e<strong>in</strong>e Dekonstruktion <strong>der</strong> Vernunft, son<strong>der</strong>n<br />

auch um e<strong>in</strong>e Dekonstruktion des Wahns geht, den er aber als Inspirationsquelle gleichzeitig<br />

idealisiert: In <strong>der</strong> Krise nämlich ist +<strong>der</strong> Wahns<strong>in</strong>n vernünftiger […] als die Vernunft, denn<br />

er ist <strong>der</strong> lebendigen (wenn auch schweigsamen und murmelnden) Quelle des S<strong>in</strong>ns näher*<br />

91<br />

(Cogito und Geschichte des Wahns<strong>in</strong>ns; S. 100). In se<strong>in</strong>er +Grammatologie* (1967) unternimmt<br />

92<br />

er schließlich den +irren* Versuch e<strong>in</strong>er Aufhebung des Logozentrismus. Hier widmet er<br />

sich dem Problem von Zeichen und Sprache (vgl. S. 23ff.). Er relativiert den Absolutheits-<br />

anspruch, <strong>der</strong> den neuzeitlichen Konstruktionen e<strong>in</strong>er Universalsprache immanent war (vgl.


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? XLIX<br />

ebd.; S. 139), und stellt dem se<strong>in</strong>en Wissenschaftsentwurf e<strong>in</strong>es Denkens <strong>der</strong> Differenz <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Epoche <strong>der</strong> Differenz entgegen (vgl. ebd.; S. 169f.). 93<br />

Dieses Unterfangen er<strong>in</strong>nert an den späteren Versuch Jean-François Lyotards, die Metaer-<br />

94<br />

zählungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e +Pluralität <strong>der</strong> Sprachspiele* aufzulösen. Lyotard ist <strong>der</strong><br />

Philosoph <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> sich explizit im Rahmen se<strong>in</strong>er Philosophie<br />

auf den <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Begriff bezieht. In dem Buch +Das postmo<strong>der</strong>ne Wissen* legt er 1979<br />

95<br />

se<strong>in</strong>e Auffassung zur +Verfassung* <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne dar – denn man hat sich, so Lyotard,<br />

nun e<strong>in</strong>mal entschieden, die sich transformierenden Industriegesellschaften als +postmo<strong>der</strong>n*<br />

96<br />

zu charakterisieren (vgl. S. 13). Diese Industriegesellschaften werden durch den technischen<br />

Wandel, vor allem durch die Computerisierung, zu +<strong>in</strong>formatisierten Gesellschaften*. Davon<br />

ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Wissen betroffen:<br />

+Es kann die neuen Kanäle [<strong>in</strong> den Datenautobahnen] nur dann passieren und e<strong>in</strong>satzfähig gemacht<br />

werden, wenn die Erkenntnis <strong>in</strong> Informationsquantitäten übersetzt werden kann. Man kann daher<br />

die Prognose stellen, daß all das, was vom überkommenen Wissen nicht <strong>in</strong> dieser Weise übersetzbar<br />

ist, vernachlässigt werden wird, und daß die Orientierung dieser neuen Untersuchungen sich <strong>der</strong><br />

Bed<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> Übersetzbarkeit etwaiger Ergebnisse <strong>in</strong> die Masch<strong>in</strong>ensprache unterordnen wird.* (Ebd.;<br />

S. 23)<br />

Es kommt also zu e<strong>in</strong>er +Hegemonie <strong>der</strong> Informatik* und (im Anschluß daran) zu e<strong>in</strong>er +Ver-<br />

äußerung des Wissens*, das nurmehr für se<strong>in</strong>en Verkauf geschaffen wird, aufhört Selbstzweck<br />

zu se<strong>in</strong> und (als bloße Tausch-Wahre im Informationshandel) se<strong>in</strong>en eigentlichen Gebrauchswert<br />

verliert (vgl. ebd.; S. 24). Damit steigt aber auch die ökonomische Bedeutung des Wissens,<br />

und so ist es denkbar, +daß die Nationalstaaten <strong>in</strong> Zukunft ebenso um die Beherrschung von<br />

Informationen kämpfen werden, wie sie um die Beherrschung <strong>der</strong> Territorien und dann um<br />

die Verfügung und Ausbeutung <strong>der</strong> Rohstoffe und billigen Arbeitskräfte e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> bekämpft<br />

haben* (ebd.; S. 26).<br />

Lyotard zeichnet also zunächst e<strong>in</strong> sehr pessimistisches Bild des +postmo<strong>der</strong>nen Wissens*,<br />

und die Tatsache, daß das +Internet* heute geradezu e<strong>in</strong> Refugium für verwirrte Verschwö-<br />

rungstheoretiker und sozial unterrepräsentierte Gruppen, kurz: Außenseitergedankentum,<br />

darstellt, sche<strong>in</strong>t Lyotard hier zu wi<strong>der</strong>legen (vgl. z.B. Freyermuth: Im Netz <strong>der</strong> Verschwörung).<br />

An<strong>der</strong>erseits ist <strong>der</strong> Kampf um die Macht im Netz schon entbrannt und manifestiert sich im<br />

Bemühen <strong>der</strong> Regierungen se<strong>in</strong>e Inhalte zu kontrollieren – auch wenn diese durch neuartige


L POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Verschlüsselungstechnologien auf verlorenen <strong>Post</strong>en stehen dürften (vgl. Borchers: Der Kampf<br />

um die Schlüsselgewalt).<br />

Doch trotz o<strong>der</strong> gerade wegen solcher (aktueller) Relativierungen ist Lyotards Argument relevant.<br />

Denn die zuvor skizzierte Entwicklung täuscht darüber h<strong>in</strong>weg, daß die Legitimationsbasis<br />

für e<strong>in</strong> Wissen, das e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige Vorherrschaft und Absolutheit beansprucht, sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne auflöst, und +bei extremer Vere<strong>in</strong>fachung hält man [genau] die Skepsis gegenüber<br />

den Metaerzählungen für ›postmo<strong>der</strong>n‹* (Lyotard: Das postmo<strong>der</strong>ne Wissen; S. 14). In <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne dom<strong>in</strong>ierten und determ<strong>in</strong>ierten nämlich noch drei solcher +Metaerzählungen* den<br />

sozialen Wissenshorizont: die Erzählung von <strong>der</strong> Dialektik des Geistes (im Idealismus), die<br />

Erzählung von <strong>der</strong> Hermeneutik des S<strong>in</strong>ns (im Historismus) und die Erzählung von <strong>der</strong> Emanzi-<br />

97<br />

pation des vernünftigen Subjekts (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aufklärung) (vgl. ebd.; S. 13). Das Wissen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

war also narratives Wissen (vgl. ebd.; S. 63ff.), doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne hat +die große Erzählung<br />

ihre Glaubwürdigkeit verloren* (ebd.; S. 112). Der Keim dieser +Delegitimierung* liegt dar<strong>in</strong>,<br />

daß die Wissenschaft ihr eigenes, abgetrenntes Spiel spielt und die an<strong>der</strong>en +Sprachspiele*,<br />

aufgrund ihrer positivistischen Beschränkung, nicht legitimieren kann. So kommt es zur Zer-<br />

streuung (dissém<strong>in</strong>ation). +Neue Sprachen [so Lyotard] s<strong>in</strong>d zu den alten h<strong>in</strong>zugekommen,<br />

bilden die Vorstädte <strong>der</strong> alten Stadt* (ebd.; S. 120). Die postmo<strong>der</strong>ne Wissenschaft ist deshalb<br />

e<strong>in</strong>e Erforschung des Instabilen, und +nunmehr [muß] die Betonung auf den Dissens gelegt<br />

werden. Der Konsens ist e<strong>in</strong> Horizont, er wird niemals erworben.* (Ebd.; S. 177)<br />

E<strong>in</strong>e so verstandene <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist nicht gänzlich abgesetzt vom Gewesenen, und +das<br />

Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne besteht weiterh<strong>in</strong>, allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Unruhe und Sorge* (<strong>der</strong>s.: Immaterialität<br />

98<br />

und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 9). Die +Beantwortung <strong>der</strong> Frage: Was ist postmo<strong>der</strong>n?* (1982) kann<br />

nur gel<strong>in</strong>gen, wenn man sich dies vergegenwärtigt. Dann wird auch klar, daß die Mo<strong>der</strong>ne<br />

von e<strong>in</strong>er <strong>fatal</strong>en und unerfüllbaren +Sehnsucht nach dem Ganzen und E<strong>in</strong>en, nach Versöhnung<br />

von Begriff und S<strong>in</strong>nlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung* geprägt<br />

war (S. 203) – was teuer bezahlt werden mußte. Der Versuch nach <strong>der</strong> +Umfassung <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit* schlug nämlich <strong>in</strong> Terror um, wie die Erfahrungen des Jahrhun<strong>der</strong>ts uns e<strong>in</strong>drücklich<br />

gelehrt haben. Deswegen muß die +postmo<strong>der</strong>ne* Devise lauten: +Krieg dem Ganzen, zeugen<br />

wir das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Wi<strong>der</strong>streite […]* (Ebd.) 99<br />

Die bisher vorgestellten Vertreter e<strong>in</strong>er +nouvelle philosophie* – Foucault, Derrida und Lyotard<br />

– hatten und haben bedeutenden E<strong>in</strong>fluß vor allem auf die neuere, stark politisch geprägte


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LI<br />

amerikanische +cultural theory* (vgl. Angermüller: <strong>Post</strong>Mo<strong>der</strong>ne zwischen Theorie und Kultur).<br />

Sie selbst rekurrieren <strong>in</strong> ihrem Werk allerd<strong>in</strong>gs vielfach auf die deutschen Philosophen Nietzsche<br />

und Heidegger, welche man deshalb vielleicht als philosophische +Vorläufer* des <strong>Post</strong>struktu-<br />

100<br />

ralismus/<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus bezeichnen kann. Auch Gianni Vattimo, e<strong>in</strong> italienischer Vertreter<br />

<strong>der</strong> philosophischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, bezieht sich auf diese <strong>in</strong> ihrer deutschen Heimat wegen<br />

<strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung durch den Nazismus eher diskreditierten Denker, und stellt klar fest:<br />

+Man kann mit Recht behaupten, daß die philosophische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne im Werk Nietzsches<br />

entsteht […]* (Das Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 178f.). 101<br />

Mit <strong>der</strong> Aufstellung e<strong>in</strong>er +Ontologie des Verfalls* gibt er sich denn auch betont nihilistisch,<br />

und <strong>der</strong> Kern des Se<strong>in</strong>s liegt für ihn im Untergang. Formulierte Heidegger noch: +das Abendland<br />

ist das Land des Untergangs (des Se<strong>in</strong>s)* (Brief über den Humanismus; zitiert nach: E<strong>in</strong>er<br />

Ontologie des Verfalls entgegen; S. 65), so heißt es bei Vattimo: +das Abendland ist das Land<br />

des Untergangs (und daher des Se<strong>in</strong>s)* (ebd.). Wenn Vattimo allerd<strong>in</strong>gs +Das Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne*<br />

(1985) verkündet, so ist dies nur die plakative Überschrift zu e<strong>in</strong>er durchaus differenzierten<br />

philosophischen Betrachtung über die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne.<br />

Diese ist nach Vattimo ke<strong>in</strong>e bloße Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong> vielmehr <strong>der</strong>en<br />

102<br />

Verw<strong>in</strong>dung. Denn da +sich die Mo<strong>der</strong>ne als das Zeitalter <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung def<strong>in</strong>iert, als<br />

Zeitalter des Neuen, das veraltet und umgehend von e<strong>in</strong>er neueren Neuigkeit ersetzt wird,<br />

[…] kann man die Mo<strong>der</strong>ne nicht verlassen, <strong>in</strong>dem man sie zu überw<strong>in</strong>den gedenkt […]<br />

dies wäre e<strong>in</strong> noch gänzlich <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne selbst verbleiben<strong>der</strong> Schritt* (S. 180ff.).<br />

Die Verw<strong>in</strong>dung dagegen überholt nicht e<strong>in</strong>fach die Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong>n vertieft und verdreht<br />

sie, und bewirkt damit e<strong>in</strong>e Genesung von den Irrungen ihrer immanenten Metaphysik (vgl.<br />

ebd.; 186f.). Der Idee e<strong>in</strong>es Se<strong>in</strong>s <strong>der</strong> Ewigkeit, Stabilität und Stärke wird von Vattimo <strong>in</strong><br />

Anlehnung an Heidegger e<strong>in</strong> +schwaches* Denken gegenübergestellt, welches das Se<strong>in</strong> als<br />

Leben und Reifung, Geburt und Tod begreift: +Es ist nicht das, was weiterbesteht, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>in</strong> auffallen<strong>der</strong> Weise […] das, was wird, geboren wird und stirbt* (E<strong>in</strong>er Ontologie des Verfalls<br />

entgegen; S. 93).<br />

In Vattimos Konzept kommt also – trotz <strong>der</strong> Formel vom +Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* – streng ge-<br />

103<br />

nommen ke<strong>in</strong> +posthistoristisches* Verständnis zum Tragen. An<strong>der</strong>s bei Arnold Gehlen:<br />

104<br />

Schon lange vor Francis Fukuyama fragte auch er im Titel e<strong>in</strong>es Essays nach dem +Ende<br />

<strong>der</strong> Geschichte* – wobei es sich allerd<strong>in</strong>gs um e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> rhetorische Frage handelt. Nach Gehlen


LII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ist nämlich <strong>der</strong> Glaube an den Fortschritt historisch geworden: Die +Verve verrückter Utopien*<br />

ist passé(e) (vgl. S. 119). Und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Schrift bekennt er:<br />

+Ich exponiere mich also mit <strong>der</strong> Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß<br />

wir im <strong>Post</strong>histoire angekommen s<strong>in</strong>d.* (Über kulturelle Kristallisation; S. 323)<br />

Gehlen legt <strong>in</strong> diesem bekannten Aufsatz dar, daß es zu e<strong>in</strong>er Stabilisierung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Kultur gekommen sei, die <strong>der</strong>en Grundsätze irreversibel festschreibt. Und wie Lyotard glaubt<br />

auch Gehlen – allerd<strong>in</strong>gs gestützt auf e<strong>in</strong>e be<strong>in</strong>ahe konträre, +positivistische* Argumentation<br />

– an das Ende <strong>der</strong> großen Metaerzählungen:<br />

+Das Ende <strong>der</strong> Philosophie im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Schlüsselattitüde kann an Bedeutung schwer überschätzt<br />

werden […] Es ist aber auch e<strong>in</strong>e von übersteigerten E<strong>in</strong>zelwissenschaften ausgehende Ersatzreligion<br />

[…] nicht mehr real möglich. Jede seriöse Wissenschaft ist so weit <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Geäst von E<strong>in</strong>zelfragestellungen<br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gegangen, daß sie sich gegen die Zumutung e<strong>in</strong>er Allkompetenz aufs entschiedenste wehren<br />

würde, sie hätte dann nämlich überhaupt ke<strong>in</strong>e Sprache.* (Ebd.; S. 316)<br />

Für Gehlen ist also die Vorstellung e<strong>in</strong>er <strong>Post</strong>histoire an die unauflösliche Faktizität, an die<br />

historische (In-)Transzendenz <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriegesellschaftlichen Realität und ihres empiristischen<br />

Wissenschaftsprogramms gebunden. Doch schon als Gehlen diese These aufstellte, sprachen<br />

an<strong>der</strong>e längst von <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft (vgl. z.B. Riesman: Leisure and Work<br />

105<br />

<strong>in</strong> <strong>Post</strong>-Industrial Society). Wirklich Populär wurde die Rede von <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesell-<br />

schaft aber erst <strong>in</strong> den 70er Jahren durch das Ersche<strong>in</strong>en und die Rezeption von zwei Büchern:<br />

106<br />

+Die post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft* (1969) von Ala<strong>in</strong> Toura<strong>in</strong>e und vor allem Daniel Bells<br />

vielbeachtete Schrift über +Die nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft* (1973). 107<br />

Toura<strong>in</strong>es Ansatz ist kritisch und neomarxistisch geprägt. Er begreift die für ihn real gewordene<br />

post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft als programmierte wie technokratische Gesellschaft, und zunächst<br />

e<strong>in</strong>mal stellt er – vor allem <strong>in</strong> Abgrenzung zu Riesman – klar:<br />

+Es soll <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat nicht gesagt werden, daß e<strong>in</strong>e post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft e<strong>in</strong>e solche ist, die, sobald<br />

sie e<strong>in</strong> bestimmtes Niveau <strong>der</strong> Produktivität […] erreicht hat, sich <strong>der</strong> ausschließlichen Sorge um die<br />

Produktion entheben kann, um e<strong>in</strong>e Konsum- und Freizeitgesellschaft zu werden* (S. 9)<br />

Vielmehr s<strong>in</strong>d post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaften dadurch gekennzeichnet, daß das wirtschaftliche<br />

Wachstum +mehr durch e<strong>in</strong>en politischen Prozeß als durch wirtschaftliche Mechanismen


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LIII<br />

bestimmt* ist (ebd.; S. 10), und e<strong>in</strong>e jegliche Kritik absorbierende, umfassende kulturelle<br />

Manipulation stattf<strong>in</strong>det:<br />

+Unsere Gesellschaft ist e<strong>in</strong>e Gesellschaft <strong>der</strong> Entfremdung nicht, weil sie die Menschen <strong>in</strong>s Elend<br />

stößt […], son<strong>der</strong>n weil sie verführt, manipuliert, <strong>in</strong>tegriert.* (Ebd.; S. 13)<br />

Im politischen Bereich bedeutet dies, daß es zu e<strong>in</strong>er +abhängigen Partizipation* kommt (vgl.<br />

ebd.). Allerd<strong>in</strong>gs glaubt Toura<strong>in</strong>e, daß die neue Generation – es ist die Zeit <strong>der</strong> Studentenbewe-<br />

gung – sich <strong>der</strong> sozialen Manipulation entziehen können wird:<br />

+Die Jugend […] [tritt] <strong>in</strong> den Kampf e<strong>in</strong>, […] weil sie ihr ›Privatleben‹ e<strong>in</strong>er Pseudo-Rationalität ent-<br />

gegenhalten[!], h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> die herrschenden Kräfte Schutz suchen.* (Ebd.; S. 15) 108<br />

Das bedeutet für Tourra<strong>in</strong>e, <strong>der</strong> hier ganz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tradition e<strong>in</strong>er fortschrittsgläubigen L<strong>in</strong>ken<br />

steht, jedoch nicht das Ende allen Fortschritts- und Wachstumsdenkens:<br />

+Die Gesellschaft, die lange Zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zufriedenheit über ihren materiellen Erfolg erstarrt war, verwirft<br />

nicht den technischen Fortschritt und das wirtschaftliche Wachstum, son<strong>der</strong>n die Tatsache, daß sie<br />

e<strong>in</strong>er Macht unterliegt, die sich für […] rational ausgibt […]* (Ebd.)<br />

Nicht mehr alle<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, son<strong>der</strong>n immer mehr <strong>der</strong> Konflikt<br />

zwischen <strong>der</strong> außerparlamentarischen Opposition <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen und <strong>der</strong><br />

Techno-Bürokratie tritt <strong>in</strong>s Zentrum <strong>der</strong> sgesellschaftlichen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen (vgl. ebd.,<br />

S. 23ff.). In diesem Zusammenhang ist <strong>in</strong>teressant, daß bereits Toura<strong>in</strong>e auf +das Verschw<strong>in</strong>den<br />

<strong>der</strong> alten kulturellen Grundlagen <strong>der</strong> Gesellschaftsklassen* h<strong>in</strong>weist (ebd.; S. 41) und gerade<br />

daraus neue gesellschaftliche Konfliktl<strong>in</strong>ien erwachsen sieht:<br />

+Alle diese Konflikte s<strong>in</strong>d von gleicher Natur. Sie schaffen e<strong>in</strong>en Gegensatz zwischen [technokratischen<br />

wie bürokratischen] Führern, die von dem Willen geleitet werden, die Produktion zu erhöhen, sich<br />

den For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Effektivität anzupassen und den Geboten <strong>der</strong> Macht zu gehorchen, und Individuen,<br />

welche nicht so sehr Arbeiter s<strong>in</strong>d, die ihren Lohn verteidigen, als vielmehr Personen und Gruppen,<br />

die sich bemühen, den S<strong>in</strong>n ihres persönlichen Lebens aufrecht zu erhalten.* (Ebd.; S. 66)<br />

Für Toura<strong>in</strong>e ist also die neue technokratisch-bürokratische Elite <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft<br />

Gegner im Kampf für e<strong>in</strong> Leben, das sich nicht <strong>der</strong> +hohlen Rationalität <strong>der</strong> Produktion* unter-


LIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ordnen will. Geradezu konträr zu dieser Position Toura<strong>in</strong>es steht Daniel Bells Ansatz. Dieser<br />

bestimmt die Konturen <strong>der</strong> nach<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft zunächst <strong>in</strong> Abgrenzung zum klassischen<br />

<strong>in</strong>dustriellen Kapitalismus, <strong>der</strong> auf dem Privateigentum als Grundkategorie beruhte. Die<br />

nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft steht jedoch auf e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Fundament:<br />

+Das Konzept <strong>der</strong> ›nach<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft‹ betont die zentrale Stellung des theoretischen Wissens<br />

als Achse, um die sich die neue Technologie, das Wirtschaftswachstum und die Schichtung <strong>der</strong> Gesell-<br />

schaft organisieren werden.* (Die nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft; S. 112f.)<br />

Konzentrierte sich die vor<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft auf den primären Sektor (d.h. die Bereiche<br />

Bergbau, Fischerei, Forst- und Landwirtschaft dom<strong>in</strong>ierten nahezu ausschließlich das Wirt-<br />

schaftsgeschehen), so trat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft die Güterproduktion<br />

(sekundärer Sektor) <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund. <strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrielle Gesellschaften s<strong>in</strong>d dagegen Dienstlei-<br />

109<br />

stungsgesellschaften, d.h. <strong>der</strong> tertiäre Sektor nimmt den größten Raum e<strong>in</strong>. Diese Tendenz<br />

zur Dom<strong>in</strong>anz des tertiären Sektors versucht Bell mit e<strong>in</strong>er Fülle von Zahlenmaterial (bezogen<br />

110<br />

auf das Beispiel <strong>der</strong> USA) zu belegen. Er führt dabei aus, daß sich nicht nur die sektorale<br />

Verteilung <strong>der</strong> Arbeitsplätze gewandelt hat, son<strong>der</strong>n auch Än<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Berufsmuster<br />

auszumachen s<strong>in</strong>d, und kommt zu dem Schluß: +Die Vere<strong>in</strong>igten Staaten haben sich zu e<strong>in</strong>er<br />

Gesellschaft von Kopfarbeitern entwickelt* (ebd.; S. 142). 111<br />

Entsprechend konstatiert Bell auch e<strong>in</strong>e neue Klassenstruktur <strong>in</strong> <strong>der</strong> von ihm beschworenen<br />

post<strong>in</strong>dustriellen Wissensgesellschaft. Denn die Dimension des Wissen wird immer bedeuten<strong>der</strong><br />

auch für die soziale Hierarchie. Nicht alles Wissen ist jedoch gleich relevant. Was zählt, ist<br />

vor allem theoretisches und technologisch verwertbares +know how*. Bell prognostiziert deshalb<br />

(<strong>in</strong> Absetzung zu Platon) e<strong>in</strong>e wissensbasierte Drei-Klassengesellschaft:<br />

+In Plato[n]s Staat war nur e<strong>in</strong>e Klasse im Besitz des Wissens, die Philosophen, während sich die übrigen<br />

Bürger <strong>in</strong> die Krieger (Wächter) und die Handwerker aufglie<strong>der</strong>ten. In <strong>der</strong> wissenschaftlichen Geme<strong>in</strong>schaft<br />

<strong>der</strong> Zukunft dagegen wird es […] drei [Wissens-]Klassen geben: die schöpferische Elite <strong>der</strong> Wissenschaftler<br />

und akademisch geschulten Spitzenbeamten […]; die Mittelklasse <strong>der</strong> Ingenieure und Professoren;<br />

und das Proletariat <strong>der</strong> Techniker, des akademischen Mittelbaus und <strong>der</strong> Assistenten.* (Ebd.; 220)<br />

Diese neue Klassenformierung hat auch Auswirkungen auf das politische System. Denn laut<br />

Bell wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> nach<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft technisches Können die Grundlage und Bildung


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LV<br />

den Zugang zu Macht liefern (vgl. ebd.; S. 258). Entgegen Veblen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e technokratische<br />

Revolution voraussagte (vgl. The Eng<strong>in</strong>eers and the Price System), konstatiert Bell jedoch:<br />

+Letzendlich hält nicht <strong>der</strong> Technokrat, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er die Macht <strong>in</strong> Händen* (Die<br />

nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft; S. 260). Dabei soll allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong> meritokratisches Pr<strong>in</strong>zip gelten,<br />

das aber, wie Bell zugesteht, mit egalitären Gerechtigkeitsvorstellungen <strong>in</strong> Konflikt geraten<br />

kann (vgl. ebd.; S. 338ff.). E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es grundsätzliches Dilemma <strong>der</strong> nach<strong>in</strong>dustriellen Gesell-<br />

schaft ist die sich tendenziell vertiefende Kluft zwischen Kultur (die im Kapitalismus auf Konsum<br />

beruht) und Sozialstruktur (die im Gegensatz dazu auf dem Leistungspr<strong>in</strong>zip aufbaut) (vgl.<br />

ebd.; S. 363ff.). 112<br />

In diesem Konzept <strong>der</strong> nach<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft Bells lassen sich noch (Struktur-)Elemente<br />

<strong>der</strong> +klassischen* Industriegesellschaft erkennen. Denn auch, wenn Dienstleistungen den größten<br />

Anteil ausmachen und Wissen immer zentraler wird: Streng genommen bleibt <strong>der</strong> Pro-<br />

duktionssektor <strong>der</strong> (wenn auch geschrumpfte) eigentliche Kernbereich – weil schließlich nur<br />

weitere Rationalisierungsmaßnahmen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Güter-Produktion die Ausweitung des<br />

wissensbasierten Dienstleistungssektors erlauben (bzw. erzw<strong>in</strong>gen). Die Gesellschaft hat bei<br />

Bell also selbst <strong>in</strong> ihrem post<strong>in</strong>dustriellen (ökonomischen) Entwicklungsstadium noch e<strong>in</strong>e<br />

materielle Basis.<br />

Den Rahmen des Materiellen hat die Gesellschaft und Ökonomie <strong>der</strong> Gegenwart dagegen<br />

113<br />

für Jean Baudrillard bereits gesprengt: Nach ihm leben wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em (posthistorischen) Zeitalter<br />

des Simulakrums, <strong>in</strong> dem +das Reale und das Imag<strong>in</strong>äre zu e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen operationalen<br />

Totalität verschmolzen s<strong>in</strong>d* (Die Simulation; S. 161). +Die Digitalität ist se<strong>in</strong> metaphysisches<br />

Pr<strong>in</strong>zip […] und die DNS ist se<strong>in</strong> Prophet* (ebd.; S. 153). Umfangreiche Manipulationsmöglich-<br />

keiten durch Computertechnologie, Medien und Gentechnik haben nämlich die Unterscheidung<br />

zwischen Simulation und Wirklichkeit (angeblich) unmöglich gemacht, und so stellt Baudrillard<br />

(wie immer grandios übertreibend) fest:<br />

+B<strong>in</strong> ich nun Mensch, o<strong>der</strong> b<strong>in</strong> ich Masch<strong>in</strong>e? Es gibt heute ke<strong>in</strong>e Antwort mehr auf diese Frage […]*<br />

(Videowelt und fraktales Subjekt; S.125)<br />

Die +Agonie des Realen* (so <strong>der</strong> Titel e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Schrift Baudrillards) führt jedoch nicht<br />

zu se<strong>in</strong>er Auslöschung, denn das Reale wird durch die Simulation nur gleichsam verdoppelt:<br />

+Die Realität geht im Hyperrealismus unter* (Die Simulation; S. 156), und wir stehen somit


LVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

vor dem +Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Epoche <strong>der</strong> Hyperrealität* (Das An<strong>der</strong>e selbst; S. 14). Das heißt aber<br />

auch:<br />

+Der Körper als [realer] Schauplatz, die Landschaft als [realer] Schauplatz, die Zeit als [realer] Schauplatz<br />

verschw<strong>in</strong>den mehr und mehr.* (Ebd.; S. 16)<br />

Baudrillard gelangt <strong>in</strong> dieser Perspektive zu e<strong>in</strong>er sehr pessimistischen E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong><br />

post<strong>in</strong>dustriellen, posthistorischen Gegenwart:<br />

+Die Transzendenz ist <strong>in</strong> Tausende von Fragmenten zerborsten, die wie die Bruchstücke e<strong>in</strong>es Spiegels<br />

s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> denen wir flüchtig noch unser Spiegelbild greifen können, bevor es vollends verschw<strong>in</strong>det<br />

[…] In demselben S<strong>in</strong>n können wir heute von e<strong>in</strong>em fraktalen Subjekt sprechen, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />

von w<strong>in</strong>zigen gleichartigen Egos zerfällt […]* (Videowelt und fraktales Subjekt; S. 113)<br />

Mit diesem Bild e<strong>in</strong>es fraktalen Subjekts, das starke Ähnlichkeiten mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong>gangs zitierten<br />

Passage aus Montaignes Essay +Über die Unbeständigkeit <strong>der</strong> menschlichen Handlungen* aufweist,<br />

sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Kreis geschlossen, dessen Bogen von <strong>der</strong> (früh)neuzeitlichen Mo<strong>der</strong>ne bis zur<br />

nach<strong>in</strong>dustriellen (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne gespannt wurde. Doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Überschrift zu diesem Unter-<br />

abschnitt wurde e<strong>in</strong>e Frage aufgeworfen, die bisher nur unbefriedigend beantwortet wurde:<br />

Weitergehende Mo<strong>der</strong>nisierung, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, <strong>Post</strong>histoire, post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft o<strong>der</strong><br />

Spätkapitalismus? – Bevor diese allerd<strong>in</strong>gs auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> dargestellten Ansätze weiter<br />

diskutiert werden kann, steht es noch aus, das Konzept des Spätkapitalismus darzulegen und<br />

<strong>in</strong> bezug zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskussion zu br<strong>in</strong>gen.<br />

In <strong>der</strong> Bundesrepublik verb<strong>in</strong>den sich mit dem verstärkt Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre propagierten<br />

Begriff +Spätkapitalismus* <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie zwei Namen: Claus Offe und Jürgen Habermas. Offe<br />

macht klar (obwohl gewisse Parallelen speziell zu Toura<strong>in</strong>e durchaus festzustellen s<strong>in</strong>d), daß<br />

die Rede vom Spätkapitalismus e<strong>in</strong>e Zurückweisung alternativer Typisierungen +hoch<strong>in</strong>du-<br />

strialisierter ›westlicher‹ Gesellschaftssysteme* impliziert. Das schließt für ihn auch Begriffe<br />

wie +post<strong>in</strong>dustrial society* und +post-mo<strong>der</strong>n society* mit e<strong>in</strong> (vgl. Strukturprobleme des kapi-<br />

talistischen Staates; S. 7f.). Denn nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bezeichnung +Spätkapitalismus* ist nach ihm<br />

adäquat ausgedrückt, daß trotz <strong>der</strong> unterschiedlichen Ersche<strong>in</strong>ungsformen des Kapitalismus<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Entwicklungsphasen dem System doch e<strong>in</strong>e identische Bewegungslogik<br />

zugrunde liegt, nämlich die (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart durch ihre Latenz nur unsichtbar gewordene)


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LVII<br />

Kont<strong>in</strong>uität des Wi<strong>der</strong>spruchs von Arbeit und Kapital. Dieser Kont<strong>in</strong>uität stehen auch die umfang-<br />

reichen strukturellen Verän<strong>der</strong>ungen nicht entgegen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat stattgefunden haben, son<strong>der</strong>n<br />

diese s<strong>in</strong>d vielmehr <strong>der</strong> Ausdruck <strong>der</strong> fortbestehenden Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> kapitalistischen Entwick-<br />

lungslogik: Vor allem sei e<strong>in</strong> Bestreben auszumachen, durch Marktorganisation und staatliche<br />

Globalregelungen (im Rahmen von Konzepten wie +planification* o<strong>der</strong> +mixed economy*)<br />

jene durch die <strong>in</strong>härenten Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus erzeugten Krisentendenzen politisch<br />

aufzufangen (vgl. ebd.; S. 18–25).<br />

Ganz ähnlich argumentiert Jürgen Habermas: Die Wi<strong>der</strong>sprüche des Marktes zwangen zur<br />

Intervention des Staates, um das System stabil zu halten (vgl. Legitimationsprobleme im<br />

Spätkapitalismus; S. 50f.). Der Grundwi<strong>der</strong>spruch des kapitalistischen Systems konnte so zwar<br />

zeitweilig überdeckt, jedoch nicht gelöst werden. Dieser Grundwi<strong>der</strong>spruch führt dazu, +daß<br />

[…] entwe<strong>der</strong><br />

• das ökonomische System das erfor<strong>der</strong>liche Maß an konsumierbaren Waren nicht erzeugt<br />

[ökonomische Krise], o<strong>der</strong><br />

• das adm<strong>in</strong>istrative System das erfor<strong>der</strong>liche Maß an rationalen Entscheidungen nicht her-<br />

vorbr<strong>in</strong>gt [Rationalitätskrise], o<strong>der</strong><br />

• das legitimatorische System das erfor<strong>der</strong>liche Maß an generalisierten Motivationen nicht<br />

beschafft [Legitimationskrise], o<strong>der</strong><br />

• das soziokulturelle System das erfor<strong>der</strong>liche Maß an handlungsmotivierendem S<strong>in</strong>n nicht<br />

generiert [Motivationskrise].* (Ebd.; S. 72)<br />

Während im spätkapitalistischen Staat gemäß Habermas ökonomische und Rationalitätskrisen<br />

(die zu e<strong>in</strong>er Systemkrise führen) weniger relevant s<strong>in</strong>d, treten umso mehr Legitimations- und<br />

Motivationskrisen <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund (vgl. ebd.; 128ff.). Diese Identitätskrisen eröffnen die<br />

vage Möglichkeit für e<strong>in</strong> historisch neues Organisationspr<strong>in</strong>zip <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*, die<br />

von Habermas damals (1972) noch eher positiv als Ablösung <strong>der</strong> hochkulturellen Entwick-<br />

lungsstufe <strong>der</strong> Menschheit verstanden wird (vgl. ebd.; S. 30f.). 114<br />

Wenn allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart von den Zusammenhängen zwischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und<br />

Spätkapitalismus die Rede ist, so s<strong>in</strong>d weniger Offe o<strong>der</strong> Habermas die Bezugspunkte des<br />

Diskurses, als vielmehr die Ausführungen des Literaturwissenschaftlers und Leiters des +Center


LVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

for Critical Theory* <strong>der</strong> +Duke University*, Fredric Jameson. Und dieser rekurriert se<strong>in</strong>erseits<br />

auch weniger auf Offe und Habermas als auf Ernest Mandel:<br />

Für letzteren stellte <strong>der</strong> Spätkapitalismus die dritte Stufe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entwicklung des Kapitalismus<br />

(nach dem anfänglichen Kapitalismus <strong>der</strong> freien Konkurrenz und dem imperialistischen Monopol-<br />

kapitalismus) dar, <strong>in</strong> welcher er als mult<strong>in</strong>ationaler Kapitalismus globale Ausmaße angenommen<br />

115<br />

hat (vgl. Der Spätkapitalismus; <strong>in</strong>sb. S. 46–69 u. S. 289–317). Im Anschluß an diese hier<br />

nur grob dargelegte These Mandels formuliert Jameson:<br />

+Jede apologetische o<strong>der</strong> stigmatisierende Stellungnahme zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne auf kultureller Ebene ist<br />

gleichzeitig und notwendig e<strong>in</strong>e implizite o<strong>der</strong> explizite Stellungnahme zum Wesen des heutigen<br />

mult<strong>in</strong>ationalen Kapitalismus.* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Zur Logik <strong>der</strong> Kultur im Spätkapitalismus; S. 47) 116<br />

Da <strong>in</strong> diesem mult<strong>in</strong>ationalen Kapitalismus allerd<strong>in</strong>gs die Vere<strong>in</strong>igten Staaten e<strong>in</strong>e Schüssel-<br />

position <strong>in</strong>ne haben, konstatiert er:<br />

+Festzuhalten ist die Tatsache, daß diese weltweite (und dennoch amerikanische) postmo<strong>der</strong>ne Kultur<br />

nichts an<strong>der</strong>es als den spezifischen Überbau <strong>der</strong> allerneuesten Welle globaler amerikanischer Militär-<br />

und Wirtschaftsvorherrschaft darstellt.* (Ebd.; S. 49)<br />

Die kulturelle Praxis dieser +amerikanischen Internationale* (Huyssen) ist für Jameson durch<br />

Tiefenlosigkeit, Flachheit sowie e<strong>in</strong> Schw<strong>in</strong>den des Affekts gekennzeichnet, was er an diversen<br />

Beispielen erläutert (vgl. ebd.; S. 51–60). H<strong>in</strong>zu kommt e<strong>in</strong> nostalgischer und dennoch<br />

ahistorischer Zug <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Kultur, denn gerade mit dem eklektizistischen Historismus<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne erfolgt e<strong>in</strong> +Zusammenbruch von Zeitlichkeit* (vgl. ebd.; S. 72). Die Kultur<br />

wird +zunehmend vom Raum und von <strong>der</strong> räumlichen Logik dom<strong>in</strong>iert* (S. 70). Daraus ergeben<br />

sich Probleme für e<strong>in</strong>e alternative <strong>Politik</strong> (vgl. ebd.; S. 62), und es kommt zum Verlust <strong>der</strong><br />

kritischen Distanz gegenüber dem Horizont <strong>der</strong> Gegenwart (vgl. ebd.; S. 91). So kritisch diese<br />

Bemerkungen zur +Logik <strong>der</strong> Kultur im Spätkapitalismus* jedoch wirken mögen – bei Jameson<br />

erfolgt ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Verdammung <strong>der</strong> (post)mo<strong>der</strong>nen Entwicklung, son<strong>der</strong>n er erkennt<br />

ihre Dialektik an. Die kulturelle Dynamik im Spätkapitalismus ersche<strong>in</strong>t ihm als beides zugleich,<br />

als +Katastrophe und als Fortschritt* (ebd.; S. 92).<br />

Wie gelangt Jameson zu dieser dialektischen Sichtweise, da er doch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Analyse <strong>der</strong><br />

gegenwärtigen Kultur e<strong>in</strong> <strong>der</strong>art negatives Bild zeichnet? – In <strong>der</strong> Vergangenheit, so Jameson,


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LIX<br />

g<strong>in</strong>g man allgeme<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er Autonomie <strong>der</strong> Kunst aus und sah gerade dar<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Möglichkeit zur Transzendierung des Bestehenden. Im Spätkapitalismus gilt diese Autonomie<br />

<strong>der</strong> Kunst nicht mehr. An<strong>der</strong>s als z.B. Horkheimer und Adorno sieht er allerd<strong>in</strong>gs nicht die<br />

kulturelle Produktion total e<strong>in</strong>er ökonomischen Zweckrationalität untergeordnet (vgl. Dialektik<br />

<strong>der</strong> Aufklärung; S. 128ff.), son<strong>der</strong>n:<br />

+Die Auflösung e<strong>in</strong>es autonomen Kulturbereichs kann im Gegenteil als Aufsprengung verstanden werden;<br />

als ungeheure Expansion <strong>der</strong> Kultur <strong>in</strong> alle Lebensbereiche, <strong>der</strong>art, daß man sagen kann, daß alles<br />

<strong>in</strong> unserem gesellschaftliche Leben, vom ökonomischen Wertgesetz und <strong>der</strong> Staatsgewalt bis zu den<br />

<strong>in</strong>dividuellen Handlungs- und Verhaltensweisen […] zu ›Kultur‹ geworden ist.* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 93)<br />

E<strong>in</strong>e neue, subversive Form politischer Kunst, die ihm durchaus möglich ersche<strong>in</strong>t und die<br />

<strong>in</strong> die Lage versetzt, die verlorene kritische Distanz wie<strong>der</strong>zuf<strong>in</strong>den, muß bei dieser Erkenntnis<br />

ansetzen und +wird es mit <strong>der</strong> ›Wahrheit‹ <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne halten, das heißt festhalten müssen<br />

[…] am neuartigen Welt-Raum des mult<strong>in</strong>ationalen Kapitals* (ebd.; S. 99f.).<br />

Kann diese Feststellung Jamesons zur Erhellung <strong>der</strong> Frage, ob wir es <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Situation<br />

mit e<strong>in</strong>em Prozeß weitergehen<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung zu tun haben o<strong>der</strong> ob wir uns doch vielleicht<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nachhistorischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne bef<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form beitragen? – Ich glaube<br />

ja. Denn wie immer man auch die Gegenwart bezeichnen will: Nur wer <strong>der</strong> +Tatsache* <strong>der</strong><br />

Globalisierung Rechnung trägt, kann sich s<strong>in</strong>nvoll auf <strong>Politik</strong> und Gesellschaft beziehen, die<br />

117<br />

immer weniger mit dem +altbewährten* Nationalstaat <strong>in</strong> Deckung kommt. Genau jene von<br />

Offe, Habermas und an<strong>der</strong>en <strong>in</strong> den 70er Jahren behauptete staatliche Organisation des<br />

Kapitalismus ist durch die Ausweitung <strong>der</strong> Märkte und die Emergenz tatsächlich mult<strong>in</strong>ationaler<br />

Konzerne <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart wi<strong>der</strong>sprüchlich geworden (ohne daß diese allerd<strong>in</strong>gs als<br />

wirtschaftspolitische Option – vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form des Protektionismus – aufgegeben worden<br />

wäre). Die Frage nach <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* muß also immer die (kuturelle)<br />

Logik <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im (globalisierten) Spätkapitalismus berücksichtigen.<br />

Da <strong>in</strong> dieser spät- und nicht postkapitalistischen Welt Kommunikation und Wissen e<strong>in</strong>e immer<br />

zentralere Rolle spielen – wie ich <strong>in</strong> Anschluß an die (Vor)aussagen von Bell und Lyotard<br />

behaupten möchte – ist die Gesellschaft <strong>der</strong> Gegenwart, zum<strong>in</strong>dest was die +fortgeschrittenen*<br />

Regionen im +Zentrum* des <strong>in</strong>ternationalen Systems betrifft, auf dem Weg (und vielleicht<br />

schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zielgerade) zur post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft. Doch wie schon im Kontext <strong>der</strong>


LX POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Diskussion von Bells Thesen kurz angesprochen wurde: Im Kern wird auch die post<strong>in</strong>dustrielle<br />

Gesellschaft Industriegesellschaft bleiben, so wie die <strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft im Kern Agrar-<br />

gesellschaft geblieben ist. Denn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zukunft ist das Wissen (genau wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit)<br />

– ökonomisch betrachtet – nur Mittel zum Zweck <strong>der</strong> Bereitstellung <strong>der</strong> materiellen Basis<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> (trivialen) Form von Nahrungsmitteln und Konsumgütern, die durch ke<strong>in</strong>e Überbau-<br />

konstruktion zu ersetzen s<strong>in</strong>d. Selbst die S(t)imulation im Simulakrum ist auf den Simulator<br />

angewiesen und auch die +virtuelle Realität* <strong>der</strong> Netze und des +Cyberspace* ist ganz real<br />

Hardware-abhängig.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs: Die aktuell festzustellende Ausdehnung des Kommunikations- und Informationssektors<br />

wird weiterh<strong>in</strong> und verstärkt für e<strong>in</strong>en tiefgründigen sozialen Wandel sorgen. Deshalb möchte<br />

ich <strong>in</strong> kritischer Anlehnung an Becks These von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong> nicht mehr <strong>in</strong>dustriegesell-<br />

schaftlichen +zweiten Mo<strong>der</strong>ne* (siehe auch nochmals S. XLIII) die These von e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en<br />

Industriegesellschaft aufstellen, die jedoch erst im weiteren Verlauf schärfere Konturen gew<strong>in</strong>nen<br />

wird. Das Schlüsselargument wurde ja bereits oben genannt – auch die post<strong>in</strong>dustrielle Gesell-<br />

schaft muß im Kern Industriegesellschaft bleiben, weil jede Gesellschaft auf die Produktion<br />

von Gütern angewiesen ist und gerade die post<strong>in</strong>dustrielle Wissens- und Kommunikationsgesell-<br />

schaft e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dustrielle Grundversorgung (nicht nur mit Kommunikationstechnologie) verlangt.<br />

Die Transformation bezieht sich also eher auf die dom<strong>in</strong>ante äußere Form (immaterielle<br />

Produktion), denn auf die <strong>in</strong>nere Logik ihrer Ökonomie (materielle Akkumulation). Daher<br />

ergibt sich e<strong>in</strong>e Spannung zwischen Form und Inhalt <strong>der</strong> Ökonomie. Diese Spannung läßt<br />

die Industriegesellschaft paradox werden: Wir haben es mit e<strong>in</strong>er post<strong>in</strong>dustriellen Industrie-<br />

gesellschaft zu tun.<br />

In e<strong>in</strong>em ganz ähnlichen S<strong>in</strong>n wurde bereits zu Beg<strong>in</strong>n dieses Abschnitts dargelegt, daß weiter-<br />

gehende Mo<strong>der</strong>nisierung – aufgrund <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses<br />

– zur Steigerung auch <strong>der</strong> gesellschaftlichen Wi<strong>der</strong>sprüche führt (siehe S. XLII). Differenzierung<br />

und Individualisierung, Rationalisierung und Domestizierung machen nicht etwa Halt, son<strong>der</strong>n<br />

gew<strong>in</strong>nen nur an Ambivalenz. Und auch wenn es, wie immer häufiger zu beobachten ist,<br />

zu gegenmo<strong>der</strong>nen Reflexen durch e<strong>in</strong>en erstarkenden Fundamentalismus und Ethnonationalismus<br />

kommt, ist mit dem Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als weitere zivilisatorisch-technische und sozial-kulturelle<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung (so schnell) nicht zu rechnen. Die also gerade durch fortschreitende Mo<strong>der</strong>ni-<br />

sierungsprozesse vielfach wi<strong>der</strong>sprüchliche gewordene Situation ist nicht geeignet den Gang


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXI<br />

<strong>der</strong> Geschichte zum Stillstand zu br<strong>in</strong>gen, son<strong>der</strong>n enthält im Gegenteil e<strong>in</strong> erhebliches<br />

Konfliktpotential. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne kann me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach deshalb nicht e<strong>in</strong>fach als <strong>Post</strong>histoire,<br />

als die bedeutungslose Wie<strong>der</strong>kehr des immer Gleichen aufgefaßt werden. Noch schwerer<br />

freilich wiegt e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er E<strong>in</strong>wand: Erst durch die Historisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, die sich selbst<br />

schließlich nicht als historisch, son<strong>der</strong>n gerade als posthistoristisch begreift (siehe nochmals<br />

S. XIIIf. und vgl. auch Sloterdijk: Nach <strong>der</strong> Geschichte; S. 272), kann die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als<br />

<strong>Post</strong>histoire <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung treten. In diesem S<strong>in</strong>n wäre die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne geradezu die Erfüllung<br />

des Anspruchs <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf Überzeitlichkeit. Damit aber zeigt sich: Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne,<br />

als E<strong>in</strong>stellung zur Mo<strong>der</strong>ne und ihres +Zeithorizonts*, war als Möglichkeit (nicht als Telos)<br />

schon immer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne enthalten. O<strong>der</strong> von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite betrachtet: Sie hat die<br />

Mo<strong>der</strong>ne zur Voraussetzung. Ohne Mo<strong>der</strong>ne ke<strong>in</strong>(e) +<strong>Post</strong>*. 118<br />

Hiermit ist gleichzeitig e<strong>in</strong>e wichtige Unterscheidung angedeutet. Man kann (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne<br />

zum e<strong>in</strong>en auf strukturell-soziologischer Ebene konzeptionalisieren, was sich <strong>in</strong> Begriffen wie<br />

+Differenzierung*,+Individualisierung*,+post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft*und +Kommunikationsgesell-<br />

schaft* etc. ausdrückt. Zum an<strong>der</strong>en gibt es die Bewußtse<strong>in</strong>sdimension des (post)mo<strong>der</strong>nen<br />

Denkens, das se<strong>in</strong>e Wurzeln <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ambivalenz des Rationalisierungs- und Domestizierungs-<br />

prozesses hat. Je nach <strong>der</strong> Ausprägung dieses Bewußtse<strong>in</strong>s, das die stattf<strong>in</strong>denden strukturellen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen spiegelt o<strong>der</strong>, <strong>in</strong>dem es sie durch ihr Erkennen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Weise<br />

(re)konstruiert, auch vielleicht nur vorspiegelt, kann man von e<strong>in</strong>er euphorischen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er<br />

skeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne sprechen – wobei es me<strong>in</strong>es Erachtens allerd<strong>in</strong>gs wünschenswert<br />

wäre, daß e<strong>in</strong>e +authentische* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, d.h. e<strong>in</strong>e sich auf sich selbst beziehende, reflexive<br />

Mo<strong>der</strong>ne, an die Stelle e<strong>in</strong>seitiger Euphorie und Skepsis tritt. Was mit diesem seltsam anmuten-<br />

den Begriff e<strong>in</strong>er +authentischen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne genau geme<strong>in</strong>t ist, wird jedoch erst zum Schluß<br />

dieses Prologs näher erläutert werden. Zunächst sollen e<strong>in</strong>ige exemplarisch ausgewählte Posi-<br />

tionen <strong>der</strong> euphorischen und <strong>der</strong> skeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne kurz dargelegt werden.


LXII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

DAS LOB DER VIELHEIT – DIE EUPHORISCHE POSTMODERNE<br />

Die Unterscheidung zwischen euphorischer und skeptischer <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ersche<strong>in</strong>t zunächst<br />

banal. Schließlich gibt es immer die grundsätzliche Möglichkeit e<strong>in</strong>er begrüßenden o<strong>der</strong> eher<br />

ablehnenden Haltung gegenüber e<strong>in</strong>er Entwicklung. Was die kulturellen und philosophischen<br />

Manifestationen des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus betrifft, so wird im Kontext des deutschsprachigen<br />

Mo<strong>der</strong>ne-<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskurses meist <strong>in</strong> Anlehnung an Habermas und vor allem Kamper<br />

zwischen e<strong>in</strong>em affirmativen (posthistoristischen) <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus und e<strong>in</strong>er (ideologie-)kritischen<br />

E<strong>in</strong>stellung zum postmo<strong>der</strong>nen Denken und zur postmo<strong>der</strong>nen Kultur unterschieden (vgl.<br />

Habermas: Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt; S. 46 und Kamper: Nach <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne;<br />

S. 168ff.). Im anglo-amerikanischen Bereich rekurriert man <strong>in</strong> ganz ähnlicher Weise auf Hal<br />

Fosters Differenzierung zwischen e<strong>in</strong>em oppositionellen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus des Wi<strong>der</strong>stands<br />

und e<strong>in</strong>em <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus <strong>der</strong> Reaktion (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism – A Preface; S. XII).<br />

Warum wird hier e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Term<strong>in</strong>ologie zur Charakterisierung <strong>der</strong> möglichen Reaktionsweisen<br />

und Orientierungen auf den und des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus gewählt? – Die Bezeichnungen +affirmativ*<br />

und +kritisch* be<strong>in</strong>halten me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach e<strong>in</strong>e (<strong>in</strong> dieser Weise ungerechtfertigte) Bewer-<br />

tung <strong>der</strong> jeweiligen Position. E<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> affirmative Haltung, die unkritisch bejaht, ersche<strong>in</strong>t<br />

schließlich von vorne here<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweifelhaften Licht. Zudem setzen die Begriffe +Affirma-<br />

tion* und +Kritik* e<strong>in</strong> <strong>der</strong> Entscheidung zu Affirmation o<strong>der</strong> Kritik zugrunde liegendes implizites<br />

o<strong>der</strong> explizites Interesse voraus. Im Begriffspaar euphorisch-skeptisch ist dagegen auch e<strong>in</strong>e<br />

emotionale Komponente enthalten, die nach me<strong>in</strong>er Auffassung die eigentlichen Gründe für<br />

die Begrüßung o<strong>der</strong> Ablehnung postmo<strong>der</strong>nistischen Denkens und spätmo<strong>der</strong>ner Kultur-Phäno-<br />

mene besser spiegelt. Was die Unterscheidung Fosters zwischen oppositionellem und reak-<br />

tionärem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus betrifft, so ist diese zwar ohne Zweifel s<strong>in</strong>nvoll (vor allem <strong>in</strong> bezug<br />

auf die noch zu behandelnden politischen Implikationen des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus). An<strong>der</strong>erseits<br />

be<strong>in</strong>haltet sie – wie noch deutlich werden wird – die Schwierigkeit, daß e<strong>in</strong>ige Äußerungsformen<br />

des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus gleichzeitig reaktionär und oppositionell zu nennen wären.<br />

So weit, so gut? – Ne<strong>in</strong>, denn wer von euphorischer und skeptischer <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne spricht,<br />

<strong>der</strong> setzt diese als real gegeben voraus und identifiziert zudem die kulturelle Bewegung des<br />

+<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus* mit dem Epochenbegriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*. Damit wird neben dem Gebrauch<br />

e<strong>in</strong>er +unsauberen* Term<strong>in</strong>ologie e<strong>in</strong> wesentliches Element <strong>der</strong> Kritik am <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus<br />

ausgeblendet: nämlich daß die +schöne neue Welt* <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne hauptsächlich <strong>in</strong> den


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXIII<br />

119<br />

Köpfen ihrer (<strong>in</strong>tellektuellen) Propagatoren existiert. Diese Kritik hat jedoch selbst e<strong>in</strong> Problem:<br />

daß es die postmo<strong>der</strong>nen Theoretiker (und Praktiker) überhaupt gibt.<br />

Aus idealistischer Sicht betrachtet hat jede Idee, schon alle<strong>in</strong>e weil sie Idee ist, +Wirklichkeit*.<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist demgemäß mit <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Der E<strong>in</strong>wand, daß nicht jede<br />

Idee gleich +wirklich* ist, trifft nicht. Denn er setzt ja voraus, daß es e<strong>in</strong>e +Wirklichkeit* außerhalb<br />

des Bereichs <strong>der</strong> Ideen gibt, an dem <strong>der</strong> +Realitätsgehalt* e<strong>in</strong>er spezifischen Idee gemessen<br />

werden könnte. Allerd<strong>in</strong>gs ist diese Argumentation zirkulär und wenig geeignet zu überzeugen,<br />

wenn man ihre Prämissen nicht teilt.<br />

Aus materialistischer Sicht wie<strong>der</strong>um (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> Spielart des Historischen Materialismus)<br />

ist jede Idee Ausdruck <strong>der</strong> wie auch immer gearteten (tat)sächlichen Verhältnisse. Die Vorstellung<br />

e<strong>in</strong>er <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist also nur möglich, wenn das Se<strong>in</strong> (die ökonomische Basis, die gesell-<br />

schaftlichen Verhältnisse etc.) die Idee <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne nicht nur erlaubt, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> gewisser<br />

Weise erst produziert. Allerd<strong>in</strong>gs könnte es sich bei dieser Idee um sogenanntes +falsches<br />

Bewußtse<strong>in</strong>* handeln. Doch auch das falsche Bewußtse<strong>in</strong> ist (<strong>in</strong> marxistischer Sicht) als Ideologie<br />

nicht nur notwendig falsch, son<strong>der</strong>n auch faktisch funktional zur Aufrechterhaltung <strong>der</strong> sozialen<br />

120<br />

Machtverhältnisse. Damit sie dies leisten kann, muß sie e<strong>in</strong> Moment <strong>der</strong> +Wahrheit* enthalten.<br />

E<strong>in</strong>e Ideologie ist gemäß dieser Vorstellung die Behauptung des +Richtigen* im Dienst des<br />

+Falschen* – o<strong>der</strong> schließt doch zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Element zur Transzendierung dieses +Falschen*<br />

e<strong>in</strong>. Nur auf dieser Basis ist Ideologiekritik überhaupt möglich. 121<br />

Wenn ich nun von euphorischer o<strong>der</strong> skeptischer <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne spreche, so soll dies nicht<br />

aussagen, daß es sich nicht (und dies <strong>in</strong> beiden Fällen) um im ideologischen Sche<strong>in</strong> gefangene<br />

+Zeitgeister* handeln kann, die sich hier Ausdruck verleihen, son<strong>der</strong>n nur, daß e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> (äußeren) Verhältnisse e<strong>in</strong>getreten ist, die das Aufkommen e<strong>in</strong>es sich als postmo<strong>der</strong>n<br />

verstehenden Denkens ermöglichte. Alle<strong>in</strong>e, aber immerh<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n ist <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne<br />

+real* und gleichzeitig identisch mit ihrer kulturellen (Gegen-)Bewegung: dem (Anti-)<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>-<br />

nismus.<br />

Diese Vorbemerkungen erschienen mir angebracht, um klarzumachen, aufgrund welcher<br />

(Voraus)setzungen ich me<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen euphorischer und skeptischer <strong>Post</strong>-<br />

mo<strong>der</strong>ne treffe. Doch nun endlich zur näheren Charakterisierung <strong>der</strong> +euphorischen <strong>Post</strong>-<br />

mo<strong>der</strong>ne*: Man kann diese auch als eigentliche <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne bezeichnen, denn wenn (die<br />

Vertreter <strong>der</strong> skeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne) meist abschätzig von +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nisten* o<strong>der</strong> gar


LXIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

+<strong>Post</strong>is* (Habermas) sprechen, so s<strong>in</strong>d jene geme<strong>in</strong>t, die sich die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne direkt o<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>direkt auf die Fahnen geschrieben haben. E<strong>in</strong>e Reihe dieser Autoren wurde bereits vorgestellt.<br />

Hier noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e kurze Rekapitulation:<br />

Leslie Fiedler (siehe S. XLIV) for<strong>der</strong>te neue, weniger elitäre Formen <strong>der</strong> Literatur und Kunst<br />

<strong>in</strong> unserer Zeit +freudvoller Misologie und prophetischer Verantwortungslosigkeit* (Überquert<br />

die Grenze, schließt den Graben!; S. 58) – e<strong>in</strong>e Zeit, die er lustvoll begrüßt, weil sie Räume<br />

für Phantasie und Leidenschaft eröffnet. Die Literatur, die e<strong>in</strong>em solchen Zeitbewußtse<strong>in</strong><br />

entströmt, ist +e<strong>in</strong>e fortdauernde Offenbarung, die e<strong>in</strong>er permanenten religiösen Revolution<br />

entspricht, <strong>der</strong>en Funktion es genau ist, die weltliche Masse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e heilige Geme<strong>in</strong>de zu<br />

verwandeln, mit sich selbst e<strong>in</strong>s und gleichermaßen zu Hause <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Technologie<br />

und im Reich des Wun<strong>der</strong>s* (ebd.; S. 73).<br />

Charles Jencks trat im Bereich <strong>der</strong> Architektur (allerd<strong>in</strong>gs weniger pathetisch) für e<strong>in</strong>en radikalen<br />

Eklektizismus e<strong>in</strong>, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> den urbanen Kontext e<strong>in</strong>paßt und ihn gleichzeitig erweitert<br />

(vgl. Die Sprache <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Architektur; S. 94 und siehe auch S. XLVf.). Achille Bonito<br />

Oliva (siehe S. XLIV) propagierte e<strong>in</strong>e Trans-Avantgarde, die sich vielfältig auffächert und<br />

+<strong>der</strong> Kunst e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>in</strong> alle Richtungen erlaubt* (Die italienische Trans-Avantgarde;<br />

S. 127). Paul Feyerabend wie<strong>der</strong>um (siehe S. XLVI) plädierte für e<strong>in</strong>en +heiteren methodischen<br />

Anarchismus*. Differenz, Diskont<strong>in</strong>uität und Dekonstruktion standen im Mittelpunkt <strong>der</strong><br />

Philosophie von Foucault (siehe S. XLVIIff.) und Derrida (siehe S. XLVIII). Lyotard, <strong>der</strong> bedeu-<br />

tendste +postmo<strong>der</strong>ne* Philosoph, sah das Ende <strong>der</strong> Metaerzählungen gekommen und stellte<br />

an ihre Stelle e<strong>in</strong>e Pluralität <strong>der</strong> Sprachspiele (siehe S. XLIXff.).<br />

Aus vielen dieser Ansätze spricht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong>e gewisse Euphorie, e<strong>in</strong>e Begrüßung <strong>der</strong> Chancen,<br />

die das Neue – für das hier die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne steht – eröffnet. Es handelt sich jedoch zumeist<br />

nicht um wirklich e<strong>in</strong>seitige Hymnen auf das +goldene postmo<strong>der</strong>ne Zeitalter*, son<strong>der</strong>n es<br />

f<strong>in</strong>den sich auch nachdenkliche Elemente. Dies gilt speziell für die Philosophie Lyotards.<br />

Die unreflektierte (Nach-)Lässigkeit des grassierenden <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus ist ihm suspekt (vgl.<br />

Der Wi<strong>der</strong>streit; S. 12) und die jenem entsprechende oberflächliche Beliebigkeit charakterisiert<br />

er als +zynischen Eklektizismus* (vgl. Immaterialität und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 38).<br />

Welsch bezeichnet die hier von Lyotard gebrandmarkte Spielart <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Bewegung<br />

122<br />

als +diffusen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus* (vgl. Unsere <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 2ff.). Gerade bei<br />

Welsch läßt sich aber auch e<strong>in</strong> euphorisches Element aufweisen. Dies kann anhand e<strong>in</strong>iger


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXV<br />

Zitate belegt werden. Zunächst jedoch zum – <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht durchaus typischen – <strong>Post</strong>-<br />

123<br />

mo<strong>der</strong>ne-Konzept von Welsch, das Pluralität <strong>in</strong>s Zentrum stellt. Bei ihm heißt es:<br />

+<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne wird hier als Verfassung radikaler Pluralität verstanden, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus als <strong>der</strong>en<br />

Konzeption verteidigt.* (Ebd.; S. 4)<br />

Diese Aussage trifft sich im Kern mit dem ebenfalls +pluralistischen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Konzept<br />

von Ihab Hassan. Hassan, auf den bisher nur kurz e<strong>in</strong>gegangen wurde (siehe S. XLIV) und<br />

<strong>der</strong> schon relativ früh (Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre) als Literatur-Kritiker zur Thematik Stellung bezog<br />

(z.B. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Essay +POSTmo<strong>der</strong>nISM*), entwickelte nicht nur e<strong>in</strong> Verständnis für den <strong>Post</strong>-<br />

mo<strong>der</strong>nismus als e<strong>in</strong> umfassendes kulturelles Phänomen (vgl. Toward a Concept of <strong>Post</strong>-<br />

mo<strong>der</strong>nism) – <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en späteren Schriften zur postmo<strong>der</strong>nen Kultur stellte er ihren Doppel-<br />

charakter heraus: Zum e<strong>in</strong>en sei e<strong>in</strong>e zunehmende Unbestimmtheit (<strong>in</strong>determ<strong>in</strong>acy) aus-<br />

zumachen, die sich <strong>in</strong> Ambiguität, Diskont<strong>in</strong>uität, Heterodoxie etc. äußert. Zum an<strong>der</strong>en<br />

124<br />

sei e<strong>in</strong>e neue (a)gnostische Immanenz gegeben, die dar<strong>in</strong> besteht, daß <strong>der</strong> Mensch se<strong>in</strong>e<br />

(technischen) Fähigkeiten zum E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die Natur ausbaut und sich durch symbolische Ab-<br />

straktion immer mehr auch e<strong>in</strong>e eigene Welt (<strong>der</strong> Fiktionen) erschafft (vgl. ebd.; S. 92ff. sowie<br />

ausführlicher: Culture, Indeterm<strong>in</strong>acy, and Immanence). 125<br />

In <strong>der</strong> Zusammenschau mit weiteren, lei<strong>der</strong> ebensowenig wirklich erhellenden Merkmalen<br />

zieht er den Schluß, daß e<strong>in</strong> kritischer Pluralismus tief <strong>in</strong> das Feld postmo<strong>der</strong>ner Kultur<br />

126<br />

e<strong>in</strong>gelassen ist (vgl. Pluralism <strong>in</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nist Perspective; S. 173). Und trotz aller auch<br />

von Hassan gesehenen Ambivalenz dieser Kultur: Für ihn gibt es +ke<strong>in</strong>e [an<strong>der</strong>e] Alternative,<br />

als das Konzept <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne für die Zukunft offen zu halten, obwohl <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne selbst<br />

[d.h. als Kunst- und Architekturstil] vielleicht schon <strong>der</strong> Geschichte angehört* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne<br />

heute; S. 56). 127<br />

Noch e<strong>in</strong>deutiger heißt es bei Welsch: +Die postmo<strong>der</strong>ne Vielfalt ist als grundlegend positives<br />

Phänomen zu begreifen. Wer verlorener E<strong>in</strong>heit nachtrauert, trauert e<strong>in</strong>em – wie immer auch<br />

sublimen – Zwang nach.* (Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 40) Deshalb stellt er resümierend<br />

fest: +Der <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus kann die Empf<strong>in</strong>dung vieler teilen, daß die Gesellschaft e<strong>in</strong>e<br />

neue Begeist(er)ung brauche.* (Ebd.; S. 184) Gerechterweise sollte man allerd<strong>in</strong>gs anmerken,<br />

daß die von Welsch geme<strong>in</strong>te +Begeist(er)ung* sich aus e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Geist speist als bei<br />

Hassan, <strong>in</strong> dessen frühen Schriften e<strong>in</strong>e deutliche, unkritische Technologie-Fasz<strong>in</strong>ation zu


LXVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

128<br />

spüren ist. Und Welsch ist auch nicht dem eigentlich und primären <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus<br />

zuzurechnen, ist eher (brillanter) Interpret als postmo<strong>der</strong>ner +Avantgardist* – wenn dieser<br />

Begriff hier erlaubt ist. Es handelt sich bei ihm und e<strong>in</strong>igen an<strong>der</strong>en +aufgeschlossenen*<br />

Rezipienten <strong>der</strong> (primären) <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Entwürfe aus den 70er Jahren also gewissermaßen<br />

um e<strong>in</strong>e +sekundäre Euphorie*. Ich möchte hier jedoch nicht näher auf diesen Strang e<strong>in</strong>er<br />

euphorischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne e<strong>in</strong>gehen, da sich die +primäre* und die +sekundäre* euphorische<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> ihrer Grundorientierung weitgehend decken. Sie alle s<strong>in</strong>gen – verkürzt dargestellt<br />

und zusammengefaßt – das +Lob <strong>der</strong> Vielheit* und zeichnen sich durch e<strong>in</strong>e emphatische<br />

Begrüßung o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e emotionale Aff<strong>in</strong>ität zu jener neuen +Epoche <strong>der</strong><br />

Wi<strong>der</strong>streite* aus.<br />

Es gibt aber noch e<strong>in</strong>e weitere Spielart e<strong>in</strong>er euphorischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, die hier geradezu<br />

e<strong>in</strong>e Gegenposition e<strong>in</strong>nimmt. Es handelt sich dabei freilich um e<strong>in</strong>en <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus im<br />

prämo<strong>der</strong>nen Bewußtse<strong>in</strong>. An<strong>der</strong>erseits versteht man sich explizit als postmo<strong>der</strong>n, und das<br />

Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität wird dezidiert begrüßt. Nur: Welches Mo<strong>der</strong>nitätsverständnis liegt hier<br />

zugrunde? – Das verwendete Schlagwort vom +Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität* ist zugleich (<strong>der</strong> mit<br />

e<strong>in</strong>em Fragezeichen versehene) Titel e<strong>in</strong>es Essays von Robert Spaemann, <strong>in</strong> dem jener sieben<br />

129<br />

Charakteristika <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne aufzählt: 1. das Verständnis von Freiheit als Emanzipation,<br />

2. den Mythos vom notwendigen und unendlichen Fortschritt, 3. e<strong>in</strong> Programm progressiver<br />

Naturbeherrschung, 4. wissenschaftlichen Objektivismus, 5. die Homogenisierung <strong>der</strong> Erfahrung<br />

(durch Empirie), 6. die Hypothetisierung des Wissens und 7. e<strong>in</strong>en naturalistischen Universalismus<br />

(vgl. Das Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität?; S. 19–30).<br />

Man mag über diese Kennzeichen im e<strong>in</strong>zelnen streiten und e<strong>in</strong>ige stehen auch im Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> (wie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die letzten Punkte zeigen). Wichtig ist jedoch, daß Spaemann<br />

e<strong>in</strong>e Krise so verstandener Mo<strong>der</strong>nität konstatiert. Als Belege gelten ihm das zunehmend<br />

erwachende ökologische Bewußtse<strong>in</strong> und die immer breitere Infragestellung <strong>der</strong> wissen-<br />

schaftlichen Vernunft. Das hier vorf<strong>in</strong>dbare Mo<strong>der</strong>ne-Verständnis deckt sich <strong>in</strong>soweit mit<br />

dem kritischen Mo<strong>der</strong>ne-Verständnis <strong>der</strong> primären und sekundären <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Ganz an<strong>der</strong>s<br />

stellt es sich h<strong>in</strong>gegen dar, wenn man sich die Vorschläge betrachtet, was an die Stelle <strong>der</strong><br />

(zu überw<strong>in</strong>denden) Mo<strong>der</strong>nität treten soll. Spaemann enthält sich hier zwar weitgehend<br />

e<strong>in</strong>em Urteil und me<strong>in</strong>t: +Philosophie kann vielleicht sagen, was ist, und zu verstehen versuchen,<br />

wie es geworden ist. Das Kommende zu denken darf sie sich nicht anmaßen […] Se<strong>in</strong>e


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXVII<br />

Antizipation ist eher Sache <strong>der</strong> Kunst.* (Ebd.; S. 39f.) E<strong>in</strong>ige Anhaltspunkte gibt er uns zum<br />

Glück aber doch:<br />

+Das bloß anarchistische Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> subjektiver Verhaltensweisen […] wird vielleicht zu e<strong>in</strong>er<br />

vorübergehenden Erschütterung <strong>der</strong> wissenschaftlichen Rationalität […] führen. Aber es wird letzten<br />

Endes diese Rationalität nicht nur nicht zerstören, son<strong>der</strong>n eher konsolidieren. Die so sich etablierenden<br />

›Nischenkulturen‹ […] werden […] selbst rational verwaltet […] Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität wird<br />

e<strong>in</strong>e lautlosere und unsche<strong>in</strong>barere Form haben […] Erst wenn die Krisenerfahrung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität<br />

die Gestalt <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung e<strong>in</strong>er nichtmediatisierbaren, nicht verwaltbaren und nicht funktionali-<br />

sierbaren Unbed<strong>in</strong>gtheit gew<strong>in</strong>nt, <strong>der</strong> Unbed<strong>in</strong>gtheit des Religiösen, des Sittlichen und des Künstlerischen,<br />

erst dann kann von <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>tegralen Erfahrungsbegriffs gesprochen werden.*<br />

(Ebd.; S. 35f.)<br />

Damit ist auch gesagt, um was es Spaemann eigentlich geht: um die Wie<strong>der</strong>herstellung des<br />

Vergangenen, um die Wie<strong>der</strong>gew<strong>in</strong>nung e<strong>in</strong>es verloren Glaubten. Und er ist mit diesem Ans<strong>in</strong>nen<br />

nicht alle<strong>in</strong>e. Ähnlich wie <strong>der</strong> (christliche) <strong>in</strong>dische Religionsphilosoph Raimon Panikkar e<strong>in</strong>e<br />

+Rückkehr zum Mythos* (1979) for<strong>der</strong>t, so bemerkt auch Kurt Hübner zu den +Aufgaben <strong>der</strong><br />

<strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>ne nach <strong>der</strong> Neubestimmung von Wissenschaft und Mythos*:<br />

+Der Versuch, alles Mythische <strong>in</strong>s Reich <strong>der</strong> Fabel […] zu verweisen, ist also theoretisch ebenso gescheitert<br />

wie <strong>der</strong> Versuch, <strong>der</strong> Wissenschaft den alle<strong>in</strong>igen Zugang zur Wahrheit zuzuweisen. Die <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>ne<br />

aber wird zwangsläufig <strong>in</strong> dieser theoretischen E<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>en Ansatz erkennen, des Zwiespalts Herr<br />

zu werden, von dem die Mo<strong>der</strong>ne geprägt ist.* (Wissenschaftliche Vernunft und <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>ne; S. 78)<br />

Hier zeigt sich sogar e<strong>in</strong>e gewisse Parallelität zu den sprachphilosophischen Gedanken <strong>der</strong><br />

vorgestellten Vertreter <strong>der</strong> französischen +nouvelle philosophie* und zu Feyerabend. Dies<br />

gilt auch für folgende Formulierung von Peter Koslowski:<br />

+Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne enthält e<strong>in</strong> Moment <strong>der</strong> Befreiung, weil er aus den Obsessionen <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne [aus Vernunftvergottung wie Vernunftverzweiflung] herauszuführen vermag […] Es geht um<br />

die Wie<strong>der</strong>gew<strong>in</strong>nung <strong>der</strong> gesamten geistigen Vermögen und Wissensformen des Menschen.* (Die<br />

Baustellen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 7f.)<br />

Doch trotz aller Berührungspunkte: E<strong>in</strong>em Zwiespalt Herr werden zu wollen, wie Hübner<br />

formuliert, entspricht nicht dem Selbstverständnis <strong>der</strong> primären und sekundären (euphorischen)


LXVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong>n für <strong>der</strong>en Vertreter gilt es vielmehr, Wi<strong>der</strong>sprüche auszuleben und<br />

auszuhalten. Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Vokabel ist hier deshalb <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die Projektion <strong>der</strong><br />

Hoffnung auf die Restauration e<strong>in</strong>er religiös-ideell fundierten und <strong>in</strong>spirierten Gesellschaft<br />

<strong>der</strong> Synthese und <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit. Dieser <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus prämo<strong>der</strong>ner Prägung ist ke<strong>in</strong> aus-<br />

schließlich deutsches Phänomen. Er zeigt sich ebenfalls, wenn beispielsweise Fre<strong>der</strong>ick Turner<br />

130<br />

von e<strong>in</strong>er Wie<strong>der</strong>geburt religiöser Werte spricht (vgl. Rebirth of Value; S. 83ff.) o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>igen Spielarten des Kommunitarismus. 131<br />

WIDER DIE BELIEBIGKEIT – DIE SKEPTISCHE POSTMODERNE<br />

Die euphorische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner Prägung lehnte das plural(istisch)e <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-<br />

Konzept <strong>der</strong> primären und sekundären <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ab. In dieser Ablehnung trifft sie sich<br />

mit <strong>der</strong> hier darzustellenden skeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, die sich allerd<strong>in</strong>gs selbst nicht als<br />

zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne gehörig begreift. Um es jedoch noch e<strong>in</strong>mal klar zu sagen: Auch e<strong>in</strong>e <strong>Post</strong>-<br />

mo<strong>der</strong>nismus-skeptische Denkhaltung ist zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht Ausdruck und Element<br />

<strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*. Denn die ablehnende Haltung gegenüber dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus und<br />

die Heftigkeit <strong>der</strong> Reaktionen auf se<strong>in</strong>e Entwürfe erklärt sich gerade aus dem Bewußtse<strong>in</strong>,<br />

daß es mit dem Gewesenen e<strong>in</strong> für alle Mal vorbei se<strong>in</strong> könnte. Dieses Bewußtse<strong>in</strong> spricht<br />

auch Walther Zimmerli aus, wenn er beklagt:<br />

+In <strong>der</strong> Tat spricht vieles dafür, daß wir es <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne mit e<strong>in</strong>er Auflösung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit und<br />

e<strong>in</strong>er Ersetzung <strong>der</strong>selben durch Vielheit und Buntheit zu tun haben. Alle alten Werte, alles Heilige<br />

und Überlieferte sche<strong>in</strong>t entwertet zu se<strong>in</strong> […]* (Das antiplatonische Experiment; S. 19)<br />

Wie bei Spaemann, Hübner und Koslowski zeigt sich im Denken Zimmerlis e<strong>in</strong> (christlich<br />

geprägter) Prämo<strong>der</strong>nismus. Die +postmo<strong>der</strong>ne* Pluralität ist Zimmerli aber nicht nur suspekt,<br />

son<strong>der</strong>n ersche<strong>in</strong>t ihm geradezu als Chimäre, und er betont, daß Vielheit +immer und unablösbar<br />

an die E<strong>in</strong>heit geknüpft* ist (ebd.; S. 19). Dies gilt auch für die (postmo<strong>der</strong>ne) Gegenwart:<br />

+Statt im Bereich des theoretisch-praktisch-religiös Ideellen f<strong>in</strong>det sich diese E<strong>in</strong>heit nun auf<br />

<strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Ersche<strong>in</strong>ungen.* (Ebd.; S. 21)<br />

Darum ist <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne für Zimmerli gleichbedeutend mit e<strong>in</strong>em technologischen Zeitalter,<br />

<strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> gigantisches +antiplatonisches Experiment* stattf<strong>in</strong>det, das die +Techno-Logik* zum


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXIX<br />

bestimmenden Maßstab erhebt. An<strong>der</strong>s als Spaemann begreift er die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne aber weniger<br />

als das +Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität*, das die Chance e<strong>in</strong>er +Rückkehr zum Heiligen* (Bell) bietet,<br />

son<strong>der</strong>n er sieht <strong>in</strong> ihr vielmehr die Gefahr für e<strong>in</strong> +despotische[s] Erstarken <strong>der</strong> Technologie*<br />

(ebd.; S. 32). In dieser Argumentationsfigur zeigt sich zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> Berührungspunkt mit<br />

Baudrillard. Auch dieser sprach schließlich von e<strong>in</strong>em Zerbersten <strong>der</strong> Transzendenz und <strong>der</strong><br />

+Agonie des Realen* (1978) im Zeitalter des Simulakrums, <strong>in</strong> dem Wirklichkeit immer mehr<br />

zur technologisch generierten Wirklichkeit +mutiert* (siehe S. LVf.). Baudrillard ist zwar <strong>der</strong><br />

primären <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zuzurechnen, doch tritt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Denken deutlich zutage, was Kamper<br />

als (posthistoristische) +Dehnung <strong>der</strong> Katastrophe* bezeichnet (vgl. Nach <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S.<br />

170). Diese entspr<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht, +daß menschliche Erkenntnis ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Wahl hat […],<br />

als auch das, was sie vernichtet, noch zu erfassen* (ebd.; S. 168).<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ersche<strong>in</strong>t hier als +Zeitalter des Epilogs* (Sloterdijk), und e<strong>in</strong> solches Denkmotiv<br />

f<strong>in</strong>det sich ohne Zweifel auch bei Vattimo, <strong>der</strong> ja e<strong>in</strong>e +Ontologie des Verfalls* aufstellte und<br />

das +Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* zur Tatsache erklärte (siehe S. Lf.). Nach Sloterdijk ist aber für das<br />

mo<strong>der</strong>ne Bewußtse<strong>in</strong> schon <strong>der</strong> Begriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* Herausfor<strong>der</strong>ung genug:<br />

+Für die Mo<strong>der</strong>ne ist <strong>der</strong> bloße Gedanke an e<strong>in</strong>e <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne illegitim und schockierend, weil ihrem<br />

Selbstverständnis gemäß <strong>der</strong> Nachfolger <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne nie e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er se<strong>in</strong> kann als wie<strong>der</strong>um die<br />

Mo<strong>der</strong>ne […]* (Nach <strong>der</strong> Geschichte; S. 272)<br />

Es muß daher nicht verwun<strong>der</strong>n, wenn gerade die Verfechter <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und des mit ihr<br />

verbundenen Aufklärungsgedankens dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus skeptisch gegenüberstehen. Doch<br />

ist hier auch das Bewußtse<strong>in</strong> für die +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (Horkheimer/Adorno 1944)<br />

wach. Dies ist zum großen Teil das Verdienst <strong>der</strong> Kritischen Theorie, die sich zwar immer<br />

als Emanzipationswissenschaft verstand, aber <strong>in</strong> ihrer +Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft*<br />

(Horkheimer 1947) <strong>der</strong> Gegenwart (ähnlich wie Zimmerli) zum resignierenden Urteil gelangt,<br />

daß e<strong>in</strong>e Vernunft, die nur dem technischen Sachzwang gehorcht und sich alle<strong>in</strong>e am Nützlichen<br />

orientiert, totalitär geworden ist (siehe auch S. XXXII). Die angebliche Vielfalt <strong>der</strong> Warenwelt<br />

ist nur (ästhetischer) Sche<strong>in</strong> und <strong>in</strong> Wa(h)rheit gilt e<strong>in</strong>e Dom<strong>in</strong>anz des Identischen: +Kultur<br />

heute schlägt alles mit Ähnlichkeit* (Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung; S. 128).<br />

Horkheimer und Adorno hatten deshalb die Hoffnung auf die Transzendierung <strong>der</strong> gesell-<br />

schaftlichen Realität durch e<strong>in</strong>e (kritische) Vernunft weitgehend aufgegeben. An<strong>der</strong>s Jürgen


LXX POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Habermas: Für ihn liegt die Rettung aus dem Zwiespalt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne noch immer <strong>in</strong> aufgeklärter<br />

132<br />

Rationalität. Diese muß allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Qualität annehmen, muß zur kommunikativen<br />

Rationalität werden, um <strong>der</strong> +Kolonialisierung <strong>der</strong> Lebenswelten* durch zweckrationale E<strong>in</strong>di-<br />

mensionalität vorzubeugen (vgl. Theorie des kommunikativen Handelns; Band 1, S. 28 sowie<br />

Band 2, S. 449ff.). Se<strong>in</strong>e bereits zitierte Adorno-Preis-Rede aus dem Jahr 1980 (siehe S. XV),<br />

die unter dem Titel +Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt* verschiedentlich veröffentlicht<br />

wurde, ist Hauptbezugspunkt <strong>der</strong> Denk-Richtung e<strong>in</strong>er skeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, die am<br />

Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne festhalten will. Hier brandmarkt Habermas die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nisten als<br />

neokonservativ (siehe auch S. XL). Aufschlußreich ist dabei Habermas’ Unterscheidung zwischen<br />

drei Formen des (postmo<strong>der</strong>nistischen) Konservatismus:<br />

• +Die Jungkonservativen machen sich die Grun<strong>der</strong>fahrung <strong>der</strong> ästhetischen Mo<strong>der</strong>ne, die<br />

Enthüllung <strong>der</strong> dezentrierten, von […] allen Imperativen <strong>der</strong> Arbeit und <strong>der</strong> Nützlichkeit<br />

befreiten Subjektivität zu eigen – und brechen mit ihr aus <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt aus […]<br />

Sie verlegen die spontanen Kräfte <strong>der</strong> Imag<strong>in</strong>ation, <strong>der</strong> Selbsterfahrung, <strong>der</strong> Affektivität<br />

<strong>in</strong>s Ferne und Archaische, und setzen <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft manichäisch e<strong>in</strong> nur<br />

noch <strong>der</strong> Evokation zugängliches Pr<strong>in</strong>zip entgegen […] In Frankreich führt diese L<strong>in</strong>ie von<br />

George Bataille über Foucault zu Derrida.* (S. 52)<br />

• +Die Altkonservativen lassen sich von <strong>der</strong> kulturellen Mo<strong>der</strong>ne gar nicht erst anstecken.<br />

Sie verfolgen den Zerfall <strong>der</strong> substanziellen Vernunft […] mit Mißtrauen und empfehlen<br />

[…] e<strong>in</strong>e Rückkehr zu Positionen vor <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne […] Auf dieser L<strong>in</strong>ie […] liegen beispiels-<br />

weise <strong>in</strong>teressante Arbeiten von Hans Jonas und Robert Spaemann.* (Ebd.; S. 52f.)<br />

• +Die Neukonservativen verhalten sich zu den Errungenschaften <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne noch am<br />

ehesten affirmativ. Sie begrüßen die Entwicklung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft, soweit diese<br />

ihre eigene Sphäre nur überschreitet, um den technischen Fortschritt, das kapitalistische<br />

Wachstum und e<strong>in</strong>e rationale Verwaltung voranzutreiben. Im übrigen empfehlen sie e<strong>in</strong>e<br />

<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Entschärfung <strong>der</strong> explosiven Gehalte <strong>der</strong> kulturellen Mo<strong>der</strong>ne.* (Ebd.; S. 53)<br />

Gemäß dieser Auffassung ersche<strong>in</strong>en alle Äußerungsformen des +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus* mehr<br />

o<strong>der</strong> weniger konservativ – nur nicht Habermas’ eigene Position, die man aus umgekehrter<br />

Perspektive allerd<strong>in</strong>gs durchaus als mo<strong>der</strong>nistischen Aufklärungs-Konservatismus bezeichnen


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXXI<br />

könnte. Aus e<strong>in</strong>er solchen Grundhaltung muß e<strong>in</strong> philosophischer Entwurf wie <strong>der</strong> Lyotards<br />

unter Verdacht geraten. Seyla Benhabib, die sich <strong>in</strong> vielen Punkten an Habermas (aber auch<br />

an Jameson) anlehnt, bezeichnet Lyotards Position darum als e<strong>in</strong>en naiven neoliberalen Pluralis-<br />

mus, <strong>der</strong> zum frustrierenden Relativismus und Eklektizismus postmo<strong>der</strong>ner Philosophie, welcher<br />

übergreifende Kritik unmöglich macht, maßgeblich beigetragen hat (vgl. Kritik des ›postmo<strong>der</strong>nen<br />

Wissens‹; S. 121ff.).<br />

E<strong>in</strong>e differenziertere Position nehmen Herbert Schnädelbach und Albrecht Wellmer e<strong>in</strong> (<strong>der</strong>en<br />

Gedanken damit auch für das im folgenden Abschnitt entworfene Konzept e<strong>in</strong>er authentischen<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne relevant se<strong>in</strong> werden). Schnädelbach stellt heraus, daß Horkheimer und Adorno<br />

im Rahmen ihrer Analyse <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* selbst <strong>in</strong> dieser Dialektik verstrickt<br />

blieben. Ihr Versuch, +über Aufklärung aufzuklären, [enthält] mythische Elemente […] Erzählt<br />

wird die Geschichte <strong>der</strong> tätigen Selbstbefreiung durch Naturbeherrschung und <strong>der</strong> Folgen,<br />

die das für das Subjekt notwendigerweise zeitigt […] Diese Intention teilt die Dialektik <strong>der</strong><br />

Aufklärung mit <strong>der</strong> gesamten Tradition <strong>der</strong> narrativen Geschichtsphilosophie <strong>der</strong> Neuzeit*<br />

(Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung; S. 18f.). Narrative Geschichtsphilosophie läuft<br />

jedoch aufgrund ihrer Struktur als +große Rahmenerzählung* (Lyotard), die das S<strong>in</strong>guläre absolut<br />

setzt, auf e<strong>in</strong>e +Mythisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* heraus (vgl. ebd.; S. 25). Gerade die E<strong>in</strong>lösung<br />

e<strong>in</strong>es tatsächlich dialektischen Anspruchs könnte aber jene Beschränkung aufheben. Denn<br />

da die Mo<strong>der</strong>ne selbst e<strong>in</strong> Plural ist, kann nur e<strong>in</strong> offenes Konzept von Aufklärung, das ihre<br />

wi<strong>der</strong>sprüchliche Vielfalt berücksichtigt, die Dynamik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> verschiedenen historischen<br />

und kulturellen Zusammenhängen untersuchen (vgl. ebd.; S. 27ff.).<br />

Auch Wellmer stellt das Thema Dialektik, die +Dialektik von Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*<br />

(1985), <strong>in</strong>s Zentrum se<strong>in</strong>er Überlegungen – Dialektik allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em +postmo<strong>der</strong>nen*<br />

Verständnis, ohne jeden geschichtsphilosophischen Anspruch und ohne die Konnotation e<strong>in</strong>er<br />

sich vollziehenden Wahrheit (vgl. Zur Dialektik von Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 49). Das<br />

Grundmotiv Wellmers ist e<strong>in</strong>e differenzierte Betrachtung des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus, die se<strong>in</strong>e<br />

Zweideutigkeit herausstellt. Das Netzwerk +postistischer* Begriffe und Denkweisen gleicht<br />

für ihn e<strong>in</strong>em Vexierbild: Zum e<strong>in</strong>en ist da die Vorstellung vom +Tod <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne*, <strong>der</strong><br />

+als e<strong>in</strong> verdienter Tod verstanden [wird]: als Ende e<strong>in</strong>er schrecklichen Verwirrung, e<strong>in</strong>es<br />

kollektiven Wahns, e<strong>in</strong>es Zwangsapparats, e<strong>in</strong>er tödlichen Illusion* (ebd.; S. 100). Zum an<strong>der</strong>en<br />

gibt es im Rahmen des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus aber auch Positionen, die die Mo<strong>der</strong>ne nicht als


LXXII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

beendet, son<strong>der</strong>n vielmehr als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Häutungsprozeß bef<strong>in</strong>dlich <strong>in</strong>terpretieren. In Anlehnung<br />

an Castoriadis spricht Wellmer <strong>in</strong> diesem Zusammenhang von <strong>der</strong> +Selbstüberschreitung <strong>der</strong><br />

Vernunft* <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sich radikalisierenden Mo<strong>der</strong>ne (vgl. ebd.; S. 100 u. S. 109). 133<br />

Diese Zweideutigkeit des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus ist Resultat +e<strong>in</strong>er Zweideutigkeit, die tief <strong>in</strong> den<br />

sozialen Phänomenen selbst verankert ist* (ebd.; S. 57). In diesem S<strong>in</strong>n ist <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus<br />

+das noch unklare Bewußtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Endes und e<strong>in</strong>es Übergangs* (ebd.). Soweit er mehr<br />

ist, als e<strong>in</strong>e bloße Mode, versteht Wellmer ihn deshalb als +e<strong>in</strong>e Suchbewegung, als e<strong>in</strong>[en]<br />

Versuch, Spuren <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen zu registrieren und die Konturen jenes Projekts [<strong>der</strong><br />

Selbstüberschreitung <strong>der</strong> Vernunft] schärfer hervortreten zu lassen* (ebd.; 109). Soll dieses<br />

Projekt gel<strong>in</strong>gen, dann muß sich nach Wellmer die E<strong>in</strong>sicht Lyotards <strong>in</strong> die irreduzible Pluralität<br />

<strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verschachtelter Sprachspiele mit Habermas’ Konzept e<strong>in</strong>er sozialen Koord<strong>in</strong>ierung<br />

durch kommunikatives Handeln verb<strong>in</strong>den (vgl. ebd.; S. 105f.).<br />

Bevor ich <strong>in</strong> Anschluß an diese Gedanken auf die (Un-)Möglichkeit e<strong>in</strong>er +authentischen*<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne e<strong>in</strong>gehe, sollen die dargestellten Formen <strong>der</strong> euphorischen und <strong>der</strong> skeptischen<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zur Übersicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Tabelle nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gestellt werden. Dabei möchte<br />

ich ausdrücklich darauf h<strong>in</strong>weisen, daß vorgenommene Grobe<strong>in</strong>teilung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e euphorische<br />

und e<strong>in</strong>e skeptische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne völlig willkürlich (allerd<strong>in</strong>gs nicht unbegründet) erfolgte<br />

und damit e<strong>in</strong>em geradezu typisch +mo<strong>der</strong>nen* Ordnungs- und Kategorisierungsstreben ent-<br />

spr<strong>in</strong>gt. Da aber Wissenschaft (Umwelt-)Komplexität notwendigerweise reduzieren muß, um<br />

diese nicht e<strong>in</strong>fach abzubilden, s<strong>in</strong>d solche +Rasterungen* durchaus s<strong>in</strong>nvoll, wenn man sich<br />

bewußt ist, daß es sich eben nur um ordnende +Stützkonstruktionen* handelt.<br />

Tabelle 2: Übersicht über die Formen <strong>der</strong> euphorischen und <strong>der</strong> skeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne 134<br />

Euphorische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Skeptische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne<br />

Primäre euphorische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne (z.B. Skeptische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne posthistoristischer<br />

Jencks) Prägung (z.B. Baudrillard)<br />

Sekundäre euphorische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne (z.B. Skeptische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne pro-mo<strong>der</strong>ner<br />

Welsch) Prägung (z.B. Habermas)<br />

Euphorische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner Skeptische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner<br />

Prägung (z.B. Koslowski) Prägung (z.B. Zimmerli)


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXXIII<br />

REFLEXIVITÄT UND AUTOPOIESIS – ZU EINER +AUTHENTISCHEN* POSTMODERNE<br />

Von e<strong>in</strong>er +authentischen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zu sprechen sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> sich zu se<strong>in</strong>.<br />

Denn wie könnte im Bewußtse<strong>in</strong>, daß es die e<strong>in</strong>e Wahrheit nicht gibt, e<strong>in</strong> Echtheitsanspruch<br />

formuliert werden? Trotzdem entspricht dieser E<strong>in</strong>wand e<strong>in</strong>em +falschen*, e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>geschränkten,<br />

e<strong>in</strong>em (prä)mo<strong>der</strong>nen Begriff von Authentizität. Nach dem Ethnologen Klaus-Peter Koepp<strong>in</strong>g<br />

zum Beispiel bedeutet Authentizität nämlich nicht die schlichte Identität mit +objektiver*<br />

Wirklichkeit. Dies wäre e<strong>in</strong> unerfüllbarer Anspruch. Vielmehr ist Authentizität für ihn e<strong>in</strong>e<br />

rückbezügliche Kategorie, d.h. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit dem an<strong>der</strong>en kommt es zu<br />

e<strong>in</strong>em reziproken Selbsterkenntnisprozeß (vgl. Authentizität als Selbstf<strong>in</strong>dung durch den an<strong>der</strong>en;<br />

S. 26ff.). Dieses reflexive Authentizitätsverständnis kann auch im Zusammenhang <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne-<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskussion von Nutzen se<strong>in</strong>. Denn das An<strong>der</strong>e <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist die Mo<strong>der</strong>ne.<br />

Und ähnlich wie Wellmer von <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als e<strong>in</strong>er Suchbewegung (<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne) sprach<br />

(siehe nochmals S. LXXII), bemerkt Sloterdijk:<br />

+So entpuppt sich das ›Nach‹ <strong>der</strong> Nachmo<strong>der</strong>ne als das ›Nach‹ e<strong>in</strong>es sich noch suchenden nach-<br />

abendländischen Weltalters. Es ist e<strong>in</strong> Nach, das an den Gitterstäben <strong>der</strong> Gegenwart rüttelt und e<strong>in</strong>er<br />

endzeitlichen Platzangst Ausdruck verleiht.* (Nach <strong>der</strong> Geschichte; S. 273)<br />

Diese angstvolle (und <strong>der</strong> Angst bewußte) Suche +Nach* e<strong>in</strong>em Neuen spiegelt die Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses. Die Mo<strong>der</strong>ne produziert e<strong>in</strong>e Ambivalenz die sie auf sich<br />

Selbst verweist. Die Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungsfolgen führt zum Reflex <strong>der</strong> Gegen- und<br />

<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, bewirkt damit im Verborgenen e<strong>in</strong>en qualitativen Wandel des Mo<strong>der</strong>ni-<br />

sierungsprozesses, <strong>der</strong> sich selbst untergräbt und dabei zuweilen (unbeabsichtigt) e<strong>in</strong> neues<br />

(Zeit-)Bewußtse<strong>in</strong> zutage för<strong>der</strong>t. Das hat auch Welsch erkannt, <strong>in</strong>dem er feststellt:<br />

+Das postmo<strong>der</strong>ne Denken ist ke<strong>in</strong>eswegs etwas exotisches, son<strong>der</strong>n die Philosophie dieser Welt,<br />

und es ist dies als denkerische Entfaltung und E<strong>in</strong>lösung <strong>der</strong> harten und radikalen Mo<strong>der</strong>ne dieses<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts […]* (Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 83)<br />

Denn die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne gilt ihm als +exoterische Alltagsform <strong>der</strong> e<strong>in</strong>st esoterischen Mo<strong>der</strong>ne*<br />

(ebd.; S. 202): Die +Erfahrungen mit mo<strong>der</strong>ner Rationalität sowie [die] Errungenschaften <strong>der</strong><br />

ästhetischen Mo<strong>der</strong>ne s<strong>in</strong>d zunehmend <strong>in</strong> Lebensformen übergegangen und <strong>in</strong> den Alltag<br />

e<strong>in</strong>gedrungen* (ebd.; S. 206). Als Beispiele führt er u.a. die immer +<strong>in</strong>dividualistischere* und


LXXIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

damit plural gewordene Mode an. Auf <strong>der</strong> (Ober)fläche dieser und an<strong>der</strong>er Kultur-Phänomene<br />

hat sich <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne bereits verwirklicht, ist sie zur sozialen +Realität* geworden.<br />

Mit diesem alltagspraktischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Verständnis bietet Welsch (neben se<strong>in</strong>en eupho-<br />

rischen Untertönen) auch Ansatzpunkte für e<strong>in</strong>e +authentische*, sich selbst hervorbr<strong>in</strong>gende<br />

und sich selbst erkennende (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne. Das gilt auch für se<strong>in</strong> Konzept e<strong>in</strong>er transversalen<br />

Vernunft. Diese ist e<strong>in</strong>e Vernunft des Übergangs, die zwischen den verschiedenen Ratio-<br />

nalitätsformen, die latent <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verflochten s<strong>in</strong>d, vermittelt (vgl. ebd.; S. 295–318). 135<br />

An<strong>der</strong>e Ansatzpunkte zu e<strong>in</strong>er +authentischen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne f<strong>in</strong>den sich bei Kamper. Er kon-<br />

statiert, wie so viele, e<strong>in</strong> Ende des aufklärerischen Projekts – was er aber gerade auf das Fest-<br />

halten an e<strong>in</strong>er exklusiven Vernunft zurückführt:<br />

+Daß es […] mit <strong>der</strong> Aufklärung heute nicht zum besten steht, liegt nicht so sehr an ihren Kritikern,<br />

von denen es wenige gibt, als an ihren Verteidigern.* (Aufklärung – was sonst?; S. 40)<br />

Denn diese s<strong>in</strong>d weith<strong>in</strong> Spiegelfechter und im Mythos <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne verstrickt (vgl. ebd.;<br />

S. 40ff.). Soweit besteht auch Übere<strong>in</strong>stimmung zu Schnädelbach und Wellmer. Kamper<br />

geht jedoch weiter und dar<strong>in</strong> kommt sogar e<strong>in</strong> abgeschwächtes euphorisches Moment zum<br />

Tragen:<br />

+Die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit […], Bewegung <strong>in</strong> die festgefahrene Aufklärung zu br<strong>in</strong>gen, besteht dar<strong>in</strong>,<br />

das Spielfeld von Mythos und Mo<strong>der</strong>ne zu verlassen, zugleich nach rückwärts und nach vorwärts<br />

[…] [Denn] Gegen das Imag<strong>in</strong>äre [<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne] hilft nur die E<strong>in</strong>bildungskraft: Überholung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

[…] als Entklammerung <strong>der</strong> Dialektik.* (Ebd.; S. 43)<br />

Für ihn greift deshalb die e<strong>in</strong>seitig negative Fassung des +<strong>Post</strong>* zu kurz:<br />

+Schlußzumachen mit dem Ende, vielleicht ist das <strong>der</strong> Effekt von <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>histoire. Das<br />

wird nicht ganz ohne Trauerarbeit möglich se<strong>in</strong>, aber auch nicht ohne Lust, von se<strong>in</strong>em eigenen Denken<br />

gelegentlich überrascht zu werden.* (Ebd.; S. 45)<br />

Aus diesen Worten spricht e<strong>in</strong>e ambivalente Zuversicht, und gerade im oberen Zitat kommt<br />

zum Ausdruck, was für mich die unabd<strong>in</strong>gbare Grundlage e<strong>in</strong>er zu sich selbst f<strong>in</strong>denden +authen-<br />

tischen* (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne bildet: auf die (universalistische) Synthese <strong>der</strong> dialektischen Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

zu verzichten. Denn <strong>der</strong> Drang zur Synthese überdeckt, verschleiert die Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit<br />

je<strong>der</strong> +Wirklichkeit*. Wirklichkeit wirkt schließlich nur, <strong>in</strong>dem sie Wi<strong>der</strong>sprüche erzeugt, und


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXXV<br />

e<strong>in</strong>e +authentische* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne müßte diese deshalb spiegeln, wäre erlebte und gelebte<br />

Dialektik, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> kritischen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Se<strong>in</strong>s<br />

besteht.<br />

Den Verzicht auf E<strong>in</strong>heit und Synthese (und dementsprechend e<strong>in</strong>e produktive Betonung<br />

des Dissenses und <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>streite) hat auch Lyotard gefor<strong>der</strong>t. Doch e<strong>in</strong>e +authentische*<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne müßte (auch nach ihm) mehr se<strong>in</strong> als das: Sie wäre nicht die bloße Spiegelung,<br />

son<strong>der</strong>n vielmehr selbst beteiligt an <strong>der</strong> Generierung von Wirklichkeit, würde also die Wi<strong>der</strong>-<br />

sprüche und Wi<strong>der</strong>streite auch aktiv produzieren (siehe auch S. L). In diesem Zusammenhang<br />

möchte ich auf das Konzept <strong>der</strong> +aktiven Gesellschaft* von Amitai Etzioni e<strong>in</strong>gehen. Etzioni<br />

war <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> explizit e<strong>in</strong>e Soziologie +postmo<strong>der</strong>ner* Gesellschaften entwarf, und die<br />

postmo<strong>der</strong>ne (Massen)Gesellschaft ist für ihn zwangsläufig e<strong>in</strong>e aktive Gesellschaft. Dabei<br />

bedeutet +aktiv se<strong>in</strong>, […] bewußt se<strong>in</strong>, engagiert se<strong>in</strong>, Macht haben* (Die aktive Gesellschaft;<br />

136<br />

S. 29) und damit auch verantwortlich se<strong>in</strong>, woh<strong>in</strong>gegen passiv se<strong>in</strong> me<strong>in</strong>t, kontrolliert zu<br />

werden (vgl. ebd; S. 28). Passivität ist für Etzioni somit ke<strong>in</strong>e Alternative. Vielmehr gilt es,<br />

die durch das exponentielle Wachstum des Wissens geschaffenen gestalterischen Potentiale<br />

zu nutzen:<br />

+In se<strong>in</strong>em Bemühen, se<strong>in</strong> Schicksal zu meistern, erreicht <strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong>e neue Phase, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sowohl<br />

se<strong>in</strong>e Fähigkeit zur Freiheit als auch zur Unterdrückung stark zugenommen hat. Mehr und mehr ist<br />

<strong>der</strong> Mensch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, soziale Beziehungen zu transformieren, anstatt sich ihnen anzupassen, o<strong>der</strong><br />

lediglich gegen sie zu protestieren.* (Ebd.; S. 29)<br />

Etzioni spricht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch von +neuen sozialen Optionen* und +selbst-<br />

orientierter Aktivität*. Weitere Merkmale <strong>der</strong> aktiven Gesellschaft s<strong>in</strong>d Öffentlichkeitsbezug<br />

und Offenheit (vgl. ebd.; S. 31ff.). Obwohl <strong>in</strong> Etzionis Gesamtkonzept letztendlich e<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>-<br />

nistisches Fortschrittsdenken deutlich wird, ist se<strong>in</strong>e Betonung des aktiven Moments unter<br />

den gegebenen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> wissenden und bewußten (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>nität vielversprechend.<br />

Gerade die rückbezüglichen Mo<strong>der</strong>nisierungsfolgen zw<strong>in</strong>gen, um es noch e<strong>in</strong>mal zu betonen,<br />

zur Überschreitung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne.<br />

Ich möchte deshalb, <strong>in</strong> Anlehnung an Beck und Luhmann, die Begriffe +Reflexivität* und<br />

+Autopoiesis* (nochmals) <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gen. Luhmann spricht von <strong>der</strong> Reflexivität sozialer Prozesse,<br />

+wenn die Unterscheidung von Vorher und Nachher elementarer Ereignisse zu Grunde liegt*


LXXVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

(Soziale Systeme; S. 601). Reflexivität hat damit e<strong>in</strong>e Zeitdimension und entspricht prozessualer<br />

Selbstreferenz. Diese vollzieht sich durch Kommunikation (vgl. ebd.; S. 610). Luhmann versteht<br />

also unter Reflexivität die Kommunikation <strong>der</strong> Kommunikation, o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ausgedrückt:<br />

die Rückbezüglichkeit <strong>der</strong> Diskurse. E<strong>in</strong> solcher (problematisieren<strong>der</strong>) Meta-Diskurs hat <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, wenn man sich Lyotard anschließen will, die re<strong>in</strong> (ex)planierende Meta-<br />

erzählung abgelöst und öffnet Räume für e<strong>in</strong>e Selbst- und Neugestaltung ganz im von Etzioni<br />

beschriebenen S<strong>in</strong>n. E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Reflexivitätsverständnis f<strong>in</strong>det sich bei Beck (siehe auch S.<br />

XLII). Reflexivität me<strong>in</strong>t bei ihm die Konfrontation mit den latenten Nebenfolgen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ni-<br />

sierung, die das mo<strong>der</strong>nistische Selbstverständnis unterhöhlt und dazu zw<strong>in</strong>gt, sich mit den<br />

Schattenseiten <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen. In <strong>der</strong> Komb<strong>in</strong>ation bei<strong>der</strong> Elemente ergibt<br />

sich e<strong>in</strong>e reflexive Dialektik zwischen diskursiver Selbstspiegelung und <strong>der</strong> risikogesellschaftlichen<br />

+Geworfenheit* <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e material und ideologisch wi<strong>der</strong>sprüchliche Welt, <strong>der</strong> sich e<strong>in</strong>e +authen-<br />

tische* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne stellen müßte.<br />

Indem sie sich ihr aber stellt, br<strong>in</strong>gt sie sich (durch den und im Diskurs) zugleich selbst hervor:<br />

Die so verstandene +authentische* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist also +autopoietisch*. Der Begriff <strong>der</strong> +Auto-<br />

poiesis* (Selbst-Erzeugung) stammt aus dem Begriffs-Repertoire des radikalen Konstruktivismus.<br />

Dort wird er primär auf spontan entstehende, autonome und organisationell geschlossene<br />

biologische Systeme angewendet (vgl. z.B. Varela: Autonomie und Autopoiese). Aus diesem<br />

Grund ist angezweifelt worden, ob <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> +Autopoiesis* sich une<strong>in</strong>geschränkt auf<br />

soziale Systeme übertragen läßt (vgl. ebd.; S. 121 sowie Heijl: Konstruktion <strong>der</strong> sozialen Kon-<br />

struktion; S. 322–327). Luhmann, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n +schuldig* gemacht hat, teilt solche<br />

Bedenken nicht. Er versteht unter sozialen Systemen auch im wesentlichen re<strong>in</strong>e Kommuni-<br />

kationszusammenhänge, die das Merkmal selbstreferentieller Geschlossenheit aufweisen (vgl.<br />

Soziale Systeme; S. 57–65) – e<strong>in</strong>e Auffassung, die die Subjekte aus dem Gesellschaftlichen<br />

ausschließt und die mir deshalb problematisch ersche<strong>in</strong>t. Doch wie auch immer: Sieht man<br />

vom Kontext se<strong>in</strong>er Generierung im radikalen Konstruktivismus und se<strong>in</strong>er soziologisch e<strong>in</strong>seitigen,<br />

durch Luhmann geprägten Konnotation ab, so ist <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> +Autopoiesis* durchaus geeignet,<br />

e<strong>in</strong>e +authentische* als sich selbst schöpfende <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zu spezifizieren (vgl. auch Castoriadis:<br />

Gesellschaft als imag<strong>in</strong>äre Institution). Diese authentische, autopoietische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne wäre<br />

aber zugleich vielleicht auch e<strong>in</strong>e autistische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, denn <strong>in</strong>dem sie sich selbst hervor-<br />

br<strong>in</strong>gt und sich <strong>in</strong> ihren Diskursen (nur noch) auf sich selbst bezieht, könnte sie im Zirkel


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXXVII<br />

des Eigenen gefangen bleiben. Sie wäre dann e<strong>in</strong>e <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ohne ihr an<strong>der</strong>es: die Mo<strong>der</strong>ne.<br />

Was dann aber bliebe, wäre alle<strong>in</strong>e das +<strong>Post</strong>* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Ob es genug wäre?<br />

Doch was soll das Philosophieren über Begriffe? Müßte sich e<strong>in</strong>e +authentische* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne<br />

nicht gerade vom Streit über die Begrifflichkeiten emanzipieren? Der Titel e<strong>in</strong>es Buchs von<br />

137<br />

Barry Smart lautet: +Mo<strong>der</strong>n Conditions, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Controversaries* (1992). Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />

nach gilt das genaue Gegenteil: Auf struktureller Ebene und im Alltag hat sich <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne<br />

als das Wi<strong>der</strong>sprüchliche <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne schon vielfach verwirklicht. Nur auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong><br />

Diskurse tobt noch <strong>der</strong> Kampf um die Begriffs-Hoheit. Denn es entspricht e<strong>in</strong>er langen Tradition,<br />

die bis <strong>in</strong> den Bereich des Mythologisch-Schamanischen zurückreicht und sich im mo<strong>der</strong>nen<br />

Kategorisierungsstreben fortsetzt, daß man mit dem Namen auch die Herrschaft über das<br />

Bezeichnete gew<strong>in</strong>nt. 138<br />

Mit e<strong>in</strong>er +authentischen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne könnte diese Geschichte <strong>der</strong> Herrschaft durch den<br />

Begriff e<strong>in</strong> Ende haben. Denn gerade Denker wie Foucault, Derrida und Lyotard haben begriffen,<br />

daß +Die Ordnung des Diskurses* (Foucault) e<strong>in</strong> Machtphänomen darstellt und Geschichte<br />

immer e<strong>in</strong>e Geschichte ist, die Erzählung über Vergangenheit, welche sich <strong>in</strong> dieser Erzählung<br />

erst konstruiert. Diese Erkenntnis aber macht das Herrschen weitaus schwieriger. Die <strong>Post</strong>-<br />

mo<strong>der</strong>ne-Vokabel ist am Ende wahrsche<strong>in</strong>lich nur e<strong>in</strong> letztes Aufbäumen dieses Herrschafts-<br />

anspruchs mittels des Begriffs, und mit +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* bezeichnen wir all das, was wir (an<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne) nicht (er)fassen können. Es handelt sich um die verwischten, noch unklaren<br />

Gedankenspuren <strong>der</strong> stattf<strong>in</strong>denden strukturellen Wandlungsprozesse. Auf diese aber kommt<br />

es an, und so betont auch Welsch: +Man muß nicht auf den Ausdruck, son<strong>der</strong>n auf die Sache<br />

achten.* (Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne S. 319)<br />

Ob diese Sache und die daraus resultierenden E<strong>in</strong>sichten so grundsätzlich neu s<strong>in</strong>d, wie die<br />

postmo<strong>der</strong>nen Theoretiker glauben machen wollen, kann allerd<strong>in</strong>gs angezweifelt werden.<br />

Dazu bemerkt Karlis Racevskis:<br />

+[…] postmo<strong>der</strong>n thought has not uncovered anyth<strong>in</strong>g that the Age of Enlightenment, <strong>in</strong> its more<br />

lucid moments, did not already know.* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism and the Search for Enlightenment; S. 77)<br />

In ihrer geradezu paradigmatisch mo<strong>der</strong>nistischen novistischen Selbsttäuschung liegt also mög-<br />

139<br />

licherweise e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> zentralen +Illusionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* (Eagleton 1996), und wahrsche<strong>in</strong>-<br />

lich war +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* als (positives wie negatives) Potential immer schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Mo<strong>der</strong>ne*


LXXVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

enthalten. Deshalb die von mir im Titel gesetzten Klammern, die e<strong>in</strong>e strenge Trennungsl<strong>in</strong>ie<br />

zwischen Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne gar nicht erst <strong>in</strong>s Blickfeld rücken lassen und doch klar<br />

machen, daß e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache, ungebrochene Mo<strong>der</strong>nität nicht mehr gegeben ist. Am Ende<br />

dieses (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat +diskursiven*, ausschweifenden) Prologs, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e Antwort darauf gefunden<br />

werden sollte, ob <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne das Ende o<strong>der</strong> die Vollendung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne darstellt, hat<br />

sich also gezeigt, daß bereits diese Ausgangsfrage (bewußt) falsch gestellt war.<br />

ZUGESTÄNDNIS AN DIE +MODERNE*: FAHRPLAN UND PROJEKT DIESER ARBEIT<br />

In dieser Arbeit geht es aber natürlich ohneh<strong>in</strong> nicht primär um solche Begriffsfragen, son<strong>der</strong>n<br />

im Zentrum me<strong>in</strong>er Untersuchung werden das bisher weitgehend aus <strong>der</strong> Betrachtung aus-<br />

geklammerte Feld <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und <strong>der</strong>en +objektive* Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gegenwart<br />

stehen, die – wie ich bereits e<strong>in</strong>gangs bemerkte – immer häufiger mit dem Etikett +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*<br />

versehen wird. Was nun dieses Feld des Politischen im Wechsel <strong>der</strong> Geschichte praktisch<br />

und begrifflich-theoretisch umfaßte, darum soll es (allerd<strong>in</strong>gs konzentriert auf die dom<strong>in</strong>anten<br />

Strömungen) im folgenden ersten Kapitel gehen.<br />

Dabei wird klar werden, daß <strong>der</strong> Horizont gerade des +postmo<strong>der</strong>nen* <strong>Politik</strong>verständnisses<br />

(neben e<strong>in</strong>em gesteigerten Bewußtse<strong>in</strong> für Kont<strong>in</strong>genz) durch das +Recycl<strong>in</strong>g* e<strong>in</strong>es extensiven,<br />

das heißt nicht auf das politische System beschränkten <strong>Politik</strong>begriffs gekennzeichnet ist (Abschnitt<br />

1.5). Diese Diffusion <strong>der</strong> (typisch neuzeitlichen) Trennung <strong>der</strong> Sphären <strong>Politik</strong> und Gesellschaft<br />

mit ihrer gleichzeitigen Fixierung auf das Modell des Nationalstaat und das e<strong>in</strong>gespielte Rechts-<br />

L<strong>in</strong>ks-Schema (Abschnitt 1.2 bis 1.4) ist jedoch – wo es sich um die Artikulation e<strong>in</strong>er +authen-<br />

tischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* handelt, also e<strong>in</strong> transformatives, auch neue Elemente be<strong>in</strong>haltendes<br />

Recycl<strong>in</strong>g stattf<strong>in</strong>det – nicht e<strong>in</strong>fach <strong>der</strong> Ausdruck des Wunschs nach e<strong>in</strong>er Rückkehr zu<br />

+sozial e<strong>in</strong>gebetteten* antiken und mittelalterlichen <strong>Politik</strong>konzepten (Abschnitt 1.1). Der erwei-<br />

terte <strong>Politik</strong>begriff (<strong>in</strong>) <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne stellt vielmehr die Reflexion struktureller Transformationen<br />

dar, die gegenwärtig <strong>in</strong> den verschiedenen sozialen Teilbereichen stattf<strong>in</strong>den und zu e<strong>in</strong>er<br />

(theoretischen wie praktischen) Rahmenerweiterung gewissermaßen +zw<strong>in</strong>gen*.<br />

Mit diesen strukturellen Transformationsprozessen wird sich das zweite Kapitel näher beschäf-<br />

tigen. Im Kontext e<strong>in</strong>er +Ökologie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (also e<strong>in</strong>er Betrachtung <strong>der</strong> für die <strong>Politik</strong>, das<br />

politische System relevanten +Umwelt*) soll klargemacht werden, daß wir es aktuell mit e<strong>in</strong>er


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXXIX<br />

paradoxen Dialektik von sozio-ökonomischem Wandel und politischer Statik zu tun haben,<br />

die die Imag<strong>in</strong>ation neuer Formen und Praktiken <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> herausfor<strong>der</strong>t. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d<br />

die Wandlungsimpulse, wie die konkrete Analyse zeigen wird, nicht <strong>in</strong> allen Bereichen gleich<br />

stark: Während im ökonomischen Bereich (Abschnitt 2.1) und im Bereich <strong>der</strong> Kultur und<br />

Sozialstruktur (Abschnitt 2.5) ausgeprägte Verän<strong>der</strong>ungen stattfanden und stattf<strong>in</strong>den, die<br />

ke<strong>in</strong>e adäquaten Entsprechungen im System <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> haben, so können im Bereich des<br />

Rechts (Abschnitt 2.2), aufgrund <strong>der</strong> engen strukturellen Kopplung mit <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, eher ko-<br />

evolutive Prozesse ausgemacht werden, so daß e<strong>in</strong>e gleichzeitige, sich gegenseitig stabilisierende<br />

Politisierung des Rechts und Verrechtlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> erfolgt.<br />

Eher ambivalent ist das Bild dagegen, was Wissenschaft und Technik (Abschnitt 2.3) sowie<br />

das Öffentlichkeits- und Mediensystem (Abschnitt 2.4) betrifft. Zwar for<strong>der</strong>t die wissenschaftlich-<br />

technische Entwicklung mit ihren <strong>in</strong>dustriell umgesetzten technologischen Innovationen (und<br />

<strong>der</strong>en +Nebenfolgen*) die <strong>Politik</strong> zunehmend heraus, zw<strong>in</strong>gt diese, sich den daraus resultierenden<br />

(Umwelt-)Problemen zu stellen. Doch halten Wissenschaft und Technik gleichzeitig Ressourcen<br />

für die <strong>Politik</strong> bereit, diese +Reflexivität* abzulenken. So werden von <strong>der</strong> Wissenschaft (im<br />

Verbund mit <strong>der</strong> Industrie) immer neue Verfahren entwickelt, um die technikerzeugten Probleme<br />

(wie<strong>der</strong>um mit Technik) zu beheben, und Wissenschaft dient schließlich darüber h<strong>in</strong>aus nicht<br />

nur <strong>der</strong> technologischen Innovation, son<strong>der</strong>n kann auch (z.B. durch +politikkonforme* Expertisen)<br />

zur Rechtfertigung von politischen Entscheidungen +benutzt* werden. Was das Mediensystem<br />

betrifft, so ist <strong>in</strong> vielen Fällen e<strong>in</strong>e +Symbiose* von Medienvertretern und <strong>Politik</strong>ern zu beobach-<br />

ten, die schließlich aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> angewiesen s<strong>in</strong>d. Doch die Medien decken gelegentlich auch<br />

politische Skandale auf und h<strong>in</strong>terfragen so <strong>in</strong>direkt das System <strong>Politik</strong>. Zudem wird durch<br />

die aufkommenden neuen, <strong>in</strong>teraktiven wie +<strong>in</strong>dividualisierten* Medien und dem damit<br />

verbundenen (neuerlichen) Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit die politische (Medien-)Insze-<br />

nierung, die e<strong>in</strong> Massenpublikum voraussetzt, immer schwieriger.<br />

Für die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> führt dieser vielschichtige Transformationsprozeß, wie sich<br />

<strong>in</strong> diesen Bemerkungen bereits andeutete, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e schwierige Lage. Doch nicht nur dort, wo<br />

die Wandlungen beson<strong>der</strong>s rasant und weitreichend s<strong>in</strong>d (also <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaftsphäre sowie<br />

im Bereich <strong>der</strong> Kultur und Sozialstruktur), sieht sich <strong>Politik</strong> mit e<strong>in</strong>er für sie wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />

Situation konfrontiert. Auch <strong>in</strong> Bereichen, wo +deflexive* (d.h. ablenkende) Ko-Evolutionsprozesse<br />

stattf<strong>in</strong>den, kommt es zu +Untergrabungen* des status quo. Insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn die


LXXX POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Mechanismen <strong>der</strong> +Ablenkung* bewußt werden, <strong>der</strong> politische Rückgriff auf abstützende Rechts-<br />

verfahren, wissenschaftliche +Neutralität* sowie die Macht <strong>der</strong> Medien (öffentlich) +reflektiert*<br />

wird und so Entfremdungsprozesse und e<strong>in</strong> zum<strong>in</strong>dest partieller Legitimitätsentzug drohen,<br />

kann es zu e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>terfragung <strong>der</strong> herkömmlichen Logik <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> kommen.<br />

Die hier nur stark verkürzt wie<strong>der</strong>gegebenen Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> +klassischen* <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen<br />

Risikogesellschaft werden von mir deshalb im dritten Kapitel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em umfassenden Komplex<br />

von fünf Dilemmata dargestellt: Es handelt sich um das ökonomische Dilemma des nationalen<br />

Wohlfahrtsstaates (Abschnitt 3.1), das sich aus <strong>der</strong> +Entmachtung* <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die Dom<strong>in</strong>anz<br />

<strong>der</strong> globalen Marktprozesse ergibt, das <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Dilemma (Abschnitt 3.2), welches<br />

sich aus <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e +<strong>in</strong>stitutionelle Starre* mündenden Dialektik von Politisierung und Ver-<br />

rechtlichung speist, das technologisch-wissenschaftliche Dilemma (Abschnitt 3.3), das auf<br />

<strong>der</strong> Risikodimension von Technologien und <strong>der</strong> generellen Delegitimierung <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />

Vernunft beruht, das Dilemma von Präsentation und Repräsentation (Abschnitt 3.4), das aus<br />

den selbstbeschränkenden Adaptionsversuchen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> an die Mediensemantik erwächst,<br />

und um das politische Dilemma <strong>der</strong> Individualisierung (Abschnitt 3.5), das dem Verlust von<br />

geme<strong>in</strong>samen Codes und Symbolwelten geschuldet ist.<br />

Diese fünf Dilemmata sollen im vierten Kapitel anhand des Fallbeispiels <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>seuche<br />

+BSE* veranschaulicht werden. Auch wenn <strong>der</strong> <strong>in</strong> Großbritannien 1986 erstmals +offiziell*<br />

<strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung getretene +R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n* vielleicht nicht <strong>in</strong> wirklich allen Fel<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> passendes<br />

Beispiel abgibt, so lassen sich mittels <strong>der</strong> fallbezogenen Thematisierung <strong>der</strong> aktuellen Wi<strong>der</strong>-<br />

sprüche <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> doch e<strong>in</strong>ige Punkte, die zuvor nur theoretisch abgehandelt wurden, +d<strong>in</strong>gfest*<br />

und plastisch machen. Insbeson<strong>der</strong>e das Zusammenspiel von Wissenschaft, Medien und <strong>Politik</strong><br />

und se<strong>in</strong>e Problematik kann mittels dieses Fallbeispiels e<strong>in</strong>drücklich verdeutlicht werden<br />

(Abschnitt 4.3 und 4.4). Daneben lassen sich aber auch e<strong>in</strong>e Reihe von ökonomischen (Abschnitt<br />

4.1), rechtlichen (Abschnitt 4.2) und kulturell-sozialstrukturellen Aspekten (Abschnitt 4.5) des<br />

(politischen) BSE-Dramas aufzeigen.<br />

Das fünfte Kapitel wird die konkrete Ebene dann wie<strong>der</strong> verlassen und – auf <strong>der</strong> Grundlage<br />

<strong>der</strong> nunmehr verdichteten Erkenntnisse – e<strong>in</strong>e (meta)theoretischen Betrachtung anstellen.<br />

Noch e<strong>in</strong>mal wird dabei <strong>der</strong> <strong>in</strong> dieser E<strong>in</strong>leitung nur oberflächlich untersuchte Prozeß <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>in</strong>s Blickfeld geraten, aus dessen Wi<strong>der</strong>sprüchen sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<br />

die Ant<strong>in</strong>omien und Dilemmata <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* ableiten lassen (Abschnitt


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXXXI<br />

5.1). Der +Ursprung* <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, ihre treibende Kraft, wird dabei von mir<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst verortet werden – e<strong>in</strong>er ambivalenten Angst allerd<strong>in</strong>gs, die sich aus dem gleich-<br />

zeitigen Verlangen nach Freiheit und Sicherheit speist. Aus diesem angstvollen Ursprung werden<br />

beson<strong>der</strong>s die gewaltvollen Ersche<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne verständlich, <strong>der</strong>en ordnende Rationalität<br />

nur e<strong>in</strong>e Fluchtbewegung vor <strong>der</strong> (eigenen) Ambivalenz ist (Abschnitt 5.1.1). Mit ihrem Ordnungs-<br />

streben br<strong>in</strong>gt die Mo<strong>der</strong>ne aber auch ungewollt immer neue Ambivalenzen hervor. Sie bewirkt<br />

damit ihre eigene H<strong>in</strong>terfragung, macht sich selbst zu e<strong>in</strong>em Gegenstand, wird reflexiv (Abschnitt<br />

5.1.2). Diese Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne hat auch Auswirkungen auf die Sphäre <strong>der</strong> <strong>Politik</strong><br />

(Abschnitt 5.2). Denn mit ihr werden die ordnenden Trennungen und Abgrenzungen des<br />

Systems e<strong>in</strong>gerissen. <strong>Politik</strong> wird wie<strong>der</strong> mit ihrem sozialen Kontext verbunden, und es kommt<br />

zu e<strong>in</strong>er untergründigen Politisierung des Sozialen durch subpolitische +Mikroagenten*. Subpolitik,<br />

also die <strong>Politik</strong> +unterhalb* <strong>der</strong> Ebene des politischen Systems, ist <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n Metapolitik<br />

(Abschnitt 5.2.1). An<strong>der</strong>erseits besteht auch die Möglichkeit, daß diese untergründige Politisierung<br />

oberflächlich bleibt, sich auf E<strong>in</strong>zelfragestellungen beschränkt und sich <strong>in</strong> lokalen Aktionen<br />

verzettelt. Dann wäre Subpolitik allerd<strong>in</strong>gs eher Nicht-<strong>Politik</strong> als die +Nichtung* <strong>der</strong> Trennung<br />

von <strong>Politik</strong> und Gesellschaft (Abschnitt 5.2.2).<br />

Die hier angesprochene mögliche Tendenz e<strong>in</strong>er (fragmentisierenden) Selbstbeschränkung<br />

<strong>der</strong> Subpolitik ist e<strong>in</strong>e Sache. Aber Subpolitisierungsprozesse werden auch aktiv +e<strong>in</strong>gedämmt*,<br />

d.h. die durch sie gegebene reflexive Herausfor<strong>der</strong>ung wird von <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong><br />

bewußt abzulenken versucht (wie die Kapitel 2 bis 4 – teils eher deskriptiv, teils proble-<br />

matisierend, teils eher abstrakt, teils konkret – deutlich zeigen werden). Die dazu e<strong>in</strong>gesetzten<br />

Mittel wirken auf zwei Ebenen: Ideologien bilden den abstützenden, ver<strong>in</strong>nerlichten ideellen<br />

Überbau, und Praxologien, also ablenkende, protestabsorbierende Verfahren und Rituale,<br />

bilden den praktischen Unterbau <strong>der</strong> versuchten Deflexion (Abschnitt 5.3). Die vielleicht<br />

wichtigste Ideologie <strong>in</strong> diesem Zusammenhang ist die funktionalistische Ideologie <strong>der</strong> Trennung<br />

<strong>der</strong> (Sub-)Systeme (Abschnitt 5.3.1), denn sie hilft das gegenseitig stabilisierende Zusammenspiel<br />

zu verschleiern und unterstützt so wirksam die zentralen Praxologien <strong>der</strong> Übersetzung und<br />

<strong>der</strong> rituellen Integration (Abschnitt 5.3.2). Indem das Subsystem <strong>Politik</strong> sich aber auf dieses<br />

+Spiel* e<strong>in</strong>läßt (damit Subpolitik ihre potentielle Sprengkraft verliert) kommt es zwangsläufig<br />

zu e<strong>in</strong>em Verlust an politischen Gehalten. Wir haben es also mit e<strong>in</strong>er doppelt entpolitisierenden<br />

Dialektik von Reflexion und Deflexion zu tun (Abschnitt 5.4).


LXXXII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Der abschließende Exkurs wird sich schließlich über das eigentliche Thema dieser Arbeit h<strong>in</strong>aus-<br />

gehende (im Vorangegangenen nur gestreifte) Fragen stellen: Wo liegt <strong>der</strong> Ansatzpunkt für<br />

kritische Reflexionen? Kann im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aporie <strong>der</strong> Dialektik von Reflexion und Deflexion<br />

noch +utopisch* gedacht werden? Um mich möglichen Antworten auf diese Fragen anzunähern,<br />

werde ich e<strong>in</strong>en dekonstruktiven Blick auf das Subjekt und se<strong>in</strong> (Bewußt-)Se<strong>in</strong> richten. In<br />

diesem Zusammenhang möchte ich – anschließend an das hier formulierte Konzept e<strong>in</strong>er<br />

+authentischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* – versuchen zu zeigen, daß zu e<strong>in</strong>em +authentischen* Selbst<br />

als Moment des Wi<strong>der</strong>stands gefunden werden muß. Dieses befreit die wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />

Vielheit se<strong>in</strong>er Inneren Stimmen (sich selbst spiegelnd und verwerfend) aus den Zwängen<br />

<strong>der</strong> Identität, um die Potentiale <strong>der</strong> Reflexion (als +aufrichtige*, im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit vollzogene Spiegelung des Se<strong>in</strong>s) auf <strong>der</strong> Ebene des Denkens, aber auch<br />

auf <strong>der</strong> Ebene des Empf<strong>in</strong>dens und des Handelns zu verwirklichen. Nur so können die be-<br />

stehenden Kont<strong>in</strong>genzräume genutzt werden. Denn nur, wenn die stabilisierende, +statische*<br />

Dialektik von Reflexion und Deflexion <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dynamisierende reflexive Dialektik umgewandelt<br />

wird, werden Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet und Überschreitungen möglich. Konsens und<br />

kongruente E<strong>in</strong>heit müssen dafür aber als Bezugspunkte des Sozialen verabschiedet werden.<br />

An ihre Stelle sollten Differenz und Konvergenz treten, die allerd<strong>in</strong>gs nicht als +positive* Werte<br />

aufzufassen s<strong>in</strong>d, denn sonst wären sie selbst beschränkend. Und so werden hier am Ende<br />

sicherlich ke<strong>in</strong>e fertigen +Rezepte* für die Verwirklichung e<strong>in</strong>er +authentischen* (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne*<br />

stehen.<br />

Doch wenn schon ke<strong>in</strong> fixes Ziel angebbar ist: Was ist die Motivation me<strong>in</strong>er Bemühungen?<br />

– Ich möchte hier <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>en kritischen Blick auf die Bed<strong>in</strong>gungen von <strong>Politik</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Gegenwart werfen und versuchen, ihre Problematik übergreifend darzustellen, die auf-<br />

gesplitteten Diskurse (unter <strong>der</strong> verb<strong>in</strong>denden Perspektive <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>) zusammenzuführen.<br />

In diesem +Umfassungsversuch* liegt e<strong>in</strong>e Gefahr: die Gefahr, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Metaerzählung abzudriften<br />

und die fe<strong>in</strong>en Differenzierungen und die +dichte Beschreibung* (Geertz) <strong>der</strong> Mikroanalyse<br />

auszudünnen. Dieser Gefahr b<strong>in</strong> ich mir bewußt. Allerd<strong>in</strong>gs: Die alle<strong>in</strong>ige Konzentration auf<br />

+Mikropolitik* und ihre detaillierte Rekonstruktion befriedigt ebensowenig. Denn so geraten<br />

die (oft versteckten) Zusammenhänge aus dem Blick, für die sich e<strong>in</strong>e kritische Gesellschafts-<br />

theorie <strong>in</strong>teressieren muß. Es ist also e<strong>in</strong> dezidiert kritisches Projekt, dem ich mich verschrieben<br />

habe, und am Ende sollen die ersten, allerd<strong>in</strong>gs noch alles an<strong>der</strong>e als klaren Konturen e<strong>in</strong>er


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LXXXIII<br />

kritischen Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung stehen, die um e<strong>in</strong> dialektisches Moment erweitert<br />

wurde.<br />

Wie kann dieses Projekt umgesetzt werden, welche (methodischen) Wege müssen dazu<br />

e<strong>in</strong>geschlagen werden? – Wie sich bereits bei me<strong>in</strong>en Ausführung zum zweiten Kapitel zeigte,<br />

verfolge ich e<strong>in</strong>en +ökologischen Ansatz*: Die <strong>in</strong>direkte Thematisierung des Feldes <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>,<br />

die Würdigung <strong>der</strong> Zentralität des Kontextes, ermöglicht <strong>in</strong> ihrer Distanz e<strong>in</strong> deutlicheres<br />

Erkennen <strong>der</strong> Problematiken, als wenn man sich auf die +Semantik des Innen* beschränkt.<br />

Das (thematische) +Zentrum*, das die <strong>Politik</strong> hier darstellt, soll deshalb – e<strong>in</strong>en Umweg beschrei-<br />

tend – +peripher* e<strong>in</strong>gekreist werden. Bei dieser E<strong>in</strong>kreisung wird es <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie, wie schon<br />

oben angedeutet wurde, um e<strong>in</strong>e (auf das +objektive* Außen bezogene) Spiegelung <strong>der</strong> Diskurse<br />

gehen, die es (zusammenführend) zu rekonstruieren und zu dekonstruieren gilt. Wissenschaft,<br />

so verstanden, ist e<strong>in</strong> diskursives Mosaik, e<strong>in</strong>e Erkundung, e<strong>in</strong> Auf- und Heimsuchen von<br />

Diskursen und ihre Reflexion, d.h. ihr Bezug auf die Kontexte, <strong>in</strong> denen sie generiert wurden.<br />

Aus diesem zuerst lückenhaften Mosaik ergibt sich im Verlauf <strong>der</strong> +Lektüre* e<strong>in</strong> immer dichteres<br />

Bild – e<strong>in</strong> imag<strong>in</strong>äres, e<strong>in</strong> konstruiertes, e<strong>in</strong> partikulares Bild, das ke<strong>in</strong>en Anspruch auf Wahrheit<br />

erhebt, aber zu e<strong>in</strong>em reflexiven (Selbst-)Erkenntnisprozeß führen kann und damit an +Authen-<br />

tizität* orientiert ist. Damit diese +autopoietische* Authentizität voll zum Tragen kommt, schlage<br />

ich e<strong>in</strong> zyklisches Lesen vor, schlage vor, dem Pfad <strong>der</strong> Verweisungen, den W<strong>in</strong>dungen des<br />

Textes zu folgen und vor allem eigene h<strong>in</strong>zuzufügen. So kann am ehesten das kritische wie<br />

utopische Potential dieses Textes entfesselt werden. Doch um zum Nicht-Ort <strong>der</strong> Utopie<br />

zu gelangen, gilt es e<strong>in</strong>en Anfang zu setzen!<br />

München, angesichts des Kommenden<br />

Anil K. Ja<strong>in</strong>


1 POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES<br />

+RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS


2 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

1 POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES<br />

+RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS<br />

Gerade wer sich mit +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* beschäftigt und e<strong>in</strong>e Analyse des Politischen<br />

unter den verän<strong>der</strong>ten Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>nität beabsichtigt, sollte sich<br />

zunächst über den Gehalt des Begriffs +<strong>Politik</strong>* im allgeme<strong>in</strong>en klar werden. Das ist weniger<br />

trivial als es zunächst den Ansche<strong>in</strong> hat. Denn wie je<strong>der</strong> Begriff, so unterlag auch <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>-<br />

begriff e<strong>in</strong>em historischen Wandel, nahm verschiedene +Färbungen* an. Insbeson<strong>der</strong>e Foucault<br />

hat ja <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er +Archäologie des Wissens* und <strong>in</strong> +Les mots et les choses* (Die Ordnung <strong>der</strong><br />

D<strong>in</strong>ge) darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß die Geschichte des Wissens, <strong>der</strong> Begriffe und Diskurse von<br />

Diskont<strong>in</strong>uität geprägt ist (siehe XLVIIf.). Damit aber nicht genug: Was e<strong>in</strong>er unter <strong>Politik</strong><br />

versteht, ist darüber h<strong>in</strong>aus abhängig vom jeweiligen politischen Standort. <strong>Politik</strong> kodiert sich<br />

also entlang e<strong>in</strong>er Zeit- und e<strong>in</strong>er (sozial-politischen) Raumachse.<br />

Deshalb soll hier <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> verschiedene Ströme aufspaltenden Geschichte des <strong>Politik</strong>begriffs<br />

(auch unter Berücksichtigung se<strong>in</strong>er konkreten Ausformungen) nachgegangen werden. Diese<br />

Etymologie <strong>der</strong> (praktischen) Semantik des Politischen wird beim antiken und mittelalterlichen<br />

<strong>Politik</strong>verständnis beg<strong>in</strong>nen und abschließend den Horizont e<strong>in</strong>es +postmo<strong>der</strong>nen* Verständnisses<br />

von <strong>Politik</strong> umreißen. Dabei wird deutlich werden, daß sich gerade <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>begriff des<br />

+postmo<strong>der</strong>nen* Denkens (allerd<strong>in</strong>gs auf transformierter Ebene) wie<strong>der</strong> dem weit umfassenden<br />

ursprünglichen Begriff annähert, nachdem sich das Feld und <strong>der</strong> Gehalt von <strong>Politik</strong> im funktio-<br />

nalistisch gespaltenen +mo<strong>der</strong>nen* Nationalstaat immer mehr reduziert hat. Gerade durch<br />

se<strong>in</strong>e zunehmende Diskreditierung (als Folge dieser Beschränkung) und die aktuell festzustellende<br />

<strong>Politik</strong>müdigkeit ersche<strong>in</strong>t das +Recycl<strong>in</strong>g* e<strong>in</strong>es extensiven <strong>Politik</strong>begriffs unerläßlich.<br />

1.1 DAS ANTIKE UND MITTELALTERLICHE POLITIKVERSTÄNDNIS<br />

Was bedeutet +<strong>Politik</strong>*? – Dieser Frage soll hier, wie erläutert, anhand e<strong>in</strong>er (durch Quellenzitate<br />

belegten) Begriffsgeschichte nachgegangen werden. Und nicht zufällig beg<strong>in</strong>nt diese Darstellung<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> (griechischen) Antike. Zweifellos: Auch vorher und an an<strong>der</strong>en Orten hat es das gegeben,


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 3<br />

was man heute mit dem Adjektiv +politisch* kennzeichnen würde. Dieser aktuelle <strong>Politik</strong>begriff<br />

bezieht sich auf:<br />

+[…] alle Handlungen, Bestrebungen und Planungen e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen, e<strong>in</strong>er Gruppe o<strong>der</strong> Organisation,<br />

die darauf ausgerichtet s<strong>in</strong>d, 1) Macht o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Anteil an <strong>der</strong> Macht <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>wesens<br />

zu erwerben, zu festigen und/o<strong>der</strong> zu erweitern, mit dem Ziel, den eigenen Interessen […] Geltung<br />

zu verschaffen […] (Innenpol. im weitesten S<strong>in</strong>n) und 2) E<strong>in</strong>fluß und Macht des eigenen Geme<strong>in</strong>wesens<br />

nach außen, gegenüber an<strong>der</strong>en Geme<strong>in</strong>wesen zu err<strong>in</strong>gen, zu festigen und/o<strong>der</strong> zu erweitern […]<br />

(Außenpol. im weitesten S<strong>in</strong>n).* (Beck: Sachwörterbuch <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>)<br />

Doch die hier lexikalisch-umständlich def<strong>in</strong>ierte und zudem als allgeme<strong>in</strong>es und transhistorisches<br />

Handlungsphänomen gedeutete <strong>Politik</strong> existiert nicht getrennt von e<strong>in</strong>em politischen Bewußtse<strong>in</strong>.<br />

<strong>Politik</strong> ist nicht per se als +soziale Tatsache* greif- und begreifbar, son<strong>der</strong>n dies erfor<strong>der</strong>t es,<br />

daß man sie als <strong>Politik</strong> auch versteht und wahrnimmt: d.h. sich e<strong>in</strong>en Begriff von <strong>Politik</strong> macht.<br />

Dieses Wahrnehmen wie<strong>der</strong>um ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en sozial-historischen Kontext e<strong>in</strong>gebunden, und<br />

nach Kari Palonen läßt sich (auf +<strong>Politik</strong>* bezogen) zwischen horizontverengenden und horizont-<br />

befreienden Zeitaltern differenzieren, wobei e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>genzträchtige Dialektik zwischen <strong>in</strong>tra-<br />

und <strong>in</strong>ter<strong>in</strong>dividuellen Begriffsverän<strong>der</strong>ungsmechanismen wirksam ist (vgl. <strong>Politik</strong> als ›chamäleon-<br />

1<br />

artiger‹ Begriff; S. 3–11). Es gibt me<strong>in</strong>es Erachtens jedoch neben horizontverengenden und<br />

-befreienden Zeitaltern auch nachhaltig horizontprägende Epochen. Für den <strong>Politik</strong>begriff<br />

ist e<strong>in</strong>e solche sicherlich die griechische Antike – und dies nicht alle<strong>in</strong>e, weil sich <strong>der</strong> Begriff<br />

2<br />

selbst vom griechischen +Polis* (Geme<strong>in</strong>wesen, Staat) ableitet. Das antike <strong>Politik</strong>verständnis<br />

wirkte bis spät <strong>in</strong>s Mittelalter h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> und war sogar für die Neuzeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weise bestimmend,<br />

daß <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen zentralen Punkten geradezu e<strong>in</strong>e Gegenstellung bezogen wurde.<br />

Wie aber und was verstand man unter <strong>Politik</strong> im antiken Griechenland <strong>der</strong> unzähligen, unter-<br />

e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> rivalisierenden (Stadt-)Staaten? – Zunächst e<strong>in</strong>mal läßt sich vermuten: Unterschiedliches.<br />

Denn da gab es nicht nur die Konkurrenz zwischen Sparta und Athen mit ihren stark ab-<br />

weichenden +Verfassungen*, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e ganze Reihe weiterer Poleis mit je eigenen Kon-<br />

3<br />

zeptionen und Organisationsformen des Politischen. Es würde aber zu weit führen, die ganze<br />

Vielfalt <strong>der</strong> Positionen und konkreten politischen Entwürfe auszuleuchten – es wäre zudem<br />

müßig, denn für die weitere Geschichte s<strong>in</strong>d sie bedeutungslos geblieben. Deshalb soll hier<br />

<strong>der</strong> +Entstehung des Politischen bei den Griechen* (so <strong>der</strong> Titel e<strong>in</strong>es Buchs von Christian<br />

Meier) unter Fokussierung auf Athen und dessen wichtigste (politische) Denker nachgegangen


4 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

werden – also vor allem Platon und natürlich Aristoteles, <strong>der</strong> bis an die Schwelle zur Neuzeit<br />

als geradezu unangreifbare wissenschaftliche Autorität galt.<br />

Die von Meier behauptete +Entstehung* des Politischen bei den Griechen ist eng verknüpft<br />

mit dem wirtschaftlichen Aufschwung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Regionen <strong>der</strong> Ägäis, <strong>der</strong> wesentlich von e<strong>in</strong>er<br />

Ablösung <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Natural- durch frühe Formen <strong>der</strong> Geldwirtschaft <strong>in</strong> Gang gesetzt wurde.<br />

Speziell Athen profitierte von <strong>der</strong> daraus resultierenden zunehmenden ökonomischen Ver-<br />

flechtung und war e<strong>in</strong> wichtiger Handels- und Warenumschlagplatz. Diese zentrale Stellung<br />

beruhte zum e<strong>in</strong>en auf kriegerischen Erfolgen und <strong>der</strong> Gründung von Kolonien (ab Mitte<br />

des 8. Jahrhun<strong>der</strong>ts v. Chr.). Der von Athen dom<strong>in</strong>ierte +attische Seebund* (geschlossen im<br />

Jahr 477 v. Chr.) ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang als Höhepunkt athenischer Hegemonie zu<br />

nennen. Zum an<strong>der</strong>en konnte man auf bedeutende Rohstofflager (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Silberm<strong>in</strong>en<br />

von Laureion) zurückgreifen und betrieb e<strong>in</strong>e blühende Handwerks-+Industrie*. 4<br />

Im Gefolge des allgeme<strong>in</strong>en wirtschaftlichen Aufschwungs kam es zu Emanzipationsbestrebungen<br />

des +Bürgertums*, das aber nur schrittweise se<strong>in</strong>e Machtansprüche durchsetzen konnte: In<br />

<strong>der</strong> griechischen Frühzeit wurde die typische Polis noch von Kle<strong>in</strong>königen regiert, die ihre<br />

Herrschaft vom Mythos ableiteten, aber von Beg<strong>in</strong>n an nur e<strong>in</strong>e schwache Position hatten.<br />

Schon bald löste <strong>in</strong> den meisten Regionen e<strong>in</strong>e Aristokratie des grundbesitzenden Adels das<br />

alte monarchistische Herrschaftsmodell ab. Athen hatte bei dieser Entwicklung e<strong>in</strong>e Vorreiterrolle<br />

<strong>in</strong>ne. Bereits 683 v. Chr. wurde dort endgültig die Königsherrschaft durch das Archonat ersetzt,<br />

d.h. von <strong>der</strong> Adelsschicht aus ihrer Mitte für jeweils e<strong>in</strong> Jahr gewählte Beamte bildeten die<br />

5<br />

nach unterschiedlichen Funktionsbereichen getrennte Führung <strong>der</strong> Polis. E<strong>in</strong>e wachsende<br />

Notlage <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>bauern, ausgelöst durch Überschuldung, sorgte jedoch für soziale Spannungen.<br />

Der Archon Solon erhielt deshalb 594 v. Chr. diktatorische Vollmachten und versuchte durch<br />

se<strong>in</strong>e Gesetzesreformen, die die Adelsmacht e<strong>in</strong>schränkten und die bis dah<strong>in</strong> übliche Praxis<br />

<strong>der</strong> Schuldknechtschaft aufhoben, e<strong>in</strong>en Interessenausgleich zu bewirken. Bald darauf erlebte<br />

Athen jedoch e<strong>in</strong>e Periode <strong>der</strong> Tyrannis, beg<strong>in</strong>nend mit Peisistratos (560–527 v. Chr.), dem<br />

se<strong>in</strong>e Söhne Hippias und Hipparch nachfolgten. Erst die ab 510 v. Chr. e<strong>in</strong>geleiteten Reformen<br />

des Kleisthenes setzten wie<strong>der</strong> Akzente <strong>in</strong> Richtung +Demokratisierung*: E<strong>in</strong>e Timokratie sub-<br />

stituierte die alte Adelsvormacht, und Gleichheit vor dem Gesetz (Isonomie) sollte von nun<br />

an für alle Staatsbürger gelten. Ihre +Vollendung* fand die athenische Demokratie aber erst<br />

durch die Verfassungsreformen des Perikles Mitte des 5. Jahrhun<strong>der</strong>ts vor Christus. 6


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 5<br />

Wenn allerd<strong>in</strong>gs hier von Demokratie die Rede ist, so gilt es sich vom humanistischen Mythos<br />

<strong>der</strong> Polis als e<strong>in</strong>er Gesellschaft <strong>der</strong> Freien und Gleichen zu befreien. An<strong>der</strong>erseits sollte man<br />

sich vor Augen halten, daß die Demokratie, so wie sie bestand, e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es, vom Pr<strong>in</strong>zip<br />

her gleichzeitig +demokratischeres* Gesicht trug als die repräsentativen Massendemokratien<br />

heute. Denn die antiken Stadtstaaten waren direkte Demokratien, d.h. die stimmberechtigten<br />

Bürger entschieden selbst über die sie betreffenden Angelegenheiten. Nur wie schon angedeutet:<br />

Tatsächlich stimmberechtigt waren wenige. Selbst <strong>in</strong> den +besten* Zeiten <strong>der</strong> Demokratie<br />

hatten lediglich 10–20% <strong>der</strong> auf 250.000 Personen geschätzten Population Athens politische<br />

Mitwirkungsrechte, so daß treffen<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er Oligarchie des patriarchalen Besitzbürgertums<br />

gesprochen werden sollte. Der überwiegende Teil <strong>der</strong> Bevölkerung war von <strong>der</strong> Partizipation<br />

am +demokratischen* Prozeß nämlich ausgeschlossen: Das galt zum e<strong>in</strong>en für die beträchtliche<br />

Zahl <strong>der</strong> Unfreien, denn: +Ohne Sklaverei ke<strong>in</strong> griechischer Staat* (Engels: Anti-Dühr<strong>in</strong>g;<br />

7 8<br />

S. 168). Frauen und Fremde (Metöken) waren zwar frei, doch konnten auch sie nicht an<br />

den Versammlungen des Demos (<strong>der</strong> kle<strong>in</strong>sten, aber bedeutendsten Organisationse<strong>in</strong>heit)<br />

9<br />

teilnehmen. Auf diesen Volks- bzw. Geme<strong>in</strong>deversammlungen, die ursprünglich auf dem<br />

Marktplatz (Agora) stattfanden, wurde e<strong>in</strong>e Großzahl <strong>der</strong> für das Geme<strong>in</strong>wesen relevanten<br />

Entscheidungen getroffen. Die organisatorische Leitung oblag dem Demarchos, e<strong>in</strong> von allen<br />

volljährigen Bürgern zunächst gewählter, später aus ihren Reihen geloster Beamter. 10<br />

Das Losen gehörte übrigens zum festen Repertoire demokratischer Verfahren <strong>in</strong> ganz Grie-<br />

chenland. In e<strong>in</strong>er historischen Quelle zur E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Demokratie auf Erythrai (e<strong>in</strong>er<br />

Kolonie Athens) heißt es:<br />

+Es soll e<strong>in</strong>en Rat geben, bestehend aus 120 Mitglie<strong>der</strong>n, ausgewählt durch Los […] E<strong>in</strong> Nichtbürger<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Mann, <strong>der</strong> weniger als 30 Jahre alt ist, kann nicht im Rat se<strong>in</strong>.* (Zitiert nach Davies: Das<br />

klassische Griechenland und die Demokratie; S. 94)<br />

Dieses Zufallspr<strong>in</strong>zip sicherte e<strong>in</strong>e Rotation <strong>der</strong> Ämter und half zur Verwirklichung des immer<br />

zentraler werdenden Gleichheitsgedankens. Es ist allerd<strong>in</strong>gs (neben den oben und im Zitat<br />

gemachten E<strong>in</strong>schränkungen) anzumerken, daß erst ab 458 v. Chr. <strong>der</strong> Zensus zur Zulassung<br />

zu öffentlichen Ämtern aufgehoben wurde. Der Bestand <strong>der</strong> damit weitgehend verwirklichten<br />

demokratischen Ordnung war zum e<strong>in</strong>en durch den konservierenden Effekt des allseits ver-<br />

ankerten Respekts vor <strong>der</strong> Tradition gewährleistet. Deshalb war auch nach Errichtung <strong>der</strong>


6 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Demokratie e<strong>in</strong>e Tendenz zu ihrer retrospektiven historischen Rückverlagerung beobachtbar<br />

(vgl. Bleicken: Die athenische Demokratie; S. 13f.). Zum an<strong>der</strong>en waren vielfältige Möglichkeiten<br />

zur gerichtlichen Klage gegeben. E<strong>in</strong>e schriftliche Fixierung <strong>der</strong> Gesetze existierte seit Solon.<br />

E<strong>in</strong>e geschriebene Verfassung war jedoch unbekannt. (Vgl. ebd.; S. 285–290)<br />

Soviel zu den Transformationen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> politischen Praxis. Diese Verän<strong>der</strong>ungen korrespon-<br />

dierten mit e<strong>in</strong>er Verschiebung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bedeutung zentraler Begriffe. Dazu Meier:<br />

+Soweit wir den Wandel <strong>in</strong> den wichtigsten Begriffen während des 5. Jahrhun<strong>der</strong>ts [v. Chr.] beobachten<br />

können, sche<strong>in</strong>t sich […] zu bestätigen: Verfassung, Recht, Macht, Gleichheit, Freiheit, Bürgerschaft<br />

werden als politische Probleme […] begriffen und eben dadurch und eben dar<strong>in</strong> dem Handeln verfügbar.*<br />

(Die Entstehung des Politischen bei den Griechen; S. 311)<br />

Als beson<strong>der</strong>s bedeutsam stellt Meier die Entwicklung vom Denken <strong>der</strong> Eunomie (<strong>der</strong> von<br />

den Göttern gesetzten, nach sozialem Rang abstufenden +rechten* Ordnung) zur gleicheits-<br />

und gerechtigkeitsbetonenden Isonomie dar (siehe S. 4), die zu e<strong>in</strong>em neuen Bürgerbewußtse<strong>in</strong><br />

führte. Dieses gründete auch auf <strong>der</strong> Auffassung, daß die menschliche Ordnung vom Menschen<br />

selbst gestaltet werden kann: +Es bildete sich e<strong>in</strong>e politische Identität.* (Ebd.; S. 242) 11<br />

Trotzdem kam es zum langsamen Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> Demokratie <strong>in</strong> Athen. Nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage<br />

im Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) etablierte sich das Regime <strong>der</strong> +Dreißig Tyrannen*.<br />

Dieses konnte sich zwar nur kurz halten, und 403 v. Chr. wurde die Demokratie wie<strong>der</strong>errichtet,<br />

ja sogar (durch e<strong>in</strong>e Beschneidung <strong>der</strong> exekutiven und judikativen Kompetenzen sowie e<strong>in</strong>e<br />

Ausdehnung des Los-Systems) erweitert. Es war jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge nicht nur e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es<br />

Nachlassen des politischen Interesses festzustellen, son<strong>der</strong>n die Autonomie <strong>der</strong> griechischen<br />

Poleis wurde durch das Eroberungsstreben <strong>der</strong> makedonischen Könige Philipp (359–336 v.<br />

Chr.) und Alexan<strong>der</strong> (336–323 v. Chr.) erheblich e<strong>in</strong>geschränkt. Das faktische Ende <strong>der</strong><br />

Demokratie <strong>in</strong> Athen kam dann im Jahr 322 v. Chr. mit dem endgültigen Sieg <strong>der</strong> Makedonier<br />

über die athenische Flotte. Alexan<strong>der</strong>s Nachfahren ließen die Unabhängigkeit Athens und<br />

se<strong>in</strong>e politischen Institutionen nach außen h<strong>in</strong> zwar unangetastet, aber es handelte nun erst<br />

recht um e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> formale +Sche<strong>in</strong>demokratie*. Die lokalen Eliten g<strong>in</strong>gen dabei zum eigenen<br />

Machterhalt e<strong>in</strong>e Koalition mit den Eroberern e<strong>in</strong>, und e<strong>in</strong> verschärfter Zensus sorgte für den<br />

politischen Ausschluß des +geme<strong>in</strong>en* Volks. (Vgl. Bleicken: Die athenische Demokratie; S.<br />

365–372 sowie Mossé: Der Zerfall <strong>der</strong> athenischen Demokratie)


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 7<br />

Ausgerechnet <strong>in</strong> die Zeit des beg<strong>in</strong>nenden Nie<strong>der</strong>gangs <strong>der</strong> Demokratie fallen die großen<br />

politischen Entwürfe Platons und Aristoteles’. Dies mag erklären, daß beide wenig von <strong>der</strong><br />

Demokratie (<strong>in</strong> ihrer damaligen historischen Ausprägung) hielten. Bei Aristoteles ist die Demo-<br />

kratie gar zusammen mit Oligarchie und Tyrannis e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> drei +entarteten* Verfassungsformen<br />

(siehe S. 11). Doch zunächst zu Platon und se<strong>in</strong>em <strong>Politik</strong>begriff:<br />

Platon (427–347 v. Chr.) stammte aus <strong>der</strong> Adelsschicht und war e<strong>in</strong> Schüler des Sokrates<br />

(ca. 470–399 v. Chr.), welchen er sehr verehrte. Letzerem kommt deshalb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en durchgängig<br />

dialogisch abgefaßten Schriften die Hauptrolle zu, und letztendlich ist es deshalb auch schwer<br />

zu unterscheiden, was nun im e<strong>in</strong>zelnen die Position Platons und die des Sokrates darstellt.<br />

Beson<strong>der</strong>s betroffen war Platon von <strong>der</strong> H<strong>in</strong>richtung des Lehrers im Jahr 399 v. Chr. nach<br />

<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>errichtung <strong>der</strong> Demokratie. Schon vorher dem demokratischen Pr<strong>in</strong>zip gegenüber<br />

skeptisch e<strong>in</strong>gestellt und Hoffnungen auf das +Regime <strong>der</strong> Dreißig* setzend (die aber enttäuscht<br />

wurden), war er nun endgültig von <strong>der</strong> Schädlichkeit <strong>der</strong> Demokratie überzeugt.<br />

In e<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>er Hauptwerke, <strong>der</strong> +Apologie*, berichtet Platon von <strong>der</strong> e<strong>in</strong>drucksvollen aber<br />

fehlschlagenden Verteidigung des Sokrates, <strong>der</strong> ungerechtfertigterweise <strong>der</strong> Verführung <strong>der</strong><br />

Jugend beschuldigt und zum Tod durch den +Giftbecher* verurteilt wurde. Im anschließenden<br />

Gespräch mit Kriton, <strong>der</strong> ihm die Flucht ermöglichen will, legt Sokrates die Gründe se<strong>in</strong>er<br />

Annahme des selbst zu vollziehenden Urteils dar. Aus den vorgebrachten Argumenten wird<br />

auch se<strong>in</strong>e politische Auffassung deutlich. Sokrates identifiziert den Staat, die Polis und damit<br />

die politische Ordnung mit dem Gesetzlichen. Auch wenn e<strong>in</strong> Urteil im E<strong>in</strong>zelfall ungerecht<br />

ersche<strong>in</strong>en mag, so wäre doch die H<strong>in</strong>wegsetzung über das Gesetz e<strong>in</strong> noch größeres Unrecht<br />

und würde +dem ganzen Staat den Untergang […] bereiten* (Kriton; S. 287 [50b]). 12<br />

Da aber die gesetzliche Ordnung offensichtlich nicht e<strong>in</strong>mal geeignet ist, den Gerechten vor<br />

13<br />

Unrecht zu bewahren, entwirft Platon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift vom Staat, <strong>der</strong> +Politeia*, die Utopie<br />

e<strong>in</strong>er idealen Polis, die weniger vom +Geist <strong>der</strong> Gesetze* <strong>in</strong>spiriert ist, als auf den Mut, die<br />

Mäßigung und vor allem die Weisheit <strong>der</strong> sie konstituierenden Personen baut. Nicht zufällig<br />

beg<strong>in</strong>nt <strong>der</strong> Text mit <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Denn <strong>Politik</strong> ist für<br />

Platon untrennbar mit dem Problem <strong>der</strong> Gerechtigkeit verbunden. Gerechtigkeit wie<strong>der</strong>um<br />

ist <strong>der</strong> Ausdruck <strong>der</strong> Weisheit und des Guten schlechth<strong>in</strong>. Nur wer gerecht lebt, kann e<strong>in</strong><br />

gutes Leben führen und Glückseligkeit (eudaimonia) erlangen: +Der Gerechte ist glückselig<br />

und <strong>der</strong> Ungerechte elend* (S. 103 [354a]), so se<strong>in</strong>e durch den Mund des Sokrates dargelegte


8 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

14<br />

These. Genau entgegengesetzt lautet die Argumentation des Sophisten Thrasymachos. Sie<br />

ist <strong>in</strong>teressant, da sie e<strong>in</strong>er +mo<strong>der</strong>nen*, ideologiekritischen Position nahe kommt:<br />

+[…] so weit bist du ab mit de<strong>in</strong>en Gedanken von <strong>der</strong> Gerechtigkeit […], daß du noch nicht weißt,<br />

daß die Gerechtigkeit […] des Stärkeren und Herrschenden Nutzen, des Gehorchenden und Dienenden<br />

aber eigener Schade […] Am allerleichtesten wirst du es erkennen, wenn du dich an die vollendetste<br />

Ungerechtigkeit hältst […] Dies aber ist die sogenannte Tyrannei, welche nicht im Kle<strong>in</strong>en sich fremdes<br />

Gut […] zueignet […], son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>sgesamt alles […] Auf diese Art, o Sokrates, ist die Ungerechtigkeit<br />

[…] edler und vornehmer als die Gerechtigkeit, wenn man sie im großen treibt […]* (Ebd.; S. 73<br />

[343a–344c])<br />

Platon entkräftet diese Position nicht überzeugend und baut auf die automatische Identifizierung<br />

des Gerechten mit dem Guten (<strong>der</strong> letztendlich auch Thrasymachos erliegt). Aber wie verwirklicht<br />

sich nun die Gerechtigkeit im +platonischen* Idealstaat? – Gerechtigkeit, so Platons allgeme<strong>in</strong>e<br />

Bestimmung, besteht dar<strong>in</strong>, daß jedem das Se<strong>in</strong>e zukommt. Das gilt auch im Staat. Der e<strong>in</strong>zelne<br />

ist deshalb gemäß se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen Fähigkeiten (Platon lehnt also – und das ist durchaus<br />

+revolutionär* – das Geburtspr<strong>in</strong>zip ab) e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> drei Stände zuzuordnen: dem die Grundver-<br />

sorgung garantierenden Nährstand, dem die Sicherheit gewährleistenden Wehrstand und dem<br />

geistig sowie politisch führenden Lehrstand. Je<strong>der</strong> dieser Stände muß, um se<strong>in</strong>e Aufgabe erfüllen<br />

zu können, über bestimmte Tugenden verfügen: Für die Angehörigen des Nährstands genügt<br />

die Tugend <strong>der</strong> Mäßigung. Der Wehrstand muß zusätzlich über Tapferkeit bzw. Aufrichtigkeit<br />

verfügen. Im Lehrstand vere<strong>in</strong>igen sich Mäßigung, Aufrichtigkeit und Weisheit zur Gerechtigkeit.<br />

Deshalb werden aus se<strong>in</strong>en Reihen die alternierend regierenden +Philosophenkönige* gekürt.<br />

Was die Bereiche Kultur, Bildung und Religion betrifft, so s<strong>in</strong>d diese ganz den staatlich-politischen<br />

Erfor<strong>der</strong>nissen untergeordnet. Und um von vorne here<strong>in</strong> je<strong>der</strong> sozialen Entzweiung vorzubeugen,<br />

for<strong>der</strong>t Platon e<strong>in</strong>e Gütergeme<strong>in</strong>schaft sowie e<strong>in</strong>e Frauen- und K<strong>in</strong><strong>der</strong>geme<strong>in</strong>schaft. Trotzdem<br />

sieht er, daß auch se<strong>in</strong> Idealstaat (da er von Menschen geformt wird) nicht für die Ewigkeit<br />

geschaffen ist. Die Aristokratie <strong>der</strong> Philosophenkönige geht durch den Verlust <strong>der</strong> Tugend<br />

und das Besitzstreben unweigerlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Timokratie und Oligarchie über, die wie<strong>der</strong>um<br />

den Boden für die Demokratie bereitet. Damit ist <strong>der</strong> Schritt zur endgültigen Pervertierung<br />

<strong>der</strong> politischen Ordnung getan. Denn das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Freiheit, für das die Demokratie steht,<br />

kennt ke<strong>in</strong> Maß, untergräbt sich selbst und endet schließlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tyrannis: +Die größte<br />

Freiheit führt <strong>in</strong> die größte Unfreiheit*. 15


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 9<br />

Im se<strong>in</strong>er zweiten, schon durch den Titel erkennbar <strong>Politik</strong>-bezogenen Schrift, dem Dialog<br />

+<strong>Politik</strong>os* (Der Staatsmann), werden ähnliche Gedanken wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Politeia* entwickelt,<br />

und es wird noch e<strong>in</strong>mal herausgestrichen, daß nur die Weisheit <strong>der</strong> politischen Führung<br />

das allgeme<strong>in</strong>e Wohl sichern kann. E<strong>in</strong>e Wende dieses Denkens wird dagegen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schrift<br />

+Nomoi* (Die Gesetze) vollzogen. Hier verarbeitet Platon die Erfahrungen, die er aus dem<br />

Scheitern des auf Sizilien unternommenen Umsetzungsversuchs se<strong>in</strong>es <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Politeia* ent-<br />

worfenen Idealstaats gewonnen hat. Jetzt plädiert selbst er für e<strong>in</strong>e Herrschaft <strong>der</strong> Gesetze,<br />

läßt auch soziale Heterogenität zu und for<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e Mischverfassung aus demokratischen und<br />

aristokratisch-monarchistischen Elementen, so daß Freiheit (als demokratisches Pr<strong>in</strong>zip) und<br />

Weisheit (als aristokratisches Pr<strong>in</strong>zip) sich verb<strong>in</strong>den können.<br />

Aristoteles (384–322 v. Chr.), Sohn e<strong>in</strong>es Arztes am makedonischen Königshof, war <strong>der</strong> +Meister-<br />

schüler* Platons, welcher 385 v. Chr. e<strong>in</strong>e philosophische Lehranstalt, die berühmte +Akademie*,<br />

gegründet hatte. Nach dessen Tod wurde trotzdem allerd<strong>in</strong>gs nicht Aristoteles zum Nachfolger<br />

16<br />

berufen – wohl, da se<strong>in</strong>e Auffassungen zu stark von denen Platons abwichen. Letzeres gilt<br />

auch für se<strong>in</strong> politisches Denken: Im Wissenschaftssystem des Aristoteles nimmt die <strong>Politik</strong><br />

den ersten Rang unter den praktischen Wissenschaften e<strong>in</strong>. Dies begründet er wie folgt:<br />

+Jedes praktische Können und […] ebenso alles Handeln […] strebt nach e<strong>in</strong>em Gut […] Da es aber<br />

viele Formen des Handelns, des praktischen Könnens und des Wissens gibt, ergibt sich auch e<strong>in</strong>e<br />

Vielzahl von Zielen […] Überall nun, wo solche ›Künste‹ e<strong>in</strong>em bestimmten Bereich untergeordnet<br />

s<strong>in</strong>d […], da ist durchweg das Ziel <strong>der</strong> übergeordneten Kunst höheren Ranges als das <strong>der</strong> untergeordneten:<br />

um des ersteren willen wird ja das letztere verfolgt.* (Nikomachische Ethik; S. 5 [1094a]) 17<br />

Es muß aber gemäß Aristoteles e<strong>in</strong> erstes Gut geben. Welches dies ist, kann zunächst nicht<br />

gesagt werden. Allerd<strong>in</strong>gs läßt sich bestimmen, welchem Bereich es zuzuordnen ist:<br />

+Man wird zugeben müssen: es gehört <strong>in</strong> den Bereich <strong>der</strong> Kunst, welche dies im eigentlichsten und<br />

souveränsten S<strong>in</strong>ne ist. Als solche aber erweist sich die Staatskunst […] Wir sehen ja, wie ihr selbst<br />

die angesehensten ›Künste‹ untergeordnet s<strong>in</strong>d, z.B. Kriegs-, Haushalts- und Redekunst.* (Ebd.; S.<br />

6 [1094a])<br />

Nachdem er so die Staatskunst aufgrund ihres umfassenden Charakters als erste praktische<br />

Wissenschaft bestimmt hat, stellt er sich endlich die Frage nach dem Wesen des von ihr ver-<br />

folgten und damit höchsten Zieles: Das erste Gut (telos) muß notwendig e<strong>in</strong> Gutes (agathon)


10 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

se<strong>in</strong>, und fragt man die Menschen, so nennen sie gemäß Aristoteles übere<strong>in</strong>stimmend das<br />

Glück (eudaimonia) als dieses e<strong>in</strong>zige sich selbst genügende Ziel, dem folglich die <strong>Politik</strong><br />

zu dienen hat. 18<br />

Das politische Handeln muß deshalb aber auch ethischen Pr<strong>in</strong>zipien gerecht werden. Denn<br />

nur wer ethisch und politisch verantwortlich handelt (bios politikos), kann dauerhaftes Glück<br />

erreichen – die ungezügelte H<strong>in</strong>gabe an die Lust (bios apolaustikos) schafft nur kurzzeitiges<br />

19<br />

Vergnügen. Die ethischen Tugenden wie<strong>der</strong>um ergeben sich aus <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Polis.<br />

Es handelt sich um konventionelle Werte, die zur Charakterbildung e<strong>in</strong>geübt und ver<strong>in</strong>nerlicht<br />

werden müssen. Auf theoretischer Ebene läßt sich allerd<strong>in</strong>gs die Aussage treffen, daß die<br />

Tugend stets <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitte zwischen den Extremen angesiedelt ist. Zentrale Tugend ist die<br />

Gerechtigkeit, denn das +Gerechte bedeutet das Mittlere* (ebd.; S. 128 [1131b]) und umgekehrt.<br />

Auf staatlicher Ebene me<strong>in</strong>t Gerechtigkeit deshalb e<strong>in</strong> Zweifaches: +Das Gerechte ist […]<br />

die Achtung vor Gesetz und bürgerlicher Gleichheit* (Ebd., S. 120 [1129a]).<br />

Allerd<strong>in</strong>gs sollte man sich bei dieser Bestimmung nicht täuschen. Aristoteles ist ke<strong>in</strong>eswegs<br />

e<strong>in</strong> egalitärer Denker, son<strong>der</strong>n stets betont er (gegen die demokratischen Bestrebungen des<br />

Volks gewandt):<br />

+[…] für Menschen <strong>in</strong> unterschiedlicher Stellung sei das Gerechte und die Würdigkeit je verschieden.*<br />

(<strong>Politik</strong>; S. 181 [1282b]) 20<br />

Diese ungleiche Stellung <strong>der</strong> Menschen ist für Aristoteles naturgegeben. Schon die häusliche<br />

Ordnung ist deshalb durch e<strong>in</strong> Ungleichheitsverhältnis bestimmt. Der Patriarch herrscht selbst-<br />

verständlich und une<strong>in</strong>geschränkt über die zum Haushalt gehörenden Frauen, K<strong>in</strong><strong>der</strong> und<br />

21<br />

Sklaven. Die Herrschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Polis ist dagegen e<strong>in</strong>e Herrschaft über Freie und Gleiche,<br />

welche die politischen Lasten unter sich verteilen. Dazu Aristoteles:<br />

+Daher beanspruchen vernünftigerweise die Ehre die Edelgeborenen, die Freien und die Reichen.<br />

Denn es muß Freie geben [die die öffentlichen Ämter besetzen] und Leute, die die Steuerlast tragen.<br />

Nicht könnte e<strong>in</strong> Staat bestehen aus lauter Mittellosen, ebenso nicht aus Sklaven.* (Ebd.; 1283a)<br />

Die Bildung des Staates ist nun aber ke<strong>in</strong>eswegs aus bloßer Not geboren. An<strong>der</strong>s als z.B.<br />

Platon, ist Aristoteles <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, daß <strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong> zoon politikon, e<strong>in</strong> soziales Wesen<br />

ist. Das Wesen des Sozialen wie<strong>der</strong>um ist die Heterogenität: +Se<strong>in</strong>er Natur nach ist <strong>der</strong> Staat


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 11<br />

e<strong>in</strong>e Vielheit* (<strong>Politik</strong>; S. 108 [1261a]). Deshalb kritisiert er auch Platons homogenisierendes<br />

Staatsmodell. Beson<strong>der</strong>s wendet er sich gegen die Güter- sowie die Frauen und K<strong>in</strong><strong>der</strong>ge-<br />

me<strong>in</strong>schaft.<br />

Insgesamt gesehen ist Aristoteles’ politisches Denken stabilitätsorientiert und hierarchisch.<br />

Dies zeigt sich auch bei se<strong>in</strong>er Beurteilung <strong>der</strong> verschiedenen Verfassungsformen: Monarchie<br />

und Aristokratie s<strong>in</strong>d gute Herrschaftsformen, da <strong>in</strong> ihnen die Besten und Tugendhaftesten<br />

die Macht ausüben. Beide Formen unterscheiden sich im wesentlichen dadurch, daß <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Monarchie, im Gegensatz zur Aristokratie, nur e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelner an <strong>der</strong> Spitze des Staates steht.<br />

E<strong>in</strong> qualitativer Unterschied besteht h<strong>in</strong>gegen zu den Herrschaftsformen <strong>der</strong> Oligarchie und<br />

<strong>der</strong> Tyrannis, welche die +Entartungen* von Aristokratie und Monarchie darstellen: Der Tyrann<br />

übt e<strong>in</strong>e unumschränkte, gewaltsam aufrecht erhaltene Alle<strong>in</strong>herrschaft im S<strong>in</strong>ne se<strong>in</strong>er Eigen-<br />

<strong>in</strong>teressen aus, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Oligarchie zählt weniger die Tugendhaftigkeit als <strong>der</strong> Besitz. Da<br />

normalerweise nur wenige über großen Besitz verfügen, herrschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Oligarchie deshalb<br />

die wenigen Wohlhabenden.<br />

In <strong>der</strong> Demokratie, die <strong>in</strong> gewisser Weise <strong>der</strong> Tyrannis gleicht, herrschen dagegen diejenigen,<br />

die nicht nur Tugend vermissen lassen, son<strong>der</strong>n zudem besitzlos s<strong>in</strong>d. Ihre Zahl ist <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Regel groß. Die Demokratie unterscheidet sich also von <strong>der</strong> Oligarchie durch e<strong>in</strong> substantielles<br />

qualitatives sowie durch e<strong>in</strong> abgeleitetes quantitatives Merkmal. Die Politie, als letzte <strong>der</strong><br />

sechs von Aristoteles unterschiedenen Verfassungsformen, ist e<strong>in</strong>e Mischform aus Oligarchie<br />

und Demokratie. Doch obwohl sie Elemente zweier eigentlich +entarteter* Verfassungen<br />

be<strong>in</strong>haltet, ist sie gemäß Aristoteles e<strong>in</strong>e gute, vielleicht sogar die beste Verfassungsform, weil<br />

sie die größte Stabilität aufweist. Durch ihre enorme Zahl können die Herrschenden <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Politie den Mangel an Tugend kompensieren, <strong>der</strong> vielleicht im Vergleich zum e<strong>in</strong>zelnen Aristo-<br />

kraten o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em Monarchen festzustellen wäre, und das politische Verantwortungsbewußtse<strong>in</strong><br />

an<strong>der</strong>erseits wird durch das Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es gewissen Besitzes sichergestellt. Aristoteles<br />

kennt also drei gute Formen <strong>der</strong> Verfassung (Politie, Aristokratie und Monarchie) sowie drei<br />

+Entartungen* (Demokratie, Oligarchie und Tyrannis), die sich jeweils durch die Zahl <strong>der</strong><br />

an <strong>der</strong> politischen Herrschaft beteiligten Personen unterscheiden.<br />

Wollte man zum Abschluß e<strong>in</strong> Resumé über den aristotelischen <strong>Politik</strong>begriff abgeben, so<br />

hätte man e<strong>in</strong> doppeltes <strong>Politik</strong>verständnis des Aristoteles zu konstatieren: <strong>Politik</strong> umfaßt bei<br />

ihm zum e<strong>in</strong>en die gesamte Sphäre des sozialen und des ethischen (Handelns). Zum an<strong>der</strong>en


12 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ist sie im engeren S<strong>in</strong>n Staats- und Verfassungslehre, wobei (wie bei Platon) die Frage nach<br />

<strong>der</strong> guten und gerechten Verfassung im Vor<strong>der</strong>grund steht. Dieses umfassende (und zugleich<br />

<strong>in</strong> den Kontext <strong>der</strong> Tradition e<strong>in</strong>gebettete) <strong>Politik</strong>verständnis ist für viele zukünftige Konzeptionen<br />

des Politischen (vor allem im Mittelalter und des Konservatismus) bestimmend geblieben.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus hat die aristotelische Term<strong>in</strong>ologie die politische Begrifflichkeit bis heute<br />

maßgeblich geprägt.<br />

In hellenistischer Zeit gab es dann ke<strong>in</strong>e wirklich bedeutenden politischen Neuentwürfe mehr:<br />

Wilfried Nippel spricht gar von e<strong>in</strong>em +Verlust an theoretischer Innovationsfähigkeit* (Politische<br />

Theorien <strong>der</strong> griechisch-römischen Antike; S. 32). Dies hatte verschiedene Gründe: Zum e<strong>in</strong>en<br />

kam es durch die Herausbildung von philosophischen Schulen zu e<strong>in</strong>er Konzentration auf<br />

die Pflege des tradierten Theoriebestands. Zum an<strong>der</strong>en war e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> politischen<br />

Verhältnisse e<strong>in</strong>getreten. Wie bereits angesprochen, hatte die Polis im Zuge <strong>der</strong> makedonischen<br />

Expansion ihre Autonomie weitgehend verloren, und für die alten Eliten stand deshalb die<br />

Aufrechterhaltung ihres E<strong>in</strong>flusses im Vor<strong>der</strong>grund, was orig<strong>in</strong>elles politisches Denken nicht<br />

gerade för<strong>der</strong>te (vgl. ebd.; S. 32ff). Dieser Mangel an Orig<strong>in</strong>alität gilt nach Peter Weber-Schäfer<br />

auch für die politische Philosophie im antiken Rom:<br />

+Rom hat ke<strong>in</strong>e politische Theorie im eigentlichen S<strong>in</strong>ne gekannt; ihre Funktion übernahm die Pragmatie<br />

des politischen Handelns auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en, die […] Diszipl<strong>in</strong> des Staatsrechts auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite.*<br />

(E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die antike politische Theorie; S. 95)<br />

In diesem Zusammenhang zitiert er auch Condorcet:<br />

+Der Zerfall <strong>der</strong> griechischen Republiken zog den Zerfall <strong>der</strong> politischen Wissenschaft nach sich […]<br />

Ke<strong>in</strong> römisches Werk über <strong>Politik</strong> ist uns überliefert. Das Werk Ciceros über die Gesetze [De legibus]<br />

war wahrsche<strong>in</strong>lich nur e<strong>in</strong> zurechtgemachter Auszug aus griechischen Büchern.* (Zitiert nach ebd.) 22<br />

Aber selbst wenn es <strong>in</strong> Rom vielleicht ke<strong>in</strong>e ähnlich hochstehende politische Philosophie<br />

gab wie die im klassischen Athen, so hat man sich auch dort e<strong>in</strong>en (historisch nachwirkenden)<br />

Begriff von <strong>Politik</strong> gemacht, und gerade Ciceros Werk ist <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht durchaus relevant.<br />

Cicero (106–43 v. Chr.) war e<strong>in</strong> politischer Praktiker, erklomm als Konsul (63 v. Chr.) kurze<br />

Zeit sogar die Spitze <strong>der</strong> politischen Macht und war vor allem für se<strong>in</strong>e brillanten Reden<br />

23<br />

bekannt. Se<strong>in</strong> politisches Hauptwerk stellt die Schrift +De re publica* (Über den Staat) dar.


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 13<br />

Diese ist <strong>in</strong> Anlehnung an Platons +Politeia* konzipiert. Als spezifisch kann jedoch se<strong>in</strong> legalisti-<br />

sches und utilitaristisches Staats- und <strong>Politik</strong>verständnis gelten. In se<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition von Staat<br />

und Volk heißt es nämlich:<br />

+Es ist also […] <strong>der</strong> Staat […] die Sache des Volkes; e<strong>in</strong> Volk aber ist nicht jede […] Ansammlung<br />

von Menschen, son<strong>der</strong>n die Ansammlung e<strong>in</strong>er Menge, die sich auf Grund <strong>der</strong> Anerkennung e<strong>in</strong>er<br />

Rechtsordnung und <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>samkeit des Nutzens zusammengeschlossen hat.* (Über den Staat;<br />

S. 65 [I,39]) 24<br />

Die Verwirklichung dieses geme<strong>in</strong>samen Nutzens be<strong>in</strong>haltet für Cicero die Vorstellung e<strong>in</strong>er<br />

zw<strong>in</strong>genden Notwendigkeit von Hierarchien, wie sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er zweiten (im obigen Condorcet-<br />

Zitat bereits erwähnten) politischen Schrift, +De legibus* (Vom Gesetz), sehr deutlich zeigt.<br />

Dort bemerkt er:<br />

+Ihr seht also, die Bedeutung <strong>der</strong> Obrigkeit besteht dar<strong>in</strong>, vorzustehen und das Rechte, das Nützliche,<br />

das mit den Gesetzen <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang stehende vorzuschreiben. Wie nämlich über den Obrigkeiten die<br />

Gesetze, so stehen über dem Volk die Obrigkeiten, und man kann wahrheitsgemäß sagen, daß die<br />

Obrigkeit das redende Gesetz, das Gesetz aber die stumme Obrigkeit ist.* (S. 299 [III,2])<br />

Allerd<strong>in</strong>gs trägt die Obrigkeit die Verantwortung für das Geme<strong>in</strong>wohl und ist, wie schon oben<br />

ankl<strong>in</strong>gt, an e<strong>in</strong>e übergeordnete Moral gebunden: +Die Befehle sollen gerecht se<strong>in</strong>* (ebd.;<br />

S. 301 [III,5]), for<strong>der</strong>t Cicero. In diesem Zusammenhang kommt auch e<strong>in</strong> Naturrechtsdenken 25<br />

zum Tragen, welches das positive Recht und die Herrschaft <strong>der</strong> Obrigkeit an die Transzendenz<br />

<strong>der</strong> göttlichen Ordnung rückb<strong>in</strong>det:<br />

+Nichts ist sodann dem Recht und <strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Natur so angemessen […] wie Herrschaftsgewalt,<br />

ohne die we<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Haushalt, noch e<strong>in</strong>e Bürgergeme<strong>in</strong>schaft […] noch das Weltall selbst bestehen<br />

kann. Denn dieses gehorcht Gott, und ihm folgen Meere und Län<strong>der</strong>, und das Leben <strong>der</strong> Menschen<br />

gehorcht den Befehlen des obersten Gesetzes.* (Ebd.; S. 299 [III,3]).<br />

Cicero war, wie erwähnt, nur kurze Zeit an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Macht <strong>in</strong> Rom, blieb aber weiterh<strong>in</strong><br />

26<br />

politisch aktiv und e<strong>in</strong>flußreich. Als politischer Denker plädierte er, ähnlich wie Platon <strong>in</strong><br />

den +Nomoi* und Aristoteles <strong>in</strong> <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong>*, für e<strong>in</strong>e Mischverfassung. Diese Mischverfassung<br />

sollte gemäß se<strong>in</strong>en Vorstellungen Elemente aller drei nach ihm grundlegenden Verfassungs-


14 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

formen – d.h. Monarchie, Aristokratie und Demokratie – vere<strong>in</strong>igen, um so die größtmögliche<br />

Stabilität zu gewährleisten:<br />

+Es sche<strong>in</strong>t mir nämlich das beste, daß es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staate etwas Überragendes, e<strong>in</strong>em Könige Gleichendes<br />

gibt, daß an<strong>der</strong>es <strong>der</strong> Autorität <strong>der</strong> ersten Männer zugeteilt und überantwortet ist, und daß gewisse<br />

D<strong>in</strong>ge dem Urteil und dem Willen <strong>der</strong> Menge vorbehalten s<strong>in</strong>d.* (Über den Staat; S. 85 [I,69])<br />

27<br />

E<strong>in</strong>e solche Mischverfassung war <strong>in</strong> <strong>der</strong> römischen Republik weitgehend verwirklicht: E<strong>in</strong><br />

hierarchisch aufgebauter Magistrat (an <strong>der</strong> Spitze die zwei Konsuln) war mit den exekutiven<br />

28 29<br />

Aufgaben betraut. Der Senat hatte beratende Funktion. Er setzte sich aus den Oberhäuptern<br />

<strong>der</strong> noblen Familien (Patres) sowie ehemaligen Konsularbeamten zusammen, und repräsentierte<br />

30<br />

somit das aristokratische Element. Die Volksversammlungen (Komitien) wählten den Magistrat<br />

und hatten legislative sowie bestimmte judikative Kompetenzen <strong>in</strong>ne. Dabei galt +selbstver-<br />

ständlich* e<strong>in</strong> strenger Zensus und +natürlich* waren auch Frauen und Sklaven vom politischen<br />

Prozeß ausgeklammert. Dies führte, neben <strong>der</strong> ohneh<strong>in</strong> bestehenden Konkurrenz <strong>der</strong> Ver-<br />

fassungsorgane, zu erheblichen sozial-politischen Spannungen. E<strong>in</strong> Ausdruck dieser Spannungen<br />

waren die bekannten Slavenaufstände im 1. und 2. Jh. v. Chr. Auch unter Bauern, den ethni-<br />

schen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten und Plebejern gab es jedoch große soziale Unzufriedenheit. 31<br />

Die resultierende politische Unruhe konnte Gaius Julius Caesar (100–44 v. Chr.) für se<strong>in</strong>e<br />

Machtambitionen nutzen. Zuerst (59 v. Chr.) Konsul, dann – nach dem Gallienfeldzug (58–51<br />

32<br />

v. Chr.) und dem Sieg im Bürgergrieg (49–46 v. Chr.) – zum diktatorischen Alle<strong>in</strong>herrscher<br />

33<br />

geworden, bereitete er das Feld für die mit se<strong>in</strong>em Adoptivsohn Augustus e<strong>in</strong>setzende Zeit<br />

des +Pr<strong>in</strong>cipats*. Caesar selbst lehnte jedoch die an ihn herangetragene Königswürde ab. Was<br />

Cicero betrifft, so war dieser ihm gegenüber ambivalent e<strong>in</strong>gestellt. Obwohl Caesar freundschaft-<br />

lich verbunden, billigte er zuletzt dessen Ermordung, da er die Hoffnung aufgegeben hatte,<br />

er würde die Republik wie<strong>der</strong>herstellen. 34<br />

Genau damit, mit <strong>der</strong> angeblichen Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Republik, versuchte übrigens Augustus<br />

se<strong>in</strong>e Herrschaft zu legitimieren: 27 v. Chr. proklamierte er die res publica restituta und formu-<br />

lierte hochtrabend, er erstrebe +sterbend die Hoffnung mit <strong>in</strong>s Grab zu nehmen, daß die<br />

von mir [ihm] gelegten Fundamente <strong>der</strong> res publica fest an ihrer Stelle bleiben* (zitiert nach<br />

Giebel: Augustus; S. 72). Die mit Augustus beg<strong>in</strong>nende Kaiserzeit brachte Rom nach den<br />

Wirren <strong>der</strong> letzten Jahre <strong>der</strong> Republik zunächst e<strong>in</strong>e neue Blüte – nur hatte die pr<strong>in</strong>cipale


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 15<br />

Herrschaft freilich nichts mit e<strong>in</strong>er republikanischen Regierungsweise geme<strong>in</strong>: Das Volk hatte<br />

alle<strong>in</strong>e die une<strong>in</strong>geschränkte Vollmacht des Imperators zu bestätigen und die Befugnisse des<br />

Senats waren erheblich beschnitten. Das System nahm <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge immer autokratischere<br />

sowie kultische Formen an, und schon <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten des 2. Jh. war die kaiserliche<br />

Herrschaft – auch aufgrund e<strong>in</strong>er ökonomischen Krise und den relativ erfolglosen Versuchen<br />

e<strong>in</strong>es Stopps des Vordr<strong>in</strong>gens <strong>der</strong> Germanen – nur mehr durch militärische Gewalt aufrecht<br />

35<br />

zu erhalten: Die Epoche <strong>der</strong> Soldatenkaiser begann. Das römische Imperium wurde schließlich<br />

im 4. Jh. gespalten, und das weströmische Reich g<strong>in</strong>g im 5. Jh. unter.<br />

Diesen Untergang hat Aurelius August<strong>in</strong>us, <strong>der</strong> 354 im nordafrikanischen Thagaste geboren<br />

wurde, nicht mehr im vollen Umfang miterlebt. Betrauert, soviel darf man getrost vermuten,<br />

hätte er ihn nicht, denn über das imperium romanum klagt er, <strong>der</strong> im Jahr 387 zum Christentum<br />

bekehrte und wenig später zum Bischof geweihte Gelehrte: +Durch welche Menschenschläch-<br />

terei, welches Blutvergießen ward es erreicht!* (Vom Gottesstaat; Bd. 2, S. 541 [XIX,7]) 36<br />

Überhaupt war August<strong>in</strong>us dem weltlichen Leben und damit auch dem weltlichen Staat extrem<br />

ablehnend gegenüber e<strong>in</strong>gestellt: +Was an<strong>der</strong>s s<strong>in</strong>d also Reiche […] als große Räuberbanden?*,<br />

fragt er sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er schon oben zitierten Schrift +De civitate dei* eher rhetorisch (Bd. 1,<br />

S. 173 [IV,4]) – wobei übrigens sogar e<strong>in</strong>e gewisse Parallele zur dargelegten Position des So-<br />

phisten Thrasymachos deutlich wird (siehe S. 8). August<strong>in</strong>us argumentiert jedoch aus e<strong>in</strong>em<br />

gänzlich an<strong>der</strong>en, nämlich christlich-religiösen Bewußtse<strong>in</strong> heraus. Nach anfänglicher Unter-<br />

drückung hatte sich das Christentum im römischen Reich (vor allem durch den E<strong>in</strong>fluß<br />

37<br />

Konstant<strong>in</strong>s) immer mehr durchsetzen können und war durch Theodosius 391 sogar zur<br />

Staatsreligion geworden. August<strong>in</strong>us ist <strong>der</strong> wichtigste Denker dieser christlich geprägten Spät-<br />

antike, und die lange währende +heilige*, aber <strong>in</strong> ihren Resultaten eher unheilvolle Ehe zwischen<br />

Theologie und Philosophie bahnte sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk an. Hierzu Ignor:<br />

+Die antike Philosophie, namentlich die des Staates, endet mit August<strong>in</strong>us; genauer: sie wird beendet<br />

durch ihn […] So nachhaltig hat August<strong>in</strong>us die ›F<strong>in</strong>sternis des gesellschaftlichen Lebens‹ […] an die<br />

Wand geworfen, daß sich bis gegen Ende des Mittelalters […] kaum jemand mehr darüber Gedanken<br />

machen wollte, welche Verfassung möglich wäre […] Statt dessen unterwarf sich das Abendland <strong>der</strong><br />

faktischen Macht […]* (Abschied von <strong>der</strong> Antike – Aurelius August<strong>in</strong>us; S. 176f.)<br />

Zum Charakter des Politischen im Mittelalter bemerkt allerd<strong>in</strong>gs Jürgen Miethke: +Die politische<br />

Ordnung war noch ungetrennt und ununterscheidbar Teil des menschlichen Lebens* (Politische


16 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

38<br />

Theorien im Mittelalter; S. 48). Die Sphären Gesellschaft, <strong>Politik</strong> und Religion hatten sich<br />

noch nicht verselbständigt. Genau e<strong>in</strong>e getrennte Betrachtung von <strong>Politik</strong> und Religion, vom<br />

irdischen und vom Gottesstaat f<strong>in</strong>det sich aber bei August<strong>in</strong>us. Se<strong>in</strong>e Position kann <strong>in</strong> dieser<br />

H<strong>in</strong>sicht als +untypisch* für das antik-mittelalterliche Denken betrachtet werden, ist – da vom<br />

Manichäismus bee<strong>in</strong>flußt – streng dualistisch und nicht von <strong>der</strong> Dualität von Weltlichkeit<br />

und Geistlichkeit geprägt. Die Glückseligkeit, die gemäß den antiken griechischen Philosophen<br />

noch durch den wohlgeordneten Staat verwirklicht werden sollte und konnte, ist für ihn endgültig<br />

<strong>in</strong> den Bereich des Metaphysischen verlagert. Auch die gerechte Herrschaft e<strong>in</strong>es christlichen<br />

Monarchen vermag bestenfalls die Übel des irdischen Se<strong>in</strong>s zu m<strong>in</strong><strong>der</strong>n, aber niemals zu<br />

beseitigen. Das +realistische* Ziel <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ist deshalb für August<strong>in</strong>us schlicht die Gewährleistung<br />

e<strong>in</strong>es basalen Friedens, die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. Dazu müssen alle im<br />

Staatswesen beitragen, denn:<br />

+[…] <strong>der</strong> Friede des Staates [besteht] <strong>in</strong> <strong>der</strong> geordneten E<strong>in</strong>tracht <strong>der</strong> Bürger im Befehlen und Gehorchen<br />

[…]* (Vom Gottesstaat; Band 2, S. 552 [XIX,13])<br />

Dem hätte allerd<strong>in</strong>gs sicher auch <strong>der</strong> +heilige* Thomas von Aqu<strong>in</strong> (1225–74) zugestimmt,<br />

<strong>der</strong> den Höhepunkt <strong>der</strong> mittelalterlichen Scholastik markiert, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die antike Philosophie<br />

(vor allem die des Aristoteles) e<strong>in</strong>e Renaissance erlebte, dabei aber e<strong>in</strong>er christilichen Um<strong>in</strong>ter-<br />

pretation unterzogen wurde. Aristoteles’ Werke zur praktischen Philosophie galten lange Zeit<br />

als verschollen und kamen erst Anfang des 13. Jahrhun<strong>der</strong>ts (über den Umweg arabischer<br />

Quellen) nach Mitteleuropa – deshalb diese erst so spät e<strong>in</strong>setzende Rezeption. Robert<br />

Grosseteste, Bischof von L<strong>in</strong>coln, fertigte um 1246 aber schließlich e<strong>in</strong>e erste vollständige<br />

late<strong>in</strong>ische Übersetzung <strong>der</strong> +Nikomachischen Ethik* an. Durch die Übersetzungsarbeit des<br />

nie<strong>der</strong>ländische Dom<strong>in</strong>ikaners Wilhelm von Moerbeke wurde e<strong>in</strong> weiteres Jahrzehnt später<br />

auch die +<strong>Politik</strong>* <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er late<strong>in</strong>ischen Fassung zugänglich. 39<br />

Thomas, ebenfalls Dom<strong>in</strong>ikaner und <strong>in</strong> Kontakt mit Moerbeke stehend, begann 1267 e<strong>in</strong>en<br />

scholastischen Kommentar zur +<strong>Politik</strong>* zu verfassen und arbeitete gleichzeitig an se<strong>in</strong>er zentralen<br />

politischen Schrift: +De regim<strong>in</strong>e pr<strong>in</strong>cipum* (Über die Herrschaft <strong>der</strong> Fürsten). Er stellt hier<br />

das Führungsargument <strong>in</strong> den Mittelpunkt. Zwar gesteht er zu: Wäre das menschliche Dase<strong>in</strong><br />

vere<strong>in</strong>zelt, so genügte die Leitung <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Vernunft. Da <strong>der</strong> Mensch aber, wie er<br />

<strong>in</strong> Anlehnung an Aristoteles formuliert, von Natur aus <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft lebt, sollte die Vernunft


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 17<br />

e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen allen an<strong>der</strong>en die Richtung weisen, um die Vielheit des Geme<strong>in</strong>wesens<br />

zusammenzuhalten. Das so begründete Herrscheramt ist aber (an<strong>der</strong>s als später z.B. bei Marsilius<br />

und ganz <strong>in</strong> antik-christlicher Tradition verhaftet) dem allgeme<strong>in</strong>en Wohl (bonum commune)<br />

ausdrücklich verpflichtet: +E<strong>in</strong> König ist, wer über die Gesellschaft e<strong>in</strong>er Stadt o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Land-<br />

schaft gebietet, und zwar um ihrem Geme<strong>in</strong>wohl zu dienen* (S. 18 [Kap. 1]). Diese Geme<strong>in</strong>wohl-<br />

verpflichtung gilt, da <strong>der</strong> Herrscher e<strong>in</strong>zig von Gott an diese hervorragende Stelle gesetzt<br />

wurde. Er ist also nicht eigenmächtig, son<strong>der</strong>n schöpft von <strong>der</strong> +göttlichen Allmacht*. Die<br />

ihm verliehene Gewalt darf er folglich nur zum Wohle aller gebrauchen, und er muß auch<br />

für die Möglichkeit zur +sittlichen Vervollkommnung* se<strong>in</strong>er Untertanen Sorge tragen:<br />

+Dessen muß sich also e<strong>in</strong> König bewußt se<strong>in</strong>: daß er das Amt auf sich genommen hat, se<strong>in</strong>em<br />

Königreiche das zu se<strong>in</strong>, was die Seele für den Leib und Gott für die Welt bedeutet. Wenn er dies<br />

mit Fleiß bedenkt, wird <strong>in</strong> ihm wohl <strong>der</strong> Eifer <strong>der</strong> Gerechtigkeit entbrennen, da er erwägt, daß er<br />

nur deshalb auf se<strong>in</strong>en Platz gestellt ist, um an Gottes Statt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Reiche Urteil zu sprechen.*<br />

(Ebd.; S. 74f. [Kap. 12])<br />

Die weltliche Gewalt bleibt also bei Thomas, obwohl er <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung +Gebt dem Kaiser<br />

was des Kaisers ist!* grundsätzlich zustimmt, rückgebunden an die +göttliche Transzendenz*<br />

40<br />

und ist <strong>in</strong> Angelegenheiten des +Seelenheils* sogar <strong>der</strong> Geistlichkeit klar untergeordnet. Entlang<br />

dieser L<strong>in</strong>ie argumentieren fast alle Denker des Hochmittelalters. Schließlich war die Bedeutung<br />

<strong>der</strong> Kirche groß und ihr E<strong>in</strong>fluß umfassend. Sie hatte nicht nur immense Besitzungen – spätestens<br />

seit Gregor VII. (1073–85) erhob sie e<strong>in</strong>en Führungsanspruch, <strong>der</strong> sich auch auf den politischen<br />

Bereich erstreckte. Der Papst beanspruchte nun nicht nur das Recht zur Ernennung <strong>der</strong><br />

geistlichen Würdenträger, son<strong>der</strong>n auch zur E<strong>in</strong>- und Absetzung <strong>der</strong> weltlichen Herrscher.<br />

Dem Übergriff auf ihre Machtsphäre versuchten diese sich natürlich zu entziehen, doch zunächst<br />

mußten sie vor <strong>der</strong> kirchlichen Autorität, die mit Exkommunizierung drohte, kapitulieren:<br />

Der sprichwörtliche gewordene Bußgang He<strong>in</strong>richs IV. nach Canossa im Jahr 1077 ist Symbol<br />

<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> weltlichen <strong>Politik</strong> im Investiturstreit des 11. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Der sich abzeich-<br />

nende Gegensatz zwischen Kirche und Staat führte bei allen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen aber niemals<br />

zur generellen Anzweifelung <strong>der</strong> dualen sozialen Ordnung: Der e<strong>in</strong>zelne blieb <strong>in</strong> <strong>der</strong> ständisch-<br />

feudalen Gesellschaft des Mittelalters sowohl Spielball <strong>der</strong> königlich-fürstlichen wie <strong>der</strong> päpstlich-<br />

klerikalen Herrschaft. Theologie und <strong>Politik</strong> waren (noch) untrennbar <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verquickt,<br />

wobei erstere den Rahmen des Politischen absteckte. 41


18 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Der August<strong>in</strong>ermönch und Schüler des Thomas, Aegidius Romanus (ca. 1245–1316), hat<br />

es schließlich unternommen, den päpstlichen Universalanspruch, <strong>der</strong> während des Pontifikats<br />

von Bonifaz VIII. (1294–1303) noch e<strong>in</strong>mal vehement vorgetragen wurde, mit se<strong>in</strong>em Traktat<br />

+De ecclesiastica potestate* scholastisch zu untermauern. Gegen Ende des 14. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

strebt aber (gewissermaßen als Vorgeschmack zur sich anbahnenden Reformation) auch die<br />

theoretische Entwicklung unaufhaltsam <strong>in</strong> Richtung Neuzeit. Ansätze dazu f<strong>in</strong>den sich z.B.<br />

42<br />

bei Wilhelm von Ockham und John Wyclif. Am deutlichsten tritt diese Tendenz aber bei<br />

Marsilius von Padua (ca. 1290–1343) zutage. Zwar stellt er 1324 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Defensor<br />

pacis* (Verteidiger des Friedens) ebenfalls den Ordnungsgedanken <strong>in</strong> den Mittelpunkt, doch<br />

versuchte er erstmals so etwas wie e<strong>in</strong>en Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zu begründen – e<strong>in</strong>e gefährliche<br />

Provokation <strong>der</strong> Kirche, die er mit e<strong>in</strong>er Verurteilung wegen Häresie bezahlen mußte und<br />

so gezwungen war, sich unter die Obhut Ottos von Bayern zu begeben, dem er se<strong>in</strong>e Schrift<br />

gewidmet hatte.<br />

Welche Begründung gibt Marsilius von Padua für se<strong>in</strong>e damals so +revolutionär* anmutende<br />

For<strong>der</strong>ung für e<strong>in</strong>en +Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>*? – Wie erwähnt, betrachtet auch Marsilius Friede<br />

und Ordnung als höchste Güter und bef<strong>in</strong>det sich dar<strong>in</strong> selbstverständlich noch ganz im E<strong>in</strong>klang<br />

mit <strong>der</strong> Tradition seit August<strong>in</strong>us. Se<strong>in</strong>er Auffassung nach können beide jedoch nur dann<br />

wirklich gedeihen, wenn die Führung des Geme<strong>in</strong>wesens ungespalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hand vere<strong>in</strong>igt<br />

liegt:<br />

+In e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Stadt o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Staat darf es nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Regierung geben […]*<br />

(Verteidiger des Friedens; Band 1, S. 205 [Kap. 17, § 1]) 43<br />

Diese ungeteilte Herrschaft gebührt nun aber gemäß Marsilius unzweifelhaft den weltlichen<br />

Instanzen und nicht <strong>der</strong> Kurie. Die päpstlichen Machtansprüche, die unter Verweis auf die<br />

pontifikale Nachfolge Christi als +König <strong>der</strong> Könige* (Offenbarung 19,16) erhoben werden,<br />

weist er <strong>in</strong> klaren Worten zurück:<br />

+Denn ke<strong>in</strong>em römischen […] Bischof, ke<strong>in</strong>em Priester o<strong>der</strong> geistlichem Diener als solchem kommt<br />

[…] das zw<strong>in</strong>gende Regierungsamt zu […]* (Verteidiger des Friedens; Band 1, S. 245 [Kap. 19, § 12])<br />

Zur Unterstützung se<strong>in</strong>er Argumentation sucht er Rückhalt bei Aristoteles, denn schon gemäß<br />

diesem sei die priesterliche Amtsausübung vom politischen Amt zu trennen und zu unterscheiden,


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 19<br />

44<br />

so Marsilius. Es handelt sich hier um den offensichtlichen Versuch, unter Verweis auf die<br />

damals außer Frage stehende Autorität des antiken Philosophen, e<strong>in</strong>e für mittelalterliche<br />

Verhältnisse durchaus gewagte These zu begründen. Die Kirche stellte schließlich nicht nur<br />

e<strong>in</strong>en bedeutenden Machtfaktor dar, son<strong>der</strong>n das antike philosophische Erbe wurde auch<br />

nahezu ausschließlich unter ihrem Dach verwaltet und damit <strong>in</strong> Beschlag genommen. Philosophie<br />

war also im Mittelalter praktisch wie theoretisch weitgehend <strong>in</strong> den Kontext <strong>der</strong> Theologie<br />

e<strong>in</strong>gebunden. Diese lange Zeit währende Verquickung zwischen Philosophie und Theologie<br />

begann sich erst mit dem Heraufkommen <strong>der</strong> Neuzeit zu lösen.<br />

1.2 DER WANDEL DES POLITIKVERSTÄNDNISSES IN DER NEUZEIT 45<br />

In <strong>der</strong> Überschrift zu diesem Abschnitt wird wie selbstverständlich die Behauptung aufgestellt,<br />

daß es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit zu e<strong>in</strong>en Wandel des <strong>Politik</strong>verständnisses kam. Nur: Welches <strong>Politik</strong>-<br />

verständnis soll sich gewandelt haben, auf welches <strong>der</strong> vielen vorgestellten Konzepte wird<br />

mit dieser These Bezug genommen? – Denn die vorangegangene Erörterung hat, wenn über-<br />

haupt, so doch e<strong>in</strong>es gezeigt: daß es e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>heitlichen <strong>Politik</strong>begriff we<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike<br />

noch im Mittelalter und schon gar nicht epochenübergreifend gegeben hat. Trotzdem läßt<br />

sich (wenn man sich auf die dom<strong>in</strong>anten Diskurse konzentriert, E<strong>in</strong>zelphänomene und Neben-<br />

strömungen außer acht läßt) e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>samkeit ausmachen (o<strong>der</strong> vielmehr konstruieren).<br />

Diese Geme<strong>in</strong>samkeit besteht dar<strong>in</strong>, daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> sowohl Antike wie im Mittelalter vor allem<br />

im politischen Denken, aber auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis ke<strong>in</strong>e autonome Sphäre des Politischen existierte.<br />

Politisches Handeln wurde an den übergreifenden Normen e<strong>in</strong>es essentialistischen Konzepts<br />

von +Gerechtigkeit* gemessen und war, wenn man es nicht sogar als Synonym für soziales<br />

Handeln schlechth<strong>in</strong> betrachten will, e<strong>in</strong>gebettet und verankert <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en gesellschaftlichen<br />

Totalzusammenhang.<br />

Das än<strong>der</strong>te sich ab <strong>der</strong> Renaissance. Der Schleier, +gewoben aus Glauben, K<strong>in</strong>dheitsbefangenheit<br />

und Wahn* (Die Kultur <strong>der</strong> Renaissance <strong>in</strong> Italien; S. 123), <strong>der</strong> im Mittelalter über dem<br />

Bewußtse<strong>in</strong> lag, wurde endlich gelüftet, wie Jacob Burckhardt geradezu euphorisch diagnostiziert.<br />

Auch weniger euphorisch kann man aber von e<strong>in</strong>er Epoche des Neubeg<strong>in</strong>ns sprechen. Dieser<br />

Neubeg<strong>in</strong>n erfolgte zwar im Rekurs auf die Antike, ließ diese aber tatsächlich h<strong>in</strong>ter sich.<br />

Individualität werde zum Wert an sich, und auch die <strong>Politik</strong> versuchte sich immer mehr nicht


20 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

nur von klerikaler Bevormundung zu emanzipieren, son<strong>der</strong>n begriff sich als eigenständiger<br />

Bereich des Lebens. Dazu nochmals Burckhardt:<br />

+In Italien zuerst verweht dieser Schleier <strong>in</strong> die Lüfte; es erwacht e<strong>in</strong>e objektive Betrachtung und<br />

Behandlung des Staates und <strong>der</strong> sämtlichen D<strong>in</strong>ge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich<br />

mit voller Macht das Subjektive, <strong>der</strong> Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.*<br />

(Ebd.)<br />

Der politische Denker, <strong>der</strong> diesen Zeitgeist exemplarisch verkörpert heißt Niccolò Machiavelli<br />

(1469–1527). Zum allgeme<strong>in</strong>en zeitgeschichtlichen H<strong>in</strong>tergrund können und müssen an dieser<br />

Stelle ke<strong>in</strong>e näheren Erläuterungen erfolgen. Dieser ist zum e<strong>in</strong>en h<strong>in</strong>reichend bekannt, und<br />

außerdem wurden dazu bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung e<strong>in</strong>ige kurze Bemerkungen gemacht (siehe<br />

S. XIV). Ich möchte deshalb nur <strong>in</strong> Umrissen auf die spezifische Situation e<strong>in</strong>gehen, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

sich Machiavelli befand, als er se<strong>in</strong>e beiden berühmtesten Schriften, +Il Pr<strong>in</strong>cipe* (Der Fürst)<br />

46 47<br />

und die +Discorsi* (Abhandlungen), verfaßte: In Italien herrschten Ende des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

wirre politische Zustände. Das gilt auch für Machiavellis Vaterstadt Florenz: 1494 wird dort<br />

nach <strong>der</strong> Vertreibung des Fürsten Piero de’ Medici e<strong>in</strong>e Republik errichtet, und 1498 stößt<br />

48<br />

Machiavelli durch die Gunst <strong>der</strong> Stunde <strong>in</strong>s Zentrum <strong>der</strong> Macht vor: Er wird, ohne vorher<br />

jemals e<strong>in</strong> öffentlichen Amt bekleidet zu haben, zum Leiter e<strong>in</strong>er Abteilung <strong>der</strong> Staatskanzlei<br />

– <strong>der</strong> +Seconda Cancelleria* – ernannt und ist auch Mitglied des Verteidigungsausschusses<br />

(Dieci di Ballía). Se<strong>in</strong>e Amtsgeschäfte führt Machiavelli erfolgreich, und er err<strong>in</strong>gt 1509 für<br />

Florenz sogar e<strong>in</strong>en militärischen Sieg über Pisa. Als es 1512 jedoch zu e<strong>in</strong>er Restauration<br />

<strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Medici kommt, verschw<strong>in</strong>det er so plötzlich von <strong>der</strong> politischen Bühne<br />

wie er aufgetaucht ist. Für kurze Zeit wird er sogar <strong>in</strong>haftiert. Mit se<strong>in</strong>en, im ländlichen Exil<br />

verfaßten politischen Schriften versucht er, sich an die neuen alten Machthaber anzudienen<br />

und diese davon zu überzeugen, daß er ungerechtfertigt <strong>in</strong> Ungnade fiel. Se<strong>in</strong> +Pr<strong>in</strong>cipe*<br />

ist deshalb explizit +dem erlauchten Lorenzo de’ Medici* gewidmet. In dieser Schrift feiert<br />

er den pr<strong>in</strong>cipe nuovo, den Grün<strong>der</strong>fürsten, <strong>der</strong> durch glückliche Umstände (fortuna), vor<br />

allem aber durch se<strong>in</strong>e eigene Tüchtigkeit (virtù) an die Macht gelangt.<br />

An<strong>der</strong>s als die politischen Denker im Mittelalter, für die dies zur Pflichtübung gehörte, widmet<br />

sich Machiavelli <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Zeile <strong>der</strong> theologischen Herleitung und Legitimation <strong>der</strong> politischen<br />

Herrschaft. Und was die notwendigen Herrschertugenden betrifft, so stellt er die bisher geltenden


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 21<br />

Ansichten geradezu auf den Kopf: Nicht Weisheit und Gerechtigkeit s<strong>in</strong>d für e<strong>in</strong>en Herrscher<br />

gefragt, son<strong>der</strong>n vielmehr e<strong>in</strong>e pragmatische politische Klugheit (prudenza). Und Machiavelli<br />

gelangt zwar zu dem Schluß, +daß e<strong>in</strong> Herrscher bei se<strong>in</strong>em Volk beliebt se<strong>in</strong> muß; sonst<br />

hat er <strong>in</strong> widrigen Zeiten ke<strong>in</strong>en Rückhalt* (Il Pr<strong>in</strong>cipe; S. 41 [Kap. IX]). Deshalb muß er auch<br />

danach streben +im Ruf <strong>der</strong> Milde zu stehen und nicht <strong>in</strong> dem <strong>der</strong> Grausamkeit* (ebd.; S.<br />

67 [Kap. XVII]). Doch an<strong>der</strong>erseits darf er auch nicht vor zur Aufrechterhaltung se<strong>in</strong>er Macht<br />

notwendigen Gewaltakten zurückschrecken:<br />

+E<strong>in</strong> Mensch, <strong>der</strong> immer nur das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen <strong>in</strong> mitten von so<br />

vielen Menschen, die nicht gut s<strong>in</strong>d. Daher muß sich <strong>der</strong> Herrscher, wenn er sich behaupten will,<br />

zu <strong>der</strong> Fähigkeit erziehen, nicht alle<strong>in</strong> nach den moralischen Gesetzen zu handeln.* (Ebd.; S. 63 [Kap.<br />

XV])<br />

Dabei gilt es nur zu beachten: +Gewalttaten müssen […] alle auf e<strong>in</strong>mal angewandt werden,<br />

damit sie weniger gespürt werden und deshalb weniger verletzen* (S. 38 [Kap. VIII]). Die<br />

grundsätzliche Frage, ob es für e<strong>in</strong>en Herrscher besser ist, geliebt als gefürchtet zu werden,<br />

beantwortet er mit allerd<strong>in</strong>gs dem Rat, +daß man [je nach den Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>der</strong> Situation]<br />

sowohl das e<strong>in</strong>e als das an<strong>der</strong>e se<strong>in</strong> sollte. Da es aber schwer ist, beides zu vere<strong>in</strong>igen, ist<br />

49<br />

es viel sicherer, gefürchtet als geliebt zu se<strong>in</strong> […]* (ebd.; S. 68 [Kap. XVII). Machiavelli<br />

argumentiert also, wie sich hier zeigt, re<strong>in</strong> zweckrational und gibt e<strong>in</strong>e praktisch orientierte<br />

50<br />

Anleitung zur Machtgew<strong>in</strong>nung und -erhaltung. Wohl aufgrund dieser Tatsache steht <strong>der</strong><br />

Begriff +Machiavellismus* heute als Synonym für politische Unmoral. Liest man vor allem<br />

die +Discorsi* jedoch genauer, offenbart sich, daß selbst Machiavelli für e<strong>in</strong> politisches Ideal<br />

e<strong>in</strong>tritt: die freie Stadtrepublik. Aber auch <strong>in</strong> diesem Werk bleibt se<strong>in</strong> Menschenbild pessimistisch,<br />

und er geht von <strong>der</strong> Prämisse aus, +daß alle Menschen schlecht s<strong>in</strong>d und daß sie stets ihren<br />

bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben* (S. 17 [Kap. 3]).<br />

E<strong>in</strong>e ähnlich negative Anthropologie wie bei Machiavelli f<strong>in</strong>det sich auch bei Thomas Hobbes<br />

(1588–1679). Hobbes gehört jedoch zur Kategorie <strong>der</strong> neuzeitlichen Vertragstheoretiker, <strong>der</strong>en<br />

51<br />

wichtigste Vertreter im folgenden kurz vorgestellt werden sollen. Die Grundzüge des kontrak-<br />

tualistischen Arguments, das auf <strong>der</strong> Annahme e<strong>in</strong>es freiwillig geschlossenen (Herrschafts-)Vertrags<br />

beruht, f<strong>in</strong>den sich zwar schon <strong>in</strong> antiken Schriften. Allerd<strong>in</strong>gs wurde damals <strong>der</strong> Vertragsgedanke<br />

52<br />

nicht wirklich systematisch ausgebaut. Dies geschieht erst <strong>in</strong> den staatstheoretischen Entwürfen


22 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

<strong>der</strong> frühen Neuzeit. Althusius (1557–1638) und Grotius (1583–1645) s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Zusammen-<br />

53<br />

hang wichtige Namen. Neben ihnen lehnte sich Hobbes vor allem an Jean Bod<strong>in</strong> (1530–96)<br />

und se<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong> absoluten Souveränität des politischen Herrschers an (vgl. Les six livre<br />

de la République). Alle diese +Vorgänger* wiesen jedoch nicht die methodische Strenge auf,<br />

die Hobbes auszeichnet und die zugleich das spezifisch neuzeitliche Element se<strong>in</strong>er Philosophie<br />

darstellt. Wenn Hobbes nämlich den Krieg – wie er <strong>in</strong> <strong>der</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +De Corpore* (Von<br />

den Körpern) bekennt – als +Wurzel aller Nachteile und allen Unglücks* betrachtet (S. 11)<br />

und die Sicherung des sozialen Friedens <strong>in</strong>s Zentrum se<strong>in</strong>es politischen Denkens stellt, so<br />

bef<strong>in</strong>det er sich damit schließlich durchaus <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit <strong>der</strong> Tradition. Dieses<br />

Ziel will er jedoch, da die klassische Moralphilosophie hier <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen vollständig versagt<br />

hat, auf e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en, vielversprechen<strong>der</strong>en Weg erreichen. Und so ist er bestrebt, streng<br />

kausal-logisch, gleichsam more geometrico (nach Art <strong>der</strong> Geometrie) vorzugehen. 54<br />

Hobbes, <strong>der</strong> als Sohn e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>fachen Landpfarrers geboren wurde und nur durch die Protektion<br />

e<strong>in</strong>es wohlhabenden Onkels e<strong>in</strong>e Ausbildung <strong>in</strong> Oxford erhielt, war stark bee<strong>in</strong>flußt von den<br />

sich damals rasch entwickelnden Naturwissenschaften. E<strong>in</strong>e Anstellung als Hauslehrer bei<br />

<strong>der</strong> Adelsfamilie Cavendish ermöglichte ihm Studienreisen <strong>in</strong>s Ausland, wo er u.a. mit Descartes<br />

55<br />

und Galilei zusammentraf. Auch mit dem Kreis um Francis Bacon (<strong>der</strong> als ehemaliger Lord-<br />

kanzler zudem e<strong>in</strong>e wichtige politische Rolle spielte) stand er <strong>in</strong> Kontakt. Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong> also,<br />

daß er sich an Rationalismus und Empirismus orientierte. An<strong>der</strong>erseits wußte Hobbes, daß<br />

es die <strong>Politik</strong> (an<strong>der</strong>s als Physik o<strong>der</strong> Geometrie) mit komplexen Sozialkörpern zu tun hat.<br />

Will man solche untersuchen, so muß man sie laut Hobbes zunächst gedanklich zerlegen<br />

und den e<strong>in</strong>zelnen Menschen betrachten. Anhand <strong>der</strong> dadurch gewonnenen Erkenntnisse<br />

über die Natur des Menschen können die E<strong>in</strong>zelwesen dann wie<strong>der</strong> zum Sozialkörper zusam-<br />

mengesetzt werden – <strong>der</strong> nun aber aller zufälligen Momente entkleidet ist und den Charakter<br />

zw<strong>in</strong>gen<strong>der</strong> Notwendigkeit trägt. Diese Vorgehensweise wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sekundärliteratur (<strong>in</strong> Anleh-<br />

nung an Hobbes’ eigene Term<strong>in</strong>ologie) zumeist als +resolutiv-kompositive Methode* bezeichnet.<br />

In Wahrheit handelt es sich jedoch um e<strong>in</strong>en tautologischen Zirkel, denn auch <strong>der</strong> atomisierte<br />

e<strong>in</strong>zelne, den die Analyse des +Sozialwesens* liefert, ist e<strong>in</strong> sozial geprägter und damit – aufgrund<br />

<strong>der</strong> defizitären gesellschaftlichen Verhältnisse – deformierter Mensch. Die anschließende Synthese<br />

kann also nur zur Reproduktion des Bestehenden führen. Aus dem kritischen Blickw<strong>in</strong>kel<br />

dieses E<strong>in</strong>wands soll Hobbes’ Vertragskonstruktion betrachtet werden.


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 23<br />

Den Schlüssel zu <strong>der</strong>en Verständnis bietet e<strong>in</strong>e bereits zitierte Aussage von Horkheimer und<br />

Adorno: +Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst*, scheiben diese <strong>in</strong> ihrer<br />

+Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (S. 22). Solche Angst bestimmte Hobbes’ Leben von Beg<strong>in</strong>n an<br />

(siehe auch Abschnitt 5.1.1). So bemerkte er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Memoiren, se<strong>in</strong>e Mutter habe (unter<br />

dem E<strong>in</strong>druck des E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gens <strong>der</strong> spanischen Armada <strong>in</strong> britische Gewässer) Zwill<strong>in</strong>ge zu<br />

Welt gebracht – ihn und eben: die Furcht. Von dieser konnte er sich zeitlebens nicht befreien,<br />

und so suchte er nach Sicherheit, befürwortete jedes politische System, das Ruhe und Ordnung<br />

56<br />

versprach. Im Vorfeld des englischen Bürgerkriegs, <strong>der</strong> von 1642–48 tobte, bezog er deshalb<br />

57<br />

für die Krone Stellung, die aber im Kampf mit dem Parlament unterlag. So mußte Hobbes<br />

nach Frankreich fliehen, wo er se<strong>in</strong>e bedeutendsten politischen Schriften – +De Cive* (Vom<br />

58 59<br />

Bürger) und se<strong>in</strong>en berühmten +Leviathan* – verfaßte. Im +Leviathan* (1651) for<strong>der</strong>te Hobbes<br />

allerd<strong>in</strong>gs sogar Gehorsam gegenüber dem Usurpator <strong>der</strong> Macht und rechtfertigte damit implizit<br />

auch Oliver Cromwells Gewaltherrschaft, <strong>der</strong> sich vom revolutionären Führer <strong>der</strong> puritanischen<br />

60<br />

Parlamentsmehrheit immer mehr zum Quasimonarchen gewandelt hatte. In Frankreich machte<br />

Hobbes sich damit <strong>in</strong> jenen royalistischen Kreisen unbeliebt, die ihn bisher unterstützt hatten,<br />

und so kehrte er 1652 nach England zurück – nunmehr hoch geschätzt von Cromwell. Doch<br />

selbst als es 1660 zur Restauration Monarchie kam, mußte Hobbes nicht befürchten, erneut<br />

<strong>in</strong> Ungnade zu fallen. Schließlich hatte er <strong>in</strong> Paris zeitweilig den dort zur Ausbildung bef<strong>in</strong>dlichen<br />

Thronfolger Charles II. unterrichtet, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>en ehemaligen Lehrer protegierte.<br />

Nach diesen e<strong>in</strong>leitenden Vorbemerkungen sollte die Rekonstruktion <strong>der</strong> Vertragstheorie Hobbes’<br />

ke<strong>in</strong>e Schwierigkeiten mehr bereiten. Wie weith<strong>in</strong> bekannt, geht dieser von <strong>der</strong> (durchaus<br />

real gesetzten und eben nicht bloß hypothetischen) Annahme e<strong>in</strong>es durch den +Krieg aller<br />

61<br />

gegen alle* gekennzeichneten Naturzustands aus. Diese Vorstellung ist das zw<strong>in</strong>gende Ergebnis<br />

se<strong>in</strong>er (mis)anthrop(olog)ischen Prämissen, die sich <strong>in</strong> drei Punkten zusammenfassen lassen:<br />

• Alle Menschen haben von Natur aus gleiche Rechte und Fähigkeiten: +Die Natur hat die<br />

Menschen sowohl h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Körperkräfte wie <strong>der</strong> Geistesfähigkeiten untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

gleichmäßig begabt; und wenngleich e<strong>in</strong>ige mehr Kraft o<strong>der</strong> Verstand besitzen, so ist <strong>der</strong><br />

hieraus entstehende Unterschied im ganzen dennoch nicht so groß, daß <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e sich<br />

diesen o<strong>der</strong> jenen Vorteil versprechen könnte, welchen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e nicht auch zu erhoffen<br />

berechtigt sei.* (Leviathan; S. 112f. [Kap. 13])


24 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Zugleich s<strong>in</strong>d alle Menschen vom (maßlosen) Drang ihrer Leidenschaften und ihrem (legi-<br />

timen) Bedürfnis nach Selbsterhaltung geprägt: +Zuvör<strong>der</strong>st wird also angenommen, daß<br />

alle Menschen […] beständig und unausgesetzt e<strong>in</strong>e Macht nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en sich zu<br />

verschaffen bemüht s<strong>in</strong>d; nicht darum, weil sie […] sich mit e<strong>in</strong>er mäßigeren nicht begnügen<br />

können, son<strong>der</strong>n weil sie ihre gegenwärtige Macht und die Mittel, glücklich zu leben, zu<br />

verlieren fürchten, wenn sie sie nicht vermehren.* (Ebd.; S. 90f. [Kap. 11])<br />

• Der Mensch ist ke<strong>in</strong> zoon politikon, son<strong>der</strong>n – gemäß <strong>der</strong> Hobbesschen Devise +homo<br />

hom<strong>in</strong>i lupus* (Der Mensch ist e<strong>in</strong> Wolf für den Menschen) – im Pr<strong>in</strong>zip sozialfe<strong>in</strong>dlich<br />

e<strong>in</strong>gestellt. (Vgl. Vom Bürger; S. 59 [Widmungsschreiben])<br />

Die angenommene Gleichheit <strong>der</strong> Menschen, verbunden mit ihrem Streben nach Macht und<br />

Reichtum, wird zur Quelle e<strong>in</strong>es im Naturzustand unlösbaren Konflikts, denn dieser ist –<br />

so Hobbes’ strukturelle Prämisse – durch e<strong>in</strong>e ausgesprochene Güterknappheit gekennzeichnet.<br />

62<br />

Das von ihm zunächst postulierte natürliche Recht des Menschen auf alles, d.h. zur ungeh<strong>in</strong><strong>der</strong>-<br />

ten Verfolgung se<strong>in</strong>er (egoistischen) Interessen, gerät damit <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zum natürlichen<br />

Gesetz <strong>der</strong> Vernunft: +Suche Frieden, solange nur Hoffnung darauf besteht* (Leviathan; S.<br />

119).<br />

Nur durch e<strong>in</strong>en künstlichen Zusammenschluß läßt sich <strong>der</strong> vernunftgebotene Friede ver-<br />

wirklichen, <strong>der</strong> den Genuß <strong>der</strong> <strong>in</strong> ständiger gegenseitiger Konkurrenz erworbenen Güter erst<br />

ermöglicht. So ist es also letztendlich e<strong>in</strong> Akt <strong>der</strong> (ökonomischen) Rationalität, daß sich die<br />

Menschen durch e<strong>in</strong>en wechselseitig geschlossenen Vertrag zu e<strong>in</strong>em gesellschaftlichen Gesamt-<br />

körper, dem +sterblichen Gott* des Leviathan, vere<strong>in</strong>en und den unproduktiven, kriegerischen<br />

63<br />

Naturzustand durch die Etablierung e<strong>in</strong>es staatlichen Gewaltmonopols überw<strong>in</strong>den. Weniger<br />

rational ist es, daß sie sich dabei e<strong>in</strong>em Dritten – dem (Ober-)Haupt des +Staatswesens*,<br />

auf das man sich durch Mehrheitsentscheid gee<strong>in</strong>igt hat – gänzlich ungeschützt ausliefern<br />

sollen. Der von Hobbes entworfene Text des Gesellschaftsvertrags lautet nämlich:<br />

+Ich übergebe me<strong>in</strong> Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen o<strong>der</strong> dieser Gesellschaft unter<br />

<strong>der</strong> Bed<strong>in</strong>gung, daß du ebenfalls de<strong>in</strong> Recht über dich ihm o<strong>der</strong> ihr abtrittst.* (Ebd.; S. 155 [Kap. 17])<br />

E<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>standsrecht gegen den Mißbrauch <strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal übertragenen Herrschaftsgewalt gibt<br />

64<br />

es laut Hobbes nicht. Er begründet dieses Fehlen e<strong>in</strong>es Wi<strong>der</strong>standsrechtes +korporatistisch*


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 25<br />

und leitet es +vertragsrechtlich* aus dem Wortlaut des obigen Vertragstextes ab (den er me<strong>in</strong>t,<br />

logisch zw<strong>in</strong>gend hergeleitet zu haben):<br />

+[Es] […] kann [auch] wegen schlechter Verwaltung des Staates die höchste Gewalt ihrem Besitzer<br />

nicht genommen werden, denn e<strong>in</strong>erseits stellt diese den gesamten Staat dar […] An<strong>der</strong>erseits schließt<br />

ja <strong>der</strong>, welchem die höchste Gewalt übertragen wird, mit denen, welche sie ihm übertrugen, eigentlich<br />

ke<strong>in</strong>en Vertrag, und folglich kann er ke<strong>in</strong> Unrecht tun […]* (Ebd.; S. 158 [Kap. 18]) 65<br />

Hobbes kann aufgrund dieser totalen Entäußerung <strong>der</strong> Vertragsschließenden als Apologet<br />

des absolutistischen Staates <strong>in</strong>terpretiert werden, welcher sich als politisches Modell im 17.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t herauskristallisierte und die fragmentisierte Herrschaft des Mittelalters (siehe<br />

Anmerkung 41) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zentralisierte staatliche Ordnung überführte. In dieser ist <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne<br />

dem souveränen Herrscher, <strong>der</strong> die Rolle e<strong>in</strong>es +lupus <strong>in</strong>tra muros* übernommen hat, schutzlos<br />

66<br />

ausgeliefert. Der radikale Individualismus des Naturzustands ist im Gesellschaftszustand<br />

e<strong>in</strong>em ebenso radikalen wie autoritären Anti-Individualismus gewichen, und die natürliche<br />

Gleichheit hat sich zu e<strong>in</strong>em politischen Ungleichheitsverhältnis gewandelt. Die Freiheit <strong>der</strong><br />

Untertanen wird von Hobbes demgemäß sehr eng festgesteckt: +Es besteht […] die bürgerliche<br />

Freiheit nur <strong>in</strong> den Handlungen, welche <strong>der</strong> Gesetzgeber übergangen hat* (ebd.; S. 190 [Kap.<br />

21]). Diesem aber steht es nicht nur frei, sogar Vorschriften zum öffentlichen Gottesdienst<br />

zu erlassen. Er fungiert als Zensor wie als Richter und übt daneben auch noch die Militär-<br />

und Polizeigewalt aus. Von Gewaltenteilung o<strong>der</strong> -beschränkung kann <strong>in</strong> diesem System nicht<br />

die Rede se<strong>in</strong>, denn: +Getrennte Macht zerstört sich selbst* (ebd.; S. 271 [Kap. 29]). Diese<br />

umfassende souveräne Macht ist <strong>in</strong> ihrer Gesetzgebung auch nicht mehr an Wahrheits- o<strong>der</strong><br />

Gerechtigkeitsvorstellungen gebunden: +authoritas, non veritas, facit legem*. 67<br />

Als zweiter Vertragstheoretiker soll John Locke (1632–1704) vorgestellt werden – jedoch nicht<br />

so ausführlich wie Hobbes. Schließlich genügt es, die wesentlichen Unterschiede darzustellen,<br />

da Locke sich mehr o<strong>der</strong> weniger an Hobbes’ Grundkonstruktion angelehnt hat. Diese<br />

Unterschiede s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs beträchtlich. Locke bef<strong>in</strong>det sich zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ähnlichen historischen<br />

Rahmensituation und auch er wendet den klassischen kontraktualistischen Dreischritt – Naturzu-<br />

standsbeschreibung, Vertragsschließung, Entwurf <strong>der</strong> Gesellschaftordnung – an. Er kommt<br />

aber zu fast entgegengesetzten politischen Schlußfolgerungen. Im Machtkampf zwischen Krone<br />

und Parlament, <strong>der</strong> das 17. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>in</strong> Großbritannien prägt, bezieht er e<strong>in</strong>deutig zugunsten


26 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

68<br />

<strong>der</strong> Ausweitung <strong>der</strong> von Charles II. stark beschnittenen Parlamentsrechte Stellung. Durch<br />

se<strong>in</strong>e Tätigkeit als Sekretär und Leibarzt bei Lord Shaftsbury ist er auch selbst <strong>in</strong> die praktische<br />

<strong>Politik</strong> verstrickt. Denn Shaftsbury ist e<strong>in</strong> aktiver Streiter für den Parlamentarismus, avanciert<br />

nach e<strong>in</strong>er kurzen Periode als Lordkanzler zum Oppositionsführer und beteiligt sich schließlich<br />

an e<strong>in</strong>er Verschwörung. Als diese aufgedeckt wird, flieht Locke mit Shaftsbury 1683 <strong>in</strong>s Exil<br />

nach Holland. Dort verfaßt er den berühmten +Toleranzbrief* und vor allem se<strong>in</strong>e Abhandlung<br />

+Über die Regierung*. 69<br />

Dieser vertragstheoretische Entwurf Lockes dient später – nachdem die +Glorious Revolution*<br />

1688 die Restauration <strong>der</strong> Stuarts beendet hat – als Vorlage für e<strong>in</strong>e neue Verfassungsordnung. 70<br />

Wie argumentiert Locke, den man getrost als den Theoretiker <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> Großbritannien<br />

zuerst etablierenden bürgerlichen Gesellschaft bezeichnen kann, <strong>in</strong> dieser Schrift? – Auch<br />

bei ihm ergibt sich die Notwendigkeit zur Schließung des Gesellschaftsvertrags aus den Defiziten<br />

des Naturzustands, den er aber nicht von Beg<strong>in</strong>n an schon als Kriegszustand denkt:<br />

+Es ist e<strong>in</strong> Zustand vollkommener Freiheit, <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Grenzen des Naturgesetzes se<strong>in</strong>e Handlungen<br />

zu lenken und über se<strong>in</strong>en Besitz und se<strong>in</strong>e Person zu verfügen, wie es e<strong>in</strong>em am besten sche<strong>in</strong>t<br />

[…] Es ist überdies e<strong>in</strong> Zustand <strong>der</strong> Gleichheit, <strong>in</strong> dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig<br />

s<strong>in</strong>d […] Ist doch nichts offensichtlicher, als daß Lebewesen von gleicher Art […] auch gleichgestellt<br />

leben sollen, ohne Unterordnung o<strong>der</strong> Unterwerfung […]* (Über die Regierung; § 4)<br />

Erst die E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Geldwirtschaft macht die regelnde Hand e<strong>in</strong>er mit e<strong>in</strong>em Gewaltmonopol<br />

ausgestatteten Regierung notwendig. Und Locke will auch im Gesellschaftszustand den Preis<br />

<strong>der</strong> gewonnenen (Rechts-)Sicherheit so ger<strong>in</strong>g wie möglich halten. Die von ihm teils theologisch,<br />

teils rational abgeleiteten, für alle Menschen <strong>in</strong> gleicher Weise geltenden +natürlichen Rechte*<br />

auf Leben, Freiheit und Eigentum bleiben auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft erhalten. 71<br />

Nur das <strong>in</strong> ihnen logisch enthaltene Recht zur ihrer Durchsetzung wird an den Staat und<br />

se<strong>in</strong>e Vertreter abgegeben. Dieser ist im Gegenzug zur Garantie <strong>der</strong> natürlichen Rechte verpflich-<br />

tet, da ihre Sicherung schließlich Zweck des Gesellschaftsvertrags war (vgl. ebd.; § 131). 72<br />

Organisatorisch abgesichert wird dieses Ziel durch das von Locke entworfene und von Montes-<br />

quieu (1689–1755) <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +De l’ésprit des lois* (Vom Geist <strong>der</strong> Gesetze) mehr o<strong>der</strong><br />

m<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e heutige Form überführte System <strong>der</strong> Gewaltenteilung (siehe S. 99f). 73<br />

Mit se<strong>in</strong>er Konzeption <strong>der</strong> im Staatszustand weiter geltenden Naturrechte und dem Gedanken<br />

<strong>der</strong> Gewaltenteilung hat Locke auch die Herrschenden an verb<strong>in</strong>dliche rechtliche Grundlagen


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 27<br />

gebunden sowie die souveräne Macht durch e<strong>in</strong> System <strong>der</strong> +checks and balances* beschränkt.<br />

Damit s<strong>in</strong>d die größten Schwächen <strong>der</strong> Konstruktion Hobbes’ beseitigt. Doch diente die von<br />

Locke entworfene und im historischen Prozeß schließlich auch weitgehend umgesetzte Gesell-<br />

schaftsordnung <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie den Interessen <strong>der</strong> Besitzenden. Die angeblich natürlichen Rechte,<br />

die Locke nennt, reflektieren Vorstellungen und Werte des aufgrund se<strong>in</strong>es ökonomischen<br />

Erfolgs selbstbewußt gewordenen Bürgertums. Das verdeutlicht beson<strong>der</strong>s die zentrale Rolle<br />

des Eigentums im System Lockes. Denn <strong>der</strong> Zweck <strong>der</strong> Ausübung des staatlichen Gewaltmono-<br />

pols ist zwar +das Wohl <strong>der</strong> Menschheit* (vgl. ebd.; § 229). Dieses wird aber identifiziert<br />

mit +<strong>der</strong> Erhaltung des Eigentums [property] aller Glie<strong>der</strong> dieser Gesellschaft* (ebd.; § 88). 74<br />

Jean- Jacques Rousseau (1712–78), <strong>der</strong> dritte große neuzeitliche Vertragstheoretiker, hat das<br />

75<br />

scharfs<strong>in</strong>nig erkannt. In se<strong>in</strong>em berühmten +Discours sur l’<strong>in</strong>égalité* (1755) bemerkt er mit<br />

deutlicher Stoßrichtung gegen Locke:<br />

+Der Reiche <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedrängnis entwarf schließlich den ausgedachtesten Plan, den jemals <strong>der</strong><br />

menschliche Geist ausbrütete, nämlich zu se<strong>in</strong>en Gunsten sogar die Kräfte <strong>der</strong>er zu benutzen, die<br />

ihn angriffen […] ›Wir wollen uns vere<strong>in</strong>en‹, sagte er ihnen, ›um die Schwachen vor <strong>der</strong> Unterdrückung<br />

zu bewahren […] und jedem se<strong>in</strong>en Besitz zuzusichern […] Wir wollen Vorschriften über Gesetz<br />

und Frieden erlassen, denen je<strong>der</strong> zu folgen verpflichtet ist, die ke<strong>in</strong> Ansehen <strong>der</strong> Person gelten lassen<br />

und auf gewisse Weise die Launen des Glücks wie<strong>der</strong>gutmachen, <strong>in</strong>dem sie den Mächtigen wie den<br />

Schwachen gleicherweise gegenseitigen Pflichten unterwerfen […]‹ […] So vollzog sich die Entstehung<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft […] sowie <strong>der</strong> Gesetze, die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue<br />

Macht gaben.* (S. 227ff.)<br />

Rousseau, <strong>der</strong> sich hier sehr kritisch äußert, ist allerd<strong>in</strong>gs nicht, wie man vermuten könnte,<br />

76<br />

e<strong>in</strong> (früh)sozialistischer o<strong>der</strong> gar revolutionärer Denker. Die Revolutionäre des Jahres 1789<br />

77<br />

haben sich wohl eher aus weitgehen<strong>der</strong> Unkenntnis se<strong>in</strong>er Schriften auf ihn berufen. Ihre<br />

Parole +Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>der</strong>lichkeit*, die sie nach dem Verfall des +Ancien Régime*<br />

78<br />

dem absolutistischen +l’état, c’est moi* entgegensetzten, hätte zwar wohl auch die Zustimmung<br />

des über zehn Jahre zuvor verstorbenen Rousseaus gefunden – das sich aus <strong>der</strong> Revolution<br />

entwickelnde jakob<strong>in</strong>ische +Schreckenssystem* jedoch ganz gewiß nicht. Zudem weist Rousseaus<br />

Denken auch klar konservative Züge auf – etwa wenn er ständig die Bedeutung von Sitte<br />

und Moral betont o<strong>der</strong> die gesellschaftliche Ordnung als +geheiligtes Recht* bezeichnet, zu<br />

<strong>der</strong>en Durchsetzung (im S<strong>in</strong>ne des Geme<strong>in</strong>wohls) auch Zwang angewandt werden kann (vgl.<br />

79<br />

Vom Gesellschaftsvertrag; S. 6 u. S. 21 [I,1 u. I,7]). Diese konservativen Elemente s<strong>in</strong>d wohl


28 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

durch se<strong>in</strong>e bürgerliche, schweizerisch-Genfer Herkunft am besten zu erklären, die er selbst<br />

herausstreicht, <strong>in</strong>dem sich im Titel se<strong>in</strong>es +Contrat Social* (1762) explizit als +Citoyen de Genève*<br />

bezeichnet. 80<br />

Rousseau ist aber <strong>in</strong> vielen Aspekten auch e<strong>in</strong> sehr progressiver Theoretiker. Dies zeigt sich<br />

vor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Konzept <strong>der</strong> unveräußerlichen Volkssouveränität. Rousseau bemerkt hierzu<br />

ganz e<strong>in</strong>deutig <strong>in</strong> Abgrenzung zu Hobbes:<br />

+Ich behaupte […], daß die Souveränität […] niemals veräußert werden kann und daß <strong>der</strong> Souverän,<br />

<strong>der</strong> nichts an<strong>der</strong>es ist als e<strong>in</strong> Gesamtwesen, nur durch sich selbst vertreten werden kann […]* (Ebd.;<br />

S. 27 [II,1])<br />

Die Unveräußerlichkeit <strong>der</strong> Souveränität (die e<strong>in</strong> Modell direkter Demokratie impliziert) beruht<br />

auf <strong>der</strong> Unveräußerlichkeit des <strong>in</strong>dividuellen Freiheitsrechts. Denn: +Auf se<strong>in</strong>e Freiheit verzichten<br />

heißt auf se<strong>in</strong>e Eigenschaft als Mensch, auf se<strong>in</strong>e Menschenrechte, sogar auf se<strong>in</strong>e Pflichten<br />

verzichten* (Ebd.; S. 11 [1.4]. Doch steht es um die Freiheit lei<strong>der</strong> allseits schlecht bestellt:<br />

+Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er <strong>in</strong> Ketten […] Wie ist dieser Wandel zustande<br />

gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich<br />

beantworten zu können.* (Ebd.; S. 5)<br />

Schon <strong>der</strong> Titel von Rousseaus Schrift und die Tatsache, daß er hier als Vertragstheoretiker<br />

vorgestellt wird, läßt erraten, welche Antwort er im folgenden gibt: Nur e<strong>in</strong> freiwillig und<br />

gegenseitig geschlossener Gesellschaftsvertrag vermag das zu leisten. Dieser Gesellschaftsvertrag<br />

soll Gerechtigkeit und Nutzen verb<strong>in</strong>den (vgl. ebd.; S. 5), und se<strong>in</strong>e Pr<strong>in</strong>zipien müssen dem<br />

verallgeme<strong>in</strong>erten (Volks-)Willen (volonté général) entsprechen. Nur so ist e<strong>in</strong>e Ordnung garan-<br />

tiert, <strong>in</strong> <strong>der</strong> je<strong>der</strong> +genauso frei bleibt wie zuvor* (ebd.; S. 17). Recht und Gerechtigkeit im<br />

Gesellschaftszustand beruhen demnach bei Rousseau auf <strong>der</strong> Identität des Willens – <strong>der</strong><br />

Son<strong>der</strong>wille (volonté particulier) des egoistischen Bourgeois muß dem schizophren davon<br />

abgespaltenen moralischen Bewußtse<strong>in</strong> des Citoyen weichen, damit sich Rousseaus Utopie<br />

vom geme<strong>in</strong>wohlorientierten Staatswesen verwirklichen läßt. Allerd<strong>in</strong>gs sieht auch Rousseau<br />

die realen Schwierigkeiten, die se<strong>in</strong>e Theorie von <strong>der</strong> Identität des Volkswillens aufweist,<br />

und so stellt er fest: +Es bedürfte <strong>der</strong> Götter, um den Menschen Gesetze zu geben* (ebd.;<br />

S. 43 [II,7]). Wenigstens aber sollte e<strong>in</strong> <strong>in</strong> gewisser Weise +gottgleicher* Gesetzgeber vorhanden


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 29<br />

se<strong>in</strong>, <strong>der</strong> +<strong>in</strong> je<strong>der</strong> H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong> außergewöhnlicher Mann im Staat* ist (ebd.), doch <strong>der</strong> die<br />

Gesetze nur formuliert und nicht selbst beschließt. Vor allem diese Konstruktion e<strong>in</strong>es +grand<br />

legislateur* hat Rousseau viel berechtigte Kritik e<strong>in</strong>gebracht. Trotz aller Schwachpunkte se<strong>in</strong>er<br />

Konzeption zählt er aber zu den großen politischen Philosophen <strong>der</strong> Neuzeit. Letzteres gilt<br />

selbstverständlich auch für Kant und Hegel, <strong>der</strong>en politische Vorstellungen zum Abschluß<br />

dieses Abschnitts kurz skizziert werden sollen.<br />

Die moral- bzw. rechtsphilosophischen Schriften von Kant und Hegel repräsentieren den<br />

(wichtigsten) deutschen Beitrag zum neuzeitlichen politischen Denken – denn <strong>in</strong> Deutschland<br />

vollzog sich bezeichnen<strong>der</strong>weise das Nachdenken über Staat und <strong>Politik</strong> hauptsächlich im<br />

Rahmen <strong>der</strong> (akademischen) (Rechts-)Philosophie. Diese Beson<strong>der</strong>heit ist sicher auch <strong>der</strong><br />

speziellen politischen Rahmensituation <strong>in</strong> deutschen Reich geschuldet, das im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

zweifellos e<strong>in</strong>en Entwicklungsrückstand im Vergleich zu England o<strong>der</strong> Frankreich aufwies.<br />

In relativer Kont<strong>in</strong>uität zu mittelalterlichen politischen Strukturen bestand auch ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitlicher<br />

+Nationalstaat*, son<strong>der</strong>n das durch die Kaiserkrone nur schwach zusammengehaltene Reichsgebiet<br />

war <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vielzahl weitgehend autonomer Fürstentümer zerstückelt. Die Stärke <strong>der</strong> regionalen<br />

Fürsten und das Fehlen e<strong>in</strong>es ausreichenden ökonomischen Impulses verh<strong>in</strong><strong>der</strong>te wohl e<strong>in</strong>e<br />

ähnliche Emanzipationsbewegung des Bürgertums wie <strong>in</strong> England und Frankreich. Wie erwähnt<br />

war <strong>der</strong> im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t tobende Kampf um die politische Vormacht mit <strong>der</strong> +Glorious<br />

Revolution* von 1688 <strong>in</strong> England zugunsten <strong>der</strong> bürgerlichen Kräfte ausgegangen. In Frankreich<br />

hatte schließlich die Revolution von 1789 dem +Ancien Régime* e<strong>in</strong> blutiges Ende gesetzt.<br />

In Deutschland gab es ke<strong>in</strong>e vergleichbaren Ereignisse, obwohl auch dort die Erschütterungen<br />

durch die +Grande Révolution* <strong>in</strong> Frankreich zu spüren waren.<br />

81<br />

Immanuel Kant (1724–1804) hatte die französische Revolution zunächst mit Sympathie<br />

beobachtet, war jedoch von ihren Exzessen enttäuscht und verurteilte den jakob<strong>in</strong>ischen +terreur*.<br />

Diese Enttäuschung spiegelt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em politischen Denken wi<strong>der</strong>, das sich <strong>in</strong> weiten Teilen<br />

als +obrigkeitsstaatlich* charakterisieren läßt. Zudem mußte Kant als Professor <strong>in</strong> Königsberg<br />

und damit preußischer Staatsbediensteter mit se<strong>in</strong>en Äußerungen sehr vorsichtig se<strong>in</strong>, wenn<br />

er nicht se<strong>in</strong>e Stellung gefährden wollte. Dies sollte man bedenken, wenn man sich mit se<strong>in</strong>em<br />

politischen Denken ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzt:<br />

Auch Kant operiert mit den Begriffen Naturrecht und Vertrag. Er ist jedoch ke<strong>in</strong> Vertrags-<br />

theoretiker im eigentlichen S<strong>in</strong>n. Der Vertrag und se<strong>in</strong>e Vernünftigkeit dienen ihm nurmehr


30 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

als Pr<strong>in</strong>zipien zur Beurteilung <strong>der</strong> Moralität des Gesetzes und se<strong>in</strong> Naturrecht ist streng<br />

genommen e<strong>in</strong> +Naturrecht ohne Natur* (Bloch) – es beruht auf erkenntnisunabhängigen<br />

apriorischen Pr<strong>in</strong>zipien. Zur Erklärung dieser Charakterisierung ist e<strong>in</strong> Rekurs auf die Erkennt-<br />

nistheorie Kants notwendig. In Rahmen se<strong>in</strong>er +Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft* (1781) kommt er<br />

zum Ergebnis:<br />

+Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle<br />

Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert<br />

würde, g<strong>in</strong>gen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher e<strong>in</strong>mal, ob wir nicht <strong>in</strong><br />

den Aufgaben <strong>der</strong> Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen<br />

sich nach unserer Erkenntnis richten […]* (S. 18 [Vorrede zur 2. Auflage])<br />

Diese +Kopernikanische Wende* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Metaphysik beruht auf folgen<strong>der</strong> Annahme: Jede<br />

Wahrnehmung ist an das Vorhandense<strong>in</strong> bestimmter, eben a priori vorliegen<strong>der</strong> Wahrneh-<br />

mungsfähigkeiten beim Erkennenden gebunden, erfolgt also niemals subjektunabhängig. Die<br />

Struktur dieser subjektgebundenen Fähigkeiten bestimmt nun das Bild vom Objekt, das nur<br />

als +Phaenomenon* (Ersche<strong>in</strong>ung) und nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigentlichen Gestalt (Noumenon) erkannt<br />

werden kann. Für den Menschen ist deshalb die Welt <strong>der</strong> Noumena problematisch. Zw<strong>in</strong>gend<br />

s<strong>in</strong>d nur die Kategorien und Begriffe des Verstandes (wie Raum und Zeit), die logisch abgeleitet<br />

bzw. durch +transzendentale Deduktion*, d.h. durch Setzung des Verstandes gewonnen werden<br />

können. Allerd<strong>in</strong>gs:<br />

+Ohne S<strong>in</strong>nlichkeit würde uns ke<strong>in</strong> Gegenstand gegeben […] Gedanken ohne Inhalt s<strong>in</strong>d leer […]<br />

Daher ist es ebenso notwendig se<strong>in</strong>e Begriffe s<strong>in</strong>nlich zu machen […]* (Ebd.; S. 80)<br />

Mit dieser +transzendentalphilosophischen* Erkenntnistheorie gel<strong>in</strong>gt es Kant, Rationalismus<br />

und Empirismus gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> aufzuheben. Im Rahmen ihrer näheren Ausgestaltung kann<br />

er e<strong>in</strong>drucksvolle Argumente für se<strong>in</strong>e Annahme <strong>der</strong> a priori vorgegebenen Kategorien beibr<strong>in</strong>gen.<br />

Diese erkenntnistheoretischen Grundauffassungen schlagen sich auch im Bereich <strong>der</strong> von<br />

ihm <strong>in</strong> Anlehnung an die klassische praktische Philosophie betriebenen Rechtstheorie nie<strong>der</strong>,<br />

die bei Kant somit immer auch den Charakter e<strong>in</strong>er +Metaphysik <strong>der</strong> Sitten* trägt.<br />

Das sittliche Gesetze, das die Moralität des Handelns bewirkt (welche Kant von bloßer Legalität<br />

unterscheidet), ist durch die Vernunft vorgegeben. Es kann aber niemals <strong>in</strong>haltlich def<strong>in</strong>iert


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 31<br />

werden, da <strong>der</strong> freie Wille als Grundlage des Sittlichen selbstgesetzgebend und die Vernunft<br />

autonom und ke<strong>in</strong>esfalls zweckgebunden (an e<strong>in</strong>em bestimmten Ziel orientiert) ist. Wohl<br />

aber kann e<strong>in</strong> formales Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Moral aufgezeigt werden, das für Kant <strong>in</strong> den berühmten<br />

kategorischen Imperativ mündet:<br />

82<br />

+Handle nur nach <strong>der</strong>jenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es<br />

Gesetz werde.* (Grundlegung <strong>der</strong> Metaphysik <strong>der</strong> Sitten; S. 279)<br />

Bzw. <strong>in</strong> abgewandelter Form:<br />

+Handle so, als ob die Maxime de<strong>in</strong>er Handlungen durch de<strong>in</strong>en Willen zum allgeme<strong>in</strong>en Naturgesetze<br />

werden sollte.* (Ebd.)<br />

Dem auf Pr<strong>in</strong>zipien a priori beruhenden Naturgesetz, <strong>in</strong> welchem die Sittlichkeit gefaßt ist,<br />

steht nun aber das positive, statutarische bürgerliche Gesetz (möglicherweise) entgegen, das<br />

se<strong>in</strong>e Gültigkeit (Legalität) durch den Willen des Gesetzgebers erhält. Dieses Gesetz ist nur<br />

dann moralisch, wenn es auch durch e<strong>in</strong>en freiwilligen Vertrag <strong>der</strong> Bürger zustande hätte<br />

83<br />

kommen können und den Imperativen des Naturrechts gerecht wird, denn:<br />

+Das Naturrecht im Zustande e<strong>in</strong>er bürgerlichen Verfassung […] kann durch die statutarischen Gesetze<br />

<strong>der</strong> letzteren nicht Abbruch leiden.* (Rechtslehre; S. 59)<br />

Doch das heißt nicht, daß Kant e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>standsrecht <strong>der</strong> Bürger gegen obrigkeitsstaatliche<br />

Willkür befürwortet. Im Gegenteil:<br />

+[…] <strong>der</strong> Herrscher im Staat hat gegen den Untertan lauter Rechte und ke<strong>in</strong>e […] Pflichten […] Wi<strong>der</strong><br />

84<br />

das gesetzgebende Oberhaupt gibt es […] ke<strong>in</strong>en rechtmäßigen Wi<strong>der</strong>stand des Volkes […] Der<br />

Grund <strong>der</strong> Pflicht des Volkes, selbst den für unerträglich gehaltenen Mißbrauch dennoch zu ertragen,<br />

liegt dar<strong>in</strong>: daß se<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>stand […] selbst niemals an<strong>der</strong>s als gesetzwidrig […] gedacht werden muß.<br />

Denn um zu demselben befugt zu se<strong>in</strong>, müßte e<strong>in</strong> öffentliches Gesetz vorhanden se<strong>in</strong>, welches diesen<br />

Wi<strong>der</strong>stand […] erlaubte, d.i. die oberste Gesetzgebung enthielte e<strong>in</strong>e Bestimmung <strong>in</strong> sich, nicht<br />

die oberste zu se<strong>in</strong> […] * (Rechtslehre; S. 125ff.)<br />

Wie Kant ist auch <strong>der</strong> bereits dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zuzurechnende Philosoph Georg Wilhelm<br />

85<br />

Friedrich Hegel (1770–1831) e<strong>in</strong> Apologet autoritärer Staatsmacht. Die Legitimität dieser


32 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Autorität liegt für ihn allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Objektivität des Staates als +Wirklichkeit <strong>der</strong> sittlichen<br />

Idee* (Grundl<strong>in</strong>ien <strong>der</strong> Philosophie des Rechts; § 257). Ideen und Begriffe (bzw. <strong>der</strong>en<br />

dialektischer Entfaltungs-Zusammenhang) spielen im +objektiven* Idealismus Hegels nämlich<br />

die zentrale Rolle:<br />

+Die Philosophie hat es mit Ideen, und darum nicht mit dem, was man bloße Begriffe zu heißen pflegt,<br />

zu tun, sie zeigt vielmehr <strong>der</strong>en E<strong>in</strong>seitigkeit und Unwahrheit auf, sowie, daß <strong>der</strong> Begriff (nicht das,<br />

was man oft so nennen hört […]) alle<strong>in</strong> es ist, was Wirklichkeit hat und zwar so, daß er sich diese<br />

selbst gibt.* (Ebd.; § 1)<br />

Der Rechtsbegriff wird daher von Hegel als gegeben vorausgesetzt (vgl ebd.; § 2). Se<strong>in</strong>en<br />

+Ausgangspunkt [bildet] <strong>der</strong> Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit se<strong>in</strong>e Substanz und<br />

Bestimmung ausmacht, und das Rechtssystem das Reich <strong>der</strong> verwirklichten Freiheit […] ist*<br />

(ebd.). Der Wille kann nun e<strong>in</strong>erseits als unmittelbar, unbeschränkt und allgeme<strong>in</strong> charakterisiert<br />

werden (objektiver Wille), <strong>in</strong>sofern er +das re<strong>in</strong>e Denken se<strong>in</strong>er selbst* ist (ebd.; § 5). An<strong>der</strong>seits<br />

kommt <strong>in</strong> ihm auch e<strong>in</strong> Moment des Bestimmten, Beschränkten und Beson<strong>der</strong>en zum Tragen<br />

(Subjektivität), weil das +Ich* sich selbst als e<strong>in</strong> vom Allgeme<strong>in</strong>en Geson<strong>der</strong>tes setzen muß,<br />

um <strong>in</strong>s Dase<strong>in</strong> zu treten, ohne allerd<strong>in</strong>gs die Identität und Teilhabe mit dem Allgeme<strong>in</strong>en<br />

aufzugeben (vgl. ebd.; § 6). So stellt also <strong>der</strong> Wille +die E<strong>in</strong>heit dieser beiden Momente*<br />

dar (ebd.; § 7).<br />

In dieser ursprünglichen E<strong>in</strong>heit liegt die Möglichkeit (über den Weg <strong>der</strong> dialektischen Negation<br />

<strong>der</strong> durch Zufälligkeit gekennzeichneten Realität) vom Beson<strong>der</strong>en zum Allgeme<strong>in</strong>en zu gelangen.<br />

E<strong>in</strong> solches Allgeme<strong>in</strong>es ist das abstrakte Recht, das als Personen- und Sachrecht Privateigentum<br />

notwendig macht, da +mir im Eigentum me<strong>in</strong> Wille als persönlicher, somit als Wille des E<strong>in</strong>zelnen<br />

objektiv wird* (ebd.; § 46). Ferner umfaßt es das Recht, (als Person) zu handeln (vgl. ebd.;<br />

§ 40), <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf <strong>der</strong> Grundlage des freien Willens Verträge zu schließen (vgl. ebd.;<br />

§ 71) und gegen die Verletzung <strong>der</strong> abstrakten Rechtspr<strong>in</strong>zipien (Gegen-)Zwang auszuüben<br />

(vgl. ebd.; § 93).<br />

Die Freiheit des Willens führt aber auch zur Moralität als +Recht des subjektiven Willens*<br />

(ebd.; § 107). Denn +die […] für sich unendliche Subjektivität <strong>der</strong> Freiheit macht das Pr<strong>in</strong>zip<br />

des moralischen Standpunkts aus* (ebd.; § 104). Im Gegensatz dazu ist die Sittlichkeit – welche<br />

+als die Idee <strong>der</strong> Freiheit, als das lebendige Gute* aufgefaßt werden kann (ebd.; § 142) –


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 33<br />

objektiver Natur, und sie vermittelt dementsprechend auch zwischen dem Recht und <strong>der</strong><br />

Moral:<br />

+Das Rechtliche und das Moralische kann nicht für sich existieren, und sie müssen das Sittliche zum<br />

Träger und zur Grundlage haben, denn dem Recht fehlt das Moment <strong>der</strong> Subjektivität, das die Moral<br />

wie<strong>der</strong>um für sich alle<strong>in</strong> hat.* (Ebd.; Zusatz zu § 141)<br />

+Substantialität* wird dem Sittlichen durch die (patriarchalische) Familie (vgl. ebd.; §§ 158–181)<br />

und die bürgerliche Gesellschaft verliehen (vgl. ebd.; §§ 182–256), die sich im dialektischen<br />

geschichtlichen Prozeß <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Staat überführen läßt, +<strong>in</strong> welchem die Freiheit zu ihrem<br />

höchsten Recht kommt* (ebd.; § 258) – was Hegel aber gerade durch die bed<strong>in</strong>gungslose<br />

Pflichterfüllung und Unterordnung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen unter das an sich Vernünftige des Staates<br />

erfüllt sieht, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e +organische Totalität* darstellt (vgl. ebd.; § 256).<br />

Wenn man nun abschließend die Frage nach e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>samkeit <strong>der</strong> hier nachgezeichneten<br />

neuzeitlichen Konzepte des Politischen stellt, so kann man – wie schon e<strong>in</strong>gangs vorweg<br />

genommen – zum Resultat gelangen, daß die neuzeitlichen Theoretiker, an<strong>der</strong>s als ihre antiken<br />

und mittelalterlichen Vorgänger, zumeist von e<strong>in</strong>er getrennten Sphäre des Politischen ausg<strong>in</strong>gen,<br />

die im sich konstituierenden bürgerlichen Staat auch e<strong>in</strong>e praktische Entsprechung hatte.<br />

Wo, wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> absolutistischen Staatsphilosophie, e<strong>in</strong>e solche getrennte Sphäre des Politischen<br />

nicht gedacht wurde und, aufgrund des umfassenden absolutistischen Anspruchs, auch praktisch<br />

fehlte, g<strong>in</strong>g man zum<strong>in</strong>dest von e<strong>in</strong>em Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> aus.<br />

Diese Prioritätsverschiebung hatte ihren guten Grund: Die B<strong>in</strong>dekraft und das Weltdeutungs-<br />

monopol <strong>der</strong> Theologie schwand mit <strong>der</strong> Aufsplitterung <strong>der</strong> christlichen Religion (im Rahmen<br />

<strong>der</strong> Reformation) und den Erfolgen <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>nen* Naturwissenschaft. Seit <strong>der</strong> Renaissance<br />

verlagerte sich die Heilserwartung deshalb immer mehr <strong>in</strong>s Säkulare, <strong>in</strong>s Hier und Jetzt, also<br />

auch h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Bereich von Gesellschaft und <strong>Politik</strong>. Auf diese Funktion <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> als<br />

säkulare Religion ist schon vielfach, vor allem von konservativer Seite aus, h<strong>in</strong>gewiesen worden<br />

86<br />

(z.B. durch Schmitt, Voegel<strong>in</strong>, Kamlah, Sternberger u.a.). Die Tendenz zur +Theologiesierung*<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> spiegelt sich auch <strong>in</strong> vielen frühneuzeitlichen utopischen Entwürfen (so etwa bei<br />

87<br />

Morus, Campanella etc.) wi<strong>der</strong>. Doch noch e<strong>in</strong> weiteres, damit <strong>in</strong> Zusammenhang stehendes<br />

Merkmal neuzeitlicher politischer Philosophie kommt h<strong>in</strong>zu: nämlich <strong>der</strong>en immer wichtigere<br />

legitimatorische Funktion. Die theologische Rechtfertigung <strong>der</strong> politischen Herrschaft reichte


34 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

nicht mehr aus, da zunehmend rationale Argumentationen und Begründungsweisen gefragt<br />

waren.<br />

Zusammengenommen hatte all dies für den <strong>Politik</strong>begriff <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit e<strong>in</strong>e dreifache Be-<br />

deutung: Zum e<strong>in</strong>en erlebte das Feld <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>e semantische und praktische Beschränkung,<br />

<strong>in</strong>dem <strong>Politik</strong> als von Gesellschaft allgeme<strong>in</strong> abgrenzbarer Bereich gedacht wurde. Zum an<strong>der</strong>en<br />

(und ke<strong>in</strong>esfalls ersterem Befund wi<strong>der</strong>sprechend) erlebte <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>begriff e<strong>in</strong>en praktischen<br />

wie theoretischen Bedeutungszugew<strong>in</strong>n, <strong>in</strong>dem <strong>Politik</strong> gleichzeitig <strong>in</strong>s Zentrum <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

rückte und e<strong>in</strong> Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> gegenüber an<strong>der</strong>en Bereichen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Theologie,<br />

gefor<strong>der</strong>t wurde. Damit e<strong>in</strong>her g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e emotionale Überladung des <strong>Politik</strong>begriffs durch<br />

die so mit ihr verbundenen Heilserwartungen. 88<br />

1.3 DIE UNTERSCHIEDLICHEN POLITIKVERSTÄNDNISSE IN KONSERVATISMUS, SOZIA-<br />

LISMUS UND LIBERALISMUS<br />

Mit Hegel wurde e<strong>in</strong> erster Schritt <strong>in</strong>s 19. Jahrhun<strong>der</strong>t unternommen. In diesem Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Revolution (siehe S. XVIIff.) kann man e<strong>in</strong>e deutliche Aufsplitterung des Poli-<br />

tikbegriffs ausmachen, die mit <strong>der</strong> Formierung <strong>der</strong> politischen Lager, wie sie auch noch die<br />

Gegenwart prägen, e<strong>in</strong>her g<strong>in</strong>g. Das klassische rechts-l<strong>in</strong>ks-Koord<strong>in</strong>atensystem, das erst <strong>in</strong><br />

letzter Zeit an Relevanz e<strong>in</strong>gebüßt hat, begann sich auszudifferenzieren.<br />

Natürlich erfolgte im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t ke<strong>in</strong> absoluter Neubeg<strong>in</strong>n, ke<strong>in</strong>e politische und politik-<br />

theoretische tabula rasa. Man baute durchaus auf dem bestehenden Gedankengut auf, und<br />

man kann sogar von e<strong>in</strong>em (vielfach geglückten) Versuch <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung bestimmter<br />

politischer Philosophen durch die ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>driftenden politischen Strömungen sprechen.<br />

Schließlich gibt es signifikante Unterschiede im politischen Denken e<strong>in</strong>es Platon und e<strong>in</strong>es<br />

Aristoteles o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Hobbes und e<strong>in</strong>es Locke. Diese Unterschiede wurden nun erstmals<br />

explizit gemacht, <strong>in</strong>dem man sie systematisierte und kategorisierte, und genauso explizit verstand<br />

man sich selbst als liberal, sozialistisch o<strong>der</strong> konservativ.<br />

Der Versuch e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>deutigen Zuordnung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Denker unter diese drei Kategorien<br />

fällt aber trotzdem mitunter schwer. Am leichtesten fällt sie noch bei Locke, den man als<br />

Begrün<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er liberalen, bürgerlichen Tradition sehen kann. Vielleicht könnte man auch<br />

Kant – trotz gewisser konservativer, obrigkeitsstaatlicher Züge – hier e<strong>in</strong>ordnen. Bei Machiavelli


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 35<br />

und Hobbes ist die Sache schon schwieriger. Machiavellis politischer Pragmatismus ist beliebig<br />

anwendbar – allerd<strong>in</strong>gs tun sich vor allem Wertekonservative und politische Utopisten schwer<br />

mit diesem Denker ohne +Moral* und +Ideale*. Das h<strong>in</strong><strong>der</strong>te freilich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

we<strong>der</strong> Konservative noch Sozialisten, sich an e<strong>in</strong> machiavellistisches Programm zur Gew<strong>in</strong>nung<br />

und Aufrechterhaltung ihrer Macht zu halten. Bei Hobbes liegt die Sache ähnlich. Auch er<br />

trennt das politische +Geschäft* weitgehend von ethisch-moralischen Überlegungen und legt<br />

e<strong>in</strong>e überaus negative Anthropologie zugrunde. Se<strong>in</strong> daraus abgeleitetes Plädoyer für e<strong>in</strong>e<br />

autoritäre (absolutistische) Herrschaft ergibt starke Berührungen mit <strong>der</strong> konservativen Denk-<br />

strömung. Gerade er war jedoch e<strong>in</strong> methodischer Erneuerer und gegen die (geistes)wissen-<br />

schaftliche Tradition <strong>der</strong> Antike und <strong>der</strong> Scholastik gewandt. Auch Rousseau und Hegel sperren<br />

sich gegen e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Zuordnung. Rousseau weist, wie angedeutet, Bezüge sowohl zum<br />

Konservatismus (Betonung von Sitte und Moral) wie zum Sozialismus (Volkssouveränitätsgedanke,<br />

identitäre Demokratie) auf. Hegel ist, gerade was se<strong>in</strong> politisches Denken betrifft, natürlich<br />

e<strong>in</strong> klar konservativer, obrigkeitsstaatlicher Denker. Trotz <strong>der</strong> +Kritik [an] <strong>der</strong> Hegelschen Rechts-<br />

philosophie* (1829), gibt es aber e<strong>in</strong>e l<strong>in</strong>kshegelianische Tradition (vor allem repräsentiert<br />

durch Feuerbach), aus <strong>der</strong> auch Marx entwachsen ist.<br />

Bei dieser recht +großzügigen* Zuordnung wurde bisher davon ausgegangen, daß die Inhalte<br />

<strong>der</strong> Begriffe +liberal*, +konservativ* und +sozialistisch* bekannt s<strong>in</strong>d. Ich möchte abschließend<br />

allerd<strong>in</strong>gs doch noch e<strong>in</strong>ige Bemerkungen zur Spezifik des <strong>Politik</strong>begriffs <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen<br />

Strömungen sowie zu ihrer Geschichte machen.<br />

KONSERVATISMUS<br />

Der Konservatismus ist (im Gegensatz zum Traditionalismus) e<strong>in</strong> typisch mo<strong>der</strong>nes Phänomen<br />

und +e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> prägnantesten Tatsachen im Geistesleben <strong>der</strong> ersten Hälfte des XIX. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

<strong>in</strong> Deutschland* (Mannheim: Das konservative Denken; S. 24). Die Bezeichnung +Konservatismus*<br />

leitet sich von <strong>der</strong> 1818–20 von Chateaubriand herausgegebenen Zeitschrift +Le Conservateur*<br />

ab und charakterisiert e<strong>in</strong>e Denkhaltung, +die die bestehende pol., rechtl., gesellsch. und<br />

wirtsch. Ordnung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staat […] und die Werte und Normen auf <strong>der</strong> diese beruhen,<br />

erhalten, festigen und vor e<strong>in</strong>schneidenden Verän<strong>der</strong>ungen bewahren* will – so zum<strong>in</strong>dest<br />

die Def<strong>in</strong>ition im +Sachwörterbuch <strong>Politik</strong>*, die auf die late<strong>in</strong>ische Wurzel des Wortes (+conser-<br />

vare*: bewahren, erhalten) abhebt. Aus historischer Perspektive läßt sich jedoch geradezu


36 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

das Gegenteil behaupten: Der Konservatismus des frühen 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts war weniger e<strong>in</strong>e<br />

bewahrende als e<strong>in</strong>e reaktionäre Gegenbewegung (des Adels und des hohen Klerus) gegen<br />

die Emanzipationsversuche des Bürgertums, den politischen Liberalismus und später auch<br />

den Sozialismus, doch +vornehmlich und zuallererst gegenüber <strong>der</strong> Französischen Revolution<br />

von 1789* (Göhler/Kle<strong>in</strong>: Politische Theorien des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 297). 89<br />

Das konservative Denken ist – trotz dieser klaren historischen Gegenstellung – <strong>in</strong> sich <strong>in</strong>ho-<br />

90<br />

mogen. E<strong>in</strong>e Reihe von Charakteristika lassen sich jedoch, ohne allzu große (strukturierende)<br />

+Gewalt* anzuwenden, verallgeme<strong>in</strong>ern und werden auch <strong>in</strong> relativer Übere<strong>in</strong>stimmung von<br />

verschiedenen Konservatismus-Interpreten genannt:<br />

• die religiöse und traditionalistische Prägung des Konservativismus<br />

• damit verbunden se<strong>in</strong>e antirationalistische, antiaufklärerische und antimo<strong>der</strong>ne E<strong>in</strong>stellung<br />

• die Vorstellung e<strong>in</strong>er organisch gewachsenen Gesellschaft<br />

• Geschichts- und Traditionsbewußtse<strong>in</strong><br />

• hierarchisches und autoritätsbejahendes, teilweise elitäres Denken<br />

• die Betonung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft, unter die sich <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne unterzuordnen hat<br />

• E<strong>in</strong>heit, Stabilität, Ordnung und Pflichterfüllung als zentrale Werte 91<br />

Als paradigmatischer Denker des (frühen) Konservatismus gilt Edmund Burke (1729–1797),<br />

<strong>der</strong> bereits 1790 se<strong>in</strong>e von scharfer Ablehnung geprägten +Betrachtungen über die französische<br />

Revolution* vorlegte. In dieser Schrift stellt er das (positive) Pr<strong>in</strong>zip +historisch gewachsener*<br />

politischer Strukturen <strong>der</strong> +künstlichen* und abstrakten Konstruktion des (egalitären) Verfassungs-<br />

staats gegenüber (den die Revolutionäre <strong>in</strong> Frankreich zu errichten trachteten). Für ihn war<br />

Revolution +die letzte Arznei e<strong>in</strong>es Staates* (S. 112), die nur angewendet werden sollte, wenn<br />

alle an<strong>der</strong>en Mittel versagt haben. Denn die historisch gewachsene politische Ordnung entspricht<br />

<strong>der</strong> gottgegebenen Ordnung <strong>der</strong> Natur, und e<strong>in</strong>e wi<strong>der</strong>natürliche Verfassung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

– d.h. für Burke: e<strong>in</strong>e politische Ordnung die das ständische System <strong>in</strong> Frage stellt – entspricht<br />

e<strong>in</strong>em +offenen Krieg mit <strong>der</strong> Natur* (ebd.; S. 91).<br />

Burke prägte den politischen Konservatismus des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>in</strong> Deutschland maßgeblich,<br />

für den Namen wie Karl Ludwig Haller (1768–1854), Friedrich von Hardenberg (1772–1801),<br />

Adam Müller (1779–1829) o<strong>der</strong> auch Julius Stahl (1802–61) und Lorenz von Ste<strong>in</strong> (1815–90)


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 37<br />

92<br />

stehen. Der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ausprägungen stark differierende <strong>Politik</strong>begriff des Konservatismus<br />

soll allerd<strong>in</strong>gs anhand <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>konzepte zweier konservativer politischer Autoren des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts dargestellt werden: Carl Schmitt (1888–1985) und Eric Voegel<strong>in</strong> (1901–85).<br />

Schmitt hat explizit zum +Begriff des Politischen* (1927) Stellung genommen. Die Gleichsetzung<br />

des Politischen mit dem Staatlichen lehnt er <strong>in</strong> jener vielfach rezipierten Schrift ab, da ihm<br />

diese ungenügend und tautologisch ersche<strong>in</strong>t:<br />

+Im allgeme<strong>in</strong>en wird ›Politisch‹ <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise mit ›Staatlich‹ gleichgesetzt o<strong>der</strong> wenigstens<br />

auf den Staat bezogen. Der Staat ersche<strong>in</strong>t dann als etwas Politisches, das Politische aber als etwas<br />

Staatliches – offenbar e<strong>in</strong> unbefriedigen<strong>der</strong> Zirkel […] E<strong>in</strong>e Begriffsbestimmung des Politischen kann<br />

nur durch Aufdeckung und Feststellung <strong>der</strong> spezifisch politischen Kategorien gewonnen werden […]<br />

Die spezifisch politische Unterscheidung [aber], auf welche sich die politischen Handlungen und Motive<br />

zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Fe<strong>in</strong>d.* (S. 21–26)<br />

Die politische E<strong>in</strong>heit (e<strong>in</strong>es Volkes) konstituiert sich nämlich erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegnerschaft zu e<strong>in</strong>en<br />

solchen Fe<strong>in</strong>d, was auch die Bereitschaft zur Anwendung von (militärischer) Gewalt notwendig<br />

mit e<strong>in</strong>schließt (vgl. ebd.; S. 28–37).<br />

Schmitts +revolutionärer* Konservatismus zeigt mit <strong>der</strong>artigen Bestimmungen Berührungspunkte<br />

zur (Vernichtung-)Ideologie des Nationalsozialismus, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat stand er dem NS-Regime<br />

nahe. E<strong>in</strong>e Nähe des Konservatismus zum Faschismus ist verschiedentlich im Allgeme<strong>in</strong>en<br />

93<br />

behauptet worden (vgl. z.B. Lukács: Die Zerstörung <strong>der</strong> Vernunft; S. 622–662), und auch<br />

Ernst Nolte gesteht zu, +daß <strong>der</strong> Nationalsozialismus im engsten Zusammenhang mit konser-<br />

vativen Kräften emporgewachsen ist* (Konservatismus und Nationalsozialismus; S. 259). Trotzdem<br />

sollte man Faschismus und Konservatismus nicht gleichsetzen. Schließlich zeichnet sich die<br />

faschistische Ideologie (und hier stimme ich mit Nolte übere<strong>in</strong>) durch e<strong>in</strong>e eigentümliche<br />

Ambivalenz aus, <strong>in</strong>dem sie Elemente e<strong>in</strong>es nationalistisch-chauv<strong>in</strong>istischen Konservatismus<br />

94<br />

mit (pseudo-)sozialistischen Phrasen sowie e<strong>in</strong>em haßerfüllten Rassismus verb<strong>in</strong>det. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus (und wahrsche<strong>in</strong>lich gerade wegen dieser unausgegorenen Melange sowie dem +prole-<br />

tarischen Element* des Nationalsozialismus) waren viele Konservative dem Hitler-Regime<br />

kritisch bis ablehnend gegenüber e<strong>in</strong>gestellt. Das gilt auch für Eric Voegel<strong>in</strong>.<br />

Zu Voegel<strong>in</strong>s bedeutendsten Schriften zählt +Die neue Wissenschaft <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (1952). E<strong>in</strong>e<br />

solche ist für ihn notwendig, weil es se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach vor allem durch den Positivismus<br />

zu e<strong>in</strong>em Verfall <strong>der</strong> politischen Pr<strong>in</strong>zipien gekommen ist. Als +Heilmittel* gegen diesen Verfall


38 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

br<strong>in</strong>gt Voegel<strong>in</strong> jedoch weniger neue, als vielmehr die klassischen antiken <strong>Politik</strong>konzepte<br />

sowie christliche Werte <strong>in</strong>s Spiel. Denn es geht ihm um die +Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Wahrheit<br />

<strong>der</strong> kosmischen Ordnung*, weshalb es +die Entdeckung Platons neu zu entdecken [gilt]: daß<br />

e<strong>in</strong>e Gesellschaft als e<strong>in</strong> geordnetes Kosmion, als e<strong>in</strong> Repräsentant kosmischer Ordnung existieren<br />

muß, um sich den Luxus erlauben zu können, auch die Wahrheit <strong>der</strong> Seele zu repräsentieren*<br />

(S. 230). Nur: zu e<strong>in</strong>er solchen Restauration schien die Welt wenig Bereitschaft zu zeigen.<br />

E<strong>in</strong>en +Hoffnungsstrahl* sah Voegel<strong>in</strong> aber doch:<br />

+Denn die amerikanischen und englischen Demokratien, die <strong>in</strong> ihren Institutionen die Wahrheit <strong>der</strong><br />

Seele am stärksten repräsentieren, s<strong>in</strong>d gleichzeitig auch die existentiell stärksten Mächte. Aber es<br />

wird aller unserer Anstrengungen bedürfen, um diesen Funken zu e<strong>in</strong>er Flamme zu entfachen […].*<br />

(Ebd.; S. 266)<br />

Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong>, daß Voegel<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Hoffnungen auf die extrem konservative <strong>Politik</strong> Eisenhowers<br />

und Churchils richtete, die e<strong>in</strong>en anti-liberalen sowie vor allem anti-sozialistischen Kurs steuerten<br />

95<br />

und damit wesentlich zur Dynamik des +Kalten Kriegs* beitrugen. Speziell <strong>in</strong> den USA machte<br />

sich darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit e<strong>in</strong> kulturkritischer +New Conservatism* breit, <strong>der</strong><br />

mit se<strong>in</strong>en rückwärtsgewandten Vorstellungen zu e<strong>in</strong>er starken Kraft <strong>in</strong> <strong>der</strong> amerikanischen<br />

Gesellschaft wurde (vgl. Chapman: Der Neukonservatismus). Seit den 80er Jahren läßt sich<br />

ganz allgeme<strong>in</strong> von e<strong>in</strong>er +Renaissance* des Konservatismus sprechen. 96<br />

SOZIALISMUS<br />

Man kann die Ursprünge des Sozialismus bzw. Kommunismus bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike ansetzen. 97<br />

Insbeson<strong>der</strong>e Platons politische Ideen bieten hierzu gewisse Ansatzpunkte. Der +eigentliche*<br />

Sozialismus ist jedoch – wie <strong>der</strong> Konservatismus – e<strong>in</strong> +K<strong>in</strong>d* des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

gibt es e<strong>in</strong>e (neuzeitliche) +frühsozialistische* Tradition, an die angeknüpft werden konnte<br />

und die bis <strong>in</strong>s 18. Jahrhun<strong>der</strong>t und davor zurückreicht. 98<br />

Das Land mit <strong>der</strong> reichsten frühsozialistischen Tradition ist Frankreich. Hier s<strong>in</strong>d vor allem<br />

die Namen Fraçois Noël Babeuf (1760–97), Claude-Heri de Sa<strong>in</strong>t-Simon (1760–1825), Charles<br />

Fourier (1772–1837), Etienne Cabet (1788–1856), Louis Blanc (1811–82), Louis-Auguste Blanqui<br />

(1805–81) und Pierre Joseph Proudhon (1809–65) zu nennen. Babeuf war e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wenigen<br />

politischen Führer <strong>der</strong> Französischen Revolution, die egalitär-sozialistische Vorstellungen vertraten


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 39<br />

99<br />

(geme<strong>in</strong>samer Besitz an Grund und Boden, Abschaffung des Erbrechts etc.). Weniger revo-<br />

lutionär e<strong>in</strong>gestellt und vor allem eher theoretisch-wissenschaftlich orientiert war dagegen<br />

se<strong>in</strong> Zeitgenosse Sa<strong>in</strong>t-Simon, dessen wesentliche soziologische Gedanken bereits vorgestellt<br />

wurden (siehe S. XVIII). Die eher gemäßigte Orientierung gilt ebenso für Fourier, Blanc und<br />

Proudhon. Sie erarbeiteten auch detaillierte ökonomische Modelle, die – <strong>in</strong> Anlehnung an<br />

Owen (siehe unten) – den Gedanken <strong>der</strong> Produzenten- und Konsumgenossenschaft aufgriffen. 100<br />

Cabet knüpfte dagegen an die Tradition des frühneuzeitlichen utopischen Denkens an (siehe<br />

dazu auch S. 33 sowie Anmerkung 87) und entwarf mit dem idealen Staat +Iakrien* e<strong>in</strong>e<br />

Gesellschaft, die durch den <strong>in</strong>dustriell-technischen Fortschritt zu e<strong>in</strong>er Verwirklichung des<br />

101<br />

Gleichheitsgedankens gelangt. Blanqui wie<strong>der</strong>um war, wie Babeuf, e<strong>in</strong> Mann <strong>der</strong> Tat, agitierte<br />

im Rahmen <strong>der</strong> neuerlichen Revolution von 1830 und for<strong>der</strong>te – wie später <strong>in</strong> Anlehnung<br />

an ihn Marx und Engels – e<strong>in</strong>e +Diktatur des Proletariats*.<br />

Soweit zum französischen Frühsozialismus. In England gibt es im wesentlichen zwei Namen,<br />

die <strong>in</strong> diesem Kontext zu nennen s<strong>in</strong>d: William Godw<strong>in</strong> (1756–1836) und Robert Owen<br />

(1771–1858). Godw<strong>in</strong> war e<strong>in</strong> nicht nur räumlich, son<strong>der</strong>n auch emotional distanzierter Beo-<br />

bachter <strong>der</strong> Französischen Revolution, gleichzeitig jedoch e<strong>in</strong> scharfer Kritiker des bürgerlichen<br />

102 103<br />

Besitz<strong>in</strong>dividualismus. Er maß (ähnlich wie Rousseau) <strong>der</strong> Erziehung großen Stellenwert<br />

bei, um aus dem Menschen e<strong>in</strong> wirklich freies, dabei aber moralisch handelndes Individuum<br />

zu machen. Ökonomisch-politisch for<strong>der</strong>te er e<strong>in</strong>e gerechte Verteilung des Eigentums sowie<br />

die Zerschlagung des Staates. Was die Lösung von sozialen Konflikten betrifft, so vertraute<br />

er auf das Mittel <strong>der</strong> vernünftigen Diskussion (kann also gewissermaßen als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> ersten<br />

+Diskurstheoretiker* gelten) und favorisierte die Selbstorganisation <strong>der</strong> Individuen gegenüber<br />

Lenkungsmodellen (weshalb er häufig auch dem Anarchismus zugerechnet wird). 104<br />

Robert Owen war aus eigener Kraft zum wohlhabenden Industriellen aufgestiegen, <strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>en Sp<strong>in</strong>nerei-Betrieben vorbildliche Sozialmaßnahmen e<strong>in</strong>geführt hatte und sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

politischen Vorstellungen mit <strong>der</strong> Zeit immer mehr an die Positionen <strong>der</strong> Arbeiterschaft annäher-<br />

te. 1825 versuchte Owen <strong>in</strong> Indiana e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaftssiedlung mit dem klangvollen Namen<br />

+New Harmony* aufzubauen. Dieser Versuch scheiterte ironischerweise ausgerechnet <strong>in</strong>folge<br />

<strong>in</strong>nerer Streitigkeiten und so kehrte er nach drei Jahren (um den Großteil se<strong>in</strong>es Vermögens<br />

erleichtert) zurück nach England. Auch dort blieb Owen aber weiterh<strong>in</strong> aktiv und gründete<br />

e<strong>in</strong>e +Arbeitstauschbörse*, die durch Äquivalenttausch <strong>in</strong> Form von +Arbeitsgeldzertifikaten*


40 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

das Umgehen des Handelsprofits ermöglichen sollte. Dieses Projekt schlug lei<strong>der</strong> genauso<br />

fehl wie e<strong>in</strong> neuerliches Siedlungsprojekt <strong>in</strong> Hamshire 1854. Trotzdem bee<strong>in</strong>flußte Owen<br />

die <strong>in</strong> ihrer Anfangsphase bef<strong>in</strong>dliche Genossenschafts- und Gewerkschaftsbewegung (nicht<br />

nur <strong>in</strong> Großbritannien) erheblich.<br />

Auch <strong>in</strong> Deutschland existierte e<strong>in</strong>e frühsozialistische Denkströmung, die vor allem durch<br />

Wilhelm Weitl<strong>in</strong>g (1808–71), Karl Grün (1817–87) und Moses Hess (1812–75) repräsentiert<br />

wird und romantische sowie anti-französische Untertöne aufwies. Der eigentliche deutsche<br />

Beitrag zur Geschichte des Sozialismus liegt aber ohne Zweifel im Werk von Karl Marx (1818–83)<br />

und Friedrich Engels (1820–95), die <strong>in</strong> expliziter Abgrenzung zum Frühsozialismus von sich<br />

105<br />

behaupteten, den Sozialismus von <strong>der</strong> Utopie zur Wissenschaft entwickelt zu haben. Hier<br />

ist aber nicht <strong>der</strong> Ort, e<strong>in</strong>e detaillierte Übersicht marxistischer Theorie zu geben. Ich möchte<br />

nur <strong>in</strong> kurzen Stichpunkten die aus me<strong>in</strong>er Sicht zentralen Elemente auflisten:<br />

• Egalität und Freiheit als primäre Werte sowie (nicht-entfremdete) Arbeit als Medium zur<br />

Verwirklichung <strong>der</strong> menschlichen Natur. 106<br />

• Dialektische Geschichtsauffassung und Fortschrittsgedanke: E<strong>in</strong> permanenter Kampf anta-<br />

gonistischer Klassen hält den historischen Prozeß <strong>in</strong> Gang, <strong>der</strong> immer weiter <strong>in</strong> Richtung<br />

auf e<strong>in</strong>e kommunistische Gesellschaft zuläuft (siehe unten).<br />

• Materialistische Grundposition (historischer Materialismus): Bestimmendes Moment dieses<br />

geschichtlichen Prozesses s<strong>in</strong>d die ökonomischen (und sozialen) Verhältnisse.<br />

• Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> kapitalistischen Produktionsweise: Obwohl <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Kapitalismus<br />

den Stand <strong>der</strong> Produktivkräfte (technologisch) auf e<strong>in</strong> nie gekanntes Maß angehoben hat,<br />

sorgen die ungünstigen Produktionsverhältnisse (Entfremdung und Ausbeutung) sowie die<br />

zwangsläufige Tendenz zur Monopolisierung des Kapitals für ständig wie<strong>der</strong>kehrende Krisen<br />

und e<strong>in</strong> revolutionäres Potential auf <strong>der</strong> Seite des pauperisierten Proletariats.<br />

• Aufhebung <strong>der</strong> ökonomischen Wi<strong>der</strong>sprüche durch Abschaffung des Privateigentums an<br />

den Produktionsmitteln, was durch e<strong>in</strong>e mit Notwendigkeit stattf<strong>in</strong>dende proletarische<br />

Revolution umgesetzt wird. Errichtung e<strong>in</strong>er +Diktatur des Proletariats* (sozialistisches Stadium).<br />

• Absterben des Staats und Verwirklichung des +Reichs <strong>der</strong> Freiheit*, <strong>in</strong> dem die sozialen<br />

und ökonomischen Wi<strong>der</strong>sprüche aufgehoben s<strong>in</strong>d, also auch <strong>der</strong> grundlegende Gegensatz<br />

von Arbeit und Kapital (kommunistisches Endstadium <strong>der</strong> historischen Entwicklung).


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 41<br />

Was den <strong>Politik</strong>begriff von Marx und Engels betrifft, so spielt <strong>der</strong> revolutionäre Klassenkampf<br />

dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. <strong>Politik</strong> im marxistischen S<strong>in</strong>n ist die aktive Verfolgung <strong>der</strong> proletarischen<br />

Interessen, die praktische Umsetzung des sozialistischen Programms. Hierzu e<strong>in</strong> Zitat von<br />

Engels, das e<strong>in</strong>em Redemanuskript zur Londoner Konferenz <strong>der</strong> +Internationalen Arbeiter-<br />

Assoziation* (1. Internationale) vom September 1871 entstammt:<br />

+[…] die politische Bedrückung, <strong>der</strong> die bestehenden Regierungen die Arbeiter aussetzen […], zw<strong>in</strong>gt<br />

die Arbeiter <strong>in</strong> die <strong>Politik</strong>, ob sie wollen o<strong>der</strong> nicht […] Die Revolution aber ist <strong>der</strong> höchste Akt <strong>der</strong><br />

<strong>Politik</strong>, und wer sie will muß auch das Mittel wollen, die politische Aktion […]* (Über die politische<br />

Aktion <strong>der</strong> Arbeiterklasse; S. 302)<br />

Die zentrale Bedeutung <strong>der</strong> (politischen) Praxis läßt sich auch an <strong>der</strong> berühmten 11. These<br />

Marx’ über Feuerbach ablesen: +Die Philosophen haben die Welt nur verschieden <strong>in</strong>terpretiert,<br />

es kommt aber darauf an, sie zu verän<strong>der</strong>n*. Man kann nun (retrospektiv) vor allem aus dem<br />

angeführten Engels-Zitat e<strong>in</strong>e Nähe zu Schmitts <strong>Politik</strong>-Begriff konstruieren (siehe S. 37). Dabei<br />

sollte jedoch beachtet werden, daß das Ziel des sozialistischen Kampfes die Verwirklichung<br />

des Freiheits- und Gleichheitsgedankens darstellt und gerade die <strong>in</strong>ternationale Solidarität<br />

107<br />

(des Proletariats) e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielt, also an<strong>der</strong>s als bei Schmitt <strong>der</strong> (Klassen-)Kampf<br />

nur Mittel zum Zweck ist und nicht den eigentlichen Kern des Politischen darstellt.<br />

Wie jede Theorie – und das kann gleichzeitig als e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wesentlichen E<strong>in</strong>sichten von Marx<br />

gelten (siehe oben, Punkt 3) – spiegelt auch die marxistische Lehre die damaligen ökonomischen,<br />

sozialen und politischen Verhältnisse wi<strong>der</strong>. Diese waren vor allem durch die beg<strong>in</strong>nende<br />

Industrialisierung sowie das Wechselspiel von Revolution und Restauration gekennzeichnet:<br />

Die napoleonische Eroberung Anfang des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts riß weite Teile des <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />

von feudalen Kle<strong>in</strong>staaten aufgespaltenen deutschen Reichs aus ihrem Schlummer. In Gegen-<br />

reaktion auf die französische (Fremd-)Herrschaft kristallisierte sich erstmals, speziell <strong>in</strong> den<br />

Reihen des Bürgertums, e<strong>in</strong> nationales Wir-Gefühl heraus. Die Nie<strong>der</strong>lage Napoleons <strong>in</strong> den<br />

+Befreiungskriegen* (1813–15) und <strong>der</strong> nachfolgende +Wiener Kongreß* bewirkten aber e<strong>in</strong>e<br />

Restauration <strong>der</strong> alten Machtstrukturen und besiegelten im neu gegründeten, eher losen<br />

+Deutschen Bund* die Dom<strong>in</strong>anz Österreichs, das im ständigen Cl<strong>in</strong>ch mit dem preußischen<br />

Königreich lag. Die erneuten Revolutionen <strong>in</strong> Frankreich vom Juli 1830 und Februar 1848<br />

hatten dann jedoch auch Ausstrahlungen nach Deutschland. Im März 1848 kam es sogar


42 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

zur tatsächlichen Erhebung des Bürgertums. Die Versuche von Marx, durch se<strong>in</strong>e publizistische<br />

Arbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Neuen Rhe<strong>in</strong>ischen Zeitung* auf das Geschehen E<strong>in</strong>fluß zu nehmen, scheiterten<br />

jedoch so kläglich wie die eigentlich +ungewollte Revolution* (Schie<strong>der</strong>) von 1848/49: 108<br />

Nachdem sich die monarchistischen Kräfte vom ersten Schrecken erholt hatten und sich sammeln<br />

konnten, wurde ihnen nahezu kampflos das Feld überlassen. 109<br />

Trotz des restriktiven Klimas <strong>in</strong> dieser Zeit des +Nachmärz* vollzog sich e<strong>in</strong> immer weiterer<br />

ökonomischer Aufschwung. E<strong>in</strong> wichtiger Schritt dazu war die Gründung des +Deutschen<br />

Zollvere<strong>in</strong>s* 1834 gewesen, <strong>der</strong> die +tarifären Handelshemmnisse* im deutschen Reich weit-<br />

gehend beseitigt hatte. Die dadurch geför<strong>der</strong>te Industrialisierung brachte e<strong>in</strong>en tiefen Struktur-<br />

wandel mit sich, führte zu Verstädterung und Proletarisierung. Ständiger Nachschub für die<br />

<strong>in</strong>dustrielle Reservearmee war durch e<strong>in</strong> enormes, vor allem mediz<strong>in</strong>ischen Fortschritten +geschul-<br />

detes* Bevölkerungswachstum gesichert. Dieser Umstand bewirkte e<strong>in</strong>en niedrigen, kaum<br />

das Überleben sichernden Marktwert <strong>der</strong> menschlichen Arbeitskraft. Die Verelendung des<br />

Proletariats war also ke<strong>in</strong> sozialistisches Hirngesp<strong>in</strong>st, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> bedrückendsten sozialen<br />

Tatsachen des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Überhaupt können Marx’ ökonomische Analysen als größtenteils<br />

zutreffend bezeichnet werden.<br />

Die (weitere) Entwicklung des Sozialismus stand <strong>in</strong> enger Beziehung zur Entwicklung <strong>der</strong><br />

Arbeiterbewegung. In Deutschland galt allerd<strong>in</strong>gs lange Zeit e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Koalitionsverbot. 110<br />

Im Zuge <strong>der</strong> +Revolution* von 1848 wurde dann durch Stephan Born erstmals e<strong>in</strong>e proletarische<br />

Organisation, die +Allgeme<strong>in</strong>e deutsche Arbeiter-Verbrü<strong>der</strong>ung*, <strong>in</strong> ihr kurzes Leben gerufen<br />

– denn nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> alten Verhältnisse wurde diese sofort mit e<strong>in</strong>em Verbot<br />

belegt. Längeren Bestand (doch anfangs kaum Erfolg) hatte <strong>der</strong> 1863 von Ferd<strong>in</strong>and Lassalle<br />

(1825–65) gegründete +Allgeme<strong>in</strong>e deutsche Arbeitervere<strong>in</strong>*. In Konkurrenz zu diesem schufen<br />

111<br />

die <strong>in</strong> ihrer Ausrichtung radikaleren, aber wie Lassalle eher +revisionistisch* orientierten<br />

Sozialisten Karl Liebknecht und August Bebel 1869 die +Sozialdemokratische Arbeiterpartei*.<br />

1875 verschmolzen beide Organisationen zur +Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands*,<br />

die großes Anpassungsvermögen aufwies und heute bekanntermaßen unter dem Label +SPD*<br />

weiterexistiert (jedoch ihre enge Klientelb<strong>in</strong>dung verloren hat). Am letztendlichen Erfolg <strong>der</strong><br />

Sozialdemokratie konnten also auch die +Sozialistengesetze* Bismarks von 1878 nichts än<strong>der</strong>n,<br />

die bis 1890 <strong>in</strong> Kraft blieben und sozialistische Parteien unter e<strong>in</strong> Verbot stellten. Auf <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Seite versuchte Bismark, <strong>der</strong> als Reichskanzler die politischen Fäden des 1871


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 43<br />

errichteten deutschen Kaiserreichs <strong>in</strong> Händen hielt, geschickt die Arbeiterschaft durch sozial-<br />

politische Zugeständnisse zu befried(ig)en. Resultat dieses Versuchs war <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Sozial-<br />

gesetzgebung 1883 (mit dem Gesetz über die Krankenversicherung). 112<br />

Ähnliche Sozialgesetze, die die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus durch staatliche<br />

Intervention zu mil<strong>der</strong>n versuchten, wurden mit (z.T. erheblicher) zeitlicher Verzögerung auch<br />

<strong>in</strong> an<strong>der</strong>en europäischen Staaten e<strong>in</strong>geführt – o<strong>der</strong> aber Verbesserungen für die Arbeitnehmer<br />

wurden den Unternehmern direkt, durch gewerkschaftlichen Kampf, abgetrotzt. So konnte<br />

die entwickelte soziale Dynamik zum großen Teil abgefangen werden. Die Gewerkschafts-<br />

bewegung ließ sich jedenfalls durch solche Zugeständnisse und ihren eigenen Erfolg von den<br />

ursprünglich revolutionären Zielen abbr<strong>in</strong>gen – sofern sie diese jemals wirklich besessen hatte.<br />

E<strong>in</strong>e sozialistische Revolution gar konnte <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em <strong>der</strong> sich <strong>in</strong>dustrialisierenden Staaten Europas<br />

wie Großbritannien o<strong>der</strong> Deutschland verwirklicht werden, die dafür doch eigentlich nach<br />

marxistischer Theorie prädest<strong>in</strong>iert waren. Welchen E<strong>in</strong>fluß die <strong>in</strong>nersozialistischen Kämpfe<br />

auf dieses Ausbleiben <strong>der</strong> Revolution hatten, sei dah<strong>in</strong>gestellt. Fest steht, daß das sozialistische<br />

Lager <strong>in</strong> sich tief zerstritten war. E<strong>in</strong> Dissens bestand vor allem zwischen den +Marxisten*<br />

113<br />

und <strong>der</strong> immer mehr zurückgedrängten anarchistischen Strömung. Deutliches Zeichen dafür<br />

war <strong>der</strong> 1872 von Marx veranlaßte formelle Ausschluß des russischen Anarchisten Michail<br />

Bakun<strong>in</strong> (1814–76) und se<strong>in</strong>er Anhänger aus <strong>der</strong> 1. Internationale. 114<br />

Zur großen sozialistischen Revolution kam es, wie allgeme<strong>in</strong> bekannt, erst im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

und ironischerweise gerade <strong>in</strong> Bakun<strong>in</strong>s Heimat. Rußland war nämlich noch e<strong>in</strong> durch und<br />

durch agrarisch-feudal geprägtes Land und deshalb <strong>der</strong> +orthodoxen* Theorie-Interpretation<br />

115<br />

nach wohl nicht <strong>der</strong> ideale Ort für e<strong>in</strong>e proletarische Erhebung. Die Revolution vom Oktober<br />

1917 unter <strong>der</strong> Führung Len<strong>in</strong>s (1870–1924) konnte sich allerd<strong>in</strong>gs trotzdem behaupten.<br />

Im Zuge des 2. Weltkriegs und unter <strong>der</strong> Herrschaft Stal<strong>in</strong>s (1879–1953) kam es dann zur<br />

Expansion des Sowjetregimes und <strong>der</strong> Gründung von +befreundeten*, tatsächlich aber politisch<br />

wie ökonomisch abhängigen +Volksrepubliken*, <strong>der</strong>en politisches System, wie <strong>der</strong> Stal<strong>in</strong>ismus<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion, mit orig<strong>in</strong>ärem Sozialismus jedoch wenig geme<strong>in</strong> hatte, son<strong>der</strong>n die Form<br />

e<strong>in</strong>er autoritären Diktatur <strong>der</strong> Partei-Nomenklatura aufwies. 116<br />

In den meisten westlichen Staaten war die Position sozialistisch-kommunistischer Parteien<br />

nach dem Krieg ausgesprochen schwach (am ehesten konnten sie sich <strong>in</strong> den romanischen<br />

117<br />

Län<strong>der</strong>n behaupten). Auf Betreiben des republikanischen Senators McCarthy gab es <strong>in</strong>


44 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

den USA sogar e<strong>in</strong>e regelrechte Kommunisten-Verfolgung, und <strong>in</strong> Westdeutschland wurde<br />

die KPD 1956 wegen angeblicher Verfassungsfe<strong>in</strong>dlichkeit verboten. Es war die vom Ost-West-<br />

Gegensatz geprägte Ära des Kalten Kriegs. Mit <strong>der</strong> Öffnungspolitik Gorbatschows ab 1986<br />

wurde dieser Gegensatz immer weniger spürbar. Seit dem Fall <strong>der</strong> deutsch-deutschen +Mauer*<br />

1989 kann man tatsächlich vom Ende dieses lange Zeit die <strong>in</strong>ternationale <strong>Politik</strong> strukturierenden<br />

Konflikts sprechen. Gleichzeitig sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Sozialismus als Alternative zum liberalen Kapitalismus<br />

obsolet geworden zu se<strong>in</strong> – e<strong>in</strong>e Tatsache die Francis Fukuyama vorschnell vom +Ende <strong>der</strong><br />

Geschichte* sprechen ließ (siehe auch Anmerkung 104, Prolog).<br />

LIBERALISMUS<br />

Versteht man das 19. Jahrhun<strong>der</strong>t als Epoche des Bürgertums, se<strong>in</strong>er Emanzipation und politi-<br />

118<br />

schen +Machtergreifung*, so ist es auch das Jahrhun<strong>der</strong>t des Liberalismus. Denn <strong>der</strong> Libe-<br />

ralismus ist die dom<strong>in</strong>ante Ideologie und Bewegung des aufstrebenden Bildungs- und Besitz-<br />

119<br />

bürgertums. Inhaltlich gefaßt läßt sich dieser frühe Liberalismus im Wesentlichen auf zwei<br />

120<br />

Kernfor<strong>der</strong>ungen reduzieren: <strong>in</strong>dividuelle Freiheit und Schutz des Eigentums. Entsprechend<br />

dieser zwei Kernfor<strong>der</strong>ungen kann man nun zwischen politischem Liberalismus und ökono-<br />

mischem Liberalismus unterscheiden, auch wenn beide Aspekte tatsächlich Hand <strong>in</strong> Hand<br />

g<strong>in</strong>gen und man mit solchen Vere<strong>in</strong>fachungen historischer +Realität* natürlich nie gerecht<br />

wird.<br />

Der politische Liberalismus, <strong>der</strong> <strong>in</strong> weiten Teilen mit <strong>der</strong> Demokratiebewegung zusammenfällt,<br />

wurzelt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie <strong>der</strong> Aufklärung, und als wichtigster Denker <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

kann, wie bereits angemerkt, John Locke gelten. Vor allem das Pr<strong>in</strong>zip verfassungsmäßig ver-<br />

ankerter und staatlich garantierter Grundrechte, das den Bürger vor (politisch-staatlicher) Willkür<br />

schützen soll und geradezu e<strong>in</strong> konstitutives Element liberaler For<strong>der</strong>ungen darstellt, geht<br />

auf ihn zurück (siehe S. 26f.). Die heute <strong>in</strong> liberalen Demokratien gewährleisteten Grundrechte<br />

lassen sich <strong>in</strong> Anlehnung an Thomas Marshall <strong>in</strong> drei, auch historisch abgrenzbare Gruppen<br />

bzw. Kategorien e<strong>in</strong>teilen: Zunächst wurden im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t die bürgerlichen (Abwehr-)Rechte<br />

gegenüber dem Staat erstritten. Im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t konnten dann demokratische bzw. politische<br />

(Mitwirkungs-)Rechte errungen werden. Soziale (Anspruchs-)Rechte wurden erst im Rahmen<br />

des Wohlfahrtsstaats des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts weitgehend verwirklicht. (Vgl. Staatsbürgerrechte<br />

und soziale Klassen; S. 42f.) 121


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 45<br />

Das demokratische Element des politischen Liberalismus ist, nachdem es se<strong>in</strong>e Grundlegung<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aufklärungsphilosophie erhalten hatte, also erst im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t bzw. dem späten<br />

18. Jahrhun<strong>der</strong>t tatsächlich zum Durchbruch gelangt – und dies auch nur <strong>in</strong> +fortschrittlichen*<br />

Staaten wie England o<strong>der</strong> Frankreich sowie natürlich <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten. Alexis de<br />

Tocqueville (1805–59) g<strong>in</strong>g allerd<strong>in</strong>gs nach se<strong>in</strong>er Analyse <strong>der</strong> amerikanischen Verhältnisse<br />

davon aus, daß das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> politischen Gleichheit sich unaufhaltsam und überall durchsetzen<br />

würde, stand dem Prozeß <strong>der</strong> Demokratisierung aus se<strong>in</strong>er aristokratischen Perspektive aber<br />

durchaus distanziert gegenüber und sprach von <strong>der</strong> Gefahr e<strong>in</strong>er +Tyrannis <strong>der</strong> Mehrheit*<br />

(vgl. Über die Demokratie <strong>in</strong> Amerika; Teil II, Kap. 7).<br />

Deutschland hatte mit <strong>der</strong> gescheiterten +Revolution* von 1848 den Anschluß an diese von<br />

Tocqueville prognostizierte Entwicklung für lange Zeit verpaßt. Es ist deshalb auch kaum ver-<br />

wun<strong>der</strong>lich, daß <strong>der</strong> politisch-demokratische Liberalismus des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts se<strong>in</strong>e prägnanteste<br />

theoretische Ausformulierung nicht durch e<strong>in</strong>en deutschen Denker, son<strong>der</strong>n den Briten John<br />

Stuart Mill (1806–73) fand. E<strong>in</strong>e zentral Position nimmt dabei die For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>er repräsen-<br />

122<br />

tativen Volksvertretung e<strong>in</strong>, die die legislativen Kompetenzen <strong>in</strong>ne hat. Denn <strong>der</strong> gewalten-<br />

teilige bürgerliche Staat ist als +Rechtsstaat* durch e<strong>in</strong>e allseitige Verrechtlichung <strong>der</strong> Verhältnisse<br />

gekennzeichnet, was auch kalkulierbare Rahmenbed<strong>in</strong>gungen für die ökonomische Entfaltung<br />

sicherstellen sollte. Die For<strong>der</strong>ung nach sozialer Grundsicherung taucht im liberalen Kontext<br />

erst relativ spät auf und ist typisch für e<strong>in</strong>en +neuen Liberalismus*, wie ihn z.B. Ralf Dahrendorf<br />

vertritt:<br />

+Liberale haben es nicht immer leicht gefunden, den Wohlfahrtsstaat zu akzeptieren. Während Staatsbür-<br />

gerrechte e<strong>in</strong> traditionelles und zentrales Thema liberaler Programmatik waren, haben viele ihr Interesse<br />

auf die juristischen und politischen Aspekte solcher Rechte beschränkt […] Formale Chancengleichheit<br />

muß geschaffen werden […], aber dann müssen die Staatsbürger selbst ihren Weg gehen […] Nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg ist die Begrenztheit dieser Vorstellung fast allen bewußt geworden […] Die<br />

Möglichkeit <strong>der</strong> Teilnahme kann nur realisiert werden durch e<strong>in</strong>e Sozialpolitik, die Menschen befähigt,<br />

das Versprechen <strong>der</strong> Staatsbürgerschaft e<strong>in</strong>zulösen.* (Fragmente e<strong>in</strong>es neuen Liberalismus; S. 138)<br />

Der so verstandene +neue Liberalismus* Dahrendorfs hat natürlich denkbar wenig mit dem<br />

aktuellen Neoliberalismus geme<strong>in</strong>, <strong>der</strong> die Vorstellungen des ökonomischen Liberalismus<br />

123<br />

weitgehend auf das Feld <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> überträgt. Was aber s<strong>in</strong>d die Grundpr<strong>in</strong>zipien des<br />

ökonomischen Liberalismus und welche Schlußfolgerungen ergeben sich daraus für den (neo)-


46 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

liberalen <strong>Politik</strong>begriff? – Zunächst e<strong>in</strong>mal ist festzustellen, daß im ökonomischen Liberalismus<br />

<strong>der</strong> abstrakte, d.h. <strong>der</strong> kalkulierbare Nutzen zum alles entscheidenden Maßstab erhoben wird,<br />

<strong>der</strong> sich im bürgerlichen Eigennutz, im +volonté particulier* des politisch bestimmend gewordenen<br />

Bourgeois jedoch ganz handfest manifestiert. Wichtiger Ausgangspunkt für diese besitz<strong>in</strong>di-<br />

vidualistische Verengung ist die utilitaristische Philosophie Jeremy Benthams (1748–1832),<br />

<strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>er Formel +the greatest happ<strong>in</strong>ess of the greatest number* das (übergroße) Glück<br />

124<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fach mit dem Leid <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en verrechnete. Auf die Fragwürdigkeit dieser<br />

Sichtweise hat <strong>in</strong> neuerer Zeit <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e John Rawls im Rahmen se<strong>in</strong>er +Theorie <strong>der</strong> Gerech-<br />

tigkeit* h<strong>in</strong>gewiesen (vgl. dort Kap. 5) – aber auch Mill hatte bereits das utilitaristische Pr<strong>in</strong>zip<br />

dah<strong>in</strong>gehend ergänzt, daß er klarstellte, daß nicht die re<strong>in</strong> quantitative und <strong>in</strong>dividuelle Nutzen-<br />

maximierung Maßstab des Glücks se<strong>in</strong> könne, son<strong>der</strong>n auch qualitative Aspekte sowie das<br />

allgeme<strong>in</strong>e gesellschaftliche Wohl e<strong>in</strong>e Rolle spielen (vgl. Utilitarism; S. 11).<br />

Solche Überlegungen liegen freilich dem ökonomischen Liberalismus eher fern, <strong>der</strong> gerade<br />

dadurch aber auch e<strong>in</strong>e politische Aussage trifft. Als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wichtigsten Denker des öko-<br />

nomischen Liberalismus und Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> klassischen Nationalökonomie kann Adam Smith<br />

125<br />

(1723–90) gelten (siehe auch S. XXIII). Dieser war <strong>der</strong> Ansicht, daß das gesellschaftliche<br />

Wohl sich aus dem freien Spiel <strong>der</strong> Kräfte geradezu zwangsläufig ergeben würde:<br />

+Wenn […] je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne soviel wie nur möglich danach trachtet, se<strong>in</strong> Kapital […] e<strong>in</strong>zusetzen […],<br />

dann bemüht sich auch je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne ganz zwangsläufig darum, daß das Volkse<strong>in</strong>kommen […] so<br />

groß wie möglich werden kann […] Und er wird <strong>in</strong> diesem wie auch <strong>in</strong> vielen an<strong>der</strong>en Fällen von<br />

e<strong>in</strong>er unsichtbaren Hand geleitet, um e<strong>in</strong>en Zweck zu för<strong>der</strong>n, den zu erfüllen er <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise<br />

beabsichtigt hat.* (Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen; S. 371)<br />

Trotz dieser naiven Sicht muß man zugestehen, daß Smith, <strong>in</strong>dem er die Grundlage des natio-<br />

nalen Wohlstands <strong>in</strong> <strong>der</strong> menschlichen Arbeit sah (vgl. ebd. S. 3), die re<strong>in</strong> +monetaristische*<br />

126<br />

Wirtschaftstheorie des Merkantilismus überwunden hat. Zudem betont er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er +Theory<br />

of Moral Sentiments* die Wichtigkeit des empathischen sich H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzens die Lage des<br />

an<strong>der</strong>en, stellt also dem <strong>in</strong>dividualistischen Konkurrenzdenken auch e<strong>in</strong> solidarisches Pr<strong>in</strong>zip<br />

entgegen. Nachfolgende bürgerliche Ökonomen wie David Ricardo (1772–1823) konzentrierten<br />

sich an<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> Moralphilosoph Smith allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>zig auf die Sphäre <strong>der</strong> Wirtschaft. 127<br />

Der <strong>Politik</strong> kommt im Rahmen dieses Denkens alle<strong>in</strong>e die Rolle zu, günstige Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

für die Ökonomie zu schaffen. E<strong>in</strong>e staatliche E<strong>in</strong>mischung bzw. Steuerung (wie sie später


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 47<br />

128<br />

John Maynard Keynes for<strong>der</strong>te), ersche<strong>in</strong>t kontraproduktiv. Die Bereiche Ökonomie und<br />

<strong>Politik</strong> werden als streng getrennt vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gedacht. Doch das h<strong>in</strong><strong>der</strong>te neoliberale Denker<br />

nicht, die ökonomische Konkurrenzlogik auf die <strong>Politik</strong> zu übertragen. So geht z.B. Joseph<br />

Schumpeter von e<strong>in</strong>em Marktmodell <strong>der</strong> Demokratie aus, das durch die Konkurrenz um<br />

Wählerstimmen e<strong>in</strong> optimales politisches Funktionieren sicherstellen soll (siehe unten).<br />

1.4 DAS POLITISCHE CREDO DES +MODERNEN* NATIONALSTAATS<br />

Das politische Credo des +mo<strong>der</strong>nen* Nationalstaats entspr<strong>in</strong>gt zum großen Teil liberalem<br />

129<br />

Denken. Das Konzept des Nationalstaats selbst verkörpert gewissermaßen sogar die materiale<br />

Verknüpfungsstelle zwischen politischem und ökonomischem Liberalismus. Denn <strong>der</strong> National-<br />

staat war <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit das Instrument, mit dem das Bürgertum se<strong>in</strong>e ökonomisch-<br />

politischen Interessen durchsetzte. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige Sichtweise wi<strong>der</strong>spricht natürlich <strong>der</strong> gängigen<br />

nationalistischen Ideologie, die behauptet, Nationen hätten e<strong>in</strong>e gleichsam +natürliche* Basis<br />

– sei es nun <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er sprachlich-kulturellen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er ethnischen Identität ihrer Zuge-<br />

hörigen. Die Schriften von Her<strong>der</strong>, Fichte und Mazz<strong>in</strong>i bieten für diese nationalistische Fiktion<br />

130<br />

reiches Anschauungsmaterial. Allerd<strong>in</strong>gs wurden <strong>der</strong>en Argumente auch von bürgerlicher<br />

131<br />

Seite bereits im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t – so z.B. durch Ernest Renan – <strong>in</strong> Frage gestellt. In <strong>der</strong><br />

aktuellen Literatur wird schließlich nahezu e<strong>in</strong>hellig <strong>der</strong> Konstruktcharakter des Nationalen<br />

herausgestellt, und mit Ernest Gellner läßt sich sagen: +Es ist <strong>der</strong> Nationalismus, <strong>der</strong> die Nationen<br />

hervorbr<strong>in</strong>gt, und nicht umgekehrt.* (Nationalismus und Mo<strong>der</strong>ne; S. 87)<br />

Der Nationalismus wie<strong>der</strong>um ist e<strong>in</strong> unzweifelhaft mo<strong>der</strong>nes Phänomen, und für Gellner<br />

stehen die nationalistischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts im klaren Zusammenhang<br />

132<br />

mit <strong>der</strong> Transformation <strong>der</strong> feudalen Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft. Im Zuge<br />

des ausgelösten sozio-ökonomischen Wandels wurde e<strong>in</strong>e politische Neuorientierung möglich,<br />

die e<strong>in</strong>erseits den sprachlich-kulturellen Grenzen Rechnung trug und – durch die behauptete<br />

nationale Geme<strong>in</strong>schaft – gleichzeitig soziale Entropie verh<strong>in</strong><strong>der</strong>te.<br />

Ganz ähnlich argumentiert Eric Hobsbawm: Er geht davon aus, daß im Rahmen des nationalisti-<br />

schen Projekts auf vor- bzw. protonationalen B<strong>in</strong>dungen aufgebaut werden konnte, wie sie<br />

133<br />

durch Religion o<strong>der</strong> Sprache <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat bereitgestellt wurden. Entscheidend ist jedoch,<br />

daß man diese benutzte, um e<strong>in</strong> nicht vorhandenes nationales Bewußtse<strong>in</strong> erst zu schaffen,


48 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

das dann als legitimatorische Grundlage <strong>der</strong> Aufrechterhaltung bzw. Etablierung politischer<br />

Herrschaft (durch alte und neue Eliten) dienen konnte. Dabei spielten ökonomische Interessen<br />

natürlich e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, die immer mehr im nationalen Kontext verfolgt wurden:<br />

+So o<strong>der</strong> so bedeutete ›Nation‹ e<strong>in</strong>e Wirtschaft <strong>in</strong>nerhalb nationaler Grenzen und <strong>der</strong>en systematische<br />

För<strong>der</strong>ung durch den Staat, und das hieß im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t nichts an<strong>der</strong>es als Protektionismus.*<br />

(Nationen und Nationalismus; S. 41)<br />

Obwohl hier deutliche Kritik durchkl<strong>in</strong>gt, sieht Hobsbawm den Nationalismus des 19. Jahr-<br />

hun<strong>der</strong>ts <strong>in</strong>sgesamt eher positiv, da dieser letztendlich für Demokratisierung und Befreiung<br />

stand. E<strong>in</strong> zukunftsweisendes Modell will er allerd<strong>in</strong>gs im Nationalismus nicht mehr erkennen<br />

– trotz <strong>der</strong> gegenwärtig feststellbaren Tendenz e<strong>in</strong>er Wie<strong>der</strong>belebung des nationalistischen<br />

Pr<strong>in</strong>zips. Denn als bloßer Ethnonationalismus, dem e<strong>in</strong>seitigen Rekurs auf ethnische Zugehörigkei-<br />

ten und traditionelle Religion, hat <strong>der</strong> Nationalismus des ausgehenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts se<strong>in</strong>e<br />

emanzipatorische Komponente, die er auch als antikolonialer Entwicklungsnationalismus im<br />

Rahmen des Dekolonisierungsprozesses noch besessen hatte, vollständig e<strong>in</strong>gebüßt. 134<br />

Egal aber ob <strong>der</strong> aktuelle Ethnonationalismus und die Tendenz zur For<strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>es +eigenen*<br />

Nationalstaats auch von kle<strong>in</strong>sten (ethnischen) Splittergruppen e<strong>in</strong>em nun als historisch fort-<br />

o<strong>der</strong> rückschrittlich ersche<strong>in</strong>t – <strong>der</strong> Nationalstaat ist <strong>der</strong>zeit (noch) die bestimmende politische<br />

Größe des Weltsystems, was sich <strong>in</strong> Welt-Organisationen wie den +Vere<strong>in</strong>ten Nationen* nur<br />

135<br />

allzu deutlich zeigt. +Die Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Nation* (An<strong>der</strong>son), die mit großer +Kreativität* im<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>t vorangetrieben wurde, hat also unleugbar historische und soziale Tatsachen<br />

geschaffen: Wir leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt <strong>der</strong> Nationen und die Welt <strong>der</strong> Nationen lebt <strong>in</strong> uns.<br />

136<br />

Die nur +vorgestellten (nationalen) Geme<strong>in</strong>schaften* s<strong>in</strong>d zur Realität geworden und erschufen<br />

e<strong>in</strong> +stahlhartes Gehäuse <strong>der</strong> Zugehörigkeit* (Nassehi).<br />

Schon für Max Weber war <strong>Politik</strong> deshalb nur mehr im (national)staatlichen Rahmen denkbar,<br />

und er def<strong>in</strong>iert diese als +die Leitung e<strong>in</strong>es politischen Verbandes, heute also: e<strong>in</strong>es Staates*<br />

(<strong>Politik</strong> als Beruf; S. 5). Da er den Staat aber als +Herrschaftsverhältnis von Menschen über<br />

Menschen* betrachtet (ebd.; S. 7f.), gehört für ihn zur <strong>Politik</strong> damit auch das +Streben nach<br />

Machtanteil o<strong>der</strong> Bee<strong>in</strong>flussung <strong>der</strong> Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es <strong>in</strong>nerhalb<br />

137<br />

e<strong>in</strong>es Staates zwischen Menschengruppen, die er umschließt* (ebd.; S. 7). Weber lieferte<br />

damit e<strong>in</strong>e +realistische*, den historischen Verhältnissen entsprechende und vielfach aufgegriffene


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 49<br />

Def<strong>in</strong>ition. Gleichzeitig betonte er jedoch die Notwendigkeit e<strong>in</strong>es verantwortungsethischen<br />

Handelns <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er. 138<br />

E<strong>in</strong>e ähnliche Verb<strong>in</strong>dung zwischen Verantwortungsethik und e<strong>in</strong>em auf Pluralismus und <strong>der</strong><br />

Konkurrenz <strong>der</strong> politischen Eliten aufgebauten <strong>Politik</strong>verständnis f<strong>in</strong>det sich bei Ralph Dahrendorf.<br />

In den 60er Jahren hat er <strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit den damals im Vergleich zu an<strong>der</strong>en<br />

westlichen Demokratien defizitären politischen Verhältnissen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik vier Grundbe-<br />

d<strong>in</strong>gungen liberaler Demokratie aufgelistet, die man als treffende Ausflüsse des aktuellen Selbst-<br />

verständnisses <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft bzw. des bürgerlichen Verfassungsstaates betrachten<br />

kann:<br />

• Erstens betont Dahrendorf (unter Berufung auf Marshall) die Notwendigkeit <strong>der</strong> Gewähr-<br />

leistung von staatsbürgerlicher Gleichheit auf <strong>der</strong> Grundlage bürgerlicher, politischer und<br />

sozialer Grundrechte, da nur so die Möglichkeit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Teilhabe (Partizipation)<br />

am gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben gewährleistet ist (vgl. Gesellschaft<br />

und Demokratie <strong>in</strong> Deutschland; S. 40 u. 79–82).<br />

• Zum Zweiten soll e<strong>in</strong>e ver<strong>in</strong>nerlichte Konfliktkultur und e<strong>in</strong> geeignetes <strong>in</strong>stitutionelles System<br />

für e<strong>in</strong>e rationale Konfliktaustragung sorgen, da so gesellschaftlicher Wandel ermöglicht<br />

wird, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Fortschritt mündet (vgl. ebd.; S. 41, 171–175 u. 207).<br />

• Drittens muß die Vielfalt <strong>der</strong> gesellschaftlichen Interessen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Konkurrenz <strong>der</strong> Eliten<br />

gespiegelt werden (vgl. ebd.; S. 41).<br />

• Und schließlich sollen die e<strong>in</strong>zelnen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft nicht ausschließlich an<br />

ihren privaten Interessen, son<strong>der</strong>n auch am Geme<strong>in</strong>wohl, an sog. +öffentlichen Tugenden*,<br />

orientiert se<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 41 u. S. 327ff.).<br />

Wolfgang Zapf hat auf diesen Vorstellungen Dahrendorfs aufgebaut und nennt Konkurrenzde-<br />

mokratie, Marktwirtschaft, Massenkonsum und Wohlfahrtsstaat als die wesentlichen Grund-<br />

<strong>in</strong>stitutionen mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften (vgl. Entwicklung und Sozialstruktur mo<strong>der</strong>ner Gesell-<br />

schaften; S. 185f. und siehe auch S. XXXIX). Er verb<strong>in</strong>det damit das Modell <strong>der</strong> (sozialen)<br />

Marktwirtschaft mit dem +Wettbewerbsmodell* <strong>der</strong> Demokratie Joseph Schumpeters.<br />

Schumpeter, auf den bereits im vorangegangenen Abschnitt kurz Bezug genommen wurde,<br />

verkörpert wie kaum e<strong>in</strong> Zweiter den politischen +Geist* e<strong>in</strong>es re<strong>in</strong> repräsentativen Demokratie-<br />

verständnisses, wie es <strong>der</strong>zeit – nach dem Zusammenbruch <strong>der</strong> sozialistischen Staatenwelt


50 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

– nicht nur <strong>in</strong> westlichen Demokratien dom<strong>in</strong>iert. Die zentrale Schwäche des auf Rousseau<br />

zurückgehenden klassischen Modells (siehe S. 28) besteht für ihn dar<strong>in</strong>, daß <strong>der</strong> Wählerschaft<br />

dort direkt die Macht des politischen Entscheidens zukommt und die Wahl <strong>der</strong> Repräsentanten<br />

diesem +Hauptzweck* nachgeordnet ist. Schumpeter glaubt alle angeblichen Probleme des<br />

klassischen Modells lösen zu können, <strong>in</strong>dem er das Verhältnis umkehrt:<br />

+O<strong>der</strong> um es an<strong>der</strong>s auszudrücken: wir nehmen nun den Standpunkt e<strong>in</strong>, daß die Rolle des Volkes<br />

dar<strong>in</strong> besteht, e<strong>in</strong>e Regierung hervorzubr<strong>in</strong>gen o<strong>der</strong> sonst e<strong>in</strong>e dazwischenliegende Körperschaft, die<br />

ihrerseits e<strong>in</strong>e nationale Exekutive o<strong>der</strong> Regierung hervorbr<strong>in</strong>gt.* (S. 427)<br />

Deshalb formuliert er:<br />

+[…] die demokratische Methode ist diejenige Ordnung <strong>der</strong> Institutionen zur Erreichung politischer<br />

Entscheide, bei welcher e<strong>in</strong>zelne die Entscheidungsbefugnis vermittels e<strong>in</strong>es Konkurrenzkampfs um<br />

die Stimmen des Volkes erwerben.* (S. 428)<br />

Die Vorteile dieser Demokratiedef<strong>in</strong>ition liegen für Schumpeter zum e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> ihrer praktischen<br />

Tauglichkeit, e<strong>in</strong> exaktes Kriterium zur Unterscheidung zwischen demokratischen und nicht-<br />

demokratischen (d.h. für ihn: sozialistischen) Systemen bereitzustellen. Daneben bietet sie<br />

+allen wünschbaren Raum für e<strong>in</strong>e angemessene Anerkennung <strong>der</strong> lebenswichtigen Tatsache<br />

<strong>der</strong> Führung* (ebd.; S. 429), sichert aber gleichzeitig e<strong>in</strong> ausreichendes e<strong>in</strong> Maß an Freiheit.<br />

Nur: Das Volk spielt im Rahmen dieses auf e<strong>in</strong>e bloße Methode reduzierten Demokratiever-<br />

ständnisses ke<strong>in</strong>e Rolle mehr im politischen Prozeß, denn +Wähler entscheiden ke<strong>in</strong>e politischen<br />

Streitfragen* (ebd.; S. 449). Das ist sicher e<strong>in</strong>e +extreme* Aussage, und kaum e<strong>in</strong> heutigere<br />

139<br />

<strong>Politik</strong>er würde wohl wagen, sie sich (öffentlich) zu eigen zu machen. Aber sie liegt konsequent<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> (durchaus h<strong>in</strong>terfragbaren) Logik des Gedankens politischer Repräsentation <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Massendemokratien. Die Sphäre <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wird damit nicht nur als getrennt von Gesellschaft<br />

im allgeme<strong>in</strong>en betrachtet, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e zweite, ebenso folgenreiche Dimension <strong>der</strong> Trennung<br />

kommt h<strong>in</strong>zu: Die Trennung zwischen Akteur und Publikum, die Ausdifferenzierung von spezifi-<br />

schen Leistungs- und Publikumsrollen (vgl. hierzu Luhmann: Soziologie des politischen Systems;<br />

S. 163ff. sowie problematisierend Habermas: Faktizität und Geltung; S. 440ff.).<br />

Die spezifische Leistungsrolle <strong>der</strong> politischen (Teil-)Elite besteht gemäß dem vorherrschenden<br />

Verständnis dar<strong>in</strong>, allgeme<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>dliche Entscheidungen zu treffen beziehungsweise herbei-


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 51<br />

zuführen und damit e<strong>in</strong>e für das Geme<strong>in</strong>wesen wichtige Steuerungs- und Selektionsfunktion<br />

zu übernehmen – o<strong>der</strong> wie Parsons bezüglich <strong>der</strong> gesellschaftlichen Funktion des politischen<br />

Subsystems bemerkt:<br />

+The ›product‹ of the polity as a system is power, which I would like to def<strong>in</strong>e as the generalized capacity<br />

of a social system to get th<strong>in</strong>gs done <strong>in</strong> the <strong>in</strong>terest of collective goals.* (Structure and Process <strong>in</strong> Mo<strong>der</strong>n<br />

Societies; S. 181)<br />

Auch bei Parsons, dessen Systemtheorie die Trennung von <strong>Politik</strong> und ihrem gesellschaftlichen<br />

Rahmen theoretisch spiegelt, wird das Politische also – wenn er (ganz explizit) von Macht<br />

als Produkt des politischen Subsystems spricht – <strong>in</strong> Anlehnung an die Term<strong>in</strong>ologie und Logik<br />

140<br />

des Ökonomischen (Subsystems) beschrieben. Diese reduktionistische Übertragung öko-<br />

nomischer Zweckrationalität auf die <strong>Politik</strong> sche<strong>in</strong>t tatsächlich jedoch vor allem e<strong>in</strong>es zu pro-<br />

duzieren: Unzufriedenheit. Das Phänomen <strong>der</strong> sog. +neuen sozialen Bewegungen* (Bürger-<br />

<strong>in</strong>itiativen, Friedensbewegung, ökologische Bewegung etc.) und die zunehmende Bedeutung<br />

<strong>der</strong> NGOs (<strong>der</strong> +non-govermental*, also nicht-staatlichen, darüber h<strong>in</strong>aus aber eben auch<br />

zumeist nicht-kommerziell orientierten politischen Organisationen) <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen <strong>Politik</strong>,<br />

vermag dies zu belegen. Der Horizont e<strong>in</strong>es +postmo<strong>der</strong>nen* <strong>Politik</strong>verständnisses (siehe unten)<br />

muß deshalb den engen Rahmen des (National-)Staatlichen wie des liberalen Marktmodells<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> sprengen, um zu e<strong>in</strong>er politischen Neubestimmung zu gelangen.<br />

1.5 HORIZONT EINES +POSTMODERNEN* VERSTÄNDNISSES VON POLITIK<br />

Die +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*, auf <strong>der</strong>en unterschiedliche Konzeptionalisierungen sowie begriffliche<br />

Problematik <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung ausführlich e<strong>in</strong>gegangen wurde und die me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<br />

am treffendsten als radikalisierte, wi<strong>der</strong>sprüchlich gewordene Mo<strong>der</strong>ne charakterisiert werden<br />

kann, hat e<strong>in</strong> auf verschiedenen Ebenen verän<strong>der</strong>tes Verständnis von <strong>Politik</strong> hervorgebracht.<br />

Dieses reflektiert stattgefundene strukturelle Transformationen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft,<br />

wird aber auch selbst zum Motor des Wandels. Sollen deshalb, wie hier beabsichtigt, die<br />

aktuellen Ant<strong>in</strong>omien und Probleme <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> als <strong>in</strong>stitutionellem (Teil-)System <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

(besser) verstanden werden, muß jenem verän<strong>der</strong>ten politischen Bewußtse<strong>in</strong> Rechnung getragen<br />

werden.


52 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

In <strong>der</strong> Überschrift zu diesem Abschnitt ist nun vielleicht etwas hochtrabend vom +Horizont*<br />

e<strong>in</strong>es postmo<strong>der</strong>nen Verständnisses von <strong>Politik</strong> die Rede. Wodurch wird dieser Horizont<br />

umrissen? – Dazu läßt sich zunächst feststellen: Wer über die Mo<strong>der</strong>ne h<strong>in</strong>aus gehen will,<br />

muß ihren (verschlungenen, gewundenen, vielfach verzweigten) Weg nachgeschritten haben.<br />

Auch wenn die hier vorgenommene Epochene<strong>in</strong>teilung tatsächlich eher willkürlich und dem<br />

sublimen Drang nach Grenzziehungen und Unterscheidungen geschuldet ist, es nicht e<strong>in</strong>mal<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Neuzeit e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitliches Verständnis des Politischen gibt; und auch wenn es<br />

eigentlich also uns<strong>in</strong>nig ist, vom <strong>Politik</strong>begriff <strong>der</strong> Antike, des Mittelalters o<strong>der</strong> des Sozialismus<br />

zu sprechen – genau aus dem oben genannten Grund war es ke<strong>in</strong>e vergebliche Mühe, die<br />

Geschichte des <strong>Politik</strong>begriffs nachzuerzählen.<br />

Gewiß, Nebenströmungen wurden elim<strong>in</strong>iert, Kont<strong>in</strong>uitäten und Brüche wurden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Retro-<br />

spektive dieser Darstellung konstruiert. Aber es hat sich aus dem historischen Flickenteppich<br />

des theoretischen Diskurses genau jenes Bild ergeben, das sich <strong>in</strong> unseren Köpfen festgesetzt<br />

hat und uns selbst (o<strong>der</strong> vielmehr gerade) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Negation als Folie des Neuentwurfs dient.<br />

Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als Gegen- und Fortbewegung <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne kann alle<strong>in</strong>e deshalb<br />

niemals <strong>Post</strong>histoire se<strong>in</strong> und ihr geschichtliches Gewordense<strong>in</strong> überw<strong>in</strong>den, son<strong>der</strong>n sie betreibt<br />

vielmehr (bewußt) e<strong>in</strong>e eklektische ›tabula rasa‹. Dies gilt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für den postmo<strong>der</strong>nen<br />

Theoretiker par excellence: Jean-François Lyotard (siehe auch S. XLIXf.).<br />

Lyotard hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em philosophischen Hauptwerk +Der Wi<strong>der</strong>streit* (1983) e<strong>in</strong>e postmo<strong>der</strong>ne<br />

+Theorie <strong>der</strong> Gerechtigkeit* entworfen, die <strong>in</strong> diversen +Exkursen* immer wie<strong>der</strong> auf die<br />

politischen Denker <strong>der</strong> Vergangenheit – auf Platon und Aristoteles, auf Kant und Hegel etc.<br />

– Bezug nimmt. Der von Lyotard gewählte Titel kann dabei durchaus als programmatisch<br />

verstanden werden. An<strong>der</strong>s als etwa <strong>der</strong> deutsche Philosoph und Sozialwissenschaftler Jürgen<br />

Habermas, <strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>er +Theorie des kommunikativen Handelns* (1981) und se<strong>in</strong>er im Anschluß<br />

141<br />

an diese entwickelten +Diskursethik* die Möglichkeiten e<strong>in</strong>es sozialen Konsenses er- und<br />

142<br />

begründet (siehe auch S. XL), for<strong>der</strong>t Lyotard e<strong>in</strong>e Kultivierung des Dissens. Dieser ist nämlich<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache (als für ihn zentralem Medium des Sozialen) grundsätzlich unüberbrückbar<br />

und beruht auf <strong>der</strong> +Willkürlichkeit* des Sprechakts sowie <strong>der</strong> Pluralität <strong>der</strong> Diskursarten:<br />

Die Kont<strong>in</strong>genz <strong>der</strong> sprachlichen Artikulation erzeugt zwangsläufig +Ungerechtigkeit*, denn<br />

<strong>in</strong>dem man sich z.B. auf e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> vielen denkbaren Möglichkeit zur Weiterführung e<strong>in</strong>es<br />

Satzes festlegen muß, werden Alternativen (auch wenn man versucht, dem Dilemma durch


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 53<br />

Schweigen zu entgehen) elim<strong>in</strong>iert (vgl. Der Wi<strong>der</strong>streit; S. 58 [Nr. 40]). Zudem stehen die<br />

Diskursarten nicht gleichberechtigt nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, was im Fall von Interessengegensätzen<br />

zu dem führt, was Lyotard eben den +Wi<strong>der</strong>streit* (le différend) nennt:<br />

+Zwischen zwei Parteien entsp<strong>in</strong>nt sich e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>streit, wenn sich die ›Beilegung‹ des Konflikts, <strong>der</strong><br />

sie mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> konfrontiert, im Idiom […] <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en vollzieht, während das Unrecht, das die an<strong>der</strong>e<br />

erleidet, <strong>in</strong> diesem Idiom nicht figuriert. So verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n [beispielsweise] die Verträge und Abkommen<br />

zwischen Wirtschaftspartnern nicht etwa, son<strong>der</strong>n setzen im Gegenteil voraus, daß <strong>der</strong> Arbeitnehmer<br />

o<strong>der</strong> dessen Vertreter von se<strong>in</strong>er Arbeit als e<strong>in</strong>er zeitweiligen Abtretung e<strong>in</strong>er Ware, <strong>der</strong>en Eigentümer<br />

er ist, sprechen mußte o<strong>der</strong> wird sprechen müssen. Diese ›Abstraktion‹, wie Marx sie nennt […], wird<br />

von dem Idiom gefor<strong>der</strong>t, <strong>in</strong> dem <strong>der</strong> Rechtsstreit beigelegt wird (dem ›bürgerlichen‹ Wirtschafts-<br />

und Sozialrecht). Wenn er [<strong>der</strong> Arbeiter] sich dessen nicht bedient, kann er <strong>in</strong>nerhalb des Geltungsbereichs<br />

dieses Idioms nicht bestehen und ist e<strong>in</strong> Sklave. Indem er es gebraucht, wird er zum Kläger. Hört<br />

er deshalb auf, Opfer zu se<strong>in</strong>?* (Ebd.; S. 27 [Nr. 12])<br />

Lyotard verne<strong>in</strong>t diese Frage:<br />

+Während er zum Kläger wird, bleibt er Opfer. Besitzt er [aber] die Mittel nachzuweisen, daß er Opfer<br />

ist? Ne<strong>in</strong> […] Das Wirtschafts- und Sozialrecht kann zwar den Rechtsstreit zwischen den Wirt-<br />

schaftspartnern schlichten, nicht aber den Wi<strong>der</strong>streit zwischen Arbeit und Kapital […] Der Kläger<br />

wird angehört, das Opfer aber – und vielleicht s<strong>in</strong>d sie identisch – wird zum Schweigen gebracht.*<br />

(Ebd.; S. 28 [Nr. 13])<br />

Die Konsequenz, die Lyotard aus dieser Erkenntnis zieht, ist e<strong>in</strong>e Konzeption <strong>der</strong> Gerechtigkeit,<br />

die auf <strong>der</strong> Anerkennung <strong>der</strong> Pluralität <strong>der</strong> Diskursarten beruht. Ansonsten droht <strong>der</strong> +Terror*<br />

e<strong>in</strong>es Metadiskurses, wie z.B. im jakob<strong>in</strong>ischen System Robbespieres (vgl. ebd.; S. 176f. [Nr.<br />

143<br />

159]). Das wirft allerd<strong>in</strong>gs ethische Probleme auf: Auch nach Lyotard bergen die verschiedenen<br />

Diskursarten zwar immanente Zwecke <strong>in</strong> sich, die die Individuen auf diese Zwecke verpflichten,<br />

<strong>in</strong>dem sie sich auf den Diskurs e<strong>in</strong>lassen, können gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> aber ke<strong>in</strong>e solche Verpflichtung<br />

begründen, so daß allgeme<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dliche ethische Pr<strong>in</strong>zipien ausgeschlossen s<strong>in</strong>d. Die Inkommen-<br />

surabilität <strong>der</strong> +Sprachspiele* führt so <strong>in</strong> e<strong>in</strong> ethisches Dilemma, das nur durch die Anerkennung<br />

<strong>der</strong> Heterogenität, durch das +Besagen* des Wi<strong>der</strong>streits gelöst werden kann. (Vgl. ebd.; S.<br />

198–230 [Nr. 175–189])<br />

Nun for<strong>der</strong>t zwar auch Habermas im Rahmen se<strong>in</strong>er Diskursethik e<strong>in</strong>e gegenseitige Anerkennung<br />

<strong>der</strong> Geltungsansprüche, doch sieht dieser eben dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Ansatz zur <strong>in</strong>tersubjektiven Ver-


54 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ständigung und damit zum (vernünftigen) Konsens. Gegen e<strong>in</strong>e solche Auffassung hat Lyotard<br />

allerd<strong>in</strong>gs bereits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Das postmo<strong>der</strong>ne Wissen* (1979) e<strong>in</strong>en gewichtigen +prak-<br />

tischen* E<strong>in</strong>wand geltend gemacht:<br />

+Der Konsens ist e<strong>in</strong> veralteter und suspekter Wert geworden, nicht aber die Gerechtigkeit. Man muß<br />

daher zu e<strong>in</strong>er Idee […] <strong>der</strong> Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsens gebunden ist.*<br />

(S. 190)<br />

Im se<strong>in</strong>em philosophischen Hauptwerk +Der Wi<strong>der</strong>streit* hat Lyotard versucht, e<strong>in</strong> <strong>Politik</strong>-Konzept<br />

auf dieser Basis zu entwickeln, und greift damit die Ausgangsfrage <strong>der</strong> klassischen, <strong>der</strong> antiken<br />

politischen Theorie wie<strong>der</strong> auf (siehe Abschnitt 1.1). Legitimation von Herrschaft, <strong>der</strong> sich<br />

die politischen Philosophen <strong>der</strong> Neuzeit primär widmeten (siehe Abschnitt 1.2), ersche<strong>in</strong>t<br />

ihm als Aufgabe und Ziel politischer Philosophie nicht nur fragwürdig, son<strong>der</strong>n zum Scheitern<br />

verdammt: 144<br />

+Die Autorität läßt sich nicht ableiten. Die Versuche zur Legitimation <strong>der</strong> Autorität führen <strong>in</strong> den<br />

Teufelskreis (ich habe die Macht über dich, weil du mich dazu autorisierst) […]* (S. 237 [Nr. 203])<br />

Was aber, wenn nicht Macht, macht nach Lyotard dann den Kern des Politischen aus? –<br />

Zunächst e<strong>in</strong>mal stellt er fest, daß <strong>Politik</strong> nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e spezielle o<strong>der</strong> gar den an<strong>der</strong>en<br />

übergeordnete Diskursart ist:<br />

+Wenn die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>e Diskursart wäre und den Anspruch auf diesen höchsten Status erhöbe, wäre<br />

ihre Nichtigkeit schnell aufgezeigt. Aber die <strong>Politik</strong> ist die Drohung des Wi<strong>der</strong>streits. Sie ist ke<strong>in</strong>e<br />

Diskursart, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>en Vielfalt, die Mannigfaltigkeit <strong>der</strong> Zwecke und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Frage nach<br />

<strong>der</strong> Verkettung.* (Ebd.; S. 230 [Nr. 190])<br />

Zu e<strong>in</strong>em politischen Bewußtse<strong>in</strong> gelangt man deshalb, +<strong>in</strong>dem man zeigt, daß die Verkettung<br />

von Sätzen problematisch und eben dieses Problem die <strong>Politik</strong> ist* (ebd.; S. 12). Wenn <strong>Politik</strong><br />

aber alle<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> Problem <strong>der</strong> Sprache, genauer: e<strong>in</strong> Problem <strong>der</strong> Verkettung von Sätzen ist,<br />

so ist diese (wie<strong>der</strong>um sprachliche) Bestimmung selbst hoch problematisch. Es erfolgt dadurch<br />

nämlich e<strong>in</strong>e Elim<strong>in</strong>ierung des Handlungsaspekts von <strong>Politik</strong>, dem von <strong>der</strong> Antike bis zu Marx<br />

und Weber stets größte Bedeutung zugemessen wurde. <strong>Politik</strong> war danach nämlich immer<br />

vor allem e<strong>in</strong>es: die aktive Gestaltung <strong>der</strong> sozial-politischen Ordnung. Will man diesen Anspruch


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 55<br />

nicht aufgeben, so muß allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e neue politische Handlungse<strong>in</strong>heit gefunden werden,<br />

wie Etzioni (siehe auch S. LXXV) schon 1968 treffend feststellte:<br />

+Genau wie <strong>der</strong> Übergang vom Mittelalter zur Mo<strong>der</strong>ne den Feudalherrn als Aktor zugunsten des<br />

Nationalstaats ablöste, erfor<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Übergang zum postmo<strong>der</strong>nen Zeitalter die Entwicklung e<strong>in</strong>er<br />

neuen Handlungse<strong>in</strong>heit.* (Die aktive Gesellschaft; S. 35)<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen wie zunehmende Globalisierung und Individualisierung stellen schließlich die<br />

klassischen politischen Institutionen immer mehr <strong>in</strong> Frage. Als Reaktion auf die auch bereits<br />

von Etzioni <strong>in</strong> ihren Ansätzen gesehenen Transformationsprozesse <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft,<br />

empfiehlt dieser e<strong>in</strong>en dynamischen Gesellschaftsvertrag, <strong>der</strong> sich den Wandlungen des Sozialen<br />

anzupassen vermag (vgl. ebd.; S. 38f.). Das von ihm im obigen Zitat formulierte Problem<br />

ist damit jedoch nicht gelöst. Denn die neuen Handlungse<strong>in</strong>heiten <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> lassen sich<br />

wohl kaum vertraglich def<strong>in</strong>ieren, und man wird zugleich e<strong>in</strong> erweitertes, entgrenztes <strong>Politik</strong>-<br />

verständnis zugrunde legen müssen, um den verän<strong>der</strong>ten Verhältnissen gerecht zu werden.<br />

In <strong>der</strong> aktuellen wissenschaftlichen Diskussion s<strong>in</strong>d <strong>der</strong>zeit vor allem zwei <strong>in</strong>teressante theore-<br />

tische Entwürfe, die hier (auch mit neuen <strong>Politik</strong>-Begriffen) ansetzen: Es handelt sich um Ulrich<br />

Becks Konzept <strong>der</strong> +Subpolitik* und die von Anthony Giddens vorgeschlagene Unterscheidung<br />

zwischen emanzipatorischer <strong>Politik</strong> und dem, was er +life politics* nennt.<br />

In se<strong>in</strong>em Buch +Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen* (1993) legt Beck noch e<strong>in</strong>mal ausführlich<br />

dar, was er schon 1986 <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* skizziert hatte: Ähnlich wie Schmitt (siehe<br />

S. 37), weist er hier darauf h<strong>in</strong>, daß die Gleichsetzung des Politischen mit dem Staatlichen<br />

unzulänglich ist – kommt aber freilich zu e<strong>in</strong>er ganz an<strong>der</strong>en, geradezu entgegengesetzten<br />

Bestimmung. <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft vollzieht sich nicht als antagonistischer<br />

Kampf zwischen klar def<strong>in</strong>ierten Freund-Fe<strong>in</strong>d-Formationen, sprengt das klassische Rechts-L<strong>in</strong>ks-<br />

Schema und manifestiert sich vielmehr als (eher diffuses) alltagspraktisches Engagement von<br />

Individuen und <strong>in</strong>formellen Gruppen, welche auf die <strong>in</strong> ihrer Wahrnehmung bedrohlichen<br />

Folgen <strong>der</strong> ungebremsten Mo<strong>der</strong>nisierung mit vielschichtigen neuen Formen <strong>der</strong> Solidarität<br />

(o<strong>der</strong> auch Gewalt) reagieren (vgl. Risikogesellschaft; S. 317ff. sowie Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen;<br />

S. 155ff.). Während auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Institutionen e<strong>in</strong>e allseitige Lähmung herrscht, wan<strong>der</strong>t<br />

<strong>Politik</strong> – d.h. <strong>der</strong> Wille das eigene und soziale Leben aktiv zu gestalten – aus dem Bereich<br />

des politischen (Sub-)Systems <strong>in</strong> die Subpolitik ab, die unterhalb <strong>der</strong> formellen Strukturen


56 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

(mit Habermas könnte man formulieren: im subversiven Untergrund <strong>der</strong> +Lebenswelt*) 145<br />

angesiedelt ist. Es kommt so zu e<strong>in</strong>er (Neu-)Erf<strong>in</strong>dung des Politischen:<br />

+Was im alten <strong>Politik</strong>verständnis als ›Konsensverlust‹, [als] ›unpolitischer Rückzug <strong>in</strong>s Private‹ […] ersche<strong>in</strong>t,<br />

kann […] das R<strong>in</strong>gen um e<strong>in</strong>e neue Dimension des Politischen se<strong>in</strong>.* (Ebd.; S. 159)<br />

Diese untergräbt die Fundamente des politischen Gebäudes, zielt auf Regelverän<strong>der</strong>ung ab<br />

(vgl. ebd.; S. 207). Deshalb läuft Subpolitik +zunächst auf e<strong>in</strong>e Erschwerung, Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

alter [d.h. regelanwenden<strong>der</strong>] <strong>Politik</strong> h<strong>in</strong>aus* (ebd.; S. 170). Sie öffnet aber gleichzeitig das<br />

Potential e<strong>in</strong>er +<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>*, schafft kreative Spielräume und zw<strong>in</strong>gt mitunter auch<br />

die etablierten Kräfte an den +Runden Tisch*, um neue politische Spielregeln auszuhandeln<br />

(vgl. ebd.; S. 189ff.). Subpolitisierung verkörpert also, wie man <strong>in</strong> Anlehnung an Foster formu-<br />

lieren könnte (siehe S. LXIIf.), die oppositionelle Seite <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Selbst wo Subpolitik<br />

aber eigentlich unpolitisch bleibt, nämlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Intimsphäre des eigenen<br />

Lebens, hat sie e<strong>in</strong>e politische Dimension. Denn das Private wirkt (durch die globalen Folgen<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Lebensstile) auf das öffentliche Leben zurück, wird politisch.<br />

In diesem Zusammenhang geht Beck auch auf Anthony Giddens e<strong>in</strong>, <strong>der</strong> 1991 <strong>in</strong> dem Band<br />

+Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity* ebenfalls das Auftauchen e<strong>in</strong>er neuen <strong>Politik</strong>-Form, <strong>der</strong> +life-politics*,<br />

konstatiert. Bevor er sich jedoch <strong>der</strong>en Charakteristika widmet, grenzt Giddens von ihr die<br />

emanzipatorische <strong>Politik</strong> ab, wie sie das Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne seit <strong>der</strong> Aufklärung prägte:<br />

+I def<strong>in</strong>e emancipatory politics as a generic outlook concerned above all with liberat<strong>in</strong>g <strong>in</strong>dividuals<br />

and groups from constra<strong>in</strong>ts which adversely affect their life chances […] Emancipatory politics is<br />

[therefore] concerned to reduce or elim<strong>in</strong>ate exploitation, <strong>in</strong>equality and oppression.* (S. 210f.)<br />

Emanzipatorische <strong>Politik</strong> verfolgt also primär e<strong>in</strong> negatives Ziel, erstrebt +Freiheit von* den<br />

Übeln <strong>der</strong> Ausbeutung, Ungleichheit und Unterdrückung. Die positive +Freiheit zu* wahrer<br />

Selbstverwirklichung und e<strong>in</strong>e +reflexive* Wie<strong>der</strong>entdeckung <strong>der</strong> politischen Moral bestimmen<br />

dagegen die Agenda <strong>der</strong> life politics (vgl. ebd.; S. 223f.) – <strong>der</strong> neuen Ersche<strong>in</strong>ung e<strong>in</strong>er lebens-<br />

(weltlichen) <strong>Politik</strong>, wie sie z.B. von <strong>der</strong> Frauen- o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Studentenbewegung <strong>in</strong> die öffentliche<br />

146<br />

Arena getragen wurde. Denn paradoxerweise strebt gerade das +gepe<strong>in</strong>igte* und von +Entwur-<br />

zelung* (disembedd<strong>in</strong>g) bedrohte Selbst <strong>der</strong> reflexiv gewordenen Mo<strong>der</strong>ne über den Umweg<br />

des Privaten zurück <strong>in</strong> den öffentlichen Raum (vgl. ebd.; S. 209), wobei es e<strong>in</strong>gebunden


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 57<br />

ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dynamisierende Dialektik zwischen dem <strong>in</strong>dividuellen Anspruch auf die Gestaltung<br />

des eigenen Lebens und positiven wie negativen Globalisierungseffekten:<br />

+[…] life politics concerns political issues which flow from processes of self-actualisation <strong>in</strong> post-traditional<br />

contexts, where globalis<strong>in</strong>g <strong>in</strong>fluences <strong>in</strong>trude deeply <strong>in</strong>to the reflexive project of the self, and conversely<br />

where processes of self-realisation <strong>in</strong>fluence global strategies.* (Ebd.; S. 214)<br />

Obwohl lebens(weltliche) <strong>Politik</strong> aber zum immer bedeuten<strong>der</strong>en Faktor wird, ersetzt sie<br />

nicht e<strong>in</strong>fach emanzipatorische <strong>Politik</strong>, son<strong>der</strong>n ergänzt diese. Nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong><br />

beiden wird es nämlich laut Giddens möglich se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en neuen sozialen Konsens (den er<br />

für notwendig hält) ohne das Mittel <strong>der</strong> Gewalt herbeizuführen (vgl. ebd.; S. 231). 147<br />

Was Beck wie Giddens also konstatieren, ist e<strong>in</strong> Doppeltes: Zum e<strong>in</strong>en entstehen mit <strong>der</strong><br />

fortschreitenden, sich selbst <strong>in</strong> Frage stellenden (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>nisierung – durch die so<br />

ausgelöste +Selbst*-Organisation <strong>der</strong> Individuen – neue Formen politischer Organisation, und<br />

es treten ebenso neue (un)politische, nicht alle<strong>in</strong>e auf Macht und Herrschaft fixierte Fragen<br />

<strong>in</strong> den Mittelpunkt des politischen Diskurses. Parallel erlangt mit <strong>der</strong> zunehmenden globalen<br />

Vernetzung auch die +Banalität* des <strong>in</strong>dividuellen Alltags politischen Gehalt: Die Lebenswelt<br />

wird politisch, sie +(re)kolonialisiert* über den Umweg ihrer Gefährdungs- und Protestpotentiale<br />

das politische System. <strong>Politik</strong> verb<strong>in</strong>det sich damit wie<strong>der</strong> mit ihrem gesellschaftlichen Rahmen,<br />

wird +entstaatlicht* und gew<strong>in</strong>nt (im <strong>in</strong>dividuellen Bewußtse<strong>in</strong>) auch e<strong>in</strong>e ethisch-moralische<br />

148<br />

Dimension zurück. Auf transformierter Ebene und unter gewandelten Voraussetzungen<br />

kommt es deshalb <strong>in</strong> <strong>der</strong> radikalisierten (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne zum +Recycl<strong>in</strong>g* e<strong>in</strong>es umfassenden,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen Sphäre verankerten <strong>Politik</strong>verständnisses, wie es – freilich <strong>in</strong> ganz an<strong>der</strong>er<br />

Ausprägung – auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike das politische Denken prägte (siehe S. 7–12). Dieses (teils<br />

explizite, teils implizite) +Recycl<strong>in</strong>g* althergebrachter Modelle und Theorien ist gemäß Heller<br />

und Fehér sogar e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Charakteristika <strong>der</strong> politischen +Verfassung* <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne –<br />

neben ihrer ansonsten primär dom<strong>in</strong>ierenden Gegenwartsorientierung, <strong>der</strong> Absage an die<br />

Heilsversprechen des Utopismus und <strong>der</strong> Diskreditierung totalisieren<strong>der</strong> Weltdeutungen (vgl.<br />

The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Political Condition; S. 1–4). 149<br />

Doch Recycl<strong>in</strong>g ist eben nicht gleich Recycl<strong>in</strong>g – es f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> verschiedenen Formen statt.<br />

E<strong>in</strong>e relativ +ungebrochene* Revitalisierung antiker Konzepte kann man z.B. bei Hannah Arendt<br />

(1906–76) ausmachen. Arendt, <strong>der</strong>en Arbeiten <strong>der</strong> aktuellen Diskussion wichtige Impulse


58 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

geben, stand sozusagen zwischen den Stühlen: Mit Benjam<strong>in</strong> stimmte sie übere<strong>in</strong>, +daß an<br />

die Stelle <strong>der</strong> Tradierbarkeit ihre Zitierbarkeit getreten* ist (Benjam<strong>in</strong>, Brecht; S. 49) – und<br />

entwickelte damit gewissermaßen e<strong>in</strong> +postmo<strong>der</strong>nes* Bewußtse<strong>in</strong>. Ihre Gegenwart war jedoch<br />

ebenso enthusiastisch mo<strong>der</strong>n, wie sie sich dieser Mo<strong>der</strong>nität verweigerte und Zuflucht bei<br />

eher +altmodischen* Denkern wie Aristoteles suchte: Weltraumfahrt und Atomspaltung markierten<br />

<strong>in</strong> den 50er Jahren e<strong>in</strong>e neue Epoche technologischer Entwicklung. Die Arbeitsgesellschaft<br />

feierte ihren Siegeszug. Menschliche Tätigkeit wurde zunehmend auf das Herstellen reduziert.<br />

Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike so zentrale politische Praxis geriet dagegen (wie die theoretische Reflexion)<br />

<strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund. Ausgehend von dieser Zustandstandsbeschreibung spricht Arendt vom<br />

+Verlust des Geme<strong>in</strong>s<strong>in</strong>ns* und e<strong>in</strong>er +Umkehrung <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Vita activa*:<br />

+Wir sahen, daß im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Überlieferung das [politische] Handeln den höchsten Platz <strong>in</strong>nerhalb<br />

<strong>der</strong> Vita activa [dem tätigen Leben] e<strong>in</strong>genommen hatte. Aber die neuzeitliche Umkehrung des<br />

Verhältnisses von Vita contemplativa und Vita activa hatte ke<strong>in</strong>eswegs zur Folge, daß nun das Handeln<br />

gleichsam automatisch an die Stelle rückte, die vordem die Anschauung und Kontemplation e<strong>in</strong>genommen<br />

hatten. Dies Primat fiel vielmehr vorerst den Tätigkeiten zu, die charakteristisch s<strong>in</strong>d für Homo faber,<br />

dem Machen, Fabrizieren und Herstellen.* (Vita activa; S. 287 [§ 42])<br />

Dagegen br<strong>in</strong>gt Arendt (mit Aristoteles) <strong>in</strong>s Spiel, daß die soziale Natur des Menschen e<strong>in</strong><br />

auf Geme<strong>in</strong>schaft gerichtetes Handeln erfor<strong>der</strong>t (vgl. ebd.; S. 14ff. [§ 1]). Auch sie begrüßte<br />

deshalb (wie später Etzioni) den aktiven Bürger <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktiven Gesellschaft, was sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

dar<strong>in</strong> zeigt, daß sie das Rätesystem gegenüber re<strong>in</strong> repräsentativen Formen <strong>der</strong> Demokratie<br />

vorzog (vgl. z.B. Über die Revolution; S. 344–361).<br />

Nicht ganz so weit, aber eben doch zurück greifen die Überlegungen zu e<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nen<br />

150<br />

demokratischen Kultur von Frances Moore Lappé. Dieser sieht zwei wesentliche H<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse<br />

für e<strong>in</strong>e demokratische Erneuerung im Rahmen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Weltdeutung:<br />

+First, the mo<strong>der</strong>n worldview conceives of human nature as atomistic. Encapsulated <strong>in</strong> our isolated<br />

egos, we are unable to know each other’s needs […] Second, laws govern<strong>in</strong>g the <strong>in</strong>teraction of these<br />

isolated social atoms parallel laws govern<strong>in</strong>g the Newtonian physical world. They are absolute.* (Politics<br />

for a Troubled Planet; S. 165)<br />

Neben diesen allgeme<strong>in</strong>en Restriktionen beengt die immer fragwürdigere Trennung von +privat*<br />

und +öffentlich* alternative Konzeptionen des Politischen (vgl. ebd.; S. 167f.). Solche lägen


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 59<br />

gemäß Lappé allerd<strong>in</strong>gs durchaus im Bestand <strong>der</strong> (amerikanischen) Tradition verschüttet und<br />

müßten nur wie<strong>der</strong> ans Licht gebracht werden. Denn die Reduktion <strong>der</strong> Freiheit auf <strong>in</strong>dividuelle<br />

Freiheit im konstitutionellen Verfassungsstaat hat vergessen gemacht, daß Freiheit – vor allem<br />

im religiösen Verständnis – auch e<strong>in</strong>mal die Freiheit zu +menschlichem Wachstum* (human<br />

growth) implizierte (vgl. ebd. S. 169). Und Demokratie war auch nicht immer e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong><br />

formales Pr<strong>in</strong>zip politischer Organisation, son<strong>der</strong>n bedeutete die Verb<strong>in</strong>dung von Rechten<br />

mit Verantwortung. Damit kommt Lappé zu e<strong>in</strong>em ähnlichen Ergebnis wie Heller und Fehér,<br />

die ja bereits oben Erwähnung fanden: Jene for<strong>der</strong>n nämlich auch und gerade unter den<br />

Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nität e<strong>in</strong> verantwortungsethisches politisches Handeln, das gleichzeitig<br />

auf den (moralischen) Pr<strong>in</strong>zipien Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Fairness und Unparteilichkeit<br />

beruht (vgl. The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Political Condition; S. 60–74).<br />

Diesen zuletzt vorgestellten Vorschlägen, die im Kontext <strong>der</strong> +kommunitaristischen* Debatte<br />

151<br />

zu lesen s<strong>in</strong>d, ist geme<strong>in</strong>sam, daß letztendlich e<strong>in</strong>e Rückwärtsorientierung dom<strong>in</strong>iert (obwohl<br />

man natürlich sagen kann, daß auch hier die Vergangenheit und die Tradition kreativ von<br />

152<br />

den Autoren vere<strong>in</strong>nahmt werden). Es kommt also zu e<strong>in</strong>em tatsächlichen Re-Cycl<strong>in</strong>g: Der<br />

historische Zirkel schließt sich. Interessanter s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>es Erachtens solche Ansätze, die nicht<br />

e<strong>in</strong>fach rückwärts kreisen, son<strong>der</strong>n gewissermaßen e<strong>in</strong>e spiralförmige Bewegung beschreiben.<br />

Zweidimensional verkürzt betrachtet gleichen diese Entwürfe dem e<strong>in</strong>fachen Recycl<strong>in</strong>g. Bezieht<br />

man aber die dritte Dimension mit e<strong>in</strong>, so eröffnet sich e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Perspektive und man<br />

erkennt, daß e<strong>in</strong> älteres Motiv – <strong>in</strong> unserem Fall: e<strong>in</strong> nicht auf das Institutionell-Staatliche<br />

fixiertes Verständnis von <strong>Politik</strong> – auf e<strong>in</strong>er neuen Ebene wie<strong>der</strong> auftaucht.<br />

Zu dieser Kategorie muß man sicher die schon vorgestellten Konzeptionen von Beck und<br />

153<br />

Giddens sowie natürlich Lyotard zählen. Aber auch e<strong>in</strong>ige an<strong>der</strong>e Ansätze verdienen<br />

abschließend noch Erwähnung und könnten eventuell dazu e<strong>in</strong>en (kritischen) Beitrag leisten.<br />

Zygmunt Bauman z.B. hat im letzten Kapitel se<strong>in</strong>es Buchs +Ansichten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* (1992)<br />

e<strong>in</strong>e Analyse postmo<strong>der</strong>ner <strong>Politik</strong> unternommen, welche (wie bei Beck und Giddens) die<br />

Entstehung von neuen <strong>Politik</strong>formen <strong>in</strong> den Mittelpunkt stellt:<br />

In <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne herrschte laut Bauman e<strong>in</strong>e strikte Trennung zwischen politischer Praxis und<br />

politischer Theorie. Symbol dieser Trennung war <strong>der</strong> Nationalstaat, <strong>der</strong> die politische Handlungs-<br />

macht mit Ausschließlichkeit für sich beanspruchte und <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Legitimation <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

durch das Management des <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne dom<strong>in</strong>anten Verteilungskonflikts aufrecht erhielt.


60 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

In <strong>der</strong> von Kont<strong>in</strong>genz geprägten <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne des ausgehenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts wird mit<br />

<strong>der</strong> faktischen wie theoretischen Infragestellung des Nationalstaats (vornehmlich ausgelöst<br />

durch Globalisierungsprozesse und subnationale Bewegungen) auch die Trennung von Theorie<br />

und Praxis fragwürdig. Zudem treten an<strong>der</strong>e Konflikte politisch hervor: um (Menschen-)Rechte,<br />

Selbstbestimmung und Selbstentfaltung etc. Im Kontext dieser neuen Konfliktfel<strong>der</strong> entstehen<br />

die von Bauman postulierten neuen <strong>Politik</strong>formen, die er allerd<strong>in</strong>gs durchaus ambivalent<br />

schil<strong>der</strong>t: Die postmo<strong>der</strong>ne Stammespolitik imag<strong>in</strong>iert politische Geme<strong>in</strong>schaften, die den<br />

fragmentisierten Subjekten Orientierung bieten sollen, sich durch symbolische Rituale am<br />

Leben erhalten und deshalb unter dem Zwang stehen, sich ständig selbst zu erneuern. Die<br />

<strong>Politik</strong> des Begehrens als zweite von Bauman genannte neue <strong>Politik</strong>form strebt nach <strong>der</strong> Ver-<br />

wirklichung von (<strong>in</strong>dividuellen wie kollektiven) Lebensentwürfen. Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Angst baut<br />

dagegen gerade auf die Furcht vor <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung durch die <strong>Politik</strong>(en) des Begehrens<br />

und die postmo<strong>der</strong>ne Stammespolitik. Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Gewißheit schließlich versucht durch<br />

die Versicherung <strong>der</strong> Richtigkeit des eigenen Urteils, die Verunsicherung durch die allgegen-<br />

wärtige Pluralität des postmo<strong>der</strong>nen Dase<strong>in</strong>s aufzufangen – e<strong>in</strong>e Pluralität übrigens, die das<br />

postmo<strong>der</strong>ne Subjekt nach Bauman zw<strong>in</strong>gt, sich se<strong>in</strong>e eigenen (ethischen) Maßstäbe zu erarbeiten<br />

und se<strong>in</strong> Verhalten ständig mit den an<strong>der</strong>en Subjekten abzustimmen und gegenüber diesen<br />

zu rechtfertigen. (Vgl. Ansichten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 231–240) 154<br />

Hier ergibt sich e<strong>in</strong> Anknüpfungspunkt zu Welsch (siehe auch S. LXV). +Pluralität als ethischer<br />

und politischer Wert* (1991) ist für ihn – <strong>in</strong> Anlehnung an Lyotard – gar zentral <strong>in</strong> unserer<br />

postmo<strong>der</strong>nen Gegenwart. Denn diese +ist dadurch charakterisiert, daß wir mit e<strong>in</strong>er zuneh-<br />

menden Vielfalt unterschiedlichster Lebensformen, Wissenskonzeptionen und Orientierungsweisen<br />

konfrontiert s<strong>in</strong>d* (S. 11). Welsch beruft sich <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch auf soziologische<br />

Befunde von Max Weber (+Polytheismus <strong>der</strong> Werte*) bis Berger (+Pluralisierung <strong>der</strong> Lebenwelten*)<br />

und Zapf (+Pluralisierung <strong>der</strong> Lebensstile*).<br />

Dabei arbeitet (auch) er heraus, daß die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ke<strong>in</strong>e Anti-Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e<br />

gesteigerte, radikalisierte Mo<strong>der</strong>ne darstellt. Ihre Pluralität geht deshalb über bloßen Pluralismus<br />

h<strong>in</strong>aus, <strong>der</strong> sich nach Welsch zu e<strong>in</strong>er parlamentarisch-repräsentativen Ideologie verhärtet<br />

hat und so letztendlich e<strong>in</strong>e Stabilisierung des status quo bewirkt (vgl. ebd. 19ff.). Der (demo-<br />

kratisch-liberale) Pluralismus baut nämlich auf dem allgeme<strong>in</strong>en liberal-demokratischen Konsens<br />

auf und fixiert sich, <strong>in</strong>dem er dies tut, auf e<strong>in</strong> bestimmtes Set von Normen. Die Pluralität


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 61<br />

als ethischer und politischer Wert ist im Gegensatz dazu grundsätzlich offen. Demgemäß<br />

umfaßt <strong>der</strong> Normenkatalog e<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nen Ethik <strong>der</strong> Pluralität für ihn e<strong>in</strong>zig zwei positive<br />

und zwei prohibitive For<strong>der</strong>ungen: Erstere bestehen <strong>in</strong> <strong>der</strong> +E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> das Eigenrecht und<br />

die Eigentlichkeit des An<strong>der</strong>en* (ebd.; S. 26) sowie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Akzeptanz +ihrer eventuell un-<br />

gewohnten o<strong>der</strong> anstößigen Äußerungsformen* (ebd.). Die zwei prohibitiven Maximen äußern<br />

sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Verbot von Übergriffen und e<strong>in</strong>er Ablehnung von Totalisierungen (vgl. ebd.;<br />

S. 28). Politisch umgemünzt ergibt sich e<strong>in</strong> Demokratiekonzept, das auf dem Recht zum Dissens<br />

beruht (vgl. ebd.; S. 31f.). In Anlehnung an Becks Konzept <strong>der</strong> Subpolitik sowie postmo<strong>der</strong>ne<br />

Theoretiker wird bei Welsch aus diesem Recht zum Dissens e<strong>in</strong>e aus <strong>der</strong> Lebenswelt gespeiste<br />

<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Differenz (vgl. ebd.; S. 34f.).<br />

Welsch hat mit diesem Entwurf sicherlich e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>teressanten Beitrag zu e<strong>in</strong>er +postmo<strong>der</strong>nen*<br />

Demokratie-Theorie geleistet, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e weitere Ausarbeitung verdienen würde. Ich möchte<br />

allerd<strong>in</strong>gs auch auf e<strong>in</strong>ige Probleme se<strong>in</strong>er Konzeption h<strong>in</strong>weisen. Zum e<strong>in</strong>en bleibt es dunkel,<br />

warum das bloße An<strong>der</strong>sse<strong>in</strong> des An<strong>der</strong>en e<strong>in</strong> Verbot von Übergriffen und Totalisierungen<br />

gebietet. Dieser E<strong>in</strong>wand gilt auch für Lév<strong>in</strong>as’ Ethik <strong>der</strong> Differenz, <strong>der</strong> diesbezüglich ähnliche<br />

155<br />

Aussagen trifft (vgl. z.B. Jenseits des Se<strong>in</strong>s; S. 37–41). Schließlich ist Differenz ke<strong>in</strong> Wert<br />

an sich, son<strong>der</strong>n davon abhängig, ob wir bereit s<strong>in</strong>d, ihr e<strong>in</strong>en Wert beizumessen. Zudem:<br />

Auch <strong>der</strong> An<strong>der</strong>e wird erst durch unsere Def<strong>in</strong>ition zum An<strong>der</strong>en. Identität und Differenz<br />

s<strong>in</strong>d dabei gleichermaßen kont<strong>in</strong>gente Konstruktionen. E<strong>in</strong> weiterer, ganz ähnlicher E<strong>in</strong>wand<br />

betrifft die Pluralität als ethischen und politischen Wert. Welsch bemüht sich darzulegen,<br />

daß das Pr<strong>in</strong>zip radikaler Pluralität, wie er es versteht, unabhängig von e<strong>in</strong>em vorgängigen<br />

Konsens ist. Er vergißt, daß auch <strong>der</strong> Wert <strong>der</strong> Pluralität als Grundlage politischer Organisation<br />

zustimmungsbedürftig ist. Daß die +Verfassung <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* diesen Konsens über die<br />

Pluralität als ihr Fundament strukturell <strong>in</strong> gewisser Weise nahe legt, spricht allerd<strong>in</strong>gs wie<strong>der</strong>um<br />

für Welschs Argumentation.<br />

So e<strong>in</strong>deutig und auf allen Ebenen plural, wie Welsch diese Struktur <strong>in</strong>terpretiert, ist sie jedoch<br />

ke<strong>in</strong>eswegs. Nicht von ungefähr spricht auch Lyotard schließlich von <strong>der</strong> +Vorherrschaft <strong>der</strong><br />

156<br />

ökonomischen Diskursart* (Der Wi<strong>der</strong>streit; S. 293 [Nr. 253]). Die radikale Mo<strong>der</strong>ne <strong>der</strong><br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, das ist die im Umbruch bef<strong>in</strong>dliche Welt des Spätkapitalismus. Und im Spät-<br />

kapitalismus gilt, wie Jameson feststellte (siehe S. LVII), e<strong>in</strong>e ganz eigene Logik: Die Entgrenzung<br />

des <strong>in</strong>ternationalen Kapitals hat zu e<strong>in</strong>er Entgrenzung <strong>der</strong> kapitalistischen Waren-Kultur geführt.


62 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

157<br />

Auch die <strong>Politik</strong> hat sich deshalb dem +schönen Sche<strong>in</strong>* <strong>der</strong> Warenwelt anzupassen. Es<br />

kommt zu e<strong>in</strong>er Ästhetisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, die sich damit immer mehr +entpolitisiert* und<br />

zu e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> +symbolischen <strong>Politik</strong>* verkommt. 158<br />

Dieses Argument ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e von Bernd Guggenberger ausgearbeitet worden. Er bemerkt<br />

hierzu:<br />

+Der ästhetische Blick verän<strong>der</strong>t die e<strong>in</strong>em politischen Problem zugrundeliegende Struktur, er verleitet<br />

dazu, politische Fragen <strong>in</strong> Kategorien von Fragen des Geschmacks zu behandeln; er vernichtet dabei<br />

genau jenen Anteil des autonom Politischen an den Ereignissen, den wahrzunehmen für das politische<br />

Urteil unverzichtbar ist.* (Die politische Aktualität des Ästhetischen; S. 27)<br />

Den Grund für die Fixierung auf das Ästhetische sieht auch Guggenberger <strong>in</strong> <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen<br />

Pluralisierung, die – <strong>in</strong>dem sie (aus Guggenbergers Sicht) alles auf die Geschmacks-Frage<br />

reduziert – die Tore für e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuell verunsichernde Erosion <strong>der</strong> e<strong>in</strong>heitsstiftenden ethischen<br />

wie kognitiven Grundlagen <strong>der</strong> Gesellschaft öffnet. Er bemerkt deshalb:<br />

+Es s<strong>in</strong>d vor allem unsere Gewißheits- und E<strong>in</strong>deutigkeitsverluste, welche die ästhetischen Kompensationen<br />

auf den Plan rufen.* (Ebd.; S. 29)<br />

Das alles bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das (politische) Subjekt, das immer mehr auf<br />

die Beobachterrolle beschränkt wird. +Die ›Aktualität des Ästhetischen‹ gehört zu e<strong>in</strong>er Epoche,<br />

die das Subjekt durch den Beobachter ersetzt* (ebd.; S. 39) – so faßt Guggenberger diesen<br />

159<br />

Sachverhalt zusammen. Auch gemäß ihm ist das Ästhetische jedoch nicht per se e<strong>in</strong> Moment<br />

<strong>der</strong> Bedrohung des Subjekts und <strong>der</strong> Entpolitisierung. Vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst als se<strong>in</strong>er orig<strong>in</strong>ären<br />

Sphäre hatte es (durch se<strong>in</strong>en kreativen Aspekt) immer auch die Bedeutung <strong>der</strong> transzen-<br />

dierenden Erneuerung und <strong>der</strong> Innovation. In diesem S<strong>in</strong>n könnte das Ästhetische <strong>der</strong> <strong>Politik</strong><br />

durchaus etwas zu geben haben. Dafür müßte es sich jedoch vom primär ökonomischen<br />

Zweck emanzipieren, dem es aktuell dient. (Vgl. ebd.; S. 5ff. u. S. 40–52)<br />

160<br />

Guggenbergers <strong>in</strong> <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> +Frankfurter Schule* (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Adorno) stehende Kritik<br />

kann als Ausdruck e<strong>in</strong>es +Unbehagen an <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* gedeutet werden. Dieses Unbehagen<br />

wie<strong>der</strong>um entspr<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>em noch weitgehend traditionell +mo<strong>der</strong>n* geprägten <strong>Politik</strong>verständnis.<br />

161<br />

Denn die postmo<strong>der</strong>nen +Enttäuschungen <strong>der</strong> Vernunft* (Müller-Funk 1990) haben zu e<strong>in</strong>em<br />

immer deutlicher werdenden absoluten Des<strong>in</strong>teresse gegenüber <strong>Politik</strong> – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> ihrer


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 63<br />

+klassischen* Ausprägung – geführt. An<strong>der</strong>erseits gilt, wie Müller-Funk wie<strong>der</strong>um ganz analog<br />

zu Beck bemerkt:<br />

+Vielleicht liegt die Zukunft außerhalb <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Vielleicht liegt das Politische auch außerhalb dessen,<br />

wo wir es vermuten: außerhalb <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>.* (Die Enttäuschungen <strong>der</strong> Vernunft; S. 152)<br />

Hier kl<strong>in</strong>gt noch, wie letztendlich auch bei Guggenberger, die Möglichkeit zur +Versöhnung*<br />

zwischen dem politischen Anspruch <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne und <strong>der</strong> gewandelten politischen<br />

Realität <strong>der</strong> radikalisierten (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne durch. Doch die +Figuren des Transpolitischen*<br />

führen zum<strong>in</strong>dest für Jean Baudrillard (siehe auch S. LVf.) direkt <strong>in</strong> die politische Apokalypse.<br />

Die Auflösung des Politischen im Transpolitischen ist nach ihm nämlich gleichbedeutend<br />

mit e<strong>in</strong>em +Here<strong>in</strong>brechen <strong>der</strong> Obszönität* (Die <strong>fatal</strong>en Strategien; S. 29) sowie e<strong>in</strong>er Auslöschung<br />

aller S<strong>in</strong>nhaftigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> krankhaften Wucherung des Banalen:<br />

+Das Transpolitische ist <strong>der</strong> Modus, <strong>in</strong> dem alles verschw<strong>in</strong>det […], es ist jener unheilvolle Wendepunkt,<br />

an dem <strong>der</strong> Horizont des S<strong>in</strong>ns endet […] Das Transpolitische ist auch folgendes: <strong>der</strong> Übergang vom<br />

Wachstum zur Auswucherung […] vom organischen Gleichgewicht zu krebsartigen Metastasen.* (Ebd.)<br />

Diese E<strong>in</strong>schätzung liegt <strong>in</strong> Baudrillards skeptischem <strong>Post</strong>historismus begründet:<br />

+Wir bef<strong>in</strong>den uns wahrhaftig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jenseits […] <strong>der</strong> Himmel <strong>der</strong> Utopie ist auf die Erde herab-<br />

gekommen, und was sich e<strong>in</strong>st als strahlende Perspektive abzeichnete, stellt sich nunmehr als Katastrophe<br />

im Zeitlupentempo dar.* (Ebd.; S. 85)<br />

Aus dieser Kulturkritik spricht e<strong>in</strong>deutig die Verachtung des Intellektuellen für die (post)mo<strong>der</strong>ne<br />

Massengesellschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die +Nichtigkeit des Realen* sich beweist. Gegen diese Nichtigkeit<br />

des Realen helfen laut Baudrillard nur die +<strong>fatal</strong>en* Strategien <strong>der</strong> Destruktion, denn +we<strong>der</strong><br />

das rationale Pr<strong>in</strong>zip noch <strong>der</strong> Gebrauchswert können uns retten, son<strong>der</strong>n [nur] das unmoralische<br />

Pr<strong>in</strong>zip des Spektakels, das ironische Pr<strong>in</strong>zip des Bösen* (ebd.; S. 226f.). Die wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

wichtigste, vielleicht gar die e<strong>in</strong>zig erfolgversprechende <strong>fatal</strong>e Strategie ist dabei die Theorie,<br />

denn sie enthüllt und demontiert <strong>in</strong> ihrer ironischen, selbstüberschreitenden Distanz zur<br />

+objektiven* Welt <strong>der</strong>en Objektcharakter. (Vgl. ebd.; S. 220–232)<br />

Aus den Sätzen Baudrillards ist Nietzsches Diktion und Gedankengut leicht herauszuhören.<br />

Das Plädoyer für die <strong>fatal</strong>en Strategien entspricht Nietzsches (a)moralischem Nihilismus, <strong>der</strong>


64 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Jenseits von Gut und Böse* e<strong>in</strong>e +Umkehrung <strong>der</strong> Werte* for<strong>der</strong>te, um <strong>der</strong><br />

+Slavenmoral* des Christentums zu entgehen (vgl. § 32 u. § 46). Interessanterweise sieht Bau-<br />

drillard <strong>in</strong> den <strong>fatal</strong>en Strategien jedoch nicht nur e<strong>in</strong> negierendes, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong> distanzschaf-<br />

fendes ironisches Moment (siehe oben). Damit ergibt sich e<strong>in</strong> Berührungspunkt mit Richard<br />

Rortys postmo<strong>der</strong>n-liberaler Theorie.<br />

Rorty begründet se<strong>in</strong>en +neopragmatischen* Liberalismus aus <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Kont<strong>in</strong>genz<br />

<strong>der</strong> Sprache und <strong>der</strong> Selbstkonstruktionen und <strong>der</strong> damit verbundenen Unmöglichkeit, Wahrheit<br />

wie Moral (logisch) zu begründen (vgl. Kont<strong>in</strong>genz, Ironie und Solidarität; Kap. 1 u. 2). Daraus<br />

resultiert nach Rorty e<strong>in</strong>e ironische Haltung, die sich <strong>der</strong> Relativität auch <strong>der</strong> eigenen Über-<br />

162<br />

zeugungen und Argumente bewußt ist (vgl. ebd; Kap. 4). Ke<strong>in</strong>eswegs bedeutet dies aber<br />

für ihn e<strong>in</strong>e Aufgabe des moralischen Anspruchs. Die von Rorty gefor<strong>der</strong>te Solidarität und<br />

Anerkennung des An<strong>der</strong>en gründet gerade auf dem Kont<strong>in</strong>genzbewußtse<strong>in</strong> und dem daraus<br />

resultierenden Selbstzweifel (vgl. ebd.; Kap. 9) – se<strong>in</strong>e Argumentation trifft sich also hier<strong>in</strong><br />

gewissermaßen mit Lyotard, Lév<strong>in</strong>as und (im Anschluß an diese) auch Welsch. 163<br />

Es ließen sich nun noch e<strong>in</strong>e Reihe weiterer Positionen vortragen, und die von mir gewählte<br />

164<br />

Zusammenstellung ist sicher ebenso selektiv wie subjektiv. E<strong>in</strong> vollständiger Überblick über<br />

die Bandbreite des +postmo<strong>der</strong>nen* <strong>Politik</strong>verständnisses ist jedoch zur Erfassung se<strong>in</strong>er Charak-<br />

teristika (und um nichts an<strong>der</strong>es geht es hier) nicht erfor<strong>der</strong>lich. Schon die dargestellten Ansätze<br />

machen klar: <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne ist <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie durch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>deutigkeitsverlust,<br />

e<strong>in</strong>e diffuse Expansion <strong>in</strong> den sozialen Raum und die umgekehrte (Rück-)Eroberung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong><br />

durch die Lebenswelt gekennzeichnet (wozu man positiv o<strong>der</strong> ablehnend stehen kann). Der<br />

im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t aufgesplittete Weg des Politischen, <strong>der</strong> dann <strong>in</strong> die E<strong>in</strong>bahnstraße des<br />

liberal-demokratischen Nationalstaats mündete, hat sich weiter fragmentisiert, aber auch zur<br />

Sprengung des beschränkten politischen Horizonts <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne geführt.<br />

E<strong>in</strong> kurzes Resümee über die dargestellte Entwicklung <strong>der</strong> politischen Theorie und des <strong>Politik</strong>-<br />

begriffs zeigt also folgendes Bild: Im Denken <strong>der</strong> Antike war <strong>Politik</strong> eng mit dem Problem<br />

<strong>der</strong> Gerechtigkeit verknüpft. Dabei umfaßte <strong>der</strong> Bereich des Politischen zum e<strong>in</strong>en die gesamte<br />

Sphäre des sozialen Handelns und <strong>der</strong> Ethik. Zum an<strong>der</strong>en fragte die politische Wissenschaft<br />

im engeren S<strong>in</strong>n als Staats- und Verfassungslehre nach <strong>der</strong> guten und gerechten Ordnung<br />

des Geme<strong>in</strong>wesens. Dies gilt auch für die mittelalterliche politische Philosophie, die allerd<strong>in</strong>gs


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 65<br />

weitgehend theologisch dom<strong>in</strong>iert war. Mit dem Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Neuzeit wurden theologische<br />

Weltdeutungen dann immer mehr <strong>in</strong> Frage gestellt. Theoretisch wie praktisch ließ sich von<br />

nun an auch von e<strong>in</strong>er autonomen Sphäre des Politischen, ja e<strong>in</strong>em Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> sprechen.<br />

Ethische und moralische Fragen traten <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund. Zentrales Motiv wurde die ver-<br />

nunftgemäße Legitimation politischer Herrschaft. Die konkreten Antworten <strong>der</strong> politischen<br />

Denker variierten jedoch. Sowohl für den absolutistischen +Wolf <strong>in</strong> den Mauern* als auch<br />

für die Ausweitung <strong>der</strong> Herrschaft auf bürgerliche Kreise wurden Argumente beigebracht,<br />

und spätestens im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t läßt sich die Ausdifferenzierung <strong>der</strong> zentralen politischen<br />

Lager des Konservatismus, des Sozialismus und des Liberalismus beobachten. Unter den<br />

gegebenen Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er radikalisierten Mo<strong>der</strong>ne verwischen aber die Konturen dieser<br />

Lager. E<strong>in</strong>e politische Neuorientierungen ersche<strong>in</strong>t notwendig, wobei vielfach auf vergangene<br />

Konzepte zurückgegriffen wird. Überhaupt ist politische Theorie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als e<strong>in</strong>e<br />

+textbezogene Praxis* zu verstehen (vgl. Shapiro: Read<strong>in</strong>g the <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Polity). In diesem<br />

Zusammenhang habe ich von +Recycl<strong>in</strong>g* und e<strong>in</strong>er +eklektischen tabula rasa* gesprochen.<br />

Das e<strong>in</strong>fache Recycl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>er <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner Prägung kontrastiert dabei das<br />

transformierende Recycl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>er <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, die e<strong>in</strong> reflexives +authentisches* Bewußtse<strong>in</strong><br />

zu gew<strong>in</strong>nen versucht (siehe hierzu auch Prolog, S. LXII–LXXVII sowie den Exkurs).<br />

Dieses +authentische* Bewußtse<strong>in</strong> schenkt (wie sich bei Lyotard o<strong>der</strong> Rorty zeigt) <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz<br />

als Dimension des Politischen beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit. <strong>Politik</strong> nutzt dabei nicht nur den<br />

geschaffenen Kont<strong>in</strong>genzraum, son<strong>der</strong>n wird selbst als kont<strong>in</strong>gent verstanden, verweist auf<br />

ihre Verän<strong>der</strong>barkeit (vgl. auch Ryan: <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>n Politics; S. 97). Ersterer Sachverhalt ist<br />

von Kari Palonen, auf den schon zu Beg<strong>in</strong>n dieses Kapitels Bezug genommen wurde (siehe<br />

S. 3), als das +Webersche Moment* <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> bezeichnet worden. So wenig ich mit se<strong>in</strong>er<br />

Weber-Rezeption übere<strong>in</strong>stimme, die im Werk Webers e<strong>in</strong>en Stellenwechsel <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz<br />

165<br />

vollzogen sieht, so deutlich zeigt gerade diese Interpretation, daß Kont<strong>in</strong>genz unter den<br />

gegebenen Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>e immer wichtigere Kategorie für die politische Theorie und Praxis<br />

darstellt. Der Horizont e<strong>in</strong>es postmo<strong>der</strong>nen Verständnisses von <strong>Politik</strong> ist von Kont<strong>in</strong>genz,<br />

ihrer faktischen Virulenz wie ihrer theoretischen Reflexion, geprägt.


2 ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND<br />

POLITISCHER STATIK – EINE ÖKOLOGIE DER POLITIK


68 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

2 ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND<br />

POLITISCHER STATIK – EINE ÖKOLOGIE DER POLITIK<br />

In <strong>der</strong> noch weitgehend ungebrochenen Mo<strong>der</strong>nität <strong>der</strong> Nachkriegs-Ära bestand im wesentlichen<br />

nur e<strong>in</strong> Dissens über die Ziele <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und die Wege zu <strong>der</strong>en Verwirklichung. Liberale,<br />

Konservative und Sozialisten waren sich, so unterschiedlich ihre konkreten Entwürfe auch<br />

se<strong>in</strong> mochten, im Pr<strong>in</strong>zip darüber e<strong>in</strong>ig, wor<strong>in</strong> <strong>Politik</strong> bestand: nämlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausübung von<br />

Herrschaft und <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dlichen Regelung <strong>der</strong> strittigen sozialen Fragen. Die prägnan-<br />

teste Verkörperung dieses machtzentrierten <strong>Politik</strong>verständnisses war und ist <strong>der</strong> (National-)Staat,<br />

wobei (<strong>in</strong> den gewaltenteiligen westlichen Systemen) – zum<strong>in</strong>dest <strong>der</strong> Theorie nach – <strong>der</strong><br />

Exekutive die e<strong>in</strong>e, <strong>der</strong> Legislative die an<strong>der</strong>e Funktion zufällt. Die Judikative hat (im Rahmen<br />

des politischen Prozesses) nur über die korrekte Abwicklung des politischen +Geschäfts* zu<br />

wachen.<br />

Die politische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne beg<strong>in</strong>nt, wo auch dieser Konsens über das Wesen des Politischen<br />

als Frage von Macht und Herrschaft sich auflöst. Gleichzeitig mit dieser verunsichernden Infrage-<br />

stellung des politischen (Selbst-)Verständnisses zerfallen die zuvor klar abgrenzbaren politischen<br />

Lager, und es kommt zur Delegitimierung <strong>der</strong> etablierten politischen Institutionen. Im letzten<br />

Abschnitt des vorangegangenen Kapitels wurden erste Ansätze e<strong>in</strong>es +postmo<strong>der</strong>nen* <strong>Politik</strong>ver-<br />

ständnisses dargestellt, die diesen Wandel reflektieren. Aber warum kommt es ausgerechnet<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> gegenwärtigen Situation zur Auflösung des Konsenses über <strong>Politik</strong>? – Die Gründe dafür<br />

1<br />

liegen außerhalb <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, des politischen Systems. Sie liegen <strong>in</strong> den tiefgreifenden strukturel-<br />

len Transformationsprozessen, die die Welt des ausgehenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts prägen und<br />

auch die +alte* <strong>Politik</strong> mit ihrer Fixierung auf den Nationalstaat <strong>in</strong> Frage stellen.<br />

Dieser Wandel hat sich zuerst im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Intellektuellen nie<strong>der</strong>geschlagen – zum<strong>in</strong>dest,<br />

wenn man Zygmunt Bauman folgen will, dessen +Ansichten* zur postmo<strong>der</strong>nen <strong>Politik</strong> bereits<br />

dargelegt wurden (siehe S. 59f.) und <strong>der</strong> die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als +Überbau-Phänomen* e<strong>in</strong>es<br />

an die eigenen Grenzen stoßenden Intellektualismus <strong>in</strong>terpretiert (siehe auch Anmerkung<br />

119, Prolog). Selbst Bauman sieht jedoch +e<strong>in</strong>e Reihe spezifisch ›postmo<strong>der</strong>ner‹ Phänomene,


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 69<br />

die darauf warten, von <strong>der</strong> Soziologie erforscht zu werden* (Ansichten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne;<br />

2<br />

S. 143): Da ist zum e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Emanzipation des Kapitals von <strong>der</strong> Arbeit. Zum<br />

an<strong>der</strong>en besteht e<strong>in</strong>e neue Form des Zusammenspiels von Repression und Verführung im<br />

kapitalistischen Herrschafts- und Marktsystem (vgl. ebd.). Weitere dieser +spezifisch postmo<strong>der</strong>nen<br />

Phänomene* s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Globalisierung und Individualisierung.<br />

Sie erzeugen im Zusammenspiel e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>genzträchtige Dynamik, die e<strong>in</strong> erweitertes <strong>Politik</strong>-<br />

verständnis hervorbr<strong>in</strong>gt und für die Imag<strong>in</strong>ation neuer <strong>Politik</strong>formen genutzt wird. Doch<br />

trotz <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> politischen Umwelt: Die etablierte und <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong><br />

hat sich kaum gewandelt. Deshalb lautet me<strong>in</strong>e im folgenden näher dargelegte These, daß<br />

wir es aktuell mit e<strong>in</strong>er wi<strong>der</strong>sprüchlichen Dialektik von sozio-ökonomischem Wandel und<br />

politischer Statik zu tun haben.<br />

Doch warum ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Überschrift zu diesem Kapitel von e<strong>in</strong>er +Ökologie* <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> die<br />

Rede? – Die Außenbed<strong>in</strong>gungen bestimmen die Möglichkeiten des Innen. Diese E<strong>in</strong>sicht<br />

prägte das Programm e<strong>in</strong>er ökologischen Sozialisationsforschung, wie sie Urie Bronfenbrenner<br />

3<br />

<strong>in</strong> den 70er Jahren propagierte. Was für die Sozialisation des e<strong>in</strong>zelnen Individuums gilt,<br />

trifft me<strong>in</strong>es Erachtens auch auf die Entwicklungsbed<strong>in</strong>gungen +sozialer Teilsysteme* zu.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs benutze ich die Begriffe +politisches System*, +Wirtschaftssystem* und +Rechtssystem*<br />

etc. e<strong>in</strong>zig als analytische Kategorien, also ohne ihnen (materialen) +Wirklichkeitsgehalt* zuzu-<br />

4<br />

messen, und auch nicht aus e<strong>in</strong>er (klassisch) systemtheoretischen Perspektive heraus. Im<br />

Rahmen e<strong>in</strong>er +soziologischen Konstruktion* ist die Unterscheidung zwischen den genannten<br />

(Sub-)Systemen aber trotzdem s<strong>in</strong>nvoll. Es kann so nämlich e<strong>in</strong>e Beziehung untersucht werden,<br />

die – obwohl sie als solche nicht existiert – für sich Wirklichkeit besitzt, <strong>in</strong>dem sich die Akteure,<br />

die das entsprechende Subsystem konstituieren, als <strong>Politik</strong>er, Unternehmer, Juristen usw.<br />

verstehen. Und noch e<strong>in</strong> weiterer Aspekt ist zu beachten: Es gibt Prozesse, die durch die<br />

faktische Form <strong>der</strong> sozialen Organisation, die e<strong>in</strong>e (arbeitsteilige) Trennung <strong>in</strong> verschiedene<br />

Teilsysteme zugrunde legt, dem Zugriff und <strong>der</strong> direkten Steuerung durch das politische System<br />

5<br />

entzogen s<strong>in</strong>d. Diese Prozesse stellen also gewissermaßen +Umweltfaktoren* für die <strong>Politik</strong><br />

dar, und e<strong>in</strong>e Ökologie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> hat deshalb das Meso-, Exo- und Makrosystem des Politischen<br />

6<br />

(Systems) e<strong>in</strong>er genauen Analyse zu unterziehen. E<strong>in</strong>e solche +Rahmen-Analyse* (Goffman)<br />

ist wichtig, da nur als Resultat e<strong>in</strong>er +ökologischen* Betrachtungsweise die systemimmanenten<br />

politischen Dilemmata <strong>in</strong> ihrem Kontext deutlich werden können, die allerd<strong>in</strong>gs erst <strong>in</strong> Kapitel


70 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

3 näher thematisiert und schließlich <strong>in</strong> Kapitel 4 (am Fallbeispiel +BSE*) exemplarisch veran-<br />

schaulicht werden sollen. Zunächst wird es (bezogen auf <strong>Politik</strong>) lediglich um e<strong>in</strong>e Darstellung<br />

<strong>der</strong> relevanten Verän<strong>der</strong>ungsprozesse <strong>in</strong> den zentralen (Teil-)Systemen gehen. 7<br />

2.1 ÖKONOMISCHER WANDEL UND SEINE (FEHLENDE) UMSETZUNG UND ENTSPRE-<br />

CHUNG IM BEREICH DER POLITIK (WIRTSCHAFTSSYSTEM)<br />

Das vielleicht wichtigste Teilsystem des politischen Mesosystems – also des übergreifenden<br />

Netzwerks, <strong>in</strong> das die <strong>Politik</strong> <strong>in</strong>stitutionell e<strong>in</strong>gewebt ist – stellt die Ökonomie dar, die nach<br />

marxistischer Auffassung die Basis <strong>der</strong> Gesellschaft bildet. Folgt man dagegen <strong>der</strong> gängigen<br />

funktionalistischen Ideologie, so s<strong>in</strong>d die Systeme Wirtschaft und <strong>Politik</strong> vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> getrennt<br />

8<br />

und operieren nach e<strong>in</strong>er je eigenen Logik. Doch über die Instrumente <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anz-, Steuer-<br />

und Wirtschaftspolitik nimmt das Subsystem <strong>Politik</strong> zwangsläufig und bewußt E<strong>in</strong>fluß auf das<br />

ökonomische Geschehen. Selbst sozialpolitische Entscheidungen (z.B. die Herabsetzung <strong>der</strong><br />

Rentenaltersgrenzen), Umweltpolitik (z.B. die Festlegung strengerer Schadstoffhöchstgrenzen)<br />

o<strong>der</strong> Außenpolitik (z.B. e<strong>in</strong> Embargo gegen e<strong>in</strong>en bestimmten Staat) können für das Wirtschafts-<br />

system <strong>in</strong> hohem Maß relevant se<strong>in</strong>.<br />

Umgekehrt hat auch die Ökonomie erheblichen, wenn nicht bestimmenden E<strong>in</strong>fluß auf den<br />

politischen Prozeß. Damit ist nicht nur die direkte E<strong>in</strong>flußnahme von Wirtschaftsunternehmen<br />

z.B. durch zweckgebundene +Parteispenden* geme<strong>in</strong>t. Das Wohl und Wehe <strong>der</strong> Wirtschaft<br />

gilt (noch immer) als primärer Maßstab für die Beurteilung des Erfolgs von <strong>Politik</strong>, und diese<br />

antizipiert deshalb bei ihren Entscheidungen die Reaktion <strong>der</strong> ökonomischen +pressure groups*<br />

– sowohl <strong>der</strong> Wirtschaftsverbände wie <strong>der</strong> Gewerkschaften. <strong>Politik</strong> nimmt damit e<strong>in</strong>e +öko-<br />

nomische Haltung* e<strong>in</strong>. Je nach Blickw<strong>in</strong>kel und gleichermaßen berechtigt läßt sich also beides<br />

behaupten: daß <strong>Politik</strong> Wirtschaft steuert und daß Wirtschaft <strong>Politik</strong> steuert.<br />

<strong>Politik</strong> und Wirtschaft s<strong>in</strong>d jedoch nicht alle<strong>in</strong>e durch die beschriebenen Mechanismen ane<strong>in</strong>an-<br />

<strong>der</strong> (rück)gekoppelt. Beide Sphären weisen e<strong>in</strong>en Überlappungsbereich auf. So gibt es personelle<br />

Überschneidungen (Aufsichtsratsposten für <strong>Politik</strong>er, politisches Engagement von Unternehmern<br />

etc.) und Überschneidungen <strong>in</strong>stitutioneller Art (Bundesbank, Handelskammern usw.). Zudem<br />

besitzt Ökonomie per se e<strong>in</strong>en politischen Gehalt, da diese unmittelbar die Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>der</strong> Menschen und die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen des Sozialen bee<strong>in</strong>flußt. Wirtschaft betreibt damit


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 71<br />

– ob sie es will o<strong>der</strong> nicht – <strong>Politik</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs wird es hier nicht so sehr um den politischen<br />

Aspekt des Ökonomischen gehen, als vielmehr um das paradoxe (Miß-)Verhältnis zwischen<br />

ökonomischem Wandel und den Verharrungstendenzen des politischen Systems.<br />

Der aktuelle ökonomische Wandel, <strong>der</strong> als Arbeitsplatzverlust o<strong>der</strong> wachsen<strong>der</strong> Profit, Angebots-<br />

differenzierung o<strong>der</strong> ökonomische Marg<strong>in</strong>alisierung immer deutlicher auch für jeden e<strong>in</strong>zelnen<br />

spürbar wird, ist vielschichtig und kann im Rahmen dieser Arbeit nicht <strong>in</strong> all se<strong>in</strong>en Dimensionen<br />

behandelt werden. Ich möchte ihn hier deshalb vor allem unter e<strong>in</strong>em Überbegriff diskutieren,<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>ige zentrale Tendenzen dieses Wandels zusammenfaßt und <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />

öffentlichen Diskussion wie <strong>in</strong> den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften e<strong>in</strong>e immer zentralere<br />

Rolle spielt: Globalisierung. 9<br />

Der Globalisierungsbegriff selbst ist relativ neu und hat erst <strong>in</strong> den letzten Jahren e<strong>in</strong>e Inflation<br />

10<br />

erfahren. Die Sache, die er bezeichnet, und die theoretischen Grundannahmen, die er<br />

impliziert, s<strong>in</strong>d dagegen – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> ihren Umrissen – altbekannt. So können wir bereits<br />

bei Marx und Engels lesen:<br />

+Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller<br />

Län<strong>der</strong> kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern <strong>der</strong> Reaktionäre den nationalen Boden<br />

<strong>der</strong> Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien s<strong>in</strong>d vernichtet worden<br />

und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, <strong>der</strong>en E<strong>in</strong>führung<br />

e<strong>in</strong>e Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr e<strong>in</strong>heimische<br />

Rohstoffe, son<strong>der</strong>n den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und <strong>der</strong>en Fabrikate<br />

nicht nur im Lande selbst, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle <strong>der</strong><br />

alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte <strong>der</strong> ent-<br />

ferntesten Län<strong>der</strong> und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle <strong>der</strong> alten lokalen und<br />

nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt e<strong>in</strong> allseitiger Verkehr, e<strong>in</strong>e allseitige<br />

Abhängigkeit <strong>der</strong> Nationen vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Und wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> materiellen, so auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> geistigen Produktion.<br />

Die geistigen Erzeugnisse <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Nationen werden Geme<strong>in</strong>gut. Die nationale E<strong>in</strong>seitigkeit und<br />

Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich […]* (Manifest <strong>der</strong> kommunistischen Partei; S. 34f.)<br />

Hier s<strong>in</strong>d nahezu alle Aspekte angesprochen, die auch <strong>in</strong> aktuellen Globalisierungstheorien<br />

herausgestellt werden: Marx und Engels haben das +Ende <strong>der</strong> nationalen Ökonomie* (Reich)<br />

genauso wie die Delokalisierung <strong>der</strong> Konsumstile und zunehmende Interdependenz des<br />

Weltsystems <strong>in</strong> ihren Ausführungen angerissen. Ihre zugespitzte Beschreibung reflektierte<br />

allerd<strong>in</strong>gs weniger die tatsächlichen damaligen Verhältnisse, son<strong>der</strong>n bedeutete die Extrapolation


72 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

e<strong>in</strong>er komplexen, erst im Beg<strong>in</strong>n bef<strong>in</strong>dlichen Entwicklung. Um vor dieser Komplexität nicht<br />

zu kapitulieren, läßt sich grob, wie schon oben angedeutet, zwischen drei Dimensionen <strong>der</strong><br />

Globalisierung unterscheiden: Ökonomie, <strong>Politik</strong> und Kultur (vgl. auch Sklair: Sociology of<br />

the Global System; S. 5f. sowie Waters: Globalization; S. 7f.). 11<br />

Die kulturelle Dimension wird an dieser Stelle jedoch weitgehend ausgeblendet bleiben. 12<br />

Entsprechend <strong>der</strong> formulierten These e<strong>in</strong>er Dialektik von (sozio-)ökonomischem Wandel und<br />

politischer Statik, soll hier nämlich vor allem geklärt werden, ob und <strong>in</strong>wieweit die politische<br />

<strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung h<strong>in</strong>terherh<strong>in</strong>kt. Dazu ist es s<strong>in</strong>nvoll, sich zunächst zu ver-<br />

deutlichen, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen (soziologischen) Diskussion unter diesem Begriff verstanden<br />

wird. Denn auch wenn die zitierte Passage aus dem +Manifest* e<strong>in</strong>e gute (<strong>in</strong>haltliche) Idee<br />

von Globalisierung vermittelt, so haben Marx und Engels zwar die Sache erfaßt, sich aber<br />

ke<strong>in</strong>en expliziten Begriff davon gemacht. Spr<strong>in</strong>gen wir deshalb <strong>in</strong> die Gegenwart.<br />

Vor allem zwei Def<strong>in</strong>itionen von Globalisierung haben sich im Rahmen des soziologischen<br />

Diskurses als durchsetzungsfähig erwiesen und werden immer wie<strong>der</strong> zitiert: jene von Giddens,<br />

dessen Konzept <strong>der</strong> +live politics* ja bereits vorgestellt wurde (siehe S. 56f.), und jene Roland<br />

Robertsons. Giddens macht deutlich, daß e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> zentralen +Konsequenzen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne*<br />

(1990) ihre globalisierende Wirkung darstellt und daß es im Zuge <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung zu<br />

e<strong>in</strong>em raum-zeitlichen Dehnungsprozeß (des Lokalen) kommt:<br />

+Globalisation can thus be def<strong>in</strong>ed as the <strong>in</strong>tensification of worldwide social relations which l<strong>in</strong>k distant<br />

localities <strong>in</strong> such a way that local happen<strong>in</strong>gs are shaped by events occurr<strong>in</strong>g many miles away and<br />

vice versa.* (The Consequences of Mo<strong>der</strong>nity; S. 64)<br />

Die vier primär relevanten Fel<strong>der</strong> dieses Prozesses s<strong>in</strong>d laut Giddens das (globale) Staatensystem,<br />

die kapitalistische (Welt-)Ökonomie, die (weltweite) Militärordnung und die (<strong>in</strong>ternationale)<br />

Arbeitsteilung (vgl. ebd.; S. 70–78). Im Pr<strong>in</strong>zip ähnlich, aber an<strong>der</strong>s als Giddens auch die<br />

Bewußtse<strong>in</strong>s-Dimension mit e<strong>in</strong>schließend und betonend def<strong>in</strong>iert Robertson (1992):<br />

+Globalization as a concept refers both to the compression of the world and the <strong>in</strong>tensification of<br />

consciousness of the world as a whole.* (Globalization; S. 8) 13<br />

Se<strong>in</strong> (ebenfalls) vierdimensionales globales Feld umfaßt die e<strong>in</strong>zelne Nationalgesellschaft wie<br />

das <strong>in</strong>ternationale System, das e<strong>in</strong>zelne Individuum wie die Menschheit als Ganze, die alle


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 73<br />

14<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dialektischen Wechselbeziehung zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen (vgl. ebd.; S. 25–31). Globalisierung<br />

bedeutet also die wi<strong>der</strong>sprüchliche Gleichzeitigkeit von Universalisierung und Partikularisierung,<br />

Integration und Fragmentisierung etc. (vgl. hierzu auch McGrew: A Global Society?; S. 74f.). 15<br />

Es kommt dabei weniger zu e<strong>in</strong>er Homogenisierung als zu e<strong>in</strong>er Verschränkung und Durch-<br />

mischung. Globalisierung kann entsprechend auch als +strukturelle Hybridisierung* konzeptio-<br />

nalisiert werden (vgl. Pieterse: Globalization as Hybridization). Deshalb bevorzugt Robertson<br />

neuerd<strong>in</strong>gs auch den Hybridbegriff +Glokalisierung*, <strong>der</strong> den dialektischen Charakter des<br />

stattf<strong>in</strong>denden Entgrenzungsprozesses se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach besser zum Ausdruck br<strong>in</strong>gt. Mit<br />

Glokalisierung wird im +Bus<strong>in</strong>ess-Jargon* nämlich die weltweite Vermarktung unter Berück-<br />

sichtigung lokaler Beson<strong>der</strong>heiten bezeichnet (wie sie z.B. <strong>der</strong> Musik-Sen<strong>der</strong> +MTV* erfolgreich<br />

betreibt). Hier f<strong>in</strong>det auf kommerzieller Ebene statt, was Robertson ganz allgeme<strong>in</strong> als Kenn-<br />

zeichen von Globalisierung gilt, die für ihn folglich den Charakter e<strong>in</strong>er globalen Lokalisierung<br />

hat (vgl. Glocalization; S. 28ff.). Komb<strong>in</strong>iert man nun Giddens’ und Robertsons Def<strong>in</strong>itionen<br />

16<br />

<strong>in</strong> kreativer Weise – und mischt e<strong>in</strong> wenig Beck h<strong>in</strong>zu –, so ergeben sich vier (jeweils e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

bed<strong>in</strong>gende) Elemente von +Globalisierung*:<br />

• Die (transport- und kommunikationstechnologische) Schrumpfung <strong>der</strong> räumlichen Distanz<br />

• Die daraus entstehende Intensivierung bzw. Verdichtung <strong>der</strong> weltweiten Beziehungen<br />

• Die somit bewirkte Risiko- und Nutzenvernetzung<br />

• Das hieraus sich entwickelnde (reflexive) globale Bewußtse<strong>in</strong><br />

An<strong>der</strong>s als <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Robertson möchte ich jedoch betonen, daß <strong>der</strong> Globalisierungsbegriff<br />

zu Recht e<strong>in</strong>e expansive Dynamik ausdrückt. Die globale Diversifizierung, die momentan<br />

stattf<strong>in</strong>det, impliziert – auch wenn sie von Lokalisierungsprozessen begleitet wird – die weltweite<br />

Verbreitung zuvor lokal begrenzter ökonomischer, politischer und kultureller Muster und die<br />

17<br />

darauf aufbauende Schaffung e<strong>in</strong>es globalen Netzwerks. Das heißt jedoch nicht, daß Globali-<br />

sierung notwendig gleichbedeutend mit Verwestlichung o<strong>der</strong> Amerikanisierung wäre, wie<br />

es das <strong>in</strong> diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Imperialismus-Schlagwort nahelegt. 18<br />

Wenn Globalisierung aktuell auch und gerade im ökonomischen Bereich zumeist tatsächlich<br />

e<strong>in</strong> +imperialistisches* Gesicht trägt, so zeigt dies nur, daß wir es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart mit e<strong>in</strong>em<br />

unvollkommenen, hierarchisierenden Globalisierungsprozeß zu tun haben. Anzustreben wäre<br />

demgegenüber me<strong>in</strong>es Erachtens e<strong>in</strong>e gleichberechtigte und reziproke Globalisierung, die


74 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

aber wohl nur sehr schwer im Rahmen e<strong>in</strong>er kapitalistischen Weltökonomie und e<strong>in</strong>er von<br />

Nationalstaaten dom<strong>in</strong>ierten <strong>Politik</strong> zu verwirklichen se<strong>in</strong> dürfte. Der Begriff <strong>der</strong> Globalisierung<br />

sprengt deshalb, genau wie <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nebegriff, den Rahmen <strong>der</strong> Aktualität.<br />

Zum Abschluß dieser kurzen Begriffsklärung steht es nun lediglich aus, +Globalisierung* vom<br />

Begriff <strong>der</strong> +Internationalisierung* abzugrenzen. Vor<strong>der</strong>gründig etwas Ähnliches me<strong>in</strong>end und<br />

häufig sogar synonym gebraucht, bezieht sich +Internationalisierung* – im politikwissen-<br />

schaftlichen Sprachgebrauch – auf die Unterstellung e<strong>in</strong>es Gebiets unter e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationales<br />

Regime. Aber auch, wenn man sich nicht auf diese e<strong>in</strong>geschränkte Bedeutung fixieren lassen<br />

will und von +Internationalisierung <strong>der</strong> Wirtschaft* o<strong>der</strong> +Internationalisierung des Kapitals*<br />

etc. spricht, so sollte man sich bewußt se<strong>in</strong>, daß <strong>der</strong> Internationalisierungsbegriff den Staat<br />

als politische E<strong>in</strong>heit voraussetzt, während Globalisierung das nationalistische Pr<strong>in</strong>zip tendenziell<br />

unterhöhlt (siehe Abschnitt 3.1).<br />

Zum<strong>in</strong>dest begrifflich sche<strong>in</strong>t die Sache somit (zunächst) weitgehend geklärt zu se<strong>in</strong>. Nur<br />

wie sehen die +Fakten* aus? – Entsprechend des hier vertretenen ökologischen Ansatzes möchte<br />

ich vor dem Feld <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> die Ökonomie betrachten: Wenn es e<strong>in</strong>en Motor für Globalisierung<br />

gibt, so ist dies nämlich ohne Zweifel das Kapital, se<strong>in</strong> unstillbarer Hunger nach (Mehr-)Wert.<br />

Deshalb ist Globalisierung auch im Bereich <strong>der</strong> Kapital- und F<strong>in</strong>anzmärkte am weitesten fort-<br />

geschritten. Doch beg<strong>in</strong>nen wir ganz +unten*: In <strong>der</strong> ursprünglichen Form <strong>der</strong> Subsistenzwirtschaft<br />

gab es kaum Tausch und Handel. Als man aber damit begann, tauschte und handelte man<br />

primär materielle Güter (d.h. Rohstoffe und Fertigwaren). Diese +Ära des materiellen Tauschs*<br />

reicht bis <strong>in</strong> die Gegenwart h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, denn die +Entstofflichung <strong>der</strong> Wirtschaft* (Menzel) ist noch<br />

nicht so weit fortgeschritten, daß sie den Warenhandel gänzlich absorbiert hätte. Mit etwas<br />

über 60% liegt se<strong>in</strong> Anteil am weltweiten Export zwar rund 10% niedriger als noch Anfang<br />

19<br />

70er Jahre (vgl. Globale Trends 93/94; Abb. 3, S. 210), doch das weitere Abs<strong>in</strong>ken dieser<br />

Rate stößt an die reale Grenze unserer materiellen Bedürfnisse als materielle Wesen. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

hat sich e<strong>in</strong>iges an <strong>der</strong> Struktur und dem Umfang des <strong>in</strong>ternationalen Handels geän<strong>der</strong>t: Es<br />

kam zu e<strong>in</strong>er immer größeren Erweiterung des Tausch-Rahmens (räumliche Extension), und<br />

<strong>der</strong> Anteil wie die Menge <strong>der</strong> über die Staatengrenzen h<strong>in</strong>weg gehandelten Güter hat stark<br />

zugenommen (Volumen-Expansion).<br />

20<br />

Die erste Extensions- und Expansionswelle wurde durch die seefahrerischen +Entdeckungen*<br />

<strong>der</strong> frühen Neuzeit e<strong>in</strong>geleitet, als man zudem begann, die Erde als +Globus* aufzufassen. 21


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 75<br />

Motivation des damals sich entgrenzenden merkantilen Kapitalismus war <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die<br />

E<strong>in</strong>fuhr von Luxusartikeln wie Gewürzen, Seide, Porzellan etc. (vgl. z.B. Rosecrance: Der<br />

neue Handelsstaat; S. 83ff.), und er wurde begleitet von den imperialen Ambitionen <strong>der</strong><br />

Seefahrernationen (imperialer Kolonialismus). Die zweite Extensions- und Expansionswelle<br />

erfolgte im Kontext des fortgeschrittenen Kolonialismus im 18. und vor allem im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

(siehe auch Übersicht 1; S. 76). Die Inklusion <strong>der</strong> unterworfenen Gebiete <strong>in</strong> das Wirtschafts-<br />

geflecht <strong>der</strong> kolonialen +Mutterstaaten* trug (wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit) die Form e<strong>in</strong>er Menschen-<br />

und Ressourcenausbeutung, war jedoch um die Komponente e<strong>in</strong>es oktroyierten Imports von<br />

22<br />

(halb-)<strong>in</strong>dustriellen Fertigwaren erweitert. Insbeson<strong>der</strong>e dieses Faktum ist vermutlich für<br />

das im Vergleich zum Weltsozialprodukt übermäßig starke Anwachsen des <strong>in</strong>ternationalen<br />

Handels zwischen dem Jahr 1820 und dem Beg<strong>in</strong>n des ersten Weltkriegs verantwortlich (vgl.<br />

Maddison: Phases of Capitalist Development; Tab. 4.9, S. 91). 23<br />

Das damals durch direkte Gewalt etablierte Muster e<strong>in</strong>es +ungleichen Tauschs* (Emmanuel) 24<br />

prägte auch die postkoloniale Ära nach dem 2. Weltkrieg, so daß man hier von e<strong>in</strong>em (ökono-<br />

misch) transformierten Kolonialismus sprechen kann – denn die ehemaligen Kolonien waren<br />

im Rahmen <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Arbeitsteilung strukturell benachteiligt, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ungün-<br />

25<br />

stigen Verhältnis <strong>der</strong> +terms of trade* manifestierte. Ich möchte auf diesen Aspekt im Augenblick<br />

jedoch nicht weiter e<strong>in</strong>gehen. Er wird bei <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> Frage nach den ideologischen<br />

Momenten des Globalisierungsbegriffs noch e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielen (siehe S. 82–89).<br />

Zunächst soll zur Verdeutlichung <strong>der</strong> Dimension <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung nur die<br />

weitere allgeme<strong>in</strong>e Entwicklung kurz beleuchtet werden.<br />

Bis zum Beg<strong>in</strong>n des 1. Weltkriegs wuchs <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationale Handel, wie angemerkt, über-<br />

proportional im Vergleich zur Gesamtwirtschaft und erreichte Zuwachsraten zwischen 3,8%<br />

und 5,5% p.a. (vgl. Gordon: The Global Economy; Tab. 4b, S. 43). Die beiden Weltkriege<br />

und die dazwischenliegende große Depression führten dann zur drastischen Verlangsamung<br />

und teilweisen Umkehrung dieses Prozesses (vgl. ebd.). Wie man sieht, ist die ökonomische<br />

Globalisierung also ke<strong>in</strong> l<strong>in</strong>earer und kont<strong>in</strong>uierlicher Prozeß, son<strong>der</strong>n unterliegt Schwankungen<br />

und Verwerfungen. Nach dem 2. Weltkrieg erfolgte jedoch wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> regelrechter Export-Boom,<br />

und es kam (nach dem Scheitern autozentrischer Entwicklungsmodelle) zur immer engeren<br />

(allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>esfalls gleichberechtigten) E<strong>in</strong>beziehung auch <strong>der</strong> peripheren Ökonomien,<br />

weshalb ich für diese Zeit von e<strong>in</strong>er neuerlichen, <strong>der</strong> dritten Extensions- und Expansionswelle


76 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Übersicht 1: Wellen <strong>der</strong> Extension und Expansion<br />

1. Merkantiler Kapitalismus und imperialer Kolonialismus (16. bis 18. Jahrhun<strong>der</strong>t)<br />

2. Semi-<strong>in</strong>dustrieller Kapitalismus und fortgeschrittener Kolonialismus des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

3. Industrieller Kapitalismus und transformierter Kolonialismus des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

4. <strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrieller und globalisierter Kapitalismus des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts?<br />

sprechen möchte. Mit e<strong>in</strong>em durchschnittlichen Wachstum von 7,8% p.a. zwischen 1948<br />

und 1973 wuchs <strong>der</strong> Welthandel sogar noch stärker als vor dem ersten Weltkrieg (Zahl errechnet<br />

26<br />

nach ebd.). Dieses +Goldene Zeitalter* des <strong>in</strong>ternationalen Handels (Maddison) hatte jedoch<br />

mit dem Ölschock zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> 70er Jahre e<strong>in</strong> jähes Ende, und das durchschnittliche Export-<br />

wachstum sank zwischen 1973 und 1984 auf magere 3,2% p.a. ab (vgl. ebd.).<br />

Trotzdem stieg die Außenhandelsquote (im gewichteten Durchschnitt aller Län<strong>der</strong>) auch zwischen<br />

1960 und 1980 kont<strong>in</strong>uierlich. In Westeuropa überschritt sie sogar die 25%-Marke, was e<strong>in</strong>er<br />

Steigerung um 50% gleich kommt. Erst seit Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre ist allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong> leichter<br />

E<strong>in</strong>bruch festzustellen (vgl. Globale Trends 93/94; Abb. 4, S. 210). Das spricht für e<strong>in</strong>e zwar<br />

nicht mehr zunehmende, aber <strong>in</strong>sgesamt enorme Bedeutung des <strong>in</strong>ternationalen Handels,<br />

<strong>der</strong> nach <strong>der</strong> Stagnationsphase <strong>in</strong>folge des Ölschocks nicht nur wie<strong>der</strong> an Dynamik zugenommen<br />

27<br />

hat (1992 betrug das Handelswachstum 4,7%), son<strong>der</strong>n jetzt auch e<strong>in</strong>en tatsächlich globalen<br />

Markt umfaßt. Denn durch den politischen Umbruch <strong>in</strong> den meisten sozialistischen Staaten,<br />

die stark vom Rest <strong>der</strong> Weltwirtschaft abgekoppelt waren und nur ca. 10% Prozent des Welt-<br />

handels (vorwiegend unter sich) abwickelten (siehe Tab. 5, S. 86), ist es seit 1989 zu e<strong>in</strong>er<br />

nochmaligen Rahmenerweiterung gekommen – auch wenn die (welt)ökonomische Bedeutung<br />

<strong>der</strong> meisten postsozialistischen Transformationsstaaten <strong>der</strong>zeit marg<strong>in</strong>al ist. 28<br />

Der sich entgrenzende Handel stellt jedoch nur e<strong>in</strong>e Ebene <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung<br />

dar (siehe Übersicht 2, S. 78). Zudem verläuft die Abwicklung des <strong>in</strong>ternationalen Handels<br />

(noch immer) nicht ungeh<strong>in</strong><strong>der</strong>t und stößt auf protektionistische Maßnahmen durch die<br />

souveränen Staaten zum Schutz ihrer nationalen Produktion. Denn <strong>der</strong> anfängliche Kapitalismus<br />

<strong>der</strong> freien Konkurrenz (unter den Industrienationen), <strong>der</strong> laut Karl Polanyi durch e<strong>in</strong> System<br />

des Kräftegleichgewichts, den <strong>in</strong>ternationalen Goldstandard sowie die Selbstregulation des<br />

Marktes im liberalen Staat ermöglicht wurde, stellte letztendlich e<strong>in</strong>e nicht auf Dauer realisierbare


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 77<br />

+Utopie* dar, und man ergriff zwangsläufig Mittel gegen den zerstörerischen Wildwuchs des<br />

Marktes, <strong>der</strong> nicht nur die natürliche, son<strong>der</strong>n auch die soziale Basis <strong>der</strong> Gesellschaft zu ver-<br />

29<br />

nichten drohte (vgl. The Great Transformation; S. 17f.). Konträr zu Polanyi, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Beh<strong>in</strong>-<br />

<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> ökonomischen Entwicklung durch die Interventionsversuche des Staates befürchtete,<br />

heben sozialistisch orientierte Autoren eher die +Erfolge* dieser <strong>Politik</strong> hervor und sprechen<br />

für die postliberale Ära <strong>der</strong> <strong>in</strong>terventionistisch transformierten Marktwirtschaft im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

vom organisierten bzw. Staatsmonopolkapitalismus (vgl. Kocka: Organisierter Kapitalismus<br />

30<br />

o<strong>der</strong> Staatsmonopolistischer Kaptalismus?). Im +organisierten Kapitalismus* (Hilferd<strong>in</strong>g) über-<br />

nimmt nicht nur <strong>der</strong> Staat die Regulation des Marktes, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Klassengegensatz ist durch<br />

das +sozialpartnerschaftliche* System von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden solcher-<br />

31<br />

maßen <strong>in</strong>stitutionalisiert, daß dem Klassenkampf die Spitze genommen wird. E<strong>in</strong>e (begrenzte)<br />

wohlfahrtsstaatliche Umverteilung schafft dafür die materielle Basis.<br />

Fassen wir also noch e<strong>in</strong>mal zusammen und betrachten wir die Folgen für den <strong>in</strong>ternationalen<br />

Handel: Die Klammer des durch e<strong>in</strong>e begrenzte Umverteilung erkauften und auch dem Kapital<br />

dienlichen sozialen Friedens ist <strong>der</strong> (National-)Staat, <strong>der</strong>, um diese Funktion erfüllen zu können,<br />

se<strong>in</strong>e Grenzen nach außen auch ökonomisch sichern muß. Schließlich können die Mittel<br />

für die wohlfahrtsstaatliche Grundsicherung nur durch die (maßvolle) Besteuerung des nationalen<br />

Kapitals bereitgestellt werden. Zum Schutz dieses nationalen Kapitals und da sich fremdes<br />

Kapital nicht direkt besteuern läßt, versuchte man deshalb, die Reichweite des staatlichen<br />

Gewaltmonopols durch Zölle und Kont<strong>in</strong>gentierungen künstlich zu verlängern.<br />

Doch was lange Zeit <strong>der</strong> Entwicklung des Kapitalismus diente, begann, als die Grenze des<br />

auf dieser Basis möglichen Wachstums erreicht war, se<strong>in</strong>e Entfaltung zu beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Instrumente<br />

wie das 1947 geschlossene +General Agreement on Trade and Tarifs* (GATT), das mittlerweile<br />

schon mehrere Erweiterungen erfahren hat und dem <strong>in</strong>zwischen weit über 100 Staaten bei-<br />

32<br />

getreten s<strong>in</strong>d (1994 waren es 125), setzten hier zwar politisch an und versuchten e<strong>in</strong>e Liberali-<br />

sierung des Welthandels durch die Festschreibung des Abbaus von Zöllen und E<strong>in</strong>fuhr-<br />

33<br />

beschränkungen sowie durch die sog. +Meistbegünstigungsklausel* herbeizuführen. In <strong>der</strong><br />

Praxis än<strong>der</strong>te sich aber wenig. Der freie Welthandel blieb Theorie. In <strong>der</strong> Tat griff man nun<br />

zwar nicht mehr so leicht zum Mittel direkter Zölle, doch viele Staaten versuchten durch<br />

den Aufbau nicht-tarifärer Handelsh<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse (wie z.B. spezifische technische Normen o<strong>der</strong><br />

Verbote von bestimmten Inhaltsstoffen <strong>in</strong> Nahrungsmitteln) das GATT-Abkommen zu unterlaufen.


78 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Übersicht 2: Ebenen <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung<br />

1. Internationalisierung des Handels (kennzeichnet die Wellen 1 und 2)<br />

2. Transnationalisierung <strong>der</strong> Konzerne und Zunahme <strong>der</strong> Direkt<strong>in</strong>vestitionen (ab Welle 3)<br />

3. Globalisierung <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzmärkte (stellt möglicherweise den Übergang zur Welle 4 dar)<br />

4. Globale Tertiärisierung? (Welle 4)<br />

Das gilt gerade für stark exportabhängige Ökonomien wie die USA und die Län<strong>der</strong> Westeuropas,<br />

die angesichts <strong>der</strong> verstärkten <strong>in</strong>ternationalen Konkurrenz durch die aufstrebenden NICs (newly<br />

<strong>in</strong>dustrializ<strong>in</strong>g countries) <strong>in</strong> Bedrängnis gekommen s<strong>in</strong>d (vgl. hierzu z.B. Franzmeyer: Vorteil<br />

für alle?; S. 247–250).<br />

Die Staatengrenzen versperrten dem Handels-Kapital also auch nach dem GATT-Abkommen<br />

den Weg. Es wurden darum von den Unternehmen Wege gesucht, die nationalen Barrieren<br />

zu überw<strong>in</strong>den, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit entstanden vermehrt mult<strong>in</strong>ationale Konzerne,<br />

die ihr Operationsfeld nicht alle<strong>in</strong>e durch <strong>in</strong>ternationalen Handel ausdehnten, son<strong>der</strong>n auch<br />

Produktionsableger und Tochtergesellschaften <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Staaten gründeten. Solche Direkt-<br />

<strong>in</strong>vestitionen s<strong>in</strong>d vor allem dann <strong>in</strong>teressant, wenn sie es dem e<strong>in</strong>gesetzten Kapital erlauben,<br />

höhere Surplusraten zu realisieren, als dies im nationalen Kontext möglich wäre (vgl. hierzu<br />

Busch: Die mult<strong>in</strong>ationalen Konzerne; S. 96–106).<br />

E<strong>in</strong> Blick auf die betreffenden Zahlen vermittelt e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>drückliches Bild: Die Bestandswerte<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> G7-Staaten an Direkt<strong>in</strong>vestitionen (zusammen werden <strong>in</strong> ihnen ca. 80% gehalten)<br />

stiegen alle<strong>in</strong>e zwischen 1976 und 1990 von 239 auf 1.395 Milliarden US-Dollar, wobei<br />

das rasanteste Wachstum Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre stattfand (vgl. Globale Trends 93/94; S. 211).<br />

Obwohl <strong>der</strong> Großteil des Kapitals <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> reichen Industriestaaten verbleibt, können<br />

neuerd<strong>in</strong>gs auch e<strong>in</strong>ige Entwicklungslän<strong>der</strong>, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> Asien und Late<strong>in</strong>amerika, von<br />

diesem Trend profitieren (siehe hierzu auch S. 86).<br />

Interessant ist ferner die Tatsache, daß das Wachstum <strong>der</strong> mult<strong>in</strong>ationalen Konzerne <strong>in</strong> den<br />

letzten Jahren im Durchschnitt <strong>in</strong> etwa doppelt bis dreimal so groß gewesen ist wie das<br />

<strong>in</strong>dustrielle Wachstum <strong>in</strong> ihren +Mutterstaaten* (vgl. Mulhearn: Changes and Development<br />

<strong>in</strong> the Global Economy; Tab. 7.14, S. 187). Die größten <strong>der</strong> +Multis* übertreffen sogar kle<strong>in</strong>ere<br />

Nationalökonomien an Kapitalvolumen. In den letzten Jahren hat sich allerd<strong>in</strong>gs die Struktur


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 79<br />

des <strong>in</strong>ternationalen Engagements <strong>der</strong> großen Firmen geän<strong>der</strong>t. Immer weniger werden direkte<br />

Konzernableger o<strong>der</strong> Tochtergesellschaften gegründet, son<strong>der</strong>n (risikoärmere) jo<strong>in</strong>t ventures<br />

(Kooperationen mit ansässigen Unternehmen) o<strong>der</strong> Lizenzabkommen etc. werden e<strong>in</strong>gegangen<br />

bzw. getroffen (vgl. ebd.; S. 185). Vergleicht man die Aufteilung <strong>der</strong> Direkt<strong>in</strong>vestitionen auf<br />

die verschiedenen Branchen, so ergibt sich auch e<strong>in</strong> verschobenes Gewicht: Machten Investi-<br />

tionen <strong>in</strong> <strong>der</strong> verarbeitenden Industrie 1976 noch ca. 45% aus, so sank dieser Anteil bis 1990<br />

auf ca. 33% ab. Investitionen im F<strong>in</strong>anzwesen und <strong>der</strong> Dienstleistungsbranche nahmen dagegen<br />

erheblich zu. Ihre Anteile an den getätigten Auslands<strong>in</strong>vestitionen steigerten sich von 11,3%<br />

auf 24,0% (F<strong>in</strong>anzwesen/Banken) bzw. von 1,2% auf 8,1% (Dienstleistungen). (Vgl. Menzel:<br />

Die neue Weltwirtschaft; Tab. 5, S. 36)<br />

Der beschriebene Trend zur Transnationalisierung <strong>der</strong> Konzerne unterm<strong>in</strong>iert <strong>in</strong> gewisser Weise<br />

die Grundlage des organisierten Kapitalismus, weshalb Lash und Urry sogar von se<strong>in</strong>em Ende<br />

sprechen und darauf verweisen, daß <strong>der</strong> Welthandel immer weniger den Charakter e<strong>in</strong>es<br />

<strong>in</strong>ternationalen Handels trägt, son<strong>der</strong>n schon heute mit e<strong>in</strong>em Anteil von bis zu 45% alle<strong>in</strong>e<br />

zwischen und <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> mult<strong>in</strong>ationalen Konzerne abgewickelt wird (vgl. The End of<br />

Organized Capitalism; S. 197). Sie machen ihre vielfach aufgegriffene These aber natürlich<br />

nicht alle<strong>in</strong>e hieran fest, son<strong>der</strong>n führen zum Beleg unter an<strong>der</strong>em auch die s<strong>in</strong>kenden E<strong>in</strong>fluß-<br />

möglichkeiten <strong>der</strong> Staaten auf das Marktgeschehen an, da das Potential e<strong>in</strong>er nationalen<br />

F<strong>in</strong>anzpolitik im global vernetzten F<strong>in</strong>anzmarkt <strong>der</strong> Gegenwart stark e<strong>in</strong>geschränkt ist (vgl.<br />

ebd.; S. 201–209).<br />

Selbst <strong>in</strong> den wirtschaftlich mächtigen Vere<strong>in</strong>igten Staaten s<strong>in</strong>kt die Fähigkeit zur Intervention.<br />

Ihre ehemals hegemoniale Stellung, die u.a. auf <strong>der</strong> marktbeherrschenden Stellung e<strong>in</strong>iger<br />

amerikanischer Unternehmen (wie z.B. IBM <strong>in</strong> <strong>der</strong> Computerbranche) beruhte, hat abgenommen.<br />

Vor allem die Festsetzung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong> Gold konvertiblen US-Dollars als <strong>in</strong>ternationale Leitwährung<br />

im Zuge des Abkommens von Bretton Woods (1944) garantierte nicht nur lange Zeit stabile<br />

Wechselkurse, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e amerikanische Vorherrschaft im <strong>in</strong>ternationalen F<strong>in</strong>anzsystem<br />

34<br />

(vgl. hierzu auch Mitchel: Nature and Government of the Global Economy; S. 183ff.). Als<br />

dann aber die zunehmende Staatsverschuldung 1971 die US-Regierung zwang, den Dollar<br />

35<br />

abzuwerten sowie die Konvertibilität des Dollars <strong>in</strong> Gold aufzukündigen, verstärkte dies<br />

den sich schon zuvor abzeichnenden Trend zur Liberalisierung und Diversifizierung des <strong>in</strong>ter-<br />

nationalen F<strong>in</strong>anzmarkts, wobei private Banken e<strong>in</strong>e immer größere Rolle spielten und die


80 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Gewichte sich zugunsten Westeuropas und Japans verschoben (vgl. Frieden: Bank<strong>in</strong>g on the<br />

World; S. 87ff.).<br />

Ob es sich deshalb schon um das Ende des organisierten Kapitalismus handeln muß, ist me<strong>in</strong>er<br />

Me<strong>in</strong>ung nach jedoch fraglich. Auch Claus Offe, auf den sich Lash und Urry beziehen, wollte<br />

mit se<strong>in</strong>em Begriff des desorganisierten Kapitalismus ke<strong>in</strong>e explizite Gegenthese zum Modell<br />

des organisierten Kapitalismus formulieren, son<strong>der</strong>n nur e<strong>in</strong>e heuristische Basis schaffen, von<br />

<strong>der</strong> aus die Frage nach dem Verhältnis zwischen sozialer Macht und politischer Autorität<br />

neu gestellt werden kann (vgl. Disorganized Capitalism; S. 6). Und selbst wenn vielleicht<br />

<strong>der</strong> staatlich organisierte Kapitalismus e<strong>in</strong> Modell mit schw<strong>in</strong>den<strong>der</strong> Zukunft darstellt, so hat<br />

sich e<strong>in</strong> selbstorganisierter Kapitalismus e<strong>in</strong> eigenes, vom Nationalstaat abgekoppeltes System<br />

<strong>der</strong> Sicherung geschaffen, das zwar äußerst labil und zerbrechlich, aber trotzdem effektiv<br />

ist und genau auf <strong>der</strong> oben angesprochenen <strong>in</strong>ternationalen F<strong>in</strong>anzverflechtung beruht. Das<br />

Zerreißen dieses Netzes würde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat sehr wahrsche<strong>in</strong>lich zum allgeme<strong>in</strong>en und schlagartigen<br />

36<br />

Kollaps des <strong>in</strong>ternationalen F<strong>in</strong>anzsystems führen, doch kompensiert die Geschw<strong>in</strong>digkeit<br />

<strong>der</strong> Transaktionen und ihre globale Streuung die vormals, unter den Bed<strong>in</strong>gungen des natio-<br />

nalstaatlich organisierten Kapitalismus, gegebene Berechenbarkeit – jedenfalls so lange wirklich<br />

ernste und lange andauernde Krisensituationen ausbleiben.<br />

Was sich hier abzeichnet, bedeutet möglicherweise den Übergang zu e<strong>in</strong>er neuen Ära des<br />

immateriellen Tauschs. Begriffe wie +Entstofflichung* (Menzel) o<strong>der</strong> +symbolische Ökonomie*<br />

(Neyer) versuchen, dem Ausdruck zu verleihen. Die immateriellen Tendenzen des Spätkapita-<br />

lismus sollten, wie bereits oben angedeutet (siehe S. 74), jedoch nicht darüber h<strong>in</strong>wegtäuschen,<br />

daß jede Ökonomie e<strong>in</strong>e materielle Basis benötigt. Die symbolische Ökonomie des Geldes<br />

als Abstraktionsform <strong>der</strong> +realen* Kapitalien kann den materiellen Tausch nicht ersetzen.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist sie auf dem besten Weg zur dom<strong>in</strong>anten Form <strong>der</strong> Mehrwertakkumulation zu<br />

werden. Der Anteil <strong>der</strong> durch re<strong>in</strong>e Kapitalgeschäfte <strong>in</strong>ternational erwirtschafteten Gew<strong>in</strong>ne<br />

37<br />

stieg zwischen 1961 und 1993 von 7% auf 19% an, und <strong>der</strong> tägliche Umsatz an den F<strong>in</strong>anz-<br />

märkten hat das Volumen von e<strong>in</strong>er Billion Dollar erreicht (vgl. Neyer: Globaler Markt und<br />

territorialer Staat; S. 295ff.). Dabei spielen <strong>der</strong>ivative F<strong>in</strong>anz<strong>in</strong>strumente (Optionen, Futures,<br />

Swaps etc.) seit Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre e<strong>in</strong>e immer bedeuten<strong>der</strong>e Rolle, und sowohl <strong>der</strong> Anteil<br />

+offizieller* Gel<strong>der</strong> wie <strong>der</strong> Prozentsatz längerfristiger Investitionen sank erheblich (vgl. Alworth/-<br />

Turner: The Global Patterns of Capital Flows <strong>in</strong> the 1980s; S. 125f.).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 81<br />

E<strong>in</strong>e wichtige Voraussetzung für diese Entwicklung war die Schaffung neuer Kommunikations-<br />

technologien, was e<strong>in</strong>e rasche Abwicklung <strong>der</strong> weltweiten Transaktionen ermöglichte (vgl.<br />

McKenzie/Dwight: Quicksilver Capital; S. 58ff.). Technologische Innovationen bilden auch<br />

die Grundlage für die zunehmende Bedeutung des <strong>in</strong>ternationalen Handels mit Dienstleistungen<br />

38<br />

(vgl. hierzu Sauvant: Services and Data Service). Der allgeme<strong>in</strong>e Trend zu e<strong>in</strong>er wissensbasierten<br />

Dienstleistungsgesellschaft wurde ja schon im Rahmen <strong>der</strong> Diskussion um die post<strong>in</strong>dustrielle<br />

Gesellschaft zum Gegenstand <strong>der</strong> Darstellung. Die diesbezüglichen Thesen Daniel Bells (siehe<br />

S. LIVf.) können auch auf globalen Maßstab ausgedehnt werden, obwohl sie noch eher projek-<br />

tiven Charakter hatten, als er sie (1973) aufstellte. Bell war allerd<strong>in</strong>gs nicht <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong><br />

die Dienstleistungen <strong>in</strong>s Zentrum <strong>der</strong> Ökonomie rücken sah, son<strong>der</strong>n bereits Fourastié hatte<br />

(1963) weitere Wachstumsmöglichkeiten hauptsächlich im tertiären Sektor gesehen, nachdem<br />

(<strong>in</strong> den Industriestaaten) die fortgeschrittene Sättigung mit <strong>in</strong>dustriellen Gütern die Wachstums-<br />

potentiale im sekundären Sektor begrenzt (vgl. Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts;<br />

S. 241ff.).<br />

Was damals weitgehend Theorie war, ist heute zur bitteren Wirklichkeit für viele produzierende<br />

Unternehmen geworden. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge gezwungen, sich ihre Marktchancen durch<br />

die Umstellung von fordistischer Massenproduktion auf neue, <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Marktlage<br />

angepaßte Produktionsmethoden zu sichern. Innerhalb des gleichzeitig globalisierten und<br />

fragmentisierten Marktes muß nämlich schnell und flexibel auf zunehmend <strong>in</strong>dividualisierte<br />

Konsumbedürfnisse reagiert werden. Lash und Urry sprechen deshalb von +flexible specialization*<br />

(vgl. The End of Organized Capitalism; S. 199). David Harvey, <strong>der</strong> zu ganz ähnlichen Schluß-<br />

folgerungen gelangt, hat sich dagegen für die Bezeichnung +flexible accumulation* entschieden,<br />

um diesem Wandel begrifflichen Ausdruck zu verleihen (vgl. The Condition of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity;<br />

39<br />

S. 147). In ihrer neuesten Arbeit betonen Lash und Urry jedoch, daß beide Begriffe – genauso<br />

wie die Rede vom <strong>Post</strong>-Fordismus – die aktuellen ökonomischen Verhältnisse nur ungenügend<br />

spiegeln: Denn diese seien durch die immer zentralere Rolle von Information und Wissen<br />

(auch im Produktionssektor) gekennzeichnet. Deshalb schlagen sie nunmehr die Bezeichnung<br />

+reflexive accumulation* vor, welche die aktuelle Entwicklung ihrer Me<strong>in</strong>ung nach am besten<br />

zu fassen vermag (vgl. Economies of Signs and Space; S. 60ff.).<br />

Doch wie weit ist die oben angesprochene Tertiärisierung <strong>der</strong> Wirtschaft tatsächlich fort-<br />

geschritten? – Ulrich Menzel hat hierzu <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em schon mehrfach zitierten Aufsatz +Die neue


82 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Weltwirtschaft* (1994) aufschlußreiches Zahlenmaterial zusammengestellt: Betrachtet man<br />

die Weltökonomie <strong>in</strong>sgesamt, so zeigt sich, daß <strong>der</strong> Anteil des tertiären Sektors am Sozialprodukt<br />

von 1960 bis 1989 von 52,3% auf 64% angestiegen ist. Allerd<strong>in</strong>gs ergeben sich erhebliche<br />

Unterschiede zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Staaten. Am weitesten ist <strong>der</strong> Tertiärisierungsprozeß<br />

<strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten fortgeschritten. Dort erreichte 1989 <strong>der</strong> Anteil des tertiären Sektors<br />

am BIP (Brutto<strong>in</strong>landsprodukt) 73,1% und hat mittlerweile voraussichtlich bereits die 80%-Marke<br />

überschritten. Die Bundesrepublik (53,6%) und Japan (59,3%) hatten dagegen im selben Jahr<br />

noch nicht e<strong>in</strong>mal den Tertiärisierungsgrad <strong>der</strong> USA von 1960 erreicht (dieser betrug 59,7%),<br />

aber auch hier zeigte sich e<strong>in</strong> deutliches Wachstum <strong>der</strong> Bedeutung des tertiären Sektors. 40<br />

Dies trifft selbst auf die meisten Entwicklungslän<strong>der</strong> zu. +Schwellenökonomien* wie Brasilien<br />

(66,5%) o<strong>der</strong> Mexiko (60,9%) zeigen sogar höhere Raten als viele Industriestaaten. (Vgl. dort<br />

Tab. 1, S. 36) 41<br />

Doch nicht nur im nationalen Kontext werden tertiäre Aktivitäten zum (primär) bedeutenden<br />

Wirtschaftsfaktor. Auch e<strong>in</strong> immer größerer Anteil <strong>der</strong> ausländischen Direkt<strong>in</strong>vestitionen wird<br />

im Dienstleistungssektor getätigt, worauf ja bereits h<strong>in</strong>gewiesen wurde (siehe S. 79). Zudem<br />

werden Dienstleistungen zunehmend global gehandelt. E<strong>in</strong> Beispiel dafür ist die blühende<br />

Software-Industrie im <strong>in</strong>dischen Bangalore, wo für ausländische Auftraggeber <strong>in</strong>zwischen nicht<br />

nur e<strong>in</strong>fache Buchhaltungsaufgaben übernommen, son<strong>der</strong>n eigenständig Programme entwickelt<br />

42<br />

werden (vgl. z.B. Fischermann: Die Juppies von Bangalore). Allerd<strong>in</strong>gs ist darauf h<strong>in</strong>zuweisen,<br />

daß <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Dienstleistungen am Export zwischen 1961 und 1991 von fast 20% auf<br />

ca. 16% zurückg<strong>in</strong>g (vgl. Globale Trends 93/94; Schaubild 3, S. 210), was jedoch nicht heißt,<br />

daß auch die absoluten Zahlen e<strong>in</strong>en Abwärtstrend aufweisen. Tatsächlich wuchs <strong>der</strong> <strong>in</strong>ter-<br />

nationale Handel mit Dienstleistungen <strong>in</strong> den 80er Jahren sogar stärker als <strong>der</strong> Warenhandel<br />

(vgl. Sauvant: The Tradability of Services; S. 114). 43<br />

Alle beschriebenen Entwicklungen zusammengenommen, bedeutet ökonomische Globalisierung<br />

also nicht nur e<strong>in</strong>en quantitativen Anstieg <strong>der</strong> transnationalen Wirtschaftsbeziehungen. Sie<br />

geht als Globalisierung <strong>der</strong> zweiten, dritten und vierten Stufe auch mit e<strong>in</strong>em qualitativen<br />

Wandel e<strong>in</strong>her: Vom Warenhandel zu Direkt<strong>in</strong>vestitionen, vom Warenhandel zu F<strong>in</strong>anz-<br />

spekulationen und vom Warenhandel zum Handel mit Dienstleistungen.<br />

Ziel dieser Betrachtung ist es jedoch nicht alle<strong>in</strong>e, die Dimension(en) ökonomischer Globali-<br />

sierung vor Augen zu führen, son<strong>der</strong>n zu klären, ob und <strong>in</strong>wieweit die politische Entwicklung


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 83<br />

den ökonomischen Transformationsprozessen h<strong>in</strong>terherh<strong>in</strong>kt. Bevor dies aber durch e<strong>in</strong>e Analyse<br />

<strong>der</strong> politischen (Welt-)Strukturverän<strong>der</strong>ungen geschehen kann, sollte man sich bewußt machen,<br />

daß Globalisierung als Begriff auch e<strong>in</strong> erhebliches ideologisches Moment be<strong>in</strong>haltet und,<br />

als ökonomischer Angleichungsprozeß verstanden, durchaus fraglich ist (vgl. z.B. Hirst/Thompson:<br />

44<br />

Globalization <strong>in</strong> Question). Allzu häufig verdeckt die Rede von <strong>der</strong> Globalisierung nur die<br />

anhaltende ungleiche regionale Entwicklung und dient überdies als willkommene (neoliberale)<br />

Rechtfertigung für den Abbau des Sozialstaats, da angesichts <strong>der</strong> globalisierten Märkte die<br />

nationale Wirtschaft angeblich nur durch drastische E<strong>in</strong>schnitte <strong>in</strong>s soziale Netz konkurrenzfähig<br />

zu erhalten sei (vgl. hierzu auch Borchert: Sozialstaat unter Druck). 45<br />

Bisher wurde hier ökonomische Globalisierung also vere<strong>in</strong>fachend weitgehend ohne die Berück-<br />

sichtigung bestehen<strong>der</strong> regionaler Disparitäten dargestellt. Diese zunächst durchaus s<strong>in</strong>nvolle,<br />

die Verlaufsdynamik herausstellende Beschränkung erzeugte jedoch, wie angemerkt, e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>seitiges und +falsches* Bild des stattf<strong>in</strong>denden Globalisierungsprozesses, da dieser nicht<br />

homogen und egalisierend, son<strong>der</strong>n heterogen und hierarchisierend verläuft. Das entstandene<br />

verzerrte Bild muß nun durch e<strong>in</strong>e räumlich differenzierende Analyse korrigiert und ergänzt<br />

werden. Dazu ist e<strong>in</strong> Rückgriff auf die von Wallerste<strong>in</strong> getroffene Unterscheidung zwischen<br />

Zentrum, Semiperipherie und Peripherie s<strong>in</strong>nvoll:<br />

Die Zentrumsnationen s<strong>in</strong>d laut Wallerste<strong>in</strong> kulturell hoch <strong>in</strong>tegriert (weshalb er hier auch<br />

an<strong>der</strong>s als bei Peripherie und Semiperipherie den Begriff +Nationen* verwendet), haben sich<br />

e<strong>in</strong>e effiziente Staatsmasch<strong>in</strong>erie geschaffen und können (deshalb) auch e<strong>in</strong>en hohen öko-<br />

nomischen +Entwicklungsstand* aufweisen. Die peripheren Gebiete verfügen dagegen nur<br />

über e<strong>in</strong>e schwache kulturelle Integration wie politische Organisation, was se<strong>in</strong>e Ursache<br />

im (Neo-)Kolonialismus <strong>der</strong> Zentrumsnationen hat, von <strong>der</strong>en Wirtschaftssystem die Ökonomie<br />

<strong>der</strong> Peripherie stark abhängig ist. Die Semiperipherie nimmt bezüglich ihrer kulturellen, poli-<br />

tischen und ökonomischen Entwicklung e<strong>in</strong>e Mittelposition e<strong>in</strong>, doch stellt sie nicht e<strong>in</strong>fach<br />

e<strong>in</strong>e Verlegenheitskategorie dar, son<strong>der</strong>n sie ist e<strong>in</strong> notwendiges strukturelles Element im<br />

System <strong>der</strong> kapitalistischen Weltökonomie, da sie auf <strong>der</strong> Weltebene e<strong>in</strong>e ähnliche +Pufferrolle*<br />

spielt wie die Mittelschichten im kapitalistischen Staat. (Vgl. The Mo<strong>der</strong>n World-System; S.<br />

349f.) 46<br />

47<br />

Diese Dreiteilung <strong>in</strong> Peripherie, Semiperipherie und Zentrum ist sicher vere<strong>in</strong>fachend, und<br />

externe Faktoren s<strong>in</strong>d bei <strong>der</strong> Analyse von Ungleichheit, an<strong>der</strong>s als Wallerste<strong>in</strong>s theoretische


84 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Implikationen dies nahelegen, immer <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit <strong>in</strong>ternen Faktoren zu untersuchen<br />

(vgl. hierzu auch Bradshaw/Wallace: Global Inequalities; S. 53–57). Zudem f<strong>in</strong>den sich zuneh-<br />

mend horizontale Netzwerke (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e nichtstaatlicher Akteure), die die vertikale Welt-<br />

struktur überformen. Deshalb ist Mittelman zuzustimmen, wenn er bemerkt:<br />

+Varied regional divisions of labour are emerg<strong>in</strong>g, tethered <strong>in</strong> different ways to global structures, each<br />

one engaged <strong>in</strong> unequal transactions with world centres of production and f<strong>in</strong>ance and presented<br />

with dist<strong>in</strong>ctive development possibilities.* (Reth<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g the International Division of Labour <strong>in</strong> the Context<br />

of Globalisation; S. 279)<br />

An<strong>der</strong>erseits bietet Wallerste<strong>in</strong>s Modell e<strong>in</strong>en analytischen und heuristischen Bezugsrahmen,<br />

<strong>der</strong> es e<strong>in</strong>em erlaubt, die aktuelle Charakteristik des Globalisierungsprozesses als e<strong>in</strong>e Entwicklung<br />

zur Ungleichheit zu erkennen, was für Wolf-Dieter Narr und Alexan<strong>der</strong> Schubert sogar den<br />

+sozialen Kern* <strong>der</strong> Globalisierung (im Rahmen e<strong>in</strong>er kapitalistisch ausgerichteten Weltökonomie)<br />

ausmacht:<br />

+Ungleichheitsproduktion – das ist <strong>der</strong> soziale Kern des Transnationalisierungsprozesses. Die globalen<br />

Fragmentisierungen s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong> zufälliges Ereignis <strong>der</strong> Weltökonomie, die durch ›richtige Wirtschaftspolitik‹<br />

zu überw<strong>in</strong>den wären. Der transnationalen E<strong>in</strong>heit globaler Produktions-, Dienstleistungs-, Handels-<br />

und F<strong>in</strong>anzierungsprozesse stehen millionenfach aufgesplitterte Schicksale <strong>der</strong> davon Ausgegrenzten<br />

gegenüber […] Jenseits von Profit- und Machtkriterien werden ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>en gesellschaftlichen Werte<br />

als Bestandteil <strong>der</strong> Effizienzprüfung zugelassen.* (Narr/Schubert: Weltökonomie; S. 43)<br />

Doch ist diese +harte* Aussage von Narr und Schubert durch +harte* empirische Fakten zu<br />

belegen? – Das verfügbare Zahlenmaterial bietet dafür tatsächlich e<strong>in</strong>ige Anhaltspunkte. 48<br />

E<strong>in</strong> Blick auf die Entwicklung des pro-Kopf-E<strong>in</strong>kommens zeigt z.B., daß die Schere zwischen<br />

armen und reichen Län<strong>der</strong>n immer weiter ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>geht. War das durchschnittliche pro-Kopf-<br />

E<strong>in</strong>kommen des reichsten Fünftels (gemessen am Bruttosozialprodukt) 1970 noch knapp 32<br />

mal größer als im ärmsten Fünftel, so war es Ende <strong>der</strong> 80er Jahre schon fast 55 mal höher<br />

(siehe Tab. 3).<br />

Wenn man die absoluten Zahlen betrachtet, so ergibt sich e<strong>in</strong> noch erschrecken<strong>der</strong>es Bild:<br />

In den armen Län<strong>der</strong>n (low <strong>in</strong>come economies) betrug das Durchschnittse<strong>in</strong>kommen pro<br />

Kopf und Jahr noch 1989 lediglich 330 US-Dollar. In Län<strong>der</strong>n mit mittlerem E<strong>in</strong>kommen<br />

standen e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>wohner (die hohe <strong>in</strong>terne E<strong>in</strong>kommensungleichheit auch hier außer acht


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 85<br />

Tabelle 3: Entwicklung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>kommensrelation (pro Kopf) zwischen dem reichsten und<br />

dem ärmsten Fünftel<br />

Jahr BIP pro Kopf BSP pro Kopf<br />

(Verhältnis zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel)<br />

1970 13,9 31,9<br />

1980 16 44,7<br />

1989 17,1 54,5<br />

Quelle: Griff<strong>in</strong>/Khan:Globalization and the Develop<strong>in</strong>g World; Tab. 1.1, S. 3 (Orig<strong>in</strong>alquelle: UNDP: Human Development<br />

Report 1992)<br />

gelassen) immerh<strong>in</strong> 2.040 US-Dollar zur Verfügung, doch ist selbst dies wenig im Vergleich<br />

zu den durchschnittlich 18.330 US-Dollar die e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>wohner aus e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> high <strong>in</strong>come<br />

economies zur Verfügung standen (vgl. ebd.; Tab. 1.2, S. 4). Nimmt man e<strong>in</strong>e weitere regionale<br />

Differenzierung vor und bezieht die aktuelle Entwicklung mit e<strong>in</strong>, so zeigt sich allerd<strong>in</strong>gs,<br />

daß es sowohl <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> Entwicklungslän<strong>der</strong> wie <strong>der</strong> Industriestaaten deutliche<br />

Unterschiede zwischen e<strong>in</strong>zelnen Regionen gibt, die sich tendenziell immer weiter verschärfen<br />

(siehe Tab. 3).<br />

Ansche<strong>in</strong>end hat also die ökonomische Globalisierung bisher zu ke<strong>in</strong>er gerechteren regionalen<br />

Verteilung des Welte<strong>in</strong>kommens geführt. E<strong>in</strong> ähnliches Bild zeigt sich, wenn man die Handels-<br />

beziehungen betrachtet: Der Anteil <strong>der</strong> Entwicklungslän<strong>der</strong> am Welthandel ist, obwohl ihr<br />

Anteil an <strong>der</strong> Weltbevölkerung sich nach dem 2. Weltkrieg kont<strong>in</strong>uierlich steigerte und mittler-<br />

49<br />

weile ca. 75% beträgt, über lange Zeit h<strong>in</strong>weg (auf niedrigem Niveau) nahezu konstant<br />

geblieben – genauso wie die Triade Nordamerika-Westeuropa-Japan noch immer ca. 70%<br />

des Welthandels für sich vere<strong>in</strong>nahmt (siehe Tab. 5).<br />

Trotzdem zeigen sich auch hier erhebliche Unterschiede zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Regionen.<br />

Viele ehemalige Ostblockstaaten s<strong>in</strong>d, so kann man aufgrund <strong>der</strong> aktuellen Zahlen behaupten,<br />

von <strong>der</strong> Semiperipherie <strong>in</strong> die Peripherie abgesunken und spielen, wie Afrika, im Welthandel<br />

50<br />

e<strong>in</strong>e fast verschw<strong>in</strong>dende und z.T. immer noch s<strong>in</strong>kende Rolle. Auch <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika gab<br />

es, trotz eigentlich günstiger Ausgangsposition, relative Rückschläge, während gerade e<strong>in</strong>ige<br />

51<br />

asiatische Län<strong>der</strong> (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Ch<strong>in</strong>a sowie die sog. +Tiger-Staaten* Südostasiens) ihre Position<br />

erheblich verbessern konnten und dicht an das Zentrum herangerückt s<strong>in</strong>d – mit all den damit<br />

verbundenen <strong>in</strong>ternen Anpassungsproblemen. 52


86 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Tabelle 3: Die Entwicklung des jährl. durchschn. pro-Kopf-E<strong>in</strong>kommens nach Regionen<br />

Region 1960–70 1970–80 1980–90 1990–93<br />

Welt gesamt 2,6% 2,8% 3,0% 2,4%<br />

Industriestaaten gesamt 4,6% 2,9% 1,9% -3,1%<br />

• OECD 4,3% 2,6% 2,0% 1.0%<br />

• Osteuropa/GUS 5,2% 5,2% 1,3% -11,5%<br />

Entwicklungslän<strong>der</strong> gesamt 2,0% 2,8% 3,5% 4,3%<br />

• Arabische Staaten 2,0% 3,6% -0,8% -1,3%<br />

• Ostasien 2,0% 4,3% 7,2% 10,6%<br />

• Late<strong>in</strong>amerika/Karibik 2,9% 3,7% -0,7% 1,0%<br />

• Südasien 1,8% 0,7% 3,3% 1,2%<br />

• Süd-Ostasien/Pazifik 2,1% 4,1% 2,8% 4,1%<br />

• Subsahara 1,4% 0,9% -1,0% -1,2%<br />

• LDCs 0,8% -0,1% -0,1% -1,0%<br />

Quelle: UNDP: Human Development Report 1996; Tab. 1.3, S. 14<br />

E<strong>in</strong> abschließen<strong>der</strong> Blick auf die weltweite Verteilung <strong>der</strong> Direkt<strong>in</strong>vestitionen verfestigt dieses<br />

Bild. Während die Industrielän<strong>der</strong> lange Zeit mehr als drei Viertel des Investitionskapitals<br />

absorbierten und Late<strong>in</strong>amerika wie Asien sich e<strong>in</strong>igermaßen behaupten konnten, bildet Afrika<br />

hier ebenfalls das traurige Schlußlicht (siehe Tab. 6). Allerd<strong>in</strong>gs hat sich gerade <strong>in</strong> den letzten<br />

Jahren e<strong>in</strong>iges bewegt: Zwischen 1990 und 1994 erhöhte sich <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Entwicklungs-<br />

län<strong>der</strong>n getätigten Direkt<strong>in</strong>vestitionen von 16% auf 40% – wobei aber, wie lei<strong>der</strong> e<strong>in</strong>geschränkt<br />

werden muß, wie<strong>der</strong>um fast ausschließlich Ch<strong>in</strong>a, die Tigerstaaten und die late<strong>in</strong>amerikanischen<br />

NICs von dieser positiven Entwicklung profitieren konnten (vgl. Globale Trends 1996; S. 161ff.).<br />

Diese Befunde zusammengenommen zeigt sich, daß man tatsächlich von e<strong>in</strong>er groben Dreiteilung<br />

<strong>in</strong> Peripherie, Semiperipherie und Zentrum sprechen kann, wobei weite Teile Afrikas ge-<br />

wissermaßen als Peripherie <strong>der</strong> Peripherie den Anschluß völlig zu verlieren drohen, das relativ<br />

stabile Zentrum durch die Triade Nordamerika-Westeuropa-Japan gebildet wird und sich<br />

neben Late<strong>in</strong>amerika im südostasiatischen Raum e<strong>in</strong> zweites semiperipheres Subzentrum<br />

herausgebildet hat. Erweitert man den Blickw<strong>in</strong>kel nun um die politische Machtkomponente,<br />

so fallen allerd<strong>in</strong>gs gewisse +Status<strong>in</strong>konsistenzen* auf. Häufig entspricht nämlich die Wirtschafts-<br />

kraft ke<strong>in</strong>eswegs dem politischen E<strong>in</strong>fluß und umgekehrt. Beispiele dafür s<strong>in</strong>d gerade die


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 87<br />

Tabelle 5: Anteile am Welthandel <strong>in</strong> Mrd. US-Dollar und Prozentanteilen (1963–1993)<br />

Regionen absolut<br />

1963<br />

Prozent<br />

1963<br />

absolut<br />

1973<br />

Prozent<br />

1973<br />

absolut<br />

1986<br />

Prozent<br />

1986<br />

absolut<br />

1993<br />

Prozent<br />

1993<br />

Entwickelte Staaten 103,6 67,3 406,6 70,8 1475,1 69,6 2.573,3 70,6<br />

• Nordamerika 29,6 19,2 95,5 16,6 288,9 13,6 609,9 16,8<br />

• Japan 5,5 3,6 36,9 6,4 209,1 9,9 362,2 9,9<br />

• Westeuropa 64,2 41,7 258,8 45,1 939,3 44,3 1.601,2 43,9<br />

• Sonstige 4,3 2,8 15,4 2,7 37,8 1,8 n.b. n.b.<br />

Entwicklungslän<strong>der</strong> 31,6 20,5 109,5 19,0 412,0 19,5 967,2 26,6<br />

• Late<strong>in</strong>amerika 11,3 7,3 29,5 5,1 89,5 4,2 159,2 4,4<br />

• Asien 8,4 5,5 31,6 5,5 194,0 9,2 593,3 16,3<br />

• Mittlerer Osten 5,3 3,4 27,5 4,8 78,5 3,7 123,6 3,4<br />

• Afrika 6,6 4,3 20,9 3,6 50,0 2,4 91,1 2,5<br />

(Ehem.) Ostblock 18,7 12,1 57,2 10,0 229,5 10,8 100,5 2,8<br />

Welt <strong>in</strong>sgesamt 153,9 100,0 573,3 100,0 2.116,6 100,0 3.641,0 100,0<br />

Quellen: 1963–86: Mulhearn: Change and Development <strong>in</strong> the Global Economy; Tab. 7.4, S. 162 (Orig<strong>in</strong>alquelle:<br />

GATT-Bericht 1987); 1993: eigene Berechnungen auf <strong>der</strong> Grundlage von Globale Trends 1996; Tab. 1, S. 206f.<br />

(Orig<strong>in</strong>alquellen: GATT-Berichte 1993 und 1995) sowie Weltbank: Weltentwicklungsbericht 1995; Tab. 13, S. 212;<br />

n.b.: nicht berücksichtigt<br />

Bundesrepublik und Japan, <strong>der</strong>en ökonomisches Gewicht ke<strong>in</strong>en adäquaten Ausdruck im<br />

Bereich <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> f<strong>in</strong>det, wogegen z.B. <strong>der</strong> politische E<strong>in</strong>fluß Rußlands se<strong>in</strong> wirtschaftliches<br />

Potential doch deutlich übertrifft. +Politisches Kapital* ist, wie <strong>in</strong> Anlehnung an Bourdieu for-<br />

muliert werden kann, also nicht ohne weiteres <strong>in</strong> ökonomisches konvertibel, und politische<br />

Macht bietet ke<strong>in</strong>e Gewähr für wirtschaftlichen Erfolg (wenn sie auch sicher hilfreich ist).<br />

Die ökonomische Auf- und Abwärtsmobilität e<strong>in</strong>zelner Staaten kann deshalb nur zum Teil<br />

machtpolitisch erklärt werden – <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht wäre also Wallerste<strong>in</strong>s Modell zu über-<br />

denken. 53<br />

Das Zahlenmaterial aus den Tabellen kann jedoch – wie ausgeführt – belegen, daß sich die<br />

grundsätzliche vertikale Struktur des Weltwirtschaftssystems, trotz regionaler Schwerpunkt-<br />

verschiebungen, nicht gewandelt hat und sich e<strong>in</strong>e Entwicklung zuungunsten ausgerechnet<br />

<strong>der</strong> schwächsten Ökonomien abzeichnet. Wir haben es also weniger mit e<strong>in</strong>em ökonomischen<br />

54<br />

+global village* (McLuhan) zu tun, <strong>in</strong> dessen Mitte sich e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samer Marktplatz mit


88 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Tabelle 6: Die weltweite Verteilung <strong>der</strong> Direkt<strong>in</strong>vestitionen (1988)<br />

Staaten/Regionen Prozentualer Anteil<br />

Entwickelte Staaten <strong>in</strong>sgesamt 78,7%<br />

• Vere<strong>in</strong>igte Staaten 27,0%<br />

• Großbritannien 9,8%<br />

• Deutschland 6,8%<br />

• Kanada 8,8%<br />

• an<strong>der</strong>e entwickelte Staaten 26,3%<br />

Entwicklungslän<strong>der</strong> <strong>in</strong>sgesamt 21,3%<br />

• Late<strong>in</strong>amerika/Karibik 9,4%<br />

• Asien 9,3%<br />

• Afrika 2,5%<br />

Quelle: Griff<strong>in</strong>/Khan: Globalization and the Develop<strong>in</strong>g World; Tab. 3.1, S. 29 (Orig<strong>in</strong>alquelle: Weltbank: Global Economic<br />

Prospects and the Develop<strong>in</strong>g Countries)<br />

gleichberechtigten Zugangschancen bef<strong>in</strong>det, als mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong>seitigen Vernetzung <strong>der</strong> Metropolen. 55<br />

Aufgrund ihrer Randständigkeit und fehlen<strong>der</strong> E<strong>in</strong>flußmöglichkeiten hat <strong>der</strong> Weltmarkt für<br />

die peripheren Regionen den Charakter e<strong>in</strong>es Sachzwangs (vgl. Altvater: Sachzwang Weltmarkt;<br />

56<br />

S. 11ff.). Doch bleibt dieser Zwang ihnen äußerlich: Sie s<strong>in</strong>d weniger Akteure, denn als<br />

+Reakteure* zur Reaktion und Anpassung verdammt. +Globalisierung ist mith<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Phänomen,<br />

das [im wesentlichen] e<strong>in</strong>e Strukturverän<strong>der</strong>ung unter den kapitalistischen Hauptlän<strong>der</strong>n aus-<br />

drückt* (Bischoff: Globalisierung; S. 4). E<strong>in</strong>ige Autoren schlagen deshalb vor, anstatt von Globali-<br />

sierung lieber gleich nur von Regionalisierung zu sprechen. So bemerkt beispielsweise Hazel<br />

Johnson:<br />

+If some areas appear to receive more economic attention than others that are similarly endowed,<br />

then world markets are not global. This is, <strong>in</strong> fact, the case. Regionalization is a strong force that has<br />

and will cont<strong>in</strong>ue to effect standards of liv<strong>in</strong>g throughout the world.* (Dispell<strong>in</strong>g the Myth of Globalization;<br />

S. 1)<br />

Vor allem unter den ohneh<strong>in</strong> begünstigten Ökonomien zeichnen sich Schließungstendenzen<br />

ab, d.h. regionale Freihandelszonen (wie etwa die NAFTA) o<strong>der</strong> stark nach außen abgedichtete<br />

transnationale +B<strong>in</strong>nenmärkte* (wie <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> EG bzw. EU) machen das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong>


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 89<br />

die lukrativen Märkte für die Entwicklungslän<strong>der</strong> (und hier speziell die aufstrebenden NICs)<br />

57 58<br />

immer schwieriger. Zwar gibt es (auf <strong>der</strong> Grundlage des Abkommens von Lomé) für die<br />

sog. +AKP-Staaten* (also die ehemaligen europäischen Kolonien <strong>in</strong> Afrika, <strong>der</strong> Karibik und<br />

dem Pazifik) e<strong>in</strong> Präferenzsystem, das ihnen e<strong>in</strong>en relativ une<strong>in</strong>geschränkten Zugang zum<br />

europäischen B<strong>in</strong>nen-Markt sichert, und auch das GATT-Abkommen erlaubt (e<strong>in</strong>seitige)<br />

Begünstigungen von ehemaligen Kolonien und den ärmsten Entwicklungslän<strong>der</strong>n. Doch diese<br />

stellen, wie die AKP-Staaten, aufgrund ihrer Angebotsstruktur ohneh<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e ernsthafte Kon-<br />

kurrenz für die Industrienationen dar (vgl. Franzmeyer: Vorteil für alle?; S. 248). Und sollte<br />

doch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> tatsächlicher Konkurrent unter ihnen erwachsen, so gibt es vielfältige<br />

protektionistische Methoden (z.B. den schon angesprochenen Aufbau nicht-tarifärer Schutzwälle),<br />

um den eigenen Markt abzudichten (vgl. Bhagwati: Geschützte Märkte; S. 51–61). 59<br />

Die Regionalisierungstendenzen haben also vor allem für die semiperipheren NICs <strong>in</strong> Asien<br />

negative Auswirkungen (die sowohl von <strong>der</strong> NAFTA als auch von <strong>der</strong> EG durch Zölle und<br />

Kont<strong>in</strong>gentierungen ausgeschlossen s<strong>in</strong>d). Deshalb gibt es unter ihnen (im Rahmen <strong>der</strong> ASEAN)<br />

ebenfalls Ansätze zur Regionalisierung. Es handelt sich dabei um den Versuch, durch +soli-<br />

daristische Schließung* (Park<strong>in</strong>) <strong>der</strong> Ausschließung durch die regionalistische Abdichtung des<br />

Zentrums entgegenzuwirken. An<strong>der</strong>erseits ist Regionalisierung nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e politische<br />

Gegenstrategie auf die ökonomische Globalisierung, son<strong>der</strong>n beide können e<strong>in</strong>e dialektische<br />

Symbiose e<strong>in</strong>gehen – wenn regionale Wirtschaftskooperation erstens als Zwischenschritt zur<br />

Schaffung e<strong>in</strong>es globalen Markts verstanden wird und zweitens die regional vernetzte Wirtschaft<br />

diese Stärkung zur Verbesserung ihrer Weltmarktposition nutzt. Dazu Charles Oman:<br />

+Globalisation and regionalisation are […] opposites both <strong>in</strong> the sense that one [globalisation] is essentially<br />

a centrifugal process and the other [regionalisation] a centripetal process, and <strong>in</strong> the sense that one<br />

[globalisation] is driven by microeconomic forces and the other [regionalisation] is often a political<br />

process. But they are not necessarily antithetical or antagonistic. When regionalisation helps to strengthen<br />

the forces of competition, the two processes tend <strong>in</strong> fact to be mutually re<strong>in</strong>forc<strong>in</strong>g.* (Globalisation<br />

and Regionalisation; S. 16) 60<br />

Der Fall <strong>der</strong> Regionalisierung beweist also, daß ökonomische Globalisierung von e<strong>in</strong>em poli-<br />

tischen Prozeß begleitet und geformt wird. Dieser politische Prozeß ist teilweise abhängig,<br />

teilweise aber auch unabhängig vom ökonomischen Geschehen, und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Beispiel<br />

<strong>der</strong> EU zeigt, daß die Motive für regionale politische Integration, wie auch im obigen Zitat


90 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Omans angesprochen, nicht alle<strong>in</strong>e wirtschaftlicher Natur s<strong>in</strong>d. Gerade zu Beg<strong>in</strong>n des euro-<br />

päischen Integrationsprozesses <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit war es schließlich das erklärte Ziel gewesen,<br />

Westeuropa vom Kommunismus abzuschirmen und die Westb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

<strong>in</strong>stitutionell zu verankern (vgl. z.B. Gasteyger: Europa zwischen Spaltung und E<strong>in</strong>igung; S.<br />

53–62). Später hatten dann die feierlichen Erklärungen, +die Grundlagen für e<strong>in</strong>en immer<br />

engeren Zusammenschluß <strong>der</strong> europäischen Völker zu schaffen* (Vertrag über die Gründung<br />

<strong>der</strong> Europäischen Wirtschaftsgeme<strong>in</strong>schaft; Präambel), e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige politische Eigendynamik<br />

gewonnen, daß tatsächlich immer mehr nationale Kompetenzen auf Organe <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft<br />

überg<strong>in</strong>gen (siehe hierzu auch S. 93). Die EU ist jedoch e<strong>in</strong> untypisches Beispiel und trotz<br />

immer weiterer Ausdehnungsbestrebungen auch e<strong>in</strong>deutig auf den Raum Europa begrenzt.<br />

Wie weit ist also die politische Globalisierung tatsächlich fortgeschritten?<br />

Me<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gangs aufgestellte These besagt, daß die politische Entwicklung den ökonomischen<br />

Prozessen h<strong>in</strong>terherh<strong>in</strong>kt. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es seit Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>-<br />

wissenschaft die Vorstellung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>terdependenten Weltsystems. Es war vermutlich sogar<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>wissenschaftler George Modelski, <strong>der</strong> 1972 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Pr<strong>in</strong>ciples of World<br />

Politics* als erster den Begriff +Globalisierung* gebrauchte (siehe hierzu nochmals Anmerkung<br />

10). Er bemerkt:<br />

+In clear contrast with all other historical societies, the contemporary world society is global. The<br />

process by which a number of historical world societies were brought together <strong>in</strong>to one global system<br />

might be referred to as globalization.* (S. 41)<br />

Der Globalisierungsprozeß begann gemäß Modelski schon im Mittelalter (um die Jahrtausend-<br />

wende herum) und leitete gegen Ende des vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>ts über zur Epoche <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne (vgl. ebd.; Kap. 3). Das als Ergebnis dieses Globalisierungs- und Mo<strong>der</strong>nisierungs-<br />

prozesses entstandene globale System ist durch die Autonomie <strong>der</strong> Nationalstaaten charakterisiert<br />

(vgl. ebd.; Kap. 4). Es ist also dezentral organisiert, doch trotzdem hochgradig <strong>in</strong>terdependent<br />

(vgl. ebd.; Kap. 6 u. 7.). Den Nationalstaat als Strukturelement versteht Modelski dabei als<br />

e<strong>in</strong>e spezifische, ke<strong>in</strong>esfalls als e<strong>in</strong>zig mögliche Organisationsform des Politischen unter Globali-<br />

sierungsbed<strong>in</strong>gungen (vgl. ebd.; Kap. 5). Und se<strong>in</strong>e Autonomiebestrebungen führen zudem<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en +Teufelskreis* – denn durch das Streben nach nationaler Souveränität wird zwar<br />

das System <strong>in</strong> sich stabilisiert, +soziale Güter* wie Gleichheit und Gerechtigkeit geraten jedoch


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 91<br />

<strong>in</strong>s H<strong>in</strong>tertreffen (vgl. ebd.; Kap. 12). Um diesem Dilemma zu entkommen, müßte die weitere<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Weltpolitik nach Modelski u.a. zu e<strong>in</strong>er Demokratisierung <strong>der</strong> Welt-<br />

organisationen (durch repräsentative Elemente) sowie zur Reduktion <strong>der</strong> enormen und konflikt-<br />

trächtigen globalen Ungleichheiten führen (vgl. ebd.; Kap. 16).<br />

Wie Modelski, so betont auch John Burton <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +World Society* (ebenfalls 1972)<br />

die Zunahme <strong>der</strong> Interdependenz. Der Fokus Burtons ist allerd<strong>in</strong>gs nicht so sehr auf den<br />

Nationalstaat und se<strong>in</strong>e Ambivalenz gerichtet, da se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach die globale politische<br />

Strukturierung durch die Nationalstaaten zunehmend überformt wird durch Netze nicht-staatlicher<br />

Akteure. In <strong>der</strong> daraus entstehenden neuartigen +Weltgesellschaft* hat sich das klassische<br />

+Billard-Kugel-Modell* <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen <strong>Politik</strong> (wie es die +realistische* Schule zur Grundlage<br />

61<br />

nimmt) überholt, das von klar abgrenzbaren nationalen E<strong>in</strong>heiten ausgeht (vgl. S. 28–35).<br />

Anstelle dessen schlägt Burton e<strong>in</strong> +Sp<strong>in</strong>nweb-Modell* vor, durch das er den verän<strong>der</strong>ten<br />

Charakter des Weltsystems adäquat ausgedrückt sieht (vgl. ebd.; S. 35–49).<br />

James Rosenau wie<strong>der</strong>um hat (1980) den Begriff <strong>der</strong> +Transnationalisierung* <strong>in</strong> die Inter-<br />

dependenz-Debatte e<strong>in</strong>gebracht:<br />

+[…] by the transnationalization of world affairs I mean the processes whereby <strong>in</strong>ternational relations<br />

conducted by governments have been supplemented by relations among private <strong>in</strong>dividuals, groups,<br />

and societies that can and do have important consequences for the course of the events.* (The Study<br />

of Global Interdependence; S. 1)<br />

Ausdrücke <strong>der</strong> Transnationalisierung und Beispiele für ihre Agenten auf <strong>der</strong> Mikroebene s<strong>in</strong>d<br />

<strong>der</strong> Tourist und <strong>der</strong> Terrorist (vgl. ebd.; Kap 5). Beide stellen Extremformen e<strong>in</strong>es Kont<strong>in</strong>uums<br />

dar: Während <strong>der</strong> Terrorist sich nur <strong>der</strong> Autorität se<strong>in</strong>er eigenen (transnationalen) Rolle unterwirft,<br />

fügt sich <strong>der</strong> Tourist mehr o<strong>der</strong> weniger klaglos den staatlichen Autoritäten se<strong>in</strong>es Gastlandes.<br />

Obwohl es allerd<strong>in</strong>gs (zum Glück) weit weniger Terroristen als Touristen gibt, weist gerade<br />

das Beispiel des Terroristen auf e<strong>in</strong> Problem h<strong>in</strong>: In e<strong>in</strong>er sich transnationalisierenden Weltgesell-<br />

schaft kontrastiert die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er multiplizierten Verantwortlichkeit mit fragmentisierten<br />

Loyalitäten durch die zahlreichen subnationalen Gruppierungen (vgl. ebd.; Kap. 6).<br />

In dem Band +Turbulence <strong>in</strong> World Politics* (1990) hat Rosenau se<strong>in</strong>e Argumentation weiter<br />

ausgebaut und zugespitzt: In <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen, postkapitalistischen und postsozialistischen<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne unserer Gegenwart kann s<strong>in</strong>nvoll nur noch von e<strong>in</strong>er post<strong>in</strong>ternationalen <strong>Politik</strong>


92 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

gesprochen werden (vgl. S. 6f.). Denn nach dem Zweiten Weltkrieg haben e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

Turbulenzen – die wachsende Diskrepanz zwischen den armen und den reichen Län<strong>der</strong>n,<br />

die Zunahme des Fundamentalismus (und wohl nicht zuletzt das Ende des Ost-West<br />

Gegensatzes) – die alten Ordnungsstrukturen erschüttert, so daß wir an e<strong>in</strong>em Wendepunkt<br />

62<br />

angelangt s<strong>in</strong>d, ohne allerd<strong>in</strong>gs zu wissen, woh<strong>in</strong> sich die Weltpolitik entwickeln wird. Vor<br />

allem aber haben sich zwei Welten <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ausdifferenziert, die koexistieren (und Über-<br />

lappungsbereiche aufweisen). Das neue multizentrische System <strong>der</strong> nicht-staatlichen politischen<br />

Akteure (Individuen, Gruppen, soziale Bewegungen, INGOs etc.) und das immer noch parallel<br />

bestehende staatenzentrische System (vgl. ebd.; Kap. 10). Rosenau spricht deshalb von e<strong>in</strong>er<br />

Bifurkation <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, womit für ihn auch e<strong>in</strong> Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> ehemaligen Hegemonie (<strong>in</strong>sbeson-<br />

<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>anten Position <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>igten Staaten) e<strong>in</strong>hergeht (vgl. ebd; S.<br />

288ff.).<br />

Aus (neo)realistischer Sicht – und diese ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lehre von den <strong>in</strong>ternationalen Beziehungen<br />

63<br />

noch immer die vorherrschende – stellt dies e<strong>in</strong>e mögliche Bedrohung für die Stabilität<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen politischen und <strong>der</strong> mit ihr verknüpften ökonomischen Ordnung dar. 64<br />

Auf den Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> USA als (ökonomische) Führungsmacht und die daraus folgenden<br />

Probleme für die kapitalistische Weltökonomie wies Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Robert<br />

Keohane h<strong>in</strong> (vgl. After Hegemony; Kap. 9–11). Schon lange vorher (nämlich 1976) hatte<br />

allerd<strong>in</strong>gs Edward Morse (wenn auch aus an<strong>der</strong>er Perspektive) die Zweischneidigkeit <strong>der</strong><br />

zunehmenden Interdependenz im Weltsystem herausgestellt:<br />

+It leads to breakdowns <strong>in</strong> both domestic and <strong>in</strong>ternational mechanisms of control and does not guarantee<br />

the development of new <strong>in</strong>struments to ma<strong>in</strong>ta<strong>in</strong> political or<strong>der</strong>.* (Mo<strong>der</strong>nization and the Transformation<br />

of International Relations; S. 116)<br />

Interessanterweise wird <strong>in</strong> den letzten Jahren aber auch von e<strong>in</strong>igen Neorealisten die Not-<br />

wendigkeit e<strong>in</strong>er pluralistischen Führerschaft im Staaten- wie im Wirtschaftssystem formuliert<br />

und das alte Hegemonialparadigma <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rigidität verworfen (vgl. z.B. Gilp<strong>in</strong>: The Political<br />

Economy of International Relations; S. 366ff.). Die primäre Orientierung am (autonomen)<br />

Nationalstaat, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Interessen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em pr<strong>in</strong>zipiell anarchischen Welt(staaten)system durch<br />

(militärische) Machtmittel wahrnimmt, blieb aber erhalten (vgl. <strong>der</strong>s.: War and Change <strong>in</strong><br />

World Politics; S. 229f.).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 93<br />

Wie +realistisch* ist die Annahme des (Neo-)Realismus, daß die zentralen politischen Akteure<br />

auf <strong>der</strong> Weltebene immer noch die Staaten und ihre Regierungen darstellen und daß weniger<br />

Kooperation und Interdependenz, als vielmehr e<strong>in</strong> Wettbewerb <strong>der</strong> Nationen die Weltpolitik<br />

kennzeichnet? – E<strong>in</strong>e Frage, die empirisch nur schwer zu beantworten ist, da sich <strong>der</strong> Charakter<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen politischen Beziehungen an<strong>der</strong>s bzw. noch weniger als die Ökonomie<br />

durch quantitative Daten beschreiben läßt. Solche können hier nur e<strong>in</strong>ige Anhaltspunkte liefern.<br />

Dabei fällt zunächst auf, daß die Zahl <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Organisationen <strong>in</strong> diesem Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

sprunghaft angestiegen ist: von 176 im Jahr 1909 auf 4.624 im Jahr 1989 (vgl. McGrew:<br />

65<br />

Conceptualiz<strong>in</strong>g Global Politics; Abb. 1.4, S. 8). Die meisten dieser Organisationen s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> den Bereichen Gesundheit sowie Industrie und Handel aktiv (vgl. ebd.; Tab 1.1, S. 9)<br />

und haben ihren (geographischen) Schwerpunkt <strong>in</strong> Europa o<strong>der</strong> den USA (vgl. ebd.; Tab.<br />

1.3, S. 11). Auch die Anzahl <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Regierungsorganisationen (IGOs) hat zuge-<br />

nommen – allerd<strong>in</strong>gs nicht so dramatisch. Die ersten IGOs wurden schon im 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

gegründet: die +Internationale Telegraphen Union* im Jahr 1865 und <strong>der</strong> +Weltpostvere<strong>in</strong>*<br />

im Jahr 1874. Vom Anfang des Jahrhun<strong>der</strong>ts bis 1989 steigerte sich ihre Zahl von ca. 50 auf<br />

fast 300. (Vgl. ebd.; S. 12 sowie Rittberger: Internationale Organisationen; S. 14) 66<br />

Nur wie bereits angemerkt: Nackte Zahlen sagen hier so gut wie nichts aus. Entscheidend<br />

ist die Frage, ob mit dem Anstieg <strong>der</strong> Menge <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Organisationen auch die<br />

<strong>in</strong>ternationale politische Vernetzung zugenommen hat und vor allem, ob politische Strukturen<br />

67<br />

jenseits <strong>der</strong> Staatlichkeit entstanden s<strong>in</strong>d. Die Bildung <strong>der</strong> großen Militärblöcke <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nach-<br />

kriegszeit, die von den USA und <strong>der</strong> UdSSR dom<strong>in</strong>iert wurden, kann hier als e<strong>in</strong> erstes Indiz<br />

angesehen werden. Denn wer sich unter den Schutzschirm e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Supermächte stellte,<br />

mußte dies mit e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schränkung se<strong>in</strong>er militärischen Selbstbestimmung bezahlen – allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht im Rahmen e<strong>in</strong>er gleichberechtigten Partizipation, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er abhängigen<br />

Unterordnung unter die Sicherheits<strong>in</strong>teressen <strong>der</strong> jeweiligen Schutzmacht.<br />

Auch die bereits oben angesprochenen Regionalisierungsbestrebungen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Rahmen<br />

<strong>der</strong> EG bzw. <strong>der</strong> aus ihr hervorgegangenen +Europäischen Union* (EU), deuten auf die Entstehung<br />

transnationaler politischer Strukturen h<strong>in</strong>: Mit dem Europäischen Gerichtshof gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

EU, <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeit 15 Staaten angehören, e<strong>in</strong>e Appellations<strong>in</strong>stanz, die den nationalen Gerichten<br />

übergeordnet ist und die auch bei Streitfällen zwischen Mitgliedsstaaten angerufen werden<br />

kann (vgl. EG-Vertrag; Abschnitt 4). Im Vertrag von Maastricht vom Dezember 1991 haben


94 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

sich die Mitgliedsstaaten zudem auf e<strong>in</strong>e +Geme<strong>in</strong>same Außen- und Sicherheitspolitik* (GASP)<br />

verständigt (vgl. Art. B), welche die <strong>in</strong> den 70er Jahren auf Außenm<strong>in</strong>isterebene etablierte<br />

+Europäische Politische Zusammenarbeit* (EPZ) weiterführen soll, bisher jedoch eher theo-<br />

retischen Charakter hat. Praktisch von größerer Relevanz s<strong>in</strong>d dagegen die Beschlüsse des<br />

68<br />

M<strong>in</strong>isterrats, die von den Mitgliedsstaaten rechtlich umgesetzt werden müssen. Der M<strong>in</strong>isterrat<br />

69<br />

kann jedoch nur auf Vorschläge <strong>der</strong> Europäischen Kommission h<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Beschlüsse fassen,<br />

<strong>der</strong> damit e<strong>in</strong> großes Gewicht zukommt, und beide Organe s<strong>in</strong>d nur <strong>in</strong>direkt demokratisch<br />

legitimiert. E<strong>in</strong>e direkte Legitimation hat alle<strong>in</strong>e das Europaparlament, das aber erst seit dem<br />

Vertrag von Maastricht mit (e<strong>in</strong>igen wenigen) relevanten Kompetenzen ausgestattet wurde. 70<br />

Gleichzeitig wurde auch e<strong>in</strong>e +Unionsbürgerschaft* e<strong>in</strong>geführt, die mit e<strong>in</strong>em europaweiten<br />

Wahlrecht bei Europa- und Kommunalwahlen sowie mit e<strong>in</strong>er une<strong>in</strong>geschränkten Nie<strong>der</strong>-<br />

lassungsfreiheit im Rahmen <strong>der</strong> EU verbunden ist (vgl. Art. 8ff.). Absolute Freizügigkeit für<br />

Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen B<strong>in</strong>nenmarkt wurde<br />

bereits 1985 <strong>in</strong> <strong>der</strong> +E<strong>in</strong>heitlichen Europäischen Akte* vere<strong>in</strong>bart (vgl. Art. 13), <strong>der</strong>en Bestim-<br />

mungen plangemäß zum Jahresbeg<strong>in</strong>n 1993 umgesetzt wurden. Im EU-Vertrag von Maastricht<br />

wurde als letzter Ste<strong>in</strong> <strong>der</strong> wirtschaftlichen Integration die Verwirklichung e<strong>in</strong>er Währungsunion<br />

beschlossen, die 1999 voll <strong>in</strong> Kraft getreten ist und die die monetäre Hoheit von den E<strong>in</strong>zel-<br />

staaten auf e<strong>in</strong>e europäische Zentralbank verlagert (vgl. Art. 109e–m).<br />

Es gibt also, wie die angeführten Beispiele zeigen, tatsächlich e<strong>in</strong>ige Ansätze zur Transnationali-<br />

sierung <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternatonalen <strong>Politik</strong>. An<strong>der</strong>erseits: Mit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts ist<br />

die Dom<strong>in</strong>anz bzw. das Engagement <strong>der</strong> USA <strong>in</strong> <strong>der</strong> NATO (bei e<strong>in</strong>em gleichzeitigen Erweite-<br />

rungsbestreben) zurückgetreten, und <strong>der</strong> +Warschauer Pakt* wurde im Juli 1991 sogar offiziell<br />

71<br />

aufgelöst. Das brachte <strong>in</strong>direkt den (sektoralen) Wie<strong>der</strong>gew<strong>in</strong>n bzw. die Zunahme national-<br />

staatlicher Militärhoheit mit sich. Auch <strong>der</strong> Fall <strong>der</strong> EU ist nicht e<strong>in</strong>deutig: Wie angedeutet,<br />

ist das Ziel e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Außen- und Sicherheitspolitik noch <strong>in</strong> weiter Ferne (die stark<br />

differierende <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Mitgliedsstaaten gegenüber Serbien im Jugoslawien-Konflikt mag hier<br />

als Beispiel dienen). Und obwohl die EU im Vergleich zu an<strong>der</strong>en Regionalorganisationen<br />

politisch hoch <strong>in</strong>tegriert ist, haben faktisch alle<strong>in</strong>e Regierungsentsandte <strong>der</strong> Staaten Beschlußkraft<br />

(siehe oben). Was die angestrebte Währungsunion betrifft, so wird sie sich, aufgrund <strong>der</strong><br />

festgelegten Stabilitätskriterien, bis auf weiteres nur auf e<strong>in</strong> ökonomisch potentes +Kerneuropa*<br />

beschränken. 72


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 95<br />

Selbst die politische Weltorganisation UNO kann paradoxerweise als Argument für die weiter<br />

bestehende Dom<strong>in</strong>anz nationalstaatlicher <strong>Politik</strong> auf <strong>der</strong> Weltebene angeführt werden, denn<br />

auch hier +regiert* das Staatenpr<strong>in</strong>zip: Stimmberechtigt <strong>in</strong> <strong>der</strong> UNO und ihren Organen s<strong>in</strong>d<br />

alle<strong>in</strong>e Staatenvertreter (vgl. Charta <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen; Art. 4 und 9). Allerd<strong>in</strong>gs ist mit<br />

73<br />

dem Ende des Ost-West-Konflikts die Paralysierung des Sicherheitsrats entfallen, und es<br />

hat auch <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> UNO verschiedentlich Bestrebungen zu e<strong>in</strong>em konzertierten Vorgehen<br />

gegeben. So formierte sich Mitte <strong>der</strong> 60er Jahre die +Gruppe <strong>der</strong> 77* als Sprachrohr <strong>der</strong> Ent-<br />

wicklungslän<strong>der</strong>, auf <strong>der</strong>en Betreiben z.B. im Dezember 1974 (gegen die Stimmen vieler<br />

westlicher Industrielän<strong>der</strong>) e<strong>in</strong>e (rechtlich allerd<strong>in</strong>gs unverb<strong>in</strong>dliche) +Charta <strong>der</strong> wirtschaftlichen<br />

Rechte und Pflichten <strong>der</strong> Staaten* verabschiedet wurde, die e<strong>in</strong>e gerechtere <strong>in</strong>ternationale<br />

Wirtschaftsordnung garantieren sollte. Dabei wurde jedoch ausdrücklich die Unantastbarkeit<br />

<strong>der</strong> staatlichen Souveränität betont (vgl. Art. 1), denn gerade für +schwache* Staaten ist <strong>der</strong><br />

Erhalt <strong>der</strong> Souveränität e<strong>in</strong> wichtiges Ziel, und die Erlangung staatlicher Unabhängigkeit ist<br />

auch heute noch für viele politische Bewegungen zentral, so daß trotz aller Transnatio-<br />

nalisierungstendenzen, die <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> den entwickelteren Regionen feststellbar s<strong>in</strong>d,<br />

weitere Fragmentisierungen (vor allem durch e<strong>in</strong>e ethnonationalistische Dynamik) drohen<br />

(vgl. hierzu auch Senghaas: Zwischen Globalisierung und Fragmentisierung).<br />

Es ist also letztendlich e<strong>in</strong>e Frage <strong>der</strong> Interpretation, ob man Ansätze zu e<strong>in</strong>er politischen<br />

Globalisierung sehen will o<strong>der</strong> nicht, wenngleich für mich, aufgrund <strong>der</strong> dargestellten Zusammen-<br />

hänge, <strong>der</strong>zeit die Anzeichen überwiegen, daß die Strukturierung durch den Nationalstaat<br />

noch immer (welt)politisch dom<strong>in</strong>ierend ist. Doch die ökonomischen Prozesse machen deshalb<br />

nicht Halt und erzeugen e<strong>in</strong> Phänomen, das man <strong>in</strong> Anlehnung an Brock und Albert +multiple<br />

Staatlichkeit* nennen könnte, d.h. <strong>der</strong> politische Raum wird durch an<strong>der</strong>e +Funktionsräume*<br />

überformt (vgl. Entgrenzung <strong>der</strong> Staatenwelt; S. 266ff.). Angesichts dessen formuliert Menzel:<br />

+Der staatlich def<strong>in</strong>ierte Raum verschw<strong>in</strong>det, se<strong>in</strong>e Grenzen zerfließen, die Beziehungen zwischen<br />

den Staaten werden imag<strong>in</strong>är. Den Regierungen wird die Souveränität genommen, da sich die Virtu-<br />

alisierung <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Transaktionen den herkömmlichen Kontrollen und damit auch den<br />

staatlichen Steuerungskapazitäten entzieht.* (Internationale Beziehungen im Cyberspace; S. 53)<br />

Auf dieses grundsätzliche Dilemma des Nationalstaats, dem e<strong>in</strong>erseits die ökonomische Basis<br />

entzogen wird und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>erseits noch immer die politische +Realität* maßgeblich bestimmt


96 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

(sowie mit Regelungs-Erwartungen von seiten <strong>der</strong> Bürger konfrontiert wird), werde ich <strong>in</strong><br />

Abschnitt 3.1 noch ausführlicher e<strong>in</strong>gehen. Verläßt man allerd<strong>in</strong>gs die Ebene <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen<br />

<strong>Politik</strong>, so sche<strong>in</strong>t sich bei vielen Menschen auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> stattf<strong>in</strong>denden Entgrenzungs-<br />

prozesse (und ihres impliziten Risikogehalts) so etwas wie e<strong>in</strong> globales politisches Bewußtse<strong>in</strong><br />

zu entwickeln, das den Nationalstaat transzendiert. Evan Luard bemerkt dazu:<br />

+Citizens are no longer content with<strong>in</strong> the narrow and distort<strong>in</strong>g aspirations created by parochial national<br />

political systems […] On a planet so small they no longer have any choice but to be citizens of the<br />

world as a whole.* (The Globalization of Politics; S. 191)<br />

Es muß daher nicht verwun<strong>der</strong>n, wenn <strong>in</strong>ternational agierende NGOs wie +Greenpeace* o<strong>der</strong><br />

+amnesty <strong>in</strong>ternational* sich das hier entstehende Potential für ihre Zwecke zunutze machen<br />

(obwohl dieses Engagement gerade <strong>in</strong> vielen Entwicklungslän<strong>der</strong>n als +westlicher Imperialismus*<br />

74<br />

neuer Prägung empfunden wird). Die +globale Risikogesellschaft* (Beck) erzeugt (über das<br />

reflexive Potential <strong>der</strong> latenten Nebenfolgen <strong>in</strong>dustrieller Produktion) e<strong>in</strong>e subpolitische<br />

Globalisierung (vgl. auch <strong>der</strong>s.: Was ist Globalisierung?; S. 121ff.), die dem Nationalstaat<br />

auch die soziale Basis zunehmend entzieht – allerd<strong>in</strong>gs nicht überall gleichermaßen. Zwar<br />

kann man ganz allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Verharrungstendenz <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong> ausmachen,<br />

die die Grundlage für ihre subpolitische Infragestellung bereitet:<br />

+Reality changes so quickly that the reflexes for action typical of governments tend to lag beh<strong>in</strong>d.<br />

This disjunction between reality and perception of it is […] endemic <strong>in</strong> policy; policy tends to be<br />

based upon past experiences rather than guided by some notion of what the future may hold.* (Morse:<br />

Mo<strong>der</strong>nization and the Transformation of International Relations; S. 179f.)<br />

Deshalb s<strong>in</strong>d Wandlungsimpulse auch nicht primär aus dem Bereich <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, des politischen<br />

Systems zu erwarten, son<strong>der</strong>n gehen vielmehr von den +materiellen Verhältnissen* aus:<br />

+In short, revolution <strong>in</strong> the <strong>in</strong>ternational system stems from dynamic changes related to <strong>in</strong>dustrialization<br />

and technological change. The roots of revolution and of transformation <strong>in</strong> the <strong>in</strong>ternational system<br />

are thus <strong>in</strong> the <strong>in</strong>dustrialized societies […] These <strong>in</strong>dustrialized societies are the really revolutionary<br />

ones […]* (Ebd.; S. 191f.)<br />

Die Entstehung e<strong>in</strong>es globalen (politischen) Bewußtse<strong>in</strong>s ist gemäß dieser Argumentation also<br />

hauptsächlich <strong>in</strong> den +fortgeschrittenen* Regionen zu erwarten, die sich im Übergang zu +post-


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 97<br />

<strong>in</strong>dustriellen* Gesellschaften bef<strong>in</strong>den, da hier die sozio-ökonomischen Rahmenverän<strong>der</strong>ungen<br />

am deutlichsten zu spüren s<strong>in</strong>d, welche die materielle Basis für e<strong>in</strong>e (subpolitische) Bewußtse<strong>in</strong>s-<br />

verän<strong>der</strong>ung schaffen. Das regionale subpolitische Globalisierungspotential ist so (zum<strong>in</strong>dest<br />

partiell) abhängig von <strong>der</strong> Position <strong>der</strong> betreffenden Gesellschaft auf <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Land-<br />

75<br />

karte. Doch wie gesagt: Selbst für das Zentrum und se<strong>in</strong>e (<strong>in</strong>ternen) +Metropolen* gilt me<strong>in</strong>es<br />

Erachtens immer noch die Dom<strong>in</strong>anz e<strong>in</strong>es nationalstaatlichen politischen Denkens und Han-<br />

delns, beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>nerhalb des politischen Institutionensystems (siehe auch S. 217f.), während<br />

die ökonomische Realität den Nationalstaat bereits überholt hat.<br />

Woh<strong>in</strong> die <strong>in</strong>ternationale und nationale <strong>Politik</strong> sich <strong>in</strong> Zukunft entwickeln wird – ob sie sich<br />

transformiert und es zu e<strong>in</strong>er +echten* Globalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> kommt o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> +Rückfall*<br />

<strong>in</strong> die Ethnopolitik stattf<strong>in</strong>det – bleibt dabei ungewiß. Vorschläge wie Richard Falks Agenda<br />

für die 90er Jahre, die auf den Pr<strong>in</strong>zipien Denuklearisierung, Demilitarisierung, Depolarisierung,<br />

Entwicklung (+Development*) und Demokratisierung beruht (vgl. Explorations at the Edge<br />

of Time; S. 133ff.), o<strong>der</strong> das Modell e<strong>in</strong>er +kosmopolitischen Demokratie*, wie es David Held<br />

propagiert (vgl. Democracy and the Global Or<strong>der</strong>; Kap. 12), haben nur dann e<strong>in</strong>e Chance,<br />

76<br />

wenn For<strong>der</strong>ungen aus dem Bereich <strong>der</strong> +(neuen) sozialen Bewegungen* (Friedensbewegung,<br />

Frauenbewegung, ökologische Bewegung etc.) die Ebene <strong>der</strong> Subpolitik überschreiten und<br />

auch die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> +erobern*. Wir bef<strong>in</strong>den uns, um mit Anthony McGrew zu<br />

sprechen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er +transitorischen Ära*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sowohl weitreichende Globalisierungsprozesse<br />

stattf<strong>in</strong>den, das Nationalstaatlichkeitspr<strong>in</strong>zip aber immer noch die Grundlage des politischen<br />

Systems bildet (vgl. Global Politics <strong>in</strong> a Transitional Era; S. 328f.) – und lei<strong>der</strong> noch nicht<br />

77<br />

im +globalen Zeitalter* (Albrow) des +Global Citizen* (Meadows). Es kann deshalb nur Rosenau<br />

beigepflichtet werden, <strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er Bifurkation <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> sprach (siehe S. 92). Die Gleich-<br />

zeitigkeit e<strong>in</strong>er multizentrischen und e<strong>in</strong>er staatenzentrischen <strong>Politik</strong> stabilisiert <strong>der</strong>zeit (noch)<br />

die Ungleichzeitigkeit von ökonomischem und politischem Wandel.<br />

2.2 DIE POLITISIERUNG DER JUSTIZ UND DIE VERRECHTLICHUNG DER POLITIK<br />

(RECHTSSYSTEM)<br />

Im vorangegangenen Abschnitt wurde versucht, die allgeme<strong>in</strong>e These e<strong>in</strong>er Dialektik von<br />

sozio-ökonomischem Wandel und politischer Statik am Beispiel <strong>der</strong> fehlenden Umsetzung


98 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

und Entsprechung ökonomischer Globalisierung im Bereich <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> zu verdeut-<br />

lichen. Dabei zeigte sich, daß zwar e<strong>in</strong> Interpretationsspielraum besteht, allerd<strong>in</strong>gs viele An-<br />

zeichen tatsächlich dafür sprechen, daß die (<strong>in</strong>ner)politische Entwicklung nicht mit dem<br />

ökonomischen Wandel – vor allem <strong>der</strong> transnationalen Expansion <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzmärkte – Schritt<br />

hält. Im folgenden Abschnitt sollen nun, als zweiter Analyseschritt dieser Ökologie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>,<br />

die dom<strong>in</strong>anten Tendenzen im Rechtssystem sowie <strong>der</strong>en politische Implikationen und Bezüge<br />

dargestellt werden.<br />

Auch das Rechtssystem ist Teil des politischen Mesosystems und vor allem <strong>in</strong>stitutionell noch<br />

sehr viel enger mit dem politischen System verflochten als das Wirtschaftssystem (dessen Akteure<br />

weit autonomer handeln und das nicht, wie das Rechtssystem, <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> – durch die<br />

Rechtsetzungskompetenz <strong>der</strong> Legislative – logisch untergeordnet ist). Es fällt aufgrund <strong>der</strong><br />

engen Verflechtung sogar schwer, überhaupt e<strong>in</strong>e Trennl<strong>in</strong>ie zwischen Rechtssystem und<br />

<strong>Politik</strong> zu ziehen. Wie aber schon zu Beg<strong>in</strong>n dieses Kapitels festgestellt wurde, dient mir die<br />

trennende Unterscheidung zwischen verschiedenen Subsystemen ohneh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zig als analytisches<br />

und heuristisches +Kontrastmittel*, die zudem weniger +Realität* wi<strong>der</strong>spiegelt, son<strong>der</strong>n an<br />

die Selbstbeschreibungen <strong>der</strong> Systemakteure angelehnt ist.<br />

Das Beharren auf Trennung gilt beson<strong>der</strong>s ausgeprägt für das Rechtssystem sog. +Rechtsstaaten*.<br />

In diesen ist die staatliche Gewalt an das Gesetz gebunden, und sie s<strong>in</strong>d nach dem Pr<strong>in</strong>zip<br />

78<br />

<strong>der</strong> Gewaltenteilung organisiert. Der Rechtsstaat kann deshalb primär als e<strong>in</strong> formales +Ideal*<br />

angesehen werden, das sich als Modell für Staatlichkeit so weit durchgesetzt hat, daß sich<br />

selbst diktatorische Regime, d.h. Staaten <strong>in</strong> denen die Aufrechterhaltung <strong>der</strong> politischen<br />

Herrschaft als +gewaltsam* empfunden wird und das praktische Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> +Willkürlichkeit*<br />

regiert, meist (verfassungsmäßig) den Anstrich <strong>der</strong> Rechtsstaatlichkeit geben – entwe<strong>der</strong> um<br />

ihr Akzeptanz-Defizit +rechtlich* zu kompensieren o<strong>der</strong>, wenn man so will, um e<strong>in</strong>drucksvoll<br />

zu demonstrieren, daß sich +echte* Rechtsstaatlichkeit eben nicht nur auf e<strong>in</strong> formales Pr<strong>in</strong>zip<br />

erstreckt, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e politisch-praktische bzw. zum<strong>in</strong>dest +praxologische* Entsprechung<br />

haben muß (siehe zum Begriff <strong>der</strong> +Praxologie* S. 104 sowie Abschnitt 5.3).<br />

Das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Gewaltenteilung stellt im liberalen Denken sozusagen die +objektive* <strong>in</strong>sti-<br />

tutionell-formelle Absicherung des (materiellen) Rechtsstaats dar. Die Vorstellung <strong>der</strong> Notwen-<br />

digkeit e<strong>in</strong>er Auftrennung <strong>der</strong> staatlichen Gewalt zum Schutz des Bürgers vor Willkür, wurde<br />

erstmals durch John Locke explizit mit e<strong>in</strong>em formal-theoretischen Gewaltenteilungsmodell


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 99<br />

verknüpft. Locke unterscheidet jedoch nur zwischen Legislative und Exekutive (<strong>der</strong> gleichzeitig<br />

die Fö<strong>der</strong>ativ- und Prärogativgewalt, d.h. das Recht zur außenpolitischen Vertretung und<br />

e<strong>in</strong> exekutiver Entscheidungsspielraum, zukommt). Und dies, obwohl er gerade das Fehlen<br />

e<strong>in</strong>es unparteiischen Richters für die Defizite des Naturzustands verantwortlich macht (siehe<br />

hierzu auch S. 26 und Anmerkung 73, Kap. 1).<br />

Die heute klassische Differenzierung zwischen Legislative (als gesetzgeben<strong>der</strong> Gewalt), Exekutive<br />

(als vollziehen<strong>der</strong> Gewalt) und Judikative (als richterlicher Gewalt) geht auf Montesquieu zurück,<br />

und zwar bezieht man sich hier auf e<strong>in</strong>en relativ kurzen Abschnitt se<strong>in</strong>er Schrift +Vom Geist<br />

<strong>der</strong> Gesetze* (nämlich Buch XI, Kap. 6), <strong>in</strong> welchem er sich über die damalige englische<br />

Verfassung äußert und das dreigliedrige Gewaltenteilungsmodell, das ihn berühmt machen<br />

79<br />

sollte, <strong>in</strong> diese mehr o<strong>der</strong> weniger h<strong>in</strong>e<strong>in</strong><strong>in</strong>terpretiert. Auch für Montesquieu ist <strong>der</strong> von<br />

ihm angegebene Grund für die For<strong>der</strong>ung nach Gewaltenteilung e<strong>in</strong>e Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung des<br />

Mißbrauchs <strong>der</strong> Staatsmacht:<br />

+Wenn <strong>in</strong> <strong>der</strong>selben Person o<strong>der</strong> <strong>der</strong> gleichen obrigkeitlichen Körperschaft die gesetzgebende Gewalt<br />

mit <strong>der</strong> vollziehenden vere<strong>in</strong>igt ist, gibt es ke<strong>in</strong>e Freiheit; denn es steht zu befürchten, daß <strong>der</strong>selbe<br />

Monarch o<strong>der</strong> <strong>der</strong>selbe Senat tyrannische Gesetze macht, um sie tyrannisch zu vollziehen.<br />

Es gibt ferner ke<strong>in</strong>e Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von <strong>der</strong> gesetzgebenden und <strong>der</strong><br />

vollziehenden getrennt ist. Ist sie mit <strong>der</strong> gesetzgebenden Gewalt verbunden, so wäre die Macht über<br />

Leben und Freiheit <strong>der</strong> Bürger willkürlich, weil <strong>der</strong> Richter <strong>der</strong> Gesetzgeber wäre. Wäre sie mit <strong>der</strong><br />

vollziehenden Gewalt verknüpft, so würde <strong>der</strong> Richter die Macht e<strong>in</strong>es Unterdrückers haben.* (Ebd.;<br />

S. 215)<br />

Doch liest man genau, so wird me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach schon aus diesen Ausführungen deutlich,<br />

daß Montesquieu implizit – ganz entsprechend den tatsächlichen heutigen Verhältnissen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> parlamentarischen Demokratie – ke<strong>in</strong>e wirkliche Dreiteilung zugrunde legt, son<strong>der</strong>n eigentlich<br />

Legislative und Exekutive von ihrer +Natur* her als zusammengehörig ansieht, von denen<br />

80<br />

die Judikative entsprechend umso schärfer getrennt ersche<strong>in</strong>t. Dies zeigt sich beson<strong>der</strong>s<br />

klar, wenn Montesquieu an e<strong>in</strong>er Stelle des Textes bemerkt, daß die richterliche Gewalt +<strong>in</strong><br />

gewisser Weise [nämlich politisch] gar nicht vorhanden* ist (ebd.; S. 220). Sie übt schließlich<br />

+nur* e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>geschränkte Kontrollfunktion aus und sorgt (exekutiv-polizeilich abgestützt) für<br />

die Sanktionierung von Rechtsübertretungen. Die durch Wahlen legitimierte Legislative und<br />

Exekutive (speziell ihre Spitze) bildet dagegen gemäß <strong>der</strong> (an Locke und Montesquieu an-


100 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

schließenden) Theorie des mo<strong>der</strong>nen Verfassungsstaats (siehe auch Abschnitt 1.4) wie politisch-<br />

praktisch als e<strong>in</strong>e Art +funktional gespaltete E<strong>in</strong>heit* den Kern des politischen Systems – wobei<br />

sich <strong>Politik</strong> im Rechtsstaat allerd<strong>in</strong>gs wesentlich durch Recht vollzieht, das die Legislative setzt<br />

und die Exekutive umsetzt.<br />

Diese Perspektive, die e<strong>in</strong>e klare Trennung von politischem System und Rechtssystem unterstellt,<br />

81<br />

ist allerd<strong>in</strong>gs selbst aus systemtheoretisch-funktionalistischer Sichtweise fragwürdig. So betrachtet<br />

etwa Talcot Parsons Recht als Mechanismus sozialer Kontrolle und als (normative) soziale<br />

Struktur, die so gut wie alle Gesellschaftsbereiche durchdr<strong>in</strong>gt (vgl. Recht und soziale Konflikte;<br />

S. 121f.). Recht ist gemäß diesem Verständnis zwar ke<strong>in</strong> direkt politisches Phänomen, doch<br />

s<strong>in</strong>d die Systeme Recht und <strong>Politik</strong> +aufs engste mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verknüpft* (ebd. S. 123). Denn<br />

Recht bedarf <strong>der</strong> Durchsetzung und bedient sich dabei <strong>der</strong> staatlich monopolisierten Gewalt;<br />

ferner begrenzt das staatliche Territorium den Raum se<strong>in</strong>er +allgeme<strong>in</strong>en* Gültigkeit (vgl. ebd.;<br />

S. 125).<br />

Auch von Niklas Luhmann, <strong>der</strong> sich sehr <strong>in</strong>tensiv mit Problemen <strong>der</strong> +Rechtssoziologie* aus-<br />

e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat, wird das Rechtssystem – zum<strong>in</strong>dest vor se<strong>in</strong>er +autopoietischen Wende*<br />

(siehe auch S. XXV) – als eng mit dem politischen System verflochten bzw. als nur teilautonomes<br />

Subsystem des politischen Systems betrachtet: +Ich spreche vom politischen System und sehe<br />

die Justiz als Teilsystem […] dieses politischen Systems*, bemerkt er 1969 <strong>in</strong> dem Aufsatz<br />

+Funktionen <strong>der</strong> Rechtsprechung im politischen System* (S. 46). Die an<strong>der</strong>erseits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat<br />

feststellbare, strukturell entlastende <strong>in</strong>stitutionelle Trennung des Rechtssystems von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong><br />

(vgl. auch Rechtssoziologie; S. 238) wurde durch die Komplexitätssteigerung und den wachsenden<br />

Regelungsbedarf im Zuge <strong>der</strong> immer weiter voranschreitenden sozialen Mo<strong>der</strong>nisierung not-<br />

82<br />

wendig (vgl. Ausdifferenzierung des Rechtssystems; S. 40ff.). Das Recht mußte also +autonomer<br />

und zugleich leistungsfähiger konstituiert werden* (Funktionen <strong>der</strong> Rechtsprechung im politischen<br />

System; S. 47).<br />

Deshalb entwickelte sich im neuzeitlichen Europa mit e<strong>in</strong>er gewissen Zwangsläufigkeit e<strong>in</strong><br />

Modell <strong>der</strong> Gewaltenteilung bzw. funktionalen Differenzierung. Doch die klassische Unter-<br />

scheidung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative berücksichtigt die politische +Realität*<br />

<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften nicht ausreichend, die (überwiegend) als Parteiendemokratien<br />

organisiert s<strong>in</strong>d. Im rechtlichen Rahmen dieser Organisationsform ist direkter (partei)politischer<br />

E<strong>in</strong>fluß auf die Legislative voll legitimiert, während dies <strong>in</strong> bezug auf die Exekutive nur teilweise


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 101<br />

und im Verhältnis zur Judikative gar nicht gilt. Das macht die Rechtsprechung zu e<strong>in</strong>em +Eckste<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Systemdifferenzierung*:<br />

+Die politische Neutralisierung ihrer partiellen Kompetenz ermöglicht […] e<strong>in</strong> Doppeltes: politische<br />

Bee<strong>in</strong>flußbarkeit und Eigenständigkeit <strong>der</strong> Produktion verb<strong>in</strong>dlicher Entscheidungen, Abhängigkeit<br />

und Unabhängigkeit dieses Teilsystems des politischen Systems. In dieser Komb<strong>in</strong>ation von Abhängigkeit<br />

und Unabhängigkeit liegt e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Erfor<strong>der</strong>nis differenzierter Systeme und zugleich e<strong>in</strong> taktischer<br />

Vorteil: Entscheidungsprobleme können politisiert und entpolitisiert, können aus <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> die<br />

Legislative, die Exekutive, ja bis <strong>in</strong> die Justiz zurückverschoben werden, je nachdem, wo sich die besten<br />

Lösungsmöglichkeiten f<strong>in</strong>den.* (Ebd.; S. 49)<br />

Die politische Funktion des Rechtssystem liegt also gemäß Luhmann gerade <strong>in</strong> politischer<br />

Neutralisierung. Luhmann hat me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach mit dieser Bestimmung die Problematik<br />

des Zusammenspiels von <strong>Politik</strong> und Rechtssystem auf den Punkt gebracht – auch wenn er<br />

selbst dar<strong>in</strong> weniger e<strong>in</strong> Problem, als vielmehr gerade die spezifische Leistung des Rechtssystems<br />

83<br />

für das Funktionieren des Rechtsstaats sieht. Überdies betont Luhmann seit geraumer Zeit<br />

auch stärker die Autonomie <strong>der</strong> Systeme Recht und <strong>Politik</strong> vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> (vgl. z.B. Die E<strong>in</strong>heit<br />

84<br />

des Rechtssystems sowie Das Recht <strong>der</strong> Gesellschaft), die deshalb auch unterschiedliche<br />

Leitdifferenzen aufweisen, wobei die Unterscheidung Recht/Unrecht spezifisch für das Rechts-<br />

system ist (vgl. Codierung des Rechtssystems), während im politischem System (des parteiendemo-<br />

kratischen Staates) die Leitdifferenz Regierung/Opposition zentrale Gültigkeit besitzt (vgl. z.B.<br />

Die Zukunft <strong>der</strong> Demokratie; S. 127ff.). 85<br />

Die Frage nach <strong>der</strong> politischen Funktion des Rechts kann allerd<strong>in</strong>gs auch ganz an<strong>der</strong>s beantwortet<br />

werden. Nach marxistischer Auffassung steht Recht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em klaren funktionalen Zusammenhang<br />

mit <strong>der</strong> Aufrechterhaltung von Herrschaft und hat damit ideologischen Charakter. E<strong>in</strong>e +re<strong>in</strong>e*<br />

(von aller Historizität und <strong>der</strong> sozial-politischen Bed<strong>in</strong>gtheit <strong>der</strong> Rechts abstrahierende) Rechts-<br />

lehre, wie sie die +bürgerliche*, positivistische Rechtstheorie zum Ideal erhob und die ihrerseits<br />

86<br />

+am re<strong>in</strong>sten* bei Kehlsen zum Ausdruck kommt, ist selbst ideologisch, denn sie erfaßt den<br />

dem Recht wesentlichen Überbau-Charakter nicht.<br />

Zum Verhältnis von Basis und Überbau heißt es nämlich bei Marx <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em berühmten Vorwort<br />

zur +Kritik <strong>der</strong> Politischen Ökonomie* (1859): Die Gesamtheit <strong>der</strong> Produktionsverhältnisse<br />

+bildet die ökonomische Struktur <strong>der</strong> Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich e<strong>in</strong> juristischer<br />

und politischer Überbau erhebt* (S. 172). Dieser Überbau, <strong>der</strong> den Anspruch <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>-


102 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

gültigkeit erhebt und e<strong>in</strong> ideologisches System bildet, dient den Interessen <strong>der</strong> herrschenden<br />

Klasse:<br />

+Die herrschenden Ideen e<strong>in</strong>er Zeit waren stets nur die Ideen <strong>der</strong> herrschenden Klasse.* (Marx/Engels:<br />

Manifest <strong>der</strong> kommunistischen Partei; S. 44)<br />

Auch und gerade das Recht ist solchermaßen klassengeprägt und als +bürgerliches* Recht<br />

an die historische Faktizität <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft gebunden. Aus sozialistischer Sicht<br />

wird mit dem Ende des bürgerlichen Staates und <strong>der</strong> Verwirklichung e<strong>in</strong>er kommunistischen<br />

Gesellschaft Recht als soziale Institution deshalb <strong>in</strong>sgesamt überflüssig. Dieser Gedanke vom<br />

+Absterben des Rechts* f<strong>in</strong>det sich beispielhaft bei Petr Stu-cka:<br />

+Wenn wir Recht als bürgerliches Recht verstehen, können wir vom proletarischen Recht nicht sprechen,<br />

denn das Ziel <strong>der</strong> sozialistischen Revolution als solcher besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vernichtung des Rechtes, <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Ersetzung durch die neue sozialistische Ordnung. Für den bürgerlichen Juristen ist das Wort<br />

›Recht‹ unverbrüchlich mit dem Begriff des Staates als Organ des Schutzes und als Zwangsapparat<br />

<strong>in</strong> den Händen <strong>der</strong> herrschenden Klasse verbunden. Mit dem Fall, genauer mit dem Absterben des<br />

Staates fällt und stirbt auch das Recht im bürgerlichen S<strong>in</strong>ne ab. Vom proletarischen Recht können<br />

wir [deshalb] nur als Recht <strong>der</strong> Übergangszeit, <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats […] sprechen<br />

[…]* (Proletarisches Recht; S. 79)<br />

Diese zentralen Auffassungen (Recht als ideologischer Überbau, die Klassenbestimmtheit des<br />

Rechts und die historische Bed<strong>in</strong>gtheit <strong>der</strong> Rechtsform) ziehen sich sozusagen als +roter Faden*<br />

durch die marxistische und sozialistische Rechtstheorie (vgl. auch Reich: Marxistische und<br />

87<br />

sozialistische Rechtstheorie; S. 12ff.). Differenzierter, doch ohne den kritischen Anspruch<br />

aufzugeben, ist die Position von Jürgen Habermas. In se<strong>in</strong>er schon mehrfach zitierten +Theorie<br />

des kommunikativen Handelns* (1981) stellt er u.a. ausführlich dar, wie rechtliche Strukturen<br />

die sozialen Beziehungen durchdr<strong>in</strong>gen, diese +verrechtlichen* und so zur +Kolonialisierung*<br />

<strong>der</strong> lebensweltlichen Reproduktionssphäre durch die Produktionssphäre beitragen, selbst wo<br />

sie sie zu schützen versuchen (vgl. Band 2, S. 522–547).<br />

Die sich daraus ergebende Dialektik <strong>der</strong> Verrechtlichung ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wichtigsten Antriebskräfte<br />

für die von Habermas zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> 70er Jahre ausgemachten +Legitimationsprobleme im<br />

Spätkapitalismus*, wie sich retrospektiv formulieren läßt: Die staatlichen Steuerungs<strong>in</strong>stanzen<br />

geraten bei ihrem wohlfahrtsstaatlichen Spagat zwischen Arbeit und Kapital, <strong>der</strong> den Klassen-


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 103<br />

konflikt nur latent hält, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Legitimationskrise (vgl. S. 96–105). Diese Spannung zwischen<br />

+Faktizität und Geltung* (1992) weist auf e<strong>in</strong>en konstitutiven Zusammenhang des Rechts mit<br />

politischer Macht h<strong>in</strong> (vgl. S. 167). Denn Recht benötigt, um sich faktische Geltung zu<br />

verschaffen, e<strong>in</strong>e Durchsetzungs<strong>in</strong>stanz. Staatliche Macht tritt deshalb +nicht […] von außen<br />

neben das Recht, son<strong>der</strong>n wird von diesem vorausgesetzt, und sie etabliert sich selber <strong>in</strong><br />

88<br />

Formen des Rechts* (ebd.; S. 168). Soweit besteht allerd<strong>in</strong>gs noch relative Übere<strong>in</strong>stimmung<br />

zwischen Habermas und <strong>der</strong> gängigen Rechtstheorie. Es ergibt sich für ihn damit aber auch<br />

e<strong>in</strong>e problematische Verb<strong>in</strong>dung von Zwang und normativem Geltungsanspruch:<br />

+Politische Herrschaft stützt sich auf e<strong>in</strong> Drohpotential, das von kasernierten Gewaltmitteln gedeckt<br />

ist; gleichzeitig läßt sie sich aber durch Recht autorisieren.* (Ebd.; S. 171)<br />

Die Unterschiede zwischen <strong>der</strong> zu Beg<strong>in</strong>n dargestellten, systemtheoretisch <strong>in</strong>spirierten Sichtweise<br />

Luhmanns und dieser kritischen Interpretation des Verhältnisses von Recht und <strong>Politik</strong> durch<br />

Habermas s<strong>in</strong>d augenfällig. Umso erstaunlicher ist es, daß beide <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zentralen Punkt<br />

übere<strong>in</strong>stimmen, nämlich daß sie die Grundlage <strong>der</strong> Legitimität von Recht nicht <strong>in</strong> bestimmten,<br />

mit moralisch-ethischen Pr<strong>in</strong>zipien korrelierenden Inhalten erkennen, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>haltung<br />

e<strong>in</strong>es (demokratischen) Verfahrensmodus bei <strong>der</strong> Rechtsetzung (vgl. ebd.; S. 169 sowie Luhmann:<br />

Legitimation durch Verfahren; S. 27ff.). Doch ist natürlich für Habermas, an<strong>der</strong>s als für Luhmann,<br />

nicht die +Zersplitterung und Absorption von Protesten* (ebd.; S. 116) <strong>der</strong> positiv gedeutete<br />

und als (sozialtechnologische) Legitimation h<strong>in</strong>reichende Zweck <strong>der</strong> +demokratischen* Verfahrens-<br />

weise (vgl. ebd.; S. 155ff.). Vielmehr beruht die legitimitätsstiftende Wirkung tatsächlich demo-<br />

kratischer (d.h. diskursiver) und nicht lediglich demokratisch genannter Verfahren gemäß Haber-<br />

mas auf <strong>der</strong>en <strong>in</strong>härenter (normativer) Gültigkeit (vgl. Faktizität und Geltung; S. 367). Habermas<br />

legt also e<strong>in</strong> normatives, +deliberatives* Demokratieverständnis zugrunde, das auf se<strong>in</strong>er Diskurs-<br />

theorie aufbaut (siehe auch S. XL), und grenzt von diesem re<strong>in</strong> +empirische* Demokratiemodelle<br />

explizit ab (vgl. ebd.; S. 349–366).<br />

Die Begründung von (rechtlicher) Legitimität aus <strong>der</strong> E<strong>in</strong>haltung bestimmter Verfahren ist<br />

aber me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach problematisch. Entwe<strong>der</strong> muß, wie bei Habermas, <strong>in</strong>direkt auf<br />

außerrechtliche Normen rekurriert werden, womit man auch gleich die B<strong>in</strong>dung des Rechts<br />

89<br />

an ethische Pr<strong>in</strong>zipien hätte for<strong>der</strong>n können. O<strong>der</strong> die Argumentation gerät, wie bei Luhmann,<br />

zur Apologie des Faktischen. Das +demokratische* Verfahren <strong>der</strong> Wahl und die Gesetzgebung


104 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

selbst kann <strong>in</strong> diesem Fall als Praxologie gedeutet werden. Unter e<strong>in</strong>er +Praxologie* verstehe<br />

ich nämlich <strong>in</strong> Parallele zum Ideologiebegriff (und im expliziten Unterschied zum Begriff<br />

90<br />

<strong>der</strong> Praxeologie), e<strong>in</strong>e verschleiernde, die sozialen Machtverhältnisse abstützende ›deflektorische‹<br />

91<br />

Praxis, die über die Institutionalisierung und Ver<strong>in</strong>nerlichung von Handlungsmustern (reflexive,<br />

subpolitisch-lebensweltliche) Wi<strong>der</strong>standspotentiale ablenkt (deflektiert).<br />

Im Kontext dieser doppelten (Begründungs-)Problematik für die Geltung von Recht ersche<strong>in</strong>t<br />

das Konzept e<strong>in</strong>es (postregulativen) +reflexiven Rechts* von Gunther Teubner als <strong>in</strong>teressanter<br />

Ansatzpunkt. Teubner entwickelt se<strong>in</strong>e Gedanken vor allem <strong>in</strong> Anlehnung an Nonet und<br />

Selznick, die Ende <strong>der</strong> 70er Jahre e<strong>in</strong>e Entwicklungsdynamik h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em (repolitisierten,<br />

rematerialisierten) responsiven Recht ausmachten, welches das (nur vor<strong>der</strong>gründig) entpolitisierte<br />

autonome (und damit formalisierte) Recht <strong>der</strong> funktional dividierten Gesellschaft ablösen<br />

92<br />

könnte, ohne <strong>in</strong> repressives Recht zurückzufallen (vgl. Law and Society <strong>in</strong> Transition). An<br />

dem +evolutionistischen* Konzept von Nonet und Selznick kritisiert Teubner allerd<strong>in</strong>gs die<br />

bei ihnen se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach nur <strong>in</strong> Ansätzen zu f<strong>in</strong>dende Berücksichtigung außerrechtlicher,<br />

sozialer Faktoren auf die Rechtsentwicklung, wie sie im Gegensatz dazu bei Niklas Luhmann<br />

und Jürgen Habermas im Vor<strong>der</strong>grund stünde (vgl. Reflexives Recht; S. 29–36). 93<br />

Teubners Modell e<strong>in</strong>es +reflexiven Rechts*, d.h. die Schaffung struktureller Voraussetzungen<br />

für selbstregulatorische Prozesse (vgl. ebd; S. 49), wird von ihm deshalb explizit als rechtliche<br />

Spiegelung postmo<strong>der</strong>nen sozialen Wandels verstanden (vgl. ebd.; S. 17). Faktisch ist reflexives<br />

Recht <strong>der</strong>zeit, wenn es überhaupt Ansätze dazu gibt, jedoch auf e<strong>in</strong>ige schmale Bereiche<br />

(wie etwa die +Tarifautonomie*) beschränkt und läßt als Begriff wie als praktisches Konzept<br />

die reale Ungleichverteilung von Macht und Ressourcen unberücksichtigt (wie schon das an-<br />

gegebene, auch von Teubner genannte Beispiel zeigt). 94<br />

Trotz solcher Kritik und e<strong>in</strong>er spürbaren Nähe zur (Luhmannschen) Systemtheorie ist Teubners<br />

Konzept me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach aber fruchtbar, da es – als normatives Modell (miß)verstanden<br />

–, durch die angestrebte horizontale (subpolitische) Rückverlagerung <strong>der</strong> Regelungs-Kompetenz<br />

auf die Betroffenen, Ansatzpunkte zu e<strong>in</strong>er Transzendierung <strong>der</strong> bestehenden, e<strong>in</strong>seitig vertikal<br />

95<br />

ausgerichteten Rechtspraktiken bietet. E<strong>in</strong> vergleichbares kritisches Potential (ver)steckt (sich)<br />

auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er (weniger Luhmanns) Vorstellung vom Recht als e<strong>in</strong>em autopoietischen System, 96<br />

die er <strong>in</strong> Anschluß an se<strong>in</strong>e Theorie reflexiven Rechts entwickelt hat. Teubners Sicht ähnelt<br />

dabei <strong>in</strong> gewisser Weise sogar dem hier verfolgten +ökologischen* Ansatz: Dadurch nämlich,


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 105<br />

daß die neuere Systemtheorie die +ältere Vorstellung von Systemen als geschlossenen, fenster-<br />

losen Monaden* überw<strong>in</strong>det, wird, so Teubner, die Möglichkeit eröffnet, +das Zusammenspiel<br />

von Systemen und Umwelten und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Abhängigkeit <strong>der</strong> Systeme von ihren<br />

Umwelten <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund zu rücken* (Autopoiese im Recht; S. 5).<br />

Wie stellt sich vor diesem theoretischen H<strong>in</strong>tergrund das Verhältnis von Recht und <strong>Politik</strong><br />

dar? – Recht ist gemäß diesem Verständnis nicht e<strong>in</strong>seitig Mittel von <strong>Politik</strong>, und die politische<br />

Instrumentalisierung des Rechts führt auch nicht immer zum beabsichtigten Ziel o<strong>der</strong> konterkariert<br />

97<br />

dieses sogar (vgl. ebd.; S. 7f.). Das steht für Teubner im Zusammenhang mit <strong>der</strong> angeblichen<br />

(im Rahmen se<strong>in</strong>es Konzepts reflexiven Rechts noch nicht so gesehenen) Selbstorganisation<br />

des Rechtssystems, d.h. e<strong>in</strong> selbstreferenzieller (ke<strong>in</strong> reflexiver!) Zirkel entsteht: Rechts-<br />

handlungen, Rechtsnormen, Rechtsverfahren und Rechtsdogmatik werden im Rechtssystem<br />

autonom +hergestellt*, wobei sich die Unterscheidung Recht/Unrecht verselbständigt hat (vgl.<br />

ebd.; S. 14f.). Doch diese Verselbständigung, und das ist das <strong>in</strong>teressante an Teubners Inter-<br />

pretation, f<strong>in</strong>det im Rahmen e<strong>in</strong>er +(sub)systemischen* Ko-Evolution statt: Auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong><br />

konkreten Interaktionen kommt es zu Abstimmungsprozessen zwischen den verschiedenen<br />

Teilsystemen (vgl. ebd.; S. 38ff.).<br />

Da die Systeme Recht und <strong>Politik</strong>, wie dargelegt, sehr eng (strukturell) ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gekoppelt<br />

s<strong>in</strong>d (d.h. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kritischen Übersetzung: sie bilden e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>stitutionellen Machtkomplex)<br />

und entsprechend viele Interaktionen zwischen beiden Systemen stattf<strong>in</strong>den, liegt es nahe<br />

anzunehmen, daß die Ko-Evolution zwischen dem politischen und dem Rechtssystem beson<strong>der</strong>s<br />

ausgeprägt ist, das heißt, beide Systeme stabilisieren sich durch e<strong>in</strong>e symbiotische (doch nicht<br />

immer harmonische) Anpassung gegenseitig, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nur sche<strong>in</strong>bar wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />

(deflexiven) Dialektik von Verrechtlichung und Politisierung äußert (vgl. auch Hagen: Politisierung<br />

des Rechts – Verrechtlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>; S. 23). Es handelt sich um e<strong>in</strong>e nur sche<strong>in</strong>bar wi<strong>der</strong>-<br />

sprüchliche Dialektik, da <strong>der</strong> politische Charakter dem Rechtssystem und <strong>der</strong> rechtliche Charakter<br />

dem <strong>Politik</strong>system immanent ist und ihr +funktionaler* Zusammenhang gerade die Grundlage<br />

ihrer <strong>in</strong>stitutionellen Ausdifferenzierung darstellt, da so, wie Luhmann analytisch scharfsichtig<br />

herausgearbeitet hat, politische Neutralisierung und Protestabsorption möglich wird (siehe<br />

98<br />

nochmals das Zitat auf S. 101). Beide Prozesse, Politisierung und Verrechtlichung, sollen,<br />

um dieses Argument <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er kritischen Dimension deutlicher zu machen, im folgenden näher<br />

beleuchtet werden.


106 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Die Politisierung <strong>der</strong> Justiz, die beson<strong>der</strong>s Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre Gegenstand e<strong>in</strong>er breiteren<br />

Diskussion war, aber auch durch e<strong>in</strong>ige strittige Urteile des Bundesverfassungsgerichts <strong>in</strong> letzter<br />

Zeit wie<strong>der</strong> verstärkt zum Thema geworden ist (vgl. z.B. Piazolo: Zur Mittlerrolle des Bundes-<br />

verfassungsgerichts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Deutschen Verfassungsordnung; S. 8f. und siehe auch hier S. 111ff.),<br />

vollzieht sich <strong>in</strong> zweifacher Weise: e<strong>in</strong>mal, <strong>in</strong>dem sich das Rechtssystem aus eigener Initiative<br />

politischer Fragen +bemächtigt* (ich spreche <strong>in</strong> diesem Fall von endogener Politisierung), und<br />

<strong>in</strong>dem die <strong>Politik</strong> eigentlich politische Entscheidungen auf das Rechtssystem +abwälzt* (<strong>in</strong><br />

diesem Fall spreche ich von exogener Politisierung). Die Verwendung <strong>der</strong> Verben +bemächtigen*<br />

und +abwälzen* entspricht dabei <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>ierend negativen (öffentlichen) Perzeption bei<strong>der</strong><br />

Prozesse, da schließlich e<strong>in</strong>e wie auch immer geartete Politisierung gemäß <strong>der</strong> weith<strong>in</strong> ver<strong>in</strong>ner-<br />

lichten Ideologie des liberalen Rechtsstaats <strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>ten politischen Neutralität <strong>der</strong> Justiz<br />

zuwi<strong>der</strong> läuft (vgl. dazu GG; Art. 20, Abs. 3 sowie Litten: Die Politisierung <strong>der</strong> Justiz; S. 18ff.).<br />

Die oben getroffene Unterscheidung ist jedoch sehr hilfreich, wenn man e<strong>in</strong> Verständnis für<br />

die <strong>in</strong>nere Dialektik dieses Prozesses entwickeln will:<br />

Aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> stellt die endogene Politisierung des Rechtssystems e<strong>in</strong>e Bedrohung<br />

<strong>der</strong> eigenen Systemautonomie wie des politischen Entscheidungsmonopols von Legislative<br />

und Exekutive dar (was sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>em stärkeren +juridical self-restra<strong>in</strong>t*<br />

99<br />

ausdrückt). Durch die +politische Initiative* <strong>der</strong> Richter werden jedoch gleichzeitig +Regelungs-<br />

defizite* des politischen Systems ausgeglichen und dieses damit <strong>in</strong>stitutionell abgestützt und<br />

ergänzt.<br />

Die exogene Politisierung <strong>der</strong> Justiz als politische Instrumentalisierung des Rechtssystems entlastet<br />

die <strong>Politik</strong> dagegen ganz offensichtlich davon, unliebsame, <strong>in</strong>nerpolitisch schwer vermittelbare<br />

und damit konfliktträchtige Entscheidungen zu treffen, o<strong>der</strong> bietet die Option e<strong>in</strong>es nach-<br />

träglichen juristischen Kippens von Gesetzen durch die Opposition. Die Legalität des juristischen<br />

Entscheidens verleiht <strong>in</strong> diesem Fall <strong>der</strong> Entscheidung (bzw. <strong>der</strong> eigentlich +undemokratischen*<br />

Infragestellung <strong>der</strong> parlamentarischen Mehrheitsentscheidung) Legitimität – legitimiert aber<br />

auch, durch die politische Anerkennung se<strong>in</strong>er Zuständigkeit, das Rechtssystems selbst. Trotzdem<br />

ersche<strong>in</strong>t aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Justiz exogene Politisierung verständlicherweise eher als Belastung,<br />

da sie nicht nur gezwungen wird, sich auf formal-rechtlicher Ebene mit eigentlich politischen<br />

Streitfragen ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen, son<strong>der</strong>n so auch Gefahr läuft, <strong>in</strong>s politische und öffentliche<br />

Kreuzfeuer zu geraten.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 107<br />

Die endogene Politisierung des Rechtssystems wie<strong>der</strong>um wird, wie schon oben angedeutet,<br />

als Ergebnis <strong>der</strong> Erfor<strong>der</strong>nis zur extensiveren wie <strong>in</strong>tensiveren Rechtsauslegung aufgrund politi-<br />

scher Regelungsdefizite gedeutet. Denn wegen des beschleunigten sozialen Wandels, kann<br />

die <strong>Politik</strong> – trotz <strong>der</strong> feststellbaren Verrechtlichungstendenzen (siehe S. 114–120) – nicht<br />

schnell genug auf gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ungen mit neuen (o<strong>der</strong> <strong>der</strong> neuen Lage angepaßten)<br />

Gesetzen reagieren (vgl. hierzu auch Friedmann: Recht und sozialer Wandel; Kap. 2). Deshalb<br />

ist es +nach neuerer Rechtsprechung […] die Aufgabe <strong>der</strong> Gerichte, gesetzliche Bestimmungen<br />

den <strong>in</strong> tatsächlicher o<strong>der</strong> rechtlicher H<strong>in</strong>sicht verän<strong>der</strong>ten Verhältnissen anzupassen* (Auszug<br />

aus e<strong>in</strong>em Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 9.10.1956, zitiert nach Litten: Politisierung<br />

100<br />

<strong>der</strong> Justiz; S. 29). Die Gesellschaft ist also offenbar auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> Justiz<br />

stärker differenziert als die Gesetzesregelungen, und so muß sich diese (um den gesellschaftlichen<br />

Verhältnissen +gerecht* zu werden) ihr eigenes Recht schaffen – d.h. (gemäß e<strong>in</strong>em streng<br />

gewaltenteiligen Verständnis): e<strong>in</strong>e Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wahrnehmen. 101<br />

Die solchermaßen gefor<strong>der</strong>ten Richter können diesen Umstand nun beklagen und sich auf<br />

ihr Rollenbild versteifen, das ihnen traditionell e<strong>in</strong>e strikte Trennung von <strong>der</strong> politischen Sphäre<br />

102<br />

gebietet. Die an<strong>der</strong>e Möglichkeit besteht dar<strong>in</strong>, die gewonnenen Autonomiefreiräume zu<br />

begrüßen und sie entsprechend zu nutzen. Hierzu Rudolf Wassermann, (damals) Oberlandesge-<br />

richtspräsident <strong>in</strong> Braunschweig, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre vielbeachteten Buch:<br />

+Me<strong>in</strong>e Position <strong>in</strong> dem Streit um den politischen Richter ist seit Jahren unverän<strong>der</strong>t. In <strong>der</strong> Publizistik,<br />

aber auch sonst wird sie oft dah<strong>in</strong> <strong>in</strong>terpretiert, daß ich den politischen Richter for<strong>der</strong>e. Ich pflege<br />

darauf zu verweisen, daß das nicht richtig, weil überflüssig ist. Den politischen Richter braucht niemand<br />

zu for<strong>der</strong>n. Denn die politische Funktion des Richters versteht sich von selbst. Jede Justiz ist politisch,<br />

ob man das nun zugibt o<strong>der</strong> nicht […] Was ich for<strong>der</strong>e ist erstens: daß sich <strong>der</strong> Richter des politischen<br />

Charakters se<strong>in</strong>er Tätigkeit bewußt wird, zweitens: daß er sich zu <strong>der</strong> damit verbundenen Verantwortung<br />

gegenüber <strong>der</strong> Gesellschaft bekennt, und drittens: daß er bei se<strong>in</strong>en politischen Entscheidungen nicht<br />

privaten Vorlieben o<strong>der</strong> schichtspezifischen Präferenzen folgt, son<strong>der</strong>n sich an <strong>der</strong> Verfassung orientiert.*<br />

(Der politische Richter; S. 17)<br />

In diesen Ausführungen Wassermanns kl<strong>in</strong>gt die generelle Zwiespältigkeit des richterlichen<br />

Auslegungs- und Interpretationsfreiraums an. Dieser kann sozial-politisch +<strong>in</strong>novativ* genutzt<br />

werden (etwa wenn neue, +posttraditionale* Formen des Zusammenlebens durch richterliche<br />

Rechtsprechung mit <strong>der</strong> bürgerlichen Institution <strong>der</strong> Ehe gleichgestellt werden, wofür es erst


108 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

103<br />

<strong>in</strong> letzter Zeit e<strong>in</strong>ige erste, zaghafte Ansätze gibt). Er kann aber auch zum Zweck <strong>der</strong> Kon-<br />

servierung und Stabilisierung +überkommener* moralischer o<strong>der</strong> politischer Vorstellungen<br />

104<br />

dienen (etwa wenn selbiges unter Verweis auf den verfassungsrechtlich beson<strong>der</strong>s geschützten<br />

Status von Ehe und Familie unterbleibt o<strong>der</strong> passiver Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Bürger <strong>in</strong> Form von<br />

Sitzblockaden und <strong>der</strong>gleichen durch die Rechtsprechung +krim<strong>in</strong>alisiert* wird) – was aufgrund<br />

<strong>der</strong> sozialen Struktur <strong>der</strong> Richterschaft und vor allem ihrer beruflichen Sozialisation sicherlich<br />

ke<strong>in</strong>e seltene Entscheidungstendenz darstellt (vgl. hierzu z.B. Treiber: Juristische Lebensläufe<br />

105<br />

sowie Rottleuthner: Klassenjustiz?). Es muß allerd<strong>in</strong>gs klargestellt werden, daß die Recht-<br />

sprechung paradoxerweise <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em Maße dann konservierend und politisch stabilisierend<br />

wirkt, wenn sie e<strong>in</strong>em +<strong>in</strong>novativen* Impuls folgt, denn sie entlastet gerade dadurch das politische<br />

System von (sozialem) +Anpassungsdruck*.<br />

Nach diesen theoretischen Erörterungen soll die Politisierung <strong>der</strong> Justiz am Beispiel <strong>der</strong> Institution<br />

des Bundesverfassungsgerichts veranschaulicht werden. E<strong>in</strong> Verfassungsgericht ist – obwohl<br />

Verfassungsgerichte o<strong>der</strong> ähnliche Institutionen <strong>in</strong> den meisten Staaten existieren – nach gängiger<br />

Auffassung ke<strong>in</strong> notwendiger Bestandteil des Rechtsstaats, wird aber von vielen Autoren als<br />

dessen +Krönung* angesehen, da nur durch e<strong>in</strong>e (übergeordnete) Verfassungsgerichtsbarkeit<br />

e<strong>in</strong>e tatsächliche rechtliche Kontrolle von Legislative und Exekutive erfolgen könne (vgl. z.B.<br />

Clemens: Das Bundesverfassungsgericht im Rechts- und Verfassungsstaat; S. 13f.).<br />

Der Zuständigkeitsbereich des Bundesverfassungsgerichts, das se<strong>in</strong>e Arbeit im September<br />

1951 <strong>in</strong> Karlsruhe aufgenommen hat, umfaßt im Rahmen dieser Kontrollfunktion nach Artikel<br />

93 des Grundgesetzes: 1. Organstreitigkeiten zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Verfassungsorganen,<br />

2. Streitigkeiten über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (abstrakte und konkrete Normen-<br />

kontrolle), 3. Streitigkeiten zwischen Bund und Län<strong>der</strong>n (fö<strong>der</strong>ative Kompetenzkonflikte), 4.<br />

Verfassungsbeschwerden von Bürgern sowie 5. e<strong>in</strong>e Reihe weiterer, an verschiedenen Stellen<br />

des Grundgesetzes genannte Kompetenzfel<strong>der</strong>, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Maßnahmen zur Sicherung <strong>der</strong><br />

106<br />

Demokratie wie das Parteienverbotsverfahren nach Art. 21, Abs. 2 GG. +Damit ist das Bundes-<br />

verfassungsgericht als höchster Streitentschei<strong>der</strong> allen staatlichen Instanzen übergeordnet,<br />

und zwar nicht nur <strong>der</strong> Exekutive […] und <strong>der</strong> Legislative […], son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Judikative<br />

[…]* (Ebd.; S. 15)<br />

Im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich zeigt sich, daß das Bundesverfassungsgericht – das sich als auf<br />

Verfassungsfragen +spezialisiertes* Gericht nicht am amerikanischen +Supreme Court*, son<strong>der</strong>n


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 109<br />

am österreichischen Modell anlehnt – angesichts se<strong>in</strong>er umfassenden Kompetenzen nur wenige<br />

wirklich gleichwertige Entsprechungen <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Staaten hat (vgl. Weber: Verfassungsgerichte<br />

<strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n; S. 61ff. und S. 67f.). Und an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> den meisten Län<strong>der</strong>n werden<br />

107 108<br />

die je acht Richter <strong>der</strong> beiden Senate auch alle<strong>in</strong>e durch das/die Parlament(e) (d.h. Bundes-<br />

tag und Bundesrat) bestellt (vgl. ebd.; S. 65f.). Das Bundesverfassungsgericht besitzt also,<br />

sowohl was se<strong>in</strong>en Zuständigkeitsbereich betrifft wie auch durch den Modus <strong>der</strong> Richterwahl,<br />

e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>s ausgeprägte <strong>Politik</strong>verflechtung. Trotzdem wird es von <strong>der</strong> Öffentlichkeit als<br />

politisch unabhängige Rechts<strong>in</strong>stitution wahrgenommen und genießt nicht zuletzt deswegen<br />

e<strong>in</strong> sehr hohes Ansehen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung.<br />

Gelegentlich wird nun von wissenschaftlicher Seite zum<strong>in</strong>dest dem Argument e<strong>in</strong>er politisierten<br />

Richterwahl entgegengehalten, daß die im BVerfGG (§ 6f.) festgeschriebene Zweidrittel-Mehrheit<br />

e<strong>in</strong>e zu starke e<strong>in</strong>seitige parteipolitische Prägung <strong>der</strong> Kandidaten verh<strong>in</strong><strong>der</strong>e. Die Parlaments-<br />

fraktionen können jedoch die gegenseitige Zustimmung zu +ihren* Kandidaten leicht unter-<br />

e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> +aushandeln*, auch wenn diese e<strong>in</strong>e augenfällige parteipolitische +Färbung* aufweisen<br />

(vgl. hierzu auch Iffensee: Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und <strong>Politik</strong>; S. 54f.).<br />

Dem hält wie<strong>der</strong>um Gerd Roellecke entgegen:<br />

+Waren die Parteigänger als Richter stark, haben sie sich schnell mit ihrer neuen Rolle identifiziert<br />

und ihre Loyalitäten zu den politischen Parteien gelockert […] Waren die Parteigänger als Richter<br />

schwach, haben sie sich zwar stärker an ihre Partei gebunden gefühlt, aber dann hatten sie im Senat<br />

nichts zu sagen.* (Das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts und die Verfassung; S. 34)<br />

Diese Aussage kl<strong>in</strong>gt sehr nach rechtsprofessioneller Ideologie. Gerade Roellecke beweist<br />

jedoch, daß er gängigen Vorstellungen kritisch gegenübersteht, <strong>in</strong>dem er die +offizielle* Sichtweise<br />

h<strong>in</strong>terfragt und alternative Interpretationen anbietet. Dies zeigt sich an se<strong>in</strong>er Beurteilung<br />

des Verfassungsbeschwerdeverfahrens. Verfassungsbeschwerden können (wie oben angesprochen)<br />

nach Art. 93 (Abs. 4a) GG von Bürgern e<strong>in</strong>gereicht werden, die sich durch die öffentliche<br />

Gewalt <strong>in</strong> ihren Grundrechten bee<strong>in</strong>trächtigt fühlen. Dieses Verfahren erfreut sich großer<br />

+Beliebtheit*: 1993 hatte das Bundesverfassungsgericht 5.246 Beschwerden zu bearbeiten<br />

– fast doppelt soviel wie noch Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre und obwohl die E<strong>in</strong>reichung seit 1985<br />

gebührenpflichtig ist. Insgesamt g<strong>in</strong>gen bis 1993 ca. 92.000 Verfassungsbeschwerden e<strong>in</strong>,<br />

von denen allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> Großteil nicht e<strong>in</strong>mal die Vorprüfung überstand und letztendlich


110 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

nur etwa 2.500 im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Antragsteller erfolgreich waren, was e<strong>in</strong>er Erfolgsquote von 2,7%<br />

entspricht (vgl. ebd.; S. 37f. und S. 40). Angesichts dessen bemerkt Roellecke:<br />

+Die Verfassungsbeschwerde hilft dem Bürger kaum. Bei je<strong>der</strong> Tombola ist die Trefferquote höher<br />

als [etwas über] zwei Prozent. Aber sie ist e<strong>in</strong> Indiz für Achtung und Ansehehen des Bundesverfassungs-<br />

gerichts. Sie verschafft ihm e<strong>in</strong>e Art populistischer Legitimation, die mit Demokratie allerd<strong>in</strong>gs nichts<br />

zu tun hat, son<strong>der</strong>n eher daran er<strong>in</strong>nert, daß schon die Monarchen des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts Bittschriften<br />

[…] ganz ähnlich als Legitimationsausweise verstanden haben […]* (Ebd.; S. 39)<br />

Auch von <strong>der</strong> Qualität <strong>der</strong> Rechtsprechung des Verfassungsgerichts hält Roellecke nicht viel<br />

(vgl. ebd.; S. 40–44), das zudem nur e<strong>in</strong>e schwache, nämlich <strong>in</strong>direkte demokratische Legiti-<br />

mation besitzt (siehe die gemachten Bemerkungen zur Richterwahl und vgl. auch ebd.; S.<br />

45). Entsprechend gelangt er zu dem Schluß, daß das Ansehen dieses Gerichts sich nicht<br />

aus ihm selbst heraus, son<strong>der</strong>n nur aus dem Ansehen <strong>der</strong> von ihm juristisch verwalteten,<br />

+gehüteten* Verfassung herleiten kann.<br />

Jede Verfassung beansprucht ihrem Wesen nach, obwohl sie positives Recht ist, e<strong>in</strong>en beson-<br />

<strong>der</strong>en, dem e<strong>in</strong>fachen Recht übergeordneten Status, schreibt e<strong>in</strong>en politischen Grundkonsens<br />

(unverrückbar) fest und entlastet so das politische Tagesgeschäft von Grundsatzause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>set-<br />

zungen. Die Paradoxie e<strong>in</strong>es Überpositivität beanspruchenden positiven Rechts wird gelöst,<br />

<strong>in</strong>dem die politische Geme<strong>in</strong>schaft die Verfassung verklärt und idealisiert (vgl. auch ebd; S.<br />

46). Der Verweis auf e<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>spruch zum Grundgesetz ist deshalb e<strong>in</strong> +Totschlagargument*,<br />

das den Gegner zum Verfassungsfe<strong>in</strong>d und politischen Außenseiter erklärt. Die säkularisierten<br />

Heilserwartungen <strong>der</strong> Bürger, die von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> enttäuscht worden s<strong>in</strong>d, haben sich – sofern<br />

solche angesichts <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen +Ernüchterung* überhaupt noch bestehen bzw. sich <strong>in</strong><br />

das bestehende System <strong>in</strong>tegrieren lassen – auf das Recht und die Justiz verlagert, die als<br />

politisch sche<strong>in</strong>bar neutrale Instanzen die Illusion von Gerechtigkeit vermitteln (vgl. dazu<br />

auch Bubner: Zur juristischen Substituierung des Politischen; S. 399). Und selbst Habermas<br />

plädiert ja mittlerweile für e<strong>in</strong>en +Verfassungspatriotismus* (vgl. z.B. Staatsbürgerschaft und<br />

nationale Identität; S. 642f.) und gerät so <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e merkwürdige Nähe zu eher konservativen<br />

Geistern wie Dolf Sternberger, auf den dieser Begriff zurückgeht. 109<br />

Die <strong>Politik</strong> profitiert <strong>in</strong>direkt von <strong>der</strong> relativen Aufwertung des Rechts(systems): Mit <strong>der</strong> ver-<br />

fassungsrechtlichen Überprüfung e<strong>in</strong>es Gesetzes o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er exekutiven Entscheidung erfolgt,<br />

wenn die Konformität mit dem Grundgesetzt bejaht wird, e<strong>in</strong> Retransfer von Legitimität. Der


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 111<br />

+Segen* des Bundesverfassungsgericht entlastet von politischer Entscheidung, Begründung<br />

und Überzeugung. Läßt sich also die Opposition auf das +Spiel* e<strong>in</strong>er Verfassungsklage (Normen-<br />

kontroll- o<strong>der</strong> Organklage) e<strong>in</strong>, so begibt sie sich auf glatten Boden: Nur wenn sie Erfolg hat,<br />

kann sie dem politischen Gegenüber e<strong>in</strong>e herbe Nie<strong>der</strong>lage durch partiellen Legitimitätsentzug<br />

bereiten. Unterliegt sie jedoch, so erhält das Regierungshandeln e<strong>in</strong>e rechtliche Legitimitätsstütze,<br />

während die oppositionelle Klage als Instrumentalisierung des Verfassungsgerichts dargestellt<br />

werden kann. Unabhängig vom konkreten Ausgang wirkt allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> oben angesprochene<br />

deflektorische Mechanismus des rechtlichen Verfahrens.<br />

Dieser Zusammenhang soll abschließend anhand des vor dem Bundesverfassungsgericht<br />

ausgetragenen Rechtsstreits zum Somalia-E<strong>in</strong>satz <strong>der</strong> Bundeswehr im Rahmen <strong>der</strong> UNOSOM II-<br />

Mission von 1993 kurz illustriert werden, wobei ich mich auf die Ausführungen von Dieter<br />

Blumenwitz stützen möchte (vgl. Verteidigungs- und Sicherheitspolitik – E<strong>in</strong> Streitfall für das<br />

Verfassungsgericht?): Aufgrund <strong>der</strong> ungünstigen Entwicklung <strong>der</strong> Lage <strong>in</strong> Somalia reichte die<br />

SPD-Bundestagsfraktion Organklage beim Bundesverfassungsgericht e<strong>in</strong>. Sie befürchtete e<strong>in</strong>e<br />

Gefährdung deutscher Soldaten und sah deshalb die Kompetenzen <strong>der</strong> Regierung überschritten,<br />

die sich bei <strong>der</strong> Beteiligung an <strong>der</strong> UN-Mission nur auf e<strong>in</strong>e unverb<strong>in</strong>dliche, re<strong>in</strong> akklamatorische<br />

Entschließung des Bundestags mit e<strong>in</strong>facher Mehrheit stützen konnte. In diesem Zusammenhang<br />

stellte sie auch e<strong>in</strong>en Eilantrag, +die Bundesregierung anzuweisen, bis zur Entscheidung über<br />

den […] Organstreit die bereits <strong>in</strong> Somalia bef<strong>in</strong>dlichen Soldaten <strong>der</strong> Bundeswehr zurückzuziehen<br />

und ke<strong>in</strong>e weiteren Soldaten nach Somalia zu entsenden* (zitiert nach ebd.; S. 93). Diesen<br />

Eilantrag wies das Gericht ab, for<strong>der</strong>te aber, daß bis zur Entscheidung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptsache<br />

zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> positiver (über e<strong>in</strong>e bloße Entschließung h<strong>in</strong>ausgehen<strong>der</strong>) +konstitutiver* Beschluß<br />

des Bundestags (allerd<strong>in</strong>gs ebenfalls nur mit e<strong>in</strong>facher Mehrheit) zu erfolgen hätte und auch<br />

alle weiteren Maßnahmen <strong>der</strong> Bundesregierung <strong>in</strong> dieser Sache <strong>der</strong> (ausdrücklichen) parla-<br />

mentarischen Zustimmung bedürften (vgl. ebd.; S. 93ff.). Dem konnte die Bundesregierung<br />

gelassen entgegensehen. Im letztendlichen Urteil des Gerichts vom 12. Juli 1994 wurde die<br />

Verfassungsmäßigkeit des Somalia-E<strong>in</strong>satzes festgestellt. Es legte dem Gesetzgeber aber nahe,<br />

Form und Inhalt <strong>der</strong> parlamentarischen Mitwirkung bei Streitkräftee<strong>in</strong>sätzen im Rahmen e<strong>in</strong>es<br />

Entsendegesetzes näher zu gestalten (vgl. ebd; S. 100).<br />

Wie können dieses verfassungsrechtliche Verfahren an sich und se<strong>in</strong> Ergebnis <strong>in</strong>terpretiert<br />

werden? – Blumenwitz selbst gibt e<strong>in</strong>e sehr konservative Deutung: Er beschuldigt zum e<strong>in</strong>en


112 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

die Bundesregierung, nicht e<strong>in</strong>deutig genug auf ihrer exekutiven Gestaltungskompetenz bestanden<br />

und damit e<strong>in</strong>e Verfassungsklage <strong>der</strong> Opposition praktisch provoziert zu haben (vgl. ebd.;<br />

96f.). Dies gelte <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für die an <strong>der</strong> Regierung beteiligte FDP, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ähnlich<br />

gelagerten, zuvor dem Verfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegten Fall (es g<strong>in</strong>g um den<br />

E<strong>in</strong>satz deutscher Truppen im Rahmen des AWACS-E<strong>in</strong>satzes <strong>der</strong> NATO zur Durchsetzung<br />

des Flugverbots über Bosnien) sogar auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Opposition als Kläger<strong>in</strong> aufgetreten<br />

war (vgl. ebd.). Zum Verhalten <strong>der</strong> SPD me<strong>in</strong>t Blumenwitz: +In Anbetracht <strong>der</strong> honorigen<br />

[!] Angebote <strong>der</strong> Regierungsparteien zur Zusammenarbeit war die SPD-Bundestagsfraktion<br />

von allen guten Geistern verlassen, den Verfassungsstreit vor das Bundesverfassungsgericht<br />

zu tragen* (ebd.; S. 98). Vielmehr hätte sie ihre +Alles-o<strong>der</strong>-Nichts*-Taktik aufgeben und sich<br />

kompromißbereit zeigen sollen, um den politischen Prozeß mitgestalten zu können (vgl. ebd.).<br />

Dem Verfassungsgericht bestätigt Blumenwitz, +<strong>in</strong>sgesamt doch noch auf <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> gebotenen<br />

richterlichen Zurückhaltung* gelegen zu haben (ebd.; S. 96), kritisiert allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en gewissen<br />

+juridical activism* und me<strong>in</strong>t, das Gericht habe zu stark <strong>in</strong> die Sphäre <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

den exekutiven Gestaltungsfreiraum h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>dirigiert (vgl. ebd.; S. 98f.).<br />

Dies ist e<strong>in</strong>e sehr aufschlußreiche Interpretation, denn sie demonstriert, wie wenig im allgeme<strong>in</strong>en<br />

die neben ihrem offensichtlichen Zweck (hier: die angestrebte Revidierung e<strong>in</strong>es<br />

Regierungsbeschlusses) bestehende legitimierende und deflektorische Funktion des verfassungs-<br />

rechtlichen Verfahrens reflektiert wird, und wie verschiedene Elemente gewaltenteiliger Ideologie<br />

kontradiktorisch vermengt werden. Der Regierung konnte nämlich e<strong>in</strong>e verfassungsrechtliche<br />

Klärung <strong>der</strong> Frage auf dem Gerichtsweg (entgegen <strong>der</strong> Auffassung von Blumenwitz) nur gelegen<br />

kommen. Das Risiko, e<strong>in</strong>e solche durch die Schaffung von Fakten zu +provozieren*, war kal-<br />

kulierbar und ger<strong>in</strong>g. Dem Verfassungsgericht wäre es kaum möglich gewesen, an<strong>der</strong>s zu<br />

entscheiden, denn es hätte damit e<strong>in</strong> wichtiges Element des politischen Systems (die außen-<br />

politische Handlungskompetenz <strong>der</strong> Regierung) und damit letzendlich auch sich selbst <strong>in</strong><br />

Frage gestellt (da es ja entsprechend dem grundgesetzlichen Auftrag dieses System zu schützen<br />

hat und selbst se<strong>in</strong> Bestandteil ist). Die Begründung zur Ablehnung e<strong>in</strong>es FDP- und SPD-Eilantrags<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> oben angesprochenen AWACS-Sache zeigt diese (pragmatische) Orientierung des Gerichts<br />

an <strong>der</strong> Staatsraison sehr offen: Dem Antrag stattzugeben, so die Begründung, wäre +als e<strong>in</strong>e<br />

empf<strong>in</strong>dliche Störung <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Völkergeme<strong>in</strong>schaft autorisierten und von <strong>der</strong> NATO unter-<br />

stützten Maßnahme empfunden* worden und hätte e<strong>in</strong>en Vertrauensverlust bei den Bünd-


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 113<br />

nispartnern bewirkt (zitiert nach ebd.; S. 91f.). Durch diese Entscheidung des Bundesverfassungs-<br />

gerichts und die Entscheidung zum Somalia-E<strong>in</strong>satz bekamen politisch zum<strong>in</strong>dest fragwürdige<br />

Regierungsbeschlüsse verfassungsrechtlichen Segen.<br />

Doch was bewegte die Opposition zu klagen? Konnte sie wirklich hoffen, +Recht* zu bekommen?<br />

Ich möchte dies bezweifeln. Aber es g<strong>in</strong>g wohl auch nicht so sehr darum, e<strong>in</strong>en tatsächlichen<br />

Erfolg zu erstreiten, son<strong>der</strong>n vielmehr, sich <strong>der</strong> eigenen oppositionellen Rolle zu versichern<br />

und dies auch <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu demonstrieren, die <strong>in</strong> dieser Frage durchaus gespalten<br />

war. Anstatt aber e<strong>in</strong>e politische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung zu führen (was auch passiven o<strong>der</strong> aktiven<br />

Wi<strong>der</strong>stand gegen den E<strong>in</strong>satz hätte bedeuten können), schlug man e<strong>in</strong>en konstitutionellen<br />

Weg e<strong>in</strong>. Man entledigte sich also e<strong>in</strong>er unbequemen politischen Rolle, <strong>in</strong>dem man das Problem<br />

zu e<strong>in</strong>em rechtlichen Problem def<strong>in</strong>ierte (was es primär nicht ist) und es an das Bundes-<br />

verfassungsgericht zur Entscheidung übermittelte.<br />

Das Bundesverfassungsgericht se<strong>in</strong>erseits wurde <strong>der</strong> ihm zugedachten Rolle voll und ganz<br />

gerecht. Es versuchte die Erwartungshaltungen sowohl <strong>der</strong> Regierung wie <strong>der</strong> Opposition<br />

zu befriedigen und dabei im Rahmen <strong>der</strong> Verfassung zu verbleiben, womit es wirksam das<br />

Regierungshandeln legitimiert und die (parlamentarische) Opposition deflektorisch <strong>in</strong>tegriert<br />

hatte. Dies erreichte es, <strong>in</strong>dem es die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er parlamentarischen Zustimmung<br />

bei Fragen des Truppene<strong>in</strong>satzes im Ausland hervorhob (und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Urteil die Schaffung<br />

e<strong>in</strong>es Entsendegesetzes anregte), dieses parlamentarische Recht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Entscheidung zum<br />

Eilantrag aber so faßte, daß e<strong>in</strong> Kippen des Regierungsbeschlusses aufgrund <strong>der</strong> Mehrheits-<br />

110<br />

verhältnisse nicht wahrsche<strong>in</strong>lich erschien. Dabei konnte sich das Bundesverfassungsgericht<br />

auf die klassische Ideologie <strong>der</strong> Gewaltenteilung stützen, die ja e<strong>in</strong>e strikte Trennung und<br />

Gegenüberstellung von Legislative (Parlament) und Exekutive (Regierung) unterstellt, welche<br />

im parlamentarischen System aber praktisch durch die Gegenüberstellung von Regierung(spar-<br />

teien) und Opposition(sparteien) aufgehoben ist.<br />

Daß sich die FDP, wie oben bemerkt, paradoxerweise im Fall des AWACS-E<strong>in</strong>satzes diesem<br />

Verständnis von Gewaltenteilung gemäß verhielt und gegen die Regierung, an <strong>der</strong> sie selbst<br />

maßgeblich beteiligt war, Klage e<strong>in</strong>reichte, wird von Blumenwitz bezeichnen<strong>der</strong>weise stark<br />

kritisiert. Dabei beharrt er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Punkt geradezu dogmatisch auf e<strong>in</strong>er strengen<br />

Gewaltenteilung – nämlich wenn er die Exekutive vor Übergriffen <strong>der</strong> Legislative wie <strong>der</strong><br />

Judikative schützen will. Hieran zeigt sich, daß sich verschiedene Elemente <strong>der</strong> gewaltenteiligen


114 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Ideologie unterschiedlich <strong>in</strong>strumentalisieren lassen und als Grundlage bzw. Überbau für die<br />

Praxologie des juristischen Verfahrens dienen.<br />

Die hier am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts veranschaulichte Politisierung <strong>der</strong> Justiz<br />

ist jedoch nur die e<strong>in</strong>e Seite <strong>der</strong> politisch deflektorischen Funktion des Rechts. Sie wird praxo-<br />

logisch ergänzt durch e<strong>in</strong>e (allerd<strong>in</strong>gs ebenso <strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchliche) Verrechtlichung <strong>der</strong><br />

<strong>Politik</strong>. Verrechtlichung (als begrifflicher Ausdruck für e<strong>in</strong>e wahrgenommene Dom<strong>in</strong>anz des<br />

Rechtssystems über die <strong>Politik</strong>) und Politisierung (als begrifflicher Ausdruck für e<strong>in</strong>e wahr-<br />

genommene Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> über das Rechtssystem) stehen tatsächlich nämlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

funktionalen Wirkungszusammenhang, wie auch bereits oben, als Ergebnis <strong>der</strong> Diskussion<br />

über das grundsätzlich Verhältnis von <strong>Politik</strong> und Recht, angemerkt wurde (siehe S. 105).<br />

Die <strong>in</strong> diesem Kontext getroffene Unterscheidung zwischen endogener und exogener Politisierung<br />

kann deshalb parallel auf das Feld <strong>der</strong> Verrechtlichung übertragen werden: So ist die thema-<br />

tisierte exogene Politisierung <strong>der</strong> Justiz durch das Mittel <strong>der</strong> Organklage gleichzeitig e<strong>in</strong> Beispiel<br />

für die endogene Verrechtlichung bzw. Justizialisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> – d.h. e<strong>in</strong> politisches +Macht-<br />

spiel* wird rechtlich ausgetragen, um das +Spielfeld* zur Erhöhung <strong>der</strong> eigenen Gew<strong>in</strong>nchancen<br />

auszudehnen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en politischen Konflikt rechtlich zu entschärfen. O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ausgedrückt:<br />

Durch die Übersetzung e<strong>in</strong>er politischen (Streit-)Frage <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en juristischen Diskurs erhält<br />

die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>en deflektorischen Übersetzungsgew<strong>in</strong>n.<br />

Die endogene Politisierung <strong>der</strong> Justiz durch den +politischen (Verfassungs-)Richter* ist wie<strong>der</strong>um<br />

e<strong>in</strong> Beleg für die gleichfalls stattf<strong>in</strong>dende exogene Verrechtlichung bzw. Justizialisierung, die<br />

e<strong>in</strong>en +Übergriff* von außen auf die Machtsphäre <strong>der</strong> politischen Institutionen durch das Mittel<br />

des Rechts – im Zuge se<strong>in</strong>er Schaffung wie durch se<strong>in</strong>e Anwendung und Auslegung – bedeutet,<br />

was aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> sozusagen den negativen Nebeneffekt +gewollter* Verrechtlichung<br />

darstellt. Mit <strong>der</strong> präzisierenden Verwendung des Begriffs +Justizialisierung* und dem gemachten<br />

E<strong>in</strong>schub wurde allerd<strong>in</strong>gs angedeutet, daß Verrechtlichung mehrere Dimensionen aufweist.<br />

Nach Rüdiger Voigt s<strong>in</strong>d dies – zusätzlich zur oben schon im wesentlichen abgehandelten<br />

Justizialisierung (als judikative Komponente) – Bürokratisierung (als exekutive Komponente)<br />

und Vergesetzlichung (als legislative Komponente) (vgl. Verrechtlichung <strong>in</strong> Staat und Gesellschaft;<br />

S. 18).<br />

Voigt stellt e<strong>in</strong>e wichtige Stimme im Rahmen <strong>der</strong> bundesdeutschen Verrechtlichungsdebatte<br />

dar, die <strong>in</strong> den 70er und den 80er Jahren sehr <strong>in</strong>tensiv geführt wurde, mittlerweile (angesichts


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 115<br />

111<br />

von Deregulierungsbestrebungen) aber etwas e<strong>in</strong>geschlafen ist. Die Sache an sich und auch<br />

<strong>der</strong> Begriff s<strong>in</strong>d aber natürlich wesentlich älter. Schon 1928 konnte Otto Kirchheimer bemerken:<br />

+Man schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung, je<strong>der</strong> tatsächlichen, je<strong>der</strong> Macht-Entscheidung<br />

wird auszuweichen gesucht […]; alles wird neutralisiert dadurch, daß man es juristisch formalisiert<br />

[…] Der Staat lebt vom Recht, aber es ist ke<strong>in</strong> Recht mehr, es ist e<strong>in</strong> Rechtsmechanismus […] Das<br />

rechtsstaatliche Element <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er nach <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung des re<strong>in</strong>en Liberalismus nun sichtbaren Gestalt,<br />

die spezifische Transponierung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge vom Tatsächlichen <strong>in</strong>s Rechtsmechanistische, ist das wesentliche<br />

Merkmal des Staates im Zeitalter des Gleichgewichts <strong>der</strong> Klassengegensätze.* (Zur Staatslehre des<br />

Sozialismus und Bolschewismus; S. 36)<br />

Kirchheimer hat hier nicht nur klar die allgeme<strong>in</strong>e Funktion <strong>der</strong> Verrechtlichung als deflektorische<br />

Entpolitisierung herausgearbeitet. Speziell spricht er die juristische Formalisierung im Rahmen<br />

<strong>der</strong> Vergesetzlichung des Politischen als +Neutralisierungsmechanismus* an. Diese Formalisierung<br />

des Rechts im Zuge <strong>der</strong> neuzeitlichen Rationalisierung wurde von Max Weber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er +Rechts-<br />

soziologie* (1922) erstmals e<strong>in</strong>gehend thematisiert: Weber beschreibt hier Formalisierung,<br />

also die zunehmende Abstraktheit und Generalität <strong>der</strong> Rechtssätze, als zentrale Tendenz <strong>der</strong><br />

Rechtsentwicklung, die dem Bedürfnis <strong>der</strong> +Gütermarkt<strong>in</strong>teressen* nach e<strong>in</strong>er Berechenbarkeit<br />

<strong>der</strong> Verhältnisse entgegenkomme. Diese Entwicklung sei lediglich durch e<strong>in</strong>ige wenige, eher<br />

unbedeutende antiformale Entwicklungen geschwächt (vgl. § 8; S. 505–513). 112<br />

Doch Weber unterlag damit wohl e<strong>in</strong>er Fehle<strong>in</strong>schätzung. Der sich organisierende Kapitalismus<br />

se<strong>in</strong>er Zeit beruhte, wie <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>ne* Wohlfahrtsstaat, auf <strong>der</strong> Intervention <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> mittels<br />

Recht <strong>in</strong> die Sozial- und Wirtschaftssphäre, um die divergierenden sozialen Kräfte zusammen-<br />

zuhalten (vgl. auch Neumann: Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Gesellschaft). Im S<strong>in</strong>ne dieses Interesses war es nicht nur rational, son<strong>der</strong>n sogar politisch<br />

113<br />

geboten, das formalisierte Recht +materiell aufzuweichen*. E<strong>in</strong>zig durch rechtlich gefaßte<br />

materielle Zugeständnisse an die Arbeiterklasse war diese <strong>in</strong>s System zu <strong>in</strong>tegrieren, was zum<br />

großen Teil gelungen ist, wenn nicht gar von e<strong>in</strong>em Verschw<strong>in</strong>den des Proletariats gesprochen<br />

werden kann (vgl. auch Gorz: Abschied vom Proletariat). 114<br />

Diese wohlfahrtsstaatliche Umfunktionierung des Rechts stärkte den speziell <strong>in</strong> Deutschland<br />

ohneh<strong>in</strong> traditionell enormen Glauben <strong>in</strong>s Recht. Durch diese +Rechtsgläubigkeit* – die wie<br />

je<strong>der</strong> Glaube auf e<strong>in</strong>er Illusion beruht, Freiheit <strong>in</strong> Sekurität verwandelt und politische Bezieh-<br />

ungen <strong>in</strong> Rechtsbeziehungen auflöst (vgl. wie<strong>der</strong>um Neumann: Ökonomie und <strong>Politik</strong> im


116 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 254) – wird Recht für die <strong>Politik</strong> zu e<strong>in</strong>er bequem handhabbaren,<br />

kostengünstigen Ressource (vgl. auch Hucke: E<strong>in</strong>schränkung und Erweiterung politischer<br />

Handlungsspielräume bei <strong>der</strong> Implementation von Recht; S. 81f.). Dies gilt jedoch nur, sofern<br />

<strong>der</strong> materielle Gehalt <strong>der</strong> konkreten Rechtsnorm nicht e<strong>in</strong> bestimmtes Maß übersteigt. Der<br />

<strong>in</strong>teraktive Abstimmungsprozeß zwischen <strong>Politik</strong>, Ökonomie und Rechtssystem sorgt jedoch<br />

dafür, daß dies nicht e<strong>in</strong>tritt. Verrechtlichung bzw. Vergesetzlichung (im Wohlfahrtsstaat) ist<br />

also, als deflektorischer Integrationsmechanismus, das Produkt e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Formalisierung<br />

und Materialisierung des Rechts.<br />

Die Vergesetzlichung hat jedoch nicht nur e<strong>in</strong>en qualitativen Aspekt, <strong>der</strong> dar<strong>in</strong> besteht, daß<br />

durch Recht +Lebenschancen* (Dahrendorf) direkt bee<strong>in</strong>flußt werden (z.B. durch die Steuer-<br />

gesetzgebung o<strong>der</strong> das Hochschulrahmengesetz) und es als Instrument zur sozialen Steuerung<br />

benutzt werden kann (siehe unten). Allgeme<strong>in</strong> beklagt wird vielmehr zumeist e<strong>in</strong>e quantitative<br />

Zunahme rechtlicher Regelungen, die John Barton Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre gar von e<strong>in</strong>er +legal<br />

explosion* sprechen ließ (vgl. Beh<strong>in</strong>d the Legal Explosion). Die Dimension dieser rechtlichen<br />

Explosion hat für das deutsche Beispiel Erika Müller <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nicht mehr ganz aktuellen, aber<br />

noch immer sehr aufschlußreichen empirischen Studie e<strong>in</strong>drücklich vor Augen geführt. Sie<br />

vergleicht dazu die Daten des +Reichs-Gesetzblatts* zwischen 1878 und 1882 mit den Daten<br />

des +Bundesgesetzblatts* im entsprechenden Zeitraum e<strong>in</strong> Jahrhun<strong>der</strong>t später:<br />

Tab. 7: Anzahl <strong>der</strong> Gesetze und Verordnungen im historischen Vergleich<br />

1878–82 1978–82<br />

Gesetze: 81 325<br />

Verordnungen: 69 1.131<br />

<strong>in</strong>sgesamt: 150 1.456<br />

Quelle: Müller: Gesetzgebung im historischen Vergleich; Tab. 1, S. 98f.<br />

Es zeigt sich, wie erwartet, daß die Zahl <strong>der</strong> Gesetze und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Verordnungen<br />

(die als Exekutiverlässe ke<strong>in</strong>erlei parlamentarischer Zustimmung bedürfen) stark gestiegen<br />

ist. Hier, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er früheren Veröffentlichung zusammen mit Wolfgang Nud<strong>in</strong>g (vgl. Gesetz-<br />

gebung – ›Flut‹ o<strong>der</strong> ›Ebbe‹?), versucht sie jedoch darzulegen, daß dieser quantitative Anstieg,<br />

entgegen <strong>der</strong> häufig geäußerten Ansicht, nicht auf e<strong>in</strong>e Ausdehnung des gesetzlichen Regelungs-<br />

bereichs zurückzuführen sei. Die Auswertung des Materials anhand e<strong>in</strong>es selbst entwickelten


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 117<br />

Kategorienschemas führt Müller vielmehr zu <strong>der</strong> Erkenntnis: +Die Normgebung im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

hat […] annähernd gleich viele Teilbereiche [wie heute] erfaßt, allerd<strong>in</strong>gs an<strong>der</strong>e Schwerpunkte<br />

[nämlich <strong>in</strong> den Bereichen F<strong>in</strong>anzen, Personal(wesen) und (bürokratische) Organisation] gesetzt.*<br />

(Gesetzgebung im historischen Vergleich; S. 145) 115<br />

Diese Schlußfolgerung ersche<strong>in</strong>t mir jedoch nicht wirklich zw<strong>in</strong>gend, da das verwendete Raster<br />

möglicherweise zu grob war. An<strong>der</strong>e Ergebnisse s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>deutiger. Sie beziehen sich auf den<br />

Textumfang (durchschnittliche Seitenzahl), die Regelungsdichte (gemessen an <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong><br />

durchschnittlich vorzuf<strong>in</strong>denden Verweisungen) sowie die Regelungs<strong>in</strong>tensität (gemessen an<br />

<strong>der</strong> durchschnittlichen Paragraphenzahl) des untersuchten Materials:<br />

Tab. 8: Durchschnittlicher Textumfang, Regelungsdichte und Regelungs<strong>in</strong>tensität<br />

Gesetze Verordnungen<br />

1878–82 1978–82 1878–82 1978–82<br />

Seiten: 3,4 6,3 1,3 2,7<br />

Verweisungen: 24,7 114,9 4,4 29,8<br />

Paragraphen: 14,7 28,6 5,7 10,9<br />

Quelle: Müller/Nud<strong>in</strong>g: Gesetzgebung; Tab. 6, S. 86<br />

Man kann aufgrund dieser Daten e<strong>in</strong>e deutliche Zunahme <strong>der</strong> Länge, <strong>der</strong> Interkorrelation<br />

und <strong>der</strong> Unterglie<strong>der</strong>ung (Detaillierung) von Gesetzen und Verordnungen konstatieren, wobei<br />

im Gegensatz zur Vergangenheit auch immer weniger tatsächlich +neue* Inhalte rechtlich<br />

gefaßt werden, son<strong>der</strong>n überwiegend bestehende Gesetze und Verordnungen nur verän<strong>der</strong>t<br />

und angepaßt werden (vgl. ebd.; S. 87f.). 116<br />

Gerade die letztgenannten Punkte beziehen sich jedoch schon wie<strong>der</strong> eher auf den qualitativen<br />

Aspekt und stehen im Zusammenhang mit <strong>der</strong> angesprochenen Funktionsverschiebung des<br />

Rechts im Rahmen <strong>der</strong> <strong>in</strong>terventionistischen <strong>Politik</strong> des Wohlfahrtsstaats, <strong>der</strong> mit regulativem<br />

117<br />

Recht auf sozialen Wandel reagiert bzw. diesen auch zuweilen <strong>in</strong>itiiert. Recht durchdr<strong>in</strong>gt<br />

deshalb immer mehr den lebensweltlichen Bereich und normiert zunehmend, wie auch die<br />

Daten von Müller zeigen (siehe nochmals Anmerkung 115), ehemals +vernachlässigte* Bereiche<br />

wie Bildung, Gesundheit und Arbeitswelt. Zur rechtsförmigen Implementation politischer<br />

Programme ist es jedoch nicht nur notwendig, Recht zu schaffen und Übertretungen zu sank-<br />

tionieren, son<strong>der</strong>n es werden auch Durchführungs<strong>in</strong>stanzen gebraucht, die mit Kompetenzen


118 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

und Ressourcen ausgestattet werden müssen (vgl. weitergehend Mayntz: Implementation<br />

von regulativer <strong>Politik</strong>; S. 55ff.).<br />

Damit ist <strong>in</strong>direkt die dritte von Voigt genannte Verrechtlichungsdimension angesprochen:<br />

die Bürokratisierung. Im Fall <strong>der</strong> Bürokratisierung kann man sich nun – da sich <strong>der</strong> Begriff<br />

auf e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Tendenz <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Verwaltung (also <strong>der</strong> Exekutive) bezieht – darüber<br />

streiten, ob sie gleichermaßen wie Justizialisierung und Vergesetzlichung zum Phänomen <strong>der</strong><br />

Verrechtlichung zu zählen ist. Trotzdem möchte ich e<strong>in</strong>ige kurze Bemerkungen zu diesen<br />

Themenkomplex machen:<br />

Die Bürokratisierungsdebatte nimmt, wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal, bei Weber ihren Ansatzpunkt. Denn<br />

für Weber beruht <strong>der</strong> rationale Staat neben formal-rationalem Recht auf dem Fachbeamtentum<br />

118<br />

(vgl. Die rationale Staatsanstalt; § 1, S. 815). An an<strong>der</strong>er Stelle bezeichnet er die bürokratische<br />

Verwaltung gar als +Keimzelle des mo<strong>der</strong>nen okzidentalen Staates* (Die Typen <strong>der</strong> Herrschaft;<br />

§ 4, S. 128). Ihre zentralen Organisationspr<strong>in</strong>zipien s<strong>in</strong>d die sachliche Entscheidung aufgrund<br />

fachlicher Qualifikation und die Amtshierarchie mit klar festgelegten Kompetenzen (vgl. ebd.;<br />

S. 126f. sowie <strong>der</strong>s.: Wesen, Voraussetzungen und Entfaltung <strong>der</strong> bürokratischen Herrschaft;<br />

S. 551f.). Doch gerade aufgrund <strong>der</strong> so erreichten Präzision, Stetigkeit und Verläßlichkeit<br />

wohnt <strong>der</strong> Bürokratisierung die Ambivalenz jeglicher Rationalisierung <strong>in</strong>ne (siehe auch S.<br />

XXXff.): Die bürokratische Verwaltung ist an<strong>der</strong>en Organisationsformen nicht nur +technisch<br />

überlegen* (vgl. ebd.; S. 562), son<strong>der</strong>n Bürokratisierung bedeutet auch +die Herrschaft <strong>der</strong><br />

formalistischen Unpersönlichkeit* (Die Typen <strong>der</strong> Herrschaft; § 4, S. 129).<br />

Das politische Eigengewicht <strong>der</strong> Bürokratie wurde von Weber, wie auch von vielen späteren<br />

Autoren (vgl. z.B. Mises: Bureaucracy; S. 45ff.), eher ger<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>geschätzt – gerade weil ja<br />

die bürokratische Verwaltung ihrem Wesen nach e<strong>in</strong> hierarchisches (<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> untergeordnetes)<br />

System darstellt sowie an Recht und Gesetz gebunden ist. Auch von l<strong>in</strong>ker Seite wurde die<br />

Bürokratie lange Zeit nur als Erfüllungshelfer<strong>in</strong> <strong>der</strong> Staatsmacht gesehen. Dabei wurde betont,<br />

daß die Spitzen von <strong>Politik</strong> (und Verwaltung), Militär und Wirtschaft e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Machtelite<br />

bilden (vgl. Mills: The Power Elite). Gerade solche Wahrnehmungen verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten e<strong>in</strong>e Schärfung<br />

des Blicks für die Selbstläufigkeit bürokratischer Organisation und <strong>der</strong>en Problematik, die<br />

erst relativ spät <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur thematisiert wurde (vgl. z.B. K<strong>in</strong>gsley: Representative Bureaucracy;<br />

<strong>in</strong>sb. Kap. IX). E<strong>in</strong>e Flexibilisierung <strong>der</strong> Verwaltung (die ja e<strong>in</strong>e gewisse Autonomie voraussetzt)<br />

und die <strong>in</strong>terne Anpassung politischer Zielvorgaben wird an<strong>der</strong>erseits heute vielfach als For<strong>der</strong>ung


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 119<br />

erhoben (vgl. auch Voigt: Selbststeuerung o<strong>der</strong> Fremdsteuerung <strong>der</strong> Verwaltung? – Steuerung<br />

durch <strong>in</strong>terne Anpassung <strong>der</strong> Zielvorgaben).<br />

E<strong>in</strong> Blick auf die bürokratische Praxis zeigt allerd<strong>in</strong>gs, daß behördliche Autonomie meistens<br />

nicht die gewünschte Flexibilität und auch kaum Anpassungsvorteile br<strong>in</strong>gt. So demonstriert<br />

Jochen Hucke am Beispiel des kommunalen Vollzugs <strong>der</strong> +Umweltgesetzgebung*, daß im<br />

behördlichen Verfahren, das hier e<strong>in</strong>e relativ hohe Autonomie aufweist, weniger sach- bzw.<br />

+umweltgerecht* und mit Rücksicht auf direkt Betroffene entschieden wird, son<strong>der</strong>n im Gegenteil<br />

hauptsächlich auf die potentielle +Konfliktfähigkeit* <strong>der</strong> tangierten (kommunalen) Interessen-<br />

gruppen geachtet wird (vgl. E<strong>in</strong>schränkung und Erweiterung politischer Handlungsspielräume<br />

bei <strong>der</strong> Implementation von Recht; S. 85ff.). Auch für Erhard Treutner bedeutet die relative<br />

Autonomie <strong>der</strong> Verwaltung (die vor allem durch den verstärkten Rückgriff auf Generalklauseln<br />

zugenommen hat) e<strong>in</strong>e partielle Entrechtlichung. +Autonome* Verwaltung kann für den Bürger<br />

zwar Vorteile haben, da dies die Möglichkeit e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>flußnahme und e<strong>in</strong>er verstärkten<br />

Beteiligung am behördlichen Entscheidungsprozeß impliziert. Doch ist <strong>der</strong> Bürger im Endeffekt<br />

<strong>der</strong> Bürokratie gegenüber immer im Nachteil, da es sich auch dann um e<strong>in</strong>e pr<strong>in</strong>zipiell ungleiche<br />

Beteiligung handelt. Zudem besteht für die Bürokratie die Möglichkeit, sich auf formale Regeln<br />

+zurückzuziehen*: Wenn es dem Beamten paßt, zeigt er sich flexibel und aufgeschlossen,<br />

wenn nicht, dann versteckt er sich h<strong>in</strong>ter Vorschriften und Gesetzen. Recht stellt also nicht<br />

nur e<strong>in</strong>e Leitl<strong>in</strong>ie, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>e strategische Ressource für die Bürokratie dar. (Vgl. Zur<br />

strategischen Nutzung rechtlicher Regeln <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwaltung)<br />

Was ist <strong>der</strong> Grund für diese Verhaltensweise <strong>der</strong> Bürokratie? – Giorgio Freddi verweist <strong>in</strong><br />

diesem Zusammenhang auf die Entstehung <strong>der</strong> bürokratischen Verwaltung im Kontext <strong>der</strong><br />

absolutistischen Zentralisationsbestrebungen. Die historisch entwickelte Organisationslogik<br />

<strong>der</strong> Bürokratie, die auf e<strong>in</strong>em hierarchischen Pr<strong>in</strong>zip und <strong>der</strong> +allround-Kompetenz* des (juristisch<br />

geschulten) Beamten beruht, steht <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zu ihren Aufgaben im +demokratischen*,<br />

funktional differenzierten Staat und führt somit zu e<strong>in</strong>er +<strong>in</strong>stitutionalisierten Selbsttäuschung*<br />

(vgl. Adm<strong>in</strong>istrative Rationalität und sozio-ökonomische Intervention; S. 224).<br />

Bürokratisierung ist also e<strong>in</strong> überwiegend kritisch beurteiltes Phänomen. Gleiches gilt für<br />

Verrechtlichung allgeme<strong>in</strong>. Aus +l<strong>in</strong>ker* Perspektive ersche<strong>in</strong>t diese als konfliktneutralisierende<br />

+Entpolitisierung* o<strong>der</strong> +Kolonialisierung <strong>der</strong> Lebenswelt* (Habermas). Von +konservativer*<br />

Seite wird mit unterschiedlicher Akzentsetzung häufig <strong>der</strong> Formalismus e<strong>in</strong>es unpersönlichen


120 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Rechts und die mangelnde Bürgernähe <strong>der</strong> Verwaltung beklagt. Diese Klage trifft sich wie<strong>der</strong>um<br />

mit dem (neo)liberalen Ruf nach Entstaatlichung und Deregulierung. Gefor<strong>der</strong>t wird hier gewisser-<br />

maßen die Rücknahme <strong>der</strong> +Anrechtsrevolution*, die das Bürgertum selbst im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

ausgelöst hat (vgl. hierzu auch Dahrendorf: Der mo<strong>der</strong>ne soziale Konflikt; S. 30f.). 119<br />

Damit wird jedoch zugleich die politische Basis <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft unterm<strong>in</strong>iert,<br />

die um des sozialen Friedens (und des damit verbundenen ökonomischen Nutzens) willen,<br />

(erfolgreich) auch die Arbeiterschaft <strong>in</strong> den von ihr als politisches +Gehäuse* kreierten National-<br />

staat zu <strong>in</strong>tegrieren versucht hatte. Entfallen die (<strong>in</strong>stitutionalisierten) (An-)Rechte, so verlieren<br />

die politischen Institutionen <strong>in</strong>sgesamt ihren sozialen S<strong>in</strong>n (zum<strong>in</strong>dest aber ihre +materielle*<br />

S<strong>in</strong>n-Komponente). Auf diese Weise ist das Dilemma des Nationalstaats (Abschnitt 3.1), das<br />

sich durch die (<strong>in</strong> Abschnitt 2.1) beschriebenen Globalisierungsprozesse immer weiter zuspitzt,<br />

mit dem <strong>in</strong>stitutionell-rechtlichen Dilemma verknüpft (das <strong>in</strong> Abschnitt 3.2 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en ver-<br />

schiedenen Dimensionen herausgearbeitet wird). Zunächst soll jedoch, als weiterer Analyseschritt<br />

dieser Ökologie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, untersucht werden, <strong>in</strong> welchem (Wechsel-)Verhältnis <strong>Politik</strong>, Technik<br />

und Wissenschaftssystem stehen.<br />

2.3 REFLEXIVE TECHNOLOGIEN UND DIE DEFLEXIVE VERWISSENSCHAFTLICHUNG DER<br />

POLITIK (WISSENSCHAFTSSYSTEM UND TECHNIKSYSTEME)<br />

Der (begriffliche) Schnittpunkt zwischen <strong>Politik</strong> und Wissenschaft ist sozusagen die <strong>Politik</strong>-<br />

wissenschaft. Als eigenständige Diszipl<strong>in</strong> hat diese allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e relativ kurze Geschichte.<br />

Zwar besitzt politische Philosophie e<strong>in</strong>e lange Tradition (die hier <strong>in</strong> Kapitel 1 bis <strong>in</strong> die Antike<br />

zurückverfolgt wurde). Als Lehre von den politischen Systemen und den <strong>in</strong>ternationalen Be-<br />

ziehungen gibt es <strong>Politik</strong>wissenschaft jedoch erst seit dem 20. Jahrhun<strong>der</strong>t (vgl. z.B. Maier:<br />

Epochen <strong>der</strong> wissenschaftlichen <strong>Politik</strong>). Ihr explizites Ziel und die ihr zugedachte Primärfunktion<br />

war und ist es, <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> beratend zur Seite zu stehen. Man me<strong>in</strong>te, mit e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen<br />

Fundierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zukünftig Entwicklungen verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu können, die zu Ersche<strong>in</strong>ungen<br />

des +Totalitarismus* und zwei Weltkriegen geführt hatten. Deshalb versteht sich <strong>Politik</strong>wissenschaft<br />

auch überwiegend als Friedens- bzw. als +Krisenbewältigungswissenschaft* (vgl. Meyers:<br />

120<br />

Internationale Beziehungen; S. 221ff.) und als Demokratiewissenschaft (vgl. z.B. Zeuner:<br />

<strong>Politik</strong>wissenschaft als Demokratiewissenschaft). 121


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 121<br />

Doch dies soll ke<strong>in</strong>e Abhandlung über (die Sozialtechnologie) <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>wissenschaft werden.<br />

Vielmehr ist die Existenz e<strong>in</strong>er +autonomen* <strong>Politik</strong>wissenschaft nur das Zeichen für e<strong>in</strong>e allge-<br />

me<strong>in</strong>e Entwicklung, die <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten zu beobachten war: nämlich die Heraus-<br />

bildung e<strong>in</strong>es dialektischen Funktionszusammenhangs von <strong>Politik</strong> und Wissenschaft, <strong>der</strong> sich<br />

– ganz parallel zu dem, was bereits über das Verhältnis von Rechtssystem und <strong>Politik</strong> ausgesagt<br />

wurde – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Politisierung <strong>der</strong> Wissenschaft und e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Verwissenschaftlichung<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> äußert. Das heißt: <strong>Politik</strong> wird mit wissenschaftlichen Mitteln legitimiert und unter-<br />

füttert, womit Wissenschaft politischen Gehalt gew<strong>in</strong>nt. Zudem ist das Wissenschaftssystem<br />

(im Verbund mit <strong>der</strong> Industrie) <strong>der</strong> primäre Ort für (technologische) Innovation. Wissenschaft<br />

hat damit praktische Auswirkungen und diese wie<strong>der</strong>um haben soziale und politische Impli-<br />

kationen. Es geht also hier um (das Verhältnis) <strong>Politik</strong>–Wissenschaft bzw. Technik–<strong>Politik</strong>:<br />

das Politische <strong>der</strong> Wissenschaft und <strong>der</strong> Technik im allgeme<strong>in</strong>en.<br />

Das Wissenschaftssystem – das durch Gutachtergremien, Beratungs<strong>in</strong>stitute, staatliche Wissen-<br />

schaftsför<strong>der</strong>ung etc. mit dem politischen System verknüpft ist und deshalb ebenfalls zum<br />

Mesosystem <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zu zählen ist – sowie die von ihm (mit) ausgelösten technologischen<br />

Transformationen stellen demnach wichtige +Umweltfaktoren* für die <strong>Politik</strong> dar. O<strong>der</strong> um<br />

mit Luhmann zu sprechen: Wissenschaft wirkt +dämonisch* und br<strong>in</strong>gt, durch neues Wissen,<br />

an<strong>der</strong>e (Sub-)Systeme aus <strong>der</strong> Balance (vgl. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 686).<br />

122<br />

Man kann Wissenschaft wie Technologie und Technik, also <strong>der</strong>en +Verd<strong>in</strong>glichungen*, aber<br />

auch als schlichten Ausdruck von (sozialen) Machtverhältnissen begreifen. Diese Interpretations-<br />

l<strong>in</strong>ie geht auf Marx zurück: In Kapitel 13 des +Kapitals* bemerkt dieser, daß mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung<br />

komplexer Masch<strong>in</strong>ensysteme erstmals e<strong>in</strong>e technologische Anwendung <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

im Produktionssektor erfolgte (vgl. S. 284). Selbst dort aber, wo Masch<strong>in</strong>en +objektiv* (d.h.<br />

physisch) die Arbeit erleichtern, ersche<strong>in</strong>t dem Arbeiter die Masch<strong>in</strong>enarbeit als Tortur, denn<br />

sie bewirkt nicht nur e<strong>in</strong>e (subjektive) +S<strong>in</strong>nentleerung* des Arbeitsprozesses, son<strong>der</strong>n erzw<strong>in</strong>gt<br />

darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e +Unterordnung […] unter den gleichförmigen Gang des Arbeitsmittels*<br />

(ebd.; S. 263). Dieses +erschlägt* gleichsam den Arbeiter und versperrt se<strong>in</strong>en Blick für die<br />

+eigentlichen* Zusammenhänge: Er muß erst lernen, +die Masch<strong>in</strong>erie von ihrer kapitalistischen<br />

Anwendung [zu] unterscheiden und daher se<strong>in</strong>e Angriffe vom materiellen Produktionsmittel<br />

selbst auf dessen gesellschaftliche Ausbeutungsform [zu] übertragen* (ebd.; S. 264). In <strong>der</strong><br />

Technik drückt sich also im marxistischen Verständnis e<strong>in</strong> (strukturelles) Gewaltverhältnis aus,


122 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

das durch die Kapital<strong>in</strong>teressen bed<strong>in</strong>gt ist: Für den +Kapitalisten* nämlich ist die Masch<strong>in</strong>erie,<br />

die Technik e<strong>in</strong> Instrument, um sich von menschlicher Arbeitskraft unabhängiger zu machen<br />

und gleichzeitig den relativen Mehrwert (sprich: se<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n) zu erhöhen. 123<br />

Marx’ Betrachtung <strong>der</strong> Technik als angewandte (Natur-)Wissenschaft konzentriert sich hier<br />

auf ihre historisch konkrete Manifestation – er beschreibt also notwendigerweise e<strong>in</strong>e noch<br />

relativ +ungeschm<strong>in</strong>kte*, (prä)tayloristische Ausbeutung des Fabrikarbeiters. Technik als Mittel<br />

zur Emanzipation von den Zwängen <strong>der</strong> Natur und (wissenschaftlicher) Fortschritt an sich<br />

124<br />

werden dagegen begrüßt. Dies zeigt sich beson<strong>der</strong>s an den fast euphorischen Formulierungen<br />

im kommunistischen +Manifest*, wo die Leistungen <strong>der</strong> Bourgeoisie zur Entwicklung <strong>der</strong> Pro-<br />

125<br />

duktivkräfte hervorgehoben werden (vgl. S. 35). Gerade die Entfesselung <strong>der</strong> Produktivkräfte<br />

ist allerd<strong>in</strong>gs nach Marx und Engels die Grundlage für den prognostizierten Untergang <strong>der</strong><br />

bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, denn ihre Produktionsweise basiert auf immanenten<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchen, so daß die erzeugte Dynamik, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e ihre soziale Komponente, nicht<br />

aufgefangen werden kann (siehe dazu auch S. XIX). Der Sozialismus, den man explizit als<br />

wissenschaftliches System verstand, ist die Reflexion, <strong>der</strong> +Gedankenreflex* dieser Wi<strong>der</strong>-<br />

sprüchlichkeit (vgl. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von <strong>der</strong> Utopie zur Wissenschaft;<br />

Abschnitt III, S. 402).<br />

In gewisser Weise ist mit diesen Vorstellungen auch die marxistische Perspektive – obwohl<br />

hier das Problembewußtse<strong>in</strong> für den Macht-Aspekt des Technischen beson<strong>der</strong>s ausgeprägt<br />

ist – im +techno-logisch* halbierten neuzeitlichen Rationalitätsdenken gefangen (siehe S. XXXff.).<br />

In Frage gestellt wird nicht das e<strong>in</strong>seitige Rationalitätspr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischen<br />

Vernunft, son<strong>der</strong>n primär die selektive Anwendung dieser Vernunft, die dort, wo bestimmte<br />

soziale Interessen berührt werden, +aussetzt* und damit +ideo-logisch* wird. Erst die Kritische<br />

Theorie entwickelte e<strong>in</strong> Verständnis dafür, daß die auch aktuell (noch) dom<strong>in</strong>ierende Rationalität<br />

126<br />

neuzeitlich-aufklärerischer Prägung an sich e<strong>in</strong>e selektive Rationalitätsform darstellt (siehe<br />

auch S. XXXIIf.): Als <strong>in</strong>strumentelle Vernunft ordnet sie sich – an<strong>der</strong>s als das philosophische<br />

Denken früherer Epochen – <strong>der</strong> ökonomischen Zweckrationalität unter. Ihre (subjektivistisch<br />

verkürzte) +Objektivität* und ihre +Positivität* (die auf Denker wie Bacon und Descartes zurück-<br />

127<br />

geht) machen sie +haltlos* und öffnen sie für e<strong>in</strong>e +pragmatische* Pervertierung im Dienst<br />

des Kapitals (vgl. Horkheimer: Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft; <strong>in</strong>sb. Kap. 1 u. 2). 128<br />

Dieser Wandel des Charakters <strong>der</strong> Vernunft ist nach Horkheimer und Adorno das Ergebnis


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 123<br />

<strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (1944): Deren Ziel war es ehemals, im Dienst <strong>der</strong> Befreiung<br />

des Menschen und <strong>der</strong> Emanzipation des Individuums +die Mythen auf[zu]lösen und E<strong>in</strong>bildung<br />

durch Wissen [zu] stürzen* (S. 9). Doch <strong>in</strong> diesem Bemühen war Aufklärung <strong>der</strong>art +rück-<br />

sichtslos*, daß sie auch vor ihren eigenen Grundlagen nicht Halt machte und ihre ursprüngliche<br />

Orientierung aus den Augen verlor (vgl. ebd.; S. 10). So schlug Aufklärung letztendlich selbst<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Mythos um, und die Verheißungen <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischen Zivilisation,<br />

die diesem Mythos entsprangen, s<strong>in</strong>d nichts an<strong>der</strong>es als die dürftigen Entschädigungen für<br />

e<strong>in</strong>en umfassenden S<strong>in</strong>nverzicht (vgl. ebd.; S. 128ff.).<br />

Herbert Marcuse hat diesen Zusammenhang mit dem Begriff <strong>der</strong> +repressiven Entsublimierung*<br />

ausgedrückt (siehe auch S. XXXIII). Se<strong>in</strong>e Interpretation von Wissenschaft und Technik ist<br />

noch e<strong>in</strong>e Stufe +radikaler* als die Horkheimers und Adornos. Er bemerkt:<br />

+Der Begriff <strong>der</strong> technischen [<strong>in</strong>strumentellen] Vernunft ist vielleicht selbst Ideologie. Nicht erst ihre<br />

Verwendung, son<strong>der</strong>n schon die Technik ist Herrschaft […], methodische, wissenschaftliche, berechnete<br />

und berechnende Herrschaft. Bestimmte Zwecke und Interessen <strong>der</strong> Herrschaft s<strong>in</strong>d nicht erst ›nach-<br />

träglich‹ und von außen <strong>der</strong> Technik oktroyiert – sie gehen schon <strong>in</strong> die Konstruktion des technischen<br />

Apparates selbst e<strong>in</strong> […]* (Zitiert nach Habermas: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹; S. 49f.) 129<br />

E<strong>in</strong>e Auflösung des technisch-wissenschaftlichen, ökonomisch-politischen Herrschaftszusam-<br />

menhangs ist deshalb im Rahmen des bestehenden Wissenschaftssystems unmöglich:<br />

+Was ich herauszustellen versuche, ist, daß die Wissenschaft aufgrund ihrer eigenen Methode und<br />

Begriffe e<strong>in</strong> Universum entworfen und beför<strong>der</strong>t hat, wor<strong>in</strong> Naturbeherrschung mit <strong>der</strong> Beherrschung<br />

des Menschen verbunden blieb […] So verschmilzt die rationale Hierarchie mit <strong>der</strong> gesellschaftlichen.<br />

Wenn dem so ist, würde die Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Richtung des Fortschrittes, die dieses verhängnisvolle Band<br />

lösen könnte, auch die Struktur <strong>der</strong> Wissenschaft selbst bee<strong>in</strong>flussen – den Entwurf <strong>der</strong> Wissenschaft.*<br />

(Marcuse: Der e<strong>in</strong>dimensionale Mensch; S. 180f.)<br />

Jürgen Habermas’ Analyse des Zusammenhangs von Herrschaft, Wissenschaft und Technik<br />

erfolgt <strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Position Marcuses. In se<strong>in</strong>em bekannten Aufsatz +Technik<br />

und Wissenschaft als ›Ideologie‹* (1968), <strong>der</strong> Marcuse zum 70. Geburtstag gewidmet ist (und<br />

dem auch, wie angegeben, das erste hier wie<strong>der</strong>gegebene Marcuse-Zitat entnommen wurde), 130<br />

setzt er sich allerd<strong>in</strong>gs von dessen Sichtweise ab. Habermas, <strong>der</strong> die +zweite Generation*<br />

<strong>der</strong> Kritischen Theorie verkörpert, arbeitet hier – ganz ähnlich zu se<strong>in</strong>en Vorgängern – heraus,


124 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

wie die ökonomische Zweckrationalität im historischen Prozeß langsam die gesamte Gesellschaft<br />

durchdr<strong>in</strong>gt und wie Wissenschaft (ab <strong>der</strong> Mitte des 19 Jahrhun<strong>der</strong>ts) immer mehr zu e<strong>in</strong>er<br />

131<br />

bloßen Produktivkraft +verkommt*. Se<strong>in</strong>e Sicht und Interpretation von Technik ist jedoch<br />

nicht e<strong>in</strong>seitig negativ und pessimistisch, wie bei Horkheimer, Adorno und auch Marcuse.<br />

Er ist sich darüber im klaren, daß wir auf Technik als Hilfsmittel angewiesen s<strong>in</strong>d und diese<br />

sich deshalb auch nicht e<strong>in</strong>fach +abschaffen* läßt:<br />

+Es gilt vielmehr, e<strong>in</strong>e politisch wirksame Diskussion <strong>in</strong> Gang zu br<strong>in</strong>gen, die das gesellschaftliche Potential<br />

an technischem Wissen und Können zu unserem praktischen Wissen und Wollen rational verb<strong>in</strong>dlich<br />

<strong>in</strong> Beziehung setzt.* (Technischer Fortschritt und soziale Lebenswelt; S. 118)<br />

Diese Sicht geht (unter gewandelten, +diskurstheoretischen* Vorzeichen) e<strong>in</strong> Stück zurück<br />

zur grundsätzlich Technik und Wissenschaft bejahenden, trotzdem aber ambivalenten Position<br />

von Marx und Engels (siehe hierzu auch nochmals Anmerkung 125). Habermas weist darauf<br />

h<strong>in</strong>, daß jede wissenschaftliche Erkenntnis von bestimmten Interessen geleitet ist, also niemals<br />

objektiven Charakter hat (vgl. Erkenntnis und Interesse). Und er stellt klar: +Gesellschaftliche<br />

Interessen bestimmen Tempo, Richtung und Funktion des technischen Fortschritts* (Praktische<br />

Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts; S. 345). Genau das verweist allerd<strong>in</strong>gs<br />

auf die Gestaltbarkeit des Fortschritts. Technik stellt ke<strong>in</strong> (sekundäres) +Naturverhältnis* dar,<br />

sie unterliegt ke<strong>in</strong>er Eigengesetzlichkeit, die uns zw<strong>in</strong>gt, uns ihren +Sachzwängen* unterzuordnen,<br />

wie es die +konservative* Lesart nahe legt (vgl. ebd.; S. 340–344 und siehe hier S. 142ff.).<br />

Technik ist aber auch nicht e<strong>in</strong>fach <strong>der</strong> (unproblematische) +verlängerte Arm* des Menschen,<br />

wie die +liberale* Interpretation lautet (vgl. ebd.; S. 337ff.). Technik und Wissenschaft bedürfen<br />

nach Habermas <strong>der</strong> ständigen kritischen Reflexion und <strong>der</strong> öffentlichen Diskussion ihrer prak-<br />

tischen Implikationen vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> lebensweltlichen Erfahrung (vgl. Verwissen-<br />

schaftlichte <strong>Politik</strong> und öffentliche Me<strong>in</strong>ung; S. 144f.).<br />

Marx, Horkheimer, Adorno, Marcuse und Habermas – diese Theorie-L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>er kritischen<br />

Wissenschafts- und Techniksoziologie bzw. -philosophie wurde hier bisher (<strong>in</strong> groben Strichen)<br />

nachgezeichnet. Doch <strong>der</strong> vor allem die +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* durchdr<strong>in</strong>gende extreme<br />

Kulturpessimismus und die verwendete Term<strong>in</strong>ologie wollen irgendwie nicht mehr so recht<br />

+zeitgemäß* ersche<strong>in</strong>en. Nur vere<strong>in</strong>zelt wird deshalb <strong>in</strong> <strong>der</strong> neueren Literatur auf Marx und<br />

132<br />

die Kritische Theorie zurückgegriffen. E<strong>in</strong>es dieser eher seltenen Beispiele stellt Stanley


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 125<br />

Aronwitz’ Buch +Science as Power* (1988) dar. Er weist hier <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf die problematische<br />

Trennung zwischen +re<strong>in</strong>er* Wissenschaft und ihrer Anwendung h<strong>in</strong>. Für ihn s<strong>in</strong>d Wissenschaft<br />

und Technik Praktiken, die die soziale Welt spiegeln (vgl. S. 7). Und wenn Tochter +Nona*<br />

– kaum ist sie vom Stuhl gefallen o<strong>der</strong> gegen e<strong>in</strong>e Wand gelaufen – aus ihrer k<strong>in</strong>dlichen Perspek-<br />

tive heraus verkündet: +Der Stuhl war’s* bzw. +Die Wand war’s*, so offenbart sie laut Aronwitz<br />

damit e<strong>in</strong>e ähnliche Haltung wie all jene, die Börsencrashs vere<strong>in</strong>fachend mit <strong>der</strong> Selbstläufigkeit<br />

von Computerprogrammen erklären – und übersehen, daß diese nach ganz bestimmten Vorgaben<br />

programmiert wurden (vgl. ebd.; S. 4f.).<br />

Derart aufbereitet und lebensnah illustriert kl<strong>in</strong>gt die These von <strong>der</strong> Technik als Ausdruck<br />

<strong>der</strong> sozialen (Macht-)Verhältnisse für heutige Ohren schon eher akzeptabel. Zudem wird<br />

im Text nicht nur auf Marx und die Kritische Theorie Rekurs genommen, son<strong>der</strong>n Aronwitz<br />

133<br />

stellt auch Bezüge zum (<strong>Post</strong>-)Strukturalismus (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Bachelard) her, was sich dar<strong>in</strong><br />

äußert, daß er Wissenschaft als e<strong>in</strong>en (hegemonialen) Diskurs begreift, <strong>der</strong> Objekte wie Er-<br />

kenntnisregeln formt und so zur +gesellschaftlichen Konstruktion <strong>der</strong> Wirklichkeit* (Berger/-<br />

Luckmann) beiträgt – nur eben lei<strong>der</strong> auf Kosten +lebensweltlicher* Erkenntnisstrukturen (vgl.<br />

ebd.; S. 344f.). Deshalb plädiert er für e<strong>in</strong>e alternative Wissenschaft, die ke<strong>in</strong>en Anspruch<br />

auf Herrschaft, d.h. Wahrheit, erhebt (vgl. ebd.; S. 352).<br />

Aronwitz hat damit gewissermaßen e<strong>in</strong>e Brücke zwischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne bzw. <strong>Post</strong>strukturalismus<br />

und Kritischer Theorie geschlagen – e<strong>in</strong>e Brücke, die übrigens ke<strong>in</strong>eswegs zwei weit vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

entfernte Ufer trennt. Denn nicht zuletzt Foucault hat durchaus Parallelen zum Denken <strong>der</strong><br />

Frankfurter Schule e<strong>in</strong>geräumt. In e<strong>in</strong>em Interview mit Gérard Raulet bemerkt er: +Wenn<br />

ich die Frankfurter Schule rechtzeitig gekannt hätte, wäre mir viel Arbeit erspart geblieben*<br />

(Um welchen Preis sagt Vernunft die Wahrheit?; S. 24). Foucault wäre jedoch nicht Foucault,<br />

wenn er sich nicht sogleich wie<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Kritischen Theorie absetzte. Horkheimer und<br />

Adorno beschrieben, wie dargestellt, die Geschichte <strong>der</strong> Vernunft und <strong>der</strong> Wissenschaft als<br />

e<strong>in</strong>e Art +Spaltungsprozeß*, bei dem die <strong>in</strong>strumentell-technische Vernunft sich gegenüber<br />

e<strong>in</strong>er ehemals umfassenden Vernunft verselbständigte. Für Foucault ist diese Interpretation<br />

jedoch verkürzt und geht zudem von e<strong>in</strong>er klaren historischen Entwicklungsl<strong>in</strong>ie aus (vgl.<br />

ebd.; S. 25f.). Wie bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung ausgeführt (siehe S. XLVIIf.), geht es ihm aber<br />

gerade darum, das Diskont<strong>in</strong>uierliche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte, die ständig sich vollziehenden<br />

Wandlungen und Brüche darzustellen.


126 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Näher an <strong>der</strong> Kritischen Theorie als Foucault ist vielleicht sogar Lyotard – trotz <strong>der</strong> Ablehnung,<br />

die gerade auch se<strong>in</strong> philosophisches Konzept durch <strong>der</strong>en Vertreter(<strong>in</strong>nen) erfahren hat (siehe<br />

S. LXXf.). Es g<strong>in</strong>g ihm nämlich niemals um e<strong>in</strong>en Abschied, als vielmehr um e<strong>in</strong> +Redigieren*<br />

134<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, und se<strong>in</strong>e Klage über den immanenten Terror durch ihre Metaerzählungen<br />

ist nur e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Ausdruck für die +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung*, die <strong>in</strong> ihrer Entfaltung (natur)wis-<br />

senschaftliche Rationalität zu e<strong>in</strong>em alles beherrschenden Pr<strong>in</strong>zip machte. Wissenschaft ist,<br />

um mit Lyotard zu sprechen, e<strong>in</strong> +Sprachspiel*, das ke<strong>in</strong>e Zweideutigkeit duldet und versucht,<br />

an<strong>der</strong>e Diskursarten mit ihrem monolithischen Wahrheitsanspruch zu dom<strong>in</strong>ieren – weshalb<br />

wie<strong>der</strong>um Feyerabend von den +Irrwegen <strong>der</strong> Vernunft* (1986) sprach (siehe S. XLVI).<br />

Der E<strong>in</strong>fluß dieser und an<strong>der</strong>er +(post)mo<strong>der</strong>ner* Wissenschaftstheoretiker wie z.B. auch Kuhn<br />

135<br />

mit se<strong>in</strong>er These vom +Paradigmenwechsel* hat alternative Interpretationsmöglichkeiten<br />

für die neuere Wissenschafts- und Techniksoziologie eröffnet: So betonen die meisten aktuellen<br />

Autoren die Heterogenität von Technik bzw. technologischen Systemen und Netzen, die<br />

neben d<strong>in</strong>glich-technischen auch soziale, politische, psychologische und ökonomische Kompo-<br />

nenten und Aspekte be<strong>in</strong>halten. Es wird also die Verb<strong>in</strong>dung zwischen Gesellschaft, <strong>Politik</strong>,<br />

Ökonomie, Wissenschaft und Technik herausgestellt – ohne allerd<strong>in</strong>gs, wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> marxistischen<br />

Tradition, von e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>seitigen Determ<strong>in</strong>ation von Technik und Wissenschaft durch Ökonomie<br />

und <strong>Politik</strong> auszugehen. E<strong>in</strong> weiteres Merkmal ist das Bewußtse<strong>in</strong> für die Kont<strong>in</strong>genz des<br />

+Übersetzungsprozesses* von Wissenschaft <strong>in</strong> konkrete Technologien, <strong>der</strong> ke<strong>in</strong>er Naturgesetz-<br />

lichkeit unterliegt, son<strong>der</strong>n gestaltbar ist und auch – im Interesse <strong>der</strong> von Technik +Betroffenen*<br />

136<br />

– (um)gestaltet werden sollte. Deshalb bemerken Wiebe Bijker und John Law <strong>in</strong> ihrer E<strong>in</strong>leitung<br />

zu dem 1992 erschienen Sammelband +Shap<strong>in</strong>g Technology/Build<strong>in</strong>g Society*:<br />

+They might have been otherwise: this is the key to our <strong>in</strong>terest and concern with technologies.<br />

Technologies do not […] evolve un<strong>der</strong> the impetus of some necessary <strong>in</strong>ner technological or scientific<br />

logic. They are not possessed of an <strong>in</strong>herent momentum. If they evolve or change, it is because they<br />

have been pressed <strong>in</strong>to that shape.* (S. 3)<br />

Das aber bedeutet, daß das primäre Interesse <strong>der</strong> Frage gilt, wie Technik so geworden ist,<br />

wie sie sich augenblicklich darstellt, und über welche Mechanismen die grundsätzlich als<br />

konfliktträchtig geltenden Technologien etabliert und stabilisiert werden. Im Rahmen dieser<br />

Grundorientierung lassen sich (grob) drei, sich teilweise überlappende Ansätze unterscheiden:


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 127<br />

<strong>der</strong> Systemansatz, <strong>der</strong> sozialkonstruktivistische Ansatz und die Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl.<br />

ebd.; S. 12f.). 137<br />

• Der Systemansatz, <strong>der</strong> auf Thomas Hughes zurückgeht, konzentriert sich auf die Betrachtung<br />

technischer Großsysteme (large technological systems). Dabei wird von Hughes, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en<br />

technikhistorischen Ansatz verfolgt, ausdrücklich betont: +Technological systems […] are both<br />

socially constructed and society shap<strong>in</strong>g* (The Evolution of Large Technological Systems; S.<br />

51). Bestandteile dieser gesellschaftsformenden technischen (Groß-)Systeme s<strong>in</strong>d sowohl materiell<br />

greifbare Elemente wie Masch<strong>in</strong>en und natürliche Ressourcen als auch nicht-physische Kom-<br />

ponenten (Artefakte) wie Organisationen (z.B. Firmen und Banken), +Wissenschaft* (Fachartikel,<br />

universitäre Lehr<strong>in</strong>halte usw.) o<strong>der</strong> Regelwerke (z.B. technische Normen).<br />

Damit e<strong>in</strong> technologisches System aber überhaupt entstehen und sich entwickeln kann, bedarf<br />

138<br />

es e<strong>in</strong>er (<strong>in</strong>itialen) Idee, e<strong>in</strong>er +radikalen Innovation*. Diese animiert e<strong>in</strong>en +System-Bildner*,<br />

(+idealerweise* e<strong>in</strong> Erf<strong>in</strong><strong>der</strong> und Unternehmer etwa vom Schlag e<strong>in</strong>es Thomas Edison), diese<br />

139<br />

(<strong>in</strong>dustriell) umzusetzen und so das System <strong>in</strong>s Leben zu rufen (Entwicklungsphase). Für<br />

das Wachstum des Systems, se<strong>in</strong> Ausgreifen, bedarf es <strong>der</strong> – nun allerd<strong>in</strong>gs +konservativen*<br />

– weiteren Innovation. Auch e<strong>in</strong> +Technologietransfer* <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e Kontexte, <strong>der</strong> aber immer<br />

auch mit Adaption verbunden ist, trägt zum Wachstum und zur Konsolidierung des Systems<br />

bei. Doch nach wie vor kann es je<strong>der</strong>zeit zur Herausfor<strong>der</strong>ung durch neue radikale Innovationen<br />

140<br />

kommen, die konkurrierende Systeme etablieren. E<strong>in</strong>en gewissen Schutz vor solchen Heraus-<br />

for<strong>der</strong>ungen verleiht alle<strong>in</strong>e die Größe des Systems – o<strong>der</strong> mit den Worten von Hughes aus-<br />

gedrückt:<br />

+Technological systems, even after prolonged growth and consolidation, do not become autonomous;<br />

they acquire momentum. They have a mass of technical and organizational components; they possess<br />

direction, or goals; and they display a rate of growth suggest<strong>in</strong>g velocity.* (Ebd.; S. 76)<br />

Technische (Groß-)Systeme s<strong>in</strong>d gemäß Hughes also nicht autonom und schon gar nicht auto-<br />

poietisch (wie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Umstand zeigt, daß er ja von +System-Bildnern* spricht).<br />

Sie laufen ständig Gefahr, durch konkurrierende Systeme verdrängt o<strong>der</strong> absorbiert zu werden,<br />

und vielleicht ist ihre Zeit ganz allgeme<strong>in</strong> gekommen. Denn gerade jenes ihnen Stabilität<br />

verleihende +Momentum* be<strong>in</strong>haltet e<strong>in</strong> Maß an Trägheit, das unter den gewandelten Rahmen-<br />

bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er postfordistischen Ökonomie – d.h. e<strong>in</strong>er Ablösung <strong>der</strong> +economies of scale*


128 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

durch Formen +flexibler Akkumulation* (siehe S. 81) – zu ihrem Nie<strong>der</strong>gang führen könnte<br />

(vgl. <strong>der</strong>s. Die Erf<strong>in</strong>dung Amerikas; S. 470ff.).<br />

Hughes’ Ansatz ist auch hierzulande aufgegriffen worden. E<strong>in</strong>ige Beispiele dafür f<strong>in</strong>den sich<br />

unter an<strong>der</strong>em <strong>in</strong> dem Sammelband +The Development of Large Technological Systems* (1988),<br />

den Hughes zusammen mit Renate Mayntz herausgegeben hat. Bernward Joerges, <strong>der</strong> diesen<br />

Band mit e<strong>in</strong>em Review-Artikel eröffnet, hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr <strong>in</strong>teressanten neueren Aufsatz<br />

e<strong>in</strong> eigenes (systemtheoretisches) Verständnis und Konzept technischer Großsysteme entwickelt.<br />

Diese s<strong>in</strong>d für ihn <strong>in</strong> zweifacher H<strong>in</strong>sicht prekär – denn sie erzeugen die Voraussetzungen<br />

für ihre eigene Transformierung, <strong>in</strong>itiieren immer weitere wissenschaftlich-technische Innovation<br />

und führen so geradezu zwangsläufig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Kontroll- wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vertrauenskrise (vgl. Große<br />

technische Systeme; S. 48ff.). Dabei kommt ihnen nicht e<strong>in</strong>fach <strong>der</strong> Statuts e<strong>in</strong>es sozialen<br />

Subsystems – ähnlich wie Wirtschaft, Bildung o<strong>der</strong> Recht – zu, son<strong>der</strong>n es handelt sich bei<br />

ihnen um Systeme zweiter Ordnung, d.h. sie stellen e<strong>in</strong>e Systemebene dar, die für alle Funktions-<br />

systeme relevant ist, und bilden e<strong>in</strong>e Art (makroskopisches) +Heteronetz* aus (vgl. ebd.; S.<br />

58ff.).<br />

Joerges will mit dieser Auslegung dem Mythos <strong>der</strong> Steuer- und Beherrschbarkeit von Technik-<br />

Systemen entgegenwirken und lehnt so auch sozialkonstruktivistische Vorstellungen ab, die<br />

ja grundsätzlich von <strong>der</strong> (sozialen) Bee<strong>in</strong>flußbarkeit von Technik ausgehen, <strong>in</strong>dem sie ihren<br />

Konstruktcharakter herausarbeiten (siehe unten). An<strong>der</strong>s als bei Hughes steht deshalb für Joerges<br />

das autonome Moment <strong>der</strong> technischen Systeme im Vor<strong>der</strong>grund. Se<strong>in</strong> Konzept weist dar<strong>in</strong><br />

durchaus gewisse Berührungspunkte mit Gernot Böhmes Vorstellung e<strong>in</strong>er alle persönlichen<br />

und sozialen Beziehungen durchdr<strong>in</strong>genden +Technostruktur* auf (vgl. Technische Zivilisation;<br />

S. 28ff.). Diese hat sich laut Böhme, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> kulturkritischen Tradition von Ellul und Gehlen<br />

steht (siehe S. XXXVIIf. sowie S. 142ff.), verselbständigt, und so ist es +nach Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />

des Enthusiasmus <strong>in</strong> bezug auf Technik und Wissenschaft […] heute sehr schwierig, nicht<br />

e<strong>in</strong> sehr düsteres Bild zu entwerfen* (ebd.; S. 37). Joerges wie Böhme – <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e eher +neutral*<br />

und im Pr<strong>in</strong>zip durchaus technikaufgeschlossen, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiger Stellungnahme<br />

und technikpessimistisch – bestreiten also genau das, was den sozialkonstruktivistischen Ansatz,<br />

dem wie<strong>der</strong>um Hughes nahe steht, so +mächtig* macht: nämlich, daß er den konstruierenden<br />

Subjekten im Erkennen des Konstruierens ihre (Eigen-)Mächtigkeit, o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest doch e<strong>in</strong><br />

Stück davon, zurückgibt.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 129<br />

• Der sozialkonstruktivistische Ansatz h<strong>in</strong>terfragt die herkömmliche Trennung von Wissenschaft<br />

und Technik, Natur und Kultur und begreift, wie <strong>der</strong> Name bereits ausdrückt, wissenschaftliche<br />

Erkenntnis wie technische Artefakte als sozial konstruiert. Lei<strong>der</strong> ist die sozialkonstruktivistische<br />

Wissenschafts- und Techniksoziologie me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach aber (noch) nicht makrotheoretisch<br />

ausreichend +e<strong>in</strong>gebettet*, und es überwiegt – obwohl e<strong>in</strong>e Integration von Mikro- und Makro-<br />

141<br />

ebene grundsätzlich angestrebt ist – e<strong>in</strong>e (mikro)empirische Orientierung, wobei <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

auch auf ethnographische Methoden zurückgegriffen wird (vgl. Knorr-Cet<strong>in</strong>a: The Ethnographic<br />

Study of Scientific Work). Man versucht also primär – und das ist, angesichts <strong>der</strong> lange<br />

praktizierten Vernachlässigung <strong>der</strong> Untersuchung des forschungspraktischen +Feldes*, durchaus<br />

begrüßenswert – an ganz konkreten Beispielen, den (sozialen) Konstruktionsprozeß von<br />

Wissen(schaft) und Technik nachzuvollziehen und zu analysieren.<br />

E<strong>in</strong> empirisches +Stufenprogramm* für <strong>der</strong>artige Analysen hat Harry Coll<strong>in</strong>s aufgestellt. In<br />

e<strong>in</strong>er ersten Phase gilt es für ihn, zunächst die +<strong>in</strong>terpretative Flexibilität* wissenschaftlicher<br />

+Fakten* zu dokumentieren, die im weiteren Verlauf des wissenschaftlichen Diskurses und<br />

<strong>der</strong> +D<strong>in</strong>gwerdung* von Wissenschaft jedoch meist +verschw<strong>in</strong>det* und e<strong>in</strong>em wissenschaftlichen<br />

Konsens über +Wahrheit* Platz macht (vgl. hierzu auch Mulkay/Gilbert: Theory Choice). Die<br />

Rekonstruktion dieses Schließungsmechanismus stellt den zweiten Schritt <strong>der</strong> Analyse dar.<br />

Die dritte und me<strong>in</strong>es Erachtens wichtigste Stufe wurde bisher jedoch noch nicht <strong>in</strong> be-<br />

friedigen<strong>der</strong> Weise verwirklicht: nämlich aufzuzeigen, wie diese Schließungsmechanismen<br />

142<br />

sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en umfassenden sozialen Kontext e<strong>in</strong>fügen. (Vgl. Stages <strong>in</strong> the Empirical Programme<br />

of Relativism)<br />

E<strong>in</strong>e theoretische Reflexion sowie e<strong>in</strong>en konkreten Umsetzungsversuch dieses Stufen-Programms<br />

haben Trevor P<strong>in</strong>ch und Wiebe Bijker unternommen, welche sich am Beispiel des Fahrradreifens<br />

fragen, warum bestimmte Varianten +abstarben*, während an<strong>der</strong>e +überlebten* und sich<br />

durchsetzten. In Fall des Fahrradreifens setzte sich <strong>der</strong> luftgefüllte Reifen gegenüber dem<br />

Vollgummireifen durch. Am Anfang bestand aber auch hier <strong>in</strong>terpretative Flexibilität: Für<br />

se<strong>in</strong>en Erf<strong>in</strong><strong>der</strong>, den Ingenieur Dunlop, hatte <strong>der</strong> luftgefüllte Reifen den Vorteil ger<strong>in</strong>gerer<br />

Vibrationen. An<strong>der</strong>e +Experten* sahen jedoch weniger die Vorteile als vielmehr e<strong>in</strong>e erhöhte<br />

Ausrutschgefahr. Die Schließung dieser Sicherheitsdiskussion erfolgte, so die Autoren, zum<br />

e<strong>in</strong>en über Werbekampagnen, die diese Gefahr schlicht negierten, und über e<strong>in</strong>e Redef<strong>in</strong>ition<br />

des Problems: Der Luftreifen wurde nicht mehr wegen se<strong>in</strong>er ger<strong>in</strong>geren Vibrationen gepriesen,


130 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

son<strong>der</strong>n weil er höhere Geschw<strong>in</strong>digkeiten ermöglichte. (Vgl. The Social Construction of Facts<br />

and Artifacts)<br />

E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es (speziell politisch) <strong>in</strong>teressantes Beispiel sozialkonstruktivistischer Wissenschafts-<br />

und Techniksoziologie stellt Adri de la Bruhèzes Untersuchung über die Generierung e<strong>in</strong>er<br />

allgeme<strong>in</strong>gültigen Def<strong>in</strong>ition radioaktiven Abfalls (vermittelt durch die amerikanische Atomenergie-<br />

Kommission <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit zwischen 1945 und 1960) dar. Bruhèze zeigt, wie sich nach und<br />

nach aus e<strong>in</strong>er Reihe unterschiedlicher Interpretationen darüber, was radioaktiver Müll ist<br />

und wie man damit verfahren sollte, durch Aushandlungsprozesse zwischen den relevanten<br />

Akteuren, Kompromisse und kont<strong>in</strong>gente Entscheidungen schließlich e<strong>in</strong>e stabile Def<strong>in</strong>ition<br />

herausbildete (vgl. Clos<strong>in</strong>g the Ranks). Auch <strong>in</strong> diesem Fall gilt allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> schon oben<br />

gemachte E<strong>in</strong>wand, daß soziale Makrofaktoren durch die zu enge Konzentration auf die Mikro-<br />

ebene ausgeblendet bleiben. Noch dazu ist bei Bruhèze e<strong>in</strong> ausgeprägtes Des<strong>in</strong>teresse für<br />

Machtungleichgewichte zu beobachten – was aufgrund <strong>der</strong> offensichtlich +politischen Natur*<br />

gerade dieses +Def<strong>in</strong>itionsproblems* beson<strong>der</strong>s defizitär ersche<strong>in</strong>t. 143<br />

• Die Akteur-Netzwerk-Theorie löst im Vergleich zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen, so<br />

wie sie sich gegenwärtig darstellen, eher den Anspruch e<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung von Mikro- und<br />

Makroebene zu leisten. Ähnlich wie bei letzteren ist auch hier e<strong>in</strong> Ziel die Dekonstruktion<br />

144<br />

<strong>der</strong> (künstlichen) Trennung von Natur und Gesellschaft, Technik und Wissenschaft, die<br />

nach Bruno Latour – neben Michel Callon und John Law ihr sicher wichtigster Vertreter –<br />

+konstitutiv* für die Mo<strong>der</strong>ne war (vgl. Wir s<strong>in</strong>d nie mo<strong>der</strong>n gewesen; Kap. 2). In unserer<br />

(post)postmo<strong>der</strong>nen Welt <strong>der</strong> Hybride, <strong>der</strong> Verschmelzung von Mensch und Masch<strong>in</strong>e,<br />

Gesellschaft und Technik, wie sie (<strong>in</strong> eher düsterer Ausmalung) auch Jean Baudrillard (siehe<br />

145 146<br />

zurück zu S. LV) o<strong>der</strong> (geradezu euphorisch) Donna Haraway (vgl. A Cyborg Manifesto)<br />

konstatieren, wird diese Trennung nämlich zunehmend problematisch und verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e<br />

adäquate Untersuchung des sozio-technischen Amalgams. Technik wird deshalb <strong>in</strong> <strong>der</strong> Akteur-<br />

Netzwerk-Theorie auch nicht als Ausfluß o<strong>der</strong> Manifestation makrostruktureller Machtverhältnisse<br />

verstanden und Wissenschaft als abhängige Variable von <strong>Politik</strong> und Wirtschaft betrachtet,<br />

son<strong>der</strong>n beide haben als solche politischen Charakter, s<strong>in</strong>d +<strong>Politik</strong> mit an<strong>der</strong>en Mitteln* (vgl.<br />

z.B. Callon/Law/Rip: How to Study the Force of Science; S. 4). Sowohl e<strong>in</strong> soziologischer<br />

Reduktionismus wie <strong>der</strong> naturalistische Reduktionismus, <strong>der</strong> technische Lösungen als Ergebnis<br />

e<strong>in</strong>es +objektiven* Erkenntnisprozesses begreift, wird also abgelehnt (vgl. ebd.; S. 7f.).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 131<br />

Um aber e<strong>in</strong> nicht-reduktionistisches Bild zu erhalten, ist es erfor<strong>der</strong>lich, die Wissenschaftler<br />

und Techniker bei ihrer konkreten Forschung zu beobachten, ihre Labors aufzusuchen und<br />

ihre Texte zu analysieren. Nach <strong>der</strong> Devise +follow the actors* (ebd.; S. 4) begleitete so beispiels-<br />

weise John Law die Wissenschaftler<strong>in</strong> Rose bei ihrer täglichen Laborarbeit, die sich schließlich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wissenschaftlichen Artikel nie<strong>der</strong>schlug (vgl. Laboratories and Texts). Wie solche<br />

Texte funktionieren, mit welchen +literarischen* Methoden sie zu überzeugen versuchen,<br />

haben wie<strong>der</strong>um Bruno Latour und Françoise Bastide untersucht (vgl. Writ<strong>in</strong>g Science). Die<br />

Reihe <strong>der</strong> Beispiele für diesen praxisbezogenen Analyseansatz ließe sich lange fortsetzen.<br />

Es genügt hier jedoch, sich klar zu machen, daß es den Autoren um die Darstellung von<br />

+Science <strong>in</strong> Action* (Wissenschaft <strong>in</strong> Aktion) geht (Latour 1987). Man will die Geheimnisse<br />

des +Laboratory-Life* (Latour/Woolgar 1979) ergründen, wobei auch hier e<strong>in</strong>e +konstruktivistische*<br />

(d.h. e<strong>in</strong>e nicht naturalistisch-realistische) Perspektive zum Tragen kommt und e<strong>in</strong>e Ausrichtung<br />

147<br />

an <strong>der</strong> Empirie dom<strong>in</strong>iert. Denn es ist die Praxis im Labor und nicht <strong>der</strong> +Elfenbe<strong>in</strong>turm*,<br />

<strong>in</strong> dem Wissenschaft hergestellt wird bzw. sich herstellt.<br />

Der (Labor-)Konstruktivismus ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Akteur-Netzwerk-Theorie, wie oben angedeutet, jedoch<br />

mit e<strong>in</strong>er Art +materialistischer* Metatheorie verknüpft. Michel Callon z.B. hat e<strong>in</strong>e Theorie<br />

+techno-ökonomischer Netzwerke* entworfen, die er als komplexe Interaktionssysteme beschreibt,<br />

<strong>in</strong> denen verschiedenste Akteure und +Materialien* mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verwoben s<strong>in</strong>d. Diese Materialien<br />

o<strong>der</strong> Vermittlungsmedien (<strong>in</strong>termediaries) glie<strong>der</strong>n sich <strong>in</strong> Texte (da Wissenschaft – als Grundlage<br />

von Technik – weitgehend als Textgewebe aufgefaßt werden kann), des weiteren natürlich<br />

die <strong>in</strong> die technischen Objekte selbst (die untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> vernetzte Programme be<strong>in</strong>halten),<br />

(Personen und ihre ebenso vielfach vernetzten) Fähigkeiten sowie Geld (als Medium des<br />

ökonomischen Austauschs). Die +eigentlichen* Akteure <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Netzwerk fungieren zwar<br />

auch als <strong>der</strong>artige Mittler, doch müssen sie im Unterschied zu jenen zusätzlich selbst zur<br />

(Re-)Produktion des Netzes beitragen, können also +Autorenschaft* (authorship) für sich bean-<br />

spruchen. Deshalb def<strong>in</strong>iert Callon: +An actor is an <strong>in</strong>termediary that puts other <strong>in</strong>termediaries<br />

148<br />

<strong>in</strong>to circulation*. (Vgl. Techno-Economic Networks and Irreversibility; S. 132–141)<br />

Da zu e<strong>in</strong>em Netzwerk aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel mehrere, durchaus heterogene Akteure bzw. Akteur-<br />

Netzwerke gehören – denn je<strong>der</strong> Akteur umfaßt se<strong>in</strong>erseits jeweils e<strong>in</strong> eigenes Netzwerk<br />

– stellt sich die Frage, wie Übere<strong>in</strong>stimmung und Stabilität erreicht werden. Dafür, so Callons<br />

Antwort, ist zunächst e<strong>in</strong> Übersetzungs- bzw. Verständigungsprozeß notwendig (translation). 149


132 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

War die Übersetzung erfolgreich, so kommt es zur (gegenseitigen) Ausrichtung (alignment).<br />

Diese wird durch koord<strong>in</strong>ierende Übersetzungsregime bzw. Konventionen erleichtert und<br />

geför<strong>der</strong>t. So kann schließlich e<strong>in</strong>e +annähernde* Übere<strong>in</strong>stimmung (Konvergenz) hergestellt<br />

werden. Wenn zukünftige +Aktionen* <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Netzwerk von vergangenen Übersetzungs-<br />

prozessen abhängen und e<strong>in</strong> Zurück unmöglich ist, so kann man sogar von Irreversibilität<br />

sprechen. (Vgl. ebd.; S. 142–151)<br />

Auch Bruno Latour hat sich mit <strong>der</strong> wichtigen Frage <strong>der</strong> Stabilisierung beschäftigt. Se<strong>in</strong>e Antwort<br />

setzt jedoch gewissermaßen am entgegengesetzten Punkt an, denn er me<strong>in</strong>t zeigen zu können,<br />

wie soziale Stabilität ganz allgeme<strong>in</strong> primär durch technische Artefakte, also durch die +D<strong>in</strong>ge*,<br />

die als +Aktanten* (auch) für Latour Akteursqualitäten besitzen, erzeugt wird. Denn <strong>in</strong> den<br />

D<strong>in</strong>gen und weniger <strong>in</strong> sozialen Verhältnissen nimmt Macht Form an und wird Macht (auf)-<br />

bewahrt. So kommt er zu dem Schluß: +Dom<strong>in</strong>ation is an effect not a cause.* (Technology<br />

Is Society Made Durable; S. 130)<br />

Er verdeutlicht diese Vorstellung u.a. am Beispiel +Hotelzimmerschlüssel*: Dem Wunsch <strong>der</strong><br />

Hotelleitung nach Rückgabe des Schlüssels beim Verlassen des Hotels wird dadurch Nachdruck<br />

verliehen, daß e<strong>in</strong> Metallgewicht am ihm befestigt ist. Wäre dies an<strong>der</strong>s, so würden die meisten<br />

Gäste den Schlüssel wahrsche<strong>in</strong>lich mitnehmen und ihn u.U. verlieren. E<strong>in</strong>e bloße Auffor<strong>der</strong>ung<br />

zur Rückgabe genügt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht. Je<strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung, jedem Interesse, jedem +Programm*<br />

muß also +Gewicht* verliehen werden. Dies wird durch e<strong>in</strong>e adäquate technologische Über-<br />

setzung des Programms erreicht. In diesem Fall ist es e<strong>in</strong> tatsächliches Gewicht. Die Entwicklung<br />

e<strong>in</strong>er erfolgreichen Übersetzung hängt jedoch, auch gemäß Latour, von <strong>der</strong> Permanenz des<br />

Willens ab, das Programm durchzusetzen, sprich: den Schlüssel zurück zu bekommen (vgl.<br />

ebd.; S. 104–110). Erklärungen nach Art dieses Beispiels können für Latour allerd<strong>in</strong>gs nur<br />

nutzbar gemacht werden, wenn die Trennung zwischen materieller Infrastruktur und sozialer<br />

Superstruktur aufgegeben wird (vgl. ebd.; S. 129). Es gilt also, den +großen Leviathan* ause<strong>in</strong>-<br />

an<strong>der</strong>zuschrauben, um zu erkennen wie die (hybriden) Akteur-Netzwerke die soziale Wirklichkeit<br />

strukturieren (vgl. Callon/Latour: Unscrew<strong>in</strong>g the Big Leviathans).<br />

In dem letztgenannten Aufsatz vertreten Callon und Latour übrigens die Ansicht, Makroakteure<br />

seien nichts an<strong>der</strong>es als gleichsam +aufgeblasene* Mikroakteure, die es geschafft haben, sich<br />

150<br />

an<strong>der</strong>e +Willen* e<strong>in</strong>zuverleiben (vgl. ebd.; S. 296). Dieses +enrolment* liegt jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

+Natur* <strong>der</strong> Sache, und Macht an sich wird überwiegend positiv, um mit Barnes zu sprechen:


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 133<br />

als soziale Kapazität, die (Verfügungs-)Freiheit (discretion) verleiht, aufgefaßt (vgl. The Nature<br />

of Power; S. 57ff.). Hier<strong>in</strong> zeigt sich auch e<strong>in</strong>e Parallele zu Foucault, <strong>der</strong>, obwohl selbst Kritiker<br />

des aufklärerischen Machtapparates, ebenfalls an vielen Stellen se<strong>in</strong>es Werks die produktive<br />

Seite <strong>der</strong> Macht herausstellte und sich weniger für ihre (makro)strukturelle Komponente als<br />

für ihre +Mikrophysik* <strong>in</strong>teressierte (siehe hierzu nochmals Anmerkung 48, E<strong>in</strong>leitung).<br />

John Law ist <strong>in</strong> dieser Beziehung allerd<strong>in</strong>gs gespalten: Er will sich die Möglichkeit offenhalten,<br />

Macht mit Ungleichheit und Ausbeutung zu identifizieren, und begreift diese deshalb als<br />

relationale Größe, die durchaus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Struktur des Netzwerks (re)präsent(iert) ist (vgl. Power,<br />

Discretion and Strategy; S. 185). In <strong>der</strong> ambivalenten Position Laws zeigt sich, daß e<strong>in</strong>ige<br />

Vorstellungen <strong>der</strong> Akteur-Netzwerk-Theorie wie <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en hier dargestellten Ansätze durchaus<br />

als problematisch angesehen werden können. Zwar berücksichtigt man, daß Wissenschaft<br />

und Technik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sozialen Prozeß geformt werden, verabschiedet sich von <strong>der</strong> Vorstellung<br />

wissenschaftlicher +Objektivität* und schafft e<strong>in</strong> plastisches Bild des Konstruktionsprozesses<br />

wissenschaftlicher +Fakten*, <strong>in</strong>dem man den Forschern <strong>in</strong> ihre Labors folgt. Die Akteur-Netzwerk-<br />

Theorie versucht zudem, e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung von Mikro- und Makroebene zu f<strong>in</strong>den, br<strong>in</strong>gt<br />

die d<strong>in</strong>glich-materielle Seite von Wissenschaft und Technik wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Spiel und bemüht<br />

sich um die +Kreation* neuer, adäquaterer Begrifflichkeiten. E<strong>in</strong>ige dieser Vorzüge verkehren<br />

sich jedoch <strong>in</strong> Nachteile, wenn man e<strong>in</strong>en kritischen Horizont bewahren will. Ich möchte<br />

deshalb anschließend e<strong>in</strong>e Reihe von Kritikpunkten zu den e<strong>in</strong>zelnen Ansätzen vorbr<strong>in</strong>gen,<br />

um darauf aufbauend (sowie unter E<strong>in</strong>beziehung des Konzepts <strong>der</strong> reflexiven Verwissenschaft-<br />

lichung Ulrich Becks) so etwas wie e<strong>in</strong>e +eigene*, kritische Position zu erarbeiten.<br />

Zum Ansatz von Hughes ist anzumerken, daß dieser zwar darstellt, wie die großen technischen<br />

Systeme Gesellschaften formen und strukturieren (vgl. <strong>in</strong>sb. Die Erf<strong>in</strong>dung Amerikas). Wie<br />

an<strong>der</strong>erseits soziale Makrofaktoren auf die Bildung von Technik-Systemen wirken, bleibt,<br />

wie schon oben angemerkt, lei<strong>der</strong> unterbelichtet. Insbeson<strong>der</strong>e auch die Rolle von Organi-<br />

sationen und <strong>der</strong>en Strukturen, die von Hughes nicht als Handlungssysteme, son<strong>der</strong>n wie<br />

151<br />

Technik als +Artefakte* verstanden werden, wird nicht näher untersucht. Zudem ist bei<br />

ihm e<strong>in</strong>e etwas fragwürdige Tendenz zur Heroisierung von System-Bildnern wie Edison, Bell<br />

o<strong>der</strong> Ford auszumachen. Abgeschwächt gilt dieser Vorwurf übrigens auch für Latour, <strong>der</strong><br />

zwar versucht zu zeigen, wie die (historischen) Umstände (und die materielle Welt des Labors)<br />

den Helden <strong>der</strong> Wissenschaft erst erschaffen (vgl. z.B. se<strong>in</strong>en +Bildband* über Pasteur). Doch


134 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

eben damit, durch die Konzentration auf die +großen Männer*, strickt Latour <strong>in</strong>direkt selbst<br />

am Mythos des +genialen Wissenschaftlers*. 152<br />

E<strong>in</strong>e ernst zu nehmende Kritik am Sozialkonstruktivismus wurde bereits mit <strong>der</strong> Position von<br />

Joerges referiert: Konstruktivistische Ansätze tendieren leicht dazu, die (soziale und <strong>in</strong>dividuelle)<br />

Bee<strong>in</strong>flußbarkeit von Situationen zu überschätzen. Zwar ist es verkehrt, den Subjekten jegliche<br />

153<br />

Handlungsmächtigkeit abzusprechen, und wichtig zu erkennen, wie Wirklichkeit, o<strong>der</strong><br />

vielmehr e<strong>in</strong> Bild von Wirklichkeit, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sozialen Prozeß konstruiert wird. Genau dadurch<br />

wird e<strong>in</strong>e bestimmte Wirklichkeitsdef<strong>in</strong>ition schließlich h<strong>in</strong>terfragbar und dem (verän<strong>der</strong>ungs-<br />

orientierten) Handeln verfügbar. Jedoch s<strong>in</strong>d Konstruktionen nicht beliebig, son<strong>der</strong>n f<strong>in</strong>den<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em (begrenzten) Kont<strong>in</strong>genzraum statt (siehe auch Schlußexkurs). Dieser Kont<strong>in</strong>genzraum<br />

wird nicht nur durch Mikroakteure und ihre Orientierungen, son<strong>der</strong>n auch durch makro-<br />

strukturelle Determ<strong>in</strong>anten abgesteckt, die lei<strong>der</strong> bei den meisten bisherigen Umsetzungs-<br />

versuchen e<strong>in</strong>er sozialkonstruktivistischen Wissenschafts- und Techniksoziologie (genauso<br />

wie im System-Ansatz von Hughes) weitgehend aus dem Analyserahmen ausgeklammert wurden.<br />

Immerh<strong>in</strong> wurde dieser schon mehrfach genannte Mangel hier teilweise erkannt.<br />

E<strong>in</strong> weiteres, damit im Zusammenhang stehendes Problem ist die Ablehnung jeglicher Objek-<br />

tivität, sofern es sich – wie bei e<strong>in</strong>igen Beispielen sozialkonstruktivistischer Wissenschafts-<br />

und Techniksoziologie – um radikalisierte, mith<strong>in</strong> gerade +entwurzelte* konstruktivistische<br />

154<br />

Positionen handelt. Aus solcher Sicht wird nämlich alles zur schlichten Def<strong>in</strong>itions- und<br />

Aushandlungsfrage. Nur, wer wollte z.B. bestreiten, daß Radioaktivität bzw. radioaktiver Abfall,<br />

wie er im Zentrum <strong>der</strong> Untersuchung von Bruhèze stand, ganz unabhängig davon, ob wir<br />

es glauben o<strong>der</strong> nicht, bestimmte Wirkungen auf den menschlichen Körper hat und deshalb<br />

sorgfältig verwahrt gehört? Richtig ist natürlich, daß es sich bei dieser Annahme um e<strong>in</strong>e (vielleicht<br />

falsche) kausale Interpretation handelt, die auf bestimmten theoretischen Vorstellungen beruht.<br />

Wir wissen also niemals, daß es wirklich <strong>der</strong> radioaktive Abfall, die von ihm ausgehende<br />

Strahlung ist, die uns krank macht – worauf sich die Atom-Industrie ja auch gerne +herausredet*.<br />

Doch obwohl wir sie, wie sie ist, nicht erkennen können, ist es uns unmöglich, uns <strong>der</strong> Wirkung<br />

<strong>der</strong> materiellen Welt zu entziehen – was die Vertreter <strong>der</strong> Akteur-Netzwerk-Theorie gegen<br />

den Sozialkonstruktivismus ganz zu recht wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Bewußtse<strong>in</strong> gebracht haben. Deshalb<br />

dürfen wir me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach sehr wohl annehmen, daß, wenn wir uns krank fühlen,<br />

irgend etwas, also e<strong>in</strong>e tatsächliche Ursache, uns krank gemacht haben muß.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 135<br />

In <strong>der</strong> Regel haben wir über diese Ursache bestimmte Theorien, also z.B. +die Strafe Gottes<br />

für sündhaftes Verhalten* o<strong>der</strong> eben: +krankmachende Strahlung durch radioaktiven Abfall*.<br />

Solche Theorien können mehr o<strong>der</strong> weniger mit <strong>der</strong> +tatsächlichen* Ursache <strong>der</strong> Krankheit<br />

zu tun haben. Es ist nur lei<strong>der</strong> ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>fach zu entscheiden, welche Theorie wie e<strong>in</strong>-<br />

zuordnen ist, da wir die wirkliche(n) Ursache(n) nicht (er)kennen (können). E<strong>in</strong>e mögliche<br />

Orientierung bietet hier me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach nur das subjektive und empirische Kriterium,<br />

wie nützlich bzw. s<strong>in</strong>nvoll sich e<strong>in</strong>e Theorie für die Bewältigung des Alltags (auch des Forschungs-<br />

155<br />

alltags) erweist. Lei<strong>der</strong> setzt sich nicht immer die <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht +beste* Theorie durch.<br />

Für die Bewältigung des seefahrerischen Alltags hat es sich z.B. <strong>in</strong> den letzten Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />

als vorteilhaft erwiesen, davon auszugehen, daß die Erde e<strong>in</strong>e Kugel ist. Lange Zeit wurde<br />

diese Theorie jedoch verworfen, da sie <strong>in</strong> Konflikt mit e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Theorie stand (<strong>der</strong> Theorie,<br />

daß die Erde e<strong>in</strong>e Scheibe sei), die von e<strong>in</strong>er sozial sehr e<strong>in</strong>flußreichen Kraft (<strong>der</strong> Kirche)<br />

favorisiert wurde. Aus <strong>der</strong> Sicht e<strong>in</strong>es entwurzelten, streng relativistischen Konstruktivismus<br />

gibt es nun jedoch ke<strong>in</strong>e +besseren* o<strong>der</strong> +schlechteren* Theorien: Alle s<strong>in</strong>d per se gleichge-<br />

wichtig. E<strong>in</strong>e Rangordnung entsteht erst durch die sozialen Aushandlungsprozesse. Damit<br />

aber h<strong>in</strong>terläßt uns <strong>der</strong> radikalisierte Konstruktivismus hilflos gegenüber <strong>der</strong> Aushandlungsmacht<br />

von bestimmten Akteuren. Wir können ke<strong>in</strong>e wie auch immer geartete +objektive* bzw. <strong>in</strong><br />

objektiven Gegebenheiten verankerte subjektive +Wahrheit* gegen sie <strong>in</strong>s Feld führen.<br />

E<strong>in</strong> letztes Problem mit dem konstruktivistischen Ansatz gilt auch und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für die<br />

Akteur-Netzwerk-Theorie: Die Verwischung <strong>der</strong> Begrifflichkeiten im Bemühen um e<strong>in</strong>e Dekon-<br />

struktion <strong>der</strong> begrifflichen Trennungen. Selbstverständlich s<strong>in</strong>d Begriffe Konstrukte. Begriffe<br />

haben, entgegen idealistischen und nom<strong>in</strong>alistischen Vorstellungen, nicht an sich, son<strong>der</strong>n<br />

nur für sich/uns Wirklichkeit, d.h. sie/wir erschaffen die Sache, die sie/wir bezeichnen. Deshalb<br />

beruht die begriffliche Trennung zwischen Wissenschaft und Technik, Technik und Gesellschaft,<br />

Gesellschaft und Natur etc. auf <strong>der</strong> begrifflichen Konstruktion dieser Trennung. Gerade weil<br />

das so ist, ist aber auch <strong>der</strong> (de)konstruktivistische Versuch <strong>der</strong> Auflösung dieser Trennung<br />

<strong>in</strong> Hybridkonzepte e<strong>in</strong> Akt <strong>der</strong> (Kontra-)Konstruktion, da man, um zu dekonstruieren, die<br />

zu dekonstruierenden Begriffe erstens voraussetzen muß und sie zweitens <strong>in</strong> ihrer Verschmelzung<br />

nicht aufhebt, son<strong>der</strong>n wie<strong>der</strong> herstellt. Alle<strong>in</strong>e mit <strong>der</strong> (verschmelzenden) Dekonstruktion<br />

von Begriffen ist deshalb nichts gewonnen. Im Gegenteil: Für die Analyse und Theoriebildung<br />

s<strong>in</strong>d begriffliche Unterscheidungen s<strong>in</strong>nvoll, da nur differenzierte begriffliche Systeme die


136 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Erfassung bzw. (Re)-Konstruktion komplexerer Zusammenhänge und damit e<strong>in</strong>e Annäherung<br />

an +Wirklichkeit* erlauben – denn Wirklichkeit ist (vermutlich) komplex. Erst zwischen Wissen-<br />

schaft und Technik zu unterscheiden, erlaubt es also, den Zusammenhang von Wissenschaft<br />

und Technik (differenziert) auszudrücken (und darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e Wissenschaft zu imag<strong>in</strong>ieren,<br />

die sich von ihrem <strong>in</strong>strumentellen Verwendungskontext, <strong>der</strong> Technik, emanzipiert).<br />

Doch was ist mit <strong>der</strong> Trennung Natur–Gesellschaft bzw. Natur–Technik? – Wer, gestützt auf<br />

die Beobachtung, daß diese Trennung <strong>in</strong> unserer technikdurchdrungenen Welt praktisch auf-<br />

gehoben ist, deshalb auch von <strong>der</strong> konzeptionell-begrifflichen Trennung Abschied nehmen<br />

möchte, <strong>der</strong> hat damit Natur elim<strong>in</strong>iert, sie als Möglichkeit getilgt. Nur: Welche Möglichkeit<br />

wäre Natur? – Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach läßt sich grundsätzlich zwischen zwei Naturbegriffen<br />

unterscheiden: e<strong>in</strong>em metaphysischen, <strong>der</strong> auf die +Natur <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge*, ihr +Wesen* abzielt,<br />

und e<strong>in</strong>em +physischen*, <strong>der</strong> <strong>in</strong> unserem Kontext relevant ist und Natur im weitesten S<strong>in</strong>n<br />

als (Um-)Welt versteht. Letzere Aussage muß allerd<strong>in</strong>gs noch präzisiert werden, denn nicht<br />

jede Umwelt ist +Natur*. Als Natur im engeren S<strong>in</strong>n gilt nämlich im allgeme<strong>in</strong>en Verständnis<br />

nur, +was […] ohne Zutun des Menschen existiert o<strong>der</strong> sich entwickelt* (Duden Universallexikon).<br />

Dies ist e<strong>in</strong> Naturkonzept, das sich bereits bei Aristoteles f<strong>in</strong>det (vgl. Physik; Buch II, Kap.<br />

1). Es steckt implizit <strong>in</strong> so gut wie allen gängigen Naturbil<strong>der</strong>n, egal, ob diese nun Natur als<br />

bedrohlich und unberechenbar o<strong>der</strong> als gütig und verzeihend betrachten. 156<br />

Damit läßt sich e<strong>in</strong>e +natürliche* von e<strong>in</strong>er +technischen* Umwelt abgrenzen, denn (d<strong>in</strong>gliche)<br />

Technik kann wie<strong>der</strong>um – ebenfalls auf Aristoteles aufbauend – als die Gesamtheit dessen<br />

aufgefaßt werden, was vom Menschen hergestellt bzw. (materiell) erschaffen wurde. Die<br />

Übergänge zwischen natürlicher und technischer Umwelt s<strong>in</strong>d jedoch fließend, und es gibt<br />

auch so etwas wie e<strong>in</strong>e technisch geformte Natur, die wir zumeist mit Begriffen wie +Kultur-<br />

landschaft* o<strong>der</strong> ähnlichem bezeichnen, die aber genau genommen die gesamte uns praktisch<br />

zugängliche +Natur* umfaßt, da <strong>der</strong> anthropogene E<strong>in</strong>fluß heute (z.B. durch die Freisetzung<br />

von +Klimagasen*) überall h<strong>in</strong> reicht (siehe auch Übersicht 3). 157<br />

Die Unterscheidung Natur–Technik (das vom Menschen Hergestellte) bzw. Natur–Gesellschaft<br />

(die menschliche Geme<strong>in</strong>schaft) beruht damit aber auf <strong>der</strong> Exklusion des Menschen aus <strong>der</strong><br />

Natur, <strong>der</strong> über diese Differenz und die Identifizierung mit se<strong>in</strong>en Artefakten, <strong>der</strong> Technik,<br />

se<strong>in</strong>e Identität def<strong>in</strong>iert (dies galt zum<strong>in</strong>dest für e<strong>in</strong>e lange Periode westlicher Kulturgeschichte).<br />

Damit ist auch e<strong>in</strong>e Haltung verbunden, die aus <strong>der</strong> konstruierten +Tatsache* <strong>der</strong> Differenz


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 137<br />

Übersicht 3: Zur Typologie und Topologie von +Umwelt(landschaft)en*<br />

• +Natürliche* Landschaften: +Unberührte* Natur, die nicht durch menschliche E<strong>in</strong>griffe verän<strong>der</strong>t wurde.<br />

• Technisch geformte Landschaften: +Kulturlandschaften* und Gärten etc., <strong>in</strong> denen es Reste von +unberührter<br />

Natur* gibt, die aber durch (gezielte und unbeabsichtigte) technische E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> ihre spezifische Form gebracht<br />

wurden (Natur, wie sie uns heute überwiegend entgegentritt).<br />

• Technische Landschaften: Bestehen (nahezu) ausschließlich aus +Technik* (z.B. e<strong>in</strong> Hochhaus, Autobahnen,<br />

Flugzeuge, Städte etc.)<br />

• Virtuelle Landschaften:<br />

– (Vor-)Bil<strong>der</strong>, Pläne und Ideen, nach denen technisch geformte und technische Landschaften entstehen<br />

– technische (Nach-)Bil<strong>der</strong> +natürlicher* Landschaften, z.B. Landschaftsgärten o<strong>der</strong> Zoos, die als +disneysierte<br />

Natur* e<strong>in</strong> romantisches Naturbild wi<strong>der</strong>spiegeln bzw. e<strong>in</strong> Naturerlebnis +künstlich* generieren<br />

– technisch generierte symbolische Landschaften, die e<strong>in</strong>e virtuelle Ersatzumgebung darstellen (Cyberspace)<br />

e<strong>in</strong>e Hierarchie ableitet, d.h. den Menschen als Herrn über die vom ihm unterschiedene<br />

(Rest-)Natur e<strong>in</strong>setzt und ihn ermächtigt, mit ihr nach se<strong>in</strong>em Belieben zu verfahren. Mit<br />

dem daraus nunmehr resultierenden +Ende <strong>der</strong> Natur* (McKibben) bzw. ihrer Bedrohung<br />

entstand aber die Notwendigkeit, menschliche Identität über e<strong>in</strong>e neue, umgekehrte Differenz<br />

zu (re)def<strong>in</strong>ieren: Die Differenz Mensch–Technik. Der Mensch macht sich also durch die<br />

technische Umgestaltung <strong>der</strong> Natur und die Technisierung se<strong>in</strong>er Umwelt selbst (wie<strong>der</strong>)<br />

zu Natur – als konstruiertem Gegensatz zur ihm immer weiter entfremdeten, reflexiv und<br />

damit zum Problem gewordenen Technik und Wissenschaft.<br />

Dieser Umschlagspunkt markiert gewissermaßen den Übergang von <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen zur reflexiven<br />

Mo<strong>der</strong>ne (siehe auch S. XLII sowie Abschnitt 5.1.2). E<strong>in</strong> wichtiges Kennzeichen <strong>der</strong> reflexiven<br />

Mo<strong>der</strong>ne ist es, daß (technikerzeugte) Risiken bzw. die Risikoverteilung zu e<strong>in</strong>er sozialen<br />

158<br />

Grundkategorie wird: Wir leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er +Risikogesellschaft* (Beck 1986). Denn die latenten<br />

Nebenfolgen des wissenschaftlich-technischen +Fortschritts*, dem sich die e<strong>in</strong>fache Mo<strong>der</strong>ne<br />

noch ohne Vorbehalte verschrieben hatte, wirken auf die Gesellschaft zurück und produzieren<br />

Unsicherheiten. Es stellt sich deshalb vehement die Frage <strong>der</strong> Kontrolle bzw. Kontrollierbarkeit<br />

von Technikrisiken und wie diese <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em politischen Prozeß vermittelt und übermittelt werden<br />

(vgl. auch Irw<strong>in</strong>: Risk and the Control of Technology; <strong>in</strong>sb. Kap. 2).<br />

Der reflexive Charakter von Technik und Wissenschaft äußert sich allerd<strong>in</strong>gs auf verschiedenen<br />

Ebenen: Zunächst e<strong>in</strong>mal s<strong>in</strong>d Wissenschaft und Technik deshalb reflexiv, weil sie sich zu-<br />

nehmend auf sich selbst beziehen. Wissenschaft nimmt Rekurs auf ihre eigenen Diskurse.


138 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Mit Luhmann könnte man darum argumentieren, daß e<strong>in</strong> rekursives System entstand, das<br />

durch operationelle Geschlossenheit gekennzeichnet ist (vgl. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft;<br />

159<br />

Kap. 5). Trotzdem ist auch nach ihm e<strong>in</strong>e Zirkularität von Wissenschaft und Gesellschaft<br />

gegeben, denn Wissenschaft ist e<strong>in</strong> Vorgang, <strong>der</strong> <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Gesellschaft stattf<strong>in</strong>det, d.h.<br />

sie kommuniziert mit Gesellschaft und umgekehrt (vgl. ebd.; S. 616–622). So kommt es auch,<br />

daß Wissenschaft sich immer mehr mit den (sozialen und ökologischen) Folgen von Wissenschaft<br />

bzw. ihrer Anwendung ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen muß – weshalb Ulrich Beck von +reflexiver Ver-<br />

wissenschaftlichung* spricht (vgl. Risikogesellschaft; S. 259ff.). Technik selbst ist wie<strong>der</strong>um<br />

dadurch reflexiv, daß sie auf an<strong>der</strong>er Technik aufbaut (z.B. Verkehrsleitsysteme auf Verkehrs-<br />

systemen, Software auf Hardware etc.). Dabei wird häufig versucht, durch Technik technik-<br />

erzeugte Probleme <strong>in</strong> den Griff zu bekommen (Filteranlagen, Antivirensoftware usw.) – ich<br />

möchte hier deshalb von deflexiven (d.h. ablenkenden) Technologien sprechen. 160<br />

Die Reflexivität von Wissenschaft und Technik hat also verschiedene Gesichter. Als <strong>in</strong>terne<br />

Reflexivität schließt sie Wissenschaft und Technik nach <strong>in</strong>nen ab und produziert damit <strong>in</strong>direkt<br />

jene externe Reflexivität, die sie durch äußere Impulse zw<strong>in</strong>gt, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Reflexions-<br />

Zirkel mit den Folgen <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischen Selbst-Reflexivität ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen.<br />

Externe Reflexivität me<strong>in</strong>t aber nicht nur die Rückvermittlung, son<strong>der</strong>n darüber h<strong>in</strong>aus auch<br />

die externe diskursive Wie<strong>der</strong>spiegelung (Reflexion) technisch-wissenschaftlicher Problematiken,<br />

bedeutet demnach die gleichzeitige Demystifizierung und Entmonopolisierung wissenschaftlicher<br />

Erkenntnis. Dies zeigt sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> den immer nachdrücklicheren For<strong>der</strong>ungen nach<br />

e<strong>in</strong>er demokratisierten, öffentlich +verhandelten* Wissenschaft (vgl. z.B. Irw<strong>in</strong>: Citizen Science<br />

und siehe auch S. 147ff.). Im Zuge dieser externen Spiegelung wird Wissenschaft jedoch<br />

z.T. wie<strong>der</strong>um mit Wissenschaft (z.B. durch Gegenexpertisen o<strong>der</strong> den Rekurs auf wissen-<br />

schaftliche Term<strong>in</strong>ologien und Theorien) <strong>in</strong> Frage gestellt (vgl. hierzu auch Risikogesellschaft;<br />

S. 261ff. u. S. 266ff.). Wir haben es mit e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Externalisierung und Internalisierung<br />

von Wissenschaft zu tun. Die Akzeptanz wissenschaftlichen Denkens drückt sich auch und<br />

gerade <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Abwehr aus.<br />

Die abwehrende externe Spiegelung von Wissenschaft ist nun aber ke<strong>in</strong>eswegs gleichmäßig<br />

über die verschiedenen Wissenschaftsfel<strong>der</strong> verteilt (genausowenig wie e<strong>in</strong> +Gleichgewicht*<br />

161<br />

<strong>in</strong>nerhalb des Wissenschaftssystems besteht). Man könnte deshalb von e<strong>in</strong>er Reflexions-<br />

Hierarchie bzw. partieller Reflexivität sprechen. Die öffentliche Thematisierung konzentriert


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 139<br />

sich auf bestimmte, <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Wahrnehmung beson<strong>der</strong>s problematische Wissenschafts-<br />

bereiche und Technologien. Beispiele dafür s<strong>in</strong>d die Atomenergie und die Gentechnik, die<br />

sehr sensibel und genau öffentlich beobachtet werden. In Zukunft werden wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

auch die Informationstechnologien zu diesem Kernbereich kritischer Reflexion gehören, da<br />

sie immer mehr ökonomisch wie sozial relevant werden und sich hier e<strong>in</strong>e zunehmende<br />

Zahl von Konfliktfel<strong>der</strong>n abzeichnet (Zugang zu Information, Überwachung <strong>der</strong> Informationsflüsse,<br />

Zensur <strong>der</strong> Netze etc.).<br />

Das Unbehagen an diesen und an<strong>der</strong>en Technologien spiegelt sich auf politisch-praktischer<br />

Ebene vorwiegend <strong>in</strong> subpolitischen Protestbewegungen (da die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> zumeist<br />

versucht, zwischen <strong>der</strong> Position <strong>der</strong> Industrie, die e<strong>in</strong> ökonomisches Interesse an diesen<br />

Technologien hat, und <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu vermitteln). Das Paradebeispiel für e<strong>in</strong>e solche<br />

subpolitische Protestbewegung ist die Ökologie- und Umweltbewegung (vgl. auch Beck: Risiko-<br />

gesellschaft; S. 264f. sowie Gegengifte; Kap. II), die beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik große<br />

Mobilisierungsfähigkeit aufweist und mit den +Grünen* sogar e<strong>in</strong>en sehr erfolgreichen partei-<br />

politischen Arm etablieren konnte, was allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en programmatisch-strategischen +Para-<br />

digmawechsel*, e<strong>in</strong>e partielle Inklusion <strong>in</strong> das etablierte <strong>Politik</strong>system erfor<strong>der</strong>te (vgl. Wessollek:<br />

162<br />

Die Ökologiebewegung; S. 79ff.). Auch <strong>der</strong> parlamentarische Arm <strong>der</strong> Ökologiebewegung<br />

gerät aber mit dem Identifikationsangebot +Natur*, das er offeriert, <strong>in</strong> Konflikt zu an<strong>der</strong>en<br />

(<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch außerpolitischen) +Parteien*, die auf <strong>der</strong> hierarchisierenden Differenz<br />

Mensch–Natur beharren bzw. an<strong>der</strong>e Naturbil<strong>der</strong> zugrunde legen, welche mit ihren (ökono-<br />

mischen) Interessen kompatibel s<strong>in</strong>d. Denn das Naturbild, das für große Teile <strong>der</strong> Ökologie-<br />

bewegung kennzeichnend ist, ist die Vorstellung e<strong>in</strong>er Natur, die äußerst empf<strong>in</strong>dlich auf<br />

Gleichgewichtsstörungen reagiert. Wirtschaftsunternehmen, als prädest<strong>in</strong>ierte Hauptangriffsziele<br />

des Protests, s<strong>in</strong>d dagegen zumeist +bl<strong>in</strong>d* für die durch ihre Produktionsmethoden und Produkte<br />

ausgelösten möglichen Gleichgewichtsstörungen, da <strong>in</strong> ihrem Bild Natur äußerst tolerant gegen-<br />

163<br />

über E<strong>in</strong>griffen ist bzw. zu se<strong>in</strong> hat. Der Konflikt entsteht also, um mit Schwartz und Thompson<br />

zu sprechen, die diesen Zusammenhang am Beispiel des Streits um die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es<br />

neuartigen Sanitärprodukts herausgearbeitet haben, durch +contradictory certa<strong>in</strong>ties*: wi<strong>der</strong>-<br />

sprüchliche Sicherheiten (vgl. Divided We Stand; S. 2–13). 164<br />

Naturbil<strong>der</strong> und -begriffe s<strong>in</strong>d deshalb wichtige Analysekategorien gerade im Rahmen <strong>der</strong><br />

Beschäftigung mit Wissenschaft und Technik und <strong>der</strong> sozialen Reflexionen, die diese bewirken. 165


140 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Sie liefern mögliche Erklärungen für die Instrumentalisierung von Natur wie für den Protest<br />

gegen e<strong>in</strong>en solchen +technischen* Umgang mit Natur. Und auch dem Protest häufig zugrunde-<br />

liegende Angstprojektionen lassen sich mit bestimmten Naturvorstellungen erklären. E<strong>in</strong> Beispiel<br />

für <strong>der</strong>artige Angstprojektionen ist Rachel Carsons e<strong>in</strong>flußreiches Buch +Silent Spr<strong>in</strong>g* (1962),<br />

wo gleich zu Beg<strong>in</strong>n das Szenario e<strong>in</strong>er sterbenden Natur und e<strong>in</strong>es +verstummten Frühl<strong>in</strong>gs*<br />

entworfen wird, <strong>in</strong> dem ke<strong>in</strong>e Vogelstimmen mehr zu hören s<strong>in</strong>d. Die Quelle <strong>der</strong> Angstbil<strong>der</strong><br />

ist auch <strong>in</strong> diesem Fall die Identifizierung mit Natur. Die wahrgenommene Bedrohung <strong>der</strong><br />

Natur durch Technik bedroht gleichzeitig das Selbst, das sich mit Natur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s setzt – e<strong>in</strong>er<br />

Natur, die <strong>in</strong> vielen Fällen <strong>in</strong> fragwürdiger Weise idealisiert wird, als re<strong>in</strong> und unverdorben<br />

gilt. Dies kommt vor allem <strong>in</strong> bestimmten Äußerungen des New Age-Denkens und <strong>der</strong> Esoterik<br />

klar hervor, welche ja Teile <strong>der</strong> Ökologiebewegung stark bee<strong>in</strong>flußt haben (vgl. auch Mitter-<br />

müller: Ideologie und Theorie <strong>der</strong> Ökologiebewegung; S. 151ff.). Die Natur wird hier als Quelle<br />

166<br />

von Heilung (z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Homöopathie), als Repräsentant<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ganzheit (vgl. z.B. Capras<br />

+Wendezeit*) o<strong>der</strong> als kraftspendende +Mutter Erde* etc. betrachtet. 167<br />

Aus dieser idyllischen, romantischen Natursicht heraus, gilt es Natur o<strong>der</strong> das, was von ihr<br />

übrig ist, zu konservieren und wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihr +Recht* zu setzen. Natur (im traditionellen S<strong>in</strong>n)<br />

bzw. die Er<strong>in</strong>nerung daran wird mit ihrem Verschw<strong>in</strong>den, ihrer technischen +Vergesellschaftung*<br />

zu e<strong>in</strong>er Wunschprojektion. Das Bestreben, diesem Natur-Wunsch (wie<strong>der</strong>) Wirklichkeit zu<br />

geben, führt zur (Neu-)Erf<strong>in</strong>dung, zur +Wie<strong>der</strong>geburt <strong>der</strong> Natur* (Sheldrake), damit aber auch<br />

zu den paradoxen, weil hochgradig +künstlichen* Phänomen +disneysierter*, vergarteter und<br />

entkontextualisierter Enklaven, die Bil<strong>der</strong> von Natur <strong>in</strong> virtuellen Landschaften (siehe nochmals<br />

Übersicht 3) ausstellen und zu verwalten trachten (z.B. Zoos, Aquarien, botanische Gärten,<br />

Nationalparks, Naturschutzgebiete etc.). Beck spricht <strong>in</strong> ähnlicher Weise von +Kunstnatur*<br />

und +Realnaturmuseen* (vgl. Gegengifte; S. 64). Es handelt sich also wie<strong>der</strong>um, allerd<strong>in</strong>gs<br />

auf verschobener Ebene, um e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>strumentellen Umgang mit und e<strong>in</strong> <strong>in</strong>strumentelles<br />

Verständnis von +Natur*: Diese wird zum Spiegel des idealisierten Selbstbildes und muß als<br />

Regenerationsraum wie als +Schau(stell)platz* e<strong>in</strong>er heilen Welt dienen. Selbst <strong>in</strong> dieser Instru-<br />

mentalisierung und Inszenierung ist aber als utopische Projektion e<strong>in</strong> Moment von Transzendenz<br />

enthalten, welches Natur – so wie sie sich <strong>in</strong> unserer idealisierten Vorstellung gerade nicht<br />

darstellt (nämlich so wie sie +ist*) – immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e vage Möglichkeit eröffnet. Über den<br />

(Um-)Weg <strong>der</strong> Identifizierung wird nämlich e<strong>in</strong>e Transformation <strong>der</strong> Differenz möglich: von


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 141<br />

e<strong>in</strong>er hierarchisierenden zu e<strong>in</strong>er egalisierenden Differenz, die dem (imag<strong>in</strong>ierten) An<strong>der</strong>en<br />

<strong>der</strong> Natur e<strong>in</strong>e Chance gibt, womit potentiell e<strong>in</strong>e Vermittlung zwischen Mensch, Natur und<br />

Technik möglich wird (vgl. auch Bloch: Das Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung; Band 2, S. 817). 168<br />

Dies wäre schon alle<strong>in</strong>e deshalb +objektiv* wünschenswert, weil beispielsweise sauberes Wasser<br />

aller alltagspraktischer wie auch wissenschaftlicher +Erfahrung* nach e<strong>in</strong>e unverzichtbare Lebens-<br />

grundlage darstellt, und <strong>der</strong> Plastikwald, von dem Beck spricht (vgl. Gegengifte; S. 77), als<br />

(un)mögliche Alternative nicht nur unserer kulturell geprägten Vorstellung davon wi<strong>der</strong>spricht,<br />

wie <strong>der</strong> +deutsche Wald* gefälligst auszusehen hat (siehe auch nochmals Anmerkung 162).<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus würden Plastikwurzeln als Wasserspeicher und -filter wohl kaum +funktionieren*.<br />

Wir hätten es demnach mit e<strong>in</strong>em selbst nach technischen Maßstäben +unvollkommen* Surrogat<br />

zu tun – jedenfalls, wenn man den gegenwärtigen +Stand <strong>der</strong> Technik* zugrunde legt. Und<br />

auch Vogelgezwitscher kl<strong>in</strong>gt für viele Ohren doch angenehmer als das Geräusch von Motor-<br />

sägen, wenngleich es hier +natürlich* unterschiedliche Auffassungen gibt und es zudem denkbar<br />

wäre, daß e<strong>in</strong>ige Arten sich mit dem neuen Plastikwald anfreunden könnten.<br />

Selbst wo also Natur nur mehr Imag<strong>in</strong>ation ist und ihr begrifflicher S<strong>in</strong>n durch die Praxis entleert<br />

ist, erwächst im Beharren auf Natur e<strong>in</strong>e (neue) Möglichkeit (für Natur). Die Aufhebung <strong>der</strong><br />

Trennung von Natur und Technik bzw. Gesellschaft <strong>in</strong> Begriffen wie dem des +techno-öko-<br />

nomischen Netzwerks*, würde (im Fall ihrer Durchsetzung) selbst das unmöglich machen,<br />

und die +Cyborgs*, die wir angeblich s<strong>in</strong>d, könnten sich nicht e<strong>in</strong>mal mehr als Hybridwesen<br />

erkennen. Begriffe s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> mächtiges Mittel <strong>der</strong> Kritik, und jede +Absperrung des Universums<br />

<strong>der</strong> Rede* (Marcuse) ist e<strong>in</strong> Angriff gegen die Möglichkeit von Kritik. Das heißt offensichtlich<br />

nicht, daß man nicht kreativ und spielerisch nach neuen Begrifflichkeiten suchen sollte, die<br />

e<strong>in</strong>er verän<strong>der</strong>ten Wirklichkeit gerecht werden. Doch es heißt auch nicht, daß man alles<br />

<strong>in</strong> undifferenzierten Hybridkonzepten auflösen sollte.<br />

Dieses Problem <strong>der</strong> Begriffsdiffusion betrifft, wie gesagt, die sozialkonstruktivistische Wissen-<br />

schafts- und Techniksoziologie ebenso wie die Akteur-Netzwerk-Theorie. Letztere hat <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en<br />

Augen jedoch noch e<strong>in</strong> zweites wesentliches Problem, das se<strong>in</strong>e Wurzel allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> ersterem<br />

hat und beson<strong>der</strong>s deutlich bei Latour zutage tritt: Wenn nämlich nicht mehr zwischen<br />

Gesellschaft und Technik, Mensch und Masch<strong>in</strong>e unterschieden wird (siehe zurück zu S.<br />

132), so muß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenz des Arguments auch <strong>der</strong> Akteursbegriff, <strong>der</strong> für die Akteur-<br />

Netzwerk-Theorie schließlich zentral ist, auf die d<strong>in</strong>gliche Welt <strong>der</strong> Technik ausgedehnt werden.


142 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Die daraus resultierende Vorstellung nicht-menschlicher, d<strong>in</strong>glich-technischer Akteure bzw.<br />

Aktanten, führt jedoch ungewollt <strong>in</strong> die Nähe e<strong>in</strong>er Richtung, die von den Vertretern <strong>der</strong><br />

Akteur-Netzwerk-Theorie explizit abgelehnt wird: nämlich zu jenem +naturalistischen Reduk-<br />

tionismus*, <strong>der</strong> die Objektivität, die Natur- und Eigengesetzlichkeit von Wissenschaft und<br />

Technik unterstellt.<br />

Dieser Vorwurf bedarf <strong>der</strong> näheren Erläuterung: Wenn man die Existenz nicht-menschlicher<br />

Akteure unterstellt und also davon ausgeht, daß Technik zu e<strong>in</strong>em eigenständigen Akteur<br />

<strong>in</strong> techno-ökonomischen Netzwerken werden kann, so bedeutet dies, daß Technik über e<strong>in</strong><br />

bestimmtes Maß von Autonomie, e<strong>in</strong>e Eigendynamik, ja, über e<strong>in</strong>e Art +eigenen Willen* verfügen<br />

169<br />

muß. Denn e<strong>in</strong> Handeln, das sich als Akt vom bloßen Fakt unterscheidet, be<strong>in</strong>haltet immer<br />

170<br />

Intentionalität und Zielgerichtetheit. Auch Callon sche<strong>in</strong>t im Pr<strong>in</strong>zip ähnliche Vorstellungen<br />

zu teilen, <strong>in</strong>dem er +Autorenschaft* zum Def<strong>in</strong>itionskriterium des Akteurs macht – ohne allerd<strong>in</strong>gs<br />

plausibel zu darzulegen, wie dieses Kriterium von nicht-menschlichen Akteuren erfüllt werden<br />

könnte, die auch er unterstellt (siehe hierzu nochmals S. 131 sowie Anmerkung 148).<br />

Selbst wenn man aber jene Schwierigkeit e<strong>in</strong>mal außer acht läßt, so zeigt sich e<strong>in</strong> weiteres<br />

Problem: Indem Technik zum Mit-Akteur und eigenständigen Faktor gemacht wird, und <strong>in</strong><br />

171<br />

dem Ausmaß, <strong>in</strong> welchem man ihr (als Quasi-Objekt und -Subjekt) Autonomie zuspricht,<br />

erhält sie den Status e<strong>in</strong>er +Quasi-Natur*. Denn Natur umfaßt schließlich nach +traditioneller*<br />

Def<strong>in</strong>ition genau das, was unabhängig (autonom) von menschlicher Existenz, d.h. ohne unser<br />

Zutun besteht. Es erfolgt also e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>direkte und ungewollte Naturalisierung von Technik,<br />

während die +eigentliche* Natur sich im erweiterten Begriff des Sozialen und Technischen<br />

auflöst, aus dem Begriffs- und Bezugshorizont (tendenziell) verschw<strong>in</strong>det.<br />

Diese implizite Naturalisierung von Technik, die im Wi<strong>der</strong>spruch zu den gleichzeitig im Gebäude<br />

<strong>der</strong> Akteur-Netzwerk-Theorie vorzuf<strong>in</strong>denden konstruktivistischen Vorstellungen steht, zeigt<br />

+<strong>fatal</strong>e* Berührungspunkte zu Auffassungen, wie sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technokratietheorie (ihrer opti-<br />

mistischen wie ihrer pessimistischen Variante) vorherrschen. Denn Technokratietheorien beruhen<br />

schließlich genau auf <strong>der</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er Autonomie und Eigengesetzlichkeit, e<strong>in</strong>er +Natur-<br />

haftigkeit* von Technik, und schließen daraus, daß es zu e<strong>in</strong>er Übernahme <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch<br />

Techniker (und Sozialtechniker) gekommen ist bzw. kommen sollte und muß, da jene alle<strong>in</strong>e<br />

aufgrund ihres Wissens E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Sachgesetzlichkeiten <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen (<strong>in</strong>dustriellen) Gesell-<br />

schaft hätten.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 143<br />

In den USA gab es schon <strong>in</strong> den 20er Jahren, aufbauend auf Veblens Schrift +The Eng<strong>in</strong>eer<br />

172<br />

and the Price System* (1921), e<strong>in</strong>e technokratische Bewegung (vgl. z.B. Kle<strong>in</strong>: The Technocrats).<br />

In Deutschland kamen technokratische Ideen dagegen erst viel später auf. Hier nahm man<br />

auch weniger auf Veblen als auf Ellul bezug. Dieser malt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +La Technique ou<br />

l’enjeu du siècle* (1954) – das zehn Jahre später auch <strong>in</strong> englischer Sprache unter dem Titel<br />

+The Technological Society* erschien – e<strong>in</strong> eher düsteres Bild über die Technisierung von<br />

Gesellschaft und Staat. Die autonom gewordene Technik hat sich den Menschen unterworfen<br />

(vgl. Kap. 2). Sie ist nicht mehr Mittel für menschliche Zwecke, son<strong>der</strong>n dom<strong>in</strong>iert alles Nicht-<br />

Technische: +It destroys, elim<strong>in</strong>ates, or subord<strong>in</strong>ates the natural world* (ebd.; S. 79). Durch<br />

die alles durchdr<strong>in</strong>gende Technisierung wird <strong>der</strong> Staat totalitär, <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Technik zur Beherr-<br />

schung <strong>der</strong> Gesellschaft bemächtigt und das Leben <strong>der</strong> Bürger vollständig absorbiert (vgl.<br />

ebd.; S. 284ff.). Am Ende dieses Prozesses stehen auch bei Ellul so etwas wie Cyborgs: +Mensch-<br />

173<br />

Masch<strong>in</strong>en* (vgl. ebd.; S. 395). Deren Dase<strong>in</strong> ist von Technik normiert, sozial fragmentisiert<br />

und ohne e<strong>in</strong> geistiges Moment (vgl. ebd.; Kap. 5).<br />

Elemente dieser negativen Sicht f<strong>in</strong>den sich auch bei Gehlen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Die Seele<br />

im technischen Zeitalter* (1957) e<strong>in</strong>e anthropologisch begründete Sozialpsychologie <strong>der</strong> <strong>in</strong>du-<br />

striellen Gesellschaft versucht (siehe auch zurück zu S. XXXVIIf.): Das +Mängelwesen* Mensch<br />

schafft sich durch Technik Ersatz für se<strong>in</strong>e unzureichenden körperlichen Organe – soweit<br />

ist Technik e<strong>in</strong>e Notwendigkeit für den Menschen (vgl. S. 7ff.). Aus dieser mittelhaften Technik<br />

hat sich aber e<strong>in</strong>e technische +Superstruktur* entwickelt (vgl. ebd.; S. 11ff.). Diese zw<strong>in</strong>gt<br />

uns zur Anpassung an ihre Vorgaben. Die Folgen s<strong>in</strong>d u.a. Ents<strong>in</strong>nlichung und Erfahrungsverlust<br />

(vgl. ebd. Kap. II u. III). Trotzdem aber gilt für Gehlen, daß das fragmentisierte Subjekt durch<br />

Technik auch neue Ausdrucksformen gew<strong>in</strong>nt (vgl. ebd.; Kap. IV und IX).<br />

Bei Schelsky, <strong>der</strong> an Gehlen und Ellul anschließt, erfolgt e<strong>in</strong>e Umdeutung die politische Sphäre<br />

betreffend, und was <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei Ellul Anlaß zu Kritik ist, weicht bei Schelsky e<strong>in</strong>er<br />

Kapitulation vor den angeblichen Sachzwängen, die sich aus <strong>der</strong> technischen Superstruktur<br />

ergeben. Zwar kann man aus <strong>der</strong> Diktion Schelskys e<strong>in</strong>e deutliche Distanz zur +technisch-wissen-<br />

schaftlichen Zivilisation* heraushören, die unsere Gesellschaft kennzeichnet, doch diese hat<br />

unabän<strong>der</strong>lich e<strong>in</strong> neues Verhältnis des Menschen zu se<strong>in</strong>er Umwelt geschaffen: Die Sach-<br />

gesetzlichkeit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriell-technischen Produktionsweise ersetzt den Naturzwang (vgl. Der<br />

Mensch <strong>in</strong> <strong>der</strong> wissenschaftlichen Zivilisation; S. 449). Auch die <strong>Politik</strong>, das Verhältnis Mensch


144 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

zu Mensch, wird durch diese Sachgesetzlichkeiten bestimmt: +An die Stelle e<strong>in</strong>es politischen<br />

Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit* (ebd.; S. 453), denn +die mo<strong>der</strong>ne Technik bedarf<br />

ke<strong>in</strong>er Legitimität; mit ihr ›herrscht‹ man, weil sie funktioniert* (ebd.; S. 456). 174<br />

Diese Kapitulation vor e<strong>in</strong>er technokratischen Herrschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die +objektive* Erkenntnis<br />

<strong>der</strong> Sachgesetzlichkeiten politische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen ersetzt und Funktionieren Priorität<br />

175<br />

vor dem politischen Diskurs hat, ist nicht ohne Kritik geblieben. Insbeson<strong>der</strong>e von den<br />

Vertretern <strong>der</strong> Frankfurter Schule wurden technokratische Modelle heftig zurückgewiesen,<br />

was aufgrund <strong>der</strong> bereits zu Beg<strong>in</strong>n dieses Abschnitts dargestellten Auffassungen nicht verwun<strong>der</strong>n<br />

muß. Jürgen Habermas z.B. spricht vom +Sche<strong>in</strong> <strong>der</strong> Verselbständigung* von Technik und<br />

Wissenschaft. Tatsächlich stehen nämlich auch h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Objektivität <strong>der</strong> Sachzwänge gesell-<br />

schaftliche Interessen (vgl. z.B. Verwissenschaftlichte <strong>Politik</strong> und öffentliche Me<strong>in</strong>ung; S. 123).<br />

Zum deshalb also offensichtlich ideologischen Charakter des technokratischen Arguments<br />

kommt e<strong>in</strong> praktisches Problem h<strong>in</strong>zu: Gesellschaft läßt sich nicht vollständig rationalisieren.<br />

Wert- und S<strong>in</strong>nfragen können mittels re<strong>in</strong> +technischer* Diskurse nicht befriedigend beantwortet<br />

werden (vgl. ebd.). Wenn trotzdem versucht wird, das sozial-politische Leben alle<strong>in</strong>e durch<br />

technokratisch-wissenschaftliches Management zu regeln, so erzeugt dies zwangsläufig (legiti-<br />

matorische) Schwierigkeiten, die sogar zu e<strong>in</strong>er Legitimationskrise führen können (vgl. auch<br />

Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus; S. 96ff.).<br />

Auch Hans-Mart<strong>in</strong> Schönherr-Mann, <strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er das soziale Band schwächenden +Hegemonie<br />

<strong>der</strong> technischen Hermeneutik* <strong>in</strong> unserer technisierten Gesellschaft ausgeht (vgl. Leviathans<br />

Labyr<strong>in</strong>th; S. 305ff.), konstatiert aus ähnlichen Überlegungen e<strong>in</strong>en +schwankenden Leviathan*<br />

(vgl. ebd.; S. 171f.). Den vom Ansatz her +soziologischsten* Ausdruck dieses Zusammenhangs<br />

hat aber Peter We<strong>in</strong>gart mit e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>stitutionentheoretischen Betrachtung gefunden. Die zentrale<br />

These se<strong>in</strong>es Aufsatzes +Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> Gesellschaft – Politisierung <strong>der</strong> Wissenschaft*<br />

(1983) lautet, daß Verwissenschaftlichung durch die von ihr bewirkte Unterm<strong>in</strong>ierung traditionaler<br />

Gewißheiten und durch ihre (anwendungsbed<strong>in</strong>gte) soziale Dynamik de-<strong>in</strong>stitutionalisierend<br />

wirkt. An <strong>der</strong> damit an Wissenschaft gestellten politischen Aufgabe <strong>der</strong> Re-Strukturierung (ihrer<br />

erzwungen Politisierung) scheitert sie jedoch, solange sie auf Objektivität beharrt.<br />

Die Substitution des wissenschaftlichen Objektivitätsgebots ersche<strong>in</strong>t jedoch schwierig, da<br />

Wissenschaft gerade aus ihrer angenommenen Objektivität, <strong>der</strong> standpunktunabhängigen<br />

+Wahrheit* ihrer Erkenntnisse soziale Legitimität schöpft. Wer Wissenschaftlichkeit für sich


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 145<br />

beanspruchen will, muß deshalb aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen<br />

Öffentlichkeit dem Objektivitätskriterium gerecht werden. Objektivität ist die sozial wie <strong>in</strong>nerhalb<br />

<strong>der</strong> Wissenschaften ver<strong>in</strong>nerlichte Rechtfertigungsgrundlage wissenschaftlicher Aussagen. Selbst<br />

<strong>in</strong> den verme<strong>in</strong>tlich +weicheren* Sozialwissenschaften ist das Objektivitätsparadigma (zum<strong>in</strong>dest<br />

als Zielvorstellung) weith<strong>in</strong> akzeptiert. E<strong>in</strong> berühmtes und vielfach gerühmtes Dokument für<br />

die For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>er objektiven, +wertneutralen* (Sozial-)Wissenschaft ist Max Webers<br />

176<br />

im Jahr 1917 <strong>in</strong> München gehaltene Vorlesung über +Wissenschaft als Beruf*. Hier arbeitet<br />

Weber klar heraus, wie die großen Hoffnungen auf e<strong>in</strong>e umfassende Weltdeutung, die <strong>in</strong><br />

ihren Anfängen noch <strong>in</strong> Wissenschaft gesetzt wurden, zwar enttäuscht wurden, enttäuscht<br />

werden mußten, da <strong>der</strong> +S<strong>in</strong>n des Lebens* sich nun e<strong>in</strong>mal mit wissenschaftlichen Methoden<br />

nicht ergründen läßt. Das Berufsethos des Wissenschaftlers erfor<strong>der</strong>t es aber für Weber gerade<br />

deshalb, daß er sich aller Wertfragen enthält und se<strong>in</strong> Engagement <strong>in</strong> den +re<strong>in</strong>en* Dienst<br />

an <strong>der</strong> Sache stellt, um den (Erkenntnis-)Fortschritt voranzutreiben (vgl. S. 15f.).<br />

Solche im Kern +positivistischen* Auffassungen s<strong>in</strong>d zwar spätestens (allerd<strong>in</strong>gs eher <strong>in</strong> Aus-<br />

e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit dem Kritischen Rationalismus Poppers) im sog. +Positivismusstreit* h<strong>in</strong>terfragt<br />

177<br />

worden. Und auch die dargestellten neueren wissenschaftssoziologischen Ansätze stimmen<br />

ja zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>soweit übere<strong>in</strong>, daß sie sich von <strong>der</strong> Vorstellung wissenschaftlicher Objektivität<br />

verabschiedet haben – und zwar nicht nur, was die Sozialwissenschaften betrifft, son<strong>der</strong>n<br />

gerade auch <strong>in</strong> bezug auf naturwissenschaftliche Aussagen. Denn wie schon Kar<strong>in</strong> Knorr-Cet<strong>in</strong>a<br />

herausgearbeitet hat: Bei <strong>der</strong> +Fabrikation von Erkenntnis* (1984) gibt es ke<strong>in</strong>en grundsätzlichen<br />

Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften, bei<strong>der</strong> Erklärungen beruhen auf Inter-<br />

pretation und Verstehen, nicht auf +objektiver* Messung (vgl. dort Kap. 7). Wie angemerkt,<br />

haben diese wissenschaftstheoretischen bzw. -soziologischen E<strong>in</strong>sichten jedoch nicht bewirkt,<br />

daß es auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Forschungspraxis zu e<strong>in</strong>em Abrücken von (meist quantitativen) methodischen<br />

Konzepten gekommen wäre, die zur +Sicherstellung* von Objektivität entwickelt wurden –<br />

weil Wissenschaft sich schließlich aufgrund <strong>der</strong> sozialen Fiktion ihrer Objektivität durch dar-<br />

gestellte und (be)greifbar gemachte Objektivität öffentlich legitimieren muß, um sich als Subsystem<br />

zu behaupten.<br />

Selbst wenn aber wissenschaftliche Objektivität nur Fiktion ist, so ist sie (wie gemäß dem<br />

Thomas-Theorem formuliert werden kann) auch als Fiktion real wirksam, und Wissenschaft<br />

als gesellschaftliches Teilsystem erhält die Macht, sozial verb<strong>in</strong>dlich +Wahrheit* zu def<strong>in</strong>ieren.


146 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Die Aufrechterhaltung dieser Fiktion ist jedoch logischerweise nur möglich, solange Wissenschaft<br />

unpolitisch bzw. neutral ersche<strong>in</strong>t. Besteht demnach vielleicht tatsächlich e<strong>in</strong>e +Inkommensurabili-<br />

tät von <strong>Politik</strong> und Wissenschaft* (Spaemann: Ars longa vita brevis; S. 19) und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

e<strong>in</strong> Gegensatz zwischen Demokratie als Volksherrschaft und Technokratie als (angeblicher)<br />

Sachherrschaft (vgl. Greiffenhagen: Demokratie und Technokratie; S. 55)?<br />

Vieles sche<strong>in</strong>t für diese These zu sprechen – nicht nur, daß Wissenschaft mit <strong>der</strong> direkten<br />

Übernahme von politischen Funktionen ihre Glaubwürdigkeit und Legitimitätsgrundlage verlieren<br />

würde. Zwar ist richtig, daß, wo die Fiktion objektiver wissenschaftlicher Wahrheit besteht,<br />

die Versuchung naheliegt, politische Entscheidungen auf diese fiktive Wahrheit und nicht<br />

politische Aushandlungsprozesse zu gründen, was – etwas dezenter als die Rede von <strong>der</strong><br />

+Technokratie* – auch mit dem Begriff <strong>der</strong> +Verwissenschaftlichung von <strong>Politik</strong>* bezeichnet<br />

werden kann. Die Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> aber entzieht das Entscheiden dem<br />

demokratisch-politischen Diskurs, während an<strong>der</strong>erseits beständig öffentlich betont wird, wie<br />

zentral Demokratie für e<strong>in</strong> politisches Geme<strong>in</strong>wesen ist, und man <strong>in</strong> regelmäßigen Abständen<br />

Wahlen abhält, die als politisches Verfahren im allgeme<strong>in</strong>en mit Demokratie identifiziert werden.<br />

Die e<strong>in</strong>e Fiktion untergräbt also die an<strong>der</strong>e, und es entsteht das, was Claus Offe, auf Habermas<br />

aufbauend, +Das Politische Dilemma <strong>der</strong> Technokratie* (1970) genannt hat.<br />

Die Formulierung, die Offe gebraucht, um dieses Dilemma auszudrücken, ist hoch <strong>in</strong>teressant,<br />

weil sie die Reflexivitäts-These Becks aus <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* (1986) vorwegzunehmen<br />

sche<strong>in</strong>t:<br />

+Wie erfolgreich technokratische Strukturen bei <strong>der</strong> Erfüllung ihrer Funktion auch se<strong>in</strong> mögen […],<br />

gerade mit ihrer Etablierung schaffen sie neue, nicht weniger problematische Risikolagen […]* (S. 157)<br />

Lei<strong>der</strong> wird <strong>der</strong> <strong>in</strong> dieser Formulierung vorgezeichnete Gedanke nicht konsequent zu Ende<br />

gedacht und weiterverfolgt. Offe geht nicht wirklich über Habermas h<strong>in</strong>aus und spricht +nur*<br />

davon, daß das von ihm als solches identifizierte technokratische System sich selbst gefährdet,<br />

<strong>in</strong>dem es Erwartungen erzeugt, die es (auf Dauer) nicht befriedigen kann. Offe konzentriert<br />

sich bei se<strong>in</strong>er Betrachtung freilich auf Versuche <strong>der</strong> sozialtechnischen Steuerung von Gesell-<br />

schaften mittels regulativer <strong>Politik</strong>. Daß auch und gerade die Anwendung von +produktiver*<br />

Technik (durch ihre latenten Nebenfolgen) Risikolagen und damit den Ansatzpunkt für ihre<br />

eigene Aufhebung sowie die subpolitische Sprengung <strong>der</strong> geltenden +Def<strong>in</strong>itionsverhältnisse* 178


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 147<br />

erzeugt, wird nicht ausreichend thematisiert. Genau dies ist jedoch <strong>der</strong> Kern von Becks These,<br />

auf die <strong>in</strong> diesem Zusammenhang noch e<strong>in</strong>mal zurückgegriffen werden soll.<br />

Technokratie, das ist für Beck die bürokratisch-politische Gefahrenverwaltung, die, gestützt<br />

auf Wissenschaft, das Recht für sich <strong>in</strong> Anspruch nimmt, Risiken sozial verb<strong>in</strong>dlich zu def<strong>in</strong>ieren.<br />

Doch, wie gesagt, an diesen Def<strong>in</strong>itionsverhältnissen wird heftig gerüttelt: +Kulturelle Erfahrungen<br />

und Erwartungen e<strong>in</strong>er gefahrensensibilisierten Gesellschaft kollidieren mit den Rout<strong>in</strong>en <strong>in</strong>du-<br />

striell-bürokratischer Risikokalkulation und -legalisierung* (Gegengifte; S. 140). Warum ist das<br />

so? – Die nach Beck +verselbständigte Revolution <strong>der</strong> Technik* erzeugt, wie oben ausgeführt,<br />

179<br />

soziale Reflexionen (vgl. ebd.; S. 151ff.). Die zum Labor gewordene Welt (vgl. ebd.; S.<br />

200ff. sowie <strong>der</strong>s.: Die Welt als Labor) ist durch Gefährdungen gekennzeichnet, die langsam<br />

<strong>in</strong> das Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Menschen dr<strong>in</strong>gen. Auch nach William Arnay ist deshalb <strong>in</strong> unserem<br />

Zeitalter <strong>der</strong> Bedrohung durch (reflexive) Technologien wie die Kernspaltung e<strong>in</strong>e Delegitimierung<br />

180<br />

des Experten zu beobachten (vgl. Experts <strong>in</strong> the Age of Systems). Und da Wissenschaft<br />

nichts Verb<strong>in</strong>dliches darüber aussagen kann, welche Gefährdungen +vertretbar* s<strong>in</strong>d, Risiken<br />

immer von <strong>der</strong> Bereitschaft abhängen, diese e<strong>in</strong>zugehen, ist je<strong>der</strong> aufgerufen und kompetent<br />

mitzureden. Dieses Mitreden ist das (potentielle) subpolitische +Gegengift* gegen die +organisierte<br />

Unverantwortlichkeit* des status quo (vgl. Gegengifte; S. 144f.). 181<br />

Beck ist damit im Pr<strong>in</strong>zip gar nicht weit von Habermas entfernt, <strong>der</strong> für e<strong>in</strong>e lebensweltliche<br />

Verankerung und e<strong>in</strong>en öffentlichen Diskurs über Wissenschaft und Technik plädiert (siehe<br />

S. 124). James D. Carroll hat 1971 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em +Science*-Artikel das Phänomen e<strong>in</strong>er +Participatory<br />

Technology*, e<strong>in</strong>er partizipatorischen Wissenschaft und Technik, sogar als ganz real und mit<br />

großer Dynamik im Anfang begriffene (für ihn jedoch durchaus ambivalente) Entwicklung<br />

dargestellt:<br />

+In this article I analyze the <strong>in</strong>cipient emergence of participatory technology as a countervail<strong>in</strong>g force<br />

to technological alienation <strong>in</strong> contemporary society […] The term participatory technology refers to<br />

the <strong>in</strong>clusion of people <strong>in</strong>to the social and technical process of develop<strong>in</strong>g, implement<strong>in</strong>g, and regulat<strong>in</strong>g<br />

a technology […]* (S. 495)<br />

Den hervorbrechenden Wunsch nach Teilhabe führt Carroll auf das Bewußtse<strong>in</strong> zurück, daß<br />

jede Anwendung von Technologie Wertentscheidungen impliziert und ausdrückt. An<strong>der</strong>erseits<br />

ist er <strong>der</strong> Auffassung, daß dieser Wunsch auch Probleme aufwirft, da nicht je<strong>der</strong> die gleiche


148 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Kompetenz hat, <strong>in</strong> wissenschaftlich-technischen Fragen zu entscheiden (vgl. ebd.; S. 501f.).<br />

Diesem häufig geäußerten Argument, dem auch Becks oben genannte Punkte entgegengebracht<br />

werden können, stellt sich Leslie Sklair <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz +Science, Technology and Democracy*<br />

(1973). Er plädiert hier dennoch für e<strong>in</strong> +br<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g people <strong>in</strong>to science* (S. 178), da eventuelle<br />

Wissens- und Bildungslücken sich schließlich durch gezielte Information und vermehrte Bildungs-<br />

anstrengungen schließen ließen (vgl. ebd.; S. 180f.). In neuerer Zeit ist es, wie bereits erwähnt<br />

(siehe S. 138), vor allem Alan Irw<strong>in</strong>, <strong>der</strong> (auch unter Bezugnahme auf Beck) e<strong>in</strong>e +Citizen<br />

Science* (1995) for<strong>der</strong>t, d.h. e<strong>in</strong>e +Wissenschaft des Volkes*, die dessen (kritischen) Stimmen<br />

Gehör schenkt und mit e<strong>in</strong>bezieht.<br />

Damit ist e<strong>in</strong> Bogen gespannt, <strong>der</strong> viele unterschiedliche, sich <strong>in</strong> zentralen Punkten wi<strong>der</strong>-<br />

sprechende Positionen umfaßt. Doch e<strong>in</strong>es teilen <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die zuletzt dargestellten Ansätze<br />

me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach trotzdem: Sie gehen alle mehr o<strong>der</strong> weniger davon aus, daß sich Technik<br />

und Wissenschaft (zum<strong>in</strong>dest graduell) verselbständigt und direkt o<strong>der</strong> <strong>in</strong>direkt <strong>der</strong> Sphäre<br />

182<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> bemächtigt haben. O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ausgedrückt: Technik und Wissenschaft s<strong>in</strong>d<br />

(durch die Folgen dieser Autonomie) als solche politisch (geworden) und substituieren darüber<br />

h<strong>in</strong>aus zunehmend <strong>Politik</strong> bzw. politische Entscheidungen. Ersterer Sachverhalt ist e<strong>in</strong> zentraler<br />

Aspekt <strong>der</strong> Politisierung von Wissenschaft und Technik, die sich aber auch <strong>in</strong> <strong>der</strong>en <strong>in</strong>stru-<br />

mentellen Gebrauch für politische Zwecke zeigt (siehe unten). Der zweite Punkt me<strong>in</strong>t die<br />

(technokratische) Verwissenschaftlichung von <strong>Politik</strong>, die entwe<strong>der</strong> begrüßt o<strong>der</strong> abgelehnt<br />

wird.<br />

Ich möchte betonen, daß ich, gerade was diesen zweiten Punkt betrifft, skeptisch b<strong>in</strong>. Von<br />

e<strong>in</strong>er Übernahme <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch (Sozial-)Techniker und Wissenschaftler kann me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />

nach nicht die Rede se<strong>in</strong>. Technik und Wissenschaft haben nur als soziale Subsysteme e<strong>in</strong>e<br />

gewisse, e<strong>in</strong>geschränkte Teilautonomie gewonnen. In dieser H<strong>in</strong>sicht stellen sie zwar wichtige<br />

Umweltfaktoren für <strong>Politik</strong> dar, die darauf zu reagieren hat, wenn beispielsweise neue Methoden<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Reproduktionsmediz<strong>in</strong> Elternschaft nicht mehr e<strong>in</strong>deutig zuordenbar machen o<strong>der</strong><br />

gentechnische Innovationen den Agrarsektor umkrempeln. An<strong>der</strong>erseits es ist wichtig festzuhalten,<br />

daß Wissenschaft und Technikentwicklung eng e<strong>in</strong>gebunden s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en sozio-ökonomischen<br />

und politischen Rahmen.<br />

Forschung z.B. ist ke<strong>in</strong>eswegs +frei*, son<strong>der</strong>n von staatlichen Vorgaben und Gel<strong>der</strong>n und noch<br />

mehr von <strong>der</strong> Wirtschaft abhängig (die wie<strong>der</strong>um auch <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> Rahmenbed<strong>in</strong>gungen setzt).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 149<br />

Der Staat schafft nämlich nicht nur rechtliche Grenzen für Wissenschaft (z.B. im Gentech-<br />

nikgesetz), son<strong>der</strong>n da e<strong>in</strong> (wenn auch schrumpfen<strong>der</strong>) Teil <strong>der</strong> Wissenschaft sich im universitären<br />

Bereich und <strong>in</strong> staatlichen Forschungs<strong>in</strong>stituten abspielt, kann von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> leicht E<strong>in</strong>fluß<br />

genommen werden. Diese leistet sich auch sog. +th<strong>in</strong>k tanks* – Ideenagenturen, die die eigenen<br />

Positionen argumentativ unterfüttern helfen sollen, wo also ke<strong>in</strong>esfalls nur abgeschieden, offen<br />

und kreativ +räsoniert* wird (vgl. hierzu auch Gellner: Ideenagenturen für <strong>Politik</strong> und Öffent-<br />

lichkeit; S. 19ff.). Wirtschaftliche Interessen wie<strong>der</strong>um fließen <strong>in</strong> Forschung nicht nur dadurch<br />

e<strong>in</strong>, daß e<strong>in</strong>e potentielle ökonomische Umsetzbarkeit von den Wissenschaftlern bereits bei<br />

<strong>der</strong> Planung ihrer Forschung antizipiert wird. Die Industrie ist immer mehr zum direkten<br />

Hauptauftraggeber und F<strong>in</strong>anzier von Wissenschaft geworden (siehe Tab. 9), die damit<br />

selbstverständlich ebenfalls über die Forschungsziele (mit)bestimmt.<br />

Tabelle 9: Das Ausgabenprofil für Forschung und Entwicklung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

Jahr Anteil <strong>der</strong> Wirtschaft am ge- Anteile <strong>der</strong> Wirtschaft Anteil <strong>der</strong> Hochschulen<br />

samten F<strong>in</strong>anzierungsaufwand bei <strong>der</strong> Durchführung bei <strong>der</strong> Durchführung<br />

1962 49% 55% 20%<br />

1973 49% 59% 21%<br />

1987 62% 71% 13%<br />

Quelle: Simonis: Technik<strong>in</strong>novation im ökonomischen Konkurrenzsystem; Tab. 1, S. 45 (Orig<strong>in</strong>alquelle: Bundesm<strong>in</strong>isterium<br />

für Forschung und Technik)<br />

E<strong>in</strong>e wichtige Aufgabe <strong>der</strong> +Produktivkraft Wissenschaft* ist es dabei auch, durch weitere<br />

Innovation deflexive Technologien zu entwickeln (als Paradebeispiel kann hier <strong>der</strong> +Katalysator*<br />

dienen), die das (Selbst-)Gefährdungspotential reflexiver Technologien auffangen (siehe auch<br />

nochmals S. 138).<br />

Doch zurück zum Verhältnis Wissenschaft–<strong>Politik</strong>: Sicher, e<strong>in</strong>e gewisse +Entmündigung durch<br />

183<br />

Experten* (Illich) auch des <strong>Politik</strong>ers ist gegeben. Praktisch zeigt sich me<strong>in</strong>er Ansicht nach<br />

jedoch weniger e<strong>in</strong>e Herrschaft <strong>der</strong> Technokraten und Experten, als vielmehr e<strong>in</strong>e Herrschaft<br />

mittels Expertise. Die <strong>Politik</strong> versucht unter Zuhilfenahme des +Legitimitäts-Pools* wissen-<br />

schaftlicher Objektivität, die entfaltete reflexive Dynamik deflexiv zu entschärfen. Wie das<br />

funktioniert, hat schon <strong>in</strong> den 70er Jahren Guy Benveniste ansatzweise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr aufschluß-<br />

reichen Buch dargelegt. Dieser betont zunächst <strong>in</strong> ganz konventioneller Manier, daß <strong>der</strong><br />

beschleunigte soziale Wandel, den wir erleben, e<strong>in</strong> erhöhtes Bedürfnis für Expertenwissen


150 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

184<br />

und Planung schafft, denn mittels ihrer läßt sich das erzeugte Gefühl <strong>der</strong> Unsicherheit redu-<br />

zieren (vgl. The Politics of Expertise; S. 3ff. u. S. 30ff).<br />

Benveniste offenbart im Rahmen dieser (vor allem, was ihren zweiten Teil betrifft) durchaus<br />

plausiblen These jedoch e<strong>in</strong> <strong>in</strong> gewisser Weise naives Verständnis vom Wesen des Experten.<br />

Denn er betont die Unverzichtbarkeit des Expertenwissens als Sachwissen und geht deshalb<br />

auch davon aus, daß die <strong>Politik</strong> bzw. <strong>der</strong> Fürst (wie Benveniste <strong>in</strong> Anlehnung an Machiavelli<br />

185<br />

formuliert) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Abhängigkeit zum +Fachmann* gerät. Ronald Hitzler hat demgegenüber<br />

sehr klar herausgearbeitet, daß es – im Gegensatz zum Spezialisten, von dem erwartet wird,<br />

daß er tatsächlich Wissen hat und es auch anwenden kann (vgl. Wissen und Wesen des Experten;<br />

S. 25f.) – für den (politisch beratenden) Experten genügt, +sozial zu plausibilisieren, daß er<br />

über beson<strong>der</strong>e Kompetenzen verfügt* (ebd.; S. 27). Und beide, <strong>Politik</strong>er wie Experte, s<strong>in</strong>d<br />

aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> angewiesen (vgl. ebd.; S. 19).<br />

Ebenso Benveniste sieht jedoch, daß die Abhängigkeit des Fürsten vom Fachmann nicht total<br />

ist. Der Fachmann dient nicht nur dem Fürsten und macht sich dadurch für ihn unentbehrlich.<br />

Der Fürst bedient sich im Gegenzug des Fachmanns und versucht, diesen zu dom<strong>in</strong>ieren<br />

und zu kontrollieren. (Regierungs-)<strong>Politik</strong>er können beispielsweise Experten und Bürokratie<br />

gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ausspielen und so ihre Position beiden gegenüber stärken (vgl. ebd.; S. 64ff.).<br />

E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Möglichkeit, wie <strong>der</strong> Fürst den Fachmann <strong>in</strong>strumentalisieren kann, ist es (sich<br />

auf ihn berufend), die Notwendigkeit zur Erstellung e<strong>in</strong>es Gutachtens vorzuschieben, um<br />

Zeit zu gew<strong>in</strong>nen und ggf. gleichzeitig Fakten zu schaffen (vgl. ebd., S. 70). Ganz vorne steht<br />

aber natürlich die bereits oben angesprochene legitimatorische Funktion <strong>der</strong> Expertise. Mit<br />

Wolfgang Schnei<strong>der</strong>, <strong>der</strong> sich auf empirischer Ebene mit <strong>der</strong> Verwendung (sozialwissen-<br />

schaftlicher) Forschung <strong>in</strong> Verwaltung und <strong>Politik</strong> beschäftigt hat, läßt sich – entgegen <strong>der</strong><br />

Auffassung von Benveniste – sogar von e<strong>in</strong>er Dom<strong>in</strong>anz des legitimatorischen Gebrauchs von<br />

Wissenschaft sprechen (vgl. Kooperation als strategischer Prozeß; S. 317). Gestützt auf das<br />

Gutachten des Fachmanns kann gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit dargestellt werden, daß e<strong>in</strong>e<br />

bestimmte Entscheidung auf rational-technischen Gründen beruht. Gutachten entlasten also<br />

von persönlich zurechenbarer Entscheidung (vgl. ebd. S. 318). So kann Protest gegenüber<br />

dieser Entscheidung auf das Wissenschaftsystem abgelenkt o<strong>der</strong> sogar schon im Vorfeld getestet<br />

werden, ob e<strong>in</strong>e bestimmte Entscheidung zu Protest führen würde (vgl. auch Benveniste:<br />

The Politics of Expertise; S. 60f.).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 151<br />

Es handelt sich also, wenn man die Richtigkeit von Schnei<strong>der</strong>s gewonnenem E<strong>in</strong>druck unterstellt,<br />

ganz e<strong>in</strong>deutig um e<strong>in</strong>en Prozeß (primär) deflexiver Verwissenschaftlichung, mit dem wir es<br />

zu tun haben. Die politischen Auftraggeber von wissenschaftlichen Gutachten und Unter-<br />

suchungen (Regierungen, Verwaltungen, Parteien etc.) s<strong>in</strong>d sich sehr wohl bewußt, daß sie<br />

mit den Ergebnissen ke<strong>in</strong>e objektive Wahrheit erhalten (obwohl sie natürlich die Fiktion wissen-<br />

schaftlicher Objektivität und Wahrheit gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten ver-<br />

suchen). Sie brauchen dabei noch nicht e<strong>in</strong>mal den Wissenschaftlern die zu produzierenden<br />

Ergebnisse offen diktieren, son<strong>der</strong>n können sich auf die Antizipierung ihrer Wünsche bei<br />

ihren Auftragnehmern verlassen, wie auch die von Schnei<strong>der</strong> aufgezeichnete Äußerung e<strong>in</strong>es<br />

befragten Drogenbeauftragten belegt:<br />

+Also wenn e<strong>in</strong> Margar<strong>in</strong>ekonzern Auftragsmittel vergibt über die […] Schädlichkeit <strong>der</strong> Margar<strong>in</strong>e,<br />

kommt etwas an<strong>der</strong>es heraus als beim Butterkonzern. Und so ist es natürlich auch so, daß wenn <strong>der</strong><br />

Drogenbeauftragte, von dem e<strong>in</strong>e ganz bestimmte Positionen bekannt s<strong>in</strong>d, Aufträge vergibt, da kommen<br />

auch ganz bestimmte Sachen raus, die er sich wünscht.* (Zitiert nach Kooperation als strategischer<br />

Prozeß; S. 316)<br />

Ermöglicht bzw. erleichtert wird dieses System wissenschaftlicher Affirmation dadurch, daß<br />

neben <strong>der</strong> Abhängigkeit von +hauseigenen* Wissenschaftlern e<strong>in</strong>e Konkurrenzsituation unter<br />

den Experten und Forschungs<strong>in</strong>stituten um Aufträge gegeben ist. Will man e<strong>in</strong>e gute E<strong>in</strong>kom-<br />

mensquelle nicht verlieren, so muß man den meist nicht schwer zu erahnenden Wünschen<br />

des Auftraggebers entgegenkommen. Beson<strong>der</strong>s leicht gel<strong>in</strong>gt die +Manipulation* <strong>der</strong> Ergenisse<br />

bei Fragekomplexen, wo noch ke<strong>in</strong> wissenschaftlicher Konsens besteht (vgl. auch Benveniste:<br />

The Politics of Expertise; S. 61). Fällt e<strong>in</strong> Gutachten doch e<strong>in</strong>mal nicht wie erwünscht aus<br />

bzw. enthält es brisante Informationen, die man lieber nicht veröffentlichen will, so kann<br />

<strong>der</strong> Auftraggeber das Werk <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schublade verschw<strong>in</strong>den lassen: +Viele von diesen D<strong>in</strong>gern<br />

landen ja nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit*, bemerkt denn auch <strong>der</strong> von Schnei<strong>der</strong> befragte und<br />

oben bereits zitierte Drogenbeauftragte (Kooperation als strategischer Prozeß; S. 321).<br />

Ulrich Beck und Wolfgang Bonß haben <strong>in</strong> diesem Zusammenhang und <strong>in</strong> Anbetracht des<br />

immer +kreativeren* Umgangs mit den nur mehr als Interpretationsangeboten verstandenen<br />

wissenschaftlichen Resultaten, von e<strong>in</strong>er +Autonomisierung <strong>der</strong> Verwendung gegenüber dem<br />

Angebot* gesprochen (vgl. Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 389 u. S. 397ff.). Als zentrale<br />

Erkenntnis aus <strong>der</strong> Arbeit am DFG-Forschungsprojekt über die +Verwendungszusammenhänge


152 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

186<br />

sozialwissenschaftlicher Ergebnisse* (die me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach parallele Gültigkeit für die<br />

187<br />

Verwendung naturwissenschaftlicher Expertisen besitzt) notieren sie deshalb: +Die Verwendung<br />

<strong>der</strong> Ergebnisse hat nichts mit den Ergebnissen zu tun, die verwendet werden.* (Verwissen-<br />

schaftlichung ohne Aufklärung?; S. 24)<br />

188<br />

Die deflexive Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> stößt jedoch auch an Grenzen. Gerade<br />

mit <strong>der</strong> Popularisierung von Wissenschaft im Zuge ihrer Instrumentalisierung (vgl. auch dies.:<br />

Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 395ff.) erfolgte ihre gleichzeitige +Entzauberung*, wie Bonß<br />

und Hartmann <strong>in</strong> Anspielung an Weber bemerken (vgl. Entzauberte Wissenschaft bzw. dort:<br />

Konstruierte Gesellschaft, rationale Deutung; S. 11ff.). O<strong>der</strong> wie man <strong>in</strong> freier Anlehnung<br />

an Gehlen formulieren könnte: Die Magie <strong>der</strong> Technik (und <strong>der</strong> Wissenschaft) hat sich mit<br />

ihrer Allgegenwärtigkeit verbraucht. H<strong>in</strong>zu kommt noch, daß die schließliche Umsetzung<br />

und Verwendung, ihre praktische Übersetzung, geradezu zwangsläufig (gewissermaßen als<br />

+Übersetzungsverlust*) zu e<strong>in</strong>er Trivialisierung von Wissenschaft führt (vgl. hierzu nochmals<br />

Beck/Bonß: Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 392ff. sowie Tenbruck: Der Fortschritt <strong>der</strong><br />

Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß). 189<br />

Auch Dorothy Nelk<strong>in</strong> hat Grenzen <strong>der</strong> (deflexiven) Verwissenschaftlichung aufgezeigt. Sie<br />

kommt am Ende ihrer Analyse <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen um den Bau e<strong>in</strong>es Kraftwerks sowie<br />

um die Erweiterung e<strong>in</strong>es Flughafens zum Schluß, daß Expertisen nicht immer zur Neutralisierung<br />

von Konflikten beitragen. Denn jede Expertise kann durch Gegenexpertisen angefochten werden.<br />

Das untergräbt zwar auf lange Sicht die +Autorität* wissenschaftlicher Expertisen <strong>in</strong>sgesamt<br />

(die ja auf <strong>der</strong> Fiktion <strong>der</strong> E<strong>in</strong>deutigkeit wissenschaftlicher Wahrheit beruht), erhöht an<strong>der</strong>erseits<br />

das aktuelle Konflikt-Potential, da alle Konfliktparteien Unterstützung durch Wissenschaft<br />

erfahren und sich so <strong>in</strong> ihrer Position bestärkt fühlen (vgl. The Political Impact of Technical<br />

Expertise; S. 202f.). Mit diesen und weiteren Dilemmata, die durch die Dynamik reflexiver<br />

Technologien und die immanenten Grenzen deflexiver Verwissenschaftlichung entstehen,<br />

wird sich Abschnitt 3.3 noch e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> beschäftigen. Zunächst wird jedoch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es<br />

Thema im Vor<strong>der</strong>grund stehen. Denn die deflexive Instrumentalisierung <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

(wie auch des Rechts) durch die <strong>Politik</strong> verweist auf e<strong>in</strong> bisher nur am Rande gestreiftes Thema:<br />

das Verhältnis von <strong>Politik</strong> und Öffentlichkeit.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 153<br />

2.4 ÖFFENTLICHKEIT, (NEUE) MEDIEN UND POLITISCHE INSZENIERUNG (MEDIEN-<br />

UND ÖFFENTLICHKEITSSYSTEM)<br />

Die Ausgangsthese dieses Kapitels lautete, daß wir es aktuell mit e<strong>in</strong>er Dialektik von sozio-<br />

ökonomischem Wandel und politischer Statik zu tun haben: Während sich die +politische<br />

Umwelt* verän<strong>der</strong>t, verharrt die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> weitgehend <strong>in</strong> ihren alten Strukturen.<br />

Diese Behauptung konnte im Bereich <strong>der</strong> Wirtschaft mit dem Beispiel <strong>der</strong> politisch nicht<br />

adäquat gespiegelten ökonomischen Globalisierung, wie ich me<strong>in</strong>e, tatsächlich plausibel gemacht<br />

werden. In den vorangegangenen zwei Abschnitten hat sich im sche<strong>in</strong>baren Wi<strong>der</strong>spruch<br />

dazu h<strong>in</strong>gegen eher <strong>der</strong> E<strong>in</strong>druck ergeben, daß e<strong>in</strong>e Art Ko-Evolution zwischen den Subsystemen<br />

<strong>Politik</strong> und Recht bzw. Wissenschaft/Technik gegeben ist, die dazu führt, daß diese sich<br />

gegenseitig stabilisieren und reflexive Mo<strong>der</strong>nisierungspotentiale abgelenkt werden. In diesem<br />

Zusammenhang habe ich u.a. von deflektorischen (Rechts-)Praxologien und deflexiver Verwissen-<br />

schaftlichung gesprochen. 190<br />

Was nun das Rechtssystem betrifft, so wurde schon erläutert, daß dieses <strong>der</strong>art eng an das<br />

<strong>Politik</strong>system gekoppelt ist, daß e<strong>in</strong> Wandel des e<strong>in</strong>en Subsystems ohne e<strong>in</strong>en korrespondieren-<br />

den, ausgleichenden Wandel des an<strong>der</strong>en kaum möglich ersche<strong>in</strong>t und man nur schwerlich<br />

überhaupt e<strong>in</strong>e Trennl<strong>in</strong>ie zwischen beiden ziehen kann. Diese Überschneidung von Rechts-<br />

und <strong>Politik</strong>system kommt schon im Begriff des +Rechtsstaats* klar zum Ausdruck. Das Wissen-<br />

schaftssystem überlappt dagegen (<strong>in</strong>stitutionell) weit weniger mit dem <strong>Politik</strong>system, und die<br />

von ihm im Verbund mit <strong>der</strong> Industrie <strong>in</strong>itiierten technologischen Umwälzungen stellen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Tat gewichtige +Umweltfaktoren* dar, mit denen sich <strong>Politik</strong> ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen hat.<br />

Die Wissenschaft hält allerd<strong>in</strong>gs gleichzeitig Mittel für die <strong>Politik</strong> bereit, die so erzeugte reflexive<br />

Dynamik abzulenken – nicht nur <strong>in</strong>dem z.B. deflexive Technologien die technikerzeugten<br />

Risiken wie<strong>der</strong>um mit (konventioneller) Technik aufzufangen versuchen, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

durch die wissenschaftliche Legitimierung e<strong>in</strong>er <strong>Politik</strong> des +Weiter so!*.<br />

Die auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite erzeugte Dynamik wird also auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>in</strong> Statik übersetzt.<br />

Das Gel<strong>in</strong>gen dieser Übersetzung ist jedoch <strong>in</strong> hohem Maß von e<strong>in</strong>em Faktor abhängig: <strong>der</strong><br />

sogenannten +öffentlichen Me<strong>in</strong>ung*. Denn nur wenn die Öffentlichkeit an den im Zusammen-<br />

spiel <strong>der</strong> Teilsysteme generierten deflexiven Sche<strong>in</strong> glaubt, ist <strong>der</strong> durch reflexive Dynamiken<br />

öffentlich erzeugte Handlungsdruck von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> genommen. Doch was macht e<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung<br />

zur +öffentlichen* Me<strong>in</strong>ung? Was bedeutet überhaupt <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Alltagssprache eher diffuse


154 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Begriff +Öffentlichkeit*? – Wer zur Klärung dieser Frage e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>schlägiges Lexikon bemüht,<br />

erhält <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel e<strong>in</strong>e Antwort wie die folgende:<br />

+Öffentlichkeit, 1) die Gesamtheit <strong>der</strong> für alle Menschen offenstehenden, zugängl. Bereiche des gesellsch.<br />

Lebens – im Unterschied zum privaten Bereich; <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n spricht man z.B. von ›öffentl. Ver-<br />

anstaltungen‹ o<strong>der</strong> ›öffentl. Plätzen‹. 2) Die Offenheit, Zugänglichkeit, E<strong>in</strong>- und Durchsehbarkeit (Trans-<br />

parenz) von Tatbeständen des öffentl. (d.h. nicht privaten Lebens) für e<strong>in</strong>en grundsätzlich nicht begrenzten<br />

Kreis von Personen (Ö. als Publizität). 3) Der […] Kreis von Personen, die öffentl. Vorgänge und Tat-<br />

bestände wahrnehmen und an ihnen teilnehmen […] (Ö. als Publikum). 4) Der Inbegriff des ÷Staates<br />

und se<strong>in</strong>er ÷Körperschaften, dessen/<strong>der</strong>en (öffentl.) Organe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staat die öffentl. Gewalt (÷Staats-<br />

gewalt) ausüben und öffentl. Aufgaben erfüllen […]* (Beck: Sachwörterbuch <strong>Politik</strong>)<br />

Es wird uns hier also e<strong>in</strong> vierfacher Öffentlichkeitsbegriff präsentiert: Öffentlichkeit als Sphäre<br />

des sozialen Lebens (Raumdimension), Öffentlichkeit als Transparenz und Publizität (Wissens-<br />

dimension), Öffentlichkeit als Beobachten und Agieren im sozialen Raum (Akteurs-/Publikums-<br />

dimension) und Öffentlichkeit als Bereich des Politisch-Staatlichen (politische Dimension).<br />

Dabei wird gleich mehrfach betont, daß Öffentlichkeit als Gegensatz zum Privaten zu denken<br />

ist. Der Begriff <strong>der</strong> Öffentlichkeit setzt deshalb den Begriff des Privaten voraus bzw. besteht<br />

nur <strong>in</strong> Dialektik zu diesem se<strong>in</strong>en Gegenbegriff. Versuchen wir darum zunächst e<strong>in</strong>e negative<br />

Bestimmung des Begriffs +Öffentlichkeit*.<br />

Nun könnte man allerd<strong>in</strong>gs aus gutem Grund zu dem E<strong>in</strong>druck gelangen, daß dadurch nichts<br />

gewonnen sei. Denn wenn man versucht, sich dem Öffentlichen über se<strong>in</strong>en Gegensatz (also<br />

das Private) anzunähern, so kann man schließlich zu e<strong>in</strong>em Begriff des Privaten wie<strong>der</strong>um<br />

nur über e<strong>in</strong>en Begriff des Öffentlichen gelangen: e<strong>in</strong> Teufelskreis. Doch neben <strong>der</strong> (Un-)Wirk-<br />

lichkeit <strong>der</strong> Begriffe existiert unsere Alltagswelt, die wir ohne größere (praktische) Schwierigkeiten<br />

<strong>in</strong> beide Bereiche spalten, und wo uns das Private zum<strong>in</strong>dest näher ersche<strong>in</strong>t und deshalb<br />

möglicherweise leichter zu (er)fassen ist als das Öffentliche.<br />

Wenn wir überlegen, so ist das Private dieser Alltagswelt – wie die Sphäre <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

– zum e<strong>in</strong>en ganz offensichtlich gekennzeichnet durch e<strong>in</strong>en (konkreten) Raum: den Rückzugs-<br />

raum <strong>der</strong> eigenen Wohnung, des eigenen Zimmers o<strong>der</strong> irgend e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en fest umgrenzten<br />

Bereichs des Eigenen (vgl. auch Beck: Eigenes Leben; Kap. II). Es ist also auf e<strong>in</strong>er sehr greifbaren<br />

Ebene <strong>der</strong> für jedes Individuum essentielle Besitz e<strong>in</strong>es zur eigenen Disposition stehenden<br />

Raumes, <strong>der</strong> das Private charakterisiert und umgrenzt. Dieser ist den Blicken und <strong>der</strong> Kontrolle


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 155<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en normalerweise entzogen, und wir alle<strong>in</strong>e bestimmen, wem wir Zugang zu dieser<br />

unserer eigensten (räumlichen) Sphäre gewähren und wem nicht.<br />

Daß jedes Individuum e<strong>in</strong>en Raum für se<strong>in</strong>e Selbstentfaltung benötigt, darauf hat schon Erv<strong>in</strong>g<br />

Goffman h<strong>in</strong>gewiesen. Goffman spricht von +Territorien des Selbst*. Diese Territorien o<strong>der</strong><br />

+Reservate* (wie er sie auch nennt) werden, um den eigenen Besitzanspruch abzusichern,<br />

von den Individuen mittels bestimmter +Markierungen* (z.B. e<strong>in</strong>em Gartenzaun) gekennzeichnet.<br />

Das m<strong>in</strong>imale Territorium des Selbst ist aber offensichtlich <strong>der</strong> eigene Körper (vgl. Das Individuum<br />

im öffentlichen Austausch; S. 67). E<strong>in</strong>e (ungewollte) Körperberührung durch an<strong>der</strong>e (z.B.<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er überfüllten U-Bahn) wird deshalb zumeist als unangenehm empfunden, doch s<strong>in</strong>d<br />

die Toleranzschwellen hierfür je nach Kultur verschieden. Bei Briten beispielsweise gilt es<br />

schon fast als Affront, wenn man den an<strong>der</strong>en im Kontext e<strong>in</strong>es Gesprächs berührt, wogegen<br />

ebendies etwa <strong>in</strong> Italien praktisch zum Gesprächsritual gehört.<br />

Oft erstrecken sich die Territorien bzw. Reservate des Selbst allerd<strong>in</strong>gs noch viel weiter, und<br />

so bezeichnet Goffman mit se<strong>in</strong>em Begriff des +Gesprächsreservats* nicht etwa e<strong>in</strong>en bestimmten<br />

(räumlichen) M<strong>in</strong>destabstand <strong>in</strong> Gesprächssituationen, son<strong>der</strong>n damit ist geme<strong>in</strong>t, daß jedes<br />

Individuum +e<strong>in</strong> gewisses Maß an Kontrolle darüber ausüben [will], wer es wann [worüber]<br />

zu e<strong>in</strong>em Gespräch auffor<strong>der</strong>n kann* (ebd.; S. 69). Dies verweist <strong>in</strong>direkt (<strong>in</strong> Analogie zur<br />

obigen Öffentlichkeitsdef<strong>in</strong>ition) auf e<strong>in</strong>e weitere wichtige Dimension des Privaten. Die +Territo-<br />

rien* des Selbst beziehen sich auch auf bestimmte Wissensvorräte. So wollen wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel<br />

nicht, daß <strong>der</strong> Nachbar von gegenüber uns beim Entkleiden o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Morgentoilette beobachten<br />

kann und wollen eben auch nicht, daß je<strong>der</strong> x-Beliebige über unsere F<strong>in</strong>anzsituation und<br />

unser Liebesleben Bescheid weiß. Das letztgenannte Beispiel zeigt allerd<strong>in</strong>gs, daß das Private<br />

ke<strong>in</strong> vollständig hermetischer, +asozialer* Bereich ist, son<strong>der</strong>n an<strong>der</strong>e Personen e<strong>in</strong>e (wichtige)<br />

Rolle dar<strong>in</strong> spielen. Neben den genannten Liebesbeziehungen existieren <strong>in</strong> Form von Freund-<br />

schaften und Bekanntschaften private Beziehungsgeflechte und Netzwerke, die aber, und<br />

das ist wichtig, (eher) durch Intimität (im Gegensatz zu Formalität) gekennzeichnet s<strong>in</strong>d. 191<br />

Das heißt, wir legen bei privaten Beziehungen z.B. weniger Wert auf +Etikette* (und Etikettie-<br />

rungen) und wollen uns überdies auch selbst ke<strong>in</strong> so hohes Maß an Kontrolle auferlegen,<br />

wie dies bei Kontakten außerhalb unseres Privatbereichs häufig erfor<strong>der</strong>lich ist. Das bedeutet<br />

natürlich nicht, daß nicht auch im privaten Bereich (massive) Erwartungshaltungen an Personen<br />

gerichtet werden. Es besteht allerd<strong>in</strong>gs hier <strong>der</strong> explizite (und lei<strong>der</strong> oft enttäuschte) Wunsch)


156 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

192<br />

so akzeptiert zu werden, +wie man ist*. Wenn wir es vorerst mit dieser Bestimmung des<br />

Privaten genug se<strong>in</strong> lassen, so ergibt sich folgendes:<br />

• Die Privatheit benötigt (wie die Öffentlichkeit) e<strong>in</strong>en konkreten Ort. Dieser ist durch e<strong>in</strong>en<br />

<strong>in</strong>dividuellen Besitztitel geschützt, zum<strong>in</strong>dest aber wird e<strong>in</strong> Besitzanspruch erhoben.<br />

• Das Private ist gleichzeitig <strong>der</strong> (<strong>in</strong>formelle) Bereich des Intimen (und <strong>der</strong> <strong>in</strong>timen Bezie-<br />

hungen), und damit auch e<strong>in</strong> Bereich exklusiven Wissens.<br />

Aus dieser durch die veranschaulichende Annäherung an den Begriff gewonnenen Charakteri-<br />

sierung des Privaten wird nun hoffentlich deutlicher, warum <strong>der</strong> öffentliche Raum (Raumdi-<br />

mension) ke<strong>in</strong>er Zugangsbeschränkung unterliegen darf, wenn er tatsächlich als nicht-privater<br />

Raum gelten soll, und warum zur Öffentlichkeit die Transparenz des öffentlichen, d.h. des<br />

potentiell für e<strong>in</strong>e Vielzahl von Individuen relevanten Wissens gehört (Wissensdimension).<br />

Daß e<strong>in</strong> Wissen <strong>der</strong> Öffentlichkeit bekannt ist (Publikumsdimension), macht es nämlich noch<br />

nicht zum öffentlichen Wissen im eigentlichen S<strong>in</strong>n. Denn, wie die Analyse des Privatbereichs<br />

erbracht hat: Wissen hat dann privaten Charakter, wenn es sich auf die (<strong>in</strong>dividuelle) Intimsphäre<br />

bezieht. Und so muß öffentliches Wissen sich entsprechend auf die (kollektive) öffentliche<br />

Sphäre beziehen. Dieser Umstand verweist auf die politische Dimension <strong>der</strong> Öffentlichkeit.<br />

Öffentliches Wissen muß also, wie <strong>der</strong> öffentliche Raum, jedem zugänglich se<strong>in</strong>. Es unterliegt,<br />

eben weil es für e<strong>in</strong>e Vielzahl von Individuen relevant ist, nicht dem Schutz des Intimen.<br />

Im Gegensatz zur Privatsphäre ist die öffentliche Sphäre also ke<strong>in</strong> Raum <strong>der</strong> Exklusion, son<strong>der</strong>n<br />

e<strong>in</strong> Raum <strong>der</strong> Inklusion und notwendig durch Offenheit charakterisiert.<br />

Auf dieser Grundlage kann nun die aktuelle soziologische Fassung des Öffentlichkeitsbegriffs<br />

(vor allem mit Blick auf das <strong>Politik</strong>system) etwas e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> beleuchtet werden. Folgt man<br />

Habermas und Luhmann (auf die ich mich hier beschränken möchte), so ist Öffentlichkeit<br />

<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong> Kommunikationszusammenhang, und ihre wichtigste (politische) Funktion<br />

liegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hervorbr<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> öffentlichen Me<strong>in</strong>ung. Nach Luhmann ist die öffentliche Me<strong>in</strong>ung<br />

gar e<strong>in</strong>e Art +heiliger Geist* des Systems, die +unsichtbare Hand*, die für das Wun<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Artikulation e<strong>in</strong>es (e<strong>in</strong>heitlichen) politischen Willens trotz <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> komplexen mo<strong>der</strong>nen<br />

193<br />

Gesellschaft unmöglich gewordenen tatsächlichen Übere<strong>in</strong>stimmung sorgt. Denn im Funktions-<br />

bereich <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> gilt die öffentliche Me<strong>in</strong>ung als Wahrheitsäquivalent und erfüllt damit e<strong>in</strong>e<br />

Ersatzfunktion für die konkrete E<strong>in</strong>igung konkreter Individuen (vgl. Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft;


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 157<br />

194<br />

S. 122ff.). Doch wie und wodurch wirkt die unsichtbare Hand <strong>der</strong> Öffentlichkeit? – Luhmann<br />

weist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang darauf h<strong>in</strong>, daß sich öffentliche Me<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

(die er sehr stark auf das Mediensystem bezieht) selbst konstruiert:<br />

+Man kann sie als e<strong>in</strong>en durch die öffentliche Kommunikation selbsterzeugten Sche<strong>in</strong> ansehen, als<br />

e<strong>in</strong>e Art Spiegel, <strong>in</strong> dem die Kommunikation sich selber spiegelt.* (Ebd.; S. 124)<br />

(Medien-)Öffentlichkeit erfüllt damit das Kriterium e<strong>in</strong>er +Beobachtung zweiter Ordnung*. 195<br />

+Auf diese Weise wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er überkomplexen, <strong>in</strong>transparenten Welt e<strong>in</strong>e Zweitwelt <strong>der</strong><br />

Tatsachen geschaffen* (Die Beobachtung <strong>der</strong> Beobachter im politischen System; S. 86). Dar<strong>in</strong><br />

liegt gemäß Luhmann ihre Relevanz und +nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Art Oberherrschaft, die bestimmen<br />

könnte, was geschehen soll* (Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 125). Schließlich bedeutet die<br />

so erfolgte Komplexitätsreduktion nach Luhmann für das +Funktionieren* mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften<br />

und die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von spezifischen Vorteilen: 196<br />

• Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Sphäre agiert, beobachtet nicht nur, was an<strong>der</strong>e beobachten,<br />

son<strong>der</strong>n rechnet auch das eigene Beobachtetwerden e<strong>in</strong>, was nach Luhmann e<strong>in</strong>en diszi-<br />

pl<strong>in</strong>ierenden Effekt zur Folge hat. (Vgl. ebd.; S. 127)<br />

• Zudem werden den Akteuren (vom beobachtenden Publikum) immer latente Interessen<br />

unterstellt, womit Öffentlichkeit e<strong>in</strong>e kritische Tendenz aufweist. (Vgl. ebd.; 128f.)<br />

• Speziell für die politischen Akteure ermöglicht Öffentlichkeit e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schätzung ihrer Chancen<br />

im Wettbewerb um die Wählerstimmen. Dem politischen Publikum wie<strong>der</strong>um +erleichtert<br />

[…] die Beobachtung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> beobachtenden Beobachter die Entscheidung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

politischen Wahl* (ebd.; S. 128).<br />

• E<strong>in</strong>e weitere +Leistung* des Öffentlichkeitssystems ist die Verdeckung des staatlichen Gewalt-<br />

verhältnisses (vgl. ebd.; S. 130) und Überführung von Latenz <strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>genz, womit Luhmann<br />

me<strong>in</strong>t, daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Me<strong>in</strong>ung ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutig fixiertes Weltbild vorherrscht und<br />

deshalb weniger rigide, grundsätzlich wandelbare +moralische Prätentionen* dom<strong>in</strong>ieren<br />

(vgl. ebd.; S..129) – e<strong>in</strong>e These, die allerd<strong>in</strong>gs im Gegensatz zum Verständnis <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Me<strong>in</strong>ung als herrschende Me<strong>in</strong>ung steht, die durch Verbote und Ausschließungen etc.<br />

(vgl. auch Foucault: Die Ordnung des Diskurses; S. 7ff.) e<strong>in</strong>e den öffentlichen Diskurs<br />

begrenzende +Schweigespirale* (Noelle-Neumann) <strong>in</strong> Gang setzt. 197


158 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Auf den ersten Blick sehr ähnliche (und doch grundsätzlich verschiedene) Ansichten wie Luh-<br />

mann äußert Habermas <strong>in</strong> +Faktizität und Geltung* (1992): Er def<strong>in</strong>iert (politische) Öffentlichkeit<br />

hier zum e<strong>in</strong>en als e<strong>in</strong>en +Resonanzboden für Probleme […], die vom politischen System<br />

bearbeitet werden müssen, weil sie an<strong>der</strong>norts nicht gelöst werden können* (S. 435). Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus ist es die Aufgabe <strong>der</strong> Öffentlichkeit, +Probleme nicht nur wahr[zu]nehmen und [zu]<br />

identifizieren, son<strong>der</strong>n [diese] auch überzeugend und e<strong>in</strong>flußreich [zu] thematisieren* (ebd.;<br />

S. 435). Was ihren Charakter, ihre Struktur betrifft, so ist Öffentlichkeit für Habermas we<strong>der</strong><br />

als Institution, noch als Normengefüge o<strong>der</strong> System beschreibbar. Trotzdem gelangt er zunächst<br />

zu e<strong>in</strong>er nahezu analogen Bestimmung wie <strong>der</strong> Systemtheoretiker Luhmann: 198<br />

+Die Öffentlichkeit läßt sich am ehesten als e<strong>in</strong> Netzwerk für die Kommunikation […] von Me<strong>in</strong>ungen<br />

beschreiben; dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, daß sie sich zu<br />

themenspezifisch gebündelten öffentlichen Me<strong>in</strong>ungen verdichten.* (Ebd.; S. 436) 199<br />

Der öffentliche Diskurs bleibt für Habermas dabei freilich (idealerweise) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lebenswelt<br />

verwurzelt. Diese Verknüpfung mit <strong>der</strong> Lebenswelt ist wichtig, da die +zivilgesellschaftliche<br />

Peripherie gegenüber den Zentren <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> den Vorzug größerer Sensibilität für die Wahr-<br />

nehmung und Identifizierung von Problemlagen besitzt* (ebd.; S. 460). Öffentlichkeit greift<br />

jedoch selbstverständlich auch über die Sphäre <strong>der</strong> Lebenswelt h<strong>in</strong>aus, und dies hat notwendig<br />

die Konsequenz e<strong>in</strong>er (hierarchischen) Aufspaltung <strong>in</strong> Akteure und Publikum:<br />

+Sobald sich <strong>der</strong> öffentliche Raum über den Kontext e<strong>in</strong>facher Interaktion ausgedehnt hat, tritt […]<br />

e<strong>in</strong>e Differenzierung <strong>in</strong> […] Redner und Zuhörer, <strong>in</strong> Arena und Galerie […] e<strong>in</strong>.* (Ebd.; S. 440)<br />

Die grundsätzliche +Laienorientierung* <strong>der</strong> Öffentlichkeit bleibt davon jedoch unberührt, d.h.<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Kommunikation werden Expertensprache und Spezialkodes (so gut es<br />

200<br />

geht) vermieden. E<strong>in</strong> Nebeneffekt <strong>der</strong> hierarchischen Struktur <strong>der</strong> Öffentlichkeit kommt<br />

den Interessen des Publikums (angeblich) sogar entgegen: +Die Kommunikationsstrukturen<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit entlasten das Publikum von Entscheidungen, die aufgeschobenen Entschei-<br />

dungen bleiben beschlußfassenden Institutionen vorbehalten* (ebd.; S. 437). In <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

werden die verschiedenen Me<strong>in</strong>ungen nur sortiert und fokussiert. +Was <strong>der</strong>art gebündelte<br />

Me<strong>in</strong>ungen zur öffentlichen Me<strong>in</strong>ung macht*, so Habermas weiter, +ist die Art des Zustande-<br />

kommens und die breite Zustimmung, von <strong>der</strong> sie ›getragen‹ wird* (ebd.; S. 438). Für ihn


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 159<br />

bedeutet dies gemäß se<strong>in</strong>en diskurstheoretischen Vorstellungen natürlich, daß <strong>der</strong> Prozeß<br />

<strong>der</strong> öffentlichen Me<strong>in</strong>ungsbildung den prozeduralen Kriterien e<strong>in</strong>es +herrschaftsfreien Diskurses*<br />

entsprechen sollte (vgl. ebd.; S. 438f.).<br />

In dieser Betrachtung durch Habermas kommt eher als bei Luhmann zum Ausdruck, daß<br />

Öffentlichkeit nicht nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>seitiger Prozeß (des Beobachtens) ist, son<strong>der</strong>n daß – auch<br />

wenn man zwischen Publikum und Akteuren differenzieren kann – <strong>in</strong> gewissem Umfang<br />

201<br />

e<strong>in</strong>e reziproke Struktur gegeben se<strong>in</strong> muß. Luhmanns Perspektive zeichnet sich dagegen<br />

durch e<strong>in</strong>e größere analytische Schärfe aus. Tatsächlich ist es e<strong>in</strong> wesentliches, von Habermas<br />

nicht <strong>in</strong> gleicher Weise herausgearbeitetes Merkmal <strong>der</strong> Öffentlichkeit, daß Individuen, die<br />

<strong>in</strong> den öffentlichen Raum treten, sich (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel) darüber bewußt s<strong>in</strong>d, daß sie beobachtet<br />

werden (können) – d.h. ihr eigenes Beobachtetwerden beobachten. Genau diese Bewußtheit<br />

unterscheidet me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach das öffentliche vom privaten Handeln. Beide, sowohl<br />

Luhmann wie Habermas, zielen jedoch weniger auf Öffentlichkeit als (konkreten) Handlungs-<br />

zusammenhang, son<strong>der</strong>n betrachten, wie schon e<strong>in</strong>gangs festgestellt, Öffentlichkeit primär<br />

als Netz bzw. Medium von (massenmedial vermittelten) Kommunikation(en). 202<br />

Damit aber ist <strong>der</strong> Öffentlichkeitsbegriff von Habermas wie Luhmann e<strong>in</strong>geschränkt. Denn<br />

Öffentlichkeit existiert auch jenseits <strong>der</strong> medialen Kommunikationsnetze, und Kommunikation<br />

ist, wenn man so will, nur e<strong>in</strong>e spezifische Form des Handelns, d.h. e<strong>in</strong> Handeln, das darauf<br />

abzielt, an<strong>der</strong>en etwas mitzuteilen (bzw. Mitteilungen aufzunehmen). Im öffentlichen Bereich,<br />

so könnte man nun allerd<strong>in</strong>gs argumentieren, wird jede Handlung (z.B. auch das bloße Über-<br />

queren e<strong>in</strong>es Platzes) zu e<strong>in</strong>em solchen symbolischen, <strong>in</strong>teraktiven Handeln – <strong>in</strong>dem man<br />

um das Beobachtetwerden weiß und deshalb mit se<strong>in</strong>en Handlungen immer auch etwas<br />

ausdrückt, e<strong>in</strong>e Botschaft an (potentielle) Beobachter richtet. Doch diese Art +kommunikativen<br />

Handelns* ist, wie gesagt, bei Habermas (und auch bei Luhmann) nicht geme<strong>in</strong>t. Vielmehr<br />

dreht sich bei beiden alles um den öffentlichen Diskurs (Habermas) bzw. die (konstruierte)<br />

+Realität <strong>der</strong> Massenmedien* (Luhmann 1996), die die öffentliche Me<strong>in</strong>ung durch e<strong>in</strong>e Beobach-<br />

203<br />

tung zweiter Ordnung generiert bzw. spiegelt. Um demgegenüber den konkreten Handlungs-<br />

aspekt nicht zu vernachlässigen, möchte ich nochmals auf Goffman zurückkommen.<br />

Dieser liefert <strong>in</strong> dem Band +Wir alle spielen Theater* (1959) e<strong>in</strong>e brillante Analyse <strong>der</strong> +Selbst-<br />

darstellung im Alltag*. Zum alltäglichen Rollenspiel gehört erstens, als (öffentliche) +Fassade*,<br />

e<strong>in</strong> standardisiertes Ausdrucksrepertoire, +das <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelne im Verlauf se<strong>in</strong>er Vorstellung bewußt


160 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

o<strong>der</strong> unbewußt anwendet* (S. 23), um sich den an<strong>der</strong>en mitzuteilen, sowie zweitens, daß<br />

<strong>der</strong> Darstellende das Bild, das er beim Publikum erzeugt, zu schönen versucht, <strong>in</strong>dem se<strong>in</strong>e<br />

Darstellung +dem Verständnis und den Erwartungen <strong>der</strong> Gesellschaft, vor <strong>der</strong> sie stattf<strong>in</strong>det,<br />

angepaßt wird* (ebd.; S. 35). Dazu bedarf es allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> Fähigkeit <strong>der</strong> Ausdruckskontrolle,<br />

denn <strong>der</strong> Darsteller im öffentlichen Raum +kann sich […] darauf verlassen, daß se<strong>in</strong> Publikum<br />

204<br />

kle<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise als Zeichen für wichtige Momente <strong>der</strong> Vorstellung nimmt. Diese bequeme<br />

Tatsache hat e<strong>in</strong>e unbequeme Folge. Auf Grund eben dieser Neigung des Publikums […],<br />

kann es […] zufällige beziehungsweise versehentliche Gesten und Ereignisse […] falsch<br />

<strong>in</strong>terpretieren* (ebd.; S. 48). Deshalb bemerkt Goffman weiter:<br />

+Die notwendige Stimmigkeit des Ausdrucks bei unseren Darstellungen weist uns auf e<strong>in</strong>e Diskrepanz<br />

zwischen dem allzu-menschlichen Selbst und dem Bild <strong>der</strong> Persönlichkeit, wie es vor <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

ersche<strong>in</strong>t, h<strong>in</strong>. Als menschliche Wesen s<strong>in</strong>d wir allem Ansche<strong>in</strong> nach Kreaturen mit variablen Impulsen<br />

[…] Als Persönlichkeiten vor e<strong>in</strong>em Publikum dürfen wir uns jedoch nicht unseren Hoch- und Tiefpunkten<br />

h<strong>in</strong>geben.* (Ebd.; S. 52)<br />

Es ist also das Bewußtse<strong>in</strong> für das Beobachtetwerden, das uns auf <strong>der</strong> öffentlichen Bühne<br />

e<strong>in</strong>e relativ strenge Ausdruckskontrolle diktiert. Wir erwarten deshalb <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel ke<strong>in</strong>e so<br />

hohe Aufrichtigkeit beim +Spiel* <strong>der</strong> öffentlichen Rollen wie im privaten Bereich und entwickeln<br />

auch e<strong>in</strong>e größere Rollendistanz – obwohl es nach Goffman für e<strong>in</strong> erfolgreiches Rollenspiel<br />

grundsätzlich erfor<strong>der</strong>lich ist, daß +<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelne selbst an den Ansche<strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirklichkeit glaubt,<br />

205<br />

den er bei se<strong>in</strong>er Umgebung hervorzurufen trachtet* (ebd.; S. 19). Dem kann jedoch entgegnet<br />

werden, daß <strong>der</strong> oben von Goffman selbst angesprochene Sachverhalt des Zwangs zur Aus-<br />

druckskontrolle notwendigerweise e<strong>in</strong>e gewisse Distanzierung bewirkt. Und die Distanz zu<br />

unseren eigenen (öffentlichen) Rollen übertragen wir auch auf die Wahrnehmung des Rollenspiels<br />

an<strong>der</strong>er, denn wir müssen damit rechnen, daß diese, wie wir selbst, uns, dem Publikum,<br />

etwas vorspielen. So schafft das Bewußtse<strong>in</strong> für das eigene Beobachtetwerden – zum<strong>in</strong>dest<br />

potentiell – tatsächlich e<strong>in</strong> kritisches Bewußtse<strong>in</strong> für die Beobachtung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en.<br />

An<strong>der</strong>erseits erfolgt mit <strong>der</strong> Praxis des Rollenspiels auch e<strong>in</strong>e Ver<strong>in</strong>nerlichung <strong>der</strong> Rolle und<br />

des Blicks <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en auf uns. Es kommt also e<strong>in</strong> ähnlicher Mechanismus zum Tragen wie<br />

er von Foucault am Beispiel des Benthamschen Panoptikums beschrieben wurde: Der Gefangene<br />

im gläsernen, panoptischen Gefängnis <strong>in</strong>ternalisiert den Blick des Wächters und damit das<br />

Machtverhältnis, das zwischen beiden herrscht (siehe zurück zu S. XXXVI). Die Sphäre <strong>der</strong>


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 161<br />

Öffentlichkeit kann entsprechend als gigantisches Panoptikum aufgefaßt werden, mittels dessen<br />

die bestehenden sozialen Verhältnisse verfestigt und (praxologisch) ver<strong>in</strong>nerlicht werden. Der<br />

öffentliche Prozeß ist also zwiespältig. Er vermag e<strong>in</strong>erseits, wenn man Habermas folgen will,<br />

zwischen <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> Lebenswelt und <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> politischen Institutionen zu vermitteln.<br />

Zudem kann das Publikum, wie<strong>der</strong>um ganz gemäß Luhmann, wenn es sich se<strong>in</strong> eigenes<br />

Rollenverhalten bewußt macht (d.h.: beobachtet), e<strong>in</strong> kritisches Verständnis für den Schauspiel-<br />

charakter des öffentlichen Handelns erlangen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite wird aber das Individuum<br />

gerade durch das (tägliche) Agieren <strong>in</strong> <strong>der</strong> (alltagsweltlichen) Öffentlichkeit im S<strong>in</strong>n des<br />

gesellschaftlichen Funktionierens umgeformt.<br />

Im Rahmen dieser grundsätzlichen Ambivalenz läßt sich nun allerd<strong>in</strong>gs von e<strong>in</strong>em historischen<br />

+Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit* (Habermas 1962) sprechen. An<strong>der</strong>s als Habermas (siehe<br />

auch S. XVII), möchte ich mich aber nicht auf den Wandel von <strong>der</strong> +repräsentativen* zur<br />

bürgerlichen Öffentlichkeit beschränken, son<strong>der</strong>n unterscheide (idealtypisch) vier Stufen: die<br />

konkrete und +unbelastete* Öffentlichkeit <strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Welt, die politisierte und kodifizierte<br />

Öffentlichkeit <strong>der</strong> Aufklärung, die anonyme, <strong>in</strong>vasive und hierarchisierte Öffentlichkeit <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft und die diffuse, fragmentisierte und <strong>in</strong>teraktive Öffentlichkeit<br />

<strong>der</strong> multimedialen Kommunikations- und Wissensgesellschaft. Diese vier Stufen möchte ich<br />

im folgenden (mit Blick auf das <strong>Politik</strong>system) näher charakterisieren:<br />

• Die konkrete und +unbelastete* Öffentlichkeit <strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Welt: Die Öffentlichkeit<br />

<strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Welt hatte ganz überwiegend den Charakter des Konkreten. Sie war durch<br />

die aktuelle Gegenwart e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en gekennzeichnet, <strong>der</strong> im Normalfall auch ke<strong>in</strong> Frem<strong>der</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e Person aus dem unmittelbaren Lebensumfeld war: Nachbar, Mitbewohner des<br />

206<br />

Dorfes o<strong>der</strong> Stadtviertels, Freund, Fe<strong>in</strong>d, Verwandter, Bekannter. Es handelte sich also<br />

bei den öffentlichen Handlungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel um face-to-face-Interaktionen, die zudem <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em klar def<strong>in</strong>ierten öffentlichen Raum stattfanden. Dieser öffentliche Raum war <strong>der</strong> Platz<br />

um den Dorfbrunnen, das Geme<strong>in</strong>dehaus, das Badehaus o<strong>der</strong> die Kirche etc. Interessant<br />

ist, daß gerade <strong>der</strong> vielleicht wichtigste öffentliche Raum, <strong>der</strong> Marktplatz, dem Umschlag<br />

des Privatbesitzes und se<strong>in</strong>er Mehrung diente. Das Öffentliche hatte also schon sehr früh<br />

207<br />

e<strong>in</strong>e Funktion gerade für die Erfüllung privater Interessen und Bedürfnisse. Es wird sich<br />

noch zeigen, daß dies <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für die mittelalterliche Stadt gilt.


162 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Wenn man Norbert Elias folgen will, so verlangte das öffentliche Auftreten im Mittelalter und<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> frühen Neuzeit noch ke<strong>in</strong>e so hohe Affektkontrolle wie dies <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart <strong>der</strong><br />

Fall ist (siehe auch S. XXXV) – und kann damit <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Vergleich zur stark kodifizierten<br />

bürgerlichen Öffentlichkeit (siehe S. 166) als relativ +unbelastet* charakterisiert werden. 208<br />

Sehr e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich schil<strong>der</strong>t Elias nämlich anhand historischer Quellen, wie zum Beispiel die<br />

mittelalterlichen Tischsitten weit weniger +strikt* und damit restriktiv waren als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart<br />

und man sich ganz ungeniert (auch <strong>in</strong> Wirtshäusern) den Mund am Ärmel abwischte, ausspuckte<br />

o<strong>der</strong> sich die F<strong>in</strong>ger ableckte.<br />

In <strong>der</strong> höfischen Öffentlichkeit, die als Folge <strong>der</strong> Zentralisierung des Staates entstanden war,<br />

setzten sich die uns heute selbstverständlichen, +zivilisierteren* Verhaltensstandards als Mittel<br />

zur Dist<strong>in</strong>ktion gegenüber dem +geme<strong>in</strong>en Volk* zuerst durch, um dann später weitgehend<br />

vom Bürgertum übernommen zu werden – weshalb Elias die Richtung des Zivilisationsprozesses<br />

im wesentlichen +von oben nach unten* verlaufen sieht (vgl. Über den Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation;<br />

Band 2, S. 409–434). Doch auch <strong>in</strong> +gehobenen Kreisen* war es z.B. sche<strong>in</strong>bar noch im<br />

15. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht selbstverständlich, sich bei <strong>der</strong> Tafel nicht <strong>in</strong> die F<strong>in</strong>ger zu schneuzen,<br />

denn e<strong>in</strong>e höfische +Benimmregel* mußte noch extra betonen: +Schneuz nicht die Nase mit<br />

<strong>der</strong> gleichen Hand, mit <strong>der</strong> du das Fleisch hältst.* (S’ensuivent les contenances de la table.<br />

Zitiert nach ebd.; Band 1, S. 195)<br />

Die Situation des geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>genommenen Mahles, auf die sich die zitierte Regel bezieht,<br />

hatte früher zumeist selbst im eigenen Zuhause den Charakter e<strong>in</strong>er +halböffentlichen* Situation<br />

– zum<strong>in</strong>dest, wenn man sich Lewis Mumford anschließt, <strong>der</strong> sich sehr <strong>in</strong>tensiv mit <strong>der</strong> Ent-<br />

wicklung des menschlichen Zusammenlebens speziell <strong>in</strong> den Städten ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat.<br />

Denn im Mittelalter lebten die verschiedensten Personen unter e<strong>in</strong>em Dach, und:<br />

+[…] im Vergleich zum heutigen Leben [war] die Familie <strong>in</strong> <strong>der</strong> mittelalterlichen Stadt e<strong>in</strong>e sehr offene<br />

Gruppe, umfaßte sie doch […] nicht nur Blutsverwandte, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>e Gruppe gewerblicher<br />

Arbeiter und Hausgehilfen, <strong>der</strong>en Stellung <strong>der</strong>jenigen zweitrangiger Familienangehöriger entsprach.<br />

Das galt für alle Klassen, denn die jungen Männer <strong>der</strong> Oberschicht erwarben sich ihre Weltkenntnis,<br />

<strong>in</strong>dem sie e<strong>in</strong>er vornehmen Familie aufwarteten […] Lehrl<strong>in</strong>ge und manchmal auch Gesellen lebten<br />

im Hause ihres Meisters.* (Die Stadt; Band 1, S. 328)<br />

Alle zum Haushalt gehörenden Personen schliefen häufig <strong>in</strong> e<strong>in</strong> und demselben Zimmer (das<br />

zudem vielleicht sogar noch als Wohnraum und Küche dienen mußte). Selbst <strong>in</strong> den Behau-


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 163<br />

sungen <strong>der</strong> Wohlhaben<strong>der</strong>en herrschte relativer Platzmangel. Deshalb stellt Mumford an an<strong>der</strong>er<br />

Stelle fest:<br />

+Will man die mittelalterliche Wohnung zusammenfassend schil<strong>der</strong>n, so kann man sagen, daß sie<br />

sich durch e<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>en Mangel an funktionell unterschiedenen Räumen auszeichnete. In den<br />

Städten wurde dieser Mangel an <strong>in</strong>nerer Differenzierung dadurch aufgewogen, daß häusliche Funktionen<br />

<strong>in</strong> öffentlichen E<strong>in</strong>richtungen vollständiger entwickelt waren. Zwar gab es vielleicht im Haus ke<strong>in</strong>en<br />

Backofen, doch stand e<strong>in</strong> öffentlicher Backofen beim nächsten Bäcker zur Verfügung. Es gab wohl<br />

ke<strong>in</strong> privates Badezimmer, aber dafür e<strong>in</strong> städtisches Badehaus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe […] Liebesleute hatten<br />

vielleicht ke<strong>in</strong> eigenes Schlafzimmer, doch konnten sie dafür vor <strong>der</strong> Stadtmauer ›im Feld zwischen<br />

dem Roggen liegen‹.* (Ebd.; S. 334)<br />

Die öffentlichen E<strong>in</strong>richtungen und Plätze dienten also als +Ersatzräume* für den fehlenden<br />

Privatraum. Doch sobald <strong>der</strong> Wohlstand sich mehrte, wollten die Menschen +für sich schlafen,<br />

für sich essen, für sich religiösen und gesellschaftlichen Pflichten nachkommen, schließlich<br />

auch für sich denken* (ebd.; S. 332). Die Vermengung von privatem Leben und öffentlicher<br />

Sphäre im Mittelalter war hauptsächlich aus <strong>der</strong> Not geboren.<br />

Habermas’ Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Öffentlichkeit ist freilich e<strong>in</strong>e etwas an<strong>der</strong>e. Zwar<br />

weist auch er darauf h<strong>in</strong>, daß es zum allgeme<strong>in</strong>en Gebrauch zur Verfügung stehende E<strong>in</strong>-<br />

richtungen wie öffentliche Brunnen gab. Er konzentriert sich bei se<strong>in</strong>er Betrachtung jedoch<br />

auf den Aspekt <strong>der</strong> Repräsentation, <strong>der</strong> für ihn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit <strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Welt<br />

das charakteristische Moment darstellt. Dabei geht er so weit, folgendes zu behaupten:<br />

+Öffentlichkeit als eigener, von e<strong>in</strong>er privaten Sphäre geschiedener Bereich läßt sich für die feudale<br />

Gesellschaft des hohen Mittelalters soziologisch, nämlich anhand <strong>in</strong>stitutioneller Kriterien, nicht<br />

nachweisen. Gleichwohl hießen die Attribute <strong>der</strong> Herrschaft, etwa das fürstliche Siegel, nicht zufällig<br />

›öffentlich‹ […] – es besteht nämlich e<strong>in</strong>e öffentliche Repräsentation von Herrschaft. Diese repräsentative<br />

Öffentlichkeit konstituiert sich nicht als e<strong>in</strong> sozialer Bereich, als e<strong>in</strong>e Sphäre <strong>der</strong> Öffentlichkeit, vielmehr<br />

ist sie […] so etwas wie e<strong>in</strong> Statusmerkmal […]* (Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit; S. 60f.)<br />

Diese Behauptung wird aber <strong>in</strong> gewisser Weise durch Habermas selbst wi<strong>der</strong>legt. Denn wenn<br />

es e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>stitutionell von <strong>der</strong> Privatsphäre geschiedenen Bereich nicht gegeben hätte, so<br />

hätte dieser sich schwerlich für die Repräsentation von Status und Macht (also als effektives<br />

Herrschafts<strong>in</strong>strument) nutzen lassen. Die Zurschaustellung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit diente <strong>der</strong><br />

Aktualisierung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Hierarchien im (visuellen) +öffentlichen Bewußtse<strong>in</strong>* und


164 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

kannte natürlich auch <strong>in</strong>stitutionalisierte Formen: z.B. mit den öffentlich <strong>in</strong>szenierten höfischen<br />

Selbstdarstellungen, den vom Herrscher gewährten öffentlichen Audienzen o<strong>der</strong> auch <strong>in</strong> Form<br />

<strong>der</strong> +barbarischen* öffentlichen Strafrituale, die Foucault e<strong>in</strong>drücklich beschrieben hat (vgl.<br />

Überwachen und Strafen; S. 9–43).<br />

• Die politisierte und kodifizierte Öffentlichkeit <strong>der</strong> Aufklärung: Habermas legt, wie erwähnt,<br />

dar, daß im 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t, also zur Zeit <strong>der</strong> Aufklärung, e<strong>in</strong> Strukturwandel <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit stattfand: Aus <strong>der</strong> von ihm als repräsentativ charakterisierten Öffentlichkeit<br />

des Feudalismus entwickelte sich (mit dem kapitalistischen Zentralstaat) die bürgerliche Öffent-<br />

lichkeit, die durch e<strong>in</strong> vergleichsweise hohes Maß an Politisierung gekennzeichnet war. Dabei<br />

ist es für Habermas offensichtlich, +daß dieser […] Öffentlichkeitstypus den geschichtlichen<br />

H<strong>in</strong>tergrund für die mo<strong>der</strong>nen [rationalen] Formen <strong>der</strong> Kommunikation bildet* (Strukturwandel<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit; S. 17). Denn beim +öffentlichen Räsonnement* des Bürgers galten +die<br />

Maßstäbe <strong>der</strong> ›Vernunft‹* (ebd.; S. 87). E<strong>in</strong>geübt wurde die (Gesprächs-)Form des rationalen<br />

Diskurses <strong>in</strong> <strong>der</strong> +publikumsbezogenen Subjektivität <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>familialen Intimsphäre* (ebd.),<br />

<strong>in</strong> den auf (Selbst-)Darstellung ausgerichteten Salons <strong>der</strong> (groß)bürgerlichen (Ober-)Schicht.<br />

Diese Transformation und Verdoppelung des Privaten wurde ermöglicht durch die rasche<br />

Entwicklung des Kapitalismus <strong>in</strong> jener ökonomischen Umbruchsphase, wodurch – allerd<strong>in</strong>gs<br />

nur für e<strong>in</strong>e vergleichsweise kle<strong>in</strong>e Gruppe – e<strong>in</strong>e Abgrenzung von Privatheit und Reproduktion<br />

ganz nach aristokratischem Vorbild möglich wurde (vgl. ebd.; S. 88ff.). Zentral ist für Habermas<br />

jedoch, wie gesagt, die mit <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Privatsphäre e<strong>in</strong>hergehende Politisierung<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit bzw. aus umgekehrter Perspektive: die +Veröffentlichung* <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, die<br />

auf <strong>der</strong>en Charakter zurückwirkt und die Bed<strong>in</strong>gungen von Herrschaft transformiert. Denn:<br />

+Öffentliche Me<strong>in</strong>ung will, ihrer eigenen Intention nach, we<strong>der</strong> Gewaltenschranke noch selber Gewalt,<br />

noch gar Quelle aller Gewalt se<strong>in</strong>. In ihrem Medium soll sich vielmehr <strong>der</strong> Charakter <strong>der</strong> vollziehenden<br />

Gewalt, Herrschaft selbst verän<strong>der</strong>n.* (Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit; S. 152f.)<br />

Allerd<strong>in</strong>gs sieht natürlich auch Habermas, daß e<strong>in</strong>e enge Verschränkung zwischen bürgerlicher<br />

Öffentlichkeit und bürgerlichem Staat gegeben war (als dieser verwirklicht worden war). Auf<br />

<strong>der</strong> Grundlage jener Verschränkung konnte <strong>der</strong> Versuch unternommen werden, die staatliche<br />

Gewalt durch öffentliche Zustimmung zu legitimieren. Das Parlament ist das Symbol für diese


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 165<br />

Rückb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> an die Stimme <strong>der</strong> Öffentlichkeit, die zuvor schon <strong>in</strong> den neu gegrün-<br />

deten (bürgerlichen) Publikationsorganen ihr +Medium* fand, verbreitet und geformt wurde. 209<br />

Deshalb spricht Habermas auch von e<strong>in</strong>em +<strong>in</strong>stitutionellen Zusammenhang von Publikum,<br />

210<br />

Presse, Parteien und Parlament* (ebd.; S. 142). Dieser +öffentliche Komplex* diente ganz<br />

e<strong>in</strong>deutig <strong>der</strong> Durchsetzung <strong>der</strong> wirtschaftlichen und politischen Interessen des Bürgertums,<br />

das mit Exklusions-Instrumenten wie dem Zensuswahlrecht e<strong>in</strong>e Öffnung des politischen Raumes<br />

nach unten (vor allem h<strong>in</strong> zur Arbeiterschaft) zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n versuchte. Indirekter (doch umso<br />

effektiver) wirkten die bestehenden Bildungsschranken. Trotz dieser E<strong>in</strong>schränkungen enthält<br />

das Modell <strong>der</strong> bürgerlichen Öffentlichkeit für Habermas aber e<strong>in</strong> +utopisches* Moment:<br />

Denn obwohl faktisch auf den Kreis des Bürgertums selbst begrenzt, war bürgerliche Öffent-<br />

lichkeit (zum<strong>in</strong>dest dem Ideal nach) durch allgeme<strong>in</strong>e Zugänglichkeit gekennzeichnet, und<br />

obwohl Ausfluß des bürgerlichen Klassen<strong>in</strong>teresses, blieb öffentliche Me<strong>in</strong>ung (zum<strong>in</strong>dest<br />

gemäß ihrer Rhetorik) dem allgeme<strong>in</strong>en Wohl verpflichtet. (Vgl. ebd.; S. 148–160)<br />

Man könnte Habermas aufgrund dieser Sichtweise durchaus vorwerfen, daß er den Typus<br />

<strong>der</strong> bürgerlichen Öffentlichkeit idealisiert. Dies trifft zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad auch zu. Doch<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Vorwort zur Neuauflage von 1990 distanziert er sich explizit von<br />

211<br />

e<strong>in</strong>er Überhöhung des Modells <strong>der</strong> bürgerlichen Öffentlichkeit. An<strong>der</strong>s Richard Sennett:<br />

Se<strong>in</strong> Lamento über den angeblichen aktuellen Verfall des öffentlichen Lebens gründet auf<br />

e<strong>in</strong>er ungebrochenen Glorifizierung <strong>der</strong> bürgerlichen öffentlichen Kultur des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

212<br />

Er begreift die großen Metropolen des +Ancien Régime* (auf die er sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Analyse<br />

konzentriert) als kosmopolitische Zentren des öffentlichen Lebens, was auch die stadtplanerischen<br />

Bemühungen <strong>der</strong> damaligen Zeit für ihn spiegeln:<br />

+Es war die Ära, <strong>in</strong> <strong>der</strong> große städtische Parks angelegt wurden und <strong>in</strong> <strong>der</strong> man erste Versuche unternahm,<br />

die Straßen für die speziellen Bedürfnisse des […] Fußgängers herzurichten. Es war die Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kaffee-<br />

häuser, später dann Cafés und <strong>Post</strong>gasthäuser zu gesellschaftlichen Mittelpunkten wurden.* (Verfall und<br />

Ende des öffentlichen Lebens; S. 31)<br />

In den erwähnten Kaffeehäusern blühte das Gespräch, sie waren Informationsbörsen und:<br />

+Um den Fluß <strong>der</strong> Informationen so offen wie möglich zu halten, wurden alle Rangunterschiede<br />

zeitweilig außer Kraft gesetzt* (ebd.; S. 102). Diese angeblich vorzuf<strong>in</strong>dende egalitäre Gesprächs-<br />

kultur war auch nach Sennett möglich geworden, weil sich die öffentliche Sphäre vom Privaten


166 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

immer mehr abgeson<strong>der</strong>t hatte und so +die Spannungen zwischen den Ansprüchen <strong>der</strong> Zivili-<br />

sation und den Rechten <strong>der</strong> Natur* (ebd.; S. 32) durch e<strong>in</strong>e räumliche Trennung gelöst werden<br />

konnten. Aber noch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Aspekt wird von ihm hervorgehoben: Aufgrund des enormen<br />

Wachstums verloren die städtischen Milieus jene Konkretheit, die ich für die Öffentlichkeit<br />

<strong>der</strong> Vormo<strong>der</strong>ne herausgestellt habe. Man mußte also Regeln für e<strong>in</strong>e hochgradig anonyme<br />

Interaktion f<strong>in</strong>den. Es entwickelte sich – und darauf hat, wie dargestellt, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch<br />

Elias h<strong>in</strong>gewiesen – e<strong>in</strong> stark kodifiziertes System von Umgangs- und Höflichkeitsregeln heraus.<br />

Zur Identifizierung <strong>der</strong> sozialen Position griff man dabei auf Merkmale wie Kleidung, Habitus<br />

und sprachlichen Ausdruck zurück (vgl. ebd.; S. 84–108).<br />

Die Bedeutung solcher äußerer Symbole war groß (weshalb man mit gutem Recht auch und<br />

gerade die bürgerliche Öffentlichkeit als +repräsentativ* bezeichnen könnte). Die E<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gung<br />

persönlicher Gefühle spielte <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Interaktion im +Ancien Régime* dagegen nach<br />

213<br />

Sennett kaum e<strong>in</strong>e Rolle. Diese +Anti-Intrazeption* wird für ihn sogar zum Maßstab <strong>in</strong>takter<br />

214<br />

Öffentlichkeit. Das öffentliche Individuum als gewissermaßen Ich- und emotionslose Persön-<br />

lichkeit, die beständig e<strong>in</strong>e Maske vor dem Selbst trägt, ist aber wohl kaum e<strong>in</strong>e Idealvorstellung.<br />

Und obwohl z.B. Christopher Lasch mit se<strong>in</strong>er Kritik an <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Narzißmus-Kultur<br />

im Pr<strong>in</strong>zip <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung weist, bemerkt er deshalb kritisch:<br />

+Die Tendenz e<strong>in</strong>er solchen Analyse geht dah<strong>in</strong>, den bürgerlichen Liberalismus als die e<strong>in</strong>zige kultivierte<br />

Form politischen Lebens […] zu überhöhen […] In se<strong>in</strong>em Eifer, zwischen öffentlicher und privater Sphäre<br />

wie<strong>der</strong> zu trennen, übersieht er [Sennett] außerdem, <strong>in</strong> welch vielfältiger Weise sie immer und überall<br />

verflochten s<strong>in</strong>d. Die Sozialisierung <strong>der</strong> Jugend reproduziert politische Herrschaft auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong><br />

persönlichen Erfahrung. In unseren Tagen ist dieser E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die Privatsphäre so umfassend geworden,<br />

daß es e<strong>in</strong> privates Leben kaum mehr gibt. Weil Sennett Ursache und Wirkung verwechselt, legt er die<br />

zeitgenössische Malaise dem E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen des Persönlichen und Privaten <strong>in</strong> den öffentlichen Bereich zur<br />

Last […] In Wirklichkeit aber rührt die Betonung des Privaten ke<strong>in</strong>eswegs aus e<strong>in</strong>er starken Geltung <strong>der</strong><br />

Persönlichkeit, son<strong>der</strong>n aus ihrem Zusammenbruch.* (Das Zeitalter des Narzißmus; S. 50f.)<br />

Lassen wir die Richtigkeit von Laschs letztgenannter These e<strong>in</strong>mal dah<strong>in</strong>gestellt – se<strong>in</strong>e Kritik<br />

trifft im Kern zu. Und doch möchte ich, wie Sennett (und Habermas), tatsächlich für die<br />

Phase <strong>der</strong> Emanzipation des Bürgertums von e<strong>in</strong>er vergleichsweise stark politisierten Öffentlichkeit<br />

sprechen. Denn die von ihm dom<strong>in</strong>ierte Öffentlichkeit war das Medium zur Durchsetzung<br />

se<strong>in</strong>er Herrschaftansprüche und se<strong>in</strong>er ökonomischen Interessen.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 167<br />

• Die anonyme, <strong>in</strong>vasive und hierarchisierte Öffentlichkeit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massen-<br />

gesellschaft: Folgt man – trotz aller Kritik – Sennett, so erfuhr die von ihm so überschwenglich<br />

gefeierte bürgerliche Öffentlichkeit <strong>der</strong> Aufklärung bereits im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e Erschütterung.<br />

Dieses Jahrhun<strong>der</strong>t war von e<strong>in</strong>em (neuerlichen) enormen Bevölkerungswachstum und <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>dustriellen Revolution geprägt. Das brachte zum e<strong>in</strong>en Platzprobleme mit sich. Zum an<strong>der</strong>en<br />

verän<strong>der</strong>ten sich die ökonomischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen: Die kapitalistischen Krisenzyklen<br />

machten das Leben unberechenbar. Der ökonomischen Verunsicherung und <strong>der</strong> drohenden<br />

+Vermassung* versuchten die Menschen durch die Flucht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Persönlichkeitskult zu<br />

entgehen. Es kam deshalb nach Sennnett im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zu e<strong>in</strong>er +Personalisierung aller<br />

öffentlichen Ersche<strong>in</strong>ungsbil<strong>der</strong>* und e<strong>in</strong>em +Vordr<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> Persönlichkeit <strong>in</strong> die Gesellschaft*,<br />

was für ihn sogar dazu führte, daß das Individuum über die Klasse triumphierte (vgl. ebd.;<br />

S. 255–269). Doch noch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Effekt zeigte sich:<br />

+Mit dem Vordr<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> Persönlichkeit <strong>in</strong> die öffentliche Sphäre spaltetet sich die Identität des ›Öffent-<br />

lichkeitsmenschen‹ […] <strong>in</strong> zwei Teile. E<strong>in</strong>ige wenige drückten sich weiterh<strong>in</strong> aktiv <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

aus, hielten die Vorstellung des Ancien Régime vom Menschen als Schauspieler und Handelndem, dem<br />

actor, aufrecht […] Daneben bildete sich e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Identität aus: die des Zuschauers.* (Ebd.; S. 225)<br />

Damit waren gemäß Sennett die Voraussetzungen für die heutigen Probleme geschaffen:<br />

Die Spaltung <strong>in</strong> Akteure und Publikum war vollzogen, und es kam zur Intimisierung des öffent-<br />

215<br />

lichen Lebens. Heute s<strong>in</strong>d endgültig +die Foren des öffentlichen Lebens […] im Verfall<br />

begriffen* (ebd.; S. 16), <strong>der</strong> öffentliche Raum ist nur mehr e<strong>in</strong>e funktionale Durchgangszone<br />

216<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zerstückelten Stadtlandschaft und wir stehen vor dem +Ende <strong>der</strong> öffentlichen Kultur*.<br />

E<strong>in</strong>e verstärkende Rolle spielen dabei die Massenmedien:<br />

+Die elektronische Kommunikation ist e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Faktoren, die das öffentliche Leben zum Erliegen gebracht<br />

haben. Die Medien haben den Vorrat an Wissen, das die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen von-<br />

e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> haben, erheblich erweitert, zugleich jedoch haben sie den wirklichen Kontakt zwischen den<br />

Gruppen überflüssig gemacht.* (Ebd.; S. 319)<br />

Im Text ist deshalb auch vom +elektronisch befestigten Schweigen* die Rede (ebd.; S. 319).<br />

Zudem schufen die elektronischen Medien e<strong>in</strong> +Star-System*, das den Zugang zum Publikum<br />

auf extrem wenige Akteure beschränkt, damit die Grenze zwischen Publikum und Akteuren


168 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

zementiert und für die <strong>Politik</strong> die problematische Folge aufwirft, daß weniger Parteiprogramme<br />

o<strong>der</strong> die sachlichen Kompetenzen e<strong>in</strong>es <strong>Politik</strong>ers zählen, als vielmehr alle<strong>in</strong>e se<strong>in</strong> Charisma<br />

(vgl. ebd.; S. 330). Sennetts Sicht <strong>der</strong> (politischen) Öffentlichkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesell-<br />

schaft ist also pessimistisch. Ich möchte mich diesem Pessimismus nicht une<strong>in</strong>geschränkt<br />

anschließen. Allerd<strong>in</strong>gs – und dies ist <strong>der</strong> Grund, warum ich Sennett so viel Raum zugestanden<br />

habe – ersche<strong>in</strong>en mir e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er Thesen durchaus überzeugend:<br />

• Die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Strukturen <strong>der</strong> Öffentlichkeit erfolgte <strong>in</strong> Wechselwirkung mit <strong>der</strong><br />

entfalteten kapitalistischen Dynamik.<br />

• Die Öffentlichkeit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft war/ist stark hierarchisiert und gespalten<br />

<strong>in</strong> Akteure und Publikum (was auch mit <strong>der</strong> Etablierung elektronischer Medien zusammen-<br />

hängt).<br />

• Ferner ist sie (trotz Intimisierung) durch e<strong>in</strong> hohes Maß an Anonymität gekennzeichnet<br />

(was Sennett freilich bereits für die bürgerliche Öffentlichkeit herausstellt).<br />

• Die strikte Trennung von öffentlicher Sphäre und privater Sphäre beg<strong>in</strong>nt sich tendenziell<br />

aufzulösen. 217<br />

Natürlich f<strong>in</strong>den sich die meisten dieser Punkte auch <strong>in</strong> Habermas’ Betrachtung. So verweist<br />

dieser etwa ganz analog auf die im Zuge <strong>der</strong> Entwicklung erfolgte +Verschränkung <strong>der</strong> öffent-<br />

lichen Sphäre mit dem privaten Bereich* (Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit; S. 225). Allerd<strong>in</strong>gs<br />

bezeichnet er damit e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Sachverhalt als Sennett: Nach Habermas kommt es nämlich,<br />

wie erwähnt, im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zu e<strong>in</strong>er +Gleichschaltung* <strong>der</strong> Interessen des Bürgertums<br />

und <strong>der</strong> öffentlichen Gewalt, d.h. <strong>der</strong> Staat wird mit dem Aufstieg des Bürgertums für dessen<br />

218<br />

privat(wirtschaftlich)e Belange <strong>in</strong>strumentalisiert. Durch diese Verschränkung zwischen Staat<br />

und privater Wirtschaftssphäre ist es nicht mehr möglich, öffentliche Institutionen klar von<br />

privaten abzugrenzen. (Vgl. ebd.; S. 225–238)<br />

Die Öffentlichkeit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft ist also bei Habermas an<strong>der</strong>s als bei<br />

Sennett nicht so sehr von Intimisierung bedroht, son<strong>der</strong>n vielmehr gerade dadurch, daß diese<br />

nicht mehr die lebensweltlichen Belange gegenüber dem (Herrschafts-)System artikuliert. Der<br />

Bereich des Privaten/Intimen, <strong>der</strong> Lebenswelt, wird zudem immer weiter an den Rand abgedrängt<br />

und s<strong>in</strong>nentleert. Das Erwerbsleben beispielsweise, vormals Teil <strong>der</strong> Privatsphäre, wird zur<br />

selbständigen, staatlich geregelten Berufssphäre, und die Risikoabsicherungsfunktionen <strong>der</strong>


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 169<br />

Familie werden zunehmend von öffentlichen Institutionen übernommen. Habermas spricht<br />

deshalb von e<strong>in</strong>er +zusammengeschrumpften Intimsphäre* (ebd.; S. 243), die funktionsentlastet<br />

und damit autoritätsgeschwächt ist. Auch er konstatiert jedoch neben dem Zusammenschrumpfen<br />

<strong>der</strong> Intimsphäre e<strong>in</strong>en Verfall <strong>der</strong> politischen Öffentlichkeit. Dieser geht e<strong>in</strong>her mit e<strong>in</strong>em<br />

von den Massenmedien geför<strong>der</strong>ten Konsumismus:<br />

+Die Massenpresse beruht auf <strong>der</strong> kommerziellen Umfunktionierung jener Teilnahme breiter Schichten<br />

an <strong>der</strong> Öffentlichkeit, die vorwiegend Massen überhaupt Zugang zur Öffentlichkeit zu [!] verschaffen.<br />

Ihren politischen Charakter büßt <strong>in</strong>dessen diese erweiterte Öffentlichkeit <strong>in</strong> dem Maße e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> dem die<br />

Mittel <strong>der</strong> ›psychologischen Erleichterung‹ zum Selbstzweck e<strong>in</strong>er kommerziell fixierten Verbraucherhaltung<br />

werden konnten.* (Ebd.; S. 258)<br />

Diese massenmedial erzeugte Öffentlichkeit +ist Öffentlichkeit nur noch dem Sche<strong>in</strong>e nach*<br />

(ebd.; S. 261) und +übernimmt Funktionen <strong>der</strong> Werbung* (ebd.; S. 267). Neben <strong>der</strong> Aufgabe<br />

ökonomischer Bee<strong>in</strong>flussung dient sie <strong>der</strong> politischen Manipulation <strong>der</strong> Massen. Der politische<br />

Funktionswandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit von e<strong>in</strong>em Medium <strong>der</strong> Herrschaftskritik zur Institution<br />

<strong>der</strong> Herrschaftslegitimierung läßt sich auch am Parlament zeigen. Dieses hat sich zunehmend<br />

von e<strong>in</strong>er disputierenden zu e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> demonstrativen Körperschaft entwickelt (vgl. ebd.;<br />

S. 300–307). O<strong>der</strong> wie Johannes Agnoli es ausgedrückt hat:<br />

+Diskutiert wird im Bundestag mit <strong>der</strong> gleichen Häufigkeit wie im englischen Unterhaus, wenn auch <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em schlechteren Stil […] und mit schwächerer Presseresonanz. Hier wie dort geht [aber] die Diskussion<br />

über Sekundärprobleme, Personalmißstände und vere<strong>in</strong>zelte Mißbräuche. In beiden Häusern vollzieht<br />

sich <strong>der</strong> eigentliche Entscheidungsprozeß nicht öffentlich […] Das Parlament fungiert […] also als Instrument<br />

zur Veröffentlichung von Herrschaft […]* (Die Transformation <strong>der</strong> Demokratie; S. 69 u. S. 75)<br />

Ich möchte mich hier nun nicht weiter mit den Thesen von Sennett und Habermas ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>-<br />

setzen, obwohl e<strong>in</strong>iges an Erläuterungen und Kritik noch anzumerken wäre. Vielmehr beab-<br />

sichtige ich, mich noch e<strong>in</strong>mal etwas e<strong>in</strong>hegen<strong>der</strong> mit dem erfolgten Strukturwandel des Öffent-<br />

lichkeitssystems zu beschäftigen, um so die drei für mich zentralen Charakteristika <strong>der</strong> +mediati-<br />

sierten* Öffentlichkeit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft näher herauszuarbeiten: nämlich<br />

ihre Anonymität, ihre Invasivität und vor allem ihren hierarchischen Charakter. Dabei wird<br />

auch zu zeigen se<strong>in</strong>, welche konkreten Auswirkungen dieser Strukturwandel auf die <strong>Politik</strong><br />

hatte bzw. <strong>in</strong>wieweit er vom politischen System gespiegelt wurde.


170 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Peter Spangenberg hat sich mit den +Komplexitätsebenen mo<strong>der</strong>ner Öffentlichkeit* (1996)<br />

befaßt und dabei herausgestellt, daß mo<strong>der</strong>ne Öffentlichkeit immer Medien-Öffentlichkeit<br />

ist, d.h. mit dem ausgelösten sozialen Differenzierungsprozeß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge gesellschaftlicher<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung erfolgte zwangsläufig e<strong>in</strong>e radikale Umstellung <strong>der</strong> Öffentlichkeit von Handlung<br />

auf (mediatisierte) Kommunikation (vgl. S. 270). Als direkte Auswirkung dieses Strukturwandels<br />

läßt sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach von e<strong>in</strong>er Anonymisierung <strong>der</strong> Öffentlichkeit sprechen: Öffent-<br />

lichkeit verliert mit ihrer Mediatisierung an Konkretheit, wird delokalisiert und entpersonalisiert. 219<br />

Dem steht ke<strong>in</strong>esfalls die Tatsache <strong>der</strong> Tendenz zu e<strong>in</strong>er Personalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> entgegen<br />

(siehe auch unten), sowie daß die Gesichter, die uns auf den Titelseiten <strong>der</strong> Illustrierten o<strong>der</strong><br />

im Fernsehen präsentiert werden, mit <strong>der</strong> Zeit für uns e<strong>in</strong>e merkwürdige Vertrautheit erlangen<br />

und viele sogar e<strong>in</strong>e +persönliche* Beziehung +ihrem* Star aufbauen, <strong>in</strong>dem sie ihn zum<br />

Gegenstand von Idealisierungen und Wunschträumen machen. Denn diese Beziehung ist<br />

e<strong>in</strong>seitig und funktioniert nur aus <strong>der</strong> Entfernung. Der Star (als öffentlicher Akteur) ist bekannt<br />

und bleibt (als Mensch) doch e<strong>in</strong> unbekanntes, unerreichbares Wesen – nur das macht ihn<br />

zu e<strong>in</strong>em echten Star. Es erfolgt also ke<strong>in</strong>e Interaktion. Se<strong>in</strong> unverwechselbares und trotzdem<br />

austauschbares Gesicht dr<strong>in</strong>gt (vermittelt über die +Kanäle* <strong>der</strong> Medien) <strong>in</strong> unsere privaten<br />

Räume e<strong>in</strong> und füllt dort e<strong>in</strong>e kommunikative Leerstelle – was gleichzeitig (siehe auch unten)<br />

auf den <strong>in</strong>vasiven Charakter <strong>der</strong> Massenmedien verweist (d.h. die technisch forcierte Wie<strong>der</strong>-<br />

vermischung von öffentlichem und privatem Raum).<br />

Die hierarchische Differenzierung <strong>in</strong> Akteure und Publikum bewirkt aber nicht nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige,<br />

son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e beidseitige Anonymisierung: Nicht alle<strong>in</strong>e die öffentlichen Akteure s<strong>in</strong>d bekannte<br />

Unbekannte für ihr Publikum, auch das Publikum bleibt weitgehend e<strong>in</strong>e unbekannte Größe<br />

für den Redakteur des Nachrichtenmagaz<strong>in</strong>s o<strong>der</strong> den Talk-Master. Deshalb muß dem Publikum<br />

und se<strong>in</strong>en Wünschen im Interesse <strong>der</strong> Wertschöpfungsfunktion des privaten Mediensystems<br />

durch Marktforschung nachgespürt werden. Was die politische Öffentlichkeit, das politische<br />

Publikum betrifft, so wird dieses entsprechend zum Gegenstand von Me<strong>in</strong>ungsforschung,<br />

die für das politische System Prognosen über Wahlausgänge erlauben soll.<br />

E<strong>in</strong> erster Schritt zur beschriebenen Anonymisierung <strong>der</strong> Öffentlichkeit erfolgte bereits mit<br />

<strong>der</strong> Etablierung <strong>der</strong> Pr<strong>in</strong>tmedien. Mit Hörfunk und K<strong>in</strong>o kam dann e<strong>in</strong>e audio-visuelle Trans-<br />

formation <strong>der</strong> öffentlichen Kommunikation, die diesen Trend verstärkte und auch e<strong>in</strong>e Verän-<br />

<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Raum- und Zeitwahrnehmung bewirkte. In se<strong>in</strong>em Band +Medien-Zeit, Medien-Raum*


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 171<br />

(1995) stellt Götz Großklaus diesen Wandel (an Elias anschließend) anhand zahlreicher Beispiele<br />

dar. Se<strong>in</strong>e Kernaussage lautet, daß durch e<strong>in</strong>e gleichzeitige Dehnung und Verdichtung <strong>der</strong><br />

Raum-Zeit-Struktur durch die Medien die Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> Raumwahrnehmung durch e<strong>in</strong>e<br />

Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> Zeitwahrnehmung abgelöst wurde (vgl. S. 103ff.), wodurch es zu e<strong>in</strong>er Erweiterung<br />

des Gegenwarts- bzw. Jetzt-Feldes gekommen ist (vgl. ebd.; S. 21). Die Fotographie stand<br />

220<br />

für Großklaus am Anfang dieser Entwicklung, und das Fernsehen war <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht<br />

ke<strong>in</strong>e wirklich radikale Neuerung, wie auch Spangenberg betont. Doch +trotzdem fällt die<br />

Sogwirkung auf, mit <strong>der</strong> das Fernsehen viele attraktive Angebote aus an<strong>der</strong>en Medien […]<br />

an sich ziehen konnte* (Komplexitätsebenen mo<strong>der</strong>ner Öffentlichkeit; S. 270). +Es ist zum<br />

Generalisten geworden, <strong>der</strong> Spezialisierungen provoziert […] Im Kontakt mit dem Fernsehen<br />

entwickelte sich <strong>der</strong> Hörfunk zu e<strong>in</strong>em Aktualitäts- und Begleitmedium, das man nach Musik-<br />

farben und aufgrund <strong>der</strong> Verkehrsnachrichten auswählt, zum Wecken benutzt und beim Bügeln<br />

e<strong>in</strong>schaltet. Das K<strong>in</strong>o […] mutierte – <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er kommerziell erfolgreichen Form – zum <strong>in</strong>tensitäts-<br />

orientierten Attraktivitätsmedium […]* (Ebd.; S. 276f.)<br />

Mit dieser Sicht des Fernsehens als Ausdifferenzierungskatalysator für das Mediensystem<br />

unterschätzt Spangenberg wahrsche<strong>in</strong>lich jedoch sogar se<strong>in</strong>e Bedeutung für die (vielleicht<br />

schon +überwundene*) <strong>in</strong>dustrielle Massengesellschaft. Wenn man sich dagegen Florian Rötzer<br />

anschließt, so stellt(e) das Fernsehen das e<strong>in</strong>zige historische Massenmedium überhaupt dar,<br />

denn +e<strong>in</strong> Massenmedium zeichnet sich dadurch aus, daß es [gleichzeitig] identische Informa-<br />

tionen an möglichst viele Empfänger übermittelt* (Interaktion – das Ende herkömmlicher Massen-<br />

medien; S. 132). +Texte <strong>in</strong> Form von Büchern, Flugblättern o<strong>der</strong> Zeitschriften haben vor den<br />

elektronischen Medien, die globale Gleichzeitigkeit ermöglichen, als Massenmedien [nur]<br />

im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Massenproduktion gewirkt* (ebd.). Diese fersehvermittelte Gleichzeitigkeit wird<br />

durch die neuen <strong>in</strong>teraktiven Medien (siehe unten) wie<strong>der</strong> zerstört. Nur das Fernsehen schuf<br />

also tatsächlich so etwas wie e<strong>in</strong> +globales Dorf*, das Marshall McLuhan <strong>in</strong> den 60er Jahren<br />

als Ergebnis <strong>der</strong> global ausgeweiteten Kommunikation entstanden gesehen hatte (vgl. Die<br />

magischen Kanäle; S. 103). Dies erreichte es, <strong>in</strong>dem es e<strong>in</strong> Gefühl von allumfassen<strong>der</strong><br />

Transparenz durch die Simultanität <strong>der</strong> Nachrichtenübermittlung und e<strong>in</strong>en (fast) weltweiten<br />

allgeme<strong>in</strong>en Zugang ermöglichte.<br />

Das Fernsehen produzierte also durch Gleichzeitigkeit e<strong>in</strong> globales öffentliches Bewußtse<strong>in</strong>.<br />

Doch dies vermochte es nur, <strong>in</strong>dem es <strong>in</strong>vasiv <strong>in</strong> die Privatsphäre e<strong>in</strong>drang. +Anstatt daß Informa-


172 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

tionen von e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zelperson verarbeitet werden […], setzt mir <strong>der</strong> Bildschirm Informationen<br />

vor, die von e<strong>in</strong>em Kollektiv für e<strong>in</strong> Kollektiv aufbereitet worden s<strong>in</strong>d* (de Kerckhove: Jenseits<br />

des globalen Dorfes; S. 138). Das Fernsehen, aber auch <strong>der</strong> Hörfunk, transportieren e<strong>in</strong>en<br />

Ausschnitt <strong>der</strong> großen Welt <strong>in</strong> den privaten Raum und nehmen so, zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Stück weit,<br />

von ihm Besitz. Will man sich dieser Invasion, die im Radioempfänger und im Fernsehmonitor<br />

ihre d<strong>in</strong>gliche Repräsentanz hat, entziehen, so ist es nur möglich, ab- o<strong>der</strong> umzuschalten.<br />

Die Information selbst ist vorgefiltert und bricht gleichsam über uns here<strong>in</strong>.<br />

Vorfilterung bzw. die Selektion von Information und Themen sowie die Konzentration auf<br />

e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit von Akteuren s<strong>in</strong>d zwangsläufige Ersche<strong>in</strong>ungen von Öffentlichkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Massengesellschaft. Dies gestehen auch von Habermas bee<strong>in</strong>flußte Befürworter e<strong>in</strong>es normativen,<br />

diskursiven Öffentlichkeitsmodells zu (vgl. vor allem Peters: Der S<strong>in</strong>n von Öffentlichkeit). Wirklich<br />

problematisch wird dies nach ihnen erst, wenn die Selektion <strong>in</strong> manipulativer Absicht geschieht,<br />

<strong>der</strong> Ausschluß bestimmter Individuen o<strong>der</strong> Themen pr<strong>in</strong>zipiellen Charakter hat und Öffentlichkeit<br />

damit nicht mehr e<strong>in</strong>e Sphäre sozialer Verständigung ist, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> ihrem Medium symbolische<br />

Gewalt ausgeübt wird (vgl. ebd.; S. 51–70).<br />

E<strong>in</strong>e Form solcher symbolischer Gewalt durch die Massenmedien ist das sog. +Agenda-Sett<strong>in</strong>g*<br />

221<br />

(vgl. McCombs/Shaw: The Agenda-Sett<strong>in</strong>g Function of Mass Media). Damit ist geme<strong>in</strong>t,<br />

daß die Medien <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und <strong>der</strong> Öffentlichkeit bestimmte Themen diktieren können (allerd<strong>in</strong>gs<br />

muß man e<strong>in</strong>schränken, daß die Medien auch beim Agenda-Sett<strong>in</strong>g auf e<strong>in</strong>e Resonanz des<br />

222<br />

Publikums für die von ihnen aufgegriffenen Themen angewiesen s<strong>in</strong>d). Mit <strong>der</strong> <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

von W<strong>in</strong>fried Schulz herausgestellten +Konstruktion von Realität <strong>in</strong> den Nachrichtenmedien*<br />

223<br />

(1976) haben die Medien zudem e<strong>in</strong>e wichtige Def<strong>in</strong>itionsmacht. Deshalb wurde nicht<br />

nur <strong>in</strong> Deutschland schon sehr früh <strong>der</strong> Versuch unternommen, diese Def<strong>in</strong>itionsmacht durch<br />

staatliche Medien staatlich zu monopolisieren. Die Wochenschau im Dritten Reich und ihre<br />

Pendants bei den Kriegskontrahenten Deutschlands wie überhaupt die Kriegsberichterstattung<br />

können hier als beson<strong>der</strong>s drastische Beispiele gelten, e<strong>in</strong>e im S<strong>in</strong>n <strong>der</strong> eigenen Interessen<br />

224<br />

funktionale Realität +abzubilden*. Nach dem Krieg etablierte sich hierzulande dann e<strong>in</strong><br />

+öffentlicher* (d.h. halbstaatlicher) Rundfunk und später das +öffentlich-rechtliche* Fernsehen.<br />

Erst 1986, also vergleichsweise spät, erfolgte e<strong>in</strong>e +Liberalisierung* mit <strong>der</strong> Etablierung des<br />

sog. +dualen Systems*, d.h. <strong>der</strong> Koexistenz von privaten und +öffentlichen* Sen<strong>der</strong>n, was,<br />

wenn man Frank Marc<strong>in</strong>kowski folgt, zu e<strong>in</strong>er partiellen Entpolitisierung <strong>der</strong> Medien geführt


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 173<br />

hat: Die Unterhaltungsfunktion verdrängt zunehmend die (Des-)Informationsfunktion. In diesem<br />

S<strong>in</strong>n läßt sich – trotz immer noch gegebener Unterschiede – e<strong>in</strong>e Konvergenzthese formulieren<br />

(vgl. Politisierung und Entpolitisierung <strong>der</strong> ›Realität‹ <strong>in</strong> unterschiedlichen Medienformaten;<br />

S. 43ff.). Ob aber nicht gerade die vor<strong>der</strong>gründige Entpolitisierung die politische Systemakzeptanz<br />

durch Mechanismen repressiver Entsublimierung för<strong>der</strong>t, kann vor allem <strong>in</strong> Anlehnung an<br />

die Argumentation <strong>der</strong> Kritischen Theorie vermutet werden. 225<br />

Medienmacht, die zusammengefaßt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bericht- und Informationsgewalt, e<strong>in</strong>er Bewertungs-<br />

und Beurteilungsgewalt und e<strong>in</strong>er Vermittlungsgewalt besteht (vgl. Stober: Medien als vierte<br />

226<br />

Gewalt; S. 29), ist deshalb ambivalent zu bewerten und beson<strong>der</strong>s kritisch zu beurteilen,<br />

wenn – wie im z.B. im Fall Berlusconi – e<strong>in</strong>e (direkte) Verstrickung von <strong>Politik</strong>, Medien, Wirt-<br />

schaft gegeben ist (vgl. auch Krempel: Das Phänomen Berlusconi). E<strong>in</strong>e solche Verstrickung<br />

wird freilich durch die grundlegende +Dialektik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft* (Münch 1991)<br />

geför<strong>der</strong>t: Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite ist <strong>der</strong> öffentliche Diskurs e<strong>in</strong> notwendiges Medium sozialen<br />

Wandels (vgl. S. 108ff.). Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite hat die +entfesselte Kommunikation*, die<br />

diskursive Durchdr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> globalem Ausmaß, die wir erleben (vgl. ebd.; S. 87ff.), e<strong>in</strong>en<br />

Zwang zur öffentlichen Darstellung für die <strong>Politik</strong> bewirkt (vgl. ebd.; S. 95ff.). Die so erzeugte<br />

+Inflation <strong>der</strong> Worte* soll die latenten Krisen überdecken (S. 103ff.). O<strong>der</strong> wie ich es formulieren<br />

würde: Die (Massen-)Medien, speziell das Fernsehen, dienen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> als Medium drama-<br />

turgischer Deflexion reflexiver (öffentlichkeits<strong>in</strong>terner wie -externer) Herausfor<strong>der</strong>ungen –<br />

<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n kam es zu e<strong>in</strong>er +erfolgreichen* Anpassung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> an den Strukturwandel<br />

des Öffentlichkeits- und Mediensystems <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft.<br />

Ulrich Sarc<strong>in</strong>elli hat aus ähnlichen Überlegungen heraus von <strong>der</strong> +Fernsehdemokratie* (1994)<br />

gesprochen. Für ihn ist das Fernsehen das +politische Leitmedium* schlechth<strong>in</strong> und zwar +sowohl<br />

für die Wahrnehmung wie die Darstellung von <strong>Politik</strong>* (S. 32). Anschließend an die Überlegungen<br />

von Murray Edelman (vgl. <strong>Politik</strong> als Ritual und siehe auch Abschnitt 3.4) weist Sarc<strong>in</strong>elli darauf<br />

h<strong>in</strong>, daß <strong>Politik</strong> neben ihrem +Nennwert* immer schon e<strong>in</strong>en +Symbolwert* hatte. In <strong>der</strong> Ferseh-<br />

demokratie überwiegt jedoch letzterer (vgl. Fersehdemokratie; S. 33ff.). Das hat problematische<br />

227<br />

Auswirkungen, denn es kommt – um dem +Medien-Format* gerecht zu werden – zwangsläufig<br />

zu e<strong>in</strong>er massenmedialen Vere<strong>in</strong>fachung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, was auch die Rede von <strong>der</strong> +Videomalaise*<br />

provoziert hat (vgl. Rob<strong>in</strong>son: Public Affairs Television and the Growth of Political Malaise;<br />

S. 426ff.). 228


174 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Sarc<strong>in</strong>elli unterscheidet nun im wesentlichen vier Strategien bzw. Instrumentarien <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>-<br />

vermittlung durch Adaption an das Medienformat <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Massenmedien: E<strong>in</strong>e plakative<br />

Sprache überdeckt zum e<strong>in</strong>en die Komplexität <strong>der</strong> politischen Gegenstände für das Publikum.<br />

Um die (programmatisch verwischten) Unterschiede zwischen den politischen Lagern bzw.<br />

Parteien hervorzukehren, besteht für die politischen Akteure gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

zum an<strong>der</strong>en auch e<strong>in</strong>e Tendenz zu polarisierenden Aussagen. Drittens ersetzen (visualisierbare)<br />

Problemlösungssurrogate konkrete Problemlösungen – Thomas Meyer spricht <strong>in</strong> diesem<br />

229<br />

Zusammenhang von e<strong>in</strong>er +Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s* (1992). Solche Inszenierungen beruhen<br />

(viertens) auch auf e<strong>in</strong>er Personalisierung politischer Fragen, da Personen besser darstellbar<br />

s<strong>in</strong>d als Themen. (Vgl. Massenmedien und <strong>Politik</strong>vermittlung; S. 47–54) 230<br />

E<strong>in</strong>e aufschlußreiche empirische Untersuchung <strong>der</strong> Bedeutung symbolischen Handelns <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> hat Sarc<strong>in</strong>elli am Beispiel <strong>der</strong> Wahlkampfkommunikation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

231<br />

durchgeführt. Diese Analyse führte ihn u.a. zur These e<strong>in</strong>er +Symbiose* politischer und<br />

medialer Akteure (vgl. Symbolische <strong>Politik</strong>; S. 213ff.). <strong>Politik</strong>er und Medien s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat<br />

aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> angewiesen. Es kam deshalb, so könnte man folgern, auch zwischen dem Medien-<br />

und dem <strong>Politik</strong>system zu e<strong>in</strong>er deflexiven Ko-Evolution, ganz ähnlich wie sie bereits für das<br />

Rechts- und das Wissenschaftssystem von mir behauptet wurde. Für die Publikumsöffentlichkeit<br />

ist diese ko-evolutive +Symbiose* nicht immer offensichtlich. Zwar wird die parteipolitische<br />

Konkordanz e<strong>in</strong>iger Medien vom (deutschen) Publikum klar wahrgenommen – so z.B. e<strong>in</strong>e<br />

CDU/CSU-nahe Berichterstattung durch das ZDF (vgl. Schmitt-Beck: <strong>Politik</strong>vermittlung durch<br />

Massenkommunikation; S. 171). Es überwiegt <strong>in</strong>sgesamt jedoch e<strong>in</strong>e unkritische E<strong>in</strong>stellung<br />

gegenüber <strong>der</strong> Medienberichterstattung. Dabei fiel bei empirischen Studien auf, daß Zeitungsleser<br />

häufiger als Fernsehzuschauer Unausgewogenheiten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Darstellung bemerken. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

dom<strong>in</strong>iert auch bei ihnen e<strong>in</strong> grundsätzlicher Glaube an die Neutralität <strong>der</strong> Presse – und<br />

dies <strong>in</strong> Ost und West <strong>in</strong> ähnlichem Ausmaß (siehe Tab. 10).<br />

Die Symbiose von Medien und <strong>Politik</strong> bleibt also im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Publikums-Öffentlichkeit<br />

weitgehend verdeckt. Schließlich <strong>in</strong>szenieren sich die Medien auch selbst gerne als vierte,<br />

die <strong>Politik</strong> kontrollierende Gewalt, die über Mißstände <strong>in</strong>formiert und politische Skandale<br />

aufdeckt. Damit ersche<strong>in</strong>en sie dem Publikum, o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>em großen Teil, als kritische<br />

Instanz. Doch wie Richard Münch klar herausgearbeitet hat: Selbst die Aufdeckung e<strong>in</strong>es<br />

Skandals ist ke<strong>in</strong> Bruch mit dem System – im Gegenteil: Skandale haben als gesellschaftliches


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 175<br />

Tabelle 10: Wahrgenommene Bevorzugung von Parteien <strong>in</strong> Tageszeitungen durch Wähler<br />

Partei Ost West<br />

CDU/CSU 10% 22%<br />

FDP 1% –<br />

SPD 4% 10%<br />

Grüne/B90 1% –<br />

PDS 2% –<br />

Verschiedene Parteien 6% 5%<br />

ke<strong>in</strong>e Partei 78% 61%<br />

Weiß nicht – 2%<br />

Quelle: Schmitt-Beck: <strong>Politik</strong>vermittlung durch Massenkommunikation; Tab. 3, S. 171<br />

Ritual e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>igende Wirkung und festigen nur die immanente Wert- und Normenstruktur<br />

(vgl. Dialektik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft; S. 89–95).<br />

Diese Argumentationsl<strong>in</strong>ie wi<strong>der</strong>spricht allerd<strong>in</strong>gs offensichtlich <strong>der</strong> e<strong>in</strong>gangs (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

von Luhmann herausgestellten) kritischen Tendenz des +Mediums* Öffentlichkeit (siehe S.<br />

157) bzw. ihrer (von Habermas gesehenen) Sensibilität für die Wahrnehmung und Identifizierung<br />

von Problemlagen (siehe S. 158). Das kritische Potential, das auch me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit <strong>in</strong>newohnt, wird allerd<strong>in</strong>gs durch die gegebene, stark hierarchische Struktur<br />

an se<strong>in</strong>er Entfaltung geh<strong>in</strong><strong>der</strong>t. Denn durch das Zuschauen am Bildschirm, durch die Lektüre<br />

von Zeitungen, allgeme<strong>in</strong>: durch die <strong>in</strong> den Massenmedien existierende Beschränkung auf<br />

Konsumption wird die faktische Hierarchie praxologisch ver<strong>in</strong>nerlicht. Das heißt nicht notwendig,<br />

daß politisches Interesse dadurch gänzlich elim<strong>in</strong>iert würde, wie auch empirische Studien<br />

zeigen (siehe nochmals Anmerkung 228). Aber es verfestigt sich tendenziell e<strong>in</strong> systemkonformes<br />

Rollenverständnis, welches das Publikum auf (s)e<strong>in</strong>e passive Rolle +tra<strong>in</strong>iert*. Die Hierarchisierung<br />

<strong>in</strong> Akteure und Publikum wird mit <strong>der</strong> Praxis dieser Hierarchie selbstverständlich und bleibt<br />

unh<strong>in</strong>terfragt. Aber betrachten wir die bestehende Hierarchisierung etwas genauer:<br />

Auf <strong>der</strong> Akteursseite stehen – bezogen auf die politische (Teil-)Öffentlichkeit – ganz offensichtlich<br />

die Repräsentanten des <strong>Politik</strong>systems. Aber auch die Angehörigen des Mediensystems müssen<br />

zu den Akteuren gezählt werden. Denn die Medien s<strong>in</strong>d nicht nur Medien, nicht bloße Mittler<br />

im öffentlichen Kommunikationsprozeß, son<strong>der</strong>n ihre Vertreter s<strong>in</strong>d, wie dargestellt, als +Agenda<br />

Setter* (siehe S. 172) und +Gate Keeper* (siehe Anmerkung 223) wichtige (Mit-)Akteure. Sie


176 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

entscheiden gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> letztgenannten Funktion über das Maß an medialer Aufmerksamkeit,<br />

das politische Akteure erhalten. Nicht je<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er kann sich schließlich <strong>in</strong> gleichem Umfang<br />

<strong>der</strong> öffentlichen Wahrnehmung gewiß se<strong>in</strong>. Die Medien-Zuwendung ist u.a. abhängig von<br />

<strong>der</strong> offiziellen Position und hierarchischen Stellung im <strong>Politik</strong>system, den persönlichen Bezie-<br />

hungen zu Medienvertretern und den f<strong>in</strong>anziellen Ressourcen (denn Öffentlichkeit <strong>in</strong> Form<br />

von Sendezeit o<strong>der</strong> Zeitungsspalten läßt sich auch kaufen). An<strong>der</strong>erseits ist für die <strong>Politik</strong>er<br />

nicht je<strong>der</strong> Journalist gleich wichtig. Ob e<strong>in</strong>e/e<strong>in</strong>er z.B. für e<strong>in</strong> bekanntes Blatt schreibt o<strong>der</strong><br />

für e<strong>in</strong>e unbedeutende Regionalzeitung macht e<strong>in</strong>en gewaltigen Unterschied, wenn nach<br />

e<strong>in</strong>em Interview-Term<strong>in</strong> gefragt wird. Viele Parlamentarier pflegen zudem +Freundschaften*<br />

mit ausgesuchten Journalisten, denen sie auch schon mal e<strong>in</strong>e +vertrauliche* Information zukom-<br />

men lassen (vgl. hierzu z.B. Buchste<strong>in</strong>er: Wir bedanken uns für dieses Gespräch).<br />

Auf <strong>der</strong> Seite des Publikums lassen sich nun, wenn man Bernhard Peters folgt, Repräsentanten,<br />

Advokaten, Experten und Intellektuelle vom +gewöhnlichen* Publikum unterscheiden. Bestimmte<br />

Personen können nämlich e<strong>in</strong>e repräsentative Sprecherrolle für Gruppierungen <strong>in</strong>nerhalb<br />

des Publikums durch allgeme<strong>in</strong>e Zustimmung erlangen o<strong>der</strong> diese (auch z.B. als Pressesprecher<br />

e<strong>in</strong>er Organisation) ganz +offiziell* <strong>in</strong>nehaben. Advokaten machen sich <strong>in</strong> ähnlicher Weise,<br />

doch eigenmächtig, zum Anwalt und Sprecher von marg<strong>in</strong>alisierten Teilen des Publikums<br />

(wie beispielsweise von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten o<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>n). Experten und Intellektuelle repräsentieren<br />

o<strong>der</strong> +verteidigen* dagegen nicht bestimmte Publikumsgruppierungen, son<strong>der</strong>n geben profes-<br />

232<br />

sionelle Gutachten ab bzw. äußern Me<strong>in</strong>ungen, die aufgrund ihres Bekanntheitsgrads und<br />

ihrer +Autorität* beson<strong>der</strong>es Gewicht haben. (Vgl. Der S<strong>in</strong>n von Öffentlichkeit; 56ff.)<br />

Mit den genannten Rollen des Repräsentanten, Advokaten, Experten und Intellektuellen versucht<br />

Peters – neben dem H<strong>in</strong>weis auf die Formierung von spezifischen Teilöffentlichkeiten – e<strong>in</strong>e<br />

Differenzierung und Stratifikation <strong>in</strong>nerhalb des Publikums plausibel zu machen. Tatsächlich<br />

handelt es sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach bei diesen +beson<strong>der</strong>en* Publikumsrollen jedoch eher<br />

um dezentrale, sekundäre Akteursrollen. Wenn man <strong>in</strong>nerhalb des Publikums auf hierarchische<br />

Differenzierungen aufmerksam machen will, so ist es aus me<strong>in</strong>er Sicht naheliegen<strong>der</strong>, nach<br />

<strong>der</strong> Bedeutung von bestimmten Publikumssegmenten für die Akteure zu fragen, d.h. zu fragen,<br />

wie wichtig ihnen bestimmten Personen(gruppen) als Adressaten für ihre Botschaften s<strong>in</strong>d.<br />

Im Wahlkampf zum Beispiel zählt nur das stimmberechtigte +Wählervolk* – Jugendliche o<strong>der</strong><br />

Auslän<strong>der</strong>, die ke<strong>in</strong> Stimmrecht haben, s<strong>in</strong>d nur sekundäres Publikum. Man kann also von


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 177<br />

e<strong>in</strong>er doppelten Hierarchisierung <strong>der</strong> Öffentlichkeit sprechen: Erstens besteht die grundsätzliche<br />

Hierarchie zwischen Akteuren und Publikum. Zweites gibt es die Hierarchie zwischen primären<br />

und sekundären Akteuren und primärem und sekundärem Publikum, d.h. auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite<br />

stehen die politischen Stars und die als Me<strong>in</strong>ungs-Multiplikatoren beson<strong>der</strong>s geschätzten<br />

Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> +Informationselite*, während auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite +H<strong>in</strong>terbänkler* und politisch<br />

Marg<strong>in</strong>alisierte vom Sche<strong>in</strong>werferlicht nur gestreift werden bzw. nicht e<strong>in</strong>mal als Adressaten<br />

von Botschaften <strong>in</strong>teressieren.<br />

• Die diffuse, fragmentisierte und <strong>in</strong>teraktive Öffentlichkeit <strong>der</strong> multimedialen Kommu-<br />

nikations- und Wissensgesellschaft: Die bisher beschriebenen Hierarchisierungen beschränkten<br />

sich auf den Zugang zum öffentlichen Raum und die +Bedeutung* von Akteuren und Publikums-<br />

segmenten. Mit <strong>der</strong> Nennung <strong>der</strong> Rolle des Experten ist jedoch auch die Relevanz <strong>der</strong> Wissens-<br />

dimension für Hierarchisierungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit angedeutet worden. Experten erhalten<br />

ihre exponierte öffentliche Rolle als Gutachter schließlich aufgrund <strong>der</strong> Annahme zugewiesen,<br />

daß sie über e<strong>in</strong> spezifisches, im öffentlichen Diskurs (nach)gefragtes, jedoch knappes (Fach)-<br />

Wissen verfügen. Und Experten stehen auch nicht e<strong>in</strong>em gleich gebildeten und sich bildenden<br />

Publikum gegenüber. Es ist e<strong>in</strong>e Informationshierarchisierung durch unterschiedliches Vorwissen<br />

und Informationsnutzung gegeben, wobei sich beide Faktoren, wenn man <strong>der</strong> sog. +Knowledge-<br />

Gap-These* folgen will, sogar tendenziell gegenseitig verstärken (vgl. Tichenor/Donohue/Olien:<br />

Mass Media Flows and Differential Growth <strong>in</strong> Knowledge).<br />

In <strong>der</strong> durch den +stetigen* (o<strong>der</strong> vielmehr exponentiellen) Anstieg <strong>der</strong> Information gekennzeich-<br />

neten Kommunikations- und Wissengesellschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir uns aktuell bef<strong>in</strong>den bzw. die<br />

sich zum<strong>in</strong>dest doch abzeichnet, wäre demgemäß e<strong>in</strong>e noch stärkere (Wissens-)Hierarchisierung<br />

<strong>in</strong>nerhalb des Publikums zu erwarten als sie die <strong>in</strong>dustrielle Massengesellschaft prägte. Michael<br />

Jäckel verweist jedoch <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf empirische Studien, die eher konstant<br />

gebliebene Wissensabstände vermuten lassen (vgl. Auf dem Weg <strong>in</strong> die Informationsgesellschaft;<br />

S. 20). In Übertragung von Ulrich Becks These zur Transformation <strong>der</strong> Schichtungsverhältnisse<br />

durch den ökonomischen +Fahrstuhleffekt* (siehe nochmals S. XXIII) kann man me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />

nach aber von e<strong>in</strong>em ›<strong>in</strong>formativen‹ Fahrstuhleffekt sprechen: Wir alle nehmen (gezwunge-<br />

nermaßen) immer mehr Informationen auf, und so werden die Ungleichheitsverhältnisse im<br />

Wissen allgeme<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong> höheres Niveau transponiert – allerd<strong>in</strong>gs mit <strong>der</strong> gleichzeitigen Folge


178 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

e<strong>in</strong>er durch den Zwang zur Selektion bewirkten Individualisierung <strong>der</strong> Informationsmuster<br />

und Medienkonsumstile, die wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>e Diffusion und Fragmentisierung <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

bewirkt.<br />

Denn selbst das ungleich höhere allgeme<strong>in</strong>e Informationsaufnahmeniveau reicht nicht aus,<br />

die gestiegene Informationsdichte und -breite zu bewältigen – weshalb für Neil <strong>Post</strong>man nunmehr<br />

233<br />

nicht nur gilt, daß wir uns zu Tode amüsieren. Vielmehr gelangt er angesichts <strong>der</strong> erdrücken-<br />

den Informationsfülle, die uns die Medien +zumuten*, zum Schluß: +Wir <strong>in</strong>formieren uns<br />

zu Tode* (1992). Etwas weniger übertreibend spricht auch Jäckel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em oben zitierten<br />

Artikel – unter Verweis auf amerikanische und japanische Daten sowie e<strong>in</strong>e Untersuchung<br />

Werner Kroeber-Riels – von e<strong>in</strong>em +deutlichen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>klaffen von Informationsangebot<br />

und Informationsnutzung* (ebd.; S. 13). Letzterer kam für Deutschland zu dem Ergebnis,<br />

daß <strong>der</strong> Informationsüberschuß, d.h. die von den Rezipienten ignorierte Information, je nach<br />

Medium zwischen 91,7% (Zeitungen) und 99,4% (Rundfunk) liegt (vgl. Informationsüberlastung<br />

durch Massenmedien und Werbung <strong>in</strong> Deutschland; S. 259). Im Fall des Internets, das lei<strong>der</strong><br />

nicht berücksichtigt wurde, ist das Mißverhältnis zwischen angebotener und genutzter Information<br />

sicher sogar noch weitaus drastischer.<br />

Je mehr Information aber angeboten wird, desto +härter*, so läßt sich nun vermuten, müssen<br />

die Selektionskriterien se<strong>in</strong>, nach denen die Informationsangebote ausgewählt werden. Wie<br />

schon oben angedeutet, entstehen so zwangsläufig fragmentisierte Teilöffentlichkeiten, die<br />

immer weiter zerfallen. E<strong>in</strong> wichtiger Zwischenschritt bei dieser Entwicklung war die Entstehung<br />

von verschiedensten Spartenkanälen im Fernsehen. Mit <strong>der</strong> Aufsplittung des Programms erfolgte<br />

e<strong>in</strong>e (noch nicht abgeschlossene) Aufsplitterung <strong>der</strong> Öffentlichkeit – trotz <strong>der</strong> von Marc<strong>in</strong>kowski<br />

herausgestellten relativen Konformität <strong>der</strong> (Unterhaltungs-)Programme sowie <strong>der</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />

noch immer weitgehend <strong>in</strong>takten Institution +Tagesschau*. Neue technische Entwicklungen<br />

wie +Video on Demand* o<strong>der</strong> +<strong>in</strong>teraktives Fernsehen* werden schließlich zwangsläufig zur<br />

Sprengung <strong>der</strong> +schematischen* Programmstruktur des konventionellen Fernsehens führen,<br />

und schon heute kann man sich mittels entsprechen<strong>der</strong> Internet-Dienste e<strong>in</strong>e (elektronische)<br />

+Zeitung* ganz nach <strong>in</strong>dividuellen Vorlieben zusammenstellen (lassen). Nicholas Negroponte<br />

spricht angesichts <strong>der</strong>artiger Entwicklungen und <strong>der</strong> drohenden Normalität e<strong>in</strong>es +E<strong>in</strong>personen-<br />

publikums* von e<strong>in</strong>er Individualisierung <strong>der</strong> Medien im +<strong>Post</strong><strong>in</strong>formationszeitalter* (vgl. Total<br />

digital; S. 201ff.).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 179<br />

Öffentlichkeit als Kollektivzusammenhang wird <strong>in</strong>folge ihrer Atomisierung, ihrer Auflösung<br />

<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>zelte Sphären immer diffuser, verliert an Trennschärfe, da immer unklarer wird, wen<br />

die durch die Medien veröffentlichten Botschaften tatsächlich noch erreichen. Es handelt<br />

sich um e<strong>in</strong>e durch Informationsüberflutung ausgelöste, sich nach <strong>in</strong>nen drehende mediale<br />

Individualisierungsspirale, die Öffentlichkeit auf e<strong>in</strong>en verwischten, imag<strong>in</strong>ären Punkt im Nichts<br />

<strong>der</strong> virtuellen Welten zusammenschrumpfen läßt. So läuft mit <strong>der</strong> digitalen Revolution auch<br />

<strong>der</strong> +altl<strong>in</strong>ke* Kampf um die Herstellung e<strong>in</strong>er Gegenöffentlichkeit potentiell <strong>in</strong>s Leere – jedenfalls<br />

234<br />

wenn man sich dem kritischen Resümee aus e<strong>in</strong>em Papier <strong>der</strong> +Agentur Bilwet* anschließt.<br />

Denn die neuen Medien +schaffen nicht länger Massen und Öffentlichkeiten* (The Digital<br />

Society and Its Enemies; S. 366).<br />

Der von John Fiske vorgedachte und nachgezeichnete +Technikkampf* von M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten 235<br />

mittels <strong>der</strong> Nutzung <strong>der</strong> politisch mobilisierenden Ressourcen von Audio- und Videotechniken<br />

zur Durchsetzung ihrer ansonsten aus dem öffentlichen Bewußtse<strong>in</strong> verdrängten Interessen<br />

(vgl. Media Matters; Kap. 5) steht deshalb vor dem Problem, daß er e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Ablösung bef<strong>in</strong>dliches<br />

Modell medialer Massenöffentlichkeit voraussetzt. Auch wenn <strong>der</strong> von Fiske u.a. angeführte<br />

236<br />

Fall des Rodney K<strong>in</strong>g zeigt, daß Video(low)tech sich tatsächlich zur Mobilisierung e<strong>in</strong>er<br />

Gegenöffentlichkeit nutzen läßt (vgl. ebd.; S. 126ff.), än<strong>der</strong>t dies nichts an dem Umstand,<br />

daß <strong>der</strong> von ihm propagierte +technostruggle* <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich abzeichnenden neuen Medienlandschaft<br />

wohl zum<strong>in</strong>dest an<strong>der</strong>e Formen annehmen muß.<br />

Die Gleichzeitigkeit des Erlebens, die das Fernsehen e<strong>in</strong>st so bequem für die Zuschauer auf<br />

dem heimischen Sofa wie für die politischen Akteure erzeugte, wird jedenfalls durch die<br />

fortschreitenden Fragmentisierungsprozesse bald e<strong>in</strong> Ende haben und auch an<strong>der</strong>e Mobilisierungs-<br />

mechanismen für die Formierung von Gegenöffentlichkeiten erfor<strong>der</strong>n als aufrüttelnde Fernseh-<br />

bzw. Videobil<strong>der</strong>. Wir bef<strong>in</strong>den uns, um mit de Kerckhove zu sprechen (siehe auch nochmals<br />

S. 171), +Jenseits des globalen Dorfes*. Was uns <strong>in</strong> diesem Jenseits, das vielleicht das Ende<br />

des panoptischen Systems markiert (vgl. Baudrillard: Agonie des Realen; S. 47ff.), erwartet,<br />

kann euphorisch bis kritisch <strong>in</strong>terpretiert werden (siehe unten). De Kerckhove selbst ist unsicher,<br />

was aus den sich abzeichnenden Entwicklungen, <strong>der</strong> sich ergebenden Verb<strong>in</strong>dung von privatem<br />

und öffentlichem Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er reziproken Netz-Struktur, politisch zu folgern ist. Nur<br />

e<strong>in</strong>es steht für ihn fest: Die immer rascher sich ausbreitenden Netze s<strong>in</strong>d Vorboten e<strong>in</strong>er<br />

gründlich verän<strong>der</strong>ten politischen Landschaft, und +gerade als wir dachten, wir hätten sie


180 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ganz gut <strong>in</strong> den Griff bekommen, fängt die Wirklichkeit wie<strong>der</strong> an sich zu verän<strong>der</strong>n* (S.<br />

146). 237<br />

Für Alw<strong>in</strong> Toffler, den selbsternannten Propheten <strong>der</strong> neuen Technologien, ist die Richtung<br />

<strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung h<strong>in</strong>gegen klar. Nach <strong>der</strong> agrarischen Revolution, durch die Umstellung von<br />

nomadisieren<strong>der</strong> Viehzucht auf seßhaften Ackerbau, und <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Revolution, erleben<br />

wir momentan e<strong>in</strong>e +dritte Welle* radikalen Wandels, die nicht nur angeblich die ökonomische<br />

Basis auf e<strong>in</strong>e Ökologie- und sozialverträgliche Produktionsweise umstellt (vgl. Die dritte Welle;<br />

S. 24ff. sowie Kap. 12), son<strong>der</strong>n die auch im politischen Bereich e<strong>in</strong>e rosige Zukunft <strong>in</strong> Aussicht<br />

stellt (vgl. Creat<strong>in</strong>g a New Civilization; S. 82). Denn die neuen Technologien versprechen<br />

durch ihre demokratischen Potentiale gewissermaßen e<strong>in</strong>e +elektronische Inklusion*, e<strong>in</strong>e<br />

wachsende Berücksichtigung von M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten sowie die Entstehung e<strong>in</strong>er semidirekten Demo-<br />

kratie (vgl. ebd.; S. 95ff.). Ganz ähnlich argumentiert auch Lawrence Grossman: Dieser sieht<br />

mit <strong>der</strong> elektronischen Republik <strong>der</strong> Zukunft e<strong>in</strong>en +politischen Hybriden* entstehen, <strong>der</strong><br />

Elemente <strong>der</strong> direkten Demokratie des griechischen Stadtstaats mit Elementen <strong>der</strong> repräsentativen<br />

Massendemokratie verb<strong>in</strong>det (vgl. The Electronic Republic; S. 4 sowie S. 46ff.). In diesem<br />

Kontext entwickelt Grossman auch die Cyber-Utopie e<strong>in</strong>er +Keypad Demokratie*:<br />

+People not only will be able to vote on election day by telecomputer […] By push<strong>in</strong>g a button, typ<strong>in</strong>g<br />

on-l<strong>in</strong>e, or talk<strong>in</strong>g to a computer, they will be able to tell their president, senators, members of Congress,<br />

and local lea<strong>der</strong>s what they want them to do and <strong>in</strong> what priority or<strong>der</strong>.* (Ebd.; S. 149)<br />

Selbst +echte* Plebiszite ließen sich auf elektronischen Weg schnell und e<strong>in</strong>fach durchführen<br />

(vgl. ebd.; S. 153) – womit e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> bisherigen Haupte<strong>in</strong>wände gegen mehr basisdemokratische<br />

Elemente entfiele. Grossman nennt aber auch e<strong>in</strong>ige potentielle Gefahren für die elektronische<br />

Republik – z.B. durch weitere Konzentrationsprozesse <strong>in</strong> <strong>der</strong> Netz- und Medienlandschaft<br />

sowie durch die Vere<strong>in</strong>nahmung <strong>der</strong> elektronischen öffentlichen Räume durch Interessenpolitik<br />

(vgl. ebd.; Kap. 8). Diese Gefahren könnten nach ihm allerd<strong>in</strong>gs durch e<strong>in</strong>e (staatliche) Medien-<br />

Reform, die <strong>in</strong>stitutionelle Absicherungen gegen die Entstehung von Monopolen enthält und<br />

e<strong>in</strong>en freien Zugang für alle Bürger ermöglicht, vermieden werden (vgl. ebd.; Kap. 9).<br />

Deutlich kritischer als Grossman und vor allem Toffler ist Florian Rötzer <strong>der</strong> neuen Medienwelt<br />

gegenüber e<strong>in</strong>gestellt, die vielfach Hilflosigkeit und Vere<strong>in</strong>zelungserfahrungen produziert und<br />

vor allem zum faktischen Verschw<strong>in</strong>den des öffentlichen Raumes <strong>in</strong> <strong>der</strong> virtuellen Welt <strong>der</strong>


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 181<br />

+Telepolis* führen könnte (vgl. Telepolis; S. 211ff.). Trotzdem betont auch Rötzer das <strong>in</strong>teraktive<br />

und reziproke Moment <strong>der</strong> neuen Medien:<br />

+Es gibt <strong>in</strong> vielen Bereichen […] e<strong>in</strong>en Sog, den distanzierten Zuschauer und Zuhörer immer weiter <strong>in</strong><br />

das mediale Geschehen, <strong>in</strong> die Medienwirklichkeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuziehen, was letztlich heißt, daß <strong>der</strong> Benutzer<br />

nicht mehr nur Abnehmer, Rezipient und Konsument e<strong>in</strong>es massenmedialen Produkts ist, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong><br />

das System als aktives und vor allem <strong>in</strong>dividuiertes Element <strong>in</strong>tegriert ist.* (Interaktion; S. 126)<br />

Alle<strong>in</strong>e daraus folgt für die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong> radikaler Wandel <strong>der</strong> Verhältnisse, <strong>der</strong> von ihr bisher<br />

we<strong>der</strong> begriffen, geschweige denn durch adäquate Anpassungen gespiegelt worden wäre.<br />

Denn durch die <strong>in</strong>teraktive Struktur <strong>der</strong> neuen Medien (und natürlich die oben angesprochenen<br />

Fragmentisierungsprozesse) läßt sich <strong>Politik</strong> nicht mehr als Massenereignis für e<strong>in</strong> beobachtendes<br />

Publikum <strong>in</strong>szenieren, da sich mit Interaktivität die scharfe Trennung von Akteuren und Publikum<br />

aufhebt. War das symbolische Medium des Fernsehens geradezu ideal geeignet für die sym-<br />

bolischen <strong>Politik</strong><strong>in</strong>szenierungen des <strong>in</strong>dustriellen Massenzeitalters, so verlangen die neuen<br />

<strong>in</strong>teraktiven Medien <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen +zweiten Mo<strong>der</strong>ne* (Beck) nach <strong>in</strong>teraktiven <strong>Politik</strong>-<br />

darstellungen und -formen, die noch nicht gefunden wurden.<br />

Natürlich werden die neuen Medien das Fernsehen nicht völlig verdrängen. Die Durchsetzung<br />

<strong>der</strong> Fernsehtechnologie hat schließlich auch nicht zum Verschw<strong>in</strong>den <strong>der</strong> Zeitungen, son<strong>der</strong>n<br />

nur zu ihrer schw<strong>in</strong>denden Relevanz als Informationsquellen und Me<strong>in</strong>ungsbildner geführt.<br />

Ebenso hat die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> die Entwicklung auch nicht völlig verschlafen. Parteien,<br />

M<strong>in</strong>isterien, staatliche Institutionen und Organisationen etc. haben heute z.B. zumeist bereits<br />

e<strong>in</strong>e +Homepage* im Internet. Diese Seiten werden sogar e<strong>in</strong>igermaßen häufig von Interessenten<br />

aufgerufen. Nur ist man eben darauf angewiesen, daß die digitalen Räume +freiwillig*, aus<br />

eigenem Antrieb heraus aufgesucht werden. Der <strong>in</strong>vasive Charakter <strong>der</strong> Medien nimmt damit<br />

ab und <strong>der</strong> passive, (politisch) un<strong>in</strong>teressierte Teil <strong>der</strong> Bevölkerung wird durch die politischen<br />

Netzangebote (noch) schwerer o<strong>der</strong> gar nicht mehr erreicht. Zudem ist es bisher mit <strong>der</strong> tat-<br />

sächlichen Interaktivität dieser Angebote meist nicht weit her, und es f<strong>in</strong>det (an<strong>der</strong>s als z.B.<br />

<strong>in</strong> den eher anarchischen News-Foren) auch kaum Diskussion statt. Die von Institutionen<br />

und Organisationen <strong>in</strong>s Netz gestellten Seiten beschränken sich überwiegend auf Information<br />

und (Selbst-)Darstellung. Sie erzeugen also ke<strong>in</strong>e (aktive) politische Öffentlichkeit, son<strong>der</strong>n<br />

f<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressierte Öffentlichkeit vor, die die Informationsangebote nutzt.


182 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Im Gegensatz dazu haben NGOs und Aktivisten mit <strong>der</strong> Versendung von Kettenbriefen,<br />

238<br />

+Mailbomben* und <strong>der</strong> Informationsverbreitung via Mail<strong>in</strong>g-Listen etc. immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ige<br />

Möglichkeiten gefunden, politischen Protest durch das Netzwerk des Internets zu mobilisieren.<br />

Interessant ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch die Cyberpunk-Bewegung, die im Kampf für<br />

totale Informationsfreiheit und gegen das Establishment zu noch viel rabiateren Methoden<br />

greift, z.B. <strong>in</strong> Regierungscomputer +e<strong>in</strong>bricht*, geheime Informationen veröffentlicht o<strong>der</strong><br />

Netze von Unternehmen mit Computer-Viren <strong>in</strong>fiziert. Die Maximen <strong>der</strong> Cyberpunk-Bewegung<br />

239<br />

nach +Mondo 2000* (e<strong>in</strong>er elektronischen Cyberpunk-Zeitschrift) lauten:<br />

• Information will frei se<strong>in</strong><br />

• Der Zugang zu Computern und zu allem, was dich etwas darüber lehrt, wie die Welt<br />

funktioniert, sollte unbegrenzt und total se<strong>in</strong><br />

• Vergiß niemals den Bezug zur Praxis<br />

• Mißtraue <strong>der</strong> Autorität<br />

• Do it yourself<br />

• Bekämpfe die Macht<br />

• Füttere Rauschen zurück <strong>in</strong>s System<br />

• Surfe auf <strong>der</strong> Schneide<br />

Vivian Sobchak, auf <strong>der</strong>en Darstellung ich mich oben bezogen habe, steht diesem Cyberpunk-<br />

Anarchismus jedoch kritisch gegenüber. Sie will <strong>in</strong> den zitierten Pr<strong>in</strong>zipien e<strong>in</strong>e libertäre Grund-<br />

haltung erkennen und befürchtet e<strong>in</strong>e Privatisierung des elektronischen öffentlichen Raumes<br />

durch e<strong>in</strong>e entpolitisierte Ideologie <strong>der</strong> freien Information, +was sowohl zu <strong>der</strong> Struktur e<strong>in</strong>es<br />

anarchistischen Individualismus als auch zu den Strukturen e<strong>in</strong>es korporativen Kapitalismus<br />

240<br />

paßt* (Demokratisches ›Franchise‹ und die elektronische Grenze; S. 334). Aber bei aller<br />

berechtigter Kritik am vielleicht zuallererst e<strong>in</strong> wenig naiv zu nennenden Cyberpunk-Aktivismus<br />

– Sobchak verkennt me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach das subversive, subpolitische Potential, das durchaus<br />

<strong>in</strong> den neuen Medientechnologien steckt und das von den Cyberpunks für ihre Ziele trickreich<br />

genutzt wird. Mit dem sich abzeichnenden Verschw<strong>in</strong>den <strong>der</strong> lokal bzw. national zentrierten<br />

Massenöffentlichkeit, eröffnen sich neue Möglichkeiten für dezentrierte globale Netzwerke<br />

subpolitischer Bewegungen, die sich durch Nutzung technologischer +Tunnel* zu e<strong>in</strong>flußreichen<br />

Suböffentlichkeiten formieren und aufschaukeln können. Der von Fiske propagierte +techno-


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 183<br />

struggle* (siehe oben) muß sich also <strong>der</strong> neuen Möglichkeiten bedienen lernen, um nicht<br />

technisch zu +veralten* und <strong>in</strong>s Leere zu laufen. Wie auch immer man aber die subpolitischen<br />

Potentiale <strong>der</strong> neuen Medien betrachten mag – e<strong>in</strong>es gilt mit Sicherheit: +Information technology<br />

is highly political.* (Media Matters; S. 219)<br />

Wenn man auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> dargestellten Positionen und Entwicklungen nun e<strong>in</strong> Resümee<br />

ziehen sollte, so müßte man auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite durch die stattf<strong>in</strong>dende Transformation des<br />

Mediensystems e<strong>in</strong>e Fragmentisierung und Diffusion von Öffentlichkeit konstatieren. Auf <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Seite ergäbe sich aber auch e<strong>in</strong>e neue Reziprozität und Interaktivität. Beides wirft<br />

Probleme für die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> auf, <strong>der</strong>en Bühne schrumpft, während sie vor<br />

<strong>in</strong>teraktive Herausfor<strong>der</strong>ungen gestellt wird. Die Chancen, die me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach damit<br />

gleichzeitig für Subpolitik entstehen, wären mit <strong>der</strong> grundsätzlichen Gefahr verbunden, daß<br />

sich Öffentlichkeit als politische Handlungssphäre <strong>in</strong> den virtuellen Landschaften des Cyberspace<br />

auflöst, den Bezug zum konkreten Raum und Handeln verliert (vgl. hierzu auch Thu Nguyen/-<br />

Alexan<strong>der</strong>: The Com<strong>in</strong>g of Cyberspacetime and the End of the Polity). 241<br />

Gerade die (entd<strong>in</strong>glichte) Immanenz <strong>der</strong> (neuen) Medien, verweist jedoch, um mit Kamper<br />

zu sprechen, auf die gleichsam +transzendentale Körperlichkeit* des Menschen (vgl. Medienim-<br />

manenz und transzendentale Körperlichkeit). Ganz ähnlich setzt auch Theo Roos <strong>der</strong> flachen<br />

242<br />

Welt <strong>der</strong> Bildschirme, dem +digitalen Sche<strong>in</strong>* (Rötzer 1991), die wi<strong>der</strong>ständige +Rauheit<br />

des Realen* entgegen. Die D<strong>in</strong>glichkeit, die Materialität <strong>der</strong> Welt, so könnte man aus e<strong>in</strong>er<br />

+materialistischen* Position heraus argumentieren, stellt sich <strong>der</strong> simulierten +Hyperrealität*<br />

<strong>der</strong> Medien (Baudrillard) entgegen, und die virtuellen neuen Welten prallen an <strong>der</strong> Schnittstelle<br />

zwischen Mensch und Masch<strong>in</strong>e +automatisch* auf das alte animal sociale mit vermutlich<br />

noch immer denselben Wünschen und Bedürfnissen wie ehedem. Zur <strong>der</strong>en Verwirklichung<br />

kann die neue Medienwelt nur als Medium beitragen. Die Netze müssen also zwischen den<br />

+realen* Welten vermitteln, müssen diese vernetzen, wenn sie für die Individuen und als<br />

Räume für politische Öffentlichkeit(en) wirkliche Relevanz erlangen sollen.<br />

E<strong>in</strong> oben schon angedeutetes Problem <strong>in</strong> diesem Zusammenhang ist – neben <strong>der</strong> ungleichen<br />

Verteilung <strong>der</strong> technologischen Ressourcen, die bestimmte Personen(gruppen) und Räume<br />

vom Zugang zu den neuen Medienwelten ausschließt –, daß auch dem wichtigsten neuen<br />

Medium, dem (ursprünglich im militärischen Kontext entwickelten und dann vor allem im<br />

243<br />

universitären Kontext ausgebreiteten) Internet, die Kommerzialisierung droht. Mit <strong>der</strong> Schaffung


184 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

des graphisch orientierten +World-Wide-Web* (1990) und se<strong>in</strong>en Multimedia-Möglichkeiten<br />

wurde nämlich das vormals eher +elitäre*, weil kryptische und re<strong>in</strong> textbasierte Internet erstmals<br />

nicht nur attraktiv für die Masse <strong>der</strong> Computernutzer, son<strong>der</strong>n auch geeignet zur Präsentation<br />

von Produkten, für Werbung und für Handel (vgl. z.B. Sterne: World Wide Web Market<strong>in</strong>g).<br />

Wer die Schlüsselsoftware zur Erschließung <strong>der</strong> sich langsam öffnenden Onl<strong>in</strong>e-Märkte offeriert,<br />

244<br />

kann sich deshalb <strong>in</strong> Zukunft (wahrsche<strong>in</strong>lich) auf großartige Geschäfte freuen. Nur so ist<br />

z.B. <strong>der</strong> (auch gerichtlich ausgetragene) +Browser-Krieg* zwischen <strong>der</strong> jungen, <strong>in</strong>novativen<br />

Firma +Netscape* und dem die neue Entwicklung be<strong>in</strong>ahe verschlafen habenden Software-<br />

Hegemon +Microsoft* zu verstehen (vgl. hierzu z.B. Kizer: The Browser War).<br />

Ob mit dieser drohenden Kommerzialisierung des Netzes auch se<strong>in</strong> (sub)politisches Potential<br />

schw<strong>in</strong>det, o<strong>der</strong> ob sich neben <strong>der</strong> kommerziellen Netzwelt e<strong>in</strong>e Nische für +freie* politische<br />

Öffentlichkeiten erhält, bleibt abzuwarten. Der Wandel im Mediensystem wird jedoch, so<br />

o<strong>der</strong> so, Auswirkungen auf den Charakter des Öffentlichkeitssystems zeigen, dem sich die<br />

<strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> weit mehr als bisher zu stellen haben wird – nicht nur, wie aktuell,<br />

mit dem simplen Versuch <strong>der</strong> Ausweitung <strong>der</strong> staatlichen Kontrolle auf die Netz<strong>in</strong>halte (vgl.<br />

zu letzterem Aspekt z.B. Bredekamp: Leviathan und Internet). 245<br />

2.5 WERTEWANDEL, INDIVIDUALISIERUNG UND POLITISCHE KULTUR(UM)BRÜCHE<br />

(KULTUR UND SOZIALSTRUKTUR)<br />

Das Öffentlichkeitssystem, dessen Wandlungen bezogen auf das <strong>Politik</strong>system im vorangegan-<br />

genen Abschnitt verfolgt wurden, kann e<strong>in</strong>erseits zum politischen Mesosystem gerechnet werden,<br />

da das für die Herstellung von Öffentlichkeit <strong>in</strong> Massendemokratien erfor<strong>der</strong>liche Mediensystem<br />

nicht nur <strong>in</strong>formell, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel auch <strong>in</strong>stitutionell mit dem <strong>Politik</strong>system verflochten<br />

ist (z.B. durch staatliche Aufsichtsbehörden). In <strong>der</strong> Bundesrepublik gibt es mit dem +öffentlich-<br />

rechtlichen* Rundfunk sogar e<strong>in</strong>e weit darüber h<strong>in</strong>ausgehende <strong>in</strong>stitutionelle Überlappung,<br />

die den politischen Akteuren den Zugang zur öffentlichen Bühne garantiert. Versteht man<br />

unter Öffentlichkeit dagegen primär das beobachtende Publikum, so muß man das Öffent-<br />

lichkeitssystem dem Exosystem <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zuordnen – denn es gibt zwischen Beobachtern<br />

und Akteuren <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Öffentlichkeit ke<strong>in</strong>e permanente <strong>in</strong>stitutionelle Brücke, son<strong>der</strong>n<br />

nur e<strong>in</strong>e praxologische Verklammerung <strong>in</strong> Form <strong>der</strong> periodischen Wahlrituale.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 185<br />

Trotzdem ist Öffentlichkeit, wie hoffentlich deutlich wurde, natürlich e<strong>in</strong>e Art Referenzsystem<br />

für die <strong>Politik</strong>: Der Bezug zur Öffentlichkeit legitimiert und formt <strong>Politik</strong>, und im Medium<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit wird diese nicht nur gespiegelt, son<strong>der</strong>n es aktualisiert sich <strong>der</strong> Bestand<br />

sozialer Normen, an dem <strong>Politik</strong> bzw. politisches Handeln gemessen wird. In dieser H<strong>in</strong>sicht<br />

ist Öffentlichkeit aber auch e<strong>in</strong> Medium des kulturellen Makrosystems. Denn unter Kultur<br />

im engeren S<strong>in</strong>n möchte ich, analog zu Parsons, das (übergeordnete) Wertesystem verstehen,<br />

das für die Strukturerhaltung <strong>der</strong> Gesellschaft sorgt (siehe auch S. XXI).<br />

Werte formen also soziale Strukturen, an ihnen und um sie bildet sich das +Gesicht* e<strong>in</strong>er<br />

Gesellschaft aus. Manchmal verbirgt jedoch dieses Gesicht se<strong>in</strong>e +Lebensgeschichte*, die<br />

zugrundeliegenden Prägeformen s<strong>in</strong>d verdeckt. Die formale Soziologie Simmels hat deshalb<br />

versucht, das Soziale nur über se<strong>in</strong>e formalen, nicht über se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltlichen Aspekte zu erfas-<br />

246<br />

sen. Alle<strong>in</strong>e durch diese spezifische wissenschaftliche Abstraktion ist für Simmel Soziologie<br />

von an<strong>der</strong>en soziale Prozesse betrachtenden Diszipl<strong>in</strong>en wie Ökonomie o<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> abgrenzbar<br />

(vgl. Soziologie; S. 6). Aber das ist e<strong>in</strong> (wenn auch bewußt) reduktionistischer Ansatz, <strong>der</strong><br />

die Formen <strong>der</strong> Vergesellschaftung nicht auf ihre Formgebung, die manifesten wie latenten<br />

Machtstrukturen und normativen Grundmuster, zurückführen kann. Form verweist immer<br />

auf e<strong>in</strong>en Inhalt, auch wenn sie ihn verdeckt o<strong>der</strong> verschleiert.<br />

An<strong>der</strong>erseits ist – worauf Simmel abhob (vgl. ebd.; S. 5) – <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> sozialen Formen<br />

nicht greifbar, wenn er sich nicht vergegenständlicht und Form annimmt. Zudem werden<br />

soziale Inhalte häufig gerade über die Kont<strong>in</strong>uität <strong>der</strong> Form(en) tradiert (z.B. <strong>der</strong> politische<br />

Wert <strong>der</strong> +Demokratie* über den fixierten Text <strong>der</strong> Verfassung, die <strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> gegossene Institution<br />

des Parlaments und die oben angesprochenen Wahlrituale etc.). Zur Kultur (im weiteren S<strong>in</strong>n)<br />

gehören deshalb (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nicht-reduktionistischen Perspektive) neben dem Wertesystem (als<br />

se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen Dimension) auch dessen Manifestationen <strong>in</strong> materiellen, diskursiven,<br />

strukturellen und symbolischen Formen (sowie <strong>der</strong>en ästhetische Dimension).<br />

Dies deutet allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> mögliches Problem an, das auftaucht, wenn die Formen <strong>in</strong>haltslos<br />

werden bzw. ihre E<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong> das zugrundeliegende Wertesysteme verlieren. E<strong>in</strong> solcher<br />

E<strong>in</strong>bettungsverlust ist häufig für die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als kulturelles Phänomen behauptet worden.<br />

Betrachtet man die kulturellen Formen, so ergibt sich nämlich gemäß <strong>der</strong> gängigen Interpretation<br />

e<strong>in</strong>e Zersplitterung und Auffächerung (Pluralisierung) bei <strong>der</strong> gleichzeitigen Betonung und<br />

Verselbständigung des Formaspekts (Ästhetisierung).


186 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

E<strong>in</strong>e Reihe von Bemerkungen zur postmo<strong>der</strong>nen Pluralisierung s<strong>in</strong>d schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung<br />

gemacht worden: So wurde etwa Achille Bonito Oliva mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung diskont<strong>in</strong>uierlicher<br />

Verschiedenheit für die Kunstwerke e<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nen Trans-Avantgarde zitiert (siehe S.<br />

XLIV). Charles Jencks plädierte ganz ähnlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Architektur für e<strong>in</strong>e (radikal eklektische)<br />

Erweiterung <strong>der</strong> Formen-Sprache (siehe S. XLV), und auch He<strong>in</strong>rich Klotz befürwortete e<strong>in</strong>e<br />

Bedeutungs- und Stilvielfalt (siehe S. XLVI). Beson<strong>der</strong>s aber Feyerabends Pr<strong>in</strong>zip des +anyth<strong>in</strong>g<br />

goes* (siehe ebd.) ist zum Schlagwort für e<strong>in</strong>en +diffusen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus* (Welch) geworden,<br />

und so haben (kritische) Beobachter denn auch e<strong>in</strong>e gewisse Beliebigkeit <strong>der</strong> (post)mo<strong>der</strong>nen<br />

Kultur konstatiert. Die rationalistische Metaphysik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird abgelöst durch e<strong>in</strong> +<strong>Post</strong>-<br />

mo<strong>der</strong>n Gam<strong>in</strong>g* (Küchler 1994). Alles löst sich auf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bunten Melange, es kommt zu<br />

e<strong>in</strong>er +Pastichisierung* (Jameson) – o<strong>der</strong> wie Marshall Berman es <strong>in</strong> Anlehnung an e<strong>in</strong> Marx-Zitat<br />

formuliert hat: +All That Is Solid Melts Into Air* (1982).<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite kann die postmo<strong>der</strong>ne Vielfalt auch als bloßes Oberflächenphänomen<br />

e<strong>in</strong>er entgrenzten Warenkultur gedeutet werden (und hat damit e<strong>in</strong>e durchaus +materielle*<br />

Grundlage). In <strong>der</strong> Tat weist <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus als anti-avantgardistische künstlerische<br />

Bewegung Bezüge zur Massenkultur auf, die aber schon ihrerseits ästhetisch überformt ist.<br />

Denn die +ästhetische Produktion ist [aufgrund des ökonomischen Drucks, immer neue Schübe<br />

immer neuer Waren zu produzieren] <strong>in</strong>tegraler Bestandteil <strong>der</strong> Warenproduktion geworden*<br />

(Jameson: Zur Logik <strong>der</strong> Kultur im Spätkapitalismus; S. 48). Der Tauschwert des ästhetischen<br />

Sche<strong>in</strong>s dom<strong>in</strong>iert über den Gebrauchswert (vgl. Haug: Kritik <strong>der</strong> Warenästhetik). So kommt<br />

es <strong>in</strong> unserer +Zuvielisation* (Guggenberger) zu e<strong>in</strong>er immer weiter gehenden +Ästhetisierung<br />

247<br />

des Alltagslebens* (Featherstone). Das Ästhetische (als Ausdruck des Nichtidentischen) ersche<strong>in</strong>t<br />

deshalb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nen Ausprägung nicht mehr als potentielle Rettung aus den rationali-<br />

stischen Aporien <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung wie etwa beim späten Adorno (vgl. Ästhetische<br />

248<br />

Theorie; S. 14ff.), son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Konsumismus <strong>der</strong> +ästhetischen Gesellschaft* (Giehle) und<br />

<strong>der</strong> verspielte +Populismus* <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Kunst und Architektur (als das radikal Identische)<br />

s<strong>in</strong>d die kulturellen Manifestationen e<strong>in</strong>er entfesselten, (spät)kapitalistischen Dynamik unter<br />

den Bed<strong>in</strong>gungen +flexibler Akkumulation* (Harvey).<br />

Diese kritische Sicht des +post<strong>in</strong>dustriellen* Konsumismus und des an die Massenkultur ange-<br />

lehnten <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus wird auch von vielen konservativen Denkern geteilt (vgl. z.B. Bell:<br />

Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus und siehe auch S. 262). In die Analyse mischt


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 187<br />

sich hier jedoch zumeist die Klage über e<strong>in</strong>en angeblichen Werteverfall, e<strong>in</strong>en +Verlust <strong>der</strong><br />

Tugend* (MacIntyre 1981), <strong>der</strong> sich gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vielzahl <strong>der</strong> aktuell aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>prallenden<br />

Moralvorstellungen zeigt:<br />

+[…] <strong>der</strong> endlose und gestörte Charakter vieler mo<strong>der</strong>ner [aktueller] Moraldebatten [entsteht] durch die<br />

Vielzahl heterogener und nicht vergleichbarer Vorstellungen […] In dieser Mischung aus Begriffen f<strong>in</strong>det<br />

sich, im Kampf mit mo<strong>der</strong>nen [klassisch neuzeitlichen] Begriffen wie Nützlichkeit und Recht, e<strong>in</strong>e ganze<br />

Reihe von Tugendbegriffen […] Es fehlt allerd<strong>in</strong>gs je<strong>der</strong> klare Konsens sowohl über die Stellung <strong>der</strong> Tugend-<br />

begriffe im Verhältnis zu an<strong>der</strong>en Moralbegriffen als auch darüber, welche Dispositionen <strong>in</strong> den Katalog<br />

von Tugenden […] aufgenommen werden sollen.* (S. 301)<br />

Die hier angeprangerte Wertepluralisierung, die <strong>der</strong> Gesellschaft ihre angeblich notwendige<br />

(konsensuelle) moralische Basis entzieht, wird häufig auch <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit Individualisierung<br />

als sozialem Des<strong>in</strong>tegrationsprozeß bzw. als sozialstrukturellem Destrukturierungs-Phänomen<br />

gebracht (vgl. z.B. ebd.; S. 54f.), die damit die postmo<strong>der</strong>ne kulturelle Pluralisierung auf <strong>der</strong><br />

249<br />

Ebene <strong>der</strong> Sozialstruktur spiegelt bzw. <strong>der</strong>en sozialstrukturelles Fundament darstellt. Doch<br />

kann nicht an<strong>der</strong>erseits gerade als Folge von Individualisierungsprozessen von e<strong>in</strong>er neuen<br />

Sozialmoral auf <strong>der</strong> Grundlage postmaterieller Werte und e<strong>in</strong>er zu neuem Leben erwachten<br />

(subpolitisch transformierten) politischen Alltagskultur gesprochen werden?<br />

Individualisierung wurde bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung (<strong>in</strong> Anlehnung an van <strong>der</strong> Loo/van Reijen)<br />

als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wesentlichen Teilprozesse <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne radikalisierenden Mo<strong>der</strong>nisie-<br />

rung dargestellt – dort allerd<strong>in</strong>gs nicht so sehr als (sozial)struktureller Transformationsprozeß,<br />

son<strong>der</strong>n eher bezogen auf die (ambivalente) Freisetzung des Individuums aus sozialen Zwängen<br />

(siehe S. XXVI–XXX). Mo<strong>der</strong>nisierung auf struktureller Ebene wurde dagegen als sozialer Differen-<br />

zierungsprozeß charakterisiert (siehe S. XXII–XXVI). An<strong>der</strong>erseits habe ich bereits bemerkt,<br />

daß Individualisierung und Differenzierung mehr o<strong>der</strong> weniger zwei Seiten e<strong>in</strong> und <strong>der</strong>selben<br />

Medaille darstellen (siehe S. XXVI). Demgemäß erzeugt soziale Differenzierung, die e<strong>in</strong> gewisses<br />

Maß übersteigt, geradezu zwangsläufig Individualisierungsersche<strong>in</strong>ungen. Individualisierung<br />

ist deshalb auch <strong>der</strong> Ausdruck für e<strong>in</strong> bestimmtes Niveau sozialer Differenzierung. Diese Inter-<br />

pretation, die Individualisierung als Differenzierungs-(Sub)phänomen begreift, deckt sich zwar<br />

nicht hun<strong>der</strong>tprozentig mit Ulrich Becks Konzept, dessen Schrift +Jenseits von Stand und Klasse*<br />

(1983) den zentralen Bezugspunkt <strong>der</strong> neueren Individualisierungsdebatte – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik – darstellt. Doch immerh<strong>in</strong> bezieht auch Beck, wie schon <strong>der</strong> Titel se<strong>in</strong>es


188 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Aufsatzes zeigt, den Individualisierungsbegriff auf e<strong>in</strong>en Wandel <strong>der</strong> Sozialstruktur. In diesem<br />

Zusammenhang verweist er zunächst auf e<strong>in</strong> Paradox:<br />

+Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite weist die Struktur sozialer Ungleichheit <strong>in</strong> den entwickelten Län<strong>der</strong>n alle Attribute<br />

e<strong>in</strong>er historisch-politisch genau betrachtet eigentlich überraschenden Stabilität auf […] Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite ist […] das Ungleichheitsthema […] konsequent von <strong>der</strong> Tagesordnung des Alltags, <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und<br />

<strong>der</strong> Wissenschaften verschwunden.* (S. 35f.)<br />

Beck löst diese Paradoxie auf, <strong>in</strong>dem er den Befund <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gt, daß die Stabilität <strong>der</strong><br />

Ungleichheitsrelationen mit e<strong>in</strong>er drastischen Niveauverschiebung, was E<strong>in</strong>kommen und Bil-<br />

dungsstand betrifft, e<strong>in</strong>hergegangen ist, wodurch +subkulturelle Klassenidentitäten zunehmend<br />

weggeschmolzen, ›ständisch‹ e<strong>in</strong>gefärbte Klassenlagen enttraditionalisiert und Prozesse e<strong>in</strong>er<br />

Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen ausgelöst wurden,<br />

die das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterlaufen und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Realitäts-<br />

gehalt zunehmend <strong>in</strong> Frage stellen* (ebd.; S. 36). In <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* (1986) hat Beck<br />

diese Individualisierung durch e<strong>in</strong>e Erhöhung des Wohlstandssockels sehr e<strong>in</strong>drücklich mit<br />

dem Begriff des +Fahrstuhleffekts* gefaßt (vgl. S. 124f.), auf den hier ja bereits verschiedentlich<br />

e<strong>in</strong>gegangen wurde.<br />

Das so verbildlichte Individualisierungstheorem Becks stellt +naturgemäß* e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

sowohl marxistischer Klassentheorie, <strong>der</strong> soziologisch lange Zeit dom<strong>in</strong>ierenden Schichtungs-<br />

ansätze wie auch Webers immer wie<strong>der</strong> aufgegriffener Theorie <strong>der</strong> durch Marktlagen und<br />

e<strong>in</strong>e spezifische Lebensführung geformten +sozialen Klassen* dar, die dieser <strong>in</strong> +Wirtschaft<br />

250<br />

und Gesellschaft* (1921) skizziert hat (vgl. Band 1, S. 177–180). Beck kann für se<strong>in</strong>e immer<br />

noch umstrittene These jedoch gute empirische Belege <strong>in</strong>s Feld führen. Untersuchungen zeigen<br />

nicht nur e<strong>in</strong>e zunehmende Erosion des subjektiven Klassenbewußtse<strong>in</strong>s und <strong>der</strong> noch <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Vorkriegszeit so klar abgrenzbaren klassischen +sozialmoralischen Milieus* (Lepsius) 251<br />

(vgl. z.B. Mooser: Auflösung <strong>der</strong> proletarischen Milieus). Statistisches Material weist für die<br />

Nachkriegsära e<strong>in</strong>e egalisierende Bildungsexpansion und e<strong>in</strong>e drastische allgeme<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>kom-<br />

mensverbesserung auf, die vor allem auf <strong>der</strong> unteren Stufe <strong>der</strong> +Schichtungshierarchie* zu<br />

e<strong>in</strong>em qualitativen Wandel <strong>der</strong> Lebensverhältnisse führten.<br />

Die Quellen, auf die Beck sich bezieht, belegen u.a. e<strong>in</strong>en starken Anstieg höherer Bildungs-<br />

abschlüsse (jedoch bei <strong>der</strong>en gleichzeitiger Entwertung), und auch <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Studienanfänger,


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 189<br />

die aus <strong>der</strong> Arbeiterschicht stammen, hat sich von 1951 (4%) bis 1982 (17,3%) mehr als<br />

vervierfacht (vgl. Risikogesellschaft; S. 127f.). Damit verwischen zunehmend die Klassen-,<br />

Schicht- und Milieugrenzen, die zu e<strong>in</strong>em großen Teil auch durch symbolisch-kulturelle Barrieren<br />

verfestigt worden waren, und die erfolgten E<strong>in</strong>kommenssteigerungen erlauben selbst Arbeit-<br />

nehmern e<strong>in</strong> Konsumverhalten auf +gehobenem* Niveau, das zur Entfaltung <strong>in</strong>dividualisierter<br />

Lebensstile führt – e<strong>in</strong> Phänomen, was <strong>in</strong> den USA bereits <strong>in</strong> den 70er Jahren beschrieben<br />

wurde (vgl. Zablocki/Kanter-Moss: The Differentiation of Life-Styles). E<strong>in</strong> immer ger<strong>in</strong>gerer<br />

Teil des E<strong>in</strong>kommens muß nämlich für das Lebensnotwendige aufgewendet werden. In Anleh-<br />

nung an Mooser (siehe oben) bemerkt Beck:<br />

+Noch bis 1950 verschlangen Nahrung, Kleidung und Wohnung [bei Arbeitern] drei Viertel des Haushalts-<br />

budgets, während dieser Anteil 1973 – bei e<strong>in</strong>em qualitativ erhöhten Niveau – auf 60% sank. Gleichzeitig<br />

kam es zu e<strong>in</strong>er Art ›Demokratisierung‹ von symbolischen Konsumgütern – Radio, Fernsehgerät, […] Eisschrank<br />

und das Auto […] Es reichte sogar für die Bildung persönlichen Besitzes […] Die Sparquote stieg beträchtlich<br />

von 1–2% 1907 auf 5,6% im Jahre 1955 und verdoppelte sich noch e<strong>in</strong>mal bis zum Jahre 1974 auf 12,5%<br />

[…] Sogar das ›Traumziel‹ des Haus- und Wohnungseigentums wurde für viele erschw<strong>in</strong>glich. Waren<br />

es 1950 6% <strong>der</strong> Arbeiterhaushalte, die sich ihren Wunsch von den eigenen vier Wänden erfüllen konnten,<br />

so wuchs diese Zahl 1968 auf 32% und 1977 auf 39% an.* (Risikogesellschaft; S. 123)<br />

Allerd<strong>in</strong>gs muß gerade aufgrund neuerer Daten relativierend angemerkt werden, daß das<br />

Reale<strong>in</strong>kommen abhängig Beschäftigter seit Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

weitgehend stagniert, so daß die E<strong>in</strong>kommenskluft <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zwischen den Selbständigen<br />

(die ihre ökonomische Position erheblich verbessern konnten) und den Arbeitnehmern tatsächlich<br />

252<br />

wie<strong>der</strong> zunimmt (vgl. Welzmüller: Differenzierung und Polarisierung). In den USA mußten<br />

auf <strong>der</strong> Arbeitnehmerseite sogar erhebliche E<strong>in</strong>kommense<strong>in</strong>bußen h<strong>in</strong>genommen werden,<br />

so daß dort die Zahl <strong>der</strong> sog. +work<strong>in</strong>g poor* stark zugenommen hat (vgl. z.B. Swartz/Weigert:<br />

253<br />

America’s Work<strong>in</strong>g Poor). Das än<strong>der</strong>t aber nichts daran, daß <strong>der</strong> Wohlstandssockel <strong>in</strong> den<br />

meisten +fortgeschrittenen* Gesellschaften noch immer beträchtlich ist.<br />

In den vergangenen Jahrzehnten hat also – trotz <strong>der</strong> gemachten E<strong>in</strong>schränkungen – e<strong>in</strong><br />

dramatischer Wandel <strong>der</strong> Verhältnisse stattgefunden, und so steht Beck mit se<strong>in</strong>er Analyse<br />

denn auch ke<strong>in</strong>eswegs alle<strong>in</strong>e auf weiter Flur. Die (allerd<strong>in</strong>gs aus e<strong>in</strong>em grundsätzlichen<br />

+Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität* heraus formulierte) Rede von <strong>der</strong> +Pluralisierung <strong>der</strong> sozialen<br />

Lebenswelten* (Berger/Berger/Kellner) zum Beispiel weist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ganz ähnliche Richtung,


190 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

aber auch schon Theodor Geiger und Helmuth Schelsky hatten nach dem Krieg von e<strong>in</strong>er<br />

+Klassengesellschaft im Schmelztiegel* bzw. e<strong>in</strong>er +nivellierten Mittelstandsgesellschaft* gesprochen.<br />

Aktuelle Versuche, zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> wenig Ordnung <strong>in</strong> +die neue Unübersichtlichkeit* (Habermas)<br />

zu br<strong>in</strong>gen, bemühen deshalb Begriffe wie +Subkultur* und +Lebensstil* etc. (vgl. Hradil: <strong>Post</strong>-<br />

254<br />

mo<strong>der</strong>ne Sozialstruktur?; S. 137f.) o<strong>der</strong> verwenden e<strong>in</strong>en aufgeweichten Schichtbegriff<br />

(vgl. z.B. Geißler: Schichten <strong>in</strong> <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft). 255<br />

Die Stärke und die Schwäche von Becks Argumentation liegt allerd<strong>in</strong>gs genau <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenz<br />

se<strong>in</strong>er Individualisierungsthese – und dar<strong>in</strong>, daß er die sozialstrukturelle Transformation <strong>der</strong><br />

+klassischen* Industriegesellschaft auf die +Dynamik von Arbeitsmarktprozessen unter den<br />

Bed<strong>in</strong>gungen wohlfahrtsstaatlicher Massendemokratie* bezieht (Jenseits von Stand und Klasse;<br />

S. 41), womit auf den immanenten Zusammenhang von ökonomischen, politischen und sozialen<br />

Faktoren h<strong>in</strong>gewiesen wird. Der demokratische Wohlfahrtsstaat, wie er sich <strong>in</strong> den fortge-<br />

schrittenen Gesellschaften als politisches Modell herausgebildet hat, sorgt nämlich durch staatliche<br />

Umverteilung für die Partizipation breiter Massen am hohen ökonomischen Niveau und sichert<br />

(z.B. durch kostenfreie Ausbildungssysteme und Studienbeihilfen) den allgeme<strong>in</strong>en Zugang<br />

zu Bildung (vgl. Risikogesellschaft; S. 127ff.). Damit ist auch für die +gerechte* Distribution<br />

des +kulturellen Kapitals* (Bourdieu) gesorgt. Der Arbeitsmarkt wie<strong>der</strong>um erzw<strong>in</strong>gt vom e<strong>in</strong>zelnen<br />

Bildungsanstrengungen, Mobilität und e<strong>in</strong>e gekonnte Selbstdarstellung – beson<strong>der</strong>s unter den<br />

aktuellen Bed<strong>in</strong>gungen +flexibel-pluraler Unterbeschäftigung* (vgl. ebd.; S. 222ff.). Selbst<br />

die Lebens(lauf)planung hat – an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit, wo die soziale Ausgangsposition<br />

weitgehend über den Lebensweg entschied – <strong>in</strong> Eigen<strong>in</strong>itiative zu erfolgen, und die <strong>in</strong>dividuelle<br />

Biographie muß <strong>in</strong> kreativer Weise zu e<strong>in</strong>em stimmigen Bild zusammengesetzt werden, weshalb<br />

Ronald Hitzler und Anne Honer von <strong>der</strong> +Bastelexistenz* (1994) gesprochen haben.<br />

Doch was ist, wenn <strong>der</strong> Wohlfahrtsstaat erodiert und <strong>der</strong> Arbeitsmarkt die Individuen, wie<br />

oben angedeutet, immer weniger <strong>in</strong> die <strong>in</strong>dividualisierte Gesellschaft <strong>in</strong>tegriert, son<strong>der</strong>n zu<br />

256<br />

e<strong>in</strong>em Exklusionsmechanismus gerät? Unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen ist Individualisierung gefährdet<br />

und gefährdend, die freilich von Beck von vorne here<strong>in</strong> nicht als e<strong>in</strong>dimensionaler, son<strong>der</strong>n<br />

als ambivalenter Prozeß gedacht worden ist, <strong>der</strong> mit den Chancen, die er eröffnet, auch neue<br />

Zwänge – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zur Gestaltung des eigenen Lebens – für das Individuum schafft und<br />

neben Gew<strong>in</strong>nern auch +Mo<strong>der</strong>nisierungsverlierer* wie z.B. die Langzeitarbeitslosen produziert<br />

257<br />

(vgl. Risikogesellschaft; S. 143ff.). Auf diese neuen Zwänge und die +neue Armut*, die als


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 191<br />

vorübergehendes Phänomen sogar immer mehr Menschen betrifft (vgl. Leiser<strong>in</strong>g: Zwischen<br />

Verdrängung und Dramatisierung; S. 499ff.), wird häufig mit Unmut bzw. mit e<strong>in</strong>em Gefühl<br />

<strong>der</strong> Marg<strong>in</strong>alisierung und teilweise sogar mit +des<strong>in</strong>tegrativer Gewalt* reagiert (vgl. hierzu<br />

<strong>in</strong>sb. Heitmeyer: Entsicherungen – Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse und Gewalt). 258<br />

Die Individualisierungsfrustration ist, so darf man annehmen, dann beson<strong>der</strong>s hoch, wenn<br />

die +Zumutungen* <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft bestehen bleiben, die Chancen zur Verwirk-<br />

lichung <strong>der</strong> mühevoll erarbeiteten Lebensentwürfe und -ziele jedoch gleichzeitig reduziert<br />

werden. Als Katalysator für e<strong>in</strong>e solche problematische Entwicklung könnten sich <strong>in</strong> Zukunft<br />

verstärkt die ökonomischen Globalisierungsprozesse erweisen (siehe Abschnitt 2.1), die es<br />

dem Kapital ermöglichen, die wohlfahrtsstaatlichen Steuer-Klippen zu umschiffen (siehe Abschnitt<br />

3.1) und so dem Individualisierungsprozeß se<strong>in</strong>e ökonomische Basis rauben, <strong>in</strong>dem <strong>der</strong> Fahrstuhl,<br />

um <strong>in</strong> Becks Bild zu bleiben, wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>ige Etagen nach unten gefahren wird. Ausgerechnet<br />

259<br />

<strong>der</strong> (natürlich auch auf kultureller Ebene greifende) +Wandlungsmotor* Globalisierung könnte<br />

also möglicherweise zu e<strong>in</strong>em neuen Hervortreten <strong>der</strong> alten Klassenverhältnisse führen (vgl.<br />

hierzu auch Brock: Rückkehr <strong>der</strong> Klassengesellschaft?). Die <strong>in</strong>dividualisierte Gesellschaft ist<br />

also e<strong>in</strong>e historisch kont<strong>in</strong>gente Gesellschaftsformation, die auf reversible ökonomische Verhält-<br />

nisse gegründet ist und so nur allzu leicht (z.B. durch die angesprochenen ökonomischen<br />

Globalisierungsprozesse) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Krise steuern kann. In diesem Fall wäre den <strong>in</strong>dividualisierten<br />

Lebensstilen als kulturellen Manifestationen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft die ökonomische<br />

Basis weggebrochen, obwohl sie als Formen, <strong>in</strong> die die Individuen +e<strong>in</strong>gelebt* s<strong>in</strong>d, (zum<strong>in</strong>dest<br />

e<strong>in</strong>e Zeitlang) notwendig überdauern. Das erzeugt e<strong>in</strong>e Irrationalität und Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit<br />

<strong>der</strong> Lebensformen <strong>in</strong> bezug auf die sozio-ökonomische Lebenswirklichkeit (siehe hierzu auch<br />

Abschnitt 3.5).<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ist Individualisierung, wie oben bereits angedeutet, auch mit e<strong>in</strong>em<br />

Wertewandel verbunden – <strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs nicht, wie von MacIntyre diagnostiziert, zu e<strong>in</strong>er<br />

diffusen Wertepluralisierung führt, son<strong>der</strong>n eher als gerichteter Wandlungsprozeß verstanden<br />

260<br />

werden sollte und e<strong>in</strong>e neue +Sozialmoral des eigenen Lebens* hervortreten läßt. Diese<br />

+bejaht, was öffentlich beklagt wird: den Durchgang des Sozialen durch das Individuelle*<br />

261<br />

(Beck: Eigenes Leben; S. 166) und gründet auf +<strong>der</strong> von <strong>in</strong>nen her erfahrenen Not und<br />

Notwendigkeit, das eigene Leben zu begrenzen, um es überhaupt s<strong>in</strong>nvoll und gestaltbar<br />

werden zu lassen. Das ›Material‹ dieser Selbstbegrenzung und Selbstgestaltung s<strong>in</strong>d die Ansprüche


192 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

an<strong>der</strong>er […], für die ich […] das eigene Leben e<strong>in</strong>schränke, aufgebe, um auf diese Weise<br />

im Erleben des Wi<strong>der</strong>stands des an<strong>der</strong>en das Eigene des eigenen Lebens zu erfahren und<br />

zu gestalten.* (Ebd.)<br />

Die Behauptung, daß Individualisierung zu e<strong>in</strong>er Wertediffusion o<strong>der</strong> gar e<strong>in</strong>er völligen +Ent-<br />

wertung* führt, beruht gemäß Beck nämlich auf zwei Mißverständnissen. Das erste Mißverständnis<br />

ist das +egoistische Marktmißverständnis*, das davon ausgeht, Individualisierung als Prozeß<br />

beziehe sich primär auf die ökonomische Entfaltung des Individuums <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er liberalistischen<br />

Ellbogengesellschaft (vgl. ebd; S. 168). Das zweite Mißverständnis ist das traditionalistische<br />

+Mißverständnis <strong>der</strong> Wir-Moral*. +Hier wird fälschlich von <strong>der</strong> Ablehnung traditional und organisch<br />

vorgegebener Solidaritätsformen und -normen auf die A- o<strong>der</strong> Antimoral <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten<br />

Gesellschaft geschlossen* (ebd.), die allerd<strong>in</strong>gs gemäß den obigen Ausführungen ja gerade<br />

auf <strong>der</strong> Selbstbegrenzung und Selbsts<strong>in</strong>ngebung des Individuums beruht. Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund<br />

hat sich, wie bereits an an<strong>der</strong>er Stelle erläutert (siehe S. 55f.), auch e<strong>in</strong> verän<strong>der</strong>tes <strong>Politik</strong>-<br />

verständnis herausgebildet, das se<strong>in</strong>e Entsprechung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wandel <strong>der</strong> politischen Kultur<br />

f<strong>in</strong>det: Das Politische wird immer weniger <strong>in</strong> den staatlichen Institutionen und politischen<br />

Organisationen verortet, son<strong>der</strong>n wan<strong>der</strong>t <strong>in</strong> die Alltagspraxis <strong>der</strong> Subpolitik ab (vgl. auch<br />

<strong>der</strong>s.: Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; S. 154ff.).<br />

Ganz ähnliche Aussagen wie Beck trifft Anthony Giddens mit se<strong>in</strong>em ebenfalls schon dargelegten<br />

Konzept <strong>der</strong> +life politics* (vgl. Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity; S. 209ff. und siehe hier S. 56f.).<br />

Die +lebens(weltliche)* <strong>Politik</strong>, von <strong>der</strong> Giddens spricht, zielt nämlich genau auf die Schaffung<br />

moralisch rechtfertigbarer Lebensformen <strong>in</strong> Anbetracht <strong>der</strong> globalisierten Risiken und Inter-<br />

dependenzen unserer Gegenwart (vgl. ebd.; S. 215). Dabei treten e<strong>in</strong>e ganze Reihe von neuen<br />

moralischen und politischen Fragestellungen hervor: Welche Verantwortung hat die Menschheit<br />

gegenüber <strong>der</strong> Natur? Welche Rechte haben die Ungeborenen? Welches s<strong>in</strong>d die Grenzen<br />

wissenschaftlicher und technischer Innovation? Welche Rolle darf Gewalt <strong>in</strong> den zwischen-<br />

menschlichen und <strong>in</strong>ternationalen Beziehungen spielen? Welche Rechte und Pflichten haben<br />

die Individuen gegenüber ihrem Körper? Etc. (Vgl. ebd.; S. 227)<br />

Die <strong>in</strong>dividualisierte Gesellschaft ist also durch das Hervortreten neuer moralisch-politischer<br />

Fragen gekennzeichnet und zeigt eher Tendenzen zu e<strong>in</strong>er – durchaus nicht e<strong>in</strong>seitig zu be-<br />

grüßenden – (Re-)Moralisierung und Politisierung des sozialen Lebens als zu e<strong>in</strong>em +Verlust<br />

262<br />

<strong>der</strong> Tugend*. Das deckt sich auch mit den empirischen Befunden Ronald Ingleharts. Dieser


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 193<br />

stellte bereits Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre – ausgehend von eigenen Erhebungsdaten, die er <strong>in</strong><br />

263<br />

verschiedenen westeuropäischen Staaten sammelte – die These e<strong>in</strong>es Vordr<strong>in</strong>gens post-<br />

materialistischer (also weniger auf Wohlstand und Sicherheit als auf die Möglichkeit zu persön-<br />

licher Entfaltung zielen<strong>der</strong>) Werte auf (vgl. The Silent Revolution <strong>in</strong> Europe). Ende <strong>der</strong> 80er<br />

Jahre legte Inglehart dann e<strong>in</strong>en Band vor, <strong>in</strong> dem er e<strong>in</strong>e Zusammenschau se<strong>in</strong>er an diese<br />

erste Studie anschließenden empirischen Untersuchungen darbietet. Die von ihm hier zusammen-<br />

getragenen Ergebnisse ließen ihn zu dem Resümee gelangen, +daß sich zwischen 1970 und<br />

1988 e<strong>in</strong>e Verschiebung von materialistischen zu postmaterialistischen Werten vollzogen hat*<br />

und +daß diese Werteverschiebung zu e<strong>in</strong>em umfassenden Syndrom des <strong>in</strong>tergenerationellen<br />

Kulturwandels gehört; dabei werden Lebensqualität und Selbstverwirklichung immer stärker<br />

betont, während traditionelle politische, religiöse, moralische und soziale Normen an Bedeutung<br />

verlieren.* (Kultureller Umbruch; S. 90) 264<br />

Es zeigte sich im Detail, daß zwar materialistische Werte (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e unter älteren Menschen)<br />

noch deutlich überwiegen. Bei <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> 15–24jährigen dom<strong>in</strong>iert aber bereits e<strong>in</strong>e<br />

265<br />

postmaterialistische Orientierung (vgl. ebd.; Abb. 2.1, S. 103). Zudem ist <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong><br />

<strong>Post</strong>materialisten unter den Gebildeteren und Personen aus wohlsituierten Elternhäusern beson-<br />

<strong>der</strong>s hoch (vgl. ebd.; Tab. 5.3 u. 5.4; S. 212 bzw. S. 214). Und schließlich konnte auch im<br />

Zeitverlauf e<strong>in</strong>e Entwicklung zugunsten postmaterieller Werte festgestellt werden (vgl. ebd.;<br />

266<br />

Abb. 2.5, S. 114), wobei sich im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich e<strong>in</strong>e Korrelation <strong>der</strong> Werteorien-<br />

tierung mit allgeme<strong>in</strong>en Wirtschaftsdaten wie <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Inflationsrate zeigte (vgl.<br />

ebd.; Tab. 2.5; S. 127). Damit spricht alles dafür, daß die Werteorientierung nicht direkt,<br />

son<strong>der</strong>n nur vermittelt über e<strong>in</strong>en +generativen Effekt* altersabhängig ist und <strong>der</strong> zunehmende<br />

E<strong>in</strong>fluß postmaterialistischer Werte zum großen Teil auf sozio-ökonomische Faktoren zurück-<br />

267<br />

zuführen ist. Dazu Inglehart:<br />

+Das bislang ungekannte Maß wirtschaftlicher und physischer Sicherheit <strong>der</strong> Nachkriegszeit hat zu e<strong>in</strong>er<br />

<strong>in</strong>tergenerationellen Verschiebung von materialistischen h<strong>in</strong> zu postmaterialistischen Wertvorstellungen<br />

geführt. Junge Menschen legen viel größeren Wert auf postmaterialistische Ziele als ältere Menschen.<br />

Die Kohortenanalyse zeigt, daß hier überwiegend Auswirkungen des Generationswechsels und nicht des<br />

Älterwerdens vorliegen.* (Ebd.; S. 136)<br />

Wie mit den obigen Ausführungen bereits angedeutet, bietet Inglehart zur Erklärung se<strong>in</strong>er<br />

Befunde zwei (e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ergänzende) Kausal-Hypothesen an:


194 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Die behavioristischen Modellen entlehnte Mangelhypothese besagt, daß man denjenigen<br />

D<strong>in</strong>gen den subjektiv größten Wert zumißt, die relativ knapp s<strong>in</strong>d (<strong>in</strong> den wohlhabenden<br />

westlichen Gesellschaften und dort <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e unter den +Bessergestellten* s<strong>in</strong>d das<br />

naheliegen<strong>der</strong>weise immer weniger materielle Sicherheit und Wohlstand als eben Lebens-<br />

qualität und Selbstverwirklichung). 268<br />

• Die Sozialistionshypothese wie<strong>der</strong>um besagt, daß Normen und Werte erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em (lang-<br />

wierigen) Sozialisationsprozeß ver<strong>in</strong>nerlicht werden müssen (so daß sich bezogen auf die<br />

ökonomische Entwicklung e<strong>in</strong>e Zeitverschiebung beim Wertewandel ergibt und die post-<br />

materialistischen Werte nur +langsam* vordr<strong>in</strong>gen). (Vgl. ebd.; S. 92)<br />

Politisch äußert sich <strong>der</strong> stattf<strong>in</strong>dende Wertewandel nach Inglehart vor allem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ver-<br />

schiebung von <strong>der</strong> schicht- zur wertorientierten politischen Polarisierung (vgl. ebd.; S. 324ff.). 269<br />

In diesem Zusammenhang geht er auch auf die neuen sozialen Bewegungen e<strong>in</strong> (vgl. ebd.;<br />

270<br />

Kap. 11), die hier weiter unten als Beispiel für die zunehmende Bedeutung <strong>der</strong> Subpolitik<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft und den damit im Zusammenhang stehenden Umbruch<br />

271<br />

<strong>der</strong> +politischen Kultur* noch e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> behandelt werden (siehe S. 199ff.). Zuvor sollte<br />

jedoch die schon oben aufgeworfene Frage geklärt werden, ob nicht <strong>der</strong> von Inglehart postulierte<br />

Wertewandel, ebenso wie Individualisierung, potentiell durch negative ökonomische Entwick-<br />

lungen gefährdetet ist. Genau hier setzt Helmut Klages an. Auch er sieht zwar zwischen dem<br />

Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> 60er Jahre und Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre e<strong>in</strong>en +Wertewandlungsschub* gegeben. 272<br />

An<strong>der</strong>erseits gibt es für Klages (entgegen den Daten Ingleharts) aufgrund verschiedener empi-<br />

rischer Untersuchungen, die Ende <strong>der</strong> 70er/Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre angestellt wurden, deutliche<br />

Anzeichen für e<strong>in</strong>en Abschluß dieses Wertewandlungsschubs (vgl. Werteorientierungen im<br />

Wandel; S. 123f. u. S. 129ff.). Wie Inglehart, so nennt auch Klages zwei mögliche Kausal-<br />

Hypothesen zur Erklärung für diese (umgekehrten) Befunde:<br />

• Die Sättigungshypothese: Nach diesem (analog zu Ingleharts erster Hypothese ebenfalls<br />

behavioristischen) Erklärungsmodell ist das Bedürfnis nach Selbstentfaltung (durch die<br />

Schaffung von Selbstentfaltungsräumen) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft mittlerweile gesättigt, so daß<br />

postmaterialistischen Werten ke<strong>in</strong>e so große Bedeutung mehr beigemessen wird.<br />

• Die Abbremsungshypothese: Diese unterstellt, daß die (strukturellen) Bed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>en<br />

weiteren Wandel <strong>der</strong> Werteorientierung weggefallen s<strong>in</strong>d. (Vgl. ebd.; S. 125)


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 195<br />

Die Sättigungshypothese wird von Klages im folgenden jedoch verworfen, da nach allen verfüg-<br />

baren (und auch Ingleharts) Daten die große Mehrheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung noch immer Selbst-<br />

entfaltungswerte nur <strong>in</strong> sehr ger<strong>in</strong>gem Ausmaß teilt, also kaum e<strong>in</strong> Sättigungseffekt wirksam<br />

se<strong>in</strong> kann (vgl. ebd.; S. 126). Die Abbremsungshypothese ersche<strong>in</strong>t dagegen durchaus plausibel,<br />

da sich seit Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre mit dem Aufkommen <strong>der</strong> Massenarbeitslosigkeit und e<strong>in</strong>em<br />

E<strong>in</strong>bruch im Wirtschaftswachstum tatsächlich die strukturellen Bed<strong>in</strong>gungen für den Wertewandel<br />

+verschlechtert* haben (vgl. ebd.; S. 127ff.).<br />

Auch <strong>der</strong> Wandel h<strong>in</strong> zu (+<strong>in</strong>dividualisierten*) postmaterialistischen Werten sche<strong>in</strong>t also an<br />

günstige ökonomische Rahmenbed<strong>in</strong>gungen gebunden und erweist sich als grundsätzlich rever-<br />

sibler kultureller Transformationsprozeß, so daß, unter ungünstigen Voraussetzungen, selbst<br />

e<strong>in</strong>e Rückkehr zur Tradition möglich ersche<strong>in</strong>t – dies ist jedenfalls e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> von Klages auf-<br />

gemachten Zukunftsszenarios (vgl. ebd.; S. 153ff.). An<strong>der</strong>erseits ist es, sollte Ingleharts<br />

Sozialisationshypothese zutreffen, me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach eher wahrsche<strong>in</strong>lich, daß die e<strong>in</strong>mal<br />

sozial ausgebreiteten postmaterialistischen Werte lange Zeit selbst bei gegenläufigen ökonomi-<br />

schen Entwicklungen bestehen bleiben, so daß die soziale Kultur (o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest relevante<br />

Subkulturen) nicht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en formalen, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>haltlichen Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zu den ökonomischen +Realitäten* gerät, was die Grundlage für – möglicherweise durchaus<br />

+produktive* – soziale Konflikte schaffen kann (die die herrschende ökonomische Praxis <strong>in</strong><br />

Frage stellen und damit möglicherweise Potentiale zur ihrer Verän<strong>der</strong>ung freisetzen).<br />

Die an<strong>der</strong>en von Klages genannten Szenarios s<strong>in</strong>d, so betrachtet, weniger +problematisch*:<br />

Bei wie<strong>der</strong>um günstigeren ökonomischen Voraussetzungen sieht er die Möglichkeit zu e<strong>in</strong>em<br />

+Durchbruch nach vorne* für die neuen Selbstentfaltungswerte gegeben (vgl. ebd.; S. 156ff.).<br />

Das Pendel könnte aber nicht nur vor- o<strong>der</strong> zurückschw<strong>in</strong>gen: Unter Umständen könnte<br />

273<br />

es auch zu e<strong>in</strong>er Wertesynthese kommen (vgl. ebd.; S. 164ff.), wenngleich aktuell nur e<strong>in</strong><br />

Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> von traditionellen Pflicht- und Akzeptanzwerten und den postmaterialistischen<br />

Selbstentfaltungswerten festzustellen ist, was auch als mittelfristiges Zukunftsszenario am reali-<br />

stischsten ersche<strong>in</strong>t (vgl. ebd.; S. 147ff.). Deshalb bietet es sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach an,<br />

bezüglich <strong>der</strong> Werteorientierung nach verschiedenen Milieus zu differenzieren – trotz <strong>der</strong><br />

Schwierigkeit e<strong>in</strong>er klaren Milieu-Abgrenzung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft.<br />

Für die Bundesrepublik haben Mitarbeiter des Heidelberger SINUS-Instituts e<strong>in</strong>e Milieu-<br />

Typisierung erarbeitet, auf die sehr häufig Bezug genommen wird und die als grobes Schema


196 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Abbildung 5: Soziale Milieus nach SINUS <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik 1982<br />

Kle<strong>in</strong>bürgerliches Milieu<br />

Aufstiegsorientiertes Milieu<br />

21,0%<br />

28,0%<br />

Hedonistisches Milieu<br />

9,0%<br />

10,0%<br />

9,0%<br />

10,0%<br />

4,0%<br />

9,0%<br />

Traditionsloses Arbeitermilieu<br />

Traditionelles Arbeitermilieu<br />

Alternativ-l<strong>in</strong>kes Milieu<br />

Technokratisch-liberales Milieu<br />

Konservativ-gehobenes Milieu<br />

auch e<strong>in</strong>igermaßen brauchbar ersche<strong>in</strong>t (vgl. Flaig/Meyer/Ueltzhöffer: Alltagsästhetik und poli-<br />

274<br />

tische Kultur; S. 51ff.). Dabei wurde zunächst zwischen acht Milieus differenziert: dem<br />

traditionellen Arbeitermilieu, dem traditionslosen Arbeitermilieu, dem kle<strong>in</strong>bürgerlichen Milieu,<br />

dem aufstiegsorientierten Milieu, dem hedonistischen Milieu, dem konservativ-gehobenen<br />

Milieu, dem technokratisch-liberalen Milieu und dem alternativ-l<strong>in</strong>ken Milieu (vgl. ebd.; S.<br />

72 und siehe Abb. 5). Das hedonistische und das alternativ-l<strong>in</strong>ke Milieu – die beide im konven-<br />

tionellen Schichtungsraster eher <strong>der</strong> Mittel- bis Oberschicht zugeordnet werden können –<br />

weisen überwiegend e<strong>in</strong>e postmaterialistische Orientierung auf, während sonst e<strong>in</strong>e traditionell-<br />

materialistische Orientierung dom<strong>in</strong>iert. Dieses Modell wurde zwischenzeitlich um das sog.<br />

+neue Arbeitermilieu* ergänzt, so daß sich nunmehr neun Milieus ergeben (vgl. ebd.; S. 73<br />

275<br />

und siehe Abb. 6), die sich vere<strong>in</strong>fachend (aber dafür sehr übersichtlich) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em jeweils<br />

dreigeteilten, nach Schicht und Werteorientierung differenzierenden Raster e<strong>in</strong>ordnen lassen<br />

(vgl. ebd.; S. 74 und siehe Tab. 11). 276<br />

Man kann sich nun natürlich berechtigterweise fragen, ob dieses Milieu-Modell nicht vielleicht<br />

weniger auf tatsächlichen Unterschieden beruht, son<strong>der</strong>n vielmehr e<strong>in</strong> empirisch reproduziertes<br />

Theoriekonstrukt darstellt, das zur Schichtzugehörigkeit nur e<strong>in</strong>e weitere Dimension (nämlich<br />

die Werteorientierung) h<strong>in</strong>zunimmt. Das ist jedoch ke<strong>in</strong> allzu großes Manko, wenn man davon<br />

ausgeht, daß +objektive* Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeiten noch immer entscheidend<br />

über Lebenschancen (mit)bestimmen, trotzdem aber auch <strong>in</strong>nerhalb von und damit gleichzeitig


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 197<br />

Abbildung 6: Soziale Milieus nach SINUS <strong>in</strong> Deutschland (West) 1992<br />

Aufstiegsorientiertes Milieu<br />

Kle<strong>in</strong>bürgerliches Milieu<br />

24,0%<br />

22,0%<br />

Hedonistisches Milieu<br />

13,0%<br />

5,0%<br />

8,0%<br />

Neues Arbeitermilieu<br />

12,0%<br />

5,0%<br />

2,0%<br />

9,0%<br />

Traditionsloses Arbeitermilieu<br />

Traditionelles Arbeitermilieu<br />

Alternativ-l<strong>in</strong>kes Milieu<br />

Technokratisch-liberales Milieu<br />

Konservativ-gehobenes Milieu<br />

quer zu Klassen und Schichten Individualisierungs- und Wertewandelprozesse stattgefunden<br />

haben, die diese objektiv wie subjektiv transzendieren, womit neue +Bündel* geschnürt werden<br />

müssen (vgl. hierzu auch Hradil: Sozialstrukturanalyse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fortgeschrittenen Gesellschaft;<br />

<strong>in</strong>sb. S 162ff.). E<strong>in</strong> Milieu-Modell, das völlig bl<strong>in</strong>d gegenüber <strong>der</strong> gegebenen Latenz gesell-<br />

schaftlicher Klassen- und Schichtungshierarchien ist, die Re<strong>in</strong>hard Kreckel sogar von<br />

+Klassenverhältnissen ohne Klasse* sprechen läßt (vgl. Politische Soziologie <strong>der</strong> sozialen Ungleich-<br />

heit; S. 141–149), wäre demgemäß ebenso <strong>in</strong>adäquat wie Klassen- bzw. Schichtungsmodelle,<br />

die die Dynamik von Individualisierungsprozessen ignorieren. Im Raster <strong>der</strong> untenstehenden<br />

Tabelle sche<strong>in</strong>en jedoch beide Momente auf. Es sollte gerade deshalb auch relativ gute Rück-<br />

schlüsse auf die politische Orientierung erlauben, die – so darf man wohl annehmen – mit<br />

<strong>der</strong> sozialen Position wie mit <strong>der</strong> Werteorientierung korreliert.<br />

Tab. 11: Soziale Milieus nach SINUS im Schicht- und Werteorientierungsraster<br />

Schicht/Werteorientierung traditionell materialistisch postmaterialistisch<br />

Oberschicht: Konservativ-gehobenes Technokratisch-libera- Alternatives Milieu<br />

Milieu les Milieu<br />

Mittelschicht: Kle<strong>in</strong>bürgerliches Milieu Aufstiegsorientiertes Hedonistisches Milieu<br />

Milieu<br />

Unterschicht: Traditionelles Arbeiter- traditionsloses Arbeiter- Neues Arbeitermilieu<br />

milieu milieu


198 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Übersicht 4: Kurzcharakterisierung <strong>der</strong> Typen gesellschaftspolitischer Grunde<strong>in</strong>stellungen<br />

(<strong>Politik</strong>stile) nach Vester et al. (1993):<br />

Sozial<strong>in</strong>tegrative: Moralische Gerechtigkeitsvorstellungen. Plädieren für e<strong>in</strong>e stärkere politische Beteiligung<br />

<strong>der</strong> Bürger.<br />

Radikaldemokraten:Reformorientierte,gesellschaftskritischeE<strong>in</strong>stellung.HumanistischeEmanzipationsansprüche.<br />

Skeptisch-Distanzierte: Desillusioniert. E<strong>in</strong>stellung zur <strong>Politik</strong> reicht von zynischer Distanz bis zu starkem<br />

Engagement.<br />

Gemäßigt-Konservative: Identifikation mit <strong>der</strong> Leistungsgesellschaft. Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>: Gewährleistung von<br />

Stabilität, Sicherheit und sozialer Harmonie.<br />

Traditionell-Konservative: Grundsätzliches Vertrauen <strong>in</strong> das bestehende politische System und sozialdarw<strong>in</strong>istische<br />

Vorstellungen.<br />

Enttäuscht-Apathische: Soziale und politische Hierarchien werden als gegeben und unabän<strong>der</strong>lich h<strong>in</strong>genommen.<br />

Ke<strong>in</strong>erlei politisches Engagement.<br />

Enttäuscht-Aggressive: Befürworten die Leistungsgesellschaft, empf<strong>in</strong>den sich aber als +Verlierer* und pflegen<br />

ausgeprägte Ressentiments.<br />

Michael Vester und se<strong>in</strong>e Mitautor(<strong>in</strong>n)en haben nun, auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Auswertung<br />

umfangreicher Fragebögen, sieben Typen gesellschaftspolitischer Grunde<strong>in</strong>stellungen erarbeitet<br />

und diese auf die SINUS-Milieus bezogen. Doch +dabei erwies es sich*, wie die Autoren<br />

feststellen, +daß die politischen E<strong>in</strong>stellungstypen nicht unbed<strong>in</strong>gt mit den Lebensstiltypen<br />

von SINUS übere<strong>in</strong>stimmen […] Je nach ihren biographischen Konflikt- und Vergeme<strong>in</strong>schaftungs-<br />

erfahrungen können die Akteure e<strong>in</strong>es bestimmten ›Lebensstilmilieus‹ zu verschiedenen<br />

Lernprozessen und Identitäten gelangen, um sich dann darüber verschiedenen ›<strong>Politik</strong>stilmilieus‹<br />

[siehe Übersicht 4 und Abb. 7] zuzuordnen.* (Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel;<br />

S. 328)<br />

Es zeigten sich aber trotz fehlen<strong>der</strong> Deckungsgleichheit auch nach Vester et al. e<strong>in</strong>e Reihe<br />

von Überschneidungen bzw. e<strong>in</strong>e überproportionale Repräsentanz bestimmter SINUS-Milieus<br />

bei bestimmten <strong>Politik</strong>stil-Clustern: So ist beispielsweise bei den +Sozial<strong>in</strong>tegrativen* wie bei<br />

den +Skeptisch-Distanzierten* das hedonistische Milieu überrepräsentiert. Bei den +Radikaldemo-<br />

kraten* wie<strong>der</strong>um f<strong>in</strong>det man das neue Arbeitermilieu und das Alternativmilieu, aber auch<br />

das technokratisch-liberale Milieu überdurchschnittlich vertreten. Die +Gemäßigt-Konservativen*<br />

haben dagegen e<strong>in</strong>en erhöhten Anteil von Personen aus dem aufstiegsorientierten (Mittelschicht)-<br />

Milieu aufzuweisen, während +Traditionell-Konservative* sich zu fast 60% aus dem konservativ-<br />

gehobenen Milieu und dem kle<strong>in</strong>bürgerlichen Milieu rekrutieren (die <strong>in</strong>sgesamt nur ca. 30%<br />

ausmachen). Bei den +Enttäuschten* schließlich (den +apathischen* wie den +aggressiven*)


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 199<br />

Abbildung 7: Prozentanteile <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong>stile* nach Vester et al. (1993)<br />

Gemäßigt-Konservative<br />

Skeptisch-Distanzierte<br />

Traditionell-Konservative<br />

17,6%<br />

17,7%<br />

13,8%<br />

13,4%<br />

10,8%<br />

Radikaldemokraten<br />

12,8%<br />

13,8%<br />

Enttäuscht-Apathische<br />

Sozial<strong>in</strong>tegrative<br />

Enttäuscht-Aggressive<br />

s<strong>in</strong>d ebenfalls das kle<strong>in</strong>bürgerliche, aber auch das traditionelle und traditionslose Arbeitermilieu<br />

überrepräsentiert. (Vgl. ebd.; Abb. 40, S. 353)<br />

Wie man sieht, besteht also doch e<strong>in</strong> gewisser, wenn auch ke<strong>in</strong> ausgeprägter Zusammenhang<br />

zwischen <strong>der</strong> (SINUS-)Milieu-Zugehörigkeit und <strong>der</strong> gesellschaftspolitischen Grunde<strong>in</strong>stellung.<br />

Die aufschlußreichste Erkenntnis, die die Untersuchung von Vester und se<strong>in</strong>en KollegInnen<br />

vermittelt, dürfte jedoch se<strong>in</strong>, daß nach den von ihnen ermittelten Zahlen (siehe nochmals<br />

Abb. 7) mehr als e<strong>in</strong> Viertel aller Personen aufgrund von wie auch immer gearteten +Ent-<br />

täuschungen* dem bestehenden <strong>Politik</strong>system den Rücken zugekehrt hat, mit dem sich nur<br />

noch e<strong>in</strong> knappes Drittel (die Gemäßigt- und die Traditionell-Konservativen) mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

identifiziert. Beim verbleibenden Rest ist e<strong>in</strong>e bewußt kritische Distanz bis kritisches Engagement<br />

auszumachen, und nur bei dieser letzten Gruppe <strong>der</strong> kritisch Engagierten liegt das Rekrutierungs-<br />

potential für die neuen sozialen Bewegungen, um die es im folgenden als Beispiel für die<br />

durch Individualisierungsprozesse ausgelöste subpolitische Dynamik gehen wird.<br />

Die neuen sozialen Bewegungen – d.h. Phänomene wie die amerikanische Bürgerrechtsbe-<br />

277<br />

wegung, die Ökologie-, die Anti-Atomkraft-, die Friedens- o<strong>der</strong> die Homosexuellenbewegung<br />

– stellen als subpolitische Formationen, die wie<strong>der</strong>um als handlungslogische Hybride zwischen<br />

Kle<strong>in</strong>gruppen und formalen Organisationen charakterisiert werden können (vgl. Rucht: Mo<strong>der</strong>ni-<br />

sierung und neue soziale Bewegungen; S. 81), sowohl e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung für die klassische<br />

L<strong>in</strong>ke wie für die traditionelle Rechte und die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> dar. Denn sie s<strong>in</strong>d


200 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

<strong>der</strong> Ausdruck für e<strong>in</strong>en Bruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Kultur, d.h. den politischen Werten und<br />

Beteiligungsformen, <strong>in</strong>dem sie mit ihrem Protest <strong>in</strong> Gestalt von Blockaden und Boykott-Aktionen,<br />

Straßentheater und Performances etc. die alten Pfade verlassen, für die Rechte von M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten<br />

e<strong>in</strong>treten, sich zum Anwalt <strong>der</strong> +Natur* sowie <strong>der</strong> kommenden Generationen machen und<br />

für e<strong>in</strong>e +gerechtere*, friedliche Welt streiten. 278<br />

<strong>Politik</strong>, das bedeutete für die oppositionelle L<strong>in</strong>ke marxistischer Prägung nämlich lange Zeit<br />

ausschließlich (revolutionären) Klassenkampf, dem mit <strong>der</strong> Ablösung bzw. <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

klassenbasierter sozialer Bewegungen wie <strong>der</strong> Gewerkschaftsbewegung durch die quer zu<br />

den alten Klassenlagen sich formierenden neuen sozialen Bewegungen die soziale Basis abge-<br />

bröckelt zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t (vgl. zum Überblick Pakulski: Social Movements and Class). Schon<br />

Antonio Gramsci hatte zwar <strong>in</strong> den 20er Jahren auf die Bedeutung kultureller Faktoren auch<br />

279<br />

für die revolutionäre Praxis h<strong>in</strong>gewiesen (vgl. Sozialismus und Kultur). Die dogmatische<br />

L<strong>in</strong>ke versperrte sich jedoch lange Zeit selbst gegen diese E<strong>in</strong>sicht, und noch immer können<br />

Teile <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ke sche<strong>in</strong>bar nicht begreifen, daß die neuen sozialen Bewegungen mit den über-<br />

wiegend postmateriell zu nennenden Werten, die sie <strong>in</strong> die öffentliche Arena +transportieren*,<br />

zumeist für +l<strong>in</strong>ke* Ziele e<strong>in</strong>treten und Sozialismus auch etwas an<strong>der</strong>es bedeuten könnte,<br />

als die Verstaatlichung <strong>der</strong> Industrien o<strong>der</strong> (<strong>in</strong> <strong>der</strong> +gemil<strong>der</strong>ten* sozialdemokratischen Variante)<br />

zum<strong>in</strong>dest doch e<strong>in</strong>e gewisse staatliche Umverteilung des Reichtums. So mußte John Keane<br />

noch kurz vor dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus für e<strong>in</strong> verän<strong>der</strong>tes,<br />

nicht mehr so sehr staatszentriertes Sozialismusverständnis plädieren, <strong>in</strong> dem auch die neuen<br />

sozialen Bewegungen Platz haben und das für e<strong>in</strong> Mehr an Demokratie und Partizipation<br />

steht (vgl. Democracy and Civil Society; S. 1ff.).<br />

Ernesto Laclau und Chantal Mouffe argumentieren – allerd<strong>in</strong>gs schon vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />

des Endes <strong>der</strong> sozialistischen Staatenwelt – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ganz ähnliche Richtung: Angesichts <strong>der</strong><br />

Probleme, vor denen l<strong>in</strong>kes Denken <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Situation steht, sollte man die positiven<br />

Ansätze, die die neuen Protestbewegungen be<strong>in</strong>halten, nicht übersehen. Der hegemoniale<br />

marxistische Diskurs muß dafür jedoch verlassen werden (vgl. Hegemonie und radikale Demo-<br />

kratie S. 33f.). Die neue L<strong>in</strong>ke sollte nämlich gemäß ihrer Auffassung offen für Vielfalt se<strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>, sie muß e<strong>in</strong>e radikale und plurale Demokratie anstreben, um das liberal-konservative<br />

Hegemonialprojekt <strong>der</strong> Gegenwart, die Diktatur des Marktes, zu transzendieren (vgl. ebd.;<br />

S. 239ff.).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 201<br />

In dieses liberal-konservative Hegemonialprojekt s<strong>in</strong>d nun aber selbst l<strong>in</strong>ke Parteien und Organi-<br />

sationen verstrickt, sofern sie sich, wie die Sozialdemokratie und <strong>der</strong> überwiegende Teil <strong>der</strong><br />

Gewerkschaftsbewegung, entschlossen haben, sich an das kapitalistische, neoliberale Umfeld<br />

anzupassen, <strong>in</strong> dem sie (gegen)wirken wollen. Das beste Beispiel dafür ist wohl +New Labour*<br />

<strong>in</strong> Großbritannien. Aber die Sozialdemokratie ist schließlich <strong>in</strong>sgesamt schon lange <strong>in</strong>tegraler<br />

Bestandteil des Systems <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong>, und die sieht sich durch die neuen<br />

sozialen Bewegungen, die ihr das <strong>Politik</strong>monopol abspenstig machen, logischerweise heraus-<br />

gefor<strong>der</strong>t.<br />

Das wie<strong>der</strong>um ruft konservative Kritiker auf den Plan, denn e<strong>in</strong> starker Staat und +schlagkräftige*<br />

staatliche Institutionen waren schließlich schon immer e<strong>in</strong> wesentliches Anliegen <strong>der</strong> konser-<br />

vativen Rechten (siehe hierzu auch S. 35ff.). Aber auch auf konservativer Seite gibt es Befürworter<br />

für e<strong>in</strong>ige Ziele <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen – allerd<strong>in</strong>gs spricht man hier lieber von <strong>der</strong><br />

+Büger<strong>in</strong>itiativbewegung* (Mayer-Tasch 1976), die als Ausdruck e<strong>in</strong>es berechtigten Unbehagens<br />

<strong>der</strong> Bürger am Parteien-, Verbände und Verwaltungsstaat mit se<strong>in</strong>en Struktur- und Funktions-<br />

schwächen gilt (vgl. dort v.a. Abschnitt II). Und so betont denn auch Peter Koslowski (siehe<br />

auch S. LXVII), daß die neuen sozialen Bewegungen als +Reaktion auf die Krise <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne*<br />

gedeutet werden müssen (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Kultur; S. 68) und auf die nunmehr immer offen-<br />

sichtlicheren Steuerungsmängel des Marktes und <strong>der</strong> Demokratie verweisen (vgl. ebd.; S.<br />

77ff.). Selbst besitzen die neuen sozialen Bewegungen für ihn jedoch – an<strong>der</strong>s als für Mayer-<br />

Tasch, <strong>der</strong> angesichts von Zielen wie Ökologie und Frieden (den Richtwerten des sich<br />

ankündigenden +neuen Zeitalters*) sogar von e<strong>in</strong>er +historischen Mission* spricht (vgl. Die<br />

Bürger<strong>in</strong>itiativbewegung; S. 228–233) – ke<strong>in</strong>e politische +Substanz*. Die Rettung aus den<br />

pluralistischen Verirrungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, die ihre Vielheit nicht mehr aus <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit schöpft,<br />

liegt gemäß Koslowski alle<strong>in</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em postmo<strong>der</strong>nen Essentialismus begründet (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne<br />

Kultur; S. 26).<br />

Doch trotz solcher eher zweifelhafter Denkfiguren ergibt sich e<strong>in</strong>e erstaunliche Überschneidung<br />

mit +neul<strong>in</strong>kem* Gedankengut, das versucht, die Legitimität von Basisbewegungen wie den<br />

neuen sozialen Bewegungen theoretisch auszuleuchten. Denn auch nach Bernd Guggenberger<br />

und Claus Offe steht politische Praxis grundsätzlich vor e<strong>in</strong>em Problem: +Wie wird aus Vielheit<br />

E<strong>in</strong>heit?* (<strong>Politik</strong> aus <strong>der</strong> Basis; S. 8) In mo<strong>der</strong>nen Massendemokratien lautet die Lösungsformel<br />

schlicht +Mehrheitsentscheid*. Mit dieser +Lösung* ergeben sich jedoch gemäß Guggenberger


202 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

und Offe (und nun wird die Intention ihrer Ausgangsfrage verständlich) zwei Probleme: Erstens<br />

das Problem <strong>der</strong> Sicherstellung, daß tatsächlich nichts an<strong>der</strong>es als die Entscheidung <strong>der</strong> Mehrheit<br />

ausschlaggebend ist (und nicht etwa latente Machtstrukturen wirken) sowie zweitens das Problem,<br />

wie die Individuen auf den getroffenen Mehrheitsentscheid verpflichtet werden können (vgl.<br />

ebd.; S. 8ff.). Selbst wenn man das erste Problem vernachlässigt, tritt das zweite Problem<br />

umso schärfer hervor, sobald Grundfragen des Überlebens berührt werden (vgl. ebd.; S. 16ff.).<br />

Hier meldet sich <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitenprotest, <strong>der</strong> schon nach Serge Moscovici e<strong>in</strong>e wichtige<br />

280<br />

Rolle im Prozeß des sozialen Wandels spielt (vgl. Sozialer Wandel durch M<strong>in</strong>oritäten), berech-<br />

tigterweise auch gegen bestehende Mehrheiten zu Wort, und wir stehen somit +An den Grenzen<br />

<strong>der</strong> Mehrheitsdemokratie*. 281<br />

In dieser Argumentationsfigur ist das Grundproblem von +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft*<br />

(Gottwies 1988) angedeutet. Die reflexive Dynamik <strong>der</strong> Zivilisationsrisiken wirkt sich nämlich<br />

auch auf die politische Kultur und das politische Bewußtse<strong>in</strong> aus (vgl. S. 360–367). Die <strong>in</strong>stitu-<br />

tionalisierte <strong>Politik</strong> mit ihrem (zu) kurzen Zeithorizont, <strong>der</strong> durch die Wahlperiode bestimmt<br />

ist, geht aufgrund <strong>der</strong> vielen schleichenden, erst über vergleichsweise lange Zeiträume zutage<br />

tretenden Gefährdungen e<strong>in</strong> +risk-tak<strong>in</strong>g* e<strong>in</strong> und reagiert auf die Bedrohungen durch die<br />

latenten Nebenfolgen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Produktionsweise nur mit e<strong>in</strong>em +peripheren E<strong>in</strong>griff*<br />

(Mayer-Tasch), <strong>der</strong> die Risiken nicht beseitigt, son<strong>der</strong>n nur verspätet, dadurch aber umso<br />

heftiger hervortreten läßt (vgl. ebd.; S. 359).<br />

Dieses Defizit ist auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Bürger über die Grenzen <strong>der</strong> klassischen politischen Lager<br />

h<strong>in</strong>weg wahrgenommen worden, und so engagieren sich <strong>in</strong> den neuen sozialen Bewegungen<br />

+L<strong>in</strong>ke* wie +Rechte*. Damit entstehen Konturen e<strong>in</strong>er +zivilen* Gesellschaft +Jenseits von<br />

Rechts und L<strong>in</strong>ks* (Giddens 1994), während die organisierte L<strong>in</strong>ke aufgrund <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />

ökonomischen Tendenzen weitgehend zu e<strong>in</strong>er +konservativen* Kraft geworden ist, <strong>der</strong> es<br />

alle<strong>in</strong>e darum geht, die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zu verteidigen, und die<br />

klassischen konservativen Parteien (zum<strong>in</strong>dest auf wirtschaftspolitischer Ebene) schon vor<br />

geraumer Zeit <strong>in</strong>s neoliberale Lager übergewechselt s<strong>in</strong>d (vgl. Beyond Left and Right; S. 2f.<br />

282<br />

und siehe auch Anmerkung 147, Kap. 1). Die neuen sozialen Bewegungen dagegen pflegen<br />

283<br />

e<strong>in</strong>e neue +zivile Kultur* (Almond/Verba) – und dar<strong>in</strong> (weniger <strong>in</strong> ihren konkreten Zielen)<br />

liegt zum<strong>in</strong>dest nach Cohen und Arato ihr zentraler Beitrag für die +Bürgergesellschaft* <strong>der</strong><br />

Zukunft (vgl. Civil Society and Political Theory; S. 562).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 203<br />

Natürlich ist das e<strong>in</strong>e sehr vage, ungenaue Aussage (was nicht so sehr Cohen und Arato als<br />

vielmehr me<strong>in</strong>er notwendigerweise verkürzenden Darstellung geschuldet ist). Beschäftigen<br />

wir uns also abschließend noch etwas e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> mit dem Charakter des durch Individuali-<br />

sierungsprozesse ausgelösten Umbruchs <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Kultur sowie vor allem mit <strong>der</strong><br />

damit verbundenen Frage, was eigentlich das spezifisch Neue <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen<br />

ausmacht: Alberto Melucci, <strong>der</strong> Ende <strong>der</strong> 70er Jahre den Begriff +neue soziale Bewegungen*<br />

prägte, hat sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Nomads of the Present* (1989) sowie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em späteren<br />

Aufsatz explizit zu dieser häufig gestellten Frage geäußert. Er <strong>in</strong>terpretiert hier die neuen sozialen<br />

Bewegungen als +Botschaften* bzw. +Zeichen*, die auf e<strong>in</strong>e vielgestaltige Weise Kunde von<br />

den aktuellen strukturellen Problemen <strong>in</strong> unserer <strong>in</strong>dividualisierten und globalisierten Informa-<br />

tionsgesellschaft geben, <strong>in</strong> <strong>der</strong> symbolische Konflikte <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund getreten s<strong>in</strong>d (vgl.<br />

dort Kap. 2 sowie The New Social Movements Revisited; S. 113ff.). Genau diese Vielgestaltigkeit<br />

und die Dom<strong>in</strong>anz symbolischer Konflikte ist gemäß Melucci das spezifisch neue Element.<br />

Das schließt auch e<strong>in</strong>e Verlagerung h<strong>in</strong> zu neuen politischen Konflikträumen mit e<strong>in</strong>: Es kommt<br />

für Melucci (ganz analog zu Beck und Giddens) zu e<strong>in</strong>er Demokratisierung bzw. Politisierung<br />

des Alltagslebens (vgl. Nomads of the Present; Kap 8).<br />

Oberflächlich betrachtet kl<strong>in</strong>gt diese Interpretation Meluccis sehr ähnlich zu den Vorstellungen<br />

Ala<strong>in</strong> Toura<strong>in</strong>es (siehe auch zurück zu S. LIIf.), <strong>der</strong> ebenfalls zu den Pionieren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie<br />

(neuer) sozialer Bewegungen zählt. Denn auch für Toura<strong>in</strong>e kämpfen die von <strong>der</strong> Klassen-<br />

semantik +emanzipierten* sozialen Bewegungen <strong>der</strong> Gegenwart +um die Kontrolle kultureller<br />

284<br />

Patterns* (Soziale Bewegungen; S. 145). In e<strong>in</strong>er Gesellschaft, die nicht mehr vom Mo<strong>der</strong>nitäts-<br />

Konsens zusammengehalten wird, ist die Beschäftigung mit sozialen Bewegungen, die als<br />

kollektive Akteure neue kulturelle Muster durchzusetzen versuchen, für ihn deshalb sogar<br />

e<strong>in</strong> zentrales Feld <strong>der</strong> Sozialanalyse (vgl. ebd.; S. 147–152), und die Rede vom +Ende <strong>der</strong><br />

Geschichte* (Fukuyama) verkennt die kulturelle (Konflikt-)Dynamik des post<strong>in</strong>dustriellen (Spät-<br />

)Kapitalismus (vgl. <strong>der</strong>s. Beyond Social Movements?). Doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konzeption Toura<strong>in</strong>es gibt<br />

es auch klare Wi<strong>der</strong>sprüche zu Melucci. Für letzteren s<strong>in</strong>d die neuen sozialen Bewegungen<br />

nämlich nicht automatisch die Manifestation e<strong>in</strong>es Systemkonflikts bzw. e<strong>in</strong>er Systemkrise<br />

(vgl. Nomads of the Present; S. 38ff.) – was an<strong>der</strong>erseits für Toura<strong>in</strong>e notwendig zu <strong>der</strong>en<br />

Charakter gehört: Soziale Bewegungen, als Ausdruck <strong>der</strong> historischen Dialektik, s<strong>in</strong>d gemäß<br />

ihm nämlich immer Träger e<strong>in</strong>er neuen sozialen Ordnung, und die Kraft e<strong>in</strong>er sozialen Bewegung


204 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

liegt genau <strong>in</strong> ihrer Kapazität, die alte Ordnung umzukippen und die Wi<strong>der</strong>sprüche des beste-<br />

henden Systems offenzulegen (vgl. Production de la société; S. 430).<br />

Auch Herbert Blumer, als weiterer +Klassiker*, betont das für soziale Bewegungen typische<br />

285<br />

Bestreben, Innovationen durchzusetzen (vgl. Social Movements; S. 60). Er unterscheidet<br />

allerd<strong>in</strong>gs weniger zwischen alten und neuen, als vielmehr zwischen allgeme<strong>in</strong>en (d.h. soziale<br />

Grundfragen aufgreifenden) und spezifischen sozialen Bewegungen, die sich ganz konkreten<br />

286<br />

Problemen widmen (vgl. ebd.; S. 61–64). Von diesen beiden Typen grenzt er re<strong>in</strong> expressive<br />

287<br />

Bewegungen ab, die ke<strong>in</strong>e sozialen Verän<strong>der</strong>ungen anstreben (vgl. ebd.; S. 76ff.). E<strong>in</strong>e<br />

parallele Differenzierung nimmt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart Dieter Rucht vor, <strong>der</strong> bezüglich ihrer Hand-<br />

288<br />

lungslogik <strong>in</strong>strumentelle von expressiven Bewegungen abgrenzt. Als zweite Unterscheidungs-<br />

Dimension dient Rucht die Stellung <strong>der</strong> Bewegung zum Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß, die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Raster entwe<strong>der</strong> promo<strong>der</strong>n, antimo<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> ambivalent ist (vgl. Mo<strong>der</strong>nisierung und neue<br />

289<br />

soziale Bewegungen; S. 82ff.). Neue soziale Bewegungen, die zwar an bestimmten Pr<strong>in</strong>zipien<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (wie Egalität o<strong>der</strong> Emanzipation) festhalten, an<strong>der</strong>erseits aber scharfe Kritik am<br />

ökonomisch-technischen Mo<strong>der</strong>nisierungsmodell üben, müßten offensichtlich, wenn man<br />

dieses Schema anwendet, durch e<strong>in</strong>e ambivalente Position gegenüber Mo<strong>der</strong>nisierung gekenn-<br />

zeichnet se<strong>in</strong> (vgl. auch ebd.; S. 153ff.).<br />

Bei ihrer +Bewegung* handelt es sich also offensichtlich nicht um e<strong>in</strong>en antimo<strong>der</strong>nen, neo-<br />

romantischen Protest – auch wenn es gewisse Ähnlichkeiten zur romantischen Strömung gibt,<br />

die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne die erste Welle <strong>der</strong> Zivilisationskritik repräsentierte (vgl. Brand:<br />

Neue soziale Bewegungen – E<strong>in</strong> neoromantischer Protest?; S. 131ff.). Die neuen sozialen<br />

Bewegungen formulieren zwar auch Zivilisationskritik, sie s<strong>in</strong>d jedoch nicht e<strong>in</strong>seitig rückwärts-<br />

gewandt, son<strong>der</strong>n haben auch e<strong>in</strong>e mo<strong>der</strong>nisierende Funktion, s<strong>in</strong>d sogar +Hauptakteure<br />

des gesellschaftlichen Transformationsprozesses* (ebd.; S. 138). Was nun ihre Organisations-<br />

und Protestformen betrifft, so gibt es e<strong>in</strong>e gewisse Kont<strong>in</strong>uität vor allem mit <strong>der</strong> 68er-Bewegung.<br />

Auch von dieser unterscheiden sie sich jedoch: durch e<strong>in</strong>en weitgehenden Vertrauensverlust<br />

<strong>in</strong> das befreiende Potential <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne. Und zur Arbeiterbewegung, als <strong>der</strong><br />

vielleicht wichtigsten sozialen Bewegung <strong>der</strong> Vergangenheit, besteht nicht nur e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche<br />

Differenz (d.h. Fragen <strong>der</strong> Lebensweise treten gegenüber Verteilungsfragen <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund),<br />

son<strong>der</strong>n sie s<strong>in</strong>d auch an<strong>der</strong>s als diese dezentral und autonom organisiert. (Vgl. <strong>der</strong>s.: Kont<strong>in</strong>uität<br />

und Diskont<strong>in</strong>uität <strong>in</strong> den neuen sozialen Bewegungen)


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 205<br />

Zusammenfassend läßt sich also mit Klaus E<strong>der</strong> sagen: Die neuen sozialen Bewegungen s<strong>in</strong>d<br />

e<strong>in</strong> ambivalentes Phänomen. Zum e<strong>in</strong>en stehen sie <strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>uität zum (produktivistischen)<br />

Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (als <strong>der</strong> Selbstassoziation <strong>der</strong> Bürger); zum an<strong>der</strong>en verkörpern sie e<strong>in</strong>en<br />

(anti-produktivistischen) Kont<strong>in</strong>uitätsbruch mit dem progressivistischen Ideal (vgl. Soziale Bewe-<br />

gung und kulturelle Evolution; S. 339f.). In dieser Ambivalenz halten sie die Mo<strong>der</strong>ne +offen*<br />

(vgl.; ebd.; S. 355) – und s<strong>in</strong>d gleichzeitig das Zeichen für e<strong>in</strong>en Bruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen<br />

Kultur, e<strong>in</strong>er Verschiebung h<strong>in</strong> zu postmateriellen Werten und <strong>der</strong> subpolitischen Infragestellung<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong>, die ihre Wurzel <strong>in</strong> <strong>der</strong> (reversiblen und ökonomisch dependenten)<br />

Dynamik von Individualisierungsprozessen hat. Der sich formierende Protest beruht dabei<br />

auch auf dem Bewußtse<strong>in</strong> für die globale (Risiko-)Dimension <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne, wie<br />

vor allem Giddens und Beck (und an diesen anschließend Gottwies) dargelegt haben. Doch<br />

obwohl e<strong>in</strong>e Transnationalisierung von NGOs wie +Greenpeace* o<strong>der</strong> +amnesty <strong>in</strong>ternational*<br />

ausgemacht werden kann (siehe S. 95f.), ist <strong>der</strong> Nationalstaat und se<strong>in</strong> politisches System<br />

noch immer <strong>der</strong> primäre Protestadressat, weshalb Charles Tilly selbst für unsere Gegenwart<br />

im Zeichen <strong>der</strong> Globalisierung von +nationalen sozialen Bewegungen* spricht (vgl. Social Move-<br />

ments and National Politics; S. 304ff.). 290<br />

Dieser Protestadressat ist jedoch, um abschließend auf die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> zu sprechen<br />

zu kommen, durch die neuen sozialen Bewegungen <strong>in</strong> zweifacher H<strong>in</strong>sicht überfor<strong>der</strong>t: Erstens<br />

verweisen diese das +System* schon als solche auf se<strong>in</strong>e Unzulänglichkeiten und Begrenztheit.<br />

Aber auch auf ihre Botschaften hat man sich (zweitens) im <strong>in</strong>stitutionellen Kontext me<strong>in</strong>er<br />

Me<strong>in</strong>ung nach nicht genügend e<strong>in</strong>gelassen. Der subpolitische Protest wird deflektiert und<br />

291<br />

nicht reflektiert. Am +geschicktesten* reagiert die etablierte <strong>Politik</strong> dabei noch, wenn versucht<br />

wird, die Bewegungen zu umarmen (um sie zu erdrücken). Diese Taktik (die allerd<strong>in</strong>gs, wenn<br />

sie durchschaut wird, auch +nach h<strong>in</strong>ten losgehen* kann) konnte man z.B. bei den jüngsten<br />

Studentenprotesten beobachten, wo sich <strong>Politik</strong>er aller Parteien mit den Studenten und ihren<br />

Zielen solidarisch erklärten – ohne freilich konkret auf ihre For<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>zugehen (vgl.<br />

auch Weck: An die Arbeit!). In ähnlicher Weise absorptiv ist <strong>der</strong> Versuch, Themen (neuer)<br />

sozialer Bewegungen, wie z.B. Frieden o<strong>der</strong> Umweltschutz, (parteiprogrammatisch) zu besetzen,<br />

um das Protestpotential – allerd<strong>in</strong>gs re<strong>in</strong> symbolisch – zu re<strong>in</strong>tegrieren.<br />

Sehr häufig ist jedoch auch e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e, weniger +geschickte* Reaktionsweise <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zu<br />

beobachten: nämlich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz des staatlichen Gewaltmonopols (wenn z.B. Sitzblockaden


206 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

mittels e<strong>in</strong>es Polizeie<strong>in</strong>satzes beseitigt werden). Die <strong>in</strong>stitutionelle Blockade <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und<br />

<strong>der</strong> Wandel <strong>in</strong> den Köpfen kann so allerd<strong>in</strong>gs sicher nicht aufgehoben bzw. rückgängig gemacht<br />

werden. E<strong>in</strong> ironisches Paradox ist es dabei, daß die staatlichen Organe, gerade wo sie (konser-<br />

vierend und gemäß ihrer erlernten Handlungslogik) versuchen, die +nationale Wohlfahrt*<br />

(zum Zweck <strong>der</strong> Stärkung <strong>der</strong> sozialen Integration) zu sichern, den Individualisierungsmotor<br />

am Laufen halten und damit <strong>in</strong>direkt die Grundlage für ihre eigene Infragestellung bereiten.<br />

Doch dies ist nur e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> (die subpolitischen Aufsprengungs-Impulse tendenziell verstärkenden)<br />

Dilemmata <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong>, um die es im folgenden Kapitel gehen wird. Bevor<br />

ich aber auf +Die Ant<strong>in</strong>omien ›klassischer‹ <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft* zu sprechen<br />

komme, möchte ich e<strong>in</strong>en Überblick über die (durchaus zweideutigen) +Ergebnisse* dieses<br />

Kapitels geben:<br />

Im letzten Abschnitt des ersten Kapitels dieser Arbeit wurde dargelegt, daß e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

<strong>Politik</strong>konzepten im theoretischen Diskurs aufgetaucht s<strong>in</strong>d, die das Politische nicht mehr<br />

zw<strong>in</strong>gend an das Staatliche gebunden sehen, son<strong>der</strong>n es (wie<strong>der</strong>) im gesamten Bereich des<br />

sozialen Lebens ansiedeln und sich zudem durch e<strong>in</strong> gesteigertes Bewußtse<strong>in</strong> für Kont<strong>in</strong>genz<br />

auszeichnen. Diese (postmo<strong>der</strong>ne) +Horizonterweiterung* des <strong>Politik</strong>begriffs habe ich auf<br />

+außerpolitische* soziale Transformationsprozesse zurückgeführt, welche, so me<strong>in</strong>e These,<br />

die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> nicht adäquat gespiegelt hat. Die damit von mir ausgemachte +Dialektik<br />

von sozio-ökonomischem Wandel und politischer Statik*, die ich hier anhand e<strong>in</strong>er nach<br />

+Teilsystemen* bzw. nach den wichtigsten sozialen +Fel<strong>der</strong>n* differenzierenden Betrachtung<br />

analysieren wollte, konnte am Beispiel <strong>der</strong> Globalisierung <strong>der</strong> Ökonomie und <strong>der</strong> gleichzeitig<br />

noch immer gegebenen Fixierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> auf den Nationalstaat me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<br />

deutlich aufgezeigt werden (Abschnitt 2.1).<br />

E<strong>in</strong> ähnliches +Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>klaffen* war – wie jedoch ohneh<strong>in</strong> aufgrund <strong>der</strong> gegebenen engen<br />

strukturellen Kopplung dieser beiden +Funktionsbereiche* von mir nicht erwartet wurde –<br />

im Vergleich zur Entwicklung im Rechtssystem nicht auszumachen (Abschnitt 2.2). Vielmehr<br />

zeigte sich, daß es zu e<strong>in</strong>er für beide Systeme teils belastenden, überwiegend aber +vorteilhaften*<br />

Verrechtlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (und e<strong>in</strong>er umgekehrten Politisierung <strong>der</strong> Justiz) gekommen ist:<br />

Von <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> werden Rechtsverfahren +benutzt*, um durch die +Übersetzung*<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en juristischen Diskurs politische Streitfragen zu entschärfen.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 207<br />

Auch Technologie und Wissenschaft (Abschnitt 2.3) sowie das mediale Öffentlichkeitssystem<br />

(Abschnitt 2.4) können von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> als Deflexions-Ressourcen genutzt werden. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

zeigte sich hier e<strong>in</strong> weit ambivalenteres Bild als im Fall des Rechtssystems. Im E<strong>in</strong>klang mit<br />

<strong>der</strong> Ausgangsthese wurden nämlich <strong>in</strong> beiden Bereichen durchaus Wandlungsprozesse deutlich,<br />

die für die <strong>Politik</strong> problematisch s<strong>in</strong>d und nicht adäquat von ihr gespiegelt wurden. Zwar<br />

kann die <strong>Politik</strong> wissenschaftliche Expertisen noch immer für ihre Zecke e<strong>in</strong>setzen und sich<br />

so durch wissenschaftliche +Objektivität* legitimieren. Aber die (nebenfolgenreiche) zunehmende<br />

+Reflexivität* von Technologien und – auch immer mehr sich selbst h<strong>in</strong>terfragendes – Wis-<br />

senschafts-Wissen br<strong>in</strong>gen das <strong>Politik</strong>system zuweilen aus se<strong>in</strong>em Gleichgewicht.<br />

Ähnlich +zweischneidig* ist die Entwicklung im Bereich <strong>der</strong> Medien und <strong>der</strong> Öffentlichkeit.<br />

<strong>Politik</strong>er s<strong>in</strong>d auf +Öffentlichkeit* angewiesen und gehen deshalb häufig mit Medienvertretern,<br />

die ihrerseits Informationen benötigen, symbiotische Beziehungen e<strong>in</strong>. An<strong>der</strong>erseits decken<br />

die Medien nur allzu gerne politische Skandale auf und s<strong>in</strong>d so auch +Gegner* <strong>der</strong> politischen<br />

Akteure. Aber dieses schon ohneh<strong>in</strong> ambivalente Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> wird noch problematischer<br />

durch den sich abzeichnenden neuerlichen +Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit*, <strong>der</strong> Etablierung<br />

neuer, <strong>in</strong>teraktiver Medien, die die politische Inszenierung allgeme<strong>in</strong> erschweren.<br />

Wie sich <strong>in</strong> diesen Bemerkungen bereits andeutete, gel<strong>in</strong>gt also das deflexive Zusammenspiel<br />

nicht immer, son<strong>der</strong>n es be<strong>in</strong>haltet auch Risiken. Primär drohen Entfremdungsersche<strong>in</strong>ungen.<br />

Diese können e<strong>in</strong>er subpolitischen Dynamik (wie sie <strong>in</strong> diesem Abschnitt anhand des Beispiels<br />

<strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen verdeutlicht wurde) Auftrieb geben – allerd<strong>in</strong>gs gilt dies<br />

eben nur dann, wenn auch die ökonomischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen +stimmen*. Der Abschnitt<br />

3.1, <strong>der</strong> das durch Globalisierungsprozesse ausgelöste Dilemma des nationalen Wohlfahrtsstaats<br />

<strong>in</strong> den Blickpunkt rückt, wird aber plausibel machen, daß genau das nicht zu erwarten ist.<br />

Die bisher dargestellten (reflexiven) Transformationsprozesse und die ausgleichenden Deflexions-<br />

bemühungen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> müssen also noch e<strong>in</strong>mal kritisch betrachtet und problematisiert<br />

werden. War dieses Kapitel <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong> rekonstruktives, <strong>in</strong>dem die (abgetrennten) Diskurse<br />

nachgezeichnet wurden, so ist das folgende Kapitel, folglich e<strong>in</strong> primär dekonstruktives –<br />

das bedeutet, die dilemmatische Seite <strong>der</strong> aktuellen Transformationsprozesse und die Anti-<br />

nomien, die die im Diskurs manifestierte Konstruktion <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Systeme bewirkt,<br />

sollen (allerd<strong>in</strong>gs noch immer <strong>in</strong> den Grenzen dieser Konstruktion) aufgezeigt und entfaltet<br />

werden.


3 DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN<br />

RISIKOGESELLSCHAFT


210 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

3 DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN<br />

RISIKOGESELLSCHAFT<br />

Die <strong>Politik</strong> steht vor e<strong>in</strong>er Wand. Es s<strong>in</strong>d die Zäune, die sie sich selbst, zu ihrem Schutz,<br />

aufgestellt hat. Sie mauert sich e<strong>in</strong>, immer höher, r<strong>in</strong>gsherum, zieht ihre Gräben. Immer enger<br />

wird dadurch <strong>der</strong> Raum, <strong>der</strong> beschritten werden kann, immer mehr Platz nehmen die Mauern<br />

und die Gräben e<strong>in</strong>, immer beschränkter wird die Sicht, während man sorgsam darauf bedacht<br />

ist, dieses schw<strong>in</strong>dsüchtige Territorium zu verteidigen. Doch von unten her wird rastlos, beständig<br />

gegraben, und das br<strong>in</strong>gt die Mauern zum Wanken. Auch von <strong>der</strong> Seite her werden die Grenz-<br />

zäune e<strong>in</strong>gedrückt und die Gräben zugeschüttet. Von oben schließlich droht e<strong>in</strong> Platzregen,<br />

die Erde aufzuweichen, so daß alles im Schlamm vers<strong>in</strong>kt.<br />

Das ist e<strong>in</strong> Bild. Es hängt schief an <strong>der</strong> Wand. Der Maler – auch das e<strong>in</strong> Bild – hat obendre<strong>in</strong><br />

die Farben zu kräftig aufgetragen. Aber gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Überzeichnung verdeutlicht es, was<br />

gegenwärtig mit <strong>Politik</strong> geschieht (o<strong>der</strong> besser nicht geschieht): Die (unterschiedlich stark<br />

ausgeprägten, auch deflexive, ko-evolutive Elemente be<strong>in</strong>haltenden und zudem <strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>-<br />

sprüchlichen) Verän<strong>der</strong>ungsprozesse <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Umwelt erzeugen e<strong>in</strong>e transitorische<br />

Gesellschaftsformation, die für die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> jedoch zu Handlungsblockaden<br />

und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von komplexen Dilemmata führt: das ökonomische Dilemma des nationalen<br />

Wohlfahrtsstaats (Abschnitt 3.1), das sich aus <strong>der</strong> wirtschaftlichen Globalisierung (siehe Abschnitt<br />

2.1) ergibt und <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> immer weniger Spielraum zur (notwendigen) Umverteilung des<br />

gesellschaftlichen Reichtums läßt, das <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Dilemma (Abschnitt 3.2), welches<br />

sich aus <strong>der</strong> Dialektik von Politisierung und Verrechtlichung speist (siehe Abschnitt 2.2) und<br />

e<strong>in</strong>e +<strong>in</strong>stitutionelle Starre* <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> erzeugt, das technologisch-wissenschaftliche Dilemma<br />

(Abschnitt 3.3), das auf <strong>der</strong> reflexiven H<strong>in</strong>terfragung wissenschaftlicher Expertisen sowie den<br />

Gefährdungspotentialen von Technik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verwissenschaftlichten Gesellschaft beruht (siehe<br />

Abschnitt 2.3) und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er reflexiv-deflexiven Technik- und Wissenschaftsfalle endet, das<br />

Dilemma von Präsentation und Repräsentation (Abschnitt 3.4), das aus den Adaptionsversuchen<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> an die Mediensemantik erwächst (siehe Abschnitt 2.4), um damit gleichzeitig e<strong>in</strong>e


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 211<br />

Beschränkung <strong>der</strong> politischen Semantik zu bewirken, und schließlich das politische Dilemma<br />

<strong>der</strong> Individualisierung (Abschnitt 3.5), das e<strong>in</strong>em kulturellen Umbruch sowie e<strong>in</strong>em Wandel<br />

<strong>der</strong> Sozialstruktur geschuldet ist (siehe Abschnitt 2.5), was sich wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gleichzeitigen<br />

Politisierung und Entpolitisierung äußert.<br />

Doch damit alles und nichts gesagt. Denn <strong>der</strong> obenstehende Satz versucht zwar im Vorausgriff<br />

auf die folgenden Erläuterungen e<strong>in</strong>e Zusammenfassung zu geben, ist aber e<strong>in</strong>erseits viel<br />

zu +komplex* und unübersichtlich gebaut, an<strong>der</strong>erseits zu abstrakt, reduziert und unterkomplex<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Aussagen. Es gilt also, die oben nur angerissenen Punkte differenziert darzustellen<br />

und <strong>in</strong>haltlich aufzufüllen.<br />

3.1 DAS ÖKONOMISCHE DILEMMA DES NATIONALEN WOHLFAHRTSSTAATS<br />

Der vierte Weltkrieg hat bereits begonnen! Und das, nachdem endlich <strong>der</strong> (+kalte*) dritte<br />

Weltkrieg, die geopolitische Konfrontation zwischen den USA und <strong>der</strong> Sowjetunion, durch<br />

<strong>der</strong>en kläglichen Abtritt von <strong>der</strong> +großen Weltbühne* e<strong>in</strong>geschmolzen ist (und e<strong>in</strong> im Vergleich<br />

zu den Desastern des ersten und zweiten Weltkriegs +glückliches* Ende gefunden hat). Das<br />

ist – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> etwa – die Auffassung des +Subcomandante* Marcos, Führer <strong>der</strong> (neo)zapati-<br />

estischen<br />

Rebellen aus <strong>der</strong> mexikanischen Prov<strong>in</strong>z Chiapas. (Vgl. La 4 guerre mondiale a com-<br />

mencé)<br />

Nur: Welcher Krieg ist mit dem om<strong>in</strong>ösen vierten Weltkrieg geme<strong>in</strong>t, <strong>der</strong> nach Marcos doch<br />

schon begonnen haben soll? – Es handelt sich um jenen +Weltwirtschaftkrieg* (Luttwak), 1<br />

<strong>in</strong> dem die Staaten (im Interesse <strong>der</strong> nationalen Wohlfahrt) ihren mit <strong>der</strong> zunehmenden <strong>in</strong>ter-<br />

nationalen Konkurrenz im Zeitalter <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung immer unsichereren<br />

Anteil an den Flüssen des globalen Kapitals abzuzweigen trachten und sich dabei gegenseitig<br />

2<br />

Investitionen und Arbeitsplätze abjagen. Dieser verzweifelte Kampf führt nach Marcos im<br />

Endeffekt nur zu e<strong>in</strong>er Globalisierung <strong>der</strong> Ausbeutung und e<strong>in</strong>er +Wie<strong>der</strong>auferstehung* <strong>der</strong><br />

Armut (die <strong>in</strong> den <strong>in</strong>dustrialisierten Wohlfahrtsstaaten doch fast <strong>der</strong> Vergangenheit anzugehören<br />

schien) – während sich <strong>der</strong> Reichtum <strong>in</strong> den Händen weniger konzentriert (vgl. ebd.; S. 4).<br />

Dagegen wie<strong>der</strong>um kämpfen +postmo<strong>der</strong>ne* Revolutionäre wie er, die nicht nur, wie e<strong>in</strong>st<br />

<strong>der</strong> legendäre Che, mit <strong>der</strong> Kalaschnikow <strong>in</strong> den Händen den sich entfachenden Wi<strong>der</strong>stand<br />

organisieren (vgl. ebd.; S. 5), son<strong>der</strong>n auch geschickt die Waffen <strong>der</strong> Publizität e<strong>in</strong>zusetzen


212 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

verstehen und sich unbefangen dabei selbst neuer Kommunikationstechnologien wie dem<br />

Internet bedienen, das sich (zum<strong>in</strong>dest als Katalysatormedium) für <strong>der</strong>lei Zwecke vielleicht<br />

sogar am besten eignet (siehe auch nochmals S. 182f.). 3<br />

An<strong>der</strong>erseits ist die Kriegsmetapher e<strong>in</strong> eher plattes Bild für die stattf<strong>in</strong>denden Transformations-<br />

prozesse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sich globalisierenden Markt (die ich <strong>in</strong> ihren verschiedenen Dimensionen<br />

<strong>in</strong> Abschnitt 2.1 ja bereits ausführlich sowie um Differenzierung bemüht dargestellt habe).<br />

Wenn man es genauer betrachtet, so erkennt man nämlich, daß <strong>der</strong> von den +Banden* des<br />

Nationalstaats entfesselte Kapitalismus <strong>der</strong> vierten Welle (siehe Übersicht 1, S. 76) allenfalls<br />

e<strong>in</strong>en Krieg gegen sich selber führt. Dies wird lediglich dadurch überdeckt, daß die Selbstorgani-<br />

sation des Kapitals aufgrund <strong>der</strong> Geschw<strong>in</strong>digkeit <strong>der</strong> Transaktionen und ihrer breiten <strong>in</strong>ter-<br />

nationalen Streuung im Moment noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, das System stabil zu halten (siehe auch<br />

S. 80f.). Indem sich <strong>der</strong> Kapitalismus aber weiter globalisiert, wird dieses labile Gleichgewicht<br />

durch die Wucht se<strong>in</strong>er eigenen Dynamik gefährdet: Das Kapital strebt nach Expansion –<br />

nur damit werden eben auch die Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus auf globale Maßstäbe aus-<br />

gedehnt.<br />

Der globale Kapitalismus benötigt deshalb (vielleicht noch mehr als <strong>der</strong> alte +nationale* Kapi-<br />

talismus) die regulierende Intervention <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (vgl. auch Bienefeld: Capitalism and the<br />

4<br />

Nation State <strong>in</strong> the Dog Days of the Twentieth Century; S. 106ff.). Doch <strong>in</strong>dem sich die<br />

Wirtschaft globalisiert, entmachtet sie gleichzeitig die <strong>Politik</strong>, so daß diese mit e<strong>in</strong>er unlösbaren<br />

Aufgabe konfrontiert ist (vgl. z.B. Dallemagne: Grenzen <strong>der</strong> Wirtschaftspolitik; <strong>in</strong>sb. S. 111–135). 5<br />

Wir haben es also mit <strong>in</strong>härenten Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung und des Wettbewerbs zu tun,<br />

welche die <strong>Politik</strong> vor Probleme stellen, vor denen sie – unter den gegenwärtigen Rahmenbe-<br />

d<strong>in</strong>gungen (und aufgrund ihrer <strong>in</strong>ternen Systemlogik) – kapitulieren muß.<br />

Bevor ich mich allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>er genaueren Analyse <strong>der</strong> Gründe für diese Ohnmacht <strong>der</strong> <strong>Politik</strong><br />

zuwende, ist es angebracht, die angesprochenen <strong>in</strong>härenten Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung und<br />

des <strong>in</strong>ternationalen Wettbewerbs etwas näher auszuleuchten. Die Literatur, auf die <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang zurückgegriffen werden kann, ist überaus reichlich. Seitdem nämlich die<br />

Mitglie<strong>der</strong> des +Club of Rome* 1972 ihre e<strong>in</strong>schneidende Studie über die (ökologischen)<br />

+Grenzen des Wachstums* vorlegten (siehe auch S. 244f.), ist das Aufzeigen von Grenzen<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> ökonomischen Entwicklungsdynamik e<strong>in</strong> beliebter Topos für Autoren ver-<br />

schiedenster Fachrichtungen und Couleur.


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 213<br />

Beleg dafür ist nicht nur die bereits oben zitierte Schrift von Jean-Luc Dallemagne. Fred Hirsch<br />

zeigte z.B. 1976 mit e<strong>in</strong>drücklichen Argumenten +Die sozialen Grenzen des Wachstums* auf,<br />

wobei se<strong>in</strong>e zentrale These lautet, daß die kapitalistische Wachstumsideologie im Verbund<br />

mit <strong>der</strong> Ökonomisierung <strong>der</strong> Sozialbeziehungen auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>in</strong>dividueller Nutzenkalküle<br />

hohe +gesellschaftliche Kosten* verursacht und zu e<strong>in</strong>er problematischen Verschärfung <strong>der</strong><br />

6<br />

Ungleichheit führt (vgl. <strong>in</strong>sb. Kap. 7 u. 8). Aus e<strong>in</strong>er im Grundansatz ähnlichen Haltung heraus,<br />

jedoch <strong>in</strong> umfassen<strong>der</strong>er Perspektive, formulierte auch die +Gruppe von Lissabon* um den<br />

italienischen Ökonomen Ricardo Petrella jüngst ihre Thesen über +Die Grenzen des Wettbewerbs*<br />

(1995). 7<br />

Am <strong>in</strong>teressantesten aus dieser ke<strong>in</strong>eswegs vollständig aufgezählten – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

8<br />

Gegenwart wie<strong>der</strong> stark anwachsenden – Reihe <strong>der</strong> sich mit den Grenzen des Marktes und<br />

<strong>der</strong> kapitalistischen Ökonomie beschäftigenden Publikationen ersche<strong>in</strong>t mir jedoch <strong>der</strong> Versuch<br />

von Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf, die +Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung* (1996) darzulegen: 9<br />

In ihrer umfangreichen Arbeit <strong>in</strong>terpretieren Altvater und Mahnkopf den sich verselbständigenden<br />

Kapitalismus <strong>der</strong> angebrochenen postfordistischen Ära (siehe auch S. 81f.) als e<strong>in</strong>en globalen<br />

Entbettungsmechanismus. 10<br />

Der Entbettungsprozeß f<strong>in</strong>det auf verschiedenen Ebenen statt: Zum e<strong>in</strong>en erfolgt e<strong>in</strong>e Heraus-<br />

lösung <strong>der</strong> Wirtschaft aus <strong>der</strong> Gesellschaft (vgl. S. 109–116). Darauf hatte schon Karl Polanyi<br />

h<strong>in</strong>gewiesen (vgl. The Great Transformation und siehe auch S. 76). Doch damit nicht genug:<br />

11<br />

Es kommt (und hier schließen Altvater und Mahnkopf an Giddens an) <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> Durchkapi-<br />

talisierung <strong>der</strong> Welt ebenfalls zu e<strong>in</strong>em umfassenden kulturellen +Disembedd<strong>in</strong>g*, zu e<strong>in</strong>er<br />

Herrschaft des Kapitals über die Raum- und Zeitstrukturen (vgl. Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung;<br />

S. 120–127). Denn im globalen Wettbewerb gilt, so banal es vielleicht kl<strong>in</strong>gen mag: Zeit<br />

ist Geld – und damit für +produktive* Tätigkeiten reserviert.<br />

Der Raum <strong>in</strong> <strong>der</strong> +globalen Stadt* wie<strong>der</strong>um ist nur mehr e<strong>in</strong> bloßer (Ver)markt(ungs)platz,<br />

<strong>der</strong> sich auf die Bedürfnisse des Handels und des Kapitals auszurichten hat. Davon künden<br />

– als Wahrzeichen <strong>der</strong> Dom<strong>in</strong>anz e<strong>in</strong>es entbetteten Geldes, das immer weniger als konkretes<br />

Zahlungsmittel dient, son<strong>der</strong>n als abstrakt-symbolisches Spekulationsmedium e<strong>in</strong>gesetzt wird<br />

(vgl. ebd. S. 129–132) – die Hochhaustürme <strong>der</strong> Banken und Versicherungen, die die +Skyl<strong>in</strong>e*<br />

so vieler Metropolen beherrschen. Und um den Motor <strong>der</strong> rastlosen globalen Wirtschaft am<br />

Laufen zu halten, die sich solche +Denkmale* setzt, erfolgt e<strong>in</strong>e rücksichtslose, für den Menschen


214 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

wie die Umwelt problematische Ausbeutung fossiler Brennstoffe: entbettete Energien (vgl.<br />

ebd.; 127f.).<br />

All diese hier nur kurz angerissenen Entbettungsmechanismen machen den Weltmarkt zu<br />

e<strong>in</strong>em (auch von immer mehr Individuen so empfundenen, sozial-kulturelle Entfremdung<br />

12<br />

hervorrufenden) +Sachzwang* (siehe auch S. 88), und die durch die kapitalistische +Masch<strong>in</strong>erie*<br />

<strong>in</strong> Gang gesetzte Globalisierung stößt somit an ökonomische, ökologische wie an politische<br />

Grenzen. Schon gar nichts hat sie aber mit wirklicher Globalität <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er (egalitären) Welt-<br />

gesellschaft zu tun (vgl. ebd.; S. 133–144).<br />

In den hier von mir recht freizügig zusammengefaßten Grundthesen von Altvater und Mahnkopf<br />

kommt e<strong>in</strong>e (durchaus nicht unbegründete) Kapitalismus-Kritik zum tragen, die ihren (alt)l<strong>in</strong>ken<br />

Ursprung nicht verbergen kann. Doch auch <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht eher +unverdächtige* Autoren<br />

wie <strong>der</strong> amerikanische Ökonom Lester Thurow (<strong>der</strong> am renommierten MIT lehrt) beurteilen<br />

13<br />

+Die Zukunft des Kapitalismus* (1996) eher skeptisch. Thurow identifiziert aktuell fünf, für<br />

sich genommen ke<strong>in</strong>eswegs recht orig<strong>in</strong>elle +Tektonikplatten* <strong>der</strong> weltökonomischen Ordnung,<br />

die <strong>in</strong> ihrer Zusammenstellung aber e<strong>in</strong>e hilfreiche Übersicht vermitteln:<br />

1. das Ende <strong>der</strong> sozialistischen Staatenwelt (womit die Systemkonkurrenz des +Kommunismus*<br />

entfallen ist), 2. die immer bedeuten<strong>der</strong> werdenden Informationstechnologien (die klassische<br />

Wettbewerbsvorteile wie das Verfügen über Rohstoffe zum Verschw<strong>in</strong>den br<strong>in</strong>gen und den<br />

14<br />

Faktor Ausbildung/Wissen dafür immer wichtiger werden lassen), 3. das Wachstum <strong>der</strong> Weltbe-<br />

völkerung (das den Lohndruck erhöht und gleichzeitig an<strong>der</strong>weitig benötigtes Investitionskapital<br />

blockiert und absorbiert), 4. (natürlich) die Globalisierung <strong>der</strong> Wirtschaft (die, wie oben<br />

angesprochen, die notwendige politische Regulation <strong>der</strong> Ökonomie erschwert) und 5. das<br />

entstandene multipolare Staatensystem ohne Hegemon (das dieses Problem noch verschärft).<br />

(Vgl. Kap. 3–7)<br />

Alles <strong>in</strong> allem betrachtet, leben wir nach Thurow <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er +Periode des gestörten Gleichgewichts*<br />

(vgl. ebd.; Kap. 14), wobei vor allem <strong>der</strong> extrem kurze Zeithorizont <strong>der</strong> ökonomischen Zweck-<br />

rationalität problematisch ist (die nach möglichst schnellem Profit strebt und so langfristige<br />

Zusammenhänge – egal, ob das ökonomische System selbst o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Bereiche wie z.B.<br />

die +Umwelt* betreffend – aus ihrem Horizont zwangsläufig ausblendet). Aber es gibt noch<br />

zwei weitere von Thurow gesehene Probleme: Der Kapitalismus ist – auch das (siehe oben)<br />

ke<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>s orig<strong>in</strong>elle Feststellung – im Kern +<strong>in</strong>dividualistisch*, ihm fehlt die soziale


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 215<br />

Komponente. Und: +In e<strong>in</strong>em sehr tiefgreifenden S<strong>in</strong>ne liegen auch die kapitalistischen Wert-<br />

vorstellungen mit dem Kapitalismus im Krieg. Erfolg o<strong>der</strong> Mißerfolg hängen von den getätigten<br />

Investitionen ab. Dennoch predigt <strong>der</strong> Kapitalismus e<strong>in</strong>e Theorie des Konsumismus.* (Ebd.;<br />

S. 447) 15<br />

Der Kapitalismus unterm<strong>in</strong>iert damit se<strong>in</strong>e eigene Basis, er ist selbstwi<strong>der</strong>sprüchlich. Aus dieser<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Kapitalismus folgert Thurow allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>en Zusammenbruch<br />

des kapitalistischen Systems analog zu jenem <strong>der</strong> +sozialistischen* (Fehl)plan(ungs)wirtschaften<br />

<strong>in</strong> Osteuropa – denn das von ihm unter Punkt e<strong>in</strong>s genannte, eben daraus resultierende Fehlen<br />

<strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung des Kapitalismus durch e<strong>in</strong> konkurrierendes System ist <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht<br />

stabilisierend: +Ohne Wettbewerber […] kann <strong>der</strong> Kapitalismus […] nicht von <strong>in</strong>nen heraus<br />

zerstört werden* (ebd.; S. 476). So sieht Thurow nur die Gefahr e<strong>in</strong>er unproduktiven Stagnation<br />

gegeben (vgl. ebd.) – e<strong>in</strong>e Gefahr, die für e<strong>in</strong> auf Wachstum aufgebautes Wirtschaftssystem<br />

jedoch nicht unterschätzt werden sollte.<br />

Zum Abschluß dieser sehr selektiven, trotzdem wohl aber e<strong>in</strong>igermaßen +repräsentativen* 16<br />

Literaturübersicht und -exegese möchte ich die auf verschiedenen Ebenen zum Tragen<br />

kommenden, hier jeweils nur kurz angerissenen Wi<strong>der</strong>sprüche des globalen Kapitalismus<br />

bzw. <strong>der</strong> Globalisierung noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> vier Punkten zusammenfassen und sie aus me<strong>in</strong>er<br />

Sicht verdeutlichen:<br />

• Es gibt ökonomische Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung, die primär <strong>in</strong> <strong>der</strong> Instabilität erzeugenden<br />

+Überhitzung* durch das ungezügelte Wachstum e<strong>in</strong>es nicht regulierten Marktes und <strong>der</strong><br />

zunehmenden, <strong>in</strong> gleicher Weise <strong>in</strong>stabilisierend wirkenden Abstraktion des Handels be-<br />

gründet liegen, aber auch aus <strong>der</strong> den Warenabsatz hemmenden kapitalistischen Ungleich-<br />

heitsproduktion resultieren (siehe zum letzten Punkt nochmals Anmerkung 4).<br />

• Es gibt sozial-kulturelle Grenzen des globalen Kapitalismus, die aus <strong>der</strong> Abkopplung <strong>der</strong><br />

Wirtschaft von ihrem sozialen Kontext, <strong>der</strong> oben angesprochenen, sozial des<strong>in</strong>tegrierenden<br />

Ungleichheitsproduktion und <strong>der</strong> Entfremdung hervorrufenden kulturellen Dom<strong>in</strong>anz des<br />

Kapitals und <strong>der</strong> Wirtschaft herrühren.<br />

• Es gibt ökologische Grenzen <strong>der</strong> kapitalistischen Produktion, die – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wenn <strong>in</strong>du-<br />

striegesellschaftliche Konsummuster sich global verbreiten (was geschehen muß, um weiteres<br />

Wachstum zu gewährleisten) – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökologische Sackgasse führen.


216 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Und es gibt politische Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung. Sie liegen nicht etwa <strong>in</strong> den Staatengrenzen<br />

(die dem Kapital e<strong>in</strong>st Schutz gewährten). Es hat diese (nachdem sie es aktuell mehr be-<br />

h<strong>in</strong><strong>der</strong>n als beför<strong>der</strong>n) bereits weitgehend überwunden (siehe Abschnitt 2.1). Vielmehr<br />

liegen die politischen Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung <strong>in</strong> den Regulationsdefiziten, die dem<br />

globalen Kapital <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart zwar nutzen, da ihm die Schwäche <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> immense<br />

Profitmöglichkeiten eröffnet. Doch dies könnte <strong>der</strong> Wirtschaft <strong>in</strong> Zukunft vielleicht teuer<br />

zu stehen kommen. Denn wenn die Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung aus ihrer selbstentfalteten<br />

Dynamik heraus überschritten werden, ohne daß die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>schreitet, könnten nicht<br />

nur ökologische und soziale Krisen die Folge se<strong>in</strong> (die wie<strong>der</strong>um auf das Wirtschaftsgeschehen<br />

negativ rückwirken), son<strong>der</strong>n es könnten auch ökonomische Beben auftreten. Die Globali-<br />

sierung des Kapitals entzieht <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> jedoch die Machtbasis für ihre notwendigen regulie-<br />

renden E<strong>in</strong>griffe. Denn (ökonomische) Globalisierung unterm<strong>in</strong>iert den Staat als wirtschaftliche<br />

und soziale E<strong>in</strong>heit und damit das (bestehende) ökonomisch-politische Gehäuse. 17<br />

Im folgenden soll speziell dieses ökonomische Dilemma des nationalen Wohlfahrtstaats näher<br />

dargelegt werden. Dabei drängen sich zunächst zwei Fragen auf: Was geschieht mit dem<br />

alten Nationalstaat im Kontext e<strong>in</strong>er globalisierten Ökonomie, und welche Maßnahmen könnte<br />

die <strong>Politik</strong> ergreifen, um nicht vor <strong>der</strong> entfalteten ökonomischen Dynamik zu kapitulieren?<br />

Neben vielen an<strong>der</strong>en hat sich auch Ulrich Beck hier jüngst um Antworten bemüht und dabei<br />

auf e<strong>in</strong>en ebenso naheliegenden wie verbreiteten (im Pr<strong>in</strong>zip bereits von Kant vorgezeichneten) 18<br />

Gedanken zurückgegriffen, <strong>der</strong> be<strong>in</strong>haltet, was ich das Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> nennen<br />

möchte. Die <strong>Politik</strong> sollte gemäß dieser Strategie versuchen, durch regionale bzw. <strong>in</strong>ternationale<br />

Kooperation im Globalisierungswettlauf mit <strong>der</strong> Ökonomie aufzuholen. Das politische Gehäuse<br />

muß also erweitert, muß +transnationalisiert* werden, um es zu stablisieren:<br />

+Die zentrale E<strong>in</strong>sicht lautet: Ohne Europa gibt es ke<strong>in</strong>e Antwort auf Globalisierung […] Nur im trans-<br />

nationalen Raum Europa kann die e<strong>in</strong>zelstaatliche <strong>Politik</strong> vom Objekt drohen<strong>der</strong> zum Subjekt gestalten<strong>der</strong><br />

Globalisierung werden […] Der <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Deregulierung <strong>der</strong> transnationalen Organisationen wäre die<br />

For<strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>er Regulierung, <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>führung sozialer und ökologischer Standards, entgegenzusetzen.*<br />

(Beck: Was ist Globalisierung?; S. 261f.)<br />

Das (transnationalistische) Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (das Beck im Zitat auf den Integrations-<br />

raum Europa bezieht) sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e logische Antwort auf ökonomische Globalisierung zu se<strong>in</strong>:


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 217<br />

Die <strong>Politik</strong> gew<strong>in</strong>nt, <strong>in</strong>dem sie die Hülle des zu eng gewordenen Nationalstaats abstreift und<br />

<strong>in</strong> die <strong>in</strong>ter- bzw. transnationale Sphäre expandiert, wie<strong>der</strong> an E<strong>in</strong>flußmöglichkeiten und Gestal-<br />

tungsfreiräumen. Nutzt sie diese positiv, so kann auf regionaler (und später vielleicht sogar<br />

globaler) Ebene erreicht werden, was im Kontext des Nationalstaats lange Zeit gelang: die<br />

19<br />

Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus latent zu halten. Und das impliziert natürlich auch die Mil-<br />

<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> vom kapitalistischen Wirtschaftssystem bewirkten sozialen Spannungen und Ungleich-<br />

heiten sowie die Vorsorge gegen (ökologisch <strong>fatal</strong>e) ökonomische Kurzsicht. Die <strong>Politik</strong> versucht<br />

also im Expansionsmodell mit ihrer Ausweitung zusammenzuhalten, was ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>driftet,<br />

und reagiert durch die Bemühung um e<strong>in</strong>e neue koord<strong>in</strong>ierende Verregelung auf die von<br />

außen über sie here<strong>in</strong>brechenden Denationalisierungsprozesse (vgl. auch z.B. Zürn: Jenseits<br />

<strong>der</strong> Staatlichkeit sowie Habermas: Jenseits des Nationalstaats). 20<br />

Doch dieses Expansionsmodell ist offensichtlich nicht <strong>der</strong> Weg, <strong>der</strong> überwiegend von <strong>der</strong><br />

<strong>Politik</strong> beschritten wird, um auf Globalisierungsprozesse zu reagieren. Wie <strong>in</strong> Abschnitt 2.1<br />

dargestellt, gibt es <strong>der</strong>zeit nur e<strong>in</strong>ige wenige Ansätze zur Transnationalisierung <strong>der</strong> (<strong>in</strong>stitu-<br />

tionellen) <strong>Politik</strong>. Am ausgeprägtesten s<strong>in</strong>d solche Prozesse <strong>der</strong>zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Europäischen Union,<br />

wo die regionale Integration sich auch immer weiter auf die politische Ebene erstreckt (siehe<br />

S. 93f.). Die Entwicklung <strong>in</strong> <strong>der</strong> EU kann jedoch nicht als stellvertretend für die gesamte Welt<br />

angesehen werden. Und selbst hier kollidiert die fortschreitende politische Integration zuweilen<br />

mit den real fortbestehenden (kulturellen) Nationalismen (vgl. auch Smith: Nations and<br />

Nationalism <strong>in</strong> a Global Era; Kap. 6). Zudem ist die ausgedehnte Übertragung von nationalen<br />

Hoheitsrechten auf EU-Organe solange unter Demokratiegesichtspunkten zum<strong>in</strong>dest proble-<br />

matisch, wie diese ke<strong>in</strong>e ausreichende demokratische Legitimation besitzen (vgl z.B. Classen:<br />

Europäische Integration und demokratische Legitimation).<br />

Doch was vielleicht sogar noch wichtiger ist: Das Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> berücksichtigt<br />

nicht die dem politischen Institutionensystem immanente Systemlogik, die die <strong>Politik</strong>er daran<br />

h<strong>in</strong><strong>der</strong>t, gemäß <strong>der</strong> im Expansionsmodell vorgeschlagenen Strategie zu handeln. Die <strong>Politik</strong><br />

als Funktionssystem (um es <strong>in</strong> systemtheoretisch-funktionalistischer Term<strong>in</strong>ologie auszudrücken)<br />

hat zwar – <strong>in</strong>nerhalb ihres nationalstaatlichen Gehäuses bzw. Makrosystems – e<strong>in</strong>en gewissen<br />

Grad an Autonomie gewonnen, dabei jedoch e<strong>in</strong>e auf diesen Nationalstaat fixierte Handlungs-<br />

logik entwickelt und darüber h<strong>in</strong>aus auch ihre Reproduktionsmechanismen (z.B. mit dem<br />

+Inlän<strong>der</strong>*-orientierten aktiven und passiven Wahlrecht) an se<strong>in</strong>e räumlichen Strukturen ge-


218 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

bunden. Das aber heißt: <strong>Politik</strong>er lernen zwangsläufig <strong>in</strong> Kategorien und Unterkategorien<br />

des Nationalstaats (wie dem +Brutto<strong>in</strong>landsprodukt* o<strong>der</strong> dem +Landesverband*) zu denken,<br />

wenn sie <strong>in</strong> diesem System erfolgreich se<strong>in</strong> wollen. Daß sich e<strong>in</strong>e solche nationalstaatsfixierte<br />

Handlungslogik und Reproduktionsstruktur im System <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> etabliert hat, ist allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, denn die +mo<strong>der</strong>ne* <strong>Politik</strong> hat sich (historisch betrachtet) gleichzeitig<br />

und im Verbund mit dem +mo<strong>der</strong>nen* Industrialismus entwickelt, und dieser beruhte auf<br />

dem Nationalstaat als wirtschaftlicher wie politischer Basis-E<strong>in</strong>heit, die e<strong>in</strong>igermaßen berechen-<br />

bare Verhältnisse zu gewährleisten versprach (vgl. v.a. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus;<br />

S. 37ff. und siehe auch Abschnitt 1.4).<br />

Das alles soll nicht besagen, daß die <strong>Politik</strong> im Nationalstaat, den John Holloway treffend<br />

als +verfestigte Form gesellschaftlicher Verhältnisse* charakterisiert (Globales Kapital und nationaler<br />

Staat; S. 15), e<strong>in</strong>e bloße Unterfunktion <strong>der</strong> Ökonomie wäre (wenngleich natürlich das politische<br />

System stark von den ökonomischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen abhängt). Wie schon oben <strong>in</strong> Anleh-<br />

nung an funktionalistische Argumentationsmuster angedeutet wurde, verfügt <strong>Politik</strong> dadurch,<br />

daß sie <strong>in</strong>stitutionell und formal vom Wirtschaftssystem abgrenzbar ist, über e<strong>in</strong>e gewisse<br />

(Teil-)Autonomie. Sie muß sogar über diese Autonomie verfügen, wenn sie ihre (faktische)<br />

Funktion im nationalen Kontext, das +Systemmanagement*, erfolgreich ausfüllen soll. Denn<br />

ohne e<strong>in</strong> (größeres o<strong>der</strong> kle<strong>in</strong>eres) eigenständiges Moment könnte <strong>Politik</strong> schließlich nicht<br />

regulierend und stabilisierend <strong>in</strong>s (nationale) Marktgeschehen e<strong>in</strong>greifen. Darüber h<strong>in</strong>aus eröffnet<br />

die Trennung <strong>in</strong> die verschiedenen Sphären (wie im zweiten Kapitel vor allem anhand <strong>der</strong><br />

Bereiche Justiz und Wissenschaft dargestellt wurde) die Möglichkeit e<strong>in</strong>er translatorischen<br />

wie fragmentisierenden Deflexion: +Kämpfe werden <strong>in</strong> politische und ökonomische Formen<br />

kanalisiert, von denen ke<strong>in</strong>e Raum läßt für Fragen zur Struktur <strong>der</strong> Gesellschaft als Ganzer*<br />

(ebd.; S. 17). 21<br />

Die <strong>Politik</strong> ist, wie gesagt, aufgrund ihrer +genetisch* bed<strong>in</strong>gten System- und Handlungslogik<br />

noch immer fixiert auf dieses deflexive Zusammenspiel <strong>der</strong> formal getrennten Sphären im<br />

22<br />

alten +Conta<strong>in</strong>er-Staat* (vgl. Taylor: The State as a Conta<strong>in</strong>er), <strong>der</strong> freilich – wenn er je wirklich<br />

+dicht* war – längst zu lecken begonnen hat (vgl. ebd; S. 157–161 sowie <strong>der</strong>s.: Beyond<br />

Conta<strong>in</strong>ers). Vor allem das Kapital hat sich, wie schon oben (und <strong>in</strong> Abschnitt 2.1) festgestellt,<br />

23<br />

vom (nationalen) Territorium weitgehend emanzipiert. So resümiert denn auch Holloway:<br />

+Der Nationalstaat ist nicht mehr das, was er e<strong>in</strong>mal war. Als Moment des globalen Kapital-


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 219<br />

verhältnisses hat er nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher.* (Globales Kapital und nationaler<br />

Staat; S. 30)<br />

Die Mobilität des Kapitals, das sich dem staatlichen Zugriff +elegant* durch globale Transaktionen<br />

und Verschiebungen entzieht, stellt vor allem die wohlfahrtsstaatliche Umverteilungspolitik<br />

vor große Probleme, da ihr durch die +Flüchtigkeit* des Kapitals zunehmend die Mittel fehlen,<br />

um jene Redistribution durchzuführen, die den sozialen Frieden (und damit <strong>in</strong>direkt auch<br />

die Stabilität des politischen und ökonomischen Systems) so lange sicherte. Ich werde unten<br />

(siehe S. 224–230) noch näher auf diese Problematik e<strong>in</strong>gehen. Wenn die nationale <strong>Politik</strong><br />

aber auf diese Bedrohung aufgrund ihrer Systemlogik nicht mit transnatioanler Expansion<br />

reagieren kann (o<strong>der</strong> will), um das flüchtige Kapital wie<strong>der</strong> +e<strong>in</strong>zufangen*, wie versucht sie<br />

dann, dem Dilemma zu entgehen? – Sie verfolgt dazu das, was ich die nationale Strategie<br />

nennen möchte, und die im Grunde auf e<strong>in</strong>em liberalistischen Wettbewerbsmodell beruht,<br />

betreibt also e<strong>in</strong>e Selbstökonomisierung. Dazu Joachim Hirsch:<br />

+Grob gesprochen, konzentriert sich staatliche <strong>Politik</strong> zunehmend darauf, e<strong>in</strong>em global flexibler agierenden<br />

Kapital <strong>in</strong> Konkurrenz mit an<strong>der</strong>en Staaten günstige Verwertungsvoraussetzungen zu verschaffen.* (Der<br />

nationale Wettbewerbsstaat; S. 103)<br />

Die Logik dieser Strategie ist denkbar e<strong>in</strong>fach: Man läßt sich auf jenen zu Beg<strong>in</strong>n dieses<br />

Abschnitts mit Marcos und Luttwak an die Wand gemalten (vierten) +Welt(wirtschafts)krieg*<br />

e<strong>in</strong>, hofft im Konkurrenzkampf mit den an<strong>der</strong>en Nationen zu bestehen und sich so e<strong>in</strong> möglichst<br />

großes Stück vom globalen +Verteilungskuchen* zu sichern. Dazu öffnet man den eigenen<br />

Markt, senkt die sozialen Standards, erhebt niedrige Kapitalsteuern (o<strong>der</strong> verzichtet ganz darauf)<br />

und gewährt <strong>in</strong>vestitionswilligen Unternehmen Vergünstigungen (wie kostenlose Baugrundstücke)<br />

o<strong>der</strong> Son<strong>der</strong>rechte (wie die Nichte<strong>in</strong>haltung von Schadstoffbegrenzungen bei <strong>der</strong> Produktion)<br />

24<br />

etc. Durch diese (segmentäre) +Liberalisierung* und Deregulierung erstrebt man e<strong>in</strong>en Erhalt<br />

bzw. die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Ankurbelung <strong>der</strong> Wirtschaft.<br />

Und über die Besteuerung des Konsums und <strong>der</strong> E<strong>in</strong>kommen <strong>der</strong> Arbeitnehmer, die weit<br />

schwerer flüchten können als das Kapital, sollen dann Gel<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Staatskassen fließen,<br />

die e<strong>in</strong>e wohlfahrtsstaatliche Grundsicherung garantieren, so daß die sozialen Spannungen<br />

auf e<strong>in</strong>em +erträglichen* Niveau bleiben – wenn das Globalisierungsargument nicht ohneh<strong>in</strong><br />

nur (ideologisch) vorgeschoben wird, um den Abbau des Sozialstaats zu betreiben.


220 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Die nationale Strategie wird heute von vielen Län<strong>der</strong>n verfolgt, und das alle<strong>in</strong>e reicht aus,<br />

um sie (über den entstandenen Anpassungs- und Wettbewerbsdruck) auch <strong>der</strong> restlichen<br />

Welt mehr o<strong>der</strong> weniger aufzuzw<strong>in</strong>gen. Hirsch sieht im Zuge dieser Entwicklung sogar e<strong>in</strong>en<br />

neuen, +dezentrierten* Typ des kapitalistischen Staates – eben den +nationalen Wettbewerbs-<br />

staat* – entstehen, <strong>der</strong> nur noch e<strong>in</strong>e beschränkte Vermittlungsfunktion wahrnimmt (vgl. ebd.;<br />

25<br />

S. 114ff.), wodurch e<strong>in</strong>e neuerliche +Transformation <strong>der</strong> Demokratie* (Agnoli) <strong>in</strong> Gang gesetzt<br />

26<br />

wird. Denn mit dem Rückzug <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> laufen auch die demokratischen Prozesse <strong>in</strong>s Leere,<br />

was die Defizite <strong>der</strong> liberalen Demokratie nach Hirsch noch stärker als bisher hervortreten<br />

läßt. So kommt es zu e<strong>in</strong>er (politikmüden) Entfremdung vom System bzw. e<strong>in</strong>er Delegitimierung<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> den Augen <strong>der</strong> Bevölkerung (vgl. ebd.; S. 136ff.) – wofür es (z.B. mit s<strong>in</strong>kenden<br />

Wahlbeteiligungen und e<strong>in</strong>em auch empirisch +meßbaren* Vertrauensverlust) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat gewisse<br />

Anzeichen gibt (siehe hierzu auch nochmals S. 199). Auf e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Problem im Zusammenhang<br />

mit <strong>der</strong> Abdankung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im nationalen Wettbewerbsstaat, dem +Machtwechsel vom<br />

Staat zum Markt*, <strong>der</strong> auch die <strong>in</strong>ternationalen Asymmetrien verschärft, weist Susan Strange<br />

27<br />

h<strong>in</strong>. Denn für sie tun sich gefährliche +Lücken <strong>in</strong> <strong>der</strong> Exekutivgewalt* (gaps <strong>in</strong> government)<br />

auf, die <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das weltweite organisierte Verbrechen zu nutzen weiß (vgl. The Limits<br />

of Politics).<br />

Nicht nur deshalb läßt sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach behaupten: Die nationale Strategie ist letzt-<br />

28<br />

endlich e<strong>in</strong>e <strong>fatal</strong>e Strategie. Was sie anstrebt (die Sicherung <strong>der</strong> nationalen Wohlfahrt),<br />

untergräbt sie <strong>in</strong> Wirklichkeit. In <strong>der</strong> gegenseitigen Konkurrenz schwächen sich die Staaten<br />

und entziehen sich Gestaltungsfreiräume wie ökonomische Ressourcen, denn <strong>in</strong>dem sie sich<br />

<strong>der</strong> kapitalistischen Wettbewerbslogik unterordnen, geht ohneh<strong>in</strong> begrenzte politische Autonomie<br />

verloren, und <strong>in</strong>dem sie sich gegenseitig unterbieten, um Kapital anzulocken, muß <strong>in</strong>sgesamt<br />

von <strong>der</strong> Kapitalseite immer weniger Transfer an die Gesellschaft geleistet werden (vgl. auch<br />

29<br />

Asp<strong>in</strong>wall: The Unholy Social Tr<strong>in</strong>ity; S. 130f.). Der <strong>in</strong>ternationale +Weltwirtschaftskrieg*<br />

(nicht <strong>der</strong> <strong>der</strong> Unternehmen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>der</strong> Staaten) ist global betrachtet für die <strong>Politik</strong><br />

30<br />

deshalb e<strong>in</strong> +M<strong>in</strong>ussummenspiel*, e<strong>in</strong> +Wettlauf ohne Sieger* (Altvater). Die Ökonomisierung<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die nationale Strategie trägt so zur Verschlimmerung des unten behandelten<br />

Dilemmas des Wohlfahrtsstaates bei. Bevor dieses aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en verschiedenen Dimensionen<br />

dargestellt werden kann, steht es noch aus, drei weitere mögliche politische Strategien auf<br />

die ökonomische Globalisierung kurz zu thematisieren: die (subnationalistische) Strategie <strong>der</strong>


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 221<br />

Übersicht 5: Politische Strategien auf ökonomische Globalisierung<br />

• Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (Evolution <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong>): Übertragung bzw. Ausweitung <strong>der</strong><br />

Interventionspolitik des Nationalstaats auf transnationale politische Strukturen<br />

• Nationale Strategie (liberalistisches Wettbewerbsmodell): Sicherung e<strong>in</strong>er begrenzten nationalen Wohlfahrt<br />

durch die Attraktion des globalen Kapitals mittels <strong>der</strong> Schaffung +attraktiver* Rahmenbed<strong>in</strong>gungen (Abbau<br />

des Sozialstaats, ger<strong>in</strong>ge Kapitalbesteuerung etc.)<br />

• Lokalisierungsstrategie (Subnationalismus): +Downsiz<strong>in</strong>g* des Staates auf kle<strong>in</strong>e, kulturell und ökonomisch<br />

relativ homogene, +natürliche* geographische (Wirtschafts-)Räume mit hoher Effizienz<br />

• Delokalisierungsstragegie (virtueller Staat): Entterritorialisierung des Staates <strong>in</strong> Reaktion auf die Entterri-<br />

torialisierung <strong>der</strong> Ökonomie<br />

• Globale Subpolitisierung (+revolutionäres* Expansionsmodell): Ablösung <strong>der</strong> (nationalen) <strong>Politik</strong> durch globale<br />

subpolitische Selbstorganisation<br />

Lokalisierung, die Strategie <strong>der</strong> Delokalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im virtuellen Staat und die (+revolu-<br />

tionäre*) Strategie <strong>der</strong> globalen Subpolitisierung (siehe auch Übersicht 5). 31<br />

Ich möchte mit <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> Strategie <strong>der</strong> Lokalisierung beg<strong>in</strong>nen und werde dabei<br />

auf die Überlegungen von Kenichi Ohmae zurückgreifen. Ohmae war lange Zeit Direktor<br />

<strong>der</strong> weltweit agierenden Unternehmensberatung +McK<strong>in</strong>sey & Company*, die den von ihnen<br />

betreuten Firmen vorzugsweise e<strong>in</strong> +Gesundschrumpfungsprogramm* verschreibt. +Downsiz<strong>in</strong>g*<br />

und +Lean Management* etc. s<strong>in</strong>d hier die Stichworte. Und so empfiehlt Ohmae analog auch<br />

so etwas wie e<strong>in</strong> +Downsiz<strong>in</strong>g* des politischen Territoriums als Ausweg aus <strong>der</strong> +Globalisierungs-<br />

falle* (Mart<strong>in</strong>/Schumann) e<strong>in</strong>er grenzenlosen Ökonomie, die dem Nationalstaat auch nach<br />

Ohmae die Basis raubt (vgl. The End of the Nation State; <strong>in</strong>sb. Kap. 1 u. 5).<br />

Die Ökonomie ist für ihn nämlich längst eher <strong>in</strong> überschaubaren, dynamischen (allerd<strong>in</strong>gs<br />

den weltweiten Markt anvisierenden) Regionen als <strong>in</strong> <strong>in</strong>effizienten nationalstaatlichen Groß-<br />

räumen organisiert. Diese Regionen (wie z.B. Baden-Württemberg, Norditalien o<strong>der</strong> Kalifornien)<br />

stellen – im Gegensatz zum Nationalstaat – sozusagen +natürliche* und wachstumsträchtige<br />

Zonen dar (vgl. ebd.; Kap. 7 sowie <strong>der</strong>s.: The Rise of the Region State). Um nun mit <strong>der</strong> öko-<br />

nomischen Entwicklung Schritt zu halten und um effizienter zu werden, muß sich auch die<br />

<strong>Politik</strong> verstärkt regional bzw. lokal organisieren (vgl. The End of the Nation State; Kap. 8<br />

u. 9). 32<br />

Was Ohmae hier vorschlägt, ist letztlich aber nur e<strong>in</strong>e Art Subnationalismus, <strong>der</strong> für pros-<br />

perierende Regionen vielleicht als geeigneter Weg ersche<strong>in</strong>en mag, um sich aus allzu leicht<br />

durchschaubaren Motiven von ihren weniger prosperierenden Kontexten abzukoppeln. Aus


222 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

e<strong>in</strong>er +globaleren* Perspektive be<strong>in</strong>haltet sie jedoch genau dieselben Wi<strong>der</strong>sprüche, wie die<br />

nationale Strategie – denn es ist egal, wie groß bzw. kle<strong>in</strong> und +homogen* die politischen<br />

Räume s<strong>in</strong>d, die <strong>in</strong> Konkurrenz zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> treten. Immer wird die Folge e<strong>in</strong>er solchen, an<br />

die kapitalistische Wettbewerbslogik angepaßten Konkurrenz e<strong>in</strong> Verlust an politischen<br />

Freiräumen se<strong>in</strong>. Das Lokale hätte nur dann e<strong>in</strong>e wirkliche Chance, wenn es sich vorher<br />

global vernetzt, also die Lokalisierungsstrategie im Kontext e<strong>in</strong>es +fö<strong>der</strong>ativen* Expansionsmodells<br />

angewandt wird.<br />

Interessanter und (theoretisch) +vielversprechen<strong>der</strong>* als die Strategie <strong>der</strong> fragmentisierenden<br />

Lokalisierung ist die Strategie <strong>der</strong> Delokalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im virtuellen Staat – wenn sie<br />

auch e<strong>in</strong> eher unrealistisches Modell darstellt. Der virtuelle Staat ist, folgt man Richard<br />

Rosecrance, e<strong>in</strong> politisches Gebilde, bei dem sich auch die <strong>Politik</strong> – als Reaktion auf die sich<br />

entterritorialisierende Wirtschaft – nicht mehr auf das Territorium fixiert:<br />

+The virtual state is a country whose economy is reliant on mobile factors of production […] it houses<br />

virtual corporations and presides over foreign direct <strong>in</strong>vestment by its enterprises. But more than this,<br />

it encourages, stimulates, and […] coord<strong>in</strong>ates such activities.* (The Rise of the Virtual State; S. 47)<br />

In dieser Formulierung ist <strong>der</strong> virtuelle Staat natürlich nicht viel mehr als <strong>der</strong> politische Erfül-<br />

lungsgehilfe e<strong>in</strong>er globalen virtuellen Ökonomie, d.h. Rosecrance stellt e<strong>in</strong> (gleichermaßen)<br />

ökonomistisches Gegenmodell zum territorialen +Regionen-Staat* Ohmaes auf, <strong>der</strong> sogar gemäß<br />

se<strong>in</strong>er Selbste<strong>in</strong>schätzung die Gefahr e<strong>in</strong>er +zivilen Krise* impliziert (vgl. ebd.; S. 59f.). Aber<br />

es lassen sich auch an<strong>der</strong>e Strukturen für virtuelle politische Geme<strong>in</strong>schaften imag<strong>in</strong>ieren,<br />

die weniger auf <strong>der</strong> bloßen politischen Doppelung ökonomischer Prozesse beruhen, als auf<br />

<strong>der</strong> Faktizität globaler <strong>in</strong>terpersonaler Netzwerke:<br />

+The age-old <strong>in</strong>ternational or<strong>der</strong>, which was limited to territorial states, needs to be expanded to make<br />

room for nations that are not organized territorially <strong>in</strong>to <strong>in</strong>dependent states. A non-territorial system of<br />

nations has <strong>in</strong> fact existed for much of history, though it was never given a formal expression by states<br />

jealous of their sovereign authority. It consists of nations bound across ties of k<strong>in</strong>ship, sentiments, aff<strong>in</strong>ity,<br />

culture and loyalty.* (Gottlieb: Nations Without States; S. 105)<br />

Zur Konstitution solcher virtueller Nationen müßten die bestehenden territorialen Staatengrenzen<br />

nach Gottlieb nicht e<strong>in</strong>mal aufgehoben werden. Die virtuellen Nationen sollen diese vielmehr


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 223<br />

nur politisch und kommunikationstechnisch transzendieren, während die alten staatlichen<br />

Territorialstrukturen parallel weiterexistieren. Freilich müßten die transnationalen virtuellen<br />

Geme<strong>in</strong>schaften, um nicht bedeutungslos zu bleiben, auch mit gewissen +nationalen Rechten*<br />

ausgestattet se<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 106).<br />

Es ist allerd<strong>in</strong>gs fraglich, ob die Staaten sich dazu bereitf<strong>in</strong>den würden, virtuelle Nationen<br />

mit solchen Rechten auszustatten. Um dieses Problem zu beseitigen, müßte man schon das<br />

Politische wirklich vom Territorium lösen (d.h. die Territorialstaaten abschaffen). Das ist natürlich<br />

e<strong>in</strong> noch unrealistischerer Vorschlag als <strong>der</strong> Gottliebs – vor allem, weil es unklar bliebe, wie<br />

sich die nur mehr virtuellen politischen Körper an die auch für sie notwendige materielle<br />

Basis ankoppeln könnten und wie sie ihre getroffenen politischen Entscheidungen durchsetzen<br />

sollten. Zudem wäre das eigentliche Dilemma <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung so auch<br />

nicht gelöst, denn re<strong>in</strong> virtuelle politische Gebilde stünden dem virtuellen wie dem realen<br />

ökonomischen Druck wahrsche<strong>in</strong>lich noch schwächer und hilfloser gegenüber als die aktuellen<br />

Territorialstaaten. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ergäbe sich <strong>der</strong> Vorteil, daß sich im globalen virtuellen<br />

politischen Raum multidimensionale politische Landschaften problemlos(er) so abbilden ließen,<br />

wie sie <strong>in</strong> den Lebens(unter)welten bestehen. Denn die lebensweltliche Realität entspricht<br />

zweifellos nicht <strong>der</strong> zweidimensionalen territorialen Kartierung des bestehenden politischen<br />

33<br />

Systems, da im +privaten* Bereich vielfache Überlappungen bestehen. Nur: Die Delokalisierung<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im virtuellen politischen Raum ist, wie gesagt, e<strong>in</strong> +unrealistisches* Modell.<br />

Ebenso unrealistisch ist die Strategie <strong>der</strong> globalen Subpolitisierung, die an<strong>der</strong>erseits, wenn<br />

sie gelänge, tatsächlich e<strong>in</strong>e erfolgversprechende Antwort auf ökonomische Globalisierung<br />

darstellen könnte. Im Pr<strong>in</strong>zip ist sie e<strong>in</strong>e Variante des Expansionsmodells, jedoch mit e<strong>in</strong>em<br />

gewichtigen Unterschied: Sie beruht gerade nicht – wie letztlich auch von Ulrich Beck, dem<br />

eigentlichen Schöpfer Begriffs, mit se<strong>in</strong>em Konzept des +Transnationalstaats* vorgeschlagen<br />

(siehe Anmerkung 19) – auf <strong>der</strong> evolutionären Transnationalisierung <strong>der</strong> nur subpolitisch<br />

ergänzten <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong>, son<strong>der</strong>n gerade auf <strong>der</strong> wirklichen Substitution <strong>der</strong> +großen<br />

<strong>Politik</strong>* durch globale subpolitische Strukturen. Globale Subpolitisierung im hier von mir<br />

vorgeschlagenen S<strong>in</strong>n stellt also gewissermaßen e<strong>in</strong>e +revolutionäre* Transformation <strong>der</strong> globalen<br />

politischen Ordnung dar: (Lokale) subpolitische Bewegungen, die schließlich auch gemäß<br />

Beck häufig +effektvoller* agieren als staatliche Institutionen (vgl. Was ist Globalisierung?;<br />

S. 175f.), vernetzen sich global, bilden e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>standsnetz aus gegen die sozialen wie ökolo-


224 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

gischen Zumutungen des globalen Marktes und überw<strong>in</strong>den die (Ver)fest(ig)ungen des politischen<br />

Systems. Die politische Selbstorganisation <strong>der</strong> reflexiv-bewußten Individuen wird so dem<br />

entbetteten ökonomischen Individualismus und e<strong>in</strong>er diesen (deflexiv) spiegelnden <strong>in</strong>stitutionellen<br />

<strong>Politik</strong> entgegengestellt. 34<br />

Mit Sicherheit würden aber bereits Ansätze zu e<strong>in</strong>er solchen (+revolutionären*) globalen Sub-<br />

politisierung – welche damit nicht nur die territorialen Grenzen, son<strong>der</strong>n auch die Grenze<br />

zur +echten* <strong>Politik</strong> überschritten hätte – vielfache Wi<strong>der</strong>stände hervorrufen. Insbeson<strong>der</strong>e<br />

wären heftige Gegenreaktionen von <strong>der</strong> Seite des Kapitals und <strong>der</strong> herausgefor<strong>der</strong>ten <strong>in</strong>stitu-<br />

tionellen <strong>Politik</strong> zu erwarten, die beide erhebliche Machtpotentiale besitzen. Auch ist es mehr<br />

als zweifelhaft, ob die Individuen (aktuell) überhaupt <strong>in</strong> relevantem Umfang bereit wären,<br />

sich zu e<strong>in</strong>er mühevollen Selbstorganisation zu bewegen. Schließlich dom<strong>in</strong>iert – trotz feststell-<br />

barer Individualisierungstendenzen – weitgehend e<strong>in</strong> +politischer Konsumismus*, das heißt,<br />

man ist ganz zufrieden damit, daß e<strong>in</strong> soziales Subsystem existiert, das für politische Fragen<br />

+zuständig* ist. (Gemäßigter) Unmut regt sich nur dann, wenn das politische System die von<br />

ihm z.B. durch Wahlversprechen geweckten und an es gerichteten Erwartungen nicht erfüllt.<br />

An<strong>der</strong>erseits besitzt Subpolitik e<strong>in</strong>en gewissen +Globalisierungsvorsprung* vor <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitu-<br />

tionalisierten <strong>Politik</strong> (siehe auch S. 96f.), da sie nicht (o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest nicht aus Gründen<br />

<strong>der</strong> Selbst- und Systemerhaltung, son<strong>der</strong>n nur notgedrungen) auf die Staatengrenzen Rücksicht<br />

nehmen muß. Subpolitik ist also von vorne here<strong>in</strong> weniger nationalstaatsfixiert als die <strong>in</strong>stitu-<br />

tionalisierte <strong>Politik</strong>.<br />

Wie oben ausgeführt, ist aber genau die Nationalstaatsfixierung e<strong>in</strong> zentrales Problem im<br />

Kontext ökonomischer Globalisierung, und die nationale Strategie, die von <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten<br />

<strong>Politik</strong> aufgrund ihrer system<strong>in</strong>tern herausgebildeten Handlungslogik favorisiert wird (siehe<br />

oben), verschärft die Probleme also eher, als daß sie sie löst. Das sieht man deutlich, wenn<br />

man e<strong>in</strong>en Blick auf die dilemmatische aktuelle Situation des nationalen Wohlfahrtsstaats<br />

wirft, <strong>der</strong> lange Zeit die Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus durch se<strong>in</strong>e ausgleichende <strong>Politik</strong><br />

überdecken konnte: <strong>der</strong> +große Leviathan* als <strong>der</strong> große +Umverteiler*, <strong>der</strong> die Individuen<br />

durch Konsum praxologisch <strong>in</strong> das System <strong>in</strong>tegriert. 35<br />

Doch Wohlfahrtsstaat war und ist nicht gleich Wohlfahrtsstaat. Vielmehr lassen sich mit Gøsta<br />

Esp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen +drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus* unterscheiden, die die ihnen gestellte<br />

36<br />

Aufgabe <strong>der</strong> +De-Kommodifizierung* auf unterschiedliche Weise meistern: Zum e<strong>in</strong>em gibt


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 225<br />

es das Modell des +liberalen Wohlfahrtsstaats*, <strong>der</strong> nur mit m<strong>in</strong>imalen E<strong>in</strong>griffen versucht,<br />

das System <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Nutzenmaximierung im +freien* Markt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Balance zu halten<br />

(typisches Beispiel s<strong>in</strong>d für Esp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen die Vere<strong>in</strong>igten Staaten). E<strong>in</strong> zweites Modell ist<br />

<strong>der</strong> +korporatistische Wohlfahrtsstaat*. Hier herrscht e<strong>in</strong> stärker staats- wie geme<strong>in</strong>schaftszen-<br />

triertes Denken vor, und <strong>der</strong> Markt gilt nicht als alle<strong>in</strong>iger Garant des Volkswohlstands.<br />

An<strong>der</strong>erseits werden die gegebenen Hierarchien im +Sozialkörper* nicht <strong>in</strong> Frage gestellt,<br />

und es wird nur e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Umverteilung angestrebt. Als typisches Beispiel für dieses Modell<br />

37<br />

gilt Esp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen Deutschland. Die dritte Variante ist <strong>der</strong> +sozialdemokratische Wohl-<br />

fahrtsstaat*, <strong>der</strong> mit dem korporatistischen Wohlfahrtsstaat die Ablehnung des liberalen Markt-<br />

modells geme<strong>in</strong> hat und auf gezielte staatliche Interventionen baut, an<strong>der</strong>s als jener jedoch<br />

e<strong>in</strong>en hohen Grad an Gleichheit anstrebt und e<strong>in</strong> ausgeprägtes Bewußtse<strong>in</strong> für soziale Gerech-<br />

tigkeit zeigt. Wenig überraschend führt Esp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen hier Schweden als stellvertretendes<br />

Beispiel an. (Vgl. The Three Worlds of Welfare Capitalism; S. 26ff.)<br />

Auf die aktuelle, Arbeitskräfte freisetzende +<strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrialisierung* <strong>der</strong> Wirtschaft – d.h auf<br />

die zunehmende (postfordistische) Rationalisierung, Flexibilisierung und Tertiärisierung (siehe<br />

auch S. LII–LV u. 81f.) – wurde <strong>in</strong> diesen drei Welten unterschiedlich reagiert: In den USA<br />

hat man durch die hier betriebene Liberalisierungspolitik als Ausgleich für die weggefallenen<br />

Arbeitsplätze im +produktiven* Sektor viele schlecht bezahlte +junk-jobs* vor allem im Dienst-<br />

leistungsgewerbe (speziell <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergnügungs<strong>in</strong>dustrie) geschaffen, die oft allerd<strong>in</strong>gs so niedrig<br />

bezahlt werden, daß gleich mehre Stellen angenommen werden müssen, um e<strong>in</strong> erträgliches<br />

38<br />

Auskommen zu sichern (siehe auch S. 189). Das ist <strong>der</strong> Preis, den die Amerikaner offensichtlich<br />

39<br />

für ihre vergleichsweise niedrige Arbeitslosenquote zu zahlen gewillt s<strong>in</strong>d. In Deutschland<br />

ist man dazu nicht breit, hat dafür aber mit dem Phänomen e<strong>in</strong>es +jobless growth* (o<strong>der</strong><br />

aktuell wohl vielmehr eher e<strong>in</strong>er +jobless stagnation*) zu kämpfen. Denn die <strong>Politik</strong> hat so<br />

gut wie nicht auf den Schwund <strong>der</strong> Arbeitsplätze <strong>in</strong> den +traditionellen* Industrien reagiert<br />

und baut noch immer auf die Funktionsfähigkeit des bestehenden Sozialversicherungssystems.<br />

In diesem +Kapitalismus ohne Arbeit* (Beck), <strong>der</strong> unbeabsichtigt das sozial sehr wirksame<br />

40<br />

+Kontroll<strong>in</strong>strument* <strong>der</strong> Erwerbsarbeit aushebelt, besteht durchaus die Gefahr e<strong>in</strong>er zuneh-<br />

menden Polarisierung <strong>der</strong> Gesellschaft – nicht so sehr, wie <strong>in</strong> den USA, zwischen den Inhabern<br />

41<br />

+guter* und +schlechter* Jobs, son<strong>der</strong>n zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen. E<strong>in</strong>e solche<br />

soziale Polarisierung konnte dagegen <strong>in</strong> Schweden weitgehend vermieden werden. Der Staat


226 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

bemühte sich hier nämlich aktiv um e<strong>in</strong>e Anpassung an die Verhältnisse e<strong>in</strong>er post<strong>in</strong>dustriellen<br />

Ökonomie: durch Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramme, die gleichzeitig auch e<strong>in</strong> höheres<br />

42<br />

Maß an Geschlechtergleichheit sichern sollten. (Vgl. ebd.; S. 221–229)<br />

Esp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen berücksichtigt bei diesen (im Jahr 1990 veröffentlichten) Überlegungen allerd<strong>in</strong>gs<br />

kaum die Wirkung von Globalisierungsprozessen. Auf post<strong>in</strong>dustriellen Wandel alle<strong>in</strong>e vermag<br />

das sozialdemokratische Modell (das mit se<strong>in</strong>er nationalen Interventionsstrategie letztendlich<br />

e<strong>in</strong> ebenso +konservatives* nationalistisches Projekt verfolgt wie <strong>der</strong> korporatistische Wohlfahrts-<br />

staat) vielleicht noch adäquate Antworten parat haben – auf e<strong>in</strong>e <strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrialisierung im<br />

globalen Kontext aber wohl kaum mehr. So droht mit Globalisierung die Vere<strong>in</strong>heitlichung<br />

<strong>der</strong> drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus, und zwar <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Anpassung nach +unten*,<br />

d.h. an das +liberale* Modell. Der <strong>in</strong>ternationale Wettbewerb begrenzt nämlich die Interventions-<br />

fähigkeit <strong>der</strong> nationalen <strong>Politik</strong>. Das mußte man <strong>in</strong> den letzten Jahren auch <strong>in</strong> Schweden<br />

erfahren, wo drastische Umbauten des Wohlfahrtsstaats <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>er Liberalisierung vorge-<br />

43<br />

nommen wurden (vgl. z.B. Åkermann/Granatste<strong>in</strong>: Welfare States <strong>in</strong> Trouble). Nur so konnte<br />

auf den <strong>in</strong>ternationalen Wettbewerbsdruck reagiert werden. Auch <strong>der</strong> Fall Schweden belegt<br />

damit die global feststellbare Tendenz zu e<strong>in</strong>er ›Re-Kommodifizierung‹ <strong>der</strong> Arbeit (vgl. Neyer/-<br />

Seelaib-Kaiser: Arbeitsmarktpolitik nach dem Wohlfahrtsstaat).<br />

Der amerikanische Ökonom (und ehemalige Arbeitsm<strong>in</strong>ister <strong>der</strong> Cl<strong>in</strong>ton-Adm<strong>in</strong>istration) Robert<br />

Reich hat die angesprochene, e<strong>in</strong>e neue Hierarchie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeitswelt bewirkende +Re-<br />

Kommodifizierung* <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Die neue Weltwirtschaft* (1991) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en ganz e<strong>in</strong>deutigen<br />

Zusammenhang mit dem auch von ihm gesehenen Ende <strong>der</strong> nationalen Ökonomie und <strong>der</strong><br />

44<br />

+klassischen* Industriegesellschaft gebracht. Dort bemerkt er e<strong>in</strong>leitend:<br />

+Wir durchleben <strong>der</strong>zeit e<strong>in</strong>e Transformation, aus <strong>der</strong> im kommenden Jahrhun<strong>der</strong>t neue Formen von<br />

<strong>Politik</strong> und Wirtschaft hervorgehen werden […] Das Grundkapital e<strong>in</strong>es jeden Landes werden die Kenntnisse<br />

und Fähigkeiten se<strong>in</strong>er Bürger bilden. Vorrangige Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wird es se<strong>in</strong>, gegen die Zentrifugalkräfte<br />

<strong>der</strong> Wirtschaft anzugehen, die die nationale Bürgerschaft zu zerreißen drohen – <strong>in</strong>dem diejenigen mit<br />

den besten Fachkenntnissen und Fertigkeiten reichlich belohnt und die weniger ausgebildeten Hilfskräfte<br />

zu e<strong>in</strong>em s<strong>in</strong>kenden Lebensstandard verurteilt werden.* (S. 9)<br />

Die erste, die Gew<strong>in</strong>ner-Gruppe, von <strong>der</strong> Reich hier spricht, charakterisiert er im folgenden<br />

als +Symbol-Analytiker*: hoch gefragte Wissensarbeiter, die ihre Dienste global offerieren.<br />

Die zweite, weniger privilegierte (Verlierer-)Gruppe rekrutiert sich überwiegend aus den (<strong>in</strong>du-


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 227<br />

striellen) +Rout<strong>in</strong>earbeitern*, die Tätigkeiten mit niedrigem Anfor<strong>der</strong>ungsprofil ausüben und<br />

damit voll <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Konkurrenz unterliegen (d.h. ihre Arbeitsplätze können leicht<br />

+ausgelagert* werden). Das trifft für die dritte Arbeitnehmer-Kategorie, die Reich identifiziert,<br />

die +Dienstleistenden*, nicht unbed<strong>in</strong>gt zu, denn ihre Tätigkeiten s<strong>in</strong>d zum großen Teil kunden-<br />

bezogen und darum ortsgebunden. Allerd<strong>in</strong>gs haben sie aufgrund ihres ebenfalls meist ger<strong>in</strong>gen<br />

Qualifikationsniveaus, das auch sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es e<strong>in</strong> Überangebot an Arbeits-<br />

kräften gibt, leicht ersetzbar macht, ke<strong>in</strong>e große Verhandlungsmacht im +Lohnpoker*, weshalb<br />

sie analog mit stagnierenden o<strong>der</strong> sogar s<strong>in</strong>kenden E<strong>in</strong>kommen rechnen müssen. (Vgl. ebd.;<br />

S. 191–206)<br />

E<strong>in</strong> Weg, <strong>der</strong> die soziale Sprengkraft dieser Entwicklung mil<strong>der</strong>n könnte, wäre gemäß Reich<br />

e<strong>in</strong>e stark progressive Steuer (verbunden mit e<strong>in</strong>er Schließung aller +Schlupflöcher*), so daß<br />

<strong>der</strong> Staat wie<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Umverteilungsaufgabe wahrnehmen könnte (vgl. ebd.; S. 276f.). 45<br />

Doch dabei geht er davon aus, das ausgerechnet die global vernetzten Symbol-Analytiker<br />

lokal fixiert s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest starke lokale Präferenzen haben, was für mich e<strong>in</strong>e eher<br />

46<br />

unrealistische Annahme darstellt. Vielmehr könnten die Staaten, gemäß <strong>der</strong> von ihnen bevor-<br />

zugten nationalen Strategie, versucht se<strong>in</strong>, um die durchaus global mobilen Symbol-Analytiker<br />

durch niedrige E<strong>in</strong>kommensteuerhöchstsätze untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu konkurrieren – mit <strong>der</strong> Folge<br />

<strong>der</strong> analogen Verschärfung ihres Dilemmas wie bei <strong>der</strong> Konkurrenz um das globale Kapital.<br />

Und so gilt auch +global*, was Jürgen Neyer auf Westeuropa bezogen festgestellt hat:<br />

+Es genügt heute immer weniger, e<strong>in</strong>fach nur Deutscher, Franzose o<strong>der</strong> auch EU-Europäer zu se<strong>in</strong>, um<br />

e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>igermaßen akzeptablen Lebensstandard erwarten zu können.* (Globaler Markt und territorialer<br />

Staat; S. 300)<br />

Die ökonomische +Schicksalsgeme<strong>in</strong>schaft* <strong>der</strong> Nation – wenn sie denn jemals wirklich bestand<br />

und nicht nur im Interesse des Eigentumsschutzes behauptet wurde – ist zerbrochen, sie wird<br />

nur noch politisch aufrecht erhalten. Aber auch hier ist mit dem weitgehenden Wegfall <strong>der</strong><br />

atomaren Bedrohung und <strong>der</strong> Selbstauflösung des retrospektiv betrachtet völlig ungerecht-<br />

fertigterweiser so gefürchteten real existierenden +Sozialismus* viel E<strong>in</strong>endes verschwunden.<br />

Aus dieser Perspektive ist die +verzweifelte* Suche nach neuen Fe<strong>in</strong>dbil<strong>der</strong>n (schließlich liegt<br />

nach Carl Schmitt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Unterscheidung zwischen Freund und Fe<strong>in</strong>d sogar das Wesen des<br />

Politischen) nur allzu verständlich – egal ob man den neuen Gegenspieler des Westens <strong>in</strong>


228 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

e<strong>in</strong>em erstarkenden (fundamentalistischen) Islam sieht, o<strong>der</strong> ganz allgeme<strong>in</strong>, wie Samuel Hunt<strong>in</strong>g-<br />

ton, die These e<strong>in</strong>es drohenden +Clash of Civilizations* (1993), e<strong>in</strong>es +Kampfs <strong>der</strong> Kulturen*,<br />

<strong>in</strong> den Raum stellt.<br />

Doch diese Überlegungen führen weg von <strong>der</strong> eigentlichen Thematik. Hier geht es schließlich<br />

um das ökonomische Dilemma des nationalen Wohlfahrtsstaats, das, wie schon <strong>in</strong> den obigen<br />

Ausführungen deutlich anklang, auch e<strong>in</strong> Dilemma von Produktion und Beschäftigung ist –<br />

<strong>der</strong> global gestreuten, postfordistisch flexibilisierten und geschrumpften (materiellen) Produktion<br />

e<strong>in</strong>er zunehmend symbolischen Ökonomie sowie <strong>der</strong> daraus resultierenden schrumpfenden<br />

Beschäftigung. Folgt man Karl Georg Z<strong>in</strong>n, so hat die sich somit abzeichnende tertiäre Krise<br />

vor allem zwei Gründe: Erstens könnte das momentan noch Arbeitsplätze schaffende (und<br />

damit den Arbeitsplatzverlust im <strong>in</strong>dustriellen Bereich zum<strong>in</strong>dest teilweise auffangende)<br />

47<br />

Wachstum des Dienstleistungssektors, analog zur Produktion <strong>in</strong>dustrieller Güter, bald an<br />

e<strong>in</strong>e Sättigungsgrenze stoßen. Zweitens bietet <strong>der</strong> Dienstleistungssektor vermutlich auch deshalb<br />

ke<strong>in</strong> dauerhaftes Arbeitsplatzreservoir, da erhebliche ungenutzte Rationalisierungspotentiale<br />

vorhanden s<strong>in</strong>d und Dienstleistungen nicht nur rationeller erbracht, son<strong>der</strong>n zudem durch<br />

Industriegüter (wie z.B. elektronische Auskunftssysteme o<strong>der</strong> Fahrkartenautomaten) substituiert<br />

werden können. (Vgl. Auf dem Weg <strong>in</strong> die tertiäre Krise?; S. 62ff.)<br />

Nach Jeremy Rifk<strong>in</strong> droht sogar +Das Ende <strong>der</strong> Arbeit* (1995): Durch (weitere) technologische<br />

Innovation, vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mikroelektronik (vgl. Teil II), kommt es zu dem schon von Marx<br />

prognostizierten Phänomen e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Unterbeschäftigung und Überproduktion (vgl.<br />

ebd.; Teil I). Dies führt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zu weiten Teilen +arbeitslose* und deshalb polarisierte Gesellschaft<br />

(vgl. ebd.; Teil III u. IV) – soweit wie gehabt. Doch <strong>der</strong> (kle<strong>in</strong>egeschriebene) Untertitel von<br />

Rifk<strong>in</strong>s Abgesang auf die Arbeitsgesellschaft lautet: +und ihre Zukunft*. Es ist also noch nicht<br />

alles verloren. Doch um die Zukunft <strong>der</strong> Arbeit zu sichern, ist nach Rifk<strong>in</strong> die <strong>Politik</strong> gefragt.<br />

Sie steht nach ihm vor <strong>der</strong> Wahl, entwe<strong>der</strong> immer mehr Geld für Verbrechensbekämpfung<br />

48<br />

auszugeben o<strong>der</strong> (von Rifk<strong>in</strong> favorisiert) Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung e<strong>in</strong>zuleiten<br />

(vgl. ebd.; Teil V).<br />

Dieser geradezu klassische Interventions-Ansatz deckt sich auch mit den Vorstellungen von<br />

Ethan Kapste<strong>in</strong>, <strong>der</strong> betont, daß es <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Situation wichtiger sei, wie<strong>der</strong> Wachstums-<br />

impulse zur Beschäftigungsankurbelung zu geben, als die defizitären Staatshaushalte zu konsoli-<br />

49<br />

dieren (vgl. Workers and the World Economy). Rifk<strong>in</strong>, dessen Buch e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> umfassendsten


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 229<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen mit den aktuellen Wi<strong>der</strong>sprüchen <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft darstellt, geht<br />

aber noch weiter und ist auch +radikaleren* Gedanken wie z.B. dem e<strong>in</strong>es +Bürgere<strong>in</strong>kommens*<br />

im Pr<strong>in</strong>zip gegenüber aufgeschlossen. Dieses vielfach aufgegriffene, von Robert Theobald<br />

schon Anfang <strong>der</strong> 60er Jahre <strong>in</strong> die Debatte e<strong>in</strong>gebrachte Modell beruht (da auch Theobald<br />

das Ende <strong>der</strong> Vollbeschäftigung kommen gesehen hatte) auf <strong>der</strong> Annahme, daß nur über<br />

e<strong>in</strong>e +negative Steuer* bzw. e<strong>in</strong> staatlich garantiertes M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen <strong>der</strong> Massenkonsum<br />

weiterh<strong>in</strong> als Wirtschaftsmotor dienen könne. Überdies würde durch diese Maßnahme kreatives<br />

unternehmerisches Potential entfesselt (vgl. Free Man and Free Markets sowie The Guaranteed<br />

Income). Rifk<strong>in</strong> betont allerd<strong>in</strong>gs weniger letzteren Effekt, son<strong>der</strong>n plädiert dafür, daß die<br />

vom Wirtschaftssystem freigesetzten Personen geme<strong>in</strong>nützige Tätigkeiten verrichten sollten<br />

(vgl. Das Ende <strong>der</strong> Arbeit; S. 193ff.). In e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung weist aktuell auch Ulrich Beck<br />

mit se<strong>in</strong>en Überlegungen zum +Modell Bügerarbeit* (1999). 50<br />

Wie auch immer: Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach ist kaum geklärt, woher die Mittel für diese (pr<strong>in</strong>zipiell<br />

51<br />

durchaus wünschenswerte) wohlfahrtsstaatliche Initiative kommen sollten. Selbst im Fall<br />

<strong>der</strong> (immer noch) wohlhabenden Bundesrepublik würde e<strong>in</strong> garantiertes M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen<br />

von nicht allzu üppigen 1.000 DM pro Monat e<strong>in</strong>e jährliche Belastung des Staatshaushalts<br />

von fast e<strong>in</strong>er Billiarde Mark bedeuten – und damit mehr als die Hälfte <strong>der</strong> gesamten öffentlichen<br />

52<br />

E<strong>in</strong>nahmen aufzehren. Der Staat müßte also, um das +Bürgergeld* auszuzahlen und um<br />

se<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>en Aufgaben nicht zu vernachlässigen, kurzfristig se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>nahmen steigern, was<br />

ihm jedoch gerade unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> globalen Konkurrenz nahezu unmöglich gemacht<br />

wird – denn das Potential <strong>der</strong> Besteuerung von (über das M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen h<strong>in</strong>ausgehenden)<br />

Arbeitse<strong>in</strong>kommen ist, zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> Deutschland, fast ausgeschöpft, und das Kapital wird<br />

sich e<strong>in</strong>em verstärkten staatlichen Zugriff durch Abwan<strong>der</strong>ung zu entziehen wissen.<br />

Doch warum muß das eigentlich so se<strong>in</strong>? Könnte es nicht geschehen, daß die Wirtschaft<br />

(<strong>in</strong> ihrem eigenen Interesse) die Idee e<strong>in</strong>es Bürgere<strong>in</strong>kommens subventioniert? Stephan Leibfried<br />

und Elmar Rieger haben nämlich ganz recht, wenn sie darauf verweisen, daß die Funktions-<br />

fähigkeit des Wohlfahrtsstaats e<strong>in</strong>e Voraussetzung für e<strong>in</strong>e günstige Entwicklung des Kapitalismus<br />

war und ist. Schließlich war +das Zentrum* (d.h. die westlichen Industrienationen) nicht zufällig<br />

ökonomisch so überaus erfolgreich: Se<strong>in</strong>e hohe politische Stabilität und soziale Integration<br />

stellte e<strong>in</strong>en nicht zu unterschätzenden Wettbewerbsvorteil <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Konkurrenz<br />

53<br />

dar (vgl. Wohlfahrtsstaat und Globalisierung; S. 218f.). Doch das letztgenannte Argument


230 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

verbleibt <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> global betrachtet zum Scheitern verdammten Logik e<strong>in</strong>er nationalen<br />

Strategie (d.h. die Wohlfahrt <strong>der</strong> Zentrumsnationen g<strong>in</strong>g +natürlich* auf Kosten <strong>der</strong> Wohlfahrt<br />

<strong>der</strong> Peripherie) und überschätzt zudem die aktuellen ökonomischen Vorteile e<strong>in</strong>er Wohlfahrts-<br />

ökonomie. Aufstrebende NICs wie Ch<strong>in</strong>a s<strong>in</strong>d hierfür <strong>der</strong> Beweis.<br />

Der Grundgedanke ist jedoch trotzdem richtig. Das Kapital hätte +objektiv* durchaus e<strong>in</strong> Interesse<br />

an sozialer und politischer Stabilität (und müßte dementsprechend auch bereit se<strong>in</strong>, <strong>der</strong>en<br />

Kosten zu tragen). Nur +subjektiv* trifft dies (lei<strong>der</strong>) weniger zu. Historisch betrachtet mußte<br />

die Kapitalseite (aufgrund <strong>der</strong> bereits angesprochenen +angeborenen* Kurzsichtigkeit <strong>der</strong> ökono-<br />

mischen Zweckrationalität) geradezu +zu ihrem Besten* (d.h. zu e<strong>in</strong>er begrenzten Umverteilung)<br />

gezwungen werden – durch die Androhung von Revolution und Enteignung. Dies geschah<br />

im Wechselspiel von proletarischer Organisation (im proletarischen Selbst<strong>in</strong>teresse) und politischer<br />

bzw. staatlicher Intervention (im Interesse des Systemerhalts). Beide +Spieler* s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen<br />

Situation jedoch so geschwächt, daß sie (ob gewollt o<strong>der</strong> ungewollt) die kapitalistische Ökonomie<br />

nicht mehr vor ihren eigenen Wi<strong>der</strong>sprüchen schützen können – die <strong>Politik</strong> aus dem oben<br />

genannten Grund ihrer Präferenz für die nationale Strategie mit <strong>der</strong> daraus zwangsläufig fol-<br />

genden Dom<strong>in</strong>anz des Kapitals; das Proletariat (o<strong>der</strong> sprechen wir – weniger klassenkämpferisch<br />

– lieber von ArbeitnehmerInnen), weil dieses bzw. diese aufgrund <strong>der</strong> historischen Erfahrung<br />

<strong>der</strong> (illusionär gewordenen) Idee e<strong>in</strong>er nationalen Wohlfahrt anhängen, so daß sie sich nicht<br />

<strong>in</strong>ternational solidarisieren, was sie müßten, um e<strong>in</strong>e spürbare Gegenmacht zum globalen<br />

Kapital zu formieren. Ansätze zu e<strong>in</strong>er globalen Solidarisierung s<strong>in</strong>d, wie oben ausgeführt,<br />

gegenwärtig nur <strong>in</strong> den allerd<strong>in</strong>gs noch wenig tragfähigen subpolitischen Netzen zu beobachten.<br />

So arbeitet <strong>der</strong> Markt gegen den Markt, die <strong>Politik</strong> gegen die <strong>Politik</strong> und das +Proletariat*<br />

gegen das +Proletariat*.<br />

Halten wir abschließend also nochmals fest: Die mit zunehmen<strong>der</strong> Dynamik erfolgende<br />

(ökonomische) Globalisierung ist e<strong>in</strong> ambivalenter Prozeß. Insbeson<strong>der</strong>e durch se<strong>in</strong>e proble-<br />

matischen ökologischen und sozialen Folgen, aber auch aufgrund se<strong>in</strong>er latenten immanenten<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit, +verlangt* er geradezu nach politischer Regulation. Wie die Analyse<br />

<strong>in</strong> Abschnitt 2.1 allerd<strong>in</strong>gs zeigte, ist die Transnationalisierung <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> (und<br />

damit auch ihre Interventionsfähigkeit) h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> ökonomischen Entwicklung deutlich zurück-<br />

geblieben. Die Gründe für dieses Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>klaffen wurden von mir im Vorangegengenen<br />

primär darauf zurückgeführt, daß von <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> – aufgrund ihrer system<strong>in</strong>tern


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 231<br />

herausgebildeten Handlungslogik – e<strong>in</strong>e auf Konkurrenz statt auf Kooperation beruhende<br />

nationale Strategie verfolgt wird, die jedoch global betrachtet kaum geeignet ersche<strong>in</strong>t, das<br />

ökonomische System dauerhaft zu stabilisieren. Und auch die politischen Handlungsspielräume,<br />

die alle<strong>in</strong>e durch die ökonomischen +Grenzüberschreitungen* bereits genug e<strong>in</strong>geengt s<strong>in</strong>d,<br />

werden durch ihre Anwendung aktiv weiter reduziert. Das an die Wettbewerbslogik angepaßte<br />

+M<strong>in</strong>ussummenspiel* <strong>der</strong> nationalen Strategie verstärkt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das durch die parallell<br />

mit <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung stattf<strong>in</strong>denen Tertiärisierungsprozesse (und die <strong>in</strong> ihrer<br />

Folge bewirkte +Verengung* des Arbeitsmarktes) ohneh<strong>in</strong> enorme f<strong>in</strong>anzielle wie <strong>in</strong>stitutionelle<br />

Dilemma des nationalen Wohlfahrtsstaates. Diesem fehlen zunehmend die Mittel für se<strong>in</strong>e<br />

Umverteilungsprojekte, so e<strong>in</strong>erseits die praxologische Integration <strong>der</strong> Gesellschaft durch Konsum<br />

erschwert wird, während an<strong>der</strong>erseits das soziale Kontroll<strong>in</strong>strument <strong>der</strong> (Erwerbs-)Arbeit<br />

an Macht e<strong>in</strong>büßt. Bemühungen um e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ter- bzw. transnationale Verregelung, wie im Expan-<br />

sionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> vorgeschlagen, wären deshalb s<strong>in</strong>nvoll, um durch gegensteuernde<br />

Maßnahmen auf übergeordneter Ebene e<strong>in</strong>e (Re-)Stabilisierung des Systems zu erreichen.<br />

Doch wie <strong>der</strong> folgende Abschnitt zeigen wird, impliziert das politische Instrument <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitu-<br />

tionell-rechtlichen Regulation ebenfalls e<strong>in</strong>e Reihe Dilemmata.<br />

3.2 DAS INSTITUTIONELL-RECHTLICHE DILEMMA<br />

Das Recht und das Rechts- bzw. Justizsystem (als se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionelle +Rahmung*) stellt, wie<br />

die Analyse <strong>in</strong> Abschnitt 2.2 ergab, e<strong>in</strong>e zentrale Ressource und e<strong>in</strong> zentrales Medium für<br />

die <strong>Politik</strong> dar: E<strong>in</strong>erseits wird <strong>Politik</strong> im Rechtsstaat nicht nur am (Verfassungs-)Recht +gemessen*,<br />

son<strong>der</strong>n besteht – zum<strong>in</strong>dest formal – sogar primär <strong>in</strong> Rechtsetzung (Legislative) und -umsetzung<br />

(Exekutive). An<strong>der</strong>erseits eröffnet die rechtsförmige Fassung und die Übermittlung von politischen<br />

Problemen an die Judikative die Möglichkeit zur Deflexion: Der politische (d.h. <strong>der</strong> +willkürliche*,<br />

dezisionale) Charakter e<strong>in</strong>er Entscheidung wird durch den Wechsel <strong>der</strong> +Diskursart* (also<br />

die Übertragung e<strong>in</strong>es politischen Problems <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e rechtliche Fragestellung) +verschleiert*,<br />

um das politische System von Entscheidungsdruck o<strong>der</strong> Entscheidungsrechtfertigung zu entlasten.<br />

E<strong>in</strong> Beispiel für e<strong>in</strong>e solche politische Instrumentalisierung des Rechtssystem wurde mit <strong>der</strong><br />

Analyse des Verfassungsgerichtsverfahrens zum Somalia-E<strong>in</strong>satz <strong>der</strong> Bundeswehr gegeben<br />

(siehe S. 111ff.).


232 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Die Übersetzung von <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> (<strong>in</strong>stitutionalisierte) Rechtsverfahren und rechtliche Regulation<br />

wirft allerd<strong>in</strong>gs auch Probleme auf. Schon die Frage, ob und wie e<strong>in</strong>e Sache rechtsförmig<br />

geregelt werden sollte, ist schwierig zu beantworten und be<strong>in</strong>haltet potentielle +Fallstricke*.<br />

Denn genauso, wie jede unterlassene Regulation problematisch werden kann, impliziert auch<br />

jede erfolgte Regulation e<strong>in</strong> +Risiko* (ist also nicht immer erfolgreich). Dieses grundsätzliche<br />

regulative Dilemma zeigt sich deutlich an dem <strong>in</strong> Kapitel 4 behandelten Fallbeispiel +BSE*<br />

(siehe <strong>in</strong>sb. S. 292f.). Das <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Dilemma reicht allerd<strong>in</strong>gs tiefer: Die rechts-<br />

förmig vollzogene politische Intervention endet letztendlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verrechtlichung des Gegen-<br />

stands, d.h. es werden formalisierte Regeln und Verfahren angewandt o<strong>der</strong> im Zuge <strong>der</strong> politisch-<br />

rechtlichen Problembearbeitung (weiter)entwickelt, die vorzugsweise auf etablierten Institutionen<br />

(und Organisationen) aufbauen. Nur falls sich diese als ungenügend herausstellen, werden<br />

– um e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche Bearbeitung des Problemfelds zu sichern – neue (Rechts-)Institutionen<br />

geschaffen (Institutionalisierung). Verrechtlichungsprozesse und die mit ihnen verbundenen<br />

Institutionalisierungsprozesse haben allerd<strong>in</strong>gs trotz <strong>der</strong> Vorteile, die sie zweifellos implizieren<br />

(Sicherheit, Berechenbarkeit <strong>der</strong> Verhältnisse, Zuweisbarkeit von Zuständigkeiten etc.), generell<br />

e<strong>in</strong>e Reihe negativer Neben- und Folgeeffekte. Und sie s<strong>in</strong>d zudem <strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchlich.<br />

In diesem Zusammenhang lassen sich drei Hauptargumente nennen: 1. das Erstarrungsargument,<br />

2. das Entfremdungsargument und 3. das Entpolitisierungsargument.<br />

Das Erstarrungsargument hat schon Georges Gurvitch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Grundzüge <strong>der</strong> Soziologie<br />

des Rechts* (1940) treffend auf den Punkt gebracht. Dort bemerkt er:<br />

+[…] die Starrheit des Systems <strong>der</strong> Gesetzes- und Vertragssouveränität, die nur das organisierte, im voraus<br />

fixierte Recht zu Hilfe nehmen kann, beschleunigt […] se<strong>in</strong>en Ru<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem es heftige Konflikte mit dem<br />

spontanen, flexiblen, von <strong>der</strong> ökonomischen Gesellschaft erzeugten Sozialrecht hervorruft.* (S. 200f.)<br />

Gurvitch hebt hier darauf ab, daß <strong>der</strong> Charakter des rechtsstaatlichen Systems aufgrund se<strong>in</strong>er<br />

immanenten Logik +konservativ* ist, d.h. es wird vor Modifizierungen und Neuregelungen,<br />

wie auch schon oben angesprochen, zunächst immer versucht, Probleme im Rahmen bestehen<strong>der</strong><br />

Regeln, Institutionen und Verfahren zu lösen, denn Rechtsstaatlichkeit besteht schließlich<br />

genau <strong>in</strong> <strong>der</strong> B<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> staatlichen Gewalt an das geltende Recht, das so zu fassen ist,<br />

daß es möglichst <strong>in</strong> allen auftretenden Fällen anwendbar ist. Es hat also notwendig abstrakten,<br />

formalen Charakter und ist nicht auf den konkreten E<strong>in</strong>zelfall fixiert. Diese Formalität des


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 233<br />

Rechts macht es flexibel und starr zugleich: Es läßt sich zwar auf e<strong>in</strong>e Vielzahl von Fällen<br />

anwenden, bleibt selbst jedoch unverän<strong>der</strong>t. Problematisch wird diese zunächst vorteilhafte<br />

Kont<strong>in</strong>uität <strong>der</strong> rechtlichen +Formen*, wenn sie <strong>der</strong> Dynamik von sozialen Wandlungsprozessen<br />

nicht mehr gerecht wird. E<strong>in</strong>e immer detaillierte und immer weiter ausufernde Regulation<br />

ist – genauso übrigens wie e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Rechtsunsicherheit und Entrechtlichung mündende<br />

Deregulation (siehe S. 237f.) – ke<strong>in</strong>e adäquate Lösung für dieses Dilemma. Denn die durch<br />

sie bewirkte +legal explosion* (siehe S. 116f.) erzeugt nur e<strong>in</strong>e Selbstlähmung des legislativen<br />

und judikativen Systems (das, wie weiter unten noch dargestellt wird, dadurch zudem <strong>in</strong><br />

immer größere Abhängigkeit von se<strong>in</strong>er Umwelt gerät).<br />

E<strong>in</strong>e ähnliche Problematik gilt auch für die am politisch-rechtlichen Regelungsprozeß beteiligten<br />

Institutionen: Ihr Netz stellt e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche Struktur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verän<strong>der</strong>lichen Welt dar,<br />

die auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite Sicherheit verspricht, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite aber umso größere Un-<br />

sicherheit produziert, sobald Situationen entstehen, die im Rahmen dieser Institutionen nicht<br />

+gemeistert* werden können. So hat denn auch Ulrich Beck im Kontext <strong>der</strong> Diskussion um<br />

den +Mo<strong>der</strong>nisierungskonflikt*, <strong>in</strong> dem sich die fortgeschrittenen Gesellschaften aktuell bef<strong>in</strong>den,<br />

e<strong>in</strong> +<strong>in</strong>stitutional lag* diagnostiziert: Das bestehende (politische) Institutionensystem, das immer<br />

noch auf <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen +Wirklichkeit* längst überholten Modellen wie <strong>der</strong> +<strong>in</strong>dustriellen<br />

54<br />

Klassengesellschaft* und <strong>der</strong> +Vater-Mutter-K<strong>in</strong>d-Kle<strong>in</strong>familie* beruht, hält mit dem Tempo<br />

des sozialen Wandels, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Bereich <strong>der</strong> Lebenswelt, nicht Schritt und tendiert<br />

dazu, gegenüber <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>gesellschaftlichen Entwicklung zurückzufallen (vgl. Der Konflikt<br />

<strong>der</strong> zwei Mo<strong>der</strong>nen; S. 42ff.).<br />

Paradoxerweise droht diese Gefahr e<strong>in</strong>es +Zurückfallens* gerade dann, wenn Teilsysteme<br />

und ihre Institutionen beson<strong>der</strong>s erfolgreich bei <strong>der</strong> Regelung ihrer Konflikte waren bzw. s<strong>in</strong>d.<br />

Erfolg +verführt* nämlich zu e<strong>in</strong>em Festhalten an veralteten Strukturen, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Struktur-<br />

krise manifestieren kann. Walter Bühl hat diesen Zusammenhang so ausgedrückt:<br />

+Nichts führt leichter zur (dann sehr schmerzhaft empfundenen) Krise als e<strong>in</strong> ›Wirtschaftswun<strong>der</strong>‹, nichts<br />

gefährdet die Reaktionsfähigkeit und Umweltanpassung mehr als die Erfolgsgewißheit e<strong>in</strong>er Partei- und<br />

Verbandsführung […]* (Strukturkrise und Strukturwandel; S. 158)<br />

E<strong>in</strong>e latente Instabilität (als Folge von Wandlungsunfähigkeit) ist also die häufige Schattenseite<br />

des +Erfolgs*. Makrostabilität setzt gerade Mikrovariabilität voraus, denn nur so bleibt die Fähigkeit


234 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

des Systems zur Selbstregulation erhalten (vgl. ebd.; S. 141f.) – o<strong>der</strong> wie ich es ausdrücken<br />

möchte: Deflexion gel<strong>in</strong>gt nur dauerhaft, wenn reflexives Potential ernst genommen und<br />

(re)<strong>in</strong>tegriert wird. Dann droht auch ke<strong>in</strong>e Entfremdung vom System – <strong>der</strong> zweiten +Gefahr*<br />

im Kontext von Verrechtlichungs- und Institutionalisierungsprozessen.<br />

Das Problem Entfremdung steht <strong>in</strong>soweit im direkten Zusammenhang mit dem Problem <strong>der</strong><br />

Starrheit des rechtlichen (und <strong>in</strong>stitutionellen) Formalismus, als es als se<strong>in</strong>e direkte Folge gedeutet<br />

werden kann. So betont schon Hans Ach<strong>in</strong>ger (im Kontext <strong>der</strong> Diskussion um den wohlfahrts-<br />

staatlichen Interventionismus), daß die juristischen Standardisierungen <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> sozialen<br />

Problemlagen nicht gerecht werden können, und stellt fest: +Das Recht entfremdet die Partner<br />

des sozialpolitischen Geschäfts.* (Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik; S. 88)<br />

Ach<strong>in</strong>ger nimmt damit (se<strong>in</strong> Text stammt aus dem Jahr 1971) zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Element <strong>der</strong><br />

55<br />

Verrechtlichungskritik von Habermas vorweg, <strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs mit se<strong>in</strong>en Thesen zur +Koloniali-<br />

sierung <strong>der</strong> Lebenswelt* durch das Recht im Rahmen se<strong>in</strong>er +Theorie des kommunikativen<br />

Handelns* (1981) noch e<strong>in</strong>en Schritt weiter geht: Wie bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.2 kurz dargestellt<br />

(siehe S. 102) folgt für Habermas aus dem <strong>in</strong>terventionistischen Übergreifen des Systems auf<br />

die Lebenswelt durch sozialstaatliche Rechtsnormen und bürokratische +Fürsorge*-Organisationen<br />

e<strong>in</strong> problematischer E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die lebensweltliche +Autonomie*. Denn um bürokratisch-rechtlich<br />

bearbeitet werden zu können, müssen <strong>in</strong> konkrete Lebensgeschichten und Lebensformen<br />

e<strong>in</strong>gebettete Situationen e<strong>in</strong>er +gewalttätigen Abstraktion* unterworfen werden, womit häufig<br />

das genaue das Gegenteil <strong>der</strong> durch die Intervention erhofften sozialen Integration erreicht<br />

wird (vgl. Band 2, S. 532ff.) – zumal <strong>der</strong> soziale Rechtsstaat zusätzlich durch e<strong>in</strong> weiteres<br />

Dilemma geprägt ist:<br />

+Bei allen gesetzlichen Lösungen im e<strong>in</strong>zelnen zeigt sich nämlich sofort, daß <strong>der</strong> soziale Rechtsstaat nicht<br />

nur jeweils <strong>in</strong> sich unlösbare und ihn daher überfor<strong>der</strong>nde Aufgaben übernommen hat, son<strong>der</strong>n daß<br />

sich se<strong>in</strong>e Anstrengungen zusätzlich dadurch paralysieren, daß e<strong>in</strong> Fortschritt <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Richtung durch<br />

e<strong>in</strong>en Rückschritt <strong>in</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Richtung erkauft wird. Die Mittel, die er benötigt, um se<strong>in</strong>er sozialen<br />

Garantenstellung gerecht zu werden, kann er sich meist nicht verschaffen, ohne daß Kollisionen mit an<strong>der</strong>en<br />

Grundrechten (Eigentum, Gleichbehandlung usw.) auftreten […] Der Klassengegensatz ist also nicht gelöst,<br />

son<strong>der</strong>n verewigt sich <strong>in</strong> fortlaufen<strong>der</strong> Verrechtlichung.* (Bock: Recht ohne Mass; S. 231f.).<br />

Die Lebenswelt steht folglich unter e<strong>in</strong>em dauernden und zunehmenden <strong>in</strong>stitutionell-rechtlichen<br />

+Anpassungsdruck*, auf den zuweilen +unwillig* reagiert wird. Die sich <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchen


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 235<br />

und Zielkonflikten manifestierenden Steuerungsimperative bedrohen so die System<strong>in</strong>tegration<br />

und die Sozial<strong>in</strong>tegration; es kommt zu Legitimitätsproblemen, die sich irgendwann zu e<strong>in</strong>er<br />

Legitimitätskrise verdichten können (vgl. Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus;<br />

S. 96ff.). Aber selbst bürokratie<strong>in</strong>tern wird Verrechtlichung zuweilen als problematischer Prozeß<br />

<strong>in</strong>terpretiert. Schon 1978 beklagte <strong>der</strong> damalige Oberregierungsrat Hans-Dietrich Weiß <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Aufsatz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift +Die öffentliche Verwaltung*:<br />

+Durch die Verrechtlichung des menschlichen Lebens erhält das Recht e<strong>in</strong>e Überfunktion, die das Recht<br />

dem Menschen fe<strong>in</strong>dlich werden läßt […] So ist <strong>der</strong> Gesetzgeber aufgerufen, dem überquellenden Recht<br />

im Interesse des Menschen und <strong>der</strong> mit diesem Recht judizierenden Rechtsprechung E<strong>in</strong>halt zu gebieten.*<br />

(Verrechtlichung als Selbstgefährdung des Rechts; S. 601)<br />

Damit ist <strong>in</strong>direkt <strong>der</strong> dritte (negative) Neben- und Folgeeffekt von Verrechtlichungs- und<br />

Institutionalisierungsprozessen angesprochen: die Entpolitisierung. Das Problem <strong>der</strong> Entpoliti-<br />

sierung wurde ebenfalls bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.2 kurz thematisiert, und zwar dort primär im<br />

Zusammenhang mit <strong>der</strong> Diskussion des Recht als Deflexionsressource (siehe z.B. S. 115). 56<br />

Doch auch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Aspekt klang schon an (siehe S. 118f.): Durch die im Zuge <strong>der</strong> Gesetzes-<br />

durchführung erfolgende Übertragung von weitreichenden Kompetenzen auf die staatlichen<br />

Institutionen und bürokratischen Organisationen erfolgt e<strong>in</strong>e relative Schwächung <strong>der</strong> eigentlichen<br />

politischen Organe (vgl. auch Böhret: Öffentliche Verwaltung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Demokratie). Denn die<br />

Bürokratie erarbeitet nicht nur nach Maßgabe <strong>der</strong> (politischen) Exekutivspitze die Rechts-<br />

vorschriften (die dann von <strong>der</strong> Legislative +abgesegnet* werden), son<strong>der</strong>n übt zudem (zusammen<br />

mit <strong>der</strong> Judikative) e<strong>in</strong>e +Interpretationsherrschaft* aus (vgl. hierzu auch Hegenbarth: Von<br />

<strong>der</strong> legislatorischen Programmierung zur Selbststeuerung <strong>der</strong> Verwaltung; S. 134ff.).<br />

Es handelt sich bei dieser als +Subsystem* immer autonomer handelnden Bürokratie folglich<br />

um e<strong>in</strong> politisch +entbettetes* Umsetzungssystem, und deshalb gilt (so paradox es kl<strong>in</strong>gen<br />

mag): Verrechtlichung kann auch als Entrechtlichungsprozeß aufgefaßt werden (d.h. als e<strong>in</strong>e<br />

schleichende Unterhöhlung des Rechtsstaats). Hierfür ist, wenn man Ingeborg Maus folgt,<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Vordr<strong>in</strong>gen von unbestimmten Generalklauseln (also wie<strong>der</strong>um Formalisierung)<br />

verantwortlich, was +die Koord<strong>in</strong>ations- und Entscheidungstätigkeit automatisch [von den recht-<br />

setzenden] <strong>in</strong> die rechtsanwenden und vollziehenden Instanzen* verlagert (Verrechtlichung,<br />

Entrechtlichung und <strong>der</strong> Funktionswandel von Institutionen; S. 282).


236 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Was hier – aus kritischer Perspektive – allerd<strong>in</strong>gs als e<strong>in</strong>e fragwürdige, <strong>in</strong> Entpolitisierung<br />

mündende Erweiterung und Überdehnung <strong>der</strong> Kompetenzen des +bürokratischen Subsystems*<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> ersche<strong>in</strong>t, trifft – wenn man genau h<strong>in</strong>sieht – nur bed<strong>in</strong>gt zu. Denn<br />

gerade durch die im Zuge von Verrechtlichungsprozessen erfolgende Ausdehnung <strong>der</strong> Hand-<br />

lungsräume des <strong>in</strong>stitutionell-rechtlichen Systems erfolgt <strong>in</strong>direkt e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung se<strong>in</strong>er<br />

eigenen Handlungsspielräume:<br />

+Je mehr Bereiche <strong>in</strong> wachsen<strong>der</strong> Detaillierung Gegenstand <strong>der</strong> staatlichen Adm<strong>in</strong>istration s<strong>in</strong>d, desto<br />

häufiger und <strong>in</strong>tensiver wird das politisch-adm<strong>in</strong>istrative System zum Handeln und E<strong>in</strong>greifen gezwungen,<br />

desto mehr For<strong>der</strong>ungen werden an es herangetragen, desto mehr wird es bloß reaktiv handeln können<br />

[…], wobei die Situation diktiert, was zu tun ist.* (Türk: Handlungsräume und Handlungsspielräume rechts-<br />

vollziehen<strong>der</strong> Organisationen; S. 166f.)<br />

Ausgerechnet die durch Verrechtlichung gesteigerte Autonomie von Rechtssystem und Bürokratie<br />

führt also – da sich ihre formal verselbständigte Logik real sehr wohl <strong>in</strong> Beziehung zur <strong>Politik</strong><br />

und zur lebensweltlichen Wirklichkeit setzen muß – zu e<strong>in</strong>er steigenden Umweltabhängigkeit,<br />

weshalb Gunther Teubner von e<strong>in</strong>em +Trilemma* <strong>der</strong> Verrechtlichung spricht:<br />

• Erstens entsteht aufgrund <strong>der</strong> Inkompatibilität <strong>der</strong> unterschiedlichen Semantiken e<strong>in</strong>e wechsel-<br />

seitige Indifferenz: So s<strong>in</strong>d etwa politische Kompromisse, die schließlich Gesetzesform<br />

annehmen, oft nicht mehr juristisch nachzuvollziehen und justitiabel. Die Folge ist dann<br />

e<strong>in</strong>e wachsende Indifferenz des Rechtssystems gegenüber <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Doch selbst wenn<br />

die Umsetzung von politischen Aushandlungsprozessen <strong>in</strong> Recht +geglückt* ist, so können<br />

sich immer noch die geregelten Lebensbereiche, die e<strong>in</strong> nicht zu unterschätzendes Wi<strong>der</strong>-<br />

standspotential besitzen, gegen die erlassenen Regelungen sperren, so daß das betreffende<br />

Gesetz zu e<strong>in</strong>em bloßen +Papiertiger* gerät.<br />

• Zweitens droht soziale Des<strong>in</strong>tegration durch die schon oben angesprochenen Verechtli-<br />

chungsfolgeeffekte <strong>der</strong> Entfremdung und <strong>der</strong> Entpolitisierung.<br />

• Drittens ist im Zuge <strong>der</strong> Ausweitung des Rechtssystems auch e<strong>in</strong>e rechtliche Des<strong>in</strong>tegration<br />

zu befürchten: Indem sich das Recht an die Logik se<strong>in</strong>er Umwelt (also sowohl <strong>der</strong> Logik<br />

<strong>der</strong> politischen Steuerung als auch <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> regulierten Sozialbereiche) anpaßt, kommt<br />

es zu (negativen) Rückwirkungen auf die <strong>in</strong>nere Struktur des Rechtssystems: Se<strong>in</strong>e selbst-<br />

reproduktive Organisation wird gefährdet. (Vgl. Verrechtlichung; S. 317–323)


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 237<br />

Dieses von Teubner anhand e<strong>in</strong>er Reihe von Beispielen herausgearbeitete +Trilemma* verweist<br />

auf die Grenzen <strong>der</strong> (zentralisierten) politischen Steuerung durch das Recht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er hochgradig<br />

komplexen Welt. Deshalb wird von Rüdiger Voigt (vgl. auch Grenzen des Rechts; S. 3f.) als<br />

Ausweg aus dieser im doppelten S<strong>in</strong>n des Wortes +verfahrenen* Situation e<strong>in</strong>e +reflexive*<br />

Entregelung und Dezentralisierung vorgeschlagen, d.h. es wird auf die Lernfähigkeit e<strong>in</strong>es<br />

bürokratisch +entflochtenen* Systems gebaut, das sich flexibel an die sich wandelnden Bedürfnisse<br />

anpaßt und sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em diskursiven Prozeß ständig selbst h<strong>in</strong>terfragt (vgl. <strong>der</strong>s.: Steuerung<br />

durch Anpassung?) – was allerd<strong>in</strong>gs z.B. für die Bürokratie wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Dilemma zwischen<br />

Regeltreue und Bürgernähe führen kann (vgl. ebd.; S. 53). Zudem ist es mehr als zweifelhaft,<br />

ob das organisationelle Institutionensystem aufgrund se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tern herausgebildeten Kultur<br />

(die schließlich an technokratischer Rationalität und den Maßstäben rechtlicher Formalität<br />

orientiert ist) überhaupt zu e<strong>in</strong>em solchen Wandel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage wäre.<br />

Der Vorschlag e<strong>in</strong>er +polyzentrischen* Steuerung (vgl. auch Brohm: Polyzentrische Steuerung<br />

durch das Recht) ist also se<strong>in</strong>erseits nicht unproblematisch und wi<strong>der</strong>spruchsfrei. Dies gilt<br />

umso mehr, wenn man ihn im Kontext <strong>der</strong> +Privatisierung* betrachtet. Privatisierung bedeutet,<br />

daß bestimmte öffentliche Aufgaben (Fernmeldewesen, Bahn, Polizei etc.) nicht mehr (aus-<br />

schließlich) von staatlichen Institutionen erfüllt, son<strong>der</strong>n (ganz o<strong>der</strong> teilweise) privaten Organi-<br />

sationen und Firmen übertragen werden. Das soll freilich nicht nur bürokratische Verkrustungen<br />

aufbrechen, son<strong>der</strong>n vor allem E<strong>in</strong>sparungen (durch angenommene Effizenzsteigerungen <strong>in</strong>folge<br />

des ausgelösten Wettbewerbs) ermöglichen. Diese +Liberalisierungsideologie* läßt sich auch<br />

an den (1993) auf e<strong>in</strong>em Symposium zum Thema gemachten Äußerungen des parlamentarischen<br />

Staatssekretärs Joachim Grünewald ablesen:<br />

+Wir brauchen e<strong>in</strong>en Abschied von <strong>der</strong> Vollkasko-Mentalität, das heißt von e<strong>in</strong>em ausufernden Anspruchs-<br />

denken. Dies ist – auch politisch – unstrittig. Wir müssen auch Abschied nehmen von <strong>der</strong> Omnipotenz<br />

staatlicher Regulierungsfähigkeit. Weniger staatliche Regelungen, Vorschriften und Betätigungen s<strong>in</strong>d das<br />

Gebot <strong>der</strong> Stunde.* (Privatisierung öffentlicher Aufgaben; S. 15)<br />

Aus <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht, daß die staatliche Regelungsfähigkeit – mit <strong>der</strong> zunehmenden Komplexität<br />

(post)mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften – an ihre Grenzen stößt, wird hier, <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong> +ausuferndes<br />

Anspruchsdenken* gebrandmarkt wird, e<strong>in</strong>e me<strong>in</strong>es Erachtens fragwürdige Schlußfolgerung<br />

gezogen: daß weniger staatliche Regelungen automatisch auch e<strong>in</strong>e Beschneidung von +ma-


238 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

teriellen* Rechten heißen muß/sollte. In dieser Formulierung zielt Deregulierung (die aktuell<br />

noch eher +utopischen* Charakter hat) nicht auf die Vergrößerung von Autonomiefreiräumen<br />

(siehe das Modell von Voruba unten), son<strong>der</strong>n bedeutet primär die Aushöhlung und S<strong>in</strong>nent-<br />

leerung des (sozialen) Rechtsstaats. Indem nämlich e<strong>in</strong>e sozial bl<strong>in</strong>de Deregulierung den<br />

Rechtsstaat nicht nur entformalisiert son<strong>der</strong>n auch +entmaterialisiert*, erfolgt e<strong>in</strong>e Entrecht-<br />

(lich)ung, die zwar die wohlfahrtsstaatliche Kolonialisierung <strong>der</strong> Lebenswelt zurückschraubt,<br />

letzterer aber gleichzeitig die materiellen Ressourcen zu ihrer Entfaltung entzieht, was eventuell<br />

zu e<strong>in</strong>em noch drastischeren Legitimitätsentzug als im ersten Fall führt: E<strong>in</strong> Staat, <strong>der</strong> (zunächst)<br />

<strong>in</strong> die <strong>in</strong>dividuelle Lebenssphäre regulierend e<strong>in</strong>greift, als Ausgleich für diese (störende) Inter-<br />

vention aber zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> gewisses Maß an materieller Sicherheit gewährt, sich dann aber<br />

auf beiden Ebenen zurückzieht, ersche<strong>in</strong>t zwar nicht mehr als +Kolonisator*, son<strong>der</strong>n macht<br />

sich <strong>in</strong> den Augen <strong>der</strong> von diesem doppelten Rückzug Betroffenen gänzlich überflüssig. Die<br />

Praxis e<strong>in</strong>er <strong>der</strong>artigen Deregulierung vernichtet also gleichzeitig die Freiheitsspielräume und<br />

Chancen, die sie eröffnet, und potenziert damit die soziale Frustration.<br />

Bei e<strong>in</strong>em vollkommen an<strong>der</strong>en Verständnis von Deregulierung setzt Georg Voruba an. Zunächst<br />

wendet er sich gegen die Verrechtlichungskritik von Ach<strong>in</strong>ger bis Habermas und betont: +Ver-<br />

rechtlichung im System sozialer Sicherung bedeutet die Möglichkeit des Rückgriffs auf soziale<br />

Dienst- und Geldleistungen <strong>in</strong> voraussehbarer Qualität und Höhe* (Autonomiegew<strong>in</strong>ne; S.<br />

172). Die auch se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung nach aktuell stattf<strong>in</strong>denden Entrechtlichungsprozesse<br />

unterm<strong>in</strong>ieren diese Erwartungssicherheit (vgl. ebd.; S. 172ff.). Entrechtlichung und Deregulierung<br />

s<strong>in</strong>d aber für ihn nicht gleichbedeutend, son<strong>der</strong>n Deregulierung und Verrechtlichung erweitern<br />

vielmehr auf je unterschiedliche Art die <strong>in</strong>dividuellen Handlungsspielräume – Verrechtlichung<br />

<strong>in</strong>dem sie, wie im Zitat betont, Erwartungssicherheit herstellt, und Deregulierung, <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong>-<br />

schränkende Regulationen zurückgenommen werden. So kommt Voruba zu dem Resümee:<br />

+Entscheidend ist: Verrechtlichung und Deregulierung konvergieren <strong>in</strong> Autonomiegew<strong>in</strong>nen für <strong>in</strong>dividuelles<br />

Handeln. Allerd<strong>in</strong>gs wirken sie auf unterschiedliche Voraussetzungen von Handlungsfreiheit. Verrechtlichung<br />

vermehrt <strong>in</strong>dividuell nutzbare Handlungsressourcen, Deregulierung eröffnet Handlungsfel<strong>der</strong>.* (Ebd.; S.<br />

175)<br />

In diesem S<strong>in</strong>n verstanden wären Verrechtlichung und Deregulierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat begrüßenswerte<br />

Entwicklungen. Lei<strong>der</strong> besteht im Augenblick me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung nach aber e<strong>in</strong>e exakt gegen-


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 239<br />

läufige Dialektik. Sie manifestiert sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er immer weiter voranschreitenden Normierung<br />

<strong>der</strong> meisten Lebensbereiche durch immer mehr und immer detailliertere Gesetze und Verord-<br />

nungen sowohl auf nationaler Ebene (siehe S. 116f.) wie auch auf transnationaler Ebene (was<br />

sich am Beispiel des ausufernden europäischen Geme<strong>in</strong>schaftsrechts zeigen läßt), während<br />

es gleichzeitig bei den sozialen Sicherungssystemen zu e<strong>in</strong>er +Liberalisierung* (im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er<br />

Entrechtlichung) kommt. Gerade auch <strong>in</strong> vielen +fortgeschrittenen* Gesellschaften hat es, aufgrund<br />

des sich zuspitzenden ökonomischen Dilemmas des nationalen Wohlfahrtsstaates (siehe nochmals<br />

Abschnitt 3.1), drastische E<strong>in</strong>schnitte <strong>in</strong>s soziale Netz gegeben: Die Unterstützungsleistungen<br />

für die immer zahlreicheren Arbeitslosen werden gekürzt, Beihilfen für Bedürftige werden<br />

auf e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum reduziert, sogar im öffentlichen Gesundheitswesen wird am Notwendigen<br />

gespart, um nur e<strong>in</strong>ige Punkte zu nennen. Damit werden die (post)<strong>in</strong>dustriegesellschaftlichen<br />

Dase<strong>in</strong>srisiken zunehmend +<strong>in</strong>dividualisiert*. Anrechte, die die Individuen +materiell* e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>den<br />

und damit e<strong>in</strong>e zentrale +Ligatur* darstellen, entfallen, und so könnten <strong>in</strong> Zukunft verstärkt<br />

57<br />

anomische Ersche<strong>in</strong>ungen auftreten. Wenn es, wie bisher, nur zu e<strong>in</strong>er Entfremdung zwischen<br />

<strong>Politik</strong> und Lebenswelt kommt, so kann dies als e<strong>in</strong>e noch relativ harmlose Konsequenz von<br />

Verrechtlichung und verrechtlichter Deregulierung (denn auch Deregulierung erfolgt schließlich<br />

zunächst <strong>in</strong> Form von Deregulierungs-Gesetzen) angesehen werden.<br />

Aus den hier dargestellten Wi<strong>der</strong>sprüchen <strong>der</strong> Verrechtlichung (die <strong>in</strong> Abschnitt 4.2 am Fall-<br />

beispiel +BSE* konkret gemacht werden sollen) folgt also, daß politische Deflexion durch<br />

Recht nur bed<strong>in</strong>gt erfolgversprechend ist. Denn durch Verrechtlichung selbst wird e<strong>in</strong> Prozeß<br />

<strong>der</strong> reflexiven H<strong>in</strong>terfragung von Rechtsnormen und den politischen Rechtsetzungs<strong>in</strong>stanzen<br />

ausgelöst. Auch Deregulierung (wenn sie sich als Entrechtlichung manifestiert) stellt hier ke<strong>in</strong>en<br />

Ausweg dar. E<strong>in</strong>e ähnliche Problematik gilt für die nachfolgend behandelten Deflexionsressourcen<br />

Technik und Wissenschaft.<br />

3.3 DAS TECHNOLOGISCH-WISSENSCHAFTLICHE DILEMMA<br />

58<br />

Mart<strong>in</strong> Heidegger hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Die Technik und die Kehre* die Technik (o<strong>der</strong> vielmehr<br />

ihr +Wesen*, um das es ihm primär geht) als +Gestell* charakterisiert. Was me<strong>in</strong>t er mit dieser<br />

nur auf den ersten Blick unmittelbar e<strong>in</strong>leuchtenden Bezeichnung? – Heidegger schließt <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Betrachtung zunächst an die beiden von ihm identifizierten konventionellen Def<strong>in</strong>ition


240 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

an, die Technik e<strong>in</strong>erseits als e<strong>in</strong> Mittel für Zwecke (+<strong>in</strong>strumentale Bestimmung*) und an<strong>der</strong>er-<br />

seits als e<strong>in</strong> Tun des Menschen (+anthropologische Bestimmung*) begreifen. Als solches ist<br />

aber Technik immer e<strong>in</strong> Hervorbr<strong>in</strong>gen, und im Hervorbr<strong>in</strong>gen auch e<strong>in</strong> Entbergen – auf e<strong>in</strong>er<br />

sehr konkreten Ebene zum Beispiel von im Schoß <strong>der</strong> Erde verborgenen Bodenschätzen wie<br />

Kohle. Für Heidegger geschieht durch dieses ganz allgeme<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Technik bewirkte Sicht-<br />

barmachen des Verborgenen jedoch zugleich e<strong>in</strong> +tiefer* wirkendes Entbergen, e<strong>in</strong> Entbergen<br />

<strong>der</strong> +Wahrheit* des Se<strong>in</strong>s, also von Wirklichkeit. Mit <strong>der</strong> Anwendung <strong>der</strong> Technik stellt sich<br />

dem Menschen diese durch die Technik entborgene Wahrheit <strong>in</strong> den Weg und for<strong>der</strong>t ihn<br />

damit gleichsam heraus. Genau diese Herausfor<strong>der</strong>ung, <strong>der</strong> man sich nicht entziehen kann,<br />

macht nun den ihr wesenhaften Gestell-Charakter <strong>der</strong> Technik aus. In <strong>der</strong> für ihn typischen,<br />

so gar nicht technischen (also entbergenden), son<strong>der</strong>n den S<strong>in</strong>n eher verschleiernden Diktion<br />

formuliert Heidegger:<br />

+Wir nennen jetzt jenen herausfor<strong>der</strong>nden Anspruch, <strong>der</strong> den Menschen dah<strong>in</strong> versammelt, das Sichent-<br />

bergende als Bestand zu bestellen – das Ge-stell […]* (Ebd.; S. 19)<br />

Und an an<strong>der</strong>er +Stelle* heißt es:<br />

+Ge-stell heißt das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d.h. herausfor<strong>der</strong>t, das Wirkliche<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen. Ge-stell heißt die Weise des Entbergens, die im<br />

Wesen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Technik waltet und selber nichts Technisches ist.* (Ebd.; S. 20)<br />

Zweifellos entfaltet Heidegger, <strong>in</strong>soweit se<strong>in</strong>e Botschaft entschlüsselbar ist, hier e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante<br />

(technik-)philosophische Denkfigur. Ich möchte mir jedoch se<strong>in</strong>e Metapher genau im von<br />

ihm nicht geme<strong>in</strong>ten, +banalen* S<strong>in</strong>n zu eigen machen, um so e<strong>in</strong>en wichtigen Aspekt des<br />

technologisch-wissenschaftlichen Dilemmas zu verdeutlichen, das im Zentrum dieses Abschnitts<br />

stehen wird. Betrachten wir dazu, ganz <strong>in</strong> marxistischer Tradition, die Technik als e<strong>in</strong> tat-<br />

sächliches Gestell, als +e<strong>in</strong> Gestänge und Geschiebe und Gerüst* (ebd.), d.h. schlicht: die<br />

materielle Manifestation menschlichen Wissens. Denn viel eher <strong>in</strong> dieser Materialität, denn<br />

<strong>in</strong>dem ihr hervorbr<strong>in</strong>gendes Wesen +Wahrheit* zu entbergen vermöchte, stellt sie me<strong>in</strong>er<br />

Me<strong>in</strong>ung nach e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung für das Se<strong>in</strong> des Menschen dar. Ihre D<strong>in</strong>glichkeit, das<br />

Sperrige des Gegenstandes, zw<strong>in</strong>gt – wie auch <strong>in</strong> Anlehnung an Latour formuliert werden<br />

kann (siehe S. 132) – zur Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit ihm.


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 241<br />

Überall s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> unserer technisierten und +zivilisierten* Welt menschliche Artefakte anzutreffen,<br />

sie +bevölkern* selbst die kümmerlichen Reste <strong>der</strong> +natürlichen* Landschaften, s<strong>in</strong>d sozusagen<br />

<strong>in</strong> diese h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gestellt, und formieren darüber h<strong>in</strong>aus ihrerseits technische Landschaften, die<br />

ganz aus solchen Artefakten zusammengefügt s<strong>in</strong>d (siehe auch nochmals Übersicht 3, Abschnitt<br />

2.3). Ernst Bloch bemerkt dazu sehr aufschlußreich (vor allem, was den Schlußteil se<strong>in</strong>er<br />

Sentenz anbelangt):<br />

+Das Leben ist […] mit e<strong>in</strong>em Gürtel künstlicher, vorher nicht dagewesener Geschöpfe umgeben. Mit<br />

ihnen wird das menschliche Haus ungeheuer erweitert, es wird immer bequemer und [gleichzeitig]<br />

abenteuerlicher.* (Das Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung; Band 2, S. 731)<br />

Technik steht also <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt, daß man sich auf das +Abenteuer Technik*<br />

zwangsläufig e<strong>in</strong>lassen muß, daß man sich ihr we<strong>der</strong> entziehen, noch sie übersehen kann.<br />

Autos, Hochhäuser, Schornste<strong>in</strong>e, Kräne, Strommasten: Sie verstellen im wahrsten S<strong>in</strong>n des<br />

Wortes den freien Blick. Der Horizont ist, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> technischen Landschaft <strong>der</strong><br />

Stadt, e<strong>in</strong>geschränkt. Der Wan<strong>der</strong>er <strong>in</strong> den Straßenschluchten Manhattans sieht den Himmel<br />

nur stückchenweise – und schirmt sich so möglicherweise auch von <strong>der</strong> Transzendenz ab:<br />

jener kritischen Transzendenz, die das Bestehende h<strong>in</strong>terfragt. Alle<strong>in</strong>e also, <strong>in</strong>dem Technik<br />

existiert, schränkt sie den Raum <strong>der</strong> Reflexion e<strong>in</strong>, reduziert sie die vielfältigen Möglichkeiten<br />

von Vernunft auf die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technik manifestierte <strong>in</strong>strumentelle Vernunft. Dieses Argument<br />

f<strong>in</strong>det sich auch bei André Gorz, <strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>er Kritik ökonomischer Zweckrationalität wie<strong>der</strong>um<br />

an Gedanken <strong>der</strong> Kritischen Theorie (siehe S. 122ff.) anschließt:<br />

+Das Übergewicht <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft ist im Funktionalismus unserer täglichen Gebrauchsgegen-<br />

stände […] e<strong>in</strong>geschrieben […] Alles läuft darauf h<strong>in</strong>aus und alles regt dazu an, die Lebens-Umwelt<br />

<strong>in</strong>strumentell zu behandeln, die Natur zu vergewaltigen und unseren Körpern wie denen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Gewalt anzutun.* (Kritik <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft; S. 130)<br />

Das Allgegenwärtige (und bereits dar<strong>in</strong> Gewalttätige, weil Ausschließende) <strong>der</strong> Technik besetzt<br />

also, genau durch ihre ausschließende Allgegenwart, den Horizont des Denkens, und die<br />

<strong>in</strong>strumentell-technische, letztlich für Gorz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ganze +Gewalt-Kultur* mündende Gewalt<br />

ver<strong>in</strong>nerlicht sich uns vollständig <strong>in</strong> <strong>der</strong> täglichen Anwendung von Technik, d.h. diese wirkt<br />

im hier def<strong>in</strong>ierten S<strong>in</strong>n praxologisch (siehe S. 104 sowie Abschnitt 5.3.2): Indem sie bereit


242 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

steht, uns zu dienen, und <strong>in</strong>dem wir sie benutzen, macht Technik sich nicht nur unentbehrlich,<br />

son<strong>der</strong>n tilgt die Möglichkeit, daß wir uns e<strong>in</strong>e Welt ohne ihre Präsenz vorstellen können<br />

– selbst wenn wir sie <strong>in</strong>sgeheim verfluchen mögen. Nur so ist jener +<strong>in</strong>dustrielle Fatalismus*<br />

(Beck) zu erklären, <strong>der</strong> dazu führt, daß wir Technik zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad als +Schicksal*<br />

begreifen (müssen) und ihre Zumutungen (die Zeitabsorption durch die nicht immer unterhal-<br />

tende Unterhaltungselektronik, die Abgasemission durch Kraftfahrzeuge, das Leben mit dem<br />

Risiko des +Supergaus* etc.) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel ohne größeres Aufbegehren ertragen.<br />

Doch ke<strong>in</strong>e Regel ohne Ausnahmen: Mit <strong>der</strong> Technisierung kam auch die Technik-Kritik auf<br />

den Plan, die freilich durch die materiale und +seiende* Gewalt <strong>der</strong> Technik sowie die diskursive<br />

Hegemonie des Fortschrittsdenkens lange Zeit nur e<strong>in</strong>e schwache Stimme hatte. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

könnte die Ausnahme, wenn man sich (mit Ulrich Beck) +optimistisch* gibt, sogar zur Regel<br />

werden – dann nämlich, wenn das implizite Risikopotential je<strong>der</strong> Technologie gerade durch<br />

den weiteren ungebremsten wissenschaftlich-technischen Fortschritt immer offener zutage<br />

geför<strong>der</strong>t (d.h. ganz im von Heidegger geme<strong>in</strong>ten S<strong>in</strong>n +entborgen*) wird und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge<br />

reflexive Reflexe im +System des Fortschritts* selbst wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen Umwelt stattf<strong>in</strong>den,<br />

die zu e<strong>in</strong>em Umdenken und zu e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>terfragung des +Mythos <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>e* (Mumford) 59<br />

führen (siehe auch Abschnitt 2.3, S. 137f.). So könnte endlich e<strong>in</strong>e Vermittlung zwischen<br />

Mensch, Natur und Technik möglich werden (vgl. Bloch: Das Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung; Band 2, S.<br />

817 und siehe auch hier S. 141). Die sich <strong>in</strong>stitutionalisierende, <strong>in</strong>sgesamt allerd<strong>in</strong>gs durchaus<br />

ambivalent zu betrachtende Ökologiebewegung (siehe S. 139f.) ist nur e<strong>in</strong>e von vielen Mani-<br />

festationen <strong>der</strong> sich hier (vielleicht) abzeichnenden +reflexiven Kehre*.<br />

In diesem Zusammenhang möchte ich noch e<strong>in</strong>mal auf Heidegger und se<strong>in</strong> Konzept <strong>der</strong><br />

+Kehre* zurückkommen. Auch für ihn hat Technik – jedoch aus e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en, als dem<br />

oben genannten Grund – etwas +(ge)schicksalhaftes*:<br />

+Das Wesen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Technik br<strong>in</strong>gt den Menschen auf den Weg jenes Entbergens, wodurch das<br />

Wirkliche überall, mehr o<strong>der</strong> weniger vernehmlich, zum Bestand wird. Auf den Weg br<strong>in</strong>gen – dies heißt<br />

<strong>in</strong> unserer [!] Sprache: schicken. Wir nennen jenes versammelnde Schicken, das den Menschen erst auf<br />

e<strong>in</strong>en Weg des Entbergens br<strong>in</strong>gt, das Geschick […] Wenn wir […] das Wesen <strong>der</strong> Technik bedenken,<br />

dann erfahren wir das Ge-stell als e<strong>in</strong> Geschick <strong>der</strong> Entbergung.* (Die Technik und die Kehre; S. 24f.)<br />

Technik wirkt also für Heidegger durch ihre (entfaltete) Dynamik, durch ihre <strong>in</strong>nere Antriebskraft<br />

als e<strong>in</strong> +Geschick* für den Menschen. Und <strong>in</strong> diesem Geschickhaften, <strong>in</strong> ihrem wesenhaften


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 243<br />

Wirken, nicht aber <strong>in</strong> ihr selbst, d.h. ihrer D<strong>in</strong>ghaftigkeit, liegt nach Heidegger das Gefahren-<br />

potential <strong>der</strong> Technik:<br />

+Das Gefährliche ist nicht die Technik. Es gibt ke<strong>in</strong>e Dämonie <strong>der</strong> Technik, wohl dagegen das Geheimnis<br />

ihres Wesens. Das Wesen <strong>der</strong> Technik ist als e<strong>in</strong> Geschick des Entbergens die Gefahr.* (Ebd.; S. 27f.)<br />

Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technik implizite und durch sie hervorgebrachte Gefahr aber, <strong>in</strong> die wir – <strong>in</strong> existen-<br />

tialistischer Term<strong>in</strong>ologie ausgedrückt – +geworfen* s<strong>in</strong>d, leitet nun <strong>in</strong>direkt e<strong>in</strong>e +Kehre* e<strong>in</strong>,<br />

die ke<strong>in</strong>e Umkehr bedeutet, son<strong>der</strong>n im Gegenteil e<strong>in</strong>e Öffnung für das gefährdende Wesen<br />

<strong>der</strong> Technik, welche somit gleichzeitig e<strong>in</strong> rettendes Potential (ver)birgt. Heidegger beruft<br />

sich <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch auf Höl<strong>der</strong>l<strong>in</strong>: +Wo aber die Gefahr ist, wächst das Rettende<br />

auch* (ebd.; S. 28), so zitiert er den von ihm so geschätzten Dichter. Trifft dies zu, +dann<br />

muß […] gerade das Wesen <strong>der</strong> Technik [als geschickhafte und stellende Gefahr] das Wachstum<br />

des Rettenden <strong>in</strong> sich bergen* (ebd.), und umgekehrt gilt: +Die Gefahr ist das Rettende, <strong>in</strong>sofern<br />

sie aus ihrem verborgen kehrigen Wesen das Rettende birgt.* (Ebd.; S. 41) Das ist e<strong>in</strong> Argument,<br />

das (zwar nur entfernt, aber doch <strong>in</strong> +bezeichnen<strong>der</strong>* Weise) an die oben nochmals kurz<br />

skizzierte Reflexivitäts-These Becks er<strong>in</strong>nert: Untergründig erzeugt das Bedrohende (<strong>der</strong><br />

+Nebenfolgen* des technischen Fortschritts), <strong>in</strong>dem es als Bedrohung bewußt wird, e<strong>in</strong>e<br />

Möglichkeit zur Aufhebung <strong>der</strong> Bedrohung. Diese (im Konzept Becks allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>eswegs<br />

gewisse) Hoffnung auf e<strong>in</strong>e reflexive Umkehr(ung) <strong>der</strong> Verhältnisse, auf e<strong>in</strong>e +positive* Wende,<br />

ist me<strong>in</strong>er Ansicht nach allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong>soweit problematisch, als sie tendenziell übersieht, daß<br />

im +Rettenden* möglicherweise e<strong>in</strong>e ebenso große Gefahr liegt wie im Gefährdenden selbst,<br />

man also formulieren könnte: Das Rettende ist (auch) Gefahr.<br />

Die mögliche +Rettung* hat zwei Gesichter: technologische Deflexion (siehe auch nochmals<br />

S. 138) und e<strong>in</strong>e reflexive Transformation des Systems durch subpolitischen Protest. Das Dilemma<br />

<strong>der</strong> technologischen Deflexion besteht nun dar<strong>in</strong>, daß re<strong>in</strong> deflexive Technologien, die die<br />

reflexiven Protestpotentiale nur durch technologische Innovation ablenken, selbst aber <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> alten +Techno-Logik* verbleiben, (wie jede Technologie) immer auch potentiell risikobehaftet<br />

s<strong>in</strong>d. So könnte es sich beispielsweise nach e<strong>in</strong>er gewissen Zeit herausstellen, daß die heute<br />

verwendeten Ersatzstoffe für FCKWs genauso (o<strong>der</strong> <strong>in</strong> nich höherem Maße) +klimaschädlich*<br />

s<strong>in</strong>d als die ursprünglich verwendeten Substanzen. Hier wirkt das +prometheische Gefälle*<br />

zwischen dem Menschen und <strong>der</strong> von ihm +freigesetzten* Technik: Denn die +Starrheit* unseres


244 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

physischen, aber auch unseres kognitiven Apparates führt dazu, daß wir uns die möglichen<br />

Effekte unserer Artefakte nicht e<strong>in</strong>mal mehr vorstellen können, weshalb Günther An<strong>der</strong>s von<br />

e<strong>in</strong>er +Antiquiertheit des Menschen* (1980) gesprochen hat. 60<br />

Das Dilemma des reflexiven Protests auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite besteht dar<strong>in</strong>, daß eventuell gerade<br />

<strong>der</strong> Protest – durch die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Folge ergriffenen deflexiven Maßnahmen gegen die erkannten<br />

Bedrohungen (sofern sie tatsächlich +effektiv* s<strong>in</strong>d) – das <strong>in</strong>s Schwanken geratene wissen-<br />

schaftlich-technische System (und das mit ihm verknüpfte <strong>in</strong>dustrielle System) <strong>der</strong>art stabilisiert,<br />

daß se<strong>in</strong> Zusammenbruch so lange h<strong>in</strong>ausgezögert wird, bis die Katastrophe total und unaufhalt-<br />

sam ist. Bernd Blanke scheut sich aus se<strong>in</strong>er funktionalistisch bee<strong>in</strong>flußten Perspektive nicht,<br />

die Risikobewältigung durch Risikosteigerung gar als Entwicklungsgesetz sozialer Systeme zu<br />

postulieren (vgl. Zur Aktualität des Risikobegriffs; S. 282ff.). Denn mo<strong>der</strong>ne Gesellschaften<br />

s<strong>in</strong>d risikobehaftet, weil sie def<strong>in</strong>itionsgemäß komplex s<strong>in</strong>d, so daß sich (die Möglichkeit <strong>der</strong><br />

Katastrophe be<strong>in</strong>haltende) Risiken niemals ausschließen lassen. +Die Bewältigung dieser Gefahr*,<br />

so Blanke, +kann wie<strong>der</strong>um nur von e<strong>in</strong>em erneuten gewaltigen Schub an Komplexitätssteigerung<br />

erwartet werden. Die Risiken <strong>der</strong> Zivilisation werden dadurch aber, so ist zu vermuten, ke<strong>in</strong>es-<br />

wegs ger<strong>in</strong>ger. Denn Risikosteigerung ist <strong>der</strong> Preis, <strong>der</strong> für die Bestandserhaltung auf immer<br />

komplexerem Niveau bezahlt werden muß.* (Ebd.; S. 285) Die <strong>Politik</strong> ist deshalb dazu +ver-<br />

dammt*, e<strong>in</strong> technologisches +risk tak<strong>in</strong>g* e<strong>in</strong>zugehen, wenn sie ihre (konservative) Aufgabe<br />

<strong>der</strong> +Bestandserhaltung* erfolgreich wahrnehmen will (die ihr faktisch zukommt).<br />

Doch wie zwangsläufig ist e<strong>in</strong>e solche +reflexiv-deflexive Risikospirale* tatsächlich, und stößt<br />

die (technologische) Komplexitätssteigerung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft nicht auch an +materielle*<br />

Limitierungen? Dies ist zum<strong>in</strong>dest die These, die im +Bericht zur Lage <strong>der</strong> Menschheit* des<br />

+Club of Rome* dargelegt wurde. Als jener (e<strong>in</strong> sehr negatives Bild zeichnende) Report 1972<br />

unter dem Titel +Die Grenzen des Wachstums* veröffentlicht wurde, löste er e<strong>in</strong>e breite Dis-<br />

kussion aus. Dennis Meadows und se<strong>in</strong>e Koautoren trafen mit ihrer (im Grunde gar nicht<br />

so neuen, son<strong>der</strong>n vielmehr geradezu klassisch malthusianischen) Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriegesell-<br />

schaftlichen Wachstumsideologie den Nerv <strong>der</strong> Zeit (vgl. v.a. Kap. I u. II). Sie zeigten nicht<br />

nur auf, daß die Nahrungsmittelproduktion auf Dauer unmöglich mit <strong>der</strong> exponentiell wach-<br />

senden Menschheit Schritt halten kann (vgl. ebd.; S. 37ff.), son<strong>der</strong>n wiesen ebenso auf die<br />

Problematik <strong>der</strong> Verzögerung ökologischer Prozesse h<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 69ff.). Technologische<br />

Innovation kann nach Meadows et al. diese Probleme mil<strong>der</strong>n, die Grenzen des Wachstums


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 245<br />

zeitweilig ausdehnen: z.B. durch Recycl<strong>in</strong>gverfahren o<strong>der</strong> gesenkten Rohstoffverbrauch (vgl.<br />

ebd.; S. 118ff.). Auch Umwelt(schutz)technologien (vgl. ebd.; S. 120ff.), verbesserte land-<br />

wirtschaftliche Produktionsmethoden, die höhere Erträge ermöglichen, und Geburtenkontroll-<br />

maßnahmen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Zusammenhang zu nennen (vgl. ebd; S. 124ff.). Aber diese<br />

technologischen +Deflexionsstrategien* f<strong>in</strong>den ihre Anwendung im Kontext e<strong>in</strong>er begrenzten<br />

Welt (vgl. ebd.; S. 73f.), und selbst durch die <strong>in</strong>novativste Technologie, die zudem immer<br />

(un<strong>in</strong>tendierte) Nebenwirkungen haben kann (vgl. ebd; S. 132ff.), ist es nicht möglich, diese<br />

grundsätzliche Begrenztheit aufzuheben (vgl. ebd.; S. 128ff.). Das beweist sich für Meadows<br />

61<br />

und se<strong>in</strong>e (bzw. ihre) Mitstreiter auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Retrospektive e<strong>in</strong>deutig. In dem 20 Jahre später<br />

(also 1992) vorgelegten Band +Die neuen Grenzen des Wachstums* sehen die Autoren aufgrund<br />

ihrer Modellrechnungen ke<strong>in</strong>en Anlaß zur Revision ihrer Thesen. Im Gegenteil: +Sie [müssen]<br />

jetzt [noch] entschiedener formuliert werden*, heißt es im Vorwort (S. 13).<br />

Neben <strong>der</strong> Faktizität <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die ihre Transzendierung<br />

praxologisch erschwert, besteht also auch e<strong>in</strong>e materielle Grenze <strong>der</strong> technologischen Deflexion<br />

erkannter Risiken, die, <strong>in</strong>dem sie als +reale* Grenze erfahren o<strong>der</strong> auch nur als Grenze gedacht<br />

wird, erneut reflexive Prozesse <strong>der</strong> Infragestellung des aufgeweichten +Fortschrittskonsensus*<br />

auszulösen vermag. Hier<strong>in</strong> liegt die (vage) Chance e<strong>in</strong>er Überschreitung <strong>der</strong> Weggrenzen<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne, also e<strong>in</strong>es Verlassens des e<strong>in</strong>geschlagenen Wegs, <strong>der</strong> – aufgrund<br />

<strong>der</strong> materiellen Limitierungen und <strong>der</strong> Selbstaufhebungstendenzen des ihm zugrunde liegenden<br />

Rationalismus (siehe unten) – e<strong>in</strong>e Sackgasse ist.<br />

Nur: Die +positive* Überschreitung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne (durch ihre +negative* Reflexion)<br />

ist, wie gesagt, nur e<strong>in</strong>e vage Chance. Allzu leicht bewirkt reflexives Bewußtse<strong>in</strong>, das nicht<br />

radikal genug die sich auftuenden Wi<strong>der</strong>sprüche spiegelt und die praktischen Konsequenzen<br />

daraus zieht, sich auf partikularen Protest beschränkt und sich mit Anpassungen (+updates*)<br />

des Systems zufrieden gibt, anstatt e<strong>in</strong>e (notwendige) +Neuprogrammierung* zu betreiben,<br />

e<strong>in</strong>e (ungewollte) Stabilisierung des status quo (siehe ebenso Abschnitt 5.2.2). Zudem wohnt<br />

dem +großen technologischen System*, zu dem die Welt als Ganze geworden ist, um mit<br />

Thomas Hughes zu sprechen (siehe S. 127), e<strong>in</strong> geradezu unvorstellbares +Momentum* <strong>in</strong>ne.<br />

Die Trägheit <strong>der</strong> technologischen und <strong>der</strong> humanen +Masse* absorbiert (erfolgreich und<br />

folgenreich) das reflexive Potential <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft – womit ich wie<strong>der</strong> auf<br />

me<strong>in</strong> E<strong>in</strong>gangsargument zurückkomme: Die +Gravitation* <strong>der</strong> Technik zw<strong>in</strong>gt mit <strong>der</strong> Gewalt


246 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

des Seienden zurück auf die Bahn des +fortschrittlichen* Gleichschritts. H<strong>in</strong>zu kommt noch<br />

e<strong>in</strong> Element <strong>der</strong> Verführung, das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technik liegt. Denn sie hat das menschliche Haus,<br />

wie Bloch bemerkte (siehe oben), nicht nur bequemer gemacht, son<strong>der</strong>n übt (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Präzision<br />

ihrer Bauteile, im Schillern e<strong>in</strong>er Compact-Disk, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschw<strong>in</strong>digkeit <strong>der</strong> mikroelektronischen<br />

Rechenoperationen) e<strong>in</strong>e kaum zu leugnende Fasz<strong>in</strong>ation aus, und sie vermittelt (als Staudamm,<br />

Kontrazeptivum o<strong>der</strong> Düngemittel) darüber h<strong>in</strong>aus die +befreiende* Illusion <strong>der</strong> Beherrschbarkeit<br />

<strong>der</strong> +Naturprozesse*.<br />

Doch die Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> Technik, die zwar Risiken birgt, jedoch zur (deflexiven)<br />

Abwehr dieser Risiken wie<strong>der</strong>um benötigt wird und schon durch ihre Gegenwart die Zukunft<br />

(mit)bestimmt, ist nur die e<strong>in</strong>e Seite des Dilemmas. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en steht das Dilemma <strong>der</strong><br />

Wissenschaft, <strong>der</strong>en Konstrukte <strong>der</strong> technischen Konstruktion und Entwicklung zugrunde liegen.<br />

Auch das wissenschaftliche Denken hat – ganz analog zu dem, was von mir über die d<strong>in</strong>gliche<br />

Welt <strong>der</strong> Technik gesagt wurde – +Gestell-Charakter*, d.h. es verstellt, und dies nicht nur<br />

<strong>in</strong>direkt (wie die Praxologie des Technischen), son<strong>der</strong>n als rationalistische Ideologie, mit se<strong>in</strong>en<br />

ausschließenden Pr<strong>in</strong>zipien die Räume <strong>der</strong> (gedanklichen) Reflexion, normiert und kanalisiert<br />

als hegemonialer Diskurs den +stream of consciousness*. Aber die +wissenschaftliche* Verengung<br />

des Denkens muß hier nicht mehr en detail dargestellt werden. Die E<strong>in</strong>seitigkeit und <strong>der</strong><br />

immanente Herrschaftsanspruch des wissenschaftlichen Rationalismus wurde schließlich bereits<br />

<strong>in</strong> Abschnitt 2.3 im Kontext <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Positionen <strong>der</strong> Kritischen Theorie bis zu Foucault<br />

und Feyerabend h<strong>in</strong>reichend thematisiert (siehe S. 122–126).<br />

Allerd<strong>in</strong>gs wurde dort ebenso herausgestellt, daß Wissenschaft (durch Expertisen und Beratungs-<br />

gremien etc.) als äußerst wirkungsvolle Deflexionsressource für die <strong>Politik</strong> dient (siehe S. 149ff.).<br />

Als solche hat sie e<strong>in</strong>en doppelt ideologischen Charakter: Wissenschaft wehrt nicht nur die<br />

zu ihrem rationalistischen Pr<strong>in</strong>zip <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch stehenden Äußerungen des Se<strong>in</strong>s und des<br />

Denkens ab. Sie ist darüber h<strong>in</strong>aus <strong>der</strong> Versuch <strong>der</strong> bewußten argumentativen Deflexion von<br />

kritischem reflexiven Potential. Doch diese Deflexionsversuche <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> unter Rückgriff<br />

auf die wissenschaftliche +Autorität* s<strong>in</strong>d ihrerseits nicht unproblematisch. Sie be<strong>in</strong>halten ihre<br />

eigenen Grenzen und Wi<strong>der</strong>sprüche – wie sich auf konkreter Ebene auch anhand des <strong>in</strong><br />

Kapitel 4 thematisierten Fallbeispiels +BSE* zeigen wird (siehe Abschnitt 4.3). Allgeme<strong>in</strong> ist<br />

hier zum e<strong>in</strong>en natürlich die schon oben angesprochene Selbstaufhebungstendenz <strong>der</strong> wissen-<br />

schaftlichen Vernunft zu nennen. Das rationale Denken mußte (gerade aufgrund se<strong>in</strong>er strikten


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 247<br />

Rationalität, welche die logische und wi<strong>der</strong>spruchsfreie Begründung e<strong>in</strong>er jeden Aussage verlangt)<br />

früher o<strong>der</strong> später zwangsläufig erkennen, das es se<strong>in</strong>e eigene Grundlage, nämlich dieses<br />

Rationalitätspr<strong>in</strong>zip selbst, unmöglich (rational) begründen kann. So ist schon im Fundament<br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft die f<strong>in</strong>ale Aporie <strong>der</strong> spätmo<strong>der</strong>nen Wissenschafts- und Erkenntnis-<br />

theorie e<strong>in</strong>gegossen (siehe unten). Das Projekt <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne, das wesentlich auf<br />

<strong>der</strong> wissenschaftlichen Vernunft, auf dem Versuch e<strong>in</strong>er rationalen Begründung des Se<strong>in</strong>s<br />

und des (politischen) Handels beruhte, war deshalb e<strong>in</strong> Projekt, das – gerade <strong>in</strong>dem es versuchte,<br />

so jegliche Ambivalenz zu tilgen – e<strong>in</strong>e umso größere Ambivalenz entfaltete.<br />

Es handelte sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Anfängen um e<strong>in</strong>e geradezu kopflose +Flucht <strong>in</strong>s<br />

Rationale*, die aufgrund <strong>der</strong> Erschütterung des mittelalterlichen Weltbilds unternommen wurde,<br />

um so das mit den traditionalen Sicherheiten zu erodieren drohende Selbst des neuzeitlichen<br />

Individuums zu stabilisieren (siehe auch Abschnitt 5.1.1). Denker wie z.B. Descartes, Machiavelli<br />

o<strong>der</strong> Hobbes stehen für dieses Projekt: Descartes suchte nach e<strong>in</strong>er sicheren, nicht mehr<br />

vernünftig anzweifelbaren Grundlage für die Philosophie (siehe auch S. XIVf.). Machiavellis<br />

zweckrationalistische Pragmatie <strong>der</strong> Macht zielte auf e<strong>in</strong>e Kontrolle <strong>der</strong> Launen <strong>der</strong> Fortuna<br />

(siehe S. 20ff.). Hobbes wollte den Text (d.h. den grundlegenden Gesellschaftsvertrag) für<br />

e<strong>in</strong>e stabile soziale Ordnung durch se<strong>in</strong>e +geometrische Methode* zw<strong>in</strong>gend (re)konstruieren<br />

und damit endgültig festschreiben (siehe S. 21ff.).<br />

Aber diese aus <strong>der</strong> Suche nach e<strong>in</strong>em neuen Fundament geborene Bewegung, die die +Positivität*<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund rückte und ihr damit quasireligiösen Status verlieh,<br />

konnte nur für e<strong>in</strong>e begrenzte Zeit die Selbstaufhebungstendenz <strong>der</strong> wissenschaftlichen Ratio-<br />

nalität überdecken. Denn je systematischer sich Wissenschaft mit sich selbst beschäftigte und<br />

aus ihrer Eigendynamik heraus zu e<strong>in</strong>em selbstreflexiven Unternehmen geriet, umso klarer<br />

mußte sie sich ihre letztliche Irrationalität beweisen. Bewußt wurde dies auch angesichts <strong>der</strong><br />

+praktischen* Katastrophen des Jahrhun<strong>der</strong>ts, <strong>der</strong> <strong>fatal</strong>en Verwirklichung <strong>der</strong> nach Horkheimer<br />

und Adorno geradezu zwangsläufig <strong>in</strong> den Schornste<strong>in</strong>en von Auschwitz endenden +Dialektik<br />

<strong>der</strong> Aufklärung*, die, über sich selbst aufgeklärt, nicht(s) mehr aufzuklären vermag – jedenfalls<br />

nicht im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es +Enlightenment*.<br />

Dieses grundsätzliche Dilemma <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft sche<strong>in</strong>t bereits auf, wenn Max<br />

Weber ernüchtert (doch im Pathos des +rechtschaffenen* Wissenschaftsarbeiters) für e<strong>in</strong>e<br />

Trennung von politischen Wertfragen und wissenschaftlichen Sachaussagen plädiert (vgl.


248 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Wissenschaft als Beruf; S. 45 und siehe auch S. XXXII). Es sche<strong>in</strong>t auf, wenn <strong>der</strong> +Kritische<br />

Rationalismus* von <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Beweisbarkeit von Sätzen Abschied nimmt und das<br />

negative Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Falsifizierung an ihre Stelle setzt, um den positivistischen Glauben an<br />

den Erkenntnisfortschritt zu retten (siehe auch Anmerkung 82, Prolog). Und es sche<strong>in</strong>t auf,<br />

wenn im postmo<strong>der</strong>nen Denken – ohne große Trauer, son<strong>der</strong>n im Gegenteil geradezu<br />

enthusiastisch – <strong>der</strong> wissenschaftliche Selbstzweifel dah<strong>in</strong>gehend radikalisiert wird, daß <strong>der</strong><br />

wissenschaftliche Diskurs nur noch gleichberechtigt als e<strong>in</strong>er unter vielen ersche<strong>in</strong>t (siehe<br />

S. XLVIff). In <strong>der</strong> aktuellen Wissenschaftssoziologie greift <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge die Reflexivität so weit,<br />

daß die Annahme <strong>der</strong> Relativität, die vormals nur die +Resultate* <strong>der</strong> ethnographisch abgebildeten<br />

Forschungsprozesse betraf, auch auf die eigenen Aussagen ausgedehnt wird (vgl. z.B.<br />

Woolgar/Ashmore: The Next Step).<br />

Die Stärke dieser Konzeptionen liegt dar<strong>in</strong>, daß sie sich ihrer eigenen Schwäche(n) bewußt<br />

s<strong>in</strong>d. Doch <strong>der</strong>art betreibt Wissenschaft, die ursprünglich genau e<strong>in</strong> Reflex <strong>der</strong> Abwehr von<br />

Schwäche war, ihre eigene +Entzauberung* (vgl. auch nochmals Bonß/Hartmann: Entzauberte<br />

Wissenschaft) – und unterm<strong>in</strong>iert damit ihre soziale Geltungs- und Legitimitätsgrundlage, die<br />

darauf beruht, daß ihr jenes Wahrheitsmonopol zugeschrieben wird, das e<strong>in</strong>st die Theologie<br />

<strong>in</strong> Beschlag hatte (siehe auch S. 144ff.). Durch diese schleichende, aber fortschreitende<br />

Delegitimierung und Relativierung <strong>der</strong> Wissenschaft wird sie als Instrument <strong>der</strong> Deflexion<br />

für die <strong>Politik</strong> zunehmend unbrauchbar.<br />

Der Prozeß <strong>der</strong> Entzauberung wird noch dadurch verschärft, daß es gerade im Zuge <strong>der</strong><br />

Ausbreitung und Popularisierung von Wissenschaft zu e<strong>in</strong>em +Trivialisierungsprozeß* kommt.<br />

Der Begriff <strong>der</strong> Trivialisierung wurde von Friedrich Tenbruck <strong>in</strong> den 70er Jahren <strong>in</strong> die (selbst-<br />

redend wissenschaftliche) Wissenschafts-Debatte geworfen. Tenbrucks Trivialisierungsbegriff<br />

bezeichnet allerd<strong>in</strong>gs etwas sehr ähnliches, wie das oben beschriebene Dilemma <strong>der</strong> wissen-<br />

schaftlichen Rationalität. Er führt nämlich aus, daß im Zuge <strong>der</strong> wissenschaftlichen Entwicklung<br />

Wissenschaft (zwangsläufig) e<strong>in</strong>en immer <strong>in</strong>strumentelleren, versachlichten Charakter erhält,<br />

und ihr +metaphysisches* bzw. hermeneutisches Element (d.h. ihr Moment als Bedeutungs-<br />

und S<strong>in</strong>nquelle) zugunsten ihres bloßen Nutzwertes zurücktritt. Genau diesen Prozeß <strong>der</strong><br />

+Ents<strong>in</strong>nlichung* von Wissenschaft me<strong>in</strong>t Tenbruck, wenn er von Trivialisierung spricht (vgl.<br />

Der Fortschritt <strong>der</strong> Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß; S. 23f. und siehe auch Anmerkung<br />

189, Kap. 2).


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 249<br />

E<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Begriff von Trivialisierung entwickeln dagegen Ulrich Beck und Wolfgang Bonß:<br />

Sie weisen darauf h<strong>in</strong>, daß es mit <strong>der</strong> (politischen) Verwendung von Forschung (also ihrer<br />

deflexiven Nutzung) zu e<strong>in</strong>em Verschw<strong>in</strong>den bzw. zu e<strong>in</strong>er Transformation <strong>der</strong> Forschungs<strong>in</strong>halte<br />

kommt. Denn <strong>in</strong>dem Wissenschaft +praktisch* wird, muß sie sich an die (politische) Praxis<br />

anpassen. In dieser Anpassung geht e<strong>in</strong> Teil ihres Gehalts verloren, d.h. es kommt zu e<strong>in</strong>er<br />

Trivialisierung im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Vere<strong>in</strong>fachung und Banalisierung (siehe ebd. und vgl. Soziologie<br />

und Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 392ff.). In diesem Zusammenhang habe ich bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.3<br />

ergänzend von e<strong>in</strong>em +Übersetzungsverlust* gesprochen (siehe nochmals S. 152): Mit dem<br />

Kontextwechsel än<strong>der</strong>t und reduziert sich durch die notwendig gewordene Übertragungsarbeit<br />

auch <strong>der</strong> Text(<strong>in</strong>halt).<br />

Man kann aber sogar darüber h<strong>in</strong>aus behaupten, daß (verwendungsorientierte) Wissenschaft<br />

alle<strong>in</strong>e dadurch trivial wird, daß sie +gebraucht* wird. Denn um brauchbar zu se<strong>in</strong>, muß sie<br />

nicht nur die Komplexität ihrer eigenen Semantik reduzieren, son<strong>der</strong>n sich nach <strong>der</strong> Semantik<br />

ihrer Verwendungskontexte ausrichten, sie darf sich also nicht gegen die Interessen ihrer Auftrag-<br />

geber wenden o<strong>der</strong> läuft Gefahr +kassiert* zu werden (d.h. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schublade zu verschw<strong>in</strong>den)<br />

bzw. nicht mehr zu +kassieren* (d.h. ke<strong>in</strong>e Aufträge und damit auch ke<strong>in</strong>e Mittel mehr zu<br />

erhalten). Das ist jedoch natürlich selbst e<strong>in</strong>e eher triviale Enthüllung. Der <strong>in</strong>strumentelle<br />

Gebrauch <strong>der</strong> Verwendungsforschung ist <strong>der</strong> Öffentlichkeit bewußt, und so verbraucht sich<br />

mit ihrem Gebrauch automatisch das Deflexionspotential von Wissenschaft. Die Aussage e<strong>in</strong>es<br />

Gutachters beispielsweise wird alle<strong>in</strong>e deshalb zum<strong>in</strong>dest +fragwürdig*, weil sie im Kontext<br />

e<strong>in</strong>es Gutachtens formuliert wird, so daß <strong>der</strong> Kontext – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Kontext <strong>der</strong> Deflexion<br />

– oft relevanter ist, als <strong>der</strong> Inhalt (Text) e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Aussage (vgl. hierzu auch<br />

Bonß/Hohlfeld/Kollek: Kontextualität – E<strong>in</strong> neues Paradigma <strong>der</strong> Wissenschaftsanalyse?). Damit<br />

wird aber zugleich <strong>der</strong> erhoffte Zweck des Gutachtens konterkariert: nämlich gestützt auf<br />

wissenschaftliche Autorität politische Entscheidungen zu legitimieren. Die konfliktneutralisierende,<br />

deflexive Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wird <strong>der</strong>gestalt immer problematischer.<br />

Dieses Dilemma wird dadurch verschärft, daß heute im Konfliktfall <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel alle Konflikt-<br />

parteien versuchen, sich auf wissenschaftliche +Objektivität* zu berufen, und so jedes Gutachten<br />

e<strong>in</strong> Gegengutachten provoziert, was zu e<strong>in</strong>er nur vor<strong>der</strong>gründigen Aufwertung des wissen-<br />

schaftlichen Diskurses führt. Wissenschaft dient damit nämlich immer weniger als +neutraler*<br />

Streitschlichter (und gew<strong>in</strong>nt Autorität), son<strong>der</strong>n sie gerät zum Medium des Streits (und verliert


250 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

an sozialem Ansehen, das schließlich genau auf <strong>der</strong> Fiktion ihrer Objektivität beruht). Dabei<br />

kann es sogar so weit kommen, daß die öffentliche Konfliktdynamik durch sich wi<strong>der</strong>sprechende<br />

Expertisen noch angefacht wird. Das hat Dorothy Nelk<strong>in</strong> mit ihrer bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.3<br />

erwähnten Analyse <strong>der</strong> Konflikte um den Bau e<strong>in</strong>es Atomkraftwerks am Cayuga Lake und<br />

um die Erweiterung des Bostoner Flughafens sehr e<strong>in</strong>drücklich aufgezeigt. Sie stellt hier dar,<br />

wie wissenschaftliche Kontroversen als direkter Stimulus für (sub)politischen Protest wirken.<br />

Alle<strong>in</strong>e die Tatsache <strong>der</strong> Une<strong>in</strong>igkeit <strong>der</strong> Gutachter verstärkte nämlich <strong>in</strong> den von ihr untersuchten<br />

Fällen das öffentliche Mißtrauen. Mit <strong>der</strong> eigenen Haltung konforme wissenschaftliche Aussagen<br />

wurden dagegen als +moralischer Support* aufgefaßt – wobei die Akteure jedoch zugleich<br />

betonten, daß die Konfliktlösung aus ihrer Sicht ke<strong>in</strong>esfalls alle<strong>in</strong>e von wissenschaftlich-<br />

technischen Argumenten abh<strong>in</strong>ge (vgl. The Political Impact of Technical Expertise; S. 199ff.).<br />

So äußerte e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Betroffenen im Fall des umstrittenen Kraftwerkbaus:<br />

+To say that our future is out of our hands and entrusted to scientists and technicians is an arrogant<br />

assumption […] We suggest that the op<strong>in</strong>ions of area residents who care deeply about their environment<br />

and its future are of equal if not greater importance.* (Jane Rice im Ithaca Journal vom 14.5.1973, zitiert<br />

nach ebd.; S. 200)<br />

Auch deshalb möchte ich deutliche Zweifel an <strong>der</strong> Sicht Wolfgang van den Daeles anmelden,<br />

<strong>der</strong> im zwar nicht naiven, doch weitgehend anachronistischen Vertrauen auf die Macht des<br />

vernünftigen Diskurses behauptet:<br />

+Im Diskurs stellen Experten und Gegenexperten geme<strong>in</strong>sam die Differenzierungen wie<strong>der</strong> her, die <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Expertenkritik e<strong>in</strong>gerissen werden (zwischen Wissen und Interessen, zwischen Tatsachen und Werten),<br />

und sie <strong>in</strong>tegrieren Wissenskonzepte, zwischen denen Inkommensurabilität behauptet wird (Alltagswissen<br />

und Wissenschaft, unterschiedliche Diszipl<strong>in</strong>en). Im Ergebnis rehabilitiert <strong>der</strong> [wissenschaftliche] Diskurs<br />

sowohl die Idee <strong>der</strong> objektiven Erkenntnis als auch die Zuständigkeit <strong>der</strong> Wissenschaft als Kontroll<strong>in</strong>stanz<br />

für empirische Behauptungen.* (Objektives Wissen als politische Ressource; S. 301)<br />

Was hier von van den Daele implizit negiert wird, ist <strong>der</strong> notwendig politische Charakter<br />

von politischen Entscheidungen, <strong>der</strong> sich nicht auf +technische* Fragen reduzieren läßt. Im<br />

Expertendiskurs werden politische Konflikte auf die Ebene von wissenschaftlichen Sachaussagen<br />

transformiert, bleiben aber natürlich ihrem Charakter nach trotzdem politisch (d.h. sie betreffen<br />

das soziale Zusammenleben und unterliegen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen, subjektiven Willensentscheidung),


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 251<br />

was im objektivierenden wissenschaftlichen Diskurs aber verschw<strong>in</strong>det, so daß durch diese<br />

Entpolitisierung e<strong>in</strong> umgekehrter Translationsverlust wie oben konstatiert werden kann: Der<br />

politische Diskurs wird durch Verwissenschaftlichung ebenso trivialisiert wie <strong>der</strong> wissenschaftliche<br />

Diskurs durch Politisierung.<br />

Beide Systeme – <strong>Politik</strong> und Wissenschaft – laufen deshalb im deflexiven Zusammenspiel<br />

zusätzlich Gefahr, daß sie an Legitimität e<strong>in</strong>büßen. Die Wissenschaft (<strong>der</strong>en tatsächliche Macht<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Setzung von kognitiven und technologischen Standards im Zusammenspiel mit <strong>der</strong><br />

Industrie und dem Bildungssystem liegt) läßt sich auf dieses Spiel e<strong>in</strong>, weil sie als Ausgleich<br />

für den politischen Rückgriff auf ihren Legitimitätspool nicht nur materiell entlohnt wird, son<strong>der</strong>n<br />

e<strong>in</strong>e sche<strong>in</strong>bare politische Def<strong>in</strong>itionsmacht erhält, die nur sche<strong>in</strong>bar ist, weil Wissenschaft<br />

durch ihre Politisierung eher <strong>in</strong> Abhängigkeit zur <strong>Politik</strong> gerät, als daß es zu e<strong>in</strong>er wirklichen<br />

Herrschaft <strong>der</strong> Experten kommen würde (siehe hierzu me<strong>in</strong>e Bemerkungen auf S. 149ff.).<br />

Diese Instrumentalisierung <strong>der</strong> Wissenschaft erkennt auch die Öffentlichkeit, wodurch Wissen-<br />

schaft ihr Wahrheitsmonopol zunehmend verliert.<br />

Aber nicht nur für die Wissenschaft selbst, son<strong>der</strong>n gleichermaßen für die <strong>Politik</strong> ist das (zudem<br />

ja immer schwieriger werdende) Zehren vom wissenschaftlichen Legitimitätspool +gefährlich*.<br />

Macht <strong>Politik</strong> zu exzessiv von <strong>der</strong> Ressource Wissenschaft gebrauch und ersche<strong>in</strong>t sie im<br />

Blick <strong>der</strong> Öffentlichkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge als zu +versachlicht*, so droht (ganz analog zur <strong>in</strong> Abschnitt<br />

3.2 aufgezeigten Problematik <strong>der</strong> Verrechtlichung) e<strong>in</strong>e Entfremdung zwischen <strong>Politik</strong> und<br />

Publikum, welches sich durch Verwissenschaftlichung (noch mehr als ohneh<strong>in</strong>) vom politischen<br />

Diskurs ausgeschlossen fühlt. Das Resultat e<strong>in</strong>er solchen Entfremdung kann e<strong>in</strong>e resignierende<br />

Abwendung <strong>der</strong> Menschen von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, dem politischen Institutionensystem se<strong>in</strong> (Ent-<br />

politisierung). Es kann aber – durch das reflexive Bewußtse<strong>in</strong> für die Problematik <strong>der</strong> technischen<br />

Entwicklung – auch e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>terfragung dieses Systems stattf<strong>in</strong>den und somit kritisches politisches<br />

Potential entfesselt werden, das sich <strong>in</strong> neuen Formen politisch organisiert (subpolitische<br />

Repolitisierung). Für diesen ambivalenten Prozeß des politischen Kulturwandels lassen sich<br />

auch empirische Belege f<strong>in</strong>den (siehe nochmals Abschnitt 2.5). Die hier beschriebene gegenseitige<br />

Schwächung und Delegitimierung von <strong>Politik</strong> und Wissenschaft durch Deflexionsversuche<br />

reflexiver Potentiale und Prozesse tritt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dann e<strong>in</strong>, wenn die Deflexion an e<strong>in</strong>e<br />

materielle Grenzen stößt, daß heißt, wenn sich konkrete Gefahren <strong>in</strong> den Weg stellen, die<br />

re<strong>in</strong> deflexiv nicht o<strong>der</strong> nur schwer zu meistern s<strong>in</strong>d.


252 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Will man abschließend e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Fazit ziehen, so ergibt sich, daß Wissenschaft und<br />

Technik durch <strong>der</strong>en eigene Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit (d.h. die technologische Risikoproduktion<br />

und die Selbstaufhebungstendenz <strong>der</strong> wissenschaftlichen Vernunft) für die <strong>Politik</strong> zu immer<br />

unverläßlicheren Deflexionsressourcen werden. Ihre für die Öffentlichkeit durchsichtige politische<br />

Instrumentalisierung verstärkt noch diese Erosion des wissenschaftlich-technischen Defle-<br />

xionspotentials, obwohl Wissenschaft an<strong>der</strong>erseits für e<strong>in</strong>e Aufdeckung drohen<strong>der</strong> Gefahren<br />

und die Entwicklung von Techniken zu ihrer Kontrolle wie<strong>der</strong>um +gebraucht* wird. Zudem<br />

s<strong>in</strong>d Wissenschaft und Technik durch ihre Allgegenwart praxologisch festgeschrieben, lassen<br />

sich also trotz ihrer Ambivalenz ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>fach reflexiv transzendieren, son<strong>der</strong>n werden<br />

durch e<strong>in</strong>e begrenzte Reflexion sogar vielmehr eher stabilisiert. Sie zw<strong>in</strong>gen damit gewissermaßen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wi<strong>der</strong>sprüchliche Situation h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, und es entfaltet sich e<strong>in</strong>e möglicherweise <strong>fatal</strong>e<br />

Dialektik von Reflexion und Deflexion (siehe dazu auch Abschnitt 5.4).<br />

3.4 DAS DILEMMA VON PRÄSENTATION UND REPRÄSENTATION<br />

In Abschnitt 2.4 wurde aufgezeigt, daß das Gel<strong>in</strong>gen von +rechtlicher* und +wissenschaftlicher*<br />

Deflexion (mittels <strong>der</strong> Übersetzung von politischen Diskursen <strong>in</strong> rechtliche und wissenschaftliche)<br />

erheblich von e<strong>in</strong>em Faktor abhängig ist: <strong>der</strong> öffentlichen Me<strong>in</strong>ung. Diese stellt sich im öffent-<br />

lichen Diskurs her, wobei die Massenmedien <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaften die<br />

(notwendigen) Medien dieses Diskurses s<strong>in</strong>d. <strong>Politik</strong> ist deshalb auf Massen(medien)öffentlichkeit<br />

angewiesen, um sich darzustellen. Murray Edelman stellt demgemäß <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er (bereits dort<br />

62<br />

erwähnten) Schrift +<strong>Politik</strong> als Ritual* (1964/1971) heraus, daß politische Akte neben ihrer<br />

<strong>in</strong>strumentellen, immer auch e<strong>in</strong>e expressive, symbolische Seite haben, und betont dabei:<br />

+Vielleicht kann <strong>Politik</strong> sogar nur deshalb für e<strong>in</strong>ige Leute nüchtern und erfolgbr<strong>in</strong>gend se<strong>in</strong>, weil sie für<br />

an<strong>der</strong>e (o<strong>der</strong> für uns alle?) etwas Zwanghaftes, Mythisches, Emotionales hat. Diese symbolische Seite <strong>der</strong><br />

<strong>Politik</strong> verdient unser Interesse; denn wir können uns nur selber erkennen, wenn wir wissen, was wir<br />

tun und welche Umwelt uns umgibt und bee<strong>in</strong>flußt.* (<strong>Politik</strong> als Ritual; S. 1)<br />

Der Ritus und <strong>der</strong> Mythos s<strong>in</strong>d die beiden wichtigsten, sich gegenseitig ergänzenden und<br />

verstärkenden symbolischen Formen. Sie durchdr<strong>in</strong>gen unsere nur vor<strong>der</strong>gründig so +versachlicht*<br />

ersche<strong>in</strong>enden politischen E<strong>in</strong>richtungen. Durch die politischen Rituale (bzw. Praxologien)


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 253<br />

wird <strong>der</strong> Zusammenhalt <strong>der</strong> politischen Geme<strong>in</strong>schaft und <strong>der</strong> Konformismus geför<strong>der</strong>t, und<br />

die politischen Mythen (o<strong>der</strong> Ideologien) überdecken und legitimieren die bestehenden sozialen<br />

Ungleichheiten (vgl. ebd.; S. 13ff.). Überhaupt wirken Symbole vielfach als Rationalitätsersatz<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (vgl. ebd.; S. 27ff.), denn wie Edelman im Vorwort zur Neuauflage se<strong>in</strong>es Buches<br />

von 1990 bemerkt: +Mit <strong>der</strong> Behauptung, daß politisches Handeln rationale Entscheidungen<br />

wi<strong>der</strong>spiegle, maskiert die politische Alltagssprache die Banalität und den ritualhaften Charakter,<br />

die den Großteil politischer Äußerungen und Handlungen kennzeichnet* (ebd.; S. XI). Was<br />

aber macht Symbole <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht so wirksam? – Edelman verweist darauf, daß es mit<br />

ihrem Gebrauch möglich wird, Inhalte so zu reduzieren, daß sie sich <strong>in</strong> bestehende Bedeu-<br />

tungszusammenhänge e<strong>in</strong>ordnen lassen (vgl. ebd.; S. 95). Auf diese Weise können Inhalte<br />

und Handlungen im symbolisch-ästhetischen Rekurs auf die +Tradition* legitimiert werden.<br />

Die Verpflichtung zu rationaler Begründung entfällt. 63<br />

Thomas Meyer nimmt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em (ebenfalls bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.4 zitierten) Buch +Die Insze-<br />

nierung des Sche<strong>in</strong>s* (1992) auf Edelman Bezug. Dort bemerkt er: +Der Sche<strong>in</strong> ist für die<br />

Anschauung, was die Ideologie für den Diskurs ist.* (S. 39) Man könnte also, wie ich hiermit<br />

vorschlagen möchte, von e<strong>in</strong>er +Optologie* sprechen, die ihre Wirksamkeit <strong>der</strong> visuellen Fixierung<br />

des Menschen verdankt: +Bil<strong>der</strong> lügen nicht, me<strong>in</strong>t unser Gedächtnis […] Darum ist die Insze-<br />

nierung des Sche<strong>in</strong>s <strong>der</strong> Konstruktion von Ideologien turmhoch überlegen.* (Ebd.; S. 49) Neben<br />

dem visuellen, dem +Augensche<strong>in</strong>* existiert gemäß Meyer allerd<strong>in</strong>gs auch +Sprachsche<strong>in</strong>*<br />

und +Handlungssche<strong>in</strong>* (vgl. ebd. S. 39ff.) – geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d politische Wortblasen (ich möchte<br />

hier den Begriff +Logologie* vorschlagen) und die schon oben angesprochenen politischen<br />

Rituale (Praxologien). 64<br />

Diese +<strong>Politik</strong> des Sche<strong>in</strong>s* muß <strong>in</strong> <strong>der</strong> komplexen, +funktional differenzierten* Gesellschaft<br />

notwendig immer bedeuten<strong>der</strong> werden, da die wachsende Komplexität das tatsächliche und<br />

umfassende Verstehen <strong>der</strong> politischen und sozialen Zusammenhänge zunehmend unmöglich<br />

macht – das, so Meyer, ist zum<strong>in</strong>dest die Argumentation +funktionalistischer* Autoren (vgl.<br />

ebd.; S. 58ff. und siehe auch Abschnitt 2.4). Selbst eher +kritische* Wissenschaftler lassen<br />

sich auf ähnliche Argumentationen e<strong>in</strong> (vgl. z.B. Peters: Der S<strong>in</strong>n von Öffentlichkeit und siehe<br />

65<br />

hier S. 172). Meyer will sich jedoch nicht e<strong>in</strong>em +funktionalistischen Fatalismus* ergeben<br />

und nennt die so erfolgte Ausblendung von ablehnenden Reflexen des Publikums auf diese<br />

als zwangsläufigen Automatismus dargestellte Entwicklung zynisch (vgl. Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s;


254 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

66<br />

S. 151ff.). Als Gegenstrategien empfiehlt er deshalb e<strong>in</strong>e +naive* Suche nach +vernünftigen<br />

Alternativen zu den Funktionen, die sich das System, autopoietisch, selbst gesucht hat* (ebd.;<br />

S. 193) und for<strong>der</strong>t +e<strong>in</strong>e Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> ontologischen Differenz zwischen erfahrener<br />

Lebenswelt und erlebter Bild<strong>in</strong>szenierung* (ebd.; S. 196) durch e<strong>in</strong>e kritische Medienpädagogik<br />

und politische Kulturarbeit – auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form +radikaler* Theorien wie z.B. <strong>der</strong> These vom<br />

Simulakrum Baudrillards (siehe S. LVf.), welche nach Meyer gerade <strong>in</strong> ihrer Übertreibung<br />

Möglichkeiten zu e<strong>in</strong>er Verän<strong>der</strong>ung des bestehenden Systems aufzeigen kann. 67<br />

Die sich bei Baudrillard (und auch Meyer) Ausdruck verleihende kritische Distanz zur konstru-<br />

ierten +Medienrealität* verweist auf die Ambivalenz <strong>der</strong> politischen Inszenierung und die imma-<br />

nente +Dialektik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft* (Münch). Insofern diese noch den Charakter<br />

e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft trägt, ist ihr Öffentlichkeitssystem, wie <strong>in</strong> Abschnitt 2.4<br />

dargestellt (siehe S. 167–177) durch Anonymität, Hierarchisierung und +E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glichkeit*<br />

(Invasivität) gekennzeichnet. Die Anonymisierung <strong>der</strong> Öffentlichkeit ist dabei, auch wenn<br />

Meyer e<strong>in</strong>e solche Argumentation zynisch nennen mag, e<strong>in</strong>e logische Folge <strong>der</strong> im Zuge <strong>der</strong><br />

Ausweitung <strong>der</strong> öffentlichen Kommunikation notwendig gewordenen Mediatisierung des<br />

öffentlichen Diskurses, was auch die Ausdifferenzierung von spezifischen Publikums- und<br />

Akteursrollen (und somit Hierarchisierung) bewirkte. Die Invasivität <strong>der</strong> Öffentlichkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft ist dagegen eher e<strong>in</strong>e Folge des Charakters +ihrer* Medien<br />

(also Illustrierte, Hörfunk und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Fernsehen), die <strong>in</strong> den privaten Raum mit<br />

ihren vorselektierten Angeboten sowie d<strong>in</strong>glich e<strong>in</strong>- und durchdr<strong>in</strong>gen. H<strong>in</strong>zu kommt die<br />

schon angesprochene Bildfixierung des Fernsehen und auch <strong>der</strong> Pr<strong>in</strong>tmedien. In dieser spezi-<br />

fischen Komb<strong>in</strong>ation bot das Öffentlichkeitssystem <strong>der</strong> +klassischen* Industriegesellschaft west-<br />

licher Prägung günstige Voraussetzungen für e<strong>in</strong>e dramaturgische Deflexion durch die <strong>Politik</strong>,<br />

die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Massendemokratie über öffentliche Zustimmung legitimieren muß und darum<br />

auf e<strong>in</strong> Mediensystem angewiesen ist, das es ihr erlaubt, sich darzustellen. Die +Popularisierung*<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> erfolgte also +mediengerecht* durch Inszenierung.<br />

Aber dramaturgische Deflexion war gerade deshalb auch unter diesen günstigen Rahmenbe-<br />

d<strong>in</strong>gungen niemals unproblematisch. Jede Anpassung an das Medienformat durch die <strong>Politik</strong><br />

führt zwangsläufig zu Verlusten: an politischen Inhalten und Differenzierungen, aber auch<br />

an Wahlmöglichkeiten für Handlungsalternativen. Wie analog schon im Fall <strong>der</strong> Ökonomisierung<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die Übernahme <strong>der</strong> ökonomischen Wettbewerbslogik (Abschnitt 3.1), im


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 255<br />

Fall <strong>der</strong> Verrechtlichung (Abschnitt 3.2) und im Fall <strong>der</strong> Verwissenschaftlichung (Abschnitt<br />

3.3) herausgestellt, bedeutet e<strong>in</strong>e deflexive, an die Mediensemantik angepaßte +Veröffentlichung*<br />

von <strong>Politik</strong> also e<strong>in</strong>e Entpolitisierung und Selbstentmachtung – nicht nur durch e<strong>in</strong>e Auf- und<br />

Übergabe von politischen Kompetenzen, son<strong>der</strong>n auch durch die automatisch erfolgende<br />

Reduzierung <strong>der</strong> politischen Gehalte durch <strong>der</strong>en +Übersetzung*.<br />

Wenn dieser deflexive Zusammenhang, mit dem sich die <strong>Politik</strong> sich selbst und dem Publikum<br />

entfremdet, wahrgenommen wird, dann muß mit e<strong>in</strong>em (zum<strong>in</strong>dest partiellen) Legitimitätsentzug<br />

gerechnet werden. Die dramaturgische Deflexion hat dann allerd<strong>in</strong>gs natürlich ihr explizites<br />

Ziel, nämlich Legitimität +symbolisch*, anstatt durch rationale Begründungen zu schaffen,<br />

verfehlt. Die politische Inszenierung wurde also entwe<strong>der</strong> schlecht an das Medienformat<br />

angepaßt o<strong>der</strong> die Haltung und die +Reflexivität* <strong>der</strong> Öffentlichkeit wurde falsch e<strong>in</strong>geschätzt<br />

(wie dies me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach beson<strong>der</strong>s deutlich für das <strong>in</strong> Kapitel 4 behandelte Fallbeispiel<br />

+BSE* gilt). Solche Defizite <strong>der</strong> dramaturgischen Deflexion s<strong>in</strong>d nicht grundsätzlicher Natur,<br />

son<strong>der</strong>n ließen sich durch e<strong>in</strong>e +Verbesserung* <strong>der</strong> politischen Darstellungen beheben. Die<br />

Anpassung an die Mediensemantik und die Publikumsorientierung erzeugt allerd<strong>in</strong>gs auch<br />

nicht vermeidbare +objektive* Probleme. Dazu zählt <strong>der</strong> oben angesprochene Übersetzungs-<br />

verlust, welcher sich bei <strong>der</strong> Übertragung von politischen Fragen <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e Kontexte zwangsläufig<br />

ergibt – allerd<strong>in</strong>gs nicht nur +Verluste* produziert, son<strong>der</strong>n auch den Vorteil e<strong>in</strong>er Komplexitäts-<br />

reduktion e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt, weshalb es schließlich überhaupt zu Übersetzungen kommt.<br />

68<br />

Viel +dramatischer* ist e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e notwendige Folge <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>* (Hartley), <strong>der</strong><br />

Adaption an das Medienformat: Da <strong>der</strong> Zeithorizont <strong>der</strong> Medien (wie jener <strong>der</strong> Ökonomie)<br />

von Kurzfristigkeit, von e<strong>in</strong>er Dom<strong>in</strong>anz des Jetzt-Feldes geprägt ist (siehe auch S. 299 sowie<br />

die Thesen von Großklaus <strong>in</strong> Abschnitt 2.4, S. 170f.), ist die <strong>Politik</strong> gezwungen, sich an diesen<br />

e<strong>in</strong>geschränkten Zeithorizont anzupassen, wenn sie ihr Publikum erreichen will (was sie muß,<br />

um sich zu legitimieren). Die <strong>Politik</strong> im Geschw<strong>in</strong>digkeitsrausch <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und ihrer beschleu-<br />

nigten, zeitlich entbetteten Medienrealität, wird so <strong>fatal</strong>er Weise dazu getrieben, schnelle<br />

Entscheidungen zu treffen und langfristige Entwicklungen auszublenden – was noch durch<br />

den kurzen Rhythmus <strong>der</strong> Legislaturperioden verstärkt wird (vgl. auch Virilio: Geschw<strong>in</strong>digkeit<br />

und <strong>Politik</strong> sowie Spaemann: Ars longa vita brevis).<br />

Erschwerend h<strong>in</strong>zu kommt die Tatsache, daß die Medien e<strong>in</strong> grundsätzlich ambivalenter Faktor<br />

s<strong>in</strong>d, wie auch Barbara Adam aufweist: e<strong>in</strong>erseits spiegeln sie den status quo, an<strong>der</strong>erseits


256 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

stellen sie ihn <strong>in</strong> Frage, s<strong>in</strong>d Informationsquellen, Analysten, Vermittler und Konstrukteure<br />

von Realität zugleich (vgl. Timescapes of Mo<strong>der</strong>nity; Kap. 5) – und untergraben gerade <strong>in</strong><br />

letztgenannter +Funktion* die politische Def<strong>in</strong>itionsmacht. Weiterh<strong>in</strong> läßt sich e<strong>in</strong> latenter<br />

Interessengegensatz von Medien und <strong>Politik</strong> unterstellen. Als Teile des ökonomischen Systems<br />

(d.h. wenn es sich nicht um staatliche, son<strong>der</strong>n +private* Medien handelt) s<strong>in</strong>d sie alle<strong>in</strong>e<br />

o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest überwiegend dem (kurzfristigen) Kapital<strong>in</strong>teresse verpflichtet, während<br />

die <strong>Politik</strong> neben <strong>der</strong> Selbstreproduktion ihres Subsystems auch den allgeme<strong>in</strong>en Systemerhalt<br />

im Auge haben muß/sollte. In diesem doppelten Interesse versucht die <strong>Politik</strong>, die Medien<br />

für ihre Selbstdarstellungen zu <strong>in</strong>strumentalisieren (und als Instrumente werden sie von <strong>der</strong><br />

<strong>Politik</strong> deshalb auch benötigt). Die Medien wenden sich jedoch mit ihren +Enthüllungen*<br />

manchmal auch gegen die <strong>Politik</strong>. In Anlehnung an Richard Münchs bereits dargelegte Argumen-<br />

tation (siehe S. 174f.) muß allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>geschränkt werden, daß dadurch das System <strong>in</strong>sgesamt<br />

nicht unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> Frage gestellt, son<strong>der</strong>n eher stabilisiert wird. Doch wie auch immer: Selbst<br />

e<strong>in</strong> nur partieller (Ziel-)Konflikt mit <strong>der</strong> +Medienwelt* macht die politische Inszenierung<br />

problematisch und risikobehaftet für die <strong>Politik</strong>, die zudem immer mehr unter Kommunikations-<br />

und Darstellungszwänge gerät (vgl. auch <strong>der</strong>s. Dynamik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft; S.<br />

82–93).<br />

Das Risiko und vor allem <strong>der</strong> zu erbr<strong>in</strong>gende +E<strong>in</strong>satz* bei <strong>der</strong> dramaturgischen Deflexion<br />

erhöht sich noch weiter mit <strong>der</strong> <strong>in</strong> Abschnitt 2.4. beschriebenen (sich aktuell abzeichnenden)<br />

Transformation <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriegesellschaftlichen Massenöffentlichkeit zu e<strong>in</strong>er eher diffusen,<br />

fragmentisierten und <strong>in</strong>teraktiven öffentlichen Mediensphäre (siehe S. 177–184). Erstens macht<br />

die zu erwartende fortschreitende Pluralisierung <strong>der</strong> Formate die politische Adaption aufwendiger<br />

und schwieriger. Zudem ist immer unklarer, wer wie und durch welche Medien erreichbar<br />

ist, wenn nicht gar e<strong>in</strong>e totale Individualisierung und Unberechenbarkeit <strong>der</strong> Mediennutzung<br />

<strong>in</strong>folge des diversifizierten Angebots e<strong>in</strong>tritt. Dramaturgische Deflexion läuft so zwangsläufig<br />

Gefahr zu scheitern, während sie an<strong>der</strong>erseits <strong>in</strong>effizienter zu werden droht. Und auch die<br />

Konkurrenz auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Darsteller nimmt durch globale Vernetzung und den (aktuell)<br />

vergleichsweise ger<strong>in</strong>gen technischen Aufwand für e<strong>in</strong>e Präsenz <strong>in</strong> neuen Medien wie dem<br />

Internet zu, was e<strong>in</strong>erseits staatliche Kontrolle erschwert und an<strong>der</strong>erseits den hierarchischen<br />

Charakter <strong>der</strong> Öffentlichkeit zurücktreten läßt, <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> (+offiziellen*) politischen<br />

69<br />

Inszenierung entgegenkam. Mit <strong>der</strong> Interaktivität vieler neuer Medien wird die <strong>in</strong> dieser


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 257<br />

H<strong>in</strong>sicht ebenfalls für die <strong>Politik</strong> funktionale strikte Abgrenzung zwischen Akteuren und Publikum<br />

h<strong>in</strong>fällig.<br />

Welches Fazit läßt sich also abschließend ziehen? – Die politische Medien<strong>in</strong>szenierung war<br />

und ist für die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong> wichtiges Mittel zur Selbstdarstellung, wobei Medien und <strong>Politik</strong><br />

häufig zusammenwirken, aber auch antagonistische Momente zum Tragen kommen. Die<br />

<strong>Politik</strong> muß für ihre +symbolische* Anpassung an das Medienformat, die ihr Ablenkung von<br />

Protest und öffentliche Legitimation ermöglicht, allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> jedem Fall den Preis e<strong>in</strong>es Verlusts<br />

an politischen Inhalten und an Handlungsmöglichkeiten <strong>in</strong> Kauf nehmen. Wird ihr +Spiel*<br />

durchschaut, droht ihr sogar umgekehrt Legitimitätsentzug. Und selbst wenn die politische<br />

Inszenierung +funktioniert*, hat symbolische <strong>Politik</strong> zur Folge, daß <strong>der</strong> repräsentative Charakter<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zugunsten <strong>der</strong> Präsentation zurücktritt. Das Volk (und se<strong>in</strong>e Interessen) werden<br />

nicht vertreten (wie es zum<strong>in</strong>dest die +offizielle* Ideologie repräsentativer Demokratie for<strong>der</strong>t),<br />

son<strong>der</strong>n die Volksvertretung präsentiert sich (im Interesse ihres Machterhalts). Dieses umgekehrte<br />

Verhältnis von Präsentation und Repräsentation resultiert daraus, daß die Struktur <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Kommunikation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediengesellschaft auf die Struktur <strong>der</strong> politischen Beziehungen (d.h.<br />

das Verhältnis von Vertretern und Vertretenen) rückwirkt. Repräsentation ist (durch den gewählten<br />

politischen Reproduktionsmechanismus <strong>der</strong> politischen Wahl) daran gebunden, daß dem<br />

Publikum (das vertreten werden soll) die eigene Kompetenz dargestellt werden kann – womit<br />

die Möglichkeiten zur Darstellung die Chancen <strong>der</strong> Repräsentanten bestimmen. 70<br />

Was aber passiert, wenn es <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>es neuerlichen +Strukturwandels <strong>der</strong> Öffentlichkeit*<br />

zu e<strong>in</strong>er Pluralisierung und Fragmentisierung des Mediensystems kommt, welche die Plurali-<br />

sierungs- und Fragmentisierungsprozesse im Bereich <strong>der</strong> Kultur und Sozialstruktur (siehe Abschnitt<br />

2.5) spiegelt? – E<strong>in</strong> solches Öffentlichkeitssystem wäre (wie oben ausgeführt) für die <strong>Politik</strong><br />

und ihre Inszenierungen weit schwieriger zu kalkulieren und zu <strong>in</strong>strumentalisieren. Und<br />

diese Transformation würde sicherlich auch neue Fragen zum Verhältnis von <strong>Politik</strong> und<br />

(Wähler-)Publikum aufwerfen. So verweist das beschriebene Dilemma von Präsentation und<br />

Repräsentation – das hier nur relativ knapp dargelegt wurde, dafür aber <strong>in</strong> Abschnitt 4.4 umso<br />

<strong>in</strong>tensiver bezogen auf das Fallbeispiel +BSE* herausgearbeitet werden soll – <strong>in</strong>direkt auf das<br />

im folgenden behandelte politische Dilemma <strong>der</strong> Individualisierung.


258 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

3.5 DAS POLITISCHE DILEMMA DER INDIVIDUALISIERUNG<br />

One man, one vote! Dieses heute weitgehend durchgesetzte, lange Zeit jedoch ke<strong>in</strong>esfalls<br />

selbstverständliche Pr<strong>in</strong>zip ist <strong>der</strong> Ausdruck des egalitaristischen Moments wie <strong>der</strong> egalitären<br />

71<br />

Ideologie <strong>der</strong> (westlichen) Demokratie. Die <strong>in</strong>dividuelle Verschiedenheit und das faktische<br />

Ungleichgewicht <strong>der</strong> sozialen Kräfte soll <strong>in</strong> <strong>der</strong> formalen Gleichheit <strong>der</strong> politischen Stimmen<br />

(symbolisch) zum Verschw<strong>in</strong>den gebracht werden (und wird <strong>in</strong> <strong>in</strong>terventionistischen Wohl-<br />

fahrtsstaaten – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e des +sozialdemokratischen* Typus – durch e<strong>in</strong>e begrenzte Umver-<br />

72<br />

teilung sowie e<strong>in</strong>e aktive Gleichstellungspolitik auf materieller Ebene ergänzt). Die Glie<strong>der</strong><br />

des +politischen Körpers* erhalten auf diese Weise, trotz ihrer sozialen und +funktionalen*<br />

Differenzierung, e<strong>in</strong>e imag<strong>in</strong>äre, aber zugleich erfahrbare +Identität*. Im Ritual <strong>der</strong> Wahl wird<br />

also <strong>der</strong> politische Mythos <strong>der</strong> sozialen E<strong>in</strong>heit des Staatswesens (<strong>der</strong> die Grundlage so gut<br />

wie je<strong>der</strong> traditionalen wie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>nen* politischen Ordnung im<br />

Nationalstaat bildet) praxologisch rekonstruiert und aktualisiert.<br />

Das Verfahren <strong>der</strong> politischen Wahl ist damit die +praktische* Lösung für das politische Paradox<br />

des Liberalismus: Die gefor<strong>der</strong>te E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Vielheit wird <strong>in</strong> ihr hergestellt – und das gerade<br />

durch e<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Konkurrenz um Stimmen beruhendes Wettbewerbsmodell. Der Theorie<br />

<strong>der</strong> liberalen Demokratie (siehe auch S. 44ff. sowie Abschnitt 1.4) gelten die tendenziell<br />

gegensätzlichen Partikular<strong>in</strong>teressen sozialer Teilgruppen, die sich auf <strong>der</strong> politischen Ebene<br />

<strong>in</strong> Verbänden und Parteien organisieren, nämlich nicht nur als unvermeidlich und legitim,<br />

son<strong>der</strong>n die Konkurrenz <strong>der</strong> politischen Gruppierungen/Eliten untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> wird vielmehr<br />

als sozial produktiv angesehen (d.h. sofern sich die Interessenorganisationen <strong>in</strong> das <strong>in</strong>stitutionelle<br />

System e<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>n und sich an dessen +Spielregeln* halten). Das Parlament, das durch die<br />

Wahlen hervorgeht, spiegelt (und bündelt) die pluralen Interessen des von ihm repräsentierten<br />

Volkes und bildet gemäß <strong>der</strong> liberalen Theorie genau <strong>in</strong> dieser weitgehenden Kongruenz<br />

e<strong>in</strong>e voll legitimierte (doch fiktive) Handlungse<strong>in</strong>heit – die durch die ungleichen Kräfteverhältnisse<br />

zwischen den Regierungsparteien und <strong>der</strong> Opposition allerd<strong>in</strong>gs +real* wird.<br />

Mit diesem Zusatz ist implizit dargelegt, was e<strong>in</strong>gangs nur behauptet wurde – nämlich daß<br />

es sich bei <strong>der</strong> liberalen Demokratietheorie um e<strong>in</strong>e Ideologie zur Verdeckung von Macht-<br />

ungleichgewichten handelt. Denn alle Interessen, die nicht zur Herrschaft gelangen, werden<br />

zwar repräsentiert, doch können sie sich (praktisch), aufgrund <strong>der</strong> bestehenden Mehrheitsregel,<br />

nicht durchsetzen. Es kann dabei durchaus angezweifelt werden, daß alle Interessen die gleiche


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 259<br />

Chance haben, zu +herrschenden Interessen* werden – und das nicht nur, weil sie e<strong>in</strong>e unter-<br />

schiedliche Verankerung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung haben, son<strong>der</strong>n weil sich aufgrund bestehen<strong>der</strong><br />

struktureller Ungleichgewichte manche Gruppen im +Spiel* <strong>der</strong> Interessenpolitik besser durch-<br />

setzen können als an<strong>der</strong>e (vgl. dazu auch Offe: Politische Herrschaft und Klassenstrukturen). 73<br />

H<strong>in</strong>zu kommt noch, daß im repräsentativen System (ohne imperatives Mandat und plebiszitäre<br />

Elemente) alle<strong>in</strong>e die M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Vertreter Beschlußbefugnisse besitzt, während +die große<br />

Masse* notwendig und erwünschter Weise (d.h. aus pragmatischen Motiven wie aus Gründen<br />

e<strong>in</strong>er angenommenen politischen +Unzurechenbarkeit* <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Wahlbürger) vom konkreten<br />

politischen Entscheidungsprozeß ausgeschlossen ist. Deshalb verweist auch Edelman auf den<br />

primär rituellen Charakter <strong>der</strong> politischen Wahl, bei <strong>der</strong> es nur vor<strong>der</strong>gründig darauf ankommt,<br />

wer gew<strong>in</strong>nt o<strong>der</strong> verliert. Denn Wahlen haben die latente (doch für das Funktionieren <strong>der</strong><br />

repräsentativen Demokratie entscheidende) Aufgabe, +den Glauben an die politische Mitbe-<br />

stimmung des Volkes zu vermitteln* (<strong>Politik</strong> als Ritual; S. 98) – erzeugen also das, was Luhmann<br />

als +Legitimation durch Verfahren* (1969) bezeichnet.<br />

Die bloße Aufdeckung dieser Ideologie genügt für e<strong>in</strong>e politische Analyse jedoch genausowenig<br />

wie die letztendlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Affirmation des Bestehenden endende Beschränkung auf die<br />

Funktionsbeschreibung <strong>der</strong> Wahl als (legitimitätsstiftendes) Verfahren zur Hervorbr<strong>in</strong>gung <strong>der</strong><br />

Regierung. Versteht man die politische Wahl <strong>in</strong> Anlehnung an Claude Lefort und Marcel<br />

Gauchet dagegen als (praxologischen Deflexions-)Mechanismus zur symbolischen Reduktion<br />

von sozialen Konflikten, so verweist dies über e<strong>in</strong>e simple Ideologiekritik h<strong>in</strong>ausgreifend auf<br />

die Notwendigkeit zur ständigen symbolischen Erneuerung <strong>der</strong> politischen Machtgrundlage,<br />

weil sonst Legitimitätsentzug und e<strong>in</strong> Aufbrechen <strong>der</strong> auf diese Weise latent gehaltenen sozialen<br />

Konflikte droht. Die durch Wahlen etablierte und legitimierte politische Macht ist deshalb<br />

ke<strong>in</strong>esfalls stabil, son<strong>der</strong>n permanent gefährdet. Dazu heißt bei Lefort und Gauchet:<br />

+Für denjenigen, <strong>der</strong> die politische Macht ausübt, geht es darum, sich <strong>in</strong> jedem Augenblick se<strong>in</strong>er Stellung<br />

zu vergewissern, sie unaufhörlich wie<strong>der</strong> herstellen zu müssen […] Als Individuum […] das die Allgeme<strong>in</strong>heit<br />

verkörpern soll, wird er unablässig genötigt se<strong>in</strong>, die Spuren auszulöschen, durch die se<strong>in</strong>e Partikularität<br />

von neuem sichtbar wird.* (Über die Demokratie; S. 98)<br />

Die +Macht* ist also dazu verdammt, sich immer wie<strong>der</strong> neu selbst zu schaffen und zu legi-<br />

timieren. Sie nutzt dabei das praxologisch ver<strong>in</strong>nerlichte Verfahren <strong>der</strong> politischen Wahl,


260 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

das sie temporalisiert wie entpersonalisiert und damit weniger offensichtlich ersche<strong>in</strong>en läßt.<br />

Doch was passiert, wenn dieser im System <strong>der</strong> liberalen Demokratie zentrale Mechanismus<br />

<strong>der</strong> Machtlegitimation und rituellen E<strong>in</strong>heitsstiftung durch soziale Transformationsprozesse<br />

auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Sozialstruktur und <strong>der</strong> Kultur unterm<strong>in</strong>iert wird?<br />

Es sche<strong>in</strong>t aktuell <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat angebracht, sich diese Frage zu stellen. Denn wie (<strong>in</strong> Abschnitt<br />

2.5) beschrieben, hat e<strong>in</strong>e immense Wohlstandssteigerung <strong>in</strong> den +fortgeschrittenen* Industrie-<br />

gesellschaften zu e<strong>in</strong>er weitgehenden Auflösung <strong>der</strong> alten Klassen- bzw. Schichtungsverhältnisse<br />

geführt, was mit dem Begriff <strong>der</strong> +Individualisierung* soziologisch zu fassen versucht wurde.<br />

Dieser verweist auf e<strong>in</strong>e Pluralisierung und Auffächerung <strong>der</strong> kulturellen Muster wie <strong>der</strong> <strong>in</strong>di-<br />

viduellen Ausdrucks- und Lebensformen. Individualisierung ist jedoch, obwohl die ästhetische<br />

Dimension <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat an Bedeutung gew<strong>in</strong>nt, ke<strong>in</strong> bloßes Oberflächenphänomen, son<strong>der</strong>n<br />

mit ihr ist auch e<strong>in</strong> tiefgreifen<strong>der</strong> Wertewandel h<strong>in</strong> zu postmateriellen Werten verbunden,<br />

was sich auf politischer Ebene <strong>in</strong> den verschiedenen Ersche<strong>in</strong>ungsformen <strong>der</strong> Subpolitik (<strong>in</strong>sbe-<br />

son<strong>der</strong>e den neuen sozialen Bewegungen) manifestiert, die die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> zunehmend<br />

herausfor<strong>der</strong>n. E<strong>in</strong>igen Beobachtern ersche<strong>in</strong>t dieser Wandel, <strong>der</strong> die bestehenden Verhältnisse<br />

<strong>in</strong> Frage stellt, als sozialer Auflösungsprozeß, als Werteverfall und Orientierungsverlust etc.<br />

Diese e<strong>in</strong>seitig negative Interpretation wird von mir, wie unter Verweis auf die Argumente<br />

Becks dargelegt (siehe S. 191f.), nicht geteilt – wenngleich natürlich die Frage nach <strong>der</strong> sozialen<br />

Orientierung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft sicherlich berechtigt ist (vgl. dazu auch<br />

74<br />

Dettl<strong>in</strong>g: <strong>Politik</strong> und Lebenswelt; Kap. 4). Ferner habe ich kritisch herausgestellt, daß die<br />

neue +Sozialmoral des eigenen Lebens*, von <strong>der</strong> Beck spricht, genauso wie die Aufrechterhaltung<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Lebensstile, durch ungünstige ökonomische Entwicklungen gefährdet<br />

wird. E<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zwischen ökonomischer Basis und den kulturellen Formen und Inhalten<br />

tut sich auf, <strong>der</strong> zu Frustrationen und (daraus resultierend) zu Apathie o<strong>der</strong> zu Ersche<strong>in</strong>ungen<br />

von des<strong>in</strong>tegrativer Gewalt führen kann (siehe S. 190f. und S. 195).<br />

Diese Problematik e<strong>in</strong>er ökonomisch +entbetteten* Individualisierung (wie wir sie aktuell erleben),<br />

die verstärkt den +häßlichen Bürger* (Beck) hervortreten läßt, hat notwendig auch Auswirkungen<br />

auf die <strong>Politik</strong>. Im Wahlverhalten zeigt sie sich e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abgabe von +Proteststimmen*<br />

für +radikale* Randparteien und an<strong>der</strong>erseits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en Wahlmüdigkeit. Auf diese<br />

Weise wird <strong>der</strong> erzeugten Frustration Luft gemacht und Enttäuschung durch e<strong>in</strong>e Abwendung<br />

von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ausgedrückt, was sich ganz konkret eben <strong>in</strong> s<strong>in</strong>kenden Wahlbeteiligungen


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 261<br />

und e<strong>in</strong>er Aufsplitterung <strong>der</strong> Parteienlandschaft zeigt (wo nicht, wie <strong>in</strong> den USA, das Mehrheits-<br />

75<br />

wahlrecht solche zentrifugalen Tendenzen abmil<strong>der</strong>t). Aber nicht nur die Hervorbr<strong>in</strong>gung<br />

e<strong>in</strong>er funktionsfähigen Regierung (d.h. die manifeste Funktion <strong>der</strong> politischen Wahl) wird<br />

so erschwert. Aufgrund <strong>der</strong> mangelnden +Beteiligung* kann aus dem Wahlritual immer weniger<br />

Legitimität abgeleitet werden, und se<strong>in</strong>e (latente) Funktion <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heitsstiftung wird geschwächt.<br />

Die Delegitimierung <strong>der</strong> politischen Institutionen schreitet damit voran und die mit ihnen<br />

verknüpften Verfahren zur E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Individuen verlieren an Wirksamkeit, während<br />

sich an<strong>der</strong>erseits auch ke<strong>in</strong>e neuen, auf an<strong>der</strong>en Ebenen angesiedelten Mechanismen <strong>der</strong><br />

Inklusion (wie etwa durch e<strong>in</strong>e aktive Selbstbeteiligung <strong>der</strong> Bürger) abzeichnen, da – durch<br />

die ökonomische Entbettung <strong>der</strong> Individualisierung – nur wenige ihre Abwendung von <strong>der</strong><br />

etablierten <strong>Politik</strong> mit subpolitischem Engagement +kompensieren* (siehe auch unten sowie<br />

S. 198f.). Die subpolitische +Entgrenzung* des Politischen, die schon an sich e<strong>in</strong>e ambivalente<br />

Ersche<strong>in</strong>ung ist (siehe Abschnitt 5.2), trifft also auf e<strong>in</strong> ökonomisches Hemmnis, was die <strong>in</strong>nere<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Prozesses zusätzlich erhöht. 76<br />

Das ist, grob skizziert, <strong>der</strong> Problemkreis, aus dem das politische Dilemma <strong>der</strong> Individualisierung<br />

erwächst, dem sich dieser Abschnitt widmen wird. Niklas Luhmanns Überlegungen zum Zusam-<br />

menhang zwischen +Inklusion und Exklusion* (1994) sollen hier nun als Ausgangspunkt für<br />

e<strong>in</strong>e etwas weiter ausholende Betrachtung genommen werden: Luhmann legt dar, daß <strong>in</strong><br />

segmentären und stratifizierten Gesellschaften soziale Inklusion bzw. Exklusion über e<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>fache Zugehörigkeitsbestimmung geregelt ist. Denn so wie jedes Individuum quasi automatisch<br />

durch die (meist mit Geburt erworbene) Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>em spezifischen Gesellschafts-<br />

segment, e<strong>in</strong>er Kaste, e<strong>in</strong>em Stand etc. vollständiger Teil des +sozialen Körpers* wird, so fallen<br />

all jene, die nicht auf e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige Zugehörigkeit verweisen können, aus dem sozialen<br />

Zusammenhang weitgehend heraus o<strong>der</strong> werden nur am Rand geduldet (vgl. ebd.; S. 21ff.). 77<br />

An<strong>der</strong>s (differenzierter) stellt sich die Situation <strong>in</strong> <strong>der</strong> funktional differenzierten (d.h. unserer<br />

+mo<strong>der</strong>nen*) Gesellschaft dar. Die Inklusion erfolgt hier nicht vermittelt über e<strong>in</strong>e den sozialen<br />

Status umfassend def<strong>in</strong>ierende Gruppenzugehörigkeit, son<strong>der</strong>n sie wird den nach getrennten<br />

Logiken und Regeln operierenden autonomen Teilsystemen <strong>der</strong> Gesellschaft überlassen (vgl.<br />

ebd.; S. 25ff.). Das aber bedeutet gleichzeitig: Die Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>em sozialen Teilsystem<br />

führt nicht notwendig zur Aufnahme <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e Teilsysteme (so folgt etwa aus dem Staats-<br />

bürgerstatus ke<strong>in</strong>e bestimmte Religionszugehörigkeit, und aus <strong>der</strong> Berufsposition können ke<strong>in</strong>e


262 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

78<br />

politischen Rechte abgeleitet werden). Was diese +gesplittete* Inklusion so problematisch<br />

macht, ist <strong>der</strong> Umstand, daß umgekehrt <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen Praxis – allerd<strong>in</strong>gs im Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zur eigentlichen Logik funktionaler Differenzierung – <strong>der</strong> Ausschluß aus e<strong>in</strong>em Teilsystem<br />

häufig auch zum Ausschluß aus an<strong>der</strong>en führt (ohne Bildungszertifikate ke<strong>in</strong> Arbeitsplatz;<br />

79<br />

ohne Ausweis ke<strong>in</strong>e Sozialleistungen etc.). Luhmann folgert daraus, daß die Gesellschaft,<br />

so paradox dies kl<strong>in</strong>gen mag, im Exklusionsbereich hoch <strong>in</strong>tegriert ist, während sie ihre soziale<br />

Schließung nach <strong>in</strong>nen durch die nach Funktionsbereichen getrennte, gewissermaßen +dezen-<br />

trierte* Inklusion nicht befriedigend geregelt hat (vgl. ebd.; S. 39ff.).<br />

Der Inklusionsbereich und <strong>der</strong> Exklusionsbereich kommen also nicht mehr unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> Deckung<br />

zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong>: Das System <strong>der</strong> Ausschließung ist (kurz)geschlossen, während die von <strong>der</strong> +Lebens-<br />

welt* auf die Funktionssysteme übertragene Integrationsfunktion mit ihrer +Aufspaltung* gesamt-<br />

80<br />

gesellschaftlich dysfunktional zu werden droht. Daraus könnten leicht ernste Krisen erwachsen,<br />

denn mit <strong>der</strong> Entkopplung von System- und Sozial<strong>in</strong>tegration – so hat Jürgen Habermas den<br />

Wandel <strong>der</strong> Verhältnisse im Inklusionsbereich durch +funktionale Differenzierung* begrifflich<br />

81<br />

gefaßt – eröffnen sich nicht nur Räume für +Lebensstilkämpfe* (vgl. Hörn<strong>in</strong>g/Michailow:<br />

Lebensstil als Vergesellschaftungsform), son<strong>der</strong>n das soziale und politische Gleichgewicht ist<br />

<strong>in</strong>sgesamt gefährdet (vgl. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus).<br />

Das sehen auch konservative Betrachter ganz ähnlich, wenn sie, wie Daniel Bell, versuchen,<br />

+Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus* (1976) zu beschreiben – welche tatsächlich<br />

allerd<strong>in</strong>gs wohl treffen<strong>der</strong> die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche e<strong>in</strong>er post<strong>in</strong>dustriellen (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne<br />

zu nennen wären (vgl. dazu auch Frankel: The Cultural Contradictions of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity).<br />

Doch wie auch immer: Für Bell erklären sich die von ihm ausgemachten Probleme westlicher<br />

Demokratien aus e<strong>in</strong>em Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>fallen jener drei grundlegenden Bereiche, <strong>in</strong> die sich<br />

für ihn Gesellschaft glie<strong>der</strong>t: nämlich die techno-ökonomische Struktur, die politische Ordnung<br />

und die Kultur. Erstere ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>nen* Gesellschaft durch funktionale Rationalität (also<br />

das Effizienz-Pr<strong>in</strong>zip) geprägt, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Präferenz für hierarchische Strukturen äußert.<br />

Im Bereich <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> gilt dagegen (zum<strong>in</strong>dest formal) das <strong>Post</strong>ulat <strong>der</strong> Gleichheit, und Parti-<br />

82<br />

zipation, d.h. e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> Individuen <strong>in</strong> das Geme<strong>in</strong>wesen, wird angestrebt. Was<br />

schließlich die Sphäre <strong>der</strong> Kultur betrifft, so hat sich das bisher dom<strong>in</strong>ante mo<strong>der</strong>nistische<br />

Erneuerungsstreben verbraucht, und es herrscht nur noch e<strong>in</strong> Kult um das maßlos überhöhte<br />

Individuum. (Vgl. Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus; <strong>in</strong>sb. S. 19–23)


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 263<br />

Es ist offensichtlich, daß die Pr<strong>in</strong>zipien, die Bell den e<strong>in</strong>zelnen Bereichen zuordnet, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Spannungsverhältnis zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen. H<strong>in</strong>zu kommt noch, daß <strong>der</strong> Kapitalismus e<strong>in</strong>erseits<br />

im Produktionsbereich e<strong>in</strong> asketisches Arbeitsethos (er)for<strong>der</strong>t, an<strong>der</strong>erseits e<strong>in</strong>en hedonistischen<br />

Konsumismus för<strong>der</strong>n muß, um s<strong>in</strong>e Waren absetzen zu können, was mit <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en<br />

Tendenz <strong>der</strong> Kultursphäre zur Ich-Bezogenheit überlappt (vgl. ebd.; Kap. 1). E<strong>in</strong> Potential<br />

zur Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> sich damit auftuenden Wi<strong>der</strong>sprüche läge laut Bell <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Erneuerung<br />

des Sakralen (vgl. ebd.; Kap. 4) sowie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>bes<strong>in</strong>nung auf die öffentlichen Tugenden<br />

<strong>der</strong> liberalen Tradition (vgl. ebd.; S. 315–320). Die +Selbstbezüglichkeit* <strong>der</strong> (post-)mo<strong>der</strong>-<br />

nistischen Kultur soll also durch +Rückbezüglichkeit* transzendiert werden.<br />

So wenig dieser konservative +Lösungsvorschlag* Bells konsensfähig se<strong>in</strong> dürfte: Auf deskriptiver<br />

und analytischer Ebene kann – trotz unterschiedlicher Formulierungen und Akzentuierungen<br />

– e<strong>in</strong>e erstaunliche Übere<strong>in</strong>stimmung zwischen Bell (+Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>fallen <strong>der</strong> Bereich*), Habermas<br />

(+Entkopplung von System<strong>in</strong>tegration und Sozial<strong>in</strong>tegration*) und Luhmann (+Differenz von<br />

Inklusion und Exklusion*) konstatiert werden. Die analog unterstellte defizitäre bzw. +gelockerte*<br />

Integration fortgeschrittener Gesellschaften wird also auf e<strong>in</strong>e, wie auch immer geartete, struk-<br />

turelle Entkopplung zurückgeführt, und die im Individualisierungsprozeß freigesetzten Individuen<br />

können nicht mehr +produktiv* sozial e<strong>in</strong>gebunden werden.<br />

Was auf <strong>der</strong> Ebene des Nationalstaats übere<strong>in</strong>stimmend als hoch problematisch ersche<strong>in</strong>t,<br />

kann aus <strong>der</strong> +globalisierten* Sicht <strong>der</strong> neueren +cultural theory* positiv o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest ambi-<br />

valent gedeutet werden. Gerade die auch hier gesehene fortschreitende Unverbundenheit<br />

von Ökonomie, <strong>Politik</strong> und Kultur (auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> globalen Austauschprozesse), eröffnet<br />

nämlich Handlungsspielräume für lokale Akteure, und Homogenisierungsprozesse werden<br />

durch e<strong>in</strong>e parallele +Indigenisierung* überformt. Roland Robertson zieht deshalb, wie bereits<br />

dargelegt, den Hybridbegriff +Glocalization* dem Globalisierungsbegriff vor (siehe S. 73), und<br />

Arjun Appadurai bemerkt:<br />

+The new global cultural economy has to be un<strong>der</strong>stood as a complex, overlapp<strong>in</strong>g, disjunctive or<strong>der</strong>,<br />

which cannot any longer be un<strong>der</strong>stood <strong>in</strong> terms of exist<strong>in</strong>g center-periphery models […]* (Disjucture<br />

and Difference <strong>in</strong> the Global Cultural Economy; S. 296)<br />

Appadurai, dessen Ansatz <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Debatte wachsende Bedeutung zukommt, schlägt<br />

entsprechend e<strong>in</strong>en neuen Analyse-Rahmen für die Betrachtung globaler (kultureller) Beziehungen


264 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

vor. Dieser Rahmen wird durch fünf Dimensionen abgesteckt: +Ethnoscapes* (also die bewegte<br />

und global vernetzte +Landschaft* <strong>der</strong> Personen), +Technoscapes* (d.h. die immer schneller<br />

sich ausbreitende technologische Struktur), +F<strong>in</strong>ancescapes* (d.h. die deterritorialisierten Flüsse<br />

des globalen Kapitals), +Mediascapes* (d.h. audio-visuelle Medien und ihre Bild-Inhalte) sowie<br />

+Ideoscapes* (d.h. die globale Landschaft <strong>der</strong> Ideen und Ideologien). Alle diese Dimensionen<br />

des globalen Feldes haben sich – obwohl sie natürlich zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> Beziehung stehen –<br />

zu e<strong>in</strong>em hohen Grad verselbständigt. (Vgl. ebd.; S. 296–303)<br />

Aber was bedeutet das für die politische Sphäre? – Auch Appadurai sieht hier Spannungen<br />

entstehen. Werte wie +Selbstverwirklichung* und +Demokratie* haben sich (obwohl sie natürlich<br />

jeweils an die lokalen Verhältnisse +angepaßt* werden) global verbreitet und treffen auf konkur-<br />

83<br />

rierende lokale Vorstellungswelten. Dies manifestiert sich e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> Separatismus, politischen<br />

Unruhen und Flüchtl<strong>in</strong>gsbewegungen etc. An<strong>der</strong>erseits tun sich durch die Unverbundenheit<br />

<strong>der</strong> globalen Flüsse Lücken auf, die für progressive transnationale Allianzen genutzt werden<br />

können und die die <strong>in</strong>dividuellen Horizonte erweitern (vgl. ebd.; S. 308). Beides kulm<strong>in</strong>iert<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neuen kulturell-politischen Herausfor<strong>der</strong>ung für den Nationalstaat (vgl. auch ebd.;<br />

84<br />

S. 303ff.). Appadurai zeigt also <strong>in</strong>direkt auf, wie stattf<strong>in</strong>dende Individualisierungsprozesse<br />

und das oben herausgestellte Integrationsdefizit <strong>der</strong> funktional dividierten Nationalstaatsgesell-<br />

85<br />

schaft durch e<strong>in</strong>e globalisierte funktionale Differenzierung zusätzlich verstärkt werden. Es<br />

entstehen so zwar neue (nationale wie transnationale) Räume für subpolitische Aktivitäten,<br />

doch für die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> zeigt sich immer mehr e<strong>in</strong> Dilemma: Die ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>drif-<br />

tenden, autonomisierten Funktionsbereiche wie die <strong>in</strong>dividualisierte politische +Masse* können<br />

immer schwieriger im begrenzten, zu eng gewordenen staatlichen +Conta<strong>in</strong>er* (politisch) zusam-<br />

mengehalten, koord<strong>in</strong>iert und kontrolliert werden.<br />

Wor<strong>in</strong> besteht also, um es nach diesem theoretischen Exkurs nochmals auf den Punkt zu<br />

br<strong>in</strong>gen, <strong>der</strong> Kern des politischen Dilemmas <strong>der</strong> Individualisierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> +funktional diffe-<br />

86<br />

renzierten Gesellschaft*? – Je komplexer <strong>der</strong> soziale Zusammenhang wird, je differenzierter<br />

sich Gesellschaft darstellt und je größer die <strong>in</strong>dividuellen Möglichkeitsräume (sowohl durch<br />

soziale Differenzierung selbst wie durch e<strong>in</strong>e Erhöhung des allgeme<strong>in</strong>en +Wohlstandssockels*)<br />

werden, desto mehr hat sich <strong>Politik</strong> mit <strong>der</strong> Problematik <strong>der</strong> Differenz ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen.<br />

Es wird nämlich unter den Bed<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>genten Sozialordnung (wie ich die +multi-<br />

87<br />

optionale* <strong>in</strong>dividualisierte Gesellschaft <strong>der</strong> Gegenwart umschreiben möchte) fast unmöglich,


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 265<br />

die Reaktionen des politischen Publikums zu berechnen und politische E<strong>in</strong>heit durch den<br />

88<br />

Bezug auf geme<strong>in</strong>same +Codes* herzustellen. Genauso wie die sozialen Bereiche ause<strong>in</strong>-<br />

an<strong>der</strong>fallen – was <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> die (translatorische) Deflexion von reflexiven Impulsen auf <strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>e Seite natürlich erleichtert –, fragmentisieren und fraktalisieren sich die Bereiche <strong>in</strong>tern<br />

– was (rituell-<strong>in</strong>tegrative) Deflexion allerd<strong>in</strong>gs verkompliziert: Soziale Differenzierung und<br />

die Diffusion <strong>der</strong> Kultursphäre machen die Lebenswelten undurchsichtig, und <strong>in</strong> dieser Undurch-<br />

sichtigkeit entziehen sie sich immer mehr <strong>der</strong> Kolonialisierung durch das (politische) System,<br />

aber auch die praxologische E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung durch legitimitäts- und e<strong>in</strong>heitsstiftende politische<br />

Verfahren wie Wahlen wird durch Fragmentisierungsprozesse erschwert (die sogar auf die<br />

subjektiven Identitäten übergreifen). 89<br />

E<strong>in</strong>en (temporären) Ausweg aus diesem Dilemma stellt(e) das Mittel <strong>der</strong> ästhetisch-symbolischen<br />

Integration dar. Wenn man davon ausgeht, daß <strong>der</strong> formal-ästhetische Aspekt <strong>in</strong> <strong>der</strong> (post-)mo-<br />

<strong>der</strong>nen Kultur e<strong>in</strong>e Aufwertung erfahren hat, dann ist es naheliegend, zum Zweck <strong>der</strong> Herstellung<br />

von sozialer und politischer E<strong>in</strong>heit auf die Bil<strong>der</strong>welt <strong>der</strong> Medienlandschaft (Mediascapes)<br />

zu bauen, anstatt auf politische Ideenwelten (Ideoscapes) mit nachlassen<strong>der</strong> gesellschaftlicher<br />

90<br />

+Durchdr<strong>in</strong>gung* zu rekurrieren. Doch diese potentiell <strong>in</strong> Entpolitisierung endende Ästhetisierung<br />

und Kulturalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, die umgekehrt allerd<strong>in</strong>gs die Kultursphäre (und ihre Inhalte)<br />

immer mehr zu e<strong>in</strong>er politischen Kampfszene macht (vgl. auch Münch: Dialektik <strong>der</strong> Kommuni-<br />

kationsgesellschaft; S. 265f. u. S. 302f.), ergibt nur so lange S<strong>in</strong>n, wie e<strong>in</strong> Reservoir an geme<strong>in</strong>-<br />

samen Bil<strong>der</strong>welten existiert und politische Inszenierungen auf e<strong>in</strong> Massenpublikum hoffen<br />

können. Die fortschreitende ästhetische Differenzierung (auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> schon oben<br />

herausgestellten Pluralisierung <strong>der</strong> Lebensstile und -welten) und die parallele Aufsplitterung<br />

<strong>der</strong> Medienlandschaft selbst versperrt immer mehr auch diese Möglichkeit für die <strong>Politik</strong> (worauf<br />

bereits im vorangegangenen Abschnitt h<strong>in</strong>gewiesen wurde).<br />

Wenn nun auch noch (durch die <strong>in</strong> Abschnitt 3.1. dargelegten Wi<strong>der</strong>sprüche des nationalen<br />

Wohlfahrtsstaates) die ökonomische Basis für den ausgelösten Individualisierungsprozeß weg-<br />

bricht, +postmaterialistische* Werteorientierungen aber gleichzeitig schon so weit ausgebreitet<br />

s<strong>in</strong>d, daß sie nicht e<strong>in</strong>fach dadurch <strong>in</strong> sich zusammenfallen, so besteht e<strong>in</strong>e doppelte Gefahr<br />

für die (<strong>in</strong>stitutionalisierte) <strong>Politik</strong>: E<strong>in</strong>erseits drohen durch die ausgelöste +Frustration* (wie<br />

schon oben unter Verweis auf Abschnitt 2.5 und die dort referierten empirischen Befunde<br />

angesprochen) e<strong>in</strong>e auf breiter Ebene stattf<strong>in</strong>dende apathische Abwendung vom +System*


266 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

wie (allerd<strong>in</strong>gs eher diffuse) anomische, aggressive Reaktionen. Daneben besteht aber me<strong>in</strong>es<br />

Erachtens auch die Möglichkeit, daß sich die Individuen verstärkt subpolitisch mobilisieren<br />

– gerade als Gegenreaktion auf die ökonomische E<strong>in</strong>schränkung <strong>der</strong> lieb gewonnenen Individu-<br />

alisierungsfreiräume sowie ausgelöst durch die <strong>in</strong> Kapitel 2 dargestellten Transformationsprozesse 91<br />

und <strong>in</strong> die <strong>in</strong> den vorangegangen Abschnitten herausgearbeitete Ambivalenz <strong>der</strong> politischen<br />

Deflexionsversuche.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs dürfte voraussichtlich nur e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit auf letztere Weise reagieren, denn<br />

bei diesen +Verstärkt-Mobilisierten* muß sich e<strong>in</strong> hohes Bewußtse<strong>in</strong> für die Problematik <strong>der</strong><br />

eigenen Lage und die +Reflexivität* des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses mit e<strong>in</strong>er tief verankerten<br />

+neuen Sozialmoral* verb<strong>in</strong>den, so daß tatsächlich Handlungsimpulse freigesetzt werden.<br />

Beides zugleich kann aber alle<strong>in</strong>e aufgrund <strong>der</strong> Tatsache <strong>der</strong> immer noch ger<strong>in</strong>gen Verbreitung<br />

von postmateriellen Werten nur auf sehr wenige zutreffen (siehe nochmals S. 193f.). Die<br />

Lücke, die sich im <strong>in</strong>stitutionellen System auftut, kann deshalb wahrsche<strong>in</strong>lich nicht subpolitisch<br />

aufgefüllt werden (das wäre nur vorstellbar, wenn die materielle Basis des Individualisierungs-<br />

prozesses wie<strong>der</strong> gestärkt würde, was e<strong>in</strong>erseits zwar e<strong>in</strong>e ökonomische Re<strong>in</strong>tegration <strong>der</strong><br />

Individuen zur Folge hätte, an<strong>der</strong>erseits aber genau mit dem dadurch beför<strong>der</strong>ten Wertewandel<br />

92<br />

die politische Herausfor<strong>der</strong>ung für die etablierte <strong>Politik</strong> möglicherweise erhöhte). Doch mit<br />

Subpolitik und ihrer Ambivalenz werde ich mich e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> erst an späterer Stelle beschäftigen<br />

(siehe Abschnitt 5.2). Im folgenden sollen die <strong>in</strong> diesem Kapitel eher anhand theoretischer<br />

Erörterungen dargelegten Dilemmata <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> durch die Analyse des von<br />

mir gewählten Fallbeispiels +BSE* plastisch veranschaulicht werden. Deshalb hier nochmals<br />

e<strong>in</strong> kurzes Resümee:<br />

• In Abschnitt 3.1 wurde das ökonomische Dilemma des nationalen Wohlfahrtsstaates be-<br />

schrieben, das sich aus Globalisierungs- und Tertiärisierungsprozessen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft ergibt<br />

(die <strong>in</strong> Abschnitt 2.1 deskriptiv dargestellt wurden). Mit <strong>der</strong> globalen Freizügigkeit und +Flüssig-<br />

keit* kann immer weniger Kapital vom Staat zur Umverteilung abgeschöpft werden, und immer<br />

weniger Menschen können durch die zunehmende +tertiäre* Rationalisierung <strong>in</strong> den Arbeitsmarkt<br />

<strong>in</strong>tegriert werden. Die <strong>Politik</strong> reagiert auf diese Bedrohung(en) mit e<strong>in</strong>er +nationalen Strategie*,<br />

welche die Probleme <strong>in</strong>sgesamt gesehen jedoch eher erhöht als m<strong>in</strong><strong>der</strong>t, da sich die Staaten<br />

im Wettstreit untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gegenseitig unterbieten und so von <strong>der</strong> Kapitalseite (global betrachtet)


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 267<br />

immer weniger Transfer an die Gesellschaft(en) geleistet werden muß. Dieses Dilemma könnte<br />

vielleicht durch e<strong>in</strong>e Expansion, durch e<strong>in</strong>e Transnationalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> beseitigt werden<br />

– was letztlich auch dem Interesse des Kapitals dienlich wäre, dessen entfesselte Dynamik<br />

potentiell nicht nur ökonomische, son<strong>der</strong>n auch ökologische und soziale Krisen heraufbeschwört,<br />

vor <strong>der</strong>en Konsequenzen es nur e<strong>in</strong>e starke <strong>Politik</strong> +schützen* könnte. Doch aufgrund <strong>der</strong><br />

bereits e<strong>in</strong>getretenen Schwächung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die globalisierten Marktprozesse und<br />

aufgrund ihrer system<strong>in</strong>tern herausgebildeten Handlungslogik, die auf nationalstaatlichen<br />

Strukturen aufbaut, werden die Möglichkeiten zu e<strong>in</strong>er transnationalen Regulation von <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> nicht genügend ausgeschöpft (nur im Kontext <strong>der</strong> EU s<strong>in</strong>d ausgeprägtere<br />

Bemühungen <strong>in</strong> diese Richtung zu beobachten).<br />

• In Abschnitt 3.2, <strong>in</strong> dem das <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Dilemma <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im Zentrum stand,<br />

wurde darauf verwiesen, daß grundsätzlich jede Regulation e<strong>in</strong> Risiko be<strong>in</strong>haltet (und man<br />

somit auch die Risikodimension transnationaler Verregelungsprozesse im Auge behalten muß,<br />

was anhand me<strong>in</strong>er fallbezogenen Ausführungen <strong>in</strong> Abschnitt 4.2 noch deutlich werden wird).<br />

Zudem droht mit den <strong>in</strong> Abschnitt 2.2 aufgezeigten Verrechtlichungsprozessen e<strong>in</strong>e Überlastung<br />

und Erstarrung des <strong>in</strong>stitutionellen Systems (das sich gerade durch se<strong>in</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verrechtlichungs-<br />

logik verbleibenden Anpassungsbemühungen Möglichkeiten zum Wandel entzieht). Dadurch<br />

ausgelöst kommt es zu Entfremdungsersche<strong>in</strong>ungen, die wie<strong>der</strong>um dazu führen können, daß<br />

das Legalitätspr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> verrechtlichten <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Legitimitätsentzug für diese endet.<br />

Der Legitimitätsentzug kann auch auf das Rechtssystem übergreifen, das umgekehrt e<strong>in</strong>erseits<br />

immer mehr gezwungen wird, sich politische Sichtweisen und Fragestellungen zu eigen zu<br />

machen, und an<strong>der</strong>erseits auch mit e<strong>in</strong>er lebensweltlichen +Realität* konfrontiert ist, <strong>der</strong> es<br />

+gerecht* werden muß. Die entpolitisierende deflexive Übersetzung von politischen Diskursen<br />

<strong>in</strong> rechtliche ist deshalb sowohl für die <strong>Politik</strong> wie für das Rechtssystem ambivalent.<br />

• In Abschnitt 3.3 (+Das technologisch-wissenschaftliche Dilemma*) wurde <strong>in</strong> Umkehrung<br />

<strong>der</strong> Argumentation Heideggers darauf verwiesen, daß Technik als d<strong>in</strong>ghaftes +Gestell* die<br />

Handlungs- und Denkräume absperrt, die durch e<strong>in</strong>e ver<strong>in</strong>nerlichte <strong>in</strong>strumentelle (technologisch-<br />

wissenschaftliche) Vernunft ohneh<strong>in</strong> schon genügend e<strong>in</strong>geschränkt s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs führt die<br />

+Reflexivität* von Technik zu Gefährdungen, die – wenn sie wahrgenommen werden –<br />

anpassende Reaktionen bewirken. Nur haben diese Reaktionen überwiegend deflexiven<br />

Charakter, <strong>in</strong>dem sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen +Techno-Logik* verbleiben und versuchen, technik-


268 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

erzeugte Probleme wie<strong>der</strong>um technisch zu lösen. Das Dilemma e<strong>in</strong>er <strong>der</strong>artigen technologischen<br />

Deflexion besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> möglichen +Produktion* neuer Risiken. Aber auch <strong>der</strong> sich potentiell<br />

entfaltende reflexive Protest ist nicht e<strong>in</strong>deutig zu beurteilen, da er – wenn er nicht +radikal*<br />

genug ist – nur e<strong>in</strong>e reflexiv-deflexive Risikospirale <strong>in</strong> Gang setzt, d.h. Anpassungen des Systems<br />

<strong>in</strong>itiiert, die die Risikodimension (un<strong>in</strong>tendiert) erhöhen. E<strong>in</strong>e deflexive +Mil<strong>der</strong>ung* <strong>der</strong> Radikalität<br />

von reflexivem Protest gel<strong>in</strong>gt durch die angesprochenen, <strong>in</strong> sich ambivalenten technologischen<br />

+Lösungsversuche*, die den Protest (praxologisch) befrieden können. Und sie gel<strong>in</strong>gt (ideologisch)<br />

durch den Rückgriff auf die (Legitimations-)Ressource Wissenschaft. Allerd<strong>in</strong>gs wird dieser<br />

Rückgriff auf Wissenschaft (wie bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.2 angedeutet wurde) für die <strong>Politik</strong><br />

immer problematischer, denn erstens betreibt Wissenschaft e<strong>in</strong>e Selbstentzauberung durch<br />

die wissenschaftstheoretische H<strong>in</strong>terfragung ihrer Wahrheitsansprüche, und zweitens trägt<br />

<strong>der</strong> deflexive und trivialisierende Gebrauch von Wissenschaft zu ihrer Delegitimierung bei.<br />

Auch kann e<strong>in</strong>e zu stark verwissenschaftlichte <strong>Politik</strong> die durch Verrechtlichungsprozesse<br />

ausgelöste Entfremdung vom Publikum noch verstärken, womit sich das technologisch-<br />

wissenschaftliche Dilemma, ebenso wie die an<strong>der</strong>en dargestellten Dilemmata, als hoch komplex<br />

erweist.<br />

• In Abschnitt 3.4 wurde das Dilemma von Präsentation und Repräsentation, aufbauend auf<br />

den Erörterungen <strong>in</strong> Anschnitt 2.4, dargelegt: Symbolische <strong>Politik</strong> ermöglicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen<br />

Massengesellschaft mit ihrer Massen(medien)öffentlichkeit dramaturgische Deflexion. Der<br />

politische Rückgriff auf +Symbolwelten* ist dabei e<strong>in</strong> fast zwangsläufiger Effekt <strong>der</strong> erfolgten<br />

Komplexitätssteigerung: Inhalte können aufgrund ihrer Komplexität nicht mehr <strong>in</strong>haltlich,<br />

son<strong>der</strong>n nur noch symbolisch dargestellt werden, weshalb die <strong>Politik</strong> (die selbst kaum noch<br />

die komplexe Welt durchschauen kann) weniger +aufklärt*, als (sich) <strong>in</strong>szeniert. Aus Volks-<br />

repräsentanten werden so Darsteller, und <strong>der</strong> politische Gehalt reduziert sich <strong>in</strong>folge <strong>der</strong><br />

(erzwungenen) Anpassung an die Mediensemantik – was allerd<strong>in</strong>gs zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad<br />

durchaus vom beobachtenden Publikum wahrgenommen wird und sich wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong> Entfrem-<br />

dungsersche<strong>in</strong>ungen und Legitimitätsentzug äußern kann. Zudem s<strong>in</strong>d die Medienvertreter<br />

(auf die die <strong>Politik</strong> für ihre Selbstdarstellungen angewiesen ist und die umgekehrt auf die<br />

<strong>Politik</strong> als wichtigen Berichterstattungsgegenstand angewiesen s<strong>in</strong>d) selbst Akteure, die +Realität*<br />

konstruieren, die politische Agenda (mit)bestimmen und manchmal auch – <strong>in</strong>soweit sie auch<br />

Akteure des ökonomischen Systems s<strong>in</strong>d – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Interessengegensatz zur <strong>Politik</strong> geraten.


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 269<br />

Aber selbst wenn man von dieser Problematik e<strong>in</strong>er latent antagonistischen Symbiose absieht:<br />

Mit dem sich abzeichnenden (neuerlichen) Strukturwandel <strong>der</strong> (Medien-)Öffentlichkeit wird<br />

dramaturgische Deflexion für die <strong>Politik</strong> immer schwieriger. Denn die verstärkte Interaktivität<br />

<strong>der</strong> neuen Medien läßt den <strong>in</strong>vasiven und hierarchischen Charakter des Öffentlichkeitssystems,<br />

<strong>der</strong> den politischen Inszenierungen entgegen kam, zurücktreten. Darüber h<strong>in</strong>aus werden<br />

die Medienangebote wie auch die Mediennutzung immer +<strong>in</strong>dividualisierter*. Die diffuse<br />

und fragmentisierte Öffentlichkeit <strong>der</strong> neuen Medienwelten ist damit für die <strong>Politik</strong> immer<br />

schwerer zu kalkulieren, und sie steht vor dem Problem, wie sich die Massen zukünftig erreichen<br />

und manipulieren lassen.<br />

• Im vorangegangenen Abschnitt 3.5 wurde schließlich das eng mit dem Dilemma von Präsen-<br />

tation und Repräsentation <strong>in</strong> Zusammenhang stehende politische Dilemma <strong>der</strong> Individualisierung<br />

herausgearbeitet, das (grob vere<strong>in</strong>facht) dar<strong>in</strong> besteht, daß mit kultureller und sozialstruktureller<br />

Individualisierung politische +E<strong>in</strong>heitsstiftung* immer schwieriger wird und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dann<br />

anomische Reaktionen zu erwarten s<strong>in</strong>d, wenn dem Individualisierungsprozeß die ökonomische<br />

Basis wegbricht.<br />

All die hier kurz zusammengefaßten Dilemmata sollen nun (auch <strong>in</strong> ihren Bezügen untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>)<br />

anhand <strong>der</strong> Betrachtung <strong>der</strong> politischen Bearbeitung <strong>der</strong> BSE-Krise näher veranschaulicht<br />

werden – wobei es aber zu beachten gilt, daß dieses Fallbeispiel sich natürlich nicht zur<br />

Herausarbeitung sämtlicher dilemmatischer Aspekte von <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft<br />

gleichermaßen gut eignet.


4 DER FALL +BSE*: VON UNGLÜCKLICHEN KÜHEN UND EINER<br />

VERUNGLÜCKTEN BINNENMARKTPOLITIK


272 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

4 DER FALL +BSE*: VON UNGLÜCKLICHEN KÜHEN UND EINER<br />

VERUNGLÜCKTEN BINNENMARKTPOLITIK<br />

+Betroffen waren zunächst ansche<strong>in</strong>end nur Milchr<strong>in</strong><strong>der</strong>. Hochbe<strong>in</strong>iger, staksiger Gang fiel auf <strong>der</strong> Weide<br />

auf; manche standen untypisch – wie Pferde – vom Boden auf, an<strong>der</strong>e spielten mit den Ohren wie<br />

beunruhigte Esel, leckten sich fast zwanghaft das Maul o<strong>der</strong> die Flanken, scheuerten den Kopf an Gegen-<br />

ständen o<strong>der</strong> kratzten sich mit den Klauen die H<strong>in</strong>terbe<strong>in</strong>e. Ärgerlich für die Landwirte war, daß manche<br />

übernervösen Kühe sogar bissen o<strong>der</strong> die Melkanlagen demolierten. Und abwechselnd mit ihrer Aggressivität<br />

waren sie plötzlich ängstlich <strong>in</strong> altbekannten Situationen, aber auch gegenüber ihnen bekannten Menschen<br />

[…]* (Köster-Lösche: R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n; S. 11) 1<br />

Der Grund für dieses merkwürdige Verhalten (wie <strong>der</strong> Titel des oben zitierten Buches erahnen<br />

läßt): +R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n*. Doch welche Verrücktheit, welcher Wahn könnte es se<strong>in</strong>, <strong>der</strong> die<br />

e<strong>in</strong>st angeblich so glücklichen Kühe befallen hat? Es muß sich hier jedenfalls um e<strong>in</strong>e seltsame<br />

(Ab-)Art des Wahns<strong>in</strong>ns handeln. Denn <strong>der</strong> Wahns<strong>in</strong>n ist, um mit Foucault zu sprechen, das<br />

An<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Vernunft: Wo dieses An<strong>der</strong>e, dem e<strong>in</strong>mal – <strong>in</strong> +dunkler* Vergangenheit – gar<br />

die Fähigkeit zugesprochen worden war, verborgene Wahrheiten kund zu tun, hervorbrach,<br />

wurde es, als die Vernunft noch nicht so fest wie heute im Sattel saß, e<strong>in</strong>gesperrt, von den<br />

Bildfläche verbannt, da diese den Anblick ihres eigenen Scheiterns, ihres Versagens nicht<br />

ertragen konnte. Später, als man sich <strong>der</strong> eigenen Vernünftigkeit vergewissert hatte, ließ sich<br />

<strong>der</strong> Versuch wagen, mit den Mitteln <strong>der</strong> Vernunft an die +Heilung* des Wahns<strong>in</strong>ns – zum<strong>in</strong>dest<br />

se<strong>in</strong>er +milden* Formen – zu gehen. Die Psychoanalyse ist das beste Beispiel für dieses Bestreben.<br />

Erst wenn dem Patienten <strong>der</strong> (Un-)S<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>es (wahns<strong>in</strong>nigen) Denkens und Tuns bewußt<br />

wird, ergibt sich die Möglichkeit zur erfolgreichen Therapie. Nur wer vernünftig ist, kann<br />

wahns<strong>in</strong>nig werden, und nur wer e<strong>in</strong>en Rest von Vernunft bewahrt hat, kann vom Wahn<br />

geheilt werden. (Vgl. z.B. Wahns<strong>in</strong>n und Gesellschaft sowie Die Ordnung des Diskurses; S.<br />

8ff. und siehe auch hier S. XXXVI)<br />

Da aber e<strong>in</strong>e Kuh (zum<strong>in</strong>dest <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Auffassung nach) nicht vernünftig ist, so kann<br />

sie wohl kaum wahns<strong>in</strong>nig werden. Und e<strong>in</strong>e Heilung ist deshalb beim R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n, <strong>der</strong>


KAP. 4: DER FALL +BSE* 273<br />

nach dem Auftreten <strong>der</strong> ersten Symptome meist schon nach zwei bis drei Monaten zum<br />

2<br />

Verenden <strong>der</strong> Tiere führt, folglich ebensowenig zu erwarten. Doch das +Heil* <strong>der</strong> Kühe liegt<br />

ohneh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zig <strong>in</strong> ihrem Dienst an <strong>der</strong> Menschheit. Zuletzt +opfern* sie sich dann auf <strong>der</strong><br />

Schlachtbank. Der aktuelle Wahn <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong> besteht dar<strong>in</strong>, sich ihrer (vernünftigen) Verwertung<br />

durch Krankheit zu entziehen (da ihr Fleisch durch den im +Volksmund* und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Presse<br />

so bezeichneten +R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n* unbrauchbar ersche<strong>in</strong>t). Und für diesen Wahn bezahlen<br />

sie mit ihrem nunmehr völlig +nutzlosen* Tod, ihrer prophylaktischen +Notschlachtung*. Das<br />

ist <strong>der</strong> Wahns<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Gesellschaft, die sich von <strong>der</strong> Vernunft durch ihre Vernünftigkeit<br />

verabschiedet hat.<br />

Der R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n o<strong>der</strong> die +Mad Cow Disease* (denn es ist e<strong>in</strong>e Krankheit, die bisher<br />

e<strong>in</strong>e merkwürdige +Vorliebe* für britisches R<strong>in</strong>d zeigte) hat auch e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen<br />

Namen: +BSE* o<strong>der</strong> +Bov<strong>in</strong>e Spongiforme Enzephalopathie* – e<strong>in</strong>e +schwammartige* Dege-<br />

neration des Hirns beim R<strong>in</strong>d. BSE ist aber ebenso die Geschichte und das Kürzel für e<strong>in</strong><br />

Scheitern <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>: British (Policy) Self Execution. Beide +Geschichten* (die wissenschaftliche<br />

und die politische) sollen im folgenden erzählt werden. Die wissenschaftliche Geschichte<br />

bildet dabei den theoretischen H<strong>in</strong>tergrund, <strong>der</strong> <strong>in</strong> diesem Fall aber ganz em<strong>in</strong>ente praktische<br />

Relevanz hat (wie noch deutlich werden wird). Die zweite, die politische, ist e<strong>in</strong> stellvertretendes<br />

Beispiel für die im vorangegangenen Kapitel herausgearbeiteten Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> +klassischen*<br />

<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> +globalen Risikogesellschaft* (Beck), die mittels des hier ausgebreiteten Fallbeispiels<br />

veranschaulicht und konkret gemacht werden sollen. Doch zunächst zur (kurzen) Geschichte<br />

<strong>der</strong> Ereignisse: 3<br />

Der erste Fall e<strong>in</strong>er seltsamen, bisher unbekannten R<strong>in</strong><strong>der</strong>-Krankheit, die <strong>in</strong> ihrer Symptomatik<br />

und im Verlauf <strong>der</strong> Schaf-Seuche Scrapie glich (auch das e<strong>in</strong>e spongiforme Enzephalopathie,<br />

welche <strong>in</strong> Großbritannien seit Anfang des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts bekannt ist) wurde dem britischen<br />

4<br />

Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isterium (MAFF) vermutlich bereits im Jahr 1983 gemeldet. Das M<strong>in</strong>isterium<br />

reagierte jedoch auf diese (und eventuelle weitere) Anzeigen alle<strong>in</strong>e mit (Ver-)Schweigen.<br />

Als bei e<strong>in</strong>em Farmer aus Kent (Südengland) im Jahr 1986 gleich mehrere Tiere an <strong>der</strong><br />

mysteriösen Krankheit starben und e<strong>in</strong>e tierärztliche Obduktion vorgenommen wurde, ließ<br />

sich die Sache jedoch nur noch schwerlich geheim halten. Schnell wurden immer mehr ähnlich<br />

gelagerte Fälle bekannt. Ende 1987 veröffentlichten dann schließlich Mitarbeiter des MAFF


274 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

40000<br />

35000<br />

30000<br />

25000<br />

20000<br />

15000<br />

10000<br />

5000<br />

0<br />

17<br />

486<br />

2184<br />

7137<br />

14181<br />

28032<br />

36682<br />

34370<br />

23944<br />

14300<br />

1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996<br />

Abbildung 8: Offiziell gemeldete BSE-Fälle <strong>in</strong> Großbritannien bis Ende 1996 (Quelle: MAFF)<br />

e<strong>in</strong> (eher kurzgefaßtes) Papier, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e neue Form spongiformer Enzephalopathie beim<br />

R<strong>in</strong>d beschrieben wurde: BSE (vgl. Wells et al.: A Novel Progressive Spongiform Encephalopathy<br />

<strong>in</strong> Cattle). 5<br />

Der Leiter <strong>der</strong> vom M<strong>in</strong>isterium im folgenden geschaffenen BSE-Arbeitsgruppe, Richard<br />

Southwood, beeilte sich – noch bevor irgendwelche näheren Erkenntnisse vorlagen – gegenüber<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit zu verkünden, daß BSE (wie Scrapie) für Menschen ungefährlich sei, solange<br />

diese ke<strong>in</strong> Fleisch von bereits erkrankten Tieren äßen (welches selbstverständlich aus dem<br />

Verkehr gezogen würde). Zugleich mit dieser Beschwichtigungsstrategie leitete man erste<br />

Gegenmaßnahmen e<strong>in</strong>: Da man vermutete, daß Scrapie durch Tiermehl auf die R<strong>in</strong><strong>der</strong> über-<br />

6<br />

tragen worden war, das man v.a. zur Erhöhung <strong>der</strong> Milchleistung unter das Kraftfutter mischte,<br />

wurde im Juli 1988 jede weitere Verfütterung von Tiermehl an die (ohneh<strong>in</strong> ja eigentlich<br />

7<br />

+vegetarisch* lebenden) R<strong>in</strong><strong>der</strong> untersagt. Zudem führte man e<strong>in</strong>e Meldepflicht für BSE e<strong>in</strong>.<br />

Erkrankte Tiere wurden geschlachtet und ihre Körper +vernichtet*. 1989 verbot man schließlich<br />

generell die Verwertung von R<strong>in</strong><strong>der</strong>-Hirn, -Rückenmark, -Tonsillen, -Thymus, -Milz sowie<br />

8<br />

des Darmtrakts (die man als beson<strong>der</strong>s +<strong>in</strong>fektiös* erachtete), und e<strong>in</strong>e m<strong>in</strong>isterienübergreifende<br />

wissenschaftliche Beratungs- und Untersuchungskommission für BSE wurde geschaffen: das<br />

+Spongiform Encephalopathy Advisory Committee* (SEAC).<br />

8016


KAP. 4: DER FALL +BSE* 275<br />

Die erwähnten Verkaufse<strong>in</strong>schränkungen galten aber nur für das Inland und nicht für den<br />

Export. Die Bundesrepublik reagierte deshalb im Mai 1989 mit e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>fuhrsperre für Tiermehl<br />

9<br />

aus Großbritannien. Im Juli 1989 (also genau e<strong>in</strong> Jahr nach den ersten Schritten <strong>der</strong> britischen<br />

Regierung) beschloß dann die Europäische Kommission e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fuhrstopp für R<strong>in</strong><strong>der</strong> aus<br />

Großbritannen, die bis dah<strong>in</strong> älter als e<strong>in</strong> Jahr waren (was offensichtlich die sofortige Wirksamkeit<br />

<strong>der</strong> Anti-BSE-Maßnahmen unterstellte). Im Februar 1990 wurde dieses Import-Verbot verschärft.<br />

Man gestattete nunmehr lediglich die E<strong>in</strong>fuhr von Kälbern unter sechs Monaten aus +BSE-freien* 10<br />

Beständen (wenngleich nicht ganz klar ersche<strong>in</strong>t, welche Bedrohung lebende Tiere selbst<br />

11<br />

für den fleischverzehrenden EG-Bürger darstellten). Im folgenden Monat wurde auch e<strong>in</strong>e<br />

12<br />

EG-weite Meldepflicht für BSE e<strong>in</strong>geführt. Was schließlich den zentralen Punkt des Handels<br />

mit Fleisch betrifft, so durfte ab Juni 1990 +nur noch* Ware aus seit m<strong>in</strong>destens zwei Jahren<br />

BSE-freien Betrieben une<strong>in</strong>geschränkt <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e EG-Staaten exportiert werden. 13<br />

Diese (sehr begrenzte) Export- bzw. Importsperre für britisches R<strong>in</strong>dfleisch korreliert zeitlich<br />

mit <strong>der</strong> ersten Welle größerer, auch <strong>in</strong>ternationaler Medienaufmerksamkeit: Aufgrund von<br />

Tierversuchen (siehe unten) machten sich Spekulationen breit, daß BSE doch durch Fleischverzehr<br />

auf den Menschen übertragen werden könne. Die offiziellen Stellen betonten aber nach wie<br />

vor, daß diese Angst unbegründet sei. Im Dezember 1994 lockerte die Europäische Kommission<br />

sogar (entgegen vor allem deutschem Wi<strong>der</strong>stand) die E<strong>in</strong>fuhrbeschränkungen für R<strong>in</strong>dfleisch<br />

aus Großbritannien, und zwar mit dem H<strong>in</strong>weis darauf, daß schließlich bereits seit 1988 dort<br />

ke<strong>in</strong>e Tiermehle mehr verfüttert würden. Zu diesem Zeitpunkt waren die BSE-Fallzahlen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Tat schon im Abs<strong>in</strong>ken begriffen (siehe Abb. 8), und wenn man e<strong>in</strong>e Aufschlüsselung<br />

nach Geburtskohorten vornimmt, zeigt sich, daß beim Geburtsjahrgang 1988/89 (also den<br />

nach dem Fütterungsverbot geborenen Tieren) e<strong>in</strong> starker Rückgang gegenüber dem Peak<br />

beim Jahrgang davor zu verzeichnen war (siehe Abb. 9). 14<br />

Doch 1994/95 erfolgte e<strong>in</strong>e neue breite Berichterstattungswelle <strong>in</strong> den Medien, nachdem<br />

e<strong>in</strong> gehäuftes Auftreten <strong>der</strong> Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK) – wie Kuru o<strong>der</strong> die letale familiäre<br />

Insomnie (LFI) e<strong>in</strong>e Form <strong>der</strong> spongiformen Enzephalopathie beim Menschen (siehe Tab.<br />

15 16<br />

12) – unter britischen Farmern immer wahrsche<strong>in</strong>licher schien. Auch fand man heraus,<br />

daß e<strong>in</strong>e Reihe <strong>der</strong> CJK-Fälle aus <strong>der</strong> jüngeren Vergangenheit sich nicht mit dem klassischen<br />

Bild deckte, son<strong>der</strong>n im Hirnbefund eher BSE glich (vgl. Will et al.: A New Variant of Creutzfeldt-<br />

17<br />

Jakob Disease <strong>in</strong> the United K<strong>in</strong>gdom). Dies veranlaßte (auf Anraten des SEAC) am 20. März


276 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

40000<br />

35000<br />

30000<br />

25000<br />

20000<br />

15000<br />

10000<br />

5000<br />

0<br />

1 0 0 4 11 14 61 127 384<br />

1968<br />

73/74 74/75 75/76 76/77 77/78 78/79 79/80 80/81 81/82 82/83 83/84 84/85 85/86 86/87 87/88 88/89 89/90 90/91 91/92<br />

Abbildung 9: BSE-Fälle <strong>in</strong> Großbritannien bis Ende 1994, aufgeschlüsselt nach Geburtskohorten<br />

(Quelle: Wilesmith: Recent Observations on the Epidemiology of Bov<strong>in</strong>e Spongiform<br />

Encephalopathy; Tab. 4.1, S. 46)<br />

1996 die britische Regierung – namentlich Gesundheitsm<strong>in</strong>ister Dorrell und Landwirtsschaftsm<strong>in</strong>i-<br />

ster Hogg – entgegen den bisherigen Beteuerungen zu verlautbaren, daß man nicht ausschließen<br />

könne, daß BSE auf den Menschen übertragbar sei. Daraufh<strong>in</strong> wurde von <strong>der</strong> EU endlich<br />

e<strong>in</strong> totales Importverbot für britische R<strong>in</strong><strong>der</strong> und britisches R<strong>in</strong>dfleisch sowie r<strong>in</strong><strong>der</strong>gewebshaltige<br />

Produkte (wie z.B. bestimmte Arzneimittel und Kosmetika) erlassen. Und natürlich löste das<br />

5218<br />

8199<br />

12280<br />

22391<br />

36471<br />

britische +E<strong>in</strong>geständnis* auch e<strong>in</strong>e neue Welle <strong>der</strong> +Medienhysterie* aus.<br />

Soweit vorerst zur Abfolge <strong>der</strong> Ereignisse. Es sche<strong>in</strong>t aber schon jetzt offensichtlich, daß die<br />

entfaltete öffentliche Dynamik von e<strong>in</strong>er theoretischen Annahme wesentlich angefacht wurde:<br />

daß es sich bei BSE um e<strong>in</strong>e (auf den Menschen) übertragbare <strong>in</strong>fektiöse Krankheit handelt.<br />

Diese Annahme ist nicht unbegründet. Im Fall von Scrapie ist die Möglichkeit e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen<br />

18<br />

+horizontalen* Übertragung sogar schon seit den 30er und 40er Jahren gut dokumentiert.<br />

So hatte beispielsweise 1935 die Impfung von Schafen mit e<strong>in</strong>em Scrapie-verseuchten Vakz<strong>in</strong><br />

gegen e<strong>in</strong>e Viruserkrankung zur Infektion e<strong>in</strong>er Vielzahl von Tieren geführt, und auch experimen-<br />

tell gelang die Übertragung von Scrapie durch subkutane Injektion (vgl. Gordon: Advances<br />

<strong>in</strong> Veter<strong>in</strong>ary Research). In den 60er Jahren zeigten schließlich Versuche, daß Schimpansen<br />

12712<br />

5593<br />

695<br />

21


KAP. 4: DER FALL +BSE* 277<br />

Kuru-ähnliche Symptome entwickeln, wenn man ihnen Hirn-Material von erkrankten Personen<br />

direkt <strong>in</strong>trazerebral verabreicht (vgl. Gajdusek et al.: Experimental Transmission of a Kuru-Like<br />

Syndrome to Chimpanzees). Seitdem haben e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Studien erbracht, daß praktisch<br />

alle bisher bekannten spongiformen Enzephalopathien – selbst jene, die angeblich genetischen<br />

Ursprungs s<strong>in</strong>d, wie z.B. das GSS-Syndrom (siehe nochmals Tab. 12) – sich nicht nur <strong>in</strong>nerhalb<br />

e<strong>in</strong>er Spezies, son<strong>der</strong>n (allerd<strong>in</strong>gs nur begrenzt und manchmal unter Schwierigkeiten) auch<br />

19<br />

von e<strong>in</strong>er Spezies auf die an<strong>der</strong>e übertragen lassen. Von den Medien aufgeregt zitierte Unter-<br />

suchungen, die e<strong>in</strong>e Übertragbarkeit von BSE auf Mäuse zeigten (vgl. Fraser et al.: Transmission<br />

20<br />

of Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy to Mice), mußten deshalb kaum verwun<strong>der</strong>n. Es gibt<br />

bis jetzt allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>en +Beweis* dafür, daß BSE auch für den Menschen gefährlich ist –<br />

wenngleich e<strong>in</strong> gewisses Risiko selbst nach (strengen) +wissenschaftlichen Maßstäben* durchaus<br />

plausibel ersche<strong>in</strong>t (vgl. z.B. Johnson: Real and Theoretical Threats to Human Health Posed<br />

by the Epidemic of Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy).<br />

Daß spongiforme Enzephalopathien grundsätzlich <strong>in</strong>fektiös s<strong>in</strong>d und damit e<strong>in</strong>e zum<strong>in</strong>dest<br />

potentielle Gefährdung des Menschen durch BSE gegeben ist, sche<strong>in</strong>t also nach allen bisher<br />

21<br />

vorliegenden Erkenntnissen durchaus wahrsche<strong>in</strong>lich zu se<strong>in</strong>. Doch was könnte <strong>der</strong> Erreger<br />

dieser Infektion bzw. <strong>der</strong> eigentliche Auslöser <strong>der</strong> Erkrankung se<strong>in</strong>? Dies ist e<strong>in</strong>e zentrale<br />

Frage vor allem, wenn es um die E<strong>in</strong>schätzung des +tatsächlichen* Gefährdungspotentials<br />

und um die Beurteilung <strong>der</strong> Wirksamkeit <strong>der</strong> getroffenen Gegenmaßnahmen geht (von e<strong>in</strong>er<br />

Therapie e<strong>in</strong>mal ganz abgesehen). Da wir uns aber gegenwärtig noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Phase +<strong>in</strong>ter-<br />

pretativer Flexibilität* bef<strong>in</strong>den (siehe zu diesem Begriff S. 129), gibt es <strong>der</strong>zeit, auch wenn<br />

sich e<strong>in</strong>e Schließung <strong>der</strong> Debatte abzuzeichnen sche<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong>e Reihe konkurrieren<strong>der</strong> Theorien:<br />

die (konservative) Virus-Theorie, die (+herausfor<strong>der</strong>nde*, aber im wissenschaftlichen Diskurs<br />

immer mächtiger gewordene) Prionentheorie und die (Außenseiter-)Theorie e<strong>in</strong>er Organo-<br />

phosphat-Vergiftung als Auslöser für die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Prionentheorie postulierte pathogene Konformation<br />

des Prion-Prote<strong>in</strong>s.<br />

• Die konservative Theorie: E<strong>in</strong> Virus als Erreger. Lange Zeit g<strong>in</strong>g man davon aus, daß<br />

es sich bei den (übertragbaren) spongiformen Enzephalopathien um Viruserkrankungen handeln<br />

müsse. Schon <strong>in</strong> den 30er Jahren konnten nämlich Versuche mit Mikrofiltern zeigen, daß<br />

es sich bei Scrapie, das am besten untersucht ist, nicht um e<strong>in</strong>e bakterielle Infektion handeln


278 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

kann (was nach dem damaligen Theorie- und Wissensstand die zweite Möglichkeit gebildet<br />

22<br />

hätte). Und wie bei vielen Viren ließ sich die Infektiosität von aufbereitetem Gewebematerial<br />

23<br />

durch Hitzebehandlung und +denaturierende Agenzien* herabsetzen bzw. (je nach Temperatur<br />

und e<strong>in</strong>gesetzter Substanz) völlig beseitigen. Ganz beson<strong>der</strong>s spricht aber für die Virus-Hypothese,<br />

daß es gelungen ist, verschiedene +Erreger-Stämme* über spezifische Unterschiede bezüglich<br />

<strong>der</strong> Inkubationszeit <strong>der</strong> Krankheit, dem Symptombild und dem Hirn-Befund zu identifizieren,<br />

die sogar gelegentlich +Mutationen* aufwiesen, d.h. es traten unvermittelte Än<strong>der</strong>ungen dieser<br />

24<br />

Parameter auf – und dies auch, wenn +cloniertes* (d.h. mit Sicherheit unvermischtes) Material<br />

verwendet wurde. (Vgl. Rohwer: The Scrapie Agent – A Virus by Any Other Name sowie Bruce/-<br />

Fraser: Scrapie Stra<strong>in</strong> Variation and Its Implications)<br />

Es gibt aber e<strong>in</strong> großes Problem <strong>der</strong> Virustheorie: Es ließ sich – auch mit mo<strong>der</strong>nsten Verfahren<br />

– bisher ke<strong>in</strong> <strong>in</strong> Frage kommendes Virus o<strong>der</strong> Viroid (so die Bezeichnung für sehr kle<strong>in</strong>e Viren)<br />

auff<strong>in</strong>den. Das veranlaßte e<strong>in</strong>ige Forscher <strong>in</strong> Erwägung zu ziehen, daß man es vielleicht mit<br />

e<strong>in</strong>er unkonventionellen neuen, noch kle<strong>in</strong>eren (und deshalb extrem schwer zu identifizierenden)<br />

Form von Viren (sog. Vir<strong>in</strong>os) zu tun haben könnte, die noch nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e eigene Hülle<br />

besitzen (vgl. Dick<strong>in</strong>son/Outram: Genetic Aspects of Unconventional Virus Infections – The<br />

Basis of the Vir<strong>in</strong>o Hypothesis). Der Arbeitsgruppe um He<strong>in</strong>o Dir<strong>in</strong>ger vom Robert-Koch-Institut<br />

(Berl<strong>in</strong>) ist es mittlerweile gelungen, tatsächlich solche Virus-ähnlichen Partikel <strong>in</strong> befallenem<br />

Gewebe elektronenmikroskopisch aufzuspüren, die <strong>in</strong> +gesunden* Proben nicht gefunden<br />

wurden (vgl. Dir<strong>in</strong>ger/Özel: Übertragbare spongiforme Enzephalopathien), und auch <strong>der</strong> britische<br />

Wissenschaftler Harash Narang me<strong>in</strong>t diesbezüglich fündig geworden zu se<strong>in</strong> (vgl. Evidence<br />

25<br />

that Homologous ssDNA Is Present <strong>in</strong> Scrapie, CJD, and BSE). E<strong>in</strong> letztendlicher +Beweis*<br />

für die Virus- bzw. die Vir<strong>in</strong>o-Hypothese (sofern man gewillt ist, naturwissenschaftlich-technische<br />

Maßstäbe anzulegen) s<strong>in</strong>d diese Ergebnisse aber ke<strong>in</strong>eswegs – auch wenn damit, sowie aufgrund<br />

e<strong>in</strong>iger an<strong>der</strong>er neuerer Untersuchungen (siehe S. 280), e<strong>in</strong> konservatives +roll-back* nicht<br />

mehr ausgeschlossen sche<strong>in</strong>t.<br />

• Die (gelungene?) Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Orthodoxie: Prus<strong>in</strong>er und die Prionentheorie.<br />

Es ist e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Paradigmen <strong>in</strong> Biologie und Mediz<strong>in</strong>, daß nur über genetische Information<br />

(also DNS o<strong>der</strong> RNS) verfügende Krankheitserreger sich selbst reproduzieren und damit <strong>in</strong>fektiöse<br />

Krankheiten auslösen können. Die im wissenschaftlichen Diskurs nach anfänglicher großer


KAP. 4: DER FALL +BSE* 279<br />

Tabelle 12: Humane spongiforme Enzephalopathien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Übersicht<br />

Vermutete Quelle(n): Infektion durch<br />

rituellen Kannibalismus<br />

Typische Symptome: Verlust <strong>der</strong> Bewegungskoord<strong>in</strong>ation,<br />

Demenz<br />

Verbreitung und<br />

Häufigkeit:<br />

Kuru Creutzfeldt-<br />

Jakob-Krankheit<br />

(CJK)<br />

Nur im Hochland<br />

von Papua-Neugu<strong>in</strong>ea;<br />

etwa<br />

2600 bekannte<br />

Fälle<br />

In Anlehnung an Prus<strong>in</strong>er: Prionen-Erkrankungen; S. 46<br />

Spontanes Entstehen,<br />

ererbte<br />

Mutation im PrP-<br />

Gen, Infektion<br />

durch ärztliche<br />

Behandlung<br />

Verlust <strong>der</strong> Bewegungskoord<strong>in</strong>ation,<br />

Demenz<br />

Weltweit; ca. 1<br />

Fall auf 1 Mio.<br />

E<strong>in</strong>wohner (davon<br />

ca. 10 bis 15 Prozent<br />

erblich bed<strong>in</strong>gt;<br />

nur ca. 100<br />

bekannte Fälle<br />

durch Infektion)<br />

Gerstmann-<br />

Sträussler-<br />

Sche<strong>in</strong>ker-Syndrom<br />

(GSS)<br />

Ererbte Mutation<br />

im PrP-Gen<br />

Verlust <strong>der</strong> Bewegungskoord<strong>in</strong>ation,<br />

Demenz<br />

Weltweit ca. 50<br />

betroffene Verwandtschaftskreise<br />

bekannt<br />

Letale familiäre<br />

Insomnie (LFI)<br />

Ererbte Mutation<br />

im PrP-Gen<br />

Schlaflosigkeit,<br />

Verlust <strong>der</strong> Bewegungskoord<strong>in</strong>ation,<br />

Demenz<br />

Weltweit nur 9<br />

betroffene Verwandtschaftskreise<br />

bekannt<br />

Skepsis heute dom<strong>in</strong>ierende Prionen-Theorie von Stanley Prus<strong>in</strong>er – die allerd<strong>in</strong>gs (von Prus<strong>in</strong>er<br />

zumeist unterschlagen) <strong>in</strong> ihren wesentlichen Grundgedanken auf Überlegungen von J. S.<br />

26<br />

Griffith zurückgreift (vgl. Self-Replication and Scrapie) – bricht mit diesem Paradigma. Stark<br />

vere<strong>in</strong>facht dargestellt beruht diese Theorie zur Erklärung <strong>der</strong> Pathogenese spongiformer Enze-<br />

phalopathien darauf, daß bestimmte Eiweißmoleküle, von Prus<strong>in</strong>er Prionen genannt, trotz<br />

identischer Primärstruktur (Am<strong>in</strong>osäuresequenz) verschiedene Konformationen (Anordnungen)<br />

annehmen können. In ihrer zellulären (d.h. +natürlichen*) Form s<strong>in</strong>d diese unschädlich für<br />

27 28<br />

den Organismus. In ihrer pathogenen Form bewirken sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Art Kettenreaktion die<br />

Sc 29<br />

Umwandlung von zellulärem Prionen-Eiweiß (PrP) <strong>in</strong> e<strong>in</strong> pathogenes Prote<strong>in</strong> (PrP ), das<br />

sich an bestimmten Rezeptoren <strong>der</strong> Nervenzellen <strong>in</strong> Form <strong>der</strong> schon <strong>in</strong> Anmerkung 17 angespro-<br />

chenen Plaques bzw. Amyloide ansammelt und zur Erkrankung führt (vgl. zur Übersicht Prus<strong>in</strong>er:<br />

Prionen-Erkrankungen sowie Horwich/Weissman: Deadly Conformations). 30<br />

Zur Hypothese, daß etwas an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong> Virus die Ursache für Scrapie (und damit wahr-<br />

sche<strong>in</strong>lich auch den an<strong>der</strong>en übertragbaren spongiformen Enzephalopathien) se<strong>in</strong> mußte,<br />

gelangte man schon <strong>in</strong> den 60er Jahren durch Experimente mit UV-Bestrahlung. Viren, die


280 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

UV-anfällige Nukle<strong>in</strong>säuren enthalten, können normalerweise durch UV-Licht <strong>in</strong>aktiviert werden.<br />

Das untersuchte <strong>in</strong>fizierte Gewebematerial blieb aber auch nach <strong>der</strong> UV-Bestrahlung weiterh<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>fektiös (vgl. Alper et al.: Does the Agent of Scrapie Replicate Without Nucleic Acid?). Aufgrund<br />

dieser und an<strong>der</strong>er Befunde wurde Prus<strong>in</strong>er veranlaßt, <strong>in</strong> Erwägung zu ziehen, daß Prote<strong>in</strong>e<br />

31<br />

<strong>der</strong> Auslöser für spongiforme Enzephalopathien se<strong>in</strong> könnten. Um diese Hypothese experi-<br />

mentell zu bestätigen, versuchte er, mittels <strong>der</strong> systematischen Testung <strong>der</strong> Infektiosität von<br />

Hirnfraktionen erkrankter Tiere, e<strong>in</strong>e +gere<strong>in</strong>igte* Probe zu gew<strong>in</strong>nen, was ihm schließlich<br />

auch gelang. Diese hoch<strong>in</strong>fektiöse Probe bestand aus Eiweißmolekülen e<strong>in</strong>er bestimmten<br />

Länge und enthielt ke<strong>in</strong>e (nachweisbaren) Nukle<strong>in</strong>säuren. Nach e<strong>in</strong>er weiteren Aufbereitung<br />

konnte dann die genaue Struktur dieses nach <strong>der</strong> Theorie von Prus<strong>in</strong>er krankmachenden<br />

(Prion-)Eiweißes ermittelt und schließlich auch das Gen charakterisiert werden, das für dieses<br />

Prote<strong>in</strong> codiert. 32<br />

Damit war e<strong>in</strong> wichtiger Schritt getan. Allerd<strong>in</strong>gs gelang die gentechnische Herstellung von<br />

Sc<br />

pathogenem (Scrapie-)Prion-Prote<strong>in</strong> (PrP ) nicht. Bisher konnte auf diesem Weg nur die zelluläre<br />

Variante erzeugt werden. Bei allen (auch den von Prus<strong>in</strong>er angestellten) Übertragungsexpe-<br />

rimenten kam deshalb alle<strong>in</strong>e aus kranken Tieren und Menschen gewonnenes Prion-Prote<strong>in</strong><br />

zum E<strong>in</strong>satz – d.h. es ist nicht auszuschließen, daß <strong>in</strong> diesem Material Viren +versteckt* waren.<br />

E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es, schwerwiegen<strong>der</strong>es Problem <strong>der</strong> Prionen-Theorie stellt die oben angesprochene<br />

Identifizierung verschiedener Erreger-Stämme und ihre Mutation dar. Prus<strong>in</strong>er ist gezwungen<br />

zu lavieren, wenn er diese Befunde im Rahmen se<strong>in</strong>er Theorie erklären will. Er postuliert<br />

dazu mehrere mögliche pathogene Konformationen des Prion-Prote<strong>in</strong>s. Dies ersche<strong>in</strong>t zwar<br />

pr<strong>in</strong>zipiell möglich. Das ebenfalls beschriebene Phänomen <strong>der</strong> (spontanen) Mutation kann<br />

so aber nicht plausibel gemacht werden. Die bekannten erblichen Formen spongiformer Enze-<br />

phalopathie beim Menschen (GSS und LFI), die von <strong>der</strong> Virus-Theorie wie<strong>der</strong>um nur bed<strong>in</strong>gt<br />

abgedeckt werden können, erklärt Prus<strong>in</strong>er dagegen relativ elegant mit e<strong>in</strong>em vererbten Defekt<br />

im PrP-Gen, für den es tatsächlich nach angestellten Genanalysen Indizien gibt.<br />

Indizien gibt es nach neueren Untersuchungen aus dem Umkreis von Prus<strong>in</strong>er allerd<strong>in</strong>gs auch<br />

dafür, daß noch e<strong>in</strong> weiterer, bisher unbekannter Faktor bei <strong>der</strong> Pathogenese spongiformer<br />

33<br />

Enzephalopathien beteiligt ist. Ob dieser om<strong>in</strong>öse +Faktor X* – entgegen den Vermutungen<br />

<strong>der</strong> Prionen-Theorie-Anhänger – wohl e<strong>in</strong> Virus-Produkt se<strong>in</strong> könnte, das die Umwandlung<br />

des Prion-Prote<strong>in</strong>s (mit) auslöst? Und wie lassen sich aktuelle Experimente erklären, bei denen


KAP. 4: DER FALL +BSE* 281<br />

es gelang, BSE auf Mäuse zu übertragen, ohne daß +pathogenes* Prion-Prote<strong>in</strong> zum E<strong>in</strong>satz<br />

kam (vgl. Lasmézas et al.: Transmission of the BSE Agent to Mice <strong>in</strong> the Absence of Abnormal<br />

Prion Prote<strong>in</strong>)? Ähnliche Rätsel geben auch Forschungen aus den USA auf, die eher für e<strong>in</strong>e<br />

latente Virus-Infektion als für die Prionen-These sprechen (vgl. Manuelidis/Manuelidis: A Trans-<br />

missible Creutzfeldt-Jakob Disease-Like Agent Is Prevalent <strong>in</strong> the Human Population).<br />

Die (attraktive) Außenseiter-Theorie e<strong>in</strong>es Betroffenen: Die Fliege, das Gift und die Kühe.<br />

Zuweilen geschieht es, daß (notgedrungen) aus Betroffenen (wissenschaftliche) Experten werden.<br />

Aber selbst wenn diese Betroffenen ihren Expertenstatus durch die Aneignung des wissen-<br />

schaftlichen Codes plausibilisieren und sich <strong>in</strong> ihrer Argumentation an wissenschaftliche Standards<br />

anpassen, so haben sie meist e<strong>in</strong>en schweren Stand. Sie verfügen, da ihnen die Zertifikate<br />

und Insignien des Expertentums (akademische Grade, Auszeichnungen, Preise etc.) fehlen,<br />

über ke<strong>in</strong>e Reputation (die im Wissenschaftsbetrieb enorm wichtig, wenn nicht hauptsächlich<br />

ausschlaggebend ist, um Gehör zu f<strong>in</strong>den). Schließlich will man se<strong>in</strong>e durch langjähriges Studium<br />

und <strong>in</strong>terne Machtkämpfe gewonnene Position nicht so e<strong>in</strong>fach aufgeben und den eigenen<br />

Expertenstatuts durch die Anerkennung von +Betriebsfremden* entwerten. Darüber h<strong>in</strong>aus<br />

mangelt es den Betroffenen-Experten zumeist an den notwendigen materiellen Ressourcen<br />

für ihre Forschung. Sie s<strong>in</strong>d und bleiben so ausgeschlossen aus <strong>der</strong> exklusiven +scientific<br />

community*.<br />

Trotzdem gibt es im Fall von BSE e<strong>in</strong>e auch nach +wissenschaftlichen* Maßstäben durchaus<br />

nicht abwegige +Außenseiter-Theorie*, die sogar e<strong>in</strong> relativ großes Medien-Echo gefunden<br />

34<br />

hat und so selbst das MAFF zw<strong>in</strong>gt, sich mit ihr ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen: Der Bio-Farmer Mark<br />

Purdey vertritt die These, daß <strong>der</strong> Ausbruch von BSE auf den E<strong>in</strong>satz von Pestiziden auf Organo-<br />

phosphat-Basis zurückzuführen ist (vgl. Are Organophosphate Pesticides Involved <strong>in</strong> the Causation<br />

35<br />

of Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy?). Solche Pestizide wurden <strong>in</strong> Großbritannien e<strong>in</strong>gesetzt,<br />

um die +warble fly* zu bekämpfen – e<strong>in</strong> Parasit, <strong>der</strong> vorwiegend R<strong>in</strong><strong>der</strong> und Schafe befällt<br />

36<br />

(vgl. auch <strong>der</strong>s.: Mad Cows and Warble Flies). Zu dieser <strong>in</strong>teressanten Vermutung gelangte<br />

Purdey aufgrund des Umstands, daß die regional stark differierende Verbreitung von BSE<br />

mit den geographischen Schwerpunkten des Parasitenbefalls und deshalb auch mit <strong>der</strong> für<br />

bestimmte Gegenden unterschiedlichen Intensität <strong>der</strong> staatlicherseits vorgeschriebenen Schäd-<br />

l<strong>in</strong>gsbekämpfung korreliert (die meisten BSE-Fälle traten im Südwesten auf, wo auch am


282 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

37<br />

häufigsten Organophosphat-Pestizide zum E<strong>in</strong>satz kamen). Das aktuelle Abnehmen <strong>der</strong><br />

Fallzahlen kann nach Purdey darauf zurückgeführt werden, daß zwischen 1989 und 1991<br />

drei <strong>der</strong> von ihm verdächtigten Pestizide vom Markt genommen wurden (vgl. ebd.; S. 53f.<br />

sowie The UK Epidemic of BSE; Teil 2, S. 449ff.).<br />

E<strong>in</strong>e bloße Korrelation erklärt aber natürlich noch nicht die Entstehung <strong>der</strong> Krankheit. Purdey<br />

geht diesbezüglich davon aus, daß die e<strong>in</strong>gesetzten Organophosphate e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>itiale Rolle bei<br />

<strong>der</strong> Konformation des auch gemäß ihm krankmachenden Prion-Prote<strong>in</strong>s spielen (vgl. zur Über-<br />

sicht ebd.; Teil 1). Insoweit steht Purdeys Ansatz also im E<strong>in</strong>klang mit <strong>der</strong> Prionen-Theorie.<br />

38<br />

Wie erbliche bed<strong>in</strong>gte SE-Syndrome wie GSS o<strong>der</strong> LFI entstehen, warum nicht mehr Farmer<br />

erkranken (die doch auch bei <strong>der</strong> Behandlung ihrer Tiere den Pestiziden ausgesetzt waren)<br />

und vor allem die BSE-Fälle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz (siehe nochmals Anmerkung 12), wo ke<strong>in</strong>e Organo-<br />

39<br />

phosphate zum E<strong>in</strong>satz kamen, aber beträchtliche Mengen Tiermehl verfüttert wurden, kann<br />

er allerd<strong>in</strong>gs nicht o<strong>der</strong> nur schlecht erklären. Restlos alle Phänomene werden aber, wie<br />

dargelegt, schließlich auch von den an<strong>der</strong>en Theorien nicht abgedeckt.<br />

Vor diesem allgeme<strong>in</strong>en Kenntnis-H<strong>in</strong>tergrund über den Ablauf <strong>der</strong> Ereignisse sowie die zentralen<br />

theoretischen (aber durchaus praktisch relevanten) Konzepte zur Erklärung <strong>der</strong> Pathogenese<br />

von +BSE*, kann nunmehr daran gegangen werden, die <strong>in</strong> Kapitel 3 herausgearbeiteten Dilem-<br />

mata plastisch anhand <strong>der</strong> politischen +Bearbeitung* des Falls +BSE* zu veranschaulichen.<br />

Dabei werde ich spiegelbildlich zur Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> vorangegangenen Kapitel vorgehen und<br />

nache<strong>in</strong>an<strong>der</strong> die ökonomischen, rechtlichen, wissenschaftlich-technischen, medialen und<br />

kulturell-sozialstrukturellen Aspekte des +BSE-Dramas* beleuchten.<br />

4.1 ÖKONOMISCHE ASPEKTE DES BSE-DRAMAS<br />

Der +R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n* hat ohne Zweifel auch e<strong>in</strong>e erhebliche ökonomische Dimension, und<br />

diese vermag – vor allem, wenn man die D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> ihren sozio-kulturellen Kontext e<strong>in</strong>bettet<br />

– e<strong>in</strong>en zentralen Aspekt des Dilemmas <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im Kontext <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung<br />

bzw. Regionalisierung plastisch zu verdeutlichen. Sicher: Viehwirtschaft hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> hochgradig<br />

virtualisierten Ökonomie <strong>der</strong> (post)<strong>in</strong>dustriellen, sog. +fortgeschrittenen* Gesellschaften nicht<br />

mehr dieselbe Bedeutung wie bei +archaischen* nomadisierenden Viehhalterkulturen, <strong>der</strong>en


KAP. 4: DER FALL +BSE* 283<br />

Strukturen nur am +Rande <strong>der</strong> Zivilisation*, etwa bei den ostafrikanischen Massai, überlebt<br />

haben und auch dort zunehmend unter Druck geraten (vgl. Kalter: Die materielle Kultur <strong>der</strong><br />

Massai und ihr Wandel). Trotzdem ist <strong>der</strong> Vieh- und Fleischhandel – denn Fleisch ist, wie<br />

uns die Werbung glauben machen will, +e<strong>in</strong> Stück Lebenskraft* – selbst <strong>in</strong> westlichen +Industrie-<br />

nationen* e<strong>in</strong> nicht zu unterschätzen<strong>der</strong> Wirtschaftsfaktor. In den USA beispielsweise, die<br />

wir aus <strong>der</strong> romantisierenden Perspektive <strong>der</strong> Wildwestfilme als das Land <strong>der</strong> +Cowboys*<br />

und <strong>der</strong> riesigen R<strong>in</strong><strong>der</strong>herden kennen, hält man <strong>der</strong>zeit (unter allerd<strong>in</strong>gs eher unromantischen<br />

Verhältnissen) ca. 100 Millionen R<strong>in</strong><strong>der</strong> für die Fleischproduktion (vgl. auch Rifk<strong>in</strong>: Das Imperium<br />

40<br />

<strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>; Kap. 1). Die Fleisch<strong>in</strong>dustrie, die diese R<strong>in</strong><strong>der</strong> +verarbeitet*, hatte Anfang <strong>der</strong><br />

90er Jahre e<strong>in</strong>en Jahresumsatz von ca. 70 Milliarden Dollar (vgl. Hillstrom: Ecyclopedia of<br />

American Industries; Vol. 1, SIC 2011, S. 1). 41<br />

Aber es gab, wie mit dem Beispiel <strong>der</strong> Massai schon angedeutet wurde, e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Abschnitt<br />

<strong>der</strong> Menschheitsgeschichte, <strong>in</strong> dem die Viehwirtschaft sogar den Kern <strong>der</strong> Ökonomie ausmachte:<br />

jene längst vergangene Zeit, als Tiere nicht mehr nur bloße Jagdobjekte waren (wie während<br />

<strong>der</strong> länge währenden +prähistorischen* Phase <strong>der</strong> Jäger- und Sammlerkultur), son<strong>der</strong>n man<br />

damit begann, Nutztiere <strong>in</strong> Herden zu halten und auf <strong>der</strong> Suche nach Weidegründen mit<br />

ihnen umherwan<strong>der</strong>te. Noch <strong>in</strong> dieser Epoche <strong>der</strong> Jungste<strong>in</strong>zeit begannen dann sogar erste<br />

seßhafte Ackerbaukulturen aufzukommen, wo Viehhaltung zwar e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielte,<br />

aber nicht mehr die alle<strong>in</strong>ige Grundlage <strong>der</strong> Ernährung bildete. Gordon Childe spricht <strong>in</strong><br />

diesem Zusammenhang von <strong>der</strong> +neolithischen Revolution* (vgl. Stufen <strong>der</strong> Kultur; S. 60ff.). 42<br />

Häufig prallten nun nomadisierende Viehhalter-Kulturen auf seßhafte Gesellschaften. E<strong>in</strong>ige<br />

religiöse Erzählungen künden noch von diesem Zusammenprall – so etwa, wenn die Bibel<br />

von den Wan<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Israeliten und ihren Konflikten mit den Babyloniern und Ägyptern<br />

berichtet. Auch das <strong>in</strong>dische Kastensystem ist (allerd<strong>in</strong>gs mit umgekehrten Vorzeichen) das<br />

Ergebnis e<strong>in</strong>er solchen Konfrontation zwischen Viehalter-Nomaden und frühen Siedlern: Die<br />

43<br />

+arischen* Stämme, die ca. 1500 v. Chr. vom Nordwesten her e<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ten, unterwarfen<br />

– kriegerisch überlegen – die eher auf Ackerbau gegründete drawidische +Hochkultur*, die<br />

44<br />

sich entlang des Indus entwickelt hatte. Die +Aryas* etablierten, als sie schließlich <strong>in</strong> Indien<br />

seßhaft wurden, e<strong>in</strong> +Apartheidssystem*, das e<strong>in</strong>e Vermischung mit den dunkelhäutigeren<br />

45<br />

Drawidas verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n sollte und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en vedischen Mythos gegossen wurde. Zu dieser Zeit<br />

waren Opferrituale, bei denen unzählige R<strong>in</strong><strong>der</strong> geschlachtet wurden, noch e<strong>in</strong> zentraler


284 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

46<br />

Bestandteil <strong>der</strong> brahmanistischen Religion <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>er. Erst <strong>in</strong> späterer Zeit wurde die<br />

47<br />

Kuh, die Milch und Dung und damit +Leben* spendete, von e<strong>in</strong>em Opfertier zu e<strong>in</strong>em<br />

+geheiligten* Wesen umdef<strong>in</strong>iert, für das <strong>in</strong> <strong>der</strong> h<strong>in</strong>duistischen Gesellschaft e<strong>in</strong> strenges Tötungs-<br />

verbot gilt. 48<br />

Und damit s<strong>in</strong>d wir über e<strong>in</strong>en Umweg wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart angelangt: Denn genau<br />

dieser Umstand bewog e<strong>in</strong>en Vertreter <strong>der</strong> traditionalistisch h<strong>in</strong>duistischen Organisation VHP 49<br />

dazu, <strong>der</strong> britischen Regierung, die im Zuge <strong>der</strong> BSE-Bekämpfung plante, e<strong>in</strong>en großen Teil<br />

<strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>bestände schlachten zu lassen (siehe unten), e<strong>in</strong> +großzügiges* Angebot zu unter-<br />

breiten: nämlich den von <strong>der</strong> Schlachtungsaktion bedrohten Tiere <strong>in</strong> Indien +Asyl* zu gewähren<br />

50<br />

(vgl. H<strong>in</strong>duism Today 6/96). Die britische Regierung g<strong>in</strong>g auf dieses Angebot jedoch nicht<br />

e<strong>in</strong>. Die religiöse Vorstellungswelt des H<strong>in</strong>duismus, die <strong>der</strong> +<strong>in</strong>dischen Lösung* zugrunde<br />

lag, und die (allerd<strong>in</strong>gs nur vor<strong>der</strong>gründig) re<strong>in</strong> zweckrationale Denkweise e<strong>in</strong>es +mo<strong>der</strong>nen*<br />

technokratischen Krisen-Managements waren wohl zu <strong>in</strong>kompatibel.<br />

Doch welche Strategie wurde im Rahmen jenes technokratischen Krisenmanagements von<br />

<strong>der</strong> britischen <strong>Politik</strong> verfolgt und welche ökonomischen Auswirkungen hatte diese? – Hier<br />

lassen sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach drei (sich natürlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Realität überlappende) Programm-<br />

stufen unterscheiden: Die erste Stufe bestand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Verschweigen, e<strong>in</strong>er Verschleierung<br />

und e<strong>in</strong>er Negation <strong>der</strong> Krise. Als diese Strategie nicht mehr griff, wechselte man über zu<br />

e<strong>in</strong>er Strategie <strong>der</strong> Deflexion, d.h. man versuchte (abgestützt durch wissenschaftliche Expertisen<br />

und durch Medien<strong>in</strong>szenierungen) die Gefahr herunterzuspielen, ergriff aber gleichzeitig über<br />

den Verordnungsweg abwehrende Gegenmaßnahmen – die freilich teilweise völlig <strong>in</strong>adäquat<br />

51<br />

waren und nur <strong>der</strong> Ablenkung öffentlicher Besorgnis dienten. Als auch diese Taktik nicht<br />

mehr +funktionierte*, kam e<strong>in</strong>e Strategie <strong>der</strong> politischen Schadensbegrenzung zum E<strong>in</strong>satz,<br />

die mit e<strong>in</strong>er radikalen tabula rasa verlorenes Vertrauen wie<strong>der</strong>herzustellen versucht. Im<br />

folgenden werde ich diese drei Stufen <strong>in</strong> kurzer Form darstellen. Zuvor aber, um ihre Abfolge<br />

verstehen zu können, e<strong>in</strong>ige Bemerkungen zur britischen +R<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>in</strong>dustrie* allgeme<strong>in</strong>:<br />

Die R<strong>in</strong><strong>der</strong>haltung hat <strong>in</strong> Großbritannien nicht nur Tradition, son<strong>der</strong>n noch immer e<strong>in</strong>en bedeu-<br />

tenden Anteil am landwirtschaftlichen Sektor und ist deshalb (analog zum oben genannten<br />

Beispiel <strong>der</strong> USA) auch e<strong>in</strong> relevanter Wirtschaftsfaktor. Auf britischen Höfen – überwiegend<br />

Großbetriebe mit über 1.000 Tieren Bestand – wurden vor dem Ausbruch von BSE und den<br />

ergriffenen Gegen- bzw. Schlachtungsmaßnahmen immerh<strong>in</strong> ca. 11 Millionen Kühe und Bullen


KAP. 4: DER FALL +BSE* 285<br />

gehalten. 500.000 Arbeitsplätze hängen direkt o<strong>der</strong> <strong>in</strong>direkt von <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>zucht ab. (Vgl.<br />

Hacker: Stichwort BSE; S. 87ff.)<br />

Dabei wird bzw. wurde nicht nur für den nationalen, son<strong>der</strong>n auch für den <strong>in</strong>ternationalen<br />

Markt +produziert*: In großen Stückzahlen verkaufte man R<strong>in</strong><strong>der</strong> vor allem nach Frankreich,<br />

52<br />

die Nie<strong>der</strong>lande und die an<strong>der</strong>en Beneluxstaaten. Auch Tiermehl und Fleisch wurde vor<br />

allem <strong>in</strong> die EG bzw. EU exportiert, doch selbst so entfernte Län<strong>der</strong> wie Japan o<strong>der</strong> Zaire<br />

53<br />

zählten (<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Mengen) zu den Abnehmern des berühmten +British Beef*. Es handelt<br />

sich also bei <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Fleisch<strong>in</strong>dustrie, die sogar noch 1995 e<strong>in</strong>en Export-Umsatz<br />

von 1,4 Milliarden DM machte, gewiß um ke<strong>in</strong>en völlig peripheren Bereich <strong>der</strong> britischen<br />

Wirtschaft – vor allem, wenn man bedenkt, daß alles, was mit Ernährung zusammenhängt,<br />

e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Relevanz für die Verbraucher hat. Hier zeigt sich e<strong>in</strong>mal mehr, was schon<br />

im Prolog von mir herausgestellt wurde: Selbst die (post)<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft ist, da auch<br />

sie ihre (Mit-)Glie<strong>der</strong> ernähren muß, im Kern immer noch e<strong>in</strong>e Agrargesellschaft (siehe S.<br />

LIX) – wenngleich die mo<strong>der</strong>ne Agro-Industrie (die mit ihrer exportorientierten Massenproduktion<br />

e<strong>in</strong> ihrem +Output* und ihrer <strong>in</strong>ternationalen Verflechtung entsprechendes hohes Risiko-Potential<br />

be<strong>in</strong>haltet) natürlich e<strong>in</strong> ganz an<strong>der</strong>es Gesicht trägt, als die eher Subsistenz- und lokal orientierte<br />

Landwirtschaft <strong>der</strong> vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>te, und <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Sektoren vielleicht auch größere<br />

Summen akkumuliert werden.<br />

Stufe 1 – Schweigen, Verschleierung und Negation: +The three monkeys of politics*. E<strong>in</strong>e<br />

neuartige R<strong>in</strong><strong>der</strong>seuche wie BSE, für die das britische Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isterium, ohne aber<br />

irgend etwas darüber zu verlautbaren, (wie erwähnt) wahrsche<strong>in</strong>lich bereits 1983 erste Anhalts-<br />

punkte hatte, stellte e<strong>in</strong>e Gefahr für den mit starker politischer Lobby versehenen Wirt-<br />

schaftszweig <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Fleisch<strong>in</strong>dustrie dar – allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e Gefahr, an die man (wegen<br />

den sich aus ihr ergebenden unangenehmen Folgen) nicht glauben wollte, solange man nicht<br />

an sie glauben mußte. Vor allem sollte, bis nicht <strong>der</strong> +letzte Beweis* erbracht war, ke<strong>in</strong>esfalls<br />

etwas an die Öffentlichkeit dr<strong>in</strong>gen, um die Verbraucher nicht zu +irritieren*. Das MAFF<br />

untersagte deshalb, von se<strong>in</strong>em Weisungsrecht gebrauch machend, den für es arbeitenden<br />

Wissenschaftlern, öffentlich über die neue Seuche zu sprechen, und erlaubte (mit dem auf<br />

S. 273 zitierten Artikel von Wells et al.) erst Ende 1987 e<strong>in</strong>e Veröffentlichung von spärlichen<br />

Daten. BSE existierte offiziell also erst, als selbst nach <strong>der</strong> m<strong>in</strong>isterialen Statistik schon mehrere


286 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

54<br />

hun<strong>der</strong>t Fälle bekannt waren und täglich neue h<strong>in</strong>zu kamen (siehe nochmals Abb. 4). Doch<br />

auch dann noch verschloß man demonstrativ die Augen vor <strong>der</strong> Dimension <strong>der</strong> Gefahr.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e e<strong>in</strong> Risiko für den Menschen wurde +prophylaktisch* negiert, und die <strong>Politik</strong>er<br />

betonten ritualhaft, daß durch BSE ke<strong>in</strong>e Gefährdung für die Verbraucher gegeben sei. Doch<br />

diese nichts sehen-, nichts hören-, nichts-offen-aussprechen-Strategie stieß mit dem dramatischen<br />

Anstieg <strong>der</strong> Fallzahlen ab 1988/89 an ihre Grenzen und wurde durch die Veröffentlichung<br />

von Experimenten, die e<strong>in</strong>e grundsätzliche Übertragbarkeit von BSE auf an<strong>der</strong>e Spezies (und<br />

somit vielleicht auch auf den Menschen) zeigten (siehe S. 277), gänzlich unmöglich.<br />

Stufe 2 – (Symbiotische) Deflexion: +British beef is safe – says science, too, and report<br />

the media*. Die (späte) Nachricht von <strong>der</strong> neuen R<strong>in</strong><strong>der</strong>seuche BSE und ihre mögliche<br />

Infektiosität löste bei den Verbrauchern kritische Reflexe aus. Die <strong>Politik</strong> mußte deshalb handeln.<br />

Also verbot man im Juli 1988 die Verfütterung von Tiermehl an R<strong>in</strong><strong>der</strong> (das man als Infek-<br />

tionsquelle betrachtete, trotzdem aber weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> die ganze übrige Welt exportierte) und<br />

untersagte 1989 die Verwendung von als +beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>fektiös* geltenden R<strong>in</strong><strong>der</strong>teilen für<br />

die menschliche Ernährung (siehe S. 274f.). Insbeson<strong>der</strong>e zeigte man sich aber im Ausland<br />

besorgt. Der britische R<strong>in</strong>dfleischexport war bedroht. Deutschland, Italien und Frankreich<br />

verhängten 1989 e<strong>in</strong>seitige Importsperren, die erst nach britischem Druck auf die EU-Organe<br />

wie<strong>der</strong> aufgehoben wurden (siehe Anmerkung 9). Die britische <strong>Politik</strong> nutzte zur Erreichung<br />

dieses Ziels gezielt wissenschaftliche Deflexionsressourcen (siehe auch Abschnitt 4.3). Insbe-<br />

son<strong>der</strong>e die Mitarbeiter des MAFF bemühten sich (neben e<strong>in</strong>er Verharmlosung des Übertra-<br />

gungsrisikos), die britische Regierung mit epidemiologischem Material zu munitionieren, das<br />

e<strong>in</strong> baldiges Ende <strong>der</strong> Seuche versprach. Dazu schreckte man auch nicht vor +statistischem<br />

Betrug* zurück: d.h. man wies z.B. Anfang <strong>der</strong> 90er Jahre gegenüber <strong>der</strong> EU (ganz richtig)<br />

darauf h<strong>in</strong>, daß unter den nach dem Tiermehl-Fütterungsverbot von 1988 geborenen Tieren<br />

so gut wie ke<strong>in</strong>e BSE-Fälle aufgetreten waren – ohne aber gleichzeitig zu sagen, daß die meisten<br />

55<br />

Kühe erst im Alter von 5 Jahren BSE entwickeln (siehe auch Anmerkung 14). Kritische Stimmen<br />

wurden, soweit möglich, unterdrückt (siehe nochmals Anmerkung 25 sowie S. 296).<br />

Auch die britischen Medien dienten <strong>der</strong> Deflexion (siehe auch Abschnitt 4.4, <strong>in</strong>sb. S. 297ff.).<br />

Zum e<strong>in</strong>en, <strong>in</strong>dem <strong>Politik</strong>er demonstrativ vor laufen<strong>der</strong> Kamera britisches R<strong>in</strong>dfleisch verzehren<br />

+durften*. Zum an<strong>der</strong>en, <strong>in</strong>dem vor allem die Presse die BSE-Problematik (auf Anregung <strong>der</strong>


KAP. 4: DER FALL +BSE* 287<br />

<strong>Politik</strong>) zu e<strong>in</strong>er nationalen und handelspolitischen Frage umdef<strong>in</strong>ierte. So deutete man die<br />

Exportbeschränkungen für britisches R<strong>in</strong>dfleisch <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie als protektionistische Maßnahme<br />

des Auslands, wobei die BSE-Problematik angeblich nur als Vorwand diente. Diese Deflexions-<br />

Strategie gelang allerd<strong>in</strong>gs nicht mehr, als im März 1996 selbst die britische Regierung aufgrund<br />

mediz<strong>in</strong>ischer Studien e<strong>in</strong>e Übertragbarkeit von BSE auf den Menschen nicht mehr ausschließen<br />

wollte (siehe nochmals S. 275). Ergebnis dieses E<strong>in</strong>geständnisses war e<strong>in</strong> (kurzfristiger) Rückgang<br />

des <strong>in</strong>nerbritischen R<strong>in</strong>dfleischkonsums um ca. 30% und alle<strong>in</strong>e bis Mitte 1996 e<strong>in</strong> Verlust<br />

von etwa 10.000 Arbeitsplätzen. In Deutschland, woh<strong>in</strong> – zum<strong>in</strong>dest auf direktem Weg – 56<br />

kaum britisches R<strong>in</strong>dfleisch exportiert worden war, sank <strong>der</strong> R<strong>in</strong>dfleisch-Absatz zeitweise<br />

gar um bis zu 50% (vgl. Hacker: Stichwort BSE; S. 89).<br />

Stufe 3 – Schadensbegrenzung durch tabula rasa: +Fury <strong>in</strong> the slaughterhouse*. Die<br />

Negationsstrategie und die Strategie e<strong>in</strong>er primär symbolischen Deflexion <strong>in</strong> +Kooperation*<br />

mit Wissenschaft und Medien war somit für die <strong>Politik</strong> zu e<strong>in</strong>em relativen Desaster geraten.<br />

Man hatte auf sie zurückgegriffen, weil man die Interessen <strong>der</strong> britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Fleisch-<br />

<strong>in</strong>dustrie zu schützen versuchte (die im nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> betrachtet natürlich im Gegenteil immens<br />

geschädigt wurden). Überhaupt ist die gesamte BSE-Problematik <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das Ergebnis<br />

e<strong>in</strong>er extrem kurzsichtigen politischen Stützung re<strong>in</strong> ökonomischer Interessen – gerade wenn<br />

man sich die +offizielle* These <strong>der</strong> Übertragung von Scrapie auf die R<strong>in</strong><strong>der</strong> durch unzureichend<br />

57<br />

aufbearbeitetes Tiermehl zu eigen macht. Denn warum, wenn nicht auf Drängen <strong>der</strong> Tiermehl-<br />

Hersteller, hätte sich die britische Regierung veranlaßt fühlen sollen, die Bestimmungen für<br />

die Tierkörperverarbeitung Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre zu lockern? So aber konnten die Profit-<br />

und Exportchancen (zunächst) gesteigert werden. Sicherheitserwägungen und +öffentliche<br />

Interessen* spielten offensichtlich nur e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle. Das rächt sich nun.<br />

Um das verlorene Vertrauen <strong>in</strong> die R<strong>in</strong>dfleisch<strong>in</strong>dustrie und vor allem <strong>in</strong> die <strong>Politik</strong> wie<strong>der</strong>-<br />

herzustellen, versucht man deshalb mit drastischen Maßnahmen zu demonstrieren, daß man<br />

das Problem zu lösen gewillt ist und die Situation im Griff hat. Freilich bekämpft man tatsächlich<br />

weniger BSE als die <strong>in</strong> Großbritannien lebenden R<strong>in</strong><strong>der</strong>. Der 1996 <strong>in</strong> Verhandlungen mit<br />

<strong>der</strong> EU beschlossene Anti-BSE-Plan sieht die Tötung von sämtlichen Tieren über dem Alter<br />

von 30 Monaten sowie die Tötung von Tieren aus beson<strong>der</strong>s betroffenen Herden vor: Das<br />

s<strong>in</strong>d ca. 4,5 Mio. R<strong>in</strong><strong>der</strong>, von denen wahrsche<strong>in</strong>lich nur e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Bruchteil BSE-<strong>in</strong>fiziert


288 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ist (vgl. Krönig: Ohne S<strong>in</strong>n und Verstand). Viele Stimmen, vor allem aus an<strong>der</strong>en EU-Staaten,<br />

plädierten sogar für e<strong>in</strong>e Vernichtung des gesamten Bestands, und auch Großbritanniens<br />

ehemaliger Gesundheitsm<strong>in</strong>ister Dorrell sprach sich dafür aus, falls die CJK-Fälle ansteigen<br />

sollten (vgl. Hacker: Stichwort BSE; S. 87). Doch die Vernichtungsaktion (egal wie weit sie<br />

letztendlich ausgreifen wird) ist, wie gesagt, eher e<strong>in</strong>e politische Willensdemonstration, als<br />

58<br />

daß sie zur BSE-Bekämpfung effektiv wäre. Denn wenn e<strong>in</strong>e Gefährdung <strong>der</strong> Verbraucher<br />

durch R<strong>in</strong>dfleisch gegeben ist, dann durch das bereits <strong>in</strong> den 80er Jahren verzehrte, als die<br />

Seuche unter den R<strong>in</strong><strong>der</strong>n noch weit verbreitet war und das Fleisch relativ frei <strong>in</strong> den Handel<br />

gelangte. Die nachträgliche Massenschlachtung, die zudem große organisatorische Probleme<br />

aufwirft (denn es s<strong>in</strong>d nicht genügend +Vernichtungskapazitäten* vorhanden), ist also e<strong>in</strong>e<br />

weitgehend überflüssige Aktion, die nur als politischer Symbolakt e<strong>in</strong>e gewisse Logik offenbart:<br />

Die <strong>Politik</strong> will sich mit dem Blut <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong> re<strong>in</strong>waschen, wobei sich dieses +rituelle Opfer*<br />

allerd<strong>in</strong>gs sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> technokratisches Gewand verhüllt. Um sich auf diese fragwürdige Weise<br />

politisch zu entlasten, scheut man auch nicht die immensen Kosten von fast 8 Milliarden<br />

DM, welche die EU zu 70% tragen wird (vgl. ebd.; S. 89). 59<br />

Doch was sagt uns dieses Beispiel konkret über das durch Globalisierungsprozesse ausgelöste<br />

ökonomische Dilemma des nationalen Wohlfahrtsstaats? Denn schließlich sollen hier die <strong>in</strong><br />

Kapitel 3 theoretisch dargelegten Dilemmata anhand des Falls +BSE* plastisch veranschaulicht<br />

werden. Hierzu ist zunächst zu bemerken, daß es natürlich weniger die <strong>in</strong> Abschnitt 3.1<br />

herausgearbeitete, durch die Konkurrenz <strong>der</strong> Staaten um das globale Kapital bewirkte Unter-<br />

m<strong>in</strong>ierung des Sozialstaates ist, die im Kontext von BSE zutage tritt. Die nationale Wohlfahrt<br />

ersche<strong>in</strong>t durch BSE auf e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e, jedoch kaum weniger <strong>fatal</strong>e Weise bedroht: Wenn<br />

sich BSE durch Fleischverzehr auf den Menschen übertragen lassen sollte, so wäre dies nicht<br />

60<br />

nur <strong>in</strong> Großbritannien e<strong>in</strong>e Gefahr für die +Volksgesundheit*, son<strong>der</strong>n auch überall dort,<br />

woh<strong>in</strong> britisches R<strong>in</strong>dfleisch <strong>in</strong> größeren Mengen exportiert wurde – also vor allem Frankreich,<br />

Italien und die Beneluxstaaten (siehe Anmerkung 53). Der freie (regionale) Markt hätte diesen<br />

Staaten damit sehr hohe Kosten aufgebürdet. Sie müßten sich nicht nur als EU-Mitglie<strong>der</strong><br />

61<br />

an den Massenschlachtungen <strong>in</strong> Großbritannien f<strong>in</strong>anziell beteiligen, son<strong>der</strong>n hätten die<br />

(sozialen wie ökonomischen) Folgen <strong>der</strong> zu erwartenden stark vermehrten CJK-Erkrankungen<br />

zu tragen. E<strong>in</strong>e schon jetzt reale Auswirkung <strong>der</strong> britischen BSE-Krise ist aber das Abs<strong>in</strong>ken


KAP. 4: DER FALL +BSE* 289<br />

des R<strong>in</strong>dfleischkonsums auch <strong>in</strong> vielen Nachbarstaaten und damit e<strong>in</strong>e Schädigung <strong>der</strong> dortigen<br />

Fleisch<strong>in</strong>dustrie. Das Beispiel BSE zeigt also deutlich, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er regional und erst recht<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er global vernetzten Ökonomie lokal getroffene politische Entscheidungen (wie beispiels-<br />

weise die Herabsetzung <strong>der</strong> Verarbeitungsstandards bei <strong>der</strong> Tierkörperverwertung <strong>in</strong> Groß-<br />

britannien) große Effekte auch auf das <strong>in</strong>ternationale politische Umfeld haben können – welches<br />

auf diese Entscheidungen ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluß hat.<br />

Solche auf nationaler und lokaler Ebene getroffenen politischen Entscheidungen werden allerd<strong>in</strong>gs<br />

unter den Bed<strong>in</strong>gungen ökonomischer Globalisierung häufig gerade mit Blick auf den globalen<br />

Markt getroffen. Denn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verfolgung <strong>der</strong> von ihr bevorzugten nationalen Strategie ist die<br />

nationalstaatliche <strong>Politik</strong> schließlich primär darauf bedacht, dem Kapital möglichst günstige<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen zu verschaffen, um es an das eigene Territorium zu b<strong>in</strong>den. Die potentiell<br />

enormen +gesellschaftlichen Kosten* werden – wie sich im Fall von BSE klar zeigte – bei dieser<br />

Rechnung selten e<strong>in</strong>kalkuliert. Es droht auf diese Weise durch Prozesse ökonomischer Globali-<br />

sierung und die von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> verfolgte nationale Strategie nicht nur e<strong>in</strong>e Polarisierung <strong>der</strong><br />

Gesellschaft und die Unterm<strong>in</strong>ierung des Wohlfahrtsstaates, son<strong>der</strong>n auch die verstärkte<br />

62<br />

Umwälzung <strong>der</strong> Produktionsrisiken auf die globale Geme<strong>in</strong>schaft. E<strong>in</strong> möglicher Ausweg<br />

aus diesem Dilemma wären, wie im Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> gefor<strong>der</strong>t, Anstrengungen<br />

zu e<strong>in</strong>er verstärkten <strong>in</strong>ternationalen Verregelung (siehe zurück zu S. 216f.) – wobei <strong>der</strong> folgende<br />

Abschnitt jedoch nochmals verdeutlichen wird, daß jede Regulation an sich ambivalent und<br />

risikobehaftet ist.<br />

4.2 RECHTLICHE ASPEKTE DES BSE-DRAMAS<br />

In Abschnitt 3.2 wurde dargelegt, daß +Recht* und <strong>der</strong> Rückgriff auf Rechtsverfahren e<strong>in</strong>e<br />

zweischneidige Ressource für die <strong>Politik</strong> darstellt. E<strong>in</strong>erseits erlaubt die Übersetzung von<br />

politischen <strong>in</strong> juristische Diskurse die Deflexion (<strong>in</strong>ner)politischer Konflikte. An<strong>der</strong>erseits drohen<br />

durch Verrechtlichungsprozesse e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionelle Erstarrung und Entfremdungsersche<strong>in</strong>ungen.<br />

Zudem be<strong>in</strong>haltet jede Regulation, wie bereits oben angemerkt wurde, e<strong>in</strong> Risiko, da rechtliche<br />

Intervention schließlich e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> (lebenweltliche und systemische) Handlungszusam-<br />

menhänge darstellt und somit positive, aber auch negative Folgen haben kann. Letzteres wird<br />

anhand <strong>der</strong> politisch-rechtlichen Regulation <strong>der</strong> BSE-Krise beson<strong>der</strong>s deutlich:


290 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Das BSE-Problem wurde, wie schon oben anklang, durch e<strong>in</strong>e ganze Reihe von rechtlichen<br />

E<strong>in</strong>griffen politisch bearbeitet. Dabei verließ man sich zur Informationsbeschaffung, zur Durch-<br />

führung <strong>der</strong> beschlossenen Maßnahmen und zu <strong>der</strong>en Überwachung auf bestehende Institutionen<br />

wie das +Department for Animal Health* des MAFF und an<strong>der</strong>e Regierungsorgane. Alle<strong>in</strong>e<br />

beratenden Charakter hatten dagegen das Southwood-Komitee sowie das SEAC (siehe S.<br />

274ff.). Im Kontext des politischen Managements <strong>der</strong> BSE-Krise spielten diese +unabhängigen*<br />

wissenschaftlichen, ad hoc geschaffenen Gremien also nur e<strong>in</strong>e eher passive, ke<strong>in</strong>e aktiv <strong>in</strong>ter-<br />

venierende Rolle und waren primär im Kontext <strong>der</strong> wissenschaftlichen Deflexion <strong>der</strong> durch<br />

BSE ausgelösten Verbraucherängste relevant (siehe Abschnitt 4.3).<br />

Was den Modus <strong>der</strong> rechtlichen Interventionen durch die <strong>Politik</strong> im Kontext von BSE betrifft,<br />

so handelt(e) es sich fast ausschließlich um exekutive Verordnungen und nicht um (legislativer<br />

Beschlußfassung unterliegende) Gesetze – die <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Handhabung <strong>der</strong> BSE-Krise<br />

lief sozusagen am Parlament (und damit am +Souverän* bzw. dessen gewählter Vertretung)<br />

vorbei. Das ist zwar nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, denn erstens mußte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen aufgrund<br />

aktueller Entwicklungen relativ schnell reagiert werden (was e<strong>in</strong> formales Gesetzgebungsverfahren<br />

re<strong>in</strong> zeitlich ausschloß), und zweitens existierten gesetzliche Grundlagen wie <strong>der</strong> +Animal<br />

Health Act* von 1981, <strong>der</strong> dem MAFF sehr weitreichende Befugnisse e<strong>in</strong>räumt, auf welche<br />

die exekutiven Verordnungen gestützt waren (vgl. hierzu auch Fulbrook: Legal Implications;<br />

S. 9f.). Es zeigt sich allerd<strong>in</strong>gs hier<strong>in</strong> deutlich, welche zentrale, um nicht zu sagen +über-<br />

gewichtige* Bedeutung <strong>der</strong> Exekutive <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Praxis (vor allem <strong>in</strong> akuten Situationen)<br />

zufällt, die nicht nur <strong>in</strong> Wirklichkeit h<strong>in</strong>ter den meisten vom Parlament beschlossenen Gesetzen<br />

steckt, son<strong>der</strong>n auch mit <strong>der</strong> ihr +übertragenen* Aufgabe <strong>der</strong> Gesetzesdurchführung e<strong>in</strong>e große<br />

Gestaltungsmacht besitzt (siehe hierzu auch S. 235).<br />

Da BSE (durch die Tiermehl-, R<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Fleischexporte) aber ke<strong>in</strong> ausschließlich britisches<br />

Problem war (und ist), wurde die britische Regierung bei dem von ihr e<strong>in</strong>geschlagenen Weg<br />

des Krisenmanagements durch externe Interventionen und Regelungsversuche +gestört*: Nicht<br />

nur an<strong>der</strong>e Staaten sahen sich durch die drohende Ausbreitung von BSE auf ihr Territorium<br />

sowie e<strong>in</strong>e mögliche Gefährdung ihrer heimischen Verbraucher zum Handeln gezwungen,<br />

son<strong>der</strong>n auch die EG- bzw. EU-Organe nahmen sich nach anfänglichem Zögern <strong>der</strong> Sache<br />

an. Es lassen sich demzufolge im Zusammenhang <strong>der</strong> politisch-rechtlichen Regulation <strong>der</strong><br />

BSE-Krise nationale (und hier <strong>in</strong>nerbritische und außerbritische) von transnationalen Verordnungen


KAP. 4: DER FALL +BSE* 291<br />

unterscheiden. Beispiele für die erste Kategorie s<strong>in</strong>d das Tiermehlverfütterungsverbot vom<br />

Juli 1988 o<strong>der</strong> die (nur kurze Zeit wirksamen) E<strong>in</strong>fuhrverbote für britisches R<strong>in</strong>dfleisch durch<br />

die Bundesrepublik, Italien und Frankreich vom November 1989. Letzere wurden, wie erwähnt,<br />

auf Druck <strong>der</strong> britischen Regierung aufgehoben, da im europäischen Integrationsraum nur<br />

solche Regelungen Gültigkeit haben, die mit dem Geme<strong>in</strong>schaftsrecht <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang stehen.<br />

Die europäischen Verträge sehen nun allerd<strong>in</strong>gs Freizügigkeit im Warenverkehr vor (was erst<br />

recht seit den Beschlüssen von Maastricht gilt), und diese Freizügigkeit kann nur unter sehr<br />

restriktiven Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>geschränkt werden – z.B. wenn durch den freien Warenhandel<br />

e<strong>in</strong>e Gefährdung <strong>der</strong> öffentlichen Sicherheit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesundheit von Menschen o<strong>der</strong> Tieren<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Mitgliedsstaat besteht (vgl. Upson: The Beef Crisis – Free Trade Issues <strong>in</strong> European<br />

Law).<br />

Die britische Regierung konnte sich, wie gesagt, mit ihrer Auffassung durchsetzten, daß die<br />

Importverbote durch Deutschland, Italien und Frankreich unangemessen waren und ke<strong>in</strong>e<br />

tatsächliche Gefahr durch das britische R<strong>in</strong>dfleisch ausg<strong>in</strong>g, so daß diese im Juni 1990 für<br />

ungültig erklärt wurden. Mit e<strong>in</strong>er sehr e<strong>in</strong>geschränkten europaweiten Regelung wurde jedoch<br />

kurz darauf e<strong>in</strong> +Kompromiß* gefunden: Im Juli 1990 e<strong>in</strong>igte man sich darauf, daß nur entbe<strong>in</strong>tes<br />

sowie von sichtbarem Lymph- und Nervengewebe befreites britisches R<strong>in</strong>dfleisch une<strong>in</strong>geschränkt<br />

im geme<strong>in</strong>samen Markt verkauft werden durfte, sofern es aus BSE-Betrieben stammte (für<br />

den Handel mit Fleisch aus +BSE-freien* Betrieben gab es ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkungen). Diese<br />

erste transnationale BSE-Verordnung diente also offensichtlich nicht dem Verbraucherschutz,<br />

son<strong>der</strong>n hatte re<strong>in</strong> deflexiv-praxologischen Charakter: Ihre <strong>in</strong>haltlichen Bestimmungen waren<br />

so +schwach*, daß nur e<strong>in</strong>e symbolische Ausstrahlung von ihr ausg<strong>in</strong>g. Dagegen stellte das<br />

Tiermehlverfütterungsverbot e<strong>in</strong>e tatsächliche abwehrende politisch-rechtliche Deflexion des<br />

BSE-Risikos dar (allerd<strong>in</strong>gs nur, sofern man sich <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>ierenden These e<strong>in</strong>er Übertragung<br />

von Scrapie auf die R<strong>in</strong><strong>der</strong> durch verseuchtes Tiermehl anschließt).<br />

Es bietet sich damit e<strong>in</strong>e weitere Unterscheidungsdimension an: nämlich ob die getroffenen<br />

Regelungen nur <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen (praxologischen) Deflexion (d.h. e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> symbolischen Ablenkung<br />

<strong>der</strong> Gefahren) o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er tatsächlichen Abwehr des Risikos (mit deflexiven Maßnahmen gemäß<br />

63<br />

dem Modell e<strong>in</strong>es Effizienz-orientierten technokratischen Krisenmanagements) dienten. Auch<br />

bezüglich <strong>der</strong> Inhalte <strong>der</strong> getroffenen Verordnungen läßt sich differenzieren: Die auf nationaler<br />

und transnationaler Ebene e<strong>in</strong>geführten Meldepflichten beispielsweise (siehe S. 274f.) dienten


292 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

<strong>der</strong> Informationsbeschaffung über das Ausmaß <strong>der</strong> Seuche. Der Handel wurde durch Export-<br />

bzw. Importverbote (Außenhandel) sowie durch das <strong>in</strong>nerbritische Verkaufsverbot von bestimmten<br />

R<strong>in</strong><strong>der</strong>produkten bzw. -bestandteilen e<strong>in</strong>geschränkt (+SBO-Ban*). E<strong>in</strong>e Reihe von Verordnungen<br />

dienten auch – sei es nun, wie oben unterschieden, tatsächlich o<strong>der</strong> nur vor<strong>der</strong>gründig –<br />

<strong>der</strong> Bekämpfung und Kontrolle <strong>der</strong> Krankheit (hier s<strong>in</strong>d, wie ausgeführt, <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das<br />

Tiermehlverfütterungsverbot sowie die beschlossenen Schlachtungsmaßnahmen zu nennen).<br />

Aufgrund letzterer mußten schließlich Regelungen für die Entschädigung <strong>der</strong> Bauern getroffen<br />

werden. 64<br />

Anhand des letzten Punkts läßt sich übrigens sehr deutlich demonstrieren, wie e<strong>in</strong>e Verrecht-<br />

lichungsspirale <strong>in</strong> Gang gesetzt wird: Regulationen erzeugen die Notwendigkeit von neuen<br />

Regulationen und zwar entwe<strong>der</strong>, weil (wie oben) die Folgen <strong>der</strong> rechtlichen E<strong>in</strong>griffe weiter-<br />

gehende (ausgleichende) Regelungen erzw<strong>in</strong>gen, die ursprünglichen Bestimmungen nicht<br />

den beabsichtigten Erfolg haben (was Modifizierungen und Ergänzungen erfor<strong>der</strong>t) o<strong>der</strong> uner-<br />

wünschte Nebeneffekte auftreten, die mit neuen Regelungen bearbeitet werden müssen.<br />

BSE ist auch für letzteres e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s passendes Beispiel. Denn wie bereits angemerkt:<br />

Ironischerweise wurde BSE (wie<strong>der</strong>um vorausgesetzt, man schließt sich <strong>der</strong> +offiziellen* Theorie<br />

an) durch e<strong>in</strong>e – liberalisierende – Modifikation <strong>der</strong> Bestimmungen für die Tiermehlverarbeitung<br />

+ausgelöst*. Dieser auf den ersten Blick +periphere E<strong>in</strong>griff* (Mayer-Tasch), <strong>der</strong> e<strong>in</strong>drücklich<br />

die oft unterschätze Risikodimension politisch-rechtlicher Regulation verdeutlich, hatte sehr<br />

weitreichende Folgen, die zu immer weitreichen<strong>der</strong>en Interventionen zwangen – teils um<br />

das Problem BSE tatsächlich <strong>in</strong> den Griff zu bekommen, teils um von se<strong>in</strong>er Risiko-Dimension<br />

abzulenken. Doch die erstrebte Kontrolle se<strong>in</strong>es +reflexiven* Risiko-Potentials gelang nur bed<strong>in</strong>gt:<br />

E<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Verbraucher blieb skeptisch, wie die Rückgänge beim R<strong>in</strong>dfleischkonsum zeigen<br />

(siehe S. 287 sowie Anmerkung 67). Das regulatorische Handeln führte so, da se<strong>in</strong> primär<br />

praxologisch-symbolischer Charakter durchschaut wurde, zu e<strong>in</strong>er (zum<strong>in</strong>dest partiellen)<br />

Entfremdung zwischen <strong>Politik</strong>, Verbrauchern und Fleisch<strong>in</strong>dustrie.<br />

Das Phänomen e<strong>in</strong>er Entfremdung ist (wie <strong>in</strong> Abschnitt 3.2 näher erläutert) e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> grund-<br />

sätzlichen +Gefahren* <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei regulatorischen E<strong>in</strong>griffen durch staatliche Institutionen<br />

und Recht <strong>in</strong> die Sphäre(n) <strong>der</strong> +Lebenswelt*. Deshalb, wie auch aufgrund <strong>der</strong> oben schon<br />

mehrfach angesprochenen Risikodimension je<strong>der</strong> Entscheidung, wird von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> häufig,<br />

solange es möglich ist, e<strong>in</strong>e Taktik <strong>der</strong> Nicht-Intervention verfolgt – was freilich se<strong>in</strong>erseits


KAP. 4: DER FALL +BSE* 293<br />

problematisch wird, wenn dadurch die Probleme <strong>der</strong>art anwachsen, daß sie nicht mehr lösbar<br />

s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> nur mit ungleich höheren Kosten, als wenn +rechtzeitig* gehandelt worden wäre.<br />

Auch dafür ist +BSE* e<strong>in</strong> treffendes Beispiel. Rechtlich-bürokratische Erstarrungsersche<strong>in</strong>ungen<br />

können dieses Problem zusätzlich verstärken. Je +aufgebähter* e<strong>in</strong>e Bürokratie ist und je mehr<br />

Regelungen bestehen, die beim <strong>in</strong>stitutionellen Handeln und bei Entscheidungen berücksichtigt<br />

werden müssen, desto +träger* wird die Reaktion <strong>der</strong> Institutionen. So läßt sich z.B. die relativ<br />

späte Reaktion <strong>der</strong> EG auf die BSE-Krise erklären.<br />

Aufgrund <strong>der</strong>artiger Probleme und <strong>der</strong> re<strong>in</strong> im juristischen Diskurs nicht zu beantwortenden<br />

normativen Fragen, die durch Versuche politisch-rechtlicher Regulation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er grundsätzlich<br />

risikobehafteten (Technik-)Welt aufgeworfen werden, kann man mit Ra<strong>in</strong>er Wolf, <strong>der</strong> sich<br />

wie<strong>der</strong>um an Beck anlehnt, e<strong>in</strong>e +Antiquiertheit des Rechts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft* (1987)<br />

konstatieren. Die (latente) Risikodimension von Technologien ist allerd<strong>in</strong>gs nur e<strong>in</strong> Unteraspekt<br />

<strong>der</strong> im folgenden dargelegten wissenschaftlich-technischen Aspekte des BSE-Dramas.<br />

4.3 WISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHE ASPEKTE DES BSE-DRAMAS<br />

BSE ist greifbar und doch unwirklich. Es ist e<strong>in</strong>e konkrete materielle Existenzgefährdung für<br />

die britischen Bauern und noch mehr für die R<strong>in</strong><strong>der</strong>, die ihre Schlachtung +befürchten* müssen.<br />

Für die Konsumenten britischen R<strong>in</strong>dfleisches stellt BSE dagegen kaum mehr als e<strong>in</strong>e dunkle<br />

Drohung dar. Und während sich <strong>in</strong> den Hirnen <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong> die Seuche ganz manifest <strong>in</strong><br />

schwammartigen Verän<strong>der</strong>ungen, <strong>in</strong> Eiweiß-Ablagerungen und Vakuolen äußert, so ist <strong>der</strong><br />

d<strong>in</strong>gliche Auslöser, <strong>der</strong> +Erreger* für diese Erkrankung ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>deutig identifiziert. Gewiß,<br />

die Prionentheorie, die von Stanley Prus<strong>in</strong>er seit Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre propagiert wird, hat<br />

sich im wissenschaftlichen Diskurs weitgehend durchgesetzt (siehe S. 278f.). Prus<strong>in</strong>er wurde<br />

für se<strong>in</strong>e Arbeit 1997 sogar mit dem Mediz<strong>in</strong>-Nobelpreis ausgezeichnet (siehe auch nochmals<br />

Anmerkung 26). An<strong>der</strong>erseits ist diese Auszeichnung durch das sonst eher +konservative* Nobel-<br />

Komitee für viele e<strong>in</strong> nicht m<strong>in</strong><strong>der</strong>es Mysterium als <strong>der</strong> BSE-Erreger selbst. Denn (bis jetzt)<br />

ist die Prionentheorie <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>e vielversprechende Spekulation, die nicht nur mit<br />

biologischen Paradigmen bricht, son<strong>der</strong>n, wie dargelegt, auch bestimmte Aspekte <strong>der</strong> BSE-<br />

Erkrankung schlecht o<strong>der</strong> gar nicht erklären kann. Viele Wissenschaftler halten deshalb an<br />

<strong>der</strong> konventionellen Virus-Theorie fest (siehe S. 277f.), die aber ebenso ihre Schwachstellen


294 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

hat. Darum haben <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen Situation selbst Außenseitertheorien wie die des Bio-Farmers<br />

Mark Purdey, <strong>der</strong> BSE auf den E<strong>in</strong>satz von Organophosphat-Pestiziden zurückführt (siehe<br />

S. 281f.), noch immer e<strong>in</strong>e, wenn auch ger<strong>in</strong>ge, Chance zur Durchsetzung.<br />

Die Unbestimmtheit des wissenschaftlichen Diskurses und die <strong>in</strong>terpretative Flexibilität, die<br />

<strong>der</strong>zeit herrscht, stehen im merkwürdigen Kontrast zur Bestimmtheit des politischen Krisen-<br />

managements. Nach <strong>der</strong> anfänglichen Negierung und <strong>der</strong> darauffolgenden primär symbolischen<br />

Deflexion <strong>der</strong> Krise hat man sich nämlich, wie dargestellt, mittlerweile für e<strong>in</strong>e +Strategie<br />

<strong>der</strong> tabula rasa* entschieden und, aufgrund <strong>der</strong> Reflexivität des BSE-Risikos (d.h. vor allem<br />

auch se<strong>in</strong>er Wahrnehmung durch die Verbraucher), e<strong>in</strong> umfassendes Tötungsprogramm be-<br />

schlossen. Dieses Tötungsprogramm ist e<strong>in</strong> Versuch <strong>der</strong> (se<strong>in</strong>erseits risikobehafteten) techno-<br />

logischen Deflexion des BSE-Risikos – wenn auch auf e<strong>in</strong>er technologisch eher +primitiven*<br />

Ebene, da Medikamente o<strong>der</strong> Impfstoffe augenblicklich (und wohl auch auf absehbare Zeit)<br />

nicht zur Verfügung stehen. So bleibt, weil Heilung unmöglich ist, sche<strong>in</strong>bar als e<strong>in</strong>ziger Ausweg<br />

die Tötung <strong>der</strong> Tiere, um die Seuche zu kontrollieren (bzw. um zum<strong>in</strong>dest den E<strong>in</strong>druck<br />

e<strong>in</strong>er Kontrollierbarkeit zu erzeugen).<br />

Die Tötung <strong>der</strong> Tiere ist technologisch, <strong>in</strong>soweit sie Tötungstechnik erfor<strong>der</strong>t. Jene ist zwar<br />

re<strong>in</strong> konventioneller Natur, denn sie schreibt nur die alltägliche Praxis <strong>in</strong> den Schlachthäusern<br />

fort, aber sie stellt, was die Größenordnung anbelangt, doch e<strong>in</strong>e logistische Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

dar. Insbeson<strong>der</strong>e die Tierkörpervernichtungskapazitäten s<strong>in</strong>d knapp. Deflexiv ist die Tötung<br />

<strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>, <strong>in</strong>soweit sie im Rahmen gängiger (technokratischer) Lösungsstrategien verbleibt<br />

und die Grundlagen des eigenen Handelns von den <strong>in</strong>stitutionellen Akteuren nicht h<strong>in</strong>terfragt<br />

werden.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs kann man durchaus anzweifeln, daß das beschlossene Tötungsprogramm zur Abwehr<br />

des BSE-Risikos tatsächlich wirksam ist. Vielmehr kann man, wie schon mehrfach angemerkt,<br />

durchaus den E<strong>in</strong>druck gew<strong>in</strong>nen, daß es sich hier um e<strong>in</strong>e eher symbolische Deflexion handelt,<br />

die primär auf e<strong>in</strong>e Beruhigung <strong>der</strong> Öffentlichkeit abzielt. Denn erstens ist es noch immer<br />

nicht gewiß, daß BSE sich tatsächlich durch Fleischverzehr übertragen läßt. Zweitens hat e<strong>in</strong>e<br />

Vielzahl von Verbrauchern wahrsche<strong>in</strong>lich bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit genügend +<strong>in</strong>fiziertes*<br />

R<strong>in</strong>dfleisch gegessen, um sich <strong>in</strong>fiziert zu haben, wenn e<strong>in</strong>e Infektion auf diesem Weg stattf<strong>in</strong>den<br />

kann. Kritische Wissenschaftler wie Stephen Dealler gehen deshalb im ungünstigsten Fall<br />

davon aus, daß nahezu alle erwachsenen britischen Verbraucher von BSE betroffen se<strong>in</strong>


KAP. 4: DER FALL +BSE* 295<br />

65<br />

könnten. Drittens ist ke<strong>in</strong>eswegs gesagt, daß BSE (vor allem durch den noch lange Zeit nach<br />

Ausbruch <strong>der</strong> Seuche praktizierten Export von britischem Tiermehl) nicht auch schon auf<br />

R<strong>in</strong><strong>der</strong>populationen außerhalb Großbritanniens übergegriffen hat und es dort nur noch nicht<br />

zum Ausbruch gekommen ist – weshalb die Vernichtung des britischen Bestands, wo die<br />

Fallzahlen schließlich bereits drastisch zurückgegangen s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e falsche Sicherheit wiegen<br />

könnte. Viertens wäre es denkbar, daß sich gerade durch die Schlachtung zusätzliche Personen<br />

anstecken: nämlich jene Arbeiter, die mit <strong>in</strong>fektiösem Material beim Töten <strong>der</strong> Tiere <strong>in</strong> Berührung<br />

kommen. Fünftens schließlich besteht e<strong>in</strong>e nicht ger<strong>in</strong>ge Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, daß – trotz<br />

angeordneter Vernichtung – Fleisch von britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> relevanten Mengen illegal auf<br />

den Markt gelangt. Hierfür gibt es bereits e<strong>in</strong>e Reihe von Beispielfällen (vgl. z.B. Blüthmann/-<br />

Reicherzer: Betrug leichtgemacht).<br />

Die beschlossene Tötungsaktion vermittelt also nicht viel mehr als die Illusion, daß die Seuche<br />

BSE +beherrschbar* ist. Indem man die R<strong>in</strong><strong>der</strong> auslöscht, suggeriert man, das Problem sei<br />

damit gelöst. Doch <strong>der</strong> Kern dieses Problems besteht wahrsche<strong>in</strong>lich eher im <strong>in</strong>strumentellen<br />

Umgang mit Lebenwesen und unserer Umwelt als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Existenz <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong> – denn diese<br />

s<strong>in</strong>d schließlich gerade gemäß <strong>der</strong> +offiziellen* Theorie nur deshalb erkrankt, weil man Scapie-<br />

verseuchtes Tiermehl an sie verfütterte, um den Milchertrag zu steigern. E<strong>in</strong> solcher nicht<br />

nur ethisch problematischer, son<strong>der</strong>n immer Risiken be<strong>in</strong>halten<strong>der</strong> <strong>in</strong>strumenteller Umgang<br />

mit +Umwelt* fußt auf <strong>der</strong> abstrakten (d.h. objektivierenden, +entbetteten*) Vernunft des wissen-<br />

schaftlichen Denkens <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit ökonomischer Zweckrationalität. Natürlich: Wissenschaft<br />

hat im Fall von BSE wesentlich zur Aufdeckung <strong>der</strong> Risiken beigetragen, die drohende Gefahr<br />

erst bewußt gemacht. Durch ihre +Enthüllungen* trägt sie also wesentlich zur sozialen<br />

Gefahrenkonstruktion bei, und erst mit <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> Untersuchungsergebnisse<br />

<strong>der</strong> Veter<strong>in</strong>äre des MAFF erhielt BSE se<strong>in</strong>en Namen und war damit im öffentlichen Diskurs<br />

präsent. Zudem muß berücksichtigt werden, daß es schließlich Wissenschaftler waren, die<br />

mit Übertragungsexperimenten sowie Vergleichsstudien e<strong>in</strong>en Zusammenhang zwischen BSE<br />

und CJK nahe legten und so die <strong>Politik</strong> zu e<strong>in</strong>er Aufgabe ihrer Negationsstrategie zwangen.<br />

Aber Wissenschaft war im Kontext von BSE immer e<strong>in</strong> ambivalenter Faktor. Sie hat nicht<br />

nur das BSE-Risiko +reflektiert*, son<strong>der</strong>n sich auch <strong>in</strong> den Dienst <strong>der</strong> politischen Deflexion<br />

gestellt. So haben sogar namhafte Forscher – als ke<strong>in</strong>erlei nähere Erkenntnisse vorlagen und<br />

selbst dann noch, als das Gegenteil bereits wahrsche<strong>in</strong>lich war o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest hätte


296 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

möglich ersche<strong>in</strong>en müssen – <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit den Beteuerungen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> fortgesetzt<br />

behauptet, daß ke<strong>in</strong>e Gefahr für die Verbraucher durch R<strong>in</strong><strong>der</strong>produkte bestünde. E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s<br />

augenfälliges (und deshalb mißglücktes) Beispiel für wissenschaftliche Deflexion im Dienst<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> nennt Barbara Adam: Sie berichtet, wie sich <strong>der</strong> Vorsitzende des SEAC, Professor<br />

Pattison, dadurch unglaubwürdig machte, daß er zunächst (als die britische Regierung erstmals<br />

die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Übertragung von BSE auf Menschen e<strong>in</strong>geräumt hatte) von e<strong>in</strong>er möglichen<br />

Opferzahl von bis zu 500.000 Personen sprach, er am nächsten Tag jedoch darauf bestand,<br />

daß durch die von den offiziellen Stellen getroffenen Maßnahmen das Erkrankungsrisiko m<strong>in</strong>imal<br />

sei – was die Vermutung nahe legte, daß se<strong>in</strong> Me<strong>in</strong>ungswechsel nur aufgrund <strong>der</strong> Ausübung<br />

von Druck zustande gekommen se<strong>in</strong> konnte (vgl. Timescapes of Mo<strong>der</strong>nity; S. 167).<br />

Durch das <strong>der</strong> Öffentlichkeit im Zuge solcher Inkonsistenzen immer stärker bewußte deflexive<br />

Zusammenspiel erfolgt zwangsläufig <strong>der</strong> <strong>in</strong> Abschnitt 3.3 angesprochene gegenseitige Legiti-<br />

mitätsentzug und e<strong>in</strong>e bei<strong>der</strong>seitige +Trivialisierung* von <strong>Politik</strong> und Wissenschaft. Damit die<br />

Wissenschaft im Kontext von BSE überhaupt noch als Deflexionsressource für die <strong>Politik</strong> dienen<br />

konnte, war es notwendig, die bestehende <strong>in</strong>terpretative Flexibilität, welche die wissenschaftliche<br />

Glaubwürdigkeit <strong>in</strong> den Augen <strong>der</strong> Öffentlichkeit unterhöhlt, gewaltsam e<strong>in</strong>zuengen und die<br />

Debatte durch E<strong>in</strong>satz von Machtmitteln zu schließen. Wissenschaftler, die von <strong>der</strong> durch<br />

die <strong>Politik</strong> vorgegebenen L<strong>in</strong>ie abweichend dachten, forschten und vor allem sich äußerten,<br />

wurden also unter Druck gesetzt o<strong>der</strong> – sofern sie öffentliche Angestellte waren – <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen<br />

sogar entlassen. Dafür lassen sich mehrere Beispielfälle anführen. Stephen Dealler, <strong>der</strong> sich<br />

mit se<strong>in</strong>en oben zitierten Schätzungen unbeliebt gemacht hatte, mußte se<strong>in</strong> Engagement mit<br />

dem Ende se<strong>in</strong>er Karriere bezahlen. Auch <strong>der</strong> Mikrobiologe Harash Narang, <strong>der</strong> sich mit <strong>der</strong><br />

Entwicklung e<strong>in</strong>es BSE-Unr<strong>in</strong>tests befaßt hatte, wurde von se<strong>in</strong>em Dienst bei den staatlichen<br />

66<br />

+Public Health Service Laboratories* suspendiert (vgl. Mart<strong>in</strong>: The Mad Cow Deceit). Selbst<br />

<strong>in</strong> Deutschland hat es ähnlich gelagerte Fälle gegeben. So wurde e<strong>in</strong>e Schlachthoftierärzt<strong>in</strong>,<br />

die verschiedene BSE-Verdachtsfälle diagnostiziert hatte, zuerst auf Unterlassung und Schadens-<br />

ersatz vom Schlachthofbetreiber verklagt. Schließlich wurde sie von ihrem Arbeitgeber (dem<br />

Kreis Segeberg) wegen angeblichen Fehlverhaltens fristlos entlassen (vgl. Köster-Lösche: R<strong>in</strong><strong>der</strong>-<br />

wahns<strong>in</strong>n; S. 109f.).<br />

All die oben genannten Deflexionsmaßnahmen unter Ausnutzung wissenschaftlich-technischer<br />

Ressourcen (sowie die im folgenden Abschnitt thematisierten öffentlichen Inszenierungen


KAP. 4: DER FALL +BSE* 297<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>) sollten das reflexive Protestpotential ablenken, das durch BSE freigesetzt wurde.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs war dieses im Fall von BSE von vorne here<strong>in</strong> nur sehr begrenzt. Dagegen spricht<br />

auch nicht die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat meßbare Reaktion <strong>der</strong> Verbraucher. Denn selbst wo diese +verschreckt*<br />

wurden und sich den Angeboten <strong>der</strong> R<strong>in</strong>dfleisch<strong>in</strong>dustrie entzogen, wurde meist nur auf an<strong>der</strong>e<br />

Fleischsorten +ausgewichen*. So stieg <strong>in</strong> Großbritannien <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> BSE-Ängste <strong>der</strong> Absatz<br />

von Schwe<strong>in</strong>e- und Lammfleisch an, und schon nach kurzer Zeit war e<strong>in</strong>e +Normalisierung*<br />

67<br />

auch beim R<strong>in</strong>dfleischkonsum festzustellen. Diese +gemäßigte* Reaktion <strong>der</strong> Verbraucher<br />

ist me<strong>in</strong>es Erachtens aber nur begrenzt auf den Erfolg <strong>der</strong> politischen Deflexionsversuche<br />

zurückzuführen. Der Fleischverzehr, <strong>der</strong> an sich Ausdruck e<strong>in</strong>es problematischen <strong>in</strong>strumentellen<br />

Umgangs mit an<strong>der</strong>en Lebewesen ist und (so +exzessiv* wie er betrieben wird) überdies e<strong>in</strong>e<br />

+<strong>in</strong>humane* Massentierhaltung erfor<strong>der</strong>t, stellt <strong>in</strong> <strong>der</strong> britischen und auch <strong>der</strong> kont<strong>in</strong>entalen<br />

Kultur e<strong>in</strong>e unh<strong>in</strong>terfragte Selbstverständlichkeit dar, und speziell R<strong>in</strong>dfleisch hat <strong>in</strong> Groß-<br />

britannien e<strong>in</strong>e hohe (nationale) symbolische Bedeutung (siehe auch Abschnitt 4.5). Die<br />

überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> Menschen ist zudem zu träge, ihre Gewohnheiten grundlegend<br />

zu än<strong>der</strong>n, und man geht lieber e<strong>in</strong> Risiko e<strong>in</strong>, so lange dieses nicht konkret und faßbar ist,<br />

d.h. wenn nicht wirklich klar ist, daß das tägliche Stück Fleisch auf dem Teller nicht nur für<br />

das Schlachtvieh, son<strong>der</strong>n auch für den Esser tödlich ist. Abgestützt wird diese Trägheit <strong>der</strong><br />

Konsumenten durch das enorme +Momentum* <strong>der</strong> R<strong>in</strong>dfleisch<strong>in</strong>dustrie. Die eher hilflosen<br />

Deflexionsversuche hätten also vielleicht, wenn man sich auf die Seite <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten<br />

<strong>Politik</strong> stellt, lieber gleich ganz unterlassen bleiben sollen. Anstatt durch allzu durchsichtige<br />

Manöver die eigene Legitimität zu untergraben, wäre es klüger gewesen, auf die Selbstbegrenzung<br />

<strong>der</strong> Reflexivität durch bestehende Trägheitsmomente zu bauen.<br />

4.4 MEDIALE ASPEKTE DES POLITISCHEN BSE-DRAMAS<br />

Was bewog – ausgerechnet – e<strong>in</strong>en britischen Landwirtschaftsm<strong>in</strong>ister dazu, se<strong>in</strong>e Tochter<br />

vor laufenden Kameras mit e<strong>in</strong>er amerikanischen Fast-Food-Spezialität zu +beglücken*, die<br />

irreführen<strong>der</strong> Weise +Hamburger* genannt wird – obwohl doch die +Güte* solcher Kost im<br />

allgeme<strong>in</strong>en eher bezweifelt wird und e<strong>in</strong> +echter* Brite sich im beson<strong>der</strong>en schon aus<br />

Patriotismus <strong>der</strong>lei eher +unbritischen* Gaumenfreuden verweigern müßte? Und was bewog<br />

an<strong>der</strong>erseits die Tochter jenes britischen Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isters dazu, diesen Hamburger


298 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

(bei dem es sich <strong>in</strong> Wahrheit natürlich um e<strong>in</strong>en +Beef Burger* handelte), nachdem die Kameras<br />

ausgeschaltet waren, ihrem Vater zum Verzehr zu überlassen, <strong>der</strong> diesen – noch verwun<strong>der</strong>licher<br />

– tatsächlich aufaß?<br />

Der S<strong>in</strong>n jenes durchaus kuriosen, allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>eswegs erdachten, son<strong>der</strong>n vielmehr aus<br />

<strong>der</strong> (Medien-)Wirklichkeit gegriffenen Schauspiels erschließt sich e<strong>in</strong>em sofort, wenn drei<br />

– mittlerweile recht vertraute – Buchstaben <strong>in</strong>s Spiel kommen: BSE. Denn im Kontext <strong>der</strong><br />

BSE-Krise wird verständlich, was an<strong>der</strong>enfalls doch eher irritierend wirkt: e<strong>in</strong> britischer Land-<br />

wirtschaftsm<strong>in</strong>ister (John Gummer), <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Tochter dazu veranlaßt, vor versammelter Presse<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Hamburger zu beißen. Sobald jedoch klar ist, daß BSE den H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> Darstellung<br />

abgibt, ist auch klar, daß es eigentlich weniger um Töchter von M<strong>in</strong>istern o<strong>der</strong> Hamburger<br />

g<strong>in</strong>g, son<strong>der</strong>n daß <strong>der</strong> öffentlich <strong>in</strong>szenierte Biß <strong>in</strong> das amerikanische Hackfleischbrötchen<br />

nur e<strong>in</strong>es demonstrieren sollte: Ke<strong>in</strong>e Gefahr für die Verbraucher durch BSE – und deshalb<br />

auch ke<strong>in</strong> Verschulden <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Erst <strong>der</strong> Kontext <strong>der</strong> politischen Darstellung verweist also<br />

auf ihren +taktischen* Charakter und läßt die <strong>der</strong> Darstellung, dem dramaturgischen politischen<br />

+Text*, implizite Botschaft hervortreten (vgl. auch Edelman: Construct<strong>in</strong>g the Political Spectacle;<br />

Kap. 7). In <strong>der</strong> Dramaturgie des Symbolakts werden gleichzeitig Fragen gestellt und Antworten<br />

gegeben. Bezogen auf das obige Beispiel lauten sie: Würde e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>ister, <strong>der</strong> me<strong>in</strong>t (o<strong>der</strong><br />

gar weiß), daß BSE e<strong>in</strong>e reale Gefahr für das Leben <strong>der</strong> Briten darstellt, se<strong>in</strong>e eigene Tochter<br />

(und sich selbst) e<strong>in</strong>em Ansteckungsrisiko aussetzen? – Wohl kaum! Diese affirmative +Message*<br />

ist es, die die <strong>Politik</strong> im Kontext von BSE mit solchen symbolischen Akten vermitteln will,<br />

die die Medien transportieren und die das Publikum aufnimmt.<br />

Und doch, letztendlich ist allen bewußt: Es handelt sich um e<strong>in</strong>e Inszenierung. Denn wie<br />

bereits dargelegt wurde, besteht im Bereich des öffentlichen Handelns e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere Aufrichtig-<br />

keitserwartung und damit e<strong>in</strong>e von vorne here<strong>in</strong> kritischere E<strong>in</strong>stellung des Publikums gegenüber<br />

den Darstellungen <strong>der</strong> Akteure als im Privatbereich (siehe S. 157ff.). Die sich <strong>in</strong>szenierende<br />

<strong>Politik</strong> hofft nun aber, daß ihr trotz dem bestehenden Bewußtse<strong>in</strong> für den Inszenierungscharakter<br />

ihrer Aktionen geglaubt wird, da man – wohl nicht zu Unrecht – auf die +Macht <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>* 68<br />

vertraut. Die Medien lassen sich, <strong>in</strong>dem sie die Inszenierung ihrerseits <strong>in</strong> Szene setzen, <strong>in</strong>stru-<br />

mentalisieren, weil sie vom +Show-Effekt* <strong>der</strong> politischen Inszenierungen profitieren, und<br />

<strong>in</strong>strumentalisieren so im Gegenzug die <strong>Politik</strong> für ihre (kommerziellen) Interessen, welche<br />

sich schließlich <strong>in</strong> den öffentlichen politischen Inszenierungen an die Medien-Semantik anpaßt.


KAP. 4: DER FALL +BSE* 299<br />

Das Publikum, um dessen Gunst Medien und <strong>Politik</strong> – allerd<strong>in</strong>gs aus unterschiedlichen Motiven<br />

– werben, weiß, wie gesagt, um den Schauspielcharakter solcher Aktionen, sieht aber trotzdem<br />

gebannt zu und läßt sich unterhalten (manchmal sogar, dann allerd<strong>in</strong>gs eher auf unterschwelliger<br />

Ebene, überzeugen).<br />

Beson<strong>der</strong>s, wenn – wie im oben beschriebenen Fall – e<strong>in</strong> Moment <strong>der</strong> Gefahr <strong>in</strong>s Spiel kommt,<br />

gew<strong>in</strong>nt das politische Spektakel an Reiz für das ansonsten von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> doch eher gelangweilte<br />

Publikum. Dieser Reiz <strong>der</strong> Gefahr wirkte denn wohl auch, um e<strong>in</strong> weiters Beispiel zu geben,<br />

als <strong>der</strong> (damalige) deutsche Umweltm<strong>in</strong>ister Klaus Töpfer 1988 durch den Rhe<strong>in</strong> schwamm,<br />

um dessen verbesserte Wasserqualität <strong>der</strong> Öffentlichkeit plastisch zur Schau zu stellen. 1985<br />

hatte Töpfer nämlich (zu dieser Zeit noch Umweltm<strong>in</strong>ister des Bundeslandes Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz)<br />

bekundet, er würde den stark schadstoffbelasteten Fluß im Verlauf se<strong>in</strong>er Amtszeit so wirksam<br />

sanieren, daß man bald wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihm baden könne, und er wolle selbst dafür den Beweis<br />

antreten. Er wagte das Risiko e<strong>in</strong>es Rhe<strong>in</strong>bades dann allerd<strong>in</strong>gs nur mit e<strong>in</strong>em Rettungs-<br />

schwimmer-Tauchanzug, Taucherflossen und Badekappe ausgestattet. Und er versuchte den<br />

offensichtlichen Schauspielcharakter dieser von den Medien begleiteten Aktion (<strong>der</strong> eben<br />

durch se<strong>in</strong>e Offensichtlichkeit natürlich die Wirksamkeit <strong>der</strong> Inszenierung <strong>in</strong> Frage stellte)<br />

damit herunterzuspielen, daß er versicherte, er wolle den Rhe<strong>in</strong> mit se<strong>in</strong>er Durchschwimmung<br />

ke<strong>in</strong>esfalls zum Badegewässer hochstilisieren. (Vgl. ausführlicher zu diesem Beispiel Meyer:<br />

Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s; S. 79ff.)<br />

Doch zurück zum Fall BSE: Das Moment <strong>der</strong> (drohenden) Gefahr ist hier kaum zu übersehen.<br />

Ist BSE durch Fleischverzehr und r<strong>in</strong><strong>der</strong>gewebshaltige Produkte auf den Menschen übertragbar?<br />

Und wenn ja: Wie viele Opfer s<strong>in</strong>d zu erwarten? Ist sogar e<strong>in</strong>e Ansteckung durch Bluttrans-<br />

fusionen (siehe auch Anmerkung 60) möglich? All das s<strong>in</strong>d im Zusammenhang von BSE <strong>der</strong>zeit<br />

brennende Fragen. Trotzdem spielt das mögliche Gesundheitsrisiko durch die neuartige R<strong>in</strong><strong>der</strong>-<br />

seuche im medialen öffentlichen Diskurs <strong>in</strong> Großbritannien nur e<strong>in</strong>e relativ untergeordnete<br />

Rolle. Darauf hat <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Barbara Adam im Zusammenhang ihrer am Fall +BSE* dargelegten<br />

Überlegungen zum +mediatisierten Wissen* (siehe auch S. 296) h<strong>in</strong>gewiesen: Der wissenschaft-<br />

liche Erkenntnisstand ist zwar noch äußerst unsicher. Die Mediensemantik verlangt allerd<strong>in</strong>gs<br />

nach berichtbaren +Fakten*. (Vgl. Timescapes of Mo<strong>der</strong>nity; S. 165ff.). 69<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich ist genau dies <strong>der</strong> Grund, warum sich die meisten britischen Medien auf<br />

den Versuch <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, sich mittels e<strong>in</strong>er Redef<strong>in</strong>ition des Problems aus <strong>der</strong> Affaire zu ziehen,


300 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

e<strong>in</strong>gelassen haben: E<strong>in</strong>e Gesundheitskrise wurde – um vom Gefährdungspotential durch BSE<br />

abzulenken – zu e<strong>in</strong>er (primär ökonomisch thematisierten) R<strong>in</strong><strong>der</strong>krise umdef<strong>in</strong>iert (vgl. ebd.;<br />

S. 184ff.). Denn die +hard news* ökonomischer Schadensrechnungen (und natürlich auch<br />

symbolische Akte von <strong>Politik</strong>ern) lassen sich leichter mediengerecht aufbereiten als unsichere<br />

(und hoch komplexe) wissenschaftliche Aussagen über potentielle Risiken für Verbraucher.<br />

Trotzdem war und ist die Thematisierung von BSE <strong>in</strong> den Medien natürlich, wie dies für +Um-<br />

weltkrisen* allgeme<strong>in</strong> gilt, durch e<strong>in</strong>e hybride Mischung von solchen +hard news* (also Fakten<br />

mit schnell verfallendem Aktualitätswert) und eher unspezifischen, dafür aber zeitlich nicht<br />

so limitierten +soft news* gekennzeichnet (vgl. ebd.; S. 169f.).<br />

Hierauf aufbauend kommt es allerd<strong>in</strong>gs im Kontext <strong>der</strong> BSE-Krise auch noch auf an<strong>der</strong>e Art<br />

und Weise zu e<strong>in</strong>er deflexiven Redef<strong>in</strong>ition, bei <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und Medien (symbiotisch) zusammen-<br />

wirken: Das Problem BSE wird externalisiert und ersche<strong>in</strong>t dadurch nicht mehr selbsterzeugt,<br />

son<strong>der</strong>n vielmehr durch äußere E<strong>in</strong>flüsse verursacht. Die aktive Konstruktion e<strong>in</strong>es neuen<br />

Problems/Konfliktfeldes dient so zur Ablenkung von e<strong>in</strong>em bestehenden an<strong>der</strong>en und vielleicht<br />

brennen<strong>der</strong>en Problem (vgl. auch Edelman: Construct<strong>in</strong>g the Political Spectacle; S. 27f.).<br />

Um <strong>der</strong>art e<strong>in</strong>e Entlastung zu erreichen, appellierte man <strong>in</strong> Großbritannien an nationalistische<br />

Gefühle, und versuchte, e<strong>in</strong>en äußeren Fe<strong>in</strong>d zu konstruieren.<br />

Prädest<strong>in</strong>iert für die Rolle des äußeren Fe<strong>in</strong>des ist <strong>in</strong> Großbritannien +traditionell* Europa,<br />

<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>ent (zu dem sich das britische Inselreich nicht zählt) und hier <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Deutsch-<br />

land, das sich als Fe<strong>in</strong>dfigur deshalb beson<strong>der</strong>s gut eignet, weil es Kriegsgegner im Zweiten<br />

Weltkrieg war, welcher für die Briten trotz ihres Stehens auf <strong>der</strong> Siegerseite auch das Ende<br />

ihres kolonialen Empires (jedenfalls weiter Teile davon) mit sich brachte. Deshalb herrschen<br />

<strong>in</strong> Großbritannien noch immer ambivalente Gefühle, wenn an diesen Krieg gedacht wird,<br />

und es besteht offenbar e<strong>in</strong> latentes Verlangen, die Schlacht noch e<strong>in</strong>mal zu schlagen. Verstärkt<br />

wird diese Tendenz dadurch, daß <strong>der</strong> Kriegsverlierer Deutschland nach dem Krieg Großbritannien<br />

wirtschaftlich überflügelte. Die deutsche Wi<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>igung im Jahr 1990 schließlich schürte<br />

zusätzlich die untergründige Furcht vor e<strong>in</strong>em neuen Großdeutschland, das <strong>in</strong> Kooperation<br />

70<br />

mit Frankreich, dem an<strong>der</strong>en +Erzfe<strong>in</strong>d* <strong>der</strong> Briten, e<strong>in</strong>e aus britischer Sicht zu starke Über-<br />

macht darstellt.<br />

Bei den Verhandlungen zur Handhabung <strong>der</strong> BSE-Krise mit <strong>der</strong> EU (die man als von Deutschland<br />

und Frankreich dom<strong>in</strong>iert ansieht) bemühte die britische Presse denn auch ausgiebig die


KAP. 4: DER FALL +BSE* 301<br />

Kriegsmetapher. So titelte die +Daily Mail* mit <strong>der</strong> Schlagzeile, daß Major <strong>in</strong> den Krieg (gegen<br />

Europa) ziehe, und auch die +Press Association* sprach von <strong>der</strong> Bildung e<strong>in</strong>es +Kriegskab<strong>in</strong>etts*<br />

(vgl. Kettle: Als wäre <strong>der</strong> Krieg ausgebrochen…). Selbst die altehrwürdige +Times* fragte: +How<br />

can we use beef to beat Kohl* (Ausgabe vom 24.5.1996). Intensiviert wurde dieses durch<br />

BSE angefachte anti-europäische und vor allem anti-deutsche Ressentiment noch durch den<br />

Erfolg <strong>der</strong> deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei den Europameisterschaften <strong>in</strong> England<br />

vom Sommer 1996 – auch wenn viele Briten sich für die drastischen Töne des Boulevard-Blattes<br />

+Sun* schämten, das auffor<strong>der</strong>te +Let’s Blitz Fritz* (Haut die Deutschen weg!), und als +Service*<br />

se<strong>in</strong>en Lesern 20 Möglichkeiten aufzeigte, rüde zu den Deutschen zu se<strong>in</strong>.<br />

H<strong>in</strong>ter dieser +nationalistischen Hetze* <strong>in</strong> <strong>der</strong> britischen Presse steckte die Absicht von konservativ<br />

geprägten Verlagshäusern, <strong>der</strong> (damaligen) konservativen Regierung Schützenhilfe zu leisten,<br />

die bei <strong>der</strong> Bevölkerung immer unpopulärer wurde. Und auch die Blätter von +ausländischen*<br />

Medienmagnaten wie Rupert Murdoch (u.a. Besitzer <strong>der</strong> oben erwähnten Titel +Times* und<br />

+Sun*) stimmten unüberhörbar <strong>in</strong> diesen Tenor mit e<strong>in</strong>, da Murdoch aus wirtschaftlichen Motiven<br />

antieuropäische Ziele verfolgt. Manchmal wird sogar offen ausgesprochen, was sonst nur<br />

unter vorgehaltener Hand zugegeben wird. So äußerte <strong>der</strong> Cambridge-Historiker und Kolumnist<br />

Andrew Roberts <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Sunday-Times*, daß wenn die antideutsche Stimmungsmache geholfen<br />

habe, den Wi<strong>der</strong>stand gegen Europa zu stärken, sei dies e<strong>in</strong> +willkommener Nebeneffekt*<br />

gewesen. (Vgl. Krönig: Orgiastische Beschwörung nationaler Leidenschaft)<br />

Die auch <strong>in</strong> Großbritannien unter den Bed<strong>in</strong>gungen von Globalisierung und Individualisierung<br />

zu erodieren drohende nationale Identität sollte also nach dem Pr<strong>in</strong>zip +Inklusion durch<br />

Exklusion*, d.h. mittels <strong>der</strong> Konstruktion e<strong>in</strong>es (äußeren) Gegners, stabilisiert werden. Dazu<br />

kam die BSE-Krise gelegen, von <strong>der</strong>en <strong>in</strong>nenpolitischer Sprengkraft so gleichzeitig abgelenkt<br />

werden konnte. Diese Art <strong>der</strong> außenpolitischen Ablenkung von <strong>in</strong>nenpolitischen Problemen<br />

ist übrigens ganz allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e sehr +beliebte* politische Deflexionsstrategie. E<strong>in</strong> partikulares<br />

Interesse (im Fall von BSE: die Interessen <strong>der</strong> britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>in</strong>dustrie sowie <strong>der</strong> Machterhalt<br />

<strong>der</strong> politischen Klasse <strong>in</strong> Großbritannien) wird zum nationalen Interesse erklärt (vgl. auch<br />

Edelman: <strong>Politik</strong> als Ritual; S. 72). +Auf diese Weise werden gegensätzliche Interessen und<br />

Ängste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Innenpolitik nicht mehr als solche wahrgenommen; sie werden zu e<strong>in</strong>em außen-<br />

politischen Konflikt umstilisiert* (ebd.; S. 73). Man <strong>in</strong>szenierte also durch die Redef<strong>in</strong>ition<br />

von BSE zur R<strong>in</strong><strong>der</strong>krise e<strong>in</strong>en symbolischen Konflikt mit <strong>der</strong> EU und den Deutschen, um


302 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

die +diffuse* politische Masse e<strong>in</strong>erseits wie<strong>der</strong> zur Nation zu e<strong>in</strong>en (was auch größere Kontrolle<br />

über sie verspricht), und um sie an<strong>der</strong>erseits als potentielle Quelle von politischem Protest<br />

gegen das verfehlte (an<strong>der</strong>erseits dramatisch übersteigerte) BSE-Krisenmanagement zu immobi-<br />

lisieren (vgl. auch ebd.; S. 83f.). 71<br />

Daß <strong>der</strong> +Fe<strong>in</strong>d* Europa als übermächtig <strong>in</strong> diesem Konflikt ersche<strong>in</strong>t, dient nur <strong>der</strong> Sache.<br />

Denn zur Konstruktion e<strong>in</strong>es Gegners und zur Schürung e<strong>in</strong>es Konflikts eignen sich, worauf<br />

Uli Bielefeld verweist, nicht nur <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wenig konkrete allgeme<strong>in</strong>e Fe<strong>in</strong>d-Bil<strong>der</strong> (wie<br />

dies für +Europa* ohne Zweifel gilt), da nämlich, sobald <strong>der</strong> Fe<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles Gesicht<br />

erhält, automatisch auch Ansatzpunkte zur Identifizierung gegeben s<strong>in</strong>d (vgl. Das Konzept<br />

72<br />

des Fremden und die Wirklichkeit des Imag<strong>in</strong>ären; S. 103). Der (ideale) Konfliktgegner sollte<br />

überdies groß und mächtig wirken, weil er nur so Angst auszulösen vermag und damit dazu<br />

dienen kann, dem (kollektiven) +Ich* die bestehende Ambivalenz zu nehmen, <strong>in</strong>dem die<br />

eigene Furcht auf den konstruierten Gegner übertragen wird (vgl. ebd.; S. 104f.). Die Angst<br />

<strong>der</strong> Briten wird also nach außen projiziert und so verdrängt und abgewehrt. Die Sorge vor<br />

<strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung durch den übermächtigen Kont<strong>in</strong>ent ersetzt die (real viel bedrohlichere,<br />

doch gleichzeitig viel schwerer +bewältigbare*) Furcht vor dem Tod durch BSE.<br />

Die deflexive Projektion <strong>der</strong> Angst nach außen wird (im Innen) durch die symbolische Schaffung<br />

von +Vertrauen* unterstützt. Als Beispiel kann hier wie<strong>der</strong>um die e<strong>in</strong>gangs karikierte Inszenierung<br />

des britischen Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isters Gummer dienen, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Tochter demonstrativ <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>en Hamburger beißen ließ. E<strong>in</strong>en ähnlichen Effekt erzielen die ständigen Beteuerungen<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, daß ke<strong>in</strong>e Gefahr durch BSE gegeben sei (wenngleich diese natürlich weit weniger<br />

+spektakulär* s<strong>in</strong>d). Edelman spricht <strong>in</strong> solchen Fällen von <strong>in</strong>szeniertem Selbstbewußtse<strong>in</strong><br />

sowie <strong>in</strong>szenierter Zuversicht und verweist darauf, daß speziell verängstigte Menschen gerne<br />

glauben, daß die politische Spitze (weil sie die politische Spitze ist), weiß, was sie tut, weshalb<br />

das Publikum den (auch wissenschaftlich abgestützten) politischen Darstellungen von Kompetenz<br />

Glauben schenkt (vgl. <strong>Politik</strong> als Ritual; S. 99). Die politischen Führung dient hier gewissermaßen<br />

selbst als +Zeichen* ihrer Kompetenz (vgl. auch <strong>der</strong>s.: Construct<strong>in</strong>g the Political Spectacle;<br />

Kap. 3) bzw. rekurriert auf Autoritäten, die nicht <strong>der</strong> Autorität des politischen Systems unterstellt<br />

ersche<strong>in</strong>en.<br />

Das kann am Beispiel BSE nochmals konkret gemacht werden: BSE ist seit 1986, also se<strong>in</strong>er<br />

+offiziellen Geburtsstunde*, e<strong>in</strong> Thema für die Medien. Die Dynamik <strong>der</strong> Medien-Berichterstatt


KAP. 4: DER FALL +BSE* 303<br />

war und ist jedoch weitgehend losgelöst von <strong>der</strong> +objektiven* Entwicklung, verläuft sogar<br />

vielmehr quer zu ihr: Dies zeigt sich beson<strong>der</strong>s deutlich, wenn man die Intensität <strong>der</strong> Bericht-<br />

erstattung (gemessen an <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> zum Thema verfaßten Artikel) und die Entwicklung<br />

<strong>der</strong> BSE-Fallzahlen mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> vergleicht. Wie aus Abbildung 4 (S. 274) abzulesen ist, erfolgte<br />

zunächst es e<strong>in</strong> relativ rasches, kont<strong>in</strong>uierliches Hochschnellen <strong>der</strong> BSE-Fälle, wobei <strong>der</strong><br />

Höhepunkt <strong>der</strong> Seuche mit 36.682 erkrankten Tieren auf 1992 fällt. Danach ist e<strong>in</strong> fast ebenso<br />

schnelles und kont<strong>in</strong>uierlich Abs<strong>in</strong>ken festzustellen, so daß <strong>der</strong>zeit nur mehr relativ wenige<br />

Fälle beobachtet werden können.<br />

Ganz an<strong>der</strong>s verlief die Medienberichterstattung: (Erster) Höhepunkt <strong>der</strong> Thematisierung von<br />

73<br />

BSE <strong>in</strong> den Medien war nach den von <strong>der</strong> +Glasgow Media Studies Group* ermittelten Zahlen<br />

e<strong>in</strong>deutig 1990. E<strong>in</strong> leichter Peak war auch 1994 festzustellen (als es aufgrund von wissen-<br />

schaftlichen Experimenten deutliche Indizien für e<strong>in</strong>e Übertragbarkeit <strong>der</strong> Krankheit auf den<br />

Menschen gab), während es 1992, also dem Jahr <strong>der</strong> meisten toten Tiere, eher ruhig um<br />

das Thema BSE war. 1996, das lei<strong>der</strong> nicht mehr von den schottischen Medien-Wissenschaftlern<br />

bei ihrer Auswertung erfaßt wurde, kam es dann, wie je<strong>der</strong> selbst nachvollziehen kann, ausgelöst<br />

durch das E<strong>in</strong>geständnis <strong>der</strong> britischen Regierung, daß BSE auch für den Menschen e<strong>in</strong>e Gefahr<br />

darstellen könnte, zu e<strong>in</strong>er wahren Inflation von Beiträgen.<br />

Was also auffällt, ist die Diskont<strong>in</strong>uität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Medienberichterstattung, die im Gegensatz zum<br />

eher kont<strong>in</strong>uierlichen An- und Abschwellen <strong>der</strong> BSE-Fälle steht. Diese Diskont<strong>in</strong>uität <strong>der</strong> Bericht-<br />

erstattung ist <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie mit <strong>der</strong> schon oben mit Adam angesprochenen Ereignisfixierung<br />

<strong>der</strong> Medien zu erklären. Michael Burton und Trevor Young gelangen nun bei ihrer Untersuchung<br />

des Mediene<strong>in</strong>flusses auf das Verbraucherverhalten im Kontext <strong>der</strong> BSE-Krise zu dem Ergebnis,<br />

daß sich e<strong>in</strong>e Korrelation <strong>der</strong> Konsumgewohnheiten mit <strong>der</strong> Intensität <strong>der</strong> Medienberichterstattung<br />

zeigt, wobei <strong>der</strong> kurzfristige negative Effekt auf den R<strong>in</strong>dfleischkonsum relativ groß ist, <strong>der</strong><br />

erwartete langfristige Effekt allerd<strong>in</strong>gs etwas gemäßigter ausfällt (vgl. Measur<strong>in</strong>g Meat Consumers’<br />

Response to the Perceived Risks of BSE <strong>in</strong> Great Brita<strong>in</strong>). Die Diskont<strong>in</strong>uität und die Hysterie<br />

<strong>der</strong> Medienberichterstattung übersetzt sich damit, sollte sich diese Prognose als richtig erwiesen,<br />

im Verbraucherverhalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Kont<strong>in</strong>uität auf gesenkten Aufmerksamkeitsniveau.<br />

Ähnliches läßt sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach auch für die politischen Reaktionen auf den Medien-<br />

diskurs aufzeigen. Denn die <strong>Politik</strong>er orientierten sich bei ihren Dr<strong>in</strong>glichkeitse<strong>in</strong>schätzungen<br />

offenbar auch an <strong>der</strong> Intensität <strong>der</strong> Berichterstattung und entfalteten immer, wenn das Thema


304 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

im Zentrum <strong>der</strong> öffentlichen Aufmerksamkeit stand, hektische Aktivität. An<strong>der</strong>erseits +vergaß*<br />

die <strong>Politik</strong> das Problem auch nicht so schnell wie die ständig nach neuen Berichterstattungs-<br />

themen suchenden Medien, son<strong>der</strong>n bearbeitete es kont<strong>in</strong>uierlicher und traf sogar e<strong>in</strong>e begrenzte<br />

Vorsorge.<br />

Die wichtigsten Anti-BSE-Maßnahmen <strong>der</strong> britischen Regierung fallen nämlich, wie sich bereits<br />

aus den e<strong>in</strong>leitenden Bemerkungen ergibt, <strong>in</strong> den Zeitraum 1988 bis 1990 – erfolgten also<br />

schon etwas vor dem ersten Höhepunkt <strong>der</strong> Berichterstattung. An<strong>der</strong>erseits fällt <strong>der</strong> oben<br />

erwähnte +spektakuläre* Medienauftritt von Landwirtschaftsm<strong>in</strong>ister Gummer mit se<strong>in</strong>er Tochter<br />

genau <strong>in</strong> die Zeit <strong>der</strong> ersten <strong>der</strong> großen Medienhysterie. Und bezeichnen<strong>der</strong>weise wurde<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong> Abstimmung mit <strong>der</strong> EU erarbeitete Tötungsplan für die britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong> 1996<br />

beschlossen. Als die öffentliche Aufmerksamkeit beson<strong>der</strong>s groß war (und zusätzlich äußerer<br />

Druck ausgeübt wurde), wurde also +dramatisch* gehandelt. Die +Objektivität* wissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse, die wie<strong>der</strong>um die öffentliche Dynamik mit angefacht hat, kann nicht als primäre<br />

Erklärung für die Drastik des politischen Krisenmanagements dienen, da es warnende Stimmen<br />

aus <strong>der</strong> Wissenschaft schon zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Krise gegeben hatte und die wichtigsten wissen-<br />

schaftlichen Ergebnisse, die für die öffentliche Aufregung mit verantwortlich waren, <strong>der</strong> <strong>Politik</strong><br />

(durch ihre Berater und eigene Auftragsforschungen) auch meist schon früher bekannt waren<br />

als <strong>der</strong> (Medien-)Öffentlichkeit.<br />

4.5 KULTURELLE UND SOZIALSTRUKTURELLE ASPEKTE DES BSE-DRAMAS<br />

Ich habe bereits <strong>in</strong> Abschnitt 4.1 dargelegt, daß die R<strong>in</strong><strong>der</strong>haltung lange Zeit e<strong>in</strong> zentraler<br />

Aspekt <strong>der</strong> Ökonomie war – und deshalb ebenso e<strong>in</strong>e hohe kulturell-symbolische Bedeutung<br />

hatte und hat. Insbeson<strong>der</strong>e Indien diente mir hier als Beispiel (siehe S. 282f.). Doch auch<br />

das imperiale +Mutterland* dieser ehemaligen britischen Kronkolonie ist zutiefst von <strong>der</strong> +R<strong>in</strong><strong>der</strong>-<br />

kultur* geprägt, und nicht zufällig werden die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> königlichen Wache +Beefeaters*<br />

genannt. Diese Bezeichnung verweist auf ihre herausgehobene Stellung, die ihnen (ehemals)<br />

das begehrte +Privileg* des Konsums von R<strong>in</strong>dfleisch e<strong>in</strong>räumte.<br />

Schon <strong>in</strong> keltischer Zeit hatte das R<strong>in</strong>d und se<strong>in</strong> Fleisch nämlich e<strong>in</strong>e zentrale (ökonomische<br />

wie kulturelle) Bedeutung <strong>in</strong> Britannien. Jeremy Rifk<strong>in</strong>, auf den ich mich im folgenden<br />

hauptsächlich beziehen möchte, bemerkt: +The English were the great beef eaters of Europe*


KAP. 4: DER FALL +BSE* 305<br />

74<br />

(Beyond Beef; S. 52). So blieb es auch während <strong>der</strong> römischen Besatzung <strong>der</strong> britischen<br />

Insel und bis weit <strong>in</strong> die Gegenwart h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Es ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung zu machen:<br />

Auf dem täglichen Speiseplan fand sich R<strong>in</strong>d <strong>in</strong> früherer Zeit lediglich bei den Angehörigen<br />

<strong>der</strong> Adelsschicht, die es beson<strong>der</strong>s schätzte, weil se<strong>in</strong> Verzehr gemäß den damaligen Vor-<br />

stellungen Männlichkeit und Stärke zu geben versprach. Doch selbst noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit<br />

waren Ansichten wie die folgende durchaus verbreitet: +You f<strong>in</strong>d more courage among those<br />

who eat their fill of flesh than among those who make shift with lighter foods.* (Zitiert nach<br />

ebd.; S. 53)<br />

Aufgrund solcher, tief im +kollektiven Bewußtse<strong>in</strong>* verankerter Vorstellungen konsumierte<br />

man beson<strong>der</strong>s im mittelalterlichen England wahre Unmengen R<strong>in</strong>dfleisch und demonstrierte<br />

so auch se<strong>in</strong>en sozialen Rang und se<strong>in</strong>en Wohlstand (vgl. auch Montanari: The Culture of<br />

Food; S. 75). König Edward II. hatte sich 1283 gar genötigt gesehen, die Zahl <strong>der</strong> zulässigen<br />

Fleischgänge (je nach Stand) zu regeln. Die Masse <strong>der</strong> Armen war jedoch, wie schon oben<br />

angemerkt, ohneh<strong>in</strong> alle<strong>in</strong>e durch ihre mangelnden f<strong>in</strong>anziellen Möglichkeiten vom karnivoren<br />

+R<strong>in</strong><strong>der</strong>kult* ausgeschlossen. So mußte man auf das (billigere) +white meat* ausweichen:<br />

Milchprodukte wie Käse und Butter (aber auch Geflügelfleisch). Erst Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

konnten sich durch die allgeme<strong>in</strong>e Wohlstandssteigerung auch Arbeiterfamilien immer häufiger<br />

R<strong>in</strong>dfleisch leisten. Diese (allerd<strong>in</strong>gs schon früher e<strong>in</strong>setzende) Ausweitung des R<strong>in</strong>dfleisch-<br />

konsums machte es selbstverständlich notwendig, auch die R<strong>in</strong><strong>der</strong>haltung auszudehnen, um<br />

die Nachfrage zu befriedigen. Doch da die Weideflächen begrenzt waren, mußte immer<br />

mehr R<strong>in</strong>d aus Schottland und Irland e<strong>in</strong>geführt werden. Später kam diese Rolle als Fleisch-<br />

lieferanten zu e<strong>in</strong>em großen Anteil den (ehemaligen) Überseekolonien USA, Australien und<br />

Neuseeland zu. (Vgl. Beyond Beef; S. 54f.)<br />

Der +ökonomische Fahrstuhleffekt* führte also, wie <strong>in</strong> Anlehnung an Beck formuliert werden<br />

kann, zunächst zu e<strong>in</strong>er Angleichung <strong>der</strong> Konsumgewohnheiten, und zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form e<strong>in</strong>er<br />

Übernahme von Ernährungsgewohnheiten aus <strong>der</strong> Adelsschicht. Zunächst griff die ausgeprägte<br />

Vorliebe für R<strong>in</strong>dfleisch auf bürgerliche Kreise über, später wollte selbst die +Unterklasse*<br />

nicht auf ihr tägliches Stück R<strong>in</strong>d verzichten. Um diese, ganz dem +klassischen* Zivilisations-<br />

Modell von Elias entsprechende egalisierende vertikale Diffusion und Expansion <strong>der</strong> adligen<br />

Ernährungsmuster nach unten zu erklären (siehe zu Elias auch S. XXXV), genügt es jedoch<br />

nicht, alle<strong>in</strong>e auf den +Fahrstuhleffekt* h<strong>in</strong>zuweisen. Die bloße Tatsache, daß man sich R<strong>in</strong>d-


306 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

fleisch leisten konnte, macht nämlich noch nicht verständlich, daß man es sich tatsächlich<br />

leistete. Was mochten also die Gründe für das <strong>in</strong> Großbritannien so ausgeprägte Verlangen<br />

nach +red meat* se<strong>in</strong>? – Zum e<strong>in</strong>en versuchte man sicher, die Konsumptionsgewohnheiten<br />

<strong>der</strong> jeweils +höheren* Schicht zu imitieren, um sich ihr damit (symbolisch) gleichzustellen.<br />

Untergründig wirkte aber sicher auch noch jene oben angesprochene +Mythologie* weiter,<br />

die den Verzehr von R<strong>in</strong>dfleisch mit Männlichkeit und Stärke <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung brachte. Die<br />

Ausgebeuteten konnten sich durch den Konsum von R<strong>in</strong>dfleisch also wenigstens an <strong>der</strong><br />

heimischen +Tafel* mächtig und stark und <strong>der</strong> herrschenden Schicht ebenbürtig fühlen – obwohl<br />

75<br />

natürlich +Die fe<strong>in</strong>en Unterschiede* (Bourdieu 1979) auch <strong>in</strong> Großbritannien bestehen blieben<br />

und von <strong>der</strong> +leisure class* selbverständlich zwischenzeitlich längst an<strong>der</strong>e Formen des +demon-<br />

76 77<br />

strativen Konsums* (Veblen) gefunden wurden.<br />

Betrachtet man diese (e<strong>in</strong>geschränkte) +Demokratisierung* <strong>der</strong> Ernährungsmuster im Kontext<br />

von BSE, so zeigt sich, daß mit ihr entsprechend auch e<strong>in</strong>e <strong>fatal</strong>e +Demokratisierung* des<br />

durch BSE erzeugten Risikos bewirkt wurde. Ulrich Beck spricht sogar ganz allgeme<strong>in</strong> davon,<br />

daß (Zivilisations-)Risiken +demokratischen* Charakter haben, <strong>in</strong>dem er auf die territoriale<br />

und soziale Grenzen ignorierende Gefährdungsdimension <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Risiken verweist<br />

(vgl. Risikogesellschaft; S 46ff.). Dem kann man nun entgegnen, daß materielle Ressourcen<br />

zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e bedeutende Abmil<strong>der</strong>ung von Gefährdungslagen erlauben und auch Territorien<br />

durch materiellen Aufwand von bestimmten Risiken abgeschirmt werden können. Denn selbst<br />

wenn – wie Beck betont – alle sozialen Schichten an <strong>der</strong>selben Wasserleitung hängen, so<br />

können sich nicht alle, falls das Wasser aus dieser Leitung von ungenügen<strong>der</strong> Qualität ist,<br />

e<strong>in</strong> Ausweichen auf teures M<strong>in</strong>eralwasser leisten. Und selbst wenn alle Meeresanra<strong>in</strong>erstaaten<br />

von e<strong>in</strong>er zu erwartenden Erhöhung des Meeresspiegels <strong>in</strong>folge anthropogener Klimaver-<br />

än<strong>der</strong>ungen gleichmäßig betroffen se<strong>in</strong> sollten (was allerd<strong>in</strong>gs unwahrsche<strong>in</strong>lich ist), so könnten<br />

sich e<strong>in</strong>ige Staaten aufgrund ihres technischen und f<strong>in</strong>anziellen Potentials (wahrsche<strong>in</strong>lich)<br />

mit umfangreichen E<strong>in</strong>deichungsmaßnahmen schützen. Aber so wichtig diese kritischen<br />

Relativierungen se<strong>in</strong> mögen – im Kontext von BSE liegen die Verhältnisse ohneh<strong>in</strong> etwas an<strong>der</strong>s:<br />

Zunächst muß e<strong>in</strong> genaueres und aktualisiertes Bild <strong>der</strong> Ernährungsgewohnheiten als bisher<br />

gezeichnet werden. Denn die oben herausgestellte Nivellierung ist immer mehr e<strong>in</strong>er erneuten<br />

Differenzierung gewichen. R<strong>in</strong>d spielt heute für die Ernährung <strong>in</strong> Großbritannien ke<strong>in</strong>e so<br />

zentrale Rolle wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit und hat nur noch e<strong>in</strong>en Anteil von 25–30% am


KAP. 4: DER FALL +BSE* 307<br />

verkauften Fleisch. Das ist auch e<strong>in</strong>e Folge <strong>der</strong> BSE-Krise (vgl. nochmals Burton/Young: Measur<strong>in</strong>g<br />

Meat Consumers’ Response to the Perceived Risks of BSE <strong>in</strong> Great Brita<strong>in</strong>), hat aber zusätzlich<br />

an<strong>der</strong>e Gründe: So wird aus Gesundheitserwägungen z.B. mittlerweile von vielen Verbrauchern<br />

das, ehemals als m<strong>in</strong><strong>der</strong>wertig erachtete, (fettärmere) Geflügelfleisch vorgezogen. Auch die<br />

Varianz des täglichen Speiseplans hat sich – vor allem mit <strong>der</strong> Globalisierung bzw. Inter-<br />

nationalisierung <strong>der</strong> Küche (durch Reisen und den Zuzug von Personen aus den ehemaligen<br />

Kolonien etc.) – allgeme<strong>in</strong> erhöht, was als Nebeneffekt dazu führte, daß das R<strong>in</strong>dfleisch<br />

zunehmend durch an<strong>der</strong>en Sorten ergänzt und verdrängt wird. E<strong>in</strong>e steigende Zahl von<br />

Verbrauchern verzichtet aus den unterschiedlichsten Motiven (religiöse Vorschriften, ethische<br />

Bedenken gegen das Töten von Tieren, ernährungsphysiologische Gründe etc.) ganz auf<br />

Fleischkonsum (vgl. auch Massimo: The Culture Food; S. 165ff.).<br />

Mit dieser erneuten (allerd<strong>in</strong>gs eher diffusen als dist<strong>in</strong>kten) Differenzierung ist auch das BSE-Risiko<br />

(sozial bzw. nach Konsum- und Lebensstilen) differenziert: Nicht alle s<strong>in</strong>d gleichermaßen<br />

von <strong>der</strong> durch BSE vermutlich ausgehenden Gefahr betroffen, denn je weniger (britisches)<br />

R<strong>in</strong>dfleisch jemand konsumiert (hat), desto ger<strong>in</strong>ger ist wahrsche<strong>in</strong>lich das Risiko an <strong>der</strong> durch<br />

BSE ausgelösten Variante von CJK zu erkranken. E<strong>in</strong>en totalen Ausschluß dieses Risikos gibt<br />

es jedoch nicht. Selbst wer als Vegetarier lebt o<strong>der</strong> me<strong>in</strong>t, er könne sich dadurch schützen,<br />

daß er sich (außerhalb Großbritanniens) nur auf dem lokalen Markt versorgt, hat sich vermutlich<br />

getäuscht. Das R<strong>in</strong>d selbst ist nämlich zu e<strong>in</strong>er globalen und diffusen Handelsware geworden.<br />

So s<strong>in</strong>d R<strong>in</strong><strong>der</strong>bestandteile <strong>in</strong> Produkten enthalten, wo sie nicht e<strong>in</strong>mal vermutet werden<br />

(z.B. <strong>in</strong> Kosmetika, Medikamenten o<strong>der</strong> Süßwaren). Es ist damit e<strong>in</strong>e schleichende +bov<strong>in</strong>e<br />

78<br />

Durchdr<strong>in</strong>gung* <strong>der</strong> Warensphäre auf e<strong>in</strong>em unterschwelligen Niveau gegeben. Und <strong>der</strong><br />

+Rohstoff* R<strong>in</strong>d wird, wie die aus ihm hergestellten Produkte, zunehmend <strong>in</strong>ternational gehandelt<br />

(siehe auch Abschnitt 4.1), wenngleich trotzdem natürlich britische Verbraucher noch immer<br />

die primären Abnehmer für britisches R<strong>in</strong>dfleisch und <strong>der</strong>ivate Produkte s<strong>in</strong>d. Es besteht also<br />

im Fall von BSE e<strong>in</strong>erseits tatsächlich e<strong>in</strong>e Globalisierung und soziale Entgrenzung des Risikos<br />

– allerd<strong>in</strong>gs durchaus mit gewissen Abstufungen, was die Dimension anbelangt.<br />

Die nationale +Stufung* des BSE-Risikos ist dabei sozusagen die +materielle Basis* für die<br />

im vorangegangenen Abschnitt dargestellten Versuche <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, im Zusammenspiel mit<br />

<strong>der</strong> Presse e<strong>in</strong>erseits die nationale britische Identität zu stärken und gleichzeitig von <strong>der</strong><br />

möglichen Gesundheitsbedrohung durch BSE abzulenken. Gerade weil BSE aus <strong>der</strong> Sicht


308 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

<strong>der</strong> überwiegenden Mehrheit e<strong>in</strong>e +objektive* Gefahrenkomponente be<strong>in</strong>haltet, war e<strong>in</strong>e<br />

gewisse Bereitschaft vorhanden, sich auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>enden Grundlage <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>samen Gefährdung,<br />

<strong>der</strong> risikologisch wie<strong>der</strong>hergestellten +Schicksalsgeme<strong>in</strong>schaft*, als nationale E<strong>in</strong>heit zu betrachten<br />

und im selben Moment diese wahrgenommene Bedrohung zu verdängen und zu externalisieren,<br />

<strong>in</strong>dem man sich auf das durch die Medienberichterstattung unterstütze Interpretationsangebot<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>ließ, BSE als handelspolitischen Konfliktfall mit <strong>der</strong> EU und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

Deutschland zu betrachten. E<strong>in</strong>e Strategie, die jedoch (wie sich u.a. an <strong>der</strong> Ablösung <strong>der</strong><br />

konservativen Regierung durch den Wahlsieg von +New Labour* 1997 zeigt) nur begrenzt<br />

aufg<strong>in</strong>g und durch die angesprochenen (diffusen) <strong>in</strong>nerbritischen Differenzierungen <strong>der</strong> Konsum-<br />

und Lebensstile zudem von vorne here<strong>in</strong> fraglich war.<br />

Freilich beruhte <strong>der</strong> gleichzeitig deflexive und +konstruktive* Umgang <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> mit dem<br />

Thema +BSE* nicht nur auf <strong>der</strong> +Objektivität* <strong>der</strong> wahrgenommenen Gefährdung, son<strong>der</strong>n<br />

auch auf <strong>der</strong> zu Beg<strong>in</strong>n dieses Abschnitts herausgestellten Mächtigkeit <strong>der</strong> kulturellen Symbolik<br />

des R<strong>in</strong>ds und se<strong>in</strong>es Fleisches <strong>in</strong> Großbritannien: Wer Brite ist, ißt R<strong>in</strong>dfleisch, denn nur<br />

wer +me<strong>in</strong>* Fleisch ißt, ist von me<strong>in</strong>em +Fleisch* – +British Beef* als Zeichen <strong>der</strong> britischen<br />

Nation und <strong>der</strong> (ritualisierte) Biß <strong>in</strong> den +Beef Burger* als Akt <strong>der</strong> Kommunion. Doch auch<br />

<strong>in</strong> diesem Punkt zeigt sich das <strong>in</strong> Abschnitt 3.5 theoretisch herausgearbeitete politische Dilemma<br />

<strong>der</strong> Individualisierung: Die Nation hat sich nicht nur sozialstrukturell <strong>in</strong>dividualisiert, son<strong>der</strong>n<br />

auch die <strong>in</strong>dividuellen wie geme<strong>in</strong>schaftlichen Symbolwelten und Wertvorstellungen haben<br />

sich mit den Individualisierungsprozessen gewandelt und differenziert. So konnte die britische<br />

Regierung bei ihrem (sei es bewußten o<strong>der</strong> unbewußten) Rekurs auf die archaischen Symbol-<br />

welten des +R<strong>in</strong><strong>der</strong>kults* nicht mehr jene (kulturelle) E<strong>in</strong>heit voraussetzen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Vergangenheit weitgehend gegeben war.<br />

Doch damit genug zum Fall +BSE*. Denn auch wenn es zweifellos noch e<strong>in</strong>e ganze Reihe<br />

weiterer sozialstruktureller und kultureller Aspekte des BSE-Dramas gibt und zu den an<strong>der</strong>en<br />

Abschnitten dieses Kapitel sicher ebenso noch viele Ergänzungen zu machen wären – die<br />

dilemmatische Situation +klassischer* <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft ist me<strong>in</strong>es Erachtens<br />

bereits anhand <strong>der</strong> erfolgten Ausführungen e<strong>in</strong>igermaßen plastisch geworden, und damit ist<br />

<strong>der</strong> +Zweck* dieses Fallbeispiels erfüllt. Vielversprechen<strong>der</strong> als e<strong>in</strong>e weitere Vertiefung <strong>der</strong><br />

Analyse <strong>der</strong> politischen +Verstrickungen* im Kontext von BSE ersche<strong>in</strong>t an dieser Stelle e<strong>in</strong>e


KAP. 4: DER FALL +BSE* 309<br />

Klärung <strong>der</strong> Frage, warum die gegenwärtige Situation e<strong>in</strong>en <strong>der</strong>art dilemmatischen Charakter<br />

angenommen hat. Zu ihrer Aufhellung soll die im folgenden abschließenden Kapitel beabsichtigte<br />

(meta)theoretische Erörterung beitragen. Dabei wird me<strong>in</strong> Hauptaugenmerk (ausgehend von<br />

e<strong>in</strong>er dialektischen Re-Interpretation des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses) auf dem <strong>in</strong> den vor-<br />

angegangenen Kapiteln nur angedeuteten dialektischen Zusammenhang von Reflexion und<br />

Deflexion liegen.


5 REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION<br />

DES POLITISCHEN<br />

+Ich zeichne mit me<strong>in</strong>en Wor-<br />

ten e<strong>in</strong>en Käfig um den<br />

Schrecken, bis <strong>der</strong> nächste<br />

Schrecken auf mich zukommt<br />

und mich zerfleischen will.<br />

Bevor er zum tödlichen Biß <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>er Gurgel ansetzen kann,<br />

werfe ich das Netz me<strong>in</strong>er<br />

Sprache aus. Ist aber e<strong>in</strong>mal<br />

<strong>der</strong> Schrecken schneller als die<br />

Sprache, so b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong>e Zeit-<br />

lang vollkommen gelähmt, bis<br />

ich entschlüpfe und, mich<br />

versteckend vor <strong>der</strong> Welt, an<br />

e<strong>in</strong>em neuen Sprachnetz<br />

knüpfe, das ich bei <strong>der</strong> näch-<br />

sten Gelegenheit dem Schrek-<br />

ken über den Kopf werfe.*<br />

Josef W<strong>in</strong>kler


312 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

5 REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION<br />

DES POLITISCHEN<br />

Nachdem nunmehr das Mosaik <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* aus den Versatzstücken<br />

<strong>der</strong> fragmentisierten Diskurse gebildet wurde, die Praktiken und Taktiken erforscht, <strong>in</strong> ihren<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeiten rekonstruiert wie dekonstruiert wurden und mit dem Fall +BSE* zur<br />

Sichtbarmachung <strong>der</strong> Dilemmata und untergründigen Querverb<strong>in</strong>dungen auch <strong>in</strong> den +Niede-<br />

rungen* <strong>der</strong> Mikropolitik gewühlt wurde, ist e<strong>in</strong>e erneute Entfernung, e<strong>in</strong> Schritt zurück, ange-<br />

bracht, so daß sich das +po<strong>in</strong>tilistische* Gemälde – möglicherweise – zu e<strong>in</strong>em Gesamtbild<br />

zusammenfügt. Aus <strong>der</strong> Distanz erkennt man: Es gibt Lücken <strong>in</strong> diesem Mosaik. Vieles ist<br />

noch im Unklaren. Der weite Bogen, <strong>der</strong> um die <strong>Politik</strong> geschlagen wurde, hat sich also nicht<br />

zu e<strong>in</strong>em +offenbarenden* Zirkel geschlossen, die langsame Annäherung und E<strong>in</strong>kreisung,<br />

die vorgenommen wurde, hat noch nicht zu e<strong>in</strong>er Herausschälung des (nebulösen) +Kerns*<br />

geführt.<br />

Doch trotz <strong>der</strong> Lücken kann man bereits erahnen, was dieses Bild darstellt, und so ist es<br />

möglich, aus <strong>der</strong> Entfernung nunmehr die Szenerie +imag<strong>in</strong>är* zu vervollständigen. Was durch<br />

die +Mikroskopie* <strong>der</strong> – primär textbezogenen – +Empirie*, durch das Nachspüren <strong>der</strong> Verzwei-<br />

gungen <strong>der</strong> Diskurse, nicht möglich war, soll deshalb nun im +Weitblick* <strong>der</strong> Theorie kompensiert<br />

werden. Der metatheoretische Entwurf, <strong>der</strong> hier im folgenden gezeichnet werden wird, ist<br />

allerd<strong>in</strong>gs se<strong>in</strong>em Charakter nach ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>em Totalisierungsstreben verfallene wissenschaftliche<br />

Metaerzählung, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e +partikulare*, subjektiv gefärbte Folie <strong>der</strong> Interpretation. Es wird<br />

deshalb von mir ke<strong>in</strong>e (ohneh<strong>in</strong> unmögliche) +Objektivität* und (ohneh<strong>in</strong> unbestimmbare)<br />

+Wahrheit* dieses Entwurfs behauptet. Vielmehr wird im <strong>in</strong>terpretativen +Übergriff* <strong>der</strong> Theorie,<br />

die sich um e<strong>in</strong>e deutende +Begründung* bemüht, nur e<strong>in</strong> Puzzle, e<strong>in</strong>e Gedanken-Collage<br />

komplettiert, die auch an<strong>der</strong>s zu Ende gedacht werden könnte.<br />

Am Anfang dieser +Collage* stand die Beschäftigung mit <strong>der</strong> Etymologie und praktischen Semantik<br />

des Begriffs +<strong>Politik</strong>*, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Wandlungen nicht nur entlang e<strong>in</strong>er Zeit-, son<strong>der</strong>n<br />

auch entlang e<strong>in</strong>er sozial-politischen Raumachse +codiert*. Historisch wurden die Brüche


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 313<br />

und Umbrüche <strong>der</strong> politischen Begrifflichkeit(en) und Faktizität von <strong>der</strong> Antike bis <strong>in</strong> die<br />

+postmo<strong>der</strong>ne* Gegenwart verfolgt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> immer vehementer h<strong>in</strong>terfragt wird, was lange<br />

Zeit den Horizont von <strong>Politik</strong> prägte: nämlich die neuzeitliche Trennung <strong>der</strong> politischen von<br />

<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en sozialen Sphäre, wobei diese +Abspaltung* mit e<strong>in</strong>er säkularisierten Heils-<br />

erwartung und <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>em +Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>g. Ausdruck und<br />

+materielle Hülle* jenes verselbständigten <strong>Politik</strong>verständnisses war <strong>der</strong> Nationalstaat, und<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Rahmen formierten sich auch die +klassischen* politischen Lager, die bis an die<br />

Grenze <strong>der</strong> Gegenwart die quas<strong>in</strong>atürliche Raumachse <strong>der</strong> politischen Codierung bildeten.<br />

Nun aber lösen sich diese Lager, gleichzeitig mit dem (national)staatlichen Gehäuse, zunehmend<br />

auf, und das Politische wird – praktisch wie <strong>in</strong> den +vorausschauenden* theoretischen Projek-<br />

tionen – wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Lebenswelt(en) +zurückgeworfen*. Genau damit nähern sich die politischen<br />

Konzepte <strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*, die den Rahmen des etablierten politischen Systems und des<br />

immer noch dom<strong>in</strong>anten nationalstaatlichen politischen Denkens sprengen, wie<strong>der</strong> an das<br />

+umfassende* <strong>Politik</strong>verständnis <strong>der</strong> Antike an, das noch nicht, wie das politische Denken<br />

<strong>der</strong> Neuzeit, von e<strong>in</strong>er Trennung <strong>der</strong> Sphären von Staat und Gesellschaft ausg<strong>in</strong>g. Wo allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht e<strong>in</strong>e bloße Rückwärtsbewegung beschrieben wird, f<strong>in</strong>det, wie ausgeführt, e<strong>in</strong> +transforma-<br />

tives Recycl<strong>in</strong>g* statt: An<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit besteht heute die relativierende Vorstellung<br />

e<strong>in</strong>es kont<strong>in</strong>genten, d.h. von immer größeren Möglichkeitsräumen erfüllten sozialen Se<strong>in</strong>s,<br />

das ke<strong>in</strong>e festgefügten Ordnungen kennt.<br />

Warum kommt es jedoch ausgerechnet heute zu e<strong>in</strong>er solchen Umorientierung? – Der Schlüssel<br />

zur Beantwortung dieser Frage wurde von mir <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen +Umwelt* und ihren Wand-<br />

lungen verortet. Deshalb wurde nach den im ersten Kapitel erfolgten Grundierungsarbeiten<br />

im zweiten Kapitel den gegenwärtig stattf<strong>in</strong>denden sozialen Transformationsprozessen nachgegan-<br />

gen. Die dort zu Beg<strong>in</strong>n aufgestellte These e<strong>in</strong>er +Dialektik von sozio-ökonomischem Wandel<br />

und politischer Statik* zeigte sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rekonstruktion <strong>der</strong> auch mit empirischem Material<br />

+untermauerten* Diskursbestände allerd<strong>in</strong>gs als nur bed<strong>in</strong>gt zutreffend. In e<strong>in</strong>igen Bereichen<br />

ergab sich zwar im Zuge <strong>der</strong> näheren Ausmalung tatsächlich das Bild e<strong>in</strong>er im politischen<br />

System weitgehend ungespiegelten Dynamik, aber es wurden auch Prozesse <strong>der</strong> +Ko-Evolution*<br />

deutlich. Die <strong>Politik</strong> kann aufgrund dieser Ko-Evolution im Zusammenspiel mit an<strong>der</strong>en +Teilsys-<br />

temen* ihr statisches Gleichgewicht trotz untergraben<strong>der</strong> Wandlungsprozesse aufrecht erhalten<br />

und besitzt mächtige Ressourcen für die Abwehr reflexiver Herausfor<strong>der</strong>ungen.


314 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Doch das bedeutet ke<strong>in</strong>eswegs, daß die Situation für die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> nicht +prekär*<br />

wäre, wie die genauere Betrachtung des Vorgezeichneten im dritten Kapitel zeigte: Wo<br />

Transformationsprozesse stattf<strong>in</strong>den (die me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung nach am deutlichsten <strong>in</strong> den<br />

Bereichen Wirtschaft und Kultur und Sozialstruktur zutage treten), droht die <strong>Politik</strong> den Anschluß<br />

an die +Wirklichkeit*, d.h. ihre Umwelten, zu verlieren. Und selbst dort, wo (wie im Bereich<br />

des Rechts) e<strong>in</strong>e ausgeprägte Ko-Evolution mit <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zu beobachten ist, könnte para-<br />

doxerweise ausgerechnet dieses +Zusammenspiel* die Stabilität gefährden, <strong>in</strong>dem man sich<br />

nicht nur gegenseitig stützt, son<strong>der</strong>n auch blockiert. Wo e<strong>in</strong>e Gleichzeitigkeit von Wandel<br />

und Ko-Evolution gegeben ist (die Bereiche Wissenschaft/Technik und Medien können hier<br />

als Beispiele dienen), ergibt sich für die <strong>Politik</strong> sogar e<strong>in</strong>e doppelt wi<strong>der</strong>sprüchliche Situation,<br />

da mit den Wandlungsprozessen neue Herausfor<strong>der</strong>ungen auftauchen, während sich die<br />

Probleme <strong>der</strong> Ko-Evolution an<strong>der</strong>erseits tendenziell zuspitzen. All das sollte im vorangegangenen<br />

vierten Kapitel mit dem Fallbeispiel +BSE* plastisch veranschaulicht werden.<br />

Nur: Wie hängen die e<strong>in</strong>zelnen (Auflösungs-)Prozesse zusammen? Und wie erklärt sich die<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> entfalteten Entwicklung? Um hierauf me<strong>in</strong>e partikularen, aber auf<br />

das +Ganze* zielenden Antworten zu geben, werde ich zu den Themenkreisen des Prologs<br />

zurückschreiten, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>leitend nach den (autopoietischen) Differenzen und Überschneidungen<br />

von +Mo<strong>der</strong>ne* und +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* fragte. E<strong>in</strong>e zyklische Vorgehensweise vermag im Kontext<br />

dieser Fragestellungen nämlich vielleicht am ehesten aus dem +reflexiven Spiegelkab<strong>in</strong>ett*<br />

<strong>der</strong> Gegenwart zu führen. Denn die Gründe für die Ant<strong>in</strong>omien und Aporien <strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*,<br />

die e<strong>in</strong>e radikalisierte, reflexive und sich <strong>in</strong> ihrer Reflexivität gleichzeitig verspiegelnde Mo<strong>der</strong>ne<br />

ist, können me<strong>in</strong>es Erachtens <strong>in</strong> <strong>der</strong> (Selbst-)Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung lokalisiert<br />

werden. Und um diese Wi<strong>der</strong>sprüche und (deflexiven) Verspiegelungen zu (ent)spiegeln,<br />

ist es notwendig, die wahrgenommene Dynamik auf den Ausgangspunkt <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne (rück) zu beziehen. Für dieses Vorhaben ist e<strong>in</strong>e radikal dialektische, d.h. ke<strong>in</strong>e<br />

dialektische Synthese mehr anstrebende Betrachtung des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses die vielver-<br />

sprechendste theoretische +Option*, weil sie im (dekonstruktiven) Aufzeigen <strong>der</strong> Dialektik<br />

die Gegensätze <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne nicht nur erfaßt, son<strong>der</strong>n entwickelt und +freisetzt* (siehe<br />

auch S. 413ff.). Auf diese Weise wird, im Bewußtse<strong>in</strong> und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entfaltung des Wi<strong>der</strong>sprüch-<br />

lichen, <strong>der</strong> Differenz – und damit auch dem Wi<strong>der</strong>spruch – ihr Raum gegeben. Demgemäß<br />

wäre e<strong>in</strong>e kritische und dialektische Erweiterung <strong>der</strong> Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, so


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 315<br />

wie sich <strong>der</strong>zeit darstellt, anzustreben, und die zu leistende +kreative* Aufgabe ist <strong>der</strong> – hier<br />

allerd<strong>in</strong>gs nur auf e<strong>in</strong>e erste Skizze beschränkte – Entwurf e<strong>in</strong>er kritisch-dialektischen Theorie<br />

reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung.<br />

E<strong>in</strong>e solche kritisch-dialektische Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung schließt für mich notwendig<br />

an das <strong>in</strong> den 30er Jahren von Max Horkheimer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Traditionelle und kritische<br />

Theorie* formulierte Projekt e<strong>in</strong>er kritischen Gesellschaftstheorie an – überschreitet es jedoch<br />

zugleich. Mit Horkheimer teile ich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> Anbetracht <strong>der</strong> sich tendenziell immer<br />

mehr <strong>in</strong> abgetrennte E<strong>in</strong>zelfragestellungen verzettelnden Sozialwissenschaft <strong>der</strong> Gegenwart<br />

die Auffassung, daß +zu e<strong>in</strong>er Konzeption übergegangen werden [muß], <strong>in</strong> <strong>der</strong> die E<strong>in</strong>seitigkeit,<br />

welche durch die Abhebung <strong>in</strong>tellektueller Teilvorgänge von <strong>der</strong> gesamtgesellschaftlichen<br />

Praxis notwendig entsteht, wie<strong>der</strong> aufgehoben wird* (S. 216). Für Horkheimer ist es dabei<br />

aber durchaus erfor<strong>der</strong>lich – und auch hier<strong>in</strong> stimme ich mit ihm übere<strong>in</strong> –, sich auf konkrete<br />

soziale +Realität* zu beziehen: +Das kritische Denken […] hat […] bewußt e<strong>in</strong> bestimmtes<br />

Individuum <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en wirklichen Beziehungen […] zum Subjekt.* (ebd.; S. 227) und ist –<br />

<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n – e<strong>in</strong> +e<strong>in</strong>ziges entfaltetes Existentialurteil* (ebd.; S. 244).<br />

Der Anspruch auf e<strong>in</strong>e +umfassende* (historische) Urteilsfähigkeit, <strong>der</strong> damit gleichzeitig erhoben<br />

wird, ersche<strong>in</strong>t mir aber nicht nur wissenschaftstheoretisch unhaltbar, son<strong>der</strong>n vielmehr darüber<br />

h<strong>in</strong>aus gerade für das formulierte kritische Projekt, das schließlich e<strong>in</strong>e Transzendierung <strong>der</strong><br />

bestehenden Verhältnisse/Wahrheiten anstrebt, kontraproduktiv. Denn <strong>in</strong> dem von Horkheimer<br />

implizit vertretenen (objektiven) Wahrheitsanspruch ist die +traditionelle* Kritische Theorie<br />

unkritisch und – ungewollt – Teil jener von ihr selbst angegriffenen wissenschaftlichen Meta-<br />

erzählung, die mit ihrer ausschließenden Objektivität und ihrer verabsolutierten Vernunft<br />

die Imag<strong>in</strong>ations- und Möglichkeitsräume <strong>der</strong> sozialen Subjekte absperrt. 1<br />

(Bewußte) S<strong>in</strong>gularität, die an<strong>der</strong>erseits den Bezug auf den sozialen Zusammenhang bewahrt,<br />

muß deshalb Objektivität und Universalität als Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Theorie ersetzen. Dabei ist es,<br />

um es nochmals zu betonen, gerade für die Praxis e<strong>in</strong>er +kritischen* Wissenschaft unabd<strong>in</strong>gbar,<br />

sich auf konkrete soziale Gegenwart – d.h. so wie sie vom Wissenschaftler/<strong>der</strong> Wissenschaftler<strong>in</strong><br />

wahrgenommen wird und wie sie sich ihm/ihr darstellt – zu beziehen. Nur ist soziale Gegenwart<br />

eben immer auch sozial konstruiert und nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em essentiellen S<strong>in</strong>n +wirklich*. Genau<br />

diese (allerd<strong>in</strong>gs nicht beliebige) Kont<strong>in</strong>genz und +Konstruktivität* macht soziale Wirklichkeit<br />

verän<strong>der</strong>bar und für e<strong>in</strong> kritisches Wissenschaftsprojekt zugänglich, welches das Bestehende


316 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

immer nur auf <strong>der</strong> Basis des Bestehenden, aber im Licht se<strong>in</strong>er unvermittelten, und doch<br />

bestimmten Negation sowie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausrichtung auf e<strong>in</strong>en nihilistischen, im eigentlichen S<strong>in</strong>n<br />

des Wortes +utopischen* Horizont h<strong>in</strong>terfragt (vgl. auch Bhaskar: Reclaim<strong>in</strong>g Reality). 2<br />

Für die Frage, welche Gestalt dieses kritische Projekt annehmen soll, ist e<strong>in</strong>e weitere Aussage<br />

Horkheimers aufschlußreich und als Ansatzpunkt für e<strong>in</strong>e Überschreitung geeignet. Denn<br />

nach Horkheimer s<strong>in</strong>d +die Interessen des kritischen Denkens […] allgeme<strong>in</strong>, aber nicht allgeme<strong>in</strong><br />

anerkannt […] Wenngleich die kritische Theorie nirgends willkürlich und zufällig verfährt,<br />

ersche<strong>in</strong>t sie <strong>der</strong> herrschenden Urteilsweise subjektiv und spekulativ, e<strong>in</strong>seitig und nutzlos.*<br />

(Ebd.; S. 235) Doch warum, so frage ich, soll sie <strong>der</strong> herrschenden Urteilsweise nur nutzlos<br />

ersche<strong>in</strong>en, warum soll sie (für diese) – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat ganz und gar unzufällig – nicht so nutzlos<br />

wie möglich se<strong>in</strong>? Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach liegt die +kritische Masse* des kritischen Denkens<br />

genau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er willkürlichen (d.h. gewollten), bewußten E<strong>in</strong>seitigkeit und (nicht-identischen)<br />

+Subjektivität*, die sich <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung durch die Verwalter des status quo zu entziehen<br />

trachtet. Der hier im folgenden von mir vorgelegte theoretische Entwurf wird sich deshalb<br />

bemühen, so +unbrauchbar* wie nur möglich zu se<strong>in</strong>, um sich vor <strong>der</strong> +Verbrauchung* se<strong>in</strong>es<br />

kritischen Potentials zu schützen.<br />

Dies (und an<strong>der</strong>es mehr) könnte e<strong>in</strong>e +zeitgemäße* kritische Theorie vom durchaus opposi-<br />

tionellen, subversiven poststrukturalistischen Diskurs lernen (vgl. auch Ryan: Marxism and<br />

3<br />

Deconstruction). Und vielleicht möchte ich – +grund-los* und +ohne je Gewißheit zu haben*,<br />

aber bestimmt und +aus Sorge um die Gerechtigkeit* – e<strong>in</strong>es jener von Derrida ausgemachten<br />

+Marx-Gespenster* se<strong>in</strong>, das <strong>der</strong> furchte<strong>in</strong>flößenden, weil un(an)greifbaren +neuen Internationale*<br />

4<br />

angehört (vgl. Marx’ Gespenster; S. 274). Denn:<br />

+Man erzittert vor <strong>der</strong> Hypothese, daß, begünstigt durch e<strong>in</strong>e jener Metamorphosen, von denen Marx<br />

so oft gesprochen hat […], e<strong>in</strong> neuer ›Marxismus‹ nicht mehr die Gestalt haben könnte, unter <strong>der</strong> man<br />

ihn zu identifizieren und <strong>in</strong> die Flucht zu schlagen man sich gewöhnt hatte. Vielleicht hat man nicht<br />

mehr Angst vor den Marxisten, wohl aber hat man noch Angst vor gewissen Nicht-Marxisten, die auf<br />

das Marxsche Erbe nicht verzichtet haben, Krypto-Marxisten, Pseudo- o<strong>der</strong> Para-›Marxisten‹, die bereit<br />

wären, die Ablösung zu übernehmen, mit B<strong>in</strong>destrichen o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Anführungszeichen, die zu demaskieren<br />

die verängstigten Experten des Antikommunismus nicht geübt genug wären.* (Ebd.)<br />

Auf diese (gespenstische) Weise kann vielleicht gerade <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er aktuell durch den Zusammen-<br />

bruch des +real existierenden Sozialismus* noch verschärften Krise e<strong>in</strong>e Erneuerung und Befreiung


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 317<br />

des von Marx auf den Weg gebrachten kritischen Projekts erfolgen, die mit ihrer Ablehnung<br />

<strong>der</strong> identifizierenden und auf diskursiver Gewalt beruhenden dogmatischen Metaerzählung<br />

des Historischen Materialismus ke<strong>in</strong>e Schwächung, son<strong>der</strong>n vielmehr e<strong>in</strong>e Radikalisierung<br />

des +ursprünglichen* kritischen Anspruchs bedeutet und den Subjekten ihre Historizität und<br />

Verän<strong>der</strong>lichkeit – für e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung – vor Augen führt (vgl. auch Docherty: After Theory;<br />

5<br />

S. 205ff.). In e<strong>in</strong>em ganz ähnlichen S<strong>in</strong>n, d.h. um e<strong>in</strong>en neuen Marxismus denken und umsetzen<br />

zu können, bemerkte schon Louis Althusser (1978):<br />

+Endlich ist die Krise des Marxismus zum Ausbruch gekommen! Endlich ist sie sichtbar geworden, und<br />

endlich beg<strong>in</strong>nen wir, ihre Elemente zu erkennen!* (Über die Krise des Marxismus; S. 59)<br />

Mit ihren kritischen, nicht ausbeutbaren, spekulativen Begriffen – möglicherweise aber auch<br />

<strong>in</strong>dem sie umgekehrt +etablierte* Begriffe für ihre Sprache (miß)braucht und diese Begriffe<br />

dadurch ebenso demaskiert wie sie sich mit ihnen maskiert, dem identifizierenden Zugriff<br />

entzieht – versucht die fiktive, aber schon als Fiktion mächtige +neue Internationale*, <strong>der</strong><br />

ich mich (ebenso fiktiv) +anschließen* möchte, deshalb ke<strong>in</strong>e Eroberung <strong>der</strong> Diskurshoheit<br />

mit fadensche<strong>in</strong>igen Wahrheitsansprüchen, fixiert sich auf ke<strong>in</strong>e Dogmatik und pocht auch<br />

nicht auf die +revolutionäre Praxis* (<strong>der</strong> Arbeiterklasse), son<strong>der</strong>n dr<strong>in</strong>gt subversiv, vom (<strong>in</strong>tellek-<br />

tuellen) +Rand* her kommend <strong>in</strong> den sozialen Raum – und verän<strong>der</strong>t so untergründig die<br />

+Wirklichkeit*, öffnet sie mit ihren alternativen Interpretationsangeboten für die Subjekte. 6<br />

In diesem S<strong>in</strong>n ist sie +reflexiv* und e<strong>in</strong>gebunden <strong>in</strong> die +doppelte Hermeneutik* <strong>der</strong> Sozial-<br />

wissenschaften, die ihren Gegenstand nicht nur erfaßt, son<strong>der</strong>n gleichzeitig auch verän<strong>der</strong>t<br />

und von diesem erfaßt wird.<br />

Der Begriff <strong>der</strong> +doppelten Hermeneutik* geht auf Anthony Giddens zurück, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>er <strong>der</strong><br />

wesentlichen (Vor-)Denker <strong>der</strong> hier dialektisch zu erweitern versuchten Theorie reflexiver<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung ist (und unten, zusammen mit ihren an<strong>der</strong>en wichtigen Exponenten, noch<br />

7<br />

ausführlicher gewürdigt werden wird). Mit diesem Begriff will Giddens ausdrücken, daß es<br />

e<strong>in</strong>en beständigen Austausch zwischen den Bedeutungsrahmen <strong>der</strong> handelnden +Laien* und<br />

jenen <strong>der</strong> Sozialwissenschaftler(<strong>in</strong>nen) gibt, und er leitet daraus nicht nur die Möglichkeit,<br />

son<strong>der</strong>n die zw<strong>in</strong>gende Notwendigkeit e<strong>in</strong>er +kritischen*, d.h. selbst- und sozial reflexiven<br />

Sozialwissenschaft ab, die immer auch +<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er praktischen Weise mit dem gesellschaftlichen<br />

Leben befaßt* ist (Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 49). 8


318 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Dieses (doppelt) +hermeneutische* Kritikverständnis, das folglich den S<strong>in</strong>nwelten <strong>der</strong> Institutionen<br />

und ihren Bezügen zur +Lebenswelt* große Aufmerksamkeit schenkt (vgl. auch Consequences<br />

of Mo<strong>der</strong>nity sowie Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity), unterscheidet sich offensichtlich vom eher<br />

+materialistischen* Ansatzpunkt <strong>der</strong> +klassischen* Kritischen Theorie. Trotzdem versteht Giddens<br />

se<strong>in</strong>en Ansatz explizit als e<strong>in</strong>e +Kritische Theorie <strong>der</strong> Spätmo<strong>der</strong>ne* (1992), und auch er will<br />

e<strong>in</strong>en umfassenden, nicht auf E<strong>in</strong>zelphänomene beschränkten Blick auf Gesellschaft werfen<br />

(vgl. S. 18). Das impliziert für Giddens, trotz des durch den <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskurs geschärften<br />

Bewußtse<strong>in</strong>s für die epistemologischen Aporien verabsolutierter wissenschaftlicher Wahrheits-<br />

ansprüche, das Festhalten an den Pr<strong>in</strong>zipien des (methodischen) Zweifels und des (rationalen)<br />

Begründens, wie sie sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne etabliert haben (vgl. ebd.; S. 19ff.).<br />

Und er betont <strong>in</strong> diesem Zusammenhang noch e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong> reflexives wie praxisbezogenes<br />

Kritikverständnis:<br />

+E<strong>in</strong> Charakteristikum <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ist, daß Begriffe, Theorien und Erkenntnisse […] nicht unabhängig<br />

s<strong>in</strong>d von den Handlungsfel<strong>der</strong>n, auf die sie sich beziehen o<strong>der</strong> die sie beschreiben. Sie gehen rout<strong>in</strong>emäßig<br />

<strong>in</strong> diese Fel<strong>der</strong> e<strong>in</strong> und rekonstruieren sie, <strong>in</strong>dem sie Teil <strong>der</strong> menschlichen Handlungen selbst werden.<br />

E<strong>in</strong> reflexives Bewußtse<strong>in</strong> über die[se] <strong>in</strong>stitutionelle Reflexivität seitens des beobachtenden Sozialwissen-<br />

schaftlers ist e<strong>in</strong>e Grundvoraussetzung kritischer Theorie und br<strong>in</strong>gt Sensibilität für die unmittelbar praktischen<br />

Implikationen von Sozialwissenschaft hervor.* (Ebd.; S. 23)<br />

Auch Scott Lash stellt, wie Giddens, die +Reflexivität* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> den Mittelpunkt se<strong>in</strong>er<br />

theoretischen Praxis und sieht speziell <strong>in</strong> <strong>der</strong> +zeitdiagnostischen* Ausrichtung das kritische<br />

Potential <strong>der</strong> Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, so wie sie von Giddens – und auch Ulrich<br />

Beck (siehe unten) – ausformuliert wurde. Letzteres kann für Lash freilich nur dann wirklich<br />

entfaltet werden, +wenn man sie radikal gegen den Strich bürstet* (Reflexivität und ihre Doppe-<br />

lungen; S. 195). Für ihn konzentrieren sich Beck und Giddens nämlich zu e<strong>in</strong>seitig auf die<br />

Selbstreflexivität <strong>der</strong> Individuen und die Freisetzungsdimension des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses,<br />

anstatt das +System* als solches zu thematisieren (vgl. auch ebd.; S. 241). Denn im Zeitalter<br />

<strong>der</strong> postfordistisch +flexibilisierten Akkumulation* des globalisierten Kapitalismus mit se<strong>in</strong>en<br />

stark gewandelten Kommunikations- und Produktionsstrukturen entstehen neue (strukturelle)<br />

+Grenzen* für Freiheit, die es theoretisch zu reflektieren gilt. Diese Überlegung führt Lash<br />

<strong>in</strong> Anlehnung an Adornos (posthegelianische) +Negative Dialektik* (1966) und dessen +Ästhetische<br />

Theorie* (1970) zu e<strong>in</strong>er Betonung <strong>der</strong> +Ästhetische[n] Dimension Reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung*


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 319<br />

(1992), d.h. zu e<strong>in</strong>er Analyse <strong>der</strong> symbolischen (Macht-)Strukturen <strong>der</strong> globalen Kultur<strong>in</strong>dustrie<br />

(vgl. auch <strong>der</strong>s./Urry: Economies of Signs and Space).<br />

Zu Lashs Ansatz, <strong>der</strong> – wie die Überlegungen von Giddens – wichtige Impulse für das von<br />

mir anvisierte Theorieprojekt zu geben vermag, werde ich an späterer Stelle noch nähere<br />

Erläuterungen machen. Wenn es aber darum geht, e<strong>in</strong>e kritisch-dialektische Erweiterung <strong>der</strong><br />

Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung vorzunehmen, so ersche<strong>in</strong>t mir dazu die von Ulrich Beck<br />

entworfene Theorievariante – obwohl sie nicht explizit mit e<strong>in</strong>em +kritischen* Anspruch auftritt<br />

– als geeignetster Ausgangspunkt. Denn Becks latent materialistischer Reflexivitätsbegriff be<strong>in</strong>-<br />

haltet, an<strong>der</strong>s als bei Giddens und Lash, nicht alle<strong>in</strong>e gedankliche (kognitive) o<strong>der</strong> ästhetische<br />

und hermeneutische Reflexion bzw. Reflexivität, son<strong>der</strong>n betont vielmehr die ökologische<br />

Risiken produzierende +Nebenfolgenhaftigkeit* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung, die die Mo<strong>der</strong>ne (ungewollt)<br />

9<br />

auf sich selbst verweist und so (potentiell) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e +zweite Mo<strong>der</strong>ne* überführt (siehe zurück<br />

zu S. XLII und vgl. auch <strong>der</strong>s.: Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen?; S. 289ff.). Genau dieses +mate-<br />

rialistische Moment* im Theorierahmen Becks ist <strong>der</strong> mögliche Fix- und Wendepunkt für<br />

e<strong>in</strong>e kritisch-dialektische Um<strong>in</strong>terpretation (die allerd<strong>in</strong>gs – da mit ihr schließlich e<strong>in</strong>e doppelte<br />

Überschreitung angestrebt wird – auch die Momente kognitiver, ästhetischer und hermeneutischer<br />

Reflexivität nicht ignoriert).<br />

Der (entfernten) Nähe zum Historischen Materialismus und damit zu Marx ist Beck sich natürlich<br />

durchaus bewußt. Er bemerkt: +Daß die Dynamik <strong>der</strong> Industriegesellschaft ihre eigenen Grund-<br />

lagen aufhebt, er<strong>in</strong>nert an die Botschaft von Karl Marx: Der Kapitalismus ist <strong>der</strong> Totengräber<br />

des Kapitalismus* (Das Zeitalter <strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 44).<br />

Als +Neomarxisten*, <strong>der</strong> dem Historischen Materialismus e<strong>in</strong>e +ökologische Wendung* gibt,<br />

sieht Beck sich allerd<strong>in</strong>gs – und das durchaus zu Recht – mißverstanden. Denn nach ihm<br />

s<strong>in</strong>d es +erstens nicht die Krisen, son<strong>der</strong>n die Siege […] des Kapitalismus, die die neue<br />

gesellschaftliche Gestalt erzeugen. Damit ist zugleich zweitens gesagt: nicht <strong>der</strong> Klassenkampf,<br />

son<strong>der</strong>n […] Weitermo<strong>der</strong>nisierung, löst die Konturen <strong>der</strong> klassischen Industriegesellschaft<br />

auf* (ebd.). Zudem gilt <strong>in</strong> <strong>der</strong> (ökonomisch nivellierten und damit +<strong>in</strong>dividualisierten*) Risiko-<br />

gesellschaft <strong>der</strong> +zweiten Mo<strong>der</strong>ne*, e<strong>in</strong>e gewandelte Verteilungslogik, <strong>in</strong> <strong>der</strong> nicht mehr so<br />

sehr Probleme <strong>der</strong> Reichtumsverteilung, son<strong>der</strong>n Probleme <strong>der</strong> Risikoverteilung im Mittelpunkt<br />

stehen: +In Klassenlagen bestimmt das Se<strong>in</strong> das Bewußtse<strong>in</strong>, <strong>in</strong> Risikolagen umgekehrt das<br />

10<br />

Bewußtse<strong>in</strong> (Wissen) das Se<strong>in</strong>.* (Ders.: Risikogesellschaft; S. 70) +Das läuft auf e<strong>in</strong>e bemerkens-


320 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

werte Umkehrung <strong>der</strong> Feuerbach-Marx-Kontroverse heraus: Das Denken muß verän<strong>der</strong>t werden,<br />

damit die Welt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne an ihren eigenen Ursprüngen und Ansprüchen erneuert werden<br />

kann.* (Das Zeitalter <strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 26)<br />

Diese von Beck vorgenommene Abgrenzung könnte man nun zwar auf e<strong>in</strong> spezifisches<br />

Mißverständnis <strong>der</strong> Theorie Marx’ zurückführen. Denn erstens s<strong>in</strong>d es auch im von Marx<br />

begründeten +Denk-System* die +Siege* des Kapitalismus, d.h. die vom ihm bewirkte Entfesselung<br />

<strong>der</strong> Produktivkräfte, die die (materiell-ökonomische) Basis <strong>der</strong> anvisierten neuen Gesellschaftsform<br />

des Kommunismus schaffen. Zweitens ist es im marxistischen Denken ke<strong>in</strong>eswegs erst <strong>der</strong><br />

Klassenkampf, <strong>der</strong> die Konturen <strong>der</strong> kapitalistischen Ordnung auflöst – dieser ist nur das (zwangs-<br />

läufige) Produkt, die Äußerung ihrer <strong>in</strong>neren Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit und Selbstauflösungstendenz.<br />

Und außerdem stellt es natürlich e<strong>in</strong>e Verkürzung <strong>der</strong> Marxschen Thesen dar, wenn man<br />

die gegen den (deutschen) Idealismus gerichtete Betonung <strong>der</strong> materiellen Basis mit e<strong>in</strong>er<br />

11<br />

+Vergessenheit* für die Wissens- und Bewußtse<strong>in</strong>sdimension verwechselt. Im Gegenteil:<br />

Für Marx bestimmt das Wissen um die Verhältnisse des Se<strong>in</strong>s (+Klassenbewußtse<strong>in</strong>*) wesentlich<br />

das Handeln (+revolutionäre Praxis*). Dieses Bewußtse<strong>in</strong> ist jedoch we<strong>der</strong> <strong>in</strong> Klassen- noch<br />

<strong>in</strong> Risikolagen (völlig) losgelöst von <strong>der</strong> – im Bewußtse<strong>in</strong> allerd<strong>in</strong>gs nie erfaßbaren, son<strong>der</strong>n<br />

nur (re)konstruierbaren – (materiellen) Faktizität. Denn Bewußtse<strong>in</strong> ist immer Bewußtse<strong>in</strong><br />

(<strong>in</strong>) <strong>der</strong> Welt und damit durch ebendiese, dem Menschen ver<strong>in</strong>nerlichtes +Außen* gegenüber-<br />

tretende Welt sowie ihre sozio-ökonomischen Äußerungen/Strukturen bestimmt. Soweit me<strong>in</strong><br />

(Miß-)Verständnis von Marx.<br />

Mit diesen parallelisierenden Relativierungen will ich nun ke<strong>in</strong>eswegs behaupten, daß sich<br />

Becks Ansatz problemlos <strong>in</strong> Deckung mit den Positionen des Marxismus br<strong>in</strong>gen ließe. Es<br />

gibt durchaus e<strong>in</strong>e Reihe von Elementen, die Beck deutlich von Marxisten und Neomarxisten<br />

unterscheiden (wenn es auch vielleicht eher an<strong>der</strong>e s<strong>in</strong>d, als jene, die Beck selbst herausstellt). 12<br />

Viel <strong>in</strong>teressanter ist, daß Beck me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach Marx <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zentralen Punkt kritisch<br />

überschreitet. Diese kritische Überschreitung besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> expliziten Skepsis gegenüber den<br />

eigenen Prämissen, die Beck daran h<strong>in</strong><strong>der</strong>t, den von ihm <strong>in</strong> den Raum gestellten Prozeß <strong>der</strong><br />

Selbstüberw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (geschichtsphilosophisch), wie Marx, als +historische Not-<br />

13<br />

wendigkeit* zu denken, die aus den Gesetzmäßigkeiten <strong>der</strong> Geschichte folgt. Was vor<strong>der</strong>gründig<br />

(vielleicht sogar gerechtfertigterweise) als +affirmative*, allzu +positive* Sicht auf die Gegenwart<br />

ersche<strong>in</strong>en mag und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Behauptung e<strong>in</strong>es aus sozialstrukturellen wie <strong>in</strong>stitutionellen Zwängen


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 321<br />

+freisetzenden* Individualisierungs- und Subpolitisierungsprozesses die Maske des Optimismus<br />

trägt (siehe auch Abschnitt 2.5), ist tatsächlich – d.h. wie ich es sehe – <strong>der</strong> Ausdruck des<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, entgegen den Intentionen ihrer +Väter*, gesteigerten Ungewissen.<br />

Die Entfesselung <strong>der</strong> Produktivkräfte, die bei Marx noch <strong>in</strong> das +Reich <strong>der</strong> Freiheit* führt<br />

(wenn sie +sozialistisch umgebogen* wird), erhält bei Beck deshalb den Charakter e<strong>in</strong>es<br />

grundsätzlich ambivalenten Phänomens. Und er ist sich ebenso bewußt, daß Individualisierung<br />

nicht nur +Gew<strong>in</strong>ner*, son<strong>der</strong>n auch +Verlierer* produziert und jede Freisetzung mit neuen<br />

Formen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung und mit neuen Zwängen verbunden ist – und sei es dem +Zwang<br />

zur Freiheit*. Nur zieht er daraus nicht die für e<strong>in</strong>e kritisch-dialektische Theorie notwendige<br />

Konsequenz und konzentriert sich bei se<strong>in</strong>en Betrachtungen weniger auf die Restriktionen<br />

reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung (durch Selbstbegrenzungen wie durch deflexive Gegenbewegungen),<br />

14<br />

als auf ihre Chancen. Soweit jedenfalls me<strong>in</strong> (Miß-)Verständnis von Beck.<br />

Was könnte dieser damit sozusagen +auf halbem Weg steckengebliebene* Ansatz e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>en<br />

+kritischen Dialekt* sprechenden Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung mit auf ihren Weg geben,<br />

was könnte er ihr sagen? – Die Antwort lautet: Gerade <strong>in</strong> dem, was dieser Ansatz nicht sagt,<br />

könnte er sie weiterführen, denn er könnte ihr – und nichts ist produktiver – <strong>in</strong> diesem<br />

+Schweigen* Fragen stellen: Was s<strong>in</strong>d die Gründe für die +Beharrlichkeit* <strong>der</strong> (<strong>in</strong>stitutionellen)<br />

Strukturen <strong>der</strong> +e<strong>in</strong>fachen* Mo<strong>der</strong>ne? Durch welche Prozesse und welche Mechanismen wird<br />

<strong>der</strong> Übergang von <strong>der</strong> ersten <strong>in</strong> die zweite (radikalisierte, reflexive) Mo<strong>der</strong>ne blockiert? Welche<br />

(neuen) Zwänge br<strong>in</strong>gt die radikalisierte Mo<strong>der</strong>ne (reflexiv) hervor? Wor<strong>in</strong> liegen ihre Wi<strong>der</strong>-<br />

sprüche? Im Bewußtse<strong>in</strong> dieser Fragen und Probleme gilt es, im folgenden (Abschnitt 5.1)<br />

noch e<strong>in</strong>mal den disparaten, schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Anfängen wi<strong>der</strong>sprüchlichen Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß<br />

von <strong>der</strong> Neuzeit bis an die Grenze <strong>der</strong> +postmo<strong>der</strong>nen* Gegenwart zu verfolgen. Vor allem<br />

mit Bezug auf +Die Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (1944) von Horkheimer und Adorno sowie Zygmunt<br />

Bauman soll die +ursprüngliche* Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne dabei als e<strong>in</strong> (Angst-getriebenes)<br />

Projekt <strong>der</strong> Elim<strong>in</strong>ierung von Ambivalenzen aufgefaßt werden – e<strong>in</strong> Projekt allerd<strong>in</strong>gs, das<br />

nur deshalb Ungewißheit und Ambivalenz so vehement bekämpft, weil es selbst zutiefst<br />

ambivalent ist, <strong>in</strong>dem es den Wi<strong>der</strong>spruch von Freiheit und Sicherheit synthetisch zu vere<strong>in</strong>en<br />

versucht. Aus eben dieser +Grund-legenden* Ant<strong>in</strong>omie <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, die ihr doppeltes<br />

Versprechen doppelt une<strong>in</strong>lösbar macht und Freiheit wie Sicherheit <strong>in</strong> ihr Gegenteil (Zwang)<br />

verkehrt, kann die Beharrlichkeit und die implizite Gewalt <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Ordnung erklärt


322 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

werden (Abschnitt 5.1.1). Doch <strong>in</strong> ihrer gewaltvollen Entfaltung steigert sie (ungewollt) nur<br />

ihre Ambivalenz, welche sich ihr schließlich dadurch verstärkt zum Bewußtse<strong>in</strong> br<strong>in</strong>gt: Die<br />

Mo<strong>der</strong>ne erkennt sich selbst <strong>in</strong> ihrem Wi<strong>der</strong>spruch. Sie wird reflexiv und damit +objektiv*,<br />

d.h. sie wird sich zu e<strong>in</strong>em Objekt und Gegenstand und vernichtet damit genau jene Gewiß-<br />

heit(en), die zu suchen und wie<strong>der</strong>herzustellen sie sich aufmachte (Abschnitt 5.1.2).<br />

Diese +gegenständliche* Verunsicherung ihrer ursprünglichen Impulse manifestiert sich zuweilen<br />

<strong>in</strong> Resignation, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er +posthistoristischen Lähmung*. An<strong>der</strong>erseits: Die reflexive Objektivierung<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne entfesselt die Subjekte – potentiell – aus den Zwängen <strong>der</strong> (Selbst-)Gewißheit<br />

und schafft damit auch die Basis für e<strong>in</strong>e neue +Bewegung*, für e<strong>in</strong>e theoretische und praktische<br />

Umorientierung (Abschnitt 5.2). Das löst auch e<strong>in</strong>e latente Erosion <strong>der</strong> sozialen Institutionen<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne aus. Es kommt also – allerd<strong>in</strong>gs nur, wenn die materiellen und strukturellen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen kritische +Reflexionen* begünstigen – zu jener schon oben mit Beck angesprochenen<br />

Subpolitisierung, d.h. <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> wird <strong>der</strong> +Grund* entzogen und gleichzeitig<br />

erfolg e<strong>in</strong>e entgrenzende Politisierung des gesamten sozialen Lebens. Subpolitik stellt damit<br />

– implizit und explizit – die Frage nach <strong>der</strong> politischen (Def<strong>in</strong>itions-)Macht und <strong>der</strong> politischen<br />

Organisation <strong>der</strong> Gesellschaft, sie ist Meta- und Superpolitik (Abschnitt 5.2.1). Doch das ist<br />

nur ihre e<strong>in</strong>e Seite: Subpolitik, die nicht zugleich selbst-bewußt und subversiv ist und – sich<br />

selbst begrenzend – vor <strong>der</strong> Überschreitung <strong>der</strong> +Systemgrenzen* zurückschreckt, kann un<strong>in</strong>ten-<br />

diert auch zu e<strong>in</strong>er Diffusion und Zersplitterung des Politischen führen, das sich immer mehr<br />

<strong>in</strong> abgespaltene E<strong>in</strong>zelfragestellungen +auflöst* (Abschnitt 5.2.2).<br />

Subpolitik begrenzt sich also selbst. Aber sie wird auch durch ihre +systemische* Umwelt<br />

begrenzt, und die kritischen Reflexionen, die sie bewirkt, werden von dort zurückgeworfen<br />

und – entschärfend – abgelenkt (Abschnitt 5.3). Wie sich im Verlauf <strong>der</strong> Analyse des politischen<br />

+Rahmens* <strong>in</strong> Kapitel 2 und 3 zeigte (und auch hier rückblickend bereits angesprochen wurde),<br />

besitzen die e<strong>in</strong>gespielten Akteurszusammenhänge <strong>der</strong> etablierten (Sub-)Systeme mächtige<br />

Ressourcen für solche Deflexionsversuche. Grundsätzlich läßt sich im Zusammenhang <strong>der</strong><br />

Deflexion zwischen Ideologien (Abschnitt 5.3.1) und Praxologien (Abschnitt 5.3.2) unterscheiden.<br />

Die wichtigste Deflexionsideologie ist me<strong>in</strong>es Erachtens die funktionalistische Theorie von<br />

<strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Systeme, da sie die zentralen Praxologien <strong>der</strong> Übersetzung und <strong>der</strong> rituellen<br />

Integration als Überbau abstützt. +Aktive* (d.h. gezielt betriebene) Deflexion ist jedoch die<br />

Ausnahme. Untergründiger, +von <strong>in</strong>nen* wirkend und deshalb vermutlich weit effektiver ist


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 323<br />

passive Deflexion, d.h. das <strong>in</strong> ihrer Masse begründete +Momentum* <strong>der</strong> Systeme sowie die<br />

+rout<strong>in</strong>isierte* Trägheit des Denkens und Handelns, die reflexives Bewußtse<strong>in</strong> und reflexive<br />

Handlungsalternativen blockiert.<br />

Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung kann aufgrund dieser Limitierungen nie vollständig reflexiv se<strong>in</strong>.<br />

Die +objektive* (d.h. materielle) Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung durch ihre Nebenfolgen wird<br />

deshalb nicht immer +objektiv* (d.h. selbst-thematisierend) gedanklich gespiegelt (kognitive<br />

Reflexion). Und auch die sich aus <strong>der</strong> weitergehenden Mo<strong>der</strong>nisierung ergebende Reflexivität<br />

<strong>der</strong> sozialen S<strong>in</strong>nwelten und Symbole wird durch die +ents<strong>in</strong>nlichende* Prägekraft <strong>der</strong> globalen<br />

Kultur<strong>in</strong>dustrie kaum kritisch reflektiert (ästhetisch-hermeneutische Reflexivität). Deshalb gibt<br />

es auch ke<strong>in</strong>e weitreichenden praktischen Reflexionen, ke<strong>in</strong>e Spiegelungen <strong>der</strong> +objektiven<br />

Reflexivität* im Handeln. So besteht aktuell – wenngleich durch Ideologien und Praxologien<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen wie <strong>in</strong>dividuellen Wahrnehmung weitgehend +verdrängt* – e<strong>in</strong>e Dialektik von<br />

reflexiven und deflexiven Prozessen (Abschnitt 5.4). Das Aufzeigen dieser Dialektik ist deshalb<br />

die zentrale Aufgabe e<strong>in</strong>er kritischen Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung.<br />

Die Dialektik von Reflexion und Deflexion ist jedoch für die +Evolution sozialer Systeme*,<br />

um die Sprache <strong>der</strong> Systemtheorie zu benutzen, bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad sogar +funktional*.<br />

Denn das System benötigt reflexive +Inputs*, um sich an potentielle und konkrete Herausforde-<br />

rungen anpassen zu können. Allerd<strong>in</strong>gs besteht mit <strong>der</strong> deflexiven Integration reflexiver Impulse<br />

die Gefahr e<strong>in</strong>er reflexiv-deflexiven Risikospirale, d.h. die (die Reflexionen auslösenden) Wi<strong>der</strong>-<br />

sprüche des bestehenden Systems werden durch se<strong>in</strong>e +konservative* Adaption auf e<strong>in</strong> immer<br />

höheres Niveau transformiert. Politisch betrachtet führt e<strong>in</strong>e solche risikopotenzierende reflexiv-<br />

deflexive Dialektik sehr wahrsche<strong>in</strong>lich zu e<strong>in</strong>er entpolitisierenden Diffusion: Die <strong>in</strong>stitutionelle<br />

<strong>Politik</strong> versucht sich dadurch vor den Reflexionen ihrer Wi<strong>der</strong>sprüche zu retten, daß sie sich<br />

selbst entpolitisiert, um ke<strong>in</strong>e Angriffspunkte mehr zu bieten, und die ohneh<strong>in</strong> +zerstreute*,<br />

fragmentisierte Subpolitik beschränkt sich – <strong>der</strong>art +befriedet* – auf das Subpolitische.<br />

In diesem Zusammenhang stellt sich allerd<strong>in</strong>gs die generelle Frage: Welche E<strong>in</strong>stellungen,<br />

Umstände und Verhaltensweisen s<strong>in</strong>d im hier gebrauchten S<strong>in</strong>n +reflexiv* bzw. +deflexiv*<br />

zu nennen? E<strong>in</strong>e ausführlichere Antwort darauf wird lei<strong>der</strong> erst an späterer Stelle erfolgen<br />

können (siehe Anschnitt 5.3). Für den Augenblick soll es genügen klarzustellen, daß es sich<br />

hier um e<strong>in</strong>e theoretisch gesetzte (re<strong>in</strong> begriffliche) Unterscheidung handelt, die weniger mit<br />

dem Anspruch antritt, e<strong>in</strong> objektives, e<strong>in</strong>deutiges und +operationalisierbares* Kriterium angeben


324 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

zu können, son<strong>der</strong>n vielmehr e<strong>in</strong>em analytisch-heuristischen Zeck dient. Dabei berufe ich<br />

mich jedoch durchaus auf die (<strong>in</strong>dividuelle) Erfahrung e<strong>in</strong>er +Realität*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> beide Elemente<br />

zwar vorhanden s<strong>in</strong>d, aber immer nur +vermischt* und niemals klar geschieden. E<strong>in</strong>e +reflexive*<br />

Haltung bestünde nun genau dar<strong>in</strong>, diese Une<strong>in</strong>deutigkeit und Ambivalenz des Se<strong>in</strong>s wahrzu-<br />

nehmen und zu spiegeln, anstatt sie zu verdrängen und von ihr abzulenken. Es handelt sich<br />

bei den begriffen +Reflexion* und +Deflexion* also um subjektiv-hermeneutische Kategorien,<br />

die die Art und Weise <strong>der</strong> Betrachtung ebenso charakterisieren, wie mit ihnen sie Zuordnungen<br />

vorgenommen werden, die jedoch immer auch +problematischen* Charakter haben, <strong>in</strong>dem<br />

sie sich (durch ihre subjektive, +empirische* Färbung) nicht +objektivieren* lassen.<br />

Reflexion bedeutet dabei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ersten Annäherung die bewußte und aufrichtige Spiegelung<br />

(<strong>der</strong> Ambivalenz) <strong>der</strong> Welt im Denken wie im Handeln, während Deflexion demgegenüber<br />

als bewußte o<strong>der</strong> unbewußte (dann allerd<strong>in</strong>gs alle<strong>in</strong>e von <strong>in</strong>nen heraus nicht erkennbare)<br />

Unaufrichtigkeit, als +mauvaise foi* (Sartre) zu bezeichnen wäre, die Reflexionen begrenzt<br />

und auf E<strong>in</strong>deutigkeit beharrt. Was die E<strong>in</strong>ordnung +äußerer* Umstände und +fremden*<br />

Verhaltens anbelangt, so gibt es natürlich notwendigerweise immer nur Indizien und Ver-<br />

mutungen. Doch seien wir – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em reflexiven S<strong>in</strong>n – spekulativ, haben wir den Mut zur<br />

Vermutung! Denn Spekulation ist <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Weg, Aussagen über e<strong>in</strong>e Welt zu machen,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> es ke<strong>in</strong>e Gewißheit gibt ist. Die subjektive +Evidenz* und die nach außen vermittelte,<br />

aber nicht opportunistisch allgeme<strong>in</strong>e Zustimmungsfähigkeit erstrebende, son<strong>der</strong>n verne<strong>in</strong>end<br />

gerade gegen den +common sense* gerichtete +Plausibilität* <strong>der</strong> Kennzeichnung e<strong>in</strong>es Umstands<br />

o<strong>der</strong> Verhaltens als reflexiv bzw. deflexiv soll und muß genügen. Und es gibt beispielsweise<br />

durchaus plausible Gründe für die hier im folgenden vertretene Annahme, daß <strong>in</strong> +Systemzusam-<br />

menhängen* die deflexive Komponente grundsätzlich stärker ausgeprägt ist als <strong>in</strong> den (<strong>in</strong>divi-<br />

duellen) Lebenwelten, da erstere abstrakter und durch e<strong>in</strong>e deutlichere +Entfremdung* geprägt<br />

s<strong>in</strong>d. Abstraktion und Entfremdung schaffen zwar größere Möglichkeiten für kognitive Refle-<br />

xionen, aber sie beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n die für +kritische* Reflexionen notwendige Öffnung nach <strong>in</strong>nen<br />

wie nach außen: die konkrete Wahrnehmung als bestimmte Negation.<br />

Was aber, wenn die Lebenswelten, wie aktuell, <strong>in</strong> erheblichem Maß durch das System +kolo-<br />

nialisiert* s<strong>in</strong>d? Wo könnte dann <strong>der</strong> Ansatzpunkt <strong>der</strong> transzendierenden Negation liegen?<br />

Wir stecken <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dilemma, e<strong>in</strong>e Aporie tut sich auf. Aber die Aporie ist, zum<strong>in</strong>dest gemäß<br />

<strong>der</strong> dialektischen +Hebammenkunst* des Sokrates, immer auch e<strong>in</strong> möglicher Umschlagspunkt.


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 325<br />

Damit Dialektik sich allerd<strong>in</strong>gs bis zum Umschlagspunkt <strong>der</strong> Aporie entfalten kann, die <strong>der</strong><br />

Potentialität des Se<strong>in</strong>s Raum gibt, muß <strong>der</strong> Aktualität des Se<strong>in</strong>s etwas entgegengesetzt werden.<br />

Negativität, die sich <strong>der</strong> +Positivität* <strong>der</strong> sozialen +Wirklichkeit* versperrt, stellt darum die<br />

e<strong>in</strong>zige +mögliche* theoretische und praktische Option dar, die die bestehenden Verhältnisse<br />

überw<strong>in</strong>den kann. Auch diese Negativität speist sich <strong>in</strong>dessen aus dem Se<strong>in</strong>. Sie f<strong>in</strong>det ihren<br />

haltlosen Rückhalt im eigenen Se<strong>in</strong> und dessen +Bestimmungen*, das sich – <strong>in</strong> bestimmter<br />

Negation – auf das an<strong>der</strong>e Se<strong>in</strong> bezieht, sich an diesem reibt und stößt. Sie speist sich aus<br />

<strong>der</strong> (Un-)Möglichkeit des +authentischen* Selbst, das sich gegen die entäußernde Unterdrückung<br />

<strong>der</strong> Vielheit se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Stimmen <strong>in</strong> <strong>der</strong> pluralen, aber e<strong>in</strong>dimensionalen Marktgesellschaft<br />

wehrt, <strong>der</strong>en Optionen selektiv s<strong>in</strong>d. Se<strong>in</strong>e nicht-identische (Nicht-)Identität richtet sich, von<br />

außen angestoßen und nach <strong>in</strong>nen +geworfen*, gegen die Absperrung se<strong>in</strong>er Potentiale. Derart<br />

werden Reflexionen ver<strong>in</strong>nerlichter Machtstrukturen und deflexiver Praktiken <strong>in</strong> Gang gesetzt,<br />

die e<strong>in</strong>e Überschreitung ermöglichen können, <strong>in</strong>dem sie sich <strong>der</strong> Faktizität des Seienden<br />

negativ entziehen. Und nur auf diese negative Weise werden die im Wirken <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

sich auftuenden Kont<strong>in</strong>genzräume für die +Utopie* sozialer Konvergenz genutzt, die die Indi-<br />

viduen wie<strong>der</strong> ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong> annähert, ohne sie mit dem Zwang zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>heitlichen Selbst<br />

und e<strong>in</strong>em vere<strong>in</strong>heitlichenden Konsens zu bedrängen. Denn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Negation wird e<strong>in</strong> Möglich-<br />

keitsraum offen gehalten, <strong>der</strong> alle<strong>in</strong>e von den Individuen <strong>in</strong> ihrem +freien* Zusammenwirken<br />

ausgestaltet und nicht positiv +vorbestimmt* werden kann (siehe auch Exkurs).<br />

Diese hier nur grob skizzierten Vorstellungen e<strong>in</strong>er kritisch-dialektischen Theorie reflexiver<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung s<strong>in</strong>d so wi<strong>der</strong>sprüchlich und paradox, wie die Welt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> und für die sie<br />

gedacht wurden. Sie s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> sich selbst wi<strong>der</strong>sprechende Ausdruck <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit<br />

des Se<strong>in</strong>s, die dem Se<strong>in</strong>, so wie es ist, wi<strong>der</strong>sprechen. Das bedeutet, daß es darum geht,<br />

möglichst wi<strong>der</strong>(ge)spenstige Gedanken produzieren, die sich <strong>in</strong> den Weg stellen, zur Ause<strong>in</strong>-<br />

an<strong>der</strong>setzung +zw<strong>in</strong>gen*, zu ihrer Verwerfung und Diffamierung aufrufen, aber auch zur Selbst-<br />

verwerfung und -überschreitung. Die Dialektik muß – um <strong>der</strong> Ambivalenz des Se<strong>in</strong>s gerecht<br />

zu werden – entfesselt werden, und so ist auch dieser Text nichts an<strong>der</strong>es, als <strong>der</strong> ambivalente<br />

(und damit auch +fragwürdige*) Versuch e<strong>in</strong>er Entfaltung von Dialektik. Der Horizont dieser<br />

befreiten und befreienden, aus <strong>der</strong> bestimmten Negation gespeisten negativen Dialektik im<br />

Bewußtse<strong>in</strong> des Nichtidentischen (vgl. auch Adorno: Negative Dialektik; S. 16) ist die u-topische<br />

Utopie, jener negative Nicht-Ort, <strong>der</strong> die Begrenzungen des sozialen Raumes, dem Ort <strong>der</strong>


326 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Gegenwart, sprengt und e<strong>in</strong>em Denken <strong>der</strong> Differenz Raum gibt sowie dem Handeln das<br />

an<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Zukunft erschließt. Doch vor <strong>der</strong> Frage nach den Möglichkeiten für e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es<br />

Künftiges steht notwendig die Beschäftigung mit dem (eigenen) Vergangenen, mit den – immer<br />

wie<strong>der</strong> neuen – Anfängen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.<br />

5.1 +REFLEXIVE* MODERNISIERUNG ALS +OBJEKTIVE* MODERNISIERUNG UND DAS<br />

UNVOLLENDETE PROJEKT DER MODERNE<br />

Die Mo<strong>der</strong>ne ist, wie ich sie begreife, ke<strong>in</strong> Zustand, ke<strong>in</strong>e abgegrenzte Epoche, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e<br />

Bewegung. Sie hat sich selbst unter den permanenten, unerbittlichen Zwang gesetzt, sich<br />

immer wie<strong>der</strong> zu erneuern und zu erschaffen. Sie muß werden, um zu se<strong>in</strong>, denn sie will<br />

die immer wie<strong>der</strong> neue Zeit se<strong>in</strong>. Die Mo<strong>der</strong>ne ist ihrem Wesen nach folglich nicht statisch<br />

15<br />

und fixierbar, son<strong>der</strong>n dynamisch; sie kann nur als Prozeß gedacht werden. Vielleicht ist<br />

sie deshalb als Phänomen so schwer zu (er)fassen und zu (be)greifen. Vielleicht gibt es deshalb<br />

so viele unterschiedliche Mo<strong>der</strong>nitätsbegriffe und historische E<strong>in</strong>ordnungsmöglichkeiten. Auf<br />

diese unübersichtliche Vielfalt <strong>der</strong> Konzepte und Datierungen wurde von mir bereits im Rahmen<br />

me<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>leitenden Bemerkungen ausführlich e<strong>in</strong>gegangen (siehe S. XIII–XXXVIII). Allerd<strong>in</strong>gs:<br />

Die vielgesichtige Rastlosigkeit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne erklärt sich nicht aus sich heraus. Was also ist<br />

die treibende Kraft ihrer disparaten Entwicklung? Wo liegt ihr (vor sich selbst verheimlichter)<br />

Ausgangspunkt?<br />

Doch das ist, so könnte man gerade vermuten, wenn man sich ebendieser Sicht <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

anschließt, e<strong>in</strong>e +falsche* Fragestellung, e<strong>in</strong>e Frage die ihren eigenen Ausgangspunkt ignoriert,<br />

e<strong>in</strong> zum Scheitern verurteilter Versuch <strong>der</strong> Umfassung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne: Ihre Fixierung kann<br />

nicht gel<strong>in</strong>gen, da sie sich schließlich <strong>in</strong> ihrer Bewegtheit je<strong>der</strong> starren +Positionierung* entzieht.<br />

Und doch muß man sich e<strong>in</strong>en solchen +Ursprung* zwangsläufig denken, wenn man sich<br />

an die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne deutend annähern will, ihre (wi<strong>der</strong>sprüchliche) Dynamik zu<br />

erklären versucht. Denn gerade die Haltlosigkeit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Bewegung verweist auf e<strong>in</strong>e<br />

untergründige Antriebskraft, die, um zu wirken, e<strong>in</strong>en Angriffspunkt benötigt. Und um selbst<br />

e<strong>in</strong>e (hermeneutische) Bewegung zu entfalten, müssen auch die Gedanken e<strong>in</strong>en Ansatzpunkt<br />

haben. Nur, wo ließe sich e<strong>in</strong> solcher Punkt ausmachen, von wo aus ließe sich die Bewegung<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne fortdenken?


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 327<br />

Der Ansatzpunkt für e<strong>in</strong> (kritisches) +Verstehen* <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne kann offensichtlich<br />

ke<strong>in</strong> theoretischer und historischer Nullpunkt se<strong>in</strong>, denn e<strong>in</strong>e Bewegung beg<strong>in</strong>nt niemals<br />

aus dem +Nichts* heraus. Viel eher schon ist gerade die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (wie ihre<br />

Reflexion) e<strong>in</strong>e explizite +Nichtung* des Vergangenen und Gegenwärtigen und steht so <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em nichtenden, aber Grund-legenden Bezug zu ihm. Deshalb ist es erfor<strong>der</strong>lich, die +funda-<br />

mentalen* Bruchl<strong>in</strong>ien im kont<strong>in</strong>uierlichen Diskont<strong>in</strong>uum <strong>der</strong> Geschichte aufzuspüren. In<br />

den Verwerfungen und +De-Strukturen* sche<strong>in</strong>t auf, was sonst allzu oft im Verborgenen bleibt,<br />

nämlich die bewegenden (Ab-)Gründe <strong>der</strong> Zeitläufte. Die abgründige Konstruktion e<strong>in</strong>es Anfangs,<br />

die für den +Genealogen* Foucault so irreführende +Chimäre des Ursprungs* (vgl. Nietzsche,<br />

die Genealogie, die Historie und siehe auch hier S. XLVII), öffnet damit – wenn man sich<br />

dieser Konstruiertheit bewußt ist – die Möglichkeit für e<strong>in</strong>e Dekonstruktion <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Selbst-Begründungen und Selbst-Konstruktionen. Setzen wir also im Bemühen um die De-<br />

konstruktion <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne e<strong>in</strong>en (fiktiven) Anfangspunkt für die Interpretation ihrer Bewegung.<br />

Aber hüten wir uns davor, diesen Anfangspunkt als tabula rasa anzusehen, denn das wäre<br />

e<strong>in</strong>e Annäherung an die Mo<strong>der</strong>ne, die <strong>in</strong> <strong>der</strong>en selbst gezogenen Grenzen verbleibt, statt<br />

sie zu sprengen, und die den Mythos <strong>der</strong> +revolutionären* Geburt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, von dem<br />

noch zu sprechen se<strong>in</strong> wird, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Methode ihrer Erzählweise rekonstruiert, statt ihn zu<br />

h<strong>in</strong>terfragen. Die tabula rasa, <strong>der</strong> Umsturz und Neubeg<strong>in</strong>n, mag vielleicht das Programm<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne se<strong>in</strong>, aber nicht ihr (möglicher) +Ursprung*. Dieser Ursprung o<strong>der</strong> Beweg-Grund<br />

kann me<strong>in</strong>es Erachtens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz an<strong>der</strong>en Moment gesehen werden: <strong>in</strong> <strong>der</strong> verunsichernden<br />

Ungewißheit, <strong>der</strong> Furcht, <strong>der</strong> Angst. 16<br />

Die Verb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne mit <strong>der</strong> Angst ist – obwohl sie <strong>in</strong> dekonstruktiver<br />

Absicht geschieht – ke<strong>in</strong>e +umstürzende*, ke<strong>in</strong>e neue Interpretation. Sie greift natürlich <strong>in</strong>sbe-<br />

son<strong>der</strong>e auf die <strong>in</strong> ihren Grundzügen bereits dargelegte Argumentation von Horkheimer und<br />

Adorno <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (1944) zurück und rekurriert ebenso auf die an diese<br />

klassische Schrift anschließenden Gedanken Zygmunt Baumans über +Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz*<br />

(1991). In <strong>der</strong> Unruhe <strong>der</strong> frühen Neuzeit und <strong>der</strong> beg<strong>in</strong>nenden Aufklärung, die von vielen<br />

+Kommentatoren* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als ihr historischer Beg<strong>in</strong>n angesehen wird (und die auch<br />

hier als e<strong>in</strong>e +erschließende* Umbruchstelle betrachtet werden soll), erfolgte e<strong>in</strong>e Erschütterung<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen und kollektiven Se<strong>in</strong>sgewißheit(en), was e<strong>in</strong>e geradezu +kopflose* Flucht<br />

<strong>in</strong>s Rationale auslöste, um die erodierende traditionale Ordnung auf den Wegen <strong>der</strong> Vernunft


328 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

zu rekonstruieren. Die Biographien und Philosophien von Descartes und Hobbes können<br />

hierfür als Beispiele dienen (siehe unten). Was nicht <strong>in</strong>s Bild paßte, nicht <strong>in</strong> die neue rationa-<br />

listische +Kosmopolis* (Toulm<strong>in</strong> 1990) <strong>in</strong>tegriert werden konnte, mußte (im Denken wie <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Praxis) ausgeschlossen werden.<br />

Die +Irrwege <strong>der</strong> Vernunft* (Feyerabend 1986) führten so <strong>in</strong> die +große Ausschließung* (Foucault),<br />

<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Aufklärung erhoffte +Ausgang des Menschen aus se<strong>in</strong>er selbstverschuldeten Un-<br />

mündigkeit* (Kant), die erstrebte Befreiung (von <strong>der</strong> Angst), zwängte letztendlich das, was<br />

befreit werden sollte – das Subjekt (<strong>der</strong> Angst) – e<strong>in</strong> (Abschnitt 5.1.1). Das Angst-getriebene<br />

doppelte Versprechen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne von Freiheit und Sicherheit, das über die (gewaltvolle)<br />

Tilgung <strong>der</strong> Ambivalenz synthetisch verwirklicht werden sollte, entfaltete aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wi<strong>der</strong>-<br />

sprüchlichkeit e<strong>in</strong>e um so größere Ambivalenz, und die nicht nur strukturierende, son<strong>der</strong>n<br />

auch +fragende* Gewalt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne richtete sich schließlich gegen sich selbst: Die (dialektische)<br />

Bewegung treibt das mo<strong>der</strong>ne Denken aus se<strong>in</strong>er rationalistischen +Gefangenschaft* heraus,<br />

<strong>in</strong>dem es sich, mit se<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>sprüchen konfrontiert, zu se<strong>in</strong>em eigenen Gegenstand macht.<br />

Die Mo<strong>der</strong>ne wird reflexiv und vernichtet damit +objektiv* die Gewißheiten, die sie suchte<br />

(Abschnitt 5.1.2). Doch zunächst, wie angekündigt und um e<strong>in</strong>en Anfang zu machen, zu<br />

den zweideutigen, brüchigen +Anfängen* dieser angstvollen und vielleicht tragischen (Selbst)-<br />

Suche:<br />

5.1.1 NEUZEITLICHE VERUNSICHERUNGEN UND DIE FLUCHT INS RATIONALE – DIE UNEINLÖSBAREN<br />

VERSPRECHEN DER (EINFACHEN) MODERNE<br />

In <strong>der</strong> hier unternommenen (Unter-)Suchung <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird also die Angst<br />

und das Denken <strong>der</strong> Angst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit des Umbruchs betrachtet. Erzeugte <strong>der</strong> Umbruch<br />

die Angst? O<strong>der</strong> die Angst den Umbruch? Wie immer es sich verhalten mag (wenn es sich<br />

überhaupt auf e<strong>in</strong>e dieser Weisen verhält): Beide – Umbruch und Angst – werden hier jedenfalls<br />

als zusammengehörig betrachtet. Denn damit sich e<strong>in</strong> Bild ergeben kann, muß e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>tergrund<br />

vorhanden se<strong>in</strong>. Dieser hier zugrunde gelegte H<strong>in</strong>tergrund ist die Angst im Umbruch und<br />

<strong>der</strong> Umbruch <strong>in</strong> Angst, e<strong>in</strong>e historische Situation und ihre +Äußerung*, e<strong>in</strong>e Bef<strong>in</strong>dlichkeit<br />

und ihre Dynamik. Die Angst, von <strong>der</strong> ich im folgenden sprechen werde, ist also zwangsläufig<br />

gerade <strong>in</strong> ihrer +H<strong>in</strong>tergründigkeit*, nur e<strong>in</strong>e erzählte und vor-gestellte. Und <strong>der</strong> mit ihr verbun-


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 329<br />

dene Umbruch – <strong>in</strong>sofern er +real* ist – wurde zwar nicht vollzogen (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung<br />

des Brüchigen), aber er ist, so wie er sich damals darstellte, zwangsläufig vergangen. Die<br />

beschriebene Angst (wenn sie auch womöglich – <strong>in</strong>sofern sie +tatsächlich* war – nicht verschwun-<br />

den und aufgelöst se<strong>in</strong> mag) ist deshalb nicht +wirklich*, nicht gegenwärtig. Sie kann – als<br />

(Re-)Konstrukt – nur dazu dienen, zu vergegenwärtigen, d.h. uns selbst, unsere Gegenwart<br />

zu verstehen. Sie ist als solche die (gegenwärtige) Möglichkeit des Irrtums (über das Vergangene).<br />

Der mögliche Irrtum allerd<strong>in</strong>gs soll ke<strong>in</strong>e Angst auslösen. Lassen wir ihn geschehen.<br />

Doch bevor wir uns <strong>in</strong>s Geschehen(e) +stürzen*, bevor die treibende Angst <strong>in</strong> den Umbrüchen<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne konkret gemacht wird, muß gefragt werden, was Angst überhaupt bedeutet,<br />

und ob sie – was immer sie bedeutet – nicht zu +unbedeutend* ist, um ihr hier e<strong>in</strong> so großes<br />

(erklärendes und deutendes) Gewicht zu geben. Angst ist schließlich als Affekt zwar e<strong>in</strong> allgegen-<br />

wärtiger Begleiter des menschlichen Dase<strong>in</strong>s, aber als solcher, so könnte man vermuten, vielleicht<br />

eher e<strong>in</strong> Beschäftigungsfeld für die (Individual-)Psychologie als für die aufgeworfenen Frage-<br />

stellungen wirklich relevant.<br />

Folgt man h<strong>in</strong>gegen Franz Neumann, so ist die Analyse <strong>der</strong> Angst gar <strong>der</strong> zentrale Schlüssel<br />

um soziale, politische und historische Entwicklungen zu verstehen (und im Verstehen gestalten<br />

zu können). Se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach war es nämlich ke<strong>in</strong>esfalls zufällig, daß Frankl<strong>in</strong> D. Roosevelt<br />

zu den von ihm 1941 gegen die Achsenmächte <strong>in</strong>s Feld geführten +Vier Freiheiten* auch<br />

die Freiheit von Not und die Freiheit von Furcht zählte. Beide s<strong>in</strong>d – im Gegensatz zur Me<strong>in</strong>ungs-<br />

und zur Religionsfreiheit (den an<strong>der</strong>en von Roosevelt gefor<strong>der</strong>ten Freiheiten) – negative<br />

17<br />

Freiheiten, und man könnte sogar behaupten, daß die Furcht bzw. die Angst geradezu das<br />

(negative) an<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Freiheit darstellt. Denn Angst macht es laut Neumann unmöglich, frei<br />

zu entscheiden. (Vgl. Angst und <strong>Politik</strong>; S. 261)<br />

Was Neumanns konkretes Angst-Konzept betrifft, so knüpft er an das klassische psychoanalytische<br />

18<br />

Modell Freuds an. Freud unterscheidet die sog. +Realangst* von +neurotischer Angst*. Während<br />

die Realangst als etwas +Rationelles und Begreifliches* ersche<strong>in</strong>t und +als Äußerung des Selbst-<br />

erhaltungstriebes* angesehen werden kann, also e<strong>in</strong>e nachvollziehbare Reaktion auf e<strong>in</strong>e<br />

+objektive* Gefährdung darstellt, fehlt <strong>der</strong> neurotischen Angst – die sich <strong>in</strong> diffusen Angst-<br />

neurosen, <strong>in</strong> Phobien und <strong>in</strong> hysterischer Angst äußert – dieser +reale* H<strong>in</strong>tergrund (vgl. Vorle-<br />

sungen zur E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Psychoanalyse; S. 309–314). An<strong>der</strong>erseits zeigt Freud auf, daß<br />

auch die neurotischen Formen <strong>der</strong> Angst, die gewissermaßen vom +Ich* produziert s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>en


330 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

+materiellen* und psycho-logischen H<strong>in</strong>tergrund haben, denn sie können als Fluchtreaktionen<br />

vor den zur Verwirklichung drängenden Äußerungen <strong>der</strong> das ver<strong>in</strong>nerlichte Ich-Ideal be-<br />

drohenden Libido gedeutet werden (vgl. ebd.; S. 318). 19<br />

Je nachdem, ob die +reale* o<strong>der</strong> die +neurotische* Komponente überwiegt, kann Angst laut<br />

Neumann verschiedene Funktionen und Konsequenzen haben: Als Realangst vermag sie vor<br />

drohenden Gefahren zu warnen und zu schützen. Wurde e<strong>in</strong>e Gefahrensituation erfolgreich<br />

20<br />

überstanden, so kann sogar e<strong>in</strong> +kathartischer Effekt* e<strong>in</strong>treten. Dom<strong>in</strong>iert dagegen das<br />

neurotische, +irreale* Element, so hat das Phänomen <strong>der</strong> Angst, das Neumann generell aus<br />

Entfremdungserfahrungen ableitet, e<strong>in</strong>e destruktive Wirkung und macht unfähig, zu handeln<br />

(vgl. Angst und <strong>Politik</strong>; S. 264ff.). Doch wie ist letztere Aussage mit <strong>der</strong> hier vertretenen Ansicht<br />

vere<strong>in</strong>bar, daß Angst <strong>der</strong> treibende +Ursprung* <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ist? Denn offen-<br />

sichtlich wird diese Bewegung <strong>in</strong> ihrer Rastlosigkeit und ihrer gewaltvollen Vehemenz von<br />

mir eher als +zwanghaft* und +neurotisch* und nicht als +kathartisch* o<strong>der</strong> +befreiend* an-<br />

21<br />

gesehen. Doch es ist paradoxerweise gerade ihr +Bewegungsdrang*, <strong>der</strong> die Mo<strong>der</strong>ne para-<br />

lysiert: Sie kann <strong>in</strong> ihrem stetigen Werden nicht se<strong>in</strong> und deshalb auch nicht Se<strong>in</strong>-lassen,<br />

Nachsicht (gegen sich selbst und ihre – imag<strong>in</strong>ären – Gegner) üben. Die bewegende Angst<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne fixiert also die Mo<strong>der</strong>ne, <strong>in</strong>dem sie diese im +stahlharten Gehäuse* (Weber)<br />

ihres rigorosen Rationalismus gefangen hält, sie auf ihrem e<strong>in</strong>geschlagen Fluchtweg <strong>der</strong> rationa-<br />

listischen Ambivalenz-Tilgung immer weiter vorantreibt.<br />

Dieses regressive Element <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* haben, wie schon oben erwähnt<br />

wurde, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Horkheimer und Adorno herausgearbeitet (denen Neumann als zeitweiliger<br />

Mitarbeiter des emigrierten +Instituts für Sozialforschung* sehr nahe stand): +Der Fluch des<br />

Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression* (S. 42), so bemerken sie unter dem E<strong>in</strong>druck<br />

<strong>der</strong> Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Aufklärung, die ehemals angetreten<br />

war, zur Befreiung des Menschen +die Mythen auf[zu]lösen und E<strong>in</strong>bildung durch Wissen<br />

[zu] stürzen* (ebd.; S. 9), entwickelte sich zu e<strong>in</strong>em gewaltvollen und +totalitären* System,<br />

denn +nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt<br />

antut* (ebd.; S. 10). +Ihren eigenen Ideen von Menschenrecht ergeht es dabei nicht an<strong>der</strong>s<br />

als den älteren Universalien.* (Ebd.; S. 12)<br />

Streng genommen war aber bereits <strong>der</strong> Mythos selbst <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n des Aufklärungsdenkens,<br />

denn dieser will darstellen und erklären und damit (erzählend) Macht über Mensch und Natur


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 331<br />

22<br />

gew<strong>in</strong>nen (vgl. ebd.; S. 14). Im weiteren Verlauf geht so schließlich +<strong>der</strong> Mythos […] <strong>in</strong><br />

die Aufklärung über und die Natur <strong>in</strong> die bloße Objektivität* (ebd.; S. 15). Allerd<strong>in</strong>gs ist die<br />

gewonnene Herrschaft über die <strong>in</strong>nere wie die äußere Natur zwiespältig: +Die Menschen<br />

bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit <strong>der</strong> Entfremdung von dem, worüber sie die Macht<br />

ausüben* (ebd.). Die Quelle dieses die Entfremdung immer weiter steigernden Herrschaftsstrebens<br />

ist die Angst, die sich damit – da sie sich wie<strong>der</strong>um aus Entfremdung speist – latent potenziert.<br />

So kommen Horkheimer und Adorno, wie bereits im Prolog zitiert (siehe S. XXXII), zu dem<br />

Schluß: +Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst.* (Ebd.; S. 22)<br />

In dieser parallelen Radikalisierung von Angst und Aufklärung geht die ursprüngliche Dialektik<br />

schließlich <strong>in</strong> E<strong>in</strong>dimensionalität über, und die zu e<strong>in</strong>em alles durchdr<strong>in</strong>genden System aus-<br />

geweitete kapitalistische Kultur<strong>in</strong>dustrie br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> identisches Individuum hervor, das mit<br />

allem identisch se<strong>in</strong> darf, nur nicht mit sich selbst (vgl. ebd.; S. 128ff. sowie Marcuse: Der<br />

e<strong>in</strong>dimensionale Mensch). Derart von se<strong>in</strong>er +authentischen Basis* abgeschnitten, wird das<br />

Selbst <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zu e<strong>in</strong>em regressiven Selbst, und die +entfesselte* (subjektive) Vernunft<br />

entäußert sich aller (objektiven) Grundlagen, so daß <strong>in</strong> ihrem Namen nunmehr selbst die<br />

schrecklichste +Barbarei* möglich und rechtfertigbar wird (vgl. Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung; S.<br />

177ff.). Die tabula rasa, die Revolution <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, ist also tatsächlich e<strong>in</strong> Regreß, und<br />

die <strong>in</strong> ihrer Bewegung radikalisierte und +aufgestaute* Angst, die das verunsicherte Selbst<br />

<strong>in</strong> das schützende wie e<strong>in</strong>engende Gehäuse <strong>der</strong> rationalistischen Ordnung flüchten läßt (und<br />

die so verdrängt wird), entlädt sich potentiell <strong>in</strong> Gewalt. Das gleichzeitige Versprechen von<br />

Freiheit und Sicherheit bleibt auf diesem Weg une<strong>in</strong>lösbar. Was sich <strong>der</strong> mühevoll hergestellten<br />

Ordnung wi<strong>der</strong>setzt, muß vernichtet werden, denn sonst stürzt das Individuum zurück <strong>in</strong><br />

die Bodenlosigkeit <strong>der</strong> Angst.<br />

Diese Sicht ist aber natürlich selbst e<strong>in</strong> (mo<strong>der</strong>ner) Mythos, e<strong>in</strong>e Erzählung, die die verborgenen<br />

Potentiale <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Angst und <strong>der</strong> Aufklärung nicht spiegelt und entfaltet, son<strong>der</strong>n<br />

23<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> ihrerseits e<strong>in</strong>dimensionalen Interpretation dieses Zusammenhangs ausblendet. In ihrer<br />

immer weiteren Radikalisierung könnte die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne sich nämlich vielleicht<br />

auch selbst überschreiten bzw. e<strong>in</strong>e neue Richtung e<strong>in</strong>schlagen. Sie könnte dann – wenn<br />

sie sich auf sich selbst zubewegt, <strong>in</strong>dem sie sich zu h<strong>in</strong>terfragen beg<strong>in</strong>nt und ihre Ängste ernst<br />

nimmt – möglicherweise <strong>der</strong> Ambivalenz, <strong>der</strong> Differenz und dem Wi<strong>der</strong>spruch ihren Raum<br />

lassen. Dies ist e<strong>in</strong>e Auffassung, wie sie ganz ähnlich auch Zygmunt Bauman vertritt. Allerd<strong>in</strong>gs


332 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

zeigt Bauman, im expliziten Anschluß an die Thesen <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung*, zu Beg<strong>in</strong>n<br />

se<strong>in</strong>er Ausführungen über +Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz* (1991) zunächst ebenfalls die gewaltvollen,<br />

Angst-getriebenen Tendenzen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf, alles Ambivalente zu tilgen.<br />

Ambivalenz, das von <strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dung von Kontrollverlusten begleitete Une<strong>in</strong>deutige, ist laut<br />

Bauman paradoxerweise e<strong>in</strong> Produkt <strong>der</strong> Klassifizierungsbemühungen des mo<strong>der</strong>nen Rationalis-<br />

mus, <strong>der</strong> Ordnung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Begriffssystemen herzustellen bestrebt ist (vgl. S. 13ff.): Sche<strong>in</strong>t<br />

Ambivalenz auf, so wird <strong>der</strong> Versuch gemacht, neue, differenziertere Klassen zu bilden, was<br />

aber zwangsläufig immer auch neue Möglichkeiten für Ambivalenz hervorbr<strong>in</strong>gt. Die Bewegung<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne schafft also <strong>in</strong> ihren klassifizierenden E<strong>in</strong>- und Ausschließungen Ambivalenzen,<br />

die im Bemühen um die Herstellung von Ordnung immer vehementer bekämpft werden<br />

(vgl. ebd.; S. 15f.). Die Mo<strong>der</strong>ne ist demgemäß e<strong>in</strong>e ordnende Sisyphusarbeit, e<strong>in</strong> nie enden<strong>der</strong><br />

Krieg gegen die Ambivalenz und das Chaos. Und im Ordnen und Trennen ist die Mo<strong>der</strong>ne<br />

so (ohn)mächtig wie gewaltvoll. Was zweideutig und vermischt ist, untergräbt ihre trennende<br />

Macht und muß deshalb getilgt werden (vgl. ebd.; S. 19f. u. S. 25ff.).<br />

Das die Ambivalenz vernichtende (und ungewollt erzeugende) Ordnungsstreben <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

erstreckt sich aber natürlich nicht alle<strong>in</strong>e auf die Sprache und das Denken, son<strong>der</strong>n manifestiert<br />

sich auch im Bereich des Politischen: Der Staat soll als +Gärtner* <strong>in</strong> den +sozialen Wildwuchs*<br />

(beschneidend) e<strong>in</strong>greifen (vgl. ebd.; S. 40ff.). In <strong>der</strong> territorial und sozial abgegrenzten ima-<br />

g<strong>in</strong>ären Geme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong> +Nation* wird also – aus Angst vor dem Unbestimmten – E<strong>in</strong>heit<br />

und Homogenität angestrebt und somit e<strong>in</strong> Kampf gegen die Unbestimmtheit des (freilich<br />

nur sozial konstruierten) Fremden geführt (vgl. ebd.; S. 83ff. u. S. 97f.). Doch gerade <strong>der</strong><br />

Fremde, dessen +Prototyp* nach Bauman <strong>der</strong> Jude ist, kann – wo er dem Assimilationsdruck<br />

nicht nachgibt und sobald er se<strong>in</strong>e erzwungene Fremdheit (die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Assimilation natürlich<br />

nur umso deutlicher hervortritt) reflektiert – aus se<strong>in</strong>er Position <strong>der</strong> gleichzeitigen Nähe und<br />

Distanz heraus <strong>der</strong> Gesellschaft den Spiegel vorhalten (vgl. ebd.; S. 105ff.): Er verfügt über<br />

das +Gift <strong>der</strong> Heimatlosigkeit* als se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tellektuelle Waffe (vgl. ebd; S. 118). In diesem S<strong>in</strong>n<br />

liegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Fremdheit e<strong>in</strong>e Chance zur Erkenntnis. Und da Fremdheit mit <strong>der</strong><br />

weitergehenden Mo<strong>der</strong>nisierung als trennende (und entwurzelnde) Differenzierung zu e<strong>in</strong>er<br />

allgeme<strong>in</strong>en, universalen Erfahrung wird (vgl. ebd.; S. 123), könnte die Mo<strong>der</strong>ne, <strong>in</strong>dem sie<br />

Entfremdungserfahrungen produziert, nicht nur Angst auslösen, son<strong>der</strong>n – im Bewußtse<strong>in</strong><br />

und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reflexion <strong>der</strong> Angst – diese transzendieren (vgl. ebd.; S. 127ff.).


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 333<br />

Doch bevor nach den Möglichkeiten für e<strong>in</strong>e reflexive +Überschreitung* <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne gefragt wird, bevor die Mo<strong>der</strong>ne +reflektiert* werden kann, müssen ihre angstvollen<br />

+Ursprünge* noch e<strong>in</strong>mal näher und vor allem konkret beleuchtet werden. Dies kann geschehen,<br />

<strong>in</strong>dem man die <strong>in</strong> ihr so dom<strong>in</strong>ante Ideologie des Rationalismus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en historisch-biogra-<br />

phischen Kontext stellt, anstatt sie abstrakt und abgetrennt von ihrer +Genese* zu untersuchen.<br />

Bauman stellt sich dieser Aufgabe <strong>in</strong> ihrer historischen Dimension nicht sehr ausführlich. Er<br />

beschränkt sich darauf, den britischen Historiker Stephen Coll<strong>in</strong>s zu zitieren, <strong>der</strong> sich im Rahmen<br />

se<strong>in</strong>er Betrachtung <strong>der</strong> Grundlegung des mo<strong>der</strong>nen Staates im England <strong>der</strong> Renaissance auch<br />

mit dem Ordnungsdenken Thomas Hobbes’ ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat und bemerkt: +Hobbes<br />

begriff, daß e<strong>in</strong>e im Fluß bef<strong>in</strong>dliche Welt natürlich war und Ordnung geschaffen werden<br />

mußte, um das, was natürlich war, zu unterdrücken.* (Zitiert nach ebd.; S. 17) 24<br />

Hobbes, dessen <strong>in</strong>strumentelle E<strong>in</strong>stellung zur +Natur* Coll<strong>in</strong>s hier treffend charakterisiert,<br />

ist für mich e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> <strong>in</strong>teressanten Figuren des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts, <strong>in</strong> welchem das rationalistische<br />

Denken antrat, <strong>in</strong> <strong>der</strong> theoretischen wie praktischen Krise <strong>der</strong> alten Ordnung die Hoheit zu<br />

erobern. Allerd<strong>in</strong>gs sticht Hobbes weniger wegen se<strong>in</strong>er philosophischen Brillanz hervor, son<strong>der</strong>n<br />

weil sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Biographie wie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk die wi<strong>der</strong>sprüchlichen Tendenzen <strong>der</strong><br />

Angst-getriebenen Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne so deutlich wie bei kaum e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Denker<br />

se<strong>in</strong>er Zeit spiegeln: Er ist e<strong>in</strong> +konservativer Revolutionär*, e<strong>in</strong> Bewahrer und Erneuerer,<br />

e<strong>in</strong>er, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> scholastischen Denk-Ordnung Abschied nimmt, um mit <strong>der</strong> ordnenden<br />

Kraft <strong>der</strong> +geometrischen Methode* die bedrohte soziale Ordnung wie<strong>der</strong> herzustellen.<br />

Die sich aus dieser +gespaltenen* Position ergebenden (politik)theoretischen Folgerungen Hobbes’<br />

wurden bereits <strong>in</strong> Kapitel 1 relativ ausführlich dargestellt (siehe S. 21–25). Sie müssen deshalb<br />

hier nicht noch e<strong>in</strong>mal detailliert referiert werden. Und schon dort wurde von mir heraus-<br />

gestrichen, daß <strong>der</strong> Schlüssel zum Verständnis se<strong>in</strong>er zwar rational argumentierenden, aber<br />

– durch die totale (rechtliche) Entäußerung, die er den Vertragsschließenden mit se<strong>in</strong>em<br />

Vertragstext +diktiert* – letztendlich irrationalen vertragstheoretischen Konstruktion <strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst<br />

zu suchen ist, die se<strong>in</strong> Leben begleitete: 25<br />

Schon Hobbes’ Geburt im Jahr 1688 stand unter dem drohenden E<strong>in</strong>druck des E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gens<br />

<strong>der</strong> spanischen Armada <strong>in</strong> britische Gewässer, was ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Autobiographie zu <strong>der</strong> bekannten<br />

(und bereits zitierten) Bemerkung veranlaßt, se<strong>in</strong>e Mutter habe Zwill<strong>in</strong>ge geboren: ihn und<br />

die Furcht. Ansonsten spielt die Mutter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en +Er<strong>in</strong>nerungen* so gut wie ke<strong>in</strong>e Rolle. Es


334 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ist nur bekannt, daß sie aus e<strong>in</strong>er bäuerlichen Familie stammte und wohl nicht sehr gebildet<br />

war. Auch von se<strong>in</strong>em Vater, e<strong>in</strong>em als Choleriker bekannten Vikar, +erbte* er nur den Namen 26<br />

und kaum se<strong>in</strong>en immensen Wissensdurst, denn jener hatte, wie Hobbes ebenfalls <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Autobiographie bemerkt, +ke<strong>in</strong>e Schätzung für Gelehrsamkeit, da er ihre Reize nicht kannte*<br />

(zitiert nach Tönnies: Hobbes; S. 1). Man darf annehmen, daß das als sehr begabte beschriebene<br />

K<strong>in</strong>d nicht nur unter <strong>der</strong> +Ignoranz* se<strong>in</strong>er Eltern zu leiden hatte, son<strong>der</strong>n ebenso unter den<br />

Wutausbrüchen des Vaters. Dieser mußte, nachdem er bei e<strong>in</strong>er gewalttätigen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>-<br />

setzung e<strong>in</strong>en Amtsbru<strong>der</strong> verletzt hatte, allerd<strong>in</strong>gs aus <strong>der</strong> Stadt fliehen. Von da an übernahm<br />

Thomas’ Onkel, <strong>der</strong> Bürgermeister se<strong>in</strong>es Geburtsorts Malmesbury, die Erziehung des Jungen<br />

und kümmerte sich um se<strong>in</strong>e Ausbildung. Die Schulzeit war für ihn aber trotz o<strong>der</strong> gerade<br />

aufgrund se<strong>in</strong>er Begabung vermutlich ke<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Vergnügen: Er wird als zurückgezogen und<br />

grüblerisch geschil<strong>der</strong>t. Und die an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong> verspotten ihn. Sie nennen ihn wegen se<strong>in</strong>er<br />

schwarzen Haare +die Krähe*. Vielleicht stürzt Thomas, <strong>der</strong> Grübler, +die Krähe*, sich deshalb<br />

umso mehr <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Bücherwelt. Erst vierzehnjährig erhält er e<strong>in</strong>en Studienplatz <strong>in</strong> Oxford.<br />

Dort lehrt er auch kurze Zeit, nachdem er se<strong>in</strong> Baccalaureat abgeschlossen hat, klassische<br />

Logik. Mit 20 Jahren nimmt er dann e<strong>in</strong>e Anstellung als Hauslehrer bei <strong>der</strong> Adelsfamilie<br />

Cavendish an, was ihm auch mehrere Studienreisen auf das Festland erlaubt, wo er u.a. mit<br />

Galilei und Descartes zusammentrifft. Die erste dieser Reisen im Jahr 1610 steht allerd<strong>in</strong>gs<br />

unter dem Schock <strong>der</strong> Ermordung von He<strong>in</strong>rich IV. von Navarra (dem König von Frankreich),<br />

die ganz Europa <strong>in</strong> Ungewißheit und Schrecken versetzte und auch den jungen Descartes<br />

zutiefst erschüttert hat (siehe unten).<br />

Die folgenden Jahre verliefen (persönlich) eher ruhig. Im Vorfeld des englischen Bürgerkriegs<br />

(1642–48) ergriff Hobbes jedoch, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Abfassung eigener philosophischer und politischer<br />

Schriften begonnen hatte, mit se<strong>in</strong>em staatstheoretischen Entwurf +Elements of Law* (1640)<br />

für die Krone Partei, was ihn zwang, sich <strong>in</strong>s Exil nach Frankreich zu begeben, als sich die<br />

Lage zuspitzte. Die Bürgerkriegswirren <strong>in</strong> England erlebte er also nicht aus nächster Nähe<br />

mit. Doch auch auf dem Festland war die Lage angespannt, denn dort tobten noch immer<br />

+Ausläufer* des Dreißigjährigen Kriegs. Als Lehrer des ebenfalls geflüchteten britischen Thron-<br />

folgers, <strong>der</strong> am Königshof von Frankreich Unterschlupf gefunden hatte, war er zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

sicheren Lage. Auch hatte er wegen se<strong>in</strong>er, den aufkommenden Absolutismus stützenden<br />

Schriften allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en guten Stand am Hof. Aber als er schließlich mit dem +Leviathan*


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 335<br />

(1651) <strong>in</strong>direkt Cromwells Regime rechtfertigte, <strong>der</strong> ihm wegen se<strong>in</strong>er quasimonarchischen<br />

Herrschaft wohl im nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> als e<strong>in</strong> zuverlässiger Garant <strong>der</strong> Ordnung erschien, mußte<br />

er, von Royalisten angegriffen, wie<strong>der</strong>um fliehen – diesmal zurück nach England. Als es dort<br />

(1660) zur Restauration <strong>der</strong> Stuarts kam, hatte er allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e erneute Gefahr zu befürchten,<br />

denn se<strong>in</strong> ehemaliger Schüler, <strong>der</strong> nun als König Charles II. auf den Thron gehoben wurde,<br />

blieb Hobbes trotz <strong>der</strong> geistigen Unterstützung Cromwells verbunden und protegierte ihn<br />

gegen Anfe<strong>in</strong>dungen <strong>der</strong> Kirche, die ihm wegen se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>strumentellen, dem Politischen klar<br />

untergeordneten Religionsauffassung (vgl. Leviathan; Kap. 31) Atheismus vorwarf. 27<br />

Man kann gut nachvollziehen, daß e<strong>in</strong> Denker, dessen Leben so unruhig verlief, und <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit politischer Wirren und Kriege lebte, sich nach Ordnung sehnte. E<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> Angst<br />

gespeistes Ordnungsstreben durchdr<strong>in</strong>gt folglich das Werk Hobbes’. Er geht sogar so weit,<br />

im Vorwort von +De Cive* (1642) im Interesse <strong>der</strong> Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Ordnung zur<br />

Denunziation von +Aufwieglern* aufzurufen (siehe Anmerkung 58, Kap. 1). An<strong>der</strong>erseits ist<br />

er sich durchaus bewußt, daß die alte Ordnung unwie<strong>der</strong>br<strong>in</strong>glich verloren ist und e<strong>in</strong>e neue<br />

Ordnung nur auf neuen Wegen gefunden und errichtet werden kann. Insbeson<strong>der</strong>e die klassische<br />

Moralphilosophie hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen <strong>in</strong> ihrer Aufgabe, das politische Gebäude zu untermauern,<br />

kläglich versagt (siehe Anmerkung 54, ebd.). So wendet Hobbes sich den Naturwissenschaften<br />

und ihren Methoden zu, um die soziale Ordnung auf e<strong>in</strong> neues, tragfähigeres Fundament<br />

zu stellen. Denn die Geometrie und die astronomische Himmelsmechanik beschreiben (und<br />

s<strong>in</strong>d) <strong>in</strong> sich perfekte Ordnungen. Analog zu ihren methodischen Pr<strong>in</strong>zipien for<strong>der</strong>t Hobbes<br />

e<strong>in</strong>e exakt def<strong>in</strong>ierende Wissenschaft und Philosophie, so daß mit dem Begriffen mathematisch<br />

genau operiert werden kann. Aus den Begriffen und Def<strong>in</strong>itionen muß also alle Zweideutigkeit<br />

gebannt werden, die <strong>in</strong>s Chaos führen würde:<br />

+E<strong>in</strong>e deutliche, durch richtige Erklärungen gehörig bestimmte und von allen Zweideutigkeiten gesäuberte<br />

Art des Vortrags ist gleichsam das Licht des menschlichen Geistes; die Vernunft macht die Fortschritte,<br />

Regeln machen den Weg zur Wissenschaft aus, und Wissenschaft hat das Wohl des Menschen zum Ziel.<br />

Metaphern aber und nichtssagende o<strong>der</strong> zweideutige Worte s<strong>in</strong>d Irrlichter, bei <strong>der</strong>en Schimmer man<br />

von e<strong>in</strong>em Uns<strong>in</strong>n zum an<strong>der</strong>en übergeht und endlich, zu Streitsucht und Aufruhr verleitet, <strong>in</strong> Verachtung<br />

gerät.* (Ebd.; S. 45f. [Kap. 5]).<br />

Aufruhr und Streitsucht liegen laut Hobbes <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Natur* des Menschen, nur die Vernunft<br />

kann ihnen E<strong>in</strong>halt gebieten – getrieben von se<strong>in</strong>en Leidenschaften (vgl. auch ebd.; Kap.


336 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

6), strebt <strong>der</strong> Mensch nämlich nach immer mehr Macht. Die Maßlosigkeit dieses Verlangens<br />

speist sich aus <strong>der</strong> Angst, das Erworbene zu verlieren:<br />

+Zuvör<strong>der</strong>st wird also angenommen, daß alle Menschen ihr ganzes Leben h<strong>in</strong>durch beständig und un-<br />

ausgesetzt e<strong>in</strong>e Macht nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en sich zu verschaffen bemüht s<strong>in</strong>d, nicht darum weil sie […] sich<br />

mit e<strong>in</strong>er mäßigeren nicht begnügen können, son<strong>der</strong>n weil sie ihre gegenwärtige Macht und die Mittel,<br />

glücklich zu leben, zu verlieren fürchten, wenn sie sie nicht vermehren.* (Ebd.; S. 90f. [Kap. 11])<br />

Und diese Furcht ist es auch, die sie mißtrauisch gegen an<strong>der</strong>e macht: +Die Furcht, von e<strong>in</strong>em<br />

an<strong>der</strong>n Schaden zu erleiden, spornt uns an, dem zuvorzukommen o<strong>der</strong> sich Anhang zu ver-<br />

schaffen, denn e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Mittel, sich Leben und Freiheit zu sichern, gibt es nicht* (ebd.;<br />

S. 93) – zum<strong>in</strong>dest nicht im Naturzustand. Hier ist je<strong>der</strong> des an<strong>der</strong>en Fe<strong>in</strong>d, denn die gegen-<br />

seitige Furcht, läßt die Menschen im Interesse ihrer Selbsterhaltung zu List und Gewalt greifen,<br />

so daß es zum Krieg aller gegen alle kommt (vgl. ebd.; S. 114f. [Kap. 13]).<br />

Die Furcht ist an<strong>der</strong>erseits aber auch die Quelle für die vernunftgemäße Überw<strong>in</strong>dung dieses<br />

beklagenswerten Zustands: +Die Leidenschaften, die die Menschen zum Frieden unter sich<br />

geneigt machen können, s<strong>in</strong>d die Furcht überhaupt und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Furcht vor e<strong>in</strong>em<br />

gewaltsamen Tod*, bemerkt Hobbes (ebd.; S. 118 [Kap. 13]). Aus dieser Todesfurcht heraus<br />

und dem ersten Gesetz <strong>der</strong> Natur folgend, das besagt: +Suche den Frieden und jage ihm<br />

nach* (ebd.; S. 119 [Kap. 14]), übertragen die Menschen ihr natürliches Recht auf alles<br />

(<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Recht zur Selbstverteidigung) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wechselseitig geschlossenen Vertrag<br />

e<strong>in</strong>em Dritten – unter <strong>der</strong> Maßgabe, daß dieser für Ruhe und Ordnung sorgt, damit die von<br />

den Menschen erarbeiteten und erworbenen Güter <strong>in</strong> Zukunft ohne Angst genossen werden<br />

28<br />

können (ebd.; S. 155 [Kap. 17]). Damit ist <strong>der</strong> staatliche Leviathan, <strong>der</strong> +sterbliche Gott*<br />

und +künstliche Mensch* geboren.<br />

Wie aus diesen Zitaten ersichtlich ist, spielt die Furcht bzw. die Angst <strong>in</strong> Hobbes’ Theoriegebäude<br />

e<strong>in</strong>e sehr zentrale Rolle. Es ist also nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß bereits Carl Schmitt auf diesen<br />

29<br />

Aspekt ausführlich e<strong>in</strong>geht. In dem Band +Der Leviathan <strong>in</strong> <strong>der</strong> Staatslehre des Thomas Hobbes*<br />

(1938) bemerkt er: +Der Schrecken des Naturzustands treibt die angsterfüllten Individuen<br />

zusammen* (S. 48). Sie flüchten, geleitet vom +Licht des Verstandes*, <strong>in</strong> die schützenden<br />

Arme des Leviathan, den Schmitt allerd<strong>in</strong>gs weniger als organischen +Körper*, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />

als e<strong>in</strong>e gewaltige Masch<strong>in</strong>e, als e<strong>in</strong>en Mechanismus <strong>der</strong> Angstbeseitigung und zur Sicherung<br />

30<br />

des diesseitigen physischen Dase<strong>in</strong>s <strong>in</strong>terpretiert (vgl. ebd.; S. 54). Hobbes spezifische Leistung


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 337<br />

erkennt Schmitt <strong>in</strong> <strong>der</strong> mythischen Kraft, die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bild vom Leviathan steckt, und <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Existentialität <strong>der</strong> Angst, die von Hobbes, wie er me<strong>in</strong>t, so +furchtlos* zu Ende gedacht<br />

wird (vgl. ebd.; 131f.). 31<br />

Aus dieser von Schmitt bei Hobbes konstatierten Existentialität <strong>der</strong> Angst wird <strong>in</strong> Berhard<br />

Willms’ Leviathan-Interpretation gar e<strong>in</strong>e Dialektik <strong>der</strong> Angst. In Anlehnung an Herbert (vgl.<br />

32<br />

Thomas Hobbes’ Dialectic of Desire) bemerkt er: +Die Angst ist <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuell-praktische<br />

Ausdruck <strong>der</strong> unausweichlichen formalen Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> ›conditio humana‹ als Freiheit. 33<br />

Diese Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> Freiheit ist ebenso unausweichlich wie <strong>der</strong> Ausgang von dieser<br />

Freiheit selbst unvermeidlich ist.* (Die Angst, die Freiheit und <strong>der</strong> Leviathan; S. 86) Allerd<strong>in</strong>gs<br />

wird nach Willms im Ausgang <strong>der</strong> Freiheit diese durch den staatlichen Leviathan (dialektisch-<br />

synthetisch) verwirklicht, und so +ersche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Leviathan als Aufhebung <strong>der</strong> Freiheit gerade<br />

nicht, <strong>in</strong>dem er sie beseitigt, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>dem er sie […] <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en lebbaren Zustand überführt*<br />

(ebd.; S. 88).<br />

Diese, das Moment <strong>der</strong> Freiheit im Rahmen des staatlichen Leviathan betonende, hegelianische<br />

Deutung ersche<strong>in</strong>t mir allerd<strong>in</strong>gs aus doppeltem Grund fragwürdig: Erstens besteht die Freiheit<br />

<strong>der</strong> Staatsbürger nach Hobbes +nur <strong>in</strong> den Handlungen, welche <strong>der</strong> Gesetzgeber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Gesetzen übergangen hat* (Leviathan; S. 190 [Kap. 21]). Die bürgerliche Freiheit ist also bei<br />

ihm stark beschränkt, und sie entspr<strong>in</strong>gt auch nicht aus <strong>der</strong> (Dialektik <strong>der</strong>) Furcht, son<strong>der</strong>n<br />

34<br />

ist bestenfalls mit ihr kompatibel. Zweitens dient die Vernunft bei Hobbes nicht <strong>der</strong> Reflexion<br />

<strong>der</strong> Angst (womit e<strong>in</strong>e Dialektik entfaltet werden könnte), son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Rekurs auf die Ratio<br />

ist, wie bereits oben anklang, vielmehr e<strong>in</strong> Fluchtpunkt: Die (an sich dialektische) Angst wird<br />

nicht gespiegelt, gelebt und zugelassen, es kommt zu ke<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit ihr,<br />

son<strong>der</strong>n sie wird verdrängt und beseitig, rational unterworfen. Dieses deflexive Element des<br />

neuzeitlichen Rationalismus und <strong>der</strong> +ursprünglichen* Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne überhaupt<br />

läßt sich auch bei René Descartes deutlich aufzeigen.<br />

Hobbes und Descartes s<strong>in</strong>d sich <strong>in</strong> Paris persönlich begegnet, und Hobbes hat zu Descartes’<br />

+Meditationes* (1641), also dessen Versuch e<strong>in</strong>er systematischen Grundlegung <strong>der</strong> Philosophie,<br />

e<strong>in</strong>e Reihe von E<strong>in</strong>wänden vorgetragen, die von Descartes auch erwi<strong>der</strong>t wurden. Der wichtigste<br />

Unterschied zwischen beiden Denkern, <strong>der</strong> nicht nur <strong>in</strong> diesem +Dialog* deutlich wird, ist<br />

<strong>der</strong> Umstand, daß Hobbes streng materialistisch denkt, während Descartes mit se<strong>in</strong>er Unter-<br />

scheidung von res extensa und res cogitans (die im Zentrum se<strong>in</strong>er sechsten Meditation steht)


338 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

e<strong>in</strong>en Leib-Seele-Dualismus, e<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen Subjekt (Geist) und Objekt (Materie)<br />

zugrunde legt. Insgesamt betrachtet überwiegen jedoch – speziell was die geme<strong>in</strong>same Orien-<br />

tierung an <strong>der</strong> naturwissenschaftlich-mathematischen Methodik anbelangt – die Überschnei-<br />

dungen (vgl. hierzu auch Tönnies: Hobbes; S. 106ff.). 35<br />

Überschneidungen gibt es aber nicht nur auf <strong>in</strong>haltlicher Ebene, son<strong>der</strong>n auch was den +Antrieb*<br />

ihres Denkens anbelangt. Und hier komme ich wie<strong>der</strong> auf das Moment <strong>der</strong> Angst zurück:<br />

Bei beiden geschieht die Flucht <strong>in</strong>s Rationale, um e<strong>in</strong>e tief sitzende, existentielle Angst zu<br />

überw<strong>in</strong>den. Genauso wie Hobbes zu diesem Zweck den (absoluten) Staat auf e<strong>in</strong>e streng<br />

rationale Basis stellen wollte (und deshalb die klassische Moralphilosophie und ihre theologischen<br />

Begründungen h<strong>in</strong>wegfegen mußte), so wollte Descartes e<strong>in</strong>e nicht mehr anzweifelbare, (absolut)<br />

sichere Grundlage <strong>der</strong> Philosophie im Denken hervorkehren (weshalb er gleichfalls das schola-<br />

stische System umstürzen mußte). Und auch bei ihm f<strong>in</strong>den sich historisch-biographische<br />

Gründe als Erklärung für diesen Versuch, mit e<strong>in</strong>er (+vernünftigen*) tabula rasa die Angst und<br />

die Unsicherheit zu besiegen:<br />

36<br />

René Descartes (bzw. Des-Cartes) wurde 1596 <strong>in</strong> La Haye (West-Frankreich) geboren. Se<strong>in</strong>e<br />

Familie, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich e<strong>in</strong>e Reihe von Ärzten und Universitätsgelehrten f<strong>in</strong>det, gehörte dem<br />

nie<strong>der</strong>en Adel an. Se<strong>in</strong> Vater war Jurist und se<strong>in</strong>e Mutter, die nur e<strong>in</strong> Jahr nach se<strong>in</strong>er Geburt<br />

starb, stammte aus e<strong>in</strong>er Beamtendynastie. Um e<strong>in</strong>e gute Erziehung des Jungen sicherzustellen,<br />

wurde er mit acht Jahren von se<strong>in</strong>em Vater auf das Collège Royal <strong>in</strong> La Flèche geschickt –<br />

e<strong>in</strong>e durch He<strong>in</strong>rich IV. (auf <strong>der</strong>en Gesuch h<strong>in</strong>) neu gegründete Internatsschule <strong>der</strong> Jesuiten.<br />

Die Ermordung von He<strong>in</strong>rich im Jahr 1610 und die anschließende Beisetzung se<strong>in</strong>es Herzens<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kapelle von La Flèche (die gemäß e<strong>in</strong>er früheren Abmachung zwischen He<strong>in</strong>rich und<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft Jesu erfolgte) hat den jungen Descartes, zum<strong>in</strong>dest wenn man sich <strong>der</strong><br />

Schil<strong>der</strong>ung von Stephen Toulm<strong>in</strong> anschließt, tief bee<strong>in</strong>druckt und geprägt. Denn He<strong>in</strong>rich<br />

IV. war allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Hoffnungssymbol se<strong>in</strong>er Zeit. Er stammte aus e<strong>in</strong>em protestantischen<br />

Adelsgeschlecht, konvertierte dann jedoch, um sich den Rückhalt <strong>der</strong> +katholischen Liga*<br />

zu sichern, zum Katholizismus. Allerd<strong>in</strong>gs blieb er, solange er regierte, um e<strong>in</strong>en Ausgleich<br />

zwischen den verfe<strong>in</strong>deten Religionsgruppen bemüht. Und so bemerkt Toulm<strong>in</strong>: +Die Ermordung<br />

He<strong>in</strong>rich IV. versetzte den Hoffnungen <strong>der</strong>er e<strong>in</strong>en tödlichen Schlag, die <strong>in</strong> Frankreich und<br />

an<strong>der</strong>swo <strong>in</strong> <strong>der</strong> Toleranz e<strong>in</strong>e Möglichkeit zur Beilegung <strong>der</strong> Bekenntnisstreitigkeiten sahen.*<br />

(Kosmopolis; S. 93)


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 339<br />

Da man die Jesuiten h<strong>in</strong>ter dem Mord an He<strong>in</strong>rich vermutete, bemühte man sich <strong>in</strong> La Flèche<br />

alles erdenkliche zu tun, um diesen Verdacht zu entkräften. Man <strong>in</strong>szenierte e<strong>in</strong>e aufwendige<br />

Feier und am Jahrestag <strong>der</strong> Beisetzung wurde e<strong>in</strong>e Sammlung von Aufsätzen <strong>der</strong> besten Schüler<br />

des Collège zum Ruhme He<strong>in</strong>richs druckgelegt. Die meisten dieser anonymen Texte, die<br />

erst kürzlich wie<strong>der</strong>entdeckt wurden, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Late<strong>in</strong> o<strong>der</strong> Griechisch abgefaßt, nur wenige<br />

<strong>in</strong> Französisch. Toulm<strong>in</strong> will <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em jener Aufsätze Descartes’ +Handschrift* erkennen –<br />

denn <strong>in</strong> dem betreffenden Text wird die Entdeckung <strong>der</strong> Jupitermonde durch Galilei mit<br />

He<strong>in</strong>rich und se<strong>in</strong>em Tod verbunden (was zu Descartes’ naturwissenschaftlicher Orientierung<br />

passen würde). Der unbekannte Autor empfiehlt dem trauernden Frankreich nämlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

angefügten Sonnett, von den Klagen über den Verlust des geliebten Königs abzulassen, +Denn<br />

Gott hat ihn von <strong>der</strong> Erde versetzt/In den Himmel Jupiters, allwo er nun leuchtet/Den Sterblichen<br />

als e<strong>in</strong> himmlisches Licht* (zitiert nach ebd.; S. 105). Ob es sich beim Verfasser dieser Zeilen<br />

tatsächlich um den jungen Descartes handelt o<strong>der</strong> nicht – Toulm<strong>in</strong> me<strong>in</strong>t, daß die Ermordung<br />

He<strong>in</strong>richs <strong>in</strong> jedem Fall e<strong>in</strong> verunsicherndes Schlüsselereignis für diesen gewesen se<strong>in</strong> muß,<br />

das ihn bewog, künftig nach Ordnung und Gewißheit zu suchen.<br />

Descartes’ weiterer Lebensweg führte ihn jedoch zunächst <strong>in</strong> Krieg und Chaos, und vielleicht<br />

waren es doch eher se<strong>in</strong>e Erfahrungen als Soldat, die ihn zu se<strong>in</strong>er Suche nach unumstößlichen<br />

Wahrheiten und fundamentaler Sicherheit veranlaßt haben: 1612 verließ er das Collège von<br />

La Flèche, um (mit gutem Erfolg) Rechtswissenschaften <strong>in</strong> Poitiers zu studieren. Nach Abschluß<br />

des Studiums im Jahr 1616 lehrte er allerd<strong>in</strong>gs nur kurze Zeit an <strong>der</strong> juristischen Fakultät,<br />

denn se<strong>in</strong> Vater schickte ihn 1618 zur Militärausbildung <strong>in</strong> die Nie<strong>der</strong>lande. Im Vorfeld des<br />

30jährigen Kriegs machte er dort die prägende Bekanntschaft des Physikers Isaak Beekmann,<br />

<strong>der</strong> se<strong>in</strong> schon lange bestehendes mathematisch-naturwissenschaftliches Interesse noch verstärkte<br />

und ihn zum Nachdenken über se<strong>in</strong>e Zukunft veranlaßte. 37<br />

Descartes gab aber se<strong>in</strong> Soldatendase<strong>in</strong> nicht sogleich auf, son<strong>der</strong>n schloß sich nach e<strong>in</strong>er<br />

mehrmonatigen Reise durch das östliche Europa 1619 den Truppen des Herzogs Maximilian<br />

von Bayern an, die <strong>in</strong> Ulm überw<strong>in</strong>terten. Dort hatte er, genau e<strong>in</strong> Jahr nach se<strong>in</strong>er ersten<br />

Begegnung mit Beekmann, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacht vom 10. auf den 11. November e<strong>in</strong>e Serie von<br />

<strong>in</strong>sgesamt drei Träumen, von denen uns, gestützt auf verlorengegangene Aufzeichnungen<br />

Descartes’, se<strong>in</strong> erster Biograph, Adrian Baillet, <strong>in</strong> dem Band +La vie de Monsieur Des-Cartes*<br />

(1691) berichtet.


340 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Die Träume spiegeln se<strong>in</strong>e große Unsicherheit <strong>in</strong> dieser Periode. Er weiß nicht, wo er steht,<br />

und er ist ansche<strong>in</strong>end auch erregt durch e<strong>in</strong>e Entdeckung, die er am Vortag gemacht hat,<br />

sowie durch e<strong>in</strong>en Tuberkuloseanfall noch physisch mitgenommen. Im ersten Traum muß<br />

er gegen e<strong>in</strong>en Sturm ankämpfen, <strong>der</strong> ihn vom Weg abdrängt und nie<strong>der</strong>drückt als er die<br />

Kirche des Collège von La Flèche erblickt und auf sie zustrebt. Im zweiten Traum hat er die<br />

Vision e<strong>in</strong>es furchterregenden Gewitters mit Blitz- und Donnerschlag. Im dritten Traum sieht<br />

er zwei Bücher vor sich: e<strong>in</strong> +Dictionnaire* und e<strong>in</strong>e Gedichtsammlung. Beim Öffnen letzterer<br />

stößt er auf den Vers +Quod vitae sectabor iter?* (Welchen Lebensweg soll ich e<strong>in</strong>schlagen?)<br />

sowie auf die vielsagende Zeile +Est et non* (Es ist und ist nicht). 38<br />

Descartes hat, wie ebenfalls von Baillet überliefert wird, selbst versucht, se<strong>in</strong>e Träume zu<br />

deuten. Den W<strong>in</strong>d im ersten Traum <strong>in</strong>terpretierte er als bösen Geist, <strong>der</strong> ihn vom rechten<br />

Weg abbr<strong>in</strong>gen wollte, den Donnerschlag aus dem zweiten Traum verstand er dagegen als<br />

+Zeichen des Geistes <strong>der</strong> Wahrheit, <strong>der</strong> zu ihm herabstieg, um von ihm Besitz zu ergreifen*<br />

(Baillet, zitiert nach Röd: Descartes; S. 20). Der dritte Traum schließlich ruft Descartes offen-<br />

sichtlich zu e<strong>in</strong>er Entscheidung über se<strong>in</strong>e Zukunft auf und leitet damit se<strong>in</strong>e Metamorphose<br />

vom unsicheren Sucher zum Philosophen <strong>der</strong> Gewißheit e<strong>in</strong> (vgl. auch ebd.; S. 17). Interessant<br />

ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang e<strong>in</strong>e psychoanalytische Deutung durch Marie Louise Franz,<br />

<strong>in</strong> welcher die beiden late<strong>in</strong>ischen Gedichtzeilen als Spiegelungen <strong>der</strong> unbewußten Gefühls-<br />

regungen Descartes <strong>in</strong>terpretiert werden. Ausgehend von dieser e<strong>in</strong>leuchtenden Interpretation<br />

folgert Franz:<br />

+Er [Descartes] traut dem Leben überhaupt nicht, auch sich nicht und den an<strong>der</strong>en […] Es ist wohl <strong>der</strong><br />

frühe Tod <strong>der</strong> Mutter, <strong>der</strong> jeden Lebensmut, jedes Vertrauen zum Leben und zum eigenen Gefühl von<br />

ihm weggenommen hat, so daß er sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> alle<strong>in</strong>igen Aktivität se<strong>in</strong>es Denkens abkapselte.* (Zitiert<br />

nach ebd.; S. 21) 39<br />

Das philosophische Denken Descartes’ wird also hier als Fluchtversuch vor <strong>der</strong> (angstauslösenden)<br />

eigenen Gefühlswelt gedeutet, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das K<strong>in</strong>dheitstrauma des frühen Todes <strong>der</strong> Mutter noch<br />

immer nicht verarbeitet ist. Wenn man Descartes’ Kriegserfahrungen und die +Berührung*<br />

mit dem Tod He<strong>in</strong>rich von Navarras durch den Aufenthalt am Collège Royal mit berücksichtigt,<br />

so gew<strong>in</strong>nt diese Sicht, die Descartes’ strikte Rationalität auf e<strong>in</strong>e emotionale Verunsicherung<br />

zurückführt, noch an Plausibilität. Deutliche Spuren dieser Verunsicherung und <strong>der</strong> Angst


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 341<br />

f<strong>in</strong>den sich auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Schriften. Zu Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er zweiten Meditation (+Über die Natur<br />

des menschlichen Geistes*), gesteht er zum Beispiel:<br />

+Die gestrige Betrachtung hat mich <strong>in</strong> so gewaltige Zweifel gestürzt, daß ich sie nicht mehr vergessen<br />

kann, und doch sehe ich nicht, wie sie zu lösen s<strong>in</strong>d; son<strong>der</strong>n ich b<strong>in</strong> wie bei e<strong>in</strong>em unvorhergesehenen<br />

Sturz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en tiefen Strudel so verwirrt, daß ich we<strong>der</strong> auf dem Grunde festen Fuß fassen, noch zur<br />

Oberfläche emporschwimmen kann. Dennoch will ich mich herausarbeiten und von neuem ebenden<br />

Weg versuchen, den ich gestern e<strong>in</strong>geschlagen hatte: nämlich alles von mir fernhalten, was auch nur<br />

den ger<strong>in</strong>gsten Zweifel zuläßt […] Und ich will so lange weiter vordr<strong>in</strong>gen, bis ich irgend etwas Gewisses,<br />

o<strong>der</strong> wenn nichts an<strong>der</strong>es, so doch erkenne, daß es nichts Gewisses gibt.* (S. 41ff. [II,1])<br />

Der zuletzt angedeuteten Möglichkeit, +daß es nichts Gewisses gibt*, hat sich Descartes, <strong>der</strong><br />

die absolute Gewißheit zur Stabilisierung se<strong>in</strong>es verunsicherten Selbst benötigte, jedoch versperrt,<br />

und schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em +Discours de la méthode* (1637) hatte er schließlich im denkenden<br />

Subjekt die nicht mehr zu h<strong>in</strong>terfragende Grundlage philosophischer Gewißheit erblickt (vgl.<br />

dort S. 51ff. [IV,1] und siehe auch hier S. XIVf.). Im +Ich* offenbarte sich ihm – nachdem<br />

er mit dem Pr<strong>in</strong>zip des radikalen Zweifels die alten Fundamente des Wissens e<strong>in</strong>gerissen<br />

und neue Fundamente <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er an die mathematische Logik angelehnten Methode gelegt<br />

hatte – e<strong>in</strong> +archimedischer Punkt* (vgl. ebd.; Abschnitt II u. III).<br />

Descartes schreckte mit dieser Angst-getriebenen Ego-Fixierung und <strong>der</strong> mit ihr e<strong>in</strong>hergehenden<br />

rationalistischen E<strong>in</strong>engung des Selbst, wie sich aus <strong>der</strong> +relativierenden* Sicht <strong>der</strong> nicht-<br />

westlichen Philosophie-Tradition des Buddhismus heraus formulieren läßt, vor <strong>der</strong> zum Greifen<br />

nahen Erkenntnis <strong>der</strong> Leerheit (+s’ )unyat)a*) und des Nicht-Ich (+anatt)a*) zurück und setzte an<br />

ihre Stelle die (zweifelhafte) Gewißheit se<strong>in</strong>es +Ich denke, also b<strong>in</strong> ich* (vgl. auch Varela/-<br />

Thompson: Der Mittlere Weg <strong>der</strong> Erkenntnis; S. 197ff. sowie Hunt<strong>in</strong>gton: The Empt<strong>in</strong>ess of<br />

40<br />

Empt<strong>in</strong>ess; S. 115f.). Die dieser deflexiven Objektivierung des Subjekts zugrunde liegende<br />

ontologische (d.h. im Se<strong>in</strong> begründete) +cartesianische Angst*, die e<strong>in</strong>e Vermittlung zwischen<br />

Objektivismus und Relativismus verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t, ist typisch für den auf E<strong>in</strong>deutigkeit bestehenden<br />

Rationalismus <strong>der</strong> (frühen) Aufklärung (vgl. auch Bernste<strong>in</strong>: Beyond Objectivism and Relativism;<br />

S. 16ff.). Statt im Wahrnehmen und im Zulassen <strong>der</strong> ambivalenten Angst Potentiale für die<br />

41<br />

erstrebte Freiheit zu f<strong>in</strong>den, kommt es zur +Flucht vor <strong>der</strong> Freiheit* (Fromm) <strong>in</strong> die Arme<br />

e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>seitigen und herrschsüchtigen Vernunft, die – im Ausgleich für ihre vere<strong>in</strong>nahmende<br />

Umfassung – dem verunsicherten Selbst Sicherheit und Halt zu geben verspricht.


342 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Toulm<strong>in</strong> zeigt dieser Sicht entsprechend <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em oben zitierten Buch auf, daß mit <strong>der</strong> von<br />

Descartes und an<strong>der</strong>en frühen Aufklärern <strong>in</strong> ihrem Wissenschaftsprojekt betriebenen +<strong>Politik</strong><br />

<strong>der</strong> Gewißheit*, versucht wurde, e<strong>in</strong>e neue +Kosmopolis* zu konstruieren, d.h. e<strong>in</strong> umfassendes<br />

System zu erschaffen, das die menschliche und die +kosmische* Ordnung* (wie<strong>der</strong>) zu e<strong>in</strong>er<br />

logischen, aufzeig- und sagbaren E<strong>in</strong>heit <strong>in</strong>tegrierte (vgl. Kosmopolis; S. 116ff. u. S. 120ff.). 42<br />

Dieses Streben erfor<strong>der</strong>te jedoch e<strong>in</strong>e Abwendung vom Beson<strong>der</strong>en, Lokalen und Zeitgebun-<br />

denen, das <strong>in</strong> <strong>der</strong> mittelalterlichen Tradition wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Renaissance noch se<strong>in</strong>en Platz hatte,<br />

und e<strong>in</strong>e totalisierende H<strong>in</strong>wendung zum Allgeme<strong>in</strong>en, Globalen und Zeitlosen (vgl. ebd.;<br />

43<br />

S. 60–70). Trotz dieser Umorientierung, ist die angebliche völlige tabula rasa, die Revolution<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, e<strong>in</strong>e Fiktion: Die Grundlegung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Ordnung geschah schließlich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em spezifischen historischen Kontext, und die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne verfolgt(e) das<br />

Projekt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit <strong>der</strong> Verunsicherung verlorene Sicherheiten wie<strong>der</strong> herzustellen. Das<br />

läßt sich sogar anhand <strong>der</strong> Französischen Revolution aufzeigen, die nicht nur die +verrottete*<br />

Ordnung des Ancien Régime umstürzte, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e viel umfassen<strong>der</strong>e neue Ordnung errichtete<br />

(vgl. ebd.; S. 281ff.). Letztendlich ist <strong>der</strong> Impuls <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne damit +konservativ* und – <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> (rationalen) Verdrängung <strong>der</strong> sie vorwärtstreibenden Angst – regressiv. Der revolutionäre<br />

Ursprung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ist e<strong>in</strong> Mythos, und ihr latenter, die Ambivalenz bekämpfen<strong>der</strong><br />

+Fundamentalismus* ist das Produkt ihrer Wi<strong>der</strong>sprüche, ihres gleichzeitigen rigorosen Freiheits-<br />

und Sicherheitsbestrebens (vgl. auch Eisenstadt: Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne).<br />

Aber ist die Deutung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>der</strong> Angst, auch wenn diese ambivalent<br />

ist (siehe unten), nicht zu vere<strong>in</strong>fachend? Wurde nicht schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung explizit darauf<br />

h<strong>in</strong>gewiesen, daß Mo<strong>der</strong>nisierung e<strong>in</strong> vielschichtiger Prozeß ist? Bevor die reflexiven Potentiale<br />

<strong>der</strong> Angst und die Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung im Allgeme<strong>in</strong>en erörtert werden können,<br />

muß deshalb zu diesen fragenden E<strong>in</strong>wänden Stellung bezogen werden. In <strong>der</strong> Tat: Mo<strong>der</strong>nisie-<br />

rung wurde von mir <strong>in</strong> Anlehnung an van <strong>der</strong> Loo und van Reijen als e<strong>in</strong> (<strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüch-<br />

licher) Prozeß dargestellt, <strong>der</strong> die Dimensionen Differenzierung, Individualisierung, Rationali-<br />

sierung und Domestizierung umfaßt. Man kann diesen Teilprozessen me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<br />

ergänzend bestimmte Pr<strong>in</strong>zipien +zuordnen*: Der Differenzierung liegt das Effizienzpr<strong>in</strong>zip<br />

zugrunde, Rationalisierung beruht auf Objektivität (d.h. <strong>der</strong> vernunftgemäßen, <strong>in</strong>tersubjektiven<br />

Erfassung <strong>der</strong> Welt), und Domestizierung fußt auf Kontrolle. Schon im +Entrée* wurde allerd<strong>in</strong>gs<br />

auf die enge Verb<strong>in</strong>dung zwischen Rationalisierung und Domestizierung h<strong>in</strong>gewiesen: Die


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 343<br />

Vernunft for<strong>der</strong>t die Zähmung und Beherrschung <strong>der</strong> +Natürlichkeit* des Subjekts und <strong>der</strong><br />

Objekte <strong>der</strong> Umwelt, verlangt die Unterordnung unter ihre vorgebliche +Objektivität*. Setzt<br />

man die Angst als Motor dieser +verd<strong>in</strong>glichenden Objektivierung* an, so liegt es nahe an-<br />

zunehmen, daß auch das Kontrollstreben, das <strong>der</strong> Domestizierung zugrunde liegt, <strong>der</strong> Angst<br />

entspr<strong>in</strong>gt. Aus kognitionspsychologischer Sicht s<strong>in</strong>d nämlich Kontrollverluste die Hauptquelle<br />

von Angstgefühlen (vgl. Bandura: Self-Efficacy sowie Lazarus/Averill: Emotion and Cognition), 44<br />

und um die sie treibende Angst <strong>in</strong> den Griff zu bekommen, strebt die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

folglich nach umfassen<strong>der</strong> Kontrolle.<br />

Der Differenzierungsprozeß mit se<strong>in</strong>er Grundlage im Effizienzpr<strong>in</strong>zip steht nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

so offensichtlichen Zusammenhang mit <strong>der</strong> Angst wie Rationalisierung und Domestizierung.<br />

Und doch bildet das Effizienzpr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>en +Komplex* mit den Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Objektivität<br />

und <strong>der</strong> Kontrolle. Denn auch die Effizienz dient – zum<strong>in</strong>dest teilweise – <strong>der</strong> Absorbierung<br />

<strong>der</strong> Angst: Die arbeitsteilige Differenzierung ist nämlich vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> Angst betrachtet<br />

<strong>der</strong> Ausdruck e<strong>in</strong>er drängenden Vor-Sorge, die – wie Hobbes im Kontext se<strong>in</strong>er Naturzustands-<br />

beschreibung herausarbeitete – nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> unaufhörlichen Steigerung <strong>der</strong> (materiellen) Mittel<br />

befriedet werden kann, was wie<strong>der</strong>um Effizienzsteigerungen erfor<strong>der</strong>t. An<strong>der</strong>erseits br<strong>in</strong>gt<br />

die <strong>der</strong> Vor-Sorge geschuldete Differenzierung auch e<strong>in</strong>e (positive wie negativ auffaßbare)<br />

Selbst-Sorge hervor: Die effiziente Teilung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Arbeit trennt und vere<strong>in</strong>zelt<br />

die Individuen, die dadurch ebenso freigesetzt wie auf sich selbst gestellt und verwiesen s<strong>in</strong>d.<br />

Der Differenzierungsprozeß erzeugt so, wie schon oben dargelegt, <strong>in</strong>direkt Individualisierungs-<br />

phänomene. Individualisierung be<strong>in</strong>haltet jedoch auch e<strong>in</strong> eigenständiges Moment, das im<br />

ihr zugrunde liegenden Pr<strong>in</strong>zip – <strong>der</strong> Subjektivität – zum Ausdruck kommt. Dieses Pr<strong>in</strong>zip<br />

<strong>der</strong> Subjektivität bildet den potentiellen Gegenpol zum <strong>in</strong>strumentellen Komplex von Objektivität,<br />

Kontrolle und Effizienz. Insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn sich das Subjekt nicht +vernünftig* vere<strong>in</strong>-<br />

nahmen läßt (wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> rationalistischen Subjekt-Philosophie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachfolge Descartes’),<br />

son<strong>der</strong>n die Angst, die es subjektiv erfährt, spiegelt und befreit und sie damit zu e<strong>in</strong>em Objekt<br />

se<strong>in</strong>er Selbst-Wahrnehmung macht, wird die Aufsprengung <strong>der</strong> kognitiven Ketten <strong>der</strong> Vernunft<br />

und des mit ihr verbundenen <strong>in</strong>strumentellen Komplexes möglich.<br />

Alle angesprochenen Teilprozesse <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung lassen sich also zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Zusammenhang mit <strong>der</strong> Angst br<strong>in</strong>gen. Aber die Sicht <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>der</strong><br />

Angst ist natürlich nur e<strong>in</strong>e (subjektive) Interpretation, e<strong>in</strong> hermeneutischer Zirkel, <strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e


344 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

(objektive) Wahrheit beanspruchen kann und will. Sie bietet allerd<strong>in</strong>gs die Möglichkeit, die<br />

rationalistischen Objektivierungen, die das Denken +verd<strong>in</strong>glichen*, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e reflexive +Objektivität*<br />

zu überführen, d.h. den Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß – im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> treibenden Angst –<br />

zu e<strong>in</strong>em Gegenstand unserer Betrachtungen zu machen. Die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne entspr<strong>in</strong>gt<br />

aus dieser Perspektive e<strong>in</strong>er +kritischen Hermeneutik* (Waldenfels) +ursprünglich* e<strong>in</strong>em defle-<br />

xiven Impuls: nämlich die Angst durch +Unterdrückung* und rationale Kontrolle zu überw<strong>in</strong>den.<br />

Aber durch die latente Dialektik <strong>der</strong> Angst wie des gesamten Prozesses, kann sich die Bewegung<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auch +verkehren*. Um diese Möglichkeit e<strong>in</strong>er reflexiven Mo<strong>der</strong>ne als ihrer<br />

bewußten Selbstaufhebung und -überschreitung wird es im folgenden gehen.<br />

5.1.2 WEITERGEHENDE MODERNISIERUNG UND DAS ENDE DER GEWIßHEITEN – DIE REFLEXIVE<br />

(SELBST-)KONFRONTATION DER SICH +OBJEKTIVIERENDEN* MODERNE<br />

Der treibende +Ursprung* <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wurde von mir im Vorangegangenen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst verortet. Diese Angst, die ihrerseits aus e<strong>in</strong>em historischen Umbruch, <strong>der</strong> verunsich-<br />

ernden Auflösung <strong>der</strong> alten Ordnung folgte, bewirkte e<strong>in</strong>e kompensatorische Flucht <strong>in</strong>s Rationale,<br />

die <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ebenso e<strong>in</strong>e (Halt) suchende Rastlosigkeit wie die gewaltvolle Tilgung <strong>der</strong><br />

die neue rationalistische Ordnung bedrohenden Ambivalenz diktierte. Die +fundamentale*<br />

Revolution <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und ihr +Fortschreiten* ersche<strong>in</strong>t aus dieser Perspektive als Regreß,<br />

und auch ihre +gewaltigen* Leistungen beruhen letztlich auf ihrem zwanghaften Charakter.<br />

Aber <strong>in</strong> ihrem regressiven Vorwärtsstreben unterhöhlt sich die mo<strong>der</strong>ne Ordnung auch selbst.<br />

Sie entzieht sich den Boden, <strong>in</strong>dem die <strong>in</strong> ihr manifestierte Gewalt gegen sie zurückschlägt<br />

und die radikalisierte Vernunft sich gegen ihre eigenen Grundlagen richtet. Und während<br />

weitgehend im mo<strong>der</strong>nen Bewußtse<strong>in</strong> verhaftete +Antiquare* <strong>der</strong> westlichen Aufklärung wie<br />

z.B. Agnes Heller angesichts dieses latenten +Todeswunsches* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne besorgt fragen:<br />

45<br />

+Can Mo<strong>der</strong>nity Survive?* (1990), formulieren postpostmo<strong>der</strong>ne Provokateure wie Bruno<br />

Latour (siehe auch S. 130ff.) nur lakonisch: +Wir s<strong>in</strong>d nie mo<strong>der</strong>n gewesen* (1991). 46<br />

Folgt man Peter Wehl<strong>in</strong>g, so handelt es sich bei <strong>der</strong> (nie gewesenen) Mo<strong>der</strong>ne gar um e<strong>in</strong>en<br />

+falschen* S<strong>in</strong>n stiftenden Sozialmythos: +Die angeblich entzauberte Welt br<strong>in</strong>gt neue Mythen<br />

hervor, welche die versachlichten Herrschaftsverhältnisse zugleich verschleiern und auf falsche<br />

Art bildhaft konkretisieren […]* (Die Mo<strong>der</strong>ne als Sozialmythos; S. 19). Denn h<strong>in</strong>ter dem


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 345<br />

Mythos <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne steht – wie immer deutlicher wird – e<strong>in</strong>e fragwürdige Kont<strong>in</strong>uitätsannahme,<br />

das Geschichtsbild e<strong>in</strong>es unaufhaltsamen Fortschritts, und die (soziologischen) Mo<strong>der</strong>nisierungs-<br />

theorien funktionieren als aktive Stützen im Rahmen dieser Konstruktion (vgl. ebd.: S. 31ff.). 47<br />

Das lange dom<strong>in</strong>ante Konzept <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, das diese mit Emanzipation und Freiheit verb<strong>in</strong>det<br />

o<strong>der</strong> gar gleich setzt, hätte also nach Wehl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e klar ideologische Funktion. An<strong>der</strong>erseits<br />

sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Mythos <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne geschwächt zu se<strong>in</strong>, wenn er so +dreist* h<strong>in</strong>terfragt werden<br />

kann. Die mo<strong>der</strong>nen Metaerzählungen haben offensichtlich an narrativer Kraft e<strong>in</strong>gebüßt.<br />

Die Kritik an <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird immer lauter, sie durchläuft e<strong>in</strong>e Krise, e<strong>in</strong>e Dekonstruktion<br />

und Auflösung. Der Glaube an ihr befreiendes Potential schw<strong>in</strong>det (vgl. auch Toura<strong>in</strong>e: Critique<br />

de la mo<strong>der</strong>nité; <strong>in</strong>sb. S. 111–116). Hat also die treibende Kraft <strong>der</strong> rationalistischen Flucht-<br />

bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – die Angst – nachgelassen? O<strong>der</strong> hat sich die Angst aus den Fesseln<br />

<strong>der</strong> Vernunft +befreit* und ist damit +reflexiv* geworden?<br />

In diesem Abschnitt soll den reflexiven Potentialen <strong>der</strong> Angst und <strong>der</strong> immanenten Ambivalenz<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung nachgegangen werden. Dazu ist zunächst das e<strong>in</strong>dimensionale Bild <strong>der</strong><br />

Angst, das im Vorangegangenen gezeichnet wurde, dialektisch zu +vertiefen*: E<strong>in</strong>en explizit<br />

dialektischen Angstbegriff entwickelte erstmals Søren Kierkegaard (1813-55) – allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>ge-<br />

48<br />

bunden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e theologisch-christliche Dogmatik. Der ursprüngliche Zustand <strong>der</strong> Menschheit<br />

war nach ihm e<strong>in</strong> Zustand <strong>der</strong> Unschuld und <strong>der</strong> Unwissenheit: +In diesem Zustand ist Friede<br />

und Ruhe; aber es ist da zu gleicher Zeit etwas an<strong>der</strong>es, was nicht Unfriede und Streit ist;<br />

denn es ist ja nichts, womit man streiten könnte. Was ist es also? Nichts. Aber welche Wirkung<br />

hat das Nichts? Es gebiert die Angst. Das ist das tiefe Geheimnis <strong>der</strong> Unschuld, daß sie zugleich<br />

Angst ist.* (Der Begriff <strong>der</strong> Angst; S. 40) Auf <strong>der</strong> +natürlichen* Unschuld lastet also nach Kier-<br />

kegaard schon von Beg<strong>in</strong>n an <strong>der</strong> +Fluch* <strong>der</strong> Angst. Doch die Angst birgt <strong>in</strong> sich auch die<br />

Möglichkeit zur Erlösung. Sie führt den Menschen, wenn er sich ihr h<strong>in</strong>gibt, zum Glauben<br />

und damit zur Befreiung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis Gottes. Deshalb bemerkt Kierkegaard: +Die Angst<br />

ist die Möglichkeit <strong>der</strong> Freiheit [im Glauben]* (ebd.; S. 141).<br />

An dieses dialektische Angst-Konzept Kierkegaards, das allerd<strong>in</strong>gs im synthetischen Motiv<br />

des Glaubens wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> E<strong>in</strong>dimensionalität aufgelöst wird, schließt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Existenz-<br />

49<br />

philosophie an, +erlöst* es jedoch von se<strong>in</strong>er theologischen Komponente. So sieht Heidegger<br />

<strong>in</strong> Anlehnung an Kierkegaard +das Fürchten als schlummernde Möglichkeit des bef<strong>in</strong>dlichen<br />

In-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>s* an (Se<strong>in</strong> und Zeit; § 30), denn man fürchtet, ausgelöst durch e<strong>in</strong>e konkrete


346 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Bedrohung (Wovor <strong>der</strong> Furcht), immer um das Dase<strong>in</strong> (Worum <strong>der</strong> Furcht). Die greifbare<br />

Dase<strong>in</strong>sfurcht (als +Realangst*) wird aber erst möglich durch die Grundbef<strong>in</strong>dlichkeit <strong>der</strong> (existen-<br />

tiellen) Angst. Das Wovor <strong>der</strong> Angst ist im Gegensatz zur Furcht nämlich das +In-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>*<br />

als solches. Es fällt damit zusammen mit dem Worum <strong>der</strong> Furcht (Dase<strong>in</strong>) das notwendigerweise<br />

auch das Worum <strong>der</strong> Angst ist.<br />

Bei <strong>der</strong> Angst ist also das Worum mit dem Wovor identisch. Gerade deshalb ist die (<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Dase<strong>in</strong>ssorge vere<strong>in</strong>zelnde) Bef<strong>in</strong>dlichkeit <strong>der</strong> Angst nach Heidegger nicht negativ, son<strong>der</strong>n<br />

+befreiend* und geradezu konstitutiv für das Selbst: +Die Angst offenbart im Dase<strong>in</strong> das Se<strong>in</strong><br />

zum eigensten Se<strong>in</strong>können, das heißt das Freise<strong>in</strong> für die Freiheit des Sich-selbst-wählens<br />

und -ergreifens.* (Ebd.; § 40) Erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst wird folglich das (<strong>in</strong>dividuelle) Dase<strong>in</strong> erfahrbar:<br />

+Das Sichängstigen ist als Bef<strong>in</strong>dlichkeit e<strong>in</strong>e Weise des In-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>s; das Wovor <strong>der</strong><br />

Angst ist das geworfene In-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>; das Worum <strong>der</strong> Angst ist das In-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>-können.<br />

Das volle Phänomen <strong>der</strong> Angst demnach zeigt das Dase<strong>in</strong> als faktisch existierendes In-<strong>der</strong>-Welt-<br />

se<strong>in</strong>.* (Ebd.; § 41) Genau deshalb ist die Angst aber nicht alle<strong>in</strong>e <strong>der</strong> bloße Ausdruck <strong>der</strong><br />

Selbstsorge, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> ihr liegt auch e<strong>in</strong> wesentliches Moment <strong>der</strong> Fürsorge – denn da das<br />

+<strong>in</strong>-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>* immer e<strong>in</strong> +Mitse<strong>in</strong>* mit an<strong>der</strong>en ist, impliziert die Dase<strong>in</strong>ssorge die Fürsorge<br />

für an<strong>der</strong>e (vgl. ebd. sowie § 26). 50<br />

Jean-Paul Sartre, <strong>in</strong> dessen +phänomenologischer Ontologie* die (Dialektik <strong>der</strong>) Angst ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>e Schlüsselrolle e<strong>in</strong>nimmt, bemerkt, bei Kierkegaard sei die Angst als Angst vor <strong>der</strong> Freiheit<br />

gekennzeichnet (d.h. sie entspr<strong>in</strong>gt, wie oben dargestellt, aus dem Nichts, vor dem das ver-<br />

ängstigte Subjekt <strong>in</strong> die Sicherheit des Glaubens flieht), während sie bei Heidegger umgekehrt<br />

gerade die Erfassung des Nichts sei (vgl. Das Se<strong>in</strong> und das Nichts; S. 91). Beide Momente<br />

verb<strong>in</strong>den sich nach Sartres eigener Aussage <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Konzept <strong>der</strong> Angst – wobei man<br />

allerd<strong>in</strong>gs, selbst auf <strong>der</strong> Grundlage me<strong>in</strong>er recht knappen Darstellung, sagen muß, daß er<br />

mit dieser stark vere<strong>in</strong>fachenden Sicht natürlich we<strong>der</strong> Kierkegaard und schon gar nicht<br />

Heidegger gerecht wird. 51<br />

Das bemerkenswerte an Sartres Angst-Auffassung ist jedoch nicht die gelungene (o<strong>der</strong> miß-<br />

lungene) Verb<strong>in</strong>dung von Kierkegaards und Heideggers Vorstellungen, son<strong>der</strong>n daß er <strong>der</strong><br />

Angst ausdrücklich reflexiven Charakter zuschreibt. Um diesen reflexiven Charakter <strong>der</strong> Angst<br />

herauszuarbeiten rekurriert er auf die von Kierkegaard e<strong>in</strong>geführte und von Heidegger auf-<br />

gegriffene Unterscheidung zwischen Furcht und Angst (siehe oben und auch Anmerkung 17):


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 347<br />

Während die Furcht, so Sartre, e<strong>in</strong> unreflektiertes Erfassen des Transzendenten darstellt, bedeutet<br />

Angst die reflexive Erfassung des Selbst (vgl. ebd.; S. 92), denn erst +<strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst gew<strong>in</strong>nt<br />

<strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> von se<strong>in</strong>er Freiheit* (ebd.; S. 91). Er erläutert dieses weitgehend<br />

zu Heidegger analoge Argument am Beispiel <strong>der</strong> beängstigenden Situation des Stehens vor<br />

dem Abgrund. Die Furcht-Komponente ist durch die +objektiven* Gefährdungen, die Gege-<br />

benheiten des +an-sich* bestimmt: z.B. e<strong>in</strong> lockerer Ste<strong>in</strong>, <strong>der</strong> dafür verantwortlich se<strong>in</strong> könnte,<br />

daß wir h<strong>in</strong>ab stürzen. Die Angst vor dem Abgrund geht jedoch noch weit +tiefer*, sie ist<br />

im +für-sich* verwurzelt: Es ist die existentielle Angst sich <strong>in</strong> den Abgrund zu stürzen, die<br />

52<br />

Unberechenbarkeit <strong>der</strong> eigenen Freiheit (vgl. ebd.; S. 91ff.). Die Angst ist also ihrer wesent-<br />

lichen Struktur nach Freiheitsbewußtse<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 99), sie ist +das reflexive Erfassen <strong>der</strong><br />

Freiheit durch sie selbst* (ebd.; S. 108).<br />

Allerd<strong>in</strong>gs sollte man sich vergegenwärtigen, daß Freiheit bei Sartre ke<strong>in</strong>e +utopische* (Un-)Mög-<br />

lichkeit ist, die aus <strong>der</strong> Negation gegebener Unfreiheit die Hoffnung auf e<strong>in</strong>en erreichbaren<br />

Zustand <strong>der</strong> Freiheit ableitet. Denn Freiheit bedeutet für ihn gewissermaßen +Verdammnis*,<br />

d.h. <strong>der</strong> Mensch hat ke<strong>in</strong>e Wahl, frei zu se<strong>in</strong>: <strong>in</strong>dem er ist, ist er (zwangsläufig) frei, da se<strong>in</strong>e<br />

Existenz (als für-sich) alle<strong>in</strong>e aus <strong>der</strong> das Selbst entwerfenden +Nichtung* des an-sich entsteht<br />

(vgl. ebd.; <strong>in</strong>sb. Teil IV, Kap. 1). Die Freiheit folgt also direkt aus dem (Da-)Se<strong>in</strong> und erhält<br />

somit gewissermaßen metaphysischen Charakter (siehe hierzu auch nochmals die <strong>in</strong> Anmerkung<br />

51 dargestellte Kritik Heideggers). Die tatsächlich bei Sartre also weniger existentielle als vielmehr<br />

+essentielle* Freiheit kann nicht h<strong>in</strong>tergangen werden. Man mag die Freiheit abstreiten, doch<br />

damit ist man im +mauvaise foi* (d.h. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zustand <strong>der</strong> Unaufrichtigkeit) verhaftet (vgl.<br />

ebd.; Teil I, Kap. 2), und <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Freiheit gleichzeitig folgenden Verantwortung kann<br />

niemand entgehen (vgl. Teil IV, Kap. 3).<br />

Mit dieser Wendung (Freiheit als Verdammnis und Verantwortung) steht Sartre dem Theologen<br />

Kierkegaard näher als er beabsichtigt. Denn es ist e<strong>in</strong> geradezu klassisches Konzept <strong>der</strong> (christ-<br />

lichen) Moraltheologie, das Sartre anwendet: Das Subjekt wird – im Rahmen <strong>der</strong> Theologie:<br />

von Gott; bei Sartre: durch se<strong>in</strong> (Da-)Se<strong>in</strong> – mit e<strong>in</strong>em freien Willen ausgestattet bzw. <strong>in</strong><br />

die Freiheit +geworfen*, um es für se<strong>in</strong>e Taten verantwortlich machen zu können. Das durch<br />

die Angst zutage geför<strong>der</strong>te Freiheitsbewußtse<strong>in</strong> ist deshalb auch <strong>in</strong> Sartres +humanistischem<br />

53 54<br />

Existentialismus* nicht mehr als e<strong>in</strong> (subtiles) Instrument <strong>der</strong> (moralischen) Unterdrückung.<br />

Diese moralische +Fixierung* <strong>der</strong> Freiheit wird zwar verständlich, wenn man den historischen


348 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Kontext betrachtet, <strong>in</strong> dem Sartre se<strong>in</strong> Werk (1943) verfaßte: Er wollte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Situation <strong>der</strong><br />

deutschen Besatzung von Paris den Wi<strong>der</strong>stand gegen das nazistische System stärken und<br />

deshalb alle Ausflüchte für die Kollaboration mit diesem System (etwa den Verweis auf e<strong>in</strong>en<br />

angeblichen +Befehlsnotstand*) mit dem Aufweis <strong>der</strong> Unh<strong>in</strong>tergehbarkeit <strong>der</strong> Freiheit unmöglich<br />

machen. Aber die bestehenden externen wie <strong>in</strong>ternen Zwänge des Selbst und <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

werden <strong>in</strong> dieser Sichtweise ausgeblendet, und Freiheit wird überdies je<strong>der</strong> utopische Gehalt<br />

genommen.<br />

Von ähnlichen Vorstellungen geleitet – allerd<strong>in</strong>gs eher <strong>in</strong> bezug auf Heidegger – hat auch<br />

Adorno se<strong>in</strong>e Kritik am existenzphilosophischen Angst-Konzept formuliert: +Das angebliche<br />

Existential <strong>der</strong> Angst ist die Klaustrophobie <strong>der</strong> System gewordenen Gesellschaft* (Negative<br />

Dialektik; S. 32f.). Adorno verweist hiermit darauf, daß die Angst weniger e<strong>in</strong>e existentielle<br />

Grundbef<strong>in</strong>dlichkeit, als vielmehr <strong>der</strong> Ausdruck defizitärer sozialer Verhältnisse ist, die gleichzeitig<br />

dazu drängen, diese Angst zu verdrängen, vor ihr <strong>in</strong> die Anpassung zu flüchten, anstatt sie<br />

55<br />

sich bewußt zu machen und sie zu reflektieren – was wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> Ansatzpunkt zur<br />

H<strong>in</strong>terfragung und Transzendierung eben dieses auf die Angst gegründeten Systems se<strong>in</strong> könnte<br />

(vgl. auch Geyer: Angst als psychische und soziale Realität; S. 355ff.). Und so bemerkt er:<br />

+Mit <strong>der</strong> Angst und ihrem Grunde verg<strong>in</strong>ge vielleicht auch die Kälte.* (Negative Dialektik;<br />

S. 338)<br />

Die deflexive Verdrängung <strong>der</strong> Angst wie die synthetische Auflösung ihrer Dialektik ist deshalb<br />

ke<strong>in</strong> Ausweg. Die Angst muß reflektiert (d.h. entfaltet) werden, um reflexiv zu wirken (d.h.<br />

die Potentiale des Selbst zu entfalten). Und Reflexion me<strong>in</strong>t deshalb gewiß ke<strong>in</strong>e +Austreibung*,<br />

ke<strong>in</strong>en +Exorzismus* <strong>der</strong> cartesianischen Angst, wie ihn Richard Bernste<strong>in</strong> – sich selbst wi<strong>der</strong>-<br />

sprechend – e<strong>in</strong>for<strong>der</strong>t, um die Gegenüberstellung von Objektivismus (als <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>anten<br />

Ideologie <strong>der</strong> wissenschaftlichen Mo<strong>der</strong>ne) und Relativismus (als <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>anten Ideologie<br />

<strong>der</strong> +nachwissenschaftlichen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne) zu überw<strong>in</strong>den (vgl. Beyond Objectivism and<br />

Relativism; S. 19 und S. 223–231). Denn das Verlangen nach e<strong>in</strong>er Austreibung <strong>der</strong> Angst<br />

entspr<strong>in</strong>gt natürlich selbst <strong>der</strong> im Bedürfnis nach fundamentaler Sicherheit verhafteten carte-<br />

sianischen Angst. Das kann auch anhand <strong>der</strong> Ausführungen von Zygmunt Bauman verdeutlicht<br />

werden, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e +postmo<strong>der</strong>ne Utopie* e<strong>in</strong>es +Lebens mit Kont<strong>in</strong>genz* u.a. mittels <strong>der</strong> Analyse<br />

zweier Romane verdeutlicht, die beide sehr erfolgreich verfilmt wurden: +Der Exorzist* (von<br />

William Blatty) und +Das Omen* (von David Seltzer).


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 349<br />

Es konkurrieren hier zwei Erzählungen des +Bösen* und des +Unheimlichen* mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>,<br />

die verschiedene Erzählweisen und Haltungen gegenüber <strong>der</strong> Verunsicherung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Welt durch dieses aus ihr verbannte Unheimliche repräsentieren: Der Exorzist des +Exorzisten*<br />

ist paradoxerweise e<strong>in</strong> Vertreter <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Sicht, auch wenn er als Geistlicher eigentlich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en vormo<strong>der</strong>nen <strong>in</strong>stitutionellen Zusammenhang e<strong>in</strong>gebettet ist. Doch selbst die Kirche<br />

mußte sich an die mo<strong>der</strong>ne Ordnung anpassen, um <strong>in</strong> ihr zu überleben. Der mit dem Exorzismus<br />

beauftragte Pater wehrt sich folglich mit allen Mitteln dagegen, die Wirklichkeit des Unwirklichen<br />

zu akzeptieren. Die Besessenheit des Mädchens Regan, das er von ihrem +Dämon* befreien<br />

soll, <strong>in</strong>terpretiert er als +Zwangsverhalten, möglicherweise durch Schuldgefühle hervorgerufen,<br />

gekoppelt mit Persönlichkeitsspaltung* (zitiert nach ebd.; S. 291), und nur schwer ist er von<br />

<strong>der</strong> verzweifelten Mutter dazu zu bewegen, den Exorzismus wirklich durchzuführen, die eher<br />

an den Teufel als an psychologische Erklärungen glauben will.<br />

Selbst als er sich schließlich auf e<strong>in</strong>en +Versuch* e<strong>in</strong>läßt, besteht <strong>der</strong> Pater auf <strong>der</strong> +wissen-<br />

schaftlichen* (theologischen) E<strong>in</strong>deutigkeit <strong>der</strong> Besessenheit: +Wenn ich zur Kanzlei gehen<br />

muß […], um mir die Erlaubnis für e<strong>in</strong>en Exorzismus zu holen, muß ich zuallererst e<strong>in</strong> paar<br />

recht e<strong>in</strong>deutige Anhaltspunkte für die Vermutung vorlegen, daß <strong>der</strong> Zustand Ihrer Tochter<br />

nicht nur auf re<strong>in</strong> psychiatrischen Problemen beruht.* (Zitiert nach ebd.; S. 293) Der geplante<br />

Exorzismus erhält damit quasi den Charakter e<strong>in</strong>es wissenschaftlichen Experiments – und<br />

umgekehrt läßt sich, wie ich me<strong>in</strong>e, aufzeigen, daß das Projekt <strong>der</strong> neuzeitlichen Wissenschaft<br />

mit ihrem E<strong>in</strong>deutigkeits- und Kontrollbestreben e<strong>in</strong>e Art transformierter Exorzismus ist. Denn<br />

dem Exorzisten wie dem Wissenschaftler geht es darum, mit dem Geist die (bösen) Geister<br />

(den Teufel, den Wahn, den Unglauben, die Unvernunft) auszutreiben. Alle<strong>in</strong>e die Waffen<br />

haben sich <strong>in</strong> diesem Kampf um Kontrolle gewandelt: An die Stelle des Glaubens trat die<br />

Vernunft.<br />

Doch das +Unheimliche* läßt sich auch an<strong>der</strong>s, vielschichtiger erzählen: +Das Omen* enthält<br />

e<strong>in</strong>e Doppelbotschaft. Hier wird mit <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Wirklichkeit des Wahns und des<br />

Bösen gespielt und geschickt e<strong>in</strong> unentschiedener Schwebezustand zwischen zwei <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

verwobenen Geschichten offen gehalten: In <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Geschichte ist die Welt auch <strong>in</strong> ihrer<br />

Unordnung <strong>in</strong> Ordnung, denn für all die <strong>in</strong> ihr vorf<strong>in</strong>dbare Fe<strong>in</strong>dseligkeit, die Massenmorde<br />

und Kriege, lassen sich rationale Erklärungen f<strong>in</strong>den. Doch diese rationale und e<strong>in</strong>deutige<br />

Geschichte wird durch e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Geschichte relativiert, die diese Greuel auf e<strong>in</strong>e Ver-


350 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

schwörung des Bösen zurückführt. Allerd<strong>in</strong>gs ist ihr +Erzähler* <strong>der</strong> Insasse e<strong>in</strong>es Irrenhauses<br />

und somit von fragwürdiger Glaubwürdigkeit. Trotzdem verweist die zirkuläre Macht ihrer<br />

Deutung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das Böse durch das Böse erklärt wird, auf die Möglichkeit, daß es an<strong>der</strong>e<br />

Erklärungen als die wissenschaftliche geben könnte und +stellt damit das Allerheiligste [<strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne] <strong>in</strong> Frage – den Glauben an die Überlegenheit des wissenschaftlichen über jedes<br />

an<strong>der</strong>e Wissen* (ebd.: S. 296).<br />

In dieser Doppelstruktur <strong>der</strong> Erzählung, ihrem Verweis auf die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Wahrheit<br />

jenseits <strong>der</strong> wissenschaftlichen Wahrheitskonstrukte ist +Das Omen* e<strong>in</strong> geradezu +postmo<strong>der</strong>ner*<br />

Roman, denn die Mo<strong>der</strong>ne erreicht e<strong>in</strong>e neue Stufe, +sobald sie fähig ist, <strong>der</strong> Tatsache <strong>in</strong>s<br />

Auge zu sehen, daß die Wissenschaft, nach allem, was man weiß und wissen kann, e<strong>in</strong>e<br />

unter vielen Geschichten ist* (ebd.; 297). In dieser neuen Stufe <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne entsteht<br />

im aus <strong>der</strong> +Verkettung* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst +gelösten* Kont<strong>in</strong>genzbewußtse<strong>in</strong> – wie Bauman <strong>in</strong> Parallele<br />

zu Richard Rorty formuliert (vgl. Kont<strong>in</strong>genz, Ironie, Solidarität und siehe S. 161) – die Mög-<br />

lichkeit und Notwendigkeit für Solidarität. Denn: +Um das emanzipatorische Potential <strong>der</strong><br />

Kont<strong>in</strong>genz als Geschick zu entwirren [vgl. auch Heller: Hermeneutics of Social Science; S.<br />

41 und siehe hier Anmerkung 45], würde es nicht genügen, die Demütigungen des an<strong>der</strong>en<br />

zu vermeiden. Man muß sie auch respektieren […] Man muß die An<strong>der</strong>sheit im an<strong>der</strong>en<br />

ehren, die Fremdheit im Fremden […] Me<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung zu dem Fremden enthüllt sich<br />

mir als Verantwortung, nicht als <strong>in</strong>differente Neutralität […] E<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Schicksal würde<br />

auch mit wechselseitiger Toleranz auskommen; e<strong>in</strong> geteiltes Geschick [<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz] erfor<strong>der</strong>t<br />

[!] Solidarität.* (Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz; S. 286f.).<br />

Auf die Problematik dieser letzten Argumentationsfigur habe ich bereits im Zusammenhang<br />

me<strong>in</strong>er (kurzen) Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit postmo<strong>der</strong>nen, auf den Wert <strong>der</strong> Differenz abhebenden<br />

Ethikkonzepten h<strong>in</strong>gewiesen (siehe S. 60f.), an die Bauman explizit anschließt (vgl. auch <strong>der</strong>s.:<br />

56<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Ethics). Denn wenn das Se<strong>in</strong> als solches kont<strong>in</strong>gent ist, dann ist es notwendig<br />

auch das Sollen. (Soziale) Werte können <strong>der</strong> +Wirklichkeit*, so wie sie sich darstellt, bestenfalls<br />

angemessen se<strong>in</strong>. Aus Kont<strong>in</strong>genzfeststellungen Normen wie Differenz o<strong>der</strong> Solidarität (zw<strong>in</strong>gend)<br />

57<br />

ableiten zu wollen, ist also problematisch. Vielversprechen<strong>der</strong> für e<strong>in</strong>e reflexive Betrachtung<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und +ihrer* aus <strong>der</strong> Angst (an)getriebenen Bewegung ist aber ohneh<strong>in</strong> Baumans<br />

bereits im vorangegangen Abschnitt (siehe S. 332) kurz umrissene These von <strong>der</strong> +Selbsterzeugung<br />

<strong>der</strong> Ambivalenz* durch die entfremdende Wirkung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung:


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 351<br />

Die ehemals +vere<strong>in</strong>zelte* Wurzellosigkeit (des Fremden) wird im Zuge <strong>der</strong> immer weiter<br />

voranschreitenden Mo<strong>der</strong>nisierung universell. Niklas Luhmann hat diesem Umstand e<strong>in</strong>en<br />

systemtheoretischen Ausdruck verliehen, <strong>in</strong>dem er klar macht, +daß bei funktionaler Differen-<br />

zierung die E<strong>in</strong>zelperson nicht mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em und nur e<strong>in</strong>em Subsystem <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

angesiedelt se<strong>in</strong> kann, son<strong>der</strong>n sozial ortlos vorausgesetzt werden muß* (zitiert nach ebd.;<br />

58<br />

S. 123). Aus dieser (angstvollen) Bedrohung durch die universelle +Heimatlosigkeit* (siehe<br />

auch unten, Berger et al.) entsteht aber gleichzeitig e<strong>in</strong>e Chance für reflexive Prozesse. Der<br />

Blick <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf sich +objektiviert* sich durch die <strong>in</strong>s Innen, <strong>in</strong> den +Kern*, das +Masse-<br />

zentrum* <strong>der</strong> Gesellschaft verlegte +Außenansicht* des <strong>in</strong> <strong>der</strong> (Fort-)Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

entfremdeten Bewußtse<strong>in</strong>s und setzt so kritische Potentiale frei (vgl. ebd.; S. 103–122 u. S.<br />

127ff.).<br />

Die Angst, die die Mo<strong>der</strong>ne treibt, treibt deshalb gleichzeitig aus ihr heraus – allerd<strong>in</strong>gs nur,<br />

wie ich zugleich betonen möchte, wenn die erzeugte Entfremdung auch tatsächlich als Ent-<br />

59<br />

fremdung empfunden und <strong>in</strong> diesem Empf<strong>in</strong>den negiert wird. Ansonsten droht die Potenzierung<br />

<strong>der</strong> Angst und e<strong>in</strong>e Fortsetzung <strong>der</strong> Fluchtbewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf den alten o<strong>der</strong> neuen<br />

Wegen. Damit die Untiefen des auf diesem Pfad liegenden (anti-)mo<strong>der</strong>nen +Fundamentalismus*<br />

60 61<br />

umschifft werden können, bedarf es e<strong>in</strong>es reflexiven Bewußtse<strong>in</strong>s (durch e<strong>in</strong> +starkes* Selbst).<br />

Denn die Angst muß (aktiv) gespiegelt werden, d.h. sie muß sich artikulieren können, um<br />

sich nicht – <strong>in</strong> Gewißheiten verdeckt – <strong>in</strong>s Maßlose zu steigern.<br />

E<strong>in</strong> solches, <strong>der</strong> <strong>in</strong> ihr +e<strong>in</strong>geschlossenen* Angst Aufmerksamkeit schenkendes, aber nicht<br />

von <strong>der</strong> Angst +vere<strong>in</strong>nahmtes* reflexives Projekt <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne könnte sich <strong>in</strong> dem Versuch<br />

<strong>der</strong> sich selbst +objektivierenden* (Selbst-)Überschreitung (m<strong>in</strong>destens) auf zwei +alternative*<br />

Kulturen beziehen. Die e<strong>in</strong>e liegt – wenn man sich Stephen Toulm<strong>in</strong> anschließt – <strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen<br />

Vergangenheit <strong>der</strong> (europäischen) Mo<strong>der</strong>ne. Denn die Mo<strong>der</strong>ne verlief für Toulm<strong>in</strong> schon<br />

immer <strong>in</strong> zwei Bahnen: Neben ihrer rationalistischen Hauptbewegung gab es den auf Toleranz<br />

gegründeten Humanismus <strong>der</strong> Renaissance <strong>in</strong> dem das Beson<strong>der</strong>e, Lokale und Zeitgebundene,<br />

wie bereits oben angemerkt wurde, noch se<strong>in</strong>en Platz hatte. Nur lei<strong>der</strong> wurde die entfaltete<br />

Toleranzkultur die Renaissance schließlich durch den Rationalismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachfolge Descartes’<br />

zurückgedrängt: +Die Kultur und Gesellschaft des europäischen 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts verän<strong>der</strong>te<br />

sich [durch Kriege, Glaubensause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen etc.] so, daß die Toleranz des Humanismus<br />

<strong>der</strong> Spätrenaissance zugunsten strengerer Theorien und anspruchsvollerer Anwendungen beiseite


352 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

gesetzt wurde, und gipfelte <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuen Kosmopolis nach <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> mathematischen<br />

Physik.* (Kosmopolis; S.267f.)<br />

Das Gerüst dieser Kosmopolis wurde durch die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne selbst im folgenden<br />

zwar Stück für Stück +demontiert*, doch erst nach <strong>der</strong> Erschütterung des Zweiten Weltkriegs<br />

und durch die sozialen Transformationen <strong>der</strong> Nachkriegszeit war die Menschheit gemäß Toulm<strong>in</strong><br />

reif für die +Wie<strong>der</strong>erf<strong>in</strong>dung des Humanismus*. Dies zeigt sich u.a. an <strong>der</strong> +relativistischen<br />

Wende* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wissenschaftsphilosophie (siehe auch Abschnitt 2.3), <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e jedoch<br />

an <strong>der</strong> immer größer werdenden allgeme<strong>in</strong>en Toleranz gegenüber Ungewißheit, Mehrdeutigkeit<br />

und Me<strong>in</strong>ungsvielfalt. (Vgl. ebd.; 233–267)<br />

An diesem Konzept Toulm<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>er (postmo<strong>der</strong>nen) +Humanisierung* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne durch<br />

e<strong>in</strong>e Re-Renaissance, d.h. e<strong>in</strong>e +Rückbes<strong>in</strong>nung* auf die Renaissance-Kultur (wie sie z.B. Denker<br />

wie Erasmus von Rotterdam o<strong>der</strong> Michel de Montaigne verkörpern) läßt sich e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>-<br />

wenden, daß die historische Renaissance möglicherweise gar nicht von jener ausgeprägten<br />

Toleranz geprägt war, die Toulm<strong>in</strong> ihr zuschreibt. Zum zweiten ist es fraglich, ob sich die<br />

62<br />

Gegenwart tatsächlich an e<strong>in</strong>e Kultur <strong>der</strong> Toleranz annähert. Die Richtung <strong>der</strong> aktuellen<br />

Entwicklung ist me<strong>in</strong>es Erachtens (und wie auch die Analyse <strong>der</strong> sozio-ökonomischen Wandlungs-<br />

prozesse <strong>in</strong> Kapitel 2 zeigte) ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>deutig, son<strong>der</strong>n selbst zutiefst ambivalent. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus muß e<strong>in</strong>e transformative Transzendierung <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne auch nicht notwendig<br />

(alle<strong>in</strong>e) an die europäische Tradition anschließen.<br />

Denn wie man sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Renaissance des 16./17. Jahrhun<strong>der</strong>ts +gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend* auf das<br />

antike Griechenland bezog, so könnte – wenn man Francisco Varela und Evan Thompson<br />

folgt – auch <strong>der</strong> Rekurs auf die <strong>in</strong>dische Antike (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die durch N)ag)arjuna begründete<br />

buddhistische M)adhyamika-Schule mit ihrem +Mittleren Weg*) zu e<strong>in</strong>er Erneuerung <strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

den Fortschrittsgleisen +festgefahrenen* Mo<strong>der</strong>ne beitragen (vgl. Der Mittlere Weg <strong>der</strong> Erkenntnis;<br />

63<br />

S. 41ff.): Durch die +empirische Praxis* <strong>der</strong> Meditation, d.h. die Reflexion <strong>der</strong> eigenen Wahr-<br />

nehmungen (und Wahrnehmen bedeutet für den Radikalen Konstruktivisten Varela wie für<br />

die Buddhisten <strong>der</strong> M)adhyamika-Schule nichts an<strong>der</strong>es als konstruieren), führt <strong>der</strong> Mittlere<br />

Weg nämlich zu <strong>der</strong> zirkulären Erkenntnis <strong>der</strong> Zirkularität <strong>der</strong> Erkenntnis, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das reflexiv-<br />

befreiende Bewußtse<strong>in</strong> für die Leerheit (<strong>der</strong> Leerheit) – s’ )unyat)a(s’ )unyat)a) – und für die irre-<br />

führende Illusion e<strong>in</strong>es kont<strong>in</strong>uierlichen Ichs entsteht. Denn wird diese zunächst e<strong>in</strong>e carte-<br />

sianische Angst auslösende +Wahr(genommen)heit* <strong>der</strong> Leerheit und des Nicht-Ich anerkannt


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 353<br />

und zugelassen, so ermöglicht dies <strong>in</strong> ihrem (konstruierenden) Erkennen e<strong>in</strong>e Überw<strong>in</strong>dung<br />

<strong>der</strong> Identitäts- und E<strong>in</strong>deutigkeitszwänge, die aber nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em absoluten Relativismus endet<br />

(deshalb die Selbstbezeichnung als +Mittlerer Weg*), son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Leerheit<br />

die Praxis e<strong>in</strong>es +anhaftungslosen* Mitgefühls (karun)a) ableitet (vgl. auch ebd.; <strong>in</strong>sb. S. 332ff.<br />

.<br />

sowie N)ag)arjuna: Mu) lamadhyamakaka) rika); Kap. 24, Vers 40).<br />

Ich werde speziell im Schlußexkurs – im Rahmen me<strong>in</strong>er dort angestellten Überlegungen<br />

zum Zusammenhang zwischen e<strong>in</strong>em +authentischen* (nicht-identischen) Selbst, reflexivem<br />

(Kont<strong>in</strong>genz-)Bewußtse<strong>in</strong> und <strong>der</strong> +Utopie* sozialer Konvergenz – noch etwas genauer auf<br />

die Lehre des M)adhyamika und den an Derrida er<strong>in</strong>nernden De-Konstruktivismus N)ag)arjunas<br />

zu sprechen kommen. Hier g<strong>in</strong>g es mir nur darum zu zeigen, daß sich +reflexive* Ansätze<br />

auch <strong>in</strong> nicht-europäischen Kontexten f<strong>in</strong>den lassen. Und es g<strong>in</strong>g mir darum klarzumachen,<br />

daß die so zerstörerische wie lähmende Seite <strong>der</strong> Angst erst, <strong>in</strong>dem man sie wahrnimmt und<br />

zuläßt, +überwunden* werden kann.<br />

Mit ihrer Reflexion soll die Angst also nicht (rational) +beherrscht* werden. Dadurch würde<br />

die Angst, wie im Vorangegangenen dargestellt wurde, nur an destruktiver Macht gew<strong>in</strong>nen,<br />

wirkte sie untergründig als unbewußte Zwangsstruktur umso +effektiver*. Die Flucht <strong>in</strong>s Rationale,<br />

die rationalistische Deflexion <strong>der</strong> Angst, wie sie die (e<strong>in</strong>fache) Mo<strong>der</strong>ne und ihre Bewegung<br />

kennzeichnete, ist also beschränkend. Sie limitiert die <strong>in</strong> ihrer Bewegung enthaltenen Möglich-<br />

keitsräume, sperrt – von <strong>der</strong> Angst getrieben – das latente Moment <strong>der</strong> +Freiheit* im Streben<br />

nach fundamentaler Sicherheit ab. Es gilt somit, um die vorhandenen Potentiale zu nutzen,<br />

die Angst bewußt zu machen und zu entfalten. Die +objektive* Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

unterstützt diesen subjektiven Reflexionsprozeß, denn sie br<strong>in</strong>gt die Angst und das Bewußtse<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Angst durch die im Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß erzeugten Gefährdungen reflexiv hervor. Nicht<br />

zufällig spielt deshalb <strong>der</strong> Risikobegriff (und auch die Angst) e<strong>in</strong>e zentrale Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie<br />

reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, so wie sie von Anthony Giddens und Ulrich Beck, allerd<strong>in</strong>gs mit<br />

unterschiedlichen Akzentsetzungen, entworfen wurde:<br />

Für Giddens äußert sich die Dynamik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zunehmenden Trennung von<br />

Zeit und Raum, e<strong>in</strong>em an dieser Trennung ansetzenden Prozeß <strong>der</strong> sozialen Entbettung (disem-<br />

bedd<strong>in</strong>g) sowie e<strong>in</strong>er gleichzeitigen reflexiven sozialen (Re-)Organisation und Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>bettung<br />

(vgl. Consequences of Mo<strong>der</strong>nity; S. 16f.). Was me<strong>in</strong>t Giddens mit diesem +Dreisatz*? – In<br />

<strong>der</strong> Neuzeit kam es zu e<strong>in</strong>er Standardisierung <strong>der</strong> Zeit. Die Zeit wurde damit immer unab-


354 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

hängiger vom konkreten Ort: (Fast) überall auf <strong>der</strong> Welt s<strong>in</strong>d heute die zeitlichen Bezugssysteme<br />

<strong>der</strong> Gregorianische Kalen<strong>der</strong> und die Greenwich-Zeit. Es kann deshalb im Vergleich zur Ver-<br />

gangenheit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Vielzahl lokaler Zeite<strong>in</strong>teilungssysteme gegeben war, e<strong>in</strong>e (räumliche)<br />

Entleerung <strong>der</strong> Zeit konstatiert werden (vgl. ebd., S. 17f.). Neben <strong>der</strong> räumlichen Entleerung<br />

<strong>der</strong> Zeit, besteht aber auch e<strong>in</strong>e zeitliche Entleerung des Raumes durch nahezu +zeitneutrale*<br />

64<br />

Transport- und Kommunikationssysteme, und es ist e<strong>in</strong>e +Delokalisierung* bzw. +Entörtlichung*<br />

des (sozialen) Raumes – d.h. e<strong>in</strong>e Loslösung vom lebensweltlichen Umfeld – durch globale<br />

65<br />

Koord<strong>in</strong>atensysteme und übergreifende, weltweite Netzwerke auszumachen (vgl. ebd.; 18ff.).<br />

We<strong>der</strong> ist also heute die Zeit an den Raum, noch ist <strong>der</strong> Raum an Zeit und Ort gebunden<br />

– und diese raum-zeitliche +Drift* ist wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>e wichtige Voraussetzung für die sozialen<br />

Entbettungsprozesse, welche laut Giddens die (Spät-)Mo<strong>der</strong>ne kennzeichnen.<br />

Konkret ist jedoch die Verbreitung von symbolischen Tauschmitteln (symbolic tokens) und<br />

das Aufkommen von (entpersonalisierten) Systemen <strong>der</strong> professionellen Expertise (expert systems)<br />

66<br />

für die stattf<strong>in</strong>dende Entbettung verantwortlich. Das wichtigste symbolische Tauschmittel<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft ist natürlich das Geld, das – an<strong>der</strong>s als früher – nicht mehr<br />

unbed<strong>in</strong>gt als Münze o<strong>der</strong> Sche<strong>in</strong> vorliegen muß, son<strong>der</strong>n immer häufiger nur noch e<strong>in</strong>e<br />

spezifische digitale Information darstellt, aber gerade <strong>in</strong> dieser +Entd<strong>in</strong>glichung* se<strong>in</strong>e ent-<br />

fremdende (und damit entbettende) Wirkung umso fühlbarer entfalten kann. Die Systeme<br />

<strong>der</strong> Expertise, die <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften nahezu alle Bereiche direkt o<strong>der</strong> <strong>in</strong>direkt<br />

bee<strong>in</strong>flussen, wirken entbettend, da <strong>der</strong> objektivierende Blick des Experten die bearbeiteten<br />

Probleme aus ihren sozialen Kontexten löst. (Vgl. ebd.; S. 21–28)<br />

Wie schon oben mit Giddens’ Konzept <strong>der</strong> +doppelten Hermeneutik* dargelegt (siehe S. 317),<br />

wirken aber nicht nur die Experten auf ihre (soziale) Umwelt, son<strong>der</strong>n das gesellschaftliche<br />

Umfeld wirkt auf die Expertensysteme zurück. Dies ist e<strong>in</strong> wesentlicher Aspekt <strong>der</strong> Reflexivität<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (vgl. ebd.; S. 36ff.). Zum an<strong>der</strong>en muß das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit voraussetzungslos<br />

bestehende Vertrauen – das auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> fortgeschrittenen Mo<strong>der</strong>ne und vor allem für das<br />

Funktionieren ihrer +abstrakten* Systeme (siehe Anmerkung 66) unabd<strong>in</strong>gbar ist, um die für<br />

den sozialen Zusammenhang notwendige Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>bettung (reembedd<strong>in</strong>g) <strong>der</strong> aus den tradi-<br />

tionalen Zusammenhängen +gelösten* sozialen Glie<strong>der</strong> zu ermöglichen (vgl. ebd.; S. 29ff.<br />

u. S. 79ff.) – nunmehr aktiv erarbeitet werden (vgl. ebd.; S. 120ff. sowie <strong>der</strong>s.: Risiko, Vertrauen<br />

67<br />

und Reflexivität; S. 319f.). Die <strong>in</strong>dividuellen Konsequenzen <strong>der</strong> solchermaßen reflexiv gewor-


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 355<br />

denen Mo<strong>der</strong>ne hat Giddens <strong>in</strong> dem Band +Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity* (1991) näher heraus-<br />

gearbeitet, und hier kommt wie<strong>der</strong>um die Angst <strong>in</strong>s Spiel:<br />

In <strong>der</strong> traditionalen Gesellschaft konnte, wie schon oben erwähnt, Vertrauen noch unpro-<br />

blematisch vorausgesetzt werden. Basales Vertrauen war gegeben, da die Rout<strong>in</strong>en des Alltags<br />

zu e<strong>in</strong>er +ontologischen Sicherheit*, e<strong>in</strong>er tief (emotional) verwurzelten +Se<strong>in</strong>sgewißheit* verhalfen<br />

(vgl. S. 36ff.). Mit dem Entbettungsprozeß <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung – <strong>der</strong> gleichzeitig <strong>in</strong>dividuelle<br />

Freiräume schafft – wird diese ontologische Sicherheit jedoch untergraben. Die Rout<strong>in</strong>en<br />

werden s<strong>in</strong>nlos und +leer*, das Vertrauen erstarrt zunehmend, so daß die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

e<strong>in</strong>en zwanghaften, neurotischen Charakter annimmt (vgl. auch Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> posttraditionalen<br />

Gesellschaft; S. 129ff. u. S. 166ff.). O<strong>der</strong> aber die traditionale Basis des Vertrauens wird durch<br />

die Wucht <strong>der</strong> Entbettungsprozesse ganz zerstört. An se<strong>in</strong>e Stelle tritt dann e<strong>in</strong>e existentielle<br />

Angst (vgl. Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity; S. 42ff. u. S. 182ff.).<br />

Diese Spannung zwischen verunsichern<strong>der</strong> Angst und Freiheit führt das (spät)mo<strong>der</strong>ne Selbst<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe Dilemmata. Es ist zerrissen zwischen dem Universalismus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und<br />

Fragmentisierungen (unification vs. fragmentation), ist gleichzeitig mächtig und ohnmächtig<br />

(powerlessness vs. appropriation), wird von Expertensystemen normiert und erfährt trotzdem<br />

Unsicherheit (authority vs. uncerta<strong>in</strong>ty) – und es muß sich aktiv hervorbr<strong>in</strong>gen, bleibt <strong>in</strong> diesem<br />

schwierigen Identitätsbildungsprozeß jedoch <strong>in</strong> die beschränkenden Strukturen des Marktes<br />

e<strong>in</strong>gebunden (personalized vs. commodified experience) (vgl. ebd.; S. 187–201). Das gepe<strong>in</strong>igte<br />

Selbst <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, das sich <strong>in</strong> diesem dilemmatischen Spannungsfeld bewegt, kann allerd<strong>in</strong>gs,<br />

gerade im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Unsicherheit und <strong>der</strong> posttraditionalen Risiken, die +Dualität <strong>der</strong><br />

68<br />

Struktur(en)* auch positiv für sich nutzen und +lebenspolitische* Aktivitäten entfalten: Indem<br />

es die Entbettungserfahrungen aktiv <strong>in</strong> politische Handlungen umsetzt, die e<strong>in</strong> reflexives<br />

Selbstprojekt verfolgen und Fragen des <strong>in</strong>dividuellen Lebens wie des globalen Überlebens<br />

thematisieren (vgl. ebd.; Kap. 7 und siehe auch hier S. 56f. sowie Abschnitt 5.2).<br />

Ganz ähnlich (und doch <strong>in</strong> wichtigen Punkten verschieden) argumentiert Ulrich Beck <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

+Risikogesellschaft* (1986): Er betont hier, daß es durch die allgeme<strong>in</strong>e Wohlstandssteigerung<br />

<strong>in</strong> den +fortgeschrittenen* (Industrie-)Staaten und die gleichzeitig immer gravieren<strong>der</strong>en zivili-<br />

satorischen Gefährdungen, die die Industrialisierung als latente Nebenfolgen erzeugt, zu e<strong>in</strong>er<br />

Umstellung <strong>der</strong> Verteilungslogik gekommen ist: Soziale Konflikte drehen sich immer weniger<br />

um die Reichtumsverteilung (goods), son<strong>der</strong>n um die Vermeidung von Risiken (bads), die


356 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

damit den Charakter e<strong>in</strong>es +problematischen* (gewußten Nicht-)Wissens haben (siehe auch<br />

Anmerkung 10). Mit dieser Konzentration auf die Risikodimension wird <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ni-<br />

sierungsprozeß reflexiv, d.h. +sich selbst zum Thema und Problem* (S. 26). Die Mo<strong>der</strong>ne<br />

ist also <strong>in</strong>soweit reflexiv, als sie zum e<strong>in</strong>en immer stärker wissensabhängig wird und sich selbst<br />

reflektiert (vgl. ebd.; S. 35ff.). Das Argument <strong>der</strong> latenten Nebenfolgen des technischen<br />

+Fortschritts* verweist jedoch zugleich auf e<strong>in</strong>e nicht-kognitive Reflexivität (vgl. auch <strong>der</strong>s.:<br />

Das Zeitalter <strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 27ff.): Die Risiken <strong>der</strong><br />

(post)<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft s<strong>in</strong>d global und – obwohl wissens- und wahrnehmungsabhängig<br />

– +objektiv*, <strong>in</strong>dem sie (als diffuse +materielle* Bedrohungen) Schicht-, Klassen- und Nationen-<br />

grenzen überschreiten und damit gewissermaßen +demokratischen* Charakter haben (vgl.<br />

Risikogesellschaft; S. 61ff.).<br />

Aus dieser +Objektivität* <strong>der</strong> Zivilisationsrisiken könnte sich laut Beck e<strong>in</strong>e neue Form <strong>der</strong><br />

Solidarität ableiten: anstelle <strong>der</strong> +Solidarität <strong>der</strong> Not* (wie sie die klassische Industriegesellschaft<br />

prägte) entsteht möglicherweise e<strong>in</strong>e (weltgesellschaftliche) +Solidarität <strong>der</strong> Angst* (vgl. ebd.;<br />

S. 65ff.). Diese Solidarität <strong>der</strong> Angst mündet im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Bedrohung des<br />

Dase<strong>in</strong>s potentiell <strong>in</strong> subpolitische Aktivitäten <strong>der</strong> im Zuge <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung aus traditionalen<br />

Zwängen freigesetzen (und somit +reflexionsfähigen*) Individuen – denn die etablierte <strong>Politik</strong><br />

vernachläßigt aufgrund ihrer <strong>in</strong>stitutionellen Fixierung auf den Verteilungskonflikt die neu<br />

entstandenen Problemfel<strong>der</strong>. Auf e<strong>in</strong>e prägnante Kurzformel gebracht könnte man also for-<br />

mulieren: Aus dem angstvollen Risikobewußtse<strong>in</strong> durch die Reflexivität von Technologie <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten, (post)<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft folgt e<strong>in</strong>e solidarische (Sub-)Politisierung,<br />

kommt es zur (Neu-)Erf<strong>in</strong>dung des Politischen (vgl. ebd.; Kap. VIII sowie <strong>der</strong>s.: Die Erf<strong>in</strong>dung<br />

des Politischen und siehe auch hier S. 55f. sowie Abschnitt 5.2).<br />

Doch ist die Angst e<strong>in</strong>e tragfähige Grundlage von Solidarität und e<strong>in</strong>er neuen, +lebens(weltlichen)*<br />

<strong>Politik</strong>? Kann sie das +unvollendete Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* (Habermas) weiterführen? – Bei<br />

Heidegger und Sartre ist die (existentielle) Angst die (emotionale) Quelle des (freiheitlichen)<br />

Selbstbewußtse<strong>in</strong>s. Die im Individualisierungsprozeß bewirkte Freisetzung des Subjekts, die<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> fortgeschrittenen Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne hervorgekehrte +Subjektivität*, hätte gemäß<br />

diesem Modell eher ihre Grundlage <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikodimension <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wohlstands-<br />

steigerung. Und so wie Heidegger aus <strong>der</strong> Selbst-Sorge das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Für-Sorge ableitet<br />

(siehe nochmals S. 345), könnte auch aus <strong>der</strong> +objektiv* gewordenen Subjektivität <strong>der</strong> Angst


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 357<br />

(als konkrete, technikerzeugte Dase<strong>in</strong>s-Sorge) so etwas wie (für-sorgliche) +Solidarität* entstehen. 69<br />

Derart würde also die Angst, die die vere<strong>in</strong>zelten Individuen des Naturzustands <strong>in</strong> Hobbes’<br />

Modell ursprünglich dazu trieb, sich zum +großen Menschen* des Leviathan zu formieren,<br />

nunmehr als Angst gerade vor <strong>der</strong> entfesselten (Staats-)Masch<strong>in</strong>erie dieses Leviathan und se<strong>in</strong>em<br />

verselbständigten +technischen Labyr<strong>in</strong>th* (Schönherr-Mann) die Basis für e<strong>in</strong> neues +soziales<br />

Band* schaffen.<br />

Beck hat allerd<strong>in</strong>gs den ersten Schritt nicht (wirklich) getan und sich im Kontext se<strong>in</strong>er <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> +Risikogesellschaft* ebenfalls dargelegten Individualisierungsthese (vgl. dort Kap. III und<br />

siehe auch hier S. XXVIIIf. sowie Abschnitt 2.5) weniger auf die +subjektivierende* Wirkung<br />

<strong>der</strong> Angst als auf sozialstrukturelle Wandlungsprozesse konzentriert. Und er täte (und tut) 70<br />

gut daran, auch den zweiten Schritt zu unterlassen: Denn Solidarität, die erst aus und <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Angst entsteht, ist genau genommen nur e<strong>in</strong>e vermittelte, bed<strong>in</strong>gte Solidarität. +Wirkliche*<br />

(d.h. unbed<strong>in</strong>gte) Solidarität muß <strong>der</strong> Angst vorgängig (o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest gleichgestellt) se<strong>in</strong>,<br />

um nicht mit <strong>der</strong> Angst zu verschw<strong>in</strong>den, die sich schließlich gerade <strong>in</strong> ihrer reflexiven Bewußt-<br />

werdung und Entfaltung +aufheben* würde und damit als Motor <strong>der</strong> deflexiven Fluchtbewegung<br />

<strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne wie als Quelle für-sorglicher Solidarität +abstürbe*. 71<br />

Diese Ablehnung <strong>der</strong> Angst – wie auch <strong>der</strong> Entfremdung (siehe oben) – als Grundlage e<strong>in</strong>er<br />

+postmo<strong>der</strong>nen* Solidarität bedeutet freilich nicht, daß die Dialektik <strong>der</strong> Angst hier negiert<br />

würde. Angst impliziert tatsächlich e<strong>in</strong> bedeutendes reflexives Potential: So wie die Angst<br />

(vor <strong>der</strong> Angst) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Fluchtbewegung treibt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie e<strong>in</strong>e untergründige, verdeckte Macht<br />

entfaltet, so kann sie, <strong>in</strong>dem sie als Angst wahrgenommen, d.h. zugelassen und emotional<br />

wie kognitiv gespiegelt wird, <strong>der</strong> Ansatzpunkt für e<strong>in</strong>en reflexiven (Selbst-)Erkenntnisprozeß<br />

se<strong>in</strong>. Sie ist jedoch nicht als solche +positiv*. Angst verweist vielmehr immer auch – worauf<br />

Adorno abhob – auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle wie soziale +Deformation*, die die Erschütterung <strong>der</strong><br />

Angst erst hervorbr<strong>in</strong>gt. Diese Deformation kann zwar nur behoben werden, wenn die Angst<br />

emotional geäußert und gedanklich verarbeitet wird. Aber eben alle<strong>in</strong>e <strong>in</strong> dieser Reflexion<br />

(die sie gleichzeitig transformiert) ist sie e<strong>in</strong>e Quelle <strong>der</strong> Überschreitung <strong>der</strong> Begrenzungen<br />

des Selbst und des Sozialen <strong>in</strong> <strong>der</strong> +traditionalen* Mo<strong>der</strong>ne.<br />

Deren angstgetriebene Bewegung erzeugte, wie dargestellt, e<strong>in</strong> +<strong>fatal</strong>es* Ordnungsstreben,<br />

fixierte sich auf e<strong>in</strong>e absolutistische, E<strong>in</strong>deutigkeit (er)for<strong>der</strong>nde +Objektivität* (das heißt, sie<br />

bestand auf <strong>der</strong> Universalität getroffener Aussagen und standpunktunabhängiger Wahrheit).


358 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

In ihrer Fortbewegung unterm<strong>in</strong>ierte sie jedoch diese Ordnung, denn <strong>in</strong> ihrer ebenso angstge-<br />

schuldeten Vehemenz richtete sie sich schließlich gegen ihre eigenen Grundlagen – und rief<br />

Gefährdungen hervor, <strong>der</strong>en +Objektivität* (d.h. gegenständliche Erfahrbarkeit) die reflexive<br />

(Selbst-)Objektivierung <strong>der</strong> (zweiten) Mo<strong>der</strong>ne (nämlich, daß diese sich selbst zum Gegenstand<br />

ihrer Betrachtungen macht) hervorbr<strong>in</strong>gt. Die Betonung dieses +objektiven* Moments reflexiver<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung ist <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>e Vorzug von Becks Theorievariante gegenüber <strong>der</strong> Theorie-<br />

variante von Giddens (dem wie<strong>der</strong>um die Herausstellung <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne gege-<br />

benen +doppelten Hermeneutik* und <strong>der</strong> +Dualität von Struktur*, die nicht nur begrenzt,<br />

72<br />

son<strong>der</strong>n Handlungschancen eröffnet, zugute gehalten werden muß). Beck konzentriert sich<br />

allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Betrachtungen zu eng auf die (Nicht-)Wissens-Seite sowie die Nebenfolgen<br />

des technologischen +Fortschritts* und blendet die +objektive* Problematik <strong>der</strong> restlichen<br />

(sozio-)kulturellen Entwicklung weitgehend aus. Das führt zum e<strong>in</strong>en dazu, daß er die Frage<br />

<strong>der</strong> ästhetischen (und hermeneutischen) Reflexivität, die Scott Lash ergänzend <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gt<br />

(siehe unten) – ebenso wie Giddens – nicht genügend berücksichtig. Zum an<strong>der</strong>en fällt das<br />

nicht ger<strong>in</strong>ge emotionale Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur (<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne) damit tendenziell aus dem<br />

Bezugsrahmen.<br />

Die These vom +Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne schließt selbstverständlich an Freuds<br />

kulturkritische Schriften an (siehe auch nochmals S. XXXIIIf.). Dieser stellt vor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Spätwerk den zwanghaften Charakter <strong>der</strong> Kultur heraus, welche die Menschen (um die not-<br />

wendige Ordnung zu gewährleisten und um das Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen) zu Trieb-<br />

verzichten zw<strong>in</strong>gt, die e<strong>in</strong>e latente Kulturfe<strong>in</strong>dschaft auslösen, auch wenn die e<strong>in</strong>zelnen die<br />

kulturellen Normen (und Formen) +bewußt* bejahen (vgl. Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur; <strong>in</strong>sb.<br />

Abschnitt III). Für Freud ist dieser Zusammenhang zwischen Zwang und Kultur(entwicklung)<br />

e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>er und gesetzmäßiger: Jede Gesellschaft nötigt ihren Mitglie<strong>der</strong>n, um überhaupt<br />

zu e<strong>in</strong>er Gesellschaft werden zu können, Triebverzichte ab, und je +höher* sich e<strong>in</strong>e Kultur<br />

entwickelt, je +zivilisierter* sie ersche<strong>in</strong>t, desto größer s<strong>in</strong>d die E<strong>in</strong>schränkungen <strong>der</strong> Freiheit<br />

und desto strenger und härter muß das <strong>in</strong>dividuelle Über-Ich se<strong>in</strong> (vgl. ebd.; Abschnitt VII).<br />

Dieses +Gesetz* <strong>der</strong> Zivilisation, die nach <strong>in</strong>nen gekehrte, fortschreitende Zunahme ihres<br />

Zwangscharakters – Norbert Elias spricht im Rahmen se<strong>in</strong>er Zivilisationstheorie im Anschluß<br />

an Freud von <strong>der</strong> Umwandlung des Fremdzwangs <strong>in</strong> Selbstzwang (vgl. Der Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation;<br />

Band 2, S. 312ff. und siehe auch S. XXXV) – kann me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach am besten durch


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 359<br />

die treibende Angst und das aus <strong>der</strong> deflexiven Abwehr <strong>der</strong> Angst folgende Kontrollstreben<br />

erklärt werden.<br />

Aber nicht jede kulturelle Dynamik muß sich me<strong>in</strong>es Erachtens aus <strong>der</strong> Angst speisen, und<br />

die Angst kann, wie oben erläutert, im Vorwärtsdrängen <strong>der</strong> von ihr ausgelösten Fluchtbewegung<br />

auch e<strong>in</strong>e ihre +neurotische* Komponente zurückdrängende (reflexive) Dialektik entfalten<br />

– <strong>in</strong>dem sie sich <strong>in</strong> ihrer Steigerung hervorkehrt und damit transformativ reflektiert werden<br />

kann. Dieser Sicht entsprechend hätte also Freud ke<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es +Gesetz* <strong>der</strong> kulturellen<br />

Entwicklung beschrieben, son<strong>der</strong>n nur die spezifische Tendenz <strong>der</strong> zu se<strong>in</strong>er Zeit sich auf<br />

ihrem Höhepunkt bef<strong>in</strong>dlichen Kultur des Rationalismus und des bürgerlichen Kapitalismus<br />

73<br />

offengelegt. Und <strong>der</strong> von Freud herausgearbeitete +Selbsthaß*, den diese auf Kontrolle und<br />

Triebverzichte gegründete Kultur notwendig produziert – Agnes Heller spricht, wie zu Beg<strong>in</strong>n<br />

dieses Abschnitt bemerkt, <strong>in</strong> Anlehnung an Freud von e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne immanenten +Todes-<br />

wunsch* –, verweist zudem auf e<strong>in</strong>e Grenze ihrer Dynamik.<br />

Auf diese (psychologische) Grenze <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, die genau <strong>in</strong> dem von ihrer<br />

zwanghaften (gleichzeitig angstgetriebenen wie die Angst fliehenden) Bewegung hervorgerufenen<br />

Unbehagen liegt, weisen auch Berger, Berger und Kellner h<strong>in</strong>. Jedenfalls besteht laut ihnen<br />

aktuell e<strong>in</strong> Unbehagen, +das direkt o<strong>der</strong> <strong>in</strong>direkt aus <strong>der</strong> technisierten Wirtschaft entstammt,<br />

das dem entstammt, was Max Weber ›Rationalisierung‹ genannt hat. Die Rationalität, die<br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Technologie <strong>in</strong>tr<strong>in</strong>sisch ist, zw<strong>in</strong>gt sich dem Handeln und dem Bewußtse<strong>in</strong><br />

als Kontrolle, Beschränkung und damit als Frustration auf. Irrationale Impulse aller Art werden<br />

fortschreitenden Kontrollen unterworfen […] Das hat e<strong>in</strong>e fortschreitende psychische Spannung<br />

zur Folge […]* (Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität; S. 157) Doch nicht nur die technische<br />

Dynamik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und die Rationalisierung lösten e<strong>in</strong> Unbehagen aus. Auch die daran<br />

anschließende +Entbettung* <strong>der</strong> Beziehungen schlägt auf das <strong>in</strong>dividuelle Bewußtse<strong>in</strong> zurück<br />

und erzeugt – worauf ja auch Bauman (allerd<strong>in</strong>gs eher die Chancen dieses Entfremdungsprozesses<br />

betonend) h<strong>in</strong>wies – e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> +Heimatlosigkeit*: +Der [auf sich verwiesene] e<strong>in</strong>zelne<br />

wird nicht nur durch S<strong>in</strong>nlosigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Arbeit bedroht, son<strong>der</strong>n auch durch den<br />

S<strong>in</strong>nverlust <strong>in</strong> weiten Bereichen se<strong>in</strong>er Beziehungen zu an<strong>der</strong>en Menschen.* (Ebd.)<br />

Berger et al. sehen <strong>in</strong> dieser umfassenden +Entwurzelung*, die geeignet ist, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewegung<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ebenso verdeckte wie fortgeschriebene Angst noch zu steigern, die Quelle für<br />

gegenmo<strong>der</strong>ne wie entmo<strong>der</strong>nisierende Tendenzen (vgl. ebd.; Kap. 7 u. 9) – e<strong>in</strong>e Gefahr


360 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

die auch ich schon oben angedeutet habe (siehe S. 351) und die ebenfalls Ulrich Beck als<br />

mögliche +Nachtseite* <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>nisierung herausgearbeitet hat (vgl. Die Erf<strong>in</strong>dung<br />

74<br />

des Politischen; Kap. IV). Doch das e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> ihrer Bewegung verbreitete und verankerte<br />

mo<strong>der</strong>ne Bewußtse<strong>in</strong> ist nicht so e<strong>in</strong>fach aus <strong>der</strong> Welt zu schaffen, und die soziale Realität<br />

<strong>der</strong> Gegenwart erfor<strong>der</strong>t +mo<strong>der</strong>ne*, d.h. ihrer Komplexität angemessene Institutionen (vgl.<br />

Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität; Kap. 10).<br />

Die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne läßt sich also (aufgrund ihrer +objektiven* Problematik) we<strong>der</strong><br />

75<br />

e<strong>in</strong>fach fortführen noch kann sie (aufgrund ihres +Momentum*) umgekehrt werden. Deshalb<br />

muß die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ihren deflexiven Charakter abstreifen und reflexiven Charakter<br />

annehmen, um nicht an ihren Wi<strong>der</strong>sprüchen zu scheitern. Dazu muß sie sich ihre regressiven<br />

+Ursprünge* bewußt machen und die oft nur latenten Wi<strong>der</strong>sprüche +entfalten*, anstatt sie<br />

zu ignorieren und abzulenken. Nur so kann das Zwanghafte ihres Vorwärtsstrebens überwunden<br />

werden. +Subjektivität* und +Objektivität* – als die antagonistischen Momente ihrer dialektischen<br />

Bewegung – müssen sich, um diese Möglichkeit zu +realisieren*, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Verhältnis <strong>der</strong> +friedlichen<br />

Koexistenz* setzen. Das Beson<strong>der</strong>e muß aus <strong>der</strong> Umklammerung durch das Allgeme<strong>in</strong>e befreit<br />

werden, darf aber nicht wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong> Allgeme<strong>in</strong>es werden. Genau dieses (problematische)<br />

Spannungsfeld zwischen Allgeme<strong>in</strong>em und Beson<strong>der</strong>em ist es, was Scott Lash als ästhetische<br />

Dimension reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung bezeichnet hat:<br />

Für Lash stehen Beck und Giddens mit ihrer Konzentration auf kognitive Reflexivität <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

positivistischen Tradition, während er selbst sich eher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>terpretativ-hermeneutisch<br />

76<br />

geprägten Kontext verortet. Deshalb wendet er sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Analysen auch <strong>der</strong> ästhetischen<br />

bzw. hermeneutischen Reflexivität, d.h. den immer zentraler werdenden selbst<strong>in</strong>terpretativen<br />

Prozessen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft zu. Unter Bezugnahme auf Kant stellt er klar:<br />

+Kognitiv <strong>in</strong>terpretative Reflexivität geht, wie Kants moralisches und Verstandesurteil, von <strong>der</strong> Unterordnung<br />

des Objekts unter die Herrschaft des Subjekts, von <strong>der</strong> Beherrschung <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz durch die Ordnung<br />

aus. E<strong>in</strong> ästhetisches Verständnis von Reflexivität stellt diese Unterordnung hermeneutisch <strong>in</strong> Frage. Aus<br />

Kontrolle und Beobachtung wird Interpretation durch e<strong>in</strong> Subjekt, das sich die Objekte nur zum Teil<br />

und auch nur vielleicht unterordnen kann […] Hermeneutische Reflexivität ähnelt [damit] dem Kantischen<br />

ästhetischen Urteil.* (Ästhetische Dimension Reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 266f.)<br />

In e<strong>in</strong>em neueren Aufsatz unterscheidet Lash allerd<strong>in</strong>gs stärker zwischen ästhetischer und<br />

hermeneutischer Reflexivität, und er lehnt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ästhetikkonzept auch eher an Adorno


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 361<br />

an, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Spätwerk immer mehr vom begrifflichen Denken abrückte und dagegen<br />

das mimetische, +e<strong>in</strong>fühlende* Element <strong>der</strong> (konkreten) S<strong>in</strong>nlichkeit hervorhob, die dem<br />

Beson<strong>der</strong>en, dem Nichtidentischen und <strong>der</strong> Differenz – an<strong>der</strong>s die vere<strong>in</strong>heitlichende Allge-<br />

me<strong>in</strong>heit des Begrifflichen – ihren Raum zugesteht (vgl. Reflexivität und ihre Doppelungen;<br />

77<br />

S. 235ff.). Das Allgeme<strong>in</strong>e muß also im Blick auf das Beson<strong>der</strong>e h<strong>in</strong> (und vom Beson<strong>der</strong>en<br />

ausgehend) reflektiert werden (ästhetische Reflexivität). An<strong>der</strong>erseits benötigt Geme<strong>in</strong>schaft,<br />

78<br />

wie Lash unter Bezugnahme auf den kommunitaristischen Diskurs aufweist, geteilte S<strong>in</strong>nbezüge,<br />

um <strong>der</strong>en +Teilung* allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne, die die traditionalen Selbstverständlich-<br />

keiten verabschiedet hat, (dialogisch) gerungen werden muß (hermeneutische Reflexivität).<br />

Und <strong>in</strong> diesem Verständigungsprozeß spielt wie<strong>der</strong>um das Ästhetische e<strong>in</strong>e zunehmend bedeu-<br />

tende Rolle:<br />

+Geme<strong>in</strong>schaft ist […] vor allem e<strong>in</strong>e Angelegenheit geme<strong>in</strong>samer Bedeutungen. Damit stellt sich die<br />

Frage, ob e<strong>in</strong>e reflexive Geme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong> unseren raum-zeitlich distanzierten Gesellschaften, <strong>in</strong> denen<br />

Bedeutung per def<strong>in</strong>itionem entleert ist, möglich ist. Vielleicht ist <strong>der</strong> Ort, an dem man H<strong>in</strong>weise auf<br />

e<strong>in</strong>e Antwort f<strong>in</strong>den könnte, wie Bedeutung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne möglich ist, [deshalb] das Reich des Ästhe-<br />

tischen.* (S. 276)<br />

Allerd<strong>in</strong>gs f<strong>in</strong>det die ästhetische Bedeutungssuche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von <strong>der</strong> symbolischen Macht<br />

<strong>der</strong> globalen Kultur<strong>in</strong>dustrie geprägten sozialen Raum statt, die die Informations- und Kommuni-<br />

kationsstrukturen bestimmend prägt (vgl. ebd.; S. 211f. sowie <strong>der</strong>s./Urry: Economies of Signs<br />

and Space). Lash, dessen H<strong>in</strong>weis auf die ästhetische (und hermeneutische) Dimension reflexiver<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag zur Diskussion darstellt, ist damit eher skeptisch,<br />

wenn Autoren wie Fredric Jameson das Ästhetische als potentielles E<strong>in</strong>fallstor des (nicht-<br />

identischen) Wi<strong>der</strong>stands <strong>in</strong> <strong>der</strong> +ästhetisierten*, symbolisch +verd<strong>in</strong>glichten* Kultur <strong>der</strong> spätkapita-<br />

listischen (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne betrachten (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Zur Logik <strong>der</strong> Kultur im Spätkapitalismus<br />

und siehe auch hier S. LVIIIf.). E<strong>in</strong>e Skepsis, die berechtigt ist – wobei allerd<strong>in</strong>gs auch Jameson<br />

durchaus e<strong>in</strong> kritisches Bewußtse<strong>in</strong> an den Tag legt und nicht nur die +Flachheit* <strong>der</strong> Kultur<br />

<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne herausstellt, son<strong>der</strong>n ebenso auf die Gefahren e<strong>in</strong>er zu engen lokalen Fixierung<br />

<strong>der</strong> neuen (ästhetisch +angestoßenen*) Basispolitik verweist (siehe Abschnitt 5.2.2). Reflexion<br />

– egal ob auf kognitiver o<strong>der</strong> ästhetischer und hermeneutischer Ebene – kann also auch<br />

+beschränkt* bleiben, und so ist es angebracht, sich noch e<strong>in</strong>mal näher mit den (sub)politischen<br />

Wi<strong>der</strong>standspotentialen <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne zu beschäftigen.


362 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

5.2 DIE BE- UND ENTGRENZUNG DER POLITIK DURCH DIE METAPOLITISCHE SUB-<br />

POLITIK UND DIE KORRELIERENDE GEFAHR EINER DIFFUSION UND ZERSPLITTERUNG<br />

DES POLITISCHEN<br />

Die Reflexivität <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart radikalisierten und damit immer deutlicher <strong>in</strong> ihrer<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit offenbar gewordenen Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, ihre +objektive* Problematik,<br />

die sie auf sich selbst verweist und verwirft, br<strong>in</strong>gt subjektive Reflexionen ihrer +materiellen*<br />

Grundlagen wie ihrer <strong>in</strong>stitutionellen Strukturen hervor. Die Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> (post)mo<strong>der</strong>nen<br />

Ordnung (die <strong>in</strong> Kapitel 3 auf allgeme<strong>in</strong>er Ebene herausgearbeitet und mit dem Fallbeispiel<br />

<strong>in</strong> Kapitel 4 auch konkret veranschaulicht wurden) treiben somit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e reflexive Politisierung.<br />

Diese, allerd<strong>in</strong>gs eher untergründige Politisierung ist +ortlos* und zugleich ubiquitär, denn<br />

sie betrifft die gesamte gesellschaftliche Sphäre. Sie ist deshalb we<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em spezifischen<br />

sozialen +Teilsystem* zuzuordnen noch <strong>in</strong>stitutionell festzumachen. In ihrer +Haltlosigkeit*<br />

erfaßt und bedrängt die untergründige Politisierung <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne jedoch auch das<br />

<strong>in</strong>stitutionelle System <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> – gerade <strong>in</strong>dem sie es umgeht (und ihm damit den legi-<br />

timatorischen Boden entzieht) und <strong>in</strong>dem sie se<strong>in</strong>e festgefahrenen Strukturen wie se<strong>in</strong>e<br />

funktionale +Beschränktheit* h<strong>in</strong>terfragt.<br />

Diese H<strong>in</strong>terfragung und Untergrabung <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong> durch e<strong>in</strong>e diffuse Subpolitik<br />

stellt e<strong>in</strong>e +<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (Beck), e<strong>in</strong>e Meta- und Superpolitik dar – denn sie (re)politisiert<br />

die strukturell verfestigten Selbstverständlichkeiten des politischen Systems, se<strong>in</strong>e Grenzziehungen<br />

und Semantik (siehe Abschnitt 5.2.1). Sie br<strong>in</strong>gt die Bedürfnisse <strong>der</strong> Individuen und ihre (reflexiv<br />

hervorgekehrten) Selbstverwirklichungsansprüche, die an den Limitierungen <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionell-<br />

bürokratischen Vorgaben abprallen, gegen die verselbständigte – und doch +kurzgeschlossene*<br />

– Logik <strong>der</strong> zunehmend sozial entbetteten (Teil-)Systeme <strong>in</strong>s Spiel. Das Beson<strong>der</strong>e des eigenen<br />

Lebens steht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Subpolitik dem (abstrakten) Allgeme<strong>in</strong>en (<strong>der</strong> Systeme) gegenüber – schafft<br />

aber auch e<strong>in</strong>en neuen Bezug auf das (konkrete) Allgeme<strong>in</strong>e (als geteilte Sozial- und Lebens-<br />

sphäre), <strong>in</strong>dem das reflexive Subjekt erkennt, daß se<strong>in</strong>e Selbst-Verwirklichung immer nur<br />

<strong>in</strong> Bezug auf +die an<strong>der</strong>en* und die Welt, se<strong>in</strong>e soziale wie materielle Umwelt +S<strong>in</strong>n* macht.<br />

Damit gerät potentiell alles <strong>in</strong> den Sog <strong>der</strong> subpolitischen Selbst-<strong>Politik</strong>, und es kommt zu<br />

e<strong>in</strong>er +totalen* Politisierung des sozialen Lebens.<br />

Doch die, an sich bereits ambivalente, +totale* Politisierung ist nur die e<strong>in</strong>e Seite, stellt nur<br />

e<strong>in</strong>e Möglichkeit dar, wie durch die Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne angestoßene (Sub-)Politisierungs-


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 363<br />

prozesse sich äußern können. Subpolitik sprengt nämlich nicht nur tendenziell den Rahmen<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong> und def<strong>in</strong>iert das Politische neu. In ihrer entgrenzten Diffusität<br />

und ihrer Selbst-Bezogenheit ist sie ebenso wie die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> +beschränkt*<br />

und tendiert zu e<strong>in</strong>er (positiv wie negativ zu begreifenden) Fixierung auf +Randprobleme*<br />

und E<strong>in</strong>zelfragestellungen. Sie ist <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht auch Nicht-<strong>Politik</strong> (siehe Abschnitt 5.2.2),<br />

da sie somit ke<strong>in</strong>en wirklich +umfassenden* sozial-politischen Horizont besitzt. Und wenn<br />

es um e<strong>in</strong>schneidende Verän<strong>der</strong>ungen geht, macht Subpolitik zudem nur allzu oft vor den<br />

Grenzen <strong>der</strong> +echten* <strong>Politik</strong> Halt macht, scheut die radikalen Konsequenzen e<strong>in</strong>er +System-<br />

revolution*. Im folgenden soll deshalb e<strong>in</strong> kritischer Blick auf Subpolitik und ihr politisches<br />

Potential geworfen werden.<br />

5.2.1 SUBPOLITIK ALS METAPOLITIK<br />

Subpolitik ist allgegenwärtig und doch ungreifbar, entzieht sich dem +systematischen* Zugriff.<br />

Sie ist untergründige Realität und ortlose Utopie. Sie ist diffus und +nomadisch*, <strong>in</strong> ihren<br />

Formen vielgestaltig und verspielt, und doch zuweilen von e<strong>in</strong>em +tödlichen* Ernst geprägt.<br />

Subpolitik, das ist <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuelle Entschluß, lieber auf den kollektiven Fetisch +Auto* zu<br />

verzichten, wie <strong>der</strong> neotribalistische Protest gegen +Atomtransporte*. Sie f<strong>in</strong>det auf öffentlichen<br />

Plätzen, genauso aber <strong>in</strong> den Räumen des Privaten statt. Ihr konnektives, +rhizomatisches*<br />

Netzwerk (siehe unten) schafft horizontale Querverb<strong>in</strong>dungen und durchdr<strong>in</strong>gt die gesamte<br />

soziale Sphäre. Sie ist <strong>der</strong> Ausdruck und die Stimme des Verdrängten, Unbewußten, kehrt<br />

es hervor und gibt ihm Raum. Sie ist die Stimme <strong>der</strong> Vielheit gegen die Vere<strong>in</strong>heitlichung.<br />

Subpolitik ist haltlos und entgrenzt. Sie ist subversiv und anarchisch, und sie ist so umfassend<br />

wie s<strong>in</strong>gulär. In ihrer Entgrenzung breitet sie sich bis h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> das hierarchische System <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> aus, h<strong>in</strong>terfragt es und schränkt se<strong>in</strong>e Handlungsmöglichkeiten e<strong>in</strong>.<br />

Sie ist das an<strong>der</strong>e <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und zugleich e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e <strong>Politik</strong>.<br />

In ihrer +An<strong>der</strong>sheit* ist Subpolitik immer auch von sich selbst verschieden; sie ist unberechenbar,<br />

greift +beliebige* Themen auf und taucht +unvermittelt* aus ihrem (Lebens-)Untergrund auf<br />

<strong>der</strong> (Medien-)Oberfläche <strong>der</strong> (politischen) Öffentlichkeit auf. Ihr Netz entspricht e<strong>in</strong>em mikro-<br />

politischen +Rhizom*. E<strong>in</strong> +Rhizom* (1976) ist nach Gilles Deleuze und Félix Guattari durch<br />

die Pr<strong>in</strong>zipen <strong>der</strong> Konnexion, <strong>der</strong> Heterogenität und <strong>der</strong> Vielheit geprägt (vgl. S. 11ff.). +Im


364 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verb<strong>in</strong>det das [subjekt- und objektlose] Rhizom<br />

e<strong>in</strong>en beliebigen Punkt mit e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en […] Es ist we<strong>der</strong> das Viele, das vom E<strong>in</strong>en abgeleitet<br />

wird, noch jenes Viele, zu dem das E<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>zugefügt wird […] Es besteht nicht aus E<strong>in</strong>heiten,<br />

son<strong>der</strong>n aus Dimensionen.* (Ebd.; S. 34) Es stellt also im Gegensatz zur Wurzel e<strong>in</strong>e unkon-<br />

trollierbare Wucherung dar, die auch Brüche nicht scheuen muß, son<strong>der</strong>n von diesen unbe-<br />

e<strong>in</strong>druckt weiter wuchert, sich se<strong>in</strong>e eigenen Wege sucht und transversale Verb<strong>in</strong>dungen<br />

zwischen dem sche<strong>in</strong>bar Inkompatiblen herstellt (vgl. ebd; S. 16ff.). Und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wildwuchs<br />

produziert es, wie schon oben angemerkt, das Unbewußte, kehrt die verdrängten Wünsche<br />

und Begierden (<strong>der</strong> Individuen) hervor, statt sie zu verdecken und (rational) zu beherrschen<br />

(vgl. ebd.; S. 29). Das untergründige Netzwerk des Rhizoms ist damit im dargelegten S<strong>in</strong>n<br />

reflexiv: Es verschafft den latenten Triebkräften und Wi<strong>der</strong>sprüchen Ausdruck, setzt sie <strong>in</strong><br />

(gegenseitigen) Bezug zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und praktiziert e<strong>in</strong>e unvere<strong>in</strong>nahmbare (+ästhetische*) <strong>Politik</strong><br />

des Beson<strong>der</strong>en und des Differenten.<br />

Jean-François Lyotard spricht von ähnlichen Vorstellungen geleitet von e<strong>in</strong>em +Patchwork<br />

<strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten* (1977) und plädiert für e<strong>in</strong>e +herrenlose* <strong>Politik</strong>, <strong>der</strong>en Ort die Wirklichkeit<br />

des täglichen Lebens ist. +Diese Wirklichkeit ist nicht wirklicher als die <strong>der</strong> Macht, <strong>der</strong> Institu-<br />

tionen, des Vertrags usw., sie ist ebenso wirklich; sie ist jedoch m<strong>in</strong>oritär und deshalb zwangs-<br />

läufig vielförmig und vielfältig, o<strong>der</strong>, wenn e<strong>in</strong>em das lieber ist, immer e<strong>in</strong>zeln, e<strong>in</strong>zigartig<br />

und s<strong>in</strong>gulär.* (S. 9f.) Die Subversion des Vielfältigen ersetzt damit die vere<strong>in</strong>heitlichende<br />

Negation <strong>der</strong> klassischen (Massen-)Bewegungen. +Was sich abzeichnet ist e<strong>in</strong>e (noch zu defi-<br />

nierende) Gruppe von heterogenen Räumen, e<strong>in</strong> großes patchwork [!] aus lauter m<strong>in</strong>oritären<br />

S<strong>in</strong>gularitäten.* (Ebd.; S. 37) Die großen E<strong>in</strong>heiten <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (<strong>der</strong> Staat, die Nation, die<br />

+Imperien* des Liberalismus wie des Sozialismus) zerfallen, aber +wichtige neue Gruppierungen<br />

treten auf, die <strong>in</strong> den offiziellen Registern bisher nicht geführt wurden: Frauen, Homosexuelle,<br />

Geschiedene, Prostituierte, Enteignete, Gastarbeiter…; je stärker sich die Kategorien vermehren,<br />

desto komplizierter und schwerfälliger wird <strong>der</strong>en zentralisierte Verwaltung; dann wächst<br />

die Tendenz, se<strong>in</strong>e Geschäfte selbst <strong>in</strong> die Hand zu nehmen, ohne all die Vermittlungen<br />

des ZENTRUMS zu passieren […]* (Ebd.; S. 38f.)<br />

Lyotard kommt mit dieser +Vision* e<strong>in</strong>es peripheren Patchworks <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten sehr nahe<br />

an das Konzept <strong>der</strong> Subpolitik heran, so wie es von Ulrich Beck im Kontext se<strong>in</strong>er oben noch-<br />

mals <strong>in</strong> ihren Grundzügen dargelegten Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung geprägt wurde. E<strong>in</strong>ige


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 365<br />

Bemerkungen zur Subpolitik erfolgten nicht nur dort, son<strong>der</strong>n bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung (siehe<br />

S. 55f.) sowie <strong>in</strong> Abschnitt 2.5. Trotzdem möchte ich Beck hier noch e<strong>in</strong>mal kurz +zu Wort<br />

kommen* lassen: Dieser stellt (auf Rousseaus Unterscheidung Bezug nehmend) dar, daß es<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – nicht nur theoretisch, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong>stitutionell-praktisch – zu e<strong>in</strong>er Trennung<br />

zwischen politischem Citoyen und dem homo oeconomicus des Bourgeois gekommen sei<br />

(vgl. Risikogesellschaft; S. 301). Jene (funktionale) Trennung bewirkte zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e +Fixierung<br />

auf das politische System als exklusives Zentrum <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (ebd. S. 307), <strong>der</strong> aber an<strong>der</strong>erseits<br />

aktuell e<strong>in</strong> gravieren<strong>der</strong> Bedeutungsverlust des Parlaments (als se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>stitutionellen Kern)<br />

entgegensteht.<br />

Die politische Macht (die soziale Wirklichkeit zu gestalten) ist nämlich durch die zunehmende<br />

Reflexivität des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses abgewan<strong>der</strong>t <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e Bereiche, und die klare<br />

Scheidung von <strong>Politik</strong> und Nichtpolitik ist somit aufgehoben (vgl. ebd.; S. 302f.). Die Hand-<br />

lungsspielräume <strong>der</strong> +offiziellen* <strong>Politik</strong> werden durch diese Entgrenzung des Politischen e<strong>in</strong>-<br />

geschränkt. Nicht nur haben technische und ökonomische Entscheidungen zunehmend poli-<br />

tischen Charakter, weil sie Folgen für die Allgeme<strong>in</strong>heit haben, auch <strong>in</strong>dividuelle (An-)Rechte<br />

und immer nachdrücklicher formulierte Ansprüche auf politische Partizipation schränken den<br />

Freiraum des politischen Systems e<strong>in</strong>, so daß sich zugespitzt formulieren läßt: +Das Politische<br />

wird unpolitisch und das Unpolitische politisch.* (Ebd.; S. 305) Entsprechend folgert Beck:<br />

+Das ›Gesetz‹ <strong>der</strong> funktionalen Differenzierung wird durch Entdifferenzierungen (Risikokonflikte<br />

und Kooperationen, Moralisierung von Produktion, Ausdifferenzierung von Subpolitik) unterlaufen<br />

und außer Kraft gesetzt.* (Ebd.; S. 369) +<strong>Politik</strong> ist nicht länger <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Ort o<strong>der</strong> auch<br />

nur <strong>der</strong> zentrale Ort, an dem über die Gestaltung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Zukunft entschieden<br />

wird […] Alle Zentralisationsvorstellungen stehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em umgekehrt proportionalen Verhältnis<br />

zum Grad <strong>der</strong> Demokratisierung e<strong>in</strong>er Gesellschaft.* (Ebd.; S. 371)<br />

Subpolitik ist also <strong>der</strong> Ausdruck e<strong>in</strong>er Entmachtung <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong>, aber auch e<strong>in</strong>er<br />

reflexiven Demokratisierung, e<strong>in</strong>er neuen +alltagspraktischen* politischen Kultur des Zweifels<br />

auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> risikobewußten Aktivierung <strong>der</strong> Bürger, wobei <strong>der</strong>en kritische H<strong>in</strong>ter-<br />

fragungen <strong>der</strong> Grundlagen des Systems notwendig s<strong>in</strong>d, um mit dem Risikopotential <strong>der</strong> (post)-<br />

<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft fertig werden zu können (vgl. ebd.; S. 317ff. sowie Das Zeitalter<br />

<strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 69ff.). Es kommt damit <strong>in</strong> <strong>der</strong> reflexiven<br />

Mo<strong>der</strong>ne nach Beck ke<strong>in</strong>eswegs zu e<strong>in</strong>er Entpolitisierung, son<strong>der</strong>n vielmehr zu e<strong>in</strong>er +Renaissance


366 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (1994) bzw. zu e<strong>in</strong>er neuen +Erf<strong>in</strong>dung des Politischen* (1993). An<strong>der</strong>erseits: Mit<br />

se<strong>in</strong>er Betonung des (radikalen) Zweifels als Grundpr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne und ihrer<br />

metapolitischen Subpolitik – e<strong>in</strong>es Zweifels allerd<strong>in</strong>gs, <strong>der</strong> nicht, wie bei Descartes, <strong>der</strong> Suche<br />

nach Gewißheit entspr<strong>in</strong>gt, son<strong>der</strong>n, wie im Skeptizismus Montaignes, e<strong>in</strong>em +antiautoritären*<br />

Impuls folgt (vgl. auch ebd.; S. 252ff.) – offenbart Beck sich als geradezu +klassisch* mo<strong>der</strong>ner<br />

(Fortschritts-)Denker. Und e<strong>in</strong> zum Pr<strong>in</strong>zip erhobener Zweifel ist, wie die Angst, ruhelos und<br />

+zwanghaft*. In se<strong>in</strong>er (Montaignes ebenso skeptischem wie gelassenem +Pragmatismus* tat-<br />

sächlich kaum entsprechenden) Radikalität untergräbt er eventuell auch die eigenen Grundlagen:<br />

nämlich die notwendige +authentische* (d.h. +selbstbewußte*) Basis <strong>der</strong> kritischer Reflexion<br />

(siehe auch Schlußexkurs). Er ist nicht nur Subversion, son<strong>der</strong>n – solchermaßen +verabsolutiert*<br />

– auch Subord<strong>in</strong>ation (unter das Pr<strong>in</strong>zip des Zweifels).<br />

Gemäß Giddens ist dagegen selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne (<strong>in</strong>sofern sie<br />

fähig ist, die Individuen e<strong>in</strong>zub<strong>in</strong>den) e<strong>in</strong> Moment des (zweifellosen) Vertrauens vorhanden:<br />

Dieses Moment des Vertrauens äußert sich z.B. dar<strong>in</strong>, daß man, ohne über potentielle Risiken<br />

zu reflektieren, allmorgendlich <strong>in</strong> die U-Bahn steigt o<strong>der</strong> sich darauf verläßt, daß e<strong>in</strong>e Über-<br />

weisung +ankommt*. Ohne solches Vertrauen, das e<strong>in</strong>erseits auf dem <strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong>dheit erworbenen<br />

+Urvertrauen* aufbaut (vgl. Erikson: Identität und Lebenszyklus; S. 62ff. sowie W<strong>in</strong>nicott: Reifungs-<br />

prozesse und för<strong>der</strong>nde Umwelt; S. 62ff.) und an<strong>der</strong>erseits durch die alltäglichen Rout<strong>in</strong>en<br />

79<br />

e<strong>in</strong>e Verankerung im +praktischen Bewußtse<strong>in</strong>* f<strong>in</strong>det, könnten auch die abstrakten Systeme<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne nicht bestehen. Vertrauen ist zwar, wie bereits oben dargestellt wurde, heute<br />

weniger selbstverständlich als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit, muß aber trotzdem gegeben se<strong>in</strong> (bzw.<br />

hergestellt werden). E<strong>in</strong> totaler und beständiger Zweifel am Funktionieren <strong>der</strong> abstrakten Systeme<br />

– sowohl <strong>der</strong> Expertensysteme wie <strong>der</strong> symbolischen Tauschmittel – würde die Grundlagen<br />

<strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne sprengen, was gemäß Giddens <strong>fatal</strong> wäre. (Vgl. Consequences<br />

of Mo<strong>der</strong>nity; S. 79–111 sowie Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity: S. 35–47 und S. 133ff.)<br />

Die von ihm ausgemachte neue lebens(weltliche) <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne (siehe auch<br />

80<br />

S. 56f.) ist deshalb weniger +radikal* <strong>in</strong> ihrer Systemh<strong>in</strong>terfragung als Becks Subpolitik. Trotzdem<br />

ist sie +metapolitisch*, <strong>in</strong>dem sie – aus dem Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Gefährdungen und<br />

Dilemmata heraus – globale Fragen aufgreift und damit die (national fixierte) <strong>in</strong>stitutionelle<br />

<strong>Politik</strong> transzendiert. Die Risiken und Freiheiten <strong>der</strong> entfalteten Mo<strong>der</strong>ne erzeugen nämlich<br />

+schicksalhafte Momente* (fateful moments), <strong>in</strong> denen Entscheidungen getroffen werden müssen,


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 367<br />

die weitreichende persönliche und soziale Konsequenzen haben. In diesen schicksalhaften<br />

Momenten wird das Selbst sich se<strong>in</strong>er und se<strong>in</strong>er sozialen Verantwortung bewußt, <strong>in</strong>dem<br />

es auf die eigene Entscheidungskompetenz verwiesen wird und die Risiken und Chancen<br />

se<strong>in</strong>er Entscheidungen abwägen muß (vgl. ebd.; S. 112ff.). Genau diese ambivalente Verwiesen-<br />

heit des Selbst auf sich selbst erzeugt das neuartige Phänomen <strong>der</strong> +life politics*.<br />

Unter Rekurs auf Theodore Roszak, <strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er subversiven politischen Kraft des Persönlichen<br />

81<br />

spricht (vgl. Person/Planet; S. XXVIII), betont auch Giddens dabei den subversiven Charakter<br />

<strong>der</strong> lebens(weltlichen) <strong>Politik</strong> – wobei für ihn jedoch <strong>der</strong>en reflexives Selbst-Projekt nicht<br />

schon an sich subversiv ist. Subversiv s<strong>in</strong>d vielmehr die aktuellen Transformationen des Sozialen,<br />

die von ihr nur gespiegelt werden: also die soziale Entbettung durch abstrakte Systeme o<strong>der</strong><br />

Globalisierungsprozesse etc. (vgl. Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity; S. 209 und siehe ebenso oben).<br />

Unter dem E<strong>in</strong>fluß dieser weitreichenden Verän<strong>der</strong>ungen im Gefüge <strong>der</strong> (Hoch-)Mo<strong>der</strong>ne<br />

wird auch <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuelle Lebensstil und sogar <strong>der</strong> Umgang mit dem (eigenen) Körper zu<br />

82<br />

e<strong>in</strong>er (hoch) politischen Frage (vgl. ebd.; S. 214–220). Deshalb hat lebens(weltliche) <strong>Politik</strong><br />

automatisch e<strong>in</strong>e globale Dimension, und moralische Fragen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konzentration auf<br />

die ökonomisch-technische Entfaltung vorübergehend verdeckt wurden, gew<strong>in</strong>nen wie<strong>der</strong><br />

an Brisanz (vgl. ebd.; 220–231).<br />

Diese neue Brisanz von (globalen) moralischen Fragen läßt sich beispielsweise an <strong>der</strong> Verfassungs-<br />

debatte anläßlich <strong>der</strong> deutschen Wie<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>igung ablesen, wo (angeregt durch die Ökolo-<br />

giebewegung) die letztendlich sogar durchgesetzte For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> Festschreibung e<strong>in</strong>es<br />

Staatsziels +Umweltschutz* erhoben wurde – e<strong>in</strong>e Staatszielbestimmung, die für Bernd Guggen-<br />

berger angesichts <strong>der</strong> globalen ökologischen Gefährdung mehr als berechtigt ist, denn +die<br />

Welt ist, erstmals, als ganze gefährdet […] Wollen wir sie bewahren, müssen wir sie als ganze<br />

bewahren. Zur Ökologie gibt es ebensowenig Alternativen wie zur Globalität.* Deshalb muß<br />

das +Denken [wie die Praxis] über die Gegenwart h<strong>in</strong>aus; und […] über den Staat h<strong>in</strong>aus*<br />

(Globalität und Zukunft; S. 27).<br />

Mit dieser Feststellung, die Guggenberger mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>er weiteren, sowohl<br />

ökologisch-lebensweltlichen wie weltgeme<strong>in</strong>schaftlichen +Aufstockung* des Verfassungsstaats<br />

verb<strong>in</strong>det, knüpft er an Gedanken an, die er zusammen mit Claus Offe schon Mitte <strong>der</strong> 80er<br />

83<br />

Jahre (also etwa zeitgleich zu Becks +Risikogesellschaft*) entwickelt hat: Im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Gefährdungsdimension <strong>der</strong> Umweltproblematik steht die klassische Mehrheitsdemokratie


368 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

an ihrer Grenze und e<strong>in</strong>e neue +<strong>Politik</strong> aus <strong>der</strong> Basis* entdeckt – nachdem Frieden, Freiheit,<br />

Gleichheit und Brü<strong>der</strong>lichkeit zum<strong>in</strong>dest auf <strong>der</strong> formalen Ebene des demokratischen Rechts-<br />

und Wohlfahrtsstaats weitgehend verwirklicht wurden – die Umwelt- und Lebensrechte wie<strong>der</strong><br />

(vgl. dort S. 14 und siehe ebenso hier S. 201f.).<br />

Auch die empirische <strong>Politik</strong>forschung muß angesichts <strong>der</strong> bereits erfolgten Transformation<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die subpolitische Herausfor<strong>der</strong>ung und aufgrund <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Wand-<br />

lungsprozesse des Sozialen lernen, mit neuen (ambivalenten) Kategorien zu +rechnen*. Claus<br />

Leggewie etwa spricht von +Fuzzy Politics* (1994) und stellt fest: +Ethnisch-kulturelle Fraktale<br />

[…] überlagern die Flächendimension politischer E<strong>in</strong>heiten; an ihrer Stelle gew<strong>in</strong>nen ›immate-<br />

rielle‹ Demarkationsl<strong>in</strong>ien an Bedeutung, die sich auf ›unsichtbare‹, aber nicht weniger reale<br />

Grenzen beziehen.* (S. 124) Diese subpolitischen, nicht im gängigen Koord<strong>in</strong>atensystem <strong>der</strong><br />

Parteienlandschaft abbildbaren +Fraktale* mit ihren neuartigen Abgrenzungen werden durch<br />

Lebensstilmilieus und neotribale Aggregationen (wie Sk<strong>in</strong>s, Punks o<strong>der</strong> Autonome) etc. gebildet.<br />

Sie können (empirisch) nur +erfaßt* werden, wenn von <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Zweiwertigkeit zu e<strong>in</strong>er<br />

polivalenten Logik übergegangen wird (vgl. ebd.; S. 126). Die von <strong>der</strong> Systemtheorie postulierte<br />

b<strong>in</strong>äre Codierung (siehe auch S. 101) wäre jedenfalls mit dem von Leggewie ausgemachten<br />

Phänomen <strong>der</strong> +Fuzzy Politics* endgültig +unpraktikabel* geworden.<br />

Fraglich bleibt allerd<strong>in</strong>gs, <strong>in</strong>wieweit die fraktalisierten +Fuzzy Politics* <strong>der</strong> empirischen +Realität*<br />

tatsächlich e<strong>in</strong>e subpolitische Metapolitik darstellen und ob mit ihrem Auftauchen nicht vielmehr<br />

e<strong>in</strong>e Zersplitterung, e<strong>in</strong>e +M<strong>in</strong>imalisierung* und Diffusion des Politischen stattf<strong>in</strong>det. Dieser<br />

(entpolitisierende) Aspekt von Subpolitisierungsprozessen wird unten noch e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> thema-<br />

tisiert werden. Aus dem Blickw<strong>in</strong>kel des Systems stellt sich h<strong>in</strong>gegen auch die umgekehrte<br />

Frage, mit welchen +Recht*, mit welcher Legitimation Subpolitik <strong>in</strong> die Sphäre <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitu-<br />

tionalisierten <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gt und ihr Grenzen setzt. Obwohl diese Frage hier nicht vertieft<br />

werden soll – denn sie entspricht weitgehend e<strong>in</strong>er zirkulären Kritik, die Subpolitik aufgrund<br />

ihres spezifischen subpolitischen Charakters +diskreditiert* –, ist es s<strong>in</strong>nvoll, sich kurz die<br />

grundsätzliche Ambivalenz e<strong>in</strong>er umfassenden, tatsächlich metapolitischen Subpolitisierung<br />

zu vergegenwärtigen:<br />

Zunächst ist hier auf das (formal)demokratische Defizit <strong>der</strong> Subpolitik zu verweisen. Im Gegensatz<br />

zu den gewählten Repräsentanten können sich subpolitische Akteure oft nur auf ihre +Eigen-<br />

macht* und nicht auf die rechtfertigende Macht <strong>der</strong> (praxologischen) Legitimation durch


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 369<br />

(Wahl-)Verfahren berufen. Es ist zudem unklar, zu welchem Grad die (selbsternannten) sub-<br />

politischen +Sprecher* für die Belange <strong>der</strong> Umwelt und <strong>der</strong> Lebenswelt tatsächlich für an<strong>der</strong>e<br />

sprechen und handeln (dürfen/können/sollen). Die (vor-)politische +Masse* verharrt schließlich<br />

noch zumeist schweigend und passiv. Weiterh<strong>in</strong> ist zu vermuten, daß sich <strong>in</strong> subpolitischen<br />

Netzen rasch <strong>in</strong>formelle Machtstrukturen etablieren, die nur undurchschaubarer s<strong>in</strong>d als jene<br />

des +Systems*, nicht aber weniger ausgeprägt. Und schließlich bot die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne herausgebildete Trennung zwischen dem Bereich <strong>der</strong> Öffentlichkeit und dem Privaten<br />

(siehe Abschnitt 2.4) auch e<strong>in</strong>en Schutz <strong>der</strong> Lebenswelt vor E<strong>in</strong>griffen des +Systems*. Dieser<br />

trennende Schutzwall um das Private wurde bereits durch das Ausgreifen des <strong>in</strong>terventionistischen<br />

Wohlfahrtsstaats durchlöchert. Durch die grenzenlose Politisierung <strong>der</strong> gesamten Sozialsphäre<br />

durch die metapolitische Subpolitik wird er ganz e<strong>in</strong>gerissen. Die Privaträume werden also<br />

+veröffentlicht*, und selbst das eigenste des eigenen Lebens gerät unter subpolitische Recht-<br />

fertigungszwänge. Damit besitzt Subpolitik auch e<strong>in</strong> +totalitäres* Potential und birgt die Gefahr<br />

e<strong>in</strong>er rücksichtslosen Superpolitisierung. Ihre subversive Grenzenlosigkeit schlägt so möglicher-<br />

weise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ebenso +grenzenlose*, lebenspolitische Gewalt um, die – wie die Bewegung<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong>e (neuordnende) tabula rasa zum Ziel hat.<br />

5.2.2 SUBPOLITIK ALS DIFFUSE NICHT-POLITIK<br />

Subpolitik ist Metapolitik, <strong>in</strong>dem sie aus dem Untergrund <strong>der</strong> Lebenswelt heraus e<strong>in</strong>e <strong>Politik</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> betreibt. Sie politisiert aber auch die lebensweltliche Privatheit und kann nicht<br />

nur aufgrund dieser Entgrenzung, wie oben umrissen wurde, durchaus ambivalent beurteilt<br />

werden. Die Ausweitung des Politischen geht notwendig mit se<strong>in</strong>er Diffusion e<strong>in</strong>her. Es verliert<br />

an Trennschärfe und – paradoxerweise – an +Allgeme<strong>in</strong>heit* (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en,<br />

+umfassenden* Bezugs). An<strong>der</strong>erseits: Wenn mit dem Phänomen <strong>der</strong> Subpolitik potentiell<br />

alles zu e<strong>in</strong>er politischen Frage wird, so ist vielleicht auch nichts mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em spezifischen<br />

S<strong>in</strong>n politisch. Es wäre somit zu klären, ob es e<strong>in</strong> spezifisch Politisches <strong>der</strong> Subpolitik gibt<br />

und wor<strong>in</strong> dieses bestände. Denn zweifellos sprengt <strong>der</strong> diffus erweiterte <strong>Politik</strong>begriff <strong>der</strong><br />

Subpolitik übliche Def<strong>in</strong>itionen, die <strong>Politik</strong> eng an die staatliche Sphäre b<strong>in</strong>den. 84<br />

Doch selbstverständlich darf man Subpolitik nicht an den (def<strong>in</strong>itorischen) Maßstäben <strong>der</strong><br />

+klassischen* <strong>Politik</strong> messen. Insofern sie Metapolitik ist, stellt sie schließlich genau <strong>der</strong>en


370 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Selbstverständnis und Selbstverständlichkeiten <strong>in</strong> Frage. Vielleicht ist es – angesichts <strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

Kapitel 1 dargestellten (historischen) Transformationen des <strong>Politik</strong>begriffs – überhaupt <strong>der</strong><br />

falsche Weg, das Politische <strong>in</strong> starre Def<strong>in</strong>ition zu +fassen*. Als M<strong>in</strong>imaldef<strong>in</strong>ition könnte zwar<br />

vielleicht <strong>der</strong> angesprochene Bezug auf die Allgeme<strong>in</strong>heit dienen. Aber gerade wenn man<br />

diese M<strong>in</strong>imaldef<strong>in</strong>ition teilt, müßte man konsequenterweise auch immer das als politisch<br />

ansehen, was allgeme<strong>in</strong> als <strong>Politik</strong> aufgefaßt wird. Diese +pragmatische* Tautologie – <strong>Politik</strong><br />

ist, was als <strong>Politik</strong> gilt – stellt ke<strong>in</strong>en geschlossenen Zirkel dar, son<strong>der</strong>n ermöglicht durchaus<br />

weitergehende Fragen: zum Beispiel die Frage, warum <strong>in</strong> <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne und ihrer<br />

<strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft das Private (zunehmend) politischen Charakter erhält. Diese<br />

Frage führt zurück zur Analyse <strong>der</strong> sozialen Wandlungsprozesse, die <strong>in</strong> den Kapiteln 2 und<br />

3 vorgenommen wurde.<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite kann aber nur e<strong>in</strong> normativer, <strong>in</strong>haltlich aufgefüllter <strong>Politik</strong>begriff als<br />

kritischer Maßstab und Basis <strong>der</strong> Reflexion dienen. Der bloße Verweis auf e<strong>in</strong>en empirischen<br />

Wandel des <strong>Politik</strong>verständnisses erlaubt – so analytisch aufschlußreich er auch se<strong>in</strong> mag<br />

– ke<strong>in</strong>e (theoretische wie praktische) Überschreitung <strong>der</strong> sozialen und politischen Faktizität.<br />

Wenn hier von Subpolitik als Nicht-<strong>Politik</strong> gesprochen wird, so ist <strong>der</strong> Bezugspunkt deshalb<br />

e<strong>in</strong>e bestimmte <strong>in</strong>haltliche Vorstellung von <strong>Politik</strong>. Diese Vorstellung schließt nicht an e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>geengtes Verständnis des Politischen als staatliche Handlungssphäre an. Vielmehr ergibt<br />

sie sich aus <strong>der</strong> +Maximalisierung* <strong>der</strong> M<strong>in</strong>imaldef<strong>in</strong>ition: <strong>Politik</strong> ist nur politisch, wenn sie<br />

(auch im Kle<strong>in</strong>en) den Bezug auf das soziale Ganze bewahrt bzw. (wie<strong>der</strong>) herstellt – und<br />

<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat +totalitär* ist. Auch die subpolitische Mikropolitik müßte dieses<br />

Ganze reflektieren, um <strong>Politik</strong> im eigentlichen, radikalisierten S<strong>in</strong>n zu se<strong>in</strong>. Daß sie diffus<br />

<strong>in</strong> den funktional abgegrenzten (und damit se<strong>in</strong>erseits bereits entpolitisierten) Bereich <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gt, genügt nicht.<br />

Fredric Jameson, <strong>der</strong> sich dem Denken <strong>der</strong> Kritischen Theorie verpflichtet fühlt, verweist im<br />

Rahmen se<strong>in</strong>er Betrachtungen <strong>der</strong> Kultur <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ebenfalls auf dieses Problem <strong>der</strong><br />

Mikro- bzw. Subpolitik. Jene ist für ihn zwar e<strong>in</strong>e typische Ersche<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> spätkapitalistischen<br />

Gegenwart. Doch zum e<strong>in</strong>en ist die oft behauptete Symmetrie <strong>der</strong> neuen (politischen) Kultur<br />

und die Auflösung <strong>der</strong> Klassenstrukturierung durch Individualisierungsprozesse nach ihm nur<br />

85<br />

e<strong>in</strong>e Illusion (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism; S. 318ff.). Zum an<strong>der</strong>en droht die +ausgebreitete* Mikropolitik<br />

sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> +real* festzustellenden Fixierung auf lokale Fragen und Probleme zu verzetteln


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 371<br />

und vollbr<strong>in</strong>gt nicht mehr die von <strong>der</strong> +alten* <strong>Politik</strong> – im Interesse des Systemerhalts – noch<br />

geleistete Koord<strong>in</strong>ationsarbeit. Und so stellt Jameson fest:<br />

+An ol<strong>der</strong> politics sought to coord<strong>in</strong>ate local and global struggles […] Politics works only when these two<br />

levels can be coord<strong>in</strong>ated; they otherwise drift apart <strong>in</strong>to a disembodied and easily bureaucratized abstract<br />

struggle for and around the state, on the one hand, and a properly <strong>in</strong>term<strong>in</strong>able series of neighbourhood<br />

issues on the other, whose ›bad <strong>in</strong>f<strong>in</strong>ity‹ comes, <strong>in</strong> postmo<strong>der</strong>nism, where it is the only form of politics<br />

left […]* (Ebd.; S. 330)<br />

In dieser aktuellen Dom<strong>in</strong>anz e<strong>in</strong>er fragmentisierten +M<strong>in</strong>imalpolitik* drückt sich für Jameson<br />

vor allem e<strong>in</strong>e unterschwellige Angst vor dem utopischen Denken und se<strong>in</strong>en +Totalisierungen*<br />

86<br />

aus. Es ist die (ke<strong>in</strong>eswegs unbegründete) Angst vor <strong>der</strong> Umfassung und Unterdrückung<br />

des Beson<strong>der</strong>en durch das Allgeme<strong>in</strong>e, vor dem <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne immanenten<br />

Terror ihrer Metaerzählungen, welche – im Gedanken <strong>der</strong> Emanzipation, <strong>der</strong> Freiheit, <strong>der</strong><br />

Gleichheit etc. – allerd<strong>in</strong>gs immer auch e<strong>in</strong>en utopischen Gehalt hatten. Und <strong>in</strong> <strong>der</strong> zusammen<br />

mit <strong>der</strong> Dekonstruktion <strong>der</strong> unterdrückenden Macht <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Metaerzählungen erfolgenden<br />

(ihrerseits +totalen*) Ablehnung des utopischen Denkens, das se<strong>in</strong>em Wesen nach +total* se<strong>in</strong><br />

muß, um radikal das +an<strong>der</strong>e* denken zu können, wird zugleich die Möglichkeit <strong>der</strong> Über-<br />

schreitung <strong>der</strong> Aktualität verabschiedet. Deshalb spiegelt sich für Jameson im postmo<strong>der</strong>nen<br />

Pluralismus, dem Yuppy-Phänomen e<strong>in</strong>er Neo-Ethnizität auf <strong>der</strong> Grundlage ausdifferenzierter<br />

Lebensstilgeme<strong>in</strong>schaften, auch e<strong>in</strong>e fragwürdige Ideologie <strong>der</strong> Differenz, die weniger tatsächlich<br />

dem an<strong>der</strong>en Raum gibt, als die Zusammenhänge des totalisierten Marktsystems durch +Ver-<br />

flachungen* ausblendet. (Vgl. ebd. S. 331–356)<br />

Von <strong>der</strong> entgegengesetzten Richtung des kommunitaristischen Diskurses kommend, hat Warnfried<br />

Dettl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e im Pr<strong>in</strong>zip ähnliche Kritik formuliert: Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne suchte noch nach<br />

umfassenden Antworten auf die soziale(n) Frage(n), verfolgte Reformprojekte und baute dabei<br />

auf die Mobilisierungskraft <strong>der</strong> Massen. In <strong>der</strong> (postmo<strong>der</strong>nen) <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft<br />

ist dagegen die Massenbasis für utopische Projekte solcher Art nicht mehr vorhanden, und<br />

<strong>der</strong> politische Raum ist durch Subpolitisierungsprozesse (vor allem die untergründige Entmachtung<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die globalisierte Ökonomie) entleert. Wir haben es also nicht nur mit e<strong>in</strong>em<br />

Verlust des politischen Subjekts, son<strong>der</strong>n auch mit <strong>der</strong> schleichenden Schrumpfung <strong>der</strong><br />

politischen Sphäre zu tun: Die Atopie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> hat die politische Utopie abgelöst (vgl. Utopie<br />

und Katastrophe; S. 109–112). Allerd<strong>in</strong>gs sieht Dettl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Krise <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, ähnlich


372 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

wie Beck, auch Chancen für die Imag<strong>in</strong>ation politischer Alternativen sowie zur Erneuerung<br />

<strong>der</strong> demokratischen Kultur (vgl. ebd.; S. 114–118). Dazu müßte aber nach Dettl<strong>in</strong>g zu e<strong>in</strong>em<br />

+kommunitärem Leitbild* gefunden werden, das die Menschen <strong>in</strong> die Gesellschaft orientierend<br />

re<strong>in</strong>tegrieren kann, pragmatische Wege zu se<strong>in</strong>er Umsetzung aufzeigt sowie dem aktuellen<br />

Zeithorizont angemessen ist, ohne vor <strong>der</strong> Faktizität <strong>der</strong> Marktgesellschaft zu kapitulieren<br />

(vgl. auch <strong>der</strong>s.: <strong>Politik</strong> und Lebenswelt; S. 65ff.).<br />

Doch ist die subpolitisch zersplitterte westliche +Zivilgesellschaft* überhaupt noch zu e<strong>in</strong>er<br />

Metamorphose fähig, die zu e<strong>in</strong>er sozialen Gesamtperspektive zurückf<strong>in</strong>det? – Helmuth Dubiel<br />

verweist darauf, daß das Modell <strong>der</strong> (liberalen) Zivilgesellschaft für die Opposition <strong>in</strong> den<br />

Staaten Osteuropas – im Gegensatz zur +totalitär* gewordenen Revolution des +Sozialismus*<br />

– e<strong>in</strong>st <strong>der</strong> Inbegriff für e<strong>in</strong>e sich im positiven S<strong>in</strong>n selbst begrenzende Revolution war (vgl.<br />

Metamorphosen <strong>der</strong> Zivilgesellschaft; S. 74ff.). Doch genauso wie <strong>in</strong> den Transformationsstaaten<br />

des ehemaligen Ostblocks nach dem Zusammenbruch <strong>der</strong> alten Systeme die Schleusen unge-<br />

bremst geöffnet wurden und sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>seitiger Markt-Liberalismus etablierte,<br />

so ist auch im Westen die von den +klassischen* liberalen Modellen <strong>der</strong> Zivilgesellschaft e<strong>in</strong>ge-<br />

for<strong>der</strong>te Trennung von privater (Wirtschafts-) und öffentlicher Sphäre schon seit langem e<strong>in</strong><br />

Problem: Beschränkt blieb dadurch nämlich primär die <strong>Politik</strong> und nicht die Ökonomie. Im<br />

(reflexiven) Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gefährdungspotentiale durch e<strong>in</strong>e ungehemmte ökonomisch-<br />

technische Entfaltung ist es deshalb, wie oben dargestellt wurde, zu subpolitischen Bestrebungen<br />

e<strong>in</strong>er +Zivilisierung* <strong>der</strong> Systeme (d.h. e<strong>in</strong>er Beschränkung <strong>der</strong> Subsystemautonomie) gekommen<br />

(vgl. auch ebd.; S. 97ff.).<br />

Die subpolitischen Beschränkungsbestreben <strong>der</strong> +Systemmacht* laufen gewissermaßen auf<br />

die Verwirklichung <strong>der</strong> von Klaus Offe entworfenen +Utopie <strong>der</strong> Null-Option* (1986) heraus.<br />

Denn für Offe bedeutet die sche<strong>in</strong>bare Optionsfülle <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen, funktional differenzierten<br />

Gesellschaft tatsächlich Starrheit und Immobilität, da die Gestaltungsmöglichkeiten auf <strong>der</strong><br />

sozialen Metaebene genau durch die <strong>in</strong>tern optionssteigernde (Teil-)Autonomie <strong>der</strong> Teilsysteme<br />

e<strong>in</strong>geschränkt werden (siehe auch Abschnitt 5.3.1). Soll die Fähigkeit zu substanziellen Ver-<br />

än<strong>der</strong>ungen des Gesamtsystems wie<strong>der</strong>erlangt werden, muß zunächst e<strong>in</strong>e Beschränkung<br />

<strong>der</strong> subsystemischen +Freiheiten* erfolgen. Subpolitik wäre also dort Metapolitik, wo es ihr<br />

gel<strong>in</strong>gt, die Subsysteme <strong>in</strong> ihrer Autonomie zu beschränken, um Gestaltungsspielräume zu<br />

schaffen. Nur: Subpolitik ist nicht alle<strong>in</strong>e diffus und fragmentisiert, sie ist ihrerseits +beschränkt*,


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 373<br />

87<br />

begrenzt sich im negativen S<strong>in</strong>n selbst (und wird zudem von +außen* begrenzt). Das hat<br />

verschiedene Gründe:<br />

Zunächst kann mit Klaus E<strong>der</strong> darauf verwiesen werden, daß die neuen sozialen Bewegungen,<br />

die e<strong>in</strong>e wesentliche konkrete Äußerungsform von Subpolitik darstellen (siehe auch S. 199ff.),<br />

ihre politische Identität nur auf Kosten des kollektiven Charakters dieser Identität erzeugen<br />

können, denn sie beruhen auf <strong>der</strong> – selbstfixierten – Politisierung <strong>der</strong> Individuen (vgl. Soziale<br />

Bewegung und kulturelle Evolution; S. 347f.). So gerät (sub)politischer Protest <strong>in</strong> vielen Fällen<br />

zu e<strong>in</strong>em Vehikel <strong>der</strong> ekstatischen, narzißtischen Selbstspiegelung. Die Individuen engagieren<br />

sich schließlich nicht nur mit Vorliebe im lokalen Umfeld, <strong>in</strong> Fällen (verme<strong>in</strong>tlicher) persönlicher<br />

Betroffenheit – sie wollen sich auch persönlich darstellen und +ausleben*. Subpolitik tendiert<br />

also nicht nur <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> Anpassung an die Mediensemantik dazu, sich als Ereignis, als +Event*<br />

und +Happen<strong>in</strong>g* zu <strong>in</strong>szenieren (siehe unten). Sie muß Ausdrucksformen f<strong>in</strong>den, die das<br />

Subjekt nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Masse +auflösen*, son<strong>der</strong>n ihm vielmehr e<strong>in</strong>e Bühne bieten. Zugespitzt<br />

formuliert: Die +s<strong>in</strong>guläre* Mikropolitik <strong>der</strong> Subpolitik ist weniger an (politischer) Geme<strong>in</strong>schaft<br />

orientiert ist, son<strong>der</strong>n primär an den eigenen Problemen, die <strong>in</strong> die soziale Sphäre projiziert<br />

und deshalb dort bekämpft werden. Aufgrund dieser latenten psychologischen Funktion ist<br />

Subpolitik bzw. ihre <strong>in</strong>dividualistisch +beschränkte* Äußerungsform auch nicht an tatsächlichen<br />

Systemverän<strong>der</strong>ungen orientiert (sie bewirkt diese bestenfalls ungewollt), und die +Kosten*<br />

des politischen +E<strong>in</strong>satzes* dürfen den persönlichen Nutzen nicht überschreiten.<br />

Dies läßt sich abschließend an e<strong>in</strong>igen Beispielen kurz verdeutlichen: Während die +tradi-<br />

tionellen* Ostermärsche, die <strong>in</strong> den friedensbewegten Zeiten des Kalten Kriegs noch Millionen<br />

mobilisierten, <strong>in</strong>zwischen mangels +Masse* fast zu e<strong>in</strong>er wirklich <strong>in</strong>dividuellen Form <strong>der</strong> Protest-<br />

artikulation geworden s<strong>in</strong>d (obwohl we<strong>der</strong> die Zahl <strong>der</strong> Kriege noch ihre Heftigkeit abgenommen<br />

hat), erfreuen sich von den Zwängen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> losgelöste +Massendemonstrationen* größter<br />

Beliebtheit. Die aktuelle Devise <strong>der</strong> Mobilisierung lautet: pragmatisch und lustvoll. Man will<br />

sich, salopp formuliert, die Be<strong>in</strong>e nicht für nichts und wie<strong>der</strong> nichts <strong>in</strong> den Bauch stehen<br />

– dann schon lieber auf <strong>der</strong> +Love Parade* für +Friede, Freude, Eierkuchen* raven. Auch hier<br />

erlebt man Masse, aber es ist e<strong>in</strong>e +<strong>in</strong>dividualisierte* Masse <strong>der</strong> Selbstdarsteller.<br />

Der Trend zur Individualisierung und zur diffusen Entpolitisierung läßt sich ebenso am Wandel<br />

des studentischen Protests zeigen. Standen bei den +68ern* noch politische Ziele im Vor<strong>der</strong>grund<br />

(o<strong>der</strong> spielten zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e bedeutende Rolle) und wurde <strong>in</strong> groß angelegten Demonstrationen


374 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

die Konfrontation mit <strong>der</strong> Staatsmacht gesucht, so hatten die jüngsten Studentenproteste vom<br />

Herbst 1997 den Charakter e<strong>in</strong>es +kreativen Ausstands* – <strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs durchaus im E<strong>in</strong>klang<br />

mit den herrschenden Interessen stand. Und so fand man (rhetorische) Unterstützung für<br />

die erhobene For<strong>der</strong>ung nach besseren Studienbed<strong>in</strong>gungen auch von <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> offiziellen<br />

<strong>Politik</strong> und <strong>der</strong> Professorenschaft, während man so orig<strong>in</strong>elle wie harmlose Protestaktionen<br />

wie etwa Bücherläufe o<strong>der</strong> U-Bahnsem<strong>in</strong>are organisierte.<br />

Trotz <strong>der</strong> breiten Sympathie, die den Studenten +entgegenschlug*, waren ihre Anliegen natürlich<br />

zu speziell, um von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und <strong>der</strong> Bevölkerung konkrete Unterstützung zu erfahren.<br />

Wo dagegen die +Volksmassen* aufgrund des +allgeme<strong>in</strong>en Interesses* tatsächlich noch mobilisiert<br />

werden können, beschränkt sich <strong>der</strong> +Wi<strong>der</strong>stand* meist auf re<strong>in</strong> symbolische Akte mit hohem<br />

emotionalem +Mehrwert* (wie die Lichterketten gegen Auslän<strong>der</strong>fe<strong>in</strong>dlichkeit) o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e moralisch<br />

+aufgeladene*, aber kaum e<strong>in</strong>schneidende Selbstbegrenzung des Konsums. Als Beispiel für<br />

diese +Konsumentenpolitik* können die von +Greenpeace* <strong>in</strong>itiierten Boykott-Aktionen gegen<br />

den Öl-Multi +Shell* dienen, welcher 1995 die ausgediente Fö<strong>der</strong>plattform +Brent Spar* im<br />

Atlantik versenken wollte, anstatt sie, wie von Greenpeace favorisiert, an Land zu entsorgen.<br />

Das Ausweichen <strong>der</strong> Verbraucher auf die Konkurrenz bewirkte e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>lenken des Shell-Kon-<br />

88<br />

zerns, was Ulrich Beck als Beleg für e<strong>in</strong>e subpolitische Konsumentenmacht selbst auf transnatio-<br />

naler/globaler Ebene gilt (vgl. Was ist Globalisierung; S. 121ff.). Me<strong>in</strong>es Erachtens zeigt sich<br />

hier jedoch nur, wie beschränkt Subpolitik zumeist ist. Denn zu weitergehenden Schritten,<br />

die das so umweltbelastende und risikoreiche System <strong>der</strong> Petro<strong>in</strong>dustrie <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> Frage<br />

gestellt hätten, waren die von Greenpeace und den Medien mobilisierten, jedoch zugleich<br />

auf ihre Mobilität bedachten Verbraucher offensichtlich nicht bereit. Man entledigte sich mit<br />

dem +Boykott* nur auf bequeme Art des eigenen schlechten (Autofahrer-)Gewissens.<br />

Man kann jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> kritischen Betrachtung <strong>der</strong> Subpolitik noch weiter gehen: E<strong>in</strong>e (selbst)-<br />

beschränkte Subpolitik baut am Haus, das sie eigentlich e<strong>in</strong>reißen will. Denn ihre H<strong>in</strong>terfragungen<br />

des Systems s<strong>in</strong>d tatsächlich e<strong>in</strong> wichtiger reflexiver +Input* für dieses. Es wird so nämlich<br />

von außen angeregt (bzw. gezwungen), auf problematische Entwicklungen zu reagieren, die<br />

alle<strong>in</strong>e aus <strong>der</strong> Innenperspektive eventuell nicht o<strong>der</strong> nicht rechtzeitig wahrgenommen worden<br />

wären. Auf diese Weise stärken (begrenzte) subpolitische Reflexionen die Adaptionsfähigkeit<br />

des Systems. Ihre Impulse wirken, auch wenn sie zunächst als Herausfor<strong>der</strong>ungen betrachtet<br />

werden, letztendlich stabilisierend, und stellen e<strong>in</strong> aus dem Lot geratenes Gleichgewicht wie<strong>der</strong>


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 375<br />

her. Es handelt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen sogar um e<strong>in</strong>e bewußte Ausbeutung <strong>der</strong> subpolitischen<br />

Peripherie durch das politische Zentrum.<br />

Auf die durchaus +positive*, <strong>in</strong>novative Rolle des M<strong>in</strong>oritätenprotestes hat schon Serge Moscovici<br />

verwiesen (vgl. Sozialer Wandel durch M<strong>in</strong>oritäten und siehe auch Anmerkung 280, Kap.<br />

2). Dabei kann es sogar geschehen, daß die oppositionellen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten zu e<strong>in</strong>em neuen<br />

89<br />

Establishment werden. Diese Gefahr <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung und Transformation <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten<br />

und ihrer Kämpfe ist ke<strong>in</strong> neuartiges Phänomen, son<strong>der</strong>n war <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte immer wie<strong>der</strong><br />

zu beobachten. Zwar wollen die oppositionellen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten meist +M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten bleiben<br />

und als solche anerkannt werden […] Aber nichts ist schwieriger: man macht neue Mächte<br />

aus ihnen […] Mit e<strong>in</strong>em Schlag beraubt man sie so ihrer spezifischen Macht [...]* (Lyotard:<br />

Das Patchwork <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten; S. 8)<br />

5.3 DIE ABLENKUNG DER REFLEXIVEN HERAUSFORDERUNG DURCH DEFLEXIVE MECHA-<br />

NISMEN: ZUM ZUSAMMENHANG VON IDEOLOGIE UND PRAXOLOGIE<br />

Lyotard weist im obigen Zitat auf e<strong>in</strong>en wichtigen Sachverhalt h<strong>in</strong>: Allzu leicht gerät Subpolitik<br />

<strong>in</strong> den Sog <strong>der</strong> Institutionalisierung, und es ist gerade ihr +Erfolg*, <strong>der</strong> ihre metapolitische<br />

Subversion wie ihre s<strong>in</strong>guläre, +differentielle* Gegenmacht gefährdet. Die Anerkennung und<br />

Durchsetzung von subpolitischen Zielen <strong>in</strong>tegriert Subpolitik <strong>in</strong> das System, wehrt die reflexive<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung durch e<strong>in</strong>e deflexive Umfassung absorptiv ab. Subpolitik steht damit nicht<br />

mehr +außerhalb* und kann nicht mehr aus +kritischer Distanz* (gegen)wirken.<br />

Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Realität* häufig zu beobachtende Integration <strong>der</strong> reflexiven Impulse <strong>der</strong> Subpolitik<br />

und ihre damit erfolgende Transformation und +Pazifierung* beruht allerd<strong>in</strong>gs nicht alle<strong>in</strong>e<br />

auf ihrer im vorangegangenen Abschnitt herausgestellten Selbstbeschränkung. Reflexive Impulse<br />

werden auch +von außen* abgelenkt, um die Sprengung des durch +Reflexionen* heraus-<br />

gefor<strong>der</strong>ten Systems zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Dazu bedient man sich verschiedener deflexiver Mechanis-<br />

men: Ideologien setzen beim (<strong>in</strong>dividuellen wie kollektiven) Bewußtse<strong>in</strong> an (Abschnitt 5.3.1),<br />

und Praxologien kanalisieren das Handeln (Abschnitt 5.3.2).<br />

Die Begriffe <strong>der</strong> +Deflexion* und <strong>der</strong> +Praxologie* wurden bereits im zweiten Kapitel e<strong>in</strong>geführt<br />

(siehe Abschnitt 2.2 und 2.3). Es erfolgte dort aber ke<strong>in</strong>e genaue Def<strong>in</strong>ition und auch ke<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en umfassen<strong>der</strong>en Theorierahmen. Das <strong>in</strong> ihrem Gebrauch immer weiter


376 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

verdichtete semantische Bild soll deshalb nunmehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e klare def<strong>in</strong>itorische Form gegossen<br />

und +metatheoretisch fundiert* werden. Dazu muß allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> relativ enge Fokus auf das<br />

Feld von <strong>Politik</strong> und Subpolitik zunächst wie<strong>der</strong> erweitert werden. Erst <strong>in</strong> Abschnitt 5.4 werde<br />

ich näher auf die spezifische Problematik <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* zurückkommen<br />

und versuchen zu zeigen, wie <strong>der</strong> dialektische Zusammenhang von Reflexion und Deflexion<br />

sich potentiell <strong>in</strong> (gleichermaßen dialektischen) Entpolitisierungsprozessen äußert. Um nämlich<br />

diese entpolitisierende Dialektik herausarbeiten zu können, ist zuvor die Klärung und theoretische<br />

E<strong>in</strong>ordnung des me<strong>in</strong>es Erachtens für e<strong>in</strong>e kritisch-dialektische Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

zentralen Deflexionsbegriffs unabd<strong>in</strong>gbar. Was also bedeutet Deflexion, und <strong>in</strong> welchem<br />

Verhältnis steht sie zu Reflexivität und Reflexion?<br />

Reflexivität bezeichnet im Kontext <strong>der</strong> Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung Beckscher Prägung<br />

(siehe oben) die Selbstwi<strong>der</strong>sprüchlichkeit und Selbstaufhebungstendenz des Mo<strong>der</strong>nisierungs-<br />

prozesses: Die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne produziert <strong>in</strong> ihrer Dynamik un<strong>in</strong>tendierte Nebenfolgen,<br />

die sich gegen ihre +ursprünglichen* Triebkräfte und Pr<strong>in</strong>zipien richten, wobei Beck allerd<strong>in</strong>gs<br />

betont, daß die Reflexivität <strong>der</strong> Nebenfolgen immer auch e<strong>in</strong>e Wissens- bzw. Nicht-Wissens-Seite<br />

hat (vgl. Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen?; S. 289f.). Doch: Das (kognitive) Bewußtse<strong>in</strong> für die Prob-<br />

lematik <strong>der</strong> Nebenfolgen beruht – <strong>in</strong>sofern es sich um +reale* (d.h. diskursunabhängige) und<br />

nicht re<strong>in</strong> sozial konstruierte Probleme handelt – auf <strong>der</strong> +Objektivität* <strong>der</strong> Reflexivität. Nur<br />

wenn die Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung auch +erfahrbar* s<strong>in</strong>d, können sie nämlich nachhaltig<br />

90<br />

kritische Reflexionen hervorkehren und Wi<strong>der</strong>stände auslösen. Denn Reflexion bedeutet<br />

die tatsächliche Spiegelung von Reflexivität: In <strong>der</strong> Reflexion <strong>der</strong> Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

wird die Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses – aus dem mo<strong>der</strong>nen Bewußtse<strong>in</strong><br />

heraus – thematisiert und <strong>in</strong> praktische Wandlungsimpulse umgesetzt.<br />

Dies stellt jedoch offensichtlich e<strong>in</strong>en eher +unkonventionellen* Gebrauch des Reflexionsbegriffs<br />

dar, <strong>der</strong> näher erläuterungsbedürftig ist: Reflexion bedeutet im hier <strong>in</strong>tendierten kritisch-nor-<br />

mativen S<strong>in</strong>n nicht den bloßen Prozeß <strong>der</strong> rationalen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Problemen<br />

bzw. die kognitive Verarbeitung von Informationen, son<strong>der</strong>n me<strong>in</strong>t vielmehr e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

E<strong>in</strong>stellung gegenüber Reflexivität. E<strong>in</strong>e reflexive Haltung bestünde deshalb <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />

und Wi<strong>der</strong>spiegelung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Se<strong>in</strong>s, die auf e<strong>in</strong>e Synthese <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

verzichtet, sich auf diese e<strong>in</strong>läßt und zugleich praktisch, das heißt: auf die Entfaltung se<strong>in</strong>er<br />

Potentiale h<strong>in</strong>wirkend, <strong>in</strong> das Se<strong>in</strong> +<strong>in</strong>volviert* ist. Sie bestünde also nicht nur Zulassen von


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 377<br />

Ambivalenzen und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Toleranz für Differenz, son<strong>der</strong>n darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktiven Schaffung<br />

von Voraussetzungen für e<strong>in</strong>e auf Vielfalt und Vielheit gegründete (soziale) Existenz (vgl. auch<br />

Bauman: Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz; S. 285ff.). 91<br />

Dieses reflexive +Engagement*, die praktische Spiegelung von emotional-kognitiven Reflexions-<br />

92<br />

akten, die das eigene Se<strong>in</strong> h<strong>in</strong> zum +an<strong>der</strong>en* öffnet, beruht zum e<strong>in</strong>en auf <strong>der</strong> Fähigkeit<br />

93<br />

zu Empathie bzw. e<strong>in</strong>er ästhetisch-hermeneutischen Reflexivität auf <strong>der</strong> Basis des mimetischen<br />

Impulses (vgl. auch Adorno: Ästhetische Theorie; S. 68ff. u. 86ff. sowie Lash: Ästhetische<br />

Dimension Reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung). Zum an<strong>der</strong>en beruht sie auf <strong>der</strong> Aufrichtigkeit e<strong>in</strong>es<br />

+authentischen* Selbst, das – <strong>in</strong>dem es se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Ambivalenz spiegelt – zu e<strong>in</strong>em reflexiven,<br />

94<br />

d.h. ambivalenzbewußten Außenbezug gelangt (siehe auch Schlußexkurs). Nur auf dieser<br />

+<strong>in</strong>dividuellen*, nicht-identischen Basis können soziale Wandlungsprozesse e<strong>in</strong>geleitet werden<br />

und erfolgt – möglicherweise – e<strong>in</strong>e mimetisch-e<strong>in</strong>fühlende, doch zugleich grundlegend auf<br />

Differenz beruhende Solidarisierung und Mobilisierung.<br />

Derartige reflexive Impulse lösen allerd<strong>in</strong>gs immer – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dialektischen Denk-<br />

modell – auch deflexive Gegenimpulse aus. Die Unsicherheit, die mit <strong>der</strong> reflexiven +Öffnung*<br />

<strong>der</strong> Weggrenzen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne entsteht, wirkt bedrohlich und wird abzuwehren versucht.<br />

Zudem stehen dem reflexiven Wandel die Interessen <strong>der</strong> verme<strong>in</strong>tlichen o<strong>der</strong> tatsächlichen<br />

Nutznießer des status quo gegenüber (so versucht etwa die staatliche <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> subpolitischen<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesse mit allen Mitteln auszuweichen,<br />

weil letztere ihre <strong>in</strong>stitutionelle Grundlage <strong>in</strong> Frage stellt). Deflexion erfolgt aber zugleich<br />

niemals losgelöst von Reflexion, sie setzt vielmehr gerade (dialektisch) auf ihr auf, hat sie<br />

95<br />

zur Voraussetzung. E<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition des Begriffs <strong>der</strong> Deflexion muß deshalb mit Bezug auf<br />

den Reflexionsbegriff erfolgen: Bedeutet Reflexion, wie dargelegt, gemäß e<strong>in</strong>em kritisch-<br />

normativen Verständnis die gedankliche und praktische Spiegelung von Reflexivität, die Entfaltung<br />

und +Stellung* <strong>der</strong> Ambivalenz und Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Se<strong>in</strong>s auf <strong>der</strong> Grundlage des<br />

Bemühens um e<strong>in</strong>e nicht-identische +Aufrichtigkeit*, so me<strong>in</strong>t Deflexion als dialektischer<br />

Gegenbegriff hierzu die Verspiegelung des Wi<strong>der</strong>sprüchlichen, die Abwehr und Verdrängung<br />

(<strong>in</strong>nerer wie äußerer) reflexiver Impulse und Ambivalenzen.<br />

Löst man diesen hier zunächst re<strong>in</strong> +subjektiven* gefaßten Deflexionsbegriff von <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />

Ebene und bezieht ihn – hermeneutisch-<strong>in</strong>terpretativ – analog auf den sozialen Prozeß <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>nisierung, so ersche<strong>in</strong>t Deflexion als das abwehrende Bemühen, reflexive +Abweichungen*


378 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Deflexion<br />

Reflexion<br />

Abbildung 10: Die Deflexion reflexiver Ablenkungen<br />

im Zuge <strong>der</strong> Radikalisierung des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses wie<strong>der</strong> auf die Bahn <strong>der</strong> Fort-<br />

96<br />

schrittsl<strong>in</strong>earität zu br<strong>in</strong>gen (siehe auch Abb. 6). In ihrem Beharren auf e<strong>in</strong>em Fortschreiten<br />

auf dem e<strong>in</strong>geschlagenen Weg ähnelt deflexive Mo<strong>der</strong>nisierung als adaptive Reaktion auf<br />

die verunsichernden Prozesse reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung darum äußerlich <strong>der</strong> +e<strong>in</strong>fachen*<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat wurde die Angst-getriebene +ursprüngliche* Bewegung <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne im Vorangegangenen von mir sowohl als regressiv wie als deflexiv charakterisiert<br />

(siehe Abschnitt 5.2.1). An<strong>der</strong>erseits: Wo es sich – was aber eher selten <strong>der</strong> Fall se<strong>in</strong> dürfte<br />

– um e<strong>in</strong>en aktiven und bewußten Prozeß <strong>der</strong> Deflexion handelt (siehe zur näheren Unter-<br />

scheidung zwischen aktiver und passiver Deflexion unten), besteht e<strong>in</strong>e deutliche Differenz<br />

zur Bewußtse<strong>in</strong>slage im Kontext e<strong>in</strong>facher, +ungebrochener* Mo<strong>der</strong>nisierung. Ungebrochen<br />

durch Reflexionen ist <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß nämlich nur so lange, wie an die Richtigkeit<br />

<strong>der</strong> anvisierten Ziele und <strong>der</strong> zu ihnen führenden Wege une<strong>in</strong>geschränkt geglaubt wird. Dagegen<br />

setzen Prozesse deflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, die ebenfalls auf e<strong>in</strong>en +l<strong>in</strong>earisierten*, gegen<br />

reflexive Prozesse (<strong>in</strong>stitutionell) immunisierten +Fortschritt* h<strong>in</strong>auslaufen, das Bewußtse<strong>in</strong><br />

für die Problematik des Fortschrittsideals e<strong>in</strong>facher Mo<strong>der</strong>nisierung voraus.<br />

In <strong>der</strong> Ablenkung und Verdrängung <strong>der</strong> sie treibenden Wi<strong>der</strong>sprüche und Ambivalenzen<br />

kommt also zwar e<strong>in</strong> deflexives Moment <strong>in</strong> <strong>der</strong> +ursprünglichen* Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

zum Tragen, das <strong>in</strong> ihrem Fortgang, ihrer Steigerung und Radikalisierung, wie<strong>der</strong>um Reflexionen<br />

hervorkehrt. Doch erst wenn auf diese Reflexionen im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er aktiven und gezielten Gegen-<br />

steuerung reagiert wird, kann me<strong>in</strong>es Erachtens von deflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung im engen S<strong>in</strong>n<br />

gesprochen werden. Die damit vorgeschlagene Unterscheidung zwischen e<strong>in</strong>facher, reflexiver<br />

und deflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung ist jedoch selbstverständlich nur e<strong>in</strong>e +idealtypische*. In <strong>der</strong><br />

+Realität* s<strong>in</strong>d immer beide Momente vorhanden, mischen sich reflexive und (aktive wie passive)<br />

deflexive Elemente, so daß <strong>in</strong> bezug auf die empirische +Wirklichkeit* s<strong>in</strong>nvollerweise nur


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 379<br />

e<strong>in</strong>fache Mo<strong>der</strong>nisieung<br />

(passive, unbewußte<br />

Deflexion)<br />

Nebenfolgen<br />

Reflexivität<br />

Reflexion<br />

reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

(aktive) Deflexion<br />

deflexive Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

Abbildung 11: Das dialektische Modell <strong>der</strong> reflexiv-deflexiven Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

reflexiv-deflexive<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

von e<strong>in</strong>em Prozeß reflexiv-deflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung gesprochen werden kann, welcher auf<br />

dem durch die Reflexivität <strong>der</strong> Nebenfolgen erzeugten dialektischen Wechselspiel von Reflexion<br />

97<br />

und Deflexion beruht (siehe Abb. 7 sowie Abschnitt 5.4). Dieses Wechselspiel ist allerd<strong>in</strong>gs<br />

ke<strong>in</strong>eswegs unproblematisch. Die (Teil-)Systeme <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft, als +Verd<strong>in</strong>g-<br />

lichungen* <strong>der</strong> auf Trennungen beruhenden +zwanghaften* Macht <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne,<br />

besitzen zwar e<strong>in</strong>erseits wirksame Deflexionsressourcen zur Abwehr ihrer reflexiven H<strong>in</strong>ter-<br />

fragungen (wie <strong>in</strong> Kapitel 2 aufgezeigt wurde). Doch durch die Deflexionsbemühungen, die<br />

versuchte Überdeckung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche, steigert sich tatsächlich zumeist die Reflexivität,<br />

was wie<strong>der</strong>um Reflexionen hervorkehrt, welche auch die Mechanismen <strong>der</strong> Deflexion selbst<br />

erfassen können (wie die Analyse <strong>in</strong> Kapitel 3 ergab).<br />

Die Reflexion <strong>der</strong> Deflexion wird jedoch dadurch beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t, daß Deflexion, wie angedeutet,<br />

zumeist verdeckt, unbewußt und passiv abläuft. Ich möchte deshalb im folgenden aktive<br />

(bewußte) Deflexion klar von passiver (unbewußter) Deflexion abgrenzen und hierzu bei<br />

Gedanken von Giddens ansetzen. Dieser unterscheidet im Kontext se<strong>in</strong>er +Strukturierungstheorie*<br />

auf <strong>der</strong> Ebene des handelnden Individuums zwischen diskursivem und praktischem Bewußtse<strong>in</strong>.<br />

Das diskursive Bewußtse<strong>in</strong> ist reflexiv, se<strong>in</strong>e Inhalte s<strong>in</strong>d explizit und verbalisierbar. Dagegen<br />

s<strong>in</strong>d die Inhalte des praktischen Bewußtse<strong>in</strong>s nicht (ohne weiteres) +sagbar* und <strong>in</strong> Rout<strong>in</strong>en<br />

verankert, <strong>der</strong>en Grundlagen nur <strong>in</strong> Ausnahmesituationen reflektiert werden (vgl. Die Konstitution<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft; S. 55ff. sowie 91ff.). Dieses +reflexive Defizit* des Handelns im praktischen<br />

Bewußtse<strong>in</strong> be<strong>in</strong>haltet me<strong>in</strong>es Erachtens e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutig deflexives Moment.<br />

Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> reflexiven +Beschränkung* des praktischen Bewußtse<strong>in</strong> be<strong>in</strong>haltete Deflexion erfolgt<br />

allerd<strong>in</strong>gs eben nicht aktiv und bewußt, son<strong>der</strong>n +automatisiert*, durch die Macht <strong>der</strong> Ge-


380 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

wohnheit – sie bleibt vorbewußt und ist <strong>in</strong> die alltäglichen Rout<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>geschrieben, die damit<br />

als Reflexionen absorbierende Handlungsmuster praxologischen Charakter haben (siehe auch<br />

unten). Obwohl die Analogie zwischen dem Konzept des praktischen Bewußtse<strong>in</strong>s und dem<br />

psychoanalytischen Modell des Un- bzw. Vorbewußten offensichtlich ist, setzt Giddens sich<br />

jedoch explizit von Freud ab. Das liegt zum e<strong>in</strong>en daran, daß die psychoanalytische Begriff-<br />

lichkeit bei ihrer Übertragung <strong>in</strong>s Englische an Aussagekraft und Konsistenz e<strong>in</strong>gebüßt hat<br />

98<br />

und somit zu Mißverständnissen e<strong>in</strong>lädt – was Giddens vermeiden will. Zum an<strong>der</strong>en hofft<br />

er, mit se<strong>in</strong>er eher +wertneutralen* begrifflichen Unterscheidung zwischen diskursivem und<br />

praktischem Bewußtse<strong>in</strong> zwei Arten des Reduktionismus zu entgehen, die im klassischen<br />

psychoanalytischen Modell se<strong>in</strong>er Auffassung nach angelegt s<strong>in</strong>d:<br />

+Die e<strong>in</strong>e ist e<strong>in</strong>e reduktionistische Konzeption <strong>der</strong> Institutionen, die beim Versuch, die Fundierung <strong>der</strong><br />

Institutionen im Unbewußten nachzuweisen, <strong>der</strong> Bewegung autonomer gesellschaftlicher Kräfte nicht<br />

genügend Spielraum gibt. Die zweite ist e<strong>in</strong>e reduktionistische Theorie des Bewußtse<strong>in</strong>s, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Absicht<br />

zu zeigen, wie sehr das gesellschaftliche Leben durch dunkle Ströme außerhalb des menschlichen Bewußtse<strong>in</strong>s<br />

beherrscht wird, die Kontrolle nicht angemessen erfassen kann, die Handelnde charakteristischerweise<br />

reflexiv über ihr Verhalten aufrechterhalten können.* (Ebd.; S. 55)<br />

Giddens verschenkt im Bemühen, diesen beiden Reduktionismen zu entgehen, jedoch me<strong>in</strong>es<br />

Erachtens die Möglichkeit e<strong>in</strong>es kritischen Blicks auf rout<strong>in</strong>isierte Alltagshandlungen und ihre<br />

99<br />

Funktionalität für die Aufrechterhaltung sozialer Machtstrukturen. Indem die latenten Motive<br />

des Handelns dem praktischen Bewußtse<strong>in</strong> verborgen bleiben, entziehen sich diese <strong>der</strong> Reflexion.<br />

Das verr<strong>in</strong>gert zwar den Reflexionsaufwand, bewirkt Vertrauen und schützt vor e<strong>in</strong>er Über-<br />

reflektiertheit, die eventuell sozial sprengend und <strong>in</strong>dividuell belastend wäre. Allerd<strong>in</strong>gs muß<br />

diese +Entlastung* mit e<strong>in</strong>em hohem Preis bezahlt werden. Denn durch die +tätige* Ausblendung<br />

von H<strong>in</strong>terfragungen wird e<strong>in</strong> System <strong>der</strong> Verdrängung etabliert und verfestigt.<br />

100<br />

In <strong>der</strong> rout<strong>in</strong>isierten Aktivität, dem fraglosen Handeln, erfolgt somit e<strong>in</strong>e zwar passive, aber<br />

überaus wirksame Deflexion von Reflexivität und ihrer Reflexionen: Verunsichernde, ambivalente<br />

Emotionen und Gedanken werden, <strong>in</strong>dem sie gar nicht erst voll <strong>in</strong>s Bewußtse<strong>in</strong> gelangen,<br />

abgewehrt, verdrängt und abgelenkt, anstatt sich mit ihnen aktiv ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen – genauso,<br />

wie <strong>der</strong> Neurotiker im psychoanalytischen Modell Freuds durch se<strong>in</strong>e Zwangshandlungen<br />

<strong>der</strong> psychisch belastenden Verarbeitung se<strong>in</strong>er Traumata aus dem Weg geht (vgl. Vorlesungen<br />

zur E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Psychoanalyse; <strong>in</strong>sb. S. 232ff.). Dies soll ke<strong>in</strong>eswegs besagen, daß jede


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 381<br />

Tabelle 12: Formen <strong>der</strong> Deflexion<br />

aktive Deflexion passive Deflexion<br />

reaktiv-situative Deflexion strukturelle/<strong>in</strong>stitutionalisierte Deflexion<br />

Form <strong>der</strong> Deflexion zw<strong>in</strong>gend +pathologischen* Charakter hätte. Deflexion ist im Gegenteil<br />

e<strong>in</strong>e unvermeidliche Reaktion auf reflexive Herausfor<strong>der</strong>ungen und ist unter Umständen durchaus<br />

notwendig und s<strong>in</strong>nvoll, <strong>in</strong>dem sie z.B. e<strong>in</strong>e kurzfristige Entlastung von Reflexionsaufwand<br />

bewirkt, wenn dieser aus Mangel an kognitiven o<strong>der</strong> Zeitressourcen aktuell nicht aufgebracht<br />

101<br />

werden kann (weshalb Giddens u.a. von <strong>der</strong> +Dualität von Struktur* spricht). Wenn jedoch<br />

durch die (passive) Praxis <strong>der</strong> praxologischen Deflexion die (strukturellen) Wi<strong>der</strong>sprüche immer<br />

weiter zunehmen, so steigt auch <strong>der</strong> Aufwand für die (kognitiv-ideologische) Deflexion dieser<br />

Wi<strong>der</strong>sprüche immer weiter an. Irgendwann ist schließlich e<strong>in</strong> Punkt erreicht, wo die +Kosten*<br />

<strong>der</strong> Deflexion ihren +Nutzen* übersteigen.<br />

Die somit <strong>in</strong> vielen Fällen überaus kostenreiche (praxologische) Deflexion beruht wesentlich<br />

auf ver<strong>in</strong>nerlichten sozialen Handlungsmustern (Habitus, Rolle etc.) und <strong>in</strong>stitutionell verfestigten<br />

Rout<strong>in</strong>en, die die Brücke zwischen <strong>in</strong>dividuellen und sozialen Deflexionsmechanismen darstellen<br />

(siehe auch Abschnitt 5.3.2). Genauso wie im Fall von Konventionen o<strong>der</strong> Ideologien (siehe<br />

Abschnitt 5.3.1) kann man hier deshalb <strong>in</strong> Parallele zu Giddens’ Begriff <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen<br />

bzw. <strong>in</strong>stitutionalisierten Reflexivität durch die mo<strong>der</strong>nen Expertensysteme (vgl. z.B. Mo<strong>der</strong>nity<br />

and Self-Identity; S. 149ff.) von e<strong>in</strong>er strukturellen bzw. <strong>in</strong>stitutionalisierten Deflexion sprechen.<br />

Mit dem +Sedimentationsprozeß* <strong>der</strong> Institutionalisierung (vgl. hierzu auch Berger/Luckmann:<br />

Die gesellschaftliche Konstruktion <strong>der</strong> Wirklichkeit; S. 72ff.) verschleiert sich die deflexive<br />

Gegenbewegung und gew<strong>in</strong>nt gleichzeitig an +Masse*. Aufgrund des durch die +soziale Anrei-<br />

cherung* (und Ver<strong>in</strong>nerlichung) gewonnenen +Momentums* wirkt sie aus e<strong>in</strong>er eigenen Dynamik<br />

heraus. Allerd<strong>in</strong>gs ist <strong>in</strong>stitutionalisierte Deflexion aufgrund ihrer massehaften Trägheit wenig<br />

+steuerbar* und wirkt latent.<br />

E<strong>in</strong>e ebenfalls zu beobachtende, eher aktive und bewußte Deflexion durch die Akteure des<br />

reflexiv herausgefor<strong>der</strong>ten +Systems* setzt deshalb zwar auf den <strong>in</strong>stitutionellen Grundlagen<br />

auf, paßt sich aber situativ an, weshalb ich <strong>in</strong> diesem Fall von reaktiv-situativer Deflexion<br />

sprechen möchte (siehe zur Übersicht Tab. 12). Diese Form ist aktuell sogar verstärkt zu


382 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

beobachten, da das erreichte Ausmaß <strong>der</strong> Reflexivität, die zunehmende Stärke <strong>der</strong> Nebenfolgen<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung, e<strong>in</strong> erhebliches Potential an systemkritischen Reflexionen impliziert, die<br />

immer häufiger nur aktiv begrenzt werden können. Aktive, reaktiv-situative Deflexion beruht<br />

auf den selben Instrumenten wie die passive Deflexion, fußt also auf Ideologien und Praxologien<br />

(siehe unten), nur daß sie diese bewußt e<strong>in</strong>setzt. Sie ist allerd<strong>in</strong>gs – stärker als passive Deflexion<br />

– ambivalent. Jede aktive Deflexionsbemühung birgt nämlich die Gefahr, daß die Deflexions-<br />

versuche reflektiert und somit <strong>in</strong> ihr Gegenteil verkehrt werden: Statt die reflexiven Impulse<br />

zu schwächen, verstärken sie diese.<br />

Dieser hier verwendete Deflexionsbegriff be<strong>in</strong>haltet, wie auch <strong>der</strong> Reflexionsbegriff, e<strong>in</strong>e<br />

klare normative Komponente: Deflexion bedeutet, um es nochmals zu betonen, nicht nur<br />

die Überdeckung von Reflexivität und die Ablenkung von Reflexionen. Die Rede von <strong>der</strong><br />

Deflexion impliziert über diese eher deskriptive Ebene h<strong>in</strong>ausgehend, die Auffassung, daß<br />

im Bemühen um +Ablenkung* von reflexiven Herausfor<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong> Moment <strong>der</strong> Unaufrichtig-<br />

keit, des +mauvaise foi* (Sartre) zum Tragen kommt. Die <strong>in</strong>nere und äußere Ambivalenz des<br />

Se<strong>in</strong>s wird nicht zugelassen und gespiegelt, son<strong>der</strong>n mittels Ideologien und Praxologien verspie-<br />

gelt. Der Deflexionsbegriff und <strong>der</strong> kritisch erweiterte Reflexionsbegriff s<strong>in</strong>d dabei die notwendige<br />

(und auf <strong>der</strong> begrifflichen Ebene bisher fehlende) Klammern zwischen <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene<br />

und <strong>der</strong> von ihr me<strong>in</strong>es Erachtens nicht zu trennenden Handlungsebene. Denn obwohl z.B.<br />

im marxistischen Diskurs die zentrale Rolle <strong>der</strong> Praxis herausgestellt wird, konzentrierte sich<br />

die marxistische Kritik (wie auch ihre Weiterführungen) – neben ihrem H<strong>in</strong>weis auf die faktischen<br />

Defizite <strong>der</strong> sozialen Realität – zumeist auf die ideologische Ebene und besitzt ke<strong>in</strong>en adäquaten<br />

kritischen Parallelbegriff zum Ideologiebegriff auf <strong>der</strong> Handlungsebene.<br />

E<strong>in</strong>en solchen kritischen Parallelbegriff zum Ideologiebegriff auf <strong>der</strong> Handlungsebene stellt<br />

<strong>der</strong> Praxologiebegriff dar (auf den im Vorangegangenen ja bereits ausgiebig rekurriert wurde):<br />

Kann man unter Ideologie, <strong>in</strong> Anlehnung an den marxistischen Diskurs, e<strong>in</strong> (notwendig) +falsches*<br />

Bewußtse<strong>in</strong> verstehen (siehe auch unten), so bedeutet Praxologie analog e<strong>in</strong> notwendig +falsches*<br />

Se<strong>in</strong>, das sich <strong>der</strong> erlebten Wirklichkeit nicht öffnet, son<strong>der</strong>n sich vor ihr handelnd verschließt.<br />

Beide, Ideologie und Praxologie, stellen dabei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en untrennbaren – dialektischen – Zusam-<br />

menhang dar: Ideologien setzen auf Praxologien auf, und Praxologien beruhen ihrerseits auf<br />

Ideologien. Verbunden ergibt sich e<strong>in</strong> deflexiver Komplex von Handeln und Bewußtse<strong>in</strong>,<br />

<strong>der</strong> reflexives Bewußtse<strong>in</strong> absperrt, um reflexive Praktiken zu unterb<strong>in</strong>den und zu unterm<strong>in</strong>ieren.


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 383<br />

Tabelle 13: Ebenen von Reflexion und Deflexion<br />

Dialektik Reflexion: Deflexion:<br />

Bewußtse<strong>in</strong>sebene: Theorie Ideologie<br />

Handlungsebene: Praxis Praxologie<br />

Der Deflexion steht – ebenfalls dialektisch – e<strong>in</strong> reflexiver Komplex gegenüber, <strong>der</strong> aus Theorie<br />

(als <strong>der</strong> reflexiven gedanklichen Spiegelung des Se<strong>in</strong>s) und Praxis (als +handeln<strong>der</strong> Reflexion*)<br />

gebildet wird. Während also auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Reflexion Theorie und Praxis zusammenwirken,<br />

f<strong>in</strong>den sich auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Deflexion Ideologie und Praxologie als ihre deflektorischen Ent-<br />

sprechungen (siehe Tab. 13). 102<br />

Diese Deflexionsseite des (doppelt) dialektischen Feldes – das (politikbezogen) <strong>in</strong> Abschnitt<br />

5.4 noch e<strong>in</strong>mal näher <strong>in</strong>s Blickfeld gerückt werden wird – soll im folgenden sowohl auf<br />

<strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene wie auch auf <strong>der</strong> Handlungsebene untersucht werden, um darzustellen<br />

und theoretisch zu begründen, weshalb reflexive Prozesse <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen +Realität* häufig<br />

begrenzt bleiben. Die Differenzierung zwischen <strong>der</strong> Reflexions- und <strong>der</strong> Deflexionsseite geschieht<br />

dabei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kritisch-hermeneutischen Analysebestreben, das sich <strong>der</strong> +Subjektivität* se<strong>in</strong>er<br />

Zuordnungen bewußt ist (siehe auch nochmals S. 323), und dabei auf die +Reaktivität*, die<br />

von Giddens herausgestellte +doppelte Hermeneutik <strong>der</strong> Sozialwissenschaften* baut (siehe<br />

S. 317). In diesem allgeme<strong>in</strong>en Rahmen wird me<strong>in</strong>e Argumentation auf <strong>der</strong> Annahme beruhen,<br />

daß <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e aktive Deflexion primär vom +System* ausgeht, da <strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten,<br />

strukturierten Handlungszusammenhängen, als die ich Systeme begreife (siehe auch Anmerkung<br />

5, Kap. 2), eher als <strong>in</strong> weniger stark +<strong>in</strong>stitutionalisierten* Kontexten e<strong>in</strong> Interesse am Struktur-<br />

erhalt (und damit an Deflexion) besteht – weil die bestehenden Strukturen eng mit <strong>in</strong>dividuellen<br />

Interessen <strong>der</strong> Systemakteure verknüpft s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs können Reflexionen, die die eigenen<br />

Grundlagen h<strong>in</strong>terfragen, <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen durchaus von <strong>der</strong> Systemseite ausgelöst und <strong>in</strong>itiiert<br />

werden. Schließlich s<strong>in</strong>d die kognitiven Ressourcen zur Identifizierung von Problemlagen<br />

durch Spezialisierung und Vernetzung <strong>in</strong> Systemzusammenhängen größer als +außerhalb*.<br />

Die ästhetisch-hermeneutischen, auf <strong>der</strong> Fähigkeit zu +e<strong>in</strong>fühlen<strong>der</strong>* Interpretation beruhenden<br />

Reflexionsressourcen – als notwendige Basis für praktische Reflexionen – s<strong>in</strong>d jedoch im struktu-<br />

rierten Kontext des Systems aufgrund des hohen Abstraktionsgrades und <strong>der</strong> funktionalistischen


384 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

+Zweckfixierung* ger<strong>in</strong>g. Im Bereich <strong>der</strong> Lebenswelt s<strong>in</strong>d sie me<strong>in</strong>es Erachtens wie<strong>der</strong>um<br />

ausgeprägter. Hier fehlen allerd<strong>in</strong>gs oft die notwendigen kognitiven Ressourcen bzw. e<strong>in</strong> +ver-<br />

netztes* Wissen. Und auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lebenswelt wirken +Trägheitsmomente*. Vor allem ist die<br />

Reflexionsfähigkeit durch +Kolonisierungen* (Habermas) stark e<strong>in</strong>geschränkt. Deflexive Momente<br />

s<strong>in</strong>d, und hier<strong>in</strong> wird im folgenden me<strong>in</strong> Hauptaugenmerk liegen, ideologisch und praxologisch<br />

<strong>in</strong> die lebensweltlichen Zusammenhänge e<strong>in</strong>geschrieben: Die funktionalistische Ideologie<br />

von <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Subsysteme bewirkt e<strong>in</strong>e +Spaltung* des (politischen) Bewußtse<strong>in</strong>s (Ab-<br />

schnitt 5.3.1). Deflektorische Übersetzungsmechanismen sowie praxologische Rituale absorbieren<br />

Reflexionen auf <strong>der</strong> Handlungsebene (Abschnitt 5.3.2).<br />

5.3.1 DIE SPALTUNG DES (POLITISCHEN) BEWUßTSEINS DURCH DIE FUNKTIONALISTISCHE IDEOLOGIE<br />

Ideologien lenken Reflexionen auf <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene ab. Die funktionalistische Ideologie<br />

von <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Teilsysteme ist me<strong>in</strong>es Erachtens zentral, wenn es um die Deflexion<br />

(sub)politischer Reflexionen des (politischen) Systems geht. Sie soll deshalb <strong>in</strong> diesem Abschnitt<br />

als stellvertretendes Beispiel für die ideologische E<strong>in</strong>engung des Denkens betrachtet werden.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs sollte vor e<strong>in</strong>er näheren Beschäftigung mit dem funktionalistischen Gedankengebäude<br />

und se<strong>in</strong>es Deflexionspotentials geklärt werden, was im Kontext e<strong>in</strong>er kritischen Theorie reflexiver<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung exakt unter dem Begriff +Ideologie* zu verstehen ist.<br />

Innerhalb des soziologischen Diskurses ist Ideologie nämlich e<strong>in</strong> +unterschiedl. <strong>in</strong>terpretierter<br />

Begriff zur Charakterisierung <strong>der</strong> Zusammenhänge von menschl. Geist u. Ges., Bewußtse<strong>in</strong><br />

u. polit.-sozialer Macht*, <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en abwertenden Akzent trägt, +weil er als Kontrast<br />

zu ›Realität, ›Objektivität‹ u. ›Wahrheit‹ dient* (Hartfiel/Hillmann: Wörterbuch <strong>der</strong> Soziologie;<br />

S. 321). Ursprünglich, d.h. <strong>in</strong> <strong>der</strong> aufklärerischen +Ideenlehre* von Destutt de Tracy (1754–1836),<br />

me<strong>in</strong>te +Ideologie* dagegen schlicht die systematische Analyse von Ursprung, Inhalt und Struktur<br />

des menschlichen Bewußtse<strong>in</strong>s. Vor allem bei Helvetius (1715–71) und Holbach (1723–89)<br />

mischte sich <strong>in</strong> die wissenschaftliche Ideenanalyse zudem e<strong>in</strong> ausgeprägtes sozial- und macht-<br />

103<br />

kritisches Element, das auf die soziale Gebundenheit des Denkens abhob. Genau dieses<br />

kritische Element war dafür verantwortlich, daß Napoleon I. (1769–1821) dem Begriff schließlich<br />

se<strong>in</strong>e heute dom<strong>in</strong>ierende negative Wendung gab, da er se<strong>in</strong>e autokratische Herrschaft durch<br />

die Gedanken <strong>der</strong> aufklärerischen +Ideologen* <strong>in</strong> Frage gestellt sah und behauptete, jene


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 385<br />

würden <strong>in</strong> ihren Aussagen die Realität verfehlen. Gemäß dieser abschätzigen Sicht <strong>der</strong> +ideolo-<br />

gischen Wissenschaft* verstand man im folgenden unter Ideologie e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Vorurteilen (idola)<br />

verhaftetes Denken, das auch schon Francis Bacon (siehe Anmerkung 9, Entrée) als Quelle<br />

<strong>der</strong> Irrungen des Geistes galt. (Vgl. Lieber: Ideologie; S. 19–34)<br />

Es kommt freilich auf dieser Stufe – sowohl <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er aufklärerisch-sozialkritischen wie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

diffamierenden Fassung – noch immer e<strong>in</strong> partikularer Ideologiebegriff zur Anwendung, da<br />

jeweils nur bestimmte Denk<strong>in</strong>halte und Äußerungen als ideologisch begriffen werden (vgl.<br />

Mannheim: Ideologie und Utopie; S. 53ff.). E<strong>in</strong> totaler Ideologiebegriff entwickelt sich, vorbereitet<br />

durch die idealistische Bewußtse<strong>in</strong>sphilosophie und das geschichtsphilosophische Denken<br />

Hegels, erst im Diskurs des Sozialismus. Hier wird nämlich die Erkenntnisfähigkeit des politischen<br />

Gegners grundsätzlich angezweifelt. Dieser hat, durch se<strong>in</strong>en sozialen Standort (Klassenposition),<br />

gar ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Möglichkeit, als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em +falschen Bewußtse<strong>in</strong>* verhaftet zu denken. Nicht<br />

nur e<strong>in</strong>zelne Anschauungen, son<strong>der</strong>n das gesamte Denken e<strong>in</strong>er bestimmten Gruppe bzw.<br />

Klasse wird also gemäß des totalisierten Ideologieverständnisses im Sozialismus (aber auch<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> späteren Übernahme des totalen Ideologiebegriffs durch das Bürgertum) als ideologisch<br />

e<strong>in</strong>gestuft und verworfen (vgl. ebd.; S. 60ff.).<br />

Selbst dieser totale Ideologiebegriff ist jedoch noch begrenzt und nimmt die eigenen An-<br />

schauungen aus dem Ideologieverdacht aus. Erst <strong>der</strong> wissenssoziologische totale und allgeme<strong>in</strong>e<br />

Ideologiebegriff Karl Mannheims – auf welchen ich mich, wie angegeben, bereits oben mit<br />

<strong>der</strong> Unterscheidung zwischen partikularem und totalem Ideologiebegriff bezog – überw<strong>in</strong>det<br />

diese Schranke. Mannheim g<strong>in</strong>g es darum, <strong>in</strong> <strong>der</strong> von ihm (Ende <strong>der</strong> 20er Jahre) konstatierten<br />

Krisensituation des Denkens +die Krise zu vertiefen, sich ausweiten zu lassen, Wankendes<br />

<strong>in</strong> Frage zu stellen, um <strong>der</strong> Natur des Prozesses mit dem Auge des Forschers nachzugehen.<br />

Vor allem ist es daher nötig, den eigenen Gedanken gegenüber auf <strong>der</strong> Hut zu se<strong>in</strong> […] Wir<br />

wollen deshalb die aus den verschiedenen Ansätzen stammenden Wi<strong>der</strong>sprüche nicht retu-<br />

schieren, denn jetzt kommt es noch nicht auf e<strong>in</strong> Rechthaben an, son<strong>der</strong>n auf e<strong>in</strong> entschie-<br />

deneres Sichtbarmachen e<strong>in</strong>es jeden Wi<strong>der</strong>spruchs [...]* (Ebd.; S. 51)<br />

Indem es Mannheim also gerade um die Sichtbarmachung und Entfaltung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

g<strong>in</strong>g, ist se<strong>in</strong> Ansatz im oben def<strong>in</strong>ierten S<strong>in</strong>n reflexiv zu nennen. Und reflexiven Charakter<br />

hat auch se<strong>in</strong> Ideologiebegriff, denn dieser bezieht schließlich die Se<strong>in</strong>sgebundenheit des<br />

eigenen Denkens mit e<strong>in</strong> und radikalisiert dadurch den totalen Ideologiebegriff des 19. Jahrhun-


386 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

<strong>der</strong>ts (vgl. ebd.; S. 70ff.). Das Resultat dieser Radikalisierung und Ausweitung des Ideologiebegriffs<br />

auf die eigenen Aussagen und das eigene Denken ist allerd<strong>in</strong>gs für Mannheim nicht notwendiger-<br />

weise e<strong>in</strong> +wert(ungs)freier* Relativismus. Zwar kann +gegnerisches* Denken nicht mehr, wie<br />

im marxistischen Diskurs und se<strong>in</strong>er Weiterführungen beispielsweise durch Lukács, aus dem<br />

Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> +klassenbewußten* historischen Richtigkeit des eigenen Denkens heraus als<br />

notwendig falsches Bewußtse<strong>in</strong> gebrandmarkt werden (vgl. Geschichte und Klassenbewußtse<strong>in</strong>).<br />

Sehr wohl läßt sich jedoch relationalistisch aufzeigen, daß es falsches Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> dem<br />

S<strong>in</strong>n gibt, daß es <strong>der</strong> historisch-konkreten Situation, dem aktuellen Se<strong>in</strong>, nicht angemessen<br />

ersche<strong>in</strong>t. Somit taucht das Problem des falschen Bewußtse<strong>in</strong>s auch im Rahmen <strong>der</strong> Wissensso-<br />

ziologie Mannheims wie<strong>der</strong> auf: +Falsch und ideologisch ist von hier aus gesehen e<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong>,<br />

das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Orientierungsart die neue Wirklichkeit nicht e<strong>in</strong>geholt hat und sie deshalb mit<br />

überholten Kategorien eigentlich verdeckt.* (Ideologie und Utopie; S. 85) 104<br />

Mit dieser Formulierung wi<strong>der</strong>spricht sich Mannheims jedoch <strong>in</strong>direkt selbst, denn im Rekurs<br />

auf den Wirklichkeitsbegriff, muß er zwangsläufig davon ausgehen, daß e<strong>in</strong> nichtideologischer<br />

Bereich objektiver Realität für die historisch-relationale Bestimmung <strong>der</strong> +Falschheit* e<strong>in</strong>es<br />

Bewußtse<strong>in</strong>s dem Denken zugänglich sei. E<strong>in</strong> solcher Rückgriff auf historische +Objektivität*<br />

wäre jedoch gerade vor dem H<strong>in</strong>tergrund des radikalisierten wissenssoziologischen (reflexiven)<br />

Ideologiebegriffs, <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> +Se<strong>in</strong>sgebundenheit* des eigenen Denkens bewußt ist, unmöglich.<br />

Ich schlage deshalb <strong>in</strong> Konsequenz zu den vorangegangen Erläuterungen des hier verwendeten<br />

Reflexionsbegriff vor, anstelle e<strong>in</strong>es objektiven Kriteriums für die E<strong>in</strong>stufung des ideologischen<br />

Gehalts von Aussagen bzw. <strong>der</strong> +Falschheit* e<strong>in</strong>es Bewußtse<strong>in</strong>s, das subjektive Kriterium <strong>der</strong><br />

+Aufrichtigkeit* heranzuziehen, das e<strong>in</strong>e reflexive Spiegelung des Se<strong>in</strong>s (Theorie) von e<strong>in</strong>er<br />

deflexiven Verspiegelung des Se<strong>in</strong>s (Ideologie) unterscheidet. Dies bedeutet, anstatt <strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>deutigkeitskonstruktionen zu fliehen und bestehende Ambivalenzen zu verdrängen, den<br />

– selbst gesetzten – Ansprüchen gerecht zu werden sowie sich die eigenen, durchaus wi<strong>der</strong>-<br />

sprüchlichen und kont<strong>in</strong>genten Motivlagen bewußt zu machen. Auch gemäß dieser Differenzie-<br />

rung verläuft die Trennl<strong>in</strong>ie zwischen e<strong>in</strong>em reflexiv-theoretischen und e<strong>in</strong>em deflexiv-ideo-<br />

logischen Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> Relation auf das Se<strong>in</strong>. Die +Realität* dieses Se<strong>in</strong> gilt allerd<strong>in</strong>gs nicht<br />

als objektiv erfahrbar und beschreibbar, son<strong>der</strong>n ist vermittelt durch das (historische) Subjekt<br />

und bestimmt durch se<strong>in</strong>e Bereitschaft, die gegebene Reflexivität auf sich wirken zu lassen<br />

(Reflexion) o<strong>der</strong> abzulenken (Deflexion).


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 387<br />

Mit dieser konsequent reflexiven, auf sich selbst gerichteten Fassung des Ideologiebegriffs<br />

entfällt zwar die Möglichkeit, den ideologischen Charakter e<strong>in</strong>es Denkens +objektiv*, von<br />

außen her aufzuweisen (es lassen sich, wie oben erläutert, lediglich zu analytischen und heuristi-<br />

schen Zwecken Vermutungen plausibilisieren). Es bleibt es aber weiterh<strong>in</strong> möglich, das reflexive<br />

Element, das <strong>in</strong> je<strong>der</strong> ideologischen Deflexion dialektisch e<strong>in</strong>geschlossen ist, <strong>in</strong>dem sie Refle-<br />

xionen ablenkt und damit zur verdeckten Grundlage hat, durch e<strong>in</strong>en auf <strong>der</strong> Deflexion auf-<br />

setzenden erneuten Reflexionszirkel hervorzukehren. Denn schließlich gehörte es noch im<br />

klassisch ideologiekritischen, Anspruch und Wirklichkeit mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> konfrontierenden marxisti-<br />

schen Verständnis (an<strong>der</strong>s als bei Mannheim) zum Merkmal des Ideologischen, daß <strong>in</strong> ihm<br />

e<strong>in</strong> untergründiges Moment <strong>der</strong> Transzendenz wirkt, da gerade die notwendige Falschheit<br />

des ideologischen Bewußtse<strong>in</strong>s die praktische Möglichkeit se<strong>in</strong>er Kritik und Sprengung bedeutet.<br />

Genau diese latente +Transzendenz*, die ungewollt auf die immanenten Wi<strong>der</strong>sprüche ver-<br />

weisende +Verschleierung*, unterscheidet Ideologie (als geistigen Überbau) von bloßer Unre-<br />

flektiertheit (siehe auch S. LXIII).<br />

Doch selbst, wenn jede Ideologie reflexiv gewendet werden kann und e<strong>in</strong> (kritisch-dialektischer)<br />

reflexiver Theorieansatz sich se<strong>in</strong>es eigenen +ideologischen* Charakters bewußt ist, <strong>der</strong> dar<strong>in</strong><br />

besteht, daß auch se<strong>in</strong>e Sichtweisen notwendig e<strong>in</strong>e subjektive und dar<strong>in</strong> verzerrende Spiegelung<br />

und Interpretation des sozialen Raumes darstellt – <strong>der</strong> se<strong>in</strong>em verschleiernden Zweck, se<strong>in</strong>em<br />

ablenkenden Reflex +wesensmäßige* deflexive Charakter des Ideologischen wird mit diesen<br />

Relativierungen ke<strong>in</strong>eswegs negiert. Ideologie bleibt auch im radikalisierten reflexiven Verständnis<br />

e<strong>in</strong> explizit kritisch gewendeter Begriff und bezeichnet Denksysteme, die versuchen, ihre<br />

eigenen (Voraus-)Setzungen und Wi<strong>der</strong>sprüche (narrativ) zu verschleiern und zu negieren. 105<br />

Der aus e<strong>in</strong>em reflexiven Bewußtse<strong>in</strong> heraus erfolgende h<strong>in</strong>terfragende Blick auf den ideologi-<br />

schen +Überbau* reflektiert – um es nochmals zu betonen – lediglich zugleich se<strong>in</strong>e eigene<br />

Zeit- und Se<strong>in</strong>sgebundenheit, wobei er sich um e<strong>in</strong>e +aufrichtige*, subjekt- wie objektgerechte<br />

Spiegelung bemüht, die <strong>in</strong>neren und äußeren Wi<strong>der</strong>sprüche deshalb nicht überdeckt, son<strong>der</strong>n<br />

vielmehr – selbstironisch – freisetzt. Reflexivität bzw. Reflexion bedeutet also, um mit Peter<br />

Zima zu sprechen, +<strong>in</strong> diesem Fall konkret: Wahrnehmung <strong>der</strong> semantischen, syntaktischen<br />

und narrativen Verfahren me<strong>in</strong>es Diskurses […], die aus bestimmten Wertentscheidungen,<br />

Selektionen und Klassifikationen hervorgehen und an<strong>der</strong>e Verfahren […] ausschließen. Sie<br />

kann dazu führen, daß <strong>der</strong> partikulare und kont<strong>in</strong>gente Charakter des eigenen Denkens erkannt


388 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

wird, <strong>der</strong> nun als e<strong>in</strong> mögliches Konstrukt <strong>der</strong> Wirklichkeit ersche<strong>in</strong>t, nicht als mit dieser<br />

identisch.* (Mo<strong>der</strong>ne/<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 371)<br />

Aus e<strong>in</strong>er solchermaßen reflexiven, historisch notwendigerweise beschränkten, subjektiv-kont<strong>in</strong>-<br />

genten Sicht, die zugleich aber selbst-bewußt und engagiert die Festschreibungen <strong>der</strong> sozialen<br />

+Realität* h<strong>in</strong>terfragt, ersche<strong>in</strong>t (mir) <strong>der</strong> systemtheoretische Funktionalismus als e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> zentralen<br />

Ideologien für den deflexiven +systemischen* Funktionszusammenhang <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesell-<br />

schaft, da er aufgrund se<strong>in</strong>er Prämissen die praxologischen Deflexionsbemühungen des Systems<br />

auf <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene unterstützt und zugleich die eigene Se<strong>in</strong>sgebundenheit, se<strong>in</strong>e Gefan-<br />

genheit <strong>in</strong> ebendiesem System, negiert. Vor <strong>der</strong> dekonstruierenden (Ideologie-)Kritik dieses<br />

<strong>der</strong>zeit überaus prom<strong>in</strong>enten soziologischen Konzepts ist allerd<strong>in</strong>gs die Rekonstruktion se<strong>in</strong>er<br />

Kernaussagen notwendig. Hierbei möchte ich mich – da er beson<strong>der</strong>s konsequent zu Ende<br />

gedacht und im Diskurs, zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik, dom<strong>in</strong>ant ist – auf Niklas Luhmanns<br />

Ansatz beschränken, und zwar so, wie er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er neuesten Fassung <strong>in</strong> dem Band +Die<br />

Gesellschaft <strong>der</strong> Gesellschaft* (1997) vorliegt:<br />

Hier entwickelt Luhmann zunächst e<strong>in</strong>e +<strong>in</strong>tegrative* Sichtweise, <strong>in</strong>dem er das Gesellschaftssystem<br />

als Metasystem <strong>der</strong> sozialen Teilsysteme beschreibt: Soziale Systeme stellen zwar, global<br />

betrachtet, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel e<strong>in</strong>en +b<strong>in</strong>är codierten* und spezifischen, Kommunikationszusammenhang<br />

dar. Die Gesellschaft bzw. das Gesellschaftssystem ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> Son<strong>der</strong>fall unter den sozialen<br />

Systemen. Es schließt alle an<strong>der</strong>en sozialen Systeme <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>, da es sämtliche, nicht nur<br />

spezifische Kommunikationen umfaßt (vgl. S. 78). Trotz <strong>der</strong> daraus resultierenden Diffusität<br />

bildet das Gesellschaftssystem jedoch e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit – <strong>in</strong>dem es durch die gebildeten Strukturen<br />

<strong>der</strong> es konstituierenden Kommunikationen von se<strong>in</strong>er Umwelt abgegrenzt ist (vgl. ebd.; S.<br />

90). Auch das Gesellschaftssystem ist damit, wie die an<strong>der</strong>en sozialen Systeme, e<strong>in</strong> +operativ<br />

geschlossenes*, autopoietisches System (vgl. ebd.; S. 92): Im Rahmen <strong>der</strong> Gesellschaft br<strong>in</strong>gen<br />

sich Kommunikationen durch Kommunikation (selbst) hervor (vgl. ebd.; S. 96f.).<br />

Für die Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Autopoiesis s<strong>in</strong>d jedoch +Kopplungen* notwendig, die sozusagen<br />

die strukturellen Bed<strong>in</strong>gungen für die autopoietische Reproduktion e<strong>in</strong>es jeden Systems darstellen.<br />

Strukturelle Kopplung, so Luhmann, +bestimmt [zwar] nicht, was im System geschieht, sie<br />

muß aber vorausgesetzt werden, weil an<strong>der</strong>enfalls die Autopoiesis zum Erliegen käme und<br />

das System aufhören würde zu existieren.* (Ebd.; S. 100f.) Konkret auf das system(e)umfassende<br />

Kommunikationsnetz des Gesellschaftssystems bezogen, ergeben sich als notwendige strukturelle


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 389<br />

Kopplungen für dessen +kommunikative* Autopoiesis <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Zeichensysteme (also Sprache)<br />

und (mo<strong>der</strong>ne) Massenmedien (vgl. ebd.; S. 105–112). 106<br />

Innerhalb dieses strukturell gekoppelten und operativ geschlossenen Rahmens existieren jedoch<br />

autonome Funktionssysteme: Die evolutionär aus <strong>der</strong> stratifizierten Ständegesellschaft hervor-<br />

gegangene funktional differenzierte Gesellschaft <strong>der</strong> Gegenwart besteht nämlich aus ihrerseits<br />

operativ geschlossenen Teilsystemen, denen e<strong>in</strong>e je spezifische Aufgabe zukommt, welche<br />

diese aber selbst festlegen und eigenständig umsetzen. Das Gesellschaftssystem ist daher nur<br />

(umfassende) Umwelt für die Teilsysteme, ihnen jedoch nicht (hierarchisch) übergeordnet:<br />

+Mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung verzichtet die Gesellschaft darauf, den<br />

Teilsystemen e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Differenzierungsschema zu oktroieren.* (Ebd.; S. 745) Für<br />

das e<strong>in</strong>zelne Teilsystem, das auf <strong>der</strong> Grundlage e<strong>in</strong>es charakteristischen b<strong>in</strong>ären Codes wie<br />

Recht/Unrecht(Rechtssystem),Haben/Nichthaben(Wirtschaftssystem)o<strong>der</strong>Regierung/Opposition<br />

(<strong>Politik</strong>system) +operiert* (vgl. ebd.; S. 748ff. und siehe auch hier S. 101), bedeutet diese<br />

Autonomie vom gesellschaftlichen Rahmen wie den an<strong>der</strong>en Teilsystemen jedoch zugleich,<br />

daß se<strong>in</strong>e spezifische Funktion +Priorität genießt und allen an<strong>der</strong>en Funktionen vorgeordnet<br />

wird […] So ist zum Beispiel für das politische System <strong>der</strong> politische Erfolg (wie immer operatio-<br />

nalisiert) wichtiger als alles an<strong>der</strong>e, und e<strong>in</strong>e erfolgreiche Wirtschaft ist hier nur als Bed<strong>in</strong>gung<br />

politischer Erfolge wichtig.* (Ebd. S. 747) Nur wenn <strong>Politik</strong> also für ihre Zwecke z.B. Geldmittel<br />

benötigt, muß auf +fremde* Codes (<strong>in</strong> diesem Fall den ökonomischen Code von Haben/Nicht-<br />

haben) zurückgegriffen werden (vgl. ebd.; S. 762). 107<br />

Durch diese Argumentationsfigur wird deutlich, daß <strong>der</strong> übergreifende Rahmen des Gesell-<br />

schaftssystems im theoretischen System Luhmanns nur die Funktion e<strong>in</strong>er semantischen Klammer<br />

erfüllt, die er denken muß, um die e<strong>in</strong>zelnen Funktionssysteme als umso autonomer darstellen<br />

zu können. Das im zweiten Kapitel analysierte Zusammenspiel <strong>der</strong> (Teil-)Systeme und ihre<br />

+Kurzschlüsse* werden <strong>in</strong> dieser auf die Trennungen fixierten soziologischen Konstruktion<br />

konsequent ausgeblendet. Die Sicht des systemtheoretischen Funktionalismus (Luhmannscher<br />

Prägung) auf das gesellschaftliche Gefüge ist folglich selektiv. Diese Selektivität teilt sie mit<br />

allen +s<strong>in</strong>nvollen* theoretischen Bemühungen, die – um e<strong>in</strong>en analytischen Gew<strong>in</strong>n gegenüber<br />

re<strong>in</strong>en +Abbildungen* darzustellen – (Umwelt-)Komplexität zwangsläufig reduzieren müssen<br />

(so zum<strong>in</strong>dest würde man es wohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> funktionalistischen Term<strong>in</strong>ologie ausdrücken). Luhmann<br />

hypostasiert allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Beschreibungen e<strong>in</strong>en bestimmten, aus reflexiver Sicht durchaus


390 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

problematischen Aspekt <strong>der</strong> sozialen +Wirklichkeit* mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften: nämlich <strong>der</strong>en<br />

arbeitsteilige Organisation sowie die aus ihr folgenden Differenzierungen und +Autonomiegew<strong>in</strong>-<br />

ne*. Zentralisierungen und offene wie verdeckte Querverb<strong>in</strong>dungen <strong>der</strong> (teil)autonomen<br />

Subsysteme werden dagegen kaum reflektiert.<br />

Durch diese spezifische Selektivität ergibt sich zwar e<strong>in</strong> hoch <strong>in</strong> sich geschlossenes, konsistentes<br />

108<br />

Gedankengebäude mit ebenso hohem Allgeme<strong>in</strong>heitsgrad. Dieser Vorteil ist jedoch nicht<br />

nur durch e<strong>in</strong>e (tautologische) Zirkularität erkauft (siehe unten), son<strong>der</strong>n bewirkt auch, daß<br />

sie e<strong>in</strong>en Bezug auf das konkrete Soziale nur als ideologischer Überbau aufweist. Mit <strong>der</strong><br />

Faktizität <strong>der</strong> Gesellschaft konfrontiert, gelangt schließlich selbst Luhmann gelegentlich zu<br />

Feststellungen, die se<strong>in</strong>e eigenen theoretischen Prämissen <strong>in</strong>direkt <strong>in</strong> Frage stellen. So kommt<br />

er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz +Inklusion und Exklusion* (1994) zu <strong>der</strong> bereits zitierten Schlußfolgerung,<br />

daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft zwar <strong>der</strong> Inklusionsbereich den (gedachten) Regeln funktionaler<br />

Differenzierung gehorcht. Der Exklusionsbereich ist dagegen – paradoxerweise und zum Nachteil<br />

<strong>der</strong> so allzu leicht aus dem sozialen Rahmen fallenden Individuen – hoch <strong>in</strong>tegriert (siehe<br />

S. 261f.). Wir haben es also +tatsächlich* mit e<strong>in</strong>er Trennung ohne Trennung zu tun.<br />

Soziale Tatsachen s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs, wie auch Luhmann aufweist, immer sozial konstruiert und<br />

unterliegen Interpretationsprozessen. Diese +Relativität* trifft ebenso auf die wissenschaftliche<br />

Kommunikation zu, die sich – gemäß <strong>der</strong> funktionalistischen Sicht – auf den Code wahr/unwahr<br />

bezieht: +Der Wahrheitscode selbst ist, <strong>in</strong>dem wir hier über ihn sprechen, Gegenstand wahrer<br />

o<strong>der</strong> vielleicht unwahrer Aussagen* (Die Gesellschaft <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 373f.) Damit deutet<br />

Luhmann auf das grundlegende, schon oben angesprochene Problem aller +Beobachtungen<br />

höherer Ordnung*, wie sie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e (soziologische) Metatheorien mit hohem Allgeme<strong>in</strong>-<br />

heitsgrad darstellen: Diese müssen, um überhaupt Aussagen vornehmen zu können, kont<strong>in</strong>gente<br />

Setzungen vornehmen, die sich nicht +objektivieren* lassen, son<strong>der</strong>n – berechtigterweise –<br />

Gegenstand des kritischen wissenschaftlichen (Meta-)Diskurses s<strong>in</strong>d.<br />

Dieser kritische Diskurs hat (seit ihren ersten Artikulierungen) auch die funktionalistische System-<br />

theorie Luhmanns begleitet. Vor allem Jürgen Habermas exponierte sich Anfang <strong>der</strong> 70er<br />

Jahre durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive, überaus kritische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Luhmann. Der primäre<br />

an Luhmann gerichtete Vorwurf lautete dabei, daß dieser im Rahmen se<strong>in</strong>er Theorie e<strong>in</strong>e<br />

Funktionalisierung und damit e<strong>in</strong>e +S<strong>in</strong>nentleerung* des Wahrheitsbegriffs betrieben habe:<br />

Wahrheit wird nämlich von Luhmann re<strong>in</strong> +empirisch*, als Ergebnis von Kommunikations-


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 391<br />

109<br />

prozessen, verstanden (siehe auch oben) und ist gleichzeitig e<strong>in</strong> zentrales +Medium* <strong>der</strong><br />

Kommunikation, <strong>in</strong>dem <strong>der</strong> Rekurs auf Wahrheit die (soziale) Kommunikation von Begrün-<br />

dungsansprüchen entlastet. Der gesellschaftliche +Wert* <strong>der</strong> Wahrheit wird also alle<strong>in</strong>e <strong>in</strong><br />

ihrer Dienlichkeit für die nach Luhmann zentrale Funktion <strong>der</strong> Komplexitätsreduktion und<br />

Stabilitätssicherung gesehen. Damit entfällt jedoch nach Habermas erstens e<strong>in</strong>e Kritisierbarkeit<br />

<strong>der</strong> +empirischen* Wahrheit(en) – was für diesen wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong> wesentliches Kriterium für<br />

e<strong>in</strong>e begründete, <strong>in</strong>tersubjektive Wahrheit darstellt, die auch unabhängig von Autorität, Vertrauen<br />

und Zwang etc. Gültigkeit beanspruchen kann und damit diesen Namen erst wirklich verdient.<br />

Zweitens muß Luhmann paradoxerweise, um zu se<strong>in</strong>er +empirischen*, pragmatisch verkürzten<br />

Bestimmung von Wahrheit gelangen zu können, zugleich implizit auf e<strong>in</strong>en +theoretischen*,<br />

auf diskursiven Begründungen beruhenden Wahrheitsbegriff rekurrieren. Luhmanns Ansatz<br />

wird also dem eigenen Anspruch – nämlich gerade ohne e<strong>in</strong>en solchen, <strong>in</strong>haltlich gefüllten<br />

Wahrheitsbegriff auszukommen – nicht gerecht. (Vgl. Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> Sozial-<br />

technologie?; Abschnitt IV)<br />

Unter diesem Blickw<strong>in</strong>kel ersche<strong>in</strong>t die Systemtheorie konsequent als e<strong>in</strong>e +neue Form <strong>der</strong><br />

Ideologie*. Habermas illustriert dies auch an Luhmanns Verb<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> auf formalisierten<br />

Verfahren beruhenden Legitimation des Rechts mit e<strong>in</strong>em funktionalisierten Ideologiebegriff:<br />

E<strong>in</strong>erseits wird von Luhmann betont, daß die Wirksamkeit des Rechtssystems auf <strong>der</strong> Aner-<br />

kennung <strong>der</strong> dem Recht Geltung verschaffenden Verfahren beruht (siehe auch hier S. 100ff.).<br />

An<strong>der</strong>seits besteht die Auffassung, daß zu diesen Verfahren abstützende Ideologien h<strong>in</strong>zutreten<br />

müssen, um ihnen die Anerkennung zu sichern. Dabei wird unter +Ideologie* von Luhmann<br />

freilich nicht <strong>der</strong> Ausfluß +falschen* Bewußtse<strong>in</strong>s verstanden, son<strong>der</strong>n er versteht unter Ideologien<br />

lediglich (austauschbare) Ideensysteme, die die Funktion erfüllen, das Handeln zu orientieren<br />

und zu rechtfertigen. In dieser Konstruktion übernimmt die funktionalistische Theorie gemäß<br />

Habermas jedoch selbst offensichtlich die Funktion e<strong>in</strong>er Ideologie: Sie stützt, ähnlich wie<br />

die idealistischen Rechtstheorien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit, die bestehenden Herrschaftsverhältnis<br />

und tilgt den Anspruch auf diskursive Legitimation. (Vgl. ebd.; Abschnitt V.)<br />

Diese kritische E<strong>in</strong>schätzung durch Habermas ist natürlich nicht unwi<strong>der</strong>sprochen geblieben<br />

und hat e<strong>in</strong>e weitergehende Diskussion entfacht (vgl. v.a. die im Suhrkamp-Verlag erschienenen<br />

Folgebände von +Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> Sozialtechnologie*). Es ist allerd<strong>in</strong>gs bezeichnend,<br />

daß selbst aus Kreisen e<strong>in</strong>er eher am +Ma<strong>in</strong>stream* orientierten Soziologie teilweise sehr ähnliche


392 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

E<strong>in</strong>wände gegen Luhmann vorgetragen wurden. So spricht etwa Klaus Grimm +im Licht <strong>der</strong><br />

Wissenschaftslehre Max Webers* vom +Elend <strong>der</strong> aprioristischen Soziologie* und versucht,<br />

den verdeckten normativen Gehalt <strong>der</strong> funktionalistischen Systemtheorie zu offenbaren, <strong>in</strong>dem<br />

er u.a. auf die mangelnde Begründung <strong>der</strong> zentralen Stellung <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> +Systemstabilität*<br />

bei Luhmann h<strong>in</strong>weist (vgl. Grimm: Niklas Luhmanns ›Soziologische Aufklärung‹; S. 137ff.).<br />

Die mit Habermas und Grimm dargestellte L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> Luhmann-Kritik soll allerd<strong>in</strong>gs hier nicht<br />

weiter vertieft und fortgeführt werden – auch wenn die meisten <strong>der</strong> dargelegten Punkte noch<br />

immer ihre Berechtigung haben. Schließlich hat Luhmann im folgenden se<strong>in</strong>en Ansatz <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>igen wichtigen Teilen modifiziert und den Autopoiesisgedanken <strong>in</strong>s Zentrum gestellt (siehe<br />

110<br />

auch nochmals S. XXV), so daß sich schließlich ihre oben skizzierte Gestalt ergeben hat.<br />

Dies bedeutet, daß Umformulierungen <strong>der</strong> ursprünglichen Kritik notwendig wurden/werden<br />

und auch an<strong>der</strong>e Punkte <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund zu rücken s<strong>in</strong>d:<br />

Den Gedanken <strong>der</strong> Autopoiesis o<strong>der</strong> Selbsthervorbr<strong>in</strong>gung hat Luhmann aus <strong>der</strong> kognitionswissen-<br />

schaftlichen Theorie des +Radikalen Konstruktivismus* entlehnt (vgl. Maturana: Neurophysiology<br />

of Cognition sowie Maturana/Varela: Autopoiesis and Cognition und siehe auch hier Anmerkung<br />

35, Entrée). Folgt man <strong>der</strong> Darstellung von Friedrich Wallner, so stellt die ursprüngliche Variante<br />

Maturanas e<strong>in</strong>en eleganten Versuch dar, den (naiven) metaphysischen Realismus durch e<strong>in</strong>e<br />

Radikalisierung <strong>der</strong> Erkenntnistheorie Kants zu überw<strong>in</strong>den, <strong>in</strong>dem nicht mehr e<strong>in</strong>e trans-<br />

zendentale E<strong>in</strong>heit von Subjekt und Objekt gedacht, son<strong>der</strong>n das neuronale Netzwerk des<br />

(subjektiven) Bewußtse<strong>in</strong> von vorne here<strong>in</strong> als <strong>in</strong> sich geschlossenes System begriffen wird,<br />

das se<strong>in</strong> Verständnis <strong>der</strong> Welt aus sich heraus (doch e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Umwelt) hervorbr<strong>in</strong>gt.<br />

Freilich gilt auch hier, daß man die gemachten Voraussetzungen annehmen muß, um zu<br />

diesem Ende folgen zu können; und man zahlt den (vielleicht zu hohen) Preis, sich e<strong>in</strong>er<br />

+zirkulären* Konzeption auszuliefern, die nicht auf +Wahrheiten* außerhalb ihrer selbst<br />

zurückgreifen kann (vgl. Selbstorganisation – Zirkularität als Erklärungspr<strong>in</strong>zip?).<br />

Luhmann überträgt dieses als solches folglich bereits +problematische* kognitionswissenschaftliche<br />

Modell <strong>der</strong> Autopoiesis auf soziale Systeme. Dies ist umso mehr e<strong>in</strong> fragwürdiges Unternehmen,<br />

als soziale Systeme kaum das selbe Maß an Geschlossenheit aufweisen dürften wie personale<br />

+Bewußtse<strong>in</strong>ssysteme* – denn die Geschlossenheit des Systems ist schließlich e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> zentralen<br />

Voraussetzungen für Autopoiesis (vgl. dazu auch Heijl: Konstruktion <strong>der</strong> sozialen Konstruktion;<br />

S. 322–327 und siehe ebenso nochmals S. LXXVI). Zudem gibt Luhmann vor, durch den


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 393<br />

mit dem Autopoiesiskonzept verknüpften Gedanken <strong>der</strong> (basalen) Selbstreferenz e<strong>in</strong>e Lösung<br />

des nach Parsons grundlegenden Problems <strong>der</strong> doppelten Kont<strong>in</strong>genz geleistet zu haben,<br />

also <strong>der</strong> Frage, wie überhaupt e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teraktives Handlungssystem <strong>in</strong> Gang gebracht werden<br />

kann, wenn die Handelnden ihr Handeln jeweils vom Handeln <strong>der</strong>/des an<strong>der</strong>en abhängig<br />

machen (siehe auch nochmals hier S. XL). Luhmanns paradoxer Ausweg lautet, daß es eben<br />

durch Selbstreferenz zu se<strong>in</strong>er Selbstlösung kommt, d.h. <strong>der</strong> (parallele) Bezug auf die gesehene<br />

Problematik elim<strong>in</strong>iert diese. Aus <strong>der</strong> ursprünglichen Differenz <strong>der</strong> Perspektiven entsteht so<br />

Konvergenz <strong>in</strong> <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>samen Negation <strong>der</strong> Ausweglosigkeit <strong>der</strong> Ausgangssituation. Über<br />

diesen +Initiationsmechanismus* kommt es zur schließlich zur Selbsthervorbr<strong>in</strong>gung e<strong>in</strong>es<br />

sozialen Systems. Doch die damit dargebotene Lösung des Problems <strong>der</strong> doppelten Kont<strong>in</strong>genz<br />

ist ganz offensichtlich nur e<strong>in</strong>e Sche<strong>in</strong>lösung, denn sie setzt erstens voraus, daß das Problem<br />

<strong>der</strong> doppelten Kont<strong>in</strong>genz (doppelt) bewußt ist und daß zweitens e<strong>in</strong> analoges Interesse an<br />

se<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung besteht. Auf (<strong>in</strong>dividuelles) Bewußtse<strong>in</strong> und (<strong>in</strong>dividuelle) Willensäußerungen<br />

kann und darf aber e<strong>in</strong>e +autopoietische* Theorie sozialer Systeme ihrem eigenen Anspruch<br />

gemäß nicht rekurrieren. (Vgl. auch Beermann: Luhmanns Autopoiesisbegriff)<br />

Wenn man nun die bisher hier dargestellte Kritik – die selbstverständlich nur e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Auswahl<br />

aus e<strong>in</strong>em breiteren Spektrum darstellt, trotzdem jedoch wohl als +typisch* angesehen werden<br />

darf – zusammenfaßt, so ergeben sich im wesentlichen zwei Hauptpunkte: 1. <strong>der</strong> zirkuläre<br />

Charakter <strong>der</strong> Theorie, die die eigenen Voraussetzungen nicht spiegelt (immanente Kritik)<br />

und 2. ihre de facto systemstabilisierende Wirkung (ideologiekritische Ansätze). Im folgenden<br />

möchte ich <strong>der</strong> Frage nachgehen, warum Luhmanns Theorieentwurf, trotz <strong>der</strong> zentralen<br />

Bedeutung des Kont<strong>in</strong>genzbegriffs, die eigene Kont<strong>in</strong>genz und Zirkularität nicht spiegeln kann,<br />

und weshalb er sich mit <strong>der</strong> (unterdrückerischen) Macht <strong>der</strong> Systeme identifiziert. Beides<br />

hängt, wie ich vermute, zusammen und beruht auf dem deflexiven Charakter von Luhmanns<br />

Denken, welches sich erst dar<strong>in</strong> als ideologisch im oben def<strong>in</strong>ierten S<strong>in</strong>n offenbart. 111<br />

Gehorcht Luhmann also als Wissenschaftler nur dem spezifischen Code des Teilsystems (wahr/-<br />

unwahr) und muß er deshalb die (objektive) Gültigkeit se<strong>in</strong>er Aussagen behaupten, o<strong>der</strong> lassen<br />

sich tiefer reichende Motive analytisch re-konstruieren, die den deflexiv-ideologischen Charakter<br />

112<br />

<strong>der</strong> Luhmannschen Systemtheorie begründen? Letzteres wird <strong>in</strong> dem hoch <strong>in</strong>teressanten<br />

und amüsanten Band +Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie* (1993) von Günter Schulte<br />

113<br />

e<strong>in</strong>drucksvoll versucht. Schultes Ausführungen ist e<strong>in</strong> Luhmann-Zitat vorgeschaltet: +Hat


394 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

nicht vielleicht Freud se<strong>in</strong>e Theorie nur zur Selbstsublimierung erfunden?*, fragt dieser. Das<br />

ist sehr wohl möglich. Aber hat nicht vielleicht auch Luhmann, wie sich umgekehrt (<strong>in</strong> Anlehnung<br />

an Schulte) weiterfragen läßt, se<strong>in</strong>e Theorie nur zur Selbstsublimierung erfunden – und ist<br />

sich dessen nicht bewußt? Während e<strong>in</strong> kritisch-dialektischer Ansatz diesen +Selbstzweck*<br />

<strong>der</strong> Theorie nicht negieren kann, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> die theoretischen Bemühungen reflexiv <strong>in</strong>tegriert,<br />

darum weiß, daß Theorie immer auch e<strong>in</strong> von <strong>in</strong>nen angestoßener und nach <strong>in</strong>nen gerichteter<br />

Versuch <strong>der</strong> Weltdeutung ist, flieht Luhmann vor dieser E<strong>in</strong>sicht und versucht, se<strong>in</strong>e Sichtweise<br />

(als motivlose +Beobachtung*) zu objektivieren. So schreibt er vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong><br />

postmo<strong>der</strong>nen Relativierung umfassen<strong>der</strong> (mo<strong>der</strong>ner) Metaerzählungen an e<strong>in</strong>er auto-po(i)etischen<br />

Metaerzählung des Systems. Versuchen wir deshalb – mit Schulte und durchaus +lustvoll*<br />

– e<strong>in</strong>e psychoanalytisch <strong>in</strong>spirierte Deutung von Luhmanns Theoriegebäude, die selbst natürlich<br />

ke<strong>in</strong>en Wahrheitsanspruch erhebt, son<strong>der</strong>n eher e<strong>in</strong> (hoffentlich aufschlußreiches) Interpretations-<br />

spiel darstellt, das an e<strong>in</strong>em geeigneten Beispiel vor allem etwas über die analytische Tauglichkeit<br />

<strong>der</strong> hier verwendeten Begriffe und Unterscheidungen aussagen soll.<br />

Doch zurück zu Luhmann: Dessen explizites Ziel ist e<strong>in</strong> Programm <strong>der</strong> +Abklärung* – also<br />

e<strong>in</strong>e +Befreiung* <strong>der</strong> Aufklärung von ihrem kritisch gegen sich selbst gerichteten Impuls. Denn<br />

diese gerate zunehmend <strong>in</strong> Gefahr, sich mit ihrem fortgesetzten Streben nach <strong>der</strong> restlosen<br />

Aufdeckung aller (auch <strong>der</strong> eigenen) Latenzen hoffnungslos zu überfor<strong>der</strong>n. Dieser +haltlosen*<br />

Entlarvungstendenz <strong>der</strong> Aufklärung wird e<strong>in</strong>e abgeklärte funktionalistische Sichtweise entgegen-<br />

gesetzt, die Verdrängung als handlungsnotwendigen Mechanismus zur Komplexitätsreduktion,<br />

als Schutz vor Überfor<strong>der</strong>ung begreift. So wird von Luhmann also gleichzeitig mit dem E<strong>in</strong>ge-<br />

ständnis von Latenz, <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> Latenz gefor<strong>der</strong>t, da eben dies (latent) funktional ist (vgl.<br />

Soziologische Aufklärung; S. 69ff.).<br />

Mit se<strong>in</strong>er For<strong>der</strong>ung nach Latenzschutz schützt Luhmann das <strong>in</strong> den Sog <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat ebenso<br />

rastlosen und wie ruchlosen neuzeitlichen Aufklärung geratene Individuum freilich nicht, son<strong>der</strong>n<br />

überantwortet es im Gegenteil <strong>der</strong> verselbständigten Dynamik ihrer Bewegung, die sich <strong>in</strong><br />

den – nach Luhmann eben gerade besser nicht zu h<strong>in</strong>terfragenden – latenten (Macht-)Strukturen<br />

des Systems verdichtet hat. An die Stelle <strong>der</strong> haltlosen, Angst-getriebenen subjektiven Vernunft,<br />

tritt so – ebenso Angst-getrieben – die Kälte e<strong>in</strong>er (pragmatisch) objektivierten Vernunft <strong>der</strong><br />

Systeme, die ke<strong>in</strong>e Wi<strong>der</strong>sprüche duldet und dulden kann. Dazu Schulte: +Die Systemtheorie<br />

erweist sich als e<strong>in</strong>e extravertierte o<strong>der</strong> umgestülpte Subjekttheorie, die ihre eigene Abdunklung


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 395<br />

durch e<strong>in</strong>e Mystik und Mythologie des Selbstschutzes besorgt […] Fasz<strong>in</strong>iert vom nicht fixierbaren<br />

bl<strong>in</strong>den Fleck <strong>der</strong> eigenen Beobachtung hat Luhmann se<strong>in</strong>e Systemtheorie <strong>in</strong> den letzen Jahren<br />

mehr und mehr zur e<strong>in</strong>er Theorie <strong>der</strong> Entparadoxierung aus- und umgearbeitet, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es<br />

weniger um die Beschreibung o<strong>der</strong> Rekonstruktion gesellschaftlicher Phänomene als um die<br />

Beschwörung e<strong>in</strong>er systemischen Vernunft <strong>der</strong> Ablenkung von unaushaltbarer Selbstreferenz<br />

geht* (Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie; S. 13)<br />

Der wichtigste Schritt auf diesem Weg war folglich die Elim<strong>in</strong>ierung des Subjekts und <strong>der</strong><br />

Subjektivität aus se<strong>in</strong>em Bezugsrahmen. Das fühlende und handelnde Individuum mit se<strong>in</strong>er<br />

grundlegenden Ambivalenz (siehe Exkurs), wird – da es sich systemtheoretisch nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Eigenheit begreifen läßt und Wi<strong>der</strong>sprüche provoziert – zur bloßen Systemumwelt degradiert<br />

114<br />

(vgl. z.B. Die Tücke des Subjekts und siehe auch hier S. XXV). Luhmann beschränkt sich<br />

folglich, wie oben dargestellt, auf die Betrachtung von entpersonalisierten Kommunikationszusam-<br />

menhängen. Was bleibt ist <strong>der</strong> Beobachter (dieser Kommunikationsprozesse), doch jener<br />

stellt ebenso ke<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles +Ich* dar, son<strong>der</strong>n ist vielmehr selbst immer <strong>der</strong> Beobachtung<br />

ausgesetzt und wird vor allem erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kommunikation dieser Beobachtung – als beobachtetes<br />

Objekt – zum Teil des Ganzen, des Systems (vgl. z.B. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft; S.<br />

115<br />

77ff.). Diese (regressive) Selbst-Verleugnung, die auch gewisse +paranoische* Züge aufweist<br />

und zudem e<strong>in</strong>e schizophrene Spaltung von sich erfor<strong>der</strong>t (vgl. ebd. S. 119 und siehe auch<br />

unten), kann – reflexiv beobachtet – als deflexiver Schutzmechanismus gedeutet werden,<br />

<strong>der</strong> die Zumutungen <strong>der</strong> verd<strong>in</strong>glichenden Warenlogik <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur des Spätkapitalismus<br />

durch e<strong>in</strong>e verflachende Selbstverd<strong>in</strong>glichung kompensiert (vgl. auch Jameson: Zur Logik <strong>der</strong><br />

Kultur im Spätkapitalismus). +Luhmanns Theorie*, so Schulte, +dient […] <strong>der</strong> Vermeidung<br />

eigener, subjektiver Wahrheit.* (Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie; S. 211)<br />

Genauso wie das Subjekt nur als Objekt <strong>in</strong>s System <strong>in</strong>tegriert ist, darf subjektive Wahrheit<br />

folglich nur objektiviert geäußert werden. Der Systemtheoretiker distanziert sich sozusagen<br />

vom eigenen +Ich* und dem eigenen Standpunkt und spiegelt diesen <strong>in</strong> die überhöhte, damit<br />

gleichsam metaphysischen Charakter aufweisende Logik/Semantik des Systems – die allerd<strong>in</strong>gs<br />

natürlich erst <strong>in</strong> dieser Spiegelung konstruiert, autopoietisch hervorgebracht wird. Zwar bemerkt<br />

Luhmann sehr richtig: +Es gibt nur Ratten im Labyr<strong>in</strong>th [des Systems], die e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> beobachten<br />

und eben deshalb wohl zu Systemstrukturen, nie aber zu Konsens kommen können. Es gibt<br />

ke<strong>in</strong> labyr<strong>in</strong>thfreies, ke<strong>in</strong> kontextfreies Beobachten. Und selbstverständlich ist auch e<strong>in</strong>e Theorie,


396 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

die dieses beschreibt [nämlich die Systemtheorie], e<strong>in</strong>e Rattentheorie.* (Soziologische Aufklärung;<br />

Band 4, S. 6). Trotzdem figuriert <strong>der</strong> systemtheoretische Beobachter (Luhmann) gewissermaßen<br />

als +Rattenkönig* (vgl. auch Schulte: Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie; S. 201ff.).<br />

Denn er beobachtet die an<strong>der</strong>en, wie sie an<strong>der</strong>e beobachten – und steht damit e<strong>in</strong>e Stufe<br />

über ihnen. So nähert sich <strong>der</strong> Systemtheoretiker <strong>der</strong> Ebene des Systems zugleich epistemologisch<br />

und ontologisch an: beobachtend identifiziert er sich, verschmilzt er mit den – im Auto-<br />

poiesisgedanken von ihrer machtpolitischen Bed<strong>in</strong>gtheit +gere<strong>in</strong>igten* – System-Strukturen<br />

und partizipiert so an <strong>der</strong> höheren +Wahrheit* des Systems, das durch se<strong>in</strong> Funktionieren,<br />

aus sich selbst heraus, vollständig legitimiert ersche<strong>in</strong>t. Dies freilich erfor<strong>der</strong>t die konsequente<br />

Ausblendung <strong>der</strong> gewaltvollen, unterdrückerischen Aspekte <strong>der</strong> rekursiv festgeschriebenen<br />

Systemstrukturen, die auch die eigenen Freiheiten und Denkräume (durch die Notwendigkeit<br />

abgrenzen<strong>der</strong> Differenzierungen) e<strong>in</strong>schränken.<br />

E<strong>in</strong>e solche, +metaphysisch-frei-schwebende* Beobachtung zweiter Ordnung als Reflexionsmodus<br />

<strong>der</strong> systemischen Vernunft verlangt aber nicht nur analytische +Akrobatik*, zw<strong>in</strong>gt zu immer<br />

neuen, fe<strong>in</strong>eren Differenzierungen, die immer neue Wi<strong>der</strong>sprüche erzeugen, die wie<strong>der</strong>um<br />

mit neuen Grenzziehungen bekämpft werden müssen, um die +system(at)ische* Ordnung<br />

nicht zu gefährden (vgl. auch Bauman: Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz; S. 15ff.). Sie stellt vielmehr<br />

zudem e<strong>in</strong>e – utopielose – +Kunst* im Dienst <strong>der</strong> Aktualität dar, die die Perspektive des Zentrums<br />

116<br />

e<strong>in</strong>nimmt und den peripheren Blickw<strong>in</strong>kel, die Rän<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft ausklammert. Und<br />

so bemerkt denn Luhmann (ohne sich wahrsche<strong>in</strong>lich des offenbarenden Charakters dieser<br />

Formulierung bewußt zu se<strong>in</strong>), daß er <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Zentralperspektive <strong>in</strong> <strong>der</strong> bildenden<br />

Kunst e<strong>in</strong>e Vorreiterfunktion für die Schärfung des beobachtenden Blicks sieht. Denn es wird<br />

nun – durch die distanzierte Darstellung – erstmals möglich, die +H<strong>in</strong>tergründe* des Beobachtens<br />

wahrzunehmen (vgl. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft, S. 90ff.). Mit Schulte läßt sich allerd<strong>in</strong>gs<br />

(bildlich) aufzeigen: Luhmann vergißt, daß jede Beobachtung (also egal, ob es sich um e<strong>in</strong>e<br />

Beobachtung erster, zweiter o<strong>der</strong> gar dritter Ordnung handelt) aus <strong>der</strong> Perspektive e<strong>in</strong>es<br />

spezifischen Beobachter erfolgt – das gilt auch und gerade für Beobachtungen aus <strong>der</strong> Zentral-<br />

perspektive heraus (vgl. Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie; S. 213–226).<br />

Durch die Negierung dieser spezifischen (personalen) Perspektivik wird <strong>der</strong> systemtheoretische<br />

Beobachter zum distanzierten +Voyeur*. Er ist von sich selbst wie von den an<strong>der</strong>en abgespalten<br />

– <strong>in</strong>dem er an<strong>der</strong>e und schließlich auch sich selbst objektiviert. So wird e<strong>in</strong>e +kalte*, unpersön-


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 397<br />

117<br />

liche, von <strong>der</strong> Systemlogik bestimmte Sichtweise möglich. Entfremdung wird dementsprechend<br />

geradezu idealisiert und als privilegierte Position des Erkennens dargestellt (vgl. Beobachtungen<br />

118<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 22f. und siehe auch nochmals hier S. XL). Der Beweggrund für diese deflexive<br />

Idealisierung <strong>der</strong> Entfremdung ist, wie sich vermuten läßt, e<strong>in</strong>e +ontologische* Angst, die aus<br />

dem Getriebe <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne stammt. Diese Angst vor <strong>der</strong> Bodenlosigkeit, die<br />

dazu treibt nach neuen Gewißheiten und neuen Verankerungen zu suchen (siehe Abschnitt<br />

5.1.1), radikalisiert sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation, <strong>in</strong> <strong>der</strong> auch die verme<strong>in</strong>tlichen, durch gewaltvolle<br />

Vere<strong>in</strong>heitlichung erkauften Sicherheiten <strong>der</strong> +e<strong>in</strong>fachen* Mo<strong>der</strong>ne erodieren.<br />

Der aktuelle E<strong>in</strong>deutigkeitsverlust wird <strong>in</strong> Luhmanns Ansatz zwar analytisch (auf e<strong>in</strong>em hohen<br />

Niveau) gespiegelt, <strong>in</strong>dem er Begriffen wie Autopoiesis und Kont<strong>in</strong>genz zentralen Stellenwert<br />

e<strong>in</strong>räumt (vgl. z.B. Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; Kap. III). Luhmanns Ansatz weist damit<br />

klare Bezüge zum Diskurs <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne auf (siehe auch Entrée, S. LXXIIIff.). Die Paradoxien<br />

<strong>der</strong> Autopoiesis werden jedoch so lange <strong>in</strong> Differenzierungen zugespitzt, bis sie sich – mittels<br />

re-entry – selbst entparadoxieren (vgl. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 93ff.). Und die<br />

durch die unüberschaubaren Nebenfolgen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung produzierte globale Unsicherheit,<br />

die sich <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelle Verunsicherungen übersetzt, wird im Rahmen <strong>der</strong> Systemtheorie zudem<br />

<strong>in</strong> Vergewisserungen über die Unaufhebbarkeit, die (evolutive) +Naturwüchsigkeit* dieses<br />

Zustands aufgelöst (vgl. Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 145ff.). Es handelt sich so um e<strong>in</strong>e<br />

abwehrende Spiegelung, e<strong>in</strong>e ideologische Deflexion, die, wie oben herausgearbeitet wurde,<br />

grundlegend auf e<strong>in</strong>er objektivierenden Identifizierung mit dem System beruht.<br />

Der +Tod des Subjekts* wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hypostasierung des Systemgedankens ohne Trauer h<strong>in</strong>genom-<br />

men. Auf diese Weise wird abgelenkt vom reflexiven, ebenso aufschlußreichen wie herausfor-<br />

<strong>der</strong>nden Potential <strong>der</strong> eigenen Ambivalenzen. Denn das reflektierende Subjekt ist potentiell<br />

gleichermaßen +fasz<strong>in</strong>iert* vom Funktionieren <strong>der</strong> +abstrakten Systeme* (Giddens), ist angetan<br />

von den <strong>in</strong>dividuellen wie kollektiven Autonomiegew<strong>in</strong>nen, wie es angesichts <strong>der</strong> (<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Wahrnehmung) verselbständigten Systemlogik mit Schrecken erfüllt wird. Konfrontiert mit<br />

dem ungeheuren +Momentum*, <strong>der</strong> aus Masse gewonnenen Macht des Systems, erfährt es<br />

die eigene Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht schmerzvoll. Was mit <strong>der</strong> hermetischen +Poesie*<br />

des systemtheoretischen Funktionalismus virtuos überdeckt wird, ist ebendiese Angst vor dem<br />

Verlust (<strong>der</strong> Bedeutung) des eigenen Ichs. Die Systemtheorie ist die angsterfüllte Metaphysik<br />

119<br />

des Systems. Sie ist das notwendig falsche Bewußtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft, die sich als System


398 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

begreift, und das kritische Subjekt elim<strong>in</strong>iert, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Strukturen verd<strong>in</strong>glichend aufgelöst<br />

hat, um se<strong>in</strong>e/ihre +Funktionsfähigkeit* zu sichern. Die aufklärerische Erzählung <strong>der</strong> Autonomie<br />

des Subjekts wird so ersetzt durch die Erzählung <strong>der</strong> Autonomie <strong>der</strong> Subsysteme.<br />

Doch welche politischen Konsequenzen impliziert diese deflexiv-ideologische Konstruktion?<br />

Wie ausgeführt, wurde Luhmann durch Habermas <strong>der</strong> Vorwurf gemacht, e<strong>in</strong>en sozialtechno-<br />

logischen Ansatz zu verfolgen, <strong>der</strong> auf die bloße Bestandserhaltung des etablierten Systems<br />

gerichtet ist. Diese E<strong>in</strong>schätzung mag so vielleicht für den frühen Luhmann gerechtfertigt gewesen<br />

se<strong>in</strong>. Für die hier zugrunde gelegte Fassung <strong>der</strong> Luhmannschen Theorie, also nach dessen<br />

+autopoietischer Wende*, trifft <strong>der</strong> gemachte Vorwurf jedoch kaum noch <strong>in</strong> dieser Weise.<br />

Luhmanns Ansatz besitzt – auch wenn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Rahmen Ambivalenzen ke<strong>in</strong>en Platz f<strong>in</strong>den<br />

– ambivalenten Charakter: Er ist zwar aus dem Blickw<strong>in</strong>kel des Systems formuliert. Es handelt<br />

sich aber primär, wie hoffentlich deutlich wurde, um e<strong>in</strong>e nur schwer zugängliche wissen-<br />

schaftliche Narration <strong>der</strong> +systemischen* Selbstvergewisserung. (Herrschafts-)Praktisch ist Luh-<br />

manns Ansatz gerade deshalb, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Hermetik und Konstruiertheit, kaum direkt umsetzbar/-<br />

operationalisierbar – was se<strong>in</strong>erseits zu diverser Kritik Anlaß gab (siehe unten). Es handelt<br />

sich folglich um e<strong>in</strong>e Kapitulation vor dem Faktischen, die nur als Ideologie, nicht als anwendbare<br />

+Sozialtechnologie* stützend für das bestehende System wirkt.<br />

Konkret bedeutet das: Die funktionalistische +Theorie* unterstützt praxologische Deflexionen<br />

(siehe Abschnitt 5.3.2) durch e<strong>in</strong>e Überbau-Konstruktion, die auf die Trennung <strong>der</strong> (Teil-)Systeme<br />

abhebt. Auf <strong>der</strong> Systemseite ist nämlich, wie bereits oben angesprochen wurde, (aufgrund<br />

<strong>der</strong> mit den Systemstrukturen verknüpften Interessen) immer eher e<strong>in</strong> Interesse am Erhalt,<br />

also an <strong>der</strong> Deflexion von herausfor<strong>der</strong>nden Reflexionen gegeben. Um das aber zu ermöglichen,<br />

muß das System erstens auf wirksame Rout<strong>in</strong>en zurückgreifen können, die H<strong>in</strong>terfragungen<br />

absorbieren, und zweitens muß es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage se<strong>in</strong>, Probleme dadurch zu entschärfen, daß<br />

sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Bereich verlagert werden (Übersetzung), so daß diese ihre spezifische<br />

Kontur und damit ihre Sprengkraft verlieren (Komplexitätsreduktion). Beides kann aber nur<br />

gel<strong>in</strong>gen, wenn verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t wird, daß (von den Betroffenen) e<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> für die übergreifenden<br />

Zusammenhänge entwickelt wird. Der Funktionalismus hilft im Gedanken <strong>der</strong> Autonomie<br />

<strong>der</strong> Subsysteme ebendies zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Letztere ist zwar +praktisch* kaum gegeben (wie<br />

die Analyse <strong>der</strong> sozialen Prozesse <strong>in</strong> den vorangegangenen Kapiteln zeigte), kann aber trotzdem<br />

als (ideologische) Grundlage für praxologische Übersetzungen genutzt werden.


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 399<br />

Die funktionalistische Theorie Luhmanns stützt so exakt <strong>in</strong> ihrer +Realitätsferne* das sozial-<br />

politische Gehäuse und deckt sich gleichzeitig mit den deflektorischen Selbstbeschreibungen<br />

des Systems (Gewaltenteilung, unabhängige Gerichte etc.). Wollen also beispielsweise die<br />

politischen Akteure ihr System aufrecht erhalten, um ihre mit dem <strong>Politik</strong>system verknüpften<br />

Interessen zu schützen, müssen sie es schaffen, den Ansche<strong>in</strong> zu erzeugen, daß ihre Entschei-<br />

dungen unabhängig und re<strong>in</strong> nach politischen Gesichtspunkten getroffen werden, weil sich<br />

das <strong>Politik</strong>system sonst <strong>in</strong> den Augen des Publikums delegitimieren würden. Das +greifbare*<br />

Resultat ist e<strong>in</strong> gespaltenes politisches Bewußtse<strong>in</strong>, das von den sozialen Zusammenhängen<br />

abstrahierend absieht und die konkreten sozialen Beziehungen (wie den solidarischen Zusam-<br />

menhalt) aus dem Blickfeld verliert. Der gefor<strong>der</strong>te +Latenzschutz* schützt so alle<strong>in</strong>e die latenten<br />

Machtstrukturen, die +unangreifbar* werden, <strong>in</strong>dem sie aus dem politischen Horizont ver-<br />

schw<strong>in</strong>den. Zudem wird dem politischen Handeln e<strong>in</strong>e sehr enge Grenze gezogen – <strong>in</strong>dem<br />

politische Übergriffe auf den Autonomiebereich <strong>der</strong> entfesselten Teilsysteme delegitimiert<br />

werden. In die auf Statik bedachte Physik <strong>der</strong> Systeme darf nicht also e<strong>in</strong>gegriffen werden,<br />

ihre Selbstläufigkeit darf nicht h<strong>in</strong>terfragt werden.<br />

Das aber wi<strong>der</strong>spricht erstens e<strong>in</strong>em subpolitisch-metapolitischen <strong>Politik</strong>verständnis, das sich<br />

ke<strong>in</strong>e Grenzen ziehen läßt und bewußt die Zusammenhänge des sozialen Systems reflektiert<br />

(siehe Abschnitt 5.2.1). Zweitens läuft die enge E<strong>in</strong>grenzung des Bereichs <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> auch<br />

dem <strong>Politik</strong>verständnis <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne zuwi<strong>der</strong>, das mit <strong>Politik</strong> noch langfristige Planung<br />

und (aktive) zentrale Steuerung verband. So stellt denn auch Walther Bühl fest:<br />

+Politisch sche<strong>in</strong>t die ›Autopoiesis‹ […] endlich den Weg für die ›reife Demokratie‹ und den ›post<strong>in</strong>dustriellen<br />

Wohlfahrtsstaat‹ freizumachen, <strong>in</strong> dem spontane Selbstorganisation, Eigen<strong>in</strong>itiative und Eigenverantwortung<br />

[…] herrschen […] In dieser kurzschlüssigen und doch recht durchsichtigen Verb<strong>in</strong>dung von Wissenschafts-<br />

programmatik und politischer Beschönigung liegt aber auch die Verführung <strong>der</strong> ›Theorie <strong>der</strong> Autopoiesis‹,<br />

<strong>in</strong>dem sie de facto eben gerade nicht die ›aktive Eigenentwicklung‹ ermuntert, son<strong>der</strong>n den politischen<br />

Attentismus und Quietismus legitimiert. Ganz konkret gesehen wird damit doch die […] herrschende<br />

Plan- und Entscheidungslosigkeit, die Beschränkung des Zukunftshorizontes auf den nächsten Wahlterm<strong>in</strong>,<br />

<strong>der</strong> (allerd<strong>in</strong>gs weiterh<strong>in</strong> illusionäre) Rückzug des Staates aus <strong>der</strong> öffentlichen Verantwortung und die<br />

Propagierung <strong>der</strong> Deregulation mit e<strong>in</strong>er pompösen ›wissenschaftlichen‹ Rechtfertigung versehen […].*<br />

(Politische Grenzen <strong>der</strong> Autopoiese sozialer Systeme; S. 201f.)<br />

Dieses kritische Argument soll hier allerd<strong>in</strong>gs nicht <strong>in</strong> jener Richtung vertieft werden, die<br />

grundsätzlich skeptisch gegenüber politischen Modellen <strong>der</strong> (subpolitischen) Selbstorganisation


400 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

e<strong>in</strong>gestellt ist. Der Akzent auf Selbstbezüglichkeit bzw. Selbstorganisation im System Luhmanns<br />

stellt aus reflexivem Blickw<strong>in</strong>kel gerade das – <strong>in</strong> jede Ideologie notwendig verwobene – Moment<br />

120<br />

<strong>der</strong> (utopischen) Transzendenz dar. Relativierend ist vielmehr anzumerken, wie auch Bühl<br />

richtig erkennt, daß die Systemtheorie Luhmanns auf praktischer Ebene genau das Gegenteil<br />

för<strong>der</strong>t: Anstelle von politischer Selbstorganisation unterstützt sie e<strong>in</strong>e desillusionierte, resignierte,<br />

+<strong>fatal</strong>e* Haltung, die das Feld des politischen Handelns den Systemakteuren überläßt, während<br />

diese sich anstatt des Versuchs <strong>der</strong> politischen Gestaltung auf die Reproduktion ihres Subsystems<br />

(d.h. auf ihren Machterhalt und ihre Wie<strong>der</strong>wahl) konzentrieren.<br />

Dieser +Rückzug* aus <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> aus <strong>der</strong> Gesellschaft beruht auf e<strong>in</strong>er +abgeklärt*<br />

zynischen Haltung. Weil das Ganze aus dem Ru<strong>der</strong> läuft, weil globale Gefährdungen bestehen,<br />

die e<strong>in</strong>e Folge <strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>strumentellen Vernunft angetriebenen Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesse<br />

s<strong>in</strong>d, f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Versteifung auf spezifische Teilrollen (des Wissenschaftlers, des Technikers,<br />

des Beobachters) statt, die zum Zweck hat, diese Gefährdungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> bewußten E<strong>in</strong>engung<br />

des Blicks zu verdrängen, um die Tragik <strong>der</strong> Umstände überhaupt aushalten zu können. Dazu<br />

aber muß <strong>der</strong> (Teil-)Rollenträger die Fähigkeit besitzen, sich von sich selbst zu distanzieren<br />

(siehe oben) und dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Art +Galgenhumor* entwickeln. Wir haben es also mit e<strong>in</strong>er neuen<br />

Form des Zynismus zu tun, die +diffusen* Charakter hat, e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Grundhaltung darstellt.<br />

Denn unter Zynismus kann aktuell, <strong>in</strong> Anlehnung an Peter Sloterdijk, e<strong>in</strong>e Haltung verstanden<br />

werden, die (weniger naiv als die klassische Ideologiekritik) durch e<strong>in</strong>e hoch reflektierte und<br />

bewußte +Regungslosigkeit* gekennzeichnet ist. Die zynische Haltung bezweckt, die Depression,<br />

die sich aufgrund <strong>der</strong> Abgründigkeit <strong>der</strong> aktuellen Situation e<strong>in</strong>stellen müßte, zu verdrängen,<br />

um funktionsfähig zu bleiben (vgl. Kritik <strong>der</strong> zynischen Vernunft; Band 1, S. 33ff.).<br />

E<strong>in</strong> solcher +diffuser Zynismus* kann mitunter (und <strong>in</strong> bestimmten historischen Konstellationen)<br />

extreme Formen annehmen. E<strong>in</strong> Beispiel dafür ist Adolf Eichmann, <strong>der</strong> +willige* Vollstrecker<br />

<strong>der</strong> Judenvernichtung im +Dritten Reich*. Hannah Arendt war Beobachter<strong>in</strong> des Prozesses<br />

gegen Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem, <strong>der</strong> im Jahr 1961 stattfand. Sie schil<strong>der</strong>t <strong>in</strong> ihrem Bericht e<strong>in</strong>e<br />

+flache*, gefühllose, von sich selbst distanzierte Persönlichkeit, die versucht ihre Schuld dadurch<br />

zu verdrängen, daß sie sich auf die ihr zugeschriebene Rolle im System, auf den +Imperativ*<br />

<strong>der</strong> Pflichterfüllung zurückzieht (vgl. Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem; <strong>in</strong>sb. Kap. VII). Eichmann löste<br />

den Konflikt, <strong>in</strong> dem er sich befunden haben mußte, <strong>in</strong>dem er sich mit dem (Vernichtungs-)-<br />

System, dessen Teil er war, identifizierte. Er konnte so nicht zum eigenen Fühlen f<strong>in</strong>den und


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 401<br />

dementsprechend auch ke<strong>in</strong>en empathischen Bezug zu denjenigen aufbauen, die <strong>der</strong> – im<br />

vollen Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenzen, aber ohne sich diese emotional zu vergegenwärtigen<br />

– <strong>in</strong> die Vernichtungslager schickte. Die Komplexität <strong>der</strong> Systemtheorie steht <strong>in</strong> dieser Beziehung<br />

<strong>der</strong> +Banalität des Bösen*, wie sie Arendt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Person Eichmanns beschreibt, sehr nahe. 121<br />

Und so bemerkt denn auch Luhmann bezeichnen<strong>der</strong>weise, daß <strong>der</strong> (systemtheoretische)<br />

Beobachter zweiter Ordnung offensichtlich +aus dem Hause Teufel* stammt, da er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Beobachtungen Differenzen setzt und damit, wie <strong>der</strong> +gefallene Engel* Luzifer, die übergreifende,<br />

transzendente (soziale) E<strong>in</strong>heit zugleich verletzt und doch <strong>in</strong> diese – gewissermaßen auf transzen-<br />

dentaler Ebene – aktiv <strong>in</strong>tegriert ist (vgl. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 118ff.).<br />

Nur: Ist e<strong>in</strong>e solche +transzendentale*, abstrakte E<strong>in</strong>heit, die auf <strong>der</strong> Kälte <strong>der</strong> Beobachtung<br />

zweiter Ordnung aufsetzt, sozial h<strong>in</strong>reichend? Wie wird die Gesellschaft im Rahmen <strong>der</strong> System-<br />

theorie von e<strong>in</strong>er Gesellschaft +an sich* – als Summe <strong>der</strong> globalen Kommunikationprozesse<br />

– zu e<strong>in</strong>er Gesellschaft +für sich*? Hier haben wir es aus me<strong>in</strong>er Sicht mit e<strong>in</strong>em zentralen<br />

Problem des Ansatzes von Luhmanns zu tun. Zwar hat die Perspektive <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit <strong>in</strong> Trennungen,<br />

wie ausgeführt, +praktische* Vorteile für die Stabilisierung des Systems: Sie erlaubt deflektorische<br />

Übersetzungen und erleichtert die Etablierung praxologischer Verfahren. Jedoch unterstützt<br />

sie gerade dadurch zentrifugale Tendenzen. Die für die Deflexionsbemühungen des System<br />

vorteilhafte Annahme <strong>der</strong> Autonomie <strong>der</strong> Subsysteme verweist nämlich gleichzeitig (und dar<strong>in</strong><br />

liegt e<strong>in</strong> weiteres Element ihrer selbstaufhebenden Transzendenz) auf das Problem <strong>der</strong> Integration<br />

funktional differenzierter Gesellschaften. Bloße strukturelle Kopplung dürfte schließlich kaum<br />

ausreichen, um soziale E<strong>in</strong>heit (s<strong>in</strong>nvoll) zu +begründen*. Denn während noch Parsons von<br />

+normativen Universalien* als Grundlagen des sozialen Zusammenhalts ausg<strong>in</strong>g (siehe auch<br />

S. XX), so stellt sich bei Luhmann soziale E<strong>in</strong>heit +autopoietisch*, ohne Bezugnahme auf e<strong>in</strong>heits-<br />

stiftende Semantiken her: Sie beruht, wie dargestellt, auf <strong>der</strong> Tatsache <strong>der</strong> bloßen Abgrenzung<br />

des Systems gegenüber se<strong>in</strong>er Umwelt durch se<strong>in</strong>e (selbstgeschaffenen) Strukturen.<br />

Auch <strong>in</strong>nerhalb des funktionalistischen Diskurses wird das +Problem* sozialer E<strong>in</strong>heit allerd<strong>in</strong>gs<br />

wahrgenommen – freilich aus e<strong>in</strong>er +radikal* konstruktivistischen Perspektive. Peter Fuchs<br />

beispielsweise macht sich <strong>in</strong> dem Band +Die Erreichbarkeit <strong>der</strong> Gesellschaft* (1992) ausführliche<br />

Gedanken zur +Konstruktion und Imag<strong>in</strong>ation gesellschaftlicher E<strong>in</strong>heit*. In e<strong>in</strong>em ersten Schritt<br />

verweist er hier auf die Kont<strong>in</strong>genz und Verschiedenheit <strong>der</strong> existierenden Auffassungen bezüglich<br />

Gesellschaft. Daß Gesellschaft E<strong>in</strong>heit benötigt, ist nach Fuchs nämlich nur e<strong>in</strong>e unter vielen


402 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

möglichen Überzeugungen (vgl. S. 89f.). Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d die somit kont<strong>in</strong>genten E<strong>in</strong>heitsseman-<br />

tiken, als (kommunikativ vermittelte) Reaktion auf kommunikative Turbulenzen, für die Stabilität<br />

von Gesellschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em hohen Maß för<strong>der</strong>lich, denn sie +dienen dem Zweck […] Irritations-<br />

stöße unter dem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Kompossibilität aller Funktionssysteme abzufe<strong>der</strong>n* (ebd.;<br />

S. 98). Trotz des Konstruktcharakters ist gesellschaftliche E<strong>in</strong>heit also gemäß Fuchs e<strong>in</strong> relevantes<br />

Thema soziologischer +Beobachtung* – und sozial ebenso funktional wie die Annahme <strong>der</strong><br />

Trennung <strong>der</strong> Teilsysteme. 122<br />

Helmuth Willke stellt im Rahmen se<strong>in</strong>er staatstheoretischen Überlegungen dagegen eher die<br />

Problematik <strong>der</strong> zunehmenden Partikularität von sozialen E<strong>in</strong>heitsentwürfen <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Realität*<br />

<strong>der</strong> funktional differenzierten Gesellschaft dar:<br />

+Der Primat funktionaler Differenzierung als Strukturpr<strong>in</strong>zip gesellschaftlicher Selbstorganisation ist stabilisiert<br />

bis <strong>in</strong> die verfassungsrechtliche Absicherung <strong>der</strong> jeweiligen Autonomieräume h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>; je<strong>der</strong> Bereich hat<br />

se<strong>in</strong>e exklusiven Relevanzen und Zuständigkeiten bei gleichzeitigem gesellschaftsweit <strong>in</strong>kludierendem Beobach-<br />

tungshorizont, so daß aus <strong>der</strong> Dialektik von Exklusion und Inklusion die e<strong>in</strong>fache E<strong>in</strong>heit von Gesellschaft<br />

verschw<strong>in</strong>det und aufgehoben wird <strong>in</strong> den je separaten E<strong>in</strong>heitsentwürfen aus <strong>der</strong> je spezifischen Sicht<br />

<strong>der</strong> Teilsysteme. Für jedes Teilsystem gibt es dann zwar e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Gesellschaft, aber gerade deshalb<br />

ke<strong>in</strong>e übergreifende, für alle Teile verb<strong>in</strong>dliche E<strong>in</strong>heit des Ganzen.* (Ironie des Staates; S. 43)<br />

Aus diesem +E<strong>in</strong>heitsverlust* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong> zentrifugalen Dynamik funktionaler Differenzierung<br />

erwächst für Willke die Tragik des mo<strong>der</strong>nen Staates. Denn die ihm zugeschriebene Aufgabe<br />

ist es schließlich, e<strong>in</strong>e übergreifende E<strong>in</strong>heit herzustellen und zugleich die Autonomie <strong>der</strong><br />

Subsysteme zu gewährleisten. Um diese Tragik zu überw<strong>in</strong>den, hilft nur die (hier zynische)<br />

Tugend <strong>der</strong> Ironie, d.h. Fremdzwang muß, wie Willke <strong>in</strong> Anlehnung an Elias bemerkt (siehe<br />

auch S. XXXV), <strong>in</strong> Selbstzwang umgewandelt werden. Aus dem +iron cage* Webers kann<br />

so angeblich e<strong>in</strong> (weniger e<strong>in</strong>engen<strong>der</strong>) +ironic cage* werden (vgl. ebd.; S. 327ff.). 123<br />

Das Problem <strong>der</strong> sozialen Integration ist durch die +ironische* Selbstb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> autonomen<br />

Teilsysteme jedoch kaum überzeugend gelöst, denn sie ist unverb<strong>in</strong>dlich. Vielversprechen<strong>der</strong><br />

s<strong>in</strong>d diesbezüglich die Überlegungen von Bernd Peters, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e vermittelnde Position zwischen<br />

Kritischer Theorie und Funktionalismus e<strong>in</strong>nimmt: Bei <strong>der</strong> +Integration mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften*<br />

(1993) greifen nach Peters <strong>in</strong>tentionale und nicht<strong>in</strong>tentionale Vergesellschaftungsmechanismen<br />

<strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> (vgl. S. 311), wobei auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> <strong>in</strong>tentionalen Vergesellschaftungsmechanismen<br />

speziell Koord<strong>in</strong>ation (also Steuerung, Intervention und Umverteilungen etc.), normative


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 403<br />

Integration (Recht/Rechtsverfahren) sowie die Generierung e<strong>in</strong>er expressiven Geme<strong>in</strong>schaft<br />

(Rekurs auf <strong>in</strong>tegrative Symbole) zu nennen s<strong>in</strong>d (vgl. ebd.; S. 355ff.). Im Rahmen e<strong>in</strong>er auf<br />

dieser Basis <strong>in</strong>tegrierten Gesellschaft gibt es nun zwar tatsächlich e<strong>in</strong>e Verselbständigung <strong>der</strong><br />

Eigenlogiken <strong>der</strong> Teilsysteme – was überdies durchaus kritisch betrachtet werden kann (vgl.<br />

ebd; S. 312ff). Allerd<strong>in</strong>gs muß die Autonomisierung <strong>der</strong> Teilsysteme nach Peters nicht immer<br />

+pathologisch* se<strong>in</strong> und <strong>der</strong> Lebenswelt den Boden entziehen. Vielmehr ist im +Zusammenspiel*<br />

von Peripherie und Zentrum die Peripherie nicht von vorne here<strong>in</strong> den E<strong>in</strong>griffen des Zentrums<br />

hilflos ausgeliefert, son<strong>der</strong>n besitzt e<strong>in</strong>e eigenständige, dezentrale Macht, auf die gebaut werden<br />

kann und soll (vgl. ebd.; S. 340ff.).<br />

Tauchen <strong>in</strong> diesem Zusammenspiel (o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>weitig) Probleme auf, so gibt es für das politisch-<br />

bürokratische System (als +Machtzentrum*), nun grundsätzlich zwei verschiedene Modi, diese<br />

zu meistern: Beim problemorientierten Modus wird reflexiv verfahren, da <strong>in</strong> diesem Modus<br />

die von <strong>der</strong> Peripherie an das Zentrum übermittelten Probleme nicht negiert, son<strong>der</strong>n bewußt<br />

wahrgenommen werden und e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive (reflexiv-diskursive) Suche nach Lösungen und<br />

Alternativen <strong>in</strong>itiiert wird (vgl. ebd.; S. 348f.). Im Rout<strong>in</strong>emodus wird h<strong>in</strong>gegen auf bewährte<br />

Muster zurückgegriffen. +Die Kehrseite dieses Rout<strong>in</strong>emodus ist e<strong>in</strong> Arsenal von Mechanismen,<br />

durch welche Probleme latent gehalten o<strong>der</strong> verdrängt werden o<strong>der</strong> durch welche ihre Thema-<br />

124<br />

tisierung und Analyse verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t wird […]* (Ebd.; S. 347) Gemäß dieser Charakterisierung<br />

durch Peters entspricht <strong>der</strong> Rout<strong>in</strong>emodus also klar e<strong>in</strong>er deflexiven Haltung und Vorgehensweise:<br />

Im unreflektierten Beharren auf gewohnten Handlungsweisen und festgeschriebenen, ver<strong>in</strong>ner-<br />

lichten Rout<strong>in</strong>en werden mögliche Reflexionen abgelenkt. Solche Praxologien stellen die<br />

praktische Entsprechung von Ideologien auf <strong>der</strong> Handlungsebene dar. Mit ihnen beschäftigt<br />

sich <strong>der</strong> folgende Abschnitt näher:<br />

5.3.2 DIE BEGRENZUNG DES (POLITISCHEN) HANDELNS DURCH DEFLEKTORISCHE ÜBERSETZUNGEN<br />

UND PRAXOLOGISCHE RITUALE<br />

Durch die ideologische Deflexion mittels <strong>der</strong> funktionalistischen Theoriekonstruktion <strong>der</strong><br />

Trennung <strong>der</strong> Teilsysteme erfolgt, wie oben detailliert ausgeführt wurde, potentiell e<strong>in</strong>e Spaltung<br />

des politischen Bewußtse<strong>in</strong>s: Indem die Trennungsperspektive e<strong>in</strong>genommen und das politische<br />

Denken <strong>in</strong> die Bahnen <strong>der</strong> Teilsystemlogik(en) kanalisiert wird, kann ke<strong>in</strong> umfassendes politisches<br />

Bewußtse<strong>in</strong> mehr erlangt werden. Diese Ideologie <strong>der</strong> Trennung könnte jedoch nicht wirksam


404 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

und auch nicht <strong>in</strong> dieser Form gedacht werden, wenn sie nicht e<strong>in</strong>e (materielle) Grundlage<br />

und Abstützung <strong>in</strong> Praxologien haben würde, die zur +schizophrenen Trübung* des politischen<br />

Bewußtse<strong>in</strong>s ebenso beitragen wie sie den politischen Handlungsrahmen e<strong>in</strong>grenzen.<br />

Der Begriff <strong>der</strong> +Praxologie* me<strong>in</strong>t dabei <strong>in</strong> Analogie zum Ideologiebegriff e<strong>in</strong> notwendig<br />

falsches Se<strong>in</strong> im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er +tätigen* Ausblendung und Ablenkung von Reflexionen. Er steht<br />

folglich – trotz <strong>der</strong> (phonetischen) Nähe – im expliziten (semantischen) Gegensatz zu dem<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em üblichen Gebrauch an <strong>der</strong> ökonomischen Logik orientierten und von Esp<strong>in</strong>as geprägten<br />

Begriff <strong>der</strong> +Praxeologie* als Lehre vom rational-strategischen Entscheidungs-Handeln (siehe<br />

auch Anmerkung 90, Kap. 2). Se<strong>in</strong>er Intention nach sympathisiert das hier entworfene Praxologie-<br />

Konzept allerd<strong>in</strong>gs durchaus mit <strong>der</strong> reflexiven, e<strong>in</strong>er kritischen Gesellschaftstheorie verpflichteten<br />

125<br />

Praxeologie Pierre Bourdieus. Denn Bourdieu versucht e<strong>in</strong>e Vermittlung zwischen den für<br />

sich alle<strong>in</strong>e genommen reduktionistischen Sichtweisen des Objektivismus und des Subjektivismus.<br />

Dabei stützt er sich auf die Analyse des +sense pratique*: jene nicht alle<strong>in</strong>e durch den Rekurs<br />

auf die +objektiven* Strukturen, son<strong>der</strong>n nur durch die gleichzeitige Wahrnehmung <strong>der</strong> Macht<br />

<strong>der</strong> subjektiven wie kollektiven Symbolwelten entschlüsselbare Logik <strong>der</strong> sozialen Praktiken<br />

(vgl. Sozialer S<strong>in</strong>n; S. 49ff.). E<strong>in</strong>e <strong>fatal</strong>e Seite <strong>der</strong> sozialen Praktiken unserer Gesellschaft besteht<br />

nun allerd<strong>in</strong>gs dar<strong>in</strong>, daß durch ihre untergründigen Vernetzungen und Verhärtungen die<br />

Artikulation von Interessen und Praktiken verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t wird, die das bestehende Machtfeld<br />

e<strong>in</strong>grenzen o<strong>der</strong> überschreiten (vgl. auch <strong>der</strong>s.: Praktische Vernunft; S. 48ff.).<br />

Diese auf <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Handlung beruhende Deflexion von Reflexionen kann gewollt se<strong>in</strong><br />

und – durch die Schaffung und Aufrechterhaltung von e<strong>in</strong>engenden Handlungszusammenhängen<br />

– bewußt zur Unterdrückung von reflexiven Impulsen e<strong>in</strong>gesetzt werden. Die stabilisierte<br />

Latenz reflexiver Impulse kann aber auch, was den Regelfall darstellen dürfte, nur auf +Träg-<br />

heitsmomenten* beruhen. Das praxologische Handeln stellt, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> diesem Fall,<br />

eigentlich e<strong>in</strong> Handeln ohne Handlungscharakter dar. Das bedeutet: Ihm fehlt das für e<strong>in</strong><br />

+wirkliches* (sozial-politisches) Handeln me<strong>in</strong>es Erachtens unabd<strong>in</strong>gliche reflexiv-bewußte,<br />

126<br />

<strong>in</strong> re-aktiver Spiegelung auf die soziale Umwelt bezogene Element. Als praxologisch wären<br />

also demgemäß Praktiken sowie Handlungssysteme zu bezeichnen, die – gewollt o<strong>der</strong> ungewollt<br />

– auf e<strong>in</strong>e (unkritische) Stabilisierung gegebener Strukturen h<strong>in</strong>auslaufen. Und so wie reflexives<br />

Bewußtse<strong>in</strong>, im Rahmen e<strong>in</strong>er kritisch-dialektischen Gesellschafts-Theorie, dem deflexiv-ideo-<br />

logischen Bewußtse<strong>in</strong> gegenübersteht, so steht das praxologische Handeln – als Entsprechung


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 405<br />

<strong>der</strong> ideologischen Deflexion auf <strong>der</strong> Handlungsebene – dem (auf Verän<strong>der</strong>ung gerichteten)<br />

reflexiven Handeln gegenüber (siehe auch nochmals Tabelle 13).<br />

Doch <strong>in</strong> welchem Verhältnis stehen Ideologie und Praxologie ihrerseits? – Das Verhältnis<br />

von Ideologie und Praxologie ist, wie schon oben angedeutet wurde, durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive<br />

Wechselbeziehung geprägt, da die Handlungsebene nicht von <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>seben geschieden<br />

werden kann (siehe auch Abschnitt 5.4): E<strong>in</strong>erseits stellen Praxologien praktisch geronnene,<br />

<strong>in</strong> ver<strong>in</strong>nerlichten Handlungsmustern manifest gewordene Ideologien dar. An<strong>der</strong>erseits s<strong>in</strong>d<br />

Ideologien <strong>der</strong> Ausdruck und die gedankliche Festschreibung <strong>der</strong> sozialen Praktiken. Zudem<br />

fußt jede Ideologie notwendig auf praxologischen Verankerungen, d.h. sie muß <strong>in</strong> e<strong>in</strong> praktisches<br />

System +übersetzt* werden. Ohne solche Übersetzungen <strong>in</strong> Rout<strong>in</strong>en würden Ideologien<br />

wirkungs- und +gewichtslos* bleiben.<br />

Die +Schlüsselstellung* von praktischen (und vor allem d<strong>in</strong>glichen) Übersetzungen für die<br />

Umsetzung von +Programmen* hat – im Rahmen <strong>der</strong> Techniksoziologie – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die<br />

Akteur-Netzwerktheorie herausgestellt (vgl. z.B. Latour: Technology Is Society Made Durable<br />

und siehe auch hier S. 132). Die zentrale Bedeutung von (d<strong>in</strong>glich-)praktischen Übersetzungen<br />

gilt me<strong>in</strong>es Erachtens jedoch <strong>in</strong> ähnlicher Weise auch für sozial-politische Programme bzw.<br />

Ideologien. In diesem Zusammenhang kann man sich auch auf Michel Foucault beziehen.<br />

Jener stellt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Band +Überwachen und Strafen* (1975) ausführlich dar, wie im Zuge<br />

<strong>der</strong> Durchsetzung des aufklärerischen Machtapparats e<strong>in</strong> System <strong>der</strong> +Diszipl<strong>in</strong>en* die Körper<br />

ergreift: +Es handelt sich*, so Foucault, +immer um m<strong>in</strong>utiöse, oft um unsche<strong>in</strong>bare Techniken,<br />

die aber ihre Bedeutung haben. Denn sie def<strong>in</strong>ieren e<strong>in</strong>e bestimmte politische und detaillierte<br />

Besetzung des Körpers, e<strong>in</strong>e neue ›Mikrophysik‹ <strong>der</strong> Macht.* (S. 178) Mit <strong>der</strong> Diszipl<strong>in</strong> ver<strong>in</strong>-<br />

nerlicht sich nämlich die Macht und schreibt sich den Menschen – durch den Zwang <strong>der</strong><br />

räumlichen Strukturen, rigide (Arbeits-)Zeitpläne und militärische Körperübungen etc. – physisch<br />

e<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 173–219).<br />

Solche (diszipl<strong>in</strong>ierenden) Praxologien s<strong>in</strong>d nach me<strong>in</strong>em Verständnis durch ihre verdeckt<br />

wirkende, untergründige Macht weit +effektiver* als die von vorne here<strong>in</strong> auf die Bewußtse<strong>in</strong>s-<br />

ebene zielenden (und damit latent reflexiven) Ideologien. Während im Kontext reflexiver<br />

Verän<strong>der</strong>ungsprozesse kritisches Bewußtse<strong>in</strong> die Voraussetzung für die (notwendige) aktive<br />

Umgestaltung <strong>der</strong> Praxis darstellt, gilt im Kontext <strong>der</strong> Deflexion, daß die <strong>in</strong> ihrer Praxis immer<br />

weiter verfestigten und damit +fraglos* gewordenen Praxologien die gleichsam materielle Voraus-


406 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

127<br />

setzung für die deflexive Macht <strong>der</strong> Ideologien bilden. Wenn es um reflexive Prozesse<br />

geht, wird also von <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> – nicht-dialektischen – Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

zu Recht primär auf die Bewußtse<strong>in</strong>sseite abgestellt (vgl. z.B. Beck: Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen?).<br />

Da jedoch die deflexiven Gegentendenzen zu reflexiven Momenten <strong>in</strong> dieser +e<strong>in</strong>fachen*<br />

Fassung ohneh<strong>in</strong> weitgehend aus dem Bezugsrahmen fallen (siehe S. 317ff.), wird folglich<br />

die konformierende Macht vor allem <strong>der</strong> Praxologien systematisch unterschätzt bzw. als<br />

unproblematisch o<strong>der</strong> gar als +produktiv* erachtet. Auch das <strong>in</strong> Rout<strong>in</strong>en verankerte Handeln<br />

im praktischen Bewußtse<strong>in</strong>, das Giddens vom (diskursiv) bewußten Handeln abgrenzt und<br />

das nach ihm vertrauensvolle Interaktion <strong>in</strong> Systemzusammenhängen überhaupt erst ermöglicht<br />

(siehe zurück zu S. 379f.), hätte also, um es nochmals zu betonen, gemäß <strong>der</strong> hier vertreten<br />

kritisch-dialektischen Sicht e<strong>in</strong>e klar deflexiv-praxologische Komponente: Denn <strong>in</strong>dem die<br />

Rout<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Rout<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>en vorbewußten Zustand stabilisiert, wird nicht nur das Individuum<br />

– handelnd – <strong>in</strong>s System <strong>in</strong>tegriert, son<strong>der</strong>n die Erlangung e<strong>in</strong>es reflexiven (diskursiven) Be-<br />

wußtse<strong>in</strong>s wird hierdurch +aktiv* beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t.<br />

Schon die +banalen* alltäglichen +Interaktionsrituale* (Goffman 1967) wirken auf diese Weise<br />

+<strong>in</strong>tegrativ*. Sie unterdrücken e<strong>in</strong>e kritische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit den ihnen zugrunde<br />

liegenden Normstrukturen wirkungsvoll eben durch ihre +Praxis*. Soziale Interaktion ist nämlich<br />

hochgradig an latente, unbewußte Regeln gebunden, die das <strong>in</strong>dividuelle Handeln nicht nur<br />

an den sozialen Erwartungshorizont anpassen, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>en verpflichtenden Charakter<br />

haben. Dieser Verpflichtungscharakter des sozialen Handelns sche<strong>in</strong>t jedoch nur selten auf:<br />

+Weil Verpflichtungen den Zwang zu e<strong>in</strong>er bestimmten Handlung zur Folge haben*, so Goffman,<br />

+stellen wir sie uns manchmal als lästige und verdrießliche D<strong>in</strong>ge vor, die – wenn überhaupt<br />

– zähneknirschend mit bewußter Entschlossenheit erfüllt werden. Tatsächlich aber werden<br />

die meisten Handlungen, die durch Verhaltensregeln geregelt werden, gedankenlos ausgeführt.<br />

Der darauf angesprochene Handelnde sagt, er handle so ›ohne beson<strong>der</strong>en Grund‹ o<strong>der</strong><br />

weil ihm ›gerade danach war‹. Nur wenn se<strong>in</strong> rout<strong>in</strong>isiertes Handeln gegen e<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>stand<br />

stößt, kann er entdecken, daß se<strong>in</strong>e neutralen kle<strong>in</strong>en Handlungen bisher alle mit den Normen<br />

se<strong>in</strong>er Gruppe übere<strong>in</strong>stimmten […]* (S. 56f.)<br />

Die Internalisierung <strong>der</strong> gesellschaftlichen (Norm-)Strukturen erfolgt also auf e<strong>in</strong>e untergründige<br />

Weise. Sie fußt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf den oben angesprochenen Rout<strong>in</strong>en und <strong>in</strong>stitutionalisierten<br />

Handlungszusammenhängen, die mit ihrem kritische Reflexionen absorbierenden +Momentum*


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 407<br />

e<strong>in</strong>e wirksame, auf +Trägheiten* beruhende – teils bewußte, teils unbewußte – normierende<br />

128<br />

Macht ausüben. Auch und gerade die Institutionen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft stellen durch<br />

ihre +variabel verfestigten* Strukturen, welche – trotz großer +Freiräume* – e<strong>in</strong>e reflexive<br />

Abweichung vom e<strong>in</strong>geschlagenen Kurs tatsächlich kaum erlauben, zu e<strong>in</strong>em hohen Grad<br />

praxologische Handlungssysteme dar. Bei ihnen steht nämlich oft weniger die Erfüllung <strong>der</strong><br />

ihnen zugrunde liegenden Funktionen im Vor<strong>der</strong>grund, als vielmehr ihre bloße Selbstreproduktion<br />

(vgl. politikbezogen auch Edelman: <strong>Politik</strong> als Ritual; Kap. 3).<br />

Die auf Selbstreproduktion zielenden Institutionen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft werden zwar<br />

e<strong>in</strong>erseits permanent reflexiv h<strong>in</strong>terfragt – was sie zu Adaptionen zw<strong>in</strong>gt und ihnen damit<br />

häufig sogar e<strong>in</strong>en – temporären – Stabilitätsgew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt. Solche zumeist begrenzten<br />

Reflexion können erfolgen, weil die Institutionen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Konkurrenzverhältnis (z.B. um<br />

f<strong>in</strong>anzielle Ressourcen) stehen und sich so gegenseitig zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad <strong>in</strong> Frage stellen.<br />

+Kritische* Reflexionen werden jedoch vor allem dadurch ausgelöst, daß die Institutionen<br />

von den Individuen als außerhalb <strong>der</strong> eigenen Lebenswelt situierte +Fremdkörper* wahrgenom-<br />

men werden: +Die Institutionen stehen dem Individuum als objektive Faktizität unabweisbar<br />

gegenüber. Sie s<strong>in</strong>d da, außerhalb <strong>der</strong> Person, und beharren <strong>in</strong> ihrer Wirklichkeit, ob wir<br />

sie leiden mögen o<strong>der</strong> nicht.* (Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion <strong>der</strong> Wirklich-<br />

keit; S. 64). Durch diese +objektive* Distanz <strong>der</strong> Institutionen zur <strong>in</strong>dividuellen Lebenswelt<br />

entsteht e<strong>in</strong> kont<strong>in</strong>genter (d.h. unbestimmter und zugleich begrenzter) Reflexionsraum, <strong>der</strong><br />

auch e<strong>in</strong>e transzendierende Bewegung <strong>in</strong>itiieren kann (siehe auch Exkurs).<br />

Die Gesellschaft ist jedoch nicht nur im +objektiven* und damit – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Negation – potentielle<br />

Reflexionsräume eröffnenden Außen, son<strong>der</strong>n weist tiefe Verankerungen im Innen auf. Diese<br />

+Innerlichkeit* <strong>der</strong> sozialen (Rollen-)Muster sowie <strong>der</strong> Institutionen, entsteht im Prozeß <strong>der</strong><br />

sekundären Sozialisation: +Die sekundäre Sozialisation erfor<strong>der</strong>t das Sich-zu-eigen-Machen<br />

e<strong>in</strong>es jeweils rollenspezifischen Vokabulars. Das wäre e<strong>in</strong>mal die Internalisierung semantischer<br />

Fel<strong>der</strong>, die Rout<strong>in</strong>eauffassung und -verhalten auf e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>stitutionalen Gebiet regulieren.<br />

Zugleich werden die ›stillen Voraussetzungen‹, Wertbestimmungen und Affektnuancen dieser<br />

semantischen Fel<strong>der</strong> miterworben.* (Ebd.; S. 149) Mit <strong>der</strong> sekundären Sozialisation, die <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> aus-übenden E<strong>in</strong>schreibung <strong>der</strong> sozialen Handlungs-Muster zu e<strong>in</strong>em (klassen-)spezifischen<br />

Habitus führt (vgl. auch Bourdieu: Sozialer S<strong>in</strong>n; S. 98ff.), geschieht demnach auch e<strong>in</strong>e wirksame<br />

E<strong>in</strong>engung <strong>der</strong> Reflexionsräume durch die Bedeutungsrahmen <strong>der</strong> ver<strong>in</strong>nerlichten semantischen


408 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Fel<strong>der</strong> (die gleichzeitig e<strong>in</strong>e Form symbolischen Kapitals darstellen). Abgesteckt werden diese<br />

e<strong>in</strong>engenden wie +machtvollen* semantischen Fel<strong>der</strong> bzw. Symbolaggregate <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

durch soziale Milieus und die b<strong>in</strong>ären Codes <strong>der</strong> Funktionssysteme, die erstens ke<strong>in</strong>e Zwischen-<br />

werte zulassen und Abweichungen von ihrer Semantik zweitens mit e<strong>in</strong>em Ausschluß sanktio-<br />

nieren. Diese ausschließende Rigidität <strong>der</strong> systemspezifischen Codes ist aus Systemsicht er-<br />

for<strong>der</strong>lich, da alternative Codes die Operationsgrundlage des Systems untergraben würden<br />

und deshalb mit allen Mitteln abgewehrt werden müssen.<br />

Die Deflexion alternativer Codes (reflexiver Gegenerzählungen) gel<strong>in</strong>gt am leichtesten durch<br />

die Anwendung des eigenen Codes (autopoietische Stabilisierung). E<strong>in</strong>e zentrale Praxologie,<br />

die aber gleichzeitig ideologischen Charakter hat, ist deshalb auch die (Fach-)Sprache. Denn<br />

ihre Begriffe und Strukturen etablieren e<strong>in</strong>e +mythologische* Metasprache, die S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> Form<br />

überführt (vgl. Barthes: Mythen des Alltags; S. 115ff. und siehe auch nochmals Anmerkung<br />

105). Sie legen fest, was gedacht und was <strong>in</strong> <strong>der</strong> kommunikativen Praxis geäußert werden<br />

129<br />

kann. Sprachkonventionen bzw. diskursive Rout<strong>in</strong>en haben folglich <strong>in</strong> diesem doppelten<br />

Charakter als Ideologien und Praxologien e<strong>in</strong>en das Denken und die mit diesem Denken<br />

korrelierende Praxis stark ordnend-e<strong>in</strong>schränkenden Charakter (vgl. Saussure: Grundfragen<br />

130<br />

<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Sprachwissenschaft sowie Foucault: Die Ordnung des Diskurses). Sowohl<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> rout<strong>in</strong>isierten Interaktion <strong>in</strong>nerhalb des Systemrahmens wie durch se<strong>in</strong>e Sprachregeln<br />

werden also Reflexionen abgelenkt, entsteht e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionalisierte und kommunizierend<br />

verfestigte +Fraglosigkeit* (vgl. auch Beck: Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; S. 102ff.). Diese<br />

Kanalisierung reicht, wie schon oben angedeutet wurde, bis <strong>in</strong> den emotionalen Bereich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>:<br />

Die vielfältige und ambivalente Gefühlswelt des Subjekts wird überformt durch den vere<strong>in</strong>-<br />

heitlichenden, konformierenden Zwang <strong>der</strong> praxologisch ver<strong>in</strong>nerlichten Strukturen.<br />

Neben den bereits angesprochenen Praxologien <strong>der</strong> Diszipl<strong>in</strong>, <strong>der</strong> alltäglichen Rout<strong>in</strong>e (mit<br />

ihren e<strong>in</strong>engenden Rollenmustern), des <strong>in</strong>stitutionellen Handlungssystems und <strong>der</strong> sprachlichen<br />

Konvention gibt es noch weitere wichtige praxologische +Mechanismen*, die deflektorisch<br />

auf reflexive Impulse wirken: Die bürokratisch-juristischen Verfahren, die e<strong>in</strong>e rituelle Form<br />

<strong>der</strong> Konfliktlösung darstellen, s<strong>in</strong>d eng mit den <strong>in</strong>stitutionellen Praxologien verknüpft (siehe<br />

auch unten). Ihre festgelegten Regeln und Abläufe erzeugen Verläßlichkeit und (Rechts-)Sicherheit<br />

– und unterstützen den Glauben an die neutrale, <strong>in</strong> rationalen Grundsätzen begründete +Gerech-<br />

tigkeit* des <strong>in</strong>stitutionellen Systems <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft. Tatsächlich begrenzen Verfahren


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 409<br />

Tabelle 14: Das deflektorische System <strong>der</strong> <strong>Politik</strong><br />

Translatorische Deflexion:<br />

(systemübergreifend)<br />

Ökonomische Deflexion:<br />

(<strong>Politik</strong>–Wirtschaftssystem)<br />

Rechtliche Deflexion:<br />

(<strong>Politik</strong>–Rechtssystem)<br />

Wissenschaftlich Deflexion:<br />

(<strong>Politik</strong>–Wissenschaftssystem)<br />

Dramaturgische Deflexion:<br />

(<strong>Politik</strong>–Öffentlichkeitssystem)<br />

Symbolische Deflexion:<br />

(<strong>Politik</strong>–Kultursystem)<br />

zentrale Ideologie(n): zentrale Praxologie(n):<br />

Autonomie <strong>der</strong> Subsysteme Übersetzung<br />

Freie Marktwirtschaft,<br />

+<strong>in</strong>visible hand*<br />

Gewaltenteilung,<br />

unabhängige Judikative<br />

Konsum<br />

Rechtsverfahren<br />

Wissenschaftliche Objektivität Expertise<br />

Neutrale Medienberichterstattung,<br />

+Augensche<strong>in</strong>*<br />

Nationale E<strong>in</strong>heit/<br />

Wertegeme<strong>in</strong>schaft<br />

Medien<strong>in</strong>szenierung,<br />

politische Rituale<br />

Geschichtsschreibung,<br />

(National-)Sprache<br />

aber gerade <strong>in</strong> ihren e<strong>in</strong>e gewisse Kalkulierbarkeit erzeugenden Festlegungen alternative, situa-<br />

tionsangepaßte Konfliktlösungen und dienen primär <strong>der</strong> Absorption von Protesten – worauf<br />

auch Luhmann h<strong>in</strong>weist (siehe nochmals S. 101).<br />

Die vielleicht wichtigste Praxologie stellt aber das (wie<strong>der</strong>um an die sprachlichen Rout<strong>in</strong>en<br />

gekoppelte) systemübergreifende Instrument <strong>der</strong> Übersetzung von Diskursen dar. Mit dem<br />

Mittel <strong>der</strong> Übersetzung wird auf die funktionalistische Ideologie <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Subsysteme<br />

zurückgegriffen, um gleichzeitig e<strong>in</strong>e deflektorische Verb<strong>in</strong>dung zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Systemen<br />

zu schaffen – die aber freilich nur als +Verkettung* möglich ist (vgl. Lyotard: Der Wi<strong>der</strong>streit;<br />

Nr. 78). Es werden zum Zweck <strong>der</strong> Deflexion also nicht nur Ideologien <strong>in</strong> Praxologien übersetzt<br />

(siehe oben), son<strong>der</strong>n Übersetzung selbst ist e<strong>in</strong>e zentrale Praxologie, wobei Probleme, die<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Diskursart (+b<strong>in</strong>ärer Code*) des e<strong>in</strong>en (Teil-)Systems nicht befriedigend +gelöst* werden<br />

können, durch die Übertragung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e +fremde* Diskursart entschärft werden. Der reflexive<br />

und semantische Übersetzungsverlust, <strong>der</strong> hierdurch entsteht, wird ausgeglichen durch deflek-<br />

torische Gew<strong>in</strong>ne (siehe auch nochmals S. 114).<br />

Das Instrument <strong>der</strong> translatorischen Deflexion ist durch die mit ihr bewirkte Schaffung von<br />

(latenten) Querverb<strong>in</strong>dungen ganz beson<strong>der</strong>s für die <strong>Politik</strong> als – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />

des Publikum und gemäß ihrer Selbstdef<strong>in</strong>ition – +steuerndes* Zentrum relevant. Die <strong>Politik</strong><br />

kann jedoch im Zusammenspiel mit an<strong>der</strong>en Subsystemen noch auf e<strong>in</strong>e Reihe weiterer (jeweils


410 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

für diese Systeme spezifische) Deflexionsmodi zurückgreifen (siehe auch Tabelle 14): Ökonomi-<br />

sche Deflexion beruht zum e<strong>in</strong>en auf <strong>der</strong> <strong>in</strong>tegrativen Macht des Konsums <strong>in</strong> <strong>der</strong> umverteilenden<br />

Gesellschaft des <strong>in</strong>dustriellen Wohlfahrtsstaats (praxologisches Zuckerbrot). Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite fußt sie auf <strong>der</strong> liberalistischen Ideologie <strong>der</strong> freien Marktwirtschaft und <strong>der</strong> aus ihr<br />

abgeleiteten These vom Zwang zur Anpassung an die Marktgesetze <strong>der</strong> Konkurrenz (ideologische<br />

Peitsche), welche durch die stattf<strong>in</strong>denden Globalisierungsprozesse zusätzlichen Auftrieb erhält.<br />

Im Kontext <strong>der</strong> rechtlichen Deflexion wird primär auf die schon oben angesprochene zentrale<br />

Praxologie des (Rechts-)Verfahrens zurückgegriffen, die es ermöglicht, politische (Streit-)Fragen<br />

<strong>in</strong> entschärfende juristische Diskurse zu übersetzen. Mit <strong>der</strong> Praxologie des Rechtsverfahrens<br />

korrespondiert die Ideologie des gewaltenteiligen Verfassungsstaats und <strong>der</strong> unabhängigen<br />

Justiz. Die ideologische +Grundlage* <strong>der</strong> wissenschaftlichen Deflexion besteht analog <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Annahme wissenschaftlicher Unabhängigkeit und Objektivität. Sie wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxologie wissen-<br />

schaftlicher Expertisen von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> deflektorisch genutzt. Im Rahmen <strong>der</strong> dramaturgischen<br />

Deflexion versucht die <strong>Politik</strong> sich durch expressive Inszenierungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit darzustel-<br />

len. Diese politischen +Rituale* (wie z.B. Vereidigungszeremonien) und die Permanenz <strong>der</strong><br />

politischen Präsenz <strong>in</strong> den Medien erzeugen Vertrautheit und Vertrauen. Abgestützt wird<br />

diese <strong>in</strong>tegrative Erzeugung von +Handlungssche<strong>in</strong>* (Meier) durch die Ideologie <strong>der</strong> objektiven<br />

und neutralen (Medien-)Berichterstattung sowie <strong>der</strong> verbreiteten Annahme, daß <strong>der</strong> +Augen-<br />

131<br />

sche<strong>in</strong>* nicht trügen kann. Symbolische Deflexion, die eng mit <strong>der</strong> dramaturgischen Deflexion<br />

verknüpft ist, erfolgt primär mit dem Mittel <strong>der</strong> (historischen) Erzählung und <strong>der</strong> Herrschaft<br />

132<br />

über die Sprache sowie die kulturellen Symbolwelten. Ihr liegt die Ideologie <strong>der</strong> nationalen<br />

E<strong>in</strong>heit und <strong>der</strong> sozial-kulturellen Wertegeme<strong>in</strong>schaft zugrunde. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Deflexion<br />

beson<strong>der</strong>s auf <strong>der</strong> kulturell-sozialstrukturellen Ebene enge Grenzen gesetzt. Ersche<strong>in</strong>ungen<br />

sozialer Des<strong>in</strong>tegration und kultureller Pluralisierung s<strong>in</strong>d weit fortgeschritten und können<br />

sowohl ideologisch wie praxologisch nur mehr schwer zusammengehalten werden.<br />

Doch all diese Zusammenhänge und ihre Problemfel<strong>der</strong> wurden schließlich <strong>in</strong> den voran-<br />

gegangenen Kapiteln bereits detailliert dargestellt und – anhand des Fallbeispiels +BSE* –<br />

auch plastisch veranschaulicht. Sie müssen folglich hier nicht weiter ausgebreitet und konkretisiert<br />

werden. Im folgenden möchte ich mich deshalb abschließend mit <strong>der</strong> Frage beschäftigen,<br />

welche politischen Auswirkungen die immer mehr zur +negativen* Seite tendierende Dialektik<br />

von Reflexion und Deflexion potentiell haben könnte.


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 411<br />

5.4 DIE ENTPOLITISIERENDE DIALEKTIK VON REFLEXION UND DEFLEXION<br />

Die oben beschriebenen ideologischen und praxologischen Deflexionsbemühungen des +Systems*<br />

äußern sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Trübung und Spaltung des reflexiven, (sub)politischen Bewußtse<strong>in</strong>s wie<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er lähmenden Limitierung des politischen Handelns. Aber auch die selbstbegrenzte<br />

Reflexion <strong>der</strong> +lebensweltlichen* Subpolitik manifestiert sich (wie <strong>in</strong> Abschnitt 5.2.2 dargestellt<br />

wurde) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fragmentisierung und Diffusion des Politischen. Gegenseitig verstärken sich<br />

beide Tendenzen, so daß aktuell von e<strong>in</strong>er – mittelfristig die Stabilität des (politischen) Systems<br />

eventuell aber sogar för<strong>der</strong>nden – entpolitisierenden Dialektik von Reflexion und Deflexion<br />

gesprochen werden kann.<br />

Nur: Im Rahmen von Dialektik kann grundsätzlich jede Entpolitisierung <strong>in</strong> (Re-)Politisierung<br />

umschlagen. Die hier vertretene These e<strong>in</strong>es von Dialektik gespeisten, diffusen und untergrün-<br />

digen Entpolitisierungsprozesses impliziert deshalb gerade nicht die Vision vom (apokalyptischen)<br />

Ende <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Zudem b<strong>in</strong> ich mir jener von Giddens herausgestellten doppelten Hermeneutik<br />

<strong>der</strong> Sozialwissenschaft bewußt, die möglicherweise bewirkt, daß gerade mit dem H<strong>in</strong>weis<br />

auf diese +Gefahr* e<strong>in</strong>e Gegenbewegung e<strong>in</strong>geleitet wird, so daß von e<strong>in</strong>er +selfdestroy<strong>in</strong>g<br />

133<br />

prophecy* gesprochen werden kann. O<strong>der</strong> wie Heidegger es <strong>in</strong> Anlehnung an Höl<strong>der</strong>l<strong>in</strong><br />

formulierte: +Wo aber die Gefahr ist, wächst das Rettende auch.* Der langsame, schleichende<br />

und diskont<strong>in</strong>uierliche Prozeß e<strong>in</strong>er +dialektischen* Entpolitisierung (siehe unten) – <strong>der</strong> potentiell<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er reflexiv-deflexiven Risikospirale mündet, welche ihren Grund <strong>in</strong> <strong>der</strong> gleichermaßen<br />

gültigen Umkehrung des oben zitierten Satzes hat (siehe Abschnitt 3.3) –, impliziert deshalb<br />

immer die (utopische) Möglichkeit e<strong>in</strong>er (nichtenden) +Umkehrung* <strong>der</strong> Entwicklung.<br />

Die Grabreden auf die <strong>Politik</strong> s<strong>in</strong>d auch längst schon an<strong>der</strong>weitig verfaßt worden: Thomas<br />

Meyer z.B. spricht zwar nicht vom Ende, son<strong>der</strong>n nur von e<strong>in</strong>er +Transformation des Politischen*<br />

(1994). Diese äußert sich für ihn allerd<strong>in</strong>gs primär <strong>in</strong> Verlusten: Durch Entwicklungen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Wirtschaft wie Globalisierung kommt es, wie auch hier dargestellt (siehe Abschnitt 2.1 und<br />

3.1), zu e<strong>in</strong>em Souveränitätsverlust <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Die gegenwartsorientierte Verdrängungskultur<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft, die <strong>der</strong>en Risikodimension ausblendet, führt zum Zukunftsverlust.<br />

E<strong>in</strong> Tugendverlust ist sowohl auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wie bei den Bürgern zu beobachten.<br />

Die Professionalisierung <strong>der</strong> politischen Klasse führt – durch ihre so bewirkte Entfernung vom<br />

+normalen* Leben – zu e<strong>in</strong>em Erfahrungsverlust. Gleichzeitig erzeugt e<strong>in</strong>e sozialästhetische<br />

Entfremdung, ebenso wie die +Abgehobenheit* <strong>der</strong> Politischen Sprache, e<strong>in</strong>en Verständi-


412 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

gungsverlust. E<strong>in</strong>zig <strong>der</strong> festzustellende Utopieverslust be<strong>in</strong>haltet durch se<strong>in</strong>e +ernüchternde*<br />

Wirkung die auch Möglichkeit e<strong>in</strong>er Befreiung des Politischen aus den Zwängen <strong>der</strong> Dogmatik<br />

und erlaubt e<strong>in</strong> positives Verständnis politischer Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung (denn politische Utopien<br />

zielen laut Meyer ihrem Wesen nach auf die Elim<strong>in</strong>ierung von Differenzen). 134<br />

Noch weit dramatischere Töne werden von Jean-Marie Guéhenno angeschlagen. Durch Globali-<br />

sierungsprozesse droht für ihn nämlich nicht nur e<strong>in</strong> Souveränitätsverlust des (nationalstaatlichen)<br />

politischen Systems, son<strong>der</strong>n das Ende <strong>der</strong> Nation als historisch begründete Schicksalsgeme<strong>in</strong>-<br />

schaft (vgl. Das Ende <strong>der</strong> Demokratie; S. 17–38). Und das Ende <strong>der</strong> Nation br<strong>in</strong>gt für Guéhenno<br />

notwendig auch den Tod <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> als solche mit sich: +Die politische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung,<br />

gleich welcher Tradition man sich zurechnet, setzt nämlich die Existenz e<strong>in</strong>es politischen<br />

Geme<strong>in</strong>wesens voraus […] im Zeitalter <strong>der</strong> Vernetzung steht die Beziehung <strong>der</strong> Bürger zum<br />

politischen Geme<strong>in</strong>wesen <strong>in</strong> Konkurrenz zu unendlich vielen Verb<strong>in</strong>dungen, die sie außerhalb<br />

desselben knüpfen. Die <strong>Politik</strong> ist daher ke<strong>in</strong>eswegs das Ordnungspr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

lebenden Menschen, son<strong>der</strong>n ersche<strong>in</strong>t vielmehr als e<strong>in</strong>e sekundäre Tätigkeit, wenn nicht<br />

als e<strong>in</strong>e künstliche Konstruktion, die zur Lösung <strong>der</strong> praktischen Probleme unserer Gegenwart<br />

ungeeignet ist.* (Ebd.; S. 39f.)<br />

Aufgrund dieser Perspektive e<strong>in</strong>es Verlusts <strong>der</strong> gestaltenden und ordnenden Macht <strong>der</strong> (<strong>in</strong>sti-<br />

tutionellen) <strong>Politik</strong> wird <strong>der</strong> Ruf nach e<strong>in</strong>em +Zurück zur <strong>Politik</strong>* (Scheer 1995) laut. +Dazu<br />

gehört, das Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wie<strong>der</strong>zugew<strong>in</strong>nen, ohne das es ke<strong>in</strong>e Chance für den demokra-<br />

tischen Verfassungsstaat gibt. Nur so können wir aus <strong>der</strong> Situation herauskommen, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

politische Akteure zunehmend auf Nebenplätzen spielen o<strong>der</strong> gar nur Zuschauer s<strong>in</strong>d, während<br />

gleichzeitig das Hauptfeld denjenigen überlassen bleibt, die asoziale Interessen verfolgen.*<br />

(S. 191) Wie hier und auch bei Guéhenno allerd<strong>in</strong>gs nur allzu deutlich wird, ist das Bild vom<br />

Tod <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und die daran anschließende For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>em +Zurück zur <strong>Politik</strong>* zumeist<br />

eng an die Vorstellung e<strong>in</strong>er nationalstaatlichen, parlamentarisch-repräsentativen <strong>Politik</strong> geknüpft.<br />

E<strong>in</strong>e (kritische) Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung erkennt dagegen genau im Prozeß <strong>der</strong> durch<br />

die Reflexivität des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses ausgelösten Untergrabung <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen<br />

<strong>Politik</strong> des +klassischen* Nationalstaats e<strong>in</strong>e Chance für e<strong>in</strong>e im Untergrund <strong>der</strong> Lebenswelt<br />

verwurzelte reflexive (globale) Subpolitisierung (siehe Abschnitt 5.2.1).<br />

Trotzdem ist sie sich – als ebenso selbst-kritische wie +realistische* Theorie – <strong>der</strong> bestehenden<br />

Deflexionspotentiale des etablierten Systems und <strong>der</strong> auf Trägheiten und Fragmentisierungen


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 413<br />

beruhenden Selbstbegrenzung <strong>der</strong> reflexiven Gegenbewegung bewußt (siehe Abschnitt 5.2.2).<br />

In <strong>der</strong> aktuellen Dialektik von Reflexion und Deflexion kommt es deshalb, wie ich darlegen<br />

werde, als paradoxe Folge subpolitischer Politisierung, zu e<strong>in</strong>em diffusen Entpolitisierungsprozeß<br />

im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er (umkehrenden) Begrenzung <strong>der</strong> reflexiven Impulse. Die Rede von e<strong>in</strong>er entpolitisie-<br />

renden Dialektik bedeutet zugleich aber, wie ja bereits e<strong>in</strong>gangs bemerkt wurde, immer die<br />

reale Möglichkeit e<strong>in</strong>er neuen Dynamisierung – also daß sich das Gewicht auf die reflexive<br />

Seite (zurück) verschiebt, so daß die bestehende Reflexivität, die wi<strong>der</strong>sprüchliche Dialektik<br />

<strong>der</strong> sozialen Prozesse, nicht überdeckt, son<strong>der</strong>n vielmehr +aufgedeckt* und damit dem (poli-<br />

tischen) Handeln verfügbar gemacht wird.<br />

Der für diese +dynamische* Sichtweise zentrale Dialektikbegriff ist e<strong>in</strong> Begriff mit e<strong>in</strong>er langen<br />

Geschichte, und was hier unter Dialektik verstanden wird, läßt sich am besten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rekon-<br />

struktion und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abgrenzung von dieser Geschichte verdeutlichen. Für Zenon (ca. 490–430<br />

v. Chr.), <strong>der</strong> als Begrün<strong>der</strong> des dialektischen Denkens gilt, äußerte sich Dialektik <strong>in</strong> <strong>der</strong> Paradoxie<br />

des Se<strong>in</strong>s, welche sich jedoch erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> rational-kritischen Durchleuchtung <strong>der</strong> gängigen<br />

135<br />

Anschauungen entschlüsselt (vgl. z.B. Diemer: Dialektik; S. 35f.). Platon (427–347 v. Chr.)<br />

entwickelte schließlich – allerd<strong>in</strong>gs nicht im Bezug auf Zenon, son<strong>der</strong>n unter Berufung auf<br />

se<strong>in</strong>en Lehrer Sokrates (470–399 v. Chr.) und dessen +diskursive * Erkenntnistheorie – Ansätze<br />

zu e<strong>in</strong>er regelrechten dialektischen Methode: als Kunst des Fragens und des Antwortens (vgl.<br />

136<br />

Kratylos; S. 129 [390c]). Im dialektischen +Frage- und Antwortspiel*, das die Prüfung und<br />

Wi<strong>der</strong>legung des oberflächlichen Sche<strong>in</strong>wissens zum Ziel hat, erfolgt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dialogischen,<br />

auf <strong>der</strong> (rekursiven) Abfolge von These und Antithese beruhenden Spiralbewegung, welche<br />

die Ausgangsfrage immer wie<strong>der</strong> aufnimmt, e<strong>in</strong>e langsame, aber fortschreitende Annäherung<br />

an die verdeckte +Wahrheit*, wobei zwar auf +wissenschaftliche Erkenntnisse* zurückgegriffen,<br />

primär jedoch auf die +<strong>in</strong>tuitive* E<strong>in</strong>sichtsfähigkeit des Gegenübers gebaut wird:<br />

+Die dialektische Methode [geht] […] alle Voraussetzungen aufhebend grad zum Anfange selbst, damit<br />

dieser fest werde, und das <strong>in</strong> Wahrheit <strong>in</strong> barbarischen [!] Schlamm vergrabene Auge <strong>der</strong> Seele zieht<br />

sie gel<strong>in</strong>de hervor und führt es aufwärts, wobei sie [lediglich] als Mitdiener<strong>in</strong>nen und Mitleiter<strong>in</strong>nen die<br />

angeführten Künste [Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Harmonielehre] gebraucht […]* (Politeia;<br />

S. 559 [533c,d])<br />

Der große Dialektiker <strong>der</strong> Neuzeit, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>erseits bei Platons objektiv-idealistischem Dialektik-<br />

137<br />

verständnis kritisch ansetzt, ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). In se<strong>in</strong>er


414 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

+Phänomenologie des Geistes* (1807) begreift er die Dialektik als e<strong>in</strong>e unmittelbare Weise<br />

<strong>der</strong> Erfahrung, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewegung des Bewußtse<strong>in</strong>s entsteht: In <strong>der</strong> Reflexion werden die<br />

Gegenstände des Denkens +begriffen*, <strong>in</strong>dem sie – durch ihre (bestimmte) Negation (siehe<br />

auch unten) – zu e<strong>in</strong>em begrifflichen, sich selbst aufhebenden Gegenstand des Denkens gemacht<br />

werden (vgl. hierzu auch Röd: Die Rolle <strong>der</strong> Dialektik <strong>in</strong> Hegels Theorie <strong>der</strong> Erfahrung). +Dieser<br />

neue [›synthetische‹] Gegenstand enthält die Nichtigkeit des ersten, er ist die über ihn gemachte<br />

Erfahrung.* (Phänomenologie des Geistes; S. 67 [E<strong>in</strong>leitung])<br />

Jenes <strong>in</strong> gewisser H<strong>in</strong>sicht noch beschränkte, +phänomenologische* Verständnis <strong>der</strong> Dialektik<br />

als e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>nerlichen (sich gerade dar<strong>in</strong> aber dem Absoluten annähernden) Bewegung des<br />

Geistes, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Begriffen erfaßt, wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Wissenschaft <strong>der</strong> Logik* (1812/1816)<br />

erweitert. Die Dialektik ersche<strong>in</strong>t Hegel nun gar als +e<strong>in</strong>zig wahrhafte* und +absolute* Methode<br />

e<strong>in</strong>er objektiven Wissenschaft, <strong>in</strong>dem alle<strong>in</strong>e sie die Gesamtheit des Denkens zu umfassen<br />

und zu den re<strong>in</strong>en Wesenheiten vorzudr<strong>in</strong>gen vermag (vgl. auch Heiß: Die großen Dialektiker<br />

des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 106ff.). Um sich an die Wahrheit des Se<strong>in</strong>s anzunähern, muß Dialektik<br />

138<br />

– an<strong>der</strong>s als z.B. noch bei Kant (siehe Anmerkung 137) – jedoch positiv gefaßt werden:<br />

+Gewöhnlich sieht man die Dialektik für e<strong>in</strong> äußerliches und negatives Tun an, das nicht<br />

<strong>der</strong> Sache selbst angehöre* (Wissenschaft <strong>der</strong> Logik; Band 1, S. 37f. [E<strong>in</strong>leitung]). Doch richtig<br />

verstanden, offenbart das dialektische Denken nach Hegel gerade durch se<strong>in</strong>e Negativität<br />

das Positive (Negation <strong>der</strong> Negation). Dieses +positive* und trotzdem auf Negation beruhende<br />

Dialektikverständnis hat Hegel me<strong>in</strong>es Erachtens am klarsten <strong>in</strong> den +Grundl<strong>in</strong>ien <strong>der</strong> Philosophie<br />

des Rechts* (1821) dargelegt. Hier def<strong>in</strong>iert er:<br />

+Das bewegende Pr<strong>in</strong>zip des Begriffs, als die Beson<strong>der</strong>ungen des Allgeme<strong>in</strong>en nicht nur auflösend, son<strong>der</strong>n<br />

auch hervorbr<strong>in</strong>gend, heiße ich Dialektik, – Dialektik also nicht <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, daß sie […] es nur mit<br />

Herleiten se<strong>in</strong>es Gegenteils zu tun hat, – e<strong>in</strong>e negative Weise, wie sie häufig auch bei Plato[n] [siehe<br />

oben] ersche<strong>in</strong>t […] Die höhere Dialektik des Begriffes ist, die Bestimmung nicht bloß als Schranke und<br />

Gegenteil, son<strong>der</strong>n aus ihr den positiven Inhalt und Resultat hervorzubr<strong>in</strong>gen und aufzufassen, als wodurch<br />

sie alle<strong>in</strong> Entwicklung und immanentes Fortschreiten ist. Diese Dialektik ist dann nicht äußeres Tun e<strong>in</strong>es<br />

subjektiven Denkens, son<strong>der</strong>n die eigene Seele des Inhalts […]* (§ 31)<br />

Das dialektische Denken Hegels – obwohl es vor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em geschichtsphilosophischen<br />

139<br />

Anspruch durchaus +revolutionär* war – g<strong>in</strong>g für den Materialisten Karl Marx (1818–83)<br />

vom falschen Ausgangspunkt aus: +Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik, aber


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 415<br />

nur nach Abstreifung ihrer mystischen Form [...]* (Brief an Kugelmann vom 6.3.1858, zitiert<br />

140<br />

nach Becker: Idealistische und materialistische Dialektik; S. 102). Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong> also, daß<br />

Marx se<strong>in</strong>e Dialektik als +Kritik <strong>der</strong> Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt* (1844)<br />

entfaltete. 141<br />

Es blieb allerd<strong>in</strong>gs Friedrich Engels (1820–95) +vorbehalten* sich ausführlicher zum Hegel<br />

+vom Kopf auf die Füße* stellenden, marxistisch-materialistischen Dialektikkonzept zu äußern. 142<br />

Dieser begriff <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Die Entwicklung des Sozialismus von <strong>der</strong> Utopie zur Wissenschaft*<br />

(1880) Dialektik als wissenschaftliches Konzept, <strong>in</strong> dem die historische Dynamik e<strong>in</strong>gefangen<br />

wird. Er bemerkt: +E<strong>in</strong>e exakte Darstellung des Weltganzen, se<strong>in</strong>er Entwicklung und <strong>der</strong> Mensch-<br />

heit sowie des [historisch geprägten] Spiegelbildes dieser Entwicklung <strong>in</strong> den Köpfen <strong>der</strong> Men-<br />

schen, kann […] nur auf dialektischem Weg geschehen.* (S. 397) Den Weg <strong>der</strong> Dialektik<br />

hat für Engels zwar auch die Philosophie des deutschen Idealismus (namentlich Hegel) beschritten<br />

und damit die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten <strong>der</strong> Geschichte gestellt. Beantwortet hat<br />

<strong>der</strong> Idealismus diese Frage allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>eswegs (und konnte es auch nicht). Erst die materia-<br />

listische Sichtweise des wissenschaftlichen Sozialismus ermöglicht dies nämlich: Die Dynamik<br />

des historischen Prozesses beruht auf ökonomischen Triebkräften, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen<br />

Epoche <strong>der</strong> kapitalistischen Gesellschaft <strong>in</strong> Klassenkämpfen manifestieren, wobei sich jedoch<br />

die Klassengegensätze – aufgrund <strong>der</strong> unhaltbaren Wi<strong>der</strong>sprüche auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> öko-<br />

nomischen Basis – notwendig irgendwann positiv <strong>in</strong> <strong>der</strong> kommunistischen Gesellschaft aufheben<br />

(vgl. ebd.; S. 398ff. u. S. 401–417).<br />

Lange Zeit dom<strong>in</strong>ierte das materialistische Dialektikverständnis <strong>der</strong> marxistischen +Tradition*<br />

den theoretischen Diskurs über die Dialektik. Es zeigten sich jedoch <strong>in</strong> Anbetracht <strong>der</strong> Gefahr<br />

e<strong>in</strong>er Erstarrung des dialektischen Denkens <strong>in</strong> Dogmen <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e nach dem Zweiten Welt-<br />

krieg verstärkt Ansätze zu e<strong>in</strong>er – allerd<strong>in</strong>gs ihrerseits dialektischen – +Kritik <strong>der</strong> dialektischen<br />

143<br />

Vernunft* (Sartre 1960). Am konsequentesten ist <strong>der</strong> Versuch Adornos (1903–69) e<strong>in</strong>e radikal<br />

+Negative Dialektik* (1966) zu entwerfen, denn +Denken ist an sich schon, vor allem beson<strong>der</strong>en<br />

Inhalt[,] Negieren, Resistenz gegen das ihm Aufgedrängte* (S. 28). Um das dialektische Denken<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Negation zu befreien, mußte Adorno jedoch mit <strong>der</strong> ihn prägenden hegelianisch-<br />

marxistischen Tradition brechen, um über den Umweg von Kants Vernunftkritik schließlich<br />

– <strong>in</strong> <strong>der</strong> negativ-dialektischen Aufhebung ihrer Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit – zu Hegel und Marx<br />

zurückzuf<strong>in</strong>den.


416 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Unter (negativer) Dialektik versteht Adorno +das konsequente Bewußtse<strong>in</strong> von Nichtidentität*<br />

(S. 15), d.h. +Dialektik entfaltet die vom Allgeme<strong>in</strong>en diktierte Differenz des Beson<strong>der</strong>en<br />

vom Allgeme<strong>in</strong>en* (ebd.; S. 16). An<strong>der</strong>s als bei Hegel, kann es für Adorno jedoch nicht angehen,<br />

dieses Beson<strong>der</strong>e sodann im Allgeme<strong>in</strong>en (des Begriffs) wie<strong>der</strong> aufzuheben – und damit <strong>der</strong><br />

144<br />

Zerstörung Preis zu geben. Das Beson<strong>der</strong>e, Differente, Nichtidentische ist schließlich schon<br />

durch die aktuelle, totalisierende Praxis <strong>der</strong> kapitalistischen Markt-Gesellschaft genug bedroht,<br />

so daß Philosophie ihren (neuen) Wert genau <strong>in</strong> <strong>der</strong> negierenden Transzendierung dieser<br />

Praxis hat (vgl. ebd.; S. 13). Philosophie schöpft also +was irgend sie noch legitimiert, aus<br />

dem Negativem* (ebd.; S. 60). Deshalb muß die philosophische Praxis das Beson<strong>der</strong>e durch<br />

die Negation <strong>der</strong> +positiven* Verallgeme<strong>in</strong>erung im Begrifflichen – mittels <strong>der</strong> auf die konkrete<br />

(und s<strong>in</strong>guläre) Wirklichkeit zielenden (Hegelschen) Methode <strong>der</strong> bestimmten Negation –<br />

hervorkehren. +Die [dadurch erfolgende] Entzauberung des Begriffs ist das Gegengift <strong>der</strong> Philo-<br />

sophie.* (Ebd.; S. 22) +An ihr ist die Anstrengung, durch den Begriff über den Begriff h<strong>in</strong>-<br />

auszugehen.* (Ebd.; S. 25)<br />

Die negative Dialektik Adornos versucht also, wie schon oben angedeutet wurde, <strong>in</strong> ihrem<br />

negierenden Bezug auf die konkrete Wirklichkeit den sche<strong>in</strong>bar unüberbrückbaren Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zwischen Subjekt- und Objekt-Denken, zwischen idealistischer und materialistischer Dialektik,<br />

zu vermitteln: +In Lesen des Seienden als Text se<strong>in</strong>es Werdens berühren sich idealistische<br />

und materialistische Dialektik. Während jedoch dem Idealismus die <strong>in</strong>nere Geschichte <strong>der</strong><br />

Unmittelbarkeit diese als Stufe des Begriffs rechtfertigt, wird sie materialistisch zum Maß <strong>der</strong><br />

Unwahrheit <strong>der</strong> Begriffe […] Womit negative Dialektik ihre verhärteten Gegenstände durchdr<strong>in</strong>gt,<br />

ist die Möglichkeit, um die ihre Wirklichkeit betrogen hat und die doch aus e<strong>in</strong>em jeden<br />

145<br />

blickt.* (Ebd.) Diese konkrete (und zugleich +utopische*) Negativität, die Theorie und Praxis<br />

mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verklammert, übt e<strong>in</strong>e befreiende Macht aus (vgl. auch Tong: Dialektik <strong>der</strong> Freiheit<br />

als Negation bei Adorno). Ja, vielmehr noch: +Freiheit [als die Möglichkeit zum ›an<strong>der</strong>s se<strong>in</strong>‹<br />

und zu e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Se<strong>in</strong>] ist e<strong>in</strong>zig <strong>in</strong> bestimmter Negation zu fassen, gemäß <strong>der</strong> konkreten<br />

Gestalt <strong>der</strong> Unfreiheit.* (Negative Dialektik; S. 228)<br />

Auch <strong>in</strong> dieser +negativen* Konzeption Adornos läuft das dialektische Denken allerd<strong>in</strong>gs Gefahr,<br />

sich selbst zu beschränken, <strong>in</strong>dem es e<strong>in</strong>erseits über sich h<strong>in</strong>aus strebt und damit möglicherweise<br />

vor <strong>der</strong> (<strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht metaphysischen) +Transzendenz* des eigenen Anspruchs kapituliert.<br />

An<strong>der</strong>erseits verfällt es <strong>in</strong> den Modus <strong>der</strong> aufklärerischen Metaerzählung von <strong>der</strong> Befreiung


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 417<br />

durch die Kraft <strong>der</strong> – hier negativ verstandenen – (dialektischen) Vernunft. Bei neueren Ansätzen,<br />

die kritisch an Adorno anschließen, wird Dialektik deshalb explizit +ohne die Konnotation<br />

e<strong>in</strong>er sich vollendenden Wahrheit o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er sich vollendenden Geschichte* gefaßt (Wellmer:<br />

Zur Dialektik von Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 49), son<strong>der</strong>n vielmehr als e<strong>in</strong>e unbestimmte,<br />

146<br />

doch konkret angestoßene Suchbewegung verstanden (vgl. ebd.; S. 109). In diesem (post-<br />

mo<strong>der</strong>nen) Verzicht auf Synthese und (teleologische) Wahrheit f<strong>in</strong>det nicht mehr nur e<strong>in</strong>e<br />

Negation <strong>der</strong> Negation <strong>der</strong> Negation statt, son<strong>der</strong>n es erfolgt auch e<strong>in</strong>e (öffnende) Entklammerung<br />

<strong>der</strong> Dialektik (vgl. z.B. Kamper: Aufklärung – Was sonst?; S. 43 sowie Bachelard: La philosophie<br />

147<br />

du non). So stellt sich das dialektische Denken <strong>der</strong> +Abgründigkeit* des Se<strong>in</strong>s.<br />

Diese Entklammerung <strong>der</strong> Dialektik bedeutet vor allem auch, daß das dialektische Denken<br />

nicht nur sich selbst erfaßt und negiert, son<strong>der</strong>n darüber h<strong>in</strong>aus se<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gungen (d.h se<strong>in</strong>e<br />

materielle wie +ideelle* Bed<strong>in</strong>gtheit) reflektiert. E<strong>in</strong>e auf Synthese verzichtende Verb<strong>in</strong>dung<br />

von materialistischer und idealistischer Dialektik, wie sie diesem Anspruch entspricht, wird<br />

aber wie<strong>der</strong>um nur gel<strong>in</strong>gen können, wenn die Dialektik <strong>in</strong> das Verhältnis von Se<strong>in</strong> und Bewußt-<br />

se<strong>in</strong> selbst verlagert wird. Dialektik als reflexive, zugleich auf sich selbst bezogene Spiegelung<br />

<strong>der</strong> sozial-historischen +Wirklichkeit* besteht folglich <strong>in</strong> <strong>der</strong> +realen* (unaufhebbaren) Verwo-<br />

benheit von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>, Theorie und Praxis. Denn jedes Denken ist (materielle)<br />

Praxis, <strong>in</strong>soweit es sich nicht nur auf e<strong>in</strong> wie auch immer geartetes (erkanntes o<strong>der</strong> verkanntes,<br />

vorgestelltes o<strong>der</strong> wirkliches) Seiendes bezieht, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> diesem Bezug Handlungen – und<br />

seien es auch nur gedachte – auslöst. An<strong>der</strong>erseits ist jede Praxis theoretisch, <strong>in</strong>soweit sie<br />

notwendig (wenn auch vielleicht unbewußt) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wie auch immer gearteten Zusammenhang<br />

mit dem Gedachten steht, das se<strong>in</strong>erseits auf das Handeln zurückwirkt und umgekehrt. Genau<br />

aus diesem doppelt kont<strong>in</strong>genten Wechselverhältnis erklärt sich die dynamische dialektische<br />

Spannung des sozialen Prozesses.<br />

Daß e<strong>in</strong> Zusammenhang zwischen Denken und Handeln, Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> besteht, war<br />

natürlich auch den dialektischen Denkern <strong>der</strong> Vergangenheit bewußt. Trotzdem wurde das<br />

bewegende Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Dialektik entwe<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Sphäre, im<br />

materiellen Se<strong>in</strong> (ökonomische Verhältnisse) o<strong>der</strong> im (transzendentalen) Bewußtse<strong>in</strong>, im +Welt-<br />

geist*, im Reich <strong>der</strong> Ideen verortet, <strong>der</strong>en +Objektivität* sich dem Subjekt über die gedankliche<br />

148<br />

Reflexion offenbart bzw. von ihm <strong>in</strong>tuitiv-anamnetisch o<strong>der</strong> +d<strong>in</strong>glich* erfahren wird. Selbst<br />

bei Adorno – obwohl se<strong>in</strong>e negative Dialektik, als kritische Theorie, auf <strong>der</strong> bestimmten Negation


418 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

<strong>der</strong> defizitären Aktualität beruht und damit auf den Vermittlungszusammenhang zwischen<br />

Subjekt und Objekt abhebt – bleibt die Dialektik von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> letztlich e<strong>in</strong>em<br />

149<br />

angenommenen +Vorrang des Objekts* (also dem materiellen Se<strong>in</strong>) untergeordnet. Und<br />

auch bei Sartre (1905–80), <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er späteren Schaffensperiode e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung von<br />

Existentialismus und Marxismus anstrebte und deshalb auf den dialektischen Zusammenhang<br />

von (nichtendem) Entwurf und (praktischer) Existenz abheben mußte, f<strong>in</strong>den sich nur erste<br />

Ansätze zu e<strong>in</strong>er auf <strong>der</strong> dialektischen Verwobenheit von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> beruhenden<br />

(reflexiven) Konzeption von Dialektik. In se<strong>in</strong>er oben bereits erwähnten Schrift zur +Kritik<br />

<strong>der</strong> dialektischen Vernunft* (1960) bemerkt er zwar: +Die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit für die Existenz<br />

e<strong>in</strong>er Dialektik ist selbst dialektisch […] Das Se<strong>in</strong> ist die Negation des Erkennens, und das<br />

Erkennen empfängt se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> Negation des Se<strong>in</strong>s […]* (S. 36). Trotzdem begreift<br />

Sartre se<strong>in</strong> Konzept, wie auch Adorno, explizit als materialistische (d.h. von <strong>der</strong> Objekt-Seite<br />

angetriebene) Dialektik, weil +das Denken se<strong>in</strong>e eigene Notwendigkeit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em materiellen<br />

150<br />

Gegenstand entdecken muß* (ebd.; S. 37). Genau dies führt +zwangsläufig vom Denken<br />

zum Handeln. Jenes ist tatsächlich nur e<strong>in</strong> Moment von diesem.* (Ebd.)<br />

Mit <strong>der</strong> anschließenden Aussage, +daß sich die dialektische Methode nicht von <strong>der</strong> dialektischen<br />

Bewegung unterscheidet* (ebd.; S. 38) sowie <strong>der</strong> Bemerkung, daß Reflexion nicht von <strong>der</strong><br />

Praxis getrennt werden kann (vgl. ebd; S. 50), weist Sartre implizit allerd<strong>in</strong>gs wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong><br />

die (hier e<strong>in</strong>geschlagene) Richtung e<strong>in</strong>er Sicht <strong>der</strong> Dialektik als Dialektik von Se<strong>in</strong> und Bewußt-<br />

se<strong>in</strong>. In beiden, Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>, vollzieht sich zwar e<strong>in</strong>e immanente Dialektik: Das<br />

(soziale und materielle) Se<strong>in</strong> ist durch Reflexivität gekennzeichnet, d.h. es wirkt, durch die<br />

Folgen se<strong>in</strong>er unvermeidbaren Wi<strong>der</strong>sprüche, auf sich selbst zurück. Auf <strong>der</strong> Ebene des Bewußt-<br />

se<strong>in</strong>s bestehen (ebenso unvermeidlich) Ambivalenzen – nicht nur, weil es Bewußtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

<strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchlichen Welt ist, son<strong>der</strong>n weil das Selbst <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>e wi<strong>der</strong>sprüchliche <strong>in</strong>nere<br />

Vielheit darstellt (siehe auch Exkurs). E<strong>in</strong>e dialektische Bewegung, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen<br />

Sphäre manifestiert (und so historisch konkret wird), entsteht jedoch erst im Spannungsverhältnis<br />

zwischen beiden, da sowohl das subjektive Bewußtse<strong>in</strong> wie das äußere Se<strong>in</strong> für sich genommen<br />

nicht zu e<strong>in</strong>er Transformation <strong>der</strong> sozialen +Realitäten* führen können.<br />

Dieses Spannungsverhältnis zwischen Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> – obwohl es zum<strong>in</strong>dest latent<br />

immer vorhanden ist – äußert sich aber nicht <strong>in</strong> jedem Fall <strong>in</strong> Wandlungsimpulsen und tat-<br />

sächlichen Wandlungsprozessen. Je nach <strong>der</strong> Intensität und Ausprägung <strong>der</strong> <strong>in</strong> den +objektiven*


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 419<br />

Se<strong>in</strong>: Reflexivität Bewußtse<strong>in</strong>: Ambivalenzen<br />

Reflexion: Dynamisierung Deflexion: Statik<br />

Abbildung 12: Das vierfache Feld <strong>der</strong> doppelten Dialektik<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchen (Se<strong>in</strong>) begründeten Reflexivität und <strong>der</strong> aktuellen +Konstitution* des – sozial<br />

kumulierten – <strong>in</strong>dividuellen Bewußtse<strong>in</strong>s, kann man zwischen e<strong>in</strong>er eher dynamisierenden<br />

(reflexiven) und e<strong>in</strong>er eher statischen (deflexiven) Dialektik unterscheiden: E<strong>in</strong> dynamisierendes<br />

dialektisches Verhältnis von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> entsteht, wenn die Reflexivität des Se<strong>in</strong>s<br />

auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> zugelassenen Ambivalenz des Bewußtse<strong>in</strong>s gespiegelt wird (was sich <strong>in</strong> diesem<br />

Fall potentiell auch <strong>in</strong> reflexiven Handlungsimpulsen nie<strong>der</strong>schlägt). Überwiegt dagegen das<br />

deflexive Moment bzw. ist das Niveau <strong>der</strong> Reflexivität ger<strong>in</strong>g, so stellt sich e<strong>in</strong>e oberflächlich<br />

statisch wirkende Dialektik e<strong>in</strong>, d.h. es kommt zu e<strong>in</strong>em (sche<strong>in</strong>baren) Stillstand <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozial<br />

151<br />

vergegenständlichten dialektischen Bewegung von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>. S<strong>in</strong>d nämlich die<br />

<strong>in</strong>neren wie äußeren reflexiven Impulse schwach (o<strong>der</strong> werden sie durch deflexive Maßnahmen<br />

technologischer o<strong>der</strong> sozialtechnologischer Natur geschwächt), so kann die reflexiv-dialektische<br />

Bewegung +e<strong>in</strong>gefroren* bzw. abgelenkt werden: Ideologien und Praxologien (siehe oben)<br />

bewirken, daß die reflexiven Momente nicht (im Bewußtse<strong>in</strong> und <strong>in</strong> Handlungen) zum Tragen<br />

kommen, selbst wenn die Reflexivität <strong>der</strong> Verhältnisse auf e<strong>in</strong>em hohen Niveau angesiedelt<br />

ist. Trägheitsmomente, Entmutigungen, Erfahrung des Mißerfolgs wie die Perspektive <strong>der</strong> Aus-<br />

sichtslosigkeit, aber vor allem die praxologische Ver<strong>in</strong>nerlichung <strong>der</strong> Strukturen des Systems,<br />

bewirken e<strong>in</strong>e deflexive Stabilisierung <strong>der</strong>selben. (Siehe auch Abb. 8) 152


420 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Die Wi<strong>der</strong>sprüche, die Reflexivität des Se<strong>in</strong>s (objektive Dialektik) werden dadurch jedoch<br />

nicht ger<strong>in</strong>ger, und auch die Ambivalenz des Bewußtse<strong>in</strong>s (subjektive, kognitiv-emotionale<br />

Dialektik), die durch Deflexionsbemühungen nur latent gehalten und nicht aufgehoben wird,<br />

läßt sich nicht dauerhaft überdecken. Gerade daß beide, Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>, ihrerseits<br />

e<strong>in</strong>em grundlegenden dialektischen Zusammenhang bilden, welcher sich, wie oben dargelegt,<br />

reflexiv-dynamisierend o<strong>der</strong> deflexiv-statisch äußern kann, und daß diese beiden Momente,<br />

Reflexion und Deflexion, wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dialektischen Verhältnis stehen, da Reflexionen<br />

ohne deflexive Gegenbewegungen nicht denkbar s<strong>in</strong>d, bewirkt jedoch, daß sich e<strong>in</strong>e potentiell<br />

<strong>fatal</strong>e, reflexiv-deflexive Risikospirale entwickelt kann (siehe auch nochmals Abschnitt 3.3).<br />

Indem nämlich auf reflexive Impulse deflexive Gegenimpulse folgen, die die Reflexivität ablenken<br />

und die <strong>in</strong>neren Ambivalenzen überdecken, werden die so latent gehaltenen objektiven wie<br />

subjektiven Wi<strong>der</strong>sprüche lediglich auf e<strong>in</strong>e immer höhere Ebene transformiert. Die reflexiven<br />

Momente werden dadurch zwar tendenziell – als Reaktion auf die Deflexionsversuche und<br />

die zunehmende Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit – heftiger. Doch auch die Auslenkung <strong>der</strong> Deflexion<br />

wird immer größer, was die Reflexionsräume gleichzeitig begrenzt.<br />

Hier<strong>in</strong> liegt e<strong>in</strong>e gewisse +Tragik*. Das dialektische Zusammenwirken von Reflexion und De-<br />

flexion, das sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Prozeß reflexiv-deflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung sozial manifestiert, läuft<br />

so nämlich möglicherweise auf e<strong>in</strong>e +katastrophale* Entwicklung h<strong>in</strong>aus, da irgendwann e<strong>in</strong><br />

Punkt erreicht ist, an dem die entfaltete Reflexivität nicht mehr deflexiv, d.h. <strong>in</strong> den bestehenden<br />

Systemgrenzen, aufgefangen werden kann. Doch an diesem vielleicht nahen, vielleicht fernen,<br />

vielleicht auch nie erreichten Punkt <strong>der</strong> +Katastrophe* ist es für e<strong>in</strong>e reflexive +Kehre* eventuell<br />

zu spät. O<strong>der</strong> aber die Katastrophe führt zu e<strong>in</strong>er reflexiven +Katharsis*, die zw<strong>in</strong>gt, mit dem<br />

bestehenden System endgültig (und deshalb vielleicht gewaltvoll) zu brechen.<br />

Was aber hat diese potentiell +<strong>fatal</strong>e* Dialektik <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, so läßt sich fragen,<br />

konkret mit den aktuellen, <strong>in</strong> den vorangegangenen Kapiteln aufgezeigten Dilemmata <strong>der</strong><br />

<strong>Politik</strong> zu tun? Und ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige dialektische Sichtweise überhaupt noch +zeitgemäß*?<br />

– Zu letzterem E<strong>in</strong>wand läßt sich antworten: Auch wenn das dialektische Denken <strong>in</strong> Verruf<br />

geraten ist, (<strong>in</strong> bestimmtem Spielarten zurecht) als +totalitär* denunziert wurde und somit<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krise steckt: Gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise beweist es se<strong>in</strong>e Not-Wendigkeit. Denn speziell<br />

die dialektische Methode kann dazu dienen, das was nicht ist – die Seite des verschütteten<br />

Begehrens – zu erfassen, um es von den +aktuellen* Hemmnissen zu befreien und es zur


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 421<br />

Wirklichkeit zu br<strong>in</strong>gen. (Reflexive) Dialektik ist <strong>in</strong> ihrer Zirkularität nämlich nicht festschreibend,<br />

son<strong>der</strong>n fortschreitend <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>er Entfesselung von den Zwängen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>deutigkeit.<br />

In diesem S<strong>in</strong>n ist Dialektik geradezu <strong>der</strong> +Puls <strong>der</strong> [unterdrückten] Freiheit* (vgl. Bhaskar:<br />

153<br />

Dialectic; Kap. 4, § 12). Sie ist, wenn sie (nichtend) entfaltet wird, die Chance, daß die<br />

+Katastrophe* nicht e<strong>in</strong>tritt: <strong>in</strong>dem durch das dialektische Ambivalenzbewußtse<strong>in</strong> die gegebene<br />

+Dualität <strong>der</strong> Strukturen* für reflexive Gegenbewegungen genutzt wird.<br />

Dialektik, so verstanden, ist also an sich politisch. Deshalb waren die obigen Ausführungen<br />

nicht nur notwendig, um den hier zugrunde gelegten Dialektikbegriff +abschließend* zu klären.<br />

Die herausgestellten +tragischen* Implikationen e<strong>in</strong>er dialektischen, reflexiv-deflexiven Mo<strong>der</strong>ni-<br />

sierung führen vielmehr direkt zum Kern unserer Fragestellung, erklären – als reflexives Deutungs-<br />

muster – die Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne: Zum e<strong>in</strong>en wird es jetzt, durch<br />

den Bruch <strong>der</strong> funktionalistischen Systemlogik, möglich, die im Vorangegangenen herausgear-<br />

beitete immanente Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> Prozesse (e<strong>in</strong>fache Dekonstruktion) als dialektischen<br />

Zusammenhang zu betrachten. Die (nicht-synthetische) dialektische Sichtweise ermöglicht<br />

damit e<strong>in</strong>e analytisch tiefer reichende Dekonstruktion. Zum an<strong>der</strong>en wird aus dieser +brüchigen*<br />

Sicht deutlich, daß sich e<strong>in</strong>e im Pr<strong>in</strong>zip ähnlich +<strong>fatal</strong>e* Entwicklung, wie sie durch die Dynamik<br />

e<strong>in</strong>er reflexiv-deflexiven Risikospirale allgeme<strong>in</strong> entfaltet wird, auch im Bereich <strong>der</strong> <strong>Politik</strong><br />

zeigt. Und so bewirkt die aktuell entfaltete Dialektik, daß die reflexive (Sub-)Politisierung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e (deflexive) Entpolitisierung umschlägt bzw. umzuschlagen droht:<br />

Der untergründige Prozeß <strong>der</strong> diffusen Entpolitisierung des Politischen – sowohl <strong>der</strong> <strong>in</strong>sti-<br />

tutionellen <strong>Politik</strong> wie ihrer lebensweltlichen Basis – durch die Dialektik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

wird auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite durch die bereits verschiedentlich angesprochene Begrenztheit <strong>der</strong><br />

Reflexivität und die Selbstbegrenzung <strong>der</strong> subpolitischen Reflexionen begünstigt (siehe <strong>in</strong>sb.<br />

nochmals Abschnitt 5.2.2). Zwar vollziehen sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat tiefgreifende sozio-ökonomische<br />

Wandlungsprozesse (siehe Kapitel 2). Deren (reflexive) Dynamik und Spiegelung ist jedoch<br />

unterschiedlich stark ausgeprägt. Bestehende +Defizite* <strong>der</strong> Entwicklung <strong>in</strong> bestimmten Teil-<br />

bereichen werden durch verstärkte, allerd<strong>in</strong>gs primär deflektorische Mo<strong>der</strong>nisierungsanstren-<br />

gungen <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Bereichen zu kompensieren versucht. Man kann aufgrund dieser Ungleich-<br />

zeitigkeiten, angelehnt an Klaus Offe, auch <strong>in</strong> bezug auf die (post)mo<strong>der</strong>nen (<strong>Post</strong>-)Industriegesell-<br />

schaften von e<strong>in</strong>er nur sektoralen Mo<strong>der</strong>nisierung sprechen (vgl. Strukturprobleme des kapita-<br />

listischen Staates; S. 124).


422 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Diese sektorale, vor allem auf das ökonomische und technologisch-wissenschaftliche System<br />

konzentrierte Mo<strong>der</strong>nisierung, äußert sich auf <strong>der</strong> politischen Ebene analog <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nur sektoraler<br />

Politisierung. Zum e<strong>in</strong>en bleibt nämlich, sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie des gewaltenteiligen Verfassungs-<br />

staats als auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er sozialen Wirklichkeit, alle<strong>in</strong>e das (<strong>in</strong>stitutionelle) politische System<br />

für (offizielle) <strong>Politik</strong> zuständig – was diese gleichzeitig auf e<strong>in</strong>en relativ schmalen Personenkreis<br />

und Bereich des Sozialen reduziert. Zum an<strong>der</strong>en ist aktive Subpolitik, die <strong>in</strong> Reaktion auf<br />

diese Beschränkungen des politischen Systems erfolgt und durch die Reflexion <strong>der</strong> unterschwel-<br />

ligen, schleichenden Entgrenzung des Politischen durch die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Nebenfolgen des ökono-<br />

misch-technischen Wandels ausgelöst wird, auf e<strong>in</strong>ige wenige Sektoren (wie z.B. den Umwelt-<br />

bereich) konzentriert, <strong>in</strong> denen die Probleme dieser Entgrenzung am deutlichsten spürbar<br />

werden. Und selbst dabei ist Subpolitik oft nicht an grundlegenden Verän<strong>der</strong>ungen orientiert,<br />

zieht (aus Furcht vor Repressionen) nicht die Konsequenz aus ihrer sozialen (Sub-)Position.<br />

Die Reflexivität <strong>der</strong> Prozesse wird also zwar wahrgenommen. Aber ihre theoretische wie<br />

praktische Reflexion bleibt limitiert und fragmentisiert.<br />

Die Limitierung und Fragmentisierung <strong>der</strong> reflexiven Gegenbewegung wird aber nicht nur<br />

durch die Ungleichzeitigkeit und (Selbst-)Beschränkung des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses bewirkt.<br />

Sie wird auf <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene, wie dargelegt, durch fragmentisierende Ideologien wie<br />

den systemtheoretischen Funktionalismus deflektorisch abgestützt, <strong>der</strong> die Annahme e<strong>in</strong>er<br />

autonomen Trennung <strong>der</strong> Subsysteme zur Grundlage hat (siehe Abschnitt 5.3.1). Und es kommen<br />

auch hier erhebliche +passive* deflexive Momente zum Tragen: Die reale Möglichkeit <strong>der</strong><br />

Katastrophe durch e<strong>in</strong>e reflexiv-deflexive Risikospirale wird schlicht zumeist deshalb nicht<br />

wahrgenommen, weil deflexives Nichtwissen(wollen) e<strong>in</strong>en, allerd<strong>in</strong>gs nur kurz- bis mittelfristigen,<br />

emotionalen Entlastungsgew<strong>in</strong>n br<strong>in</strong>gt, so daß Reflexionen, die zudem immer mit kognitiven<br />

und praktischen Anstrengungen verbunden s<strong>in</strong>d, schon aus Gründen <strong>der</strong> +psychischen Ökonomie*<br />

unterbleiben. Durch diese <strong>in</strong>sgesamt schon problematische deflexive Negierung <strong>der</strong> Möglichkeit<br />

<strong>der</strong> Katastrophe erfolgt gleichzeitig e<strong>in</strong>e Verdrängung <strong>der</strong> Brisanz des Politischen, das hier<br />

als Gegenregulativ, als sozialer Ort <strong>der</strong> Reflexion wirken könnte.<br />

Die postulierte Tendenz zu e<strong>in</strong>er deflexiven Fluchthaltung liegt primär <strong>in</strong> +Deformationen*<br />

auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Individuen begründet. Durch e<strong>in</strong>e zwanghaft und gewaltvoll ablaufende<br />

Sozialisation und die permanente Entmutigung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> eigenen Hilflosigkeit <strong>in</strong><br />

Anbetracht des enormen +Momentum* des Systems neigen die durch (praxologische) Integration


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 423<br />

und die gleichzeitige Drohung des Ausschlusses unterdrückten Individuen <strong>in</strong> vielen Fällen<br />

zur Identifizierung mit diesem System, das sie begrenzt, um an se<strong>in</strong>er (verme<strong>in</strong>tlichen) Stärke<br />

teilzuhaben. So verwun<strong>der</strong>t es nicht, daß schon Erich Fromm – für ihn jedoch damals unerwartet<br />

– im Rahmen e<strong>in</strong>er Studie über +Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs*<br />

aus dem Jahr 1929/30 zu dem Ergebnis kam, +daß häufig [sogar] die Anhänger <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ksparteien<br />

e<strong>in</strong>e seelische Haltung aufwiesen, die ke<strong>in</strong>eswegs <strong>der</strong> konstruierten idealtypischen entsprach,<br />

ja ihr geradezu entgegengesetzt war* (S. 229) – nämlich e<strong>in</strong>e autoritäre (vgl. ebd.; S. 236ff.). 154<br />

Gerade e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Individuen, gekoppelt mit dem Bewußtse<strong>in</strong>, ohneh<strong>in</strong> nichts än<strong>der</strong>n<br />

zu können (+erlernte Hilflosigkeit*), bewirkt also e<strong>in</strong>e deflexive Entpolitisierung entwe<strong>der</strong> im<br />

S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Indifferenz zur <strong>Politik</strong> o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er unkritischen Bejahung bestehen<strong>der</strong> Strukturen,<br />

schafft auf <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene die Bereitschaft zu fragloser Akzeptanz, so daß gegebene<br />

Reflexivität nicht gespiegelt wird.<br />

Diese Deformation durch Integration wird auf praktischer Ebene durch Praxologien erreicht<br />

und verfestigt (siehe Abschnitt 5.3.2). Umgemünzt auf die Sphäre <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> kann man davon<br />

sprechen, daß <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e als Folge <strong>der</strong> für ihre +zwangsläufigen* Integrationsbemühungen<br />

zentralen Praxologie <strong>der</strong> Übersetzung e<strong>in</strong>e Verdrängung politischer Diskurse (um Macht,<br />

Herrschaft und Grundfragen <strong>der</strong> sozialen Organisation) zugunsten ökonomischer, rechtlicher,<br />

wissenschaftlicher, dramaturgisch-medialer und symbolisch-ästhetischer Diskurse stattf<strong>in</strong>det.<br />

Diese Gewichtsverlagerung wird von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> aktiv betrieben, die versucht ihrer subpolitischen<br />

H<strong>in</strong>terfragung durch e<strong>in</strong>e deflektorische Selbstentpolitisierung zu entgehen: Wo <strong>Politik</strong> solche<br />

nicht mehr greifbar ist, <strong>in</strong> systemexternen +Sachzwängen* aufgelöst wird, läßt sie sich auch<br />

nicht mehr angreifen (siehe auch Abschnitt 3.5). Daneben sorgen Wahlrituale (die allerd<strong>in</strong>gs<br />

an e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>den<strong>der</strong> Kraft zunehmend e<strong>in</strong>büßen) und Rechtsverfahren etc. für e<strong>in</strong>e praxologische<br />

Integration potentiellen Protestpotentials. Am wirkungsvollsten dürfte jedoch – solange das<br />

Wohlstandsniveau hoch angesiedelt ist und e<strong>in</strong>e staatliche Umverteilungspolitik e<strong>in</strong>en Teil<br />

des gesellschaftlichen Reichtums nach +unten* durchsickern läßt – die e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dende Macht<br />

des Konsums se<strong>in</strong>. (Siehe auch nochmals Tab. 14, S. 409)<br />

Wirken die (Selbst-)Begrenzungen <strong>der</strong> Reflexion mit diesen deflexiven (ideologischen wie<br />

praxologischen) Momenten zusammen, so kommt es zu e<strong>in</strong>em sich <strong>in</strong> dieser Dialektik verstär-<br />

kenden Entpolitisierungsprozeß. Die Möglichkeit zu e<strong>in</strong>er (repolitisierenden) Verschiebung<br />

des Gewichts auf die reflexive Seite ist zwar, wie e<strong>in</strong>gangs erläutert, natürlich trotzdem gegeben,


424 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

da das reflexive Moment – zum<strong>in</strong>dest latent – immer vorhanden ist. Doch <strong>in</strong>dem weitreichende<br />

Reflexionen, die sich <strong>in</strong> konkreten Richtungsverän<strong>der</strong>ungen manifestieren, auf sich warten<br />

lassen, steigt das Risikopotential und wird e<strong>in</strong>e reflexiv-deflexive Risikospirale <strong>in</strong> Gang gesetzt.<br />

Bei dieser Risikospirale handelt es sich nicht alle<strong>in</strong>e um technologische, son<strong>der</strong>n auch um<br />

politische Risiken: das Risiko, daß die latenten sozialen Spannungen e<strong>in</strong> so großes Ausmaß<br />

annehmen, daß gewaltvolle Tendenzen hervortreten; das Risiko, daß die soziale Entfremdung<br />

durch die Deflexionsbemühungen so weit getrieben wird, daß die Individuen sich ganz von<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft und <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> abwenden; das Risiko, daß die <strong>Politik</strong> durch ihre deflektorischen<br />

Übersetzungsversuche soviel an Kompetenzen und Gehalt e<strong>in</strong>büßt, daß sie von den an<strong>der</strong>en<br />

Teilsystemen vollständig absorbiert wird. Dar<strong>in</strong> liegt e<strong>in</strong>e Gefahr für das soziale und politische<br />

System, aber auch für <strong>Politik</strong> allgeme<strong>in</strong>, die entwe<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dialektik von Reflexion und<br />

Deflexion zu entschw<strong>in</strong>den und sich aufzulösen o<strong>der</strong> im doppelten S<strong>in</strong>n des Wortes +gewaltvoll*<br />

(als Fundamentalismus, Terrorismus o<strong>der</strong> Fanatismus etc.) wie<strong>der</strong> hervorzubrechen droht.<br />

So gerät <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dialektik von Reflexion und Deflexion auch Subpolitik <strong>in</strong> Gefahr, daß ihre<br />

utopisch-negierende Radikalität sich deflexiv äußert, daß sie, anstatt die Wi<strong>der</strong>sprüche zu<br />

entfalten und die Dialektik <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, ihren Doppelcharakter von Zwang<br />

und Freiheit zu reflektieren, zu e<strong>in</strong>er tabula rasa führt, die sich <strong>in</strong> neuen Ordnungen und<br />

neuen Fixierungen manifestiert – und damit <strong>Politik</strong> als reflexive H<strong>in</strong>terfragung von Ordnung<br />

elim<strong>in</strong>iert.<br />

Doch ist die These e<strong>in</strong>er potentiell <strong>fatal</strong>en, entpolitisierenden Dialektik von Reflexion und<br />

Deflexion nicht e<strong>in</strong>e (post)mo<strong>der</strong>ne Metaerzählung des Zerfalls und <strong>der</strong> Auflösung? – Diese<br />

Frage muß mit ja beantwortet werden, wenn damit geme<strong>in</strong>t ist, daß hier <strong>in</strong> <strong>der</strong> +umfassenden*<br />

Perspektive e<strong>in</strong>es metatheoretischen Entwurfs auf die (konstruierten) Zusammenhänge zwischen<br />

und die (dialektische) E<strong>in</strong>heit von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>, Gesellschaft und <strong>Politik</strong> h<strong>in</strong>gewiesen<br />

wird. Sie kann jedoch auch mit ne<strong>in</strong> beantwortet werden, <strong>in</strong>dem die hier getroffenen Aussagen<br />

ke<strong>in</strong>en Anspruch auf objektive Wahrheit erheben. Im Gegenteil: Dieser Text, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e erste<br />

Skizze zu e<strong>in</strong>er kritisch-dialektischen Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung darstellt, wird von<br />

mir als Anregung zu kritischer Reflexion verstanden, was die (Selbst-)Kritik me<strong>in</strong>er Thesen<br />

im Bewußtse<strong>in</strong> ihrer (sozialen und historischen) Relativität notwendig e<strong>in</strong>schließt. Es handelt<br />

sich hier folglich um e<strong>in</strong> bloßes Interpretationsangebot, das sich se<strong>in</strong>er Partikularität und


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 425<br />

Subjektivität bewußt ist. Die dargelegten Argumente können dabei nur e<strong>in</strong>e gewisse Plausibilität<br />

für sich geltend machen sowie auf das kritische (dekonstruktive) Potential <strong>der</strong> <strong>in</strong> ihrem Zusam-<br />

menhang entwickelten Begriffe hoffen. Denn wenn das Denken, wie Heidegger formulierte,<br />

tatsächlich e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache se<strong>in</strong> sollte, dann ermöglichen erst kritische Begriffe<br />

– als subversive Angriffe gegen die (sprachlichen) Konventionen und +Realitäten* – (dialektische)<br />

Gegenbewegungen. Und so bemerkte denn auch bereits Georges Gurvitch, daß die dialektische<br />

Methode (als Negation und Kritik) +zuallererst [d.h. bevor sie praktisch wird] <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zerstörung<br />

aller alte<strong>in</strong>geführten […] Begriffe [besteht]* (Dialektik und Soziologie; S. 219). 155<br />

An<strong>der</strong>erseits: Auch die hier verwendenten kritisch-dialektischen Begriffe – also Reflexion und<br />

Deflexion, Ideologie und Praxologie etc. – üben, <strong>in</strong> ihrer bewußten Normativität, natürlich<br />

e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>engende Gewalt aus: Sie strukturieren und reduzieren +Wirklichkeit*. Aber es s<strong>in</strong>d<br />

sprach-spielerische Begriffe, die eben ke<strong>in</strong>en monologischen Herrschaftsanspruch erheben,<br />

nicht auf +Objektivierung* zielen und die ke<strong>in</strong>e erdrückende Umfassung ihres Gegenstands<br />

beabsichtigen, son<strong>der</strong>n alle<strong>in</strong>e die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Gegenerzählung eröffnen wollen. Und<br />

es s<strong>in</strong>d Begriffe <strong>der</strong> Gegengewalt, <strong>der</strong> Gegengewalt auf e<strong>in</strong>e Wirklichkeit, die selbst gewalttätig<br />

und umfassend ist; Begriffe, die sich gegen und auf e<strong>in</strong>e deformierende Praxis richten, um<br />

reflexive (Handlungs-)Reflexe auszulösen.<br />

Um aber <strong>der</strong>art praktisch werden zu können, müssen gerade kritische Begriffe auch e<strong>in</strong>en<br />

+Ansatzpunkt* haben. Diesen Ansatzpunkt sehe ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em +authentischen* Selbst, das <strong>in</strong><br />

die dialektische Spannung von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> untrennbar verwoben ist, und sich –<br />

diese auf <strong>der</strong> Basis se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Ambivalenzen spiegelnd – <strong>der</strong> Reflexivität <strong>der</strong> Prozesse<br />

bewußt wird. Die +Imag<strong>in</strong>ation* e<strong>in</strong>es authentischen Selbst und wie dessen erst noch frei-<br />

zulegende reflexive Authentizität im +dekonstruktiven*, verne<strong>in</strong>enden Bezug auf das aktuelle<br />

Se<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Kont<strong>in</strong>genzraum öffnet, <strong>der</strong> die negative Wirklichkeit <strong>der</strong> Utopie näher br<strong>in</strong>gt<br />

und dabei gleichzeitig die Möglichkeit für e<strong>in</strong>en Prozeß sozialer Konvergenz eröffnet, wird<br />

allerd<strong>in</strong>gs erst im folgenden Exkurs +verwirklicht* werden – <strong>der</strong> damit freilich die Grenzen<br />

<strong>der</strong> Ausgangsthematik weit überschreitet. Und so steht hier: e<strong>in</strong> Ende ohne Ende.


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN<br />

– ZUM VERHÄLTNIS VON SEIN UND BEWUßTSEIN,<br />

KONTINGENZ UND KONVERGENZ<br />

+To say ›it is‹ is to grasp for permanence.<br />

To say ›it is not‹ is to adopt the view of<br />

nihilism. Therefore a wise person does not<br />

say ›it is‹ or ›does not exist‹.*<br />

Na) ga) rjuna


LXXXVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN<br />

– ZUM VERHÄLTNIS VON SEIN UND BEWUßTSEIN,<br />

KONTINGENZ UND KONVERGENZ<br />

Die Dialektik von Reflexion und Deflexion ist e<strong>in</strong>e potentiell <strong>fatal</strong>e Dialektik. Sie führt zu<br />

e<strong>in</strong>em zwar bisher nur hypothetischen und konstruierten, doch ebenso +realen*, als objektive<br />

Möglichkeit im Denken gegenwärtigen Punkt <strong>der</strong> Ausweglosigkeit: Die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

droht am Wi<strong>der</strong>spruch ihres Doppelprojekts <strong>der</strong> Freiheit und <strong>der</strong> Sicherheit zu scheitern.<br />

Sie scheitert, <strong>in</strong>dem sie – Angst-getrieben – ihre eigene Ambivalenz und <strong>der</strong>en Reflexion<br />

nicht o<strong>der</strong> nur bed<strong>in</strong>gt zuläßt, sie deflektorisch begrenzt und so e<strong>in</strong>e reflexiv-deflexive Risikospi-<br />

rale <strong>in</strong> Gang setzt. Und die <strong>Politik</strong>, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die zugrunde liegenden Wi<strong>der</strong>sprüche +re-präsentiert*<br />

und damit offenbar gemacht werden könnten, hält sich selbst gefangen, <strong>in</strong>dem sie versucht,<br />

die ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>strebenden Momente zusammenzuhalten, die Reflexivität <strong>der</strong> Prozesse und<br />

die Ambivalenzen des Bewußtse<strong>in</strong>s zu verdrängen und abzulenken.<br />

Dieses sowohl ideologische wie praxologische +Gefängnis* des Sozialen und <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> kann<br />

nur von <strong>in</strong>nen und von außen, durch die Reflexion <strong>der</strong> Reflexivität, gesprengt werden. Doch<br />

kritische Reflexion benötigt nicht nur e<strong>in</strong>en konkreten Bezugspunkt und Anstoß, den sie <strong>in</strong><br />

den +objektiven*, durch die Reflexivität <strong>der</strong> Prozesse erzeugten Wi<strong>der</strong>sprüchen f<strong>in</strong>det. Ihre<br />

(negierende) Gegenbewegung braucht auch e<strong>in</strong>en +subjektiven* Halt und Anhaltspunkt –<br />

gerade um die Wi<strong>der</strong>sprüche des Se<strong>in</strong>s spiegeln und aushalten zu können. Sie f<strong>in</strong>det ihn<br />

<strong>in</strong> jenen ambivalenten, doch zugleich +festgeschriebenen* <strong>in</strong>neren Strukturen, die selbst durch<br />

noch so radikale Negation nicht transzendierbar s<strong>in</strong>d: dem subjektiven +Material* des Bewußtse<strong>in</strong>s<br />

und <strong>der</strong> Emotionen. Genau <strong>in</strong> dieser <strong>in</strong>dividuellen, <strong>in</strong>neren Grenze liegt die Grundlage für<br />

die Negation und Überschreitung <strong>der</strong> objektiven, d<strong>in</strong>ghaft ersche<strong>in</strong>enden äußeren Grenzen,<br />

1<br />

die die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (aus sich heraus) geschaffen hat. So weist die Aporie (<strong>der</strong><br />

Verworfenheit des Selbst auf sich selbst, <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf die Mo<strong>der</strong>ne) <strong>in</strong>s Utopische – das<br />

somit gerade unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nität e<strong>in</strong>e neue Dimension und +Wirklichkeit*<br />

erhält (vgl. auch Sousa Santos: Toward a New Common Sense; S. 479ff.). 2


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN LXXXVII<br />

Was aber macht das +Wesen* des solchermaßen aus <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Ausweglosigkeit (neuer-<br />

lich) hervorgekehrten Utopischen aus? – Karl Mannheim, an den ich hier anschließen möchte,<br />

begriff das utopische Bewußtse<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>e transzendierende Orientierung, +die, <strong>in</strong> das Handeln<br />

e<strong>in</strong>gehend, die jeweils bestehende Se<strong>in</strong>sordnung […] teilweise o<strong>der</strong> ganz sprengt* (Ideologie<br />

und Utopie; S. 169). Es erweist sich also immer nur <strong>in</strong> (negieren<strong>der</strong>) Relation zu e<strong>in</strong>er konkreten<br />

Wirklichkeit, die es überschreiten will, als utopisch. Genau <strong>in</strong> diesem negativen Wirklichkeitsbe-<br />

zug +ist es möglich, daß die Utopien von heute zu den Wirklichkeiten von morgen werden<br />

können* (ebd.; S. 177), d.h. Utopie schöpft ihre (potentielle) +Realität* aus <strong>der</strong> Negation <strong>der</strong><br />

Aktualität. Nur das wi<strong>der</strong>ständige +Denken des Außen* (Foucault), kann den sozialen Innenraum<br />

erweitern. In <strong>der</strong> dialektischen Spannung von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> stößt und reibt sich das<br />

Subjekt am Objekt – und reflektiert (h<strong>in</strong>terfragt) damit dessen +Objektivität*.<br />

Kritische Reflexion, die für die überschreitende Bewegung <strong>der</strong> Utopie unabd<strong>in</strong>gbar ist, macht<br />

sich folglich am Konkreten fest, sie ist bestimmte Negation. Das Utopische selbst, jener negative<br />

Nicht-Ort, darf h<strong>in</strong>gegen nicht konkret se<strong>in</strong> (um wirklich werden zu können). Der e<strong>in</strong>zige<br />

Weg, e<strong>in</strong>en +konstruktiven* Beitrag zu leisten, besteht <strong>in</strong> Dekonstruktion. Ansonsten droht<br />

das utopische Denken banal zu werden und sich <strong>in</strong> die Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> E<strong>in</strong>deutigkeit zu<br />

verwickeln. Es verschlösse <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Festlegungen die Möglichkeiten <strong>der</strong> Zukunft, statt sie<br />

3<br />

offen zu halten. Utopisches Bewußtse<strong>in</strong> muß deshalb gerade als konkret angestoßener Wunsch<br />

und Wille zum Besseren ›pr<strong>in</strong>zipiellen‹ und unbestimmten Charakter haben. Erst im Zusam-<br />

menspiel von bestimmter Negation und unbestimmter Utopie wird das Mögliche (als Über-<br />

schreitung <strong>der</strong> Aktualität) erschlossen, e<strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>genzraum eröffnet.<br />

Doch was könnte, so muß man weiter fragen, die Grundlage solcher +Überschreitung* se<strong>in</strong>?<br />

Oben wurde mit dem Gedanken e<strong>in</strong>es +selbst-bewußten* Subjekts e<strong>in</strong>e mögliche Antwort<br />

hierauf bereits angedeutet. Es gibt allerd<strong>in</strong>gs durchaus verschiedene Möglichkeiten, den +Ur-<br />

sprung* <strong>der</strong> utopischen Transzendenz zu denken. Drei aus me<strong>in</strong>er Sicht beson<strong>der</strong>s vielver-<br />

sprechende sollen hier kurz nachgezeichnet werden: Theodor Adorno sieht im Rahmen se<strong>in</strong>er<br />

+Ästhetischen Theorie* (1970) primär im mimetischen, nachahmend-e<strong>in</strong>fühlenden, dem<br />

+Nichtidentischen* verpflichteten Impuls <strong>der</strong> Kunst e<strong>in</strong> Moment <strong>der</strong> (negativen) Transzendenz.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs bef<strong>in</strong>det die Kunst sich gegenwärtig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schwierigen Situation: +Was als Utopie<br />

sich fühlt, bleibt e<strong>in</strong> Negatives gegen das Bestehende, und diesem hörig. Zentral unter den<br />

gegenwärtigen Ant<strong>in</strong>omien ist, daß Kunst Utopie se<strong>in</strong> muß und will und zwar desto ent-


LXXXVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

schiedener, je mehr <strong>der</strong> reale Funktionszusammenhang Utopie verbaut; daß sie aber, um<br />

nicht Utopie an Sche<strong>in</strong> und Trost zu verraten, nicht Utopie se<strong>in</strong> darf.* (S. 55) Erst <strong>in</strong> radikaler<br />

Negativität vermag die Kunst deshalb die (Un-)Möglichkeit <strong>der</strong> Utopie offen zu halten: +Ästhe-<br />

tische Identität soll dem Nichtidentischen beistehen, das <strong>der</strong> Identitätszwang <strong>in</strong> <strong>der</strong> Realität<br />

unterdrückt* (ebd.; S. 14), doch +nur durch […] absolute Negativität spricht Kunst das Unaus-<br />

sprechliche aus, die Utopie […] Durch unversöhnliche Absage an den Sche<strong>in</strong> von Versöhnung<br />

hält sie diese fest <strong>in</strong>mitten des Unversöhnten […]* (Ebd.; S. 55) 4<br />

An die Stelle <strong>der</strong> (ästhetischen) Negativität tritt, im Gegensatz zu Adorno, bei Ernst Blochs<br />

+Begründung* des Utopischen +Noch-Nicht* e<strong>in</strong> Positives. Der +Geist <strong>der</strong> Utopie* (1923) beruht<br />

nach ihm nämlich auf dem +Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung* (1959). Denn nur im Hoffen wird die e<strong>in</strong>engende<br />

Furcht, die den +aufrechten Gang* verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t, abgeschüttelt. Deshalb kommt es für den Versuch<br />

e<strong>in</strong>er Überschreitung entscheidend darauf an, +das Hoffen zu lernen* (S. 1). Und ähnlich<br />

wie schon Sokrates davon ausg<strong>in</strong>g, daß +je<strong>der</strong> sucht, was gut ist* (Platon: Politeia; S. 491<br />

[505d]), bemerkt Bloch: +Das Zukünftige enthält das Gefürchtete o<strong>der</strong> das Erhoffte; <strong>der</strong> mensch-<br />

lichen Intention nach, also ohne Vereitlung, enthält es nur das Erhoffte.* (Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung;<br />

S. 2). Diese +<strong>in</strong>tentionale*, unvereitelte Basis des transzendierenden Hoffens äußert sich <strong>in</strong><br />

den antizipatorischen +Tagträumen* <strong>der</strong> Menschen. Doch: +Ke<strong>in</strong> Träumen darf stehenbleiben*<br />

(ebd.; S. 1616). Deshalb muß das Hoffen aus se<strong>in</strong>er Traumwelt befreit werden, um die reale<br />

und konkrete Möglichkeit <strong>der</strong> Utopie, die sich, wie Bloch for<strong>der</strong>t, an das +objektiv Mögliche*<br />

halten muß, zu verwirklichen (vgl. ebd.; S. 1616–1628).<br />

Wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Akzent setzt Cornelius Castoriadis: Die Quelle e<strong>in</strong>er utopischen<br />

Transformation des Sozialen liegt für ihn sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> kollektiven Imag<strong>in</strong>ationskraft (das<br />

+Gesellschaftlich-Geschichtliche*) wie im subjektiven Willen (+Psyche-Soma*). Letzterer richtet<br />

sich Not-gedrungen gegen die <strong>in</strong> den sozialen Institutionen manifestierte Selbstentfremdung<br />

– und äußert sich somit Not-wendig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em aktiven Bruch mit dem bestehenden System:<br />

+Die Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Selbstentfremdung – die unser Ziel ist, weil wir es wollen […] – […]<br />

setzt e<strong>in</strong>e radikale Zerstörung <strong>der</strong> bekannten Institutionen <strong>der</strong> Gesellschaft voraus.* (Gesellschaft<br />

als imag<strong>in</strong>äre Institution; S. 609) Die Destruktion <strong>der</strong> bestehenden Institutionen ist jedoch<br />

zugleich +konstruktiv*, denn +diese Zerstörung kann […] nichts an<strong>der</strong>es se<strong>in</strong> als die Setzung/-<br />

Schöpfung neuer Institutionen und darüber h<strong>in</strong>aus die Setzung und Schöpfung e<strong>in</strong>er neuen<br />

Art des Sich-Instituierens […] Nichts, soweit man sehen kann, rechtfertigt die Behauptung,


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN LXXXIX<br />

e<strong>in</strong>e solche Selbstverwandlung <strong>der</strong> Gesellschaft sei unmöglich […] Die Selbstverwandlung<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft hängt von dem gesellschaftlichen und also im ursprünglichen Worts<strong>in</strong>ne<br />

politischen Tun <strong>der</strong> Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft ab – und von nichts sonst. E<strong>in</strong> wesentlicher<br />

Bestandteil davon ist das denkende Tun und das politische Denken: das Denken <strong>der</strong> sich<br />

selbst schöpfenden Gesellschaft.* (Ebd.)<br />

Mit diesen Ansätzen von Adorno (Mimesis und Negation), Bloch (Traum und Hoffen) und<br />

Castoriadis (politischer Wille, Imag<strong>in</strong>ation und soziale Selbstschöpfung) wurden drei exempla-<br />

rische Antwortversuche auf die Frage nach <strong>der</strong> möglichen Grundlage <strong>der</strong> utopischen Bewegung<br />

dargestellt. Doch es sche<strong>in</strong>t, als sei die Ausgangsfrage von allen dreien nicht wirklich beantwortet,<br />

son<strong>der</strong>n nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Feld verschoben worden. Denn mimetische Verne<strong>in</strong>ung, träumendes<br />

Hoffen und imag<strong>in</strong>ativer Wille benötigen ihrerseits e<strong>in</strong>e Basis. Sie f<strong>in</strong>den diese, so me<strong>in</strong>e<br />

Antwort, im Subjekt: Um sich – <strong>in</strong> utopischer Imag<strong>in</strong>ation und politischer Aktion – selbst<br />

zu schöpfen und hervorzubr<strong>in</strong>gen, muß Gesellschaft auf die nicht transzendierbare +Wirklichkeit*<br />

des <strong>in</strong>dividuellen Bewußtse<strong>in</strong>s und dessen (<strong>in</strong>nere wie äußere) +Bestimmungen* zurückgreifen.<br />

Die utopische Selbstschöpfung erfolgt also aus dem Selbst heraus: Die (ambivalente) Objektivität<br />

des subjektiven Empf<strong>in</strong>dens bewirkt e<strong>in</strong>e Reibung an <strong>der</strong> Objektivität <strong>der</strong> sozialen und d<strong>in</strong>glichen<br />

Umwelt und bildet so den möglichen Ausgangspunkt für e<strong>in</strong>e Negation dieses Se<strong>in</strong>s wie für<br />

5<br />

die Suche und das Streben nach e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e solche theoretische und praktische<br />

Reflexion <strong>der</strong> Aktualität vermag allerd<strong>in</strong>gs nur e<strong>in</strong> authentisches Selbst leisten, das die Wi<strong>der</strong>-<br />

sprüchlichkeit des Se<strong>in</strong>s und die Reflexivität <strong>der</strong> Prozesse auf <strong>der</strong> Basis se<strong>in</strong>er zugelassenen<br />

eigenen Ambivalenz spiegelt. 6<br />

Das Konzept e<strong>in</strong>es +authentischen*, auf sich (<strong>in</strong> Differenz) verworfenen Selbst als Basis <strong>der</strong><br />

Negation und <strong>der</strong> Überschreitung schließt an Gedanken aus dem +Entrée* an und führt diese<br />

fort – ohne jedoch dabei, wie ich hoffe, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en +Jargon <strong>der</strong> Eigentlichkeit* (Adorno) zu verfallen.<br />

Dort wurde von mir nämlich im Kontext e<strong>in</strong>er kritischen Diskussion des Begriffs <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne<br />

unter Bezugnahme auf Peter Koepp<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> reflexiver Authentizitätsbegriff dargelegt: Authentizität<br />

als rückbezügliche Kategorie, als reziproker Selbsterkenntnisprozeß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

mit +dem An<strong>der</strong>en*. Demgemäß me<strong>in</strong>te die dort abschließend entwickelte +Utopie* e<strong>in</strong>er<br />

authentischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne e<strong>in</strong>e fragende und offene Suchbewegung, die über die Beschäftigung<br />

mit ihrem (eigenen) An<strong>der</strong>en – <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – zu sich und ihren (Selbst-)Wi<strong>der</strong>sprüchen<br />

f<strong>in</strong>det und sich so +autopoietisch* hervorbr<strong>in</strong>gt (siehe S. LXXIIIff.).


XC POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Bezogen auf das Selbst würde e<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiger reflexiver Authentizitätsbegriff bedeuten, daß<br />

dieses sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reflexion <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>sprüchlichen äußeren Umstände (des postmo<strong>der</strong>nen<br />

Dase<strong>in</strong>s) selbst reflektiert. Dabei entdeckt es se<strong>in</strong>e +authentische*, immanente, nicht trans-<br />

zendierbare <strong>in</strong>nere Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit und Ambivalenz – die gleichzeitig Reflexion erst<br />

ermöglicht –, um se<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>spruch für jene (<strong>in</strong> <strong>der</strong> auf E<strong>in</strong>deutigkeit beharrenden +Realität*<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne unterdrückte) Möglichkeit des Wi<strong>der</strong>sprüchlichen und des Differenten zu entfachen<br />

(vgl. auch Ferrara: Reflective Authenticity; S. 148ff.). Die reflexive Authentizität des Selbst<br />

bestünde also gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Spiegelung und im Zulassen von <strong>in</strong>nerer wie äußerer Ambivalenz.<br />

Um diese dekonstruktive +Identitätsarbeit* (Keupp) leisten zu können, muß sich das <strong>in</strong> den<br />

sozialen Identitätszwängen unterdrückte Subjekt deshalb aus sich heraus befreien. Nur im<br />

über die Reflexion vermittelten Zugang zu sich kann das Subjekt zur Wi<strong>der</strong>ständigkeit des<br />

+aufrechten Gangs* f<strong>in</strong>den. Es muß se<strong>in</strong>e +ursprüngliche* Selbstdifferenz, se<strong>in</strong>e (vor)gegebene<br />

Vielheit – angestoßen durch das Außen und bestimmt durch se<strong>in</strong> Innen – entfalten, so daß<br />

e<strong>in</strong>e reflexiv-dynamische Dialektik <strong>in</strong> <strong>der</strong> +materiellen Reibung* von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong><br />

entfaltet wird (siehe auch Abschnitt 5.4).<br />

Die Bestimmung(en) des Selbst, die das befreiende, +transzendierende* Potential se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren<br />

Wi<strong>der</strong>ständigkeit begründen (o<strong>der</strong> auch verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n), bestehen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en ambivalenten Emotionen,<br />

se<strong>in</strong>en sich wi<strong>der</strong>sprechenden Gedanken und den Manifestationen se<strong>in</strong>er brüchigen Lebens-<br />

geschichte. Diese Ambivalenz, die Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit und Brüchigkeit des Selbst, muß, um<br />

es nochmals zu betonen, im <strong>in</strong>dividuellen Bewußtse<strong>in</strong> gespiegelt und zugelassen werden,<br />

damit e<strong>in</strong>e +aufrichtige*, d.h. sich <strong>der</strong> eigenen Ambivalenz bewußte Reflexion <strong>der</strong> Umwelten<br />

erfolgen kann. Werden dagegen die wi<strong>der</strong>strebenden Momente verdrängt, wird die bestehende<br />

Ambivalenz deflektiert, so kann auch das Außen nicht offen und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />

Reflexivität wahrgenommen werden. Auch die Möglichkeiten, handelnd Gegen-Stellung zu<br />

beziehen, s<strong>in</strong>d dann begrenzt. E<strong>in</strong> wesentliches Element <strong>der</strong> authentischen Selbst-Reflexion<br />

ist es deshalb, die eigene Ambivalenz wahrzunehmen, anstatt sie zu verdrängen. Erst dann<br />

kann auch das Außen authentisch, d.h. offen und aufmerksam, ohne deflexiv-<strong>in</strong>strumentelle<br />

Überformungen und Ablenkungen +reflektiert* werden.<br />

Was mit e<strong>in</strong>em solchen +reflexiv-authentischen* Reflexionsmodus <strong>in</strong> Abgrenzung zu e<strong>in</strong>er<br />

+deflexiv-<strong>in</strong>strumentellen* Wahrnehmungs- und Handlungsweise geme<strong>in</strong>t ist, kann anhand<br />

e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>drücklichen Beispiels aus dem Band +Haben o<strong>der</strong> Se<strong>in</strong>* (1976) von Erich Fromm


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN XCI<br />

erläutert werden. Fromm geht es hier zwar, wie schon <strong>der</strong> Titel ankündigt, um die Verdeut-<br />

lichung <strong>der</strong> Unterschiede zwischen den beiden nach ihm grundlegend verschiedenen Orien-<br />

tierungen des Habens und des Se<strong>in</strong>s (vgl. S. 27f.). Das von ihm e<strong>in</strong>leitend aus dem Bereich<br />

<strong>der</strong> Dichtung gewählte Beispiel läßt sich me<strong>in</strong>es Erachtens allerd<strong>in</strong>gs auch gut zur Illustration<br />

<strong>der</strong> hier getroffenen Unterscheidung verwenden. Die <strong>in</strong>strumentelle Grunde<strong>in</strong>stellung, die<br />

<strong>der</strong> Erlebensweise des Habens und zugleich e<strong>in</strong>er deflexiven Haltung entspricht, veranschaulicht<br />

Fromm mittels e<strong>in</strong>es Gedichts des englischen Lyrikers Alfred Tennyson (1809–92):<br />

Blume <strong>in</strong> <strong>der</strong> geborstenen Mauer,<br />

Ich pflücke dich aus den Mauerritzen,<br />

Mitsamt den Wurzeln halte ich dich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand,<br />

Kle<strong>in</strong>e Blume – doch wenn ich verstehen könnte,<br />

Was du mitsamt den Wurzeln und alles <strong>in</strong> allem bist,<br />

Wüßte, was Gott und <strong>der</strong> Mensch ist.<br />

(Zitiert nach ebd.; S. 28)<br />

Hier wird dem Erkenntnisstreben des Betrachters die +Eigenständigkeit* des betrachteten Objekts<br />

rücksichtslos geopfert. Es handelt sich bei <strong>der</strong> entwurzelten, aus <strong>der</strong> Mauer gerissenen Blume<br />

um bloßes Anschauungsmaterial für die angenommene Vollkommenheit <strong>der</strong> +göttlichen Ord-<br />

nung*, die dem Betrachter, vermittelt durch die Blume, <strong>in</strong> ihrer Unergründlichkeit bewußt<br />

wird, zugleich aber e<strong>in</strong>e Begehrlichkeit nach <strong>der</strong> Ergründung des Wesens des Se<strong>in</strong>s erzeugt.<br />

Über diesen abstrakt-metaphysischen Gedanken rückt das konkrete Se<strong>in</strong> <strong>der</strong> Blume <strong>in</strong> den<br />

H<strong>in</strong>tergrund – genauso, wie für diese gewalttätige Abstraktion die neben dem Erkenntnisstreben<br />

eventuell vorhandenen Empf<strong>in</strong>dungen des Mitgefühls gegenüber dem bedrohten Se<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Blume <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund gedrängt werden müssen.<br />

E<strong>in</strong>e geradezu entgegengesetzte E<strong>in</strong>stellung kommt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haiku des japanischen Dichters<br />

Bashô (1644–95) zum Ausdruck, das ebenfalls von <strong>der</strong> Betrachtung e<strong>in</strong>er Blume handelt:<br />

Wenn ich aufmerksam schaue,<br />

Seh’ ich die Nazuna<br />

An <strong>der</strong> Hecke blühen!<br />

(Zitiert nach ebd.)<br />

Bashô gesteht <strong>der</strong> bewun<strong>der</strong>ten Blume ihre eigene Wirklichkeit und Autonomie zu. Der Wunsch,<br />

sich an ihr zu erfreuen, führt nicht zu e<strong>in</strong>em Besitzen-Wollen, son<strong>der</strong>n kann re<strong>in</strong> im Betrachten


XCII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

verwirklicht werden. Es handelt sich zudem bei <strong>der</strong> +Nazuna* (Hirtentäschel) um e<strong>in</strong>e eher<br />

unsche<strong>in</strong>bare Blume: Nur e<strong>in</strong> aufmerksamer Betrachter nimmt sie und ihre Schönheit überhaupt<br />

wahr. Und dieselbe Aufmerksamkeit ist es auch, die zur +achtsamen* Haltung gegenüber<br />

dem Se<strong>in</strong> <strong>der</strong> Blume führt. Denn Aufmerksamkeit bedeutet auch die Aufmerksamkeit für<br />

jene <strong>in</strong>neren Impulse, die e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>strumentelle Umgangs- und Betrachtungsweise verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

(können). Es gilt also auf das (dissonante) Konzert <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Stimmen, die Stimme <strong>der</strong> Vernunft,<br />

aber auch die Stimmen des Wahns, <strong>der</strong> Leidenschaft, des Mitgefühls etc. zu hören, um zu<br />

e<strong>in</strong>em authentischen, sich <strong>der</strong> eigenen Ambivalenz bewußten Selbst zu gelangen. Erst diese<br />

(nichtidentische) Grundlage ermöglicht e<strong>in</strong>en tatsächlich reflexiven Weltbezug.<br />

Das Konzept e<strong>in</strong>es nichtidentischen und gerade <strong>in</strong> dieser pluralen Nicht-Identität authentischen<br />

Selbst trifft sich mit Vorstellungen <strong>der</strong> buddhistischen Philosophie-Tradition (<strong>in</strong> die auch <strong>der</strong><br />

7<br />

Zen-Lyriker Bashô e<strong>in</strong>zureihen ist). Denn im Buddhismus ist die Illusion e<strong>in</strong>er unverän<strong>der</strong>lichen<br />

Seele und e<strong>in</strong>es kont<strong>in</strong>uierlichen Ichs ()atman) e<strong>in</strong>e wesentliche Ursache für die <strong>in</strong>dividuellen<br />

Empf<strong>in</strong>dungen des Leids, wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> folgenden Lehrrede zum Ausdruck kommt:<br />

+Unrechte Lehren [die Kummer, Jammer, Schmerz und Verzweiflung aufkommen lassen] gibt es sechs:<br />

E<strong>in</strong> unbelehrter Weltl<strong>in</strong>g, <strong>der</strong> die Lehre <strong>der</strong> Edlen nicht kennt, betrachtet (erstens) die Körperlichkeit,<br />

(zweitens) die Empf<strong>in</strong>dung, (drittens) die Wahrnehmung, (viertens) die unbewußten Tätigkeiten so: Dies<br />

ist me<strong>in</strong>, ich b<strong>in</strong> dies, dies ist me<strong>in</strong> Ich; ebenso betrachtet er (fünftens) alles, was er sieht, hört, denkt<br />

und erkennt, was er erlangt o<strong>der</strong> erwünscht und worüber er nachdenkt; er glaubt (sechstens): die Welt<br />

und das Ich (<strong>der</strong> Atman) s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> und dasselbe […]* (Mittlere Sammlung [Majjhimanika) ya]; Buch III, 22)<br />

An die Stelle <strong>der</strong> Leid erzeugenden Vorstellung e<strong>in</strong>es beständigen Ichs tritt für den Wissenden<br />

die von den Selbst-Zwängen befreiende, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Meditation gemachte +empirische* Erfahrung<br />

e<strong>in</strong>es diskont<strong>in</strong>uierlichen Bewußtse<strong>in</strong>sstroms, e<strong>in</strong>es +substanzlosen* Nicht-Ich (anatt)a): 8<br />

+Dagegen betrachtet e<strong>in</strong> wohlunterrichteter Edeljünger […] die Körperlichkeit, die Empf<strong>in</strong>dungen, die<br />

Wahrnehmungen, die unbewußten Tätigkeiten so: Dies ist nicht me<strong>in</strong>, ich b<strong>in</strong> dies nicht, dies ist nicht<br />

me<strong>in</strong> Ich; und alles, was er sieht, hört, denkt und erkennt, was er erlangt o<strong>der</strong> wünscht und worüber<br />

er nachdenkt, [betrachtet er eben]so […] Und auch den Glauben: Die Welt und das Ich s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> und<br />

dasselbe […] betrachtet er so […] [und] beunruhigt […] sich nicht über etwas, das es nicht gibt.* (Ebd.)<br />

In <strong>der</strong> Mah)ay)ana-Tradition (+Großes Fahrzeug*) ist diese +dekonstruktivistische* Komponente<br />

mit <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> alles durchdr<strong>in</strong>genden Leerheit (s’ )unyat)a) beson<strong>der</strong>s ausgeprägt. Im


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN XCIII<br />

+Prajñ)ap)armit)a-Hrdaya-S)utra* o<strong>der</strong> +S)utra vom Herzen <strong>der</strong> Vollkommenen Weisheit*, e<strong>in</strong>em<br />

.<br />

populären Schlüsseltext des Mah)ay)ana-Buddhismus, heißt es zu <strong>der</strong> gemäß <strong>der</strong> obigen Darlegung<br />

auf den +fünf Skandhas* – also dem Körperlichen (r)upa), <strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dung (vedan)a), <strong>der</strong> (unter-<br />

scheidenen) Wahrnehmung (sanjña), dem Willen (sansk)ara) und dem Bewußtse<strong>in</strong> (vijñ)ana)<br />

– sowie <strong>der</strong> Identifizierung des Ichs mit dem Se<strong>in</strong> beruhenden Ich-Illusion und zur Leerheit:<br />

Alle Dharmas s<strong>in</strong>d (geprägt vom)<br />

›Siegel‹ <strong>der</strong> Leerheit!<br />

Deshalb gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Leerheit<br />

ke<strong>in</strong>en Körper, ke<strong>in</strong> Gefühl,<br />

ke<strong>in</strong>e Wahrnehmung,<br />

ke<strong>in</strong>e Willensregungen<br />

und ke<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong>.<br />

[...]<br />

Da gibt es we<strong>der</strong> Erkenntnis<br />

noch Verwirklichen,<br />

weil es (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Leerheit) nichts gibt,<br />

was zu verwirklichen wäre.<br />

Bei N)ag)arjuna (2. Jh. n. Chr.), e<strong>in</strong>em wichtigen +Wegbereiter* des Mah)ay)ana, <strong>der</strong> bereits<br />

oben kurz erwähnt wurde (siehe S. 352), geht das dekonstruierende Bestreben, das Befreiung<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis <strong>der</strong> Leerheit zum Ziel hat, so weit, daß er sogar die buddhistische Dekon-<br />

struktion des Selbst noch zu dekonstruieren versucht und behauptet:<br />

+That there is a self has been taught, And the doctr<strong>in</strong>e of no-self, […] as well as the Doctr<strong>in</strong>e of neither<br />

self nor nonself […] Everyth<strong>in</strong>g is real and is not real, Both real and not real, Neither real nor not real,<br />

This is Lord Buddha’s teach<strong>in</strong>g.* (Mu) lamadhyamakaka) rika) ; Kap. 18, Vers 6ff.)<br />

Trotz solch radikaler Dekonstruktion, die auch das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Kausalität, die Wirklichkeit<br />

von Kategorien wie Raum und Zeit und die Existenz e<strong>in</strong>er Essenz verne<strong>in</strong>t (vgl. ebd.; Kap.<br />

9<br />

1ff.), beansprucht N)ag)arjuna, e<strong>in</strong>en +mittleren Weg* zu beschreiten, da er absoluten Nihilismus<br />

genauso wie essentialistische Konzepte ablehnt und deshalb zugesteht, daß kausale Begrün-<br />

dungen und <strong>der</strong> Rekurs auf Begriffe wie Raum o<strong>der</strong> Zeit für unser +praktisches* Weltverständnis<br />

durchaus funktional se<strong>in</strong> können (vgl. auch Garfield: The Fundamental Wisdom of the Middle<br />

Way; S. 122). N)ag)arjuna weist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Schriften nur auf die unvermeidlichen Ant<strong>in</strong>omien<br />

e<strong>in</strong>es ontologischen und streng kausalen Denkens h<strong>in</strong>, dessen Mächtigkeit re<strong>in</strong> auf Konventionen<br />

beruht. Erst wenn man sich den Wi<strong>der</strong>sprüchen des Se<strong>in</strong>s aussetzt und das konventionelle<br />

Denken h<strong>in</strong>terfragt, wird es möglich, illusions- und +anhaftungslos* Stellung zur Welt zu beziehen,


XCIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

die treibende Angst abzuschütteln und das Selbst als e<strong>in</strong> konstruiertes, im (sensuellen) Ause<strong>in</strong>-<br />

an<strong>der</strong>setzungsprozeß mit <strong>der</strong> Umwelt sich hervorbr<strong>in</strong>gendes (Bewußtse<strong>in</strong>s-)Phänomen zu er-<br />

kennen, das <strong>in</strong> den Strukturen des Körpers und <strong>der</strong> Triebkräfte verhaftet ist. 10<br />

Mit dieser Vorstellung e<strong>in</strong>es +verkörperten Bewußtse<strong>in</strong>s* trifft sich die buddhistische Philosophie<br />

des Mittleren Wegs zum e<strong>in</strong>en mit den kognitionswissenschaftlichen Theorien des Radikalen<br />

11<br />

Konstruktivismus (vgl. Varela/Thompson: Der Mittlere Weg <strong>der</strong> Erkenntnis). Im konsequenten<br />

Dekonstruktionsbemühen N)ag)arjunas zeigen sich aber auch Berührungspunkte zum +postmo-<br />

<strong>der</strong>nen*, allerd<strong>in</strong>gs auf dem Wert <strong>der</strong> Differenz und <strong>der</strong> Gerechtigkeit beharrenden De-Konstruk-<br />

12<br />

tivismus Derridas und se<strong>in</strong>em +dezentrierten* Selbst-Konzept, das auf die logozentrische<br />

Unterdrückung des Subjekts abhebt und se<strong>in</strong>er Differenz (<strong>in</strong> Anlehnung an Lévi-Strauss) durch<br />

e<strong>in</strong> +spielerisches*, auf jedes Zentrum und jeden Ursprung verzichtendes +wildes Denken*<br />

Raum zu schaffen bestrebt ist (vgl. z.B. Die Schrift und die Differenz; S. 302ff. sowie S. 422–442<br />

und siehe auch nochmals hier S. XLVIIIf. u. S. 316).<br />

Die poststrukturalistische These e<strong>in</strong>er +Dezentrierung des Subjekts* (vgl. auch Rustermeyer:<br />

Zur Dezentrierung des Subjekts im neueren französischen Strukturalismus) hat den Identitäts-<br />

Diskurs <strong>der</strong> Gegenwart wesentlich geprägt. Die H<strong>in</strong>terfragung <strong>der</strong> heroischen Erzählung vom<br />

autonomen Individuum, wie sie die Mo<strong>der</strong>ne dom<strong>in</strong>ierte, und des mit ihr verknüpften Selbst-<br />

Konzepts <strong>der</strong> E<strong>in</strong>deutigkeit und <strong>der</strong> Kohärenz, beg<strong>in</strong>nt aber genau genommen schon bei Freud.<br />

Für diesen ist <strong>der</strong> psychische Apparat ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit mehr, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Ort des Konflikts und<br />

Zwiespalts, bei dem die Impulse des +Es* mit den ver<strong>in</strong>nerlichten Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

(+Über-Ich*) im Streit liegen und durch das +Ich* vermittelt werden müssen (vgl. z.B. Abriß<br />

13<br />

<strong>der</strong> Psychoanalyse; S. 9ff.). In <strong>der</strong> postfreudianischen, sprachtheoretisch gewendeten Psycho-<br />

analyse Lacans wird aus <strong>der</strong> Freudschen Vorstellung des Ichs als dem vermittelndem Zentrum<br />

des Selbst e<strong>in</strong>e bloße (psychologische) Metapher, e<strong>in</strong> <strong>in</strong> symbolischer Selbst-Spiegelung hervor-<br />

gebrachtes +Imago* (vgl. z.B. Écrits; S. 93ff. sowie Jähnig: Freuds Dezentrierung des Subjekts<br />

im Zeichen <strong>der</strong> Hermeneutiken Ricœurs und Lacans). Von Lacan führt die L<strong>in</strong>ie des psycholo-<br />

gischen Diskurses über das Selbst und die Identität schließlich weiter zu den aktuell domi-<br />

nierenden narrativen Identitätskonzepten (vgl. z.B. Kraus: Das erzählte Selbst).<br />

Hier wird das Selbst jedoch nicht selbst als e<strong>in</strong>e Narration aufgefaßt. Vielmehr gelangt man<br />

zu dem, was das Selbst für sich (als von sich selbst verschiedenes +An<strong>der</strong>es*) tatsächlich se<strong>in</strong><br />

könnte, erst <strong>in</strong>dem man die Erzählungen über das Selbst, auch die des +erzählten Selbst*


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN XCV<br />

und des Selbst als Spiegelung des Diskurses, <strong>in</strong> Frage stellt, e<strong>in</strong>e Dekonstruktion <strong>der</strong> Dekon-<br />

14<br />

struktion betreibt (vgl. auch Zizek: Das Unbehagen im Subjekt). Denn wäre das Selbst e<strong>in</strong>e<br />

bloße Metapher, so müßte man se<strong>in</strong>e Geschichte nur neu +schreiben*, um se<strong>in</strong>e Zerrissenheit<br />

zu beenden. Und wäre das Selbst nur e<strong>in</strong>e +Falte im Außen*, wie Gilles Deleuze Foucaults<br />

Subjekt-Theorie paraphrasiert hat (vgl. Foucault; S. 131–172), wäre es alle<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> +Effekt und<br />

Objekt von Macht* (Foucault: Überwachen und Strafen; S. 247), so fragte es sich, was die<br />

Grundlage se<strong>in</strong>er verne<strong>in</strong>enden Gegenmacht – die auch Foucault im Gedanken <strong>der</strong> Selbst-Sorge<br />

anerkennt (vgl. Technologien des Selbst und siehe auch Anmerkung 88, Entrée) – darstellen<br />

könnte. Zudem gilt schließlich: Jede Faltung h<strong>in</strong>terläßt (untilgbare) Spuren, und jedes Außen<br />

korrespondiert notwendig mit e<strong>in</strong>em Innen. Dieses Innen ist zwar durch das Außen bestimmt<br />

und geformt, doch es ist nicht frei (ver)formbar. Das Subjekt ist ke<strong>in</strong> beliebiges Subjekt, son<strong>der</strong>n<br />

15<br />

trotz <strong>der</strong> prägenden sozialen E<strong>in</strong>flüsse auch von <strong>in</strong>nen determ<strong>in</strong>iert – wobei allerd<strong>in</strong>gs beide<br />

+Bestimmungen* nicht e<strong>in</strong>deutig s<strong>in</strong>d: So wi<strong>der</strong>sprüchlich wie die äußeren Impulse, so ambivalent<br />

äußert sich auch das subjektive Material des Bewußtse<strong>in</strong>s und <strong>der</strong> Emotionen.<br />

Das Selbst als zugleich objektives und subjektives (Bewußt-)Se<strong>in</strong>, als vorgestelltes Konstrukt<br />

und reale (Handlungs-)Instanz, bef<strong>in</strong>det sich also im dialektischen Wi<strong>der</strong>streit zwischen Innen<br />

und Außen, aber auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren Wi<strong>der</strong>streit. Es muß vor allem zwischen se<strong>in</strong>em<br />

basalen Selbstbehauptungs- und Autonomiebestreben und dem – von Roma<strong>in</strong> Roland gegen<br />

Freud <strong>in</strong>s Feld geführten – +ozeanischen* Verlangen nach Entgrenzung, das von <strong>der</strong> Anstrengung<br />

16<br />

<strong>der</strong> Selbstbehauptung entlastet, vermitteln. In dieser doppelten Ambivalenz stellt sich das<br />

Selbst im Bezug auf se<strong>in</strong>e Umwelt her, entwirft sich, wie Sartre <strong>in</strong> Anlehnung an Heidegger<br />

feststellt, das An-sich nichtend, und br<strong>in</strong>gt sich so als Für-sich hervor (vgl. Das Se<strong>in</strong> und das<br />

Nichts; S. 163ff.). Zu e<strong>in</strong>em reflexiven, +authentischen* Selbst, das, <strong>in</strong> dekonstruktiver Negation,<br />

zu e<strong>in</strong>er reflexiven Überschreitung +se<strong>in</strong>er* Wirklichkeit fähig ist, kann es jedoch nur werden,<br />

wenn es die Wi<strong>der</strong>sprüche und Begehrlichkeiten, die es prägen, zuläßt und spiegelt, statt<br />

sie und sich zu +zerstreuen* o<strong>der</strong> nach fundamentalen Sicherheiten zu suchen (vgl. auch<br />

Keupp: Identitätsentwürfe zwischen postmo<strong>der</strong>ner Diffusität und <strong>der</strong> Suche nach Fundamenten).<br />

Und nur dann kann sich das Selbst den an<strong>der</strong>en und se<strong>in</strong>er Umwelt öffnen. Erst im reflexiven<br />

Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Selbstdifferenz – denn das Selbst als +ursprüngliche* Vielheit, als +Dividum*<br />

(Nietzsche) ist immer auch von sich verschieden – kann die Differenz, die An<strong>der</strong>sheit des<br />

An<strong>der</strong>en respektiert werden (vgl. auch Ricœur: Das Selbst als e<strong>in</strong> An<strong>der</strong>er). 17


XCVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Der Bezug auf die authentische, nichtidentische +Basis* des Selbst führt also potentiell (und<br />

ke<strong>in</strong>esfalls zw<strong>in</strong>gend) zu e<strong>in</strong>er reflexiven Öffnung h<strong>in</strong> zum An<strong>der</strong>en, zum Sozialen. In diesem<br />

Argument zeigt sich e<strong>in</strong>e gewisse Parallele zu den Thesen von Charles Taylor. Jener verortet<br />

im Selbst und se<strong>in</strong>en Intuitionen e<strong>in</strong>e wesentliche Quelle <strong>der</strong> (sozialen) Moral – wie das<br />

Individuum umgekehrt angeblich e<strong>in</strong>en moralischen Rahmen für se<strong>in</strong>e Selbstverwirklichung<br />

benötigt (vgl. Sources of the Self; Kap. 1–3). Allerd<strong>in</strong>gs ist die auf den (vorbegrifflichen) Intuitionen<br />

des Selbst beruhende kommunitaristische +Ethik <strong>der</strong> Authentizität*, wie sie Taylor entwirft<br />

(vgl. auch Ethics of Authenticity), abgeschlossen und fixiert, und sie beruht gerade nicht auf<br />

<strong>der</strong> zugelassenen Ambivalenz des Selbst als e<strong>in</strong>er wi<strong>der</strong>sprüchlichen und diskont<strong>in</strong>uierlichen<br />

Vielheit. Doch erst im Zulassen <strong>der</strong> Ambivalenz kann, wie oben dargelegt, e<strong>in</strong> u-topischer<br />

Kont<strong>in</strong>genzraum für die Verwirklichung des Wi<strong>der</strong>spruchs geöffnet werden.<br />

Es gilt also durch das reflexive Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ambivalenz e<strong>in</strong>en Raum für die Entfaltung<br />

utopischer Kont<strong>in</strong>genz – d.h. e<strong>in</strong>e Möglichkeit für die Möglichkeit e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Se<strong>in</strong>s, e<strong>in</strong>er<br />

an<strong>der</strong>en Gesellschaft, e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en <strong>Politik</strong> – zu schaffen. E<strong>in</strong>e solche +utopische* Kont<strong>in</strong>genz<br />

unterscheidet sich von <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz des Faktischen: Das Faktische ist erstens kont<strong>in</strong>gent,<br />

18<br />

weil es zwar wirklich, aber nicht notwendig (so) ist. Und es ist zweitens kont<strong>in</strong>gent, weil<br />

<strong>in</strong> ihm (deshalb) Raum für Möglichkeiten ist, die jenseits se<strong>in</strong>er selbst liegen. Genau <strong>in</strong> diesem<br />

Möglichkeitsraum liegt <strong>der</strong> oben angesprochene utopische Kont<strong>in</strong>gzraum, <strong>der</strong> aber erst durch<br />

die reflexiv-authentische Negation des kont<strong>in</strong>genten Faktischen erschlossen wird. Ist h<strong>in</strong>gegen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Diskussion von Kont<strong>in</strong>genz die Rede, so ist zumeist geme<strong>in</strong>t, daß <strong>der</strong> Fest-<br />

legungscharakter <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Lebensentwürfe und des sozialen Gefüges abgenommen<br />

hat, d.h. die sozialen und <strong>in</strong>dividuellen Optionen haben sich im historischen Verlauf immer<br />

weiter gesteigert (vgl. z.B. Gross: Die Multioptionsgesellschaft).<br />

Aufgrund dieser verbreiteten Wahrnehmung spielt <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzbegriff e<strong>in</strong>e große Rolle<br />

im gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen und politischen Denken (siehe auch nochmals<br />

Abschnitt 1.5). In <strong>der</strong> Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, so wie sie von Giddens und Beck<br />

gedacht wird (siehe S. 353–356), taucht <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzbegriff allerd<strong>in</strong>gs nur als eher verdeckte<br />

Kategorie, im begrifflichen Doppelpaar von Risiko und Chance, auf. Niklas Luhmann betrachtet<br />

Kont<strong>in</strong>genz dagegen nicht nur explizit als Kennzeichen, son<strong>der</strong>n gar als e<strong>in</strong>en Eigenwert <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft (vgl. Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 93ff. und siehe hier S. XL). Ähnlich<br />

spricht Michael Makropoulos (siehe auch unten) von <strong>der</strong> +Mo<strong>der</strong>nität als Kont<strong>in</strong>genzkultur*


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN XCVII<br />

(1998), und Richard Rorty versucht, aus dem angenommenen (post)mo<strong>der</strong>nen Bewußtse<strong>in</strong><br />

für die Kont<strong>in</strong>genz selbst <strong>der</strong> eigenen Anschauungen e<strong>in</strong>e den an<strong>der</strong>en gegenüber ironisch-<br />

gelassene Haltung zu begründen, die <strong>in</strong> Solidarität mündet (vgl. Kont<strong>in</strong>genz, Ironie und Solidarität<br />

und siehe hier S. 64). Agnes Heller wie<strong>der</strong>um bemüht sich – von Skepsis geplagt, was die<br />

Chancen für e<strong>in</strong> +Überleben* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne betrifft – aufzuzeigen, daß diese nur bestehen<br />

kann, wenn sie nicht mehr <strong>in</strong> ihrem Kontrollstreben den Versuch macht, sich gegen die unver-<br />

meidliche Kont<strong>in</strong>genz des Se<strong>in</strong>s zu wehr zu setzen, son<strong>der</strong>n anstelle dessen Kont<strong>in</strong>genz als<br />

ihre Bestimmung auffaßt (vgl. Hermeneutics of Social Science; S. 40f.). Das ist e<strong>in</strong>e Ansicht,<br />

<strong>der</strong> sich auch Zygmunt Bauman, wie bereits oben dargestellt wurde (siehe S. 350f.), anschließt<br />

(vgl. Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz; S. 286ff.). Und Kari Palonen, um e<strong>in</strong> letztes Beispiel zu nennen,<br />

begreift, ausgehend vom Weberschen Begriff <strong>der</strong> Chance, die aktuelle <strong>Politik</strong> als +Doppelspiel<br />

<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzen*, bei dem – auf <strong>der</strong> Grundlage von Entörtlichung und Verzeitlichung –<br />

Sachfragen zu Spielfragen werden, was <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ungeahnte Möglichkeiten eröffnet (vgl.<br />

Das ›Webersche‹ Moment; S. 332ff. und siehe auch nochmals hier S. 65).<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist das (politische) Spiel <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz zuweilen e<strong>in</strong> +gefährliches* Spiel. Denn<br />

mit Makropoulos läßt sich feststellen:<br />

+Kont<strong>in</strong>genz ist, was auch an<strong>der</strong>s möglich ist. Aber was auch an<strong>der</strong>s möglich ist, weil es ke<strong>in</strong>en notwendigen<br />

Existenzgrund hat, eröffnet nicht nur Handlungs- und Gestaltungsräume, son<strong>der</strong>n es verunsichert auch<br />

[…]* (Mo<strong>der</strong>nität und Kont<strong>in</strong>genz; S. 147)<br />

Die potentielle Verunsicherung, die (das Bewußtse<strong>in</strong> für) Kont<strong>in</strong>genz gebiert, ist aber nur<br />

e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Problematik <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz. Der Begriff <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz verweist auf e<strong>in</strong>en Raum<br />

des Möglichen, zugleich jedoch auch auf die Grenzen dieses Raumes: das Unmögliche. Das<br />

Unmögliche begrenzt das Mögliche. An<strong>der</strong>erseits: Was möglich ist, tritt erst durch diese Grenze<br />

aus <strong>der</strong> Unmöglichkeit heraus, wird erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Begrenzung zur +tatsächlichen* Möglichkeit.<br />

Das heißt nicht unbed<strong>in</strong>gt, daß die Zahl <strong>der</strong> Möglichkeiten limitiert wäre. Der Raum allerd<strong>in</strong>gs,<br />

den das Mögliche e<strong>in</strong>nehmen kann, ist notwendig e<strong>in</strong>geschränkt. Es verhält sich also ähnlich<br />

wie mit e<strong>in</strong>em Abschnitt des Zahlenstrahls. Zwischen zwei Punkten, egal wie groß (o<strong>der</strong> kle<strong>in</strong>)<br />

<strong>der</strong> Abstand ist, liegen immer unendlich viele Punkte. Trotzdem entsprechen alle Punkte<br />

Zahlenwerten, die zwischen den beiden Grenzwerten liegen. Man kann sich diesen Sachverhalt<br />

auch plastisch anhand des Beispiels e<strong>in</strong>es Luftballons vorstellen: Beim Aufblasen nimmt <strong>der</strong>


XCVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Raum des Möglichen<br />

Handlungsmöglichkeiten<br />

Abbildung 13: Der doppelte Raum <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz<br />

Raum des Denkbaren<br />

Luftballon unendlich viele Größenzustände an. Wird er aber über e<strong>in</strong>e bestimmte Größe<br />

ausgedehnt, so platzt er. (S)e<strong>in</strong>e Hülle, die se<strong>in</strong>e Ausdehnbarkeit begrenzt, ist allerd<strong>in</strong>gs die<br />

Voraussetzung dafür, daß er überhaupt aufgeblasen werden kann.<br />

Der somit notwendig beschränkte und doch +unendliche* Raum des Möglichen wird allerd<strong>in</strong>gs<br />

noch durch weitere Grenzen markiert, denn es handelt sich bei ihm eigentlich um e<strong>in</strong>en<br />

doppelten bzw. zweigeteilten Raum: Dem (grundsätzlich unerschließbaren, nur retrospektiv<br />

hervortretenden) Raum des objektiv Möglichen, steht <strong>der</strong> (subjektiv erschlossene) Raum des<br />

Denkbaren gegenüber. Alle<strong>in</strong>e im Überlappungsbereich bei<strong>der</strong> besteht nun die dem Handeln<br />

19<br />

tatsächlich verfügbare Kont<strong>in</strong>genz (siehe Abb. 9), und wie<strong>der</strong>um nur e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> +kont<strong>in</strong>genten*<br />

Handlungsmöglichkeiten haben überschreitenden Charakter – dann nämlich, wenn sie den<br />

Raum des Möglichen durch ihre Verwirklichung wie<strong>der</strong>um vergrößern würden. Die Möglichkeit<br />

<strong>der</strong> Utopie ist also – genauso wie das, was allgeme<strong>in</strong> möglich ist – immer auch abhängig<br />

vom <strong>in</strong>dividuellen Kont<strong>in</strong>genzbewußtse<strong>in</strong>. Deshalb gilt e<strong>in</strong>e (subjektive) Relativität <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz.<br />

Kont<strong>in</strong>genz ist nicht absolut, son<strong>der</strong>n, gerade <strong>in</strong> ihrer utopischen Komponente, nur relativ<br />

zu unserer Erkenntnisfähigkeit, unserem Willen und unseren Handlungspotentialen.<br />

Das +Utopische* (als Teilbereich des Kont<strong>in</strong>genten, des Möglichen und damit Unwirklichen)<br />

steht im Gegensatz zur (aktuellen) Wirklichkeit. Wie aber wird e<strong>in</strong>e Möglichkeit zur Wirklichkeit,<br />

und wie ist Wirklichkeit möglich? – Durch das E<strong>in</strong>treten e<strong>in</strong>er Möglichkeit erfolgt e<strong>in</strong>e Punk-<br />

tualisierung <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz. Der Kont<strong>in</strong>genzraum schrumpft auf e<strong>in</strong>en Punkt, e<strong>in</strong>e Möglichkeit<br />

zusammen, die mit ihrem E<strong>in</strong>treten alle an<strong>der</strong>en Möglichkeiten +unmöglich* macht. Der Raum<br />

objektiver Kont<strong>in</strong>genz bestand, wie sich retrospektiv erweist, notwendig immer zum<strong>in</strong>dest


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN XCIX<br />

aus dieser e<strong>in</strong>en, wirklich gewordenen Möglichkeit. Diese kann zuweilen auch jenseits des<br />

als möglich Gedachten liegen. Doch stellt sich, so fragt sich, nicht alles Mögliche durch das<br />

(e<strong>in</strong>e), was wirklich wird, als re<strong>in</strong> spekulativ und hypothetisch heraus?<br />

Man könnte es allerd<strong>in</strong>gs auch umgekehrt betrachten: Wirklichkeit ist e<strong>in</strong> von Kont<strong>in</strong>genz<br />

gespeistes Werden; <strong>der</strong> Pfad <strong>der</strong> Faktizität ist das Ergebnis e<strong>in</strong>er permanenten Punktualisierung<br />

von Möglichkeitsräumen. Kont<strong>in</strong>genz wäre somit gewissermaßen die Raumdimension <strong>der</strong><br />

Zeitl<strong>in</strong>ie, und <strong>in</strong> ihrer fortschreitenden Punktualisierung würde e<strong>in</strong>e Wirklichkeitsl<strong>in</strong>ie im Raum<br />

<strong>der</strong> Zeit gebildet. Damit zeigt sich an<strong>der</strong>erseits, daß die Vorstellung <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz selbst<br />

kont<strong>in</strong>gent: abhängig von e<strong>in</strong>em bestimmten Zeitmodell ist. Denn nur vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />

<strong>der</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er (l<strong>in</strong>ear-)progressiven Zeit ist Kont<strong>in</strong>genz <strong>in</strong> <strong>der</strong> oben beschriebenen Weise<br />

denkbar, die damit nicht, wie Sartre me<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong>e konkrete Eigenschaft des Se<strong>in</strong>s darstellt (vgl.<br />

Das Se<strong>in</strong> und das Nichts; S. 200ff.), son<strong>der</strong>n alle<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> Resultat <strong>der</strong> Zeitlichkeit ist. E<strong>in</strong>e Mög-<br />

lichkeit ist schließlich dadurch charakterisiert, daß sie zwar wirklich werden kann, aber (noch)<br />

nicht wirklich ist. Löst man sich jedoch vom Modell progressiver Zeit und denkt sie zyklisch<br />

o<strong>der</strong> negiert ihre Existenz gar völlig, so wird aus Möglichkeiten eventuell die +Gleichzeitigkeit*<br />

verschiedener Wirklichkeiten. Von ganz ähnlichen Überlegungen geleitet – und vor dem (Zeit)-<br />

20<br />

H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> +zeitlosen* <strong>in</strong>dischen Antike – konnte deshalb bereits N)ag)arjuna bemerken:<br />

+If the present and the future/Depend on the past/Then the present and the future/Would have existed<br />

<strong>in</strong> the past […]/If they are not depend<strong>in</strong>g on the past/Neither of the two would be established […]/By<br />

the same method/The other two divisions – past and future/[…] should be un<strong>der</strong>stood/[…] So how can<br />

time exist?* (Mu) lamadhyamakaka) rika) ; Kap. 19)<br />

Im europäischen Kontext dom<strong>in</strong>iert(e) dagegen – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie wie <strong>in</strong> den Naturwissen-<br />

schaften – über weite Strecken die aristotelische Vorstellung e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlich fortschreitenden,<br />

l<strong>in</strong>earen Zeit. Aristoteles def<strong>in</strong>ierte Zeit nämlich als die +Meßzahl von Bewegung h<strong>in</strong>sichtlich<br />

des ›davor‹ und des ›danach‹* (Physik; Buch IV, Kap. 11 [219b]). Kant (1724–1804) löste zwar<br />

zum<strong>in</strong>dest die philosophische Betrachtung <strong>der</strong> Zeit von dieser +naiven* Auffassung und begriff<br />

Zeit (ebenso wie den Raum) als +transzendentale*, d.h. <strong>der</strong> Anschauung und <strong>der</strong> Erkenntnis<br />

notwendig vorausgehende und deshalb nur von <strong>der</strong> Vernunft gesetzte, nicht an sich wirkliche<br />

21<br />

Kategorie (vgl. Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft; Erster Teil, Abschnitt 2). Erst durch Edmund Husserl<br />

(1859–1931) kommt es jedoch (<strong>in</strong> etwa gleichzeitig mit <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen Relativierung


C POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

<strong>der</strong> Zeit durch die Relativitätstheorie E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s) zur tatsächlichen Subjektivierung <strong>der</strong> Zeit,<br />

da Husserl diese – trotz ihrer auch nach ihm gegebenen Inter-Subjektivität (vgl. Konstitution<br />

22<br />

<strong>der</strong> Intermonadischen Zeit) – als re<strong>in</strong> im (<strong>in</strong>dividuellen) Bewußtse<strong>in</strong> +seiendes* Phänomen<br />

darlegt (vgl. Zur Phänomenologie des <strong>in</strong>neren Zeitbewußtse<strong>in</strong>s; § 1).<br />

Von Husserl führt die Zeit-L<strong>in</strong>ie des Zeit-Denkens e<strong>in</strong>erseits weiter zur Existenzphilosophie<br />

Heideggers (1889–1976). Für diesen bedeutet Zeit Endlichkeit, die das +sorgende* (Selbst)-<br />

Bewußtse<strong>in</strong> für die (eigene) Existenz hervorbr<strong>in</strong>gt (vgl. Se<strong>in</strong> und Zeit; <strong>in</strong>sb. Abschnitt II, Kap.<br />

3 u. 6) – e<strong>in</strong>e Auffassung, an die Sartre mit se<strong>in</strong>er Sicht <strong>der</strong> Zeitlichkeit als Innenstruktur des<br />

Für-sich anschließt (vgl. Das Se<strong>in</strong> und das Nichts; S. 265). Zum an<strong>der</strong>en prägte Husserls phäno-<br />

menologischer Zeitbegriff auch wesentlich die handlungstheoretisch orientierte Soziologie<br />

von Alfred Schütz (1899–1959), <strong>der</strong> – <strong>in</strong> Anlehnung an Bergson zwischen (objektiver) Weltzeit<br />

und subjektiver Zeit (durée) unterscheidend – Zeit zu e<strong>in</strong>er sozialen (S<strong>in</strong>n-)Kategorie macht<br />

(vgl. Der s<strong>in</strong>nhafte Aufbau <strong>der</strong> sozialen Welt; S. 62–70 sowie <strong>der</strong>s./Luckmann: Strukturen<br />

<strong>der</strong> Lebenswelt; Band 1, S. 73–87 u. Band 2, S. 27–33). Als standardisiertes Bezugssystem<br />

ist die soziale S<strong>in</strong>nkategorie Zeit, worauf wie<strong>der</strong>um Norbert Elias h<strong>in</strong>weist, allerd<strong>in</strong>gs erst<br />

das Resultat e<strong>in</strong>es langwierigen und +zwanghaften* Zivilisationsprozesses (vgl. Über die Zeit).<br />

Im aktuellen systemtheoretischen Konstruktivismus schließlich wird <strong>der</strong> (soziale) Konstruktcha-<br />

rakter <strong>der</strong> Zeit beson<strong>der</strong>s klar herausgestellt. Hier gilt Zeit schlicht als das Resultat von Ope-<br />

rationen bzw. Kommunikation <strong>in</strong> sozialen Systemzusammenhängen – und wird so nach außen<br />

zurückgespiegelt (vgl. Nassehi: Die Zeit <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 379ff.). 23<br />

So vielfältig und kont<strong>in</strong>gent also die Vorstellungen über Zeitlichkeit s<strong>in</strong>d, so +zeitlich* (d.h.<br />

zeitmodellabhängig) ist die Vorstellung <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz. Aus +pragmatischen* Gründen ist<br />

es jedoch durchaus s<strong>in</strong>nvoll anzunehmen, daß wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er durch Zeitlichkeit geprägten Welt<br />

leben, da sich die Konstruktion <strong>der</strong> (l<strong>in</strong>ear-progressiven) Zeit für die Bewältigung unseres<br />

Alltags schließlich als überaus +praktisch* erwiesen hat, d.h. sie erlaubt uns e<strong>in</strong>e Orientierung<br />

und Koord<strong>in</strong>ierung unserer Handlungen <strong>in</strong> bezug auf unsere soziale Umwelt. Aus dem somit<br />

+pragmatisch legitimierten* Konstrukt e<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>ear-progressiven Zeit, aus <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um die<br />

(mögliche) Wirklichkeit <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz erwächst, entstehen aber weitere Probleme: das Problem<br />

<strong>der</strong> Freiheit bzw. Determ<strong>in</strong>ation und das Problem <strong>der</strong> Gerechtigkeit.<br />

Zunächst zum Problem <strong>der</strong> Gerechtigkeit: Im (zeitlichen) Wirken <strong>der</strong> Wirklichkeit schrumpft<br />

<strong>der</strong> Raum des Möglichen, wie erläutert, auf e<strong>in</strong>en Punkt zusammen; alle an<strong>der</strong>en Möglichkeiten


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN CI<br />

werden dadurch elim<strong>in</strong>iert und ihrer potentiellen Wirklichkeit wi<strong>der</strong>fährt somit +Ungerechtigkeit*.<br />

Da wir <strong>in</strong> den Prozeß <strong>der</strong> Verwirklichung handelnd e<strong>in</strong>bezogen s<strong>in</strong>d, haben wir Teil an <strong>der</strong><br />

Ungerechtigkeit des Wirklichen. Im Handeln erfolgt schließlich immer e<strong>in</strong>e Elim<strong>in</strong>ierung von<br />

Möglichkeiten. Aber jede Wirklichkeit und jedes Handeln br<strong>in</strong>gt umgekehrt auch wie<strong>der</strong> neue<br />

Möglichkeiten hervor, eröffnet neue Kont<strong>in</strong>genzräume, so daß es mit <strong>der</strong> Punktualisierung<br />

<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz im Wirklichkeitsprozeß immer zu e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Depunktualisierung<br />

des Kont<strong>in</strong>genzraums kommt. Es besteht folglich e<strong>in</strong>e Dialektik von Punktualisierung und<br />

Depunktualisierung. Deshalb ist es nicht nur gerechtfertigt, son<strong>der</strong>n auch geboten zu handeln.<br />

Das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reflexion <strong>der</strong> Reflexivität <strong>der</strong> Prozesse und <strong>der</strong> Ambivalenzen des Bewußtse<strong>in</strong>s<br />

entstehende (authentische) Bewußtse<strong>in</strong> für Kont<strong>in</strong>genz ruft zum (reflexiven) Handeln auf.<br />

Jedes (deflexive) Nicht-Handeln würde vor dem H<strong>in</strong>tergrund des Kont<strong>in</strong>genz-Bewußtse<strong>in</strong>s<br />

schließlich ebenso e<strong>in</strong>e Ungerechtigkeit gegenüber den durch Passivität ihrer potentiellen<br />

Wirklichkeit beraubten (utopisch-transzendenten) Möglichkeiten bedeuten.<br />

In se<strong>in</strong>en Handlungen ist das Subjekt jedoch ke<strong>in</strong>eswegs frei, son<strong>der</strong>n vielmehr +bestimmt*<br />

durch die Grenzen <strong>der</strong> Möglichkeitsräume und die (subjektiven wie objektiven) Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit, <strong>in</strong> die es e<strong>in</strong>gebettet ist. Entgegen dem naturwissenschaftlichen Modell,<br />

welches +Freiheitsgrade* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> (objektiven) Möglichkeiten bemißt, bedeutet Kont<strong>in</strong>genz<br />

gemäß <strong>der</strong> hier vertretenen Auffassung also nicht automatisch Freiheit, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Ausgeliefert-<br />

se<strong>in</strong> an das Mögliche. Vielmehr wäre Freiheit, wie Sartre feststellte, genau entgegengesetzt<br />

e<strong>in</strong> ständiges +Der-Kont<strong>in</strong>genz-Entgehen, sie ist Ver<strong>in</strong>nerung, Nichtung und Subjektivierung<br />

<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz, die, auf diese Weise modifiziert, gänzlich <strong>in</strong> die Grundlosigkeit <strong>der</strong> Wahl<br />

übergeht* (Das Se<strong>in</strong> und das Nichts; S. 830).<br />

Denn erst <strong>in</strong>dem wir uns handelnd für die Verwirklichung des Möglichen entscheiden und<br />

dazu unser Möglichstes beitragen, entsteht das, was +Ich* als Freiheit begreife: e<strong>in</strong>e Freiheit,<br />

die nicht objektiv bestimmbar ist, son<strong>der</strong>n sich als Empf<strong>in</strong>dung dann e<strong>in</strong>stellt, wenn die<br />

(beschränkenden) äußeren Strukturen mit dem (durch die immanenten Strukturen des Selbst<br />

24<br />

bestimmten) subjektiven Wollen übere<strong>in</strong>stimmen. Daß hier von kont<strong>in</strong>genten Möglichkeits-<br />

räumen gesprochen wird, bedeutet deshalb ke<strong>in</strong> <strong>Post</strong>ulat e<strong>in</strong>er a priori vorgegebenen, meta-<br />

physisch-transzendentalen Freiheit, wie sie Kant im Rahmen se<strong>in</strong>er +Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft*<br />

(1781) und – implizit – auch Sartre annimmt (siehe hier S. 347f.). Freiheit als transzendent-<br />

utopische Kategorie, die als Wollen negativ <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reibung des Subjekts am Objekt, <strong>in</strong> <strong>der</strong>


CII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Erfahrung <strong>der</strong> Unfreiheit durch die +Geworfenheit* <strong>in</strong> e<strong>in</strong> beschränkendes Se<strong>in</strong> wurzelt, muß<br />

vielmehr aktiv – d.h. unter <strong>der</strong> Ausnutzung <strong>der</strong> bestehenden Kont<strong>in</strong>genzräume und durch<br />

ihre gezielte Vergrößerung <strong>in</strong> Richtung auf das Utopische h<strong>in</strong> – hergestellt werden.<br />

Doch auch Freiheit, als +grundsätzlich* utopische Kategorie, ist nicht frei von Ambivalenz.<br />

Freiheit ist immer auch Zumutung und Bedrohung, denn sie wi<strong>der</strong>strebt dem zwar entgren-<br />

zenden, aber ebenso konformierenden Selbstauflösungsstreben, das – <strong>in</strong> dialektischer Ergänzung<br />

zum Selbstbehauptungsstreben – me<strong>in</strong>es Erachtens sogar die Grundlage <strong>der</strong> sozialen Orientierung<br />

bildet. Auf dieses +Doppelgesicht <strong>der</strong> Freiheit* wies schon Erich Fromm h<strong>in</strong> (vgl. Die Furcht<br />

vor <strong>der</strong> Freiheit; S. 24ff.). Die Ambivalenz ist allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> Freiheit (als e<strong>in</strong>e menschliche<br />

Empf<strong>in</strong>dung, nicht als re<strong>in</strong> abstrakte Kategorie) immanent und weniger, wie Fromm me<strong>in</strong>te,<br />

alle<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Ausdruck <strong>der</strong> mangelnden Stärke des Subjekts <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em deformierenden Kontext<br />

(vgl. ebd.; S. 80ff. und siehe auch hier S. XXVIIf.). Doch da die Freiheit <strong>in</strong> je<strong>der</strong> H<strong>in</strong>sicht<br />

ambivalent ist, ist sie ebenso als e<strong>in</strong> negatives Wollen, als e<strong>in</strong>e Orientierung <strong>in</strong> Richtung auf<br />

mehr Gestaltungs- und (Selbst-)Verwirklichungsmöglichkeiten nicht gänzlich elim<strong>in</strong>ierbar. Wird<br />

das autonome Freiheitsstreben folglich unterdrückt, so drängt es entwe<strong>der</strong>, sich auflehnend,<br />

nach außen, o<strong>der</strong> es zerbricht das Innen, läßt das Subjekt die Flucht <strong>in</strong>s Autoritäre antreten<br />

(vgl. ebd.; S. 107ff.). E<strong>in</strong> solchermaßen im Innen unterdrücktes Freiheitsstreben äußert sich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Selbstentfremdung. Diese wie<strong>der</strong>um äußert sich notwendig auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Entfremdung<br />

von +den an<strong>der</strong>en*, da das unterdrückte, <strong>in</strong> autoritären (Selbst-)Strukturen verfangene identische<br />

Subjekt sich nicht reflexiv-authentisch (d.h. offen) auf se<strong>in</strong>e Umwelt beziehen kann.<br />

Damit diese doppelte Entfremdung nicht e<strong>in</strong>tritt, muß das Subjekt also zu se<strong>in</strong>er nichtidentischen,<br />

authentischen Basis f<strong>in</strong>den und (um auch Rückhalt im Außen zu erlangen) die bestehende<br />

Kont<strong>in</strong>genz für die (befreiende) Möglichkeit sozialer Konvergenz nutzen. Konvergenz bedeutet<br />

e<strong>in</strong>en Prozeß <strong>der</strong> reziproken Annäherung. Diese ist <strong>in</strong> ihrer Gegenseitigkeit nicht limitierend,<br />

schränkt die Freiheitsempf<strong>in</strong>dungen und die Möglichkeitsräume nicht e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n bewirkt,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> (dynamischen) Dialektik von Punktualisierung und Depunktualisierung, real ihre Ver-<br />

größerung. Es läßt sich sogar behaupten, daß (utopische) Kont<strong>in</strong>genz Konvergenz geradezu<br />

erfor<strong>der</strong>t, denn nur durch geme<strong>in</strong>same Anstrengungen, kann das Mögliche erreicht und <strong>der</strong><br />

Möglichkeitsraum erweitert werden. Im Gegensatz zum Kongruenzmodell des Konsenses,<br />

<strong>der</strong>, wie Lyotard feststellte, e<strong>in</strong> +veralteter und suspekter Wert* geworden ist (Das postmo<strong>der</strong>ne<br />

Wissen; S. 190), und <strong>der</strong> deshalb selbst ke<strong>in</strong>en Konsens mehr erhoffen kann, läßt Konvergenz


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN CIII<br />

schließlich (unvermeidliche) Differenzen bestehen, gibt dem Dissens und dem Wi<strong>der</strong>spruch<br />

ihren Raum (vgl. auch <strong>der</strong>s.: Der Wi<strong>der</strong>streit und siehe hier S. 52f.). Konvergenz beruht, ohne<br />

die Orientierung am Geme<strong>in</strong>samen aufzugeben, vielmehr sogar notwendig auf Differenz,<br />

die selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Annäherung nie überwunden wird und werden soll. Im Begriff <strong>der</strong> Konvergenz<br />

wird zudem <strong>der</strong> prozeßhafte Charakter des Sozialen betont, was im +punktuellen* Begriff<br />

des Konsenses, <strong>der</strong> erreicht ist o<strong>der</strong> nicht (wenn er überhaupt erreicht werden kann), kaum<br />

aufsche<strong>in</strong>t. Allerd<strong>in</strong>gs: Wenn man das mathematische Konvergenz-Modell zum Bezugspunkt<br />

nimmt, so ist die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konvergenz erfolgende asymptotische Annäherung stetig. Dies ist<br />

beim Prozeß +sozialer* Konvergenz natürlich nicht <strong>der</strong> Fall. Diese verläuft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er brüchigen,<br />

diskont<strong>in</strong>uierlichen L<strong>in</strong>ie, ist unvorhersehbar und folglich: kont<strong>in</strong>gent.<br />

Damit ist <strong>der</strong> Zirkel von <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz zur Konvergenz zur Kont<strong>in</strong>genz, wie auch <strong>der</strong> Zirkel<br />

dieses Textes, geschlossen. Doch warum war die (tautologische) Anstrengung dieser +Textarbeit*<br />

überhaupt notwendig, wenn die Basis <strong>der</strong> utopischen Überschreitung, wie hier aufzuzeigen<br />

versucht wurde, ohneh<strong>in</strong> im authentischen, auf die soziale Umwelt reflexiv bezogenen Selbst<br />

zu suchen ist und nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie. Das authentische Selbst braucht jedoch, wie ich me<strong>in</strong>e,<br />

zuweilen e<strong>in</strong>en äußeren Anstoß um se<strong>in</strong>e +ursprüngliche*, nichtidentische Vielheit und se<strong>in</strong>e<br />

Ambivalenz zu entfalten und zuzulassen. E<strong>in</strong> solcher Anstoß sollte mit diesem Text gegeben<br />

werden. Und es macht durchaus +S<strong>in</strong>n*, die Theorie und ihre Begriffe für die utopische Praxis<br />

e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Se<strong>in</strong>s zu bemühen. Denn die konkrete, s<strong>in</strong>nliche, bestimmte Negation, als<br />

Voraussetzung <strong>der</strong> utopischen Bewegung, braucht – vor allem, um kommunizierbar zu werden<br />

– e<strong>in</strong>e begriffliche Bestimmung. Man muß deshalb zum e<strong>in</strong>en die Sedimente <strong>der</strong> Sprache<br />

dekonstruierend durchsieben und aufwühlen, um den <strong>in</strong> ihr (möglicherweise) verborgenen<br />

(Gegen-)S<strong>in</strong>n hervorzukehren. Man muß jedoch zuweilen auch neue, kritische Begriffe schaffen,<br />

um utopische Gegenerzählungen zu ermöglichen. Beides wurde hier (z.B. mit den Begriffen<br />

<strong>der</strong> Deflexion und <strong>der</strong> Praxologie) versucht. Der sich über so viele Seiten h<strong>in</strong>weg erstreckende<br />

theoretische Monolog war deshalb immer auch e<strong>in</strong> gedachter Dialog mit dem Leser, dem<br />

das kritische Potential <strong>der</strong> entwickelten Begriffe (anschaulich) vermittelt werden sollte. An<strong>der</strong>er-<br />

seits war dieser Text ebenso stets e<strong>in</strong> Dialog mit an<strong>der</strong>en Texten; er stellt e<strong>in</strong> Textgewebe<br />

dar, <strong>in</strong> das viele Stimmen verwoben wurden. So bleibt mir am Ende nur zu sagen: Und wenn<br />

auch alles bereits gesagt wäre, so wäre es doch nicht von mir gesagt.


APPENDIX


A: ANMERKUNGEN


4 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?<br />

1. In ihrem Buch +Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität* (1973) konstatieren die drei Autoren Peter L. Berger, Brigitte<br />

Berger und Hansfried Kellner, die die mo<strong>der</strong>ne Welt aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Wissenssoziologie betrachten, e<strong>in</strong>e<br />

+Pluralisierung <strong>der</strong> sozialen Lebenswelten* – d.h. mo<strong>der</strong>ne Individuen erfahren ihre Umwelt als segmentiert, <strong>in</strong> verschiedene<br />

Bereiche getrennt. Dadurch ist die mo<strong>der</strong>ne Identität beson<strong>der</strong>s offen, differenziert, reflexiv und <strong>in</strong>dividuiert. An<strong>der</strong>erseits<br />

fühlen sich viele Menschen entwurzelt und verunsichert (vgl. S. 59–74). Dies führt zu e<strong>in</strong>er permanenten Identitätskrise<br />

und e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> Heimatlosigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt stellt sich e<strong>in</strong>, weshalb <strong>der</strong> Titel <strong>der</strong> englischen Orig<strong>in</strong>alausgabe<br />

auch +The Homeless M<strong>in</strong>d* lautet.<br />

2. Erikson hat e<strong>in</strong> Entwicklungsmodell <strong>der</strong> Identität konzipiert, das den +Brennpunkt* <strong>der</strong> Identitätsbildung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Adoleszenz ansetzt. In dieser Lebensphase entscheidet es sich gemäß Erikson, ob man e<strong>in</strong>e kohärente Identität gew<strong>in</strong>nen<br />

kann, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fähigkeit ausdrückt, +e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>heitlichkeit und Kont<strong>in</strong>uität […] aufrechtzuerhalten* (Identität<br />

und Lebenszyklus; S. 107), o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Identitätsdiffusion e<strong>in</strong>tritt, <strong>der</strong>en Resultat +e<strong>in</strong>e Zersplitterung des Selbst-Bildes<br />

[…], e<strong>in</strong> Gefühl von Verwirrung und <strong>in</strong> schweren Fällen die Furcht vor völliger Auflösung* ist (ebd.; S. 154).<br />

3. Bei <strong>in</strong> den Text <strong>in</strong>tegrierten Zitaten (wie hier) nenne ich die Quelle nicht direkt im Anschluß, son<strong>der</strong>n so, daß es<br />

den Lesefluß nicht stört. Der von Keupp gebrauchte Begriff des Identitätszwangs geht ursprünglich übrigens auf Adorno<br />

zurück.<br />

4. So z.B. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz +Grundzüge e<strong>in</strong>er reflexiven Sozialpsychologie – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Perspektiven*, wo er für<br />

die +Wie<strong>der</strong>gew<strong>in</strong>nung kritischer Reflexivität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychologie* plädiert (S. 226) und damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung<br />

weist, wie ich sie hier anstrebe.<br />

5. In sehr prägnanten Worten bemerkt hierzu Claus Beyme: +Die Abgrenzung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird häufig dadurch verwirrt,<br />

daß die Entstehung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> <strong>der</strong> realen Geschichte und die Entstehung e<strong>in</strong>er Theorie dieser Mo<strong>der</strong>ne ständig<br />

vermischt werden […] Jede Wissenschaft neigte dazu, die Gesichtspunkte, welche ihr Forschungsfeld beherrschten,<br />

dem Begriff <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zugrundezulegen. In e<strong>in</strong>er wirtschaftszentrierten Forschung wurde die Mo<strong>der</strong>ne meist mit<br />

dem Kapitalismus gleichgesetzt. Später wurde die Industriegesellschaft als Folge des Kapitalismus mit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

identifiziert […] In kultur-zentrierten Forschungen wurden kulturelle Prozesse wie Säkularisierung, Ausbreitung <strong>der</strong><br />

rationalen Lebensführung und ›Entzauberung <strong>der</strong> Welt‹ als die wichtigsten Kennzeichen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne herausgestellt.*<br />

(Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 29)<br />

6. Das ist selbstverständlich e<strong>in</strong>e eher pragmatische Festschreibung als e<strong>in</strong>e durch konkrete historische Transformationen<br />

so e<strong>in</strong>deutig zu rechtfertigende Datierung. Zurück geht sie auf das um 1700 erschienene Werk +Historia Nova* von<br />

Christoph Cellarius, <strong>der</strong> zum ersten Mal die Epochen Altertum, Mittelalter und Neuzeit unterschied (vgl. Burkhardt:<br />

Frühe Neuzeit; S. 11f.). Allerd<strong>in</strong>gs gab es um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

bedeutenden Ereignissen, die diese Epochene<strong>in</strong>teilung zum<strong>in</strong>dest plausibel machen: 1492 erfolgte die (unbeabsichtigte)<br />

+Entdeckung* Amerikas durch Kolumbus, 1497/1498 gelang Vasco da Gama schließlich <strong>der</strong> Vorstoß nach Indien<br />

auf dem Seeweg, den sich auch Kolumbus erträumt hatte, und 1517 schlug Luther se<strong>in</strong>e Thesen an die Schloßkirche<br />

zu Wittenberg, womit die Reformation e<strong>in</strong>geläutet war (vgl. hierzu z.B. Mieck: Geschichte <strong>der</strong> Frühen Neuzeit; <strong>in</strong>sb.<br />

S. 12–74 u. S. 102–143).<br />

Die Neuzeit brach jedoch auch für viele Historiker ke<strong>in</strong>esfalls plötzlich über die Menschheit here<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> im<br />

16. Jahrhun<strong>der</strong>t sich schließlich dynamisierenden Entwicklung g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e lange Latenzzeit voraus. Romano und Tenenti<br />

setzen +Die Grundlegung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt* (1967) deshalb bereits Mitte des 14. Jahrhun<strong>der</strong>ts an, als es, ausgelöst<br />

durch die schwarze Pest, zu e<strong>in</strong>em verstärkten +Todesbewußtse<strong>in</strong>* kam, das – <strong>in</strong>dem es sich nicht <strong>in</strong> die christliche<br />

Vorstellungswelt <strong>in</strong>tegrieren ließ und die eigene Person <strong>in</strong>s Zentrum des Interesses rückte – den Individualismus <strong>der</strong><br />

Renaissance vorbereitete: +Gerade weil dieses Bewußtse<strong>in</strong> ausschließlich das eigene irdische Dase<strong>in</strong> betraf, war es<br />

nicht christlicher Natur und blieb dem System <strong>der</strong> üblichen Anschauungen fremd […] Im geheimsten W<strong>in</strong>kel <strong>der</strong><br />

eigenen Überzeugungen, wo das Dogma unwi<strong>der</strong>sprochen hätte herrschen sollen, dachte <strong>der</strong> Mensch nunmehr an<br />

sich selbst als Mensch und nicht nur als Christ.* (S. 119)<br />

7. Dieses häufig angeführte Zitat wird zumeist <strong>in</strong> <strong>der</strong> late<strong>in</strong>ischen Übersetzung (cogito ergo sum) angegeben. Orig<strong>in</strong>al<br />

steht es jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat <strong>in</strong> französisch und zwar auch nicht, wie häufig angenommen, <strong>in</strong> den +Meditationes* (1641),<br />

son<strong>der</strong>n im früheren +Discours de la méthode* (1637) (S. 54 [IV,3]).


A: ANMERKUNGEN 5<br />

8. Descartes war allerd<strong>in</strong>gs nur im Rahmen <strong>der</strong> europäischen Philosophietradition <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> die Selbsterkenntnis<br />

zum Ausgangspunkt se<strong>in</strong>er Philosophie nahm. In <strong>der</strong> buddhistischen Schule des Vijña) na-Va) da (Bewußtse<strong>in</strong>slehre),<br />

die von Asa 0nga und Vasubandhu begründet wurde, wußte man schon im 5. Jahrhun<strong>der</strong>t, daß +<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige sichere<br />

Ausgangspunkt für e<strong>in</strong>e Ergründung des Wesens von Ich und Welt […] nur das Selbstbewußtse<strong>in</strong> se<strong>in</strong> [kann], weil<br />

ohne dieses we<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Ich noch irgendwelche Dase<strong>in</strong>selemente wahrgenommen werden können* (Glasenapp: Die<br />

Philosophie <strong>der</strong> In<strong>der</strong>; S. 348f.).<br />

9. E<strong>in</strong>e Stelle aus dem +Discours de la méthode* macht die rationalistisch-szientistische Ausrichtung Descartes’ me<strong>in</strong>er<br />

Me<strong>in</strong>ung nach exemplarisch deutlich. Er bemerkt dort: +Jene langen Ketten ganz e<strong>in</strong>facher und leichter Begründungen,<br />

die die Geometer zu gebrauchen pflegen, um ihre schwierigsten Beweise durchzuführen, erweckten <strong>in</strong> mir die Vorstellung,<br />

daß alle D<strong>in</strong>ge, die menschlicher Erkenntnis zugänglich s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> auf dieselbe Weise folgen und daß, vorausgesetzt,<br />

man verzichtet nur darauf, irgend etwas für wahr zu halten, was es nicht ist, und man beobachtet immer die Ordnung,<br />

die zur Ableitung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en aus den an<strong>der</strong>en notwendig ist, nichts so fern liegen, daß man es nicht erreichte, und<br />

nichts so verborgen se<strong>in</strong> kann, daß man es nicht entdeckte.* (S. 33 [II,11])<br />

Bacon, als eigentlicher Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> (natur)wissenschaftlichen Methodik <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit, äußert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em +Novum<br />

Organum* (1620) die vielzitierte Auffassung, daß Wissen Macht bedeutet, weil es – über die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> ihre<br />

Gesetzlichkeiten – die Beherrschung von Natur erlaubt. Solche Macht verleiht jedoch nur e<strong>in</strong>e +objektive* Wissenschaft,<br />

<strong>der</strong>en Vorstellungen +unverfälscht* s<strong>in</strong>d durch die Trugbil<strong>der</strong>, die durch die Beschaffenheit <strong>der</strong> +menschlichen Natur*,<br />

<strong>in</strong>dividuelleFaktoren wie Gewohnheiten und Neigungen, sprachliche Konventionen und philosophische Irrme<strong>in</strong>ungen<br />

hervorgerufen werden. Abhilfe kann hier nach Bacon nur e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>duktive, empirische Wissenschaft bieten, die gezielte<br />

Experimente anstellt und diese (tabellarisch) auswertet.<br />

10. Rousseau verfaßte (1750) se<strong>in</strong>e erste große kulturkritische Abhandlung als Beantwortung e<strong>in</strong>er Preisfrage <strong>der</strong> Akademie<br />

von Dijon 1750, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er die These aufstellt, daß sowohl Wissenschaft wie Künste nichts zur Läuterung <strong>der</strong> Sitten<br />

beigetragen hätten (vgl. Über Kunst und Wissenschaft; S. 11ff.). Baumgartens +Aesthetica*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> dieser laut Welsch<br />

das ästhetische Pr<strong>in</strong>zip als Ergänzung zur rationalistischen Logik propagiert, erschien schon 1735 (und nicht wie Welsch<br />

me<strong>in</strong>t im selben Jahr wie Rousseaus erster +Discours*). Noch e<strong>in</strong> Jahrzehnt früher, nämlich 1725, formulierte Vico<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en +Pr<strong>in</strong>cipi di una scienza nuova* se<strong>in</strong>e Geschichtsphilosophie, die von e<strong>in</strong>er Verfallsperspektive getragen ist:<br />

Nach dem Aufstieg (corso), <strong>der</strong> <strong>in</strong> drei Stadien verläuft, folgt unweigerlich <strong>der</strong> Abstieg (ricorso).<br />

11. In se<strong>in</strong>er Rede anläßlich <strong>der</strong> Verleihung des Adorno-Preises <strong>der</strong> Stadt Frankfurt an ihn im Jahr 1980, die unter<br />

dem Titel +Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt* bereits verschiedentlich veröffentlicht wurde und aus <strong>der</strong> ich<br />

im folgenden zitiere, bezieht Habermas sich natürlich auch auf das avantgardistische Mo<strong>der</strong>ne-Verständnis von Adorno,<br />

so wie er es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er +Ästhetische[n] Theorie* (1973) darlegte. Ich möchte auf diesen Aspekt jedoch nicht e<strong>in</strong>gehen.<br />

12. E<strong>in</strong> Blick auf Anmerkung 5 vermag diese These Habermas’ zusätzlich zu belegen. Ziemlich genau an <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>twende<br />

zum 18. Jahrhun<strong>der</strong>t wird die uns geläufige Epochene<strong>in</strong>teilung zum ersten Mal dargelegt.<br />

13. Jahreszahlenangaben <strong>in</strong> Klammern nach <strong>der</strong> Nennung von Werktiteln beziehen sich immer auf das Ersche<strong>in</strong>ungsjahr<br />

des Orig<strong>in</strong>als und nicht auf das Ersche<strong>in</strong>ungsjahr <strong>der</strong> hier verwendeten Ausgabe.<br />

14. Der wesentliche Unterschied zu Aristoteles besteht dar<strong>in</strong>, daß dieser stets den Vorrang <strong>der</strong> Theorie gegenüber<br />

<strong>der</strong> Praxis betonte und somit auch <strong>der</strong> theoretischen Vernunft e<strong>in</strong>en grundsätzlich höheren Stellenwert als <strong>der</strong> praktischen<br />

Vernunft e<strong>in</strong>räumt (vgl. z.B. Nikomachische Ethik; S. 176 [1145]). Die Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Ethik können also noch an e<strong>in</strong>er<br />

übergeordneten Se<strong>in</strong>sordnung, an +Wahrheit* gemessen werden (vgl. ebd.; S. 285–288 [1176–1177]). Eben die Ergründung<br />

dieser Wahrheit ist die Aufgabe <strong>der</strong> Philosophie (vgl. Metaphysik; S. 52f. [993a–994a]).Diese Möglichkeit entfällt bei<br />

Kant. Die moralische Pflicht ist das Ergebnis <strong>der</strong> Selbst-Gesetzgebung <strong>der</strong> autonomen Vernunft und hat als Grundlage<br />

den freien Willen.<br />

15. Dieses Zitat wird auch von Habermas wie<strong>der</strong>gegeben.<br />

16. Vgl. z.B. Phänomenologie des Geistes; S. 320ff. (S. 429ff.). Die Seitenangabe <strong>in</strong> Klammern bezieht sich auf die<br />

Seitenzählung <strong>der</strong> Orig<strong>in</strong>alausgabe aus dem Jahr 1807.<br />

17. Vgl. <strong>in</strong>sb. Grundl<strong>in</strong>ien <strong>der</strong> Philosophie des Rechts; §§ 105ff. sowie §§ 257ff.


6 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

18. Vgl. z.B. Phänomenologie des Geistes; S. 394f. [548ff.].<br />

19. Habermas geht davon aus, daß es zuvor ke<strong>in</strong>e von <strong>der</strong> Privatsphäre getrennte Öffentlichkeit gegeben hat:<br />

+Öffentlichkeit als eigener, von e<strong>in</strong>er privaten Sphäre geschiedener Bereich läßt sich für die feudale Gesellschaft des<br />

hohen Mittelalters soziologisch, nämlich anhand <strong>in</strong>stitutioneller Kriterien, nicht nachweisen.* (Strukturwandel <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit; S. 60). Diese Aussage ersche<strong>in</strong>t mir fragwürdig, da es z.B. durchaus explizit öffentliche Institutionen<br />

wie Badehäuser o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit zur Verfügung stehende Backöfen gegeben hat (vgl. Mumford: Die Stadt;<br />

S. 334). Und auch den Individuen wird bewußt gewesen se<strong>in</strong>, wann sie sich im öffentlichen und wann sie sich im<br />

privaten Raum aufgehalten haben. Richtig ist jedoch, daß e<strong>in</strong>e stärkere Durchdr<strong>in</strong>gung bei<strong>der</strong> Bereiche gegeben war,<br />

<strong>in</strong>dem z.B. die Familie nicht jenen Intimbereich repräsentierte wie er es heute ist, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haushalt die<br />

verschiedensten Personen (die Hausherrn, ihre Angehörigen, Ges<strong>in</strong>de, Gäste etc.) zusammenwohnten und häufig<br />

auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zimmer schliefen (vgl. ebd.; S. 328)<br />

20. Vgl. z.B. Palmade (Hg.): Das bürgerliche Zeitalter; S. 233–306.<br />

21. In Großbritannien wuchs die Bevölkerung alle<strong>in</strong>e zwischen 1820 und 1860 von 14,3 auf 23,2 Mio. Im deutschen<br />

Reichsgebiet gibt es verläßliche Zahlen für die Jahre 1816 und 1855. Hier steigerte sich die Bevölkerung von 23,5<br />

auf 34,6 Mio. Das bedeutet also Steigerungsraten <strong>in</strong>nerhalb von jeweils ca. 40 Jahren von 62,2 % (GB) bzw. 46,9%<br />

(deutsches Reichsgebiet). (Vgl. Köllmann: Bevölkerung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Revolution; S. 27)<br />

22. Comte war es, <strong>der</strong> den Begriff +Soziologie* prägte.<br />

23. Natürlich gab es auch fortschrittskritische Stimmen und zwar nicht zu knapp. Doch selbst wer, wie die +Cölnische<br />

Zeitung* vom 28. März 1819, gegen die E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Gasbeleuchtung wettert, erkennt die revolutionierende Kraft<br />

<strong>der</strong> technischen Neuerungen an und sieht sich zudem gezwungen, +rationalisierende* Argumente dagegen vorzubr<strong>in</strong>gen:<br />

+Jede Straßenbeleuchtung durch Gas ist verwerflich: 1. aus theologischen Gründen, weil sie als E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die Ordnung<br />

Gottes ersche<strong>in</strong>t […] 2. aus juristischen Gründen, weil die Kosten <strong>der</strong> Beleuchtung durch <strong>in</strong>direkte Steuern aufgebracht<br />

werden sollen […] 3. aus mediz<strong>in</strong>ischen Gründen: die Öl- und Gasausdunstung wirkt nachteilig auf die Gesundheit<br />

schwachleibiger und zartnerviger Personen […] 4. aus philosophischen Gründen: […] Die künstliche Helle verscheucht<br />

<strong>in</strong> den Gemütern das Grauen vor <strong>der</strong> F<strong>in</strong>sternis, die die Schwachen vor mancher Sünde abhält […] 5. aus polizeilichen<br />

Gründen: sie macht die Pferde scheu und die Diebe kühn […] 6. aus staatswirtschaftlichen Gründen: für den Leuchtstoff<br />

Öl o<strong>der</strong> Ste<strong>in</strong>kohle geht jährlich e<strong>in</strong>e bedeutende Summe <strong>in</strong>s Ausland, wodurch <strong>der</strong> Nationalreichtum geschwächt<br />

wird […]* (Zitiert nach Pönicke: Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Europas im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 13f.)<br />

24. Vor allem aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst- und Architekturtheorie ist dies e<strong>in</strong>e gängige Datierung – freilich auf an<strong>der</strong>er, nämlich<br />

stildifferenzieren<strong>der</strong> Grundlage: So beg<strong>in</strong>nt die Geschichte <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Kunst beispielsweise für Edward Lucie-Smith<br />

mit dem ersten öffentlichen Auftreten <strong>der</strong> Fauves 1905. Und unter mo<strong>der</strong>ner Architektur stellen wir uns noch immer<br />

<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Wohnqua<strong>der</strong> im sachlich-funktionellen +International-Style* vor. Zwar wird z.B. <strong>in</strong> Kenneth Framptons<br />

+kritischer Baugeschichte* <strong>der</strong> Ursprung <strong>der</strong> +Architektur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* bis zur Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts zurückprojiziert<br />

(vgl. S. 8), doch liegt die erste Epoche <strong>der</strong> wirklich mo<strong>der</strong>n zu nennenden Architektur für die meisten Architekturtheoretiker<br />

nach dem 1. Weltkrieg (vgl. z.B. Joedicke: Architekturgeschichte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 12ff.).<br />

25. Zur Übersicht eignet sich am besten die Skizze am Ende des ersten Kapitels (S. 29) <strong>der</strong> +Work<strong>in</strong>g Papers*, das<br />

sich allerd<strong>in</strong>gs primär mit den psychologischen Aspekten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Handlungssituation befaßt. Weniger deutlich als <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> erwähnten Graphik tritt Parsons’ vierdimensionales Modell des Handlungsraumes <strong>in</strong> +Toward a General Theory<br />

of Action* zutage: Dort entwirft er se<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong> +pattern variables* als dichotomes Schematisierungsraster <strong>der</strong><br />

möglichen Situationsorientierungen (affectivity vs. affective neutrality, self-orientation vs. collectivity-orientation,<br />

universalism vs. particularism, ascription vs. achievement, specificy vs. diffuseness), unterscheidet aber auch soziale<br />

Objekte (Individuen und Kollektive) von nicht-sozialen (physischen und kulturellen) Objekten, womit die vier zentralen<br />

Objekttypen bzw. Komponenten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Handlungssituation <strong>in</strong>direkt genannt s<strong>in</strong>d (vgl. Teil II, Kap. 1: Parsons/Shills:<br />

Categories of the Orientation and Organization of Action; <strong>in</strong>sb. S. 57f. u. S. 77).<br />

26. E<strong>in</strong>e prägnante eigene Zusammenfassung des Zusammenhangs zwischen +Aktionssystem* und +Sozialsystem*<br />

durch Parsons f<strong>in</strong>det sich z.B. <strong>in</strong> +The System of Mo<strong>der</strong>n Societies* aus dem Jahr 1971 (vgl. S. 4ff.). Ansätze zu e<strong>in</strong>er<br />

allgeme<strong>in</strong>en Systemtheorie s<strong>in</strong>d auch bereits <strong>in</strong> Parsons’ noch primär handlungstheoretischer Schrift +The Social System*<br />

(1951) vorgezeichnet.


A: ANMERKUNGEN 7<br />

27. Genau genommen beziehen sich van <strong>der</strong> Loo und van Reijen primär auf Adriaansens, <strong>der</strong> Parsons’ handlungstheoretische<br />

Aussagen generalisierte (vgl. Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 29).<br />

28. Vgl. hierzu z.B. Hradil: Sozialstrukturelle Paradoxien und gesellschaftliche Mo<strong>der</strong>nisierung.<br />

29. Die grundlegende Argumentation f<strong>in</strong>det sich bereits <strong>in</strong> dem Aufsatz +Jenseits von Stand und Klasse?*, <strong>der</strong> 1983<br />

im Son<strong>der</strong>band 2 <strong>der</strong> +Sozialen Welt* erschienen ist.<br />

30. Durkheim illustriert se<strong>in</strong>e These anhand <strong>der</strong> Betrachtung des Charakters des Rechts <strong>in</strong> den verschiedenen<br />

Gesellschaftsstufen. In früherer Zeit herrschte e<strong>in</strong> repressives Rechtsdenken vor, das den strafenden Aspekt betonte.<br />

An die Stelle des repressiven Rechts ist jedoch e<strong>in</strong> kooperatives, restitutives Recht getreten, das den Gedanken des<br />

Schadensausgleichs und die Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung des +Übeltäters* <strong>in</strong> die Gesellschaft <strong>in</strong> den Mittelpunkt stellt. (Vgl.<br />

Über die Teilung <strong>der</strong> sozialen Arbeit; S. 111ff. u. S. 152ff.)<br />

31. Ich möchte zusätzlich auch auf Parsons’ diesbezügliche Aussagen <strong>in</strong> +Societies – Evolutionary and Comparative<br />

Perspectives* h<strong>in</strong>weisen (vgl. <strong>in</strong>sb. S. 21ff.).<br />

32. Luhmann unterscheidet noch e<strong>in</strong>e weitere Form <strong>der</strong> Differenzierung: die segmentierende Differenzierung. Sie<br />

ist die +primitivste* dieser drei und beruht auf +<strong>der</strong> Bildung gleicher E<strong>in</strong>heiten, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Familien, Geschlechter<br />

o<strong>der</strong> Wohngeme<strong>in</strong>schaften bzw. Dörfer* (Gesellschaftsstruktur und Semantik; S. 25).<br />

33. Vgl. z.B. Legitimation durch Verfahren; S. 249f.<br />

34. Vgl. hierzu z.B. die Def<strong>in</strong>ition des +sozialen Systems* <strong>in</strong> +Ökologische Kommunikation* (1990): +E<strong>in</strong> soziales System<br />

kommt zustande, wenn e<strong>in</strong> autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht […] Soziale Systeme bestehen<br />

demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, son<strong>der</strong>n aus Kommunikationen.* (S. 269) +Die Soziologie<br />

und <strong>der</strong> Mensch* (1985) stehen damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em problematischen Verhältnis.<br />

35. E<strong>in</strong>ige Schlüsseltexte zum +Diskurs des Radikalen Konstruktivismus* (1987) f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von Siegfried<br />

Schmidt herausgegebenen Sammelband. In dem Beitrag +Autonomie und Autopoiese* erläutert Francisco Varela die<br />

Zusammenhänge zwischen Autonomie und Selbst-Erzeugung. Grundsätzliche Voraussetzung für die Autonomie e<strong>in</strong>es<br />

Systems ist demnach se<strong>in</strong>e organisationelle Geschlossenheit (vgl. S. 121). Deshalb verlagert Luhmann se<strong>in</strong>e Perspektive<br />

auch von offenen zu geschlossenen Systemen. Dieser Bruch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Theorie wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sekundärliteratur mit dem<br />

Begriff +autopoietische Wende* gefaßt.<br />

36. Beispiele für neuere Bücher Luhmanns, <strong>in</strong> denen diese Auffassung zum Tragen kommt, s<strong>in</strong>d +Ökologische Kommunikation*<br />

(1990) und +Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* (1992). Aber schon <strong>in</strong> +Soziale Systeme* (1984) heißt es: +Gesellschaft<br />

ist heute e<strong>in</strong>deutig Weltgesellschaft* (S. 585), und <strong>in</strong> dem Aufsatz +Die Weltgesellschaft* (1971) wird das sich daraus<br />

ergebende Problem benannt, +daß e<strong>in</strong>e Weltgesellschaft sich konstituiert hat, ohne sich auf politische und normative<br />

Integrationen zu stützen.* (S. 66)<br />

37. Zum ersten Mal fällt <strong>der</strong> Begriff im Text auf Seite 4. Eigentlich thematisiert wird die Individualisierung als +Ausbildung<br />

<strong>der</strong> Individualität* jedoch erst <strong>in</strong> Kapitell III (S. 45ff.).<br />

38. Heute wird Vergesellschaftung – an<strong>der</strong>s als bei Simmel – als Synonym zum Sozialisationsbegriff verwendet.<br />

39. In Taylors Schrift +Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung* (1911) heißt es: +[…] die größte Prosperität<br />

ist das Resultat e<strong>in</strong>er möglichst ökonomischen Ausnutzung des Arbeiters und <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>en, d.h. Arbeiter und Masch<strong>in</strong>e<br />

müssen ihre höchste Ergiebigkeit, ihren höchsten Nutzeffekt erreicht haben* (S. 10). Um diesen höchsten Nutzeffekt<br />

zu erzielen stellt Taylor verschiedene Grundsätze <strong>der</strong> wissenschaftlichen Betriebsführung auf. Die erste lautet: +Die<br />

Leiter entwickeln e<strong>in</strong> System, e<strong>in</strong>e Wissenschaft für jedes e<strong>in</strong>zelne Arbeitselement, die an die Stelle <strong>der</strong> alten Faustregel-<br />

Methode tritt.* (Ebd.; S. 38) Wichtig ist aber auch die Motivierung <strong>der</strong> Arbeiter durch Verantwortungsteilung und<br />

kooperative Zusammenarbeit <strong>der</strong> Betriebsleitung mit ihren Untergebenen: +Arbeit und Verantwortung verteilen sich<br />

fast gleichmäßig auf Leitung und Arbeiter.* (Ebd.; S. 39) Wenn man allerd<strong>in</strong>gs die konkreten Vorschläge Taylors betrachtet,<br />

so zeigt sich, was mit dieser Veranwortungsteilung eigentlich geme<strong>in</strong>t ist: +Erstens: Man suche 10 o<strong>der</strong> 15 Leute (am<br />

besten aus ebensoviel verschiedenen Fabriken und Teilen des Landes), die <strong>in</strong> <strong>der</strong> speziellen Arbeit, die analysiert


8 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

werden soll, beson<strong>der</strong>s gewandt s<strong>in</strong>d. Zweitens: Man studiere die genaue Reihenfolge <strong>der</strong> grundlegenden Operationen,<br />

welche je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne dieser Leute immer wie<strong>der</strong> ausführt […] Drittens: Man messe mit <strong>der</strong> Stoppuhr die Zeit, welche<br />

zu je<strong>der</strong> dieser E<strong>in</strong>zeloperationen nötig ist […] Viertens: Man schalte alle falschen, zeitraubenden und nutzlosen Bewegungen<br />

aus. Fünftens: Nach Beseitigung aller unnötigen Bewegungen stelle man die schnellsten und besten Bewegungen<br />

[…] tabellarisch <strong>in</strong> Serien geordnet zusammen […] Diese beste Methode wird zur Norm und bleibt Norm, bis sie<br />

ihrerseits wie<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er schnelleren und besseren Serie von Bewegungen verdrängt wird.* (Ebd.; S. 125f.)<br />

40. In Webers Hauptwerk +Wirtschaft und Gesellschaft* (1922) heißt es: +Staat im S<strong>in</strong>ne des rationalen Staates [<strong>in</strong><br />

dem alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Kapitalismus gedeihen kann] hat es nur im Okzident gegeben […] Er beruht auf dem<br />

Fachbeamtentum und dem rationalen Recht* (S. 816).<br />

41. Neben <strong>der</strong> traditionalen und <strong>der</strong> legalen Herrschaft kennt Weber noch e<strong>in</strong>e dritte Form: die charismatische Herrschaft,<br />

die auf <strong>der</strong> Autorität <strong>der</strong> +außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe* beruht (<strong>Politik</strong> als Beruf; S. 8).<br />

42. Van <strong>der</strong> Loo und van Reijen sehen e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es als das hier formulierte Paradox als zentral für den Rationalisierungsprozeß<br />

an: nämlich die Gleichzeitigkeit von Generalisierung (des Vernunftpr<strong>in</strong>zips) und Pluralisierung (im<br />

Wertebereich). (Vgl. Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 157f.)<br />

43. Freud war aber natürlich nicht <strong>der</strong> erste Kultur-Kritiker, son<strong>der</strong>n Vorgänger waren u.a. Rousseau und Nietzsche.<br />

Rousseau wies u.a darauf h<strong>in</strong>, daß die Höflichkeit unaufhörlich zw<strong>in</strong>gt, sich an<strong>der</strong>s zu verhalten, als es die eigene<br />

E<strong>in</strong>gebung gebietet (vgl. Über Kunst und Wissenschaft; S. 11 und siehe auch Anmerkung 10). Indem <strong>der</strong> Mensch sich<br />

vergesellschaftet +und Sklave wird, wird er schwach, furchtsam, kriecherisch, und se<strong>in</strong>e weibische und weichliche<br />

Lebensweise schwächt endlich zugleich se<strong>in</strong>e Kraft und se<strong>in</strong>en Mut* (Über die Ungleichheit; S. 103). Ganz ähnlich,<br />

jedoch <strong>in</strong> Gegensatz zu Rousseau mit e<strong>in</strong>deutiger Verachtung für alles Schwache, heißt es bei Nietzsche: +Wer das<br />

Gewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen<br />

Imperativ herauszuziehen haben, den Imperativ <strong>der</strong> Herden-Furchtsamkeit* (Jenseits von Gut und Böse; S. 659). +Gewisse<br />

starke und gefährliche Triebe, wie Unternehmungslust, Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht,<br />

die bisher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>nützigen S<strong>in</strong>ne nicht nur geehrt […], son<strong>der</strong>n groß-gezogen und -gezüchtet werden mußten<br />

[…], werden nunmehr <strong>in</strong> ihrer Gefährlichkeit doppelt stark empfunden […] und schrittweise, als unmoralisch, gebrandmarkt<br />

und <strong>der</strong> Verleumdung preisgegeben […] das Mittelmaß <strong>der</strong> Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren.*<br />

(Ebd.; S. 657f.) Aber: +Die Krankhaften s<strong>in</strong>d des Menschen große Gefahr: nicht die Bösen, nicht die ›Raubtiere‹* (Zur<br />

Genealogie <strong>der</strong> Moral; S. 863).<br />

44. Explizit differenziert Freud erstmals zwischen libid<strong>in</strong>ösen und Aggressionstrieben <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Jenseits des<br />

Lustpr<strong>in</strong>zips* (1920). Vorher hatte Freud alles psychische Geschehen auf das grundlegende Pr<strong>in</strong>zip des Eros zurückgeführt,<br />

<strong>der</strong> beides, den Selbsterhaltungs- und den Arterhaltungstrieb, be<strong>in</strong>halte.<br />

45. Elias weist ganz zu Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>es zweibändigen Werks darauf h<strong>in</strong>, daß <strong>der</strong> Zivilisationsbegriff im Deutschen e<strong>in</strong>en<br />

e<strong>in</strong>geschränkten Inhalt hat, bloß auf die äußere, oberflächliche Seite <strong>der</strong> Kultur bezogen wird. Im Gegensatz dazu<br />

umfassen die Begriffe +civilisation* und +civilité* <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> bzw. <strong>der</strong> Franzosen das gesamte Spektrum <strong>der</strong> kulturellen<br />

Entwicklung. Diesem umfassenden Zivilisationsbegriff schließt sich Elias an. Angemessen gewürdigt wurde Elias’ Arbeit<br />

übrigens erst lange Zeit nach ihrer Abfassung. Erst dreißig Jahre nach <strong>der</strong> ersten, selbstf<strong>in</strong>anzierten Drucklegung 1937<br />

(Band 1) bzw. 1939 (beide Bände) kam es zur Neuauflage des heutigen Standardwerks.<br />

46. Elias betont allerd<strong>in</strong>gs, daß bisweilen die imitierenden aufsteigenden Schichten die von oben übernommenen<br />

Normen viel strenger und rigi<strong>der</strong> verteidigen – eben weil sie bei ihnen noch nicht so weit gefestigt s<strong>in</strong>d (vgl. Über<br />

den Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation; Band 2, S. 425f.).<br />

47. Foucault selbst nennt se<strong>in</strong>en Ansatz <strong>in</strong> Anlehnung an Nietzsche +genealogisch* (siehe auch S. XLVII).<br />

48. Es gilt allerd<strong>in</strong>gs zu beachten, daß Foucaults Machtbegriff nicht per se negativ konnotiert ist. Das hat auch damit<br />

zu tun, daß er – an<strong>der</strong>s als se<strong>in</strong> +Mentor* Althusser – Macht weniger <strong>in</strong> sozialen Makrostrukturen wie den +Klassenverhältnissen*<br />

manifestiert sah. Vielmehr rückte Foucault die +Mikrophysik* <strong>der</strong> Macht, ihr wirken <strong>in</strong> den alltäglichen<br />

Beziehungen <strong>in</strong>s Zentrum <strong>der</strong> Analyse, und konnte so auch zu e<strong>in</strong>er +positiveren* Bestimmung <strong>der</strong> Macht kommen.<br />

In e<strong>in</strong>em Interview aus dem Jahr 1977 erläutert er: +Wenn sie nur repressiv wäre, […] glauben Sie dann wirklich,<br />

daß man ihr gehorchen würde? Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz e<strong>in</strong>fach<br />

dar<strong>in</strong>, daß sie nicht nur als ne<strong>in</strong>sagende Gewalt auf uns lastet, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> Wirklichkeit die Körper durchdr<strong>in</strong>gt […]


A: ANMERKUNGEN 9<br />

Lust verursacht, Wissen hervorbr<strong>in</strong>gt, Diskurse produziert […] und nicht so sehr als e<strong>in</strong>e negative Instanz, <strong>der</strong>en Funktion<br />

<strong>in</strong> Unterdrückung besteht.* (Wahrheit und Macht; S. 35) Das ist e<strong>in</strong>e Auffassung, die auch <strong>in</strong> +Überwachen und Strafen*<br />

(1975) an e<strong>in</strong>er Stelle im Text dargelegt wird. Dort heißt es parallel: +Man muß aufhören, die Wirkungen <strong>der</strong> Macht<br />

immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ›ausschließen‹, ›unterdrücken‹, ›verdrängen‹, ›zensieren‹, ›abstrahieren‹,<br />

›maskieren‹, ›verschleiern‹ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches.* (S. 250)<br />

An<strong>der</strong>erseits zeigt die Art und Weise, wie Foucault <strong>in</strong> diesem Werk die Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mikrophysik <strong>der</strong> Macht<br />

analysiert, daß er latent doch noch immer e<strong>in</strong>en +negativen* Machtbegriff zugrunde legt. Dies beweisen me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />

nach auch die im folgenden zitierten Textstellen.<br />

49. Hier zeigt sich e<strong>in</strong>e deutliche Parallele zu Durkheims Werk +Über die Teilung <strong>der</strong> sozialen Arbeit*. Schließlich<br />

hatte dieser se<strong>in</strong>e Thesen am Beispiel des Wandels des Rechtscharakters belegt (siehe hierzu auch Anmerkung 30).<br />

Und ähnlich wie Durkheim zwischen repressivem und restitutivem Recht unterscheidet, so differenziert Foucault<br />

zwischen <strong>der</strong> alten Form <strong>der</strong> offen gewaltsamen souveränen Macht <strong>der</strong> Herrscher und <strong>der</strong> neuen Form <strong>der</strong> produktiven<br />

Macht, die Integration zum Ziel hat.<br />

50. Am klarsten herausgearbeitet ist dies me<strong>in</strong>es Erachtens <strong>in</strong> Horkheimers Aufastz +Traditionelle und kritische Theorie*<br />

(1937).<br />

51. Ausführlich legt Plessner se<strong>in</strong>e +philosophische Anthropologie* <strong>in</strong> dem Band +Die Stufen des Organischen* (1928)<br />

dar.<br />

52. Gehlen beschreibt e<strong>in</strong>e ganze Reihe von negativen Auswirkungen des technischen Zeitalters auf das Individuum,<br />

wie z.B. Ents<strong>in</strong>nlichung und Erfahrungsverlust. Mit diesen z.T. recht kritischen Äußerungen schließt Gehlen an die<br />

Gedanken Elluls an (vgl. The Technological Society).<br />

53. Zapf nennt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Eröffnungsreferat über +Mo<strong>der</strong>nisierung und Mo<strong>der</strong>nisierungstheorien* zum Soziologentag<br />

1990 allerd<strong>in</strong>gs auch vier nicht zu vernachlässigende Argumente, die gegen das Modell <strong>der</strong> weitergehenden Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

sprechen: 1. verweist die Tatsache <strong>der</strong> Exklusion auf die +sozialen Grenzen des Wachstums*, 2. kann es durch<br />

e<strong>in</strong>schneidende Än<strong>der</strong>ungen im sozialen System zu e<strong>in</strong>em epochalen Bruch kommen, 3. ist es möglich, daß im Zuge<br />

<strong>der</strong> Individualisierung e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionelle Erosion stattf<strong>in</strong>det und 4. verbieten es die aktuellen Weltprobleme, daß die<br />

mo<strong>der</strong>nen westlichen Gesellschaften auf ihrem e<strong>in</strong>geschlagenen Weg weitergehen (vgl. S. 36). E<strong>in</strong>en Ausweg aus<br />

den Dilemmata <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne sieht Zapf aber trotzdem nur <strong>in</strong> weitergehen<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung und nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

+Umkehr* (vgl. ebd.; S. 37).<br />

54. Wie <strong>in</strong> (fast) je<strong>der</strong> +Familie*, war auch hier die +Pubertätsphase*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Habermas e<strong>in</strong>e immer eigenständigere<br />

Position erarbeitete, e<strong>in</strong>e Phase <strong>der</strong> Belastung <strong>der</strong> bis dah<strong>in</strong> <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zu Adorno <strong>in</strong>tensiven Beziehung. E<strong>in</strong> Dissens<br />

mit Horkheimer führte sogar dazu, daß Habermas sich schließlich nicht <strong>in</strong> Frankfurt, son<strong>der</strong>n bei Wolfgang Abendroth<br />

<strong>in</strong> Marburg habilitierte (vgl. Wiggershaus: Frankfurter Schule; S. 597–628). Trotzdem blieb er – <strong>in</strong> gewissen Grenzen<br />

– dem Denken <strong>der</strong> klassischen Frankfurter Schule verbunden.<br />

55. Zapf geht von drei unerläßlichen Grund<strong>in</strong>stitutionen mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften aus: +Konkurrenzdemokratie,<br />

Marktwirtschaft und Wohlfahrtsgesellschaft mit Massenkonsum und Wohlfahrtsstaat* (Entwicklung und Sozialstruktur<br />

mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften; S. 185 und siehe hierzu auch S. 49).<br />

56. Habermas referiert hier auf das Thema bezogen se<strong>in</strong>e +Theorie des kommunikativen Handelns* (1981).<br />

57. Popper versteht allerd<strong>in</strong>gs unter e<strong>in</strong>er +offenen* Gesellschaft vor allem e<strong>in</strong>e kritikoffene Gesellschaft. In se<strong>in</strong>em<br />

Buch +The Open Society and its Enemies* (1945) schreibt er dazu: +This book […] attempts to show that this civilization<br />

has not yet fully recovered the shock of its birth – the transition from the tribal or ›closed society‹, with its submission<br />

to magical forces, to the ›open society‹ which sets free the critical powers of man.* (S. 3) Eher auf die hier von mir<br />

hervorgehobene Zunahme von Handlungsalternativen (Optionen) heben dagegen Ralph Dahrendorf (vgl. z.B.<br />

Lebenschancen) o<strong>der</strong> auch Peter Gross mit se<strong>in</strong>em Konzept <strong>der</strong> +Multioptionsgesellschaft* (1994) ab.<br />

58. Mit Bezugnahme auf Parsons’ Alter-Ego-Konzeption (vgl. Toward a General Theory of Action; S.14ff.) spricht Luhmann<br />

von doppelter Kont<strong>in</strong>genz – <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz des Systems, das verschiedene Zustände annehmen kann, und <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz<br />

<strong>der</strong> Beobachterperspektive. Denn die psychischen Systeme, also Menschen, können jeden dieser verschiedenen Zustände<br />

wie<strong>der</strong>um unterschiedlich <strong>in</strong>terpretieren (vgl. Soziale Systeme; S. 148ff.).


10 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

59. Das erste Kapitel, aus dem hier zitiert wurde, stellt e<strong>in</strong>e nur leicht überarbeitete Fassung des Vortrags Luhmanns<br />

vom Soziologentag 1990 über +Das Mo<strong>der</strong>ne <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft* dar.<br />

60. Luhmann sche<strong>in</strong>t hier übrigens zu übersehen, daß Marx’ ursprüngliche Argumentation se<strong>in</strong>er eigenen gar nicht<br />

so unähnlich ist. Marx ignoriert natürlich ke<strong>in</strong>eswegs, daß gerade die Entfremdung e<strong>in</strong>en +positiven* Effekt für die<br />

Entwicklung des Bewußtse<strong>in</strong>s über die eigene Lage hat – man vergleiche z.B. nur die zitierten Passagen aus dem +Manifest<br />

<strong>der</strong> kommunistischen Partei* (siehe S. XIX) – und <strong>in</strong>soweit <strong>der</strong> Emanzipation för<strong>der</strong>lich ist. Grundsätzlich wertet Marx<br />

Entfremdung jedoch im Gegensatz zu Luhmann e<strong>in</strong>deutig negativ, und Ziel se<strong>in</strong>er +Gesellschaftsutopie* ist deshalb<br />

gerade die Aufhebung von Entfremdung. Es ist übrigens Arnold Gehlen, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en +Studien Anthropologie<br />

und Soziologie* (1963) <strong>in</strong> ganz ähnlicher Weise wie Luhmann +Über die Geburt <strong>der</strong> Freiheit aus <strong>der</strong> Entfremdung*<br />

äußert – ohne von diesem allerd<strong>in</strong>gs zitiert zu werden. Gehlen me<strong>in</strong>t, daß die Zeit abgelaufen sei, +<strong>in</strong> <strong>der</strong> die Freiheit<br />

sich noch enthusiastisch realisieren wollte* (S. 243). +Heute sche<strong>in</strong>t dieses Bedürfnis [sich dem Joch <strong>der</strong> Umstände<br />

zu entziehen] fast eher <strong>in</strong> Mechanismen zu denken, es bemüht nicht mehr das alte Zauberwort <strong>der</strong> Freiheit, es denkt<br />

<strong>in</strong> Plänen.* (Ebd.; S. 246). Denn +<strong>der</strong> [heutige] Mensch kann zu sich und se<strong>in</strong>esgleichen e<strong>in</strong> dauerndes Verhältnis<br />

nur <strong>in</strong>direkt festhalten, er muß sich auf e<strong>in</strong>em Umwege, sich entäußernd, wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>den, und da liegen die [sozialen]<br />

Institutionen* (ebd.; S. 245).<br />

61. Im Gegensatz zum Begriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*, ist <strong>der</strong> Begriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus* ke<strong>in</strong> historischer Epochenbegriff,<br />

son<strong>der</strong>n bezieht sich auf die <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Epoche spezifische Kulturbewegung. Zusätzlich kann man den Begriff<br />

<strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nität* abgrenzen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en bestimmten – wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne entsprechenden<br />

– soziologischen, ökonomischen, kulturellen o<strong>der</strong> kognitiven Zustand me<strong>in</strong>t (vgl. hierzu auch Featherstone: In Pursuit<br />

of the <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n sowie Hudson: Zur Frage postmo<strong>der</strong>ner Philosophie; S. 123f.).<br />

62. Luhmann geht natürlich, da er mo<strong>der</strong>ne Gesellschaften als re<strong>in</strong> funktional differenziert betrachtet (siehe S. XXV),<br />

nicht mehr von <strong>der</strong> Schichtungsgesellschaft als Modell aus, doch verbleibt auch se<strong>in</strong>e Perspektive im Horizont <strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne, wie e<strong>in</strong> Blick auf das unten zitierte dritte Merkmal e<strong>in</strong>facher Mo<strong>der</strong>nisierungstheorien zeigt.<br />

63. Ich würde hier abweichend vorschlagen, besser von e<strong>in</strong>em Fortschrittsmodell zu sprechen, das entwe<strong>der</strong> auf<br />

Fortschritt durch evolutionären o<strong>der</strong> revolutionären Wandel beruht.<br />

64. Alle diese hier genannten Transformationsprozesse werden im zweiten Kapitel noch genauer thematisiert werden.<br />

65. Was damit geme<strong>in</strong>t ist, wird im Verlauf des zweiten Kapitels hoffentlich ebenfalls deutlich werden. Spätestens<br />

im fünften Kapitel werde ich mich aber explizit mit <strong>der</strong> problematischen (von Reflexivität gespeisten) Dialektik von<br />

Reflexion und Deflexion ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen.<br />

66. Ich werde mich allerd<strong>in</strong>gs, aus pragmatischen Gründen, zumeist auf das Beispiel <strong>der</strong> Bundesrepublik konzentrieren.<br />

67. Vgl. Welsch: Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 9–43 sowie Köhler: ›<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus‹ – E<strong>in</strong> begriffsgeschichtlicher<br />

Überblick.<br />

68. Auf dieser Seite f<strong>in</strong>den sich auch die zitierten Stellen – es ist allerd<strong>in</strong>gs zu beachten, daß ich (da sie mir nicht<br />

zugänglich war) nicht die Orig<strong>in</strong>al-Ausgabe benutzt habe, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e (nicht Seiten-identische) Neuauflage aus dem<br />

Jahr 1947.<br />

69. So die Übersetzung <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Ausgabe.<br />

70. Köhler und (<strong>in</strong> Anlehnung an ihn) Welsch behaupten, Toynbee hätte als Kennzeichen <strong>der</strong> aktuellen, d.h. +nachneuzeitlichen*<br />

bzw. +postmo<strong>der</strong>nen* Epoche den +Übergang <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> von nationalstaatlichem Denken zu globaler<br />

Interaktion* gesehen (Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 14), was jedoch so nicht korrekt ist – vor allem, wenn man<br />

die späteren Teile se<strong>in</strong>es umfangreichen Werks als Beleg heranzieht. Zwar heißt es bei Toynbee: +Der Industrialismus<br />

ist wie die Demokratie eigentlich kosmopolitisch* (Der Gang <strong>der</strong> Weltgeschichte; Band 1, S. 383). Doch +um die sechziger<br />

und siebziger Jahre des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts* (ebd.; S. 384), also gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wendezeit zur Nach-Neuzeit bzw.<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, +än<strong>der</strong>ten Industrialismus und Demokratie ihre <strong>Politik</strong> und arbeiteten <strong>in</strong> entgegengesetzter Richtung*<br />

(ebd.). Die Ursache für diese Wende sieht er im Zusammenhang zwischen dem nationalen Territorial- und dem Handels<strong>in</strong>teresse<br />

(vgl. ebd.; S. 385). E<strong>in</strong>ziger Ausweg aus <strong>der</strong> Sackgasse des Nationalismus und Militarismus ist für den +christlichen


A: ANMERKUNGEN 11<br />

Geschichtsphilosophen* Toynbee <strong>in</strong> be<strong>in</strong>ahe rühren<strong>der</strong> Naivität das Vertrauen auf das liebende Gesetz Gottes und<br />

die umgekehrte Liebe <strong>der</strong> Menschen zu Gott: +Das ›vollkommene Gesetz <strong>der</strong> Freiheit‹, wie es im Briefe des heiligen<br />

Jakobus heißt, ist auch e<strong>in</strong> Gesetz <strong>der</strong> Liebe; denn des Menschen Freiheit könnte dem Menschen nur gegeben worden<br />

se<strong>in</strong> von e<strong>in</strong>em Gott, <strong>der</strong> die Liebe <strong>in</strong> Person ist, und diese göttliche Gabe kann vom Menschen benutzt werden,<br />

um frei das Leben und Gott zu wählen anstatt Tod und Übel, nur wenn <strong>der</strong> Mensch se<strong>in</strong>erseits Gott heiß genug liebt,<br />

um, von dieser antwortenden Liebe bewegt, sich auf Gott festzulegen und den Willen Gottes zu se<strong>in</strong>em eigenen<br />

zu machen.* (Ebd.; Band 2, S. 381)<br />

71. E<strong>in</strong>e deutsche Übersetzung des Aufsatzes von Fiedler, <strong>der</strong> bezeichnen<strong>der</strong>weise ursprünglich im +Playboy* erschien,<br />

f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong>: Welsch: Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – Schlüsseltexte <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskussion; S. 57–74.<br />

72. Hier beziehe ich mich nicht auf Welsch o<strong>der</strong> Köhler, die (unverständlicherweise) nicht auf die Pop Art e<strong>in</strong>gehen.<br />

73. Lou Reed schrieb z.B. die Musik zu Robert Wilsons Stück +Time Rocker*, das im Juni 1996 im Hamburger Thalia-<br />

Theater uraufgeführt wurde, und John Cale hat, um e<strong>in</strong> Beispiel für se<strong>in</strong>e +Grenzgänge* zu nennen, Gedichte des<br />

irischen Dichters Dylan Thomas für Orchester vertont.<br />

74. Hier zeigen sich ganz beson<strong>der</strong>s die Bezüge <strong>der</strong> Pop Art zum Dadaismus e<strong>in</strong>es Duchamp: Mittels sog. +readymades*<br />

bzw. +objets trouvés* versuchte er die Kunst ab absurdum zu führen und erklärte Objekte wie Flaschentrockner o<strong>der</strong><br />

Ur<strong>in</strong>oirs zu Kunstwerken (vgl. z.B. Klotz: Kunst im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 34).<br />

75. Ich habe hier Stellen ausgewählt, die auch Welsch zitiert.<br />

76. Er tat dies etwa zeitgleich mit Robert Stern, <strong>der</strong> drei Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nen Architektur beschreibt:<br />

Kontextualismus, Anspielung und Ornamentalismus (vgl. New Directions <strong>in</strong> American Architecture; S. 127–132).<br />

77. Klotz nennt <strong>in</strong>sgesamt acht Merkmale (vgl. Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 108f.), von denen ich hier jedoch nur<br />

die mir zentral und aussagekräftig ersche<strong>in</strong>enden herausgegriffen habe und die von mir zudem leicht umformuliert<br />

und gekürzt, <strong>in</strong> Teilen aber auch erweitert wurden. So bezieht sich <strong>der</strong> letzte Punkt eher auf die Ausführungen Robert<br />

Venturis (vgl. Komplexität und Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Architektur).<br />

78. Ähnliches gilt für Thomas Kuhn, <strong>der</strong> wissenschaftlichen +Fortschritt*, nicht, wie im +Kritischen Rationalismus*<br />

behauptet, durch beständige Evolution gewährleistet sieht, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> diskont<strong>in</strong>uierliches Bild <strong>der</strong> Wissenschaftsentwicklung<br />

zeichnet, die für ihn durch abrupte, revolutionäre +Paradigmenwechel* gekennzeichnet ist, wobei auch<br />

Machtfragen darüber entscheiden, welches neue Wissenschaftsparadigma sich letztendlich durchsetzt (vgl. The Structure<br />

of Scientific Revolutions; <strong>in</strong>sb. S. 160–173).<br />

79. Lakatos hat sich mit dem +Kritischen Rationalismus* Poppers ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt (vgl. Logik <strong>der</strong> Forschung sowie<br />

Anmerkung 82) und aufgezeigt, daß auch diese +raff<strong>in</strong>ierte* Variante des Falsifikationismus problematisch ist, <strong>in</strong>dem<br />

sie implizit von <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>uität wissenschaftlichen Fortschritts durch stufenweise falsifizierte Theorien ausgeht. Zudem<br />

schlägt er vor, an falsifizierten Thesen und Theorien festzuhalten, solange ke<strong>in</strong>e erklärungsmächtigeren gefunden wurden.<br />

(Vgl. Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme)<br />

80. Feyerabends Konzept er<strong>in</strong>nert hier an Nietzsches Plädoyer für e<strong>in</strong>e +Fröhliche Wissenschaft*, <strong>der</strong>en Ziel es ist,<br />

+dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu verschaffen* (S. 45).<br />

81. Feyerabend zitiert an dieser Stelle François Jacob.<br />

82. In diesem Punkt gleicht Feyerabends Position <strong>der</strong> Position <strong>der</strong> Kritischen Theorie (vgl. z.B. Adorno: Soziologie<br />

und empirische Forschung). Se<strong>in</strong> ursprünglicher Bezugspunkt ist jedoch e<strong>in</strong> radikalisierter +Kritischer Rationalismus*.<br />

Dessen Programm hat Karl Raimund Popper <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Logik <strong>der</strong> Forschung* (1934) formuliert: Dort versucht<br />

er aufzuweisen, daß sich wissenschaftliche Aussagen nie positiv beweisen (also verifizieren) lassen, son<strong>der</strong>n nur falsifiziert<br />

werden können. Deshalb ist wissenschaftlicher Fortschritt nur als e<strong>in</strong>e Evolution durch Falsifikation denkbar. (Vgl.<br />

dort <strong>in</strong>sb. S. 2–21)


12 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

83. E<strong>in</strong>en relativ vollständigen Überblick über die philosophische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne gibt neben Welsch z.B. Urs Fazis <strong>in</strong>:<br />

›Theorie‹ und ›Ideologie‹ <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Zur +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* allgeme<strong>in</strong>, also auch die Literatur- und Architektur-Debatte<br />

etc. mit e<strong>in</strong>beziehend, allerd<strong>in</strong>gs aus religiös gefärbter Perspektive, können die Ausführungen Hans Joachim Türk<br />

(1990) herangezogen werden.<br />

84. Huyssen sieht übrigens e<strong>in</strong>e größere Nähe des <strong>Post</strong>strukturalismus zum Mo<strong>der</strong>nismus als zum <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus:<br />

+Demgegenüber mache ich geltend, daß <strong>der</strong> <strong>Post</strong>strukturalismus <strong>in</strong> Frankreich wie <strong>in</strong> Amerika dem Mo<strong>der</strong>nismus<br />

sehr viel näher steht, als es die Apologeten e<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nistischen Avantgarde [!] wahrhaben wollen […] Anstatt<br />

uns e<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zu bieten […] konzentriert sich <strong>der</strong> <strong>Post</strong>strukturalismus meist auf e<strong>in</strong>e Archäologie<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und liefert e<strong>in</strong>e Theorie des Mo<strong>der</strong>nismus im Stadium se<strong>in</strong>er Erschöpfung.* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong>e amerikanische<br />

Internationale?; S. 31ff.)<br />

85. Später hat sich Foucault allerd<strong>in</strong>gs recht kritisch gegenüber se<strong>in</strong>en Frühwerken, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e +Wahns<strong>in</strong>n und<br />

Gesellschaft*, geäußert (vgl. z.B. das Vorwort zur Archäologie des Wissens; S. 29).<br />

86. In e<strong>in</strong>em bereits an an<strong>der</strong>er Stelle zitierten Interview stellt Foucault klar, was genau mit dem Begriff <strong>der</strong> Diskont<strong>in</strong>uität<br />

von ihm geme<strong>in</strong>t ist: +[…] In e<strong>in</strong>er eben herausgekommenen Ausgabe des ›Petit Larousse* heißt es: ›Foucault: Philosoph,<br />

<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Geschichtsphilosophie auf die Diskont<strong>in</strong>uität gründete.‹ Das verblüfft mich e<strong>in</strong>fach. Wahrsche<strong>in</strong>lich habe<br />

ich mich <strong>in</strong> ›Die Ordnung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge‹ nicht h<strong>in</strong>reichend erklärt […] Mir sche<strong>in</strong>t, daß <strong>in</strong> bestimmten Formen des Wissens<br />

[…] <strong>der</strong> Rhythmus <strong>der</strong> Transformation nicht den allgeme<strong>in</strong> anerkannten, dehnbaren und kont<strong>in</strong>uitätsfixierten<br />

Entwicklungsschemata gehorchte […] In e<strong>in</strong>er Wissenschaft wie <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> zum Beispiel gibt es bis zum Ende des<br />

18. Jahrhun<strong>der</strong>ts e<strong>in</strong>en bestimmten Typ von Diskursen, <strong>der</strong>en langsame Transformation <strong>in</strong>nerhalb von 25–30 Jahren<br />

nicht nur mit den ›wahren‹ Sätzen gebrochen haben, die bis dah<strong>in</strong> formuliert werden konnten, son<strong>der</strong>n viel tiefgreifen<strong>der</strong><br />

mit den Redeweisen, den Sichtweisen, mit dem ganzen Ensemble von Praktiken, die <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> als Stütze dienten;<br />

es handelt sich nicht e<strong>in</strong>fach um neue Entdeckungen: es geht um e<strong>in</strong>e neue Ordnung des Diskurses und des Wissens<br />

[…] Me<strong>in</strong> Problem war ke<strong>in</strong>eswegs zu sagen: nun gut, wir bef<strong>in</strong>den uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diskont<strong>in</strong>uität, bleiben wir dort, son<strong>der</strong>n<br />

die Frage zu stellen: wie konnte es geschehen, daß es <strong>in</strong> bestimmten Augenblicken und <strong>in</strong> bestimmten Ordnungen<br />

des Wissens zu diesen plötzlichen Brüchen […] kam […]* (Wahrheit und Macht; S. 25)<br />

87. Foucault erläutert hier, daß <strong>der</strong> Diskurs e<strong>in</strong> System <strong>der</strong> Ausschließung, E<strong>in</strong>schränkung und Aneignung darstellt,<br />

<strong>in</strong> ihm also (soziale) Macht zum Ausdruck kommt. Dem stellt Foucault e<strong>in</strong> kritisches Projekt gegenüber, das (ergänzt<br />

durch e<strong>in</strong>e Genealogie) versucht, +die Formen <strong>der</strong> Ausschließung, <strong>der</strong> E<strong>in</strong>schränkung, <strong>der</strong> Aneignung […] zu erfassen;<br />

es soll gezeigt werden, wie sie sich gebildet haben, um bestimmten Bedürfnissen zu entsprechen, wie sie sich verän<strong>der</strong>t<br />

und verschoben haben, welchen Zwang sie tatsächlich ausgeübt haben, <strong>in</strong>wieweit sie abgewendet worden s<strong>in</strong>d*<br />

(Die Ordnung des Diskurses; S. 41).<br />

88. Es gilt zu beachten, daß die zitierten Texte eigentlich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en so e<strong>in</strong>deutigen Bezug zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gebracht<br />

werden können, wie dies hier aus +praktischen* Gründen suggeriert wurde. Denn Gilles Deleuze ist <strong>der</strong> Auffassung,<br />

daß sich im Werk Foucaults (chronologisch) drei zentrale Themenschwerpunte unterscheiden lassen (die jeweils auch<br />

mit theoretischen Versche<strong>in</strong>ungen e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>gen): Wissen, Macht und das Selbst (vgl. Foucault). Diese Auffassung<br />

wird durch Foucaults eigene Aussagen gestützt. So bemerkt er <strong>in</strong> im zweiten Band von +Sexualität und Wahrheit*:<br />

+Nach dem Studium <strong>der</strong> Wahrheitsspiele <strong>in</strong> ihrem Verhältnis zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> […] und nach dem Studium <strong>der</strong> Wahrheitsmechanismen<br />

im Verhältnis zu den Machtbeziehungen […] schien sich mir e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Arbeit aufzudrängen: das<br />

Studium <strong>der</strong> Wahrheitsspiele im Verhältnis se<strong>in</strong>er selber zu sich und <strong>der</strong> Konstitution se<strong>in</strong>er selber als Subjekt […]*<br />

(Der Gebrauch <strong>der</strong> Lüste; S. 72f.). Letzteres ist allerd<strong>in</strong>gs für Foucault nichts weiter als e<strong>in</strong> Effekt und Objekt von Wissen<br />

und Macht (vgl. Überwachen und Strafen; S. 247) und stellt somit e<strong>in</strong>e bloße +Falte im Außen* dar (so zum<strong>in</strong>dest<br />

die Interpretation von Deleuze: Foucault; S. 131–172). An<strong>der</strong>erseits hat Foucault diese Dekonstruktion des Subjekts<br />

vor allem im dritten Band se<strong>in</strong>er historischen Betrachtung <strong>der</strong> menschlichen Sexualpraktiken wie<strong>der</strong> etwas zurückgenommen,<br />

denn er schil<strong>der</strong>t hier die um Selbstdiszipl<strong>in</strong> kreisenden spätantiken Vorstellungen über Sexualität. Diese<br />

spiegeln nur vor<strong>der</strong>gründig e<strong>in</strong>e im Vergleich zur klassischen Antike verschärfte Sexualmoral wie<strong>der</strong>, denn die gefor<strong>der</strong>te<br />

sexuelleZurückhaltung entspr<strong>in</strong>gtwenigergesellschaftlichen Anfor<strong>der</strong>ungen, son<strong>der</strong>nprimäre<strong>in</strong>er (durchaus berechtigten)<br />

+Sorge um sich* (1984), wobei die sexuelle Vere<strong>in</strong>igung als Bedrohung <strong>der</strong> Autonomie des Selbst wahrgenommen<br />

wird, das nach <strong>in</strong>dividueller Vervollkommnung strebt. Die sexuelle Askese (spätantiker Prägung) stellt demnach e<strong>in</strong>e<br />

jener Technologien des Selbst dar, +die es dem E<strong>in</strong>zelnen ermöglichen, aus eigener Kraft o<strong>der</strong> mit Hilfe an<strong>der</strong>er e<strong>in</strong>e<br />

Reihe von Operationen an se<strong>in</strong>em Körper o<strong>der</strong> se<strong>in</strong>er Seele, se<strong>in</strong>em Denken, se<strong>in</strong>em Verhalten und se<strong>in</strong>er Existenzweise<br />

vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verän<strong>der</strong>n, daß er e<strong>in</strong>em gewissen Zustand des Glücks, <strong>der</strong> Re<strong>in</strong>heit, <strong>der</strong> Weisheit,<br />

<strong>der</strong> Vollkommenheit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Unsterblichkeit erlangt* (Technologien des Selbst; S. 26).


A: ANMERKUNGEN 13<br />

89. Ähnliches gilt auch für Gilles Deleuze, doch ist zweifellos Derrida <strong>der</strong> bedeuten<strong>der</strong>e Denker – und hier lei<strong>der</strong><br />

auch nicht <strong>der</strong> Raum für e<strong>in</strong>e wirklich umfassende Darstellung <strong>der</strong> philosophischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne.<br />

90. Die Philosophie Derridas läßt sich <strong>in</strong>sgesamt gesehen als e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges, großes dekonstruktivistisches +Projekt* lesen.<br />

Und das Lesen <strong>der</strong> Philosophie als Text (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em verallgeme<strong>in</strong>erten S<strong>in</strong>n) ist dabei selbst Kernverfahren <strong>der</strong> Dekonstruktion.<br />

Dekonstruktion setzt nämlich gemäß Derrida bei Sprache an: +Ich habe irgendwo im Scherz gesagt, daß die beste<br />

Def<strong>in</strong>ition, die ich <strong>der</strong> Dekonstruktion geben könnte, die wäre, daß sie m<strong>in</strong>destens voraussetzt […], daß es Sprachen<br />

gibt.* (Gespräch Peter Engelmann‹s mit Derrida, zitiert nach Engelmann: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Dekonstruktion; S. 25)<br />

91. Derrida verdeutlicht dies am Beispiel <strong>der</strong> detaillierten Analyse e<strong>in</strong>er Passage aus den +Meditationes*, wo sich Descartes<br />

über Traum und Irrtum äußert. In e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung, d.h. auf e<strong>in</strong>e Erkenntnis <strong>der</strong> Potentiale des das Ich (und<br />

se<strong>in</strong>e Zwänge) verne<strong>in</strong>enden (Schizo-)Wahns<strong>in</strong>ns, zielt auch <strong>der</strong> +Anti-Ödipus* (1972) von Gilles Deleuze und Félix<br />

Guattari.<br />

92. In se<strong>in</strong>er +Devise* heißt es. +Im geduldigen Nachdenken und <strong>in</strong> <strong>der</strong> strengen Erforschung des Bereichs, <strong>der</strong> sich<br />

vorläufig noch Schrift nennt […] äußert sich vielleicht die Irre (errance) e<strong>in</strong>es Denkens, das treu und aufmerksam<br />

auf e<strong>in</strong>e unaufhaltsam kommende Welt gerichtet ist […]* (Grammatologie; S. 15).<br />

93. Zum Begriff <strong>der</strong> Differenz bei Derrida vgl. auch se<strong>in</strong> Essay +Die différance*. Diese ist im Unterschied zur différence<br />

nicht e<strong>in</strong>fach <strong>der</strong> Unterschied und die Abweichung, son<strong>der</strong>n die +différance ist […], was die Gegenwärtigung des<br />

gegenwärtig Seienden ermöglicht* auch wenn +sie sich nie als solche* gegenwärtigt (S. 80). Sie hat auch +we<strong>der</strong> Existenz<br />

noch Wesen* (ebd.) und ist +we<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Wort noch e<strong>in</strong> Begriff* (ebd.; S. 82). Was allerd<strong>in</strong>gs dieser mysteriöse Begriff<br />

konkret ausdrücken soll, bleibt (bewußt) schleierhaft.<br />

94. Mit dem Begriff des +Sprachspiels* bezieht er sich auf Wittgenste<strong>in</strong> (vgl. Philosophische Untersuchungen; S. 16f.).<br />

95. Der französische Orig<strong>in</strong>altitel von +Das postmo<strong>der</strong>ne Wissen* lautet +La condition postmo<strong>der</strong>ne*. Geme<strong>in</strong>t ist also<br />

nicht alle<strong>in</strong>e das Wissen (wenn es auch e<strong>in</strong>e zentrale Rolle <strong>in</strong> Lyotards Buch spielt), son<strong>der</strong>n die Bed<strong>in</strong>gungen, Verhältnisse,<br />

sprich: Die Verfassung <strong>der</strong> +postmo<strong>der</strong>nen* Gesellschaft <strong>in</strong>sgesamt.<br />

96. Das Buch wird im Vorwort als +Gelegenheitsarbeit* Lyotards charakterisiert, <strong>der</strong> sich hier auf die amerikanische<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Debatte bezieht. Im Auftrag <strong>der</strong> Regierung von Quebec sollte Lyotard e<strong>in</strong>en Bericht über das +Wissen<br />

<strong>in</strong> den höchstentwickelten Gesellschaften* erarbeiten.<br />

97. Die Ergänzungen <strong>in</strong> Klammer wurden <strong>in</strong> Anlehnung an Welsch h<strong>in</strong>zugefügt (vgl. Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne;<br />

S. 32).<br />

98. Dieser Text Lyotards ist se<strong>in</strong>e Reaktion auf die Adorno-Preis-Rede von Habermas, <strong>in</strong> <strong>der</strong> dieser die postmo<strong>der</strong>ne<br />

Philosophie als neokonservativ e<strong>in</strong>stuft (siehe S. XL).<br />

99. Wer an dieser Stelle e<strong>in</strong>e Beschäftigung mit dem philosophischen Hauptwerk Lyotards +Der Wi<strong>der</strong>streit* erwartete,<br />

den möchte ich auf den Abschnitt 1.5 vertrösten, wo es um den Horizont e<strong>in</strong>es postmo<strong>der</strong>nen Verständnisses von<br />

<strong>Politik</strong> gehen wird.<br />

100. Zum E<strong>in</strong>fluß Nietzsches auf das postmo<strong>der</strong>ne Denken vgl. z.B. Manschot: Nietzsche und die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Philosophie.<br />

Beson<strong>der</strong>s Heideggers Rolle wird dagegen bei Küchler (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Gam<strong>in</strong>g – Heidegger, Duchamp, Derrida) herausgearbeitet.<br />

101. Vattimo rezipiert – was ihm bewußt ist – Nietzsche und Heidegger allerd<strong>in</strong>gs durchaus selektiv.<br />

102. Er entlehnt diesen Begriff von Heidegger, weist aber darauf h<strong>in</strong>, daß er gedanklich an Nietzsche anschließt.<br />

103. Der Begriff an sich geht, wie Kamper aufweist, auf den französischen Soziologen Bouglé zurück, <strong>der</strong> schon 1901<br />

von +<strong>Post</strong>histoire* sprach (vgl. Nach <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 166). Gehlen, auf den im folgenden hauptsächlich e<strong>in</strong>gegangen<br />

werden wird, übernimmt den <strong>Post</strong>histoire-Begriff jedoch aus e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> den 50er Jahren veröffentlichten Werk des<br />

belgischen <strong>Politik</strong>ers und Philosophen Hendrik de Man, <strong>der</strong> sich wie<strong>der</strong>um auf den 1877 verstorbenen französischen


14 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Volkswirtschaftler Cournot bezog. Cournot selbst verwendete den Begriff allerd<strong>in</strong>gs nicht direkt, son<strong>der</strong>n +lehrte [gemäß<br />

Gehlen] e<strong>in</strong>en Endzustand, <strong>in</strong> dem die Geschichte stillsteht, da sie angesichts des regelmäßigen Funktionierens <strong>der</strong><br />

Rä<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verwaltung und <strong>der</strong> Industrie nur noch störende Wirkung habe* (Ende <strong>der</strong> Geschichte?; S. 126).<br />

104. Fukuyama führt se<strong>in</strong>e These vom +Ende <strong>der</strong> Geschichte* (1989) auf den Triumph des westlichen Denkens nach<br />

dem Zusammenbruch <strong>der</strong> +sozialistischen* Systeme des Ostens zurück, denn damit sei es zu e<strong>in</strong>er +völligen Erschöpfung<br />

aller Alternativen zum westlichen Liberalismus* (S. 3) gekommen. Demgemäß stünden uns also +Jahrhun<strong>der</strong>te <strong>der</strong><br />

Langeweile* bevor – wie übrigens schon Walt W. Rostow me<strong>in</strong>te (vgl. Stadien wirtschaftlichen Wachstums; S. 92).<br />

105. Gehlens Aufsatz +Über kulturelle Kristallisation* erschien 1963. Riesmans Essay, <strong>in</strong> dem er die post<strong>in</strong>dustrielle<br />

Gesellschaft als Gesellschaft des unbeschränkten Konsums darstellt (vgl. Leisure and Work <strong>in</strong> <strong>Post</strong>-Industrial Society;<br />

S. 371ff.) stammt aus dem Jahr 1958. Noch früher taucht <strong>der</strong> Begriff jedoch bei Coomaraswamy und Penty auf, die<br />

1914 e<strong>in</strong>e Sammlung von +Essays <strong>in</strong> <strong>Post</strong>-Industrialism* veröffentlichten (vgl. Rose: The <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>n and the <strong>Post</strong>-Industrial;<br />

S. 169).<br />

106. Die deutsche Übersetzung, auf die ich mich beziehe, lag allerd<strong>in</strong>gs erst 1972 vor.<br />

107. Auch Bells Werk erschien <strong>in</strong> deutscher Sprache später als das Orig<strong>in</strong>al mit dem Titel +The Com<strong>in</strong>g of <strong>Post</strong>-Industrial<br />

Society*, nämlich 1975.<br />

108. Der Studentenbewegung widmet Toura<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> ganzes Kapitel.<br />

109. Bell bezieht sich mit se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>teilung auf Col<strong>in</strong> Clark (Conditions of Economic Progress). Diese heute allgeme<strong>in</strong><br />

gebräuchliche Differenzierung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en primären, sekundären und tertiären Sektor wird manchmal auch auf Jean<br />

Fourastié zurückgeführt. Beides ist jedoch +falsch*, denn tatsächlich geht sie, wie Fourastié <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fußnote bemerkt,<br />

auf A. B. Fischer zurück (vgl. Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 28, Anmerkung 2).<br />

110. Heute geht man zumeist davon aus, daß die 50%-Grenze überschritten se<strong>in</strong> muß, wenn man von e<strong>in</strong>er<br />

Dienstleistungsgesellschaft sprechen will.<br />

111. Es soll allerd<strong>in</strong>gs nicht verschwiegen werden, daß Bell auch Grenzen des Wandels konstatiert. Diese liegen u.a.<br />

<strong>in</strong> den Schranken <strong>der</strong> Rationalisierung im Dienstleistungsbereich selbst durch notwendige Humanleistungen und<br />

<strong>in</strong> den +vielen wi<strong>der</strong>streitenden For<strong>der</strong>ungen im politischen Bereich* (Die nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft; S. 164), z.B.<br />

dadurch, daß nationale und regionale Belange konfligieren (vgl. ebd.; S. 158–170).<br />

112. E<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> widmet Bell sich diesem Problem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus*<br />

(1976).<br />

113. Baudrillards <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Konzept ist posthistoristisch, und er hätte deshalb bereits im Rahmen <strong>der</strong> Diskussion<br />

des <strong>Post</strong>historismus vorgestellt werden können. Se<strong>in</strong>e Argumentation kann hier als typisch gelten (siehe zum Vergleich<br />

nochmals S. LIf.):+Ich me<strong>in</strong>e, daß alles schon passiert ist. Die Zukunft ist schon angekommen […] Es ist nichts mehr<br />

zu erwarten.* (Der Tod <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 103f.) Eben weil Baudrillard aber hier weniger orig<strong>in</strong>elle Thesen zu bieten<br />

hat, habe ich mich entschlossen, ihn – was mir zudem aufgrund se<strong>in</strong>er Betonung <strong>der</strong> Technik-bed<strong>in</strong>gten Manipulationsmöglichkeiten<br />

gerechtfertigter ersche<strong>in</strong>t – <strong>in</strong> den Kontext <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> <strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrialismus-Konzepte e<strong>in</strong>zuordnen.<br />

Er selbst spricht allerd<strong>in</strong>gs nicht von post<strong>in</strong>dustrieller Gesellschaft.<br />

114. Habermas unterscheidet drei Gesellschaftsformationen: die vorhochkulturelle, die hochkulturelle und die postmo<strong>der</strong>ne<br />

Gesellschaftsformation. Innerhalb <strong>der</strong> hochkulturellen Formation differenziert er zwischen e<strong>in</strong>er traditionalen und<br />

e<strong>in</strong>er mo<strong>der</strong>nen Epoche und <strong>in</strong>nerhalb letzterer wie<strong>der</strong>um zwischen e<strong>in</strong>er kapitalistischen und e<strong>in</strong>er postkapitalistischen<br />

Phase.<br />

115. Mandel betont allerd<strong>in</strong>gs, daß genau das die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus verstärkt, da die <strong>der</strong> kapitalistischen<br />

Produktion zugrunde liegenden Wi<strong>der</strong>sprüche so lediglich auf e<strong>in</strong>er höheren Ebene reproduziert werden (vgl. Der<br />

Spätkapitalismus; S. 316f.).


A: ANMERKUNGEN 15<br />

116. Es handelt sich hier um die Übersetzung e<strong>in</strong>es Essays aus dem +New Left Review* aus dem Jahr 1986, <strong>der</strong> im<br />

Orig<strong>in</strong>al den Titel +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism, or, The Logic of Late Capitalism* trägt. Unter dem gleichen Titel ist allerd<strong>in</strong>gs auch<br />

e<strong>in</strong>e umfangreiche Monographie Jamesons erschienen.<br />

117. Mit dem ökonomischem Aspekt <strong>der</strong> Globalisierung werde ich mich <strong>in</strong> Abschnitt 2.1 detailliert ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen<br />

und die beschriebenen Prozesse <strong>in</strong> Abschnitt 3.1 (mit Blick auf die <strong>Politik</strong>) problematisieren. Zur kulturellen Globalisierung<br />

werden <strong>in</strong> Abschnitt 3.5 (vor allem <strong>in</strong> Anlehnung an das Konzept von Appadurai) e<strong>in</strong>ige (allerd<strong>in</strong>gs vergleichsweise<br />

eher knapp gehaltene) Bemerkungen erfolgen.<br />

118. Zum (wortspielerischen) Zusammenhang von +Mo<strong>der</strong>ne*, +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* und +<strong>Post</strong>* möchte ich an dieser Stelle<br />

e<strong>in</strong>e Anekdote wie<strong>der</strong>geben, die von Welsch kolportiert wird: Wir bef<strong>in</strong>den uns auf e<strong>in</strong>er Architektur-Tagung. +Man<br />

hatte gerade festgestellt, daß zahlreiche Bauten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne sich auf e<strong>in</strong>en Paradebau <strong>der</strong> Frühmo<strong>der</strong>ne, auf<br />

den großen Kassensaal von Otto Wagners Wiener <strong>Post</strong>sparkassenamt von 1906, zurückbeziehen. Damit, so me<strong>in</strong>te<br />

dann e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Teilnehmer launig, habe man ja nun endlich e<strong>in</strong>e bündige Worterklärung von ›<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne‹ gefunden:<br />

›<strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>ne‹ das sei offensichtlich die Mo<strong>der</strong>ne dieser <strong>Post</strong> und die von ihr sich herleitende Tradition.* (Unsere<br />

postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 11)<br />

119. So schreibt z.B. Zygmunt Bauman <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Ansichten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* (1992): +Me<strong>in</strong>er Auffassung<br />

nach hat <strong>der</strong> Begriff ›<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne‹ e<strong>in</strong>en eigenständigen Wert, [alle<strong>in</strong>e] soweit er behauptet, die neuen Erfahrungen<br />

e<strong>in</strong>er, aber e<strong>in</strong>er entscheidenden Kategorie <strong>der</strong> Gegenwartsgesellschaft zu erfassen und zu artikulieren: die Erfahrungen<br />

<strong>der</strong> Intellektuellen.* (S. 123) Die zitierte Stelle stammt übrigens aus dem vierten Kapitel, das als eigenständiges Essay<br />

schon zuvor unter dem Titel +Is There a <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Sociology?* veröffentlicht wurde.<br />

120. Dazu heißt es im +Manifest <strong>der</strong> kommunistischen Partei*: +Die herrschenden Ideen e<strong>in</strong>er Zeit waren stets nur<br />

die Ideen <strong>der</strong> herrschenden Klasse.* (S. 46). An an<strong>der</strong>er Stelle bemerkt Marx zum Verhältnis von Basis und ideologischem<br />

Überbau weiter ausholend: +In <strong>der</strong> gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige,<br />

von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse e<strong>in</strong>, Produktionsverhältnisse, die e<strong>in</strong>er bestimmten Entwicklungsstufe<br />

<strong>der</strong> materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische<br />

Struktur <strong>der</strong> Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich e<strong>in</strong> juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher<br />

bestimmte gesellschaftliche Bewußtse<strong>in</strong>sformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bed<strong>in</strong>gt<br />

den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Menschen, das ihr<br />

Se<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n umgekehrt ihr gesellschaftliches Se<strong>in</strong>, das ihr Bewußtse<strong>in</strong> bestimmt.* (Zur Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie<br />

[Vorwort]; S. 172) Wenn nun dieses Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Kategorien <strong>der</strong> Vergangenheit verhaftet bleibt, wie im deutschen<br />

Idealismus, und nicht die Zustände <strong>der</strong> Gegenwart spiegelt, so ist es als +falsch* anzusehen: +Die Menschen haben<br />

sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich gemacht, von dem, was sie s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> se<strong>in</strong> sollen […] Die Ausgeburten<br />

ihres Kopfes s<strong>in</strong>d ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt […]<br />

Rebellieren wir gegen diese Herrschaft <strong>der</strong> Gedanken.* (Die Deutsche Ideologie [Vorrede]; S. 85)<br />

Der Marxismus ist sich dabei <strong>der</strong> +Macht <strong>der</strong> Ideen* durchaus bewußt: +Die treibenden Ursachen zu ergründen, die<br />

sich […] <strong>in</strong> den Köpfen <strong>der</strong> handelnden Massen und ihrer Führer […] als bewußte Beweggründe klar o<strong>der</strong> unklar,<br />

unmittelbar o<strong>der</strong> <strong>in</strong> ideologischer […] Form wi<strong>der</strong>spiegeln – das ist <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Weg, <strong>der</strong> uns auf die Spur <strong>der</strong> die<br />

Geschichte beherrschenden Gesetze führen kann. Alles, was die Menschen <strong>in</strong> Bewegung setzt, muß durch ihren Kopf<br />

h<strong>in</strong>durch; aber welche Gestalt es <strong>in</strong> diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab.* (Engels: Ludwig Feuerbach<br />

und <strong>der</strong> Ausgang <strong>der</strong> klassischen deutschen Philosophie; S. 592) Und an an<strong>der</strong>er Stelle bemerkt Engels: +Nach<br />

materialistischer Geschichtsauffassung ist das <strong>in</strong> letzter Instanz bestimmende Moment <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte die Produktion<br />

und Reproduktion des wirklichen Lebens […] Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente<br />

des Überbaus […] üben auch ihre E<strong>in</strong>wirkungen auf den Verlauf <strong>der</strong> geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen<br />

<strong>in</strong> vielen Fällen vorwiegend ihre Form.* (Brief an Joseph Bloch vom 21. September 1890) Engels ist es auch, <strong>der</strong> eigentlich<br />

den Begriff +falsches Bewußtse<strong>in</strong>* prägte. In e<strong>in</strong>em Brief an Franz Mehr<strong>in</strong>g vom 14. Juli 1893 stellt er fest: +Die Ideologie<br />

ist e<strong>in</strong> Prozeß, <strong>der</strong> zwar mit Bewußtse<strong>in</strong> vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit e<strong>in</strong>em falschen Bewußtse<strong>in</strong>.<br />

Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt.* (S. 664)<br />

121. Dieses Verständnis von Ideologiekritik f<strong>in</strong>det sich vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> marxistisch orientierten Gesellschaftstheorie<br />

(vgl. z.B. Lukács: Klassenbewußtse<strong>in</strong>) und bei Vertretern <strong>der</strong> Kritischen Theorie. So bemerkt Horkheimer: +Philosophie<br />

konfrontiert das Bestehende <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em historischen Zusammenhang mit dem Anspruch se<strong>in</strong>er begrifflichen Pr<strong>in</strong>zipien,<br />

um die Beziehung zwischen beiden zu kritisieren und so über sie h<strong>in</strong>auszugehen.* (Horkheimer: Zur Kritik <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>strumentellen Vernunft; S. 170). Deshalb ersche<strong>in</strong>t es auch beson<strong>der</strong>s bedenklich, daß die Begriffe <strong>in</strong> <strong>der</strong> positivistisch<br />

dom<strong>in</strong>ierten Gegenwart immer mehr <strong>in</strong>haltlich entleert und kultur<strong>in</strong>dustriell vere<strong>in</strong>nahmt werden: +Die Begriffe, <strong>in</strong>


16 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

denen Tatsachen erfaßt und damit transzendiert werden, verlieren ihre authentische sprachliche Repräsentanz […]<br />

Das Wort wird zum Cliché und beherrscht als Cliché die gesprochene o<strong>der</strong> geschriebene Sprache; die Kommunikation<br />

beugt so e<strong>in</strong>er Entwicklung des S<strong>in</strong>nes vor.* (Marcuse: Der e<strong>in</strong>dimensionale Mensch; S. 106)<br />

122. Hier heißt es: +Das Credo dieses diffusen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus sche<strong>in</strong>t zu se<strong>in</strong>, daß alles, was den Standards <strong>der</strong><br />

Rationalität nicht genügt o<strong>der</strong> Bekanntes allenfalls verdreht wie<strong>der</strong>gibt, damit auch schon gut, ja gar gelungen sei<br />

[…]*<br />

123. Wie <strong>der</strong> Überschrift zu entnehmen ist, setze ich +das Lob <strong>der</strong> Vielheit* allgeme<strong>in</strong> als Kennzeichen <strong>der</strong> (euphorischen)<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne an und betrachte die +pluralistischen* Konzepte von Welsch und Hassan, auf die ich mich im folgenden<br />

konzentrieren werde, nur als stellvertretende Beispiele für das Denken <strong>der</strong> (primären und sekundären) euphorische<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Mit dieser Orientierung an <strong>der</strong> Vielheit wollen sich die (eigentlichen) +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nen* <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

vom (+radikalen*) E<strong>in</strong>heitsdenken <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und <strong>der</strong> Vormo<strong>der</strong>ne absetzen. An die Stelle <strong>der</strong> Wurzel tritt also,<br />

wie sich <strong>in</strong> Anlehnung an Deleuze und Guattari formulieren läßt, das +Rhizom*, das für Konnexion, Heterogenität<br />

und Vielheit steht (vgl. Deleuze/Guattari: Rhizom; S. 11ff. und siehe auch Abschnitt 5.2.1)<br />

124. Hassan spricht zum e<strong>in</strong>en vom +new gnosticism* (vgl. Culture, Indeterm<strong>in</strong>acy, And Immanence; S. 67), stellt allerd<strong>in</strong>gs<br />

klar, daß dieser areligiöser Natur ist (vgl. Toward a Concept od <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism; S. 172).<br />

125. Beide Tendenzen (+<strong>in</strong>determ<strong>in</strong>acy* und +immanence*) faßt Hassan mit dem Neologismus +<strong>in</strong>determanence*<br />

zusammen.<br />

126. Er nennt hier – wie <strong>in</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne heute* – neben Unbestimmtheit und Immanenz die sehr diffusen weiteren<br />

Merkmale: Fragmentisierung, Auflösung des (verb<strong>in</strong>dlichen) Kanons, Verlust von ›Ich‹ und ›Tiefe‹, Anti-Ikonographie,<br />

Ironie, Hybridisierung, Karnevalisierung, ›Performanz‹ und Fiktionalität. Wohl deshalb betont er, daß es ihm nicht<br />

um e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Def<strong>in</strong>ition, son<strong>der</strong>n vielmehr um +e<strong>in</strong>e praktische Liste* geht, die e<strong>in</strong> kulturelles Feld beschreiben<br />

soll (vgl. S. 48). Auf welche Weise sich daraus (wie <strong>in</strong> +Pluralism <strong>in</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Perspective* gefolgert) e<strong>in</strong> kritischer<br />

Pluralismus (mit e<strong>in</strong>er gewissen Zwangsläufigkeit) ergeben soll, bleibt lei<strong>der</strong> im Dunkeln.<br />

127. +Abschied von <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* haben z.B. Fischer et al. schon 1980 genommen. Ihnen g<strong>in</strong>g es dabei um die<br />

+Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Orientierungskrise* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Architektur, die zwar nur durch die gleichzeitige Überw<strong>in</strong>dung des<br />

Funktionalismus möglich ist, aber eher post<strong>in</strong>dustriellen als postmo<strong>der</strong>nen Charakter tragen soll (vgl. Über den komplizierten<br />

Weg zu e<strong>in</strong>er nachfunktionalistischen Architektur).<br />

128. Auch Welsch ist aber ke<strong>in</strong> Technologie-Fe<strong>in</strong>d. Er äußert zwar Kritik an <strong>der</strong> Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> Technik und <strong>der</strong><br />

technologischen Rationalität: +Die Attacke <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zielt genau auf die Vorstellung von e<strong>in</strong>em Technologischen<br />

Zeitalter. Denn ›Technologisches Zeitalter‹ bedeutet ja eben, daß es nicht bei <strong>der</strong> sektorellen Uniformierung bleibt,<br />

son<strong>der</strong>n daß tendenziell alle gesellschaftlichen Prozesse dieser Technologie unterworfen werden […]* (Unsere postmo<strong>der</strong>ne<br />

Mo<strong>der</strong>ne; S. 221). An<strong>der</strong>erseits stellt er klar: +Das alles darf nicht mißverstanden werden. Mit Technologie-Fe<strong>in</strong>dlichkeit<br />

hat es nichts zu tun. Wohl aber mit Verteidigung von Vielfalt. Die Kritik betrifft alle<strong>in</strong> die Ausschließlichkeitsansprüche<br />

des Technologischen […]* (Ebd.; S. 222)<br />

129. Spaemann selbst nennt – obwohl ich ihn e<strong>in</strong>er euphorischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner Prägung zugeordnet<br />

habe – nicht die +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* explizit als (legitime) Nachfolger<strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Allerd<strong>in</strong>gs beziehen sich an<strong>der</strong>e<br />

(wie Hübner und Koslowski), die e<strong>in</strong>deutiger dieser Richtung e<strong>in</strong>er euphorischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zuzuordnen s<strong>in</strong>d,<br />

auf Spaemanns Überlegungen.<br />

130. Weitere Beispiele für e<strong>in</strong>en religiös-spirituell fundierten <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> dem Sammelband +Sacred<br />

Interconnections*, <strong>der</strong> von David Griff<strong>in</strong> herausgegeben wurde. Hier ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Beitrag von Matthew Fox<br />

zu nennen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e postmo<strong>der</strong>ne Spiritualität heraufziehen sieht (vgl. A Mystical Cosmology: Toward a <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n<br />

Spirituality).<br />

131. E<strong>in</strong>e Übersicht über das Spektrum kommunitaristisches Denkens und die amerikanische Debatte zwischen Liberalen<br />

und Kommunitaristen bietet <strong>der</strong> von Axel Honneth herausgegebene Sammelband +Kommunitarismus* (1995).


A: ANMERKUNGEN 17<br />

132. In e<strong>in</strong>em Gespräch, das 1981 erstmals veröffentlicht wurde, erläutert er bezogen auf die Beweggründe zur Abfassung<br />

se<strong>in</strong>es Hauptwerks, <strong>der</strong> +Theorie des kommunikativen Handelns*: +Das eigentliche Motiv, das ich 1977 hatte, als ich<br />

anf<strong>in</strong>g, das Buch zu schreiben, war, mir selbst darüber klar zu werden, wie man die Kritik <strong>der</strong> Verd<strong>in</strong>glichung, die<br />

Kritik <strong>der</strong> Rationalisierung, […] umformulieren kann […] ohne das Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne preiszugeben, ohne Rückfall<br />

<strong>in</strong>s <strong>Post</strong>- o<strong>der</strong> Anti-Mo<strong>der</strong>ne […]* (Dialektik <strong>der</strong> Rationalisierung; S. 184)<br />

133. Wellmer bezieht sich auf Castoriadis’ Schrift +Durchs Labyr<strong>in</strong>th* (1978). Dort heißt es im Vorwort: +Die Geschichte,<br />

unsere Geschichte hat das Ziel <strong>der</strong> Wahrheit aufgerichtet – und ebenso das Ziel <strong>der</strong> Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.<br />

Untrennbar. Und wir – manche von uns jedenfalls – gehen ganz <strong>in</strong> diesen Zielen auf. Aber es kann ke<strong>in</strong>e Rede davon<br />

se<strong>in</strong>, sie zu ›begründen‹ – man sieht nicht, was das heißen könnte […] für die Vernunft können wir ke<strong>in</strong>e Vernunftgründe<br />

angeben. Trotzdem s<strong>in</strong>d wir darum nicht bl<strong>in</strong>d und nicht verloren. Wir können aufklären, was wir denken und was<br />

wir s<strong>in</strong>d. Nachdem wir es geschaffen haben, vermessen wir, Stück für Stück, unser Labyr<strong>in</strong>th.* (S. 22f.) Genau diese<br />

kritische Potentiale freisetzende Aufklärung über die Unbegründbarkeit des Vernunft (und <strong>der</strong> mit ihr verbundenen<br />

Werte) ist mit dem von Wellmer zitierten Begriff <strong>der</strong> +Selbstüberschreitung <strong>der</strong> Vernunft* (ebd.; S. 192) geme<strong>in</strong>t.<br />

134. E<strong>in</strong> pr<strong>in</strong>zipiell ähnliches Raster hat übrigens auch Jameson entwickelt. Er ordnet die verschiedenen Positionen<br />

vier Fel<strong>der</strong>n zu, die sich durch die Komb<strong>in</strong>ation <strong>der</strong> sich ausschließenden Eigenschaftspaare +anti-mo<strong>der</strong>nist – promo<strong>der</strong>nist*<br />

und +anti-postmo<strong>der</strong>nist – pro-postmo<strong>der</strong>nist* ergeben (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism; S. 61).<br />

135. Detailliert herausgearbeitet wird dieses Argument <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neueren Arbeit von Welsch: Vernunft – Die zeitgenössische<br />

Vernunftkritik und das Konzept <strong>der</strong> transversalen Vernunft (1995). Kritisch ist jedoch anzumerken: Indem Welsch auf<br />

die Grundlage <strong>der</strong> Vielheit <strong>in</strong> transversaler E<strong>in</strong>heit abhebt, wird +h<strong>in</strong>terrücks* wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> transzendentalphilosophischer<br />

Universalismus e<strong>in</strong>geführt – womit se<strong>in</strong> Konzept kaum an postmo<strong>der</strong>ne Differenztheorien anschlußfähig se<strong>in</strong> dürfte.<br />

136. In dieser Argumentationsfigur deutet sich die gerade <strong>in</strong> den letzten Jahren immer klarer hervortretende kommunitaristische<br />

Ausrichtung Etzionis an (vgl. z.B. The Moral Dimension o<strong>der</strong> auch The Spirit of Community).<br />

137. Vom selben Autor stammt übrigens <strong>der</strong> Band +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity* (1993), <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en guten Überblick über den Mo<strong>der</strong>ne-<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskurs liefert.<br />

138. Im Schamanismus dient oft e<strong>in</strong>e Geheimsprache dazu, sich Zutritt zu den kosmischen Zonen zu verschaffen<br />

und die Nachahmung von Tierlauten verleiht dem Schamanen die Fähigkeiten <strong>der</strong> nachgeahmten Tiere (vgl. Eliade:<br />

Schamanismus und archaische Ekstasetechnik; S. 103ff.). Im <strong>in</strong>dischen Mantra-Yoga wie<strong>der</strong>um f<strong>in</strong>det sich die Vorstellung,<br />

daß die Wie<strong>der</strong>holung mystischer Laute dem Yogi unbegrenzte Kräfte verleiht. +Die unbegrenzte Wirksamkeit <strong>der</strong><br />

mantra rührt daher, daß sie die ›Objekte‹, die sie repräsentieren, s<strong>in</strong>d […] So hat zum Beispiel je<strong>der</strong> Gott […] e<strong>in</strong>en<br />

›mystischen Laut‹, <strong>der</strong> […] ihr [!] Wesen ist* (<strong>der</strong>s.: Yoga; S. 223). Diese Vorstellung e<strong>in</strong>er Identität von Begriff und<br />

Bezeichnetem f<strong>in</strong>det sich nicht nur im antiken Indien, son<strong>der</strong>n wird z.B. auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Platon-Dialog ausführlich<br />

erörtert (vgl. Kratylos; Abschnitt 3 [427d]).<br />

139. Für den +<strong>Post</strong>marxisten* Eagleton ist es freilich e<strong>in</strong>e ganz an<strong>der</strong>e Illusion, <strong>der</strong> das postmo<strong>der</strong>ne Denken primär<br />

+verfallen* ist. Zwar gesteht Eagleton zu: +Die postmo<strong>der</strong>ne Theorie ist <strong>in</strong>sofern radikal, als sie e<strong>in</strong> System <strong>in</strong> Frage<br />

stellt, das immer noch absolute Werte, metaphysische Begründungen und selbstidentische Subjekte braucht; gegen<br />

diese mobilisiert sie Multiplizität, Nicht-Identität, Überschreitungen, Unbegründbarkeit und kulturellen Relativismus.*<br />

(Die Illusionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 176) Doch: +Das Resultat ist im besten Fall e<strong>in</strong>e phantasievolle Unterwan<strong>der</strong>ung<br />

des herrschenden Wertesystems […] Aber das postmo<strong>der</strong>ne Denken erkennt gewöhnlich nicht, daß das, was auf<br />

<strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Ideologie funktioniert, nicht auf <strong>der</strong> Ebene des Marktes funktioniert.* (Ebd.)


18 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

KAPITEL 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS<br />

1. Die Unterscheidung zwischen horizontbefreienden und -verengenden Zeitaltern trifft Palonen danach, +ob die<br />

herrschende Tendenz des Begriffswandels eher <strong>in</strong> die Richtung <strong>der</strong> Erschließung o<strong>der</strong> Abschließung <strong>in</strong>dividueller<br />

Denkmöglichkeiten läuft* (<strong>Politik</strong> als ›chamäleonartiger‹ Begriff; S. 4). Diese <strong>in</strong>dividuellen Denkmöglichkeiten hängen<br />

wie<strong>der</strong>um von <strong>in</strong>ter<strong>in</strong>dividuell wirksamen +distanzverlängernden Vermittlungs<strong>in</strong>stanzen* ab: den Traditionen, dem<br />

geschichtlichen H<strong>in</strong>tergrund, <strong>der</strong> die Generation prägt, den Herrschaftsverhältnissen sowie dem sozialen Raum (Peripherie-<br />

Zentrums-Relation), was e<strong>in</strong>e Perspektive des +oben* o<strong>der</strong> +unten*, vom +Kern* <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> von ihrem +Rand*<br />

aus bewirkt. Für das Individuum besteht aber auch die Möglichkeit, die so vorgegebenen Grenzen zu überw<strong>in</strong>den:<br />

zum e<strong>in</strong>en durch das (bewußte) Ignorieren dieser Gegebenheiten, zum an<strong>der</strong>en durch Abstraktion und Analyse (vgl.<br />

ebd.; S. 6f.). Dies schafft e<strong>in</strong>en vielfach kont<strong>in</strong>genten Raum für e<strong>in</strong>en Begriffswandel (vgl. ebd.; S. 8ff.).<br />

2. E<strong>in</strong>en fundierten allgeme<strong>in</strong>en Überblick über +Das politische Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> antiken Welt* gibt Moses F<strong>in</strong>ley (1983).<br />

3. Aristoteles alle<strong>in</strong>e hatte, wenn man se<strong>in</strong>en Angaben trauen darf, e<strong>in</strong>e Sammlung von 158 Verfassungen zusammengetragen,<br />

die aber verloren g<strong>in</strong>g. E<strong>in</strong>e Reihe von antiken (auch nicht-griecgischen) Verfassungen hat jedoch (für<br />

Interessierte) Alexan<strong>der</strong> Demandt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form e<strong>in</strong>er vergleichenden Verfassungsgeschichte herausgegeben (vgl. Antike<br />

Staatsformen). Es gilt allerd<strong>in</strong>gs allgeme<strong>in</strong> zu beachten, daß e<strong>in</strong>e (offiziell fixierte) geschriebene Verfassung im antiken<br />

Griechenland unbekannt war.<br />

4. Die These vom ökonomischen Aufschwung <strong>in</strong> <strong>der</strong> griechischen Antike durch Geldwirtschaft und zunehmenden<br />

Handel (verbunden mit Kolonisierung und e<strong>in</strong>er +Industrialisierung* des Handwerks) wurde vor allem von Eduard<br />

Meier (e<strong>in</strong>em deutschen Historiker des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts) vertreten, <strong>der</strong> dar<strong>in</strong> auch e<strong>in</strong>e Parallele zur neuzeitlichen<br />

Entwicklung <strong>in</strong> Europa sah (vgl. Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums; <strong>in</strong>sb. S. 99–119). Vor allem letzteres<br />

wird heute mit dem Verweis auf die grundsätzlich sich von den heutigen Verhältnissen unterscheidende Ausrichtung<br />

des antiken Wirtschaftens kritisch betrachtet. Denn hat sich die +mo<strong>der</strong>ne* Wirtschaft immer weiter losgelöst vom<br />

sozialen Kontext und ist zu e<strong>in</strong>er autonomen Sphäre geworden, so war die antike Wirtschaft immer e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> soziales und kulturelles Ganzes (vgl. hierzu z.B. Polanyi: Ökonomie und Gesellschaft; S. 129–135). Die Ausführungen<br />

von Aust<strong>in</strong> und Vidal-Naquet <strong>in</strong> ihrem Band +Gesellschaft und Wirtschaft im alten Griechenland* (obwohl bemüht<br />

Meiers Thesen zu relativieren) belegen aber me<strong>in</strong>es Erachtens, daß zum<strong>in</strong>dest für Athen e<strong>in</strong>e partielle Richtigkeit<br />

gegeben ist (vgl. dort vor allem Kapitel 3). Zu den Grundlagen antiker Wirtschaft allgeme<strong>in</strong> verweise ich auf das<br />

Standardwerk von Moses F<strong>in</strong>ley: Die antike Wirtschaft.<br />

5. Die verschiedenen Ämter gab es schon zur Zeit <strong>der</strong> Königsherrschaft, doch erfolgte ke<strong>in</strong> so häufiger Wechsel. Außerdem<br />

war die Macht <strong>der</strong> Archonten durch den (vor allem regional wirksamen) E<strong>in</strong>fluß an<strong>der</strong>er bedeuten<strong>der</strong> Adelsgeschlechter<br />

e<strong>in</strong>geschränkt.<br />

6. E<strong>in</strong>e ausführlichere Darstellung <strong>der</strong> Entwicklung zur Demokratie (beg<strong>in</strong>nend im 7. Jahrhun<strong>der</strong>t) erfolgt bei Bleicken<br />

(Die athenische Demokratie; S. 13–63), auf den ich mich auch im folgenden noch öfter beziehen werde. Detaillierte<br />

Angaben auch zur Frühzeit macht Bayer (Griechische Geschichte; S. 24–110).<br />

7. Die Zahl <strong>der</strong> Sklaven im antiken Athen wird auf ca. 80.000 geschätzt. Zur Rechtfertigung <strong>der</strong> Sklaverei heißt es<br />

bei Aristoteles: +[…] das, welches <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, mit dem Denken vorauszusehen, ist von Natur aus das Herrschende<br />

und das von Natur aus Gebietende, doch das, welches <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, eben das mit dem Körper durchzuführen, das<br />

ist das Beherrschte und von Natur aus Dienende. Daher ist dem Herrn und dem Sklaven e<strong>in</strong> und dasselbe von Nutzen*<br />

(<strong>Politik</strong>; S. 76 [1252a]). Dabei versteht es sich von selbst, daß nach Aristoteles zum Denken alle<strong>in</strong>e die Griechen geeignet<br />

s<strong>in</strong>d, die man deshalb auch eigentlich nicht zu den Sklaven von Natur aus rechnen könne, während die des Griechischen<br />

nicht mächtigen +Barbaren* <strong>in</strong> je<strong>der</strong> H<strong>in</strong>sicht Sklaven seien. Die Realität sah h<strong>in</strong>gegen noch bitterer aus. Auch viele<br />

Griechen erlitten das Schicksal <strong>der</strong> Sklaverei: vor Solons Reformen, wie erwähnt, durch Schuldknechtschaft, und<br />

traditionell durch Kriegsgefangenschaft. E<strong>in</strong>en Überblick über das gesamte Ausmaß und Spektrum <strong>der</strong> +Sklaverei im<br />

Altertum* gibt Carl Weber. Wer sich solchermaßen kundig gemacht hat, <strong>der</strong> kann begreifen, daß <strong>in</strong> marxistischer<br />

Sicht (vgl. das angeführte Engels-Zitat) die Sklaverei als Grundlage <strong>der</strong> Ökonomie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike gesehen wird. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus wurde von verschiedener Seite vorgebracht, daß erst durch die von <strong>der</strong> Sklaverei bewirkte (zeitliche) Entlastung<br />

<strong>der</strong> Raum für die politische Betätigung <strong>der</strong> bürgerlichen Schicht entstanden ist.


A: ANMERKUNGEN 19<br />

8. Metöken waren festansässige Fremde, die zumeist <strong>in</strong> Handel und Handwerk tätig waren. Ihre Zahl wird auf ca.<br />

25.000 geschätzt.<br />

9. Die übergeordneten politischen E<strong>in</strong>heiten waren die Trittyen und die Phylen, wobei die letzteren u.a. die städtische<br />

Verwaltung wählten, das Heer zusammenstellten und die Übernahme <strong>der</strong> Kosten kommunaler Aufgaben an wohlhabende<br />

Bürger delegierten.<br />

10. Vgl. hierzu Bleicken: Die athenische Demokratie; <strong>in</strong>sb. S. 65–85 sowie Davies: Das klassische Griechenland und<br />

die Demokratie; S. 109–141.<br />

11. Meier versucht dies auch anhand des Werks des antiken Dichters Aischylos aufzuzeigen. In se<strong>in</strong>er Dramen-Trilogie<br />

über Orest (<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Mutter erschlagen hat, um den Tod des Vaters zu sühnen) thematisiert Aischylos die ausweglose<br />

Situation des mythischen Helden, <strong>der</strong> nach dem Ratschlag von Apollon handelte, aber nun zwangsläufig die erbarmungslosen<br />

Rachegötter <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nyen (die erst am Ende besänftigt werden können und sich zu den Schutzgottheiten<br />

<strong>der</strong> Eumeniden verwandeln) zu fürchten hat. Orest flüchtet deshalb nach Athen, wo ihn e<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Gött<strong>in</strong> Athene<br />

e<strong>in</strong>gesetztes Gericht vom Fluch des Muttermordes befreit. Am Ende <strong>der</strong> Verhandlung verkündet die Gött<strong>in</strong>, was man<br />

gemäß Davies als Gründungsmythos Athens bezeichnen kann (vgl. Das klassische Griechenland und die Demokratie;<br />

S. 81): +Vernehmt nun die Satzung. Männer Attikas […] Als unbestechlich setz ich diesen hohen Rat, ehrwürdig, strengen<br />

S<strong>in</strong>nes, über Schlafende als ewig wache Hut des Landes stiftend e<strong>in</strong>.* (Eumeniden; zitiert nach ebd.)<br />

Meier sieht im Werk des Aischylos die Grundsätze demokratischen Polis-Ordnung antizipiert: +Es ist e<strong>in</strong> großer Schritt<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Zivilisation, den Aischylos <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Orestie darstellt: von urtümlich-unerbittlicher Verkettung<br />

von Rache und Wi<strong>der</strong>rache zur Gerechtigkeit <strong>der</strong> Polis […]* (Die Entstehung des Politischen bei den Griechen; S. 162)<br />

Ganz ähnlich versteht übrigens Max Horkheimer im griechischen Helden das Modell des aufsteigenden Individuum<br />

(vgl. Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft; S. 125f.) und <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* wird anhand des Beispiels<br />

<strong>der</strong> Odyssee die Beziehung von Mythos und Aufklärung erläutert.<br />

12. Sokrates argumentiert dabei kontraktualistisch. Er sieht die Beziehung zwischen Bürger und Staat als Vertragsverhältnis,<br />

das, e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>gegangen, nicht ohne weiteres aufgekündigt werden kann (vgl. hierzu auch Adomeit: Antike Denker<br />

über den Staat; S..51ff.). Die Seitenangabe <strong>in</strong> Klammern bei Platon-Zitaten bezieht sich übrigens auf die allgeme<strong>in</strong><br />

als Referenz dienende Stephanus-Ausgabe.<br />

13. Treffen<strong>der</strong> wäre übrigens die Übersetzung von +Politeia* mit +Verfassung* und nicht mit +Staat*.<br />

14. Infolge <strong>der</strong> Ausweitung <strong>der</strong> Demokratie war e<strong>in</strong>e rhetorische Schulung notwendig geworden, um sich im demokratischen<br />

Diskurs durchsetzen zu können. Die Sophisten boten dazu ihre Dienste an. Es ist bezeichnend, daß Platon<br />

es so darstellt, daß Thrasymachos nur, wenn ihm e<strong>in</strong> Entgelt versprochen wird, zur Ausführung se<strong>in</strong>er These bereit<br />

ist. Sicherlich ist aber Platons Zeichnung <strong>der</strong> Sophisten tendenziell. Es ist deshalb bedauernswert, daß ihre Position<br />

fast ausschließlich durch das Werk Platons erhalten blieb. Zum Sophismus im allgeme<strong>in</strong>en sowie zu den bekanntesten<br />

Vertretern vgl. Classen (Hg.): Sophistik.<br />

15. So lautet die Überschrift zum Abschnitt 4.1.5.1.2.<br />

16. Aristoteles gründete 334 v. Chr. (In e<strong>in</strong>er ehemaligen +Turnhalle*, dem Gymnasium +Lykeion*) e<strong>in</strong>e eigene philosophische<br />

Lehranstalt. Da es üblich war, während des philosophischen Gesprächs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Halle herumzugehen, wurde<br />

sie die +peripatetische Schule* (von gr. Peripatos: Wandelgang) genannt.<br />

17. Die +Nikomachische Ethik* trägt ihren Namen nach Nikomachos, e<strong>in</strong>em Sohn des Aristoteles, <strong>der</strong> sie posthum<br />

veröffentlicht hat. Von se<strong>in</strong>en zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften ist nicht erhalten geblieben. Die <strong>in</strong> eckigen<br />

Klammern angegebene Seitenzahl bezieht sich übrigens auf die Berl<strong>in</strong>er Akademie-Ausgabe des griechischen Textes<br />

von 1831 (herausgegeben durch Immanuel Becker).<br />

18. Aristoteles argumentiert hier nicht logisch, son<strong>der</strong>n topisch. Auch topische Nachweise s<strong>in</strong>d aber gemäß Aristoteles<br />

zulässig: +Wenn es nämlich gel<strong>in</strong>gt, die strittigen D<strong>in</strong>ge zu klären und dann die plausiblen Me<strong>in</strong>ungen übrigbleiben,<br />

so wäre e<strong>in</strong> ausreichenden Nachweis gelungen*. (Nikomachische Ethik; S. 178 [1145b])


20 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

19. Die Erreichung <strong>der</strong> Eudaimonia ist nach Aristoteles natürlich auch auf dem Weg <strong>der</strong> philosophischen Wesensschau<br />

(theoria) möglich (und dies sogar <strong>in</strong> ganz ausgezeichneter Weise), doch ist e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> H<strong>in</strong>gabe an die Theoria (bios<br />

theoretikos) – aufgrund <strong>der</strong> dafür notwendigen <strong>in</strong>tellektuellen und materiellen Voraussetzungen – nicht für alle<br />

verwirklichbar.<br />

20. Die +<strong>Politik</strong>*stellt ke<strong>in</strong> konsistentes Werk des Aristoteles dar, son<strong>der</strong>n ist vielmehr e<strong>in</strong>e Textmontage aus nachgelassenen<br />

Schriften.<br />

21. Was die Herrschaft über Frauen und K<strong>in</strong><strong>der</strong> betrifft, so macht Aristoteles allerd<strong>in</strong>gs gewisse E<strong>in</strong>schränkungen:<br />

Obwohl +das Männliche […] von Natur aus führungsgeeigneter als das Weibliche* (<strong>Politik</strong>; S. 101 [1259b]) ist, gleicht<br />

die Herrschaft über die Frau doch <strong>der</strong> Herrschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Polis, denn auch Frauen s<strong>in</strong>d ja grundsätzlich Freie. Das Regiment<br />

über die K<strong>in</strong><strong>der</strong> erfolgt dadagene nach Art <strong>der</strong> königlichen Herrschaft, weil +das Ältere und Reife […] mehr [ist] als<br />

das Jüngere und Unreife* (ebd.).<br />

22. Das Zitat stammt aus Condorcets +Entwurf e<strong>in</strong>er historischen Darstellung <strong>der</strong> Fortschritte des menschlichen Geistes*<br />

(1795).<br />

23. E<strong>in</strong>e detaillierte Biographie Ciceros gibt Christian Habicht <strong>in</strong>: Cicero <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er.<br />

24. Die Angabe <strong>in</strong> eckiger Klammer bezeichnet das Buch (röm. Ziffer) sowie die Seitenzahl (arab. Ziffer) <strong>der</strong> verb<strong>in</strong>dlichen<br />

Standardausgabe.<br />

25. Die Kategorie des Naturrechts ist allerd<strong>in</strong>gs bereits aus dem Werk Platons und Aristoteles’ bekannt.<br />

26. Se<strong>in</strong> politisches Engagement br<strong>in</strong>gt ihm nicht nur 58 v. Chr. e<strong>in</strong>e vorübergehende Verbannung e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n er<br />

wird auch – kurze Zeit nach Caesar – aus politischen Motiven ermordet.<br />

27. Es werden hier mehrere Phasen unterschieden. Me<strong>in</strong>e Angaben beziehen sich auf die klassische Phase (287–133<br />

v. Chr.) bzw. die späte römische Republik (ca. 200 v. Chr. bis 30 v. Chr.).<br />

28. Die zwei Konsuln waren für die allgeme<strong>in</strong>e Staatsverwaltung, die Leitung <strong>der</strong> gesamten Exekutive sowie die Kriegführung<br />

zuständig. Die Prätoren hatten Aufgaben als Gerichtsherrn, Heerführer und Statthalter. Den Ädilen kam die Aufsicht<br />

über die Tempel, die Marktaufsicht und die Aufsicht über Spiele und Feste zu. Die Quästoren waren Verwaltungsbeamte<br />

im F<strong>in</strong>anzsektor. Die Gesamtaufsicht über das Staatsvermögen war aber <strong>in</strong> den Händen <strong>der</strong> Zensoren, die auch die<br />

Steuern festlegten. In Krisenzeiten war e<strong>in</strong> Diktatorenamt mit une<strong>in</strong>geschränkter Amtsgewalt vorgesehen.<br />

29. In späterer Zeit waren se<strong>in</strong>e Beschlüsse allerd<strong>in</strong>gs faktisch b<strong>in</strong>dend.<br />

30. Später wurden auch Vertreter des Plebs <strong>in</strong> den 300 Mitglie<strong>der</strong> unfassenden Senats-Rat entsandt.<br />

31. Vgl. zur Verfassung <strong>der</strong> klassischen Republik vgl. Christ: Die Römer; S. 28–37. Zum letztgenannten Aspekt <strong>der</strong><br />

sozial-politischen Spannungen vgl. Alföldy: Römische Sozialgeschichte; S.62–84.<br />

32. Caesar war ohne Auftrag <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Feldzug aufgebrochen. Vor allem auf Betreiben se<strong>in</strong>es Nachfolgers als Konsul,<br />

Pompeius, wurde er nach se<strong>in</strong>er Rückkehr zum Staatsfe<strong>in</strong>d erklärt, doch Caesar kapitulierte nicht und konnte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

vier Jahre dauernden, für alle Seiten sehr verlustreichen kriegerischen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung schließlich den Sieg davontragen.<br />

33. Se<strong>in</strong> +richtiger* Name lautete Gaius Octavianus.<br />

34. E<strong>in</strong>e Diskussion <strong>der</strong> politischen Philosophie und Praxis <strong>in</strong> Rom aus verschiedenen Perspektiven und auch unter<br />

Würdigung des Beitrags von Caesar f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> dem von Richard Kle<strong>in</strong> herausgegebenen Band +Das Staatsdenken<br />

<strong>der</strong> Römer* (1966). In Ergänzung dazu s<strong>in</strong>d die politisch-biographischen Skizzen zu Cäsar (sowie Cicero und Augustus)<br />

Christian Meiers <strong>in</strong> +Die Ohnmacht des allmächtigen Dictators Caesar* (1980) aufschlußreich.


A: ANMERKUNGEN 21<br />

35. +Das späte Rom* (1993) und se<strong>in</strong>e Geschichte wird von Cameron ausführlich beschrieben. Wer sich also hierfür<br />

näher <strong>in</strong>teressiert, den möchte ich auf ihn verweisen.<br />

36. Die Angabe <strong>in</strong> eckigen Klammer bezieht sich auf das Kapitel (röm. Ziffer) sowie den betreffenden Abschnitt (arab.<br />

Ziffer).<br />

37. Konstant<strong>in</strong>, <strong>der</strong> von 324–337 herrschte, verlagerte se<strong>in</strong>en Herrschaftssitz nach Byzanz, das damit zur zweiten,<br />

<strong>der</strong> christlichen Reichshauptstadt wurde und <strong>in</strong> Konstant<strong>in</strong>opel umbenannt wurde.<br />

38. Als weitere Sekundärliteratur habe ich folgende Werke benutzt: Wolfgang Stürmer: Natur und Gesellschaft im<br />

Denken des Hoch- und Spätmittelalters sowie Alexan<strong>der</strong> Passer<strong>in</strong> D’Entrèves: The Medieval Contribution to Political<br />

Thought.<br />

39. Late<strong>in</strong> war im Mittelalter die l<strong>in</strong>gua franca <strong>in</strong> allen Bereichen <strong>der</strong> Wissenschaft.<br />

40. Hierzu heißt es an e<strong>in</strong>er Stelle se<strong>in</strong>es Kommentars zu den ethisch-politischen Schriften des Aristoteles: +Die geistliche<br />

Gewalt und die weltliche leiten sich beide aus <strong>der</strong> göttlichen Gewalt her; und darum ist die weltliche Gewalt <strong>der</strong><br />

geistlichen <strong>in</strong>soweit unterworfen, als sie ihr von Gott unterstellt ist, das heißt <strong>in</strong> den Angelegenheiten, die das Selenheil<br />

betreffen. In Angelegenheiten aber, die das bürgerliche Wohl betreffen, muß man <strong>der</strong> weltlichen mehr gehorchen<br />

als <strong>der</strong> geistlichen nach jenem Herrenwort […] ›Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!‹* (Zitiert nach Miethke: Politische<br />

Theorien im Mittelalter; S. 88)<br />

41. In dem bereits zitierten Artikel von Miethke (Politische Theorien im Mittelalter) erfolgt auch e<strong>in</strong>e relativ ausführliche<br />

Darstellung des Verhältnisses von Kirche und Staat, die mir als Grundlage für me<strong>in</strong>e (knappen) Ausführungen diente.<br />

Weitere Angaben macht auch z.B. Heer: Mittelalter; S. 631–677. Zur ständischen Sozialordnung mit ihrer durch<br />

Geburt weitgehend festgelegten sozialen Position des e<strong>in</strong>zelnen vgl. Bosl: Die Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte des Mittelalters;<br />

S. 44–83 sowie Borst: Lebensformen im Mittelalter; S. 268–280. Bosl weist allerd<strong>in</strong>gs darauf h<strong>in</strong>, daß die Statik <strong>der</strong><br />

mittelalterlichen Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel überschätzt wird (vgl. ebd.; S. 44ff.). E<strong>in</strong>e gute Sammlung von illustrierenden<br />

Quellentexten zum gesamten Spektrum des +Leben[s] im Mittelalter* f<strong>in</strong>det sich bei Pitz (1990). Auch die politische<br />

Ordnung im Mittelalter wird aus vielen <strong>der</strong> hier enthaltenen Quellen deutlich, die ich als duale und fragmentisierte<br />

Herrschaft charakterisieren möchte: Sie ist e<strong>in</strong>e duale Herrschaft, weil eben neben den weltlichen Instanzen auch<br />

die Kirche auf politischer Ebene Macht und E<strong>in</strong>fluß besaß (vgl. hierzu exemplarisch die Quellen zum Kampf um die<br />

Stadtherrschaft <strong>in</strong> Worms zwischen Kaiser Otto II. und dem Bischof von Worms, ebd.; S. 192–208). Und sie ist e<strong>in</strong>e<br />

fragmentisierte Herrschaft, weil die Könige und Kaiser des Mittelalters ke<strong>in</strong>e umfassende Macht über ihr Territorium<br />

hatten, da sie, um sich die Unterstützung des Adels zu sichern, Lehen vergeben mußten (als Belege können hier z.B.<br />

die Quellen zum Lehenssystem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Karol<strong>in</strong>gerzeit dienen, ebd.; S. 118–133). Gerade zum Wandel <strong>der</strong> Herrschaftsstrukturen<br />

im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (also dem Zeitabschnitt, dem die meisten <strong>der</strong> hier behandelten<br />

Autoren zuzurechnen s<strong>in</strong>d) macht Elias detaillierte Angaben (vgl. Über den Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation; Band 2).<br />

42. Beide begründen (im Gegensatz zu Marsilius) e<strong>in</strong>e Absetzungsmöglichkeit des Königs für den Fall, daß dieser gegen<br />

das Naturrecht verstößt (Ockham) bzw. sich <strong>der</strong> Sünde verschrieben hat (Wyclif).<br />

43. Was diesen Teil <strong>der</strong> Argumentation von Marsilius betrifft, so steht er hier<strong>in</strong> noch <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit <strong>der</strong> von Thomas<br />

von Aqu<strong>in</strong> vorgegebenen L<strong>in</strong>ie. Auch Thomas plädierte für e<strong>in</strong>e ungespaltene monarchische Herrschaft (vgl. Über<br />

die Herrschaft <strong>der</strong> Fürsten; Kap. 2–6).<br />

44. Marsilius verweist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf e<strong>in</strong>e Stelle im vierten Buch <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong>*, wo es heißt: +[…] daher<br />

darf man nicht alle, we<strong>der</strong> die Gewählten noch die durch das Los bestimmten, als Beamte [Vorsteher] bezeichnen,<br />

wie etwa zuvör<strong>der</strong>st die Priester, das ist [die s<strong>in</strong>d] nämlich ganz an<strong>der</strong>s neben die bürgerlichen Ämter anzusetzen<br />

[…]* (S. 237 [1299a]). Von Marsilius nicht zitiert wird allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> vorausgehende Halbsatz, <strong>der</strong> lautet: +Denn die<br />

bürgerliche Geme<strong>in</strong>schaft bedarf vieler Vorsteher […]* (ebd.). Ihm war schließlich daran gelegen, e<strong>in</strong>e ungeteilte<br />

monarchische Herrschaft zu legitimieren und zu begründen.<br />

45. Ich werde mich (wie auch im vorangegangenen Abschnitt) auf e<strong>in</strong>ige zentrale Denker und ihr Verständnis des<br />

Politischen beschränken.


22 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

46. Der volle Titel lautet +Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio* (Abhandlungen über die ersten zehn Bücher des<br />

Titus Livius).<br />

47. Machiavelli war u.a. auch als Komödienschriftsteller leidlich erfolgreich. Über die im folgenden gemachten Angaben<br />

zu Werk und Biographie h<strong>in</strong>ausreichend, f<strong>in</strong>den sich Informationen z.B. <strong>in</strong> F<strong>in</strong>k: Machiavelli – E<strong>in</strong>e Biographie. E<strong>in</strong>e<br />

sehr umfangreiche Monographie zum politischen Denken Machiavellis, die vor allem den Zeith<strong>in</strong>tergrund mit e<strong>in</strong>bezieht,<br />

hat Herfried Münkler verfaßt (Machiavelli – Die Begründung des politischen Denkens <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit aus <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong><br />

Republik Florenz).<br />

48. Der Umsturz <strong>in</strong> Florenz wird von dem Dom<strong>in</strong>ikanermönch Savonarola e<strong>in</strong>geleitet, mit dem sich Machiavelli allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht versteht. Deshalb kommt er erst nach dessen Tod 1498 politisch zum Zug.<br />

49. Dies ist e<strong>in</strong>e sehr berühmte Textstelle, <strong>der</strong>en weiterer Wortlaut Machiavellis negative Anthropologie gut zu illustrieren<br />

vermag. Dort heißt es: +Denn von den Menschen kann man im allgeme<strong>in</strong>en sagen, daß sie undankbar, wankelmütig,<br />

verlogen, heuchlerisch, ängstlich und raffgierig s<strong>in</strong>d. Solange du ihnen Vorteile verschaffst, s<strong>in</strong>d sie dir ergeben und<br />

bieten dir Blut, Habe, Leben und Söhne an, aber nur […], wenn die Not ferne ist. Rückt sie aber näher, so empören<br />

sie sich. E<strong>in</strong> Herrscher <strong>der</strong> nur auf ihre Versprechungen baut und sonst ke<strong>in</strong>e Vorkehrungen trifft, ist verloren […]<br />

Auch haben die Menschen weniger Scheu, gegen e<strong>in</strong>en beliebten Herrscher vorzugehen als gegen e<strong>in</strong>en gefürchteten;<br />

denn Liebe wird nur durch das Band <strong>der</strong> Dankbarkeit erhalten, das die Menschen <strong>in</strong>folge ihrer Schlechtigkeit bei<br />

je<strong>der</strong> Gelegenheit aus Eigennutz zerreißen. Furcht dagegen beruht auf <strong>der</strong> Angst vor Strafe, die den Menschen nie<br />

verläßt.* (Il Pr<strong>in</strong>cipe; S. 68f.)<br />

50. Das zeigt sich an folgen<strong>der</strong> Stelle beson<strong>der</strong>s deutlich: +[…] Da es aber me<strong>in</strong>e Absicht ist, etwas Brauchbares für<br />

den zu schreiben, <strong>der</strong> Interesse dafür hat, schien es mir zweckmäßiger, dem wirklichen Wesen <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge nachzugehen<br />

als <strong>der</strong>en Phantasiebild*, schreibt Machiavelli (Il Pr<strong>in</strong>cipe; S. 63).<br />

51. Zur (Vertrags)theorie von Hobbes ganz allgeme<strong>in</strong> vgl. Kerst<strong>in</strong>g: Thomas Hobbes zur E<strong>in</strong>führung sowie Weiß: Das<br />

philosophische System von Thomas Hobbes. Auch Ir<strong>in</strong>g Fetschers E<strong>in</strong>leitung zur (vielfach neu aufgelegten) Luchterhand-<br />

Ausgabe des +Leviathan* (1966) ist lesenswert. Die me<strong>in</strong>es Wissens nach neueste Darstellung zu Hobbes’ Leben und<br />

Werk stammt allerd<strong>in</strong>gs von Herfried Münkler (Thomas Hobbes). Älteren Datums, aber immer noch lesenswert ist<br />

die Arbeit von Tönnies (Thomas Hobbes’ Leben und Lehre).<br />

52. Ansätze e<strong>in</strong>er kontraktualistischen Argumentationsweise gibt es bei den Sophisten, vor allem aber im Denken<br />

des Sokrates (vgl. den bereits zitierten Dialog +Kriton*). E<strong>in</strong>en guten Überblick über das gesamte Spektrum <strong>der</strong> Vertragstheorie<br />

gibt übrigens Wolfgang Kerst<strong>in</strong>g <strong>in</strong> +Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags* (1992). Hier def<strong>in</strong>iert<br />

er: +Als Vertragstheorien bezeichnet man moral-, sozial- und politikphilosophische Konzeptionen, die die moralischen<br />

Pr<strong>in</strong>zipien des Handelns, die rationale Grundlage <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen gesellschaftlichen Ordnung und die Legitimationsbed<strong>in</strong>gungen<br />

politischer Herrschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em hypothetischen, zwischen freien und gleichen Individuen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em wohldef<strong>in</strong>ierten Ausgangszustand geschlossenen Vertrag erblicken und damit die allgeme<strong>in</strong>e Zustimmungsfähigkeit<br />

zum fundamentalen normativen Gültigkeitskriterium erklären.* (S. 16f.) Das Vertragsargument glie<strong>der</strong>t sich dabei<br />

<strong>in</strong>dreiTeilargumente:dasVertrags<strong>in</strong>haltsargument,dasVertragssituationsargumentunddasVertragsbegründungsargument,<br />

die den Kriterien <strong>der</strong> Normativität, Moralität und Rationalität Rechnung tragen müssen (vgl. ebd.; S. 19–58).<br />

53. Johannes Althusius war e<strong>in</strong> calv<strong>in</strong>istischer Juraprofessor im naussauischen Herborn und übte großen E<strong>in</strong>fluß<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf die Nie<strong>der</strong>lande aus. Er faßt Volk und Staat als e<strong>in</strong>e organische Korporation auf, die vom Monarchen<br />

(als Repräsentant <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit) und den ständischen Organen (als Repräsentanten <strong>der</strong> Vielheit) zusammengehalten<br />

wird. Handelt <strong>der</strong> Monarch gegen die Regeln se<strong>in</strong>es Amtes, so sah Althusius e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>standsrecht gegeben. Hugo<br />

Grotius (Huigh de Groot) for<strong>der</strong>te dagegen (ähnlich wie Hobbes, <strong>der</strong> von ihm bee<strong>in</strong>flußt gewesen se<strong>in</strong> dürfte) im<br />

Interesse des politischen Friedens Gehorsam selbst gegenüber e<strong>in</strong>er Gewaltherrschaft. (Vgl. Schwan: Politische Theorien<br />

des Rationalismus und <strong>der</strong> Aufklärung; S.174–178)<br />

54. Hobbes bemerkt hierzu: +Die Geometer haben […] ihr Gebiet vortrefflich verwaltet; denn alles, was dem menschlichen<br />

Leben an Nutzen zufällt […] ist be<strong>in</strong>ahe nur <strong>der</strong> Geometrie zu verdanken […] Wenn die Moralphilosophen ihre Aufgabe<br />

mit gleichem Geschick gelöst hätten, so wüßte ich nicht, was <strong>der</strong> menschliche Fleiß darüber h<strong>in</strong>aus noch zum Glück<br />

<strong>der</strong> Menschen <strong>in</strong> diesem Leben beitragen könnte. Denn wenn die Verhältnisse <strong>der</strong> menschlichen Handlungen mit<br />

<strong>der</strong> gleichen Gewißheit erkannt worden wären, wie es mit den Größenverhältnissen <strong>der</strong> Figuren geschehen ist, so<br />

würden Ehrgeiz und Habgier gefahrlos werden […] Wenn dagegen jetzt <strong>der</strong> Krieg […] ke<strong>in</strong> Ende nimmt, so s<strong>in</strong>d dies


A: ANMERKUNGEN 23<br />

überaus deutliche Zeichen, daß die bisherigen Schriften <strong>der</strong> Moralphilosophen zur Erkenntnis <strong>der</strong> Wahrheit nichts<br />

beigetragen haben.* (Vom Bürger; Widmungsschreiben, S. 60 f.)<br />

55. Nach Ulrich Weiß ist +Hobbes neben Galilei und Descartes zu den tragenden Säulen des neuzeitlichen Denkens*<br />

zu zählen (Das philosophische System des Thomas Hobbes; S. 14). Zu Descartes’ berühmten +Meditationes* hat Hobbes<br />

übrigens e<strong>in</strong>e Reihe von E<strong>in</strong>wänden dargelegt, die von Descartes auch erwi<strong>der</strong>t wurden. In vielen Ausgaben <strong>der</strong><br />

+Meditationes* f<strong>in</strong>det sich im Anhang e<strong>in</strong> Abdruck dieser E<strong>in</strong>wände und Erwi<strong>der</strong>ungen.<br />

56. Der englische Bürgerkrieg war neben e<strong>in</strong>er Glaubensause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung zwischen Katholiken und Protestanten<br />

vor allem e<strong>in</strong> Machtkampf zwischen Krone und Parlament. Er endete mit <strong>der</strong> H<strong>in</strong>richtung König Charles I. (Stuart)<br />

und <strong>der</strong> vorübergehenden Abschaffung <strong>der</strong> Monarchie, wobei <strong>der</strong> Anführer <strong>der</strong> puritanischen Parlamentsmehrheit<br />

und Sieger von Preston, Oliver Cromwell, sich allerd<strong>in</strong>gs bald zum mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten<br />

Lordprotektor küren ließ.<br />

57. Er tut dies (auf Anregung monarchistisch ges<strong>in</strong>nter Freunde) mit <strong>der</strong> Veröffentlichung se<strong>in</strong>er Schrift +Elements<br />

of Law*, wo e<strong>in</strong> Vorentwurf zu se<strong>in</strong>er später weiter ausgearbeiteten Vertragstheorie erfolgt.<br />

58. Ursprünglich sollte dieser Band den dritten Teil des von Hobbes geplanten Opus Magnum +Elemente <strong>der</strong> Philosophie*<br />

bilden. Die eigentlich vorher zur Veröffentlichung geplanten Werke +De Corpore* und +De Hom<strong>in</strong>e* wurden aber<br />

erst später (1655 bzw. 1658) ausgearbeitet und druckgelegt. Diese Umstellung <strong>der</strong> logischen Reihenfolge geschah<br />

aus politischen Gründen. Im Vorwort von +De Cive* heißt es dazu: +Ich habe mich aus re<strong>in</strong>er Neigung zur Philosophie<br />

mit ihr beschäftigt, ihre ersten Elemente <strong>in</strong> allen Zweigen gesammelt und allmählich <strong>in</strong> drei Teilen zusammengestellt:<br />

im ersten handle ich vom Körper und se<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>en Eigenschaften; im zweiten vom Menschen und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

von se<strong>in</strong>en Vermögen und Leidenschaften; im dritten vom Staat und den Pflichten <strong>der</strong> Bürger […] Indem ich dies<br />

alles vervollständigte […] traf es sich, daß me<strong>in</strong> Vaterland, e<strong>in</strong>ige Jahre vor Ausbruch des Bürgerkrieges, durch Erörterungen<br />

über die Rechte <strong>der</strong> Herrscher und den schuldigen Gehorsam <strong>der</strong> Bürger, die Vorläufer des nahenden Krieges, heftig<br />

aufgeregt wurde. Dies veranlaßte mich, den dritten Teil mit Zurückstellung <strong>der</strong> vorangehenden zunächst zur Reife<br />

und zum Abschluß zu br<strong>in</strong>gen.* (S. 71f.) Hobbes verfolgte also ganz offenkundig mit <strong>der</strong> vorgezogenen Veröffentlichung<br />

e<strong>in</strong>e politische Absicht, und er ruft sogar zur Denunziation auf: +Wenn irgende<strong>in</strong> Volksredner […] die Lehre [verbreitet],<br />

daß […] die Bürger Aufruhr, Verschwörungen und Bündnisse gegen den Staat mit Recht unternehmen dürften […]<br />

so glauben Sie me<strong>in</strong>e Leser ihm nicht, son<strong>der</strong>n zeigen Sie se<strong>in</strong>en Namen <strong>der</strong> Obrigkeit an. Wer mir hier<strong>in</strong> beistimmt,<br />

<strong>der</strong> wird auch me<strong>in</strong>e Absicht bei Abfassung dieses Buches billigen.* (Ebd.; S. 72f.)<br />

59. Der vollständige Titel lautet:+Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and<br />

Civil*.<br />

60. Siehe hierzu (falls übergangen) Anmerkung 56.<br />

61. Hobbes verweist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf die damaligen Verhältnisse im rechtsfreien Raum <strong>der</strong> Weiten<br />

des erst kürzlich entdeckten amerikanischen Kont<strong>in</strong>ents. Auch die anomischen Zustände zur Zeit des Bürgerkriegs<br />

deutet er als Beleg für se<strong>in</strong>e These vom +bellum omnium contra omnes*. Denn <strong>der</strong> Bürgerkrieg war, so Hobbes, nichts<br />

an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong> Rückfall <strong>in</strong> den Naturzustand. Und selbst, wenn es niemals e<strong>in</strong>e Zeit gegeben hätte, +<strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong> je<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>es jeden Fe<strong>in</strong>d war, so leben doch die Könige und die, welche die höchste Gewalt haben, mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> ständiger<br />

Fe<strong>in</strong>dschaft* (Leviathan; S. 117 [Kap. 13]).<br />

62. Zum +natürlichen Recht auf alles* vgl. Leviathan; S. 118f. (Kap. 14).<br />

63. Der Name ist <strong>in</strong> Anspielung auf e<strong>in</strong> biblisches Ungeheuer gewählt, und im Bild vom Leviathan kommt e<strong>in</strong>e<br />

korporatistische Auffassung zum Tragen: +Der große Leviathan […] ist e<strong>in</strong> Kunstwerk o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> künstlicher Mensch<br />

[…] Bei dem Leviathan ist <strong>der</strong>jenige, welcher die höchst Gewalt besitzt, gleichsam die Seele, welche den ganzen<br />

Körper belebt und <strong>in</strong> Bewegung setzt; die Obrigkeiten und Beamten stellen die künstlichen Glie<strong>der</strong> dar […] [und]<br />

das Glück des Volkes [ist] das allgeme<strong>in</strong>e Geschäft.* (Leviathan; S. 5 [E<strong>in</strong>leitung])<br />

64. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es die Möglichkeit, daß die Gesellschaft wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Naturzustand zurückversetzt wird, womit<br />

je<strong>der</strong> auch wie<strong>der</strong> das Recht für sich <strong>in</strong> Anspruch nehmen kann, sich selbst zu verteidigen. Dieser Rückfall <strong>in</strong> den<br />

Naturzustand tritt dann e<strong>in</strong>, wenn <strong>der</strong> +Oberherr* se<strong>in</strong>e Pflicht, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten (was ja Zweck<br />

<strong>der</strong> Staatsgründung war), nicht erfüllt und er so implizit (o<strong>der</strong> auch explizit) abgedankt hat: +Die Verpflichtung <strong>der</strong>


24 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Bürger gegen den Oberherrn kann nur so lange dauern, als dieser im Stande ist, die Bürger zu schützen; denn das<br />

natürliche Recht <strong>der</strong> Menschen, sich selbst zu schützen, falls es ke<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er tun kann, wird durch ke<strong>in</strong>en Vertrag<br />

vernichtet […] Entsagt <strong>der</strong> Monarch <strong>der</strong> höchsten Gewalt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em o<strong>der</strong> se<strong>in</strong>er Erben Namen, so werden die Bürger<br />

wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Naturzustand versetzt.* (Leviathan; S. 197f. [Kap. 21])<br />

65. Für Hobbes bedeutet +Ungerechtigkeit […] die Nichterfüllung e<strong>in</strong>es geschlossenen vertraglichen Abkommens*<br />

(Leviathan; S. 129 [Kap. 15]).<br />

66. Den Souveränitätsgedanken entlieh Hobbes allerd<strong>in</strong>gs von Jean Bod<strong>in</strong> (1529/30–1596), <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en +six livres<br />

de la république* (1576) dargelegt hat, daß es im Staat e<strong>in</strong>e höchste Gewalt geben muß, die ke<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en irdischen<br />

Gewalt mehr unterstellt ist (vgl. hierzu auch Schwan: Politische Theorien des Rationalismus und <strong>der</strong> Aufklärung; S.<br />

168f.).<br />

67. Zu deutsch: +Macht, nicht Wahrheit, bestimmt das Gesetz.* Es handelt sich hier um e<strong>in</strong> Zitat aus <strong>der</strong> late<strong>in</strong>ischen<br />

(erst nach <strong>der</strong> englischen Fassung herausgegebenen und zu ihr leicht unterschiedlichen) Ausgabe des +Leviathan* (vgl.<br />

Hobbes: Opera Lat<strong>in</strong>a; Band 3, S. 202).<br />

68. In Großbritannien wird die Königsmacht bereits 1215 durch <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Magna Carta Libertatum* verbriefte Adelsrechte<br />

e<strong>in</strong>geschränkt, und schon 1295 wird e<strong>in</strong> dauerhaftes Parlament e<strong>in</strong>gerichtet, <strong>in</strong> dem Vertreter <strong>der</strong> +Gentry* (Landadel)<br />

sowie e<strong>in</strong>ige sog. +Commons* (Geme<strong>in</strong>devertreter) sitzen. Ab 1295 kommt dem Parlament das Recht <strong>der</strong> Steuerbewilligung<br />

zu. Charles I. (1625–1649) löst es 1629 jedoch auf, da er sich durch die 1628 vom Parlament verabschiedete +Petition<br />

of Rights*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Sicherheit vor willkürlicher Verhaftung und Besteuerung gefor<strong>der</strong>t wird, provoziert fühlte. 1640<br />

ruft er es jedoch wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>, da er e<strong>in</strong>en Krieg gegen die aufständischen Schotten führt und dazu Mittel braucht, die<br />

nur das Parlament bewilligen kann. Das wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>berufene Parlament läßt sich aber nun nicht mehr wie<strong>der</strong> auflösen<br />

und for<strong>der</strong>t mehr Machtbeteiligung. Dieser Gegensatz zwischen Krone und Parlament führt ab 1642 zum bereits<br />

angesprochenen Bürgerkrieg, <strong>der</strong> 1648/49 mit <strong>der</strong> vorübergehenden Abschaffung <strong>der</strong> Monarchie endet.<br />

69. Locke verfaßt zwei Abhandlungen. Die erste stellt e<strong>in</strong>e Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong> Thesen John Filmers (1590–1653) dar,<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e reaktionäre Staatstheorie verfaßt hatte. Bedeutsam ist nur <strong>der</strong> +Second Treatise*, auf den ich mich hier <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Darstellung beschränke. Wer übrigens mehr zu Lockes Biographie und Werk erfahren will, <strong>der</strong> sei z.B. auf Udo<br />

Thiels Darstellung aus <strong>der</strong> Reihe +Rowohlts Monographien* verwiesen.<br />

70. Offiziell veröffentlicht wird Lockes Schrift allerd<strong>in</strong>gs erst 1690.<br />

71. Hierzu heißt es bei Locke: +Im Naturzustand herrscht e<strong>in</strong> natürliches Gesetz, das für alle verb<strong>in</strong>dlich ist. Die Vernunft<br />

aber, welcher dieses Gesetz entspr<strong>in</strong>gt, lehrt alle Menschen, […] daß niemand e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en, da alle gleich s<strong>in</strong>d,<br />

an se<strong>in</strong>em Leben, se<strong>in</strong>er Gesundheit, se<strong>in</strong>er Freiheit o<strong>der</strong> se<strong>in</strong>em Besitz Schaden zufügen soll. Alle Menschen s<strong>in</strong>d<br />

das Werk e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers […] Sie s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong> Eigentum, denn sie s<strong>in</strong>d<br />

se<strong>in</strong> Werk […] Und da […] wir [somit] alle Glie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>der</strong> Natur, s<strong>in</strong>d, kann nicht angenommen<br />

werden, daß irgende<strong>in</strong>e Rangordnung unter uns dazu ermächtigt, e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu zerstören.* (Über die Regierung; § 6)<br />

72. Locke stellt klar: +Wo immer e<strong>in</strong>e Anzahl von Menschen sich so zu e<strong>in</strong>er Gesellschaft vere<strong>in</strong>igt hat, daß je<strong>der</strong><br />

se<strong>in</strong>es Rechtes, das Naturgesetz zu vollstrecken, entsagt und zugunsten <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit darauf verzichtet, dort –<br />

und e<strong>in</strong>zig dort entsteht e<strong>in</strong>e politische o<strong>der</strong> bürgerliche Gesellschaft.* (Über die Regierung; § 89)<br />

73. Obwohl Locke gerade das Fehlen e<strong>in</strong>er unabhängigen richterlichen Instanz im Naturzustand für dessen Entartung<br />

zum (Hobbesschen) +Krieg aller gegen aller* verantwortlich macht (vgl. Über die Regierung; § 125), unterscheidet<br />

er nur zwischen Legislative (die er idealerweise <strong>in</strong> die Hände <strong>der</strong> Honoratioren gelegt sieht) und Exekutive (am besten<br />

e<strong>in</strong> aufgeklärter Monarch). Der Exekutive kommt zudem die Fö<strong>der</strong>ativgewalt (außenpolitische Vertretung) und die<br />

Prärogative (d.h. e<strong>in</strong> exekutiver Gestaltungsfreiraum) zu (vgl. Über die Regierung; §§ 134–168).<br />

74. Gerechterweise muß man aber e<strong>in</strong>räumen, daß <strong>der</strong> Eigentumsbegriff bei Locke nicht nur materiellen Besitz umfaßt,<br />

son<strong>der</strong>n daneben auch Leben und Freiheit be<strong>in</strong>haltet bzw. be<strong>in</strong>halten kann (vgl. Über die Regierung; § 87 u. § 123).<br />

Wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>schränkend muß man jedoch feststellen, daß <strong>der</strong> materielle Besitz e<strong>in</strong>deutig den Vorrang zu genießen<br />

sche<strong>in</strong>t, denn Eigentumsschutz steht selbst höher als <strong>der</strong> Schutz des Lebens und ist sogar für den Fall e<strong>in</strong>er kriegerischen<br />

Eroberung zu gewährleisten: +Die Gewalt, die e<strong>in</strong> Eroberer über diejenigen gew<strong>in</strong>nt, die er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gerechten Krieg<br />

unterwirft, ist voll und ganz despotische Gewalt: Er hat absolute Gewalt über das Leben <strong>der</strong>er, die ihr Leben verwirkt


A: ANMERKUNGEN 25<br />

haben, <strong>in</strong>dem sie sich <strong>in</strong> den Kriegszustand versetzten, er hat aber damit noch ke<strong>in</strong> Recht und ke<strong>in</strong>en Anspruch auf<br />

ihren Besitz.* (Ebd.; § 180)<br />

75. +Über den Ursprung <strong>der</strong> Ungleichheit unter den Menschen* (so die deutsche Übersetzung) zählt wie +Über Kunst<br />

und Wissenschaft* zu den kulturkritischen Schriften Rousseaus. Beides s<strong>in</strong>d Antworten auf Preisfragen <strong>der</strong> Akademie<br />

von Dijon. An<strong>der</strong>s als beim ersten Mal (1750) gewann Rousseau mit dem Diskurs +Über den Ursprung <strong>der</strong> Ungleichheit*<br />

(1755) jedoch nicht die renommierte Ausschreibung.<br />

76. Zum+d<strong>in</strong>glichen Besitz* heißt es gar im 9. Kapitel des +Contrat social*: +Das Recht e<strong>in</strong>es ersten Besitznehmers<br />

wird […] erst nach E<strong>in</strong>führung des Eigentumsrechts e<strong>in</strong> wirkliches Recht* (S. 23) und wird (dann) +von jedem gesitteten<br />

Menschen geachtet* (ebd.; S. 24).<br />

77. Zum E<strong>in</strong>fluß Rousseaus auf die Revolution von 1789 vgl. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie; S. 258–304<br />

sowie McDonald: Rousseau and the French Revolution (<strong>in</strong>sb. S. 115–127).<br />

78. Wichtigen geistigen und geistlichen Rückhalt hatte <strong>der</strong> Absolutismus <strong>in</strong> Frankreich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gestalt des Kard<strong>in</strong>als<br />

und M<strong>in</strong>isters Richelieu (1585–1642). Grundpr<strong>in</strong>zip des politischen Handelns war für ihn die Staatsraison. Diese<br />

wird vom Monarchen verkörpert. Ihm s<strong>in</strong>d alle Staatsangehörigen, auch <strong>der</strong> Adel, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e aber das Volk<br />

untergeordnet: +Alle <strong>Politik</strong>er stimmen dar<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>, daß das Volk, wenn es ihm zu gut g<strong>in</strong>ge, unmöglich <strong>in</strong> den<br />

Schranken se<strong>in</strong>er Pflicht zu halten wäre […] Die Raison gestattet es nicht, es von allen Lasten zu befreien, da es <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em solchen Fall zugleich mit dem Verlust des Kennzeichens se<strong>in</strong>er Unterordnung die Er<strong>in</strong>nerung an se<strong>in</strong>e rechtliche<br />

Stellung verlieren würde […]* (zitiert nach Bouthoul: Staatsideen und politische Programme <strong>der</strong> Weltgeschichte; S.<br />

126). Jacques Bossuet (1588–1679), e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Apologet des Absolutismus, prägte dementsprechend die Formel<br />

+Un roi, une foi, une loi* (E<strong>in</strong> König, e<strong>in</strong> Glaube, e<strong>in</strong> Gesetz).<br />

79. Darauf weist neben Fetscher (vgl. Rousseaus politische Philosophie; S. 254ff.) z.B. auch Helga Greb<strong>in</strong>g im Rahmen<br />

<strong>der</strong> Totalitarismus-Diskussion h<strong>in</strong> – denn e<strong>in</strong>e Reihe von Interpreten sehen <strong>in</strong> Anschluß an Talmon <strong>in</strong> Rousseaus Denken<br />

sogar totalitäre Ansätze (vgl. Die Ursprünge <strong>der</strong> totalitären Demokratie; S. 6ff.). Vermutlich <strong>in</strong> Anspielung auf e<strong>in</strong>e<br />

Stelle im zehnten Kapitel des +Contrat social*, wo Rousseau die erwünschten Eigenschaften für e<strong>in</strong> zur (Selbst-)Gesetzgebung<br />

geeignetes Volk auflistet (vgl. S. 55f. [II,10]), bemerkt diese: +Se<strong>in</strong>e Vorstellungen vom Zusammenleben <strong>der</strong><br />

Menschen <strong>in</strong> Gesellschaft und Staat ähneln e<strong>in</strong>er auf dem privaten Eigentum beruhenden ›bäuerlichen und<br />

kle<strong>in</strong>bürgerlichen Tugend-Republik‹* (L<strong>in</strong>ksextremismus gleich Rechtsextremismus – E<strong>in</strong>e falsche Gleichung; S. 58) Die<br />

Angaben <strong>in</strong> eckigen Klammern beziehen sich übrigens auf Rousseaus Glie<strong>der</strong>ung. Die römische Ziffern geben das<br />

Buch an und die arabischen Ziffern verweisen auf das betreffende Kapitel.<br />

80. Rousseaus Lebensgeschichte ist äußerst spannend und mit e<strong>in</strong>em gewissen Spott läßt sich bemerken, daß Rousseau<br />

se<strong>in</strong>e Heimatstadt schon als junger Bursche und noch dazu eher fluchtartig, aus Angst vor Prügel verlassen hat. Ich<br />

möchte hier aber nicht weiter auf se<strong>in</strong>e Biographie e<strong>in</strong>gehen und empfehle zur weiteren Vertiefung z.B. Holmsten:<br />

Jean-Jacques Rousseau. Speziell auf die Wechselbeziehung zwischen Leben und Werk geht Röhrs e<strong>in</strong> (Jean-Jacques<br />

Rousseau – Vision und Wirklichkeit).<br />

81. Zu Biographie und Werk Kants vgl. z.B. Schulz: Immanuel Kant.<br />

82. Kant versteht unter e<strong>in</strong>er Maxime +das subjektive Pr<strong>in</strong>zip zu handeln*, welches +vom objektiven Pr<strong>in</strong>zip, nämlich<br />

dem praktischen Gesetz, unterschieden werden* muß (Metaphysik <strong>der</strong> Sitten; S. 278, Anm. 2).<br />

83. In +Über den Geme<strong>in</strong>spruch* (1793) heißt es dazu: +Hier ist nun e<strong>in</strong> ursprünglicher Kontrakt, auf den alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

bürgerliche, mith<strong>in</strong> durchgängig rechtliche Verfassung unter den Menschen gegründet […] werden kann. – Alle<strong>in</strong><br />

dieser Vertrag […] ist ke<strong>in</strong>eswegs als e<strong>in</strong> Faktum vorauszusetzen nötig […] Son<strong>der</strong>n es [er] ist e<strong>in</strong>e bloße Idee <strong>der</strong> Vernunft,<br />

die aber ihre unbezweifelbare (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verb<strong>in</strong>den, daß er se<strong>in</strong>e Gesetze<br />

so gebe, als [ob] sie aus dem vere<strong>in</strong>ten Willen e<strong>in</strong>es ganzen Volkes haben entspr<strong>in</strong>gen können […] Denn das ist <strong>der</strong><br />

Probierste<strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtmäßigkeit e<strong>in</strong>es jeden öffentlichen Gesetzes.* (S. 380f.)<br />

84. Trotz dieser Bestimmung, die schon an an<strong>der</strong>er Stelle zitiert wurde (siehe S. XVI) und sehr an Hobbes er<strong>in</strong>nert,<br />

sieht Kant als <strong>in</strong>stitutionelle Absicherung <strong>der</strong> bürgerliche Freiheit e<strong>in</strong> System <strong>der</strong> Gewaltenteilung vor (Vgl. Metaphysik<br />

<strong>der</strong> Sitten; S. 119–124).


26 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

85. Zu Biographie und Werk Hegels vgl. z.B. Wiedmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel.<br />

86. Schmitt betont <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Politische Theologie* (1922), daß +alle prägnanten Begriffe <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Staatslehre<br />

[…] säkularisierte theologische Begriffe* seien (S. 49). Voegel<strong>in</strong> spricht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk +Die politischen Religionen*<br />

(1938) ganz ähnlich von e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>nerweltlichen Ekklesia, für die ihm als treffendste Beispiele <strong>der</strong> Marxismus und die<br />

(faschistische) Rassenlehre dienen. Beide dieser +politischen Religionen*g<strong>in</strong>gen nämlich davon aus, e<strong>in</strong>e Art +geschichtliche<br />

Sendung* bzw. e<strong>in</strong>en +historischen Auftrag* zu besitzen und entwickelten streng dogmatische Lehren, die Glaubensbekenntnissen<br />

gleich kommen. Insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Faschismus beschwört mit se<strong>in</strong>er Führerideologie und dem Bild<br />

<strong>der</strong> Volkse<strong>in</strong>heit darüber h<strong>in</strong>aus Symbole, die die Stelle e<strong>in</strong>es Gottesbildes e<strong>in</strong>nehmen (vgl. S. 49–61). Indem die<br />

politischen Religionen aber gerade dadurch die +Realität Gottes* elim<strong>in</strong>ierten, mußten sie laut Voegel<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sackgasse<br />

führen (vgl. ebd.; S. 63ff.). In +Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie* (1969) konstatiert Wilhelm Kamlah (wie<br />

Voegel<strong>in</strong>) e<strong>in</strong> Versagen <strong>der</strong> neuzeitlichen Vernunft, wobei auch er auf die Nähe des aufklärerischen Fortschrittsdenkens<br />

zur christlichen Teleologie h<strong>in</strong>weist: +Utopie, Eschatologie, Geschichtstheologie, neuzeitliche futuristische Geschichtsdeutung<br />

haben […] nicht alle<strong>in</strong> dies geme<strong>in</strong>sam, daß sie Zeugnisse des bedürftigen und leidenden Menschen s<strong>in</strong>d,<br />

<strong>der</strong> stets, sofern er nur Mensch ist, über se<strong>in</strong>e bedrängte Gegenwart h<strong>in</strong>ausdenkt. Sie haben darüber h<strong>in</strong>aus dies<br />

geschichtlich Beson<strong>der</strong>e geme<strong>in</strong>sam, daß sie auf e<strong>in</strong> endgültiges Heil ausblicken.* (S. 51). Dolf Sternberger wie<strong>der</strong>um<br />

geht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Drei Wurzeln <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (1978) den Ursprüngen des Politischen nach, und kommt zum Ergebnis,<br />

daß das Wesen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (im Abendland) durch drei historische Begriffstraditionen geprägt ist. War <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike<br />

das Politische mit dem Öffentlichen gleichbedeutend (vgl. ebd., Teil II), so setzte mit Machiavelli e<strong>in</strong> <strong>Politik</strong>verständnis<br />

e<strong>in</strong>, das <strong>Politik</strong> re<strong>in</strong> zweckrational als kluge Ausübung <strong>der</strong> Herrschaft def<strong>in</strong>ierte (vgl. ebd.; Teil III). Die jüngste Bedeutung<br />

von <strong>Politik</strong> ist marxistisch geprägt und setzt <strong>Politik</strong> mit dem Willen zur Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> bestehenden Verhältnisse<br />

gleich (vgl. ebd.; S. 269ff.), <strong>der</strong> vom +Geist <strong>der</strong> Utopie* getragen ist (vgl. ebd.; S. 277ff.). Dieser +Geist <strong>der</strong> Utopie*<br />

(so heißt übrigens e<strong>in</strong>e Schrift von Ernst Bloch) beseelt auch die +bolschewistische Kirche*, die nicht nur das +ewige<br />

Leben* und allgeme<strong>in</strong>e +Heil* im Reich <strong>der</strong> Freiheit des Kommunismus verspricht, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> dualistischen Manier<br />

des august<strong>in</strong>ischen Denkens im Rahmen ihrer Zwei-Klassen-Lehre die Welt <strong>in</strong> Gute und Böse, <strong>in</strong> Ausbeuter und<br />

Ausgebeutete, dividiert (vgl. ebd.; S. 422f.). Die Argumente von Schmitt, Voegel<strong>in</strong>, Kamlah und Sternberger ähneln<br />

sich also. Es war allerd<strong>in</strong>gs Rousseau, <strong>der</strong> als erster +Von <strong>der</strong> bürgerlichen Religion* sprach (vgl. Vom Gesellschaftsvertrag;<br />

Buch IV, Kap. 8).<br />

87. Thomas Morus (1478–1535) zeichnete <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Utopia* (1516) e<strong>in</strong> f<strong>in</strong>giertes Paradies, e<strong>in</strong>en imag<strong>in</strong>ären<br />

Garten Eden, <strong>der</strong> <strong>in</strong> vielen Punkten Platons Idealstaat aus <strong>der</strong> +Politeia* ähnelt und den er <strong>der</strong> von sozialen Mißständen<br />

geprägten feudalen Monarchie se<strong>in</strong>er Zeit gegenüberstellt. Der Dom<strong>in</strong>ikanermönch Tommaso Campanella (1568–1638)<br />

entwarf <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift vom +Sonnenstaat* (1602) e<strong>in</strong>e theokratische und zugleich radikal +kommunistische* Gesellschaft,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie und Besitz abgeschafft waren, um den Egoismus <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen zu überw<strong>in</strong>den. (Vgl. hierzu Droz: Die<br />

sozialistischen Utopien <strong>der</strong> Frühen Neuzeit; S. 112–123)<br />

88. Vgl. hierzu auch Ottmann: Politische Theologie als Begriffsgeschichte; S. 178ff.<br />

89. Für e<strong>in</strong>en knappen Überblick zur +Entstehung des europäischen Konservativismus* vgl. z.B. den Artikel von Valjavec<br />

<strong>in</strong> dem von Hans-Gerd Schumann herausgegebenen Sammelband +Konservatismus* (1984). Ebenfalls e<strong>in</strong>e Reihe<br />

<strong>in</strong>teressanter Artikel zum +Konservatismus <strong>in</strong> Geschichte und Gegenwart* f<strong>in</strong>den sich bei Faber (1991).<br />

90. Dazu Greiffenhagen: +Die nationalen Ausformungen des europäischen Konservatismus lassen e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>gularen<br />

Gebrauch kaum zu. Und selbst <strong>in</strong>nerhalb des deutschen o<strong>der</strong> französischen Konservatismus fällt es schwer, bestimmte<br />

Strukturmerkmale dieses politischen Denkens und Stiles durchgängig nachzuweisen.* (Das Dilemma des Konservatismus<br />

<strong>in</strong> Deutschland; S. 28) Trotz solcher Heterogenität teilt z.B. Wilhelm Ribhegge den Konservatismus <strong>in</strong> drei Phasen<br />

e<strong>in</strong>: 1. Den klassischen europäischen Konservatismus (1789–1848: bestimmt durch die Reaktion auf die Französische<br />

Revolution), 2. den bürgerlich-nationalen Konservatismus (1848–1918: das Bürgertum wird zunehmend zum Träger<br />

des Konservatismus und nationalistische Elemente Gew<strong>in</strong>nen an Bedeutung) und 3. den mo<strong>der</strong>nen Konservatismus<br />

(von 1918 bis zur Gegenwart: Prägung durch Massengesellschaft, Technisierung und die Übernahme von wirtschaftsliberalen<br />

Positionen). (Vgl. Konservatismus – Versuch zu e<strong>in</strong>er kritisch-historischen Theorie; S. 129ff.) Fritzsche unterscheidet<br />

dagegen vier Grundtypen des Konservatismus: den antirevolutionären, auf Burke zurückgehenden +skeptischen<br />

Pragmatismus*, die +Politische Romantik* (Müller, Hardenberg, Stahl etc.), den +dezisionistischen Konservatismus*<br />

(Cortés) und den +sozialen Konservatismus* (Ste<strong>in</strong>). Für den Konservatismus <strong>der</strong> Gegenwart differenziert er vor allem<br />

die +Altkonservativen* vom +technokratischen Konservatismus*. (Vgl. Konservatismus; S. 71–78 u. S. 87–96)


A: ANMERKUNGEN 27<br />

91. Bei dieser Zusammenschau bezog ich mich vor allem auf den oben zitierten Artikel von Göhler und Kle<strong>in</strong> (vgl.<br />

Politische Theorien im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 317–321) sowie auf Hunt<strong>in</strong>gton: Konservatismus als Ideologie. Wesentlich<br />

ausführlicher, im Kern jedoch kaum differierend, ist Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus <strong>in</strong> Deutschland<br />

(er widmet sich im gesamten zweiten Teil se<strong>in</strong>er Arbeit den +Grundzügen e<strong>in</strong>er konservativen Theorie*).<br />

92. Zur Differenzierung zwischen den verschiedenen Strömungen, dem die e<strong>in</strong>zelnen Vertreter zuzuordnen s<strong>in</strong>d,<br />

vgl. nochmals Anmerkung 90.<br />

93. Neben Schmitt wird hier meist vor allem auf das Gedankengut von Arthur Moeller von den Bruck (1876–1925)<br />

o<strong>der</strong> Ernst Jünger (geb. 1895) verwiesen (die e<strong>in</strong>em +revolutionären Konservatismus* zugeordnet werden). Von Moeller<br />

stammt auch <strong>der</strong> Begriff +Drittes Reich*. (Vgl. Fritzsche: Konservatismus; S. 82f.)<br />

94. Genau diese Ambivalenz, die mit e<strong>in</strong>er ideologischen Unschärfe e<strong>in</strong>her geht, kann me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach als (partielle)<br />

Erklärung für die große und auch breit über die Bevölkerung gestreute Attraktivität des Nationalsozialismus dienen.<br />

95. Walter Dirks spricht ganz allgeme<strong>in</strong> (aber mit beson<strong>der</strong>em Blick auf das Deutschland <strong>der</strong> beg<strong>in</strong>nenden +Ära Adenauer*)<br />

vom +restaurative[n] Charakter <strong>der</strong> Epoche* (1950).<br />

96. Zum Neokonservatismus und <strong>der</strong> +Neuen Rechten* vgl. den von Ir<strong>in</strong>g Fetscher Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre herausgegebenen<br />

Band: Neokonservative und ›Neue Rechte‹ sowie Elm: Konservatismus heute.<br />

97. Vgl. z.B. Mossé: Die Ursprünge des Sozialismus im klassischen Altertum.<br />

98. Im folgenden beziehe ich mich vor allem auf Göhler/Kle<strong>in</strong>: Politische Theorien des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 470–506,<br />

Theimer: Geschichte des Sozialismus; S. 14–53 sowie Meyer: Frühsozialismus. Quellentexte zu den meisten Frühsozialisten<br />

f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> dem Band +Der Frühsozialismus* (1956) von Thilo Ramm, <strong>der</strong> auch e<strong>in</strong>e gute E<strong>in</strong>leitung gibt. Ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>e reiche Sammlung von Quellentexten f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweibändigen Anthologie +Die frühen Sozialisten* (1972),<br />

herausgegeben von Frits Kool und Werner Krause.<br />

99. Als Sprachrohr diente Babeuf die von ihm gegründete Zeitschrift +Journal de la liberté de presse* (später umgetauft<br />

<strong>in</strong> +Le tribun du Peuple*). Se<strong>in</strong>e wichtigste Schrift ist das +Manifest <strong>der</strong> Plebejer* (1795).<br />

100. Fouriers bedeutendste ökonomisch-soziale Schriften s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong> zweibändiger +Traité de l’association domestiqueagricole*<br />

(1822) und +Le nouveau monde <strong>in</strong>dustriel et sociétaire* (1829). Blancs zentrales (ökonomisches) Werk ist<br />

die Schrift +Organisation du travail* (1840). Proudhon entwickelt ebenfalls 1840 im Rahmen se<strong>in</strong>er Antwort auf die<br />

Preisfrage <strong>der</strong> Akademie von Besançan +Qu’est ce que la Propriété?* das System e<strong>in</strong>es +mutualistischen Syndikalismus*<br />

ohne jegliches Privateigentum. Denn die eigentliche Frage <strong>der</strong> Akademie (+Was ist das Eigentum?*) beanwortete er<br />

schließlich mit <strong>der</strong> berühmt gewordenen Formel: +c’est le vol* (es ist Diebstahl).<br />

101. In se<strong>in</strong>er Schrift +Comment je suis communiste* (1840) heißt es: +Ke<strong>in</strong>e Arme [!], ke<strong>in</strong>e Reiche [!] wird es geben,<br />

ke<strong>in</strong>e Knechte; ke<strong>in</strong>e Sorgen, ke<strong>in</strong>e Ängste; we<strong>der</strong> Eifersucht noch Haß; we<strong>der</strong> Habgier noch Ehrfurcht.* (Zitiert<br />

Göhler/Kle<strong>in</strong>: Politische Theorien im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 492)<br />

102. Hobbes und Locke können laut Macpherson als wichtigste Theoretiker des Besitz<strong>in</strong>dividualismus gelten (vgl.<br />

Die politische Theorie des Besitz<strong>in</strong>dividualismus; S. 13f.) – auch wenn man bezüglich Hobbes, <strong>der</strong> ja e<strong>in</strong>e absolutistische<br />

Staatsphilosophie entwickelt hat, hier deutliche Zweifel anmelden kann.<br />

103. Se<strong>in</strong>e Auffassung über die Erziehung legt Rousseau <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em berühmten Erziehungsroman +Emile* (1762) dar.<br />

104. Godw<strong>in</strong>s wichtigste Schrift ist das zweibändige Kompendium +An Enquiry Concern<strong>in</strong>g Political Justice and its<br />

Influence on General Virtue and Happ<strong>in</strong>ess* (1793).<br />

105. Me<strong>in</strong>e Formulierung lehnt sich hier an Engels bekannte Schrift +Die Entwicklung des Sozialismus von <strong>der</strong> Utopie<br />

zur Wissenschaft* (1880) an. Schon im +Manifest <strong>der</strong> Kommunistischen Partei* (1848) f<strong>in</strong>den sich aber Seitenhiebe<br />

auf den +reaktionären Sozialismus* des (Feudal-)Adels, des Kle<strong>in</strong>bürgertums und des deutschen Frühsozialismus. Auch<br />

<strong>der</strong> konservative +Bourgeoissozialismus* und <strong>der</strong> Utopismus werden abgelehnt (vgl. dort Abschnitt 3).


28 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

106. Zu letzerem Punkt Engels: +Die Arbeit ist die Quelle alles [!] Reichtums, sagen die politischen Ökonomen. Sie<br />

ist dies – neben <strong>der</strong> Natur, die ihr den Stoff liefert, den sie <strong>in</strong> Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich viel<br />

mehr als dies. Sie ist die Grundbed<strong>in</strong>gung alles [!] menschlichen Lebens, und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Grade, daß wir<br />

sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen.* (Anteil <strong>der</strong> Arbeit an <strong>der</strong> Menschwerdung des Affens; S. 344)<br />

107. Der berühmt gewordene Aufruf: +Proletarier aller Län<strong>der</strong>, vere<strong>in</strong>igt euch!* aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe<br />

des +Manifests* belegt den Internationalismus des Sozialismus klar, denn: +Mit dem Gegensatz <strong>der</strong> Klassen im Innern<br />

<strong>der</strong> Nation fällt die fe<strong>in</strong>dliche Stellung <strong>der</strong> Nationen gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.* (Ebd.; S. 46) Allerd<strong>in</strong>gs trug <strong>der</strong> russische<br />

Bolschewismus <strong>in</strong> Anlehnung an Len<strong>in</strong>s Gedanken klar nationalistische Züge.<br />

108. Marx war kurz nach Ausbruch <strong>der</strong> +Revolution* von Brüssel nach Köln gereist. Im Mai 1849 wurde er ausgewiesen.<br />

Danach g<strong>in</strong>g er über e<strong>in</strong>en Zwischenstopp <strong>in</strong> Frankreich nach London, wo er bis an se<strong>in</strong> Lebensende blieb. Genaueres<br />

zur Biographie ist z.B. <strong>der</strong> +Marx-Chronik* (1983) von Maximilien Rubel zu entnehmen.<br />

109. Zum historischen H<strong>in</strong>tergrund vgl. z.B. Görtemaker: Deutschland im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

110. In England war e<strong>in</strong> solches bereits 1824 aufgehoben worden. Trotzdem kam es 1844 aufgrund akuter Not zum<br />

sog. +Weberaufstand*, <strong>der</strong> schließlich aber durch das preußische Militär nie<strong>der</strong>geschlagen wurde.<br />

111. Der Begriff +Revisionismus* ist <strong>in</strong> Deutschland untrennbar mit dem Namen Eduard Bernste<strong>in</strong> (1859–1932) verbunden.<br />

1872 wurde er Mitglied <strong>der</strong> Partei Liebknechts und Bebels und wurde nach dem Tod Engels dessen Nachlaßverwalter.<br />

Politisch zielte er auf e<strong>in</strong>e Neubestimmung des Sozialismus angesichts <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, weniger polarisierenden Entwicklung,<br />

die die Gesellschaft im Vergleich zu Marx’ ursprünglichen Aussagen genommen hatte. Insbeson<strong>der</strong>e nahm er deshalb<br />

von <strong>der</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er Notwendigkeit <strong>der</strong> Revolution abstand und vertrat dagegen e<strong>in</strong> Transformationsmodell:<br />

+Das, was man geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles.* (Die Voraussetzungen<br />

des Sozialismus; zitiert nach Göhler/Kle<strong>in</strong>: Politische Theorien im 19 Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 560)<br />

112. Zur Arbeiterbewegung <strong>in</strong> Deutschland vgl. Greb<strong>in</strong>g: Die Geschichte <strong>der</strong> deutschen Arbeiterbewegung.<br />

113. Der Anarchismus ist e<strong>in</strong>e politische Bewegung, die niemals die Bedeutung des Konservatismus o<strong>der</strong> des Sozialismus<br />

err<strong>in</strong>gen konnte und <strong>der</strong> auch nicht dem Sozialismus subsumiert werden kann. Begrenzt wäre dies bestenfalls für<br />

den explizit kommunistischen Anarchismus Bakun<strong>in</strong>s o<strong>der</strong> die sog. Anarcho-Syndikalisten (z.B. Monatte) zu begründen.<br />

Der <strong>in</strong>dividualistische Anarchismus wie ihn Max Stirner (1806–56) <strong>in</strong> extremer Form vertrat, weist dagegen sogar<br />

eher Bezüge zum Liberalismusauf. E<strong>in</strong>en knappen, aber recht brauchbaren Überblick über die verschiedenen Strömungen<br />

des Anarchismus gibt Franz Neumann: Anarchismus. Ausführlicher ist Guér<strong>in</strong>: Anarchismus – Begriff und Praxis.<br />

114. Bakun<strong>in</strong> hatte vor allem die oligarchische Tendenz des marxistischen Sozialismus kritisiert. In se<strong>in</strong>er Schrift<br />

+Staatlichkeit und Anarchie*(1873) schreibt er z.B.: +Was soll das heißen, das zur herrschenden Klasse erhobene Proletariat?<br />

Soll etwa das ganze Proletariat an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Regierung stehen? […] Dies Dilemma <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> Marxisten<br />

wird e<strong>in</strong>fach gelöst. Unter Volksregierung verstehen sie die Regierung des Volkes durch e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Anzahl von<br />

Repräsentanten, die durch das Volk gewählt werden […] dieses letzte Wort <strong>der</strong> Marxisten, wie auch <strong>der</strong> demokratischen<br />

Schule ist e<strong>in</strong>e Lüge, h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Despotismus e<strong>in</strong>er herrschenden M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit verbirgt, und zwar e<strong>in</strong>e umso<br />

gefährlichere, als sie sich als Ausdruck des sogenannten Volkswillens gibt.* (S. 613)<br />

115. Marx g<strong>in</strong>g davon aus, daß die sozialistische Revolution aus den Wi<strong>der</strong>sprüchen des <strong>in</strong>dustriellen Kapitalismus<br />

zwangsläufig erwachsen würde: +Mit <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> großen Industrie wird also unter den Füßen <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

die Grundlage selbst h<strong>in</strong>weggezogen, worauf sie produziert und die die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor<br />

allem ihre eigenen Totengräber [das Proletariat]. Ihr Untergang und <strong>der</strong> Sieg des Proletariats s<strong>in</strong>d unvermeidlich.*<br />

(Manifest <strong>der</strong> kommunistischen Partei; S. 41). Industrialisierung kann deshalb als notwendige Voraussetzung <strong>der</strong> Revolution<br />

im klassischen Marxismus angesehen werden, und <strong>in</strong> Rußland war e<strong>in</strong>e solche sicher auch Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

noch kaum gegeben.<br />

Bakun<strong>in</strong> sah dagegen durchaus die Möglichkeit für e<strong>in</strong>e Revolution <strong>in</strong> Rußland auch ohne die Basis e<strong>in</strong>es Industrie-<br />

Proletariats, <strong>in</strong>dem sich die sozialistischen Revolutionäre die allgeme<strong>in</strong>e Unzufriedenheit des Volkes zunutze machen<br />

und versuchen auf die sich abzeichnende Volkserhebung E<strong>in</strong>fluß zu nehmen: +Die Zeit des allgeme<strong>in</strong>en Aufruhrs<br />

naht heran ..... Die Dörfer schlummern nicht .... Ne<strong>in</strong>! Sie s<strong>in</strong>d im Aufruhr. […] Wor<strong>in</strong> besteht nun unsere eigentliche<br />

Aufgabe? […] stürzen wir uns, Brü<strong>der</strong>, also wie e<strong>in</strong> Mann <strong>in</strong>s Volk, <strong>in</strong> die Volksbewegung, <strong>in</strong> den Räuber- und<br />

Bauernaufruhr, und <strong>in</strong>dem wir unsre treue, feste Freundschaft erhalten. Wollen wir die vere<strong>in</strong>zelten Bauernexplosionen


A: ANMERKUNGEN 29<br />

zu e<strong>in</strong>er wohlüberlegten, aber schonungslosen Revolution vere<strong>in</strong>igen.* (Die Aufstellung <strong>der</strong> Revolutionsfrage; S.99)<br />

Dieses Revolutionsprogramm ähnelt <strong>der</strong> späteren Auffassung Len<strong>in</strong>s, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Partei e<strong>in</strong>e revolutionäre Avantgarde<br />

sah, die den Volksaufstand (u.a. durch e<strong>in</strong>e gesteigerte publizistische Tätigkeit) <strong>in</strong> die rechten Bahnen lenken sollte<br />

(vgl. Was tun?; S. 193–199).<br />

116. Zur Entwicklung des Sowjet-Kommunismus und <strong>der</strong> sowjetischen Geschichte vgl. Altrichter: Kle<strong>in</strong>e Geschichte<br />

<strong>der</strong> Sowjetunion.<br />

117. E<strong>in</strong>en recht brauchbaren Überblick über die Entwicklung <strong>der</strong> kommunistischen Parteien (bis 1978) <strong>in</strong> den<br />

romanischen Län<strong>der</strong>n gibt <strong>der</strong> Ex-Sozialist Wolfgang Leonhard <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Band zum sog. +Eurokommunismus* (vgl.<br />

Teil III).<br />

118. Der Begriff +Liberalismus* leitet sich übrigens vom spanischen +liberales* ab, <strong>der</strong> Bezeichnung für die Anhänger<br />

<strong>der</strong> spanischen Verfassung von 1812. Wer sich speziell mit <strong>der</strong> Geschichte des deutschen Liberalismus beschäftigen<br />

will, auf die ich hier lei<strong>der</strong> nicht näher e<strong>in</strong>gehen kann, sei die umfangreiche Arbeit von James Sheehan +Der deutsche<br />

Liberalismus* (1978) empfohlen. E<strong>in</strong>en kurzen Überblick zum +Aufstieg des europäischen Liberalismus* gibt dagegen<br />

z.B. Harold Laski (1936).<br />

119. Der deutlichste Ausdruck des neuen bürgerlichen Selbstbewußtse<strong>in</strong>s ist das berühmte Pamphlet des Abbé Sieyès<br />

+Qu’est-ce que le Tiers État?* (1789) – denn die im Titel aufgeworfene Frage nach <strong>der</strong> Rolle und Bedeutung des Bürgerstands<br />

beantwortet er kühn: +Tout! [Alles!]* (S. 119).<br />

120. Vgl. hierzu z.B. Döhn: Liberalismus; S. 12ff. sowie Schapiro: Was ist Liberalismus? und Leontovitsch: Das Wesen<br />

des Liberalismus.<br />

121. Dieses +Evolutionsmodell* Marshalls ist gerade <strong>in</strong> jüngster Zeit e<strong>in</strong>er berechtigten Kritik unterzogen worden,<br />

die beson<strong>der</strong>s darauf abhebt, daß es – wenn überhaupt – so bestenfalls für das britische Beispiel Gültigkeit hat. In<br />

Kontext me<strong>in</strong>er Darstellung geht es aber gerade um solche +Musterfälle* und die mit ihnen verbundenen politischen<br />

Implikationen.<br />

122. In se<strong>in</strong>en +Betrachtungen über die repräsentative Demokratie* (1861) argumentiert Mill, daß Formen direkter<br />

Demokratie <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Flächenstaaten nur schwer zu praktizieren seien. Deshalb spricht er sich für die repräsentative<br />

Demokratie aus, die für ihn bedeutet, +daß das Volk als ganzes o<strong>der</strong> doch zu e<strong>in</strong>em beträchtlichen Teil durch periodisch<br />

gewählte Vertreter die <strong>in</strong> jedem Verfassungssystem notwendige oberste Kontrollgewalt ausübt* (S. 89).<br />

123. Zum aktuellen Neoliberalismus vgl. z.B. Randall (+The Neoliberals*), <strong>der</strong> das Beispiel USA untersucht.<br />

124. Gerechterweise ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>zuräumen, daß Bentham – schon als Reaktion auf diverse Kritik – deutlich machte,<br />

daß diese Formulierung für ihn stets implizierte, daß es sich um e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Steigerung des Glücks handeln muß<br />

und nicht nur die <strong>in</strong>tensive Steigerung des Glücks e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit (vgl. An Introduction to the Pr<strong>in</strong>ciples of<br />

Morals and Legislation; Kap. 1, <strong>in</strong>sb. Benthams nachträglich e<strong>in</strong>gefügte Anmerkungen).<br />

125. Zur klassischen Nationalökonomie allgeme<strong>in</strong> vgl. Schefold/Carstensen: Die klassische Politische Ökonomie.<br />

126. In <strong>der</strong> lange Zeit beherrschenden ökonomischen Theorie des Merkantilismus g<strong>in</strong>g man von <strong>der</strong> Annahme aus,<br />

daß <strong>der</strong> Volkswohlstand sich aus dem Besitz von Edelmetall <strong>in</strong> Geldform bzw. durch staatliche Geldpolitik ergäbe<br />

(vgl. Schmidt: Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie; S. 38–48).<br />

127. Ricardos +Grundsätze <strong>der</strong> politischen Ökonomie und <strong>der</strong> Besteuerung* (1817) spiegeln übrigens nicht nur die<br />

Ausblendung ethisch-moralischer Fragen aus <strong>der</strong> Wirtschaftstheorie, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>e Entpolitisierung ökonomischer<br />

Prozesse. Denn obwohl im Titel von +politischer Ökonomie* die Rede ist, ersche<strong>in</strong>en politische Fragen nur unter<br />

dem Aspekt <strong>der</strong> Profit- und ökonomischen Nutzenoptimierung.<br />

128. Zu Keynes’ ökonomischer Theorie und se<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>fluß auf die Wirtschaftspolitik (auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik)<br />

vgl. Jarchow: Der Keynesianismus.


30 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

129. Auf die Wurzeln des liberal-demokratischen (National-)Staates <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ideologie des Besitz<strong>in</strong>dividualismus weist<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Macpherson h<strong>in</strong> (vgl. Die politische Theorie des Besitz<strong>in</strong>dividualismus; S. 13ff. u. S. 295–304). Allerd<strong>in</strong>gs<br />

macht er auch klar, daß sich durch die +Transformation <strong>der</strong> Demokratie* (Agnoli 1967) – d.h. durch die Ausweitung<br />

des Wahlrechts und den damit e<strong>in</strong>hergehenden Verlust <strong>der</strong> im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t noch gegebenen Identität <strong>der</strong> Regierenden<br />

mit den Regierten –, die liberale Demokratie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dilemma steckt (vgl. ebd.; S. 304–310).<br />

130. Her<strong>der</strong> (1744–1803) geht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Abhandlung +Über den Ursprung <strong>der</strong> Sprache* (1772) davon aus, daß sich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em historischen Differenzierungsprozeß verschiedene Sprachen herausgebildet haben, welche die verschiedenen<br />

Nationen konstituieren (vgl. S. 104). Den daraus sich entwickelnden +Nationalhaß* kritisiert Her<strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs.<br />

Das Denken Fichtes (1762–1814) ist hier weit radikaler. Er for<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e +Nation, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> nur untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

selbst und äußerst wenig mit Fremden leben, die ihre Lebensart, E<strong>in</strong>richtungen und Sitten durch jede Maßregel erhält,<br />

die ihr Vaterland und alles Vaterländische mit Anhänglichkeit liebt* (Der geschloßne Handelsstaat; S. 523). In se<strong>in</strong>en<br />

+Reden an die deutsche Nation* (1808) wird zudem die völkisch-chauv<strong>in</strong>istische Ausrichtung se<strong>in</strong>es Denkens deutlich,<br />

<strong>in</strong>dem er von e<strong>in</strong>em beson<strong>der</strong>en Rang des deutschen Volkes spricht (vgl. S. 359).<br />

Mazz<strong>in</strong>i (1805–72) ist <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht wie<strong>der</strong>um gemäßigter, aber auch er stellt den Volksbegriff <strong>in</strong> den Mittelpunkt:<br />

+Das Volk – das ist unser Pr<strong>in</strong>zip: das Pr<strong>in</strong>zip, auf dem das ganze politische Gebäude ruhen muß. Das Volk: die große<br />

E<strong>in</strong>heit, die alle D<strong>in</strong>ge umfaßt, die Gesamtheit aller Rechte, aller Macht, des Willens aller, Richter, Mittelpunkt, lebendes<br />

Gesetz <strong>der</strong> Welt.* (E<strong>in</strong>ige Ursachen, welche die Entwicklung <strong>der</strong> Freiheit <strong>in</strong> Italien bis jetzt verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n; S. 219)<br />

131. In se<strong>in</strong>er Schrift +Qu’est-ce qu’une nation?* (1882) heißt es: +I. – […] La France est celtique, ibérique, germanique.<br />

L’Allemagne est germanique, celtique et slave […] La vérité est qu’il n’y a pas de race pure et que faire reposer la<br />

politique sur l’analyse ethnographique, c’est la faire porter sur une chimère […] II. – Ce que nous venons de dire<br />

de la race, il faut le dire de la langue. La langue <strong>in</strong>vite à se réunir; elle n’y force pas. Les États-Unis et l’Angleterre,<br />

l’Amérique espagnole et l’Espagne parlent la même langue et ne forment pas une seule nation. Au contraire, la Suisse,<br />

si bien faite, puisqu’elle a été faite par l’assentiment de ses différentes parties, compte trois ou quatre langues […]<br />

III. – La religion ne saurait non plus offrir une base suffisante à l’établissement d’une nationalité mo<strong>der</strong>ne […] Il n’y<br />

a plus de masses croyant d’une manière uniforme. Chacun croit et pratique à sa guise […] Il n’y a plus de religion<br />

d’État […]* (S. 895–902) Renan vertrat nämlich e<strong>in</strong> politisch-voluntaristisches Nationenkonzept, was vor allem <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er berühmten Formulierung +L’existance d’une nation est […] un plébiscite de tous les jours […]* (ebd.; S. 904)<br />

deutlich wird.<br />

132. Darauf wurde allerd<strong>in</strong>gs bereits lange vor Gellner durch Carlton Hayes, e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> Pioniere auf dem Gebiet <strong>der</strong><br />

Nationalismusforschung, h<strong>in</strong>gewiesen (vgl. The Historical Evolution of Mo<strong>der</strong>n Nationalism; S. 233).<br />

133. Diese protonationalen B<strong>in</strong>dungen waren jedoch eher schwach ausgeprägt und vielfach überformt. Dazu Göhler<br />

und Kle<strong>in</strong>: +Vor dem H<strong>in</strong>tergrund des übergreifenden christlichen Universalismus […] bildeten regionale und ständische<br />

B<strong>in</strong>dungen den unüberschreitbaren Rahmen für sich vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> abgrenzende vornationale Gruppenzugehörigkeiten.*<br />

(Politische Theorien des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 611) Erst die Säkularisierung und die soziale Mobilisierung durch die<br />

Transformationsprozesse des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts öffneten den Raum für die Fiktion <strong>der</strong> Nation, die erstmals <strong>in</strong> <strong>der</strong> Französischen<br />

Revolution zur Verwirklichung drängte. August W<strong>in</strong>kler bemerkt deshalb: +Zweierlei macht das spezifisch<br />

Neue aus, das das Nationalgefühl <strong>der</strong> Franzosen <strong>der</strong> Jahre nach 1789 von dem vergangener Epochen trennt: Ihr Nationalbewußtse<strong>in</strong><br />

ist erstens re<strong>in</strong> säkular, und es ist zweitens gleichermaßen Ausdruck wie Instrument e<strong>in</strong>er Mobilisierung<br />

von Massen. Mit <strong>der</strong> Französischen Revolution beg<strong>in</strong>nt die wirkliche Geschichte des Nationalismus […]* (Der Nationalismus<br />

und se<strong>in</strong>e Funktionen; S. 5f.) W<strong>in</strong>kler rekurriert bei dieser Feststellung übrigens <strong>in</strong>direkt auf die von Me<strong>in</strong>ecke <strong>in</strong>s Spiel<br />

gebrachte Unterscheidung zwischen Kultur- und Staatsnationen (wobei Frankreich <strong>in</strong> natürlich letztere Kategorie<br />

fällt): +Man wird […] die Nationen e<strong>in</strong>teilen können <strong>in</strong> Kulturnationen und Staatsnationen, <strong>in</strong> solche, die vorzugsweise<br />

auf e<strong>in</strong>em irgendwelchen Kulturbesitz beruhen, und solche, die vorzugsweise auf <strong>der</strong> vere<strong>in</strong>igenden Kraft e<strong>in</strong>er<br />

geme<strong>in</strong>samen politischen Geschichte und Verfassung beruhen.* (Weltbürgertum und Nationalstaat; S. 10)<br />

134. Zur Problematik des Ethnonationalismus allgeme<strong>in</strong> vgl. z.B. Senghaas: Woh<strong>in</strong> driftet die Welt?; S. 53–117 o<strong>der</strong><br />

Scherrer: Ethno-Nationalismus im Weltsystem. Speziell zu den soziologisch-sozialpsychologischen Aspekten dieses<br />

Phänomensvgl. Elwert:Nationalismusund Ethnizität. DieAmbivalenz bereitsdesantikolonialen Entwicklungsnationalismus<br />

stellt dagegen Knieper heraus (vgl. Nationale Souveränität; <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Teil I u. II) – e<strong>in</strong>e Ambivalenz, die laut Tom<br />

Nairn von Beg<strong>in</strong>n die Bewegung des Nationalismus kennzeichnete. Für ihn gilt, daß +alle Nationalismen zugleich<br />

gesund und krank s<strong>in</strong>d* (Der mo<strong>der</strong>ne Janus; S. 27). +Der Nationalismus gleicht <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne durchaus dem alten<br />

römischen Gott Janus, <strong>der</strong> auf den Toren stand und mit e<strong>in</strong>em Gesicht vorwärts, mit dem an<strong>der</strong>en Gesicht rückwärts<br />

blickte. Genauso steht <strong>der</strong> Nationalismus über <strong>der</strong> Pforte, die für die menschliche Gesellschaft <strong>in</strong>s Zeitalter <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne


A: ANMERKUNGEN 31<br />

führt. Und während sich die Menschheit durch diese enge Pforte zwängt, muß sie verzweifelt <strong>in</strong> die Vergangenheit<br />

zurückblicken, um Kraft zu schöpfen für die Feuerproben <strong>der</strong> ›Entwicklung‹ […]* (Ebd.; S. 29)<br />

135. Das Individuum und nicht-staatliche Gruppierungen s<strong>in</strong>d im <strong>in</strong>ternationalen Rahmen als politische Subjekt so<br />

gut wie ausgeklammert. Wie selbstverständlich wird davon ausgegangen, daß alle<strong>in</strong>e Staaten berechtigt s<strong>in</strong>d, die globale<br />

<strong>Politik</strong> zu gestalten. Das Selbstbestimmungsrecht des e<strong>in</strong>zelnen muß h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong> Selbstbestimmungsrecht <strong>der</strong> Völker<br />

(d.h. konkret: <strong>der</strong> Nationalstaaten) zurücktreten. Die politische Repräsentation des Individuums erfolgt nach <strong>der</strong> Charta<br />

<strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen ausschließlich durch (teilweise zudem sehr zweifelhaft demokratisch legitimierte) Staatenvertreter<br />

(vgl. Kap. II).<br />

136. Im englischen Orig<strong>in</strong>al steht <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> +imag<strong>in</strong>ed communities* (zugleich auch Titel).<br />

137. Auf die Bedeutung des auf Gewalt gegründeten Nationalstaats <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>in</strong>ternationalen) <strong>Politik</strong> hat <strong>in</strong> neuerer Zeit<br />

übrigens <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Anthony Giddens h<strong>in</strong>gewiesen. Giddens versteht diesen Rekurs auf Weber auch als Kritik am<br />

e<strong>in</strong>seitigen marxistischen Ökonomismus. (Vgl. The Nation-State and Violence; <strong>in</strong>sb. Kap. 10).<br />

138. Weber stellt <strong>der</strong> Verantwortungsethik ja bekanntlich die weit negativer gefaßte Ges<strong>in</strong>nungsethik <strong>der</strong> politischen<br />

+Überzeugungstäter* gegenüber, die nach dem Motto handeln: Das Ziel heiligt die Mittel. Gegen Ende <strong>der</strong> Vorlesung<br />

plädiert er aber letzendlich doch (<strong>in</strong> sehr pathetischen Worten) für e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung bei<strong>der</strong> Pr<strong>in</strong>zipien: +Wahrlich:<br />

<strong>Politik</strong> wird zwar mit dem Kopf, aber ganz gewiß nicht nur mit dem Kopf gemacht […] wenn e<strong>in</strong> reifer Mensch […]<br />

an irgend e<strong>in</strong>em punkt sagt: ›ich kann nicht an<strong>der</strong>s, hier stehe ich‹. Das ist etwas, was menschlich echt ist und ergreift<br />

[…] Insofern s<strong>in</strong>d Ges<strong>in</strong>nungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, son<strong>der</strong>n Ergänzungen, die<br />

zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, <strong>der</strong> dem ›Beruf zur <strong>Politik</strong>‹ haben kann.* (S. 80f.)<br />

139. Der bürgerliche Demokratie-Theoretiker Ernst Fraenkel for<strong>der</strong>t deshalb (obwohl er Schumpeters Abneigung<br />

gegenüber Rousseau teilt und e<strong>in</strong> pluralistisches Demokratieverständnis verficht): +[…] die Mitwirkung des Bürgers<br />

darf sich nicht darauf beschränken, alle vier Jahre zur Wahlurne zu gehen und durch se<strong>in</strong>e Stimmabgabe E<strong>in</strong>fluß darauf<br />

auszuüben, welches Team im Bereich <strong>der</strong> hohen <strong>Politik</strong> regieren soll […] Durch aktive Mitarbeit <strong>in</strong> den Verbänden<br />

und Parteien soll das Gefühl <strong>der</strong> passiven Hilflosigkeit überwunden werden.* (Möglichkeiten und Grenzen politischer<br />

Mitarbeit <strong>der</strong> Bürger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mo<strong>der</strong>nen parlamentarischen Demokratie; S 275)<br />

140. Zur Problematik des Marktmodells <strong>der</strong> Demokratie vgl. z.B. Fetscher: Wieviel Konsens gehört zur Demokratie?<br />

141. Das Konzept e<strong>in</strong>er Diskursethik ist zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Theorie des kommunikativen Handels* (1981) <strong>in</strong> Grundzügen<br />

bereits angelegt. E<strong>in</strong>e konkrete Ausarbeitung f<strong>in</strong>det sich jedoch erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> zwei Jahre später veröffentlichten Schrift<br />

+Moralbewußtse<strong>in</strong> und kommunikatives Handeln* (vgl. dort Kap. 3). 1991 folgen schließlich weitere +Erläuterungen*.<br />

142. E<strong>in</strong> vielfach rezipierter Artikel, <strong>der</strong> die Positionen von Habermas und Lyotard gründlicher vergleicht, als dies<br />

hier möglich ist, stammt von Richard Rorty (vgl. Habermas and Lyotard on <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity), auf den selbst ich bald<br />

noch ausführlicher zu sprechen kommen werde.<br />

143. Anlaß dieser Feststellung ist die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung Lyotards mit +Ausschwitz* und dem Nazismus. Allerd<strong>in</strong>gs<br />

beruht <strong>der</strong> Nazismus nach Lyotard nicht auf <strong>der</strong> verallgeme<strong>in</strong>erten Logik e<strong>in</strong>er bestimmten Diskursart, son<strong>der</strong>n es<br />

herrscht das +exklusive* (und elim<strong>in</strong>atorische) Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Ausnahme gegenüber den +Nicht-Ariern*: +Wenn es [daher]<br />

im Nazismus Terror gibt, so wird er unter den ›Re<strong>in</strong>rassigen‹ ausgeübt, die immer dem Verdacht <strong>der</strong> ungenügenden<br />

Re<strong>in</strong>heit ausgesetzt s<strong>in</strong>d.* (Der Wi<strong>der</strong>streit; S. 177 [Nr. 159]).<br />

144. Vgl. hierzu auch Beyme: Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 187–200.<br />

145. Habermas geht davon aus, daß dem sozialen System als Reproduktionsbereich e<strong>in</strong>e +Lebenswelt* gegenübersteht,<br />

die allerd<strong>in</strong>gs durch die Vorherrschaft des zweckrationalen Denkens von +Kolonialisierung* bedroht ist (vgl. Theorie<br />

des kommunikativen Handelns; Band 2, zweite Zwischen- sowie Schlußbetrachtung). Der Begriff selbst stammt allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht von Habermas, son<strong>der</strong>n von Husserl. Dieser def<strong>in</strong>ierte die +Lebenswelt* als +die raumzeitliche Welt <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge,<br />

so wie wir sie <strong>in</strong> unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren und über die erfahrenen h<strong>in</strong>aus als erfahrbar<br />

wissen* (Die Krisis <strong>der</strong> europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie; zitiert nach Welter:<br />

Der Begriff <strong>der</strong> Lebenswelt; S. 79).


32 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

146. Giddens sieht natürlich, daß beide Bewegungen auch deutliche Elemente emanzipatorischer <strong>Politik</strong> be<strong>in</strong>halten<br />

(vgl. Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity; S. 215f.). Mit den Begriffen +Freiheit von* und +Freiheit zu* habe ich mich allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht auf Giddens bezogen, son<strong>der</strong>n auf Fromm (vgl. Die Furcht vor <strong>der</strong> Freiheit; S. 30ff.). Fromm me<strong>in</strong>t, daß beide<br />

Aspekte <strong>der</strong> Freiheit bereits im philosophischen Denken <strong>der</strong> Neuzeit wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> theologischen Lehre <strong>der</strong> Reformation<br />

<strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verwoben waren (vgl. ebd.; S. 93) und sieht ganz an<strong>der</strong>s als Giddens, daß +mit <strong>der</strong> zunehmenden Entwicklung<br />

des Monopolkapitalismus <strong>in</strong> den letzten Jahrzenten […] sich die Gewichtverteilung <strong>der</strong> beiden Tendenzen zur<br />

menschlichen Freiheit verän<strong>der</strong>t zu haben [sche<strong>in</strong>t]. Jene Faktoren, die dazu tendieren, das <strong>in</strong>dividuelle Selbst zu<br />

schwächen, haben größeres Gewicht gewonnen* (ebd.; S. 94). Deshalb konstatiert Fromm nicht nur e<strong>in</strong>e Furcht,<br />

son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>e Flucht vor <strong>der</strong> Freiheit (ebd.; S. 33).<br />

147. Genau um dieses Problem dreht sich <strong>der</strong> 1994 erschienene Band +Beyond Left and Right*. Hier untersucht Giddens<br />

die Möglichkeiten für e<strong>in</strong>e Revitalisierung +radikaler*, d.h. – so möchte ich es zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>terpretieren – das Potential<br />

für e<strong>in</strong>e ges<strong>in</strong>nungs- und verantwortungsethische <strong>Politik</strong>, die für ihn <strong>in</strong> unseren Zeiten des radikalen Wandels geradezu<br />

e<strong>in</strong>e Notwendigkeit darstellt. Allerd<strong>in</strong>gs liegt +Die Zukunft radikaler <strong>Politik</strong>* (so <strong>der</strong> Untertitel) eben +Jenseits von Rechts<br />

und L<strong>in</strong>ks*. Denn nachdem <strong>der</strong> (real existierende) Sozialismus offensichtlich historisch gescheitert ist, steckt die L<strong>in</strong>ke<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Identitätskrise und konzentriert sich im wesentlichen auf die Erhaltung des Wohlfahrtsstaats. Dieser gerät<br />

immer mehr unter Druck, auch da die Konservativen sich zum (ökonomischen) Liberalismus haben bekehren lassen.<br />

Wir f<strong>in</strong>den uns also vor die paradoxe Situation gestellt, daß die L<strong>in</strong>ke zu e<strong>in</strong>er konservativen Kraft geworden ist, während<br />

die Rechte hilft, das (ökonomische) Schwungrad des (sozialen) Wandels <strong>in</strong> Gang zu halten. Und dieses dreht sich<br />

mit voller Wucht, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zunehmenden Globalisierung (die auch das Alltagsleben erfaßt), <strong>der</strong> (u.a. daher<br />

rührenden) immer weiteren Auflösung traditionaler Lebenszusammenhänge und e<strong>in</strong>er durch menschliche E<strong>in</strong>griffe<br />

<strong>in</strong> die Natur sowie das Sozialleben hergestellten Unsicherheit äußert. E<strong>in</strong>e radikale <strong>Politik</strong>, die diese Prozesse (positiv)<br />

reflektiert (und nicht <strong>in</strong> Fundamentalismus abdriftet), müßte die beschädigten Solidaritäten (durch aktives Vertrauen)<br />

wie<strong>der</strong> herzustellen trachten, die lebens(weltliche) <strong>Politik</strong> ernst nehmen, e<strong>in</strong>e (zukunfts- und geme<strong>in</strong>wohlorientierte)<br />

+generative <strong>Politik</strong>* betreiben, auf dialogischer Demokratie gründen, den Wohlfahrtstaat auf e<strong>in</strong>e neue Basis stellen<br />

und nicht zuletzt Gewalt durch das +Gespräch* ersetzen. Die Verwirklichung e<strong>in</strong>es solchen Programms muß natürlich<br />

all jenen als unmöglich und anachronistisch ersche<strong>in</strong>en, die die These e<strong>in</strong>er (postmo<strong>der</strong>nen) Wertepluralisierung vertreten<br />

und für die wertebasierte Entscheidungen allgeme<strong>in</strong> unter Verdacht geraten s<strong>in</strong>d (siehe dazu auch S. 60ff.). Doch<br />

gerade durch die Globalisierung (siehe zum Begriff und zu ihren ökonomisch-politischen Aspekten Abschnitt 2.1)<br />

entsteht heute erstmals so etwas wie e<strong>in</strong>e tatsächliche Werteuniversalisierung (wie sich z.B. an <strong>der</strong> Menschenrechtsbewegung<br />

zeigt), so daß für Giddens e<strong>in</strong> guter Grund zur Hoffnung besteht.<br />

148. Lyotard hat übrigens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schrift aus dem Jahr 1977 bereits ganz ähnliche Thesen wie Beck und Giddens<br />

formuliert (siehe auch Abschnitt 5.2.1). Die Fixierung auf die Institutionen und Akteure des (politischen) Zentrums<br />

und die großen sozialen Bewegungen ersche<strong>in</strong>t ihm ungenügend, denn sie verwischt, +was im täglichen Leben <strong>der</strong><br />

›Kle<strong>in</strong>en‹ <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>em o<strong>der</strong> gar mikroskopischem Maßstab fortwährend geschieht […] milliardenmal haben Frauen am<br />

Herd um Kle<strong>in</strong>igkeiten gestritten – lange vor <strong>der</strong> Frauenbewegung […] Millionen von Gesten, Signalen, gekritzelten<br />

Botschaften […] haben die Homosexuellen erfunden, um sich an halböffentlichen Orten treffen und erkennen zu<br />

können – lange vor <strong>der</strong> Homosexuellenbewegung; Milliarden von F<strong>in</strong>ten und Kniffen von Arbeitern <strong>in</strong> den Werkhallen<br />

und Büros – lauter Unfe<strong>in</strong>heiten, die sich erst als For<strong>der</strong>ungen, über die man verhandeln kann, verkleiden müssen,<br />

bevor sie <strong>in</strong> den Diskurs <strong>der</strong> Gewerkschaften E<strong>in</strong>laß f<strong>in</strong>den können.* (Das Patchwork <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten; S. 9). Diese<br />

Wi<strong>der</strong>ständigkeit <strong>der</strong> M<strong>in</strong>oritäten ist weit +effektiver* als die herkömmliche Kritik, die zwangsläufig <strong>in</strong> ihrem kritischen<br />

Bemühen entwe<strong>der</strong> selbst die Macht ergreift o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Macht vere<strong>in</strong>nahmt wird – und damit als Kritik stirbt (vgl.<br />

ebd.; S. 7). Zudem entspricht die Mikropolitik <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten e<strong>in</strong>er Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die großen E<strong>in</strong>heiten sich auflösen:<br />

+Was sich abzeichnet ist e<strong>in</strong>e (noch zu def<strong>in</strong>ierende) Gruppe von heteronomen Räumen, e<strong>in</strong> großes Patchwork aus<br />

lauter m<strong>in</strong>oritären S<strong>in</strong>gularitäten […] Diese Bewegung <strong>der</strong> Zersplitterung betrifft nicht nur die Nationen, son<strong>der</strong>n<br />

auch die Gesellschaften: wichtige neue Gruppierungen treten auf, die <strong>in</strong> den offiziellen Registern bisher nicht geführt<br />

wurden: Frauen, Homosexuelle, Geschiedene, Prostitutierte, Enteignete, Gastarbeiter…* (Ebd.; S. 38)<br />

149. Ebenfalls vier, doch unterschiedliche Charakteristika nennt Frank Fechner, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wenigen bisher (<strong>in</strong> deutscher<br />

Sprache) erschienenen Monographien zum Thema +<strong>Politik</strong> und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* (1990) verfaßt hat: 1. Anerkennung<br />

radikaler Pluralität, 2. Dezentralisierung und Regionalisierung, 3. Reflexive Verwissenschaftlichung, 4. Aufwertung<br />

von M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten (vgl. S. 99–110). Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d (neben <strong>der</strong> Anlehnung an Beck mit Punkt 3) die Überschneidungen<br />

mit Beyme allzu deutlich. Dieser konstatiert <strong>in</strong> dem Band +Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t* (1989) drei typische<br />

Merkmale postmo<strong>der</strong>ner politischer Theorie: 1. +Kampf gegen die Technokratie*, 2. +Radikalisierung des Pluralismus*<br />

und 3. +Skepsis gegenüber <strong>der</strong> Mehrheit*. In <strong>der</strong> Auflage von 1992 nennt Beyme, <strong>der</strong> dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus eher<br />

kritisch gegenübersteht, schließlich weitere drei Punkte: +Entsubstanzialisierung <strong>der</strong> Macht*, +Ende <strong>der</strong> Revolutionstheorie*<br />

und +Ende <strong>der</strong> Legitimationstheorie* (vgl. Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 187).


A: ANMERKUNGEN 33<br />

Ich habe mir allerd<strong>in</strong>gs nicht die Mühe gemacht, mir auch die erste Auflage von Beymes Buch zu besorgen, son<strong>der</strong>n<br />

auf die korrekte Wie<strong>der</strong>gabe von Sab<strong>in</strong>e Giehle vertraut (vgl. Die ästhetische Gesellschaft; S. 349). Giehle, die sich<br />

primär mit dem Problem e<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nen Demokratie-Theorie befaßt, ist <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Bewegung gegenüber<br />

grundsätzlich aufgeschlossener als Beyme e<strong>in</strong>gestellt und sieht <strong>in</strong> ihr drei positive Funktionen verwirklicht: 1. e<strong>in</strong>e<br />

diagnostische Funktion, die auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam macht; 2. e<strong>in</strong>e kritische Funktion, die +nicht<br />

nur die Symptome <strong>der</strong> ökologischen Zerstörung, <strong>der</strong> politischen Demoralisierung und <strong>der</strong> Instrumentalisierung des<br />

Menschen [kritisiert], son<strong>der</strong>n […] bis an die Grundmuster des politischen und kulturellen Selbstverständnisses <strong>der</strong><br />

Gesellschaft zurück[geht], um die Ursprünge <strong>der</strong> als krisenhaft empfundenen Situation aufzuspüren* (ebd.; S. 357);<br />

3. e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>novatorische Funktion, die soziale und politische Verän<strong>der</strong>ungen ermöglicht. (Vgl. ebd.; S. 355–359)<br />

Wenig ausgereift – nicht nur <strong>in</strong> sprachlicher H<strong>in</strong>sicht – ist dagegen Kar<strong>in</strong> Beckers eher unreflektiert-euphorische Arbeit<br />

über die +Politisch-gesellschaftliche[n] Dimensionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*(1992), wie folgendes Zitat augensche<strong>in</strong>lich<br />

demonstriert: +In dieser Sicht können wir sagen, für den politischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus s<strong>in</strong>d es primär die Zielsetzungen<br />

für die Extension des <strong>in</strong>formativen Spektrums <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft, und das geht nur über Höchstleistungen des technischen<br />

wie wissenschaftlichen E<strong>in</strong>satzes zu realisieren.* (S. 28)<br />

150. Es handelt sich bei dem Text von Lappé, auf den ich mich im folgenden beziehe, um e<strong>in</strong> Essay, das <strong>in</strong> <strong>der</strong> von<br />

Ray Griff<strong>in</strong> und Richard Falk herausgegeben Anthologie +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Politics for a Planet <strong>in</strong> Crisis* (1993) erschienen<br />

ist. Lappés Beitrag wurde von mir weniger deshalb ausgewählt, weil er sich durch beson<strong>der</strong>e Orig<strong>in</strong>alität auszeichnen<br />

würde, son<strong>der</strong>n weil er im Gegenteil <strong>in</strong> gewisser Weise nicht nur repräsentativ für die überwiegend <strong>in</strong> diesem Band<br />

vertretene Position stehen kann, son<strong>der</strong>n er <strong>in</strong>sgesamt typisch ist für die Argumentation e<strong>in</strong>er rückwärts (zu den +Quellen*<br />

<strong>der</strong> Religion und Spiritualität) kreisenden <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner Prägung.<br />

151. Der Kommunitarismus (siehe auch Anmerkung 131, Prolog) ist e<strong>in</strong>e amerikanische Richtung des politischen<br />

Denkens, die Geme<strong>in</strong>schaftswerte gegenüber e<strong>in</strong>em als sozial kontraproduktiv angesehenen, aber <strong>in</strong> den USA weitgehend<br />

dom<strong>in</strong>anten <strong>in</strong>dividualistischen Liberalismus stark zu machen versucht. Wichtige Namen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

u.a. an<strong>der</strong>em Charles Taylor (siehe auch me<strong>in</strong>en Schlußexkurs), Alisdair MacIntyre (siehe S. 187) und – auf soziologischer<br />

Seite – Amitai Etzioni (siehe S. LXXV). Aber auch bei Richard Rorty (siehe unten) kann man aufgrund se<strong>in</strong>er Betonung<br />

<strong>der</strong> Solidarität neben liberal-pragmatischen kommunitaristische Elemente f<strong>in</strong>den, wenngleich se<strong>in</strong>e +ironische*<br />

sprachphilosophische Position ke<strong>in</strong>esfalls rückwärtsgewandt ist, wie dies für Taylors und MacIntyre klar gilt (vgl. auch<br />

Schönherr-Mann: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Theorien des Politischen; S. 67–100).<br />

152. Entsprechend <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung vorgenommen (idealtypischen) E<strong>in</strong>teilung (siehe Tab. 2, S. LXXII) könnte<br />

man auch von e<strong>in</strong>er (politischen) <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner Prägung sprechen, die teils euphorische, teils skeptische<br />

Elemente aufweist.<br />

153. Lyotard nimmt, wie erwähnt, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Hauptwerk +Der Wi<strong>der</strong>streit* (1983) <strong>in</strong> diversen Exkursen<br />

immer wie<strong>der</strong> auf Denker <strong>der</strong> Vergangenheit Bezug. Und auch Ulrich Beck beruft sich auf +Väter <strong>der</strong> Freiheit* (1997),<br />

wie z.B. Alexis de Tocqueville o<strong>der</strong> Kant. Giddens schließlich ist, da er vor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en früheren Werken e<strong>in</strong>e<br />

ausführliche Klassiker-Exegese betrieb, sogar häufig <strong>der</strong> Vorwurf des Eklektizismus gemacht worden.<br />

154. Letzteres ist e<strong>in</strong> Argument, das Bauman <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Ethics* (1993) weiter ausgebaut hat.<br />

155. Welsch geht nicht explizit auf Lév<strong>in</strong>as e<strong>in</strong>, doch über den Umweg Lyotard hat er diesen sicherlich rezipiert.<br />

Im +Wi<strong>der</strong>streit* widmet jener Lév<strong>in</strong>as nämlich e<strong>in</strong>en eigenen +Exkurs* (vgl. S. 188–195).<br />

156. Vgl. zu diesem Aspekt Tsiros: Die politische Theorie <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 110–119.<br />

157. Zur Ästhetisierung als allgeme<strong>in</strong>e Tendenz <strong>der</strong> materiellen Produktion im Kapitalismus vgl. Haug: Kritik <strong>der</strong><br />

Warenästhetik. Hier konstatiert Haug vor allem e<strong>in</strong>en Triumph des Tauschwerts über den Gebrauchswert, wobei<br />

ersterer vor allem durch Design und ästhetische Innovation (Mode) gesteigert wird.<br />

158. Der Begriff <strong>der</strong> +symbolischen <strong>Politik</strong>* geht (<strong>in</strong>direkt) auf Murray Edelman zurück, <strong>der</strong> die symbolische Seite<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> <strong>in</strong>s Zentrum se<strong>in</strong>er Analyse stellt (vgl. z.B. <strong>Politik</strong> als Ritual; Kap. 1). Auf diesen werde ich aber <strong>in</strong> Abschnitt<br />

3.4 (+Das Dilemma von Präsentation und Repräsentation*) ohneh<strong>in</strong> noch näher zu sprechen kommen.<br />

159. Guggenberger spielt hier wohl auf Luhmann an (siehe zu dessen auf das Beobachtungskriterium gestütztes<br />

Öffentlichkeitskonzept S. 156f.).


34 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

160. Adorno hat, wie bereits dargelegt, zusammen mit Max Horkheimer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schrift +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (1944)<br />

e<strong>in</strong> sehr negatives Bild über die Möglichkeiten (kritischer) Vernunft <strong>in</strong> <strong>der</strong> spätkapitalistischen Gesellschaft gezeichnet.<br />

In se<strong>in</strong>er +Ästhetischen Theorie* (1970) verortet Adorno – trotz e<strong>in</strong>er radikalen Kritik <strong>der</strong> gängigen Kunst-Praxis – mögliche<br />

Wi<strong>der</strong>standspotentiale gegen die +falsche* soziale Wirklichkeit eher im Bereich des Nichtidentischen <strong>der</strong> Kunst (und<br />

ihres mimentischen Impulses) als <strong>in</strong> <strong>der</strong> (begrifflichen und deshalb abstrakten) Sphäre <strong>der</strong> Vernunft (vgl. S. 14ff.). Deshalb<br />

sieht auch Scott Lash die Potentiale für e<strong>in</strong>e kritische Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung eher im Bereich <strong>der</strong> Thematisierung<br />

+ästhetischer Reflexivität* (also <strong>der</strong> kultur<strong>in</strong>dustriellen Symbolik) als <strong>in</strong> <strong>der</strong> von Beck und Giddens <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund<br />

gestellten kognitiven Reflexivität (vgl. Reflexivität und ihre Doppelungen). Doch auf Lashs Konzept werde ich im<br />

abschließenden Kapitel noch näher zu sprechen kommen (siehe Abschnitt 5.1.2).<br />

161. Jameson spricht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang vom +horror of consensus* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism; S. 347) und e<strong>in</strong>er +anxiety<br />

of Utopia* (ebd.; S. 331f.).<br />

162. In se<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition des Ironikers bzw. <strong>der</strong> Ironiker<strong>in</strong> heißt es: +›Ironiker<strong>in</strong>‹ werde ich e<strong>in</strong>e Person nennen, die<br />

drei Bed<strong>in</strong>gungen erfüllt: (1) sie hegt radikale und unaufhörliche Zweifel an dem […] Vokabular, das sie benutzt […];<br />

(2) sie erkennt, daß Argumente <strong>in</strong> ihrem augenblicklichen Vokabular diese Zweifel we<strong>der</strong> bestätigen noch ausräumen<br />

können; (3) wenn sie philosophische Überlegungen […] anstellt, me<strong>in</strong>t sie nicht, ihr Vokabular sei <strong>der</strong> Realität näher<br />

als an<strong>der</strong>e […] Leute dieser Art nenne ich ›Ironiker<strong>in</strong>nen‹, weil ihre Erkenntnis […] sie <strong>in</strong> die Position br<strong>in</strong>gt, die Sartre<br />

›metastabil‹ nennt: nie ganz dazu <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, sich selbst ernst zu nehmen, weil immer dessen gewahr, daß die Begriffe,<br />

<strong>in</strong> denen sie sich selbst beschreiben, Verän<strong>der</strong>ungen unterliegen; immer im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz und H<strong>in</strong>fälligkeit<br />

ihrer abschließenden Vokabulare, also auch ihres eigenen Selbst.* (Kont<strong>in</strong>genz, Ironie und Solidarität; S. 127f.) Die<br />

fem<strong>in</strong><strong>in</strong>e Form verwendet Rorty übrigens, um sich vom gängigen Bild des Ironikers abzusetzen.<br />

163. Auf genau entgegengesetzter, nämlich universalistischer Grundlage, for<strong>der</strong>t übrigens auch Habermas die (solidarische)<br />

Anerkennung und +Die E<strong>in</strong>beziehung des An<strong>der</strong>en* (1996): +Im ersten Teil [dieser Schrift] verteidige ich den vernünftigen<br />

Gehalt e<strong>in</strong>er Moral <strong>der</strong> gleichen Achtung für jeden und <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en solidarischen Verantwortung des e<strong>in</strong>en für<br />

den an<strong>der</strong>en. Das postmo<strong>der</strong>ne Mißtrauen gegen e<strong>in</strong>en rücksichtslos assimilierenden und gleichschaltenden Universalismus<br />

mißversteht den S<strong>in</strong>n dieser Moral und br<strong>in</strong>gt im Eifer des Gefechts jene relationale Struktur von An<strong>der</strong>sheit und Differenz<br />

zum Verschw<strong>in</strong>den, die e<strong>in</strong> wohlverstandener Universalismus gerade zur Geltung br<strong>in</strong>gt. Ich hatte <strong>in</strong> <strong>der</strong> ›Theorie<br />

des kommunikativen Handelns‹ die Grundbegriffe so angesetzt, daß sie e<strong>in</strong>e Perspektive für Lebensverhältnisse bilden,<br />

die die falsche Alternative von ›Geme<strong>in</strong>schaft‹ und ›Gesellschaft‹ sprengen. Dieser gesellschaftstheoretischen Weichenstellung<br />

entspr<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Moral- und Rechtstheorie e<strong>in</strong> für Differenzen hoch empf<strong>in</strong>dlicher Universalismus. Der gleiche<br />

Respekt für je<strong>der</strong>mann erstreckt sich nicht auf Gleichartige, son<strong>der</strong>n auf die Person des An<strong>der</strong>en o<strong>der</strong> <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en<br />

<strong>in</strong> ihrer An<strong>der</strong>sartigkeit.* (S. 7)<br />

164. Ganz an<strong>der</strong>e Schwerpunkte setzt z.B. Hans-Mart<strong>in</strong> Schönherr-Mann, <strong>der</strong> Pragmatismus, Kommunitarismus und<br />

Pluralismus als die dom<strong>in</strong>anten Bewegungen politischer Theorie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ansieht (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Theorien<br />

des Politischen). Außer mit dem kurzen Seitenhieb auf das rückwärtsgewandte +Recycl<strong>in</strong>g* kommunitaristischer Ansätze<br />

und dem Rekurs auf Rortys Neopragmatismus habe ich diese Stränge hier weitgehend ignoriert. Nach Mart<strong>in</strong> Nonhoff<br />

ist +zeitgerechte* politische Theorie jedoch gar nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verb<strong>in</strong>dung von Dekonstruktion (antimonistische Kritik)<br />

und Pragmatismus (praxisbezogene Entschiedenheit) möglich (vgl. Politische Theorie zwischen Dekonstruktion und<br />

Pragmatismus). Chantal Mouffe, Herausgeber<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Sammelbandes zum Thema, <strong>in</strong> dem u.a. auch Rorty und Derrida<br />

zu Wort kommen, sieht sogar e<strong>in</strong>e Verwandtschaft zwischen beiden Ansätzen, die zu e<strong>in</strong>em fruchtbaren Dialog führen<br />

könnte, <strong>in</strong>dem beide e<strong>in</strong> fundamentalistisches Konzept <strong>der</strong> Philosophie zurückweisen und so (unterschiedliche) Wege<br />

für e<strong>in</strong> nicht-hegemoniales Demokratie-Konzept bereiten (vgl. Deconstruction, Pragmatism and the Politics of Democracy;<br />

S. 1ff.).<br />

165. Palonen räumt selbst e<strong>in</strong>, daß es sich bei <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz um e<strong>in</strong> Problem handelt, das Weber eigentlich fremd<br />

war (vgl. Das Webersche Moment; S. 20), doch me<strong>in</strong>t er vor allem im von diesem verwendeten Begriff <strong>der</strong> Chance<br />

(als +Symbol für Kont<strong>in</strong>genz*) e<strong>in</strong>en Ansatzpunkt für se<strong>in</strong>e Interpretation zu haben (vgl. ebd.; S. 133ff.). Palonen erkennt<br />

nämlich e<strong>in</strong>en Übergang von <strong>der</strong> +H<strong>in</strong>tergrundkont<strong>in</strong>genz* <strong>der</strong> fortuna, wie sie Machiavelli zum Thema se<strong>in</strong>er politischen<br />

Philosophie machte und die mittels virtue neutralisiert werden sollte, zu +operationaler Kont<strong>in</strong>genz* im politischen<br />

Handlungsbegriff Webers. Kont<strong>in</strong>genz ersche<strong>in</strong>t hier weniger als Bedrohung, son<strong>der</strong>n vielmehr als Öffnung von<br />

Handlungsspielräumen (vgl. ebd.; 209–216). In e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung, allerd<strong>in</strong>gs ohne Bezug auf Weber, wird auch<br />

me<strong>in</strong> Schlußexkurs weisen.


A: ANMERKUNGEN 35<br />

KAPITEL 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK<br />

1. Unter politischem System bzw. <strong>in</strong>stitutioneller <strong>Politik</strong>, die ich me<strong>in</strong>e, wenn ich im folgenden von <strong>Politik</strong> spreche,<br />

verstehe ich Legislative, Exekutive sowie die Parteien (und <strong>der</strong>en Organisationen) und – allerd<strong>in</strong>gs nur am Rande<br />

– politische Verbände.<br />

2. Lei<strong>der</strong> gibt es bisher nur wenige Versuche <strong>in</strong> diese Richtung, die sich nicht auf e<strong>in</strong>en Teilaspekt des postmo<strong>der</strong>nen<br />

sozialen Wandels beschränken und e<strong>in</strong>e umfassende Darstellung geben. He<strong>in</strong>z-Günther Vesters +Soziologie <strong>der</strong><br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* (1993) stellt <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e rühmliche Ausnahme dar. Se<strong>in</strong>e Betrachtungen fallen jedoch mit<br />

e<strong>in</strong>em Gesamtumfang von etwas mehr als 200 Seiten zu knapp aus, um dem Umfang des Themas wirklich gerecht<br />

zu werden, und verbleiben deshalb oft zu sehr an <strong>der</strong> Oberfläche <strong>der</strong> Phänomene (e<strong>in</strong>e Kritik, die allerd<strong>in</strong>gs mit Sicherheit<br />

auch auf me<strong>in</strong>e eigenen Ausführungen zutrifft).<br />

3. In dem Band +Ökologische Sozialisationsforschung* (1976) f<strong>in</strong>den sich acht Aufsätze, die Bronfenbrenners Weg<br />

zur Entwicklung e<strong>in</strong>er Theorie <strong>der</strong> ökologischen Sozialisationsforschung zwischen den Jahren 1961 und 1975 zeigen.<br />

4. Sowohl <strong>der</strong> +systemische Realismus* (Parsons) als auch die +autopoietische Selbsttäuschung* (Luhmann) wird me<strong>in</strong>er<br />

Me<strong>in</strong>ung nach dem Sozialen als e<strong>in</strong>er subjektiv-kollektiv erlebten, belebten und konstruierten Welt nicht gerecht.<br />

E<strong>in</strong>e +konstruktivistische* Systemtheorie, wie sie Luhmann konzipierte, überw<strong>in</strong>det zwar die (naiv) realistische Sichtweise<br />

von Systemen, <strong>in</strong>dem sie das Subjekt aus dem Sozialen elim<strong>in</strong>iert, raubt sie ihm jedoch gleichzeitig die Basis.<br />

5. E<strong>in</strong> System ist gemäß me<strong>in</strong>em Verständnis also e<strong>in</strong> (makro)strukturierter und – damit – e<strong>in</strong>e gewisse Dauerhaftigkeit<br />

aufweisen<strong>der</strong> Handlungszusammenhang (wobei ich auch +kommunikatives Handeln*, also symbolische Interaktionen,<br />

mit <strong>in</strong> diesen Begriff e<strong>in</strong>schließe). In Anlehnung an Giddens (<strong>der</strong> jedoch selbst e<strong>in</strong>en leicht unterschiedlichen Systembegriff<br />

verwendet) möchte ich jedoch betonen, daß Strukturen beides be<strong>in</strong>halten: Restriktion von Handlungsmöglichkeiten<br />

und Ermöglichung von Handeln (vgl. Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; <strong>in</strong>sb. S. 77ff.).<br />

6. Bronfenbrenner unterscheidet (wie <strong>in</strong> funktionalistischen Ansätzen üblich) zwischen Mikro-, Meso-, Exo- und<br />

Makrosystem. Das personale Mikrosystem umfaßt dabei laut Bronfenbrenner die Summe <strong>der</strong> <strong>in</strong>terpersonalen Wechselbeziehungen<br />

<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es spezifischen Lebensbereichs e<strong>in</strong>er Person. Das Mesosystem wird durch die Vernetzungen<br />

zwischen den verschiedenen Lebensbereichen gebildet, an denen die Person Teil hat. Das Exosystem bee<strong>in</strong>flußt dagegen<br />

die Person nur <strong>in</strong>direkt. Es stellt e<strong>in</strong> Beziehungsgeflecht dar, <strong>in</strong> das die Person nicht direkt e<strong>in</strong>gebunden ist, das aber<br />

trotzdem für diese relevant ist. Das Makrosystem umfaßt (handlungsrelevante) generalisierte kulturelle Muster und<br />

Normen. (Vgl. Die Ökologie <strong>der</strong> menschlichen Entwicklung; S. 23f.)<br />

Freizügig übertragen auf die <strong>Politik</strong> wäre also das politische Mikrosystem <strong>der</strong> Bereich des politischen Institutionensystems<br />

mit den dar<strong>in</strong> ablaufenden Interaktionen zwischen den politischen Akteuren. Das politische Mesosystem würde durch<br />

jene sozialen Bezugssysteme gebildet, die e<strong>in</strong>e direkte Koppelung an das politische System haben (z.B. das Rechtssystem).<br />

Das politische Exosystem dagegen wäre nur <strong>in</strong>direkt mit <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong> verbunden, hätte aber durchaus<br />

E<strong>in</strong>flüsse auf diese (z.B. das hier nicht näher thematisierte Bildungssystem). Das politische Makrosystem schließlich<br />

wäre <strong>der</strong> übergeordnete Rahmen des gesamten Sozialsystems mit se<strong>in</strong>en (politischen) Normen wie z.B. dem Demokratiepr<strong>in</strong>zip.<br />

7. Diese +zentralen*, d.h. für die <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em Maß relevanten Teil- bzw. Bezugssysteme s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />

nach (und wie sich auch aus <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong>ung ersehen läßt) das Wirtschaftssystem, das Rechtssystem, das Wissenschaftsund<br />

Techniksystem, das Öffentlichkeits- und Mediensystem sowie (als Makrosysteme) Kultur und Sozialstruktur. Religionsund<br />

Bildungssystem (als weitere grundsätzlich abgrenzbare Teilsysteme) s<strong>in</strong>d dagegen für das <strong>Politik</strong>system me<strong>in</strong>es<br />

Erachtens nicht maßgeblich von Bedeutung. Ich habe sie deshalb (und aus Gründen <strong>der</strong> +Arbeitsökonomie*) aus me<strong>in</strong>er<br />

Darstellung ausgeklammert.<br />

8. E<strong>in</strong>e +Differenzierung von <strong>Politik</strong> und Wirtschaft* <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n beschreibt z.B. Luhmann (1987). Ihre Grundlage<br />

s<strong>in</strong>d die je spezifischen +Medien* des Wirtschaftssystems (Geld) und <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (Macht) (vgl. ebd.; S. 40ff.). So kommt<br />

es, daß sich das Wirtschaftssystem zu e<strong>in</strong>em selbstreferentiell geschlossenen System entwickelt hat (vgl. auch Die Wirtschaft<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft; <strong>in</strong>sb. Kap. 2).


36 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

9. In se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>leitung zu dem Band +Globalization, Knowledge and Society* (1990) sieht Mart<strong>in</strong> Albrow (siehe auch<br />

S. 97 und Anmerkung 77) sogar e<strong>in</strong>e neue Epoche <strong>der</strong> Soziologie anbrechen, die sich nicht nur mit Globalisierungsprozessen<br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen muß, son<strong>der</strong>n sich selbst zu e<strong>in</strong>er globalisierten Diszipl<strong>in</strong> entwickelt: +It results from<br />

the freedom <strong>in</strong>dividual sociologists have to work with other <strong>in</strong>dividuals anywhere on the globe and to appreciate<br />

the worldwide processes with<strong>in</strong> which and on which they work.* (S. 7)<br />

10. Der Begriff +Globalisierung* bzw. +Globalization* taucht me<strong>in</strong>es Wissens erstmals <strong>in</strong> dem Band +Pr<strong>in</strong>ciples of World<br />

Politics* (1972) von George Modelski auf – allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Bedeutung, als <strong>der</strong> hier zugrunde gelegten.<br />

Denn Modelski begreift +Globalization* als e<strong>in</strong>e historische Epoche, die um das Jahr 1000 begann und dazu führte,<br />

daß aus e<strong>in</strong>er Reihe unvernetzter Großreiche e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges globales System entstand (vgl. S. 41–57). Zu se<strong>in</strong>en Thesen<br />

jedoch später (im Kontext <strong>der</strong> Diskussion um die politische Globalisierung) mehr.<br />

11. Leslie Sklair geht es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch um die Analyse <strong>der</strong> sog. transnationalen Praktiken (TNPs). Zum Begriff <strong>der</strong><br />

transnationalen Praktiken erläutert Sklair: +TNPs are analytically dist<strong>in</strong>guished on three levels, economic, political<br />

and cultural-ideological, what I take to constitute the sociological totality. In the concrete conditions of the world<br />

as it is, a world largely structured by global capitalism, each of these TNPs is typically, but not exclusively, characterized<br />

by a major <strong>in</strong>stitution. The transnational corporation (TNC) is the major locus of transnational economic practices;<br />

what I shall term the transnational capitalist class is the major locus of transnational political practices; and the major<br />

locus of transnational cultural-ideological practices is to be found <strong>in</strong> the culture-ideology of consumerism.* (Sociology<br />

of the Global System; S. 6)<br />

Auch Malcolm Waters hat e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante These anzubieten, die er im Rahmen se<strong>in</strong>er Arbeit zu untermauern bemüht<br />

ist: Er me<strong>in</strong>t nämlich, daß (aufgrund se<strong>in</strong>er Stoffgebundenheit) materieller (Aus-)Tausch dazu tendiert, sich zu +lokalisieren*,<br />

während die politischen Beziehungen sich <strong>in</strong>ternationalisieren und nur die symbolischen kulturellen Beziehungen<br />

sich tatsächlich globalisieren (vgl. Globalization; S. 9). An<strong>der</strong>s als Sklair gibt Waters <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 1995 erschienenen Buch<br />

zusätzlich e<strong>in</strong>en (guten) allgeme<strong>in</strong>en Überblick über die bis dah<strong>in</strong> abgelaufene Globalisierungsdebatte. Das gleiche<br />

gilt für den Beitrag (A Global Society) von Anthony McGrew <strong>in</strong> dem von ihm zusammen mit Stuart Hall und David<br />

Held 1992 herausgegebenen Band +Mo<strong>der</strong>nity and its Futures*. Beide Texte s<strong>in</strong>d also für e<strong>in</strong>e erste Orientierung<br />

empfehlenswert.<br />

12. Wer sich hierzu dennoch e<strong>in</strong>en Überblick verschaffen will, tut dies am besten mit dem Sammelband +Global<br />

Culture*, <strong>der</strong> von Mike Featherstone 1990 herausgegeben wurde. Neben se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>leitenden Bemerkungen s<strong>in</strong>d<br />

beson<strong>der</strong>s die Beiträge von Robertson, Wallerste<strong>in</strong>, Smith, Hannerz, Appadurai und Friedman relevant. Robertson,<br />

auf den hier gleich noch etwas näher e<strong>in</strong>gegangen werden wird, hat übrigens auch e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> ersten Monographien<br />

zum Thema verfaßt, wor<strong>in</strong> er e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> am meisten rezipierten Dif<strong>in</strong>itionen von Globalisierung gibt, die deshalb auch<br />

hier im folgenden wie<strong>der</strong>gegeben wird.<br />

13. Ganz ähnlich wie Giddens und Robertson, aber bereits 1989 und damit vor jenen, stellt übrigens auch David<br />

Harvey die +Raum-Zeit-Kompression* <strong>in</strong> den Mittelpunkt se<strong>in</strong>er Überlegungen zur globalisierten <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und<br />

den (sozio-ökonomischen) Ursprüngen des kulturellen Wandels: +[…] strong a priori grounds can be adduced for<br />

the proposition that there is some k<strong>in</strong>d of necessary relation between the rise of postmo<strong>der</strong>nist cultural forms, the<br />

emergence of more flexible modes of capital accumulation, and a new round of ›time-space compression‹ <strong>in</strong> the<br />

organization of capitalism.* (The Condition of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity; S. VII)<br />

14. Schon zwei Jahre zuvor hat Robertson <strong>in</strong> jenem <strong>in</strong> Anmerkung 12 erwähnten Band e<strong>in</strong>en Aufsatz veröffentlicht,<br />

<strong>der</strong> später zu e<strong>in</strong>em Kapitel se<strong>in</strong>es Buchs umgearbeitet wurde, und dort e<strong>in</strong> historisches Phasenmodell aufgestellt,<br />

das fünf Abschnitte <strong>der</strong> Globalisierung postuliert: I. Keimphase (frühes 15. Jahrhun<strong>der</strong>t bis Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts):<br />

langsame Ausbildung nationaler Geme<strong>in</strong>schaften; II. E<strong>in</strong>leitende Phase (Mitte bis 70er Jahre des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts):<br />

Herausbildung <strong>der</strong> Idee des e<strong>in</strong>heitlichen Nationalstaats; III. Take-Off Phase (70er Jahre des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts bis Mitte<br />

<strong>der</strong> 20er Jahre): erste <strong>in</strong>ternationale Organisationen; IV. Phase des Kampfs um Vorherrschaft (frühe 20er Jahre bis<br />

Mitte <strong>der</strong> 60er Jahre): globale <strong>in</strong>ternationale Konflikte; V. Unsicherheitsphase (Mitte <strong>der</strong> 60er bis Anfang <strong>der</strong> 90er<br />

Jahre): Schärfung des globalen Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise. (Vgl. Mapp<strong>in</strong>g the Global Condition; S. 25ff.)<br />

15. Ähnlich wie Robertson, <strong>der</strong> diese von McGrew <strong>in</strong> all ihren verschiedenen Dimensionen zusammengefaßte These<br />

am prom<strong>in</strong>entesten vertritt, argumentieren z.B. auch Ulf Hannerz (vgl. Cosmopolitans and Locals <strong>in</strong> the World Culture)<br />

und Jonathan Friedman (vgl. Be<strong>in</strong>g <strong>in</strong> the World – Globalization and Localization).


A: ANMERKUNGEN 37<br />

16. Beck hat sich, obwohl er schon 1986 von e<strong>in</strong>er +Globalisierung <strong>der</strong> Zivilisationsrisiken* gesprochen hat (vgl. Risikogesellschaft;<br />

S. 48ff.), erst <strong>in</strong> jüngster Zeit explizit mit dem Themenkomplex Globalisierung ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt – nunmehr<br />

allerd<strong>in</strong>gs umso <strong>in</strong>tensiver. So zeichnet er nicht nur als Herausgeber verantwortlich für die Bände +Perspektiven <strong>der</strong><br />

Weltgesellschaft* und +<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Globalisierung* (beide 1998). Auch e<strong>in</strong> ausführlicher eigener Beitrag zur Debatte<br />

liegt vor: In +Was ist Globalisierung?* (1997) unterscheidet er zwischen Globalismus als neoliberalistischer Ideologie,<br />

welche die Vielschichtigkeit des stattf<strong>in</strong>denden Entgrenzungsprozesses auf ihre ökonomische Dimension reduziert<br />

(was me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach dem Begriff an sich allerd<strong>in</strong>gs nicht gerecht wird), Globalität als <strong>der</strong> Faktizität <strong>der</strong> Weltgesellschaft<br />

und schließlich Globalisierung als multidimensionalem Prozeß <strong>der</strong> Infragestellung des Nationalstaats und<br />

<strong>der</strong> Nationalgesellschaft durch transnationale Akteure (vgl. S. 26–30).<br />

17. Im diesem +Netzwerk* gibt es freilich lokale Knoten wie z.B. New York, London o<strong>der</strong> Tokyo. Auf die +örtliche*<br />

Zentrierung <strong>der</strong> Globalisierung <strong>in</strong> solchen +globalen Städten* hat <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Saskia Sassen h<strong>in</strong>gewiesen (vgl. The<br />

Global City).<br />

18. Beispielhaft für e<strong>in</strong>e solche Argumentation s<strong>in</strong>d Serge Latouches Thesen zur +Verwestlichung <strong>der</strong> Welt* (1994),<br />

<strong>der</strong> sowohl auf den politischen wie auch auf den ökonomischen und kulturellen Imperialismus des Westens e<strong>in</strong>geht.<br />

19. +Globale Trends* wird von <strong>der</strong> +Stiftung Entwicklung und Frieden* <strong>in</strong> Bonn herausgegeben.<br />

20. Die Verwendung des Begriffs +Welle* bedeutet ke<strong>in</strong>e Anlehnung an Kondratieffs Theorie <strong>der</strong> +langen Wellen*<br />

(vgl. zum Konzept und zur marxistischen Kontroverse um die +Kondratieff-Zyklen* z.B. Menschikow: Lange Wellen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft), son<strong>der</strong>n soll nur den schubhaften, diskont<strong>in</strong>uierlichen und doch +progressiven* Charakter des<br />

Globalisierungsprozesses ausdrücken. Es besteht damit also eher e<strong>in</strong>e Ähnlichkeit zum Konzept <strong>der</strong> systemischen<br />

Zyklen <strong>der</strong> Kapitalakkumulation von Arrighi (vgl. The Long Twentieth Century; S. 6ff.).<br />

21. Natürlich hatte es Entwicklungen zu e<strong>in</strong>er +Globalisierung* des Handels auch schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit gegeben<br />

(etwa im römischen Weltreich), und auch im Mittelalter gab es Handelsbeziehungen fast zur gesamten damals bekannten<br />

Welt. Ansätze zur Entstehung e<strong>in</strong>er tatsächlichen Weltökonomie, e<strong>in</strong>es kapitalistischen Weltsystems das überwiegend<br />

auf ökonomischen Verflechtungen beruht und ke<strong>in</strong> politisches +Weltreich* voraussetzt, f<strong>in</strong>den sich jedoch erst im<br />

späten 15. und im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t (vgl. Wallerste<strong>in</strong>: The Mo<strong>der</strong>n World-System; S. 15ff. sowie Kap. 2). Es ist deshalb<br />

durchaus gerechtfertigt, die erste Extensions- und Expansionswelle <strong>der</strong> Globalisierung erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> frühen Neuzeit und<br />

nicht vorher anzusetzen. Die bedeutende Rolle <strong>der</strong> seefahrerischen Entdeckungen zu dieser Zeit betont übrigens<br />

auch Ritter (vgl. Welthandel; S. 116), <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en handelsgeographischen Ansatz verfolgt.<br />

22. Der INC-<strong>Politik</strong>er Dadabhai Naoroji brachte dies 1876 auf den Punkt, <strong>in</strong>dem er von e<strong>in</strong>em +dra<strong>in</strong> of wealth*,<br />

e<strong>in</strong>em Kapital- und Warenabfluß aus Indien, sprach, den er alle<strong>in</strong>e für die Jahre 1835–72 auf 500 Millionen Pfund<br />

bezifferte (vgl. Kulke/Rothermund: Geschichte Indiens; S. 289f.). Zum britischen Imperialismus allgeme<strong>in</strong> vgl. Röhrich:<br />

<strong>Politik</strong> und Ökonomie <strong>der</strong> Weltgesellschaft; S. 25–34. Hier wird auch e<strong>in</strong> guter Überblick über die vor allem marxistisch<br />

bee<strong>in</strong>flußten (ökonomischen) Imperialismus-Theorien gegeben (vgl. ebd.; S. 14–25).<br />

23. Das Brutto<strong>in</strong>landsprodukt (BIP) stieg nach Maddison zwischen 1820 und 1870 jährlich um durchschnittlich 2,2%,<br />

wogegen das Exportvolumen im selben Zeitraum um durchschnittlich 4% pro Jahr zunahm. Für die Zeitspanne zwischen<br />

1870 und 1913 zeigt sich e<strong>in</strong> ähnliches Bild (durchschnittlicher Anstieg des BIP: 2,5% p.a.; durchschnittlicher<br />

Exportzuwachs: 3,9% p.a.). Im folgenden werde ich mich aber auf die leicht abweichenden, auch aktuellere Entwicklungen<br />

mit e<strong>in</strong>beziehenden Zahlen von Gordon stützen (vgl. The Global Economy; Tab. 4a/4b, S. 43).<br />

24. Im Rahmen <strong>der</strong> Dependencia-Theorie, die diesen Begriff aufgegriffen und populär gemacht hat, wird allerd<strong>in</strong>gs<br />

meist nicht auf Emmanuel direkt, son<strong>der</strong>n auf Samir Am<strong>in</strong> Bezug genommen (vgl. L’échange <strong>in</strong>égal et la loi de la valeur).<br />

25. Mit +terms of trade* ist das Verhältnis zwischen Export- und Importgüterpreisen geme<strong>in</strong>t, das sich für die meisten<br />

Entwicklungslän<strong>der</strong> (die hauptsächlich auf den Export von Primärgütern angewiesen s<strong>in</strong>d), aufgrund ihrer +abhängigen<br />

Reproduktion* (Senghaas), ungünstig entwickelt hat.<br />

26. Maddison unterscheidet vier Phasen <strong>der</strong> Entwicklung des Kapitalismus: 1. 1820–1913: ›Liberal Phase‹; 2. 1913–50:<br />

›Beggar-Your-Neighbour-Phase‹; 3. 1950–73: ›Golden Age‹; 4. Seit 1973: ›Phase of Blurred Objectives‹. (Vgl. Phases<br />

of Capitalist Development; Tab. 4.11, S. 92)


38 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

27. Vgl. Globale Trends 1996; Tab. 5, S. 159.<br />

28. 1994 machte ihr Anteil am Weltsozialprodukt nur 5,3% aus, und ihr Anteil am <strong>in</strong>ternationalen Handel betrug<br />

sogar nur 3,2% (vgl. Globale Trends 1996; S. 150 [Schaubild 1]).<br />

29. Diese Position steht natürlich im Wi<strong>der</strong>spruch zur dargelegten Auffassung von Hobsbawm, <strong>der</strong> den Nationalstaat<br />

des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts als ausgeprägt protektionistisch e<strong>in</strong>stuft (siehe S. 47f.).<br />

30. Kocka macht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz klar, daß die Entwicklungstendenzen des fortgeschrittenen Kapitalismus im Begriff<br />

des organisierten Kapitalismus besser zum Ausdruck kommen. Zudem ist er nicht so stark ideologisch überformt wie<br />

Len<strong>in</strong>s Schlagwort vom Staatsmonopolkapitalismus. Allerd<strong>in</strong>gs ist sich Kocka bewußt, daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Orig<strong>in</strong>alformulierung<br />

von Hilferd<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e harmonisierende Sichtweise zum Tragen kommt (siehe Anmerkung 31), denn die Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

des Kapitalismus können natürlich gemäß sozialistischer Auffassung durch staatliche E<strong>in</strong>griffe nur zeitweilig überdeckt<br />

werden.<br />

31. Hilferd<strong>in</strong>g entwickelte se<strong>in</strong>e Theorie vom organisierten Kapitalismus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Aufsatz, <strong>der</strong> 1915 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift<br />

+Der Kampf* erschien. Es handelt sich bei <strong>der</strong> orig<strong>in</strong>alen Formulierung Hilferd<strong>in</strong>gs um e<strong>in</strong>e revisionistische These,<br />

da dieser davon ausg<strong>in</strong>g, daß sich durch die Wirkung des staatlichen Interventionismus und die gewerkschaftliche<br />

Interessenorganisation e<strong>in</strong>e Konvergenz von organisiertem Kapitalismus und Sozialismus ergeben würde (vgl. W<strong>in</strong>kler:<br />

E<strong>in</strong>leitende Bemerkungen zu Hilferd<strong>in</strong>gs Theorie des Organisierten Kapitalismus). Hilferd<strong>in</strong>gs wichtigste Schrift dürfte<br />

allerd<strong>in</strong>gs ohneh<strong>in</strong> nicht <strong>der</strong> genannte Aufsatz, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Band +Das F<strong>in</strong>anzkapital* (1909) se<strong>in</strong>.<br />

32. E<strong>in</strong>en schönen Überblick über die e<strong>in</strong>zelnen Runden des GATT gibt Mulhearn (vgl. Change and Development<br />

<strong>in</strong> the Global Economy; S. 180–184). Speziell zu den Neuerungen mit <strong>der</strong> Uruguay-Runde (1984–94), die auch die<br />

Gründung e<strong>in</strong>er Welthandelsorganisation im Rahmen <strong>der</strong> UNO brachte, kann auf den von Michael Frenkel und Dieter<br />

Ben<strong>der</strong> herausgegebenen Band +GATT und neue Welthandelsordnung* verwiesen werden.<br />

33. Diese besagt, daß e<strong>in</strong> Staat, <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bilateralen Vertrag mit e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Staat diesem e<strong>in</strong>e Vergünstigung<br />

für die E<strong>in</strong>fuhr von Waren e<strong>in</strong>räumt, diese Vergünstigung automatisch auch allen an<strong>der</strong>en Mitgliedsstaaten des GATT<br />

e<strong>in</strong>räumen muß (vgl. GATT, Art. I u. II).<br />

34. Ausdruck dieser amerikanischen Dom<strong>in</strong>anz war das alle<strong>in</strong>ige Veto-Recht <strong>der</strong> USA beim +Internationalen Währungsfonds*<br />

(IWF). Auch bei <strong>der</strong> +Internationalen Bank für Wie<strong>der</strong>aufbau und Entwicklung* (Weltbank), <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en im<br />

Zuge von Bretton Woods gegründeten F<strong>in</strong>anzorganisation, hatten (und haben) die Vere<strong>in</strong>igten Staaten e<strong>in</strong> Übergewicht.<br />

35. Nach e<strong>in</strong>er Übergangszeit wurde <strong>der</strong> Dollarkurs schließlich de facto 1973 und de jure 1976 völlig freigegeben.<br />

36. Vgl. hierzu Spero: Guid<strong>in</strong>g Global F<strong>in</strong>ance. Am Beispiel des Börsen-Crashs vom Oktober 1987 verdeutlicht Spero<br />

hier die Gefahren des globalisierten F<strong>in</strong>anzmarkts: Die technologische Vernetzung, gepaart mit dem bestehenden<br />

Hang zu Überreaktionen und Panik, wirkt <strong>in</strong> Krisensituationen destabilisierend. Zudem tendiert ausländisches Kapital,<br />

das durch die Globalisierung e<strong>in</strong>en immer höheren Anteil e<strong>in</strong>nimmt, auch eher als e<strong>in</strong>heimisches zur +Flucht* (vgl.<br />

S. 129).<br />

37. Das bedeutet, daß sich die Rate zwischen den E<strong>in</strong>nahmen aus Exporten und Kapital von ca. 10 zu 1 (1961) auf<br />

ca. 3 zu 1 (1993) verr<strong>in</strong>gert hat. Am drastischsten ist die Lage <strong>in</strong> Großbritannien. Dort hat das Kapitale<strong>in</strong>kommen<br />

aus <strong>in</strong>ternationalen Geschäften schon 61% des Warenexporte<strong>in</strong>kommens erreicht. (Vgl. hierzu Menzel: Die neue<br />

Weltwirtschaft; Tab. 4, S. 36).<br />

38. In dem von Sauvant mitherausgegebenen Band +Electronic Highways for World Trade* (Rob<strong>in</strong>son et al. 1989)<br />

wird dieser Zusammenhang ausführlich thematisiert.<br />

39. David Harvey argumentiert im Pr<strong>in</strong>zip ganz entlang <strong>der</strong> hier dargestellten L<strong>in</strong>ie: Das Modell <strong>der</strong> fordistischen<br />

Massenproduktion konnte nur so lange erfolgreich se<strong>in</strong>, wie die Wirtschaft boomte und diese politisch durch den<br />

+hegemonialen Schirm* <strong>der</strong> USA abgesichert wurde (vgl. The Condition of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity; S. 136f.). Nachdem das<br />

Wachstum an se<strong>in</strong>e reale Grenze stieß, erfolgte notgedrungen e<strong>in</strong> Übergang zur +flexiblen Akkumulation*, d.h. die<br />

Arbeitsorganisation und die Arbeitsverhältnisse wurden (oft zu Lasten <strong>der</strong> Arbeitnehmer) variabel gestaltet (vgl. ebd.;


A: ANMERKUNGEN 39<br />

S. 150ff.). In e<strong>in</strong>em Satz zusammengefaßt: +Economies of scope have beaten out economies of scale* (ebd. S. 155).<br />

Harvey, <strong>der</strong> (neo)marxistisch <strong>in</strong>spiriert ist, verfolgt die Absicht, über die Beschreibung <strong>der</strong>artiger ökonomischer Wandlungsprozesse<br />

auch die postmo<strong>der</strong>nen Kulturphänomene erklären zu können, wie auch mit dem Untertitel se<strong>in</strong>es Buches<br />

bereits angekündigt wird: An Enquiry <strong>in</strong>to the Orig<strong>in</strong>s of Cultural Change. Ob ihm dies überzeugend gelungen ist, kann<br />

allerd<strong>in</strong>gs durchaus angezweifelt werden.<br />

40. 1960 betrug <strong>der</strong> Anteil am BIP des tertiären Sektors <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik 40,6% und <strong>in</strong> Japan 48,2%.<br />

41. Menzel weist allerd<strong>in</strong>gs darauf h<strong>in</strong>, daß das Wachstum des tertiären Sektors im wesentlichen auf das Wachstum<br />

des F<strong>in</strong>anz- und Versicherungswesens sowie an<strong>der</strong>er professioneller Dienstleistungen zurückzuführen ist. Dies ergibt<br />

e<strong>in</strong>e Aufglie<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> die Subsektoren <strong>der</strong> Dienstleistungsbranche. Während die öffentlichen Dienstleistungen, Großund<br />

E<strong>in</strong>zelhandel, Gastronomie und Transportwesen etc. stagnierten, konnte <strong>der</strong> Bereich <strong>der</strong> professionellen Dienstleistungen<br />

se<strong>in</strong>en Anteil am Weltsozialprodukt zwischen 1960 und 1989 von 13% auf 21,2% steigern (vgl. Die neue<br />

Weltwirtschaft; Tab. 2, S. 33).<br />

42. Die Entwicklung <strong>in</strong> Bangalore, wo man vom +body sell<strong>in</strong>g* an <strong>in</strong>ternationale Großunternehmen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form zeitlich<br />

befristeter Arbeitsverträge zum Dienstleistungsexport übergegangen ist, ist bezeichnend für e<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>en Trend:<br />

Während die ökonomische Vernetzung zunimmt, s<strong>in</strong>kt die Migrationsrate (vgl. Weltbank: Weltentwicklungsbericht<br />

1995 – Arbeitnehmer im weltweiten Integrationsprozeß; S. 61ff.).<br />

43. Dieser sche<strong>in</strong>bare Wi<strong>der</strong>spruch zur obigen Aussage erklärt sich aus dem schon angesprochenen überproportionalen<br />

Anwachsen des F<strong>in</strong>anzsektors.<br />

44. Das zitierte Buch von Paul Hirst und Grahame Thompson wird <strong>der</strong>zeit vielfach diskutiert. Dar<strong>in</strong> bestreiten die<br />

beiden Autoren, daß das Ausmaß <strong>der</strong> Globalisierung <strong>in</strong> den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren tatsächlich zugenommen hat.<br />

Die aktuelle Weltwirtschaft ist ihrer Me<strong>in</strong>ung nach deshalb nicht wirklich global zu nennen, son<strong>der</strong>n ist noch immer<br />

+<strong>in</strong>ter-national* strukturiert (vgl. S. 7–16) – wobei ich ihnen durchaus zustimme, was aber ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e neue o<strong>der</strong><br />

orig<strong>in</strong>elle Erkenntnis darstellt. Zum Beleg verweisen Hirst und Thompson u.a. darauf, daß die Exportwerte im Verhältnis<br />

zum BIP 1913 <strong>in</strong> den wichtigsten Industrienationen größer waren als 1973 (vgl. ebd.; S. 26ff.). Damit ist ihrer Me<strong>in</strong>ung<br />

nach e<strong>in</strong> wichtiges Argument dafür erbracht, daß die Offenheit des Handels (und damit das Ausmaß <strong>der</strong> Globalisierung)<br />

zur Zeit des Goldstandards größer war als heute. Lei<strong>der</strong> beziehen sie sich jedoch im Rahmen dieser Argumentation<br />

auf Zahlenmaterial, das nur maximal die Entwicklung bis Ende <strong>der</strong> 80er Jahre (o<strong>der</strong> sogar nur bis Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre)<br />

berücksichtigt, was aufgrund <strong>der</strong> damaligen Stagnationsphase zu e<strong>in</strong>er verzerrten Interpretation führt. Gerade die<br />

aktuelle, +beschleunigte* Entwicklung bleibt ausgeklammert. Somit ist durch Hirst und Thompson nur aufgezeigt,<br />

daß (ökonomische) Globalisierung ke<strong>in</strong> l<strong>in</strong>earer Prozeß ist, son<strong>der</strong>n diskont<strong>in</strong>uierlich verläuft. Ihre an<strong>der</strong>en Hauptargumente<br />

– die immer noch nationale Basis <strong>der</strong> angeblich transnationalen Konzerne, die ungleichmäßige <strong>in</strong>ternationale Verteilung<br />

des Investitionskapitals und die ökonomische Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> Triade Europa-Japan-Nordamerika <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weltwirtschaft<br />

(vgl. ebd.; S. 2) – s<strong>in</strong>d von an<strong>der</strong>er Seite schon vielfach vorgetragen worden, ja vielmehr noch: Sie s<strong>in</strong>d geradezu<br />

Standarde<strong>in</strong>wände Freihandelsideologie-kritischer Autoren und werden im folgenden auch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Betrachtung<br />

noch e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielen.<br />

45. Auf die Probleme des nationalen Wohlfahrtsstaats durch Globalisierungsprozesse wird <strong>in</strong> Abschnitt 3.1 noch näher<br />

e<strong>in</strong>gegangen werden, so daß ich diesen Aspekt hier nicht weiter verfolgen werde.<br />

46. Noch deutlicher als <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em hier zitierten, eher historisch orientierten (dreibändigen) Hauptwerk +The Mo<strong>der</strong>n<br />

World-System* (Band 1: 1974) wird die fundamentale Ungleichheitsrelation zwischen Zentrum und Peripherie <strong>in</strong><br />

dem Band +The Capitalist World-Economy* (1980) herausgearbeitet. Aktuell hat Wallerste<strong>in</strong> allerd<strong>in</strong>gs für sich e<strong>in</strong>ige<br />

Lehren aus den 80er Jahren gezogen, die ja das Ende des sozialistischen Staatensystems mit sich brachten. Neben<br />

ökonomischen betrachtet Wallerste<strong>in</strong> nun auch immer mehr politische und kulturelle Faktoren zur Erklärung von<br />

Ungleichheiten im Weltsystem (vgl. z.B. Geopolitics and Geoculture).<br />

47. Dies gilt, wenn man sich Arjun Appadurai anschließt, noch mehr auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> globalen kulturellen Ökonomie,<br />

die für ihn zunehmend e<strong>in</strong>e komplexe, überlappende und unverbundene Ordnung darstellt und deshalb nicht mehr<br />

<strong>in</strong> Begriffen des Peripherie-Zentrum-Modells verstanden werden kann (vgl. Disjuncture and Difference <strong>in</strong> the Global<br />

Cultural Economy; S. 296). Appadurai stellt deshalb fünf Begriffe <strong>in</strong> den Mittelpunkt se<strong>in</strong>er Betrachtung, mit <strong>der</strong>en<br />

Hilfe er hofft, hier Abhilfe schaffen zu können: +ethnoscapes*, +mediascapes*, +technoscapes*, +f<strong>in</strong>ancescapes* und<br />

+ideoscapes*. Mit diesen Wortneuschöpfungen soll schlicht ausgedrückt werden: In <strong>der</strong> globalen Kultur spielen die


40 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Flüsse von Menschen, Bil<strong>der</strong>n, Masch<strong>in</strong>en, Geld und Ideen e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, und sie s<strong>in</strong>d zunehmend getrennt<br />

vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> (vgl. ebd.; S. 301 und siehe auch Abschnitt 3.5, S. 263f.).<br />

48. Ich b<strong>in</strong> mir <strong>der</strong> Problematik bewußt, daß solche Zahlenvergleiche auf nationalstaatlicher Basis natürlich e<strong>in</strong>erseits<br />

e<strong>in</strong>er den Nationalstaat durch Globalisierungs- und Regionalisierungsprozesse überschreitenden Ökonomie nicht<br />

gerecht werden (können) und an<strong>der</strong>erseits <strong>in</strong>nerstaatliche Disparitäten nicht spiegeln. Zudem ist Ökonomie e<strong>in</strong>e<br />

Frage <strong>der</strong> Güterproduktion und -verteilung. Der Vergleich <strong>der</strong> Leistungsfähigkeit von Ökonomien am Maßstab von<br />

+geldfixierten* Kennwerten unterschlägt deshalb die ökonomische Relevanz z.B. <strong>der</strong> ländlichen Subsistenzwirtschaft,<br />

des <strong>in</strong>formellen Sektors o<strong>der</strong> nachbarschaftlicher und familiärer Netzwerke, wie sie <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em Maß für Entwicklungslän<strong>der</strong><br />

typisch s<strong>in</strong>d.<br />

49.Vgl.hierzu und zum Weltbevölkerungsproblem allgeme<strong>in</strong> Schmid: Bevölkerungswachstum und Entwicklungsprozeß<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Dritten Welt.<br />

50. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es natürlich auch hier sehr große Unterschiede, was die e<strong>in</strong>zelnen Län<strong>der</strong> betrifft (vgl. Weltbank:<br />

Weltentwicklungsbericht 1996 – Vom Plan zum Markt; <strong>in</strong>sb. Kap. 2).<br />

51. Zu den klassischen +Tigern* zählen Südkorea, Taiwan, Hongkong und S<strong>in</strong>gapur, neuerd<strong>in</strong>gs aber auch Thailand<br />

und Malaysia. Alle diese Staaten hatten <strong>in</strong> den letzen Jahren Wachstumsraten zwischen 4,5 und 9,5%. Mit solch hohen<br />

Wachstumsraten fertig zu werden, bereitet (wie auch unten erwähnt) mitunter große Schwierigkeiten (vgl. z.B. Heuser:<br />

Die Tiger werden erwachsen) – und aktuell sche<strong>in</strong>t es (aufgrund e<strong>in</strong>er Erschütterung <strong>der</strong> dortigen F<strong>in</strong>anzmärkte) gar<br />

so, als sei e<strong>in</strong>e ausgewachsene +Pubertätskrise* ausgebrochen.<br />

52. Vgl. zur aktuellen Entwicklung auch Weltbank: Weltentwicklungsbericht 1996; Tab. 15, S. 250f. Die hier angegebenen<br />

Kennzahlen zu den Warenexporten und -importen belegen, daß sich auch, wenn man die Daten für 1994 mit e<strong>in</strong>bezieht,<br />

nichts Grundsätzliches geän<strong>der</strong>t hat: Die Relation <strong>der</strong> Gesamtwerte <strong>der</strong> Ausfuhren zwischen den Entwicklungslän<strong>der</strong>n<br />

(Län<strong>der</strong> mit niedrigem und mittlerem E<strong>in</strong>kommen) und den Industriestaaten (Län<strong>der</strong> mit hohem E<strong>in</strong>kommen) betrug<br />

1980 nahezu exakt 1 zu 2. 1994 verschlechterte sich diese Relation sogar auf e<strong>in</strong> Verhältnis von ca. 1 zu 3 (exakt:<br />

3,18). Und auch hier zeigen die Zahlen, daß Afrika <strong>der</strong> große Verlierer war, während sich die Position Asiens (selbstverständlich<br />

ohne Japan) erheblich verbesserte, es se<strong>in</strong>en Export-Anteil von 5,0% (1980) auf 9,8% (1994) steigern<br />

konnte. (Die angegebenen Relationen und Prozentangaben beruhen auf eigenen Berechnungen)<br />

53. Wie schon <strong>in</strong> Anmerkung 46 angedeutet, hat Wallerste<strong>in</strong> selbst <strong>in</strong> jüngerer Zeit se<strong>in</strong>e ursprüngliche Position <strong>in</strong><br />

dieser Richtung h<strong>in</strong> modifiziert (vgl. Geopolitics and Geoculture).<br />

54. McLuhan glaubt, daß <strong>in</strong> unserem Zeitalter <strong>der</strong> Geschw<strong>in</strong>digkeit die Zentrum-Peripherie-Struktur aufgehoben<br />

ist: +Die Geschw<strong>in</strong>digkeit <strong>der</strong> Elektrizität läßt Zentren überall entstehen. Peripherien hören auf unserem Planeten<br />

auf zu existieren.* (Die magischen Kanäle; S. 101) Dies führt ihn zur These vom +globalen Dorf*: +Unsere heutige<br />

Beschleunigung ist nicht e<strong>in</strong>e Zeitlupenexplosion vom Zentrum h<strong>in</strong>aus zur Peripherie, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e augenblickliche<br />

Implosion und Verquickung von Raum und Funktion. Unsere spezialisierte und atomisierte Zivilisation vom Zentrum-<br />

Peripherie-Typus erlebt nun plötzlich, wie alle ihre Masch<strong>in</strong>enteilchen auf <strong>der</strong> Stelle zu e<strong>in</strong>em organischen Ganzen<br />

neu zusammengesetzt werden. Das ist die neue Welt des globalen Dorfes.* (Ebd.; S. 103)<br />

55. Möglichkeiten zu e<strong>in</strong>em Entgegenwirken wären nach Neyer: 1. Die Zurückdrängung <strong>der</strong> symbolischen Ökonomie<br />

auf e<strong>in</strong> vernünftiges Maß, um das zur Verfügung stehende Kapital s<strong>in</strong>nvoll und produktiv e<strong>in</strong>setzen zu können; 2.<br />

DieStärkunglokalerpolitischer Institutionen, umaufpolitischer Ebenee<strong>in</strong>Gegengewichtzurökonomischen Globalisierung<br />

zu haben und um damit die E<strong>in</strong>flußmöglichkeiten <strong>der</strong> Menschen auf ihre Lebenswelt zu bewahren. (Vgl. Das Ende<br />

von Metropole und Peripherie? S. 24ff.)<br />

56. Altvater führt dieses Argument anhand des von ihm gewählten Fallbeispiels Brasilien detailliert und überzeugend<br />

aus.<br />

57. Für das Beispiel NAFTA liegt mittlerweile e<strong>in</strong> Sammelband vor, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von kritischen Aufsätzen enthält<br />

(vgl. Hoffmann/Wannöffel: Soziale und ökologische Sackgassen ökonomischer Globalisierung – Das Beispiel NAFTA).<br />

Hier wird z.B. ausführlich dargelegt wie die NAFTA als Wie<strong>der</strong>belebungsprogramm für die amerikanische Wirtschaft<br />

verstanden werden kann (vgl. ebd. den Beitrag von Brecher: NAFTA – Ökonomische Wie<strong>der</strong>belebung <strong>der</strong> USA), die<br />

sich durch die Freihandelszone mit Kanada und Mexiko nicht nur e<strong>in</strong>en größeren Absatzmarkt erobert, son<strong>der</strong>n auch


A: ANMERKUNGEN 41<br />

die Möglichkeit zur (kostengünstigen) Produktionsverlagerung erhält (vgl. den Beitrag von Hoffmann: NAFTA – E<strong>in</strong><br />

Freihandelsabkommen ohne soziale Dimension).<br />

58. Das Abkommen von Lomé wurde 1975 zunächst zwischen <strong>der</strong> EG und 49 Staaten aus Afrika, <strong>der</strong> Karibik und<br />

<strong>der</strong> Pazifik-Region geschlossen und hatte ursprünglich nur e<strong>in</strong>e 5jährige Laufzeit. Inzwischen wurde es jedoch dreimal<br />

verlängert und auf <strong>in</strong>sgesamt 69 Staaten ausgedehnt.<br />

59. Beson<strong>der</strong>s zwiespältig ist dabei die For<strong>der</strong>ung nach <strong>in</strong>ternational geltenden Grundrechten für Arbeitnehmer. So<br />

weisen Rob Lampert und Donella Caspersz darauf h<strong>in</strong>, daß solche For<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e Form des Protektionismus<br />

darstellen (vgl. International Labour Standards; S. 573ff.), an<strong>der</strong>erseits nur so die Position <strong>der</strong> Arbeitnehmer auf globaler<br />

Ebene und speziell <strong>in</strong> den NICs gestärkt werden kann (vgl. ebd.; S. 583ff.).<br />

60. Ganz ähnlich argumentiert übrigens auch Andrew Wyatt-Walter (vgl. Regionalism, Globalization, and World Economic<br />

Or<strong>der</strong>). Hier spricht er zusammenfassend davon, daß (ökonomische) Regionalisierung und Globalisierung eher symbiotische<br />

als gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gerichtete Prozesse darstellen (vgl. ebd.; S. 115).<br />

61. Die realistische Schule <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen <strong>Politik</strong> geht im wesentlichen auf Hans J. Morgenthau zurück. In<br />

se<strong>in</strong>em Buch +Politics Among Nations* (1978) nennt Morgenthau sechs Pr<strong>in</strong>zipien des +Realismus*: 1. geht <strong>der</strong> Realismus<br />

von <strong>der</strong> Annahme aus, daß die <strong>Politik</strong> von +objektiven Gesetzen* bestimmt wird, die ihre Grundlage <strong>in</strong> <strong>der</strong> menschlichen<br />

Natur haben; 2. vertritt <strong>der</strong> politische Realismus die Annahme, daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> Interessen mittels Macht durchgesetzt<br />

werden und deshalb die <strong>in</strong>ternationale <strong>Politik</strong> als Machtkampf (unter den Nationen) aufgefaßt werden kann; 3. ist<br />

<strong>der</strong> Realismus sich <strong>der</strong> Tatsache bewußt, daß die aktuellen Verhältnisse <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen <strong>Politik</strong> zwar Ausdruck<br />

objektiver Gesetze s<strong>in</strong>d, daß trotzdem aber e<strong>in</strong> historischer Wandel dieser Verhältnisse grundsätzlich möglich ersche<strong>in</strong>t;<br />

4. wird die Ansicht vertreten, daß Staaten, an<strong>der</strong>s als Individuen, ihre <strong>Politik</strong> nicht alle<strong>in</strong>e an moralischen Pr<strong>in</strong>zipien<br />

ausrichten können, son<strong>der</strong>n immer auch die nationale Selbsterhaltung im Auge haben müssen; 5. lehnt <strong>der</strong> politische<br />

Realismus moralische Urteile im Kontext <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Beziehungen ab, da Gut und Böse <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> nicht<br />

e<strong>in</strong>deutig zu bestimmen s<strong>in</strong>d; 6. geht <strong>der</strong> politische Realismus von e<strong>in</strong>er getrennten Sphäre des Politischen aus. (Vgl.<br />

S. 4–15)<br />

62. Rosenau hat se<strong>in</strong>en Text noch vor den dramatischen Ereignissen des Jahres 1989 verfaßt, so daß er auf diesen<br />

Aspekt nur nachträglich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kurzen Fußnote e<strong>in</strong>geht (vgl. Turbulence <strong>in</strong> World Politics; S. XVIII). Der Zusammenbruch<br />

des +sozialistischen* Systems wird von ihm deshalb nicht als e<strong>in</strong> Beispiel für die Turbulenzen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weltpolitik genannt,<br />

son<strong>der</strong>n wurde von mir als e<strong>in</strong> wichtiger Punkt ergänzt.<br />

63. Diese Dom<strong>in</strong>anz des Realismus gilt vor allem für die 50er und 80er Jahre. Wie auch aus den Ersche<strong>in</strong>ungsdaten<br />

<strong>der</strong> hier zitierten Werke deutlich wird, überwog <strong>in</strong> den 70er Jahren dagegen die +Interdependenz*-Perspektive. Derzeit,<br />

wie <strong>in</strong> den 60er Jahren, ist die (neo)realistische Sichtweise zwar noch immer weit verbreitet, doch auch an<strong>der</strong>e,<br />

+optimistischere* Interpretationen <strong>der</strong> Weltpolitik s<strong>in</strong>d stark vertreten.<br />

64. Der Neorealismus <strong>in</strong> den USA geht <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf Kenneth Waltz zurück. Mit <strong>der</strong> realistischen Schule teilt<br />

<strong>der</strong> Neorealismus die Fixierung auf den Nationalstaaten als primärere Akteure <strong>der</strong> Internationalen <strong>Politik</strong> und die<br />

Betonung <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Macht (vgl. Morgenthau: Politics Among Nations; S. 29ff. und siehe auch Anmerkung<br />

61). An<strong>der</strong>s als im Realismus wird jedoch die stabilisierende Wirkung <strong>der</strong> Bipolarität betont (vgl. Waltz: Theory of<br />

International Politics; S. 199ff.).<br />

65. McGrews Artikel enthält nicht nur Zahlenmaterial, son<strong>der</strong>n bemüht sich im Gegenteil – wie schon <strong>der</strong> Titel andeutet<br />

– gerade um e<strong>in</strong>e Darstellung <strong>der</strong> verschiedenen Möglichkeiten zur theoretischen Konzeptionalisierung <strong>der</strong> Weltpolitik.<br />

Zur Ergänzung möchte ich den Aufsatz von John Vogler empfehlen, <strong>der</strong> ebenfalls e<strong>in</strong>en knappen, aber brauchbaren<br />

Überblick verschafft (vgl. The Structures of Global Politics).<br />

66. Beide Autoren beziehen sich ihrerseits auf die Daten des +Yearbook of International Organizations*.<br />

67. Clive Archer weist darauf h<strong>in</strong>, daß die Rolle <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Organisationen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weltpolitik <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

auf drei unterschiedliche Weisen <strong>in</strong>terpretiert werden kann: Sie können als bloße Instrumente <strong>der</strong><br />

nationalstaatlichen <strong>Politik</strong> aufgefaßt werden (Realismus), sie können als Rahmen-bestimmende Arenen <strong>der</strong> nationalstaatlichen<br />

<strong>Politik</strong> betrachtet werden, o<strong>der</strong> man kann ihnen sogar e<strong>in</strong>e eigene Akteursqualität zuschreiben (vgl.


42 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

International Organizations; S. 130–152). Es ist also die Frage zu stellen, ob das reale zahlenmäßige Wachstum <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>ternationalen Organisationen nur <strong>der</strong> Ausdruck e<strong>in</strong>er Instrumentalisierung durch den Nationalstaat ist o<strong>der</strong> tatsächlich<br />

nicht-hierarchische +Interdependenz-Netzwerke* entstanden s<strong>in</strong>d (vgl. auch Jacobson: Networks of Interdependence;<br />

S. 387f.)<br />

68. Je<strong>der</strong> Mitgliedsstaat hat e<strong>in</strong>en Vertreter. Die Entscheidungen erfolgen entwe<strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>facher Mehrheit, qualifizierter<br />

Mehrheit o<strong>der</strong> nach dem E<strong>in</strong>stimmigkeitspr<strong>in</strong>zip, je nachdem, was die Vertragsbestimmungen für den entsprechenden<br />

Fall vorsehen. Bei Entscheidungen nach qualifizierter Mehrheit f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Gewichtung <strong>der</strong> Stimmen statt, die die<br />

unterschiedliche (Bevölkerungs-)Größe <strong>der</strong> Staaten berücksichtigt.<br />

69. Die supranationale +Europäische Kommission* stellt die Spitze <strong>der</strong> sog. +Eurobürokratie* dar. Sie ist <strong>in</strong> verschiedene<br />

Ressorts geglie<strong>der</strong>t und ihre Aufgabe ist es, die Interessen <strong>der</strong> Gesamtgeme<strong>in</strong>schaft und nicht nur die e<strong>in</strong>zelner Staaten<br />

zu för<strong>der</strong>n. Dazu heißt es im EG-Vertrag: +Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kommission üben ihre Tätigkeit <strong>in</strong> voller Unabhängigkeit<br />

zum allgeme<strong>in</strong>en Wohl <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft aus. Sie dürfen bei <strong>der</strong> Erfüllung ihrer Pflichten Anweisungen von e<strong>in</strong>er<br />

Regierung o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Stelle we<strong>der</strong> anfor<strong>der</strong>n noch entgegennehmen.* (Art. 157)<br />

70. Es handelt sich hierbei im wesentlichen um e<strong>in</strong> Recht des Parlaments zur Stellungnahme verbunden mit e<strong>in</strong>em<br />

Vetorecht (was jedoch e<strong>in</strong>e absolute Mehrheit erfor<strong>der</strong>t). (Vgl. Art. 189b)<br />

71. +Global* betrachtet ergibt sich allerd<strong>in</strong>gs gleichzeitig nunmehr e<strong>in</strong> deutliches geostrategisches Übergewicht <strong>der</strong><br />

Vere<strong>in</strong>igten Staaten.<br />

72. Als Richtwerte und sog +Konvergenzkriterien* sah <strong>der</strong> Vertrag von Maastricht vor, daß bis zur Beschlußfassung<br />

über die Teilnahme an <strong>der</strong> Währungsunion von allen Staaten e<strong>in</strong>e Inflationsrate zu erreichen ist, die nicht mehr als<br />

1,5 Prozentpunkte über den drei niedrigsten Inflationsraten <strong>in</strong> <strong>der</strong> EU liegt (zudem muß Wechselkursstabiltät gegeben<br />

se<strong>in</strong> und e<strong>in</strong> niedriges Z<strong>in</strong>sniveau herrschen). Das öffentliche Defizit sollte ferner nach Möglichkeit nur 3,0% des<br />

Staatshaushalts betragen und die Gesamtschulden sollten nicht mehr als 60% des BIP ausmachen (vgl. EU-Vertrag;<br />

Art. 104 c u. 109j sowie die zugehörigen Zusatzprotokolle). Obwohl allerd<strong>in</strong>gs die wenigsten Staaten alle diese Kriterien<br />

+punktgenau* erfüllten, wurde durch den +Europäischen Rat* im Mai 1998 beschlossen, daß <strong>in</strong>sgesamt 11 <strong>der</strong> 15<br />

Mitgliedsstaaten an <strong>der</strong> 1999 startenden +ersten Runde* <strong>der</strong> Währungsunion teilnehmen werden (es handelt sich<br />

um Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, die Nie<strong>der</strong>lande, Belgien, Österreich, F<strong>in</strong>nland, Portugal, Irland und<br />

Luxemburg). Nur Griechenland blieb, wie erwartet, die Teilnahme verwehrt (Großbritannien sowie Dänemark und<br />

Schweden verzichteten von sich aus). Man muß jedoch davon ausgehen, daß die zum EU-Beitritt anstehenden Staaten<br />

aus Osteuropa (also Polen, die Tschechische Republik, Ungarn, Slowenien und Estland) noch lange Zeit von diesem<br />

Währungsclub ausgeschlossen bleiben werden, da für ihren Beitritt zur Währungsunion – sofern die aufgenommenen<br />

Beitrittsverhandlungen erfolgreich se<strong>in</strong> sollten – vermutlich entsprechende Kriterien gelten werden. Dies rechtfertigt<br />

es me<strong>in</strong>es Erchatens, die im Text getroffene skeptische Aussage aufrecht zu erhalten.<br />

73. Im Sicherheitsrat werden zur +Wahrung des Weltfriedens* alle Zwangsmaßnahmen gegen Staaten beschlossen<br />

(vgl. UN-Charta; Art. 24). Da sowohl die USA wie die UdSSR bzw. Rußland (neben den an<strong>der</strong>en ständigen Mitglie<strong>der</strong>n<br />

Ch<strong>in</strong>a, Frankreich und Großbritannien) e<strong>in</strong> Vetorecht besitzen, bestand, solange <strong>der</strong> Ost-West-Gegensatz andauerte,<br />

ke<strong>in</strong>e Möglichkeit, Maßnahmen zu verhängen, die den Interessen e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Supermächte wi<strong>der</strong>sprachen – was auf<br />

e<strong>in</strong>e faktische Lähmung des Sicherheitsrats h<strong>in</strong>auslief.<br />

74. In dem von Thomas Pr<strong>in</strong>cen und Matthias F<strong>in</strong>ger herausgegebenen Band +Environmental NGOs <strong>in</strong> World Politics*<br />

(1994) wird (als Beispiel) die globale Rolle <strong>der</strong> umweltpolitischen NGOs <strong>in</strong> zahlreichen Beiträgen thematisiert. In<br />

ihrem zusammenfassen Schlußartikel (<strong>der</strong> <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit Jack Manno entstand) heißt es: +We conclude that<br />

<strong>in</strong>ternational environmental NGOs make their most dist<strong>in</strong>ctive contribution by go<strong>in</strong>g beyond traditional politics. That<br />

is, beyond state-oriented practices designed to ameliorate the side effects of <strong>in</strong>dustrial development. NGOs make<br />

their contribution when they translate biophysical change un<strong>der</strong> conditions of global ecological crisis <strong>in</strong>to political<br />

change and do so at both the local and global levels.* (Translational L<strong>in</strong>kages; S. 231f.)<br />

75. Dem stimmt z.B. auch Robert Cox pr<strong>in</strong>zipiell zu, wenn er bemerkt, daß die Kräfte, die den +neuen Kapitalismus*<br />

herausfor<strong>der</strong>n, <strong>in</strong> Europa vielleicht am besten organisiert s<strong>in</strong>d. Doch schränkt er – und ich mit ihm – e<strong>in</strong>: +[…] challenges<br />

could come from many places […] Neighbourhood and self-help organizations have been formed to deal with basic<br />

needs of marg<strong>in</strong>alized groups <strong>in</strong> both rich and poor countries […] People are dropp<strong>in</strong>g out of the world market, and<br />

the formal structures of national economies, to seek their survival <strong>in</strong> the <strong>in</strong>formal sector. It results <strong>in</strong> a lower<strong>in</strong>g of


A: ANMERKUNGEN 43<br />

<strong>in</strong>comes and a worsen<strong>in</strong>g of safety and health conditions. But it can also be a stimulus to new forms of cooperation<br />

and self-governance.* (Globalization, Multilateralism, and Democracy; S. 534)<br />

76. Auf das subpolitische Potential und die Dynamik <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen wird <strong>in</strong> Abschnitt 2.5 näher<br />

e<strong>in</strong>gegangen.<br />

77. Albrow vertritt die <strong>in</strong>teressante (doch durchaus anzweifelbare) These, daß im Augenblick e<strong>in</strong> epochaler Wandel<br />

stattf<strong>in</strong>det: Die Mo<strong>der</strong>ne wird von e<strong>in</strong>em +globalen Zeitalter* abgelöst, das nicht die Entwicklungsrichtung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

fortsetzt, son<strong>der</strong>n auf grundsätzlich neuen Pr<strong>in</strong>zipien (be)ruht (vgl. The Global Age; Kap. 9).<br />

78. Im +Her<strong>der</strong> Lexikon <strong>Politik</strong>* wird <strong>der</strong> Rechtsstaat folgen<strong>der</strong>maßen def<strong>in</strong>iert: +Staat, <strong>der</strong> die Staatsgewalt <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung<br />

mit den grundlegenden Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> materiellen Gerechtigkeit ausübt, bei dem diese B<strong>in</strong>dung an ›Recht<br />

u. Gesetz‹ <strong>in</strong>stitutionell gewährleistet ist, u. <strong>der</strong> die Art u. Weise se<strong>in</strong>es Tätigwerdens sowie die freie Sphäre se<strong>in</strong>er<br />

Bürger <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weise des Rechts genau bestimmt u. unverbrüchl. sichert; verfassungsgeschichtl. e<strong>in</strong> im Ggs. zum Polizeistaat<br />

entwickeltes Staatspr<strong>in</strong>zip. Nach dt. Auffassung u. Tradition gehören zur Rechtsstaatlichkeit bes.: Gewaltenteilung,<br />

persönl. Grundrechte, Regelung <strong>der</strong> Probleme des soz. Lebens, soweit das möglich ist, nicht erst im E<strong>in</strong>zelfall, son<strong>der</strong>n<br />

allg. Regelung <strong>der</strong> typ. staatl. Machtäußerungen durch Gesetze so, daß sie vorausberechenbar werden, grundsätzl.<br />

ke<strong>in</strong>e rückwirkenden Gesetze; B<strong>in</strong>dung des Gesetzgebers an se<strong>in</strong>e Gesetze, bis er sie durch neue formelle Gesetze<br />

aufhebt, <strong>der</strong> Gerichtsbarkeit u. <strong>der</strong> Verw. an die Gesetze, Erfor<strong>der</strong>nis gesetzl. Grundlagen für staatl. E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> Eigentum<br />

u. Freiheit, justizförmiger Rechtsschutz, Recht auf gesetzl. Richter.* (S. 179f.)<br />

79. Schon Aristoteles unterschied allerd<strong>in</strong>gs zwischen drei staatlichen Gewalten bzw. Elementen: dem beratenden<br />

Element, den öffentlichen Ämtern und dem richterlichen Element (vgl. <strong>Politik</strong>; S. 233 [1298a]). Er verband mit dieser<br />

Unterscheidung aber noch ke<strong>in</strong> explizites Gewaltenteilungsmodell.<br />

80. Die damaligen europäischen Königreiche, <strong>in</strong> denen Legislative und Exekutive <strong>in</strong> <strong>der</strong> Person des Herrschers vere<strong>in</strong>igt<br />

waren, bezeichnet Montesquieu denn auch als gemäßigt, wogegen bei den +Türken* und <strong>in</strong> den italienischen Republiken,<br />

wo alle drei Gewalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Person bzw. im Senat vere<strong>in</strong>igt waren, e<strong>in</strong> +furchtbarer Despotismus* herrsche (vgl.<br />

Vom Geist <strong>der</strong> Gesetze; S. 215ff.).<br />

81. Ich konzentriere mich im folgenden hauptsächlich auf Luhmanns Argumentation und gehe daneben nur kurz<br />

auf Parsons e<strong>in</strong>. Auch ist es aufgrund des beschränkten Raumes hier nicht möglich, alle Zusammenhänge zwischen<br />

Rechts- und <strong>Politik</strong>system aus funktionalistischer Sicht darzustellen. E<strong>in</strong>e hilfreiche Übersicht bietet jedoch Axel Görlitz<br />

<strong>in</strong> dem Band +Politische Funktionen des Rechts* (1976).<br />

82. Luhmann versteht Rechtsnormen zum e<strong>in</strong>en als kongruente Generalisierungen (vgl. Rechtssoziologie; S. 94). Zugleich<br />

bildet das Recht aber auch e<strong>in</strong>e Struktur, +die Grenzen und Selektionsweisen des Gesellschaftssystems def<strong>in</strong>iert* (ebd.;<br />

S. 134). Dieser funktionalistische Rechtsbegriff weist am ehesten Parallelen zum formal-abstrakten Rechtsbegriff Kants<br />

auf (siehe zurück zu Kap. 1, S. 29ff.; dort können im Anschluß auch Hegels rechtstheoretische Vorstellungen nochmals<br />

nachgelesen werden). Doch selbst das formalistischste objektive Recht ist dazu +verdammt* (wenn es praktisch wirksam<br />

werden will) konkreten Gehalt anzunehmen, sich also <strong>in</strong> subjektiv e<strong>in</strong>klagbaren Rechten zu konkretisieren. Dieses<br />

materielle Recht kann sich auf den Staat und se<strong>in</strong>e Organe selbst beziehen (öffentliches Recht) o<strong>der</strong> die Angelegenheiten<br />

<strong>der</strong> (Staats-)Bürger regeln (privates, bürgerliches Recht). Doch egal ob öffentliches o<strong>der</strong> privates Recht: als gesetztes<br />

Recht hat es positiven Charakter, und steht damit potentiell im Konflikt zum +Naturrecht*, das (<strong>in</strong> naturrechtlichen<br />

Konzeptionen) als e<strong>in</strong>e Art transzendente Gerechtigkeits<strong>in</strong>stanz über dem positiven Recht +schwebt*. (Vgl zur Rechtssystematik<br />

auch Schäfers: Rechtssoziologie; S. 187ff.)<br />

83. Auffälligstes Kennzeichen des Rechtsstaats ist für Luhmann die Positivierung des Rechts (vgl. Politische Planung;<br />

S. 58). In se<strong>in</strong>er +Rechtssoziologie* (1972) bemerkt er zur Entstehung des positiven Rechts: +Positives Recht entsteht,<br />

wenn e<strong>in</strong> Teilsystem <strong>der</strong> Gesellschaft die Entscheidung über das Recht usurpiert und dann das Gesellschaftssystem<br />

im ganzen als se<strong>in</strong>e Umwelt […] behandeln kann […] Nicht zufällig also entsteht die Vorstellung e<strong>in</strong>er ›Trennung‹<br />

von Staat und Gesellschaft zu <strong>der</strong> Zeit, die das Recht positiviert. Positives Recht ist unvermeidbar politisch ausgewähltes,<br />

›staatliches‹ Recht.* (S. 244)<br />

84. Luhmann geht nunmehr von <strong>der</strong> autopoietischen Geschlossenheit des Rechtssystems aus, das sich als (juristischer)<br />

Kommunikationszusammenhang selbst reproduziert und damit e<strong>in</strong>e rekursive E<strong>in</strong>heit bildet – ohne allerd<strong>in</strong>gs die<br />

Möglichkeit auszuschließen, daß das politische System das Recht +<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Dienst nehmen* kann (vgl. Die E<strong>in</strong>heit


44 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

des Rechtssystems; S. 148ff.). Auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er neuesten Arbeit zum Thema, +Das Recht <strong>der</strong> Gesellschaft* (1993), betont<br />

Luhmann die operationelle Geschlossenheit des Rechtssystems (vgl. Kap. 2), das zwar strukturell an das <strong>Politik</strong>system<br />

gekoppelt ist (vgl. ebd.; Kap. 10), jedoch als Funktionssystem von ihm getrennt ist (vgl. ebd.; Kap. 9).<br />

85. In dem Aufsatz +Der politische Code* (1974) weist Luhmann allerd<strong>in</strong>gs darauf h<strong>in</strong>, daß im politischen Diskurs<br />

primär <strong>der</strong> b<strong>in</strong>äre Code konservativ/progressiv zur Abgrenzung vom politischen Gegner benutzt wird.<br />

86. Kehlsen def<strong>in</strong>iert: +Die Re<strong>in</strong>e Rechtslehre ist e<strong>in</strong>e Theorie des positiven Rechts […] Sie versucht, die Frage zu<br />

beantworten, was Recht ist, nicht aber die Frage, wie es se<strong>in</strong> o<strong>der</strong> gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft,<br />

nicht aber Rechtspolitik.* (Re<strong>in</strong>e Rechtslehre; S. 1)<br />

87. Allerd<strong>in</strong>gs läßt sich e<strong>in</strong>e geschichtlich nicht wirksam gewordene reformsozialistische Ausrichtung vom +orthodoxen*<br />

Marxismus abgrenzen. In ersterer wird nämlich von <strong>der</strong> Möglichkeit ausgegangen, daß Recht auch e<strong>in</strong> Medium des<br />

sozialen Wandels se<strong>in</strong> kann und damit politischen und nicht nur ideologischen Gehalt hat (vgl. Lassalle: Das System<br />

<strong>der</strong> erworbenen Rechte; Vorrede).<br />

88. Diese rechtstheoretischeBasalerkenntnisgeht natürlich nicht auf Habermas zurück und wird auch von <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Rechtstheorie kaum bestritten – im Gegenteil: denn so kann <strong>der</strong> liberale Rechtsstaat als +gebändigte* aber notwendige<br />

Macht überhöht werden (vgl. z.B. Geiger: Vorstudien zu e<strong>in</strong>er Soziologie des Rechts; S. 348–352).<br />

89. Habermas me<strong>in</strong>t, daß <strong>der</strong> Orientierung an Verständigung <strong>in</strong>tersubjektive, universal gültige Pr<strong>in</strong>zipien bzw. Bed<strong>in</strong>gungen<br />

zugrunde liegen (vgl. Was heißt Universalpragmatik?; S. 353), die somit auch die normative Grundlage für se<strong>in</strong> diskursives,<br />

deliberatives Demokratiemodell bilden: +Sprecher und Hörer können sich gegenseitig zur Anerkennung von Geltungsansprüchen<br />

bewegen, weil <strong>der</strong> Inhalt des Sprecherengagements durch e<strong>in</strong>e spezifische Bezugnahme auf e<strong>in</strong>en thematisch<br />

hervorgehobenen Geltungsanspruch bestimmt ist, wobei <strong>der</strong> Sprecher mit e<strong>in</strong>em Wahrheitsanspruch Begründungsverpflichtungen,<br />

mit e<strong>in</strong>em Richtigkeitsanspruch Rechtfertigungsverpflichtungen, mit e<strong>in</strong>em Wahrhaftigkeitsanspruch<br />

Bewährungsverpflichtungen auf nachprüfbare Weise erfüllt.* (ebd. S. 435f.) Und die grundsätzliche Voraussetzung<br />

ist natürlich, daß überhaupt verständliche Sätze formuliert werden (vgl. ebd. sowie Fig. 16, S. 440).<br />

90. Mit +Praxeologie* ist üblicherweise die Wissenschaft vom (rational-strategischen) (Entscheidungs-)Handeln geme<strong>in</strong>t.<br />

Ursprünglich geht <strong>der</strong> Begriff auf Esp<strong>in</strong>as zurück, wie Ludwig von Mises erläutert (siehe auch S. 118), <strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>er<br />

handlungstheoretisch fundierten Wirtschaftstheorie, die Grundlagen <strong>der</strong> +praxeologischen* Wissenschaft erarbeitete<br />

(vgl. Nationalökonomie – Theorie des Handelns und des Wirtschaftens; S. 1–9).<br />

91. Siehe hierzu e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> Abschnitt 5.3, wo ich me<strong>in</strong> Konzept <strong>der</strong> Deflexion (also <strong>der</strong> +Ablenkung* von Reflexivität)<br />

näher erläutern werde.<br />

92. Das noch relativ primitive +repressive Recht* war nach Nonet und Selznick <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf die Legitimation<br />

politischer Macht ausgerichtet und für die Herrschenden re<strong>in</strong> <strong>in</strong>strumentell, da e<strong>in</strong>e Trennung <strong>der</strong> sozialen Sphären<br />

noch nicht entwickelt war (vgl. Law and Society <strong>in</strong> Transition; S. 51f.). Durch die historische Ausbildung e<strong>in</strong>er politisch<br />

(relativ) unabhängigen Rechtsphäre bildete sich e<strong>in</strong> +autonomes Recht* heraus, das e<strong>in</strong>e gewisse Eigenständigkeit<br />

gegenüber <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> beanspruchte, aber auch zum Formalismus tendierte (vgl. ebd.; S. 57ff.). Dem stellen die beiden<br />

amerikanischen Autoren ihr Konzept e<strong>in</strong>es +responsiven Rechts* entgegen, das durch e<strong>in</strong>e sach- und problemorientierte<br />

Repolitisierung gekennzeichnet ist (vgl. Selznick/Nonet: Law and Society <strong>in</strong> Transition; S. 104–113).<br />

93. E<strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach ungerechtfertigtes Urteil, da Nonet und Selznick schließlich gerade die Bezüge zwischen<br />

sozial-historischem und rechtlichem Wandel herausstellen.<br />

94. Habermas deutet das Konzept des reflexiven Rechts darüber h<strong>in</strong>aus – me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach allerd<strong>in</strong>gs zu Unrecht<br />

– alse<strong>in</strong>en Ausdruck von (neoliberalen) Deregulierungsbestrebungen bzw. Entformalisierung (vgl. Faktizität und Geltung;<br />

S. 552f.). In dieselbe Richtung weist Nahamowitz (vgl. Kritische Rechtstheorie des ›Organisierten Kapitalismus‹ – E<strong>in</strong>e<br />

konzeptionelle Antwort auf postregulatorische Rechtstheorie). Doch auch Luhmann setzt sich von Teubner ab, <strong>in</strong>dem<br />

er an dessen Konzept kritisiert, <strong>in</strong> ihm sei <strong>der</strong> Autonomiebegriff nicht konsequent genug auf die autopoietische<br />

Geschlossenheit des Rechtssystems bezogen worden (vgl. E<strong>in</strong>ige Probleme mit ›reflexivem‹ Recht). Teubner bef<strong>in</strong>det<br />

sich also sozusagen zwischen den Stühlen <strong>der</strong> Kritischen Theorie und <strong>der</strong> funktionalistischen Systemtheorie.


A: ANMERKUNGEN 45<br />

95. Ich b<strong>in</strong> mir <strong>der</strong> Problematik e<strong>in</strong>es solchen +Mißverstehens* bewußt und teile auch grundsätzlich die Bedenken<br />

gegen e<strong>in</strong>e systemtheoretische Rechtstheorie, die z.B. Andrés Ollero (speziell <strong>in</strong> bezug auf Luhmann) formuliert hat<br />

(vgl. Die technokratische Funktion des Rechts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Systemtheorie von Niklas Luhmann). An<strong>der</strong>erseits steht Teubner<br />

ja auch gewissermaßen zwischen Luhmann und Habermas (siehe Anmerkung 94), und selbst die Luhmannsche<br />

Systemtheorie be<strong>in</strong>haltet gerade durch ihre streng analytisch-funktionalistische Betrachtungsweise e<strong>in</strong> kritisches Potential,<br />

das allerd<strong>in</strong>gs, wenn man <strong>in</strong> ihrem eigenen Rahmen verbleibt, <strong>in</strong>s Gegenteil verkehrt wird. Deshalb ist es begrüßenswert,<br />

daß Ingeborg Maus (als dezidiert +kritische* Wissenschaftler<strong>in</strong>) zu e<strong>in</strong>er im Pr<strong>in</strong>zip ähnlichen E<strong>in</strong>schätzung von Teubners<br />

Konzept gelangt, wenn sie formuliert: +E<strong>in</strong>e Entwicklung ›reflexiven‹ Rechts unter demokratischen Vorzeichen stünde<br />

<strong>in</strong> genauem Gegensatz zu den gegenwärtig herrschenden Trends […] Die Ausdehnung des Pr<strong>in</strong>zips ›reflexiver Institutionalisierung‹<br />

auf gesellschaftliche Normbildungsprozesse enthält entscheidende Modifikationen des Luhmannschen<br />

Konzepts.* (Verrechtlichung, Entrechtlichung und <strong>der</strong> Funktionswandel von Institutionen; S. 297f.)<br />

96. E<strong>in</strong>e ausführliche Diskussion <strong>der</strong> Frage, ob Recht als autopoietisches System angesehen werden kann – wobei<br />

auch die Unterschiede <strong>der</strong> Sichtweise Teubners und Luhmanns deutlich herausgearbeitet werden –, f<strong>in</strong>det sich bei<br />

Ladeur (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Rechtstheorie; S. 155–175).<br />

97. Die Bestreitung und Relativierung des <strong>in</strong>strumentellen Charakters des Rechts, wie sie hier auch Teubner betreibt,<br />

gehört fundamental zur <strong>in</strong> weiten Teilen idealisierenden Betrachtungsweise des Rechts durch die bürgerliche Rechtstheorie<br />

(was Teubner allerd<strong>in</strong>gs nicht vorgeworfen werden kann). So sieht Werner Maihofer das Recht gar als sozial- und<br />

ideologiekritische Instanz an (vgl. Ideologie und Recht; 33ff.). Diese Betrachtungsweise hat natürlich e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Berechtigung, <strong>in</strong>dem bestehende Rechtsnormen zum Maßstab <strong>der</strong> Praxis wie <strong>der</strong> weiteren Rechtsentwicklung genommen<br />

werden können. Der Grund dafür liegt jedoch weniger im sozial- und ideologiekritischen Charakter des Rechts selbst,<br />

son<strong>der</strong>n hat mit <strong>der</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>es sozial- und ideologiekritischen Umgangs mit Recht zu tun. Die bürgerliche<br />

Rechtstheorie macht von dieser Möglichkeit jedoch kaum Gebrauch. So will z.B. Ulrich Penski alles an<strong>der</strong>e im Recht<br />

sehen, nur ke<strong>in</strong> Mittel von <strong>Politik</strong>: Denn Recht als +geronnene <strong>Politik</strong>* ist für ihn primär Inhalt, Gegenstand, Ziel und<br />

(wie bei Maihofer) Maßstab von <strong>Politik</strong> (vgl. Recht als Mittel von <strong>Politik</strong>; S. 39ff. sowie sehr ähnlich dazu auch Grimm:<br />

Recht und <strong>Politik</strong>; S. 501–505). Darüber h<strong>in</strong>aus fungiert es se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach als S<strong>in</strong>nmittler wie als Kommunikationsmedium<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, bildet aber trotzdem e<strong>in</strong>e (eigenständige) gesellschaftliche Struktur (vgl. Recht als Mittel von <strong>Politik</strong>;<br />

S. 43f.) – womit sich <strong>der</strong> autopoietische Begründungszirkel sozusagen geschlossen hat.<br />

98. Welch immanent politischen Charakter das Recht auch auf konkreter Ebene hat, kann hier lei<strong>der</strong> nicht (ausführlich)<br />

dargestellt werden. Ich möchte deshalb beson<strong>der</strong>s auf die diversen Beiträge hierzu <strong>in</strong> dem von David Kairrys herausgegebenen<br />

Band +The Politics of Law* (1982) verweisen.<br />

99. Rüdiger Voigt weist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf e<strong>in</strong>e TV-Äußerung des damaligen Bundeskanzlers Schmidt<br />

vom Herbst1978 h<strong>in</strong>, <strong>der</strong>angesichtse<strong>in</strong>igerdieRegierungspolitik konterkarierenden UrteiledesBundesverfassungsgerichts<br />

von e<strong>in</strong>er +Notwendigkeit <strong>der</strong> Selbstbeschränkung* gesprochen hatte (vgl. Politische Funktionen von Gerichten; S.<br />

225). Ähnliche, ja sogar weit schärfere Töne waren auch <strong>in</strong> letzter Zeit seitens e<strong>in</strong>iger konservativer <strong>Politik</strong>er zu hören,<br />

denen zum Beispiel die liberale Rechtsprechung des BVG im sog. +Kruzifix-Urteil* mißfiel (das Gericht stellte klar,<br />

daß e<strong>in</strong> im Klassenraum e<strong>in</strong>er öffentlichen Schule angebrachtes Kruzifix auf Wunsch abgenommen werden muß,<br />

wenn sich jemand durch das Kreuz gestört fühlt).<br />

100. Niklas Luhmann me<strong>in</strong>t sogar, daß die richterliche +Kreativität* weit über bloße Gesetzes<strong>in</strong>terpretation h<strong>in</strong>ausgeht.<br />

F<strong>in</strong>den Richter ke<strong>in</strong>e +passenden* Gesetze vor, so +erf<strong>in</strong>den* sie selbst allgeme<strong>in</strong>e Pr<strong>in</strong>zipien für ihre Urteilsf<strong>in</strong>dung<br />

(vgl. Rechtssoziologie; S. 234f.).<br />

101. Zusätzlich weist Hagen auch darauf h<strong>in</strong>, daß durch den sozialen Individualisierungsprozeß gewissermaßen auch<br />

e<strong>in</strong>e +Individualisierung des Rechts* stattgefunden hat, die <strong>in</strong> Kollision mit dem egalitären Anspruch des Rechts und<br />

se<strong>in</strong>er Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit gerät (vgl. Politisierung des Rechts; S. 20).<br />

102. Dieses juristische Rollenselbstverständnis (siehe hierzu auch Anmerkung 105 und vgl. <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Treiber:<br />

Juristische Lebensläufe; S. 26f. sowie Werle: Justizorganisation und Selbstverständnis <strong>der</strong> Richter; Abschnitt 5.1) ist<br />

auch gesetzlich fixiert. Im Grundgesetz heißt es zwar: +Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut.*<br />

(Art. 92). Dabei s<strong>in</strong>d diese allerd<strong>in</strong>gs, wie die Exekutive, streng +an Gesetz und Recht gebunden* (ebd., Art. 20) und<br />

nur <strong>in</strong> diesem Rahmen unabhängig (vgl. ebd., Art. 97). Im Deutschen Richtergesetz heißt es sogar weitergehend:<br />

+Der Richter hat sich <strong>in</strong>nerhalb und außerhalb se<strong>in</strong>es Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, daß<br />

das Vertrauen [!] <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Unabhängigkeit nicht gefährdet ist.* (§ 39)


46 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

103. E<strong>in</strong> Beispiel ist hier e<strong>in</strong> Urteil vom 6.3.1991 des Oberlandesgerichts Saarbrücken, das sich auf den Standpunkt<br />

stellte, +daß § 569 a Abs. 2 BGB, wonach Familienangehörige unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Tode<br />

des Mieters <strong>in</strong> das Mietsverhältnis e<strong>in</strong>träten, auf die Partner<strong>in</strong> (den Partner) e<strong>in</strong>er nichtehelichen Lebensgeme<strong>in</strong>schaft<br />

anwendbar sei* (Schuhmann: Die nichteheliche Lebensgeme<strong>in</strong>schaft; S. 63). Insgesamt gesehen gilt jedoch noch immer,<br />

daß +die Gerichte tendenziell stets zum Nachteil <strong>der</strong> nichtehelichen Lebensgeme<strong>in</strong>schaft entscheiden: Dort, wo die<br />

nichtehelichen Lebensgeme<strong>in</strong>schaften gegenüber <strong>der</strong> Ehe Vorteile brächten, z.B. bei <strong>der</strong> Sozialhilfe o<strong>der</strong> beim Bafög,<br />

werden ihre Ansprüche an die <strong>der</strong> Eheleute angepaßt […] Umgekehrt gilt für den Fall, daß die Ehegatten im Vorteil<br />

s<strong>in</strong>d, z.B. beim Steuersplitt<strong>in</strong>g, daß dieser nicht an nichteheliche Lebensgeme<strong>in</strong>schaften weitergegeben wird.* (Thieler:<br />

Lebensgeme<strong>in</strong>schaft ohne Trausche<strong>in</strong>; S. 15f.)<br />

104. In Art. 6, Abs. 1 GG heißt es: +Ehe und Familie stehen unter dem beson<strong>der</strong>en Schutze <strong>der</strong> staatlichen Ordnung.*<br />

105. Treiber zeigt anhand e<strong>in</strong>er Reihe von (demonstrativen) Äußerungen (Nachrufe, Laudationen) aus Juristenkreisen<br />

auf, daß es ganz fundamental zur juristischen Rolle gehört, sich als Bewahrer <strong>der</strong> (Rechts-)Ordnung zu präsentieren,<br />

also e<strong>in</strong> stabilisierendes Moment darzustellen – was ganz wörtlich genommen werden kann (vgl. Juristische Lebensläufe;<br />

S. 35ff.). Diese explizit konservative Rolle <strong>der</strong> Juristen traf sich lange Zeit mit ihrer überwiegenden Herkunft aus <strong>der</strong><br />

konservativen Elite (vgl. hierzu auch Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie <strong>in</strong> Deutschland; S. 267f.). Erst im Zuge<br />

<strong>der</strong> Bildungsexpansion und durch das Nachrücken <strong>der</strong> Protestgeneration von 1968 hat sich dieses Bild etwas modifiziert<br />

(vgl. Rasehorn: Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt; S. 71ff.). Nur: Die Rechtsprechung f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

prägenden organisatorischen Rahmen statt (vgl. hierzu auch Werle: Justizorganisation und Selbstverständnis <strong>der</strong> Richter;<br />

S. 335ff.), <strong>der</strong> die konkrete Klassenjustiz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionalisierte Klassenjustiz überführt hat, d.h. die Institution Recht/Justiz<br />

als solche ist Ausdruck e<strong>in</strong>es sozialen Herrschaftszusammenhangs – o<strong>der</strong> mit den Worten von Rottleuthner ausgedrückt:<br />

+Die [angeblich] ›wertneutrale Subsumption‹ [des Richters] erweist sich als Abwehrstrategie gegen e<strong>in</strong>e historische<br />

Auslegung […] Indem <strong>der</strong> Richter diese verdrängt […] stellt er sich objektiv auf den Standpunkt des Obrigkeitsstaats<br />

[…]* (Klassenjustiz; S. 23)<br />

106. E<strong>in</strong>e detaillierte Auflistung gibt das BVerfGG (§ 13).<br />

107. Verfassungsrichter müssen m<strong>in</strong>destens 40 Jahre alt se<strong>in</strong> und die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen<br />

Richtergesetz besitzen (vgl. BVerfGG; § 3). Drei <strong>der</strong> Richter jedes Senats müssen vor ihrer Wahl Richter <strong>der</strong> obersten<br />

Gerichtshöfe des Bundes vor gewesen se<strong>in</strong> (vgl. ebd.; § 2).<br />

108. Die Senate haben unterschiedliche Aufgabenschwerpunkte (vgl. BVerfGG; § 14)<br />

109. Vgl. dessen Schrift +Verfassungspatriotismus* (1982).<br />

110. Das Gericht me<strong>in</strong>te, wie dargelegt, daß e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Mehrheit durch e<strong>in</strong>en +konstitutionellen* Beschluß <strong>in</strong><br />

dieser Frage ausreichen sollte. Hätte es e<strong>in</strong>e absolute Mehrheit gefor<strong>der</strong>t, so wäre die Abstimmung aufgrund <strong>der</strong> knappen<br />

Mehrheit <strong>der</strong> christlich-liberalen Koalition zu e<strong>in</strong>er Zitterpartie geworden.<br />

111. Vor allem <strong>in</strong> den USA wurde e<strong>in</strong>e parallele Debatte geführt, doch möchte ich auf diesen Strang <strong>der</strong> Diskussion,<br />

um das Feld e<strong>in</strong>igermaßen überschaubar zu halten, nicht näher e<strong>in</strong>gehen. Was die Frage <strong>der</strong> +Deregulierung* (und<br />

e<strong>in</strong>e durch sie erfolgte Autonomisierung ) betrifft, die e<strong>in</strong>en wichtigen strukturellen Wandlungsprozeß im Rechtssystem<br />

darstellen könnte, so denke ich, daß obschon solche Bestrebungen <strong>in</strong> bestimmten Bereichen – etwa was die soziale<br />

Absicherung betrifft – erkennbar s<strong>in</strong>d (siehe unten), <strong>in</strong>sgesamt aber immer noch die gegenläufige Tendenz (nämlich<br />

zu e<strong>in</strong>er Ausweitung <strong>der</strong> Regulierung) festzustellen ist (siehe hierzu auch Abschnitt 3.2).<br />

112. Als Beispiele nennt er u.a. die sozialen For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Demokratie sowie das juristische Standesdenken.<br />

113. Nach <strong>der</strong> für das deutsche bürgerliche Denken typischen Auffassung von Leibholz ist das Politische etwas +Dynamisch-<br />

Irrationales*, +während umgekehrt das Recht se<strong>in</strong>er grundsätzlichen Wesensstruktur nach immer etwas Statisch-Rationales<br />

ist, das die vitalen politischen Kräfte zu bändigen sucht.* (Zitiert nach Grimm: Recht und <strong>Politik</strong>; S. 501)<br />

114. Ich beziehe mich hier selbstverständlich nur auf das proletarische Selbstverständnis und Bewußtse<strong>in</strong> (nicht die<br />

+objektive* Klassenlage). Zudem gilt diese Feststellung nur für +fortgeschrittene*, post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaften und<br />

ist historisch reversibel, d.h. es kann (aufgrund <strong>der</strong> fortbestehenden +objektiven* Klassenverhältnisse) je<strong>der</strong>zeit zum


A: ANMERKUNGEN 47<br />

+Wie<strong>der</strong>ersche<strong>in</strong>en* des Proletariats kommen. Interessant ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang die Theorie <strong>der</strong> +Klassenstrukturierung*<br />

von Giddens. Der Strukturierungsansatz versucht, die dichotome Gegenüberstellung von Klassenund<br />

Schichtungstheorien zu durchbrechen, <strong>in</strong>dem (<strong>in</strong> Anlehnung an Weber) neben <strong>der</strong> bloßen Stellung im<br />

Produktionsprozeß die Marktkapazität (z.B. e<strong>in</strong> produktionsrelevantes +know how*) zur sozialen Positionsbestimmung<br />

h<strong>in</strong>zugenommen wird – womit auch die für die Stabilität des Systems konstitutiven Mittellagen erklärbar werden.<br />

Ferner unterscheidet Giddens zwischen (politischem) Klassenbewußtse<strong>in</strong> (+class consciousness*) und <strong>der</strong> unpolitischen<br />

Klassenbewußtheit (+class awareness*), die sich eher auf die Lebensstildimension bezieht. Unter den gegebenen<br />

(spätmo<strong>der</strong>nen) Bed<strong>in</strong>gungen fortgeschrittener Industriegesellschaften ist nun e<strong>in</strong> politisches (revolutionäres)<br />

Klassenbewußtse<strong>in</strong> nicht zu erwarten, das historisch eigentlich nur immer dann auftrat, wenn e<strong>in</strong>e +rückständige*<br />

agrarische Ordnung mit <strong>der</strong> Dynamik fortgeschrittener Technik zusammenprallte (vgl. Die Klassenstruktur fortgeschrittener<br />

Gesellschaften; Kap. 6). Allerd<strong>in</strong>gs ist es nach Giddens sehr wohl möglich, daß e<strong>in</strong>e Revitalisierung +radikaler* <strong>Politik</strong><br />

auf an<strong>der</strong>er, lebenspolitischer Ebene stattf<strong>in</strong>det, da die fortschreitende Globalisierung, die Auflösung <strong>der</strong> traditionalen<br />

Lebenszusammenhänge <strong>der</strong> Industriegesellschaft und das <strong>in</strong> ihr erzeugte Risikopotential dafür günstige Voraussetzungen<br />

schaffen (vgl. Beyond Left and Right und siehe nochmals Anmerkung 147, Kapitel 1).<br />

115. Heute wird dagegen den Bereichen Bildung, Soziales und Gesundheit (sowie e<strong>in</strong>igen an<strong>der</strong>en) überproportional<br />

große gesetzgeberische Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Müller: Gesetzgebung im historischen Vergleich; S. 145). Dies<br />

verweist, so me<strong>in</strong>e ich, auf den oben angesprochenen qualitativen bzw. funktionalen Wandel des Rechts zu e<strong>in</strong>em<br />

Mittel nicht nur <strong>der</strong> sozialen Kontrolle, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> sozialen Steuerung – doch dazu im folgenden mehr (siehe<br />

<strong>in</strong>sb. S. 117).<br />

116. 1878–82 machte hiernach <strong>der</strong> Anteil +neuer* Gesetze 79% aus (Verordnungen: 75,4%); 1978–82 lag dieser<br />

Anteil dagegen nur bei 10,2% (28,4%).<br />

117. Die von Müller herausgefundene Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> +Än<strong>der</strong>ungsgesetze* (siehe Anmerkung 116) spricht jedoch<br />

eher gegen letzteres.<br />

118. Der hier als Beleg zitierte Text ist zwar (wie auch die an<strong>der</strong>en im folgenden angeführten Texte) <strong>in</strong> <strong>der</strong> von mir<br />

verwendeten Ausgabe von Webers Opus Magnum +Wirtschaft und Gesellschaft* enthalten. Er ist aber ke<strong>in</strong> Orig<strong>in</strong>albestandteil,<br />

son<strong>der</strong>n ist vielmehr e<strong>in</strong>e nachträglich h<strong>in</strong>zugefügte Montage aus verschiedenen Aufsätzen Webers.<br />

119. Es handelt sich also tatsächlich nur um die For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>er segmentären Deregulierung.<br />

120. Der volle Titel des zitierten Aufsatzes von Meyers lautet +Grundbegriffe, Strukturen und theoretische Perspektiven<br />

<strong>der</strong> Internationalen Beziehungen*.<br />

121. Zeuner weist freilich auf den Unterschied zwischen e<strong>in</strong>er kritischen Orientierung an weiterer Demokratisierung<br />

und dem konservativen Interesse an e<strong>in</strong>em Beharren auf den gegebenen Strukturen parlamentarisch-repräsentativer<br />

Demokratie h<strong>in</strong>.<br />

122. In <strong>der</strong> Regel wird zwischen Wissenschaft, Technologie und Technik so differenziert, daß mit Technik (vom<br />

griechischen Begriff +téchn2e*: Kunst[fertigkeit] abgeleitet) die konkrete Anwendung von Wissenschaft bzw. <strong>der</strong> technische<br />

Apparat selbst bezeichnet wird, während sich <strong>der</strong> Begriff Technologie eher auf +Anwendungssysteme* und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

das Wissen um <strong>der</strong>en Steuerung bezieht (so z.B. Alemann: Grundbegriffe und Entwicklungsstufen <strong>der</strong> Technikgesellschaft;<br />

S. 12ff.). Der Technologiebegriff würde demgemäß e<strong>in</strong>e Art Zwischenkategorie darstellen. Ich halte mich im folgenden<br />

jedoch nicht an diese Unterscheidung, son<strong>der</strong>n gebrauche die Begriffe Technik und Technologie weitgehend als Synonyme<br />

o<strong>der</strong> unterscheide <strong>in</strong>tuitiv, welcher mir geeigneter ersche<strong>in</strong>t.<br />

123. Marx weist jedoch darauf h<strong>in</strong>, daß dies nur begrenzt möglich ist. Er arbeitet nämlich heraus, daß die Steigerung<br />

des relativen Mehrwerts durch Masch<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>satz nur so lange möglich ist, wie <strong>der</strong> Betrieb e<strong>in</strong>en Produktivitätsvorsprung<br />

gegenüber Konkurrenten besitzt (vgl. Kapital; Kap. 13, Abschnitt II u. III).<br />

124. Diese Technikgläubigkeit und die Konzentration auf die Produktivkräfte (die auch eschatologische Elemente<br />

aufweist) ist e<strong>in</strong> wesentlicher Kritikpunkt Ernst Blochs an Marx (vgl. Geist <strong>der</strong> Utopie; S. 322ff.).


48 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

125. Dort heißt es unter an<strong>der</strong>em: +Die Bourgeoisie hat <strong>in</strong> ihrer kaum hun<strong>der</strong>tjährigen Klassenherrschaft massenhaftere<br />

undkolossalereProduktionskräftegeschaffenalsallevergangenenGenerationenzusammen.Unterjochung<strong>der</strong>Naturkräfte,<br />

Masch<strong>in</strong>erie, Anwendung <strong>der</strong> Chemie und Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen,<br />

Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung <strong>der</strong> Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen<br />

– welches frühere Jahrhun<strong>der</strong>t ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß <strong>der</strong> gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.*<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist festzuhalten, daß auch e<strong>in</strong>e gewisse Ambivalenz gegenüber dem wissenschaftlich-technischen +Fortschritt*<br />

gegeben ist, wenn z.B. Engels bemerkt: +Wir haben <strong>in</strong> den fortgeschrittendsten Industrielän<strong>der</strong>n die Naturkräfte gebändigt<br />

und <strong>in</strong> den Dienst <strong>der</strong> Menschen gepreßt; wir haben damit die Produktion <strong>in</strong>s Unendliche vervielfacht […] Und was<br />

ist die Folge? Steigende Überarbeit und steigendes Elend <strong>der</strong> Massen […]* (Dialektik <strong>der</strong> Natur; E<strong>in</strong>leitung)<br />

126. Ich möchte +Rationalität* an dieser Stelle als bewußtes und pr<strong>in</strong>zipiengeleitetes Denken def<strong>in</strong>ieren. Damit ist<br />

auch klar, daß unterschiedliche Pr<strong>in</strong>zipien zum Bezugspunkt des Denkens genommen werden können, weshalb es<br />

verschiedeneFormen und Ausprägungen von Rationalität gibt. Soziale Rationalität, als e<strong>in</strong>e postulierbare Rationalitätsform,<br />

orientiert sich an sozialen Pr<strong>in</strong>zipien, was, je nach Kontext, e<strong>in</strong>e Orientierung am Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Solidarität o<strong>der</strong> auch<br />

am Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Konkurrenz bedeuten kann. Ökonomische Rationalität, als weiteres Beispiel, kann sich am Pr<strong>in</strong>zip<br />

<strong>der</strong> Gew<strong>in</strong>nmaximierung o<strong>der</strong> am Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> optimalen Güterverteilung orientieren etc.<br />

127. Zum naturwissenschaftlich <strong>in</strong>spirierten Rationalitätsparadigma <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne siehe auch S. XIVf.<br />

128. E<strong>in</strong> Zitat vermag diese Auffassung zu verdeutlichen: +Heute besteht fast allgeme<strong>in</strong>e Übere<strong>in</strong>stimmung darüber,<br />

daß die Gesellschaft durch den Nie<strong>der</strong>gang des philosophischen Denkens nichts verloren hat, weil e<strong>in</strong> mächtigeres<br />

Erkenntnis<strong>in</strong>strument an se<strong>in</strong>e Stelle getreten ist: das mo<strong>der</strong>ne wissenschaftliche Denken. Oft wird gesagt, daß all<br />

die Probleme, die die Philosophie zu lösen versucht hat, entwe<strong>der</strong> bedeutungslos s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> durch mo<strong>der</strong>ne experimentelle<br />

Methoden gelöst werden können […] E<strong>in</strong>e solche Tendenz zur Hypostasierung <strong>der</strong> Wissenschaft charakterisiert alle<br />

Schulen, die heute positivistisch genannt werden […] Nach den Positivisten brauchen wir nur genügend Vertrauen<br />

zur Wissenschaft […] Ist dem wirklich so? Der objektive Fortschritt <strong>der</strong> Wissenschaft, und ihre Anwendung, die Technik,<br />

rechtfertigen die geläufige Vorstellung nicht, daß die Wissenschaft nur dann zerstörerisch ist, wenn sie pervertiert<br />

wird […] Die Positivisten sche<strong>in</strong>en zu vergessen, daß die Naturwissenschaft, wie sie von ihnen verstanden wird, vor<br />

allem e<strong>in</strong> zusätzliches Produktionsmittel ist […]* (Horkheimer: Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft; S. 63)<br />

129. Das Zitat stammt ursprünglich aus dem Aufsatz +Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers*, <strong>der</strong><br />

im zweiten Band von +Kultur und Gesellschaft* (1965) veröffentlicht wurde. Ich habe mich <strong>in</strong> diesem Fall für e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>direkte Zitierung entschieden, da <strong>der</strong> Text von Habermas sicherlich e<strong>in</strong>e weitere Verbreitung aufweist.<br />

130. Auch dieses zweite Zitat ist <strong>in</strong> dem Text von Habermas wie<strong>der</strong>gegeben. Da es allerd<strong>in</strong>gs aus <strong>der</strong> bekannten<br />

Schrift +Der e<strong>in</strong>dimensionale Mensch* (1964) stammt, habe ich hier die Orig<strong>in</strong>alquelle im Haupttext genannt.<br />

131. Dieses Argument gilt umso mehr unter den gewandelten Rahmenbed<strong>in</strong>gungen globalisierter Märkte. Georg Simonis<br />

hat deshalb die zunehmende Bedeutung <strong>der</strong> Wissenschaft als strategische Produktivkraft herausgearbeitet (vgl. Technik<strong>in</strong>novation<br />

im ökonomischen Konkurrenzsystem; S. 43.). Se<strong>in</strong> Zahlenmaterial belegt auch, daß <strong>der</strong> Umfang <strong>der</strong> staatlichen<br />

(5%) und universitären Forschung (15%) gegenüber <strong>der</strong> Forschung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Industrie (70%) stark zurückgetreten ist (vgl.<br />

ebd.; S. 44f.). Er spricht deshalb von e<strong>in</strong>er Industrialisierung <strong>der</strong> Forschung (vgl. ebd.; S. 48ff. und siehe auch Tabelle<br />

9, S. 149), die e<strong>in</strong>her geht mit e<strong>in</strong>er Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> Produktion (vgl. ebd.; S. 53ff.).<br />

132. E<strong>in</strong>e forschungspraktische Weiterführung des (wissenschafts)kritischen Projekts <strong>der</strong> +Frankfurter Schule* besteht<br />

allerd<strong>in</strong>gs durch das Frankfurter Institut für sozial-ökologische Forschung, das sich (wie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Forschungstexten<br />

nachzulesen ist) <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong> +gesellschaftlichen Naturverhältnisse* verschrieben hat.<br />

133. Bachelard hat 1938 <strong>in</strong> +Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes* (La formation de l’esprit scientifique) e<strong>in</strong>e<br />

historische und psychoanalytische Betrachtung <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> (empirischen) Wissenschaft vorgelegt, die die<br />

psychologischundkognitivbed<strong>in</strong>gten Hemmnissewissenschaftlichen Fortschritts herausarbeitet und dabei dieDiskont<strong>in</strong>uität<br />

wissenschaftlicher Erkenntnis herausstellt. Um die vielfältigen Hemmnisse zu überw<strong>in</strong>den, muß nämlich e<strong>in</strong>e<br />

vollständige Umwälzung des Denksystems erfolgen: +Der kluge Kopf muß umgemodelt werden. Er erfährt e<strong>in</strong>en Artwechsel<br />

[…] Durch die geistigen Revolutionen, die die wissenschaftlichen Erf<strong>in</strong>dungen notwendig machen, wird <strong>der</strong> Mensch<br />

zu e<strong>in</strong>er mutierenden Art.* (S. 49) Er muß sich laut Bachelard von <strong>der</strong> naiv-bildlichen Anschauung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge lösen,<br />

se<strong>in</strong> ganzes Denken, sogar se<strong>in</strong>e Sprache an die Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>der</strong> Wissenschaft anpassen.


A: ANMERKUNGEN 49<br />

134. Vgl. hierzu se<strong>in</strong>en Aufsatz +Die Mo<strong>der</strong>ne redigieren* (1988).<br />

135. Zu Kuhns Thesen über +Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen* (1962) siehe Anmerkung 78 (E<strong>in</strong>leitung).<br />

136. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>drückliches Beispiel für persönliche Betroffenheit durch die Festlegung auf e<strong>in</strong>e bestimmte Technologie<br />

gibt Susan Leigh Star, die darstellt, wie ihre Zwiebelallergie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schnellrestaurantkette +McDonald’s* zu e<strong>in</strong>en<br />

regelrechten +Handicap* wird, d.h. ihr Wunsch nach e<strong>in</strong>em Hamburger ohne Zwiebeln äußert sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er für diesen<br />

Restauranttyp untypisch langen Wartezeit – und zwar aufgrund <strong>der</strong> technologischen Struktur des Restaurants, das<br />

sich auf e<strong>in</strong>e bestimmte Art <strong>der</strong> Hamburgerzubereitung festgelegt hat und damit praktisch e<strong>in</strong>en Ausschluß z.B. von<br />

Zwiebelallergikern bewirkt. (Vgl. Power, Technology and the Phenomenology of Conventions – On Be<strong>in</strong>g Allergic to<br />

Onions)<br />

137. Bei dieser Auswahl und wie auch bei den schon dargestellten Ansätzen handelt es sich selbstverständlich nicht<br />

um e<strong>in</strong>en vollständigen Überblick. Auch e<strong>in</strong>e Reihe +wichtiger* Ansätze (etwa die Mertons o<strong>der</strong> Polanyis) wurden<br />

ausgespart, da sie mir für die weitere Diskussion nicht fruchtbar schienen.<br />

138. Im Orig<strong>in</strong>al steht <strong>der</strong> Begriff +radical <strong>in</strong>vention*, was also eigentlich mit +radikale Erf<strong>in</strong>dung* zu übersetzen wäre.<br />

Mir ersche<strong>in</strong>t jedoch <strong>der</strong> Begriff +Innovation* <strong>in</strong> diesem Zusammenhang passen<strong>der</strong>.<br />

139. Das Beispiel Edison wird <strong>in</strong> dem Band +Networks of Power* (1988) ausführlich behandelt (vgl. <strong>in</strong>sb. Kap. 2).<br />

140. Es ergeben sich somit für Hughes <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> +Evolution* von technischen Großsystemen die Phasen: +<strong>in</strong>vention,<br />

development, <strong>in</strong>novation, transfer, and growth, competition, and consolidation* (The Evolution of Large Technological<br />

Systems; S. 56).<br />

141. Das Interesse an e<strong>in</strong>er Integration von Mikro- und Makrosoziologie ist erst <strong>in</strong> den letzten zwei Jahrzehnten <strong>in</strong><br />

den Vor<strong>der</strong>grund gerückt. E<strong>in</strong>e Reihe von verschiedenen Ansätzen dazu f<strong>in</strong>det sich beispielsweise <strong>in</strong> dem von Knorr-Cet<strong>in</strong>a<br />

und Cicourel herausgegebenen Band +Advances <strong>in</strong> Social Theory and Methodology – Toward An Integration of Microand<br />

Macro-Sociologies* (1981). Cicourel betont hierbei: +The study of micro-events is an essential part of all macrostatements*<br />

(Notes on the Integration of Micro- and Macro-Levels of Analysis; S. 79). In ähnlicher Weise verfolgt Randall<br />

Coll<strong>in</strong>s (nicht identisch mit dem im Text weiter unten von mir zitierten Coll<strong>in</strong>s) e<strong>in</strong>e Strategie <strong>der</strong> Theorie-Bildung<br />

durch Mikro-Übersetzung (vgl. Micro-Translation as a Theory-Build<strong>in</strong>g Strategy).<br />

142. E<strong>in</strong> modellhaftes Beispiel, wie diese dritte Stufe se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach umgesetzt werden sollte, gibt Coll<strong>in</strong>s <strong>in</strong><br />

dem Aufsatz +An Empirical Relativist Programme <strong>in</strong> the Sociology of Scientific Knowledge* (1983). Zur Erläuterung greift<br />

er hier auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> den 70er Jahren abgelaufene Kontroverse <strong>in</strong> <strong>der</strong> Physik über die Existenz von Gravitationswellen<br />

zurück, mit <strong>der</strong> er sich schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat (vgl. z.B. Son of Seven Sexes). Die Gegner<br />

<strong>der</strong> Gravitationswellentheorie haben sich <strong>in</strong> dieser Debatte durchsetzen können. Dies wurde von e<strong>in</strong>igen Beobachtern<br />

(an<strong>der</strong>s als ursprünglich von Coll<strong>in</strong>s) darauf zurückgeführt, daß sie im Gegensatz zur an<strong>der</strong>en Seite reichlich mit Ressourcen<br />

und Zugängen zur Öffentlichkeit ausgestattet waren, da sie von <strong>der</strong> Industrie unterstützt wurden. Nach Coll<strong>in</strong>s, <strong>der</strong><br />

diese Kritik aufgreift, darf die Analyse hier jedoch nicht stehen bleiben, son<strong>der</strong>n es muß gezeigt werden, warum die<br />

Industrie gerade jene Seite unterstützte, die gegen die Gravitationswellentheorie e<strong>in</strong>gestellt war. Die Erklärung von<br />

Coll<strong>in</strong>s lautet: Hätte man die Existenz von Gravitationswellen angenommen, so hätte dies chaotische Zustände <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Wissenschaft und im mit ihr verbundenen <strong>in</strong>dustriellen Sektor bedeutet. Deshalb unterstützte die Industrie die<br />

konservative Auslegung, die nicht von <strong>der</strong> Existenz von Gravitationswellen ausg<strong>in</strong>g (vgl. An Empirical Relativist Programme<br />

<strong>in</strong> the Sociology of Scientific Knowledge; S. 96f.). Auch diese (recht knapp gehaltenen) Ausführungen von Coll<strong>in</strong>s können<br />

me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach jedoch nicht befriedigen, denn alle<strong>in</strong>e die Kapital-Interessen geschuldete <strong>in</strong>direkte Unterstützung<br />

bzw. Nicht-Unterstützung durch die Industrie ist e<strong>in</strong>e recht dürftige makrostrukturelle Erklärung. An<strong>der</strong>e makrostrukturelle<br />

Faktoren (wie z.B. Aufbau, Hierarchie und Regeln im Wissenschaftssystem etc.) hatten sicher auch E<strong>in</strong>fluß.<br />

143. Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Techniksoziologie machen sich <strong>in</strong> den letzten Jahren verstärkt sozialkonstruktivistische<br />

Ansätze breit, allerd<strong>in</strong>gs hier zumeist <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit <strong>der</strong> sozialevolutionären Vorstellung von <strong>der</strong> technischen Entwicklung<br />

als e<strong>in</strong>em (<strong>in</strong>stitutionell gesteuerten) evolutionären Selektionsprozeß (weshalb auch e<strong>in</strong>e stärkere Makro-<br />

Orientierung gegeben ist). E<strong>in</strong>e ganze Palette von Beispielen für diese Variante sozialkonstruktivistischer Techniksoziologie<br />

f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> dem von Werner Rammert und Gotthard Bechmann herausgegebenen Band Nr. 7 (+Konstruktion und<br />

Evolution von Technik*) <strong>der</strong> Reihe +Technik und Gesellschaft*.


50 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

144. John Law spricht deshalb von STS: Science, Technology and Society. (Vgl. Monsters, Mach<strong>in</strong>es and Sociotechnical<br />

Relations; S. 2f.)<br />

145. In e<strong>in</strong>em Interview, das er <strong>der</strong> +Zeit* (Ausgabe vom 23.5.1997) gegeben hat, bemerkt Baudrillard übrigens sehr<br />

an Latours Thesen er<strong>in</strong>nernd: +Das gute alte klassische Subjekt ist zugunsten des Netzes, das über wirkliche Autonomie<br />

verfügt, verschwunden. Man könnte auch sagen, daß das Subjekt zugunsten e<strong>in</strong>es neuen Individuums verschwunden<br />

ist, das extrem technisiert und operationell geworden ist.* (S. 40)<br />

146. Hier heißt es: +We are all chimeras, theorized and fabricated hybrids of mach<strong>in</strong>e and organism; <strong>in</strong> short, we<br />

are cyborgs* (S. 150). Diese Hybridisierung wird von Haraway (im Gegensatz zu Baudrillard) begrüßt: +The cyborg<br />

is resolutely committed to partiality, irony, <strong>in</strong>timacy, and perversity. It is oppositional, utopian, and completely without<br />

<strong>in</strong>nocence* (ebd.; S. 151). +Cyborg imagery can help express two crucial arguments <strong>in</strong> this essay: first, the production<br />

of universal, totaliz<strong>in</strong>g theory is a major mistake that misses most of reality […], and second, tak<strong>in</strong>g responsibility for<br />

the social relations of science and technology means refus<strong>in</strong>g an anti-science metaphysics, a demonology of technology,<br />

and so means embrac<strong>in</strong>g the skilful task of reconstruct<strong>in</strong>g the boundaries of daily life, <strong>in</strong> partial connection with others,<br />

<strong>in</strong> communication with all of our parts.* (Ebd.; S. 181)<br />

147. Vom Sozialkonstruktivismus, wie ihn Harry Coll<strong>in</strong>s und se<strong>in</strong>e Kollegen vertreten, haben sich Callon und Latour<br />

aber explizit und sehr polemisch abgesetzt (vgl. Don’t Throw the Baby out with the Bath School!). Dieser ist für sie<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gegenüberstellung von Naturpol und Sozialpol steckengeblieben. Demgegenüber favorisieren Callon und<br />

Latour ihre Theorie <strong>der</strong> hybriden Akteur-Netzwerke.<br />

148. Callon betont, wie auch Law und Latour, daß er nicht nur Personen als mögliche Akteure verstanden wissen<br />

will, son<strong>der</strong>n daß es auch nicht-humane Akteure gibt. Da er jedoch, wie angemerkt, +Autorenschaft* zum Kriterium<br />

für den Akteursstatus macht, ist es me<strong>in</strong>es Erachtens zum<strong>in</strong>dest zweifelhaft, <strong>in</strong>wieweit man z.B. e<strong>in</strong>e Stanzmasch<strong>in</strong>e<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Aktie tatsächlich als Akteur bzw. Autor ansehen kann.<br />

149. In e<strong>in</strong>er früheren Arbeit def<strong>in</strong>ieren Callon und Law: +We def<strong>in</strong>e translation as a process <strong>in</strong> which sets of relations<br />

between projects, <strong>in</strong>terests, goals, and naturally occurr<strong>in</strong>g entities […] are proposed and brought <strong>in</strong>to be<strong>in</strong>g.* (On<br />

the Construction of Sociotechnical Networks; S. 59)<br />

150. Als Beispiel dient hier die +Electricité de France* und das von ihr propagierte Elektroauto. Ausführlicher wird<br />

dasselbe Beispiel durch Callon übrigens <strong>in</strong> dem Artikel +The Sociology of an Actor-Network: The Case of the Electric<br />

Vehicle* (1986) erläutert.<br />

151. Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen von We<strong>in</strong>gart: ›Großtechnische Systeme‹ – E<strong>in</strong> Paradigma <strong>der</strong> Verknüpfung<br />

von Technikentwicklung und sozialem Wandel?<br />

152. Es handelt sich hier um e<strong>in</strong>e vom Pariser +Institut Pasteur* herausgegebene Veröffentlichung anläßlich des 100.<br />

Todestages von Louis Pasteur, die neben dem Text Latours zahlreiche Abbildungen enthält – deshalb me<strong>in</strong>e Charakterisierung<br />

als +Bildband*. Latour stellt hier schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er dem Text vorangestellten +Warnung* klar, daß es ihm nicht<br />

noch e<strong>in</strong>mal darum geht, die heroischen Momente im Leben Pasteurs nachzuzeichnen. Vielmehr betrachtet er die<br />

Person Pasteurs als (charakteristische) Wi<strong>der</strong>spiegelung e<strong>in</strong>es Jahrhun<strong>der</strong>ts, das sich <strong>der</strong> Wissenschaft verschrieben<br />

hatte. Allerd<strong>in</strong>gs ist schon die Tatsache, daß er ausgerechnet über den +großen Pasteur* schreibt im genannten S<strong>in</strong>n<br />

zu kritisieren. Diese Fixierung auf erfolgreiche +Macher* und Technologien ist vielfach kritisiert worden und beruht<br />

wohl <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf Latours +Liebe* zu allem Technischen. Demgegenüber kann jedoch relativierend e<strong>in</strong>gewendet<br />

werden, daß Latour sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er jüngeren Arbeit – mit gleicher H<strong>in</strong>gabe – auch mit e<strong>in</strong>er gescheiterten Technologie<br />

(dem automatischen Transportsystem +Aramis*) ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat (vgl. Aramis or the Love of Technology).<br />

153. Giddens spricht deshalb auch von <strong>der</strong> Dualität von Strukturen, die e<strong>in</strong>erseits begrenzend wirken, an<strong>der</strong>erseits<br />

aber auch Handlungsmöglichkeiten eröffnen (vgl. Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 77f.).<br />

154. Im +eigentlichen* Konstruktivismus bzw. radikalen Konstruktivismus, <strong>der</strong> sich mit den Namen Varela, Maturana,<br />

Foerster und Glasersfeld usw. verb<strong>in</strong>det, besteht die Radikalität gerade dar<strong>in</strong>, daß er auf <strong>der</strong> Grundlage e<strong>in</strong>es epistemologischen<br />

Solipsismus zwar von <strong>der</strong> Unerkennbarkeit <strong>der</strong> Wirklichkeit ausgeht, aber doch die Existenz e<strong>in</strong>er Wirklichkeit<br />

annimmt (vgl. Schmidt: Der Radikale Konstruktivismus; S. 34ff.). So bemerkt etwa Glasersfeld, +daß alle me<strong>in</strong>e Aussagen<br />

über diese Wirklichkeit zu hun<strong>der</strong>t Prozent me<strong>in</strong> Erleben s<strong>in</strong>d. Daß dieses Erleben dann zusammenstimmt, das kommt


A: ANMERKUNGEN 51<br />

aus <strong>der</strong> Wirklichkeit* (zitiert nach ebd.; S. 35). Es ist also nur empirisches, nicht aber ontologisches Wissen möglich<br />

– e<strong>in</strong>e Unterscheidung die auf Rusch zurückgeht (vgl. ebd.; S. 36). Diese Auffassung stimmt zum großen Teil mit <strong>der</strong><br />

im folgenden von mir vertretenen Position übere<strong>in</strong>. In diesem Zusammenhang ist es übrigens positiv hervorzuheben,<br />

daß die Akteur-Netzwerk-Theorie die d<strong>in</strong>glich-materielle Komponente wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Spiel gebracht hat, d.h. die<br />

Wi<strong>der</strong>ständigkeit <strong>der</strong> Objekte herausstellt (die wir zwar nicht erkennen, aber erfahren können).<br />

155. Mit <strong>der</strong> Verwendung des Adjektivs +nützlich* will ich hier ke<strong>in</strong>e utilitaristische Position e<strong>in</strong>nehmen, son<strong>der</strong>n<br />

vielmehr e<strong>in</strong>e (pragmatische) Orientierung an Praxistauglichkeit e<strong>in</strong>for<strong>der</strong>n, wobei <strong>der</strong> Begriff +pragmatisch* wie<strong>der</strong>um<br />

nur im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er letztbegründungsskeptischen Lebensweltorientierung und nicht <strong>in</strong> Anlehnung an den <strong>in</strong>strumentellen<br />

Pragmatismus/Naturalismus Deweys geme<strong>in</strong>t ist, <strong>der</strong> sich zwar explizit gegen die Kommerzialisierung <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

wandte und den Raum für +neue Geschichten* öffnen wollte, aber – <strong>in</strong>dem er e<strong>in</strong>e +re<strong>in</strong>e* als re<strong>in</strong> angewandte<br />

Wissenschaft for<strong>der</strong>te (vgl. Erfahrung und Natur; <strong>in</strong>sb. Kap. 4) – verkannte, daß es e<strong>in</strong>e solche we<strong>der</strong> abstrakt noch<br />

empirisch geben kann.<br />

156. E<strong>in</strong>en historischen Überblick über die +Naturauffassungen <strong>in</strong> Philosophie, Wissenschaft und Technik* (1995) haben<br />

Lothar Schäfer und Elisabeth Ströker <strong>in</strong> 3 Bänden zusammengestellt. Ähnliches leistet (anhand von kommentierten<br />

Quellentexten) Peter Cornelius Mayer-Tasch (vgl. Natur denken). Die unterschiedlichen Naturkonzepte, die man<br />

<strong>in</strong> Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden kann, beruhen, wenn man Schwarz und Thompson folgt (die wie<strong>der</strong>um<br />

an den Ökologen Holl<strong>in</strong>g anschließen), auf vier Natur-Mythen: 1. die launische und unberechenbare Natur (nature<br />

capricious); 2. die gütige, alles verzeihende Natur (nature benign); 3. die nur bis zu e<strong>in</strong>em bestimmten Grad tolerante<br />

Natur, die dann umso heftiger +zurückschlägt* (nature perverse/tolerant); 4. die ephemere Natur, die auf jeden E<strong>in</strong>griff<br />

äußerst sensibel reagiert (nature ephemeral). (Vgl. Divided We Stand; S. 4ff.) Holl<strong>in</strong>g selbst nennt (bezugnehmend<br />

auf Lovelocks Gaia-Theorie) allerd<strong>in</strong>gs noch e<strong>in</strong>en weiteren Natur-Mythos: den Mythos <strong>der</strong> multiplen Gleichgewichtszustände<br />

(vgl. The Resilience of Terrestrial Ecosystems; S. 293ff.). Auch Timmermann spricht ganz ähnlich von e<strong>in</strong>em<br />

Mythos <strong>der</strong> zyklischen Erneuerung (Mythology and Surprise <strong>in</strong> the Susta<strong>in</strong>able Development of the Biosphere; S. 440).<br />

157. Man könnte hier zusätzlich zwischen bewußt und unbewußt gestalteter bzw. technisch geformter Umwelt unterscheiden.<br />

158. In dem zwei Jahre später erschienen Band +Gegengifte* nimmt Beck die von verschiedenen Seiten vorgetragene<br />

Kritik auf, nicht zwischen Gefahren und (selbstproduzierten, kalkulierbaren) Risiken unterschieden zu haben. Weil<br />

die Risiken <strong>der</strong> Risikogesellschaft nicht genau kalkulierbar s<strong>in</strong>d, spricht er nun von +spät<strong>in</strong>dustriellen Großgefahren*<br />

(vgl. S. 120f.).<br />

159. Die spezifische Leitdifferenz des Wissenschaftssystems ist dabei die Unterscheidung wahr/unwahr.<br />

160. Genau genommen müßte man sie als deflexiv-reflexive Technologien bezeichnen, denn die Reflexivität von<br />

Technik (also ihre impliziten Nebenfolgen) wird deflexiv (also <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Techno-Logik und wie<strong>der</strong>um mit Technik)<br />

+gespiegelt*.<br />

161. Joseph Agassi spricht deshalb <strong>in</strong> Anlehnung an die +Cultural-Lag-These* Ogburns von e<strong>in</strong>em +Cultural Lag <strong>in</strong><br />

Science* (1981). Er me<strong>in</strong>t damit, daß sich die verschiedenen Fel<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wissenschaft ungleich entwickeln, was darauf<br />

beruht, daß die Fächer durch ihre unterschiedliche Attraktivität (z.B. durch mit dem Studium verbundene Berufschancen)<br />

auch e<strong>in</strong>e unterschiedliche Anziehungskraft auf den Nachwuchs ausüben. Die +klugen Köpfe* wan<strong>der</strong>n also etwa<br />

von Fächern wie Theologie zu +attraktiveren* Fächern ab, was dann problematisch wird, wenn es zur Folge hat, daß<br />

die Theologie aufgrund dieses +bra<strong>in</strong>-dra<strong>in</strong>* Risiken wie Überbevölkerung nicht richtig e<strong>in</strong>schätzen kann (vgl. S. 121f.).<br />

162. Es ist übrigens <strong>in</strong>teressant, daß auch Beck bei se<strong>in</strong>er Betrachtung <strong>der</strong> Ökologiebewegung von <strong>der</strong> (praktischen)<br />

Aufhebung <strong>der</strong> Trennung von Natur und Gesellschaft ausgeht und dieser deshalb e<strong>in</strong> naturalistisches (Selbst-)Mißverständnis<br />

vorwirft: Diese würde Natur wie<strong>der</strong>entdecken, wo es sie nicht mehr gibt (vgl. Gegengifte; S. 65). Wortspielerisch läßt<br />

sich aufgrund dieser Bestimmung jedoch e<strong>in</strong>wenden, daß selbst Beck <strong>in</strong>direkt e<strong>in</strong> naturalistisches Naturverständnis<br />

zugrunde legt, d.h. auch er begreift Natur als die Tatsächlichkeit dessen, was (e<strong>in</strong>mal) unabhängig von menschlichem<br />

E<strong>in</strong>fluß existiert(e). Abgesehen von diesem E<strong>in</strong>wand trifft das Argument Becks jedoch den Kern <strong>der</strong> Sache: Die<br />

Ökologiebewegung verkennt ihre eigene +Natur*. Sie ist tatsächlich eher e<strong>in</strong>e gesellschaftliche +Innenweltbewegung*<br />

(Gegengifte; S. 92), <strong>der</strong>en Protest symbolisch vermittelt ist, als e<strong>in</strong>e Naturbewegung. Denn Grundlage des Protests<br />

s<strong>in</strong>d nicht +objektive Gefährdungen*, son<strong>der</strong>n die Aufmerksamkeit die z.B. hierzulande dem +Waldsterben* geschenkt<br />

wurde, hat mit dem beson<strong>der</strong>en Stellenwert zu tun, den <strong>der</strong> Wald <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Kultur e<strong>in</strong>nimmt (vgl. ebd.; S.


52 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

75ff.). Natur wird also als Ersatzkampffeld funktionalisiert. Dabei läßt man sich sogar auf wissenschaftlich-technische<br />

Argumentionen e<strong>in</strong>, anstatt die herrschenden +Def<strong>in</strong>itionsverhältnisse* (d.h. das Wahrheits- und Def<strong>in</strong>itionsmonopol<br />

<strong>der</strong> technokratischen Allianz aus Wissenschaft und <strong>Politik</strong>) <strong>in</strong> Frage zu stellen (vgl. ebd.; S. 71ff.).<br />

163. Zu e<strong>in</strong>er möglichen Kategorisierung <strong>der</strong> unterschiedlichen Naturbil<strong>der</strong> siehe nochmals Anmerkung 156.<br />

164. Als e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationaler Konzern e<strong>in</strong>en neuartigen Toilettenspülste<strong>in</strong> entwickelte und diesen auf den deutschen<br />

Markt warf, war <strong>der</strong> Erfolg anfänglich groß – bis die +Grünen* gegen dieses Produkt wegen e<strong>in</strong>es umweltbedenklichen<br />

Inhaltsstoffes e<strong>in</strong>e Kampagne starteten. Das Unternehmen war so gezwungen, se<strong>in</strong> Produkt zu modifizieren und e<strong>in</strong>en<br />

Ersatz für den umstrittenen Inhaltsstoff zu f<strong>in</strong>den, was auch gelang. Zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Markte<strong>in</strong>führung hatte das<br />

Unternehmen nicht an mögliche Umweltgefährdungen bzw. die Marktrelevanz dieses Faktors gedacht.<br />

165. Ich möchte allerd<strong>in</strong>gs nicht so weit gehen wie z.B. Maarten Hajer, <strong>der</strong> die Umweltkrise primär als diskursive<br />

Konstruktion betrachtet (vgl. The Politics of Environmental Discourse; S. 8ff.) und somit konsequenterweise e<strong>in</strong>e<br />

Diskursanalyse <strong>in</strong>s Zentrum se<strong>in</strong>er Betrachtung stellt. Denn wie bereits oben angemerkt, s<strong>in</strong>d Konstruktionen nicht<br />

beliebig, son<strong>der</strong>n abhängig von +materiellen* Verhältnissen.<br />

166. Zur Homöopathie, die auf den deutschen Arzt Hahnemann (1755–1843) zurückgeht, vgl. z.B. Langer: So heilt<br />

Homöopathie – Mediz<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> Natur. Als Wirksubstanzen werden zumeist +Naturstoffe* wie pflanzliche Extrakte<br />

aus Fliegenpilz, Roßkastanie o<strong>der</strong> F<strong>in</strong>gerhut sowie tierische Erzeugnisse e<strong>in</strong>gesetzt (z.B. R<strong>in</strong><strong>der</strong>galle o<strong>der</strong> Dorschlebertran).<br />

Daneben greift man aber auch auf Schwermetalle wie Blei zurück – allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Dosierungen, die teilweise sogar<br />

erheblich unter <strong>der</strong> Nachweisgrenze liegen. Man kann deshalb me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach von e<strong>in</strong>em homöopathischen<br />

Potenzierungs-Paradox sprechen, da je höher die Potenz <strong>der</strong> Verdünnung, desto +potenter* angeblich das Mittel.<br />

(Vgl. ebd.; S. 20–32)<br />

167. E<strong>in</strong>e kurze Kostprobe <strong>der</strong> Naturideologie von <strong>der</strong> +Mutter Erde* möchte ich an dieser Stelle nicht unterschlagen:<br />

+Mutter Erde, an <strong>der</strong>en Busen wir Menschen leben – wer kennt sie? Ist sie nichts weiter als e<strong>in</strong> Körper aus flüssigem<br />

Feuer, umhüllt von e<strong>in</strong>er Schale aus Erde und Wasser? Lebendig ist <strong>der</strong> Leib <strong>der</strong> Erde und unendlich verfe<strong>in</strong>ert <strong>der</strong><br />

Ausdruck ihrer Durchseeltheit. E<strong>in</strong> Lebewesen ist sie, gebaut nach dem gleichen kosmischen Muster wie <strong>der</strong> Mensch<br />

auf ihrem Schoß. Wie wir Menschen ist auch die Erde e<strong>in</strong> zweipoliges Wesen, wobei e<strong>in</strong> Kreislauf von Kräften die<br />

beiden Pole verb<strong>in</strong>det. Der Mensch empfängt se<strong>in</strong>e Inspiration aus dem Äther, <strong>der</strong> den Raum erfüllt […] Die Inspiration<br />

kommt durch das Schädeldach, wo sie <strong>in</strong> die dort bef<strong>in</strong>dliche kelchförmige Öffnung des Kraftfelds gesaugt wird. Genauso<br />

empfängt die Erde an ihrem magnetischen Nordpol ihre […] Kraft, die aus dem Raum <strong>in</strong> ihr eigenes Kraftfeld fließt.<br />

Sie empfängt diese Kraft von ihren Geschwistern, den Planeten […]* (Uyl<strong>der</strong>t: Mutter Erde; S. 9)<br />

168. Auf <strong>der</strong> angegebenen Seite heißt es: +Erst dann, wenn […] Zufall und Schicksal nicht mehr die unüberwundenen<br />

Momente e<strong>in</strong>er bloß äußeren Naturnotwendigkeit bilden, erst <strong>in</strong> dieser genauen Anwesenheit bei <strong>der</strong> Naturkraft<br />

hätte die Technik ihre Katastrophenseite wie ihre Abstraktheit überwunden. E<strong>in</strong>e Verhakung ohnegleichen ist damit<br />

<strong>in</strong>tendiert, e<strong>in</strong> wirklicher E<strong>in</strong>bau <strong>der</strong> Menschen (sobald sie mit sich vermittelt worden s<strong>in</strong>d) <strong>in</strong> die Natur (sobald die<br />

Technik mit <strong>der</strong> Natur vermittelt worden ist).* Nach Hans Jonas ist dafür jedoch – <strong>in</strong> expliziter Gegenstellung zu Bloch<br />

– e<strong>in</strong>e +nichtutopische Ethik <strong>der</strong> Verantwortung* unabd<strong>in</strong>gbar, wobei Verantwortung bei ihm +die als Pflicht anerkannte<br />

Sorge um e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Se<strong>in</strong>, die bei <strong>der</strong> Bedrohung se<strong>in</strong>er Verletzlichkeit zur ›Besorgnis‹ wird* me<strong>in</strong>t (Das Pr<strong>in</strong>zip<br />

Verantwortung; S. 391).<br />

169. Daß <strong>der</strong> Wille, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technik tatsächlich zum Ausdruck kommt, immer nur e<strong>in</strong> vom Subjekt und darüber<br />

h<strong>in</strong>aus vom sozialen Subjekt geliehener ist, das hat Ernst Bloch <strong>in</strong> folgende Worte gefaßt: +Der Wille, <strong>der</strong> <strong>in</strong> allen<br />

technisch-physikalischen Gebilden haust, muß gleichzeitig sowohl e<strong>in</strong> gesellschaftlich erfaßtes Subjekt h<strong>in</strong>ter sich<br />

haben: zum konstruierenden E<strong>in</strong>griff, jenseits des bloß abstrakt-äußerlichen, wie e<strong>in</strong> damit vermittelndes Subjekt<br />

vor sich: zur Mitwirkung, zum konstitutiven Anschluß an den E<strong>in</strong>griff.* (Das Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung; Band 2, S. 787)<br />

170. Im +Wörterbuch <strong>der</strong> Soziologie* von Hartfiel und Hillmann heißt es zum Begriff des Handelns: +im soziol. S<strong>in</strong>ne<br />

jede menschl. Lebenstätigkeit, die sich als s<strong>in</strong>nhafte, gewollte, ziel- o<strong>der</strong> zweckgerichtete, aus irgendwelchen (bewußten<br />

o<strong>der</strong> unbewußten) Motiven o<strong>der</strong> Antrieben ergebende E<strong>in</strong>wirkung auf die Umwelt des Menschen erkennen läßt.*<br />

Ich schließe mich hier also dieser konventionellen Sichtweise und nicht Giddens an, <strong>der</strong> im Rahmen se<strong>in</strong>er Theorie<br />

<strong>der</strong> Strukturierung e<strong>in</strong>en Handlungsbegriff entwickelt, <strong>der</strong> Intentionalität als Grundvoraussetzung aufgibt und statt<br />

dessen (me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach <strong>in</strong> wenig überzeugen<strong>der</strong> Art und Weise) darauf abhebt, daß Handeln alle<strong>in</strong>e auf <strong>der</strong><br />

bloßen Möglichkeit zu handeln beruht (vgl. S. 58ff.).


A: ANMERKUNGEN 53<br />

171. Latour hat für die sozio-technischen Hybride <strong>in</strong> +Wir s<strong>in</strong>d nie mo<strong>der</strong>n gewesen* (<strong>in</strong> Anschluß an Michel Serre)<br />

die Bezeichnung +Quasi-Objekte* (bzw. Quasi-Subjekte) e<strong>in</strong>geführt, +denn sie nehmen we<strong>der</strong> die für sie von <strong>der</strong><br />

Verfassung [<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne] vorgesehene Position von D<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>, noch die von Subjekten* (S. 71).<br />

172. Veblen sah e<strong>in</strong>e reelle Möglichkeit für e<strong>in</strong>en positiven Wandel <strong>der</strong> amerikanischen Gesellschaft, die er als labil<br />

und krisenhaft betrachtete, nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dustriell-technischen Revolution, die von den Technikern angeführt werden<br />

und (im Gegensatz zum Markt- und Geld-gesteuerten +Preis-System*) auf Rationalität gegründet se<strong>in</strong> sollte.<br />

173. Ellul gebraucht den Ausdruck +l’homme-mach<strong>in</strong>e*, was e<strong>in</strong>e Anspielung auf die gleichnamige Schrift des französischen<br />

Arztes de La Mettrie (1709–51) darstellt. Dieser hatte die Auffassung vertreten, <strong>der</strong> Mensch sei nur e<strong>in</strong>e Art lebende<br />

Masch<strong>in</strong>e (vgl dazu auch die entsprechende Fußnote auf S. 395 <strong>in</strong>: The Technological Society). Im Kontrast dazu me<strong>in</strong>t<br />

Ellul aber wirklich so etwas wie e<strong>in</strong> Hybridwesen, wenn er von e<strong>in</strong>er Verb<strong>in</strong>dung von Mensch und Masch<strong>in</strong>e spricht<br />

(vgl. ebd.).<br />

174. Neil <strong>Post</strong>man geht sogar noch weiter und spricht (<strong>in</strong> kritischer Übertreibung) für die (postmo<strong>der</strong>ne) Gegenwart<br />

<strong>der</strong> amerikanischen Gesellschaft von <strong>der</strong> Herrschaft e<strong>in</strong>es +Technopols*: +Das Technopol beseitigt die Alternativen,<br />

die es zu ihm gibt […] Es drängt sie nicht <strong>in</strong> die Illegalität, auch nicht <strong>in</strong> die Immoralität. Es macht sie nicht e<strong>in</strong>mal<br />

unpopulär. Es macht sie e<strong>in</strong>fach unsichtbar und damit irrelevant. Und dies gel<strong>in</strong>gt ihm, <strong>in</strong>dem es das, was wir unter<br />

Religion, Kunst, Familie, <strong>Politik</strong>, Geschichte […] verstehen, neu def<strong>in</strong>iert, <strong>der</strong>gestalt, daß die Def<strong>in</strong>itionen schließlich<br />

den Anfor<strong>der</strong>ungen des Technopols genügen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, das Technopol ist die totalitär gewordene<br />

Technokratie.* (Das Technopol; S. 56f.)<br />

175. Diese Diskussion fand vorwiegend während <strong>der</strong> 60er und 70er Jahre statt. E<strong>in</strong>en Überblick vermitteln die Bände<br />

+Texte zur Technokratiediskussion* (1970), herausgegeben von Claus Koch und Dieter Senghaas, und +Technokratie<br />

als Ideologie* (1973), herausgeben von Hans Lenk.<br />

176. Die Veröffentlichung des Manuskripts erfolgte allerd<strong>in</strong>gs erst 1919.<br />

177. Diese Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung ist <strong>in</strong> dem Band +Der Positivismusstreit <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Soziologie* (geme<strong>in</strong>sam<br />

herausgegeben von Theodor W. Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Harald Pilot und Karl Raimund<br />

Popper 1969) dokumentiert.<br />

178. Der Fokus verschiebt sich nach Beck <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft von den Produktionsverhältnissen (Reichtumsverteilung)<br />

zu den Def<strong>in</strong>itionsverhältnissen: das Wissen um Risiken und die Macht, diese zu def<strong>in</strong>ieren (vgl. Gegengifte; S. 211ff.).<br />

Klaus Dörre, <strong>der</strong> mit Beck über Beck h<strong>in</strong>ausgehen will, kritisiert <strong>in</strong> diesem Zusammenhang allerd<strong>in</strong>g me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />

nach zu Recht, daß hierbei <strong>der</strong> kapitalistische Kontext, <strong>in</strong> dem Risiken <strong>in</strong> unserer Gesellschaft erzeugt werden, ausgeblendet<br />

bleibt (vgl. Schafft die autoritäre Technokratie sich selbst ab?).<br />

179. Ich möchte an dieser Stelle noch e<strong>in</strong>mal betonen, daß ich nicht an e<strong>in</strong>e autonome o<strong>der</strong> verselbständigte Technik<br />

glaube. Jede Technik bedarf <strong>der</strong> sozialen Verankerung und ihrer permanenten Stabilisierung. Technologien s<strong>in</strong>d deshalb<br />

immer mit Interessen verknüpft. Oft entsteht jedoch, wie ich mit Habermas feststellen möchte, e<strong>in</strong> Sche<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Verselbständigung. Nehmen wir das Beispiel des Computer-Betriebssystems MS- bzw. PC-DOS. Dieses wurde 1981<br />

vom Computer-Giganten IBM von <strong>der</strong> bis dah<strong>in</strong> eher kle<strong>in</strong>en Firma +Microsoft* lizenziert und deshalb zum De-facto-<br />

Standard <strong>in</strong> <strong>der</strong> Computer-Welt (vgl. Sand: IBM; Kap. 8). Lei<strong>der</strong> hatte dieses Betriebssystem e<strong>in</strong>ige Schwächen: u.a.<br />

e<strong>in</strong>e sehr schnell zum Problem gewordene Begrenzung auf 64 kB große Blöcke bei <strong>der</strong> Adressierung von Speicher<br />

(vgl. z.B. Schnupp: Standard-Betriebssysteme; S. 169). Da aber an<strong>der</strong>erseits e<strong>in</strong>e große Zahl von Benutzern dieses<br />

System anwandte, war es nicht möglich, sich ohne weiteres von ihm zu verabschieden und e<strong>in</strong> neues e<strong>in</strong>zuführen.<br />

Verbesserungen mußten immer auf dem alten System aufbauen bzw. damit kompatibel se<strong>in</strong>, da e<strong>in</strong> Interesse <strong>der</strong><br />

Benutzer bestand, ihre bereits getätigten Investitionen zu schützen. Das Betriebssystem MS-DOS hatte, um mit Hughes<br />

zu sprechen, durch die Vielzahl se<strong>in</strong>er Benutzer und <strong>der</strong> auf ihm aufbauenden Komponenten +Momentum* gewonnen.<br />

Von Autonomie o<strong>der</strong> Selbstläufigkeit kann jedoch nicht die Rede se<strong>in</strong>. Nur das Interesse <strong>der</strong> Anwen<strong>der</strong> an Kompatibilität<br />

und die Markt-Macht des Lizenznehmers IBM sicherte se<strong>in</strong>en Fortbestand.<br />

180. Hier heißt es: +In the new age the very notion of ›expert‹ is called <strong>in</strong>to question […] the expert who is responsible<br />

for a discipl<strong>in</strong>ed def<strong>in</strong>ition of subject matter and for an ethically grounded, asymptotic approach to truth with<strong>in</strong> a<br />

subject is an anachronism.* (Arnay: Experts <strong>in</strong> the Age of Systems; S. 30)


54 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

181. Am Schluß se<strong>in</strong>es Buches entwirft Beck die +Utopie* e<strong>in</strong>er +ökologischen Demokratie*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das System <strong>der</strong><br />

organisierten Unverantwortlichkeit aufgebrochen ist. Als Wege dorth<strong>in</strong> nennt Beck drei mögliche +Gegengifte*: 1.<br />

Strategien <strong>der</strong> Denormalisierung von Akzeptanz; 2. Strategien <strong>der</strong> Entmonopolisierung und <strong>der</strong> erweiterten Sicherheitsdef<strong>in</strong>ition;<br />

3. Strategien <strong>der</strong> Umverteilung von Beweislasten und <strong>der</strong> Herstellung von Zurechenbarkeit (vgl. Gegengifte;<br />

S. 273–288).<br />

182. E<strong>in</strong>e Ausnahme bildet hier vielleicht <strong>der</strong> Ansatz von Beck. Zwar weist dieser, wie oben dargelegt, auf die Problematik<br />

technokratischer Risikoverwaltung h<strong>in</strong>. Doch, wie unten deutlich werden wird, ist ihm auch die Tatsache <strong>der</strong> +Autonomisierung<br />

<strong>der</strong> (politischen) Verwendung* bewußt.<br />

183. Illich führt die Entstehung e<strong>in</strong>es +Expertenkartells* – was gleichzeitig e<strong>in</strong>e Entpolitisierung <strong>der</strong> Gesellschaft bedeutet<br />

– <strong>in</strong> Anlehnung an Bell (siehe auch S. LIV) auf den Umschwung von <strong>der</strong> Industrie- zur post<strong>in</strong>dustriellen Wissensgesellschaft<br />

zurück: +Die gesellschaftliche Autonomie <strong>der</strong> Experten und ihre Vollmacht, die Bedürfnisse <strong>der</strong> Gesellschaft zu def<strong>in</strong>ieren,<br />

s<strong>in</strong>d logischerweise Formen <strong>der</strong> Oligarchie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er politischen Kultur, <strong>in</strong> <strong>der</strong> materieller Besitz durch Wissenskapital-<br />

Zertifikate […] ersetzt wurde.* (Entmündigende Expertenherrschaft; S. 16)<br />

184. E<strong>in</strong> beredter Ausdruck für diese <strong>in</strong> <strong>der</strong> Planungseuphorie <strong>der</strong> 60er und 70er Jahre weit verbreitete Auffassung<br />

ist z.B. Klaus Lompes Buch +Wissenschaftliche Beratung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (1966).<br />

185. Benveniste gebraucht den <strong>in</strong>dischen Begriff +Pundit* (Pandit), <strong>der</strong> eigentlich am genauesten mit +Meister* zu<br />

übersetzen wäre. Da im Englischen jedoch das Wortpaar +Pr<strong>in</strong>ce/Pundit* e<strong>in</strong>e Alliteration bildet, habe ich mich <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Übersetzung für das äquivalent +funktionierende* Begriffspaar +Fürst/Fachmann* entschieden.<br />

186. Auch die von mir oben zitierte Arbeit von Schnei<strong>der</strong> entstand im Kontext dieses Forschungsprojekts.<br />

187. Dies wird <strong>in</strong> Kapitel 3 deutlich werden, wo die Dilemmata, die sich aus den <strong>in</strong> diesem Kapitel beschriebenen<br />

Wandlungsprozessen ergeben, diskutiert werden.<br />

188. Beck und Bonß sprechen (bezugnehmend auf e<strong>in</strong>en früheren Artikel Becks) von +sekundärer Verwissenschaftlichung*<br />

(vgl. Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 385). In <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* (1986) steht h<strong>in</strong>gegen <strong>der</strong> bereits dargelegte<br />

Begriff <strong>der</strong> +reflexiven Verwissenschaftlichung*. Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach sollte man mit reflexiver Verwissenschaftlichung<br />

allerd<strong>in</strong>gsnur diewissenschaftstheoretischeSelbsth<strong>in</strong>terfragungvon wissenschaftlicherWahrheitund diesozialeReflexivität<br />

wissenschaftlicher Theorie und Praxis bezeichnen. Die politisch-adm<strong>in</strong>istrative Instrumentalisierung von Wissenschaft<br />

zur Abwehr <strong>der</strong> Reflexivität von Wissenschaft und Technik ist me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach besser mit dem hier von mir<br />

gebrauchten Begriff <strong>der</strong> deflexiven (d.h. ablenkenden) Verwissenschaftlichung erfaßt.<br />

189. Tenbruck me<strong>in</strong>t mit Trivialisierung e<strong>in</strong>e Art Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Wissenschaftsentwicklung: +[…] im Wissensfortschritt<br />

verlieren die Erkenntnisse zunehmend an Bedeutung. In <strong>der</strong> Ausgangslage des Prozesses haben sie e<strong>in</strong>en hohen<br />

Bedeutungswert, h<strong>in</strong>gegen meist ke<strong>in</strong>en Nutzungswert, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Endlage umgekehrt ke<strong>in</strong>en Bedeutungs-, gewöhnlich<br />

aber e<strong>in</strong>en hohen Nutzungswert. Der Anstieg <strong>der</strong> Nutzungswerte ist e<strong>in</strong>e häufige Begleitersche<strong>in</strong>ung des Trivialisierungsprozesses,<br />

kann hier jedoch außer Betracht gelassen werden. Die Trivialisierung bezieht sich also nur auf den Bedeutungsschwund.<br />

Dieser aber tritt im Wissensfortschritt mit e<strong>in</strong>er gewissen Zwangsläufigkeit e<strong>in</strong>. Der Fortschritt <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

br<strong>in</strong>gt uns zwar immer mehr Erkenntnisse e<strong>in</strong>, entkleidet sie dabei jedoch ihrer Bedeutung. Wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong>s Soziologische<br />

übersetzt: die Wissenschaft hat ursprünglich Handlungslegitimation geliefert, weil ihre Erkenntnisse Bedeutungswert<br />

besaßen. Der Trivialisierungsprozeß stutzt Wissenschaft zurück auf die facta bruta von Tatsachenaussagen. Sie fällt<br />

damit als Legitimationsquelle <strong>in</strong> <strong>der</strong> heutigen Gesellschaft aus, o<strong>der</strong> wird doch zu e<strong>in</strong>er sehr problematischen Quelle<br />

für Legitimation.* (Der Fortschritt <strong>der</strong> Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß; S. 23f.)<br />

Ich teile diese Sicht Tenbrucks <strong>in</strong>soweit, als er davon spricht, daß durch Trivialisierung (die ich, an<strong>der</strong>s als er und<br />

wie bereits im Haupttext bemerkt, als Übersetzungsverlust von Theorie <strong>in</strong> Praxis verstehe) die Legitimationskraft von<br />

Wissenschaft nachläßt. Ansonsten möchte ich mich weitgehend <strong>der</strong> Kritik von Beck und Bonß anschließen: +Bei Tenbruck<br />

me<strong>in</strong>t Trivialisierung e<strong>in</strong>e für die neuzeitliche Wissenschaft typische Steigerung des <strong>in</strong>strumentellen ›Nutzungswertes‹<br />

von Erkenntnissen zu Lasten ihres (nicht-<strong>in</strong>strumentellen, letztlich transzendenten) ›Bedeutungswerts‹ […] So def<strong>in</strong>iert<br />

fällt ›Trivialisierung‹ mit (e<strong>in</strong>er letztlich kulturpessimistisch verstandenen) ›Säkularisierung‹ zusammen – e<strong>in</strong>e Gleichsetzung,<br />

die kaum geeignet ersche<strong>in</strong>t, um die uns <strong>in</strong>teressierenden Phänomene zu erfassen. Statt dessen wäre ›Trivialisierung‹<br />

[…] analytischer zu akzentuieren und als Chiffre für e<strong>in</strong>e Transformationstheorie zu begreifen, die darauf abzielt,<br />

die Formen und Folgen <strong>der</strong> praktischen Veralltäglichung wissenschaftlichen Wissens <strong>in</strong> den Griff zu bekommen.*<br />

(Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 395)


A: ANMERKUNGEN 55<br />

190. Ich verwende die Begriffe +deflektorisch* und +deflexiv* weitgehend synonymisch.<br />

191. Diese privaten Beziehungsgeflechte ließen sich im Grad <strong>der</strong> Privatheit durch das Maß <strong>der</strong> Intimität abstufen.<br />

Liebesbeziehungen hätten dann ganz offensichtlich das größte Maß an Intimität, gefolgt von Freundschaften und<br />

Bekanntschaften und ganz losen, halbformellen Privatbeziehungen (etwa e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Mitglied <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vere<strong>in</strong>, bei<br />

dem wir Mitglied s<strong>in</strong>d, zu dem wir über diese Beziehung h<strong>in</strong>aus aber ke<strong>in</strong>en <strong>in</strong>tensiveren Kontakt pflegen).<br />

192. Mit <strong>der</strong> Problematik partnerschaftlicher Beziehungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> postraditionalen Gesellschaft haben sich sehr <strong>in</strong>tensiv<br />

Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt (vgl. Das ganz normale Chaos <strong>der</strong> Liebe).<br />

193. Der Begriff +öffentliche Me<strong>in</strong>ung* ist bei Luhmann <strong>in</strong> leicht unterschiedlichen Akzentuierungen def<strong>in</strong>iert worden.<br />

Im Abschnitt über +Öffentlichkeit* <strong>in</strong> +Die Realität <strong>der</strong> Massenmedien* (1996) def<strong>in</strong>iert Luhmann öffentliche Me<strong>in</strong>ung<br />

als Marktäquivalent des <strong>Politik</strong>systems. In Anlehnung an Dirk Baecker (vgl. Oszillierende Öffentlichkeit) faßt Luhmann<br />

Öffentlichkeit hier nämlich als Reflexion e<strong>in</strong>er gesellschaftlichen Systemgrenze bzw. als system<strong>in</strong>terne Umwelt <strong>der</strong><br />

gesellschaftlichen Teilsysteme auf: +Der ›Markt‹ wäre dann die wirtschaftssystem<strong>in</strong>terne Umwelt wirtschaftlicher<br />

Organisationen und Interaktionen; die ›öffentliche Me<strong>in</strong>ung‹ wäre die politiksystem<strong>in</strong>terne Umwelt politischer<br />

Organisationen und Interaktionen* (S. 185). In se<strong>in</strong>em Aufsatz +Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Me<strong>in</strong>ung*<br />

(1990) faßt er öffentliche Me<strong>in</strong>ung h<strong>in</strong>gegen als Medium auf, +<strong>in</strong> dem durch laufende Kommunikation Formen abgebildet<br />

und wie<strong>der</strong> aufgelöst werden* (S. 174). In se<strong>in</strong>em frühesten Aufsatz zum Thema heißt es <strong>in</strong> evolutionistischer Perspektive,<br />

daß +Öffentliche Me<strong>in</strong>ung* (1970) e<strong>in</strong>e Struktur darstellt, die Umweltkomplexität <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e für das System +praktikablere<br />

Sprache* übersetzt und erst <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung tritt, +wenn die Gesellschaft so hohe Komplexität und Kont<strong>in</strong>genz erreicht<br />

hat, daß die ›Führung‹ ihrer weiteren Entwicklung nicht mehr mit den Tagesentscheidungen verquickt, nicht mehr<br />

mit e<strong>in</strong>zelnen Personen, Personengruppen o<strong>der</strong> Rollen obliegen kann, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>er labileren Struktur überlassen<br />

werden muß* (S. 29).<br />

194. Ich beziehe mich im folgenden primär auf dieses (lei<strong>der</strong> noch) unveröffentlichte Manuskript Luhmanns, da er<br />

sich hier dem Themenkomplex Öffentlichkeit und öffentliche Me<strong>in</strong>ung relativ ausführlich, auf aktuellem Niveau und<br />

vor allem klar bezogen auf das <strong>Politik</strong>system widmet.<br />

195. Mit diesem Begriff rekurriert Luhmann auf He<strong>in</strong>z von Foerster.<br />

196. Ich beschränke mich hier auf die Nennung <strong>der</strong> aus me<strong>in</strong>er Sicht wichtigsten Punkte.<br />

197. Nach dem Konzept <strong>der</strong> Schweigespirale +wird öffentliche Me<strong>in</strong>ung def<strong>in</strong>iert als jene Me<strong>in</strong>ung, die man ohne<br />

Gefahr von Sanktionen öffentlich aussprechen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> entsprechend man öffentlich sichtbar handeln kann* (Noelle-<br />

Neumann: Die Schweigespirale; S. 173). Denn zu sprechen und zu handeln traut sich nur wer +Verstärkung* und<br />

nicht Ausgrenzung durch se<strong>in</strong> Umfeld erfährt. +Über kurz o<strong>der</strong> lang […] folgt e<strong>in</strong>em Konformismus <strong>in</strong> den Medien<br />

[deshalb] <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel auch e<strong>in</strong> Konformismus im Publikum.* (S. 202) Diese Aussage Noelle-Neumanns diktiert e<strong>in</strong>e<br />

sehr kritische Sicht, wenn es um die Beurteilung des Potentials e<strong>in</strong>er lebensweltlich verankerten (Gegen-)Öffentlichkeit<br />

(wie im Modell von Habermas) geht, und ist auch nicht mit Luhmanns dargelegter Sicht <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klag zu br<strong>in</strong>gen. Wenn<br />

man die Folgen <strong>der</strong> Gebote <strong>der</strong> +political correctness* <strong>in</strong> den USA betrachtet, so kann allerd<strong>in</strong>gs nicht bestritten werden,<br />

daß die Auffassung Noelle-Neumanns e<strong>in</strong>e gewisse Plausibilität besitzt.<br />

198. Dieser begreift Öffentlichkeit, wie <strong>in</strong> Anmerkung 193 erläutert, allerd<strong>in</strong>gs ebenfalls nicht als soziales Teilsystem,<br />

son<strong>der</strong>n sieht diese vielmehr als e<strong>in</strong>e Art system<strong>in</strong>terne Umwelt an.<br />

199. Hier spielt Habermas auf die +Selektionsfunktion* bzw. die +Validierungs- und Kritikfunktion* von Öffentlichkeit<br />

an, betont also die Throughput-Seite. Kommunikation besitzt – gemäß dem kybernetischen Kommunikationsmodell<br />

von Etzioni – jedoch auch e<strong>in</strong>en Input und e<strong>in</strong>en Output. Friedhelm Neidhardt weist deshalb Öffentlichkeit auf <strong>der</strong><br />

Input-Seite zusätzlich zu ihrer +Selektionsfunktion* e<strong>in</strong>e +Transparenzfunktion* und auf <strong>der</strong> Output-Seite e<strong>in</strong>e<br />

Orientierungsfunktion zu (vgl. Öffentlichkeit, öffentliche Me<strong>in</strong>ung, soziale Bewegungen; S. 8f. sowie <strong>der</strong>s.: Jenseits des<br />

Palavers – Funktionen politischer Öffentlichkeit; S. 22–28).<br />

200. An<strong>der</strong>erseits ist es natürlich so, daß <strong>der</strong> Bezug auf Expertenwissen gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit für die <strong>Politik</strong><br />

e<strong>in</strong> wichtiges Instrument <strong>der</strong> Deflexion, also <strong>der</strong> Ablenkung von politischen Konfliktpotentialen, darstellt (siehe Abschnitt<br />

2.3). Trotzdem ist die Behauptung von Habermas richtig. Hier kommt <strong>in</strong>s Spiel, was von verschiedener Seite als<br />

Trivialisierung von Wissenschaft bezeichnet wurde (siehe S. 152).


56 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

201. Ähnlich wie Jürgen Gerhards an Luhmann anschließt (siehe Anmerkung 202), so knüpft Bernhard Peters an Habermas<br />

an und formuliert drei Grundmerkmale von Öffentlichkeit im normativen Modell. Und dazu gehört – neben ihrer<br />

Offenheit und ihrer diskursiven Struktur, die Habermas vor allem betont – eben auch Reziprozität (vgl. Der S<strong>in</strong>n von<br />

Öffentlichkeit; S. 45ff.). Alle drei Merkmale s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> unserer realen, massenmedialen Öffentlichkeit jedoch kaum verwirklicht.<br />

Zum Teil ist dies unvermeidbar, da vollständige Reziprozität und Offenheit sich <strong>in</strong> komplexen Massengesellschaften<br />

nicht verwirklichen lassen. Zum Teil kommen jedoch auch Exklusions- und Absperrungsmechanismen zum Tragen,<br />

die, wenn man am beschriebenen Modell festhalten will, durchaus abgebaut werden könnten (vgl. ebd.; S. 51–70).<br />

202. E<strong>in</strong>e (lei<strong>der</strong> kaum wirklich orig<strong>in</strong>elle) Verb<strong>in</strong>dung von Luhmannscher Systemtheorie und Handlungstheorie versucht<br />

aufgrund dieses Defizits Jürgen Gerhards (vgl. Politische Öffentlichkeit – E<strong>in</strong> system- und akteurstheoretischer Bestimmungsversuch).<br />

Dieser hat übrigens auch e<strong>in</strong>e umfangreiche empirische Studie zur Anti-IWF-Kampagne 1988 vorgelegt,<br />

wo im Theorieteil se<strong>in</strong> von Luhmann abweichendes Öffentlichkeitskonzept noch e<strong>in</strong>mal ausführlich dargelegt wird<br />

(vgl. Neue Konfliktl<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mobilisierung öffentlicher Me<strong>in</strong>ung – E<strong>in</strong>e Fallstudie).<br />

203. In se<strong>in</strong>em vor kurzem erschienen Band +Die Realität <strong>der</strong> Massenmedien* (1996) weist Luhmann zwar auch auf<br />

den Beitrag <strong>der</strong> Medien zur Realitätskonstruktion <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft h<strong>in</strong> (vgl. S. 183). Der von mir mit Bezug auf se<strong>in</strong><br />

noch unveröffentlichtes Manuskript +Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft* betonte Generierungsaspekt tritt hier jedoch gegenüber<br />

e<strong>in</strong>er bloßen +Repräsentationsfunktion* öffentlicher Me<strong>in</strong>ung zurück (vgl. ebd.; S. 188).<br />

204. Goffman hat sich mit den +Strukturen und Regeln <strong>der</strong> Interaktion im öffentlichen Raum* <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Verhalten<br />

<strong>in</strong> sozialen Situationen* (1963) ausführlich ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt. Auf se<strong>in</strong>e umfangreiche Analyse <strong>der</strong> Regeln dieser Interaktion<br />

kann hier jedoch lei<strong>der</strong> nicht e<strong>in</strong>gegangen werden.<br />

205. E<strong>in</strong>en +Darsteller*, <strong>der</strong> nicht von <strong>der</strong> eigenen Rolle überzeugt ist, nennt Goffman +zynisch* (vgl. Wir alle spielen<br />

Theater; S. 20).<br />

206. Dies trifft selbstverständlich nicht ausnahmslos zu. Auch die großen Städte des Altertums und des Mittelalters<br />

waren durch e<strong>in</strong> gewiß sehr hohes Maß an Anonymisierung im Vergleich zum dörflichen Kontext charakterisiert.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs hatte wohl auch dort die Öffentlichkeit e<strong>in</strong> weit höheres Maß an Konkretheit als unsere medienvermittelte<br />

Öffentlichkeit heute.<br />

207. Diese im Gegensatz zu Habermas stehende Feststellung (siehe S. 168) bewahrheitet sich übrigens auch, wenn<br />

man das +klassische* Modell für e<strong>in</strong>e diskursive politische Öffentlichkeit schlechth<strong>in</strong> betrachtet: Selbst die griechische<br />

Agora hat ihren Ursprung als ganz normaler Handelsplatz (vgl. z.B. Bleicken: Die athenische Demokratie; S. 128ff.<br />

o<strong>der</strong> Mumford: Die Stadt; S. 175–186). Wahrsche<strong>in</strong>lich ist es also ke<strong>in</strong> Zufall, daß das Wort +Agora* heute <strong>in</strong> Israel<br />

für e<strong>in</strong>e Währungs(unter)e<strong>in</strong>heit steht.<br />

208. Diese Kodifikation hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart ganz offenbar wie<strong>der</strong> stark abgenommen, doch deuten e<strong>in</strong>ige Autoren<br />

die aktuell zu beobachtende Informalisierung gerade als Anzeichen für e<strong>in</strong>e umso rigi<strong>der</strong>e Internalisierung, die auf<br />

<strong>der</strong> Oberfläche allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e +Liberalisierung* erlaubt (vgl. Wouters: Informalisierung und <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation).<br />

Umgekehrt hat Hans-Peter Dürr darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß <strong>der</strong> Zivilisationsprozeß, so wie ihn Elias darstellt, weitgehend<br />

fiktiven Charakter hat. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt er nämlich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em dreibändigen Werk +Der Mythos vom<br />

Zivilisationsprozeß* (1988–93) auf, daß auch schon im Mittelalter das Leben vielfach reglementiert war und ke<strong>in</strong>esfalls<br />

+weichere* Standards herrschten.<br />

209. Zur Bedeutung des mo<strong>der</strong>nen Pr<strong>in</strong>tkapitalismus im Zusammenhang <strong>der</strong> +Kreation* des bürgerlichen Nationalstaats<br />

vgl. <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e An<strong>der</strong>son: Die Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Nation.<br />

210. Hierzu (als Ergänzung) e<strong>in</strong> weiteres Zitat, das diesen Zusammenhang klar herausstellt: +Die politisch fungierende<br />

Öffentlichkeit erhält den normativen Status e<strong>in</strong>es Organs <strong>der</strong> Selbstvermittlung <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft mit e<strong>in</strong>er<br />

ihren Bedürfnissen entsprechenden Staatsgewalt. Die soziale Voraussetzung dieser ›entfalteten‹ bürgerlichen Öffentlichkeit<br />

ist e<strong>in</strong> tendenziell liberalisierter Markt, <strong>der</strong> den Verkehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> gesellschaftlichen Reproduktion soweit<br />

irgend möglich zu e<strong>in</strong>er Angelegenheit <strong>der</strong> Privatleute unter sich macht und so die Privatisierung <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Gesellschaft erst vollendet.* (Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit; S. 142)<br />

211. Habermas bemerkt hier: +Die Dialektik <strong>der</strong> bürgerlichen Öffentlichkeit, die den Aufbau des Buches bestimmt,<br />

verrät sogleich den ideologiekritischen Ansatz. Die Ideale des bürgerlichen Humanismus, die das Selbstverständnis


A: ANMERKUNGEN 57<br />

von Intimsphäre und Öffentlichkeit prägen und sich <strong>in</strong> den Schlüsselbegriffen Subjektivität und Selbstverwirklichung,<br />

rationaler Me<strong>in</strong>ungs- und Willensbildung sowie persönlicher und politischer Selbstbestimmung artikulieren, haben<br />

die Institutionen des Verfassungsstaates soweit imprägniert, daß sie als utopisches Potential über e<strong>in</strong>e Verfassungswirklichkeit,<br />

die sie zugleich dementiert, auch h<strong>in</strong>ausweisen […] Diese Denkfigur verführt freilich nicht nur zu e<strong>in</strong>er Idealisierung<br />

<strong>der</strong> bürgerlichen Öffentlichkeit […]; sie stützt sich auch […] auf geschichtsphilosophische H<strong>in</strong>tergrundannahmen,<br />

die spätestens von den zivilisatorischen Barbareien des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts wi<strong>der</strong>legt worden s<strong>in</strong>d.* (S. 33f.)<br />

212. Sennett bezeichnet damit, <strong>in</strong> Anlehnung an Tocqueville, das 18. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>in</strong>sgesamt, also +die Periode, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Handels- und Verwaltungsbürokratie heranwuchs, während gleichzeitig Feudalprivilegien noch Geltung besaßen*<br />

(Verfall und Ende des öffentlichen Lebens; S. 65).<br />

213. Für Adorno, <strong>der</strong> diesen Begriff <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en +Studien zum autoritären Charakter* (1949/50) verwendet, ist Anti-Intrazeption<br />

als die +Abwehr des Subjektiven, des Phantasievollen, des Sensiblen* (S. 144f.) e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Charakteristika für e<strong>in</strong>e Ichschwache<br />

autoritäre Persönlichkeit.<br />

214. Er zitiert dazu zum Beleg aus e<strong>in</strong>em Brief Lord Chesterfields an se<strong>in</strong>en Sohn: +Vor allem verbanne das Ich aus<br />

de<strong>in</strong>en Gesprächen! Denke niemals daran, an<strong>der</strong>e von de<strong>in</strong>en eigenen Angelegenheiten zu unterhalten! S<strong>in</strong>d sie<br />

auch für dich wichtig, so s<strong>in</strong>d sie doch für jeden an<strong>der</strong>en langweilig und albern.* (Ebd.; S. 82)<br />

215. In diesem Zusammenhang bemerkt Sennett übrigens, daß man David Riesmans These aus +Die e<strong>in</strong>same Masse*,<br />

(1950) nach <strong>der</strong> <strong>der</strong> +<strong>in</strong>nengeleitete* Charakter durch den +außengeleiteten* abgelöst worden sei, umkehren müsse.<br />

Diese Aussage entspr<strong>in</strong>gt jedoch me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach e<strong>in</strong>er Fehl<strong>in</strong>terpretation Riesmans, <strong>der</strong> unter e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>nengeleiteten<br />

Charakter nicht, wie Sennett, e<strong>in</strong>e selbstbezogene Persönlichkeit verstand, son<strong>der</strong>n vielmehr mit se<strong>in</strong>er These aussagen<br />

wollte, daß sich die Menschen zunehmend nicht mehr an ver<strong>in</strong>nerlichten Normen, son<strong>der</strong>n an ihrem sozialen Umfeld<br />

orientieren (vgl. S. 52).<br />

216. Es ist offensichtlich, daß Sennett sich hierbei primär auf den tatsächlich zu beobachtenden Verfall <strong>der</strong> Zentren<br />

<strong>der</strong> amerikanischen Großstädte bezieht, <strong>der</strong> aber nicht <strong>in</strong> gleicher Weise für europäische Städte gilt.<br />

217. Entgegen Sennett dom<strong>in</strong>iert für mich jedoch nicht e<strong>in</strong>seitig e<strong>in</strong>e Intimisierung <strong>der</strong> öffentlichen Sphäre, son<strong>der</strong>n<br />

daneben hat die Medienöffentlichkeit auch <strong>in</strong>vasiven Charakter, d.h. sie dr<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> den privaten Raum e<strong>in</strong>. Auf diesen<br />

Punkt werde ich im folgenden allerd<strong>in</strong>gs noch detaillierter e<strong>in</strong>gehen.<br />

218. Wie Habermas selbst e<strong>in</strong>räumt, gerät aus dieser Perspektive das Vorhandense<strong>in</strong> und die Wirkung <strong>der</strong> durchaus<br />

e<strong>in</strong>mal existent gewesenen proletarischen Öffentlichkeit aus dem Blickfeld. Das gilt me<strong>in</strong>es Erachtens auch für an<strong>der</strong>e<br />

Formen subbürgerlicher Öffentlichkeit. So wäre z.B. zu untersuchen, ob es nicht auch e<strong>in</strong>e spezifische kle<strong>in</strong>bürgerliche<br />

Öffentlichkeit gegeben hat. Daß Öffentlichkeit gerade während <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> +Weimarer Republik* z.B. e<strong>in</strong>e Sphäre<br />

des Klassenkampf und des Kampfs zwischen Faschisten und Kommunisten war, wird ebenso ignoriert.<br />

219. Selbst wo wir uns im tatsächlichen öffentlichen Raum bewegen und nicht auf den fiktiven öffentlichen Raum<br />

<strong>der</strong> medialen Bil<strong>der</strong>welten starren, kennen wir die Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht, denen wir auf <strong>der</strong> Straße begegnen<br />

o<strong>der</strong> mit denen wir vielleicht sogar zusammen gegen den Bau e<strong>in</strong>es neuen Kernkraftwerks demonstrieren.<br />

220. E<strong>in</strong>en historischen Überblick über die Entwicklung des Mediensystems (allerd<strong>in</strong>gs im wesentlichen konzentriert<br />

auf die Film- und Fernseh<strong>in</strong>dustrie) gibt Dieter Prokop. In se<strong>in</strong>em Band +Medien-Macht und Massen-Wirkung* (1995)<br />

unterscheidet er folgende Phasen: Bis zum ersten Weltkrieg dom<strong>in</strong>ierten angeblich kle<strong>in</strong>e Firmen und es herrschte<br />

e<strong>in</strong> Zustand freier Kreativität. 1915 bis 1930 kam es dann zur Entstehung von Medienkonzernen. Die Zeit von 1930<br />

bis 1945 war geprägt von Monopolen und e<strong>in</strong>er +Industrialisierung* des Mediensystems. 1945 bis 1960 wichen die<br />

Monopole Oligopolen (zum<strong>in</strong>dest bei Film und Fernsehen). 1960 bis 1985 entstanden Medien-Mischkonzerne und<br />

es kam zur Internationalisierung des Mediengeschäfts. Seit 1985, so Prokop, ist die Medienlandschaft durch e<strong>in</strong> globales<br />

Medienoligopol und die Konkurrenz um Software geprägt.<br />

221. Dort heißt es: +In choos<strong>in</strong>g and display<strong>in</strong>g news, editors, newsroom staff, and broadcasters play an important<br />

part <strong>in</strong> shap<strong>in</strong>g political reality. Rea<strong>der</strong>s learn not only about a given issue, but also how much importance to attach<br />

to that issue from the amount of <strong>in</strong>formation <strong>in</strong> a newsstory and its position. In reflect<strong>in</strong>g what candidates are say<strong>in</strong>g<br />

dur<strong>in</strong>g a campaign, the mass media may well determ<strong>in</strong>e the important issues – that is, the media may set the ›agenda‹<br />

of the campaign.* (S. 176)


58 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

222. In Anlehnung an Lazarsfeld, Berelson und Gaudet (vgl. Wahlen und Wähler; S. 160–164) wird häufig auch darauf<br />

h<strong>in</strong>gewiesen, daß Menschen sich nur solchen politischen Medien<strong>in</strong>halten zuwenden, die ihre bereits bestehenden<br />

Me<strong>in</strong>ungen verstärken (Konsonanz-Hypothese). Wolfgang Donsbach konnte h<strong>in</strong>gegen durch empirische Studien zeigen,<br />

daß dies (1) <strong>in</strong> bezug auf Zeitungsberichte kaum e<strong>in</strong>e Rolle spielt, da +bei <strong>der</strong> Mehrzahl <strong>der</strong> angebotenen Artikel Konsonanz<br />

o<strong>der</strong> Dissonanz gar nicht <strong>in</strong> Betracht kommt, weil <strong>der</strong> Leser zu diesen Informationen noch gar ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stellung besitzt.<br />

(2) Wird die Wirkung kognitiver Dissonanz bzw. Konsonanz durch mehrere Faktoren modifiziert bzw. ausgeschaltet.*<br />

(Medien und <strong>Politik</strong> – E<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationaler Vergleich; S. 30). Nur bei positiven Meldungen kommen Konsonanz-Mechanismen<br />

zum Tragen, nicht h<strong>in</strong>gegen bei negativen Berichten. Und auch die Plazierung entscheidet ganz wesentlich darüber,<br />

ob e<strong>in</strong> Artikel wahrgenommen wird o<strong>der</strong> nicht. Was den <strong>in</strong>ternationalen Vergleich betrifft, so läßt sich sagen, daß<br />

<strong>der</strong> Mediene<strong>in</strong>fluß auf die <strong>Politik</strong> durch Agenda-Sett<strong>in</strong>g <strong>in</strong> den USA größer zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t als <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en westlichen<br />

Demokratien, was durch das dortige Wahlsystem und e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Selbstverständnis <strong>der</strong> Journalisten (eher als Enthüller,<br />

denn als neutrale Berichterstatter) erklärt werden kann (vgl. ebd.; S. 34ff).<br />

223. Schulz weist im Rahmen se<strong>in</strong>er (mittlerweile nicht mehr ganz aktuellen) empirischen Untersuchung als e<strong>in</strong>er<br />

<strong>der</strong> ersten aus konstruktivistischer Perspektive darauf h<strong>in</strong>, daß es bei <strong>der</strong> Analyse von Nachrichten nicht darum gehen<br />

kann, das Bild, das <strong>in</strong> den Nachrichten erzeugt wird, mit +Realität* zu vergleichen und auf dieser Grundlage zu beurteilen,<br />

son<strong>der</strong>n daß es vielmehr – wegen <strong>der</strong> Unmöglichkeit <strong>der</strong> Erkenntnis von Realität – darauf ankommt, zu zeigen, welche<br />

Nachrichtenfaktoren für das selektive Bild verantwortlich s<strong>in</strong>d, das Medien notwendig zeichnen, um so zu verstehen,<br />

warum welche Wirklichkeit <strong>in</strong> den Nachrichten konstruiert wird. Er greift dabei (neben Whites Gatekeeper-Theorie,<br />

die die Journalisten als +Torwächter* über das Berichtete begreift) auch auf Lippmann zurück, <strong>der</strong> schon 1922 darauf<br />

h<strong>in</strong>wies, daß e<strong>in</strong>e Differenz zwischen Nachricht und Wahrheit besteht (vgl. Die öffentliche Me<strong>in</strong>ung; S. 243ff.) und<br />

daß selbst im +authentischen* Augenzeugenbericht e<strong>in</strong>e Verzerrung <strong>der</strong> Ereignisse aufgrund von gebildeten Stereotypen<br />

und (Eigen-)Interessen etc. erfolgt. +Was er [<strong>der</strong> Beobachter] für se<strong>in</strong>en Bericht von e<strong>in</strong>em Ereignis hält, ist zumeist<br />

<strong>in</strong> Wirklichkeit dessen Umwandlung […] E<strong>in</strong> Bericht ist das verb<strong>in</strong>dende Produkt von Kenner und Bekanntem, wobei<br />

<strong>der</strong> Beobachter stets e<strong>in</strong>e Auswahl trifft und gewöhnlich schöpferisch tätig ist.* (Ebd.; S. 61) Die neuere Debatte zur<br />

Problematik von Konstruktivismus und Realismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kommunikationswissenschaft wird <strong>in</strong> dem von Günther Bentele<br />

und Manfred Rühl herausgegebenen Band +Theorien öffentlicher Kommunikation* (1993) aufgearbeitet.<br />

224. Vgl. zur Problematik <strong>der</strong> Kriegspropaganda und zum Zusammenhang von +Medien, Krieg und <strong>Politik</strong>* <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

Beham: Kriegstrommeln.<br />

225. Vgl. z.B. Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung (Kapitel über +Kultur<strong>in</strong>dustrie, Aufklärung und Massenbetrug*).<br />

226. Stober spricht, +sofern die Nutzer, Leser und Hörer ke<strong>in</strong>e nennenswerten Alternativen […] zur Verfügung haben*,<br />

zusätzlich noch von e<strong>in</strong>er +Monopolgewalt* (Medien als vierte Gewalt; S. 29). Wäre ke<strong>in</strong> Monopol <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n<br />

gegeben, so wären aber auch die drei an<strong>der</strong>en genannten Gewalten nicht gegeben o<strong>der</strong> wirkungslos, so daß sich<br />

die Rede von <strong>der</strong> <strong>in</strong>formativen Monopolgewalt <strong>der</strong> Medien me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach erübrigt bzw. tautologisch ist.<br />

227. Der Begriff des Medien-Formats geht auf David Altheide und Robert Snow zurück. In ihrem Artikel +Toward<br />

a Theorie of Mediation* (1988) def<strong>in</strong>ieren sie: +The way media appear, or their essential form, provides a k<strong>in</strong>d of <strong>in</strong>telligence<br />

and <strong>in</strong>terpretation to specific po<strong>in</strong>ts of <strong>in</strong>formation, or content, that they present. We refer to the nature of this appearance<br />

as format […]* (S. 198f.)<br />

228. Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> +Videomalaise*-Hypothese ist die Ansicht geäußert worden, daß die entpolitisierte<br />

Darstellung <strong>in</strong> den Medien, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Fernsehen, die Entfremdung von politischen (Sach-)Fragen för<strong>der</strong>e (vgl.<br />

hierzu z.B. die bereits zitierten Ausführungen von Marc<strong>in</strong>kowski o<strong>der</strong> auch Meyer: Die Transformation des Politischen;<br />

S. 148ff.). Christa Holz-Bacher kommt allerd<strong>in</strong>gs aufgrund neuerer empirischer Daten zur E<strong>in</strong>schätzung, daß es –<br />

zum<strong>in</strong>dest für die Bundesrepublik – +ke<strong>in</strong>en Anlaß gibt, zu behaupten, die Darstellung von <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> den Medien<br />

för<strong>der</strong>e <strong>Politik</strong>verdrossenheit. Vielmehr zeigt sich immer wie<strong>der</strong> die positive Beziehung zwischen dem Konsum politisch<br />

<strong>in</strong>formieren<strong>der</strong> Medienangebote und niedriger Entfremdung [gegenüber <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>]* (Massenmedien und <strong>Politik</strong>vermittlung;<br />

S. 190). Es muß dabei jedoch auch auf den von Elisabeth Noelle-Neumann geltend gemachten E<strong>in</strong>wand h<strong>in</strong>gewiesen<br />

werden, daß nur Fernsehkonsum <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit Zeitungslektüre tatsächlich e<strong>in</strong> +positives* (sachorientiertes)<br />

<strong>Politik</strong><strong>in</strong>teresse bewirkt, während die alle<strong>in</strong>ige Nutzung des Fernsehens als <strong>in</strong>formationsmedium eher e<strong>in</strong> bloßes Interesse<br />

am Unterhaltungswert des Politischen hervorzurufen sche<strong>in</strong>t (vgl. Warum die Zeitung überleben wird; S. 94ff.).<br />

229. Meyer, <strong>der</strong> Sarc<strong>in</strong>elli vorwirft, mit se<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>weis auf die Notwendigkeit <strong>der</strong> +Symbolisierung* von <strong>Politik</strong> <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er (über)komplexen Gesellschaft, e<strong>in</strong>e zynische Haltung e<strong>in</strong>zunehmen (vgl. Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s; S. 149ff.),


A: ANMERKUNGEN 59<br />

hat <strong>in</strong> diesem Zusammenhang u.a. das Beispiel <strong>der</strong> Stürmung <strong>der</strong> Mosche von Ayodhya (Indien) durch radikale H<strong>in</strong>dus<br />

zur Illustration herangezogen (vgl. ebd.; S. 157–168). In e<strong>in</strong>er eigenen Arbeit habe ich mich im Kontext <strong>der</strong> Darstellung<br />

<strong>der</strong> historischen Genese und Entwicklung des H<strong>in</strong>du-Nationalismus selbst e<strong>in</strong>gehend mit diesem Fall befaßt (vgl. Shivas<br />

Tanz auf dem Vulkan).<br />

230. E<strong>in</strong>e (genauer differenzierende und an Beispielen belegte) Übersicht über Formen politischer Inszenierung bietet<br />

Astrid Schütz. Sie unterschiedet die drei Grundformen: +offensive Selbstdarstellung*, +defensive Selbstdarstellung*<br />

und +assertive Selbstdarstellung*, die jeweils mit e<strong>in</strong>er Reihe von verschiedenen (Sub-)Strategien umgesetzt werden<br />

(vgl. <strong>Politik</strong> o<strong>der</strong> Selbstdarstellung? – Beispiele von <strong>Politik</strong>erauftritten).<br />

231. Weitere Beispiele hierfür f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> den Bänden +Inszenierte Information* (Grewenig 1993) sowie +Das öffentliche<br />

Theater* (Arm<strong>in</strong>geon/Blum 1995).<br />

232. Zur (deflektorischen) Rolle <strong>der</strong> Experten gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit siehe S. 149–152<br />

233. <strong>Post</strong>man hat im Jahr 1985 angesichts <strong>der</strong> amerikanischen Selbstzufriedenheit, daß Orwells Schreckensvision<br />

aus +1984* nicht e<strong>in</strong>getreten ist, e<strong>in</strong>en kritischen Blick auf die +Schöne neue Welt* (Huxley) <strong>der</strong> amerikanischen Medienrealität<br />

geworfen und dabei das Resümee gezogen, daß pure Unterhaltung den politischen Diskurs aus den Medien<br />

verdrängt hat. So hat er se<strong>in</strong> provokantes Buch denn auch +Wir amüsieren uns zu Tode* genannt.<br />

234. Diese nie<strong>der</strong>ländische Organisation hat es sich zum Ziel gesetzt, e<strong>in</strong> Forum für subversive Wissenschaft im Netz<br />

zu schaffen.<br />

235. Thomas Meyer spricht hier von +symbolischer <strong>Politik</strong> von unten* (vgl. Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s; S. 185ff.).<br />

236. Der Fall des Rodney K<strong>in</strong>g – e<strong>in</strong>es Schwarzen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Los Angeles ohne ersichtlichen Grund auf offener Straße<br />

von weißen Polizisten brutal mißhandelt wurde – ist <strong>in</strong> den USA <strong>der</strong> Öffentlichkeit dadurch bekanntgeworden, daß<br />

e<strong>in</strong> Unbeteiligter die Mißhandlungen auf Video filmte. Dieses Video wurde dann im Fernsehen gezeigt und führte<br />

zur Anklage <strong>der</strong> Polizisten. Als diese jedoch (von e<strong>in</strong>em bundesstaatlichen Gericht) von <strong>der</strong> Anklage <strong>der</strong> Körperverletzung<br />

im Amt freigesprochen wurden, kam es zu Gewaltexzessen von schwarzer Seite (die sich auch gegen an<strong>der</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten<br />

richteten). In e<strong>in</strong>em zweiten (Bundesgerichts-)Verfahren kam es dann jedoch zu Verurteilungen.<br />

237. Manuel Castells spricht aufgrund ähnlicher Beobachtungen gar von e<strong>in</strong>er +Netzwerkgesellschaft* (vgl. The Rise<br />

of the Network Society).<br />

238. Das s<strong>in</strong>d massenhaft versandte e-Mails, die so groß bzw. zahlreich s<strong>in</strong>d, daß sie das +<strong>Post</strong>fach* des Adressaten<br />

unweigerlich verstopfen, <strong>der</strong> so von se<strong>in</strong>er elektronischen <strong>Post</strong> abgeschnitten ist.<br />

239. Die Internet-Adresse von +Mondo 2000* lautet: www.mondo2000.com.<br />

240. Ähnlich skeptisch argumentieren z.B. auch Heather Bromberg und ihre Mitstreiter aus <strong>der</strong> Gruppe +Interrogate<br />

the Internet* (vgl. Contradictions <strong>in</strong> Cyberspace).<br />

241. E<strong>in</strong>e Reihe von Beiträgen zu diesem Themenkomplex f<strong>in</strong>det sich auch <strong>in</strong> dem von Manfred Faßler und Wulf<br />

Halbach herausgegebenen Sammelband +Cyberspace – Geme<strong>in</strong>schaften, Virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten* (1994).<br />

242. Es handelt sich hierbei um e<strong>in</strong>en Sammelband, <strong>in</strong> dem vor allem kritische Stimmen zur neuen +Ästhetik <strong>der</strong><br />

elektronischen Medien* zu Wort kommen.<br />

243. Zur Geschichte des Internets vgl. z.B. Le<strong>in</strong>er u.a. (Internet Society): A Brief History of the Internet.<br />

244. In ihrem im Internet publizierten Papier +A Framework for Global Electronic Commerce* nennen Bill Cl<strong>in</strong>ton<br />

und Al Gore (also <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitige US-Präsident und se<strong>in</strong> Vize) aufgrund von Hochrechnungen die Zahl von +mehreren<br />

zehn Milliarden Dollar bis zur Jahrhun<strong>der</strong>twende*, und gerade auch für kle<strong>in</strong>e Unternehmen biete sich im Netz angeblich<br />

e<strong>in</strong>e Chance. Allerd<strong>in</strong>gs kann man bezüglich des kommerziellen Potentials des Internets auch skeptischer se<strong>in</strong>. Denn<br />

für e<strong>in</strong>e Geschäftsabwicklung im großen Stil fehlen <strong>der</strong>zeit standardisierte sowie vor allem sichere Zahlungsmethoden,


60 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

und da die meisten Dienste heute kostenlos angeboten werden, ist es fraglich, ob die Netzgeme<strong>in</strong>de für all die <strong>der</strong>zeit<br />

unbekümmert genutzten Angebote auch bereit se<strong>in</strong> wird, zu zahlen. Unter an<strong>der</strong>em deshalb halten viele Beobachter<br />

die Euphorie, mit <strong>der</strong> Aktien von jungen Internet-Unternehmen gehandelt werden, für übertrieben. E<strong>in</strong> gutes Beispiel<br />

ist hier die Firma +Yahoo*, die e<strong>in</strong>en sehr populären (ebenfalls kostenlosen) Dienst zur Indizierung von Netz-Inhalten<br />

offeriert und sich überwiegend mittels Werbung auf ihren Seiten f<strong>in</strong>anziert. Noch im Jahr vor dem Börsengang machte<br />

die 1994 von zwei Studenten gegründete Firma – bei e<strong>in</strong>em Umsatz von nur 1,36 Mio. US-Dollar – sogar 600.000<br />

Dollar Verlust und verfügt außer ihrem +know how* über ke<strong>in</strong>e nennenswerten Aktiva. Auch dieses schlechte Ergebnis<br />

schreckte die Wall-Street-Spekulanten nicht, so daß das junge Unternehmen bei Börsenschluß am Tag <strong>der</strong> Aktiene<strong>in</strong>führung<br />

e<strong>in</strong>en Nom<strong>in</strong>alwert von unfaßbaren 848 Millionen Dollar hatte (vgl. Onl<strong>in</strong>e aktuell; Heft 8/1996, S. 13). Daneben<br />

gilt es zu bedenken, daß die Rechtslage für elektronische Geschäftsabwicklungen noch weitgehend ungeklärt ist (vgl.<br />

hierzu auch Halehmi/Hommel/Avital: Electronic Commerce – Deficiencies and Risks sowie <strong>in</strong> umfassen<strong>der</strong> Darstellung<br />

Rosenoer: CyberLaw).<br />

245. Bredekamp malt hier das düstere Bild e<strong>in</strong>er staatlich total kontrollierten Netzwelt, die den aktuellen +vorzivilisatorischen<br />

Bürgerkrieg*, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Foren stattf<strong>in</strong>det, beendet. Richtig ist: Das Netz wird sicher niemals <strong>der</strong> Hort<br />

absoluter Freiheit se<strong>in</strong>, da schon <strong>der</strong> Zugang an e<strong>in</strong>en Ressourcenbesitz gekoppelt ist. Ich halte aber auch die<br />

entgegengesetzte Zukunftsvorstellung e<strong>in</strong>er totalitären Netzwelt für abwegig, da die Struktur des Netzes, so wie es<br />

aktuell aufgebaut ist, e<strong>in</strong>e umfassende staatliche Kontrolle schon technisch unmöglich macht. Genau dar<strong>in</strong> liegt die<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung des Internets für autokratisch-autoritäre Systeme wie <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a und im Iran.<br />

246. Es muß allerd<strong>in</strong>gs diesbezüglich angemerkt werden, daß Simmel mit Inhalten weniger soziale Werte und Normen<br />

als persönliche Interessen, Neigungen und psychische Bef<strong>in</strong>dlichkeiten etc. me<strong>in</strong>t, die erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wechselwirkung<br />

<strong>der</strong> Individuen Gesellschaftlichkeit herstellten, sich e<strong>in</strong>e soziale Form geben (vgl. Soziologie; S. 5).<br />

247. In dem Band +Consumer Culture and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism* (1991) wie analog <strong>in</strong> dem Artikel +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism and<br />

the Aesthetization of Everyday Life* (1992) argumentiert Featherstone, daß e<strong>in</strong>e Ästhetisierung des Alltagslebens zwar<br />

nicht orig<strong>in</strong>är für die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist, son<strong>der</strong>n z.B. auch bereits <strong>in</strong> den Großstädten des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts anzutreffen<br />

war. Als +life-style*-orientierte Konsumkultur des expandierenden Kle<strong>in</strong>bürgertums ist sie für ihn jedoch durchaus<br />

e<strong>in</strong>e (für die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne) typische Zeitersche<strong>in</strong>ung.<br />

248. Dieser Begriff ist bei Giehle, die versucht, das politische Potential ästhetischer Strategien <strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

mit Lyotard für die <strong>Politik</strong> auszuleuchten, allerd<strong>in</strong>gs nicht negativ konnotiert.<br />

249. Genau entgegengesetzt sieht es allerd<strong>in</strong>gs Scott Lash. Für ihn bedeutet <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nisierung e<strong>in</strong>en Entdifferenzierungsprozeß<br />

(im Gegensatz zu Mo<strong>der</strong>nisierung als Differenzierungsprozeß). Dabei knüpft er genau an die oben dargestellte<br />

kritische Argumentation an, welche die kulturelle <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als (anti-avantgardistische) Entgrenzung von Populärund<br />

Hochkultur, von Kunst und Kommerz ansieht. Damit kommt es nach Lash vor allem zu e<strong>in</strong>er Restabilisierung<br />

<strong>der</strong> bürgerlichen Identität, die durch den avantgardistischen Impuls <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne herausgefor<strong>der</strong>t worden war (vgl.<br />

Sociology of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism; S. 15–30).<br />

250. E<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressanter Versuch zur Integration von Webers Ansatz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e transformierte Klassentheorie, die vor allem<br />

die e<strong>in</strong>fache Gegenüberstellung von Proletariat und Kapital überw<strong>in</strong>det, ist unter an<strong>der</strong>em von Anthony Giddens<br />

mit se<strong>in</strong>em Ansatz <strong>der</strong> Klassenstrukturierung unternommen worden (siehe dazu nochmals Anmerkung 114). Auch<br />

Erik O. Wright hat sich dem Problem <strong>der</strong> +Mittellagen* im Rahmen se<strong>in</strong>er neomarxistisch orientierten Klassentheorie<br />

gestellt. Wright geht davon aus, daß die Klassenzugehörigkeit nicht alle<strong>in</strong>e über den Besitz o<strong>der</strong> Nicht-Besitz von<br />

Produktionsmitteln (bzw. Grundeigentum) bestimmt werden kann, wie die +klassische* Def<strong>in</strong>ition lautet (vgl. Marx:<br />

Das Kapital; Kap. 52), son<strong>der</strong>n er bezieht auch Befugnisse im Rahmen des Produktionsprozesses zur Bestimmung<br />

des Klassenstatus mit e<strong>in</strong> (d.h. er fragt danach, wer die Kontrolle über Arbeit, Masch<strong>in</strong>en und Investitionen besitzt).<br />

Durch diesen +Trick* ist das Kle<strong>in</strong>bürgertum, das zwar über e<strong>in</strong> gewisses Geld- und Sachkapital, nicht aber über die<br />

angesprochene Kontrollmacht verfügt, sowohl von <strong>der</strong> +omnipotenten* Kapitalistenklasse wie auch von den weitgehend<br />

eigentumslosen, jedoch <strong>in</strong> gewissem Umfang durchaus kontrollbefugten Angestellten und dem Proletariat, das nichts<br />

von alledem besitzt, abgrenzbar (vgl. Varieties of Marxist Conceptions of Class Structure). In dem Band +Classes* (1985)<br />

wird dieses Modell von Wright nochmals ergänzt, so daß sich nach ihm nunmehr vier Dimensionen <strong>der</strong> Klassenstrukturierung<br />

ergeben: Kontrolle über Arbeitskraft, über Produktionsmittel, über Organisationen und (<strong>in</strong> Analogie<br />

zu Giddens) persönliche Fertigkeiten (vgl. S. 82ff.).


A: ANMERKUNGEN 61<br />

251. Lepsius erläutert: +Der Begriff <strong>der</strong> ›sozialmoralischen Milieus‹ hat gegenüber dem Klassenbegriff den Vorteil e<strong>in</strong>es<br />

explizit weiter gesteckten Bezugsrahmens. Ich verwende ihn hier als Bezeichnung für soziale E<strong>in</strong>heiten, die durch<br />

e<strong>in</strong>e Ko<strong>in</strong>zidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle<br />

Orientierungen, schichtspezifische Zusammensetzung <strong>der</strong> <strong>in</strong>termediären Gruppen gebildet werden. Das Milieu ist<br />

e<strong>in</strong> sozio-kulturelles Gebilde, das durch e<strong>in</strong>e spezifische Zuordnung solcher Dimensionen auf e<strong>in</strong>en bestimmten<br />

Bevölkerungsteil bestimmt wird.* (Parteiensystem und Sozialstruktur; S. 68)<br />

252. Welzmüller beizieht sich nur auf die 80er Jahre und kommt hier zu dem Ergebnis, daß die Reallöhne von 1980<br />

bis 1988 nur um 1% stiegen, während die Nettogew<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Unternehmen im gleichen Zeitraum um 139% stiegen.<br />

Selbständigenhaushalte hatten 1980 im Durchschnitt 2,8 mal mehr Geld zur Verfügung als Arbeitnehmerhaushalte.<br />

1989 verfügten sie schon über das 3,7fache E<strong>in</strong>kommen (vgl. Differenzierung und Polarisierung; S. 1479f.). Dieser<br />

Trend gilt ungebrochen auch für die 90er Jahre. 1993 und 1994 sanken die Reallöhne sogar um 2,5 bzw. 3,1% (vgl.<br />

Auf dem Weg <strong>in</strong> die halbierte Gesellschaft – E<strong>in</strong>kommensverteilung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik).<br />

253. Hier handelt es sich um e<strong>in</strong>en Sammelband, <strong>der</strong> das Thema von verschiedenen Seiten her beleuchtet.<br />

254. Hradil selbst sieht <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Milieukonzept, das die soziale Lage (als Bündel +objektiver* Faktoren<br />

wie Geld, formale Bildung, berufliches Prestige etc.) <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit Lebensstilmustern und an<strong>der</strong>en eher subjektiven<br />

Faktoren br<strong>in</strong>gt, e<strong>in</strong>e Chance für e<strong>in</strong>e differenziertere Sozialstrukturanalyse fortgeschrittener Gesellschaften (vgl.<br />

Sozialstrukturanalyse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fortgeschrittenen Gesellschaft; Kap. 4).<br />

255. Geißler spricht angesichts <strong>der</strong> Transformation <strong>der</strong> fortgeschrittenen Industriegesellschaften zu post<strong>in</strong>dustriellen<br />

Gesellschaften vone<strong>in</strong>erEntökonomisierung <strong>der</strong> Schichten (bei e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Bedeutungssteigerung <strong>der</strong> Bildungsdimension).<br />

Allerd<strong>in</strong>gs sei diese Entwicklung nicht gleichbedeutend mit e<strong>in</strong>er Auflösung <strong>der</strong> Schichten. Vielmehr zeige<br />

sich e<strong>in</strong>e Entwicklung von e<strong>in</strong>er Oberflächen- zur Tiefenschichtung, d.h. die Schichtgrenzen s<strong>in</strong>d weniger leicht<br />

wahrnehmbar, aber trotzdem vorhanden und haben auch E<strong>in</strong>fluß auf die Lebenschancen <strong>der</strong> Menschen. (Vgl. Schichten<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft; <strong>in</strong>sb. S. 91–99)<br />

256. Vgl. hierzu auch Kreckel: Politische Soziologie <strong>der</strong> sozialen Ungleichheit.<br />

257. Vgl. hierzu auch den Sammelband +Riskante Freiheiten* (Beck/Beck-Gernsheim 1994), <strong>in</strong> dem sich ebenso <strong>der</strong><br />

unten zitierte Aufsatz von Heitmeyer f<strong>in</strong>det. Im e<strong>in</strong>leitenden Beitrag <strong>der</strong> beiden Herausgeber bemerken diese <strong>in</strong> Anlehnung<br />

an Sartre: +Die Menschen s<strong>in</strong>d zur Individualisierung verdammt. Individualisierung ist e<strong>in</strong> Zwang, e<strong>in</strong> paradoxer Zwang<br />

allerd<strong>in</strong>gs, zur Herstellung, Selbstgestaltung, Selbst<strong>in</strong>szenierung nicht nur <strong>der</strong> eigenen Biographie, son<strong>der</strong>n auch ihrer<br />

E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dungen <strong>in</strong> Netzwerke, und dies im Wechsel <strong>der</strong> Präferenzen und Lebensphasen und unter dauern<strong>der</strong> Abstimmung<br />

mit an<strong>der</strong>en und den Vorgaben von Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Wohlfahrtsstaat usw.* (S. 14)<br />

258. In <strong>der</strong> zweibändigen Anthologie +Bundesrepublik Deutschland – Auf dem Weg von <strong>der</strong> Konsens- zur Konfliktgesellschaft*<br />

(1997) wird das Des<strong>in</strong>tegrations-Argument des Herausgebers Heitmeyer, das als Gegenposition zu Becks eher optimistischer<br />

Sicht des Individualisierungsprozesses gesehen werden kann, von verschiedenen Seiten her und auch anhand von<br />

empirischen Fallbeispielen beleuchtet.<br />

259. Ich gehe auf den dialektischen Prozeß <strong>der</strong> kulturellen Globalisierung – die z.B. mit globalisierten +Ideoscapes*<br />

(d.h. weltumspannenden Ideen wie +persönlicher Freiheit*) natürlich auch das <strong>in</strong>dividuelle Leben erfaßt, an<strong>der</strong>erseits<br />

aber immer e<strong>in</strong>e lokale (und <strong>in</strong>dividuelle) Anpassung dieser von an<strong>der</strong>en globalen kulturellen Flüssen (wie Medienbil<strong>der</strong>n<br />

o<strong>der</strong> Technologien) zunehmend abgespaltenen +Vorstellungswelten* mit sich br<strong>in</strong>gt – erst an späterer Stelle näher<br />

e<strong>in</strong> (siehe S. 263f.), da ich mich hier auf den <strong>in</strong> den fortgeschrittenen Industriestaaten vor allem durch ökonomische<br />

Prozesse selbst <strong>in</strong>itiierten Wertewandel konzentrieren möchte.<br />

260. Diese neue Sozialmoral ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e lebendig im Leben <strong>der</strong> +K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit* (so auch <strong>der</strong> <strong>in</strong> Anlehnung<br />

an Helen Wilk<strong>in</strong>son gewählte Titel e<strong>in</strong>es von Beck herausgegebenen Sammelbands), jener +moralischen Generation*<br />

(Dettl<strong>in</strong>g), die unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft sozialisiert wurde und weit weniger egoistisch<br />

und +werteverfallen* ist, als es konservative Kommentatoren so gerne behaupten.<br />

261. Der hier zitierte Text ist Bestandteil <strong>der</strong> Dokumentation zur gleichnamigen Ausstellung, die 1995 im Gebäude<br />

<strong>der</strong> +Münchner Rück* zu sehen war, <strong>in</strong> <strong>der</strong> (bildliche und textliche) Portraits +<strong>in</strong>dividualisierter* Lebensverläufe<br />

zusammengetragen s<strong>in</strong>d.


62 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

262. Zur Messung verwendete Inglehart e<strong>in</strong>en relativ knappen Fragebogen mit 4 bzw. <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Langversion* mit 12<br />

Items (vgl. Kultureller Umbruch; S. 101).<br />

263. Inglehart erhob bei dieser ersten Welle nur Daten <strong>in</strong> Großbritannien, Frankreich, <strong>der</strong> Bundesrepublik, Italien,<br />

Belgien und den Nie<strong>der</strong>landen. Später weite er se<strong>in</strong>e Studie auf 22 (ab 1981) bzw. 43 (ab 1990) Staaten aus.<br />

264. Dieser Trend wird auch durch die neuesten Daten Ingleharts bestätigt (vgl. Mo<strong>der</strong>nization and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nization).<br />

Ich habe mich im folgenden nicht auf diese aktuelle Veröffentlichung bezogen, da sie mir erst nach Abschluß <strong>der</strong><br />

Ausarbeitung dieses Abschnitts zugänglich wurde und ke<strong>in</strong>e wesentlichen Än<strong>der</strong>ungen an Konzept und Befunden<br />

(bis auf e<strong>in</strong>e Ausweitung <strong>der</strong> Studie auch auf Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> +Dritten Welt* und Osteuropa) festzustellen s<strong>in</strong>d, die es<br />

unabwendbar gemacht hätten, e<strong>in</strong> +Update* vorzunehmen. Zudem bezieht sich Klages mit se<strong>in</strong>en Anfang <strong>der</strong> 90er<br />

Jahre vorgebrachten wichtigen Relativierungen (siehe unten) natürlich auch auf Ingleharts +alte* Daten.<br />

265. Lei<strong>der</strong> gibt Inglehart ke<strong>in</strong>e exakten Prozentzahlen an. Se<strong>in</strong>e graphische Darstellung vermittelt jedoch das klare<br />

Bild e<strong>in</strong>er +Schere*.<br />

266. Kurz gesagt: +Im Jahr 1973 überwogen die materialistischen Ziele die postmaterialistischen im Verhältnis zwei<br />

zu e<strong>in</strong>s, 1988 nur noch im Verhältnis 1,5 zu e<strong>in</strong>s.* (Kultureller Umbruch; S. 129)<br />

267. Diese Aussage Ingleharts, welche den Wertewandel auch mit dem Aufkommen neuer sozialer Bewegungen<br />

<strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung br<strong>in</strong>gt (siehe unten), steht übrigens genau konträr zu Agnes Hellers Position, für die die politischen<br />

Bewegungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ihren generativen Charakter und damit auch ihre scharfen Umrisse verloren haben:<br />

+<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism is a wave with<strong>in</strong> which all k<strong>in</strong>ds of movements, artistic, political and cultural, are possible.* (Existentialism,<br />

Alienation, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism – Cultural Movements as Vehicles of Change <strong>in</strong> the Patterns of Everyday Life; S. 8)<br />

268. Inglehart betont jedoch, daß es sich hier nicht um e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>s<strong>in</strong>nige Verknüpfung handelt, +denn die Werte reflektieren<br />

das subjektive Empf<strong>in</strong>den von Sicherheit und nicht die objektive wirtschaftliche Situation* (Kultureller Umbruch; S.<br />

93). An<strong>der</strong>erseits ist dieses subjektive Empf<strong>in</strong>den vermutlich nicht völlig losgelöst von den +objektiven* Gegebenheiten.<br />

269. In diesem Zusammenhang spricht Jürgen Gerhards von +Neue[n] Konfliktl<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mobilisierung öffentlicher<br />

Me<strong>in</strong>ung* (1993). Er will dabei e<strong>in</strong>e +triadische Struktur* erkennen, wobei e<strong>in</strong>e postmaterialistische L<strong>in</strong>ke (neue <strong>Politik</strong>)<br />

<strong>der</strong> materialistischen L<strong>in</strong>ken wie <strong>der</strong> materialistischen Rechten (alte <strong>Politik</strong>) gegenübersteht (vgl. Abb. 5, S. 47). Warum<br />

es allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e postmaterialistische Rechte geben soll, bleibt ungeklärt. Die hier zitierten Ausführungen von Mayer-Tasch<br />

und Koslowski (siehe S. 201) belegen me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach, daß es e<strong>in</strong>e solche durchaus gibt.<br />

270. Ingleharts Daten zeigen, daß z.B. die Unterstützung für die Friedens- und die Umweltbewegung unter +<strong>Post</strong>materialisten*<br />

deutlich höher ist, als unter +Materialisten* (vgl. Kultureller Umbruch; Tab. 11.2 u. 11.4, S. 473 bzw. S. 475).<br />

271. Der Begriff +politische Kultur* geht auf die amerikanischen <strong>Politik</strong>wissenschaftler Gabriel Almond und Sidney<br />

Verba zurück. Diese def<strong>in</strong>ieren im Rahmen ihres Anfang <strong>der</strong> 60er Jahre angestellten empirischen Vergleichs von fünf<br />

Demokratien (USA, Großbritannien, Deutschland, Italien und Mexiko) politische Kultur als Bündel <strong>der</strong> politischen<br />

Orientierungen – untersucht wurde also die E<strong>in</strong>stellung <strong>der</strong> Bürger gegenüber dem politischen System sowie die Sicht<br />

<strong>der</strong> eigenen Rolle im System (vgl. The Civic Culture; S. 13). Dabei mag es kaum verwun<strong>der</strong>n, daß <strong>der</strong> Typus <strong>der</strong> politischen<br />

Kultur, wie er nach Almond und Verba <strong>in</strong> den angelsächsischen Län<strong>der</strong>n überwiegend vorherrschend ist, als günstigste<br />

Grundlage für stabile demokratische Strukturen gefeiert wird, da die dort angeblich anzutreffende +zivile Kultur* mit<br />

ihrer +gesunden* Mischung aus Partizipationsbestreben und abwarten<strong>der</strong> Gelassenheit am besten zu e<strong>in</strong>er +mo<strong>der</strong>nen*<br />

repräsentativen Demokratie passe (vgl. ebd.; S. 473ff.).<br />

272. Klages me<strong>in</strong>t jedoch, daß man treffen<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>em Wandel von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswerten<br />

sprechen sollte, da das von Inglehart gewählte Begriffspaar materialistisch–postmaterialistisch für<br />

ihn zu e<strong>in</strong>seitig die ökonomische Dimension betont (vgl. Werteorientierungen im Wandel; S. 24f.).<br />

273. Klages nennt als wichtigste Voraussetzung für die als Zukunftsentwicklung von ihm wohl favorisierte Wertesynthese<br />

e<strong>in</strong>e +<strong>in</strong>takte* Gesellschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die funktional getrennten Subsysteme im Interesse des Ganzen zusammenwirken.


A: ANMERKUNGEN 63<br />

274. Berthold Flaig, Geschäftsführer des S<strong>in</strong>us-Instituts <strong>in</strong> Heidelberg, und Jörg Ueltzhöffer haben dieses Milieumodell<br />

entwickelt. Im zitierten Band, den sie zusammen mit Thomas Meyer verfaßt haben, geht es den Autoren um die +ästhetische<br />

Dimension politischer Bildung und politischer Kommunikation*, wobei auch die Unterschiede <strong>in</strong> <strong>der</strong> Milieu-Struktur<br />

zwischen Ost und West nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>igung (die ich hier vernachlässigt habe) <strong>in</strong>s Blickfeld rücken.<br />

275. E<strong>in</strong>e genaue Charakterisierung dieser neun Milieus, die ich mir wegen <strong>der</strong> weitgehend selbsterklärenden Term<strong>in</strong>ologie<br />

hier gespart habe, kann bei Flaig, Meyer und Ueltzhöffer auf den Seiten 59–69 nachgelesen werden.<br />

276. Im Orig<strong>in</strong>al wird hier zwar e<strong>in</strong>e genauere Differenzierung mit fünf Schichtungs- und Werteorientierungskategorien<br />

vorgenommen, doch, wie gesagt, grob läßt sich das SINUS-Modell so darstellen (vgl. auch Vester et al.: Soziale Milieus<br />

im gesellschaftlichen Strukturwandel; S. 22ff.).<br />

277. Zur Ökologiebewegung wurden <strong>in</strong> Abschnitt 2.3 bereits e<strong>in</strong>ige (kritische) Bemerkungen gemacht, auf die ich<br />

an dieser Stelle nochmals verweisen möchte.<br />

278. E<strong>in</strong>en guten allgeme<strong>in</strong>en, zur E<strong>in</strong>führung geeigneten Überblick zum Phänomen <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen<br />

und <strong>der</strong> mit ihnen verbundenden Transformation <strong>der</strong> politischen Kultur gibt Alan Scott <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag +Political<br />

Culture and Social Movements* <strong>in</strong> dem Band +Political and Economic Forms of Mo<strong>der</strong>nity* (Allen/Braham/Lewis 1993).<br />

279. Gramsci betont hier die Bedeutung <strong>der</strong> Kultur gegenüber <strong>der</strong> e<strong>in</strong>seitigen Fixierung auf die Praxis, denn nur durch<br />

e<strong>in</strong> kulturelles Bewußtse<strong>in</strong> kann die Basis für e<strong>in</strong>e revolutionäre Bewegung geschaffen werden: +Kultur […] ist Gew<strong>in</strong>nen<br />

e<strong>in</strong>es höheren Bewußtse<strong>in</strong>s, durch das man den eigenen historischen Wert, die eigene Funktion im Leben, die eigenen<br />

Rechte und Pflichten zu begreifen vermag […] je<strong>der</strong> Revolution g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive kritische Arbeit <strong>der</strong> geistigen<br />

Durchdr<strong>in</strong>gung, <strong>der</strong> Ausstrahlung von Ideen auf Menschengruppierungen voraus […]* (Sozialismus und Kultur; S. 8f.)<br />

280. Entgegen dem +funktionalistischen Paradigma* (Moscovici zählt dazu sogar die Psychoanalyse) ist nicht immer<br />

nur e<strong>in</strong> sozialer Anpassungsdruck an die Mehrheit festzustellen. Als Gegenpol zu dieser +asymmetrischen* Sicht schlägt<br />

Moscovici e<strong>in</strong>e +symmetrische* Interpretation sozialer Beziehungen vor, und gerade im Prozeß des sozialen Wandels<br />

spielen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten e<strong>in</strong>e em<strong>in</strong>ent wichtige Rolle. Diese können Wandel bewirken, da sie mittels <strong>der</strong> Thematisierung<br />

ihrer Ziele und Wünsche und über ihr Konfliktpotential soziale Innovation <strong>in</strong> Gang setzten.<br />

281. So lautet <strong>der</strong> Titel sowohl des Sammelbands, dem <strong>der</strong> oben zitierte Artikel entnommen wurde, wie auch e<strong>in</strong>es<br />

Beitrags von Guggenberger.<br />

282. DieseArgumentationsfigur von Giddensweist übrigens e<strong>in</strong>e erstaunlicheÜbere<strong>in</strong>stimmung mit <strong>der</strong> oben dargestellten<br />

Position von Laclau und Mouffe auf, die aber von Giddens nicht als Referenz genannt werden.<br />

283. Almond und Verba verstehen unter e<strong>in</strong>er +zivilen Kultur* e<strong>in</strong>e aktive, partizipatorische (doch das System grundsätzlich<br />

bejahende) politische Kultur, von <strong>der</strong> sie e<strong>in</strong>e passive Untertanenkultur abgrenzen (siehe auch Anmerkung 271).<br />

284. Es handelt sich bei diesem <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Sozialen Welt* veröffentlichten Text um das Redemanuskript e<strong>in</strong>es Vortrags<br />

Toura<strong>in</strong>es, den er auf dem Soziologentag <strong>in</strong> Bamberg 1983 gehalten hat.<br />

285. Für Joachim Raschke greift diese von Toura<strong>in</strong>e, Blumer und vielen an<strong>der</strong>en gleichermaßen getroffene Bestimmung<br />

allerd<strong>in</strong>gs zu kurz. Er def<strong>in</strong>iert den Begriff +soziale Bewegung* folgen<strong>der</strong>maßen: E<strong>in</strong>e +soziale Bewegung ist e<strong>in</strong> kollektiver<br />

Akteur, <strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>er gewissen Kont<strong>in</strong>uität auf <strong>der</strong> Grundlage hoher symbolischer Integration und ger<strong>in</strong>ger Rollenspezifikation<br />

mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegen<strong>der</strong>en sozialen Wandel herbeizuführen,<br />

zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n o<strong>der</strong> rückgängig zu machen* (Zum Begriff <strong>der</strong> sozialen Bewegung; S. 21), wobei sich neue soziale Bewegungen<br />

im Gegensatz zu den sozialen Bewegungen <strong>der</strong> Vergangenheit eher +themenspezifisch* als +richtungsspezifisch* differenzieren<br />

lassen (vgl. ebd.; S. 25). Raschke me<strong>in</strong>t damit, daß sich <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen zwar<br />

+l<strong>in</strong>ke* und +rechte* Positionen ausmachen lassen, diese aber nicht als Grundlage <strong>der</strong> Differenzierung <strong>in</strong> Teilbewegungen<br />

dienen können. Dafür s<strong>in</strong>d eher thematische Gesichtspunkte geeignet: Ökologie, Atomenergie, Frauen, Frieden etc.<br />

Innerhalb <strong>der</strong> Arbeiterbewegung ließ sich z.B. dagegen noch sehr wohl nach katholischen, sozialdemokratischen,<br />

kommunistischen und anarchistischen Teilbewegungen unterscheiden.


64 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

286. Blumers Text ist bereits Ende <strong>der</strong> 30er Jahre entstanden, so daß er schon aufgrund des damaligen Fehlens +neuer*<br />

sozialer Bewegungen nicht von diesen handeln konnte.<br />

287. Als aktuelles Beispiel könnte wohl vor allem die Techno-Bewegung dienen (vgl. z.B. Hitzler/Pfadenhauer: ›Let<br />

your body take control!‹). Allerd<strong>in</strong>gs kann man auch hier gewisse subpolitische Momente ausmachen (vgl. Dies.:<br />

Konsequenzen <strong>der</strong> Entgrenzung des Politischen – Existentielle Strategien am Beispiel ›Techno‹).<br />

288. Dazu Rucht: +Die <strong>in</strong>strumentelle Logik ist zukunftsorientiert. Sie betont den Vorrang <strong>der</strong> Zielerreichung und<br />

damit Fragen des zweckrationalen Mittele<strong>in</strong>satzes […] Die expressive Logik ist gegenwartsorientiert. Sie betont den<br />

Vorrang von unmittelbarer, authentischer Aktion als Ausdruck e<strong>in</strong>er situativen Stimmungs- o<strong>der</strong> Krisenlage. Die angestrebten<br />

Ziele werden <strong>in</strong> E<strong>in</strong>heit mit <strong>der</strong> Mittelwahl gesehen, ja <strong>der</strong> Weg selbst kann als Ziel deklariert werden.* (Mo<strong>der</strong>nisierung<br />

und neue soziale Bewegungen; S. 83)<br />

289. Hier f<strong>in</strong>det sich auch (anhand von diversen Fallbeispielen) e<strong>in</strong> ausführlicher Vergleich von neuen sozialen Bewegungen<br />

<strong>in</strong> Deutschland, Frankreich und den USA. E<strong>in</strong>ige <strong>in</strong>teressante Studien, die <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch die Öffentlichkeitswirkung<br />

von (neuen) sozialen Bewegungen beleuchten, können dagegen dem von Friedhelm Neidhardt herausgegeben Son<strong>der</strong>band<br />

34 <strong>der</strong> +Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie* (Öffentlichkeit, öffentliche Me<strong>in</strong>ung, soziale Bewegungen)<br />

entnommen werden. Aus Platzgründen kann ich lei<strong>der</strong> selbst nicht näher auf e<strong>in</strong>zelne Beispiele e<strong>in</strong>gehen.<br />

290. Tilly betont, daß die sozialen Bewegungen im Zuge des nationalistischen Projekts im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t entstanden<br />

s<strong>in</strong>d und spricht auch aufgrund <strong>der</strong> für soziale Bewegungen typischen Herausfor<strong>der</strong>ung (national)staatlicher Autoritäten<br />

von +nationalen sozialen Bewegungen* – was se<strong>in</strong>es Erachtens ebenso für die neuen sozialen Bewegungen zutrifft.<br />

291. Die hier implizit angesprochene diagnostische Wirkung von (neuen) sozialen Bewegungen, welche, wenn ihre<br />

Diagnosen ernst genommen würden, e<strong>in</strong>en wichtigen (doch zumeist ungewollten) Beitrag für die Stabilisierung des<br />

Systems leisten könnten, <strong>in</strong>dem sie es auf se<strong>in</strong>e Schwächen h<strong>in</strong>weisen und so Verbesserungsimpulse geben, wird<br />

me<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>druck nach von <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> kaum +genutzt*. Man läßt sich nur auf oberflächlicher Ebene<br />

auf die Botschaften neuer sozialer Bewegungen e<strong>in</strong>, anstatt sie ernst zu nehmen.


A: ANMERKUNGEN 65<br />

KAPITEL 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT<br />

1. Luttwak spricht im Zusammenhang von Globalisierung und dem Aufstieg <strong>der</strong> asiatischen NICs von e<strong>in</strong>em neuen<br />

Kampf um die <strong>in</strong>dustrielle Vormachtstellung (vgl. Weltwirtschaftskrieg; Kap. 1). Bei se<strong>in</strong>er eher oberflächlich-plakativen<br />

Analyse geht es ihm primär darum, herauszuf<strong>in</strong>den, was dagegen getan werden kann, daß die USA (wie von ihm<br />

befürchtet) zu e<strong>in</strong>em Dritte-Welt-Land degenerieren.<br />

2. Arbeitsplätze s<strong>in</strong>d deshalb so zentral, weil gerade <strong>der</strong> Kampf um das <strong>in</strong>ternationale Investitionskapital zu Steuerzugeständnissen<br />

zw<strong>in</strong>gt, so daß Steuere<strong>in</strong>nahmen fast nur noch aus <strong>der</strong> Besteuerung <strong>der</strong> Arbeitnehmere<strong>in</strong>kommen<br />

fließen (siehe dazu auch S. 219).<br />

3. Es war Marcos’ Hilferuf und Informationspolitik über das Internet, die die Weltöffentlichkeit erstmals auf den Konflikt<br />

<strong>in</strong> Chiapas, <strong>der</strong> 1994/95 zu e<strong>in</strong>em Aufstand <strong>der</strong> dortigen Bevölkerung gegen die mexikanische Zentralregierung führte,<br />

aufmerksam machte.<br />

4. Bienefeld argumentiert <strong>in</strong> diesem im +Socialist Register 1994* veröffentlichten Artikel (ganz orthodox-sozialistisch)<br />

mit <strong>der</strong> Ineffizienz und Instabilität e<strong>in</strong>es ungeregelten Kapitalismus, und wie McEwan (ebenda und ebenso orthodoxsozialistisch)<br />

aufweist, ist beson<strong>der</strong>s die Produktion von Ungleichheit, die mit dem aktuellen Globalisierungsprozeß<br />

verbunden ist (siehe auch S. 82–89), kontraproduktiv für weiteres Wachstum, da sie die Absatzmöglichkeiten schwächt<br />

(vgl. Globalisation and Stagnation; S. 134ff.).<br />

5. Dallemagne legt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift, die aus den 70er Jahren stammt, dar, daß <strong>in</strong>terventionistische <strong>Politik</strong> durch die<br />

Internationalisierungsprozesse vor e<strong>in</strong>em großen Problem steht. Denn diese beseitigen die Asymmetrien des <strong>in</strong>ternationalen<br />

Handels, die die Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> kapitalistischen Produktion auf nationaler Ebene lange Zeit überdecken konnten.<br />

6. Das Argument von den sozialen Kosten, die die <strong>in</strong>dividuelle Nutzenmaximierung aufbürdet, ist unmittelbar e<strong>in</strong>leuchtend:<br />

Die Automobil<strong>in</strong>dustrie will Autos verkaufen und die durch Werbung kaufwillig gemachten +freien* Bürger for<strong>der</strong>n<br />

+freie Fahrt!*. Die Infrastruktur dazu muß aber vom Staat bereitgestellt werden – zu Lasten an<strong>der</strong>er Aufgaben und<br />

von den ökologischen Folgekosten (die natürlich alle geme<strong>in</strong>schaftlich zu tragen haben) ganz abgesehen (vgl. auch<br />

Soziale Grenzen des Wachstums; S. 156). Der Kapitalismus ist also nur bei <strong>der</strong> Produktion materieller Güter effizient,<br />

nicht aber, wenn es um soziale Güter (wie Gesundheit o<strong>der</strong> E<strong>in</strong>kommensgerechtigkeit etc.) geht (vgl. ebd.; S. 223f.).<br />

Die an<strong>der</strong>e Seite <strong>der</strong> sozialen Grenzen des Wachstums liegt, was weniger offen zutage tritt, im Wachstum <strong>der</strong> Ungleichheit.<br />

Denn <strong>in</strong> den westlichen Industriestaaten hat sich, worauf im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Individualisierungsthese <strong>in</strong> Abschnitt<br />

2.5 e<strong>in</strong>gegangen wurde, das Wohlstandsniveau drastisch erhöht. Diese Erhöhung h<strong>in</strong>g mit dem stattgefundenen<br />

Wirtschaftswachstum zusammen. Hirsch spricht jedoch von e<strong>in</strong>em +Loch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Überflußgesellschaft*: Denn obwohl<br />

(o<strong>der</strong> gerade weil) die absoluten E<strong>in</strong>kommen (als Konsumäquivalente für <strong>in</strong>dustrielle Massengüter) allgeme<strong>in</strong> steigen<br />

bzw. damals noch stiegen, gibt es e<strong>in</strong>e relative Entwertung dieser E<strong>in</strong>kommen. Knappe Güter (Hirsch zählt vor allem<br />

zeit<strong>in</strong>tensive Dienstleistungen dazu) verteuern sich nämlich gleichzeitig und können von immer weniger Menschen<br />

<strong>in</strong> Anspruch genommen werden. Das läßt die sozialen Ungleichheiten wie<strong>der</strong> hervortreten und e<strong>in</strong> +unproduktiver*<br />

Verteilungskampf setzt e<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 150ff.). Es ist bezüglich <strong>der</strong> Verknappungshypothese von Hirsch allerd<strong>in</strong>gs<br />

kritisch anzumerken, daß die Rationalisierung <strong>der</strong> Produktion e<strong>in</strong> immenses Arbeitskräftepotential freisetzt, was, durch<br />

die zunehmende Konkurrenz am Arbeitsmarkt, gerade Dienstleistungen verbilligt. Zudem können viele Dienstleistungen<br />

durch mo<strong>der</strong>ne technische Geräte und Infrastruktur substituiert werden.<br />

7. Der (exzessive, nicht regulierte) Wettbewerb <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er globalisierten Ökonomie stößt gemäß den Thesen <strong>der</strong> +Gruppe<br />

von Lissabon* vor allem an vier strukturelle Grenzen: 1. die wirtschaftlichen Turbulenzen, die er zwangsläufig bewirkt,<br />

2. Die sozio-ökonomischen Ungleichheiten, die er <strong>in</strong>nerhalb (aber auch zwischen) Staaten produziert, 3. die Umweltzerstörungen,<br />

die er als +Nebenprodukt* hervorruft und 4. die sozial nicht legitimierte Macht, die e<strong>in</strong>em politisch<br />

nicht gesteuerten ökonomischen System zukommt (vgl. Grenzen des Wettbewerbs; S. 140). Das hat e<strong>in</strong>e ganze Reihe<br />

von negativen Auswirkungen: die Priorität technischer Systeme, den Vorrang kurzfristiger F<strong>in</strong>anzüberlegungen, die<br />

För<strong>der</strong>ung globaler Oligopole etc. (vgl. ebd; S. 144).<br />

8. Weitere Beispiele für aktuelle Veröffentlichungen dieses Tenors s<strong>in</strong>d Vivian Forresters kritische Anmerkungen zum<br />

+Terror <strong>der</strong> Ökonomie* und John Sauls Buch +Der Markt frißt se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong>* (beide 1997). Der von Alan Scott heraus-


66 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

gegebene Sammelband +The Limits of Globalization* (ebenfalls 1997), gibt sich schon ihm Titel weniger +reißerisch*<br />

und widmet sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>zelbeiträgen neben <strong>der</strong> Analyse ökonomischer Prozesse speziell <strong>der</strong> kulturellen Dimension<br />

<strong>der</strong> Globalisierung. Dies gilt auch für Richard Sennetts aktuelles Buch +Der flexible Mensch – Die Kultur des neuen<br />

Kapitalismus* und Noam Chomskys Schrift +Haben und Nichthaben* (beide 1998).<br />

9. Altvater und Mahnkopf s<strong>in</strong>d auch mit e<strong>in</strong>em Beitrag <strong>in</strong> dem <strong>in</strong> Anmerkung 8 angesprochenen Sammelband vertreten.<br />

10. Ich beziehe mich hier im folgenden nur auf das me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach zentrale Kapitel 4 (+Disembedd<strong>in</strong>g* global).<br />

11. Giddens versteht unter +Disembedd<strong>in</strong>g* die Herauslösung sozialer Beziehungen aus lokalen Interaktionskontexten<br />

und <strong>der</strong>en Restrukturierung über unbestimmte Raum-Zeit-Spannen (vgl. Consequences of Mo<strong>der</strong>nity; S. 21ff. und<br />

siehe auch hier S. 56).<br />

12. Nach Arno Heise ist die Rede vom +Sachzwang Weltmarkt* freilich – wenn man sich auf die Zentrumsnationen<br />

bezieht – e<strong>in</strong> Mythos. Hier ist Globalisierung aufgrund <strong>der</strong> vorhandenen Wettbewerbsstärke nur <strong>in</strong>soweit problematisch<br />

als sie die F<strong>in</strong>anzmärkte betrifft. Doch dem kann, so Heise, durch regionale (f<strong>in</strong>anz- und währungspolitische) Integration<br />

entgegengewirkt werden. Heise argumentiert also entlang <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ie des unten diskutierten Expansionsmodells <strong>der</strong><br />

<strong>Politik</strong>. (Vgl. Der Mythos vom ›Sachzwang‹ Weltmarkt)<br />

13. Auch schon früher hat man sich natürlich (aus bürgerlicher Perspektive) über +Die Zukunft des Kapitalismus* Gedanken<br />

gemacht. E<strong>in</strong> Beispiel für diese Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung ist Max Schelers ebenfalls eher skeptische Schrift, die sogar den<br />

selben Titel wie Thurows Arbeit trägt (und um 1914 herum entstanden se<strong>in</strong> dürfte). Den Kapitalismus <strong>in</strong>terpretiert<br />

<strong>der</strong> Philosoph und Soziologe Scheler (1874–1928) hier als e<strong>in</strong> ganzes +Lebens- und Kultursystem* und ke<strong>in</strong>e bloße<br />

Produktionsweise (vgl. S. 75). Als solches läßt sich <strong>der</strong> <strong>in</strong> Europa entstandene Kapitalismus nach ihm auch nicht ohne<br />

weiteres <strong>in</strong> alle Welt exportieren, ohne auf kulturelle Gegenwehr zu stoßen (vgl. ebd.; 89f.). Hier irrte allerd<strong>in</strong>gs Scheler<br />

wohl. Zwar formieren sich aktuell <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat antikapitalistische Gegenströmungen wie <strong>der</strong> fundamentalistische Islam,<br />

doch die gibt es schließlich auch <strong>in</strong> Europa und den Vere<strong>in</strong>igten Staaten, und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die konfuzianische Kultur<br />

ist – wie Ch<strong>in</strong>a, Hongkong und Taiwan beweisen – durchaus Kapitalismus-kompatibel. Insgesamt betrachtet sche<strong>in</strong>t<br />

das Kapital (beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Form als US-Dollar) e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> universellsten +Werte* überhaupt zu se<strong>in</strong> – universeller<br />

als jedes +Menschenrecht*.<br />

14. Hierauf werde ich unten noch näher e<strong>in</strong>gehen.<br />

15. In dieser letzten Argumentationsfigur wird übrigens e<strong>in</strong>e deutliche Parallele zu Bells Argumentation erkennbar,<br />

<strong>der</strong> darauf h<strong>in</strong>gewiesen hat, daß die vom Kapitalismus beför<strong>der</strong>te Konsum-Kultur im Wi<strong>der</strong>spruch zum kapitalistischen<br />

Leistungspr<strong>in</strong>zip steht (siehe hier S. LV und vgl. auch <strong>in</strong>sb.: Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus; Kap. 1).<br />

16. Diese Repräsentativität gilt natürlich nur, wenn man laissez-fair-kapitalistische Konzeptionen ausklammert – doch<br />

hier wird die <strong>Politik</strong> ohneh<strong>in</strong> nur als +Störenfried* im Marktgeschehen gesehen, wo +die unsichtbare Hand* (des Adam<br />

Smith) wie von selbst im freien Spiel von Angebot und Nachfrage für das Wohl aller sorgt. Diese Hand ist me<strong>in</strong>er<br />

Me<strong>in</strong>ung nach allerd<strong>in</strong>gs so unsichtbar, daß man erstens noch ke<strong>in</strong>e tatsächlich +freie* Marktwirtschaft gesehen hat,<br />

die zweitens, wenn man sie gesehen hätte, sicher niemals zu sozialer Gerechtigkeit o<strong>der</strong> auch nur sozial erträglichen<br />

Verhältnissen geführt hätte.<br />

17. Man könnte also auch davon sprechen, daß die aktuelle Entwicklung die +Politisierung* <strong>der</strong> Ökonomie erschwert,<br />

<strong>in</strong>dem die politischen Interventions- und Umverteilungsmöglichkeiten +objektiv* begrenzt werden.<br />

18. Kant plädiert <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schrift +Zum ewigen Frieden* (1795) für e<strong>in</strong>en fö<strong>der</strong>alistischen Völkerbund (vgl. S. 64 [B 30f.]).<br />

19. Beck, anhand dessen Äußerungen das Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> schließlich illustriert wurde, wendet sich allerd<strong>in</strong>gs<br />

explizit sowohl gegen beschränkte Modelle e<strong>in</strong>er bloßen <strong>in</strong>ternationalen Zusammenarbeit wie gegen die re<strong>in</strong>e Aufblähung<br />

des altbekannten Nationalstaats zu e<strong>in</strong>em Groß- o<strong>der</strong> Weltstaat (vgl. Was ist Globalisierung?; S. 218ff.). Die vom ihm<br />

imag<strong>in</strong>ierte Weltgesellschaft <strong>der</strong> +glokalen* (daß heißt <strong>in</strong> die Dialektik von Globalisierung und Lokalisierung e<strong>in</strong>gebundenen)<br />

Transnationalstaaten impliziert e<strong>in</strong> hybrides Staatlichkeitsmodell, das sich nicht mehr auf die E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Nation im<br />

abgedichteten Conta<strong>in</strong>er-Staat fixiert (siehe auch hier S. 218), son<strong>der</strong>n vielmehr auch den transnationalen subpolitischen<br />

Akteuren Raum zur Entfaltung gibt, wozu es allerd<strong>in</strong>gs gemäß Beck notwendig ist, daß klassische staatliche Aufgaben


A: ANMERKUNGEN 67<br />

wie die Garantie von Grundrechten weiter wahrgenommen werden (vgl. Was ist Globalisierung?; S. 183–192 sowie<br />

S. 221–228). Was Beck also vorschwebt, ist e<strong>in</strong>e Art Kultivierung und Institutionalisierung <strong>der</strong> von Rosenau konstatierten<br />

Bifurkation <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (siehe S. 92).<br />

20. Zürn sieht allerd<strong>in</strong>gs die Gefahr gegeben, daß die Verfahren dieser Verregelung e<strong>in</strong> demokratisches Defizit aufweisen<br />

könnten, da demokratische Strukturen – zum<strong>in</strong>dest auf <strong>in</strong>stitutioneller Ebene – bisher (siehe auch Abschnitt 2.1) auf<br />

<strong>der</strong> Weltebene lei<strong>der</strong> nahezu vollständig fehlen (vgl. Jenseits <strong>der</strong> Staatlichkeit; S. 507ff.). Und Habermas macht klar,<br />

daß selbst supranationale Institutionen und Regulationsregime die Konkurrenzlogik nicht durchbrechen. +An<strong>der</strong>erseits<br />

erfüllen politische Zusammenschlüsse dieser Art e<strong>in</strong>e notwendige Bed<strong>in</strong>gung für e<strong>in</strong> Aufholen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> gegenüber<br />

den Kräften <strong>der</strong> globalisierten Ökonomie.* (Jenseits <strong>der</strong> Staatlichkeit; S. 74f.)<br />

21. Translatorische Deflexion, also die entlastende Übersetzung und Übertragung von Problemen von e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

an<strong>der</strong>en Bereich, bedeutet allerd<strong>in</strong>gs über den von Holloway <strong>in</strong> diesem Zitat ausgeführten Zusammenhang h<strong>in</strong>ausgehend<br />

die Ausnutzung <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> +Kanäle* für solche Übersetzungen.<br />

22. Das Bild vom +Conta<strong>in</strong>er* geht ursprünglich auf Giddens zurück (vgl. The Nation State and Violence; S. 13f.). Giddens<br />

beschränkt sich dort jedoch auf e<strong>in</strong>e Betrachtung des Staates als +Macht-Conta<strong>in</strong>er*. Nach Taylor ist <strong>der</strong> Staat darüber<br />

h<strong>in</strong>aus aber auch e<strong>in</strong> Wohlstands-Conta<strong>in</strong>er, e<strong>in</strong> kultureller Conta<strong>in</strong>er und e<strong>in</strong> sozialer Conta<strong>in</strong>er (vgl. The State as<br />

a Conta<strong>in</strong>er; S. 152–156).<br />

23. Allerd<strong>in</strong>gs muß es natürlich trotzdem irgendwie und vor allem irgendwo territorial (re)präsent(iert) se<strong>in</strong>.<br />

24. Um e<strong>in</strong> Beispiel zu nennen: In <strong>der</strong> Bundesrepublik haben sich die Unternehmensgew<strong>in</strong>ne zwischen 1985 und<br />

1995 fast verdoppelt, während ihre durchschnittliche Steuerbelastung von 18,73% auf 10,95% fiel. Im Zuge <strong>der</strong> geplanten<br />

+großen Steuerreform* soll die Körperschaftssteuer nochmals gesenkt werden, um die <strong>in</strong>ternationale Konkurrenzfähigkeit<br />

<strong>der</strong> deutschen Wirtschaft zu erhöhen – obwohl diese bereits jetzt im Vergleich mit an<strong>der</strong>en Industriestaaten eher<br />

ger<strong>in</strong>g ist (vgl. Voß: Der Traum von <strong>der</strong> großen Steuerreform; S. 143f.).<br />

25. Wolf-Dieter Narr und Alexan<strong>der</strong> Schubert sprechen <strong>in</strong> diesem Zusammenhang von lediglich vier verbliebenen<br />

+Restfunktionen* des kapitalistischen Wettbewerbsstaates im Kontext <strong>der</strong> globalen Ökonomie: 1. die Garantie des<br />

Eigentums, 2. die Heranziehung systemkonformer, +<strong>in</strong>dividualisierter* (d.h. für Narr und Schubert sozial isolierter<br />

und entsolidarisierter) Staatsbürger, 3. Schaffung und Bereitstellung von Infrastruktur für das Kapital, und 4. e<strong>in</strong>e<br />

E<strong>in</strong>flußnahme auf die Internationale Wirtschaftspolitik zur Aufrechterhaltung des globalen kapitalistischen Systems<br />

(vgl. Weltökonomie; S. 159ff.).<br />

26. Diese auch hier schon zitierte Schrift Agnolis (siehe S. 169), war e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> zentralen Bezugspunkte im Rahmen<br />

<strong>der</strong> kritischen Demokratie-Debatte <strong>der</strong> 68er-Bewegung. Agnoli entfaltet hier die Grundthese, daß im ursprünglichen<br />

liberalen Staat noch e<strong>in</strong>e Repräsentation <strong>der</strong> Repräsentierten durch die politischen Repräsentanten gegeben war,<br />

da e<strong>in</strong>e soziale Übere<strong>in</strong>stimmung und Interessenkonformität gerade durch die Beschränkung <strong>der</strong> demokratischen<br />

Partizipation auf die bürgerliche Schicht gegeben war. Mit <strong>der</strong> Ausbreitung <strong>der</strong> Demokratie ist diese Identität entfallen.<br />

Die Volksvertreter vertreten nicht das Volk, son<strong>der</strong>n s<strong>in</strong>d nur noch formell Beschlußfassende und Veröffentlicher +an<strong>der</strong>swo*<br />

(<strong>in</strong> <strong>der</strong> Exekutive und vom Kapital, die e<strong>in</strong>en Macht-Komplex formen) getroffener Entscheidungen. Nur diese +eigentlichen<br />

Herrscher* werden vom Parlament repräsentiert (vgl. Die Transformation <strong>der</strong> Demokratie; <strong>in</strong>sb. S. 66–81).<br />

27. Nicht nur ökonomisch und politisch machtlose Kle<strong>in</strong>ststaaten, son<strong>der</strong>n sogar +Mittelmächte* werden im Weltwirtschaftskrieg<br />

nach Strange voraussichtlich das Nachsehen haben und sich nicht gegen die (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e militärisch<br />

abgestützte) Macht und den E<strong>in</strong>fluß von dom<strong>in</strong>ierenden Wirtschaftsnationen wie den USA durchsetzen können (vgl.<br />

The Limits of Politics; S. 300f.). Diese Feststellung ist sicher zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad zutreffend. Doch sollte man bedenken,<br />

daß auch das +amerikanische Imperium* durch Globalisierung gefährdet ist und gerade die +entwickelten* Zentrums-Staaten<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Situation e<strong>in</strong>er geopolitisch-ökonomischen Dynamik ausgesetzt s<strong>in</strong>d, wobei (z.B. mit den asiatischen<br />

NICs) e<strong>in</strong>e Reihe neuer Herausfor<strong>der</strong>er aufgetaucht s<strong>in</strong>d. Darauf weist zum<strong>in</strong>dest Michael Mann <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er resümierenden<br />

E<strong>in</strong>leitung zu dem Band +The Rise and Decl<strong>in</strong>e of the Nation State* (1990) h<strong>in</strong> (vgl. Empires with Ends).<br />

28. +Fatal* allerd<strong>in</strong>gs natürlich nicht im +positiven* S<strong>in</strong>n Baudrillards (siehe S. 63).<br />

29. Asp<strong>in</strong>wall zeigt <strong>in</strong> diesem Artikel auf, daß aufgrund <strong>der</strong> ökonomischen Zusammenhänge unter den Bed<strong>in</strong>gungen<br />

von Freihandel und Kapitalmobilität die politische Autonomie zwangsläufig abnimmt.


68 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

30. Umgekehrt gilt deshalb, was Zygmunt Bauman <strong>in</strong> deutlichen Worten herausgearbeitet hat: +Die Mobilität <strong>der</strong><br />

globalen F<strong>in</strong>anzen, des Handels und <strong>der</strong> Informations<strong>in</strong>dustrie und <strong>der</strong>en unbegrenzte Freiheit, ihre Ziele zu verfolgen,<br />

s<strong>in</strong>d abhängig von <strong>der</strong> politischen Fragmentisierung […] Man kann behaupten, sie alle haben e<strong>in</strong> Interesse an ›schwachen<br />

Staaten‹ entwickelt, das heißt an Staaten, die schwach s<strong>in</strong>d, aber trotzdem Staaten bleiben […] Schwache Staaten<br />

s<strong>in</strong>d genau das, was die Neue [ökonomistische] Weltordnung, die zu oft als Weltunordnung mißverstanden wird,<br />

braucht, um sich zu erhalten […]* (Schwache Staaten; S. 322)<br />

31. Es handelt sich hier natürlich nicht um e<strong>in</strong>e vollständige Auflistung aller Möglichkeiten, vielmehr habe ich mich<br />

auf die aus me<strong>in</strong>er subjektiven Sicht zentralen bzw. <strong>in</strong>teressantesten beschränkt.<br />

32. Obwohl Ohmae also eher die Bedeutung <strong>der</strong> Region betont, nenne ich diese Strategie nicht Regionalisierungsson<strong>der</strong>n<br />

Lokalisierungsstrategie, da mit Regionalisierung (im politikwissenschaftlichen Sprachgebrauch) üblicherweise<br />

genau das umgekehrte geme<strong>in</strong>t ist, nämlich die Schaffen größerer wirtschaftlicher und politischer E<strong>in</strong>heiten.<br />

33. Individuen z.B. s<strong>in</strong>d eventuell (doppelte) Staatsbürger, Mitglie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er sozialdemokratischen Partei wie im Dritte-Welt-<br />

Kreis und Amnesty-Aktivisten zugleich. Sie haben Verwandte <strong>in</strong> Südafrika und Kanada, Bekannte <strong>in</strong> Taiwan und e<strong>in</strong><br />

Landhaus <strong>in</strong> Umbrien. Sie leben <strong>in</strong> den Nie<strong>der</strong>landen (weil dort die Häuser und Grundstücke billiger s<strong>in</strong>d), arbeiten<br />

aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD. Ihre Partei ist (noch) <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Sozialistischen Internationalen* organisiert, ihr +Mutterland* Mitglied<br />

des +Commonwealth* und ihr +Vaterstaat* nicht nur Mitglied <strong>in</strong> <strong>der</strong> EU, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> NATO… Die Verwandten<br />

aus Südafrika kommen zwar seltener zu Besuch, doch mit den Kanadiern trifft man sich öfter… Übrigens plant +amnesty*<br />

gerade wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e +urgent action* wegen <strong>der</strong> drohenden H<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es Schwarzen <strong>in</strong> den USA… (Vgl.<br />

zur +Ortspolygamie*, die das E<strong>in</strong>fallstor <strong>der</strong> Globalisierung <strong>in</strong>s eigene Leben darstellt, auch Beck: Was ist Globalisierung?;<br />

S. 127ff.)<br />

34. Man könnte demgemäß das auf die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> setzende Expansionsmodell als (revisionistisches) Evolutionsmodell<br />

charakterisieren, während die globale Subpolitisierung e<strong>in</strong> Revolutionsmodell darstellt.<br />

35. Zum Wohlfahrtsstaat als Stütze des kapitalistischen Systems bemerkt übrigens André Gorz treffend: +Der Wohlfahrtsstaat<br />

hat ke<strong>in</strong>eswegs die Gesellschaft erstickt und die spontane Entfaltung <strong>der</strong> ökonomischen Rationalität gefesselt; er ist<br />

vielmehr aus ihrer Entfaltung selbst entstanden: als Ersatz für die gesellschaftlichen und familiären Solidarbeziehungen,<br />

die die Ausweitung <strong>der</strong> Warenbeziehungen zerstört hatte – und als notwendiger Rahmen, um die Marktwirtschaft<br />

daran zu h<strong>in</strong><strong>der</strong>n, im kollektiven Desaster zu enden.* (Kritik <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft; S. 190) Er setzt allerd<strong>in</strong>gs<br />

h<strong>in</strong>zu: +Es ist jedoch wahr, daß <strong>der</strong> Wohlfahrtsstaat selbst niemals gesellschaftsschöpferisch war noch se<strong>in</strong> wird […]<br />

Dies erklärt den schwachen Wi<strong>der</strong>stand gegen die fortschreitende Demontage des Wohlfahrtsstaats […]* (Ebd.)<br />

36. Unter +Kommodifizierung* bzw. +commodification* – als Begriff abgeleitet vom englischen +commodity*: (Handels)-<br />

Artikel – versteht man die Umwandlung e<strong>in</strong>er Sache (<strong>in</strong> diesem Fall <strong>der</strong> menschlichen Arbeitskraft) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ware.<br />

Man könnte also auch anstelle von +Kommodifizierung* vom Warencharakter <strong>der</strong> Arbeit im Kapitalismus o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Kapitalisierung <strong>der</strong> Arbeit sprechen. De-Kommodifizierung me<strong>in</strong>t dementsprechend die Rückgängigmachung dieses<br />

Kapitalisierungsprozesses (<strong>der</strong> Arbeit).<br />

37. Wenn man sich hier auf das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das NS-Regime und auch die Bundesrepublik<br />

<strong>der</strong> Adenauer-Ära bezieht, so trifft diese Charakterisierung sicher zu. Für die sozial-liberale Ära und selbst die konservative<br />

Regierung Kohl stimmt dies me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach jedoch nicht mehr.<br />

38. Thurow weist gleichzeitig darauf h<strong>in</strong>, daß es <strong>in</strong> den USA e<strong>in</strong>e hohe Arbeitslosen-Dunkelziffer gibt: +Die amerikanische<br />

Arbeitslosigkeit ähnelt e<strong>in</strong>em Eisberg – <strong>der</strong> größte Teil liegt unter Wasser […] Neben […] sieben Millionen amtlichen<br />

Arbeitslosen würden sich weitere sechs Millionen Menschen als arbeitslos bezeichnen, wenn sie danach gefragt würden<br />

[…] Wer auch nur e<strong>in</strong>e Stunde pro Woche arbeitet gilt [offiziell] nicht als arbeitslos.* (Die Illusion vom großen Jobwun<strong>der</strong>)<br />

39. 1995 lag die Arbeitslosenquote <strong>in</strong> den USA (ca. 250 Mio. E<strong>in</strong>wohner) bei 5,6%, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik (ca. 80<br />

Mio. E<strong>in</strong>wohner) betrug sie – zum Vergleich – im Durchschnitt 9,4%, <strong>in</strong> Schweden 7,7% (ca. 8,5 Mio. E<strong>in</strong>wohner).<br />

Noch 1991 lag sie dort bei nur 2,7%. (Zur Relativierung dieser Zahlen möchte ich allerd<strong>in</strong>gs zugleich auf die<br />

vorangegangene Anmerkung verweisen.)<br />

40. Dieser Zusammenhang von Arbeit und Kontrolle wird sogar von liberalen Denkern wie Ralph Dahrendorf gesehen.<br />

Dieser bemerkt: +Übrigens paßt <strong>in</strong> dieses Bild, daß konservative Parteien beson<strong>der</strong>s beunruhigt s<strong>in</strong>d über wachsende


A: ANMERKUNGEN 69<br />

Arbeitslosigkeit […] Es liegt vor allem daran, daß Arbeit e<strong>in</strong> Herrschafts<strong>in</strong>strument ist. Wenn sie ausgeht, verlieren<br />

die Herren <strong>der</strong> Arbeit das Fundament ihrer Macht.* (Wenn <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht; S. 26) Ich möchte<br />

deshalb behaupten, daß es wohl ke<strong>in</strong> treffen<strong>der</strong>es Beispiel für e<strong>in</strong>e Praxologie im wahrsten S<strong>in</strong>n des Wortes gibt als<br />

die Erwerbsarbeit: Indem die Menschen täglich ihrer Arbeit nachgehen und ihren Lohn dafür erhalten, gerät es ihnen<br />

gar nicht mehr <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n, danach zu fragen, ob es wirklich so selbstverständlich ist, daß man sich se<strong>in</strong> Auskommen<br />

auf diese Art und Weise (d.h. über den Verkauf <strong>der</strong> eigenen Arbeitskraft) verdienen muß (was für an<strong>der</strong>e – nämlich<br />

die Kapitalbesitzer – schließlich nicht gilt). Gerade mit +mo<strong>der</strong>nen* Konzepten wie +corporate identity* und e<strong>in</strong>er<br />

stärkeren E<strong>in</strong>beziehung <strong>der</strong> Arbeitnehmer <strong>in</strong> die Unternehmen, wird die kapitalistische Ordnung ver<strong>in</strong>nerlicht. Zudem<br />

erfolgt mit <strong>der</strong> Arbeit e<strong>in</strong>e wirksame Kontrolle über die Zeit und die Energie <strong>der</strong> Individuen. Man kann also durchaus<br />

verstehen, warum die <strong>Politik</strong> angesichts <strong>der</strong> hohen Arbeitslosenzahlen so besorgt ist. Am Ende kämen die Arbeitslosen<br />

noch auf den Gedanken, das bestehende System +abzuwählen*, das sie (aus <strong>der</strong> +Arbeitsgesellschaft*) exkludiert.<br />

41. Re<strong>in</strong>hard Kreckel weist allerd<strong>in</strong>gs unter Bezugnahme auf e<strong>in</strong> (schon relativ betagtes) Modell von Werner Sengenberger<br />

(vgl. Arbeitsmarktstruktur; <strong>in</strong>sb. Kap. IV) und verschiedene empirische Untersuchungen darauf h<strong>in</strong>, daß es auch <strong>in</strong><br />

Deutschland e<strong>in</strong>e Segmentierung des Arbeitsmarktes festzustellen ist – zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat nicht so sehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form e<strong>in</strong>er<br />

dualen Spaltung alsvielmehralsDreiteilungmitunterschiedlichen Chancen für Personen mit +Je<strong>der</strong>mann-Qualifikationen*,<br />

Personenmit+berufsfachlichenQualifikationen*undPersonenmit+betriebsspezifischen Qualifikationen*(vgl.Politische<br />

Soziologie <strong>der</strong> sozialen Ungleichheit; S. 194–198).<br />

42. Schweden hatte es hier durch se<strong>in</strong>e vergleichsweise kle<strong>in</strong>e Bevölkerungszahl e<strong>in</strong>facher als z.B. die Bundesrepublik.<br />

43. In diesem Sammelband wird die historische Entwicklung <strong>der</strong> Wohlfahrtsstaaten Schweden und Kanada, die nach<br />

Ansicht <strong>der</strong> beiden Herausgeber viele Geme<strong>in</strong>samkeiten aufweisen, dargestellt. Die aktuellen Wandlungen des<br />

Wohlfahrtssystem werden vor allem <strong>in</strong> den Beiträgen von Anna Hollan<strong>der</strong> (Social Policy – Aspects of the Relationship<br />

Between General Welfare and Welfare for People with Special Needs <strong>in</strong> Sweden) und von Byrden und Oliver (Canada/Sweden<br />

– Welfare States <strong>in</strong> Trouble) thematisiert.<br />

44. Reich verwendet natürlich den Begriff +Re-Kommodifizierung* nicht explizit. Wenn er allerd<strong>in</strong>gs im untenstehenden<br />

Zitat von den Kenntnissen und Fähigkeiten <strong>der</strong> Bürger e<strong>in</strong>es Landes als dessen Grundkapital spricht, so bedeutet dies<br />

allerd<strong>in</strong>gs nichts an<strong>der</strong>es, als daß er erkannt hat, daß menschliche Kopfarbeit zu e<strong>in</strong>er gefragten Ware <strong>in</strong> <strong>der</strong> (zukünftigen)<br />

post<strong>in</strong>dustriellen globalen Ökonomie werden wird – während an<strong>der</strong>e (die über ke<strong>in</strong> relevantes +know how* verfügen)<br />

ihre Arbeitskraft zu e<strong>in</strong>em weit ger<strong>in</strong>geren Entgelt verkaufen werden müssen.<br />

45. E<strong>in</strong>e weitere Möglichkeit wäre nach Reich die Transformation <strong>der</strong> USA zu e<strong>in</strong>er Nation <strong>der</strong> Symbol-Analytiker<br />

(vgl. Die neue Weltwirtschaft; S. 278). Allerd<strong>in</strong>gs taucht hier me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach das offensichtliche Problem auf,<br />

daß selbst <strong>der</strong> globale Bedarf an Symbol-Analytikern wohl dafür nicht ausreichend hoch wäre und auch an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong><br />

solche Symbol-Analyse-Initiativen starten könnten. Zudem bräuchten die Symbol-Analytiker zur Befriedigung ihrer<br />

Bedürfnisse unbed<strong>in</strong>gt lokale +Dienstleistungssklaven*. Doch woher dann nehmen?<br />

46. Reich, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ausführungen primär auf die USA bezieht, me<strong>in</strong>t, daß ke<strong>in</strong> Land mehr Symbol-Analytiker<br />

+besitzt* als die Vere<strong>in</strong>igten Staaten – und diese seien +auf bestimmte geographische ›Nester‹ konzentriert, wo sie<br />

mit an<strong>der</strong>en Symbol-Analytikern […] zusammen leben, arbeiten und lernen. Die Städte und Regionen, <strong>in</strong> denen<br />

sie sich gehäuft angesiedelt haben […] stehen <strong>in</strong> <strong>der</strong> ganzen Welt <strong>in</strong> hoher Wertschätzung: Los Angeles <strong>in</strong> Musik und<br />

Film; die Umgebung von San Francisco sowie Boston <strong>in</strong> Naturwissenschaften und Technik, New York und Chicago<br />

<strong>in</strong> Weltf<strong>in</strong>anzen […]* (Die neue Weltwirtschaft; S. 263). Diese Konzentration ist nach Reich nicht zufällig, denn Symbol-<br />

Analytiker brauchen die Kommunikation untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, um vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu lernen und um sich gegenseitig zu befruchten.<br />

Deshalb me<strong>in</strong>t er wohl, daß sie, auch wenn man sie mit hohen Steuern belegen würde, nicht aus diesen Zentren<br />

verschw<strong>in</strong>den würden. Doch hier schil<strong>der</strong>t Reich e<strong>in</strong>e Welt <strong>der</strong> Vergangenheit. Es wird künftig wohl <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Bereich<br />

nur mehr e<strong>in</strong> Zentrum geben, und über die neuen Kommunikationsnetze wird globaler Gedankenaustausch sehr<br />

e<strong>in</strong>fach dezentral zu realisieren se<strong>in</strong>.<br />

47. Z<strong>in</strong>n zitiert Zahlen <strong>der</strong> OECD, die zwischen 1960 und 1987 e<strong>in</strong>en Anstieg des Beschäftigungsanteils des Dienstleistungssektors<br />

von 45,1% auf 59,1% nennen (vgl. Auf dem Weg <strong>in</strong> die tertiäre Krise?; Tab. 2, S. 63). Auch <strong>der</strong> Anteil<br />

des Dienstleistungssektor am Sozialprodukt stieg (siehe S. 81).<br />

48. Rifk<strong>in</strong> hält Anomie für e<strong>in</strong>e direkte Folge von Arbeitslosigkeit.


70 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

49. Kapste<strong>in</strong> versucht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift +Foreign Affairs* erschienenen Artikel (ganz <strong>der</strong> Wachstumsideologie<br />

verfallen) darzulegen, daß nur stärkeres Wachstum Beschäftigung sichern kann und Fortbildungsmaßnahmen, obwohl<br />

pr<strong>in</strong>zipiell s<strong>in</strong>nvoll, nur dann anschlagen können, wenn <strong>der</strong> Motor <strong>der</strong> Wirtschaft läuft. Die <strong>Politik</strong> muß also auch<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> momentan angespannten Haushaltslage <strong>in</strong> Ankurbelungsmaßnahmen <strong>in</strong>vestieren, wenn sie Beschäftigung sichern<br />

will. In diesem Zusammenhang weist er <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e darauf h<strong>in</strong>, daß ke<strong>in</strong>e direkte Korrelation zwischen Defizit-<strong>Politik</strong><br />

und Inflation gegeben sei (vgl. Workers and the World Economy; S. 32ff.). E<strong>in</strong>e deutsche Übersetzung des Aufsatzes<br />

von Kapste<strong>in</strong> f<strong>in</strong>det sich übrigens im unten erwähnten Sammelband +Die Zukunft von Arbeit und Demokratie*.<br />

50. Mit +Bürgerarbeit* me<strong>in</strong>t Beck freiwillige und projektorientierte geme<strong>in</strong>nützige Arbeit unter <strong>der</strong> Regie von sog.<br />

+Geme<strong>in</strong>wohlunternehmern*. Die Bürgerarbeit sollte gemäß Beck zwar belohnt, aber nicht (regulär) entlohnt werden.<br />

Zur materiellen Grundsicherung müßten die +Bürgerarbeiter* jedoch e<strong>in</strong> Bürgergeld <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Höhe (etwa auf dem<br />

Niveau <strong>der</strong> Sozialhilfe) erhalten. (Vgl. Modell Bürgerarbeit; <strong>in</strong>sb. S. 128–133)<br />

51. Es wird <strong>in</strong> diesem Zusammenhang von Befürwortern des Bürgergeld-Konzepts (wie z.B. auch Wirtschaftsnobelpreisträger<br />

Milton Friedman) häufig betont, daß e<strong>in</strong> Bürgergeld deshalb die Staatskasse nicht zusätzlich belasten würde, weil<br />

Ausgabenposten im Sozialetat wie Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe, Ausbildungsför<strong>der</strong>ung etc. dann entfallen<br />

könnten und <strong>der</strong> staatliche Verwaltungsaufwand auch weit ger<strong>in</strong>ger wäre als heute. So hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview mit<br />

<strong>der</strong> +Zeit* auch erst jüngst wie<strong>der</strong> Joachim Mitschke argumentiert (vgl. Hoffmann: ›Wahl zwischen zwei Übeln‹), <strong>der</strong><br />

dieses Modell für die Bundesrepublik schon seit langem propagiert. Bis aber die Verwaltungen tatsächlich so weit<br />

geschrumpft wären, daß sich relevante E<strong>in</strong>sparungen ergäben und das System sich e<strong>in</strong>gespielt hätte, kämen auf die<br />

Staatskasse jedoch sicher immense Mehrausgaben zu – selbst wenn man die häufig geäußerte Kritik nicht teilt, daß<br />

e<strong>in</strong> pauschales Bürgergeld ke<strong>in</strong>en Anreiz zur Beschäftigungssuche biete.<br />

52. Die öffentlichen E<strong>in</strong>nahmen (Bund, Län<strong>der</strong>, Geme<strong>in</strong>den und Sozialversicherung) betrugen 1995 <strong>in</strong>sgesamt 1.735,5<br />

Mrd. DM.<br />

53. Ganz ähnlich argumentiert übrigens auch Ralf Dahrendorf <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag <strong>in</strong> dem von Ulrich Beck herausgegeben<br />

Sammelband +Perspektiven <strong>der</strong> Weltgesellschaft* (1998). Dort heißt es: +E<strong>in</strong> Wirtschaftsstandort ist nicht nur e<strong>in</strong> Ort<br />

<strong>der</strong> niedrigen Löhne und Steuern; <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat können entwickelte Län<strong>der</strong> am Ende möglicherweise nur durch Qualitäten<br />

konkurrenzfähig bleiben, die im weiten S<strong>in</strong>ne sozial s<strong>in</strong>d.* (Anmerkungen zur Globalisierung; S. 48)<br />

54. Man kann <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch auf die Argumentation von Luhmann zurückgreifen: Nach ihm führt<br />

die den klassischen <strong>in</strong>dustriegesellschaftlichen Institutionen zugrunde liegende Unterscheidung zwischen Arbeit und<br />

Kapital zu +sozialer Blockierung*, da die Problemlösung für die e<strong>in</strong>e Seite das Problem für die an<strong>der</strong>e ist und umgekehrt<br />

(vgl. Arbeit und Kapital; S. 57). Es handelt sich also um e<strong>in</strong>en +unfruchtbaren Gegensatz*, <strong>der</strong> nicht aufgehoben werden<br />

kann. +An<strong>der</strong>erseits s<strong>in</strong>d riesige Organisationen darauf e<strong>in</strong>gespielt, sich diesem Gegensatz zuzuordnen* (ebd.; S. 58),<br />

die soziale Blockade ist also +<strong>in</strong>stitutionalisiert*. Luhmann tröstet sich allerd<strong>in</strong>gs mit <strong>der</strong> Feststellung, +daß die Gesellschaft<br />

mehr und mehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, an<strong>der</strong>e Unterscheidungen von dieser Unterscheidung zu unterscheiden und es damit<br />

ermöglicht, bei aller E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong> Wichtigkeit von Kapital und von Arbeit als solchen die Unterscheidung von<br />

Arbeit und Kapital nur gelegentlich zu benutzen.* (Ebd.; S. 78)<br />

55. An<strong>der</strong>e Elemente, bei denen sich e<strong>in</strong>e gewisse Parallele zu Habermas zeigt (siehe unten), s<strong>in</strong>d, daß Ach<strong>in</strong>ger im<br />

Zusammenhang mit dem sozialstaatlichen Interventionismus von e<strong>in</strong>er +Umwandlung <strong>der</strong> Lebensformen* spricht<br />

(so die Überschrift zum zweiten Teil se<strong>in</strong>er Abhandlung) und auch er die Gefahr e<strong>in</strong>er +Gesellschaftskrise* durch<br />

Verrechtlichungsprozesse gegeben sieht. Denn er <strong>in</strong>terpretiert die Sozialpolitik (aus se<strong>in</strong>er eher konservativen Sicht)<br />

weniger als (geglückte) Konfliktbeilegung, son<strong>der</strong>n vielmehr als e<strong>in</strong>e +Verste<strong>in</strong>erung* <strong>der</strong> sozialen Kämpfe und versteht<br />

diese folglich als +Symptom tiefer gesellschaftlicher Unruhe* (vgl. Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik; S. 132).<br />

56. Entpolitisierung ist im Kontext des deflexiven Gebrauchs des Rechts durch die <strong>Politik</strong> natürlich genau erwünscht,<br />

kann aber (siehe unten) auch dazu führen, daß diese sich selbst entmachtet.<br />

57. Ralf Dahrendorf, auf den ich mich hier beziehe, subsumiert – se<strong>in</strong>e Argumentation aus dem Band +Lebenschancen*<br />

(1972) aufgreifend – Anrechte zusammen mit Angeboten (d.h. Wahlmöglichkeiten) unter den Begriff <strong>der</strong> Optionen<br />

und stellt diesem den Begriff <strong>der</strong> Ligaturen (Anb<strong>in</strong>dungen) gegenüber, welche den Optionen erst S<strong>in</strong>n geben und<br />

die er im kulturellen Bereich verortet (vgl. Der mo<strong>der</strong>ne soziale Konflikt; 39ff.). Ich möchte allerd<strong>in</strong>gs (wie im Text<br />

dargelegt) im Gegensatz dazu betonen, daß auch Anrechte selbst e<strong>in</strong>e zentrale Ligatur darstellen.


A: ANMERKUNGEN 71<br />

58. Eigentlich handelt es sich hier um die (erweiterte) Textfassung von zwei Vorträgen (aus e<strong>in</strong>er Reihe von vieren),<br />

die Heidegger 1949/50 unter dem unbescheidenen Titel +E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> das was ist* <strong>in</strong> Bremen gehalten hat.<br />

59. In se<strong>in</strong>er historischen Untersuchung über die mo<strong>der</strong>ne +Megamasch<strong>in</strong>e* und +Megatechnologie* entfaltet Mumford<br />

e<strong>in</strong>e ambivalente Sicht <strong>der</strong> technischen Fortschritts, welcher <strong>der</strong> Menschheit e<strong>in</strong>erseits mächtige Instrumente <strong>in</strong> die<br />

Hand gegeben hat, an<strong>der</strong>erseits aber auch e<strong>in</strong>e Schattenseite <strong>der</strong> Gewalt und Zerstörung <strong>in</strong> sich birgt.<br />

60. An<strong>der</strong>s bemerkt hierzu: +Unser Leib von heute ist <strong>der</strong> von gestern […] Er ist morphologisch konstant; moralisch<br />

gesprochen unfrei, wi<strong>der</strong>spenstig und stur; aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Geräte gesehen: konservativ, unprogressiv, antiquiert<br />

[…] Kurz: die Subjekte von Freiheit und Unfreiheit s<strong>in</strong>d ausgetauscht. Frei s<strong>in</strong>d die D<strong>in</strong>ge: unfrei ist <strong>der</strong> Mensch.* (Die<br />

Antiquiertheit des Menschen; Band 1, S. 33). +Dem entspricht nun […], daß die Elastizitäts- bzw. Starre-Grade <strong>der</strong><br />

Vermögen differieren; daß also nicht nur das Volumen dessen, was wir herstellen, tun o<strong>der</strong> denken können, größer<br />

ist als das Volumen dessen, was unsere Vorstellung o<strong>der</strong> gar unser Fühlen leisten kann; son<strong>der</strong>n, daß das Volumen<br />

des Machens und des Denkens ad libitum ausdehnbar ist, während die Ausdehnbarkeit des Vorstellens ungleich ger<strong>in</strong>ger<br />

bleibt; und die des Fühlens im Vergleich damit geradezu starr zu bleiben sche<strong>in</strong>t.* (Ebd.; S. 270f.)<br />

61. Die Titelseite von +Die neuen Grenzen des Wachstums* (1992) nennt nunmher als Autor(<strong>in</strong>) an erster Stelle nicht<br />

Dennis son<strong>der</strong>n Donella Meadows.<br />

62. +<strong>Politik</strong> als Ritual* (1990) wurde aus zwei Orig<strong>in</strong>alschriften Edelmans +kompiliert*: +The Symbolic Uses of Politics*<br />

(1964) sowie +Politics as Symbolic Action, Mass Arousal and Quiescence* (1971).<br />

63. Edelman knüpft <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch an Abraham Moles’ Differenzierung zwischen semantischer und<br />

ästhetischer Information an (vgl. Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung; Abschnitt V), und stellt heraus,<br />

daß gerade die ästhetische Information wesentlich zu den politischen Situationsdeutungen beiträgt (Vgl. <strong>Politik</strong> als<br />

Ritual; S. 96).<br />

64. Der Begriff Handlungssche<strong>in</strong> wurde mit dem Begriff <strong>der</strong> Praxologie parallelisiert, weil sich dies <strong>in</strong> Analogie zu<br />

den von mir hier ergänzend vorgeschlagenen Neologismen +Optologie* und +Logologie* anbot – obwohl <strong>der</strong> Begriff<br />

<strong>der</strong> Praxologie natürlich, so wie ich ihn sonst verwende, optologische und logologische Deflexion (<strong>in</strong> Meyers Term<strong>in</strong>ologie:<br />

Augen- und Sprachsche<strong>in</strong>) mit e<strong>in</strong>schließt.<br />

65. Peters ist im Rahmen se<strong>in</strong>er Argumentation sozusagen zwischen Luhmann und Habermas angesiedelt.<br />

66. Wenn Meyer sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Kritik <strong>der</strong> funktionalistischen Argumentationsweise allerd<strong>in</strong>gs primär auf Sarc<strong>in</strong>elli<br />

bezieht (siehe zu dessen Position auch hier S. 173f.), so tut er diesem damit me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach allerd<strong>in</strong>gs Unrecht<br />

(für Luhmann selbst würde diese E<strong>in</strong>schränkung weniger gelten). Zwar ist es richtig, daß Sarc<strong>in</strong>elli die Unerläßlichkeit<br />

<strong>der</strong> Symbolisierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Kommunikation herausstellt. So bemerkt er se<strong>in</strong>em abschließenden Resümee<br />

des Bandes +Symbolische <strong>Politik</strong>* (1987): +Die Untersuchung <strong>der</strong> Kommunikationsbeziehungen zwischen den politischen<br />

Akteuren und den Bürgern […] zeigt unverkennbar, daß Symbolisierung e<strong>in</strong> unerläßliches Instrument des kommunikativen<br />

Loyalitätsmanagements ist. Durch den E<strong>in</strong>satz politischer Symbole und durch symbolische Handlungen werden komplexe<br />

politische Interaktionslagen vere<strong>in</strong>facht ausgedrückt und als E<strong>in</strong>heit erlebbar. Das Bewußtse<strong>in</strong> wird dadurch entlastet,<br />

daß symbolische ›Verdichtungen‹ gleichsam als Wahrnehmungsfilter die Fähigkeit steigern, sich bei hoher Informationsund<br />

Kommunikationsdichte zu orientieren.* (S. 240f.) Gleich im Anschluß an jene Sätze folgt jedoch auch e<strong>in</strong>e kritische<br />

E<strong>in</strong>schätzung dieser Entwicklung: +Dabei drängt sich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>druck auf, daß sich die Rolle des Bürgers weitgehend<br />

dar<strong>in</strong>erschöpft,Objektanthropologischerundsozialpsychologischer,kommunikations- undsprachstrategischerKalküle<br />

zu se<strong>in</strong>.* (Ebd.; S. 241)<br />

67. Meyer weist auf den Wi<strong>der</strong>spruch h<strong>in</strong>, daß Baudrillards These vom Simulakrum (bzw. ihre Formulierung) unmöglich<br />

wäre, wenn sie wahr wäre. Denn wenn die reale Welt schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Medien-Simulation aufgegangen wäre, wie Baudrillard<br />

behauptet, so könnte auch Baudrillards Denken sich dieser Vere<strong>in</strong>nahmung nicht entziehen (vgl. Inszenierung des<br />

Sche<strong>in</strong>s; S. 194f.). Er übersieht <strong>in</strong> dieser Kritik jedoch, daß Baudrillard von e<strong>in</strong>er ironischen Distanz <strong>der</strong> Theorie ausgeht,<br />

die es ihr erlaubt, als +<strong>fatal</strong>e Strategie* zu wirken, die die Hyperrealität des Simulakrum durchdr<strong>in</strong>gt (siehe S. 63f.).<br />

68. Hartley stellt heraus, daß Bil<strong>der</strong> erstens an sich politisch s<strong>in</strong>d und sie zweitens <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dazu dienen, politische<br />

Inhalte <strong>in</strong> die private Sphäre zu transportieren. Insoweit ist die Verb<strong>in</strong>dung zwischen Bildsymbolen und <strong>Politik</strong> enger<br />

als geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> angenommen (vgl. The Politics of Pictures; <strong>in</strong>sb. Kap. 2).


72 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

69. Dazu e<strong>in</strong>e +Illustration* bezogen auf das BSE-Fallbeispiel: E<strong>in</strong>e Netzrecherche (durchgeführt am 20.1.1998) zum<br />

Stichwort +BSE* bei zwei populären Suchdiensten (+Altavista* und +Infoseek*) ergab 20.629 bzw. 12.423 +Treffer*,<br />

wobei sich die Reihenfolge <strong>der</strong> Anzeige <strong>der</strong> gefundenen Seiten re<strong>in</strong> nach ihrem statistisch ermittelten Themenbezug<br />

richtet, d.h. e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Gewichtung o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Bevorzugung für +offizielle* Seiten ist 8<strong>der</strong>zeit) nicht gegeben.<br />

Das erhöht im Vergleich zu konventionellen Medien die Chancen für nicht-staatliche und kritische Stimmen.<br />

70. Auch Richard Münch weist darauf h<strong>in</strong>, daß politisches Handeln heute zum großen Teil öffentliche Kommunikation<br />

ist (die sich über Medien +vermittelt*). (Vgl. Dialektik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft; S. 257)<br />

71. E<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Wahlrecht zu dem (mit nur e<strong>in</strong>geschränkten Kompetenzen ausgestatteten Reichstag) gab es <strong>in</strong><br />

Deutschland z.B. erst mit <strong>der</strong> Reichsgründung 1871 – freilich war es auf die männliche Bevölkerung beschränkt. Frauen<br />

erhielten erst 1918 mit <strong>der</strong> Errichtung <strong>der</strong> Republik das Wahlrecht, das <strong>in</strong> den allermeisten Staaten immer noch alle<strong>in</strong>e<br />

auf die Staatsbürger begrenzt ist. In <strong>der</strong> EU ist diese Beschränkung erst mit den Verträgen von Maastricht <strong>in</strong>soweit<br />

e<strong>in</strong> Stück aufgehoben worden, als EU-Bürgern nun <strong>in</strong> jedem Mitgliedsstaat das Recht zur Wahlbeteiligung auf kommunaler<br />

Ebene e<strong>in</strong>zuräumen ist.<br />

72. Siehe zu den unterschiedlichen Modellen des Wohlfahrtsstaates S. 224.<br />

73. Offe vertritt <strong>in</strong> diesem Aufsatz die für mich noch immer überzeugende These, daß durch ihre mangelnde Organisationsund<br />

Konfliktfähigkeit sowie durch die gefor<strong>der</strong>te +Legalität*, d.h. die B<strong>in</strong>dung an die (grund)gesetzliche Ordnung,<br />

all jene Interessen im pluralistischen System aus dem Willensbildungsprozeß ausgesperrt werden, +die allgeme<strong>in</strong> und<br />

nicht an Statusgruppen gebunden s<strong>in</strong>d; die konfliktunfähig, weil ohne funktionelle Bedeutung für den Verwertungsprozeß<br />

von Kapital und Arbeitskraft s<strong>in</strong>d; und die als utopische die historischen Systemgrenzen transzendieren* (Politische Herrschaft<br />

und Klassenstrukturen; S. 171).<br />

74. Die hier gegebene Antwort fällt allerd<strong>in</strong>gs wenig befriedigend und viel zu vage aus. Denn Dettl<strong>in</strong>g for<strong>der</strong>t (ohne<br />

konkret zu werden) im Anschluß an Etzionis Ausführungen <strong>in</strong> +The Moral Dimension* (1988), wo dieser das grundsätzlich<br />

neben Nutzenkalkülen immer auch gegebene moralische Empf<strong>in</strong>den des Menschen hervorhebt, lediglich e<strong>in</strong> neues<br />

+kommunitäres Leitbild*, das e<strong>in</strong>e wechselseitige Ergänzung und Unterstützung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft<br />

ermöglichen soll.<br />

75. Der Trend zu e<strong>in</strong>er s<strong>in</strong>kenden Wahlbeteiligung gilt, wie die vergleichende Analyse von Flickenberger und Studlar<br />

zeigt, für die allermeisten westeuropäischen Staaten (vgl. The Disappear<strong>in</strong>g Voters?).<br />

76. Da es hier primär um die Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> +klassischen* <strong>Politik</strong> geht, werde ich erst <strong>in</strong> Kapitel 5 (Abschnitt 2) näher<br />

auf die Problematik <strong>der</strong> Subpolitik e<strong>in</strong>gehen und mich hier auf e<strong>in</strong>ige knappe Bemerkungen beschränken.<br />

77. Allerd<strong>in</strong>gs stellt letzteres nach Luhmann nur e<strong>in</strong>en Ausnahmefall dar. In <strong>der</strong> Regel bedeutet die Exklusion aus<br />

e<strong>in</strong>em Segment <strong>der</strong> Gesellschaft gleichzeitig die Inklusion <strong>in</strong> e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Segment.<br />

78. Derartiges galt selbstverständlich auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit nur bed<strong>in</strong>gt, doch waren z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> ständischen<br />

Gesellschaft des Mittelalters <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat mit <strong>der</strong> Geburt auch <strong>der</strong> spätere Beruf (und die mit diesem verknüoften) politischen<br />

Rechte weitgehend festgelegt.<br />

79. Dazu bemerkt Luhmann: +Es versteht sich von selbst, daß die funktionale Differenzierung ihren Exklusionsbereich<br />

nicht ordnen kann, obwohl sie sich aufgrund ihres gesellschaftsuniversalen Selbstverständnisses auch auf ihn erstreckt,<br />

also Geld nicht nach <strong>der</strong> Hand unterscheidet, die es ausgibt beziehungsweise empfängt, Recht für alle gelten läßt<br />

[…] Diese Logik <strong>der</strong> funktionalen Differenzierung gerät aber <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zu den Tatsachen <strong>der</strong> Exklusion. Ihre<br />

Unwahrsche<strong>in</strong>lichkeit, ihre Künstlichkeit wird sichtbar. Ihre Codes gelten und gelten nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong>selben Gesellschaft<br />

[…]* (Inklusion und Exklusion; S. 41f.)<br />

80. Dieses Defizit wird deshalb häufig durch patronageartige +Selbstorganisationen*, also <strong>in</strong>formelle Netzwerke,<br />

kompensiert (vgl. Inklusion und Exklusion; S. 30ff.).<br />

81. Habermas rekurriert hier se<strong>in</strong>erseits auf Lockwood, <strong>der</strong> sich mit dem Begriff <strong>der</strong> sozialen Integration auf Beziehungen<br />

zwischen sozialen Akteuren bezieht, woh<strong>in</strong>gegen <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> System<strong>in</strong>tegration auf das Verhältnis von Teilen bzw.


A: ANMERKUNGEN 73<br />

+Teilsystemen* des sozialen Systems zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> (und zum Gesamtsystem) abzielt (vgl. Soziale Integration und<br />

System<strong>in</strong>tegration).<br />

82. Melucci weist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf das +Dilemma <strong>der</strong> abhängigen Partizipation* h<strong>in</strong>: Die (erwünschte)<br />

Ausweitung <strong>der</strong> Partizipation <strong>in</strong> pluralistischen Gesellschaften macht e<strong>in</strong>e parallele Ausweitung <strong>der</strong> bürokratischen<br />

Koord<strong>in</strong>ation notwendig, die die Partizipationsmöglichkeiten wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>schränkt. Zusätzlich nennt Melucci das<br />

+Dilemma <strong>der</strong> Surplus -Variabilität*, das durch die Notwendigkeit konstanten Wandels und die gleichzeitige Notwendigkeit,<br />

e<strong>in</strong>e gewisse Stabilität <strong>der</strong> Normen und Prozeduren zu gewährleisten, entsteht, sowie das +Dilemma <strong>der</strong> Unbestimmbarkeit<br />

<strong>der</strong> letzten Ziele*, das dadurch zustande kommt, daß die Zahl <strong>der</strong> zu treffenden Entscheidungen steigt, es allerd<strong>in</strong>gs<br />

immer schwieriger wird zu bestimmen, welche Entscheidungen wirklich essentiell s<strong>in</strong>d. (Vgl. Nomads of the Present;<br />

S. 169f.)<br />

83. Wenn man, an<strong>der</strong>s als Appadurai, mehr den Blick auf die +fortgeschrittenen* Regionen wirft, so kann man me<strong>in</strong>er<br />

Ansicht nach feststellen, daß auch dort Ideen von außen aufgenommen wurden – z.B. aus dem Buddhismus, dem<br />

Taoismus und von sog. +primitiven* Kulturen etc. Aber auch im Westen hat natürlich e<strong>in</strong>e +Indigenisierung* dieser<br />

(vorwiegend religiösen) +Ideoscapes* stattgefunden: Die +fremden* Vorstellungen werden an den eigenen Kontext<br />

angepaßt. Man kann me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach sogar soweit gehen, zu behaupten, daß e<strong>in</strong>e +kulturelle Ausbeutung* vorgenommen<br />

wird, <strong>in</strong>dem die (materiell und strukturell überlegenen) +Ideensucher* des Westens <strong>in</strong> die Welt ausströmen<br />

und alles (ungefragt) für ihr eklektisches +New-Age-Denken* vere<strong>in</strong>nahmen, während die Armen materiell wie ideell<br />

auf das Lokale beschränkt bleiben (vgl. hierzu auch me<strong>in</strong>en Essay: Die globale Klasse).<br />

84. Appadurai legt hier <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dar, daß das Verhältnis von Staat und Nation <strong>der</strong>zeit immer größere Probleme<br />

aufwirft: Nationen (bzw. ethnische Gruppierungen) versuchen sich als separate Staaten zu etablieren, und souveräne<br />

Staaten versuchen umgekehrt sich als (e<strong>in</strong>heitliche) Nationen darzustellen. In diesem +Kampf* zwischen Staaten und<br />

Nationen spielen +Ideoscapes* (wie die Nationen-Idee selbst) und +Mediascapes* (z.B. zur symbolischen Pazifierung<br />

von separatistischen Bewegungen) e<strong>in</strong>e zentrale Rolle. Aber auch die Ströme von Personen, Kapital und Technologien,<br />

für die die Grenzen <strong>der</strong> Staaten zum<strong>in</strong>dest zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad durchlässig se<strong>in</strong> müssen, dürfen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Analyse<br />

nicht vernachlässigt werden, denn sie öffnen gleichzeitig die Türe für neue Herausfor<strong>der</strong>ungen des Nationalstaats,<br />

wie z.B. <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a, wo mit den westlichen Waren und <strong>der</strong> Freihandelsideologie auch <strong>der</strong> Demokratiegedanke importiert<br />

wurde.<br />

85. Wie bereits dargelegt (siehe S. 187), ist Individualisierung für mich <strong>der</strong> Ausdruck e<strong>in</strong>es bestimmten Niveaus von<br />

Differenzierung (und gleichzeitig dabei auch an e<strong>in</strong>e +materielle Basis* gekoppelt).<br />

86. Wenn ich hier von e<strong>in</strong>er +funktional differenzierter Gesellschaft* spreche, so me<strong>in</strong>e ich damit e<strong>in</strong>e Gesellschaft,<br />

die +so tut*, als ob sie funktional differenziert wäre. Das bedeutet, sie weist auf bestimmten Ebenen tatsächlich Merkmale<br />

funktionaler Differenzierung auf, wie z.B. e<strong>in</strong>e formale Trennung <strong>der</strong> Sphären <strong>Politik</strong>, Recht, Wissenschaft etc., und<br />

diese formale Trennung wird (zum Zweck <strong>der</strong> Deflexion) auch häufig +demonstriert*. An<strong>der</strong>erseits bestehen +untergründige*<br />

(Inter-)Dependenzen, wie beispielsweise die selbst von Luhmann gesehene Schließung im Exklusionsbereich. Funktionale<br />

Differenzierung, so wie sie sich +real* darstellt, hat damit primär ideologischen wie praxologischen Charakter.<br />

87. Mit diesem Begriff rekurriere ich auf Peter Gross (vgl. Die Multioptionsgesellschaft).<br />

88. Me<strong>in</strong>e +Excursion Term<strong>in</strong>ale* wird sich dieser Frage, allerd<strong>in</strong>gs auf eher philosophisch-abstrakter Ebene, ausführlicher<br />

widmen. Im Vorgriff auf me<strong>in</strong>e dortigen Ausführungen möchte ich jedoch schon hier klarstellen, daß <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzbegriff<br />

für mich sowohl Unbestimmbarkeit auf <strong>der</strong> Grundlage des Vorhandense<strong>in</strong>s verschiedener Möglichkeiten, wie die<br />

gleichzeitige Begrenztheit (Kont<strong>in</strong>gentierung) dieser Möglichkeiten ausdrückt (vgl. hierzu auch me<strong>in</strong>en Aufsatz: Die<br />

kont<strong>in</strong>gente Gesellschaft).<br />

89. Was die Problematik <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Identität betrifft, so möchte ich darauf hier nicht näher e<strong>in</strong>gehen, son<strong>der</strong>n<br />

verweise auf die diversen Beiträge <strong>in</strong> dem von He<strong>in</strong>er Keupp und Renate Höfer herausgegebenen Sammelband<br />

+Identitätsarbeit heute* (1997) sowie auf die Ausführungen von Anthony Elliot (vgl. Subject to Ourselves – Social Theory,<br />

Psychoanalysis and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity).<br />

90. Wie dargelegt, geht Individualisierung mit e<strong>in</strong>em Wertewandel und e<strong>in</strong>er Transformation <strong>der</strong> politischen Kultur<br />

e<strong>in</strong>her.


74 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

91. Diese Aussage verlangt natürlich nach e<strong>in</strong>er differenzierenden Präzisierung: In Kapitel 2 wurde e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

Transformationsprozessen dargestellt: die Globalisierung (und gleichzeitige +<strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrialisierung*) <strong>der</strong> Wirtschaft<br />

(Abschnitt 2.1), die zunehmende Verrechtlichung (Abschnitt 2.2), die Verwissenschaftlichung und Technisierung<br />

(Abschnitt 2.3), die vom Aufkommen neuer Medien e<strong>in</strong>geleitete Wandlung des Öffentlichkeitssystems (Abschnitt<br />

2.4) und <strong>der</strong> von e<strong>in</strong>em Wertewandel und Umbruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Kultur begleitete Individualisierungsprozeß<br />

(Abschnitt 2.5). Diese Transformationsprozesse s<strong>in</strong>d natürlich nicht – wie auch im Resümee zu Kapitel 2 dargelegt<br />

– gleichermaßen +reflexiv* für die <strong>Politik</strong>. Während Globalisierung und Individualisierung primär Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />

für sie darstellen, ist die Entwicklung <strong>in</strong> den Bereichen Wissenschaft/Technik und Medien durchaus ambivalent, da<br />

Wissenschaft, Technik und Medien auch mächtige Deflexionsressourcen für die <strong>Politik</strong> bereithalten. Was die Entwicklung<br />

im Rechtssystem betrifft, so hat sich me<strong>in</strong>es Erachtens sogar e<strong>in</strong>e deflexive Ko-Evolution gezeigt. Nun gilt jedoch,<br />

wie ich <strong>in</strong> diesem Kapitel versucht habe herauszuarbeiten, daß Deflexionsversuche ihrerseits ambivalent s<strong>in</strong>d. Denn<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wo Deflexionsmechanismen bewußt (d.h. reflektiert) werden, s<strong>in</strong>d sie ihrerseits Ansatzpunkt für e<strong>in</strong>e<br />

H<strong>in</strong>terfragung des Systems, erhöhen also paradoxerweise dessen Instabilität. Nicht nur die Reflexion von +Reflexivität*<br />

(also die Produktion von un<strong>in</strong>tendierten Nebenfolgen durch Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesse), son<strong>der</strong>n auch die Reflexion<br />

von deflexiven Prozessen, kann folglich e<strong>in</strong> Impuls für Subpolitisierung se<strong>in</strong> – allerd<strong>in</strong>gs mit den unten gemachten<br />

E<strong>in</strong>schränkungen.<br />

92. Das Mittel <strong>der</strong> ökonomischen Integration ist deshalb aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ambivalent zu bewerten.


A: ANMERKUNGEN 75<br />

KAPITEL 4: DER FALL +BSE*: VON UNGLÜCKLICHEN KÜHEN UND EINER VERUNGLÜCKTER BINNEN-<br />

MARKTPOLITIK<br />

1. Es handelt sich hier zwar um e<strong>in</strong>e populärwissenschaftliche Veröffentlichung, die jedoch (fachlich kompetent) von<br />

e<strong>in</strong>er Veter<strong>in</strong>ärmediz<strong>in</strong>er<strong>in</strong> verfaßt wurde.<br />

2. Die geschätzte Latenzzeit bis zum Ausbruch beträgt allerd<strong>in</strong>gs ca. 10 Jahre.<br />

3. Im folgenden beziehe ich mich vorwiegend auf Hacker: Stichwort BSE; S. 7–15 sowie auf diverse Web-Seiten.<br />

Unter letzteren ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Seite von Stephen Dealler (siehe auch unten) herauszustellen (vgl. Internet:<br />

www.airtime.co.uk/bse/hist.htm).<br />

4. Es wird allerd<strong>in</strong>gs angenommen, daß das <strong>in</strong> den USA <strong>in</strong> den 60er Jahren aufgetretene +Downer-Cow-Syndrom*<br />

(so genannt, da die Kühe durch die Krankheit unfähig waren aufzustehen) e<strong>in</strong>e Variante von BSE gewesen se<strong>in</strong> könnte<br />

(vgl. Köster-Lösche: R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n; S. 23f.).<br />

5. E<strong>in</strong>e genaue kl<strong>in</strong>ische und neuropathologische Krankheitsdef<strong>in</strong>ition erfolgte aber erst späterer (vgl. Wilesmith/Wells:<br />

Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy).<br />

6. Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre hatte man <strong>in</strong> Großbritannien – vermutlich auf Betreiben <strong>der</strong> Tiermehlproduzenten, die Kosten<br />

sparen wollten – die Vorschriften zur Aufbereitung von Tiermehl (zu dem man auch an Scrapie gestorbene Schafe<br />

verarbeitete) gelockert. Zum Teil erhitze man das Endprodukt nur noch auf 80°C, was als ke<strong>in</strong>esfalls ausreichend<br />

gilt, um die +Erreger* spongiformer Enzephalopathien zu <strong>in</strong>aktivieren.<br />

7. Der Nutzen <strong>der</strong> Tiermehlverfütterung ist im übrigen umstritten, da Kühe (mit <strong>der</strong> Hilfe von <strong>in</strong> ihrem Darmtrakt<br />

lebenden Mikroorganismen) die +hochwertigen* Eiweiße, die man mit dem Tiermehl dem Futter zusetzt, aus pflanzlicher<br />

Nahrung selbst erzeugen bzw. synthetisieren können.<br />

8. Man faßt diese R<strong>in</strong><strong>der</strong>bestandteile unter dem Begriff +Specified Bov<strong>in</strong>e Offals* (SBOs) zusammen.<br />

9. In November 1989 verboten Deutschland, Italien und Frankreich auch den Import von britischem R<strong>in</strong>dfleisch.<br />

Dieses Import-Verbot wurde auf britischen Druck h<strong>in</strong> im Zuge <strong>der</strong> (bedeutend mil<strong>der</strong>en) EU-weiten Regelung vom<br />

Juni 1990 (siehe unten) wie<strong>der</strong> aufgehoben.<br />

10. Vgl. zur Problematik <strong>der</strong> BSE-Diagnose und damit auch des Labels +BSE-frei* aufgrund <strong>der</strong> langen Latenzzeit und<br />

<strong>der</strong> stark differierenden Symptomatik bei den e<strong>in</strong>zelnen Tieren Marsch: BSE-Free Status – What Does It Mean?<br />

11. Der H<strong>in</strong>tergrund hierfür ist natürlich, daß man verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n wollte, daß Tiere e<strong>in</strong>geführt und dann geschlachtet<br />

würden. Zudem wollte man e<strong>in</strong>e +Verschleppung* von BSE verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. An<strong>der</strong>erseits wurden aus Großbritannien<br />

meist wenig von BSE betroffene +R<strong>in</strong><strong>der</strong>assen* importiert. Und schließlich geht man ja nach wie vor davon aus, daß<br />

BSE sich nur durch unzureichend aufbereitetes Tiermehl hatte ausbreiten können. E<strong>in</strong>e direkte Ansteckungsgefahr<br />

für den +heimischen* Bestand konnte also eigentlich nicht erwartet werden.<br />

12. Bis Mai 1996 wurden außerhalb Großbritanniens allerd<strong>in</strong>gs nur rund 400 BSE-Fälle offiziell registriert – <strong>der</strong> Großteil<br />

davon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz (213 Fälle), die bisher nicht EG- bzw. EU-Mitgliedsstaat ist. Ansonsten trat BSE <strong>in</strong> nennenswerten<br />

Umfang nur noch <strong>in</strong> Irland (105 Fälle) und Frankreich (20 Fälle) auf. Die Bundesrepublik war nur mit 4 Fällen betroffen.<br />

Wie <strong>in</strong> Italien, Dänemarkt, Portugal, Griechenland, Kanada, den USA, Argent<strong>in</strong>ien, Israel und Oman (die auch jeweils<br />

e<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> mehrere Fälle verzeichnen mußten) handelte es sich dabei sogar ausschließlich um britische Import-R<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

(Vgl. Hacker: Stichwort BSE; S. 14).<br />

13. Die E<strong>in</strong>fuhr-E<strong>in</strong>schränkung für Fleisch aus BSE-betroffenen Betrieben bestand allerd<strong>in</strong>gs nur dar<strong>in</strong>, daß das Fleisch<br />

entbe<strong>in</strong>t und (soweit möglich) von Nerven- und Lymphgewebe befreit se<strong>in</strong> mußte.


76 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

14. Das nur mehr +sporadische* Auftreten von BSE, das die Graphik, auf die ich verwiesen habe, für die Geburtsjahrgänge<br />

1990/91 und 1991/92 suggeriert, ist allerd<strong>in</strong>gs tatsächlich wohl eher darauf zurückzuführen, daß die meisten Tiere<br />

erst im Alter von etwa 5 Jahren BSE entwickeln. Trotzdem ist, wenn man diesen Medianwert zur Grundlage nimmt,<br />

das Abs<strong>in</strong>ken beim Jahrgang 1989/90 e<strong>in</strong>igermaßen aussagekräftig, und auch e<strong>in</strong>e Aufschlüsselung nach Altersklassen<br />

– die diese Verzerrung umgeht – zeigt, daß die Erkrankungszahlen deutlich zurückg<strong>in</strong>gen (vgl. Wilesmith: Recent<br />

Observations on the Epidemiology of Bov<strong>in</strong>e Spongiforme Encephalopathy; Tab. 4.2; S. 47). Daß überhaupt auch nach<br />

dem Tiermehl-Verfütterungsverbot von 1988 geborene Tiere noch an BSE erkrank(t)en, wird neben <strong>der</strong> illegalen<br />

Verfütterung von Tiermehl-Restbeständen auf e<strong>in</strong>e vertikale (vom Muttertier auf das Kalb erfolgende) Übertragung<br />

zurückgeführt – obwohl es für diesen Infektionsweg bisher zum<strong>in</strong>dest ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutigen wissenschaftlichen Belege<br />

gibt (vgl. Bradley: Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy Distribution and Update on Some Transmission and Decontam<strong>in</strong>ation<br />

Studies; S. 18f.).<br />

15. Die Tabelle ist, da sie, wie angegeben, weitgehend aus e<strong>in</strong>er Prus<strong>in</strong>er-Veröffentlichung von mir übernommen<br />

wurde, +prionentheoretisch e<strong>in</strong>gefärbt* (siehe zur Prionentheorie auch me<strong>in</strong>e untenstehenden Ausführungen). Für<br />

e<strong>in</strong>e neutralere und detaillierte Beschreibung vgl. Brown/Gajdusek: The Human Spongiform Encephalopathies.<br />

16. In Großbritannien starben zwischen 1990 und 1994 durchschnittlich etwa 0,7 Personen pro e<strong>in</strong>e Million E<strong>in</strong>wohner<br />

und Jahr an CJK – das ist zwar nicht über dem weltweiten Durchschnitt, stellt aber e<strong>in</strong>e recht deutliche Steigerung<br />

im Vergleich zur Vergangenheit (1985–89: 0,46) dar (vgl. Will: Incidence of Creutzfeldt-Jakob Disease <strong>in</strong> the European<br />

Community; Tab 27.5, S. 368). E<strong>in</strong>e Aufschlüsselung <strong>der</strong> Fälle (1990–95) nach Berufsgruppen zeigt, daß tatsächlich<br />

britische Farmer mit e<strong>in</strong>er hochgerechneten Rate von 4,1 Fällen pro e<strong>in</strong>e Million E<strong>in</strong>wohner bei den diagnostizierten<br />

CJK-Fällen stark überrepräsentiert waren. Viel dramatischer war das CJK-Risiko allerd<strong>in</strong>gs ansche<strong>in</strong>end für Vikare (Rate:<br />

11,8), Berufsfahrern (Rate: 8,2) o<strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>ern und Sanitätern (Rate: 5,7). (Vgl. ebd.; Tab 27.8, S. 372)<br />

An<strong>der</strong>erseits muß bei diesem Rechenspiel angemerkt werden, daß so kle<strong>in</strong>e Fallzahlen natürlich ke<strong>in</strong>e verläßlichen<br />

Hochrechnungen erlauben. Erkrankt z.B. auch nur e<strong>in</strong> Angehöriger e<strong>in</strong>es extrem seltenen Berufs, so ergibt die<br />

Hochrechnung zwangsläufig e<strong>in</strong>e dramatische Erkrankungsrate <strong>in</strong> dieser Berufsgruppe (wie z.B. im Fall <strong>der</strong> Vikare,<br />

wo nur zwei Erkrankte für die hohe Rate verantwortlich s<strong>in</strong>d). Die allgeme<strong>in</strong> erhöhten Fallzahlen <strong>in</strong> Großbritannien<br />

schließlich lassen sich auch auf die größere Aufmerksamkeit für und die größere Bekanntheit von CJK gerade durch<br />

die Medienberichterstattung zurückführen. Aufgrund e<strong>in</strong>er ähnlichen Symptomatik kann CJK nämlich z.B. auch leicht<br />

mit <strong>der</strong> Alzheimer-Erkrankung verwechselt werden (die von manchen Wissenschaftlern sogar ursächlich <strong>in</strong> die Nähe<br />

von SE-Erkrankungen gebracht wird). Es mag also <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit (und sogar heute) e<strong>in</strong>e ganze Reihe von nicht<br />

erkannten Fällen geben haben bzw. geben.<br />

17. Bei BSE zeigen sich nach dem Anfärben deutlich sichtbare Eiweißablagerungen vor allem im neuronalen Gewebe.<br />

Diese sog. +Plaques* bzw. Amyloide (so genannt nach <strong>der</strong> eigentlich zum Stärke-Nachweis gebrauchten Anfärbemethode)<br />

werden bei CJK normalerweise nicht im selben Ausmaß angetroffen bzw. konnten <strong>in</strong> manchen Fällen sogar erst mit<br />

verfe<strong>in</strong>erten Nachweismethoden gefunden werden. Zudem handelte es sich bei den an dieser neuen Variante erkrankten<br />

Personen auch überwiegend um sehr junge Personen – was für CJK eher untypisch ist.<br />

18. Man unterscheidet zwischen e<strong>in</strong>er +horizontalen* Übertragung von e<strong>in</strong>em Herdentier auf das an<strong>der</strong>e und <strong>der</strong><br />

+vertikalen* Übertragung vom Muttertier auf das Kalb.<br />

19. +Begrenzt* und +unter Schwierigkeiten* deshalb, weil im Labor meist <strong>der</strong> Weg e<strong>in</strong>er direkten Injektion <strong>in</strong>s Hirn<br />

(also direkt und mit vergleichsweise hohen Dosen von <strong>in</strong>fektiösem Material) beschritten wird und nicht e<strong>in</strong>mal das<br />

<strong>in</strong> allen Fällen zu e<strong>in</strong>er Erkrankung führt (vgl. z.B. Tell<strong>in</strong>g et al.: Decipher<strong>in</strong>g Prion Diseases with Transgenic Mice; S.<br />

205ff.). Prus<strong>in</strong>er, <strong>der</strong> maßgebliche Vertreter <strong>der</strong> +Prionentheorie* (siehe unten), führt dies darauf zurück, daß nur<br />

relativ homolog gebaute Prion-Prote<strong>in</strong>e (die er für Enzephalopathien wie Scrapie, CJK o<strong>der</strong> BSE verantwortlich macht)<br />

das zelluläre Eiweiß <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e pathogene Form umwandeln können (vgl. Prionen-Erkrankungen; S. 50f.).<br />

20. Die Studie von Fraser et al. wurde bereits 1988 durchgeführt. In <strong>der</strong> Zwischenzeit wurde e<strong>in</strong>e Übertragbarkeit<br />

auch auf Schafe, Ziegen, Schwe<strong>in</strong>e, Krallenaffen und Nerze gezeigt (vgl. Bradley: Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy<br />

Distribution and Update on Some Transmission and Decontam<strong>in</strong>ation Studies; Tab. 2.1, S. 15).<br />

21. Mittlerweile gibt es zwei +Nature*-Veröffentlichungen, die fast schon als +Beweis* für die Übertragbarkeit von<br />

BSE auf den Menschen gewertet werden können (vgl. Bruce et al.: Transmissions to Mice Indicate that ›New Variant‹<br />

CJD is Caused by the BSE Agent sowie Hill et al.: The Same Prion Stra<strong>in</strong> Causes vCJD and BSE).


A: ANMERKUNGEN 77<br />

22. Diese Mikrofilter hätten Bakterien o<strong>der</strong> gar E<strong>in</strong>zeller als Krankheitserreger herausfiltern müssen. Doch auch nach<br />

dem Filterungsprozeß war e<strong>in</strong>e Infektiosität gegeben.<br />

23. Dies s<strong>in</strong>d Stoffe, welche die Tertiärstruktur (d.h. die räumliche Anordnung) von Prote<strong>in</strong>en (Eiweißen) umbilden<br />

und deshalb schädigend auf die aus Prote<strong>in</strong>en bestehende Virushülle wirken.<br />

24. Hier ist ke<strong>in</strong>e gentechnische Clonierung geme<strong>in</strong>t. Der Begriff bezieht sich auf e<strong>in</strong> Verfahren, bei dem das verwendete<br />

Gewebematerial aus Tieren gewonnen wurde, die ursprünglich – aufgrund <strong>der</strong> angewendeten Prozeduren –<br />

höchstwahrsche<strong>in</strong>lich nur mit e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>fektiösen Partikel <strong>in</strong>fiziert wurden, so daß bei ihnen eigentlich nur e<strong>in</strong> +Stamm*<br />

des Erregers vorkommen kann (vgl. Bruce/Fraser: Scrapie Stra<strong>in</strong> Variation and Its Implications; S. 132).<br />

25. Narang glaubt, Teile sog. +Nemaviren* <strong>in</strong> den von ihm untersuchten Proben gefunden zu haben – e<strong>in</strong>e neue,<br />

von ihm selbst beschriebene Virenklasse, <strong>der</strong>en DNA, ähnlich wie bei Vir<strong>in</strong>os, von e<strong>in</strong>er schützenden Prote<strong>in</strong>hülle<br />

umgeben ist, wobei sich +Nemaviren* aber dadurch zusätzlich +auszeichnen*, daß ihre nur e<strong>in</strong>strängige (s<strong>in</strong>gle stranded)<br />

DNA ihrerseits um e<strong>in</strong> Prion-Prote<strong>in</strong> gewunden ist. Dieser Forscher, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ige Artikel<br />

zusammen mit Nobelpreisträger Gajdusek veröffentlichte, hatte übrigens als Angestellter des britischen Gesundheitsamts<br />

e<strong>in</strong>ige Jahre an e<strong>in</strong>em Ur<strong>in</strong>-Test für BSE gearbeitet. Als er diesen Test Anfang <strong>der</strong> 90er Jahre <strong>in</strong> Schlachthöfen erproben<br />

wollte, wurde er von se<strong>in</strong>em damaligen Arbeitgeber entlassen (siehe auch unten).<br />

26. Prus<strong>in</strong>er, <strong>der</strong> <strong>in</strong>zwischen (1997) für se<strong>in</strong>e Arbeit ebenfalls (wie Gajdusek) mit dem Mediz<strong>in</strong>-Nobelpreis geehrt<br />

wurde, legte die Grundzüge se<strong>in</strong>er Prionen-Theorie 1982 Jahre dar (vgl. Novel Prote<strong>in</strong>aceous Infectious Particles Cause<br />

Scrapie). In dem zitierten Artikel von Griffith, <strong>der</strong> 1967 veröffentlicht wurde, spekulierte dieser aber über e<strong>in</strong>en ganz<br />

ähnlichen Mechanismus – nachdem bereits zuvor von an<strong>der</strong>en Wissenschaftlern die Vermutung geäußert worden<br />

war, daß e<strong>in</strong> <strong>in</strong> irgend e<strong>in</strong>er Weise <strong>in</strong>fektiös wirkendes Prote<strong>in</strong> und ke<strong>in</strong> Virus die Ursache von Scrapie se<strong>in</strong> könnte<br />

(vgl. Pattison/Jones: The Possible Nature of the Agent of Scrapie).<br />

27. Es wird vermutet, daß das PrP e<strong>in</strong>e Rolle im System <strong>der</strong> Wachstumsregulation von Nervenzellen spielt.<br />

28. E<strong>in</strong>e Animation auf <strong>der</strong> Web-Seite <strong>der</strong> Prionen-Forschungsgruppe am Genzentrum München stellt diesen Umwandlungsprozeß<br />

sehr anschaulich dar: www.lmb.uni-muenchen.de/groups/w<strong>in</strong>nacker/weiss/ma<strong>in</strong>_weiss.htm).<br />

29. Das hochgestellte +Sc* steht für Scrapie, denn Prus<strong>in</strong>er beschäftigte sich ursprünglich mit dieser Krankheit.<br />

30. Auf diese beiden Aufsätze beziehe ich mich im wesentlichen auch bei me<strong>in</strong>er folgenden Darstellung. Prus<strong>in</strong>ers<br />

Artikel erschien im +Spektrum <strong>der</strong> Wissenschaft* und ist deshalb für e<strong>in</strong> wissenschaftlich <strong>in</strong>teressiertes Laienpublikum<br />

abgefaßt, leicht verständlich und knapp gehalten. Bei dem Artikel von Horwich und Weissman (beides Mitarbeiter<br />

von Prus<strong>in</strong>er) handelt es sich um e<strong>in</strong> detailliertes +Review*, das den aktuellen Stand <strong>der</strong> Debatte (1997) aus <strong>der</strong> Sicht<br />

<strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> Prionentheorie für e<strong>in</strong> wissenschaftliches Fachpublikum zusammenfaßt und gewisse Vorkenntnisse<br />

voraussetzt. Es erschien <strong>in</strong> <strong>der</strong> renommierten Zeitschrift +Cell*.<br />

31. Alper et al. selbst hatten jedoch auf <strong>der</strong> Grundlage ihrer Daten ke<strong>in</strong>e Indizien zur Unterstützung für die bereits<br />

zur Zeit ihrer Experimente (1966/67) aufgekommenen Spekulationen gefunden, daß e<strong>in</strong> +Prote<strong>in</strong>* bei <strong>der</strong> Pathogenese<br />

von Scrapie beteiligt se<strong>in</strong> könnte (siehe dazu auch nochmals Anmerkung 26), son<strong>der</strong>n hielten eher die von Field (1966)<br />

<strong>in</strong> die Debatte e<strong>in</strong>gebrachte Hypothese für wahrsche<strong>in</strong>lich, daß bei übertragbaren spongiformen Enzephalopathien<br />

– wie bei multipler Sklerose – e<strong>in</strong> Polysaccharid im Spiel se<strong>in</strong> könnte (vgl. Transmission Experiments with Multiple<br />

Sclerosis).<br />

32. Jedes Gen enthält <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel den Code zur Herstellung e<strong>in</strong>es spezifischen Eiweiß-Moleküls. Deshalb kann (über<br />

komplexe gentechnische Verfahren), wenn se<strong>in</strong>e Struktur bekannt ist, jedem Prote<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gen zugeordnet werden.<br />

33. Aufgrund von Experimenten mit transgenen Mäusen (denen teils das Gen für das humane Prion-Prote<strong>in</strong>, teils<br />

e<strong>in</strong> chimärisches Prion-Prote<strong>in</strong>-Gen übertragen worden war) zog man den Schluß, daß e<strong>in</strong> weiteres Prote<strong>in</strong> (außer<br />

dem Scrapie Prion-Prote<strong>in</strong>) bei <strong>der</strong> Umwandlung des Prion-Prote<strong>in</strong>s <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e pathogene Form e<strong>in</strong>e Rolle spielen muß,<br />

da e<strong>in</strong>e unterschiedliche +Anfälligkeit* <strong>der</strong> Mausstämme für das (humane) Scrapie-Prion-Prote<strong>in</strong> festgestellt wurde<br />

(vgl. Tell<strong>in</strong>g et al.: Prion Propagation <strong>in</strong> Mice Express<strong>in</strong>g Human and Chimeric PrP Transgenes Implicates the Interaction<br />

of Cellular PrP with Another Prote<strong>in</strong>).


78 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

34. Siehe die MAFF-eigenen Web-Seiten: www.maff.gov.uk/animalh/bse. Purdey, so <strong>der</strong> Name +unseres* Außenseiters<br />

(siehe unten), hatte zeitweise sogar e<strong>in</strong>flußreiche Befürworter <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (allerd<strong>in</strong>gs nicht im Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isterium,<br />

wo die Fäden zusammenlaufen) und veröffentlicht mittlerweile auch (wie die zitierten Artikel zeigen) <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eren<br />

+wissenschaftlichen* Zeitschriften.<br />

35. Die altbekannten Scrapie-Fälle und Kuru br<strong>in</strong>gt Purdey <strong>in</strong> Zusammenhang mit <strong>der</strong> +natürlichen* Radioaktivität<br />

und e<strong>in</strong>er Schwermetallbelastung <strong>der</strong> Böden <strong>in</strong> bestimmten Gegenden.<br />

36. Die Warble- o<strong>der</strong> Dasselfliege legt ihre Eier auf den Tieren ab. Nach dem Schlupfen bohren sich die Larven durch<br />

die Haut.<br />

37. Zur Prävention müssen R<strong>in</strong><strong>der</strong> und Schafe <strong>in</strong> gefährdeten Gegenden bis zu zweimal jährlich mit Pestiziden abgesprüht<br />

werden. Das früher e<strong>in</strong>gesetzte +L<strong>in</strong>dan* wurde Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre verboten und durch das Organophosphat +Phosmet*<br />

ersetzt.<br />

38. Purdey betont deshalb, um durch die Existenz <strong>der</strong> erblichen Se-Syndrome nicht <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche verstrickt zu<br />

werden, daß auch e<strong>in</strong> genetischer Defekt für die Erkrankung ausschlaggebend se<strong>in</strong> kann.<br />

39. In <strong>der</strong> Schweiz wurden e<strong>in</strong>zig Schwe<strong>in</strong>e mit Organophosphaten +behandelt*. Nur extrem ger<strong>in</strong>ge Mengen <strong>der</strong><br />

Pestizide könnten über das Tiermehl <strong>in</strong> die Nahrungskette <strong>der</strong> Kühe gelangt se<strong>in</strong>.<br />

40. Rifk<strong>in</strong>, <strong>der</strong> uns bereits durch se<strong>in</strong>e Thesen zum +Ende <strong>der</strong> Arbeit* (1995) bekannt ist, legt se<strong>in</strong> Hauptaugenmerk<br />

<strong>in</strong> diesem Buch auf den Landverbrauch durch die R<strong>in</strong><strong>der</strong>haltung und auf den Verlust an dr<strong>in</strong>gend benötigten Nahrungsmitteln<br />

durch die praktifizierte +Veredelung* des Getreides. So weist Rifk<strong>in</strong> e<strong>in</strong>leitend darauf h<strong>in</strong>, daß 24% <strong>der</strong> Landmasse<br />

unseres Planeten von R<strong>in</strong><strong>der</strong>n beansprucht werden und man <strong>in</strong> den USA über 70% <strong>der</strong> Getreideproduktion an R<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

verfüttert (vgl. Das Imperium <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>; S. 13).<br />

41. Die genannten Zahlen beziehen sich auf die gesamte Fleisch<strong>in</strong>dustrie (+establishments primarily engaged <strong>in</strong> the<br />

slaughter<strong>in</strong>g […] of cattle, hogs, sheep, lambs, and calves for meat to be sold or to be used on the same premises<br />

<strong>in</strong> cann<strong>in</strong>g, cook<strong>in</strong>g, cur<strong>in</strong>g, and freez<strong>in</strong>g, and <strong>in</strong> mak<strong>in</strong>g sausages, lard, and other products*). Die +R<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>in</strong>dustrie*<br />

hat hier allerd<strong>in</strong>gs den (wenn auch s<strong>in</strong>kenden) größten Anteil (1992 betrug <strong>der</strong> Anteil des R<strong>in</strong>dfleischs am Fleischumsatz<br />

<strong>in</strong> amerikanischen Supermärkten 42%).<br />

42. In <strong>der</strong> deutschen Ausgabe, die ich zitiert habe, ist – etwas unglücklich übersetzt – von <strong>der</strong> +jungste<strong>in</strong>zeitlichen<br />

Umwälzung* die Rede (vgl. Stufen <strong>der</strong> Kultur; S. 61).<br />

43. Ihr wichtigster Gott war Indra, <strong>der</strong> die Gestalt e<strong>in</strong>es Bullen hat, und <strong>der</strong> vedische Begriff für Krieg (gavisti) – die<br />

..<br />

Veden spiegeln das religiöse und soziale Denken <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>er – bedeutet nichts an<strong>der</strong>es als +Begehren nach Kühen*.<br />

Selbst das Wort für den Himmel (ga) vah) kann etymologisch vom Wort für Kuh (gau) abgeleitet werden.<br />

.<br />

44. Es gab im Industal zu dieser Zeit bereits seit ca. 1000 Jahren blühende Städte mit Backste<strong>in</strong>häusern und Kanalisation.<br />

45. In Indien besteht e<strong>in</strong> duales (und ke<strong>in</strong>esfalls homogenes) System von Varna . (den hauptsächlich rituell bedeutenden,<br />

<strong>in</strong> den Veden genannten vier +Hauptkasten*) und Ja) ti (den unzähligen, am Geburts- bzw. Berufsstand orientierten<br />

+Unterkasten*). Hier beziehe ich mich auf das Varna-System, . das auf e<strong>in</strong>en Rig-Veda-Mythos zurückgeht. Dort heißt<br />

es zum Urkörper (Purusa): . +Se<strong>in</strong> Mund ward zum Brahmanen [Priester], se<strong>in</strong>e beiden Arme wurden zum Ra) janya<br />

[Herrscher] gemacht, se<strong>in</strong>e beiden Schenkel zum Vai´sya [Händler- und Bauernstand], aus se<strong>in</strong>en Füßen entstand<br />

<strong>der</strong> Su)dra ! [dienen<strong>der</strong> Stand].* (Zehnter Lie<strong>der</strong>kreis, Hymnus 90, Strophe 12) Die rassistische Komponente dieser<br />

Schichtungshierarchie des Varna-Systems, . wird schon daraus ersichtlich, daß Varna . e<strong>in</strong> Sanskrit-Begriff für Farbe ist<br />

(vgl. hierzu auch me<strong>in</strong>e Ausführungen <strong>in</strong> Shivas Tanz auf dem Vulkan; S. 39f.). E<strong>in</strong>e helle Hautfarbe gilt <strong>in</strong> Indien übrigens<br />

noch immer als Zeichen +vornehmer* Abkunft.<br />

46. Das As´vamedha-Opfer z.B. erfor<strong>der</strong>te die Schlachtung von 600 Bullen. Mit dieser Massentötung sollte wohl die<br />

Wichtigkeit des Rituals herausgestellte werden, denn R<strong>in</strong><strong>der</strong> hatten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ökonomie <strong>der</strong> kaum Ackerbau betreibenden<br />

+Aryas* große, wenn nicht zentrale Bedeutung.


A: ANMERKUNGEN 79<br />

47. Getrockneter Kuhdung wurde <strong>in</strong> wird <strong>in</strong> Indien als Brennmaterial benutzt. Sogar <strong>der</strong> Ur<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kühe wird als Heilmittel<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> traditionellen Mediz<strong>in</strong> angewandt.<br />

48. Im Zeitalter <strong>der</strong> Opfermystik (ca. 1.000 bis 750 v. Chr.) wurde das religiöse und soziale Leben von <strong>der</strong> Priesterkaste<br />

<strong>der</strong> Brahmanen mit ihrem exklusiven, geheimen Opferwissen dom<strong>in</strong>iert. Im +Brahmana <strong>der</strong> hun<strong>der</strong>t Pfade* heißt<br />

es gar: +Die Sonne würde nicht aufgehen, würde nicht <strong>der</strong> Priester <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frühe das Feueropfer darbr<strong>in</strong>gen.* (Zitiert<br />

nach Glasenapp: Die Philosophie <strong>der</strong> In<strong>der</strong>; S.32) Dieses ritualistische Denken wandelte sich mit dem Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong><br />

klassischen Periode ab ca. 550 v. Chr. – vor allem durch den E<strong>in</strong>fluß <strong>der</strong> religiösen und aber gleichzeitig auch sozialen<br />

Bewegungen des Ja<strong>in</strong>ismus und Buddhismus: +Hatte [noch] <strong>in</strong> <strong>der</strong> Upanishadenzeit [ca. 750 bis 550 v. Chr.] das Dorf<br />

den H<strong>in</strong>tergrund für die <strong>in</strong> <strong>der</strong> heiligen Sanskritsprache geführten Diskussionen gebildet, <strong>in</strong> welchen r<strong>in</strong><strong>der</strong>züchtende<br />

Brahmanen und Krieger die höchsten Fragen zu lösen versuchten, so ist es jetzt die Stadt […] War bisher die Philosophie<br />

e<strong>in</strong>e Geheimlehre […], so wurde sie jetzt <strong>in</strong> steigendem Maße zu e<strong>in</strong>er Angelegenheit <strong>der</strong> geistig Bewegten aller Stände.*<br />

(Ebd.; S. 50) Die Autorität <strong>der</strong> Priesterkaste wurde so herausgefor<strong>der</strong>t und +nicht-arische* Adlige wie Maha) vi2ra (<strong>der</strong><br />

Begrün<strong>der</strong> des Ja<strong>in</strong>ismus) und Gautama Buddha stellten <strong>in</strong> ihren immer mehr Anhänger f<strong>in</strong>denden, das Kastensystem<br />

und die Autorität <strong>der</strong> Veden ablehnenden heterodoxen Lehren den Gedanken <strong>der</strong> +Gewaltlosigkeit* (ahimsa) . ) heraus.<br />

Das Zwang auch die Brahmanen zur Anpassung ihrer religiösen Praktiken und Vorstellungen – und vor allem zu e<strong>in</strong>er<br />

Aufgabe ihrer blutigen Opferriten.<br />

49. VHP: Vi´sva H<strong>in</strong>du Parisad (H<strong>in</strong>duistischer Weltrat). Diese militante H<strong>in</strong>du-Vere<strong>in</strong>igung mit Ablegern <strong>in</strong> verschiedenen<br />

.<br />

Staaten war, wie z.B. <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er eigenen Arbeit über den H<strong>in</strong>du-Nationalismus <strong>in</strong> Indien nachgelesen werden kann,<br />

als treibende Kraft an den Agitationen beteiligt, die 1992 zur Stürmung <strong>der</strong> Ba2bri2-Moschee von Ayodhya2 durch militante<br />

H<strong>in</strong>dus führten und ist <strong>in</strong> das Netzwerk <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeit <strong>in</strong> Indien regierenden (damals allerd<strong>in</strong>gs oppositionellen) h<strong>in</strong>dunationalistischen<br />

BJP (Bha2rati2ya Janata2 Party – Indische Volkspartei) <strong>in</strong>tegriert (vgl. Shivas Tanz auf dem Vulkan; Kap.<br />

2 sowie Abschnitt 5.3 und 5.4).<br />

50. Die betreffende Ausgabe kann ihm Web-Archiv dieser h<strong>in</strong>duistischen Propaganda-Zeitschrift angewählt werden<br />

(http://www.spiritweb.org/H<strong>in</strong>duismToday/96-06-Global_Dharma.html).<br />

51. Für den deflexiven Charakter dieser Maßnahmen ist es freilich weniger relevant, ob sie erfolgreich waren o<strong>der</strong><br />

nicht, son<strong>der</strong>n daß sie am Systemerhalt orientiert waren, auf konventionellen +Techniken* aufsetzten und zur Ablenkung<br />

von reflexiven (also das System herausfor<strong>der</strong>nden) Potentialen dienten.<br />

52. 1993 – also noch vor <strong>der</strong> großen Krise, aber bereits lange nach dem Bekanntwerden von BSE – führte Frankreich<br />

142.790 Tiere e<strong>in</strong>. In die Nie<strong>der</strong>lande g<strong>in</strong>gen 135.308 und nach Belgien und Luxemburg 30.828 britische R<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Alle an<strong>der</strong>e Staaten führten nur <strong>in</strong> sehr ger<strong>in</strong>gem Umfang britische Tiere e<strong>in</strong>.<br />

53. 1985 bis 1989 waren die Hauptabnehmer von britischem Tiermehl Frankreich (8.500t) und die Beneluxstaaten<br />

(5.450t). 1993 g<strong>in</strong>g jedoch <strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong> Ware (18.517t), aufgrund des Importverbots <strong>in</strong> viele europäische Län<strong>der</strong>n,<br />

nach Indonesien. Größere Mengen wurden aber auch nach Israel (3.745t), Thailand (1.964t), Italien (1.699t) und<br />

Sri Lanka (1.352t) ausgeführt. Bei R<strong>in</strong>dfleisch war <strong>der</strong> größte Importeur (1993) wie<strong>der</strong>um Frankreich (89.348t), gefolgt<br />

von Italien (15.331t) und den Nie<strong>der</strong>landen (8.120t). (Vgl. Hacker: Stichwirt BSE; S. 44f. u. S. 65)<br />

54. Es wird von mancher Seite e<strong>in</strong>e hohe Dunkelziffer vermutet. So spricht etwa Kari Köster-Lösche (ohne allerd<strong>in</strong>gs<br />

ihre Quelle und Belege zu nennen) von e<strong>in</strong>er Dunkelziffer von 360.000 Tieren (bei 140.000 +offiziellen* Fällen) bis<br />

1995 (vgl. R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n; S. 114).<br />

55. Schnell stellte sich heraus, daß über e<strong>in</strong>e vermutete Übertragung vom Muttertier auf das Kalb auch e<strong>in</strong>e große<br />

Anzahl von Tieren aus den Geburtsjahrgängen nach 1988 an BSE erkrankten – wenn auch deutlich weniger als zuvor.<br />

56. Es wird allerd<strong>in</strong>gs vermutet, daß beträchtliche Mengen britischen R<strong>in</strong>dfleischs über +Umwege* nach Deutschland<br />

gelangt s<strong>in</strong>d (vgl. auch Reicherzer: Betrug leichgemacht).<br />

57. An dieser offiziellen These kann man freilich gewisse Zweifel anmelden, da, wie dargelegt, britisches Tiermehl<br />

<strong>in</strong> großem Umfang (auch schon <strong>in</strong> den 80er Jahren) nach Frankreich exportiert wurde – ohne daß es dort bisher zu<br />

e<strong>in</strong>er BSE-Epidemie gekommen wäre. Auch wenn man aber wie Purdey (siehe S. 281f.) die Theorie e<strong>in</strong>er Organophosphat-<br />

Vergiftung vertritt, so war es e<strong>in</strong>e (eventuell auch im Interesse <strong>der</strong> chemischen Industrie getroffene) staatliche Vorschrift<br />

zur Pestizid-Behandlung, die <strong>der</strong> Krankheit vorausg<strong>in</strong>g.


80 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

58. Dies gilt natürlich vor allem, wenn man sich Purdeys These <strong>der</strong> Organophosphat-Vergiftung zu eigen macht. Die<br />

Schlachtung von Tieren, die nicht mit diesen Giften behandelt wurden, wäre danach offensichtlich uns<strong>in</strong>nig.<br />

59. Bei e<strong>in</strong>er Vernichtung des gesamten Bestands beliefen sich die Kosten sogar auf ca. 22 Milliarden DM. Das schließt<br />

allerd<strong>in</strong>gs nicht nur die Schlachtung, Verarbeitung und Deponierung e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n auch die Entschädigungszahlungen<br />

an die Landwirte, die mit ca. 1.300 DM pro Tier zu Buche schlagen.<br />

60. Inzwischen gibt es auch von schweizer Forschern ausgelöste Spekulationen, daß BSE bzw. CJK sich durch Blut<strong>in</strong>fusionen<br />

übertragen läßt (vgl. Schuh: Wahns<strong>in</strong>n im Blut) – was zu e<strong>in</strong>igem Medienwirbel und öffentlicher Verunsicherung <strong>in</strong><br />

Großbritannien geführt hat.<br />

61. Es war schließlich auch das Drängen von an<strong>der</strong>en EU-Mitgliedsstaaten (vor allem Deutschland), das die britische<br />

<strong>Politik</strong> dem EU-Plan zustimmen ließ. Die ausländischen Befürworter e<strong>in</strong>er möglichst radikalen Lösung hofften wohl<br />

erstens, damit die Ausweitung <strong>der</strong> Seuche auf ihr Territorium zu unterb<strong>in</strong>den (was allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>esfalls gesichert ist),<br />

und zweitens konnte <strong>der</strong>art natürlich gegenüber <strong>der</strong> eigenen Bevölkerung e<strong>in</strong>e unnachgiebige und konsequente Haltung<br />

demonstriert werden.<br />

62. Paradoxerweise s<strong>in</strong>d übrigens ausgerechnet diejenigen, <strong>der</strong>en Profitbegehrlichkeit die Krise möglicherweise auslöste,<br />

nämlich die Tiermühlen, die großen Gew<strong>in</strong>ner, da sie sich vor Aufträgen nun kaum retten können.<br />

63. E<strong>in</strong>e +reflexive* Antwort wäre demgegenüber e<strong>in</strong> risikom<strong>in</strong>imierendes Umschwenken h<strong>in</strong> zu +sanfteren* Produktionsmethoden<br />

im gesamten Bereich <strong>der</strong> Agro<strong>in</strong>dustrie gewesen, was zwar von vielen subpolitischen Gruppierungen schon<br />

lange gefor<strong>der</strong>t wird, aber im politischen Diskurs <strong>der</strong>zeit nicht durchsetzungsfähig ist.<br />

64. E<strong>in</strong>e (kommentierende) Übersicht über die bis 1996 getroffen Verordnungen gibt Kari Köster-Lösche (vgl.<br />

R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n; S. 65ff.).<br />

65. Verschiedene solche Worst-Case-Prognosen (vor allem von Dealler, aber auch von an<strong>der</strong>en Wissenschaftlern)<br />

können (mitQuellenangaben) nachgelesen werden unter: http://www.cyber-dyne.com/~tom/worse_case_scenario.html.<br />

66. In den Medien (um genau zu se<strong>in</strong>: <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Artikel des +Guardian* vom 20. August 1996 mit dem Titel +Man<br />

with a Mission*) wurden allerd<strong>in</strong>gs auch e<strong>in</strong>ige Zweifel an <strong>der</strong> wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit und Kompetenz<br />

Narangs geäußert. Wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorbemerkung <strong>der</strong> von mir herangezogenen Internet-Veröffentlichung des Guardian-Artikels<br />

von Grenn, so <strong>der</strong> Name <strong>der</strong> Autor<strong>in</strong>, zu lesen steht, zeichnet sich diese allerd<strong>in</strong>gs selbst nicht durch übermäßige<br />

Kompetenz <strong>in</strong> Sachen Wissenschaftsjournalismus aus, da sie sich bisher eher als Food-Journalist<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Namen machte<br />

(vgl. www.cyber-dyne.com/~tom/narang.html).<br />

67. Im Jahr 1990, e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> Höhepunkte <strong>der</strong> Medienberichterstattung über BSE <strong>in</strong> Großbritannien, sank <strong>der</strong> Anteil<br />

des R<strong>in</strong>dfleischs am gesamten Fleischverkauf (bei e<strong>in</strong>em deutlichen Preisverfall) von 30,8 auf 25,4%. Der Anteil von<br />

Lamm- und Schwe<strong>in</strong>efleisch stieg im selben Zeitraum um 3,1% bzw. 1,6%. Es wird jedoch damit gerechnet, daß<br />

<strong>der</strong> Langzeiteffekt deutlich ger<strong>in</strong>ger ausfallen wird. (Vgl. Burton/Young: Measur<strong>in</strong>g Meat Consumers’ Response to the<br />

Perceived Risks of BSE <strong>in</strong> Great Brita<strong>in</strong>; S. 23)<br />

68. Vgl. allgeme<strong>in</strong> dazu auch Freedberg: The Power of Images. Explizit kritisch zur +Macht <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>* äußert sich<br />

dagegen Mart<strong>in</strong> Warnke, <strong>der</strong> me<strong>in</strong>t, <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Darstellung manifestiere sich eher die Selbstverherrlichungssucht<br />

<strong>der</strong> Mächtigen, als daß sich das Publikum durch die (geschönten) (Ab-)Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Mächtigen bee<strong>in</strong>flussen lassen würde<br />

(vgl. Politische Ikonographie).<br />

69. Für Adam spielt hier, wie schon <strong>der</strong> Titel ihres Buches erahnen läßt, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>geschränkte Zeithorizont <strong>der</strong> Medien<br />

(siehe auch unten sowie S. 255) und <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>e allgeme<strong>in</strong> die zentrale Rolle.<br />

70. De Gaulle hat sogar zweimal e<strong>in</strong>en Beitritt Großbritanniens <strong>in</strong> die EG verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t.<br />

71. Der <strong>in</strong>szenierte Konflikt mit <strong>der</strong> EU (<strong>der</strong> natürlich, wie erwähnt, auch e<strong>in</strong>en materiellen H<strong>in</strong>tergrund durch die<br />

Interessen <strong>der</strong> britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>in</strong>dustrie hat) diente also zum e<strong>in</strong>en dazu, die Radikalität <strong>der</strong> ergriffenen Maßnahmen<br />

als von außen oktruiert gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite kann die britische <strong>Politik</strong>


A: ANMERKUNGEN 81<br />

nunmehr <strong>in</strong> Form <strong>der</strong> getöteten R<strong>in</strong><strong>der</strong> plastisch darauf verweisen, daß schließlich alles von ihr zur Bewältigung des<br />

BSE-Risikos unternommen wurde, daß ihr ke<strong>in</strong> +Opfer* zu groß war. Sie ist also doppelter Gew<strong>in</strong>ner <strong>in</strong> diesem +Spiel*<br />

– so erklärt sich <strong>der</strong> sche<strong>in</strong>bare Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Argumentation.<br />

72. Wenn <strong>der</strong> Fe<strong>in</strong>d bzw. das/<strong>der</strong> Fremde (denn <strong>der</strong> Fe<strong>in</strong>d ist immer e<strong>in</strong> Frem<strong>der</strong>, und das Fremde ist immer potentiell<br />

fe<strong>in</strong>dlich) durch e<strong>in</strong>e konkrete Person symbolisiert wird (wie z.B. im Golfkrieg Saddam Husse<strong>in</strong> als Repräsentant des<br />

Gegners Irak +funktionierte*), so steht er eben gerade nicht für sich selbst als konkretes Individuum, son<strong>der</strong>n vertritt<br />

die gesamte zum Fe<strong>in</strong>d def<strong>in</strong>ierte Gruppe, <strong>der</strong> er se<strong>in</strong> Gesicht +leiht*, um sie identifizierbar zu machen.<br />

73. Deren Zahlen lagen mir allerd<strong>in</strong>gs nicht direkt vor, son<strong>der</strong>n nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aufarbeitung durch Burton und Young<br />

(siehe unten sowie Anmerkung 67).<br />

74. Ich habe das an an<strong>der</strong>er Stelle <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er deutschen Übersetzung zitierte Buch von Rifk<strong>in</strong> (siehe S. 283) deshalb<br />

an dieser Stelle im englischen Orig<strong>in</strong>al herangezogen, weil <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Übersetzung auch die englischsprachigen<br />

Quellen-Zitate mit übersetzt wurden, die ich jedoch <strong>in</strong> ihrer +ursprünglichen* Fassung wie<strong>der</strong>geben wollte.<br />

75. In dieser empirischen Studie beschäftigt sich Bourdieu mit den über den sozialen Status vermittelten, als Schließungsmechanismen<br />

sehr wirksamen kulturell-ästhetischen Dist<strong>in</strong>ktionen <strong>in</strong> Frankreich.<br />

76. Veblen vertrat, bezogen auf die Prunksucht <strong>der</strong> (neureichen) amerikanischen F<strong>in</strong>anzelite am Ende des letzten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts, die These, daß <strong>der</strong>en Angehörige sich durch e<strong>in</strong>e offen zur Schau getragene Verschwendung von <strong>der</strong><br />

arbeitenden Klasse abzusetzen bestrebt waren (vgl. The Theory of the Leisure Class). E<strong>in</strong>e Tendenz die (allerd<strong>in</strong>gs auf<br />

e<strong>in</strong>em +kultivierteren* Niveau) sicher auch bei <strong>der</strong> dekadent-snobistischen britischen Oberschicht anzutreffen war/ist.<br />

In beiden Fällen kann man me<strong>in</strong>es Erachtens jedenfalls sicher nicht jene von Weber herausgestellte +<strong>in</strong>nerweltliche<br />

Askese* ausmachen (vgl. Die protestantische Ethik und er Geist des Kapitalismus und siehe auch hier S. XXXf.).<br />

77. Wie Montanari bemerkt, wich man – was die Essenskultur betrifft – zur sozialen Dist<strong>in</strong>ktion von <strong>der</strong> Fleisch-fixierten<br />

Arbeiterklasse <strong>in</strong> den +höheren* Schichten auf leichtere und vegetarische Kost aus (vgl. The Culture of Food; S. 168).<br />

78. Noch drastischer s<strong>in</strong>d diesbezüglich gentechnische E<strong>in</strong>griffe. So besteht (neben ökologischen Risiken) die Gefahr,<br />

daß durch die +Mischung* von genetischen Informationen unkalkulierbare bzw. (für die Verbraucher) unvorhersehbare<br />

allergische Reaktionen auftreten (vgl. z.B. Katzek: Gentechnik im Lebensmittelbereich).


82 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

KAPITEL 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN<br />

1. Die emanzipatorische Orientierung <strong>der</strong> Kritischen Theorie am befreienden Potential <strong>der</strong> +Wahrheit* verbunden<br />

mit dem latent immer noch bestehenden Glauben, daß die Vernunft fähig wäre, Zwecke s<strong>in</strong>nvoll zu bestimmten,<br />

anstatt bloßes Mittel zu se<strong>in</strong>, ist <strong>der</strong> Anlaß für die explizite Kritik an <strong>der</strong> nicht mehr objektiven, son<strong>der</strong>n subjektiven<br />

Vernunft bzw. Philosophie <strong>der</strong> neuzeitlichen Aufklärung. An diesem Wendepunkt beg<strong>in</strong>nt die +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung*<br />

(Horkeimer/Adorno 1944) ihr katastrophales Potential zu entfalten. So stellt Horkheimer se<strong>in</strong>er Schrift +Zur Kritik<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft* (1947) zwar fest: +Der positivistische Angriff auf gewisse kalkulierte und künstliche<br />

Wie<strong>der</strong>belebungen veralteter Ontologien ist zweifellos berechtigt.* (S. 65) An<strong>der</strong>erseits kritisiert er: +In <strong>der</strong> Neuzeit<br />

hat die Vernunft e<strong>in</strong>e Tendenz entfaltet, ihren eigenen objektiven Inhalt aufzulösen.* (Ebd.; S. 23) Und an späterer<br />

Stelle heißt es gar: +Der Verdienst des [neuzeitlichen] Positivismus besteht dar<strong>in</strong>, daß er den Kampf <strong>der</strong> Aufklärung<br />

gegen Mythologien <strong>in</strong> den geheiligten Bezirk <strong>der</strong> traditionellen Logik getragen hat. Jedoch können die Positivisten<br />

wie die mo<strong>der</strong>nen Mythologen beschuldigt werden, e<strong>in</strong>em Zweck zu dienen, anstatt ihn zugunsten <strong>der</strong> Wahrheit<br />

[!] aufzugeben.* (S. 88) Damit ist Aufklärung laut Horkheimer und Adorno also selbst zum Mythos geworden, und<br />

+wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich <strong>in</strong> Mythologie*<br />

(Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung; S. 18). Erst im Spätwerk Adornos, <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Negative[n] Dialektik* (1966), wird diese Figur<br />

<strong>der</strong> geschichtsphilosophischen Metaerzählung, die sich ihrer übergeordeten historischen Wahrheit gewiß ist, zugunsten<br />

e<strong>in</strong>er radikal reflexiven, je<strong>der</strong> Totalisierung sich entziehenden +kritischen Hermeneutik des Individuellen* aufgegeben<br />

(vgl. hierzu auch Schnädelbach: Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung).<br />

2. Auch im (postmo<strong>der</strong>nen) Bewußtse<strong>in</strong>, daß Realität immer konstruierte Realität bedeutet, kann und darf also nicht<br />

darauf verzichtet werden, sich (reflektierend-kritisch) auf die Welt <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir leben zu beziehen. Vielmehr ist, gerade<br />

um sozialen Wandel zu <strong>in</strong>itiieren und Prozesse des +Empowerment* zu ermöglichen, nach den Bed<strong>in</strong>gungen zu fragen,<br />

unter denen diese Realität konstruiert und konstituiert wird – und nur im diesem S<strong>in</strong>n entspricht die kritisch-dialektische<br />

Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, wie sie hier im folgenden entworfen werden soll, dem Programm von Roy Bhaskars<br />

<strong>in</strong> dem zitierten Band dargelegten +kritischen Realismus* (vgl. Reclaim<strong>in</strong>g Reality; <strong>in</strong>sb. S. 2f.). Welche Rolle <strong>in</strong> diesem<br />

emanzipatorischenZusammenhangwie<strong>der</strong>umkritischeTheoriespielt,hatHorkheimerdargelegt:+Philosophiekonfrontiert<br />

das Bestehende <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em historischen Zusammenhang mit dem Anspruch se<strong>in</strong>er begrifflichen Pr<strong>in</strong>zipien, um die<br />

Beziehung zwischen beiden zu kritisieren und so über sie h<strong>in</strong>auszugehen. Philosophie hat ihren positiven Charakter<br />

gerade am Wechselspiel dieser beiden negativen Verfahren. Die Negation spielt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie [also] e<strong>in</strong>e<br />

entscheidende Rolle […] E<strong>in</strong>e Philosophie, <strong>der</strong> die Negation als Element eignet, darf [allerd<strong>in</strong>gs] nicht mit Skeptizismus<br />

gleichgesetzt werden. Dieser bedient sich <strong>der</strong> Negation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er formalistischen und abstrakten Weise. Die Philosophie<br />

nimmt die bestehenden Werte ernst, <strong>in</strong>sistiert aber darauf, daß sie zu Teilen e<strong>in</strong>es theoretischen Ganzen werden,<br />

das ihre Relativität offenbart.* (Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft; S. 170)<br />

3. Ryan führt hier (1982) aus, daß e<strong>in</strong> nicht-totalitärer Marxismus vom dekonstruktivistischen Differenzdenken profitieren<br />

könnte, da mit <strong>der</strong> Dezentrierung nicht mehr nur das (vere<strong>in</strong>heitlichte, objektivierte) +Subjekt* des <strong>in</strong>dustriellen Proletariats<br />

im alle<strong>in</strong>igen Zentrum des kritischen Denkens steht, son<strong>der</strong>n auch an<strong>der</strong>en Stimmen Raum gegeben wird (vgl. Marxism<br />

and Deconstruction; S. 114f.). Auch Fredrik Jameson hat – obwohl er e<strong>in</strong>en sehr kritischen Blick auf die verflachte<br />

(Kultur-)Welt des Spätkapitalismus wirft – durchaus Geschmack am Konsum poststrukturalistischer Theorieware gefunden<br />

(vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism; S. 297ff.). An<strong>der</strong>e l<strong>in</strong>ksgerichtete Autoren goutieren<br />

diese jedoch weniger aufgeschlossen. Terry Eagleton z.B. stellt zwar e<strong>in</strong>erseits den überwiegend oppositionellen,<br />

antimonistischen Charakter des postmo<strong>der</strong>nistischen Denkens heraus. An<strong>der</strong>erseits verweist er gleichzeitig auf dessen<br />

Unfähigkeit, die harte +Realität* <strong>der</strong> kapitalistischen Ordnung zu reflektieren und zu transzendieren (vgl. Die Illusionen<br />

<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 174ff. und siehe auch nochmals Anmerkung 139, Entrée). Er führt deshalb (im Anschluß an Marx,<br />

Nietzsche und Freud) gegen die postmo<strong>der</strong>nen, +entd<strong>in</strong>glichten* Ideologien des Ästhetischen die materielle Wi<strong>der</strong>ständigkeit<br />

des Körperlichen und <strong>der</strong> +S<strong>in</strong>nlichkeit* <strong>in</strong>s Feld (vgl. The Ideologie of the Aesthetic; S. 196ff. u. S. 409ff.)<br />

– und trifft sich dar<strong>in</strong> mit neueren Überlegungen Ryans (vgl. Body Politics; XIff.). Man kann jedoch gerade <strong>in</strong> dieser<br />

Figur auch e<strong>in</strong>en Berührungspunkt zum Ansatz Foucaults sehen (vgl. Strasen: Marxistische Ideologiekritik mit poststrukturalistischen<br />

Mitteln). Ich selbst werde, was den möglichen Ansatzpunkt für e<strong>in</strong>e kritische Überschreitung betrifft, eher<br />

die reflexiven Wi<strong>der</strong>standspotentiale e<strong>in</strong>es <strong>in</strong> ambivalenter Nichtidentität +authentischen* Selbst herausstellen (siehe<br />

Exkurs).<br />

4. E<strong>in</strong>e spielerische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Position Derridas (<strong>in</strong> Absetzung zur eher klassisch marxistischen Position<br />

Terry Eagletons) f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em kurzen Aufsatz +›Marx’ Gespenster‹ und ›Die Illusionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne‹* (1998).


A: ANMERKUNGEN 83<br />

Speziell die (immanente) Verb<strong>in</strong>dung des dekonstruktivistischen Ansatzes mit dem Gedanken <strong>der</strong> Gerechtigkeit wird<br />

<strong>in</strong> dem Band +Gesetzeskraft* (1990) erläutert. Hier legt Derrida nämlich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dar, daß Dekonstruktion +den<br />

Anspruch erhebt, Folgen zu haben, die D<strong>in</strong>ge zu än<strong>der</strong>n und auf e<strong>in</strong>e Weise e<strong>in</strong>zugreifen, die wirksam und verantwortlich<br />

ist* (S. 18).<br />

5. Folgt man Jean Baudrillard, so stellt <strong>der</strong> (symbolisch) wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Leben <strong>in</strong>tegrierte Tod, mit se<strong>in</strong>er radikalen Absage<br />

an das (aktuelle) Se<strong>in</strong>, den vielleicht e<strong>in</strong>zig möglichen Wi<strong>der</strong>stand gegen das totalitär gewordene, wuchernde kapitalistische<br />

Tauschsystem dar, das alle<strong>in</strong>e die Produktivität <strong>in</strong>s Zentrum stellt – und so doch nur Stillstand (Tod) produziert (vgl.<br />

Der symbolische Tausch und <strong>der</strong> Tod; <strong>in</strong>sb. S. 203ff. u. S. 227ff.). Wer wi<strong>der</strong>ständig denken will, muß sich also e<strong>in</strong>e<br />

(von den Vorspiegelungen des realen Kapitalismus befreite) todesbewußte, +<strong>fatal</strong>e* Sichtweise zu eigen machen (vgl.<br />

auch <strong>der</strong>s.: Die <strong>fatal</strong>en Strategien) – o<strong>der</strong> wie schon Montaigne (e<strong>in</strong>e Sentenz von Cicero aufgreifend) wußte:<br />

+Philosophieren heißt Sterben lernen* (1580). Und erst <strong>der</strong> +abgestorbene* (genspenstische) Marxismus <strong>der</strong> postmarxistischen<br />

Ära wäre demgemäß, <strong>in</strong>dem er se<strong>in</strong>e +Todeserfahrung* mit all den schmerzlichen Erkenntnissen über die eigenen<br />

Irrungen bereits h<strong>in</strong>ter sich hat (und <strong>in</strong>dem er sich nicht mehr als willkommener Gegenspieler zur abgrenzenden Identitätsbildung<br />

benutzen läßt), zur E<strong>in</strong>lösung des formulierten Anspruchs – nämlich die kapitalistische Gesellschaftsordnung<br />

zu überw<strong>in</strong>den – fähig.<br />

6. Das hier von mir anvisierte kritische Projekt begnügt sich also bewußt damit, m<strong>in</strong>oritär zu bleiben. Denn nur allzu<br />

leicht läuft Kritik an<strong>der</strong>enfalls Gefahr, entwe<strong>der</strong> selbst zur unterdrückenden Macht zu werden (wie <strong>der</strong> Sozialismus<br />

im ehemaligen Ostblock) o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Macht vere<strong>in</strong>nahmt zu werden (wie z.B. die Umweltbewegung im Westen)<br />

(vgl. hierzu auch Lyotard: das Patchwork <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten; S. 7f. u. S. 10). Es gilt <strong>in</strong> negieren<strong>der</strong> S<strong>in</strong>gularität zu zeigen,<br />

daß es auch e<strong>in</strong> An<strong>der</strong>s-Denken gibt. Damit wird e<strong>in</strong> Raum <strong>der</strong> Differenz geöffnet, <strong>der</strong> dieses Differente nicht festlegt<br />

und fixiert, son<strong>der</strong>n ihm gerade +Abweichungen* ermöglicht.<br />

7. Giddens’ Konzept <strong>der</strong> +life politics* wurde – wie hoffentlich noch <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung ist – bereits <strong>in</strong> Abschnitt 1.5 näher<br />

vorgestellt.<br />

8. Im Glossar dieses Entwurfs zu e<strong>in</strong>er +Theorie <strong>der</strong> Strukturierung* wird +doppelte Hermeneutik* def<strong>in</strong>iert als: +Die<br />

wechselseitige Durchdr<strong>in</strong>gung zweier Bedeutungsrahmen als logisch notwendiges Moment <strong>der</strong> Sozialwissenschaften,<br />

die s<strong>in</strong>nhafte Sozialwelt, wie sie von den handelnden Laien und den von den Sozialwissenschaftlern e<strong>in</strong>geführten<br />

Metasprachen konstituiert wird; <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> Sozialwissenschaften gibt es e<strong>in</strong>en beständigen ›Austausch‹ zwischen<br />

den beiden Bedeutungsrahmen.* (Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 429f.)<br />

9. Beck stellt neuerd<strong>in</strong>gs nicht mehr nur <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>nisierung e<strong>in</strong>e reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung gegenüber,<br />

son<strong>der</strong>n spricht im Anschluß an diese Unterscheidung von e<strong>in</strong>er ersten und e<strong>in</strong>er +zweiten Mo<strong>der</strong>ne* (und fungiert<br />

als Herausgeber für die gleichnamige Edition des Suhrkamp-Verlags). Becks Zweiteilung als zu wenig differenziert<br />

kritisierend postuliert Richard Münch sogar e<strong>in</strong>e +dritte Mo<strong>der</strong>ne* (vgl. Globale Dynamik, lokale Lebenswelten; S. 18ff.).<br />

Dies lädt zu e<strong>in</strong>er weiteren Inflation <strong>der</strong> unterschiedenen +Mo<strong>der</strong>nen* bzw. Mo<strong>der</strong>nestadien e<strong>in</strong>. An diesem +Spiel*<br />

möchte ich mich allerd<strong>in</strong>gs nicht beteiligen.<br />

10. +Risiko* ist im Verständnis Becks nichts an<strong>der</strong>es als gewußtes Nicht-Wissen (vgl. z.B. Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen?;<br />

S. 298). Und solches gewußtes Nicht-Wissen ist – wie bereits Nikolaus von Cues <strong>in</strong> Anlehnung an Sokrates aufwies<br />

– die (risikoreiche) Grundlage je<strong>der</strong> theoretischen Wissenschaft (vgl. Von <strong>der</strong> Wissenschaft des Nichtwissen; Buch 1).<br />

11. Ich möchte <strong>in</strong> diesem Zusammenhang <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch auf die bereits zitierten Erläuterungen von Engels verweisen<br />

(siehe Anmerkung 120, Prolog).<br />

12. Um nur e<strong>in</strong>ige Punkte zu nennen: Beck geht es nicht um die Aufhebung <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft (Revolution),<br />

son<strong>der</strong>n se<strong>in</strong> Horizont ist vielmehr die Weiterentwicklung <strong>der</strong> bestehenden +Civil Society* (Evolution). Er betont deshalb<br />

vorwiegend die Chancen, die <strong>in</strong> den von ihm ausgemachten Verän<strong>der</strong>ungsprozesse liegen und leiht se<strong>in</strong>e Stimme<br />

– an<strong>der</strong>s als Marx – nicht unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie den Verlierern und den Marg<strong>in</strong>alisierten (siehe auch me<strong>in</strong>e<br />

diesbezügliche Kritik unten). Das führt weiterh<strong>in</strong> dazu, daß Beck häufig konkrete Vorschläge für +Reformen* macht,<br />

während es Marx immer angekreidet wurde, daß er, was die Wege zum kommunistischen +Reich <strong>der</strong> Freiheit* und<br />

se<strong>in</strong>e Ausgestaltung anbelangt, äußerst vage geblieben ist. Marx hat aus guten Gründen aber bewußt darauf verzichtet,<br />

Utopien zu entwerfen o<strong>der</strong> den Weg des +Reformismus* e<strong>in</strong>zuschlagen (vgl. auch Marx/Engels: Manifest <strong>der</strong> kommunistischen<br />

Partei; Abschnitt III).


84 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

13. Marx bemerkt im 24. Kapitel des +Kapitals* (Abschnitt VII): +Die kapitalistische Produktion erzeugt mit <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />

e<strong>in</strong>es Naturprozesses ihre eigene Negation.* So konnte denn auch Engels <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Grabrede für Marx<br />

ausführen: +Wie Darw<strong>in</strong> das Gesetz <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz<br />

<strong>der</strong> menschlichen Geschichte.* (Zitiert nach Angehrn: Geschichtsphilosophie; S. 105) Allerd<strong>in</strong>gs kann mit gleichem<br />

Recht behauptet werden, Marx habe sich – <strong>in</strong>dem er die Geschichte als Produkt <strong>der</strong> menschlichen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

mit <strong>der</strong> Natur und dem sozialen Se<strong>in</strong> betrachtete – von <strong>der</strong> Geschichtsphilosophie gerade verabschiedet (vgl. ebd.;<br />

S. 108ff.).<br />

14. Beck beschreibt zwar, um es nochmals zu betonen, durchaus auch Schattenseiten <strong>der</strong> Individualisierung. Und<br />

er sieht auch gegenmo<strong>der</strong>ne Tendenzen, die reflexive Prozesse unterm<strong>in</strong>ieren (vgl. Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; Kap.<br />

IV). Die Chancen des ambivalenten Wandlungsprozesses, <strong>in</strong> dem sich die Gesellschaft <strong>der</strong>zeit bef<strong>in</strong>det, werden von<br />

ihm jedoch weit <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund gerückt.<br />

15. Dieser dynamische Charakter <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird – aus e<strong>in</strong>er sich explizit +mo<strong>der</strong>n* verstehenden Haltung heraus<br />

und deshalb ohne sich <strong>der</strong> Zwanghaftigkeit des emphatisch betonten +Erneuerungsvermögens* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne bewußt<br />

zu se<strong>in</strong> – sehr deutlich von Richard Münch formuliert: +Die Dynamik <strong>der</strong> Entwicklung ist […] das grundlegende Merkmal<br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Kultur*, schreibt er (Die Kultur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; Band 1, S. 12). Und an an<strong>der</strong>er Stelle heißt es: +Die Mo<strong>der</strong>ne<br />

ist immer das Neue.* (Ebd.; S. 13) Trotzdem ist die Mo<strong>der</strong>ne Münchs – und dar<strong>in</strong> zeigt sich e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es für mich<br />

zentrales, wennnicht +ursprüngliches*Element<strong>der</strong>(e<strong>in</strong>fachen)Mo<strong>der</strong>ne:nämlich ihr (aus <strong>der</strong> Angst gespeistes) gewaltvolles<br />

Hegemonie- und Vere<strong>in</strong>heitlichungsstreben (siehe unten) – ke<strong>in</strong>esfalls für alle Neuerungen offen. Die komplexe und<br />

kont<strong>in</strong>gente +voluntaristische Ordnung*, die se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach die Mo<strong>der</strong>ne kennzeichnet, ist nämlich für Münch<br />

paradoxerweise an e<strong>in</strong> ganz bestimmtes normativ-kulturelles Muster, nämlich die jüdisch-christliche Tradition, gebunden.<br />

Deshalb lehnt Münch (<strong>der</strong> ohneh<strong>in</strong> eher <strong>der</strong> Theorie-Tradition <strong>der</strong> Parsons-Schule zuzurechnen ist) auch das funktionalistische<br />

Modell Luhmannscher Prägung ab, das die Autonomie und Eigengesetzlichkeit <strong>der</strong> Subsysteme zum<br />

entscheidenden Mo<strong>der</strong>nitätskriterium erhebt (siehe auch S. XXV). Für Münch zeigt sich <strong>der</strong> gesellschaftliche +Entwicklungsstand*<br />

gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionell verankerten sozio-kulturellen Begrenzung <strong>der</strong> Entfaltung <strong>der</strong> Teillogiken<br />

(vgl. <strong>der</strong>s.: Die Struktur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 11–22). Se<strong>in</strong> daraus abgeleiteter +normativ-kritischer* Ansatz entpuppt sich<br />

allerd<strong>in</strong>gs, wie oben bereits angedeutet wurde, schnell als eurozentrische Arroganz. Denn den Wert e<strong>in</strong>er (nicht-westlichen)<br />

Kultur für die weitere Erneuerung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne bemißt Münch alle<strong>in</strong>e daran, <strong>in</strong>wieweit sich ihre Muster <strong>in</strong> den durch<br />

den +Okzident* gesetzten Bezugsrahmen <strong>in</strong>tegrieren lassen (vgl. ebd.; S. 23–26).<br />

16. Es handelt sich hier also gewissermaßen um die im Begriff <strong>der</strong> Angst +verdichtete* Beschreibung <strong>der</strong> Bewegung<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Trotzdem wage ich – entgegen <strong>der</strong> explizit mikroskopischen Orientierung von Clifford Geertz (vgl.<br />

Thick Description – Toward an Interpretive Description of Culture; S. 20f.) – e<strong>in</strong>en +weiten* Blick. Denn wenn <strong>in</strong> dieser<br />

Ver-Dichtung auch sicher nicht alle Momente zum Tragen kommen, so ist sie me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach doch als hermeneutischer<br />

Ansatzpunkt geeignet, zum Verständnis des kulturellen Kontexts unserer Mo<strong>der</strong>ne beizutragen.<br />

17. E<strong>in</strong>e grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Begriffen +Angst* und +Furcht* hält Freud (siehe auch unten)<br />

nicht für s<strong>in</strong>nvoll, wenngleich er – ähnlich Kierkegaard (vgl. Der Begriff Angst; S. 40) – betont, daß <strong>der</strong> Angst-Begriff<br />

sich eher auf e<strong>in</strong>en vom Objekt absehenden Zustand bezieht, während +Furcht die Aufmerksamkeit gerade auf das<br />

Objekt richtet* (Vorlesungen zur E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Psychoanalyse; S. 310).<br />

18. Neben <strong>der</strong> Psychoanalyse gibt es vor allem e<strong>in</strong>flußreiche lerntheoretische und kognitionspsychologische Ansätze<br />

<strong>der</strong> Angst-Theorie. Letztere führen Angst primär auf Kontrollverluste zurück (vgl. z.B. Krohne: Theorien zur Angst;<br />

S. 76–107), was unten noch e<strong>in</strong>e Rolle spielen wird (siehe S. 343).<br />

19. E<strong>in</strong>en ausführlichen Überblick über Freuds Angsttheorie und ihre Weiterentwicklung gibt Thomas Geyer (vgl.<br />

Angst als psychische und soziale Realität).<br />

20. Umgekehrt kann beim <strong>in</strong>dividuellen Scheitern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Angstsituation auch <strong>der</strong> Mechanismus <strong>der</strong> +erlernten<br />

Hilflosigkeit* greifen (vgl. Seligman/Maier: Failure to Escape Traumatic Shocks sowie Abramson/Seligman/Teasdale:<br />

Learned Helplessness <strong>in</strong> Humans).<br />

21. Auch Anthony Giddens betrachtet die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – <strong>in</strong> Anlehnung an Konzepte <strong>der</strong> Freudschen<br />

Psychoanalyse – übrigens explizit als +zwanghaft* und +neurotisch* (vgl. Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er posttraditionalen Gesellschaft;<br />

S. 129ff.).


A: ANMERKUNGEN 85<br />

22. Als Beispiel dient Horkheimer und Adorno hier <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Homers Odysseus-Epos.<br />

23. Auf das latente mythologische Element <strong>der</strong> Metaerzählung <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* hat z.B. Herbert Schnädelbach<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er kritischen Würdigung dieser Schrift h<strong>in</strong>gewiesen (vgl. Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung). Schnädelbachs<br />

Argumente wurden an an<strong>der</strong>er Stelle bereits kurz genannt (siehe S. LXXI). Allgeme<strong>in</strong> und auch was das Angst-Konzept<br />

betrifft, wird Adorno später allerd<strong>in</strong>gs wie<strong>der</strong> zu e<strong>in</strong>er tatsächlich dialektischen Sicht zurückf<strong>in</strong>den (siehe Abschnitt<br />

5.1.2 und 5.4).<br />

24. Coll<strong>in</strong>s beschränkt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Darstellung freilich nicht auf Hobbes alle<strong>in</strong>e, son<strong>der</strong>n bezieht sich auf e<strong>in</strong>e ganze<br />

Reihe weiterer historischer Persönlichkeiten: Shakespeare, Barkley, Hooker, Bacon, Filmer etc. Und für ihn geht es<br />

vor allem darum, deutlich zu machen, wie die historische Ordnung auf das (Selbst-)Bewußtse<strong>in</strong> wirkt (vgl. From Div<strong>in</strong>e<br />

Cosmos to Sovereign State; S. 154f.).<br />

25. Bei den folgenden biographischen Anmerkungen habe ich mich an <strong>der</strong> Darstellung <strong>in</strong> Ferd<strong>in</strong>and Tönnies’ klassischem<br />

Hobbes-Buch orientiert, dem auch, wie angegeben, das Zitat aus Hobbes’ Autobiographie entnommen wurde, sowie<br />

an Herfried Münkler: Thomas Hobbes (hier f<strong>in</strong>den sich auch relativ ausführliche Bemerkungen zum Bürgerkrieg <strong>in</strong><br />

England).<br />

26. Der Vater hieß ebenfalls Thomas Hobbes.<br />

27. Hobbes versucht zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> antizipierenden Entkräftung solcher Vorwürfe, se<strong>in</strong>e +Gläubigkeit* zu betonen, aber<br />

<strong>in</strong>dem er zwischen öffentlichem und privatem Gottesdienst unterscheidet und bemerkt, daß die Ausgestaltung des<br />

ersteren alle<strong>in</strong>e von <strong>der</strong> Staatraison abhängt (vgl. Leviathan; S. 300 [Kap. 31]), stellt er sich zugunsten e<strong>in</strong>es absolutistischen<br />

Staatsverständnisses klar gegen die kirchliche Macht.<br />

28. Mit dem Argument, daß die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Naturgesetze den unproduktiven Zustand <strong>der</strong> Angst überw<strong>in</strong>den kann,<br />

ist Hobbes übrigens gar nicht weit von Epikur entfernt. In se<strong>in</strong>em +Katechismus* bemerkte dieser: +Es ist nicht möglich,<br />

sich von <strong>der</strong> Furcht h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> wichtigsten D<strong>in</strong>ge zu befreien, wenn man nicht begriffen hat, welches die Natur<br />

des Alls ist, son<strong>der</strong>n sich durch die Mythen beunruhigen läßt. Es ist also nicht möglich, ohne Naturwissenschaft ungetrübte<br />

Lustempf<strong>in</strong>dungen zu erlangen.* (Von <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Furcht; S. 60f.)<br />

29. An Schmitt schließt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Schelsky mit se<strong>in</strong>er Hobbes-Darstellung an (vgl. Thomas Hobbes – E<strong>in</strong>e politische<br />

Lehre).<br />

30. Hobbes bemerkt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>leitung, daß man Masch<strong>in</strong>en wie Uhren gewissermaßen als künstliche Tiere auffassen<br />

könne. Und wie es künstliche Tiere gibt, so gibt es auch den künstlichen Menschen: den Staatskörper des Leviathan<br />

(vgl. Leviathan; S. 5). Obwohl Hobbes von <strong>der</strong> (Himmels-)Mechanik so bee<strong>in</strong>druckt war, wählt er also das klassische<br />

Bild des Körpers für den Staat und nicht das Bild <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>e. Schmitt me<strong>in</strong>t aber, daß <strong>der</strong> staatliche Leviathan,<br />

wie Hobbes ihn konstruiert, wenig Organisches an sich hat und greift deshalb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Interpretation auf die Masch<strong>in</strong>en-<br />

Metapher zurück.<br />

31. Das Existentielle <strong>der</strong> Angst spielt im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Weltkriegsgeneration, zu <strong>der</strong> Schmitt gehört, e<strong>in</strong>e wichtige<br />

Rolle, und immer wie<strong>der</strong> streicht er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Text, <strong>der</strong> gewissermaßen +am Vorabend* des Zweiten Weltkriegs verfaßt<br />

wurde, auch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs heraus, die se<strong>in</strong>en +kriegerischen Existentialismus* und se<strong>in</strong> auf<br />

e<strong>in</strong> Freund-Fe<strong>in</strong>d-Verhältnis reduziertes <strong>Politik</strong>verständnis (siehe S. 37) begründen. Aus dieser Sicht heraus kritisiert<br />

er auch die Trennung von Innen und Außen, von öffentlich und privat, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konstruktion Hobbes’ se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />

nach bereits angelegt ist, weshalb <strong>der</strong> fürchterliche Leviathan <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge zu e<strong>in</strong>er seelenlosen, bürokratischen Gesetzesmasch<strong>in</strong>e<br />

verkommt (vgl. Der Leviathan <strong>in</strong> <strong>der</strong> Staatslehre des Thomas Hobbes; S. 99ff.). Schmitt kritisiert also an Hobbes,<br />

den er überaus schätzt, dessen latenten +Liberalismus*. Mit dieser Kritik trifft er sich mit Crawford Macpherson, <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> Hobbes ebenfalls e<strong>in</strong>en Denker des Besitzbürgertums erblickt – allerd<strong>in</strong>gs natürlich an<strong>der</strong>s als Schmitt aus <strong>der</strong> Perspektive<br />

e<strong>in</strong>es +l<strong>in</strong>ken* Theoretikers (vgl. Die politische Theorie des Besitz<strong>in</strong>dividualismus und siehe auch Anmerkung 102 sowie<br />

129, Kapitel 1). Differenziertere Bemerkungen zum +sozialen Standort* <strong>der</strong> Theorie Hobbes’ macht dagegen Ir<strong>in</strong>g<br />

Fetcher (vgl. Herrschaft und Emanzipation; S. 61–78).<br />

32. Dort bemerkt Herbert: +Or<strong>der</strong> is generated from the lowest [!] and most common of motions because it is implicit<br />

<strong>in</strong> the lowest.* (S. 161)


86 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

33. Dieser angesprochene Wi<strong>der</strong>spruch <strong>der</strong> +conditio humana* <strong>der</strong> Freiheit besteht dar<strong>in</strong>, daß formale Freiheit (als<br />

natürliches Recht auf alles) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en materiellen Konflikt führt (Krieg aller gegen alle). (Vgl. Die Angst, die Freiheit und<br />

<strong>der</strong> Leviathan; S. 80ff.)<br />

34. Hierzu heißt es bei Hobbes: +Bei e<strong>in</strong> und <strong>der</strong>selben Handlung können sich Furcht und Freiheit zugleich f<strong>in</strong>den;<br />

wenn z.B. jemand aus Furcht vor e<strong>in</strong>em Schiffbruche alles, was er hat, <strong>in</strong>s Meer wirft. Er tut es aus eigenem Entschluß,<br />

und hätte es, wenn er gewollt, unterlassen können […] So s<strong>in</strong>d auch die Handlungen <strong>der</strong> Bürger, die aus Furcht vor<br />

den Gesetzen geschehen, wenn sie ebenso unterlassen werden konnten, sämtlich frei.* (Leviathan; Kap., 21, S. 188)<br />

Der ideologische Charakter dieser Argumentation, die strukturelle Zwänge völlig ausblendet, dürfte offensichtlich<br />

se<strong>in</strong>.<br />

35. An<strong>der</strong>s sieht es allerd<strong>in</strong>gs z.B. Panajotis Kondylis. Kondylis stellt heraus, wie gerade Descartes’ gleichzeitiger (mechanistischer)<br />

Materialismus und (spiritualistischer) Intellektualismus, <strong>der</strong> im Unterschied zu Hobbes steht, ihn zum negativen<br />

Bezugspunkt des – aus <strong>der</strong> Sicht Kondylis’ gerade anti<strong>in</strong>tellektualistischen/antirationalistischen – Aufklärungsdenkens<br />

des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts macht (vgl. Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus; Abschnitt III).<br />

36. Zusätzlich zu den im folgenden zitierten Werken habe ich mich bei <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Biographie Descartes’<br />

vor allem an Ra<strong>in</strong>er Specht: René Descartes orientiert, wo sich neben vielen Quellenzitaten und Bilddokumenten<br />

auch e<strong>in</strong>e umfangreiche Bibliographie f<strong>in</strong>det.<br />

37. Neben <strong>der</strong> Freundschaft mit Beekmann hat auch <strong>der</strong> Kontakt zu dem deutschen Mathematiker Johann Faulhaber,<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geheim-Sekte <strong>der</strong> +Rosenkreuzer* angehörte, Descartes tief geprägt, weshalb von e<strong>in</strong>igen Interpreten vermutet<br />

wird, daß auch er diesen beigetreten war.<br />

38. Ich habe Descartes’ Träume hier natürlich stark verkürzt wie<strong>der</strong>gegeben und nur die für die folgende Deutung<br />

zentralen Elemente angesprochen.<br />

39. Selbstverständlich habe ich mir die Mühe gemacht, mir den Aufsatz von Marie-Louise Franz im Orig<strong>in</strong>al zu besorgen.<br />

Sie leistet dort nicht nur e<strong>in</strong>e umfangreiche Deutungsarbeit, son<strong>der</strong>n macht auch ausführliche Bemerkungen zur Biographie<br />

Descartes’. Als Resümee bemerkt sie: +Was me<strong>in</strong>es Erachtens diese Träume so e<strong>in</strong>drucksvoll macht, ist, abgesehen<br />

davon, daß sie vieles über Descartes aussagen, daß sie eigentlich ›<strong>in</strong> nuce‹ das Problem des heutigen Menschen, des<br />

Erben jener Zeit, des aufklärerischen Rationalismus, an <strong>der</strong>en Anfang Descartes steht, vorausskizzieren […]* (Der Traum<br />

des Descartes; S. 119)<br />

40. Die <strong>in</strong> den beiden zitierten Büchern dargestellte Philosophie <strong>der</strong> M)adhyamika-Schule mit ihrem Hauptvertreter<br />

N)ag)arjuna wird – aufgrund ihrer großen Ähnlichkeit zu bestimmten Ansätzen <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Philosophie – im<br />

folgenden noch häufiger als nicht-westlicher Bezugspunkt von mir herangezogen werden.<br />

41. Im englischen Orig<strong>in</strong>al lautet <strong>der</strong> Titel von Fromms hier bereits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Hauptargumenten dargestellten Buchs<br />

+Die Furcht vor <strong>der</strong> Freiheit* (siehe S. XXVIIf.) bezeichnen<strong>der</strong>weise +Escape from Freedom*.<br />

42. Außer auf Descartes geht Toulm<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch auf Leibnitz und Newton e<strong>in</strong> (vgl. Kosmopolis;<br />

S. 163–193). E<strong>in</strong>e nähere Beschäftigung auch mit diesen (und weiteren) Denkern, würde hier jedoch nur vom Ziel<br />

ablenken: nämlich anhand <strong>der</strong> angeführten Beispiele e<strong>in</strong>e +angstgeleitete* Sicht auf die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zu<br />

werfen.<br />

43. Toulm<strong>in</strong> streicht zusätzlich den Bedeutungsverlust <strong>der</strong> Rhetorik und des Mündlichen heraus, den ich jedoch nicht<br />

als so zentral ansehe.<br />

44. Bandura stellt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Artikel unter Berufung auf empirische Befunde klar, daß die Bewältigung von Angst-Situationen<br />

(cop<strong>in</strong>g) bzw. die Art und die Intensität <strong>der</strong> versuchten Angst-Bewältigung von <strong>der</strong> wahrgenommenen Fähigkeit zur<br />

persönlichen E<strong>in</strong>flußnahme (self-efficacy) abhängt. Lazarus und Averill def<strong>in</strong>ieren Angst von e<strong>in</strong>em ähnlichen Konzept<br />

geleitet folgen<strong>der</strong>maßen: +Anxiety is an emotion based on the appraisal of threat, an appraisal which entails symbolic,<br />

anticipatory, and uncerta<strong>in</strong> elements. These characteristics, broadly conceived, mean that anxiety results when cognitive<br />

systems no longer enable a person to relate mean<strong>in</strong>gfully to the world about him [!].* (Emotion and Cognition; S. 246f.)


A: ANMERKUNGEN 87<br />

45. Dort bemerkt Heller <strong>in</strong> dem Kapitel +Hermeneutics of Social Science*: +Products of Western culture turn aga<strong>in</strong>st<br />

their own traditions and develop suicidal <strong>in</strong>cl<strong>in</strong>ations.* (S. 40) An<strong>der</strong>erseits zeigt Heller auch auf, wie <strong>der</strong> latente Todeswunsch<br />

<strong>in</strong> +Lebenswillen* umgeformt werden kann, nämlich wenn das durch die Vernunft zutage geför<strong>der</strong>te Bewußtse<strong>in</strong><br />

für Kont<strong>in</strong>genz als +Geschick* (an)erkannt wird – doch zu dieser Transformationsleistung ist nach Heller eben nur<br />

e<strong>in</strong>e mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft fähig: +Instead of destroy<strong>in</strong>g it [cont<strong>in</strong>gency], we could try to transform it <strong>in</strong>to our dest<strong>in</strong>y<br />

[…] And it is only mo<strong>der</strong>n society that can transform its cont<strong>in</strong>gency <strong>in</strong>to its dest<strong>in</strong>y, because it is only now that we<br />

have arrived at the consciousness of cont<strong>in</strong>gency.* (Ebd.; S. 41)<br />

46. Latour konstatiert hier – obwohl wir doch angeblich nie mo<strong>der</strong>n gewesen s<strong>in</strong>d – e<strong>in</strong>e Krise <strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.<br />

Die Trennung zwischen Kultur/Gesellschaft und Natur, die für die Mo<strong>der</strong>ne konstitutiv war, ist durch die Ausbreitung<br />

von Hybriden aufgehoben. Diese Ausbreitung <strong>der</strong> (technischen) Hybride <strong>in</strong> die soziale Welt wird von Latour dezidiert<br />

begrüßt, denn er will den D<strong>in</strong>gen – entgegen <strong>der</strong> immaterialistischen Tendenz <strong>der</strong> (post)mo<strong>der</strong>nen Sprachphilosophie<br />

und <strong>der</strong> primär textzentrierten Wissenschaftssoziologie – ihr Recht zurückgeben, was allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e +neue Verfassung*<br />

notwendig macht. Dabei gilt: +Jeden Begriff, jede Institution und jede Praxis, die die kont<strong>in</strong>uierliche Entfaltung <strong>der</strong><br />

Kollektive und ihr Experimentieren mit Hybriden stören, werden wir als gefährlich, schädlich, und […] unmoralisch<br />

ansehen. Die Vermittlungsarbeit wird damit zum Zentrum <strong>der</strong> doppelten natürlichen und sozialen Macht. Die Netze<br />

treten aus <strong>der</strong> Verborgenheit heraus. Das Reich <strong>der</strong> Mitte wird repräsentiert. Der dritte Stand, <strong>der</strong> nichts war, wird<br />

alles.* (Wir s<strong>in</strong>d nie mo<strong>der</strong>n gewesen; S. 186)<br />

47. E<strong>in</strong>en ganz ähnlichen und zugleich geradezu +entgegengesetzten* Vorwurf müssen sich gemäß Axel Honneth<br />

auch Horkheimer und Adorno gefallen lassen, <strong>in</strong>dem sie e<strong>in</strong>e Geschichtsphilosophie des Verfalls entworfen haben<br />

(vgl. Kritik <strong>der</strong> Macht; S. 68f.). Zudem habe speziell Adorno die soziologische Perspektive – an<strong>der</strong>s als später Foucault<br />

und Habermas – zugunsten <strong>der</strong> verengenden Konzentration auf das Subjekt im Rahmen e<strong>in</strong>es verd<strong>in</strong>glichenden<br />

Systemzusammenhangs aufgegeben (vgl. ebd.; S. 110f.).<br />

48. Auch <strong>in</strong> Kierkegaards Biographie spielte die persönliche Erfahrung <strong>der</strong> Angst übrigens e<strong>in</strong>e zentrale Rolle (vgl.<br />

Der Begriff <strong>der</strong> Angst; Nachwort, S. 152ff.).<br />

49. Richter bemerkt aufgrund dieser z.T. explizit antitheologischen Umdeutung <strong>in</strong> ihrem Nachwort zum +Begriff <strong>der</strong><br />

Angst* (erstmals veröffentlicht 1844): +Wie das Beispiels Heideggers [siehe unten], aber auch zahlreicher an<strong>der</strong>er<br />

Existentialisten zeigt, wird die Bedeutung <strong>der</strong> Aussagen Kierkegaards radikal mißverstanden und <strong>in</strong> ihr Gegenteil verkehrt,<br />

wenn man sie im profanen, glaubenslosen S<strong>in</strong>n nimmt.* (S. 172)<br />

50. Der Begriff <strong>der</strong> +Fürsorge* ist bei Heidegger selbst zwar ursprünglich wohl kaum sozialethisch geme<strong>in</strong>t, kann jedoch<br />

– <strong>in</strong> Anschluß an die poststrukturalistische Rezeptionsl<strong>in</strong>ie – selbstverständlich durchaus so <strong>in</strong>terpretiert werden. Auch<br />

die hermeneutische Philosophie ist eben Auslegungssache.<br />

51. Heidegger kritisiert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Über den Humanismus* (1947) das bei Sartre vorliegende metaphysische<br />

Mißverständnis se<strong>in</strong>es oben zitierten Werks +Se<strong>in</strong> und Zeit* (1927): +[...] Plato[n] sagt: die essentia geht <strong>der</strong> existentia<br />

voraus. Sartre kehrt diesen Satz um. Aber die Umkehrung e<strong>in</strong>es metaphysischen Satzes bleibt e<strong>in</strong> metaphysischer<br />

Satz* (S. 17) – und verkennt damit die Wahrheit des Se<strong>in</strong>s als ekstatische +Ek-sistenz*.<br />

52. Deshalb def<strong>in</strong>iert Sartre auch: +Das Bewußtse<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e eigene Zukunft nach dem Modus des Nicht-se<strong>in</strong>s zu se<strong>in</strong>,<br />

ist genau das, was wir Angst nennen.* (Das Se<strong>in</strong> und das Nichts; S. 96)<br />

53. In dem kurzen Aufsatz +L’existentialisme est un humanisme* (1946) stellt Sartre – sowohl auf Kritik von christlicher<br />

wie marxistischer Seite reagierend – se<strong>in</strong>en existentialistischen Entwurf aus +Das Se<strong>in</strong> und das Nichts* (1943) ausdrücklich<br />

als e<strong>in</strong>e humanistische Philosophie dar, da er die Freiheit <strong>in</strong>s Zentrum rückt. Dabei wähnt er sich – <strong>in</strong> Absetzung<br />

zu Kierkegaards theologischem Konzept – Heidegger nahe. Doch dieser reagierte eher polemisch auf Sartres Buch<br />

und se<strong>in</strong>e <strong>in</strong> diesem Aufsatz gezeigte humanistische Pose (siehe nochmals Anmerkung 51).<br />

54. Auch die (neurotische) Rastlosigkeit <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird <strong>in</strong> Sartres Konzept nicht verabschiedet,<br />

son<strong>der</strong>n weitertransportiert, <strong>in</strong>dem er betont, daß das Selbst (für sich) nicht statisch ist, son<strong>der</strong>n notwendig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Prozeß des ständigen Entwerfens (Konstruierens) entsteht. Diese diskont<strong>in</strong>uierliche Auffassung des Subjekts ist zwar<br />

e<strong>in</strong> begrüßenswerter +Fortschritt* im Gegensatz zu essentialistischen und statisch-kont<strong>in</strong>uierlichen Ego-Konzepten,<br />

aber sie zeigt auch Momente e<strong>in</strong>er +protestantischen Arbeitsethik* im +Geist des Kapitalismus* (Weber), <strong>in</strong>dem das<br />

+für sich* niemals (für sich) se<strong>in</strong> darf, son<strong>der</strong>n sich beständig hervorbr<strong>in</strong>gen muß. Diese zwanghafte und for<strong>der</strong>nde


88 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

Komponente <strong>der</strong> Identität kommt beson<strong>der</strong>s deutlich <strong>in</strong> Adornos Begriff des +Identitätszwangs* sowie <strong>in</strong> He<strong>in</strong>er Keupps<br />

Begriff <strong>der</strong> +Identitätsarbeit* zum Ausdruck (vgl. Identitätsarbeit heute).<br />

55. In se<strong>in</strong>en +Studien zum autoritären Charakter* (1950) identifiziert Adorno +Anti-Intrazeption*, also die +Abwehr<br />

des Subjektiven, des Phantasievollen, Sensiblen* sogar als e<strong>in</strong>e wesentliche Merkmalskomponente des autoritären<br />

Charakters (vgl. S. 45 u. S. 53f.).<br />

56. E<strong>in</strong>en ausführlichen Überblick über +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Perspektiven des Ethischen* (1997) gibt z.B. Hans-Mart<strong>in</strong> Schönherr-<br />

Mann.<br />

57. Bezüglich e<strong>in</strong>er möglichen Begründung des Werts <strong>der</strong> Differenz kann bestenfalls auf die +authentische Selbstdifferenz*<br />

verwiesen werden (siehe Schlußexkurs).<br />

58. Orig<strong>in</strong>al <strong>in</strong>: Liebe als Passion; S. 16. Luhmann hat sich übrigens – im <strong>in</strong>direkten Anschluß an Gehlen (siehe Anmerkung<br />

60, Entrée) – ähnlich positiv zur Entfremdung geäußert wie Bauman (siehe S. XL), dessen primärer Bezugspunkt hier<br />

allerd<strong>in</strong>gs Mannheim ist.<br />

59. E<strong>in</strong>e solche Entfremdung ist aber nicht an sich +positiv*, son<strong>der</strong>n nur, wenn sie als Entfremdung empfunden und<br />

<strong>in</strong> diesem Empf<strong>in</strong>den negiert wird. Dafür ist wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong> starkes Selbst erfor<strong>der</strong>lich, das vor <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Entfremdung<br />

nicht zurückschreckt und die Kraft zur Negation aufbr<strong>in</strong>gt. Ansonsten erzeugt Entfremdung Fluchtreaktionen und<br />

die Steigerung <strong>der</strong> Angst (siehe auch die untenstehende Anmerkungen zum Fundamentalismus).<br />

60. Die verschiedenen antimo<strong>der</strong>nen Bewegungen <strong>der</strong> Gegenwart besitzen, wie u.a. Mart<strong>in</strong> Marty und Scott Appleby<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von ihnen herausgegeben Sammelband aufweisen, e<strong>in</strong>en Doppelcharakter: Sie wenden sich zwar gegen<br />

bestimmte Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, s<strong>in</strong>d aber selbst <strong>in</strong>tegraler Teil dieser Mo<strong>der</strong>ne, und deshalb besteht auch<br />

e<strong>in</strong>e größere Aff<strong>in</strong>ität des antimo<strong>der</strong>nen Fundamentalismus zum Mo<strong>der</strong>nismus als zum Traditionalismus (vgl.<br />

Fundamentalism Observed; S. 827). Am Beispiel des H<strong>in</strong>dunationalismus habe ich selbst versucht, diese Ambivalenz<br />

<strong>der</strong> Gegenmo<strong>der</strong>ne herauszuarbeiten (vgl. Shivas Tanz auf dem Vulkan; <strong>in</strong>sb. Kap. 6).<br />

61. Se<strong>in</strong>e Stärke läge allerd<strong>in</strong>gs gerade im Zulassen von Schwäche.<br />

62. Daß z.B. Bauman Toleranz im Angesicht des An<strong>der</strong>en für unzureichend hält und an ihrer Stelle Solidarität e<strong>in</strong>for<strong>der</strong>t<br />

(siehe oben), steht noch auf e<strong>in</strong>em ganz an<strong>der</strong>en Blatt. Allerd<strong>in</strong>gs kann ich Bauman bei se<strong>in</strong>er Argumentation <strong>in</strong> diesem<br />

Punkt, wie dargestellt, ohneh<strong>in</strong> nicht ganz folgen.<br />

63. Dort heißt es wörtlich: +Wir s<strong>in</strong>d überzeugt, daß die Wi<strong>der</strong>entdeckung <strong>der</strong> asiatischen Philosophie, beson<strong>der</strong>s<br />

<strong>der</strong> buddhistischen Tradition, für die westliche Kulturgeschichte e<strong>in</strong>er ›zweiten Renaissance‹ entspricht und e<strong>in</strong> ebenso<br />

großes kreatives Potential birgt wie e<strong>in</strong>st die Renaissance des griechischen Denkens für Europa.* (Der Mittlere Weg<br />

<strong>der</strong> Erkenntnis; S. 42)<br />

64. Diesen Punkt hat Giddens nur angedeutet und nicht ausgeführt. Er konzentriert sich auf die nachfolgend erwähnte<br />

Trennung von Raum und Ort.<br />

65. Auch hier dient <strong>der</strong> Londoner Vorort Greenwich, <strong>in</strong> dem sich e<strong>in</strong>st die britische Nationalsternwarte befand, als<br />

+Nullpunkt* (Nullmeridian).<br />

66. Beide faßt Giddens unter dem Begriff +abstrakte Systeme* (abstract systems) zusammen.<br />

67. Giddens spricht deshalb auch von +aktivem Vertrauen*. In diesem Punkt gleicht se<strong>in</strong>e Argumentation übrigens<br />

Luhmanns Position: Dieser weist auf, daß die Komplexität des Sozialsystems Mechanismen <strong>der</strong> Komplexitätsreduktion<br />

erfor<strong>der</strong>t. Vertrauen stellt e<strong>in</strong>en sehr wirksamen Mechanismus <strong>der</strong> Komplexitätsreduktion dar bzw. bereit, da es (gegebene)<br />

Vertrautheit <strong>in</strong> die Zukunft fortschreibt. Allerd<strong>in</strong>gs besteht immer die Gefahr, daß Vertrauen <strong>in</strong> Mißtrauen umschlägt.<br />

Um dem vorzubeugen und die Vertrauensbereitschaft zu för<strong>der</strong>n, müssen adäquate Strukturen geschaffen werden,<br />

die e<strong>in</strong> nachhaltiges +Systemvertrauen* (z.B. durch kalkulierbare Verhältnisse) gewährleisten (vgl. Vertrauen – E<strong>in</strong><br />

Mechanismus <strong>der</strong> Reduktion sozialer Komplexität).


A: ANMERKUNGEN 89<br />

68. Unter <strong>der</strong> +Dualität von Struktur* versteht Giddens – wie schon an an<strong>der</strong>er Stelle kurz erläutert (siehe Anmerkung<br />

153, Kapitel 2) –, daß +Struktur [gleichzeitig] als Medium und Resultat des Verhaltens […] [aufzufassen ist]; die Strukturmomente<br />

sozialer Systeme existieren nicht außerhalb des Handelns, vielmehr s<strong>in</strong>d sie fortwährend <strong>in</strong> dessen Produktion<br />

und Reproduktion e<strong>in</strong>bezogen.* (Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 430 [Glossar]). Deshalb darf +Struktur nicht<br />

mit Zwang gleichgesetzt werden: sie schränkt Handeln nicht nur e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n ermöglicht es auch* (ebd.; S. 77).<br />

69. Ich möchte <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch nochmals auf Heideggers bereits dargelegte Thesen <strong>in</strong> +Die Technik<br />

und die Kehre* (1962) verweisen (siehe Abschnitt 3.3).<br />

70. Die Argumentationsfigur <strong>der</strong> +Solidarität <strong>der</strong> Angst* hat schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* (1986) nur e<strong>in</strong>e eher marg<strong>in</strong>ale<br />

Stellung und wird <strong>in</strong> späteren Veröffentlichungen auch nicht ausgebaut. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es noch unveröffentlichte<br />

neuere Überlegungen Becks im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>er transnationaler Vergeme<strong>in</strong>schaftung,<br />

die auf <strong>der</strong> Gedankenfigur <strong>der</strong> Solidarität <strong>der</strong> Angst aufsetzen. Hier wird nur e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Angstbegriff<br />

als bei Heidegger o<strong>der</strong> Sartre zugrunde gelegt. Angst ist für Beck ke<strong>in</strong> Existential, son<strong>der</strong>n die Reaktion auf wahrgenommene<br />

(und somit eventuell auch nur sozial konstruierte) Risiken. Und jedes Risiko wird schließlich erst dadurch zum Risiko,<br />

daß e<strong>in</strong> Positives – also <strong>der</strong> +Wert* des eigenen und kollektiven Überlebens, <strong>der</strong> Artenvielfalt o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> sozialen<br />

Gleichheit etc. – als bedroht erkannt wird.<br />

71. +Wirkliche* Solidarität (d.h. e<strong>in</strong>e Solidarität <strong>der</strong> Solidarität) würde also eher <strong>in</strong> +sympathischer* Empathie bzw.<br />

<strong>in</strong> dem das <strong>in</strong>dividuelle Abgrenzungs- und Selbstbehauptungsbestreben dialektisch ergänzenden Entgrenzungsverlangen<br />

fußen (siehe auch Schlußexkurs).<br />

72. Lei<strong>der</strong> wird das +objektive* Moment <strong>in</strong> den neueren Formulierungen se<strong>in</strong>er Theorie wie<strong>der</strong> zurückgenommen.<br />

So heißt es <strong>in</strong> Becks Hauptbeitrag <strong>in</strong> dem zusammen mit Giddens und Lash herausgegebenen Sammelband +Reflexive<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung* (1996): +Es geht nicht nur um externe Nebenfolgen, son<strong>der</strong>n um <strong>in</strong>terne Nebenfolgen <strong>der</strong> Nebenfolgen<br />

<strong>in</strong>dustriegesellschaftlicher Mo<strong>der</strong>nisierung. Es geht, beispielhaft gesprochen, gar nicht um den ›R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n‹ als<br />

solchen, was er Tieren und Menschen antut, son<strong>der</strong>n darum, welche Akteure, Verantwortlichkeiten, Märkte etc.<br />

dadurch ›elektrisiert‹, <strong>in</strong> Frage gestellt werden […]* (Das Zeitalter <strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne;<br />

S. 27) Und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em auf Giddens und Lash Bezug nehmenden Diskussions-Text erläutert Beck: +Die Gedankenfigur<br />

›Nebenfolgen‹ steht […] letztlich nicht <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zum Wissensverständnis reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, son<strong>der</strong>n<br />

eröffnet e<strong>in</strong> erweitertes, komplexes Szenario, <strong>in</strong> dem es nicht nur um verschiedene Formen und Konstruktionen des<br />

Wissens, son<strong>der</strong>n auch des Nicht-Wissens geht.* (Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen?; S. 290) Trotzdem kann aber me<strong>in</strong>es<br />

Erachtens <strong>in</strong> <strong>der</strong> Berücksichtigung des objektiven Moments <strong>der</strong> Nebenfolgen <strong>der</strong> wichtigste Unterschied von Becks<br />

reflexiver Techniksoziologie zu Heideggers Konzept <strong>der</strong> +Kehre* gesehen werden, auf <strong>der</strong>en Ähnlichkeit ich <strong>in</strong> Abschnitt<br />

3.3 verwiesen habe.<br />

73. Den auf Angst gegründeten Charakter speziell des Kapitalismus stellt Dieter Duhm heraus, <strong>in</strong>dem er auf die kapitalistischen<br />

Herrschaftsverhältnisse, den Warencharakter <strong>der</strong> menschlichen Beziehungen, die Entfremdung sowie das<br />

Leistungs- und Konkurrenzpr<strong>in</strong>zip als Angstauslöser verweist (vgl. Angst im Kapitalismus; <strong>in</strong>sb. Kap. 3). Duhm zeichnet<br />

hier freilich ke<strong>in</strong> sehr differenziertes Bild. Dazu vermag schon eher <strong>der</strong> von He<strong>in</strong>z Wiesbrock herausgegebene Sammelband<br />

+Die politische und gesellschaftliche Rolle <strong>der</strong> Angst* (1967) zu verhelfen. Dort f<strong>in</strong>det sich auch e<strong>in</strong> Beitrag, <strong>der</strong> auf<br />

den zum<strong>in</strong>dest partiell +ideologischen* Charakter <strong>der</strong> Angst verweist, d.h. es gibt Angstzustände, die stark von<br />

(zeitspezifischen) kulturellen Vorstellungen geprägt s<strong>in</strong>d – und zu dieser +ideologischen Angst* gehört nach dem Verfasser<br />

eben auch das Freudsche +Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur* (vgl. Kle<strong>in</strong><strong>in</strong>g: Angst als Ideologie).<br />

74. Die theoretische Figur <strong>der</strong> Gegenmo<strong>der</strong>ne stellt bei Beck allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong> zur Deflexion analoges dialektisches<br />

Gegenmoment zur reflexiven Mo<strong>der</strong>nisierung dar. Sie ist zwar e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> Produkt (und damit <strong>in</strong>tegrales Element)<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, doch wi<strong>der</strong>spricht sie ihr gleichzeitig und stellt so gewissermaßen e<strong>in</strong>en (mo<strong>der</strong>n überformten) Rückfall<br />

<strong>in</strong> die Vormo<strong>der</strong>ne dar (vgl. Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; S. 100ff.). Deflexion me<strong>in</strong>t demgegenüber gerade e<strong>in</strong> Beharren<br />

auf dem l<strong>in</strong>earen Fortgang <strong>der</strong> bisherigen Entwicklung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.<br />

75. In diesem sich daraus ergebenden paradoxen Zwang zur gleichzeitigen Fortsetzung und Umkehrung <strong>der</strong> Bewegung<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne liegt e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wesentlichen Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*, auf die auch Bauman h<strong>in</strong>gewiesen hat,<br />

<strong>in</strong>dem er bemerkt: +Es gibt ke<strong>in</strong>en sauberen Bruch o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e unzweideutige Abfolge. Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist [ihrem<br />

Wesen nach] zur Ausschließung unfähig. Nachdem sie die Grenzen ausgegrenzt hat, muß sie zwangsläufig die Mo<strong>der</strong>ne<br />

[mit ihrem Trennungsbestreben] <strong>in</strong> genau die Diversivität e<strong>in</strong>schließen und e<strong>in</strong>verleiben, die ihr unterscheidendes<br />

Merkmal ist.* (Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz; S. 311) Deshalb ist die +Liberalität* <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ständig durch die


90 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

kämpferisch überlegene Strenge <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne gefährdet (vgl. ebd.; S. 312f.). Bauman sieht im (reflexiven) Bewußtse<strong>in</strong><br />

dieser Bedrohung e<strong>in</strong>e Chance. Eher skeptisch formuliert dagegen Demirovi ć: +Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist nichts weiter<br />

als <strong>der</strong> Versuch, die Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne beim Wort zu nehmen […] Doch <strong>in</strong>dem die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> die Mo<strong>der</strong>ne<br />

zurückgezwungen wird, ist sie <strong>in</strong> das Scheitern <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogen.* (Freiheit o<strong>der</strong> die Dekonstruktion des<br />

Politischen; S. 137) In diesem Punkt möchte ich mich, wie auch me<strong>in</strong>e weitere Argumentation zeigt, jedoch eher<br />

Bauman anschließen.<br />

76. Insbeson<strong>der</strong>e, was Giddens betrifft, ist das e<strong>in</strong>e sicher nicht berechtigte Aussage. Schließlich hat gerade dieser<br />

sich <strong>in</strong> vielen Veröffentlichungen sehr <strong>in</strong>tensiv mit <strong>der</strong> <strong>in</strong>terpretativen Soziologie ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt und alle<strong>in</strong>e, daß<br />

er von e<strong>in</strong>er +doppelten Hermeneutik* spricht, zeigt, daß Lash hier übertreibt.<br />

77. Die Bezugspunkte s<strong>in</strong>d dabei natürlich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Adornos +Negative Dialektik* (1966) und die (unvollendet<br />

gebliebene) +Ästhetische Theorie* (1970).<br />

78. Er nimmt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf Charles Taylor Bezug, auf den auch ich noch zu sprechen kommen werde (siehe<br />

Schlußexkurs).<br />

79. Obwohl Giddens den Begriff des +praktischen Bewußtse<strong>in</strong>s* <strong>in</strong> den unten zitierten Werken verwendet, erfolgen<br />

dort allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e genauen Erläuterungen. Sehr ausführlich geht er jedoch <strong>in</strong> dem Band +Die Konstitution <strong>der</strong><br />

Gesellschaft* (1984) auf das Konzept des praktischen Bewußtse<strong>in</strong>s e<strong>in</strong> (vgl. S. 91–116). E<strong>in</strong>e Kurzdef<strong>in</strong>ition im dort<br />

beigefügten Glossar faßt den Begriff so: +Praktisches Bewußtse<strong>in</strong>: Was die Akteure über soziale Zusammenhänge<br />

wissen (glauben), e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> Bed<strong>in</strong>gungen ihres eigenen Handelns, was sie aber nicht <strong>in</strong> diskursiver Weise<br />

ausdrücken können; allerd<strong>in</strong>gs wird das praktische Bewußtse<strong>in</strong> nicht durch Verdrängungsmechanismen blockiert,<br />

wie im Falle des Unbewußten.* (Ebd.; S. 431)<br />

80. Allerd<strong>in</strong>gs betont auch Giddens die Notwendigkeit am Festhalten des mo<strong>der</strong>nen Pr<strong>in</strong>zips des methodischen Zweifels<br />

für e<strong>in</strong>e kritische Theorie <strong>der</strong> Spätmo<strong>der</strong>ne. Diesem Zweifel unterliegen dann aber auch alle +Behauptungen über<br />

die zentrale Bedeutung des Zweifels* (Kritische Theorie <strong>der</strong> Spätmo<strong>der</strong>ne; S. 21).<br />

81. Roszak spricht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 1978 erschienenen Buch vom e<strong>in</strong>em (unterschwelligen) +Manifest <strong>der</strong> Person*, das <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Formulierung des Rechts zur Selbst-Entdeckung besteht (vgl. Person/Planet; S. 3). Mit den (anarchischen) Rechten<br />

<strong>der</strong> Person, die im Kontrast zur etablierten Ordnung stehen, geraten aber auch die Rechte <strong>der</strong> Umwelt und <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>schaft (wie<strong>der</strong>) <strong>in</strong> den Blick (vgl. ebd.; Kap. 2 u. 4). Das +befreite* Selbst entfaltet also e<strong>in</strong>e +subtile Kunst <strong>der</strong><br />

kreativen Des<strong>in</strong>tegration*, die allerd<strong>in</strong>gs auch die Gefahr e<strong>in</strong>er +Pervertierung* birgt (vgl. ebd.; S. 318ff.).<br />

82. Als treffendes Beispiel kann hier die Abtreibungsdebatte gelten.<br />

83. Die +Risikogesellschaft* ersche<strong>in</strong> 1986. Ihren Sammelband zu den +Grenzen <strong>der</strong> Mehrheitsdemokratie* haben<br />

Guggenberger und Offe 1984 herausgegeben.<br />

84. Siehe zum (national-)staatsorientierten <strong>Politik</strong>verständnis <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne z.B. die hier auf S. 3 zitierte<br />

Lexikon-Def<strong>in</strong>ition.<br />

85. Die Klassengrenzen s<strong>in</strong>d für Jameson (durch die aktuelle Dynamik des globalisierten Kapitalismus) nur im <strong>in</strong>dividuellen<br />

Bewußtse<strong>in</strong> und auch nur vorübergehend überdeckt.<br />

86. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wesentlichen Signaturen <strong>der</strong> Nachkriegszeit ist nach Daniel Bell ganz allgeme<strong>in</strong> das +Ende <strong>der</strong> Ideologie*<br />

– und damit korreliert lei<strong>der</strong> auch e<strong>in</strong>e Erschöpfung <strong>der</strong> utopischen Energien (vgl. The End of Ideology; Abschnitt III).<br />

An<strong>der</strong>erseits ist wie<strong>der</strong>um Jürgen Habermas <strong>der</strong> Auffassung, daß nur e<strong>in</strong>e spezifische (wenn auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

dom<strong>in</strong>ante) Utopie von dieser Erschöpfung bedroht ist: nämlich die arbeitsgesellschaftliche Utopie, die parallel mit<br />

dem Wohlfahrtsstaat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e tiefe Krise geraten ist (vgl. Die Krise des Wohlfahrtsstaats und die Erschöpfung utopischer<br />

Energien).<br />

87. Auf den Aspekt <strong>der</strong> Außenbegrenzung von Subpolitik werde ich jedoch erst im folgenden Anschnitt näher e<strong>in</strong>gehen,<br />

wo es um die Ablenkung <strong>der</strong> reflexiven Herausfor<strong>der</strong>ung durch deflexive Mechanismen gehen wird.


A: ANMERKUNGEN 91<br />

88. +Greenpeace* mußte im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>gestehen, übertrieben hohe Schadstoffmengen angegeben<br />

zu haben, so daß selbst viele Umweltschützer mittlerweile <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>d, die Plattform wäre besser im Meer versenkt<br />

worden, anstatt sie, wie nun geschehen, mit hohem Aufwand an Land zu entsorgen.<br />

89. Die Partei <strong>der</strong> +Grünen* beispielsweise ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik auf dem besten Weg dazu.<br />

90. In e<strong>in</strong>e ganz ähnliche Richtung gehen auch neuere Überlegungen Lashs: Dieser postuliert e<strong>in</strong>en Wandel von<br />

<strong>der</strong>epistemologischen(erkenntnissuchenden,identifizierenden)Subjektivitätzur praktischen undreflektierenden<br />

Subjektivität, die ihre Basis im Se<strong>in</strong> hat: dem grundlosen Grund <strong>der</strong> subjektiven +Erfahrung*. Deshalb gilt auch<br />

e<strong>in</strong> Wandel vom universalen zum s<strong>in</strong>gulären Subjekt, das sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Welterfahrung immer auf Objekte bezieht<br />

und damit für +den an<strong>der</strong>en* offen ist (vgl. Another Mo<strong>der</strong>nity – A Different Rationality).<br />

91. Bauman äußert sich hier <strong>in</strong> Anlehnung an Richard Rorty dah<strong>in</strong>gehend, das Toleranz alle<strong>in</strong>e nicht genügt und<br />

diese sich <strong>in</strong> Solidarität transformieren muß. Er beruft sich dabei, wie von mir im vorangegangenen bereits kritisiert<br />

wurde (siehe S. 350), allerd<strong>in</strong>gs auf e<strong>in</strong>e Art Naturrecht des an<strong>der</strong>en auf se<strong>in</strong>e Fremdheit (aus dem sich wie<strong>der</strong>um<br />

zw<strong>in</strong>gend die Notwendigkeit <strong>der</strong> Solidarität ergibt), anstatt lediglich, wie ich es tue, e<strong>in</strong> normatives Ideal zu formulieren.<br />

92. Die emotionale Ebene ist me<strong>in</strong>er Ansicht nach von den Denkprozessen nicht zu trennen.<br />

93. In <strong>der</strong> <strong>in</strong>teraktionistischen Identitätstheorie von George Herbert Mead ist es e<strong>in</strong> wesentliches Moment <strong>der</strong> Identitätsbildung,<br />

daß das Individuum <strong>in</strong> <strong>der</strong> (spielerischen) Interaktion lernt, sich mit den Augen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en wahrzunehmen<br />

(vgl. Geist, Identität und Gesellschaft; S. 194ff.). Umgekehrt ist es e<strong>in</strong> wesentliches Element <strong>der</strong> sozialen Kompetenz<br />

und <strong>der</strong> sozialen Interaktionsfähigkeit, die an<strong>der</strong>en mit den +eigenen* Augen wahrzunehmen, sich <strong>in</strong> ihre Position<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuversetzen. Diese grundsätzliche Fähigkeit beruht, wenn man Alfred Schütz folgt, auf <strong>der</strong> alltagspraktischen<br />

Annahme, daß e<strong>in</strong>e Vertauschbarkeit und Wechselseitigkeit <strong>der</strong> Perspektiven gegeben ist: +Wäre ich dort, wo er jetzt<br />

ist, würde ich die D<strong>in</strong>ge [obwohl natürlich ›dasselbe‹ Objekt für jeden von uns Unterschiede aufweisen muß] <strong>in</strong> gleicher<br />

Perspektive […] erfahren wie er; und wäre er hier, wo ich jetzt b<strong>in</strong>, würde er die D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> gleicher Perspektive erfahren<br />

wie ich* (Strukturen <strong>der</strong> Lebenswelt; S. 74). Durch diese pragmatische, vere<strong>in</strong>fachende Annahme kann schließlich<br />

zu e<strong>in</strong>er komplexen, empathischen Sicht des an<strong>der</strong>en gefunden werden. Denn es handelt sich bei Empathie – zum<strong>in</strong>dest<br />

im +humanistischen* Konzept von Carl Rogers – um e<strong>in</strong>en reflexiven Prozeß <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fühlung, bei dem mir ständig bewußt<br />

ist, daß es sich um e<strong>in</strong>e (gedachte) +als ob*-Situation handelt. Es geht also darum, auf <strong>der</strong> Grundlage dieses +hypothetischen*<br />

Bewußtse<strong>in</strong>s das Empf<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Person nachzuvollziehen, +zeitweilig das Leben dieser Person zu leben;<br />

sich vorsichtig dar<strong>in</strong> zu bewegen, ohne vorschnell Urteile zu fällen* (Empathie; S. 79). Das bedeutet <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e,<br />

+die Genauigkeit eigener Empf<strong>in</strong>dungen häufig mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Person zusammen zu überprüfen und sich von ihren<br />

Reaktionen leiten zu lassen* (ebd.). E<strong>in</strong>e solche verstehende Haltung war auch bereits e<strong>in</strong>e wesentliche Grundlage<br />

<strong>der</strong> +klassischen* Psychoanalyse (vgl. z.B. Kohut: Introspektion, Empathie und Psychoanalyse).<br />

94. Im (universal)pragmatischen Sprachmodell von Habermas betrifft <strong>der</strong> Geltungsanspruch <strong>der</strong> Wahrhaftigkeit, <strong>der</strong><br />

etwa dem entspricht, was hier mit Aufrichtigkeit bezeichnet wurde, alle<strong>in</strong>e das Feld des Ausdrucks von subjektiven<br />

Erlebnissen (expressive Sprechakte). Dagegen gilt für den Bereich <strong>der</strong> äußeren Natur (konstative Sprechakte) <strong>der</strong><br />

Geltungsanspruch <strong>der</strong> Wahrheit, für den Bereich <strong>der</strong> Gesellschaft und ihrer Normen (regulative Sprechakte) gilt <strong>der</strong><br />

Geltungsanspruch <strong>der</strong> Richtigkeit (vgl. Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns; S: 417–428<br />

und siehe auch hier Anmerkung 89, Kap. 2). Im Bewußtse<strong>in</strong>, daß objektive Aussagen über die Objektivität (also die<br />

äußere Natur) nicht möglich s<strong>in</strong>d und auch Richtigkeitsvorstellungen immer e<strong>in</strong>e Verankerung im Subjekt haben (müssen),<br />

also subjektiv überformt s<strong>in</strong>d, liegt auf <strong>der</strong> Hand, daß, für das Individuum, immer nur <strong>der</strong> Anspruch <strong>der</strong> Wahrhaftigkeit<br />

– also e<strong>in</strong>e Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber – erfüllt werden kann.<br />

95. Auf das dialektische Moment werde ich, wie angekündigt, ausführlicher erst <strong>in</strong> Abschnitt 5.4 e<strong>in</strong>gehen. Hier soll<br />

schließlich vorerst nur e<strong>in</strong>e Klärung <strong>der</strong> Begriffe – allerd<strong>in</strong>gs notwendigerweise <strong>in</strong> Abgrenzung zu ihren dialektischen<br />

Gegenbegriffen – erfolgen.<br />

96. Diese +Übertragung* be<strong>in</strong>haltet zugegebenermaßen durchaus problematische Aspekte, denn schließlich besitzen<br />

soziale Prozesse – abstrakt betrachtet – ke<strong>in</strong> +Innenleben*, ihre Ablenkungs- bzw. Verdrängungsmomente s<strong>in</strong>d also<br />

streng genommen we<strong>der</strong> bewußt noch unbewußt, son<strong>der</strong>n werden lediglich (subjektiv und von außen: vom mir)<br />

so <strong>in</strong>terpretiert und e<strong>in</strong>geordnet. Doch da soziale Prozesse das Resultat von akkumulierten <strong>in</strong>dividuellen Handlungen<br />

s<strong>in</strong>d und zudem hier ja nur e<strong>in</strong>e Analogie aufgemacht werden soll, ke<strong>in</strong>esfalls e<strong>in</strong>e Identität behauptet wird, ersche<strong>in</strong>t<br />

es mir gerechtfertigt, so vorzugehen.


92 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

97. Schließt man sich Becks Perspektive an, so würde man ergänzen, daß durch die gesteigerte Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit/-<br />

Reflexivität des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses das reflexive Element zunehmend an Gewicht gew<strong>in</strong>nt (wobei me<strong>in</strong>es Erachtens<br />

jedoch die Kapazität des +Systems* zur Deflexion <strong>der</strong> reflexiven Herausfor<strong>der</strong>ungen von ihm unterschätzt wird).<br />

98. Für die Freudsche Triade +Ich, Es, Über-Ich* hat sich im Englischen die Übersetzung +ego* (Ich), +id* (Es) und<br />

+super-ego* (Über-Ich) etabliert.<br />

99. Giddens spricht freilich, wie erläutert, ohneh<strong>in</strong> von e<strong>in</strong>er +Dualität von Struktur* bzw. von e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> die sozialen<br />

Systeme e<strong>in</strong>gelassenen +Dialektik <strong>der</strong> Herrschaft*, die dar<strong>in</strong> besteht, daß alle Formen von Abhängigkeit +gewisse Ressourcen<br />

zur Verfügung [stellen], mit denen die Unterworfenen die Aktivitäten <strong>der</strong> ihnen Überlegenen bee<strong>in</strong>flussen können*<br />

(Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 67).<br />

100. Beck spricht im Kontext se<strong>in</strong>er Ausführungen zur +Gegenmo<strong>der</strong>ne* ganz ähnlich von +hergestellter Fraglosigkeit*<br />

(vgl. Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; S. 100ff.).<br />

101. Vor allem kann Deflexion e<strong>in</strong>e kurzfristige Entlastung von Reflexionsaufwand bewirken, wenn dieser aus Mangel<br />

an kognitiven o<strong>der</strong> Zeitressourcen aktuell nicht aufgebracht werden kann.<br />

102. Bezöge man zusätzlich die – ke<strong>in</strong>esfalls zu vernachlässigende – Ebene <strong>der</strong> Emotion mit e<strong>in</strong>, so stünden auf <strong>der</strong><br />

Reflexionsseite emotionale Offenheit und Empathie und auf <strong>der</strong> Deflexionsseite Anti-Intrazeption und Verdrängung.<br />

103. Holbach bemerkt z.B. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Système de la nature* (1820): +Die Obrigkeit ist gewöhnlich daran <strong>in</strong>teressiert,<br />

daß e<strong>in</strong>mal verbreitete Me<strong>in</strong>ungen bestehen bleiben. Die Vorurteile und Irrtümer, die sie für notwendig erachtet,<br />

um ihre Macht zu sichern, werden mit <strong>der</strong> Gewalt, bei <strong>der</strong> es ke<strong>in</strong> langes Überlegen gibt, aufrecht erhalten.* (S. 57)<br />

Weitere Ausführungen Holbachs f<strong>in</strong>den sich – wie e<strong>in</strong>e ganze Reihe an<strong>der</strong>er für die Ideologie-Diskussion relevanter<br />

Texte – (<strong>in</strong> Auszügen) <strong>in</strong> dem von Kurt Lenk herausgegebenen Band +Ideologie* (1984).<br />

104. Sehr ähnlich dazu formulierte übrigens Louis Althusser: +Die Ideologie stellt das imag<strong>in</strong>äre Verhältnis <strong>der</strong> Individuen<br />

zu ihren wirklichen Lebensverhältnissen dar.* (Ideologie und ideologische Staatsapparate; S. 147)<br />

105. Wir haben es also bei Ideologien bzw. ideologischen Narrationen/Metaerzählungen mit +Mythen* bzw. mythologischen<br />

+Metasprachen* im S<strong>in</strong>ne Roland Barthes zu tun, die e<strong>in</strong>e zweite Bedeutungsebene etablieren, mit <strong>der</strong> die<br />

zugrunde liegende Bedeutungsebene verschleiert wird (vgl. Mythen des Alltags; S. 92ff.). Der Mythologe sucht im<br />

(politischen) Bestreben e<strong>in</strong>er (positiven) Aufhebung <strong>der</strong> Wirklichkeit nach diesen verdeckten Bedeutungen (vgl. ebd.;<br />

S. 147ff.).<br />

106. Als Beispiele für strukturelle Kopplungen zwischen e<strong>in</strong>zelnen Subsystemen nennt Luhmann Steuern<br />

(<strong>Politik</strong>–Wirtschaft), Eigentum (Recht–Wirtschaft) und die Verfassung (<strong>Politik</strong>–Recht) etc. (vgl. Die Gesellschaft <strong>der</strong><br />

Gesellschaft; S. 781ff.).<br />

107. Bernhard Giesen spricht im Zusammenhang mit dem Prozeß <strong>der</strong> funktionalen Differenzierung auch von e<strong>in</strong>er<br />

Verselbständigung <strong>der</strong> Codes. Die somit erfolgende Entkopplung von Code, Prozeß und Situation bewirkt e<strong>in</strong>e<br />

(problematische) +Entd<strong>in</strong>glichung des Sozialen* (1991).<br />

108. Selbst diese Aussage gilt freilich nur, wenn man sich auf die aktuellen Ausformulierung konzentriert. Betrachtet<br />

man dagegen Luhmanns Œuvre als zusammenhängendes Denk-System, so stellen selbst wohlwollende Kritiker fest,<br />

daß es sich um e<strong>in</strong> kaum kohärentes, äußerst +brüchiges* Theoriekonstrukt handelt, <strong>in</strong>dem Luhmann zugleich auf<br />

e<strong>in</strong>en +l<strong>in</strong>earen* und e<strong>in</strong>en autopoietischen Systembegriff rekurriert (vgl. z.B. Obermeier: Zweck – Funktion – System;<br />

S. 225ff.).<br />

109. Beim Vergleich mit me<strong>in</strong>en obigen Ausführungen gilt es allerd<strong>in</strong>gs zu beachten, daß Habermas sich auf weit<br />

frühere Texte Luhmanns bezieht.<br />

110. Mit den +konstruktivistischen Perspektiven*beschäftigt sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Band 5 <strong>der</strong> +Soziologischen Aufklärung*.


A: ANMERKUNGEN 93<br />

111. Dieser ideologische Charakter ist freilich, um es nochmals zu betonen, nicht objektiv aufzuweisen, son<strong>der</strong>n<br />

kann, wie oben dargelegt wurde, nur – <strong>in</strong> (An-)Deutungen – plausibel gemacht werden.<br />

112. E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante biographische +Fußnote* stellt – vor allem im H<strong>in</strong>blick auf die folgenden Ausführungen – allerd<strong>in</strong>gs<br />

die Tatsache dar, daß Luhmann se<strong>in</strong>e professionelle Karriere eben nicht als Wissenschaftler, son<strong>der</strong>n als Bürokrat<br />

im m<strong>in</strong>isterellen System Nie<strong>der</strong>sachsens begann (und somit vielleicht auch e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Semantik als die wissenschaftliche<br />

ver<strong>in</strong>nerlicht hat).<br />

113. Schulte orientiert sich bei se<strong>in</strong>er Darstellung eng an von Luhmann verwendeten Metaphern und deckt sehr gründlich<br />

und detailliert <strong>der</strong>en latente Gehalte auf. Diese Detailtreue muß hier lei<strong>der</strong> zugunsten e<strong>in</strong>er größeren Prägnanz geopfert<br />

werden.<br />

114. In dem angegebenen Aufsatz bemerkt Luhmann: +Das humanistische Vorurteil [daß sich Wissenschaft am Menschen<br />

zu orientieren hätte] sche<strong>in</strong>t, gerade weil es so natürlich und traditionsgesichert auftreten kann, zu den ›obstacles<br />

épistemologiques‹ zu gehören, die den Zugang zu e<strong>in</strong>er komplexeren Beschreibung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft blockieren<br />

[…]* (S. 168). Deshalb müssen, wie er an an<strong>der</strong>er Stelle des Sammelbands bemerkt, dem <strong>der</strong> zitierte Text entnommen<br />

ist, +Traditionsbegriffe wie Subjekt und Person zurechtgerückt o<strong>der</strong> ganz aufgegeben werden* (Die Soziologie und<br />

<strong>der</strong> Mensch [Soziologische Aufklärung, Band 6]; S. 11).<br />

115. Es heißt hier: +Der Beobachter ist […] ke<strong>in</strong> ›Subjekt‹, wenn man diese Bezeichnung aus dem Unterschied zum<br />

Objekt gew<strong>in</strong>nt. Aber er ist die Realität se<strong>in</strong>er eigenen Operationen, was aber nur durch e<strong>in</strong>e weitere Beobachtung<br />

festgestellt werden kann, die ihn als [Sub-]System <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Umwelt [dem Sozialsystem] auffaßt.* (S. 78)<br />

116. Als e<strong>in</strong>e Person, die <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e aufrund ihres +an<strong>der</strong>sartigen*, dunkelhäutigen Aussehens, aber auch wegen<br />

ihrer m<strong>in</strong>oritären Ansichten häufiger Erfahrungen <strong>der</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierung machen muß, fühle ich mich diesem peripheren,<br />

randständigen Blickw<strong>in</strong>kel, den Luhmann ausklammert, beson<strong>der</strong>s verpflichtet.<br />

117. Diese Logik wird selbst auf den Bereich <strong>der</strong> +Intimität* von Luhmann angewandt. So wird Liebe konsequent<br />

auch nicht als Emotion betrachtet. Vielmehr gilt sie ihm als (abstrakter) symbolischer Code, <strong>der</strong> im Lauf <strong>der</strong> sozialen<br />

Evolution unterschiedliche Bedeutungen angenommen hat und die (konkreten) Gefühle <strong>der</strong> Individuen dementsprechend<br />

unterschiedlich formte (vgl. Liebe als Passion; S. 9ff.). Es kursiert übrigens das Gerücht, daß dieser Text die Verarbeitung<br />

e<strong>in</strong>er gescheiterten Beziehung Luhmanns darstellt.<br />

118. An <strong>der</strong> zitierten Stelle heißt es: +Wenn das Individuum durch Technik <strong>der</strong>art [durch Entfremdungsprozesse]<br />

mag<strong>in</strong>alisiert wird, gew<strong>in</strong>nt es die Distanz, die es möglich macht, das eigene Beobachten zu beobachten. Es weiß<br />

nicht mehr nur sich selbst […] statt dessen gew<strong>in</strong>nt es die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Beobachtung zweiter Ordnung. Individuum<br />

im mo<strong>der</strong>nen S<strong>in</strong>n ist, wer se<strong>in</strong> eigenes Beobachten beobachtet.*<br />

119. Im Rahmen se<strong>in</strong>er Ausführungen zur +Ökologische[n] Kommunikation* (1988) bemerkt Luhmann übrigens<br />

bezeichnen<strong>der</strong>weise, daß er Angst als +Störfaktor im sozialen System* betrachtet (S. 240). Durch den Appell an die<br />

Angst wird die soziale Kommunikation nämlich mit Moral aufgeladen – womit gemäß Luhmann e<strong>in</strong>e rationale Entscheidungsf<strong>in</strong>dung<br />

unmöglich wird (vgl. ebd.; S. 245f.). Durch die deflexive Negierung <strong>der</strong> (eigenen) Angst, die offenbar<br />

nicht ausgehalten werden kann und die zu kritischen Reflexionen im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es reflexiven Handelns zw<strong>in</strong>gen würde,<br />

wird so – ganz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> neuzeitlichen Aufklärung – versucht, e<strong>in</strong>en Rückhalt im rationalen Diskurs zu f<strong>in</strong>den.<br />

Mit Etzioni möchte ich dagegen auf die bedeutende Rolle normativ-affektiver Faktoren für jede Art von Entscheidungsf<strong>in</strong>dung<br />

(und als unabd<strong>in</strong>gbare Selektionsgrundlage gerade für rationale Entscheidungsprozesse) verweisen<br />

(vgl. The Moral Dimension; Abschnitt II).<br />

120. Luhmanns Reflexionsbegriff, <strong>der</strong> im Wesentlichen mit ebendieser Selbstbezüglichkeit zusammenfällt (siehe hierzu<br />

auch S. LXXVf.), ist selbst jedoch natürlich nicht reflexiv im hier def<strong>in</strong>ierten S<strong>in</strong>n, son<strong>der</strong>n erfüllt im Gegenteil, wie<br />

oben dargelegt wurde, die deflexiv-ideologische Funktion, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Thematisierung <strong>der</strong> Selbstbezüglichkeit <strong>der</strong> Systeme<br />

den eigenen Selbstbezug zu elim<strong>in</strong>ieren.<br />

121. Sloterdijk bemerkt übrigens explizit gegen den Funktionalismus gerichtet: +Jede soziologische Systemtheorie,<br />

die ›Wahrheit‹ funktionalistisch behandelt […], birgt e<strong>in</strong> mächtiges zynisches Potential […] Der Marxismus […] bewahrte<br />

immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ambivalenz zwischen verd<strong>in</strong>glichenden und emanzipatorischen Perspektiven. Nichtmarxistische<br />

Systemtheorien <strong>der</strong> Gesellschaft lassen noch die letzte Empf<strong>in</strong>dlichkeit fallen.* (Kritik <strong>der</strong> zynischen Vernunft; S. 63)


94 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

122.DerKonstruktcharakter<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzannahme (und ihre +imag<strong>in</strong>äre*,ideologischeFunktionalität) wird allerd<strong>in</strong>gs<br />

bei Fuchs natürlich nicht <strong>in</strong> gleicher Weise herausgearbeitet wie die paradoxe +reale* Nützlichkeit des Konstrukts<br />

<strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit.<br />

123. In diesem Zusammenhang entwickelt Willke das Modell e<strong>in</strong>es +Supervisionsstaats*: Dieser läßt die Autonomie<br />

<strong>der</strong> Funktionssysteme unangetastet und beschränkt sich darauf, die vom politischen System erkannten Probleme an<br />

die Funktionssysteme zurück zu übermitteln (vgl. Ironie des Staates; S. 335ff.). Allerd<strong>in</strong>gs unterscheidet sich dieses<br />

Modell me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach nur marg<strong>in</strong>al von dem von Willke ebenfalls kritisierten Modell des m<strong>in</strong>imalen (liberalistischen)<br />

Staats, <strong>der</strong> die Verteilung <strong>der</strong> kollektiven Güter (genauso wie <strong>der</strong> Wohlfahrtsstaat) nicht befriedigend regeln kann.<br />

Was an <strong>der</strong> Umwandlung von Fremdzwang <strong>in</strong> Selbstzwang, <strong>der</strong> +ethischen* Grundlage des +Supervisionsstaats*, +ironisch*<br />

se<strong>in</strong> soll, bleibt überdies unklar.<br />

124. Auch Peters macht im Rekurs auf den Begriff <strong>der</strong> Verdrängung also e<strong>in</strong>e Analogie zur Psychoanalyse auf, die<br />

jedoch lei<strong>der</strong>, wie er bemerkt, soziologisch +bisher selten und systematisch ausgearbeitet* wurde (Die Integration<br />

mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften; S. 347). So bleibt mir nur zu hoffen, daß me<strong>in</strong>e Arbeit, vor allem mit dem Konzept <strong>der</strong><br />

Deflexion, hier e<strong>in</strong>en Beitrag zu leisten vermag.<br />

125. Bourdieu versteht unter Reflexivität <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>e Soziologie <strong>der</strong> Soziologie bzw. des Soziologen, um sich<br />

den sozialen Kontext und die unbewußten Motive, auch für die eigene (wissenschaftliche) Praxis, bewußt zu machen<br />

(vgl. Die Praxis <strong>der</strong> reflexiven Anthropologie; S. 287ff.). Wenn man Loïc Wacquant folgt, so stellt Bourdieus Ansatz<br />

damit gar die (bisher) am weitesten gediehene Fassung e<strong>in</strong>er reflexiven Soziologie dar, <strong>in</strong>dem Bourdieu nicht nur<br />

die eigene Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft und im akademischen Feld reflektiert, son<strong>der</strong>n ebenso den Eigenwert <strong>der</strong> Logik<br />

<strong>der</strong> Praxis anerkennt (vgl. Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>er Sozialpraxeologie und siehe auch unten). Auch bei Bourdieu fehlt<br />

allerd<strong>in</strong>gs me<strong>in</strong>es Erachtens letztlich das dialektisch-dynamische Moment, und er entwickelt auch ke<strong>in</strong> Verständnis<br />

für Reflexion als Modus des (fühlenden) Denkens und des Handelns.<br />

126. In diesem Zusammenhang kann an den Handlungsbegriff des Aristoteles angeschlossen werden, <strong>der</strong> im Rahmen<br />

se<strong>in</strong>er praktischen Philosophie das ethische (geme<strong>in</strong>schaftsbezogene) Handeln vom zweckrationalen, auf die Herstellung<br />

von Gütern und die Gew<strong>in</strong>nmaximierung bezogene Handeln unterscheidet (vgl. Nikomachische Ethik; Buch I).<br />

127. Das soll ke<strong>in</strong>eswegs bedeuten, daß im Kontext <strong>der</strong> Reflexion die Praxis <strong>der</strong> Theorie untergeordnet ist. Reflexive<br />

Gegenpraktiken s<strong>in</strong>d zur Aufhebung des ideologisch-praxologischen Deflexionszusammenhangs notwendig. Um reflexive<br />

Gegenpraktiken zu ermöglichen, ist aber die Erlangung e<strong>in</strong>es reflexiven Bewußtse<strong>in</strong>s die Grundlage. Dazu dienen<br />

auch kritische Begriffe wie <strong>der</strong> Deflexionsbegriff o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Praxologiebegriff. Bloße Oberflächentransformationen wie<br />

e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Lebensstilmuster durch Individualisierungsprozesse s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n nicht reflexiv. Dazu<br />

müßten sie <strong>in</strong> subversive Praktiken überführt werden. Subpolitik müßte zu e<strong>in</strong>er subversiven <strong>Politik</strong> geraten, und<br />

Subversion erfor<strong>der</strong>t Konversion: die Umwandlung von e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Denken zur an<strong>der</strong>en Praxis.<br />

128. Es handelt sich hier also um e<strong>in</strong>e Form struktureller bzw. <strong>in</strong>stitutionalisierter Deflexion (siehe S. 381).<br />

129. Man kann deshalb auch sagen, daß Sprache (als <strong>in</strong>teraktiv kommuniziertes Begriffssystem) den deflexiven (und<br />

reflexiven) Schnittpunkt zwischen Handlungs- und Bewußtse<strong>in</strong>seben darstellt.<br />

130. Saussure stellt dabei eher das (im positiven S<strong>in</strong>n) strukturierende und ordnende Element <strong>der</strong> Sprache heraus,<br />

die zusammenhängendes Denken erst ermöglicht: +Das Denken, für sich genommen, ist wie e<strong>in</strong>e Nebelwolke, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt ke<strong>in</strong>e von vornehere<strong>in</strong> feststehenden Vorstellungen, und nichts ist<br />

bestimmt, ehe die Sprache <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung tritt […] Das Denken, das se<strong>in</strong>er Natur nach chaotisch ist, wird [durch<br />

die Sprache] gezwungen, durch Glie<strong>der</strong>ung sich zu präzisieren […]* (Grundfragen <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Sprachwissenschaft;<br />

Kap. IV, § 1, S. 133f.) In <strong>der</strong> poststrukturalistischen französischen Philosophie, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e beim frühen Foucault,<br />

wird dagegen stärker <strong>der</strong> +machtvolle*, e<strong>in</strong>engende und normierende Charakter <strong>der</strong> (Dualität <strong>der</strong>) Sprachstrukturen<br />

betont, die auf e<strong>in</strong>e Bändigung des Begehrens zielen und damit selbst e<strong>in</strong> Begehren darstellen: +Ich setze voraus,<br />

daß <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird<br />

– und zwar durch gewisse Prozeduren [Ausschließungen, <strong>in</strong>terne Ordnungssysteme, Verknappungen etc.], <strong>der</strong>en<br />

Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, se<strong>in</strong> unberechenbar Ereignishaftes zu bannen,<br />

se<strong>in</strong>e schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen […] Denn <strong>der</strong> Diskurs – die Psychoanalyse hat es uns gezeigt<br />

– ist nicht e<strong>in</strong>fach das, was das Begehren offenbart (o<strong>der</strong> verbirgt): er ist auch e<strong>in</strong> Gegenstand des Begehrens; und<br />

<strong>der</strong> Diskurs – dies lehrt uns immer wie<strong>der</strong> die Geschichte – ist auch nicht bloß das, was die Kämpfe o<strong>der</strong> die Systeme


A: ANMERKUNGEN 95<br />

<strong>der</strong> Beherrschung <strong>in</strong> Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, <strong>der</strong>en man<br />

sich zu bemächtigen sucht.* (Die Ordnung des Diskurses; S. 11) Ganz ähnlich argumentiert übrigens auch Derrida<br />

(vgl. z.B. Grammatologie; S. 16). Er stellt jedoch heraus, daß die unterdrückerische Macht <strong>der</strong> Sprache sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

als logozentrischer Diskurs formt, <strong>in</strong> die Schrift (als Symbolisierung des Lauts) ist dagegen immer auch e<strong>in</strong>e grundlegende<br />

Differenz zum Bezeichneten e<strong>in</strong>gelassen, die zurückverfolgt, dekonstruiert werden kann, um <strong>der</strong> Stimme <strong>der</strong> Differenz<br />

(wie<strong>der</strong>) Gehör zu verschaffen (vgl. ebd.; S. 77ff. sowie Die Schrift und die Differenz; S. 21ff.).<br />

131. Auch die an<strong>der</strong>en Deflexionsmodi weisen allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en Öffentlichkeitsbezug auf.<br />

132. +Bezeichnen<strong>der</strong>weise* hat das (Neu-)Hochdeutsche sich aus den frühneuzeitlichen Kanzleisprachen, die im<br />

wesentlichen Schriftsprachen waren, heraus entwickelt (vgl. z.B. König: dtv-Atlas zur deutschen Sprache; S. 91).<br />

133. Der mögliche Beitrag dieser theoretischen und vermutlich auf e<strong>in</strong> sehr begrenztes Publikum beschränkten Arbeit,<br />

sollte allerd<strong>in</strong>gs auch nicht überschätzt werden.<br />

134. Meyer stellt demantsprechend, ähnlich wie Willke (siehe S. 402), die Tragik <strong>der</strong> aktuellen Situation für die <strong>Politik</strong><br />

heraus: +Das Dilemma <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne sche<strong>in</strong>t perfekt. Es öffnet <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenz se<strong>in</strong>er unaufgebbaren<br />

Pr<strong>in</strong>zipien die politische Arena für e<strong>in</strong>e unabschließbare Fülle regelungsbedürftiger Fragen, richtet se<strong>in</strong>en Anspruch<br />

auf diskursive Verständigung, wegen <strong>der</strong> globalen Tendenz <strong>der</strong> Betroffenheit durch dieselben politischen Ursachen<br />

Schritt für Schritt an die Menschheit im ganzen. Gleichzeitig s<strong>in</strong>d ihm die klassischen Auswege – Begrenzung <strong>der</strong><br />

Teilnahme auf die Urteilsfähigen und von <strong>der</strong> Existenzvorsorge Freigestellten sowie die Begrenzung <strong>der</strong> zugelassenen<br />

politischen Fragen – durch se<strong>in</strong> Legitimationsverständnis e<strong>in</strong> für allemal verbaut.* (Die Transformation des Politischen;<br />

S. 224) Daß aber trotz dieser Tragik <strong>der</strong> utopische Anspruch nicht aufgegeben werden muß und e<strong>in</strong> utopischer Bezug<br />

nicht gleichbedeutend mit e<strong>in</strong>er Elim<strong>in</strong>ierung des Differenten zusammenfällt, versuche ich im Rahmen me<strong>in</strong>es Exkurses<br />

zu zeigen.<br />

135. Berühmt ist Zenons Paradoxie <strong>der</strong> Zeit, die sowohl als unendlich und kont<strong>in</strong>uierlich wie auch als endlich und<br />

+gequantelt* vorgestellt werden muß. Denn +ausgehend von e<strong>in</strong>er Vorstellung von Zeit als Folge getrennter Zeitpunkte<br />

würde e<strong>in</strong> abgeschossener Pfeil, wenn man se<strong>in</strong>en Flug <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelne Zeitpunkte zerlegt, <strong>in</strong> jedem <strong>der</strong> Punkte feststehen<br />

und sich somit auch <strong>in</strong>sgesamt nicht bewegen. Nimmt man Zeit aber als e<strong>in</strong> unendl. Kont<strong>in</strong>uum an, so ergibt sich<br />

das Paradox, daß z.B. Achill im Wettlauf mit e<strong>in</strong>er Schildkröte, die e<strong>in</strong>em Vorsprung hat, diese niemals überholen<br />

könnte. Wenn Achill die Ausgangsposition <strong>der</strong> Schildkröte erreicht hat, so ist diese selber ja wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Stück<br />

weitergekommen, so daß <strong>der</strong> Abstand zwischen beiden zwar kle<strong>in</strong>er wird, aber immer bestehen bleibt.*<br />

(Kunzmann/Burkhard/Wiedmann: dtv-Atlas zur Philosophie; S. 33)<br />

136. Im Dialog +Parmenides* wird übrigens Zenon, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er dialektisch abgefaßten Schriften vorträgt, von Sokrates<br />

attackiert, <strong>der</strong> demgegenüber die +Wahrheit* <strong>der</strong> Ideen <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gt. Zenons ebenfalls anwesen<strong>der</strong> Lehrer Parmenides<br />

steht ihm jedoch bei und erläutert dem jungen Sokrates anhand des zuvor <strong>in</strong> Zenons Schrift erörterten Problems<br />

des E<strong>in</strong>en und des Vielen die dialektische Methode – die später von Sokrates bzw. Platon mit <strong>der</strong> Ideenlehre verbunden<br />

und dazu benutzt wird, im dialogischen Gespräch (bzw. mittels dialogisch abgefaßter Schriften) die Wahrheit <strong>der</strong><br />

Ideen dialektisch hervorzukehren. An dieses diskursive (idealistische) Dialektikverständnis von Sokrates/Platon schließt<br />

erst Schleiermacher (1768–1834), <strong>der</strong> auch die unten zitierte Platon-Übersetzung verfaßt hat, explizit wie<strong>der</strong> an,<br />

<strong>in</strong>dem er unter Dialektik +die Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Kunst zu philosophieren* versteht (Dialektik; S. 4), d.h. +mit e<strong>in</strong>em Andren<br />

zugleich [also im Dialog] e<strong>in</strong>e philosophische Konstruktion zu vollziehen* (ebd.; S. 5). Von Schleiermacher führt die<br />

L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>es diskursiven Verständnisses <strong>der</strong> Dialektik weiter zur Hermeneutik Gadamers und zur Diskurstheorie von<br />

Habermas.<br />

137. Auf spätantike und mittelalterliche Dialektikkonzeptionen möchte ich nicht e<strong>in</strong>gehen, da sie für die neuzeitliche<br />

Weiterführung des dialektischen Denkens kaum e<strong>in</strong>e Rolle spielen. Und auch die von Aristoteles zu Kant führende<br />

L<strong>in</strong>ie kann, obwohl Hegel sich <strong>in</strong>tensiv mit Kant ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzte und teilweise auch auf diesem aufbaute (vgl. Röttges:<br />

Zur Entstehung und Wirkung des kantischen Begriffs <strong>der</strong> Dialektik), nur <strong>in</strong> groben Strichen nachgezogen werden – weil<br />

hier erstens <strong>der</strong> Raum für e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Diskussion fehlt und mir zweitens, zur Verdeutlichung me<strong>in</strong>er eigenen<br />

Auffassungen, e<strong>in</strong>e Konzentration auf die primär an Hegels Konzept anschließenden Ansätze am s<strong>in</strong>nvollsten ersche<strong>in</strong>t.<br />

E<strong>in</strong>ige kurze Bemerkungen zur L<strong>in</strong>ie Aristoteles–Kant möchte ich jedoch trotzdem machen:<br />

Für Aristoteles (384–324 v. Chr.) bedeutet die dialektische Vorgehenweise e<strong>in</strong> Schließen aus wahrsche<strong>in</strong>lichen Sätzen,<br />

d.h. Sätzen, +die allen o<strong>der</strong> den meisten o<strong>der</strong> den Klugen so [d.h. wahr] ersche<strong>in</strong>en* (Oragnon; Band 1: Topik I,1<br />

[100a]). Kant (1724–1804) schließt im Rahmen se<strong>in</strong>er +Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft* (1781) an diese +negative* Auffassung


96 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

von Dialektik an, <strong>in</strong>dem er sie als +Logik des Sche<strong>in</strong>s* charakterisiert. Allerd<strong>in</strong>gs hat die dialektische Logik des Sche<strong>in</strong>s<br />

für Kant, an<strong>der</strong>s als für Aristoteles, nichts mit Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit zu tun, +denn diese ist Wahrheit, aber durch<br />

unzureichende Gründe erkannt* (S. 244). Vielmehr bedeutet Dialektik für Kant e<strong>in</strong> Fehlschließen, das schon <strong>in</strong> die<br />

Struktur des menschlichen Geistes e<strong>in</strong>gelassen ist. Und so kann die transzendentale Dialektik, die Kant anstrebt, den<br />

immanenten dialektischen Sche<strong>in</strong> <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft – d.h. ihre Paralogismen und Ant<strong>in</strong>omien – nur aufdecken<br />

und ihn nie wirklich beseitigen (vgl. ebd.; S. 245ff.). +Es gibt also e<strong>in</strong>e natürliche und unvermeidliche Dialektik <strong>der</strong><br />

re<strong>in</strong>en Vernunft.* (Ebd.; S. 247) In <strong>der</strong> Denkfigur <strong>der</strong> regulativen transzendentalen Ideen – d.h. Ideen, die die Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

<strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft mittels hypothetischer Konstrukte (wie z.B. Gott) <strong>in</strong>tegrieren und die zur Möglichkeit des Erkennens<br />

ebenso notwendig s<strong>in</strong>d (also vorausgesetzt werden müssen), wie sie notwendig +außerhalb den Grenzen möglicher<br />

Erfahrung* liegen (ebd.; S. 441) – gelangt Kant jedoch trotzdem, auf e<strong>in</strong>em +vernünftelnden* Umweg, zu e<strong>in</strong>er Aufhebung<br />

<strong>der</strong> (eigentlich doch unaufhebbaren) dialektischen Wi<strong>der</strong>sprüche. (Vgl. zu Kants Dialektik-Konzept allgeme<strong>in</strong> auch<br />

Kaulbach: Kants Idee <strong>der</strong> transzendentalen Dialektik)<br />

138. Hegel bemerkt zu Kants Konzept <strong>der</strong> transzendentalen Dialektik: +Kant hat die Dialektik höher gestellt, […] <strong>in</strong>dem<br />

er ihr den Sche<strong>in</strong> <strong>der</strong> Willkür nahm, den sie nach <strong>der</strong> gewöhnlichen Vorstellung hat, und sie als e<strong>in</strong> notwendiges Tun<br />

<strong>der</strong> Vernunft darstellte.* (Wissenschaft <strong>der</strong> Logik; S. 38 [E<strong>in</strong>leitung]) Sogleich schränkt er jedoch e<strong>in</strong>: +Kants dialektische<br />

Darstellungen verdienen […] freilich [trotzdem] ke<strong>in</strong> großes Lob […] So wie nur bei <strong>der</strong> abstrakt-negativen Seite des<br />

Dialektischen stehengeblieben wird, so ist das Resultat nur das Bekannte, daß die Vernunft unfähig sei, das Unendliche<br />

zu erkennen; – e<strong>in</strong> son<strong>der</strong>bares Resultat, <strong>in</strong>dem das Unendliche das Vernünftige ist, zu sagen, die Vernunft sei nicht<br />

fähig, das Vernünftige zu erkennen.* (Ebd.)<br />

139. Für Hegel manifestiert sich die dialektische Bewegung als Selbstf<strong>in</strong>dung und Verwirklichung <strong>der</strong> Vernunft (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

gemäß <strong>der</strong> Darstellung <strong>in</strong> <strong>der</strong> oben zitierten +Rechtsphilosophie*) auch +materiell* im historisch-gesellschaftlichen<br />

Prozeß.<br />

140. Sehr ähnlich äußert sich Marx auch im Nachwort zur zweiten Auflage (des ersten Bands) des +Kapitals* (1873).<br />

Dort heißt es: +Die Mystifikation, welche die Dialektik <strong>in</strong> Hegels Händen erleidet, verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise, daß<br />

er ihre allgeme<strong>in</strong>en Bewegungsformen zuerst <strong>in</strong> umfassen<strong>der</strong> und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm<br />

[allerd<strong>in</strong>gs] auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern <strong>in</strong> <strong>der</strong> mystischen Hülle zu entdecken.*<br />

In dieser umgestülpten rationellen Gestalt, die sich an den materiellen Verhältnissen orientiert, +ist sie dem Bürgertum<br />

und se<strong>in</strong>en doktr<strong>in</strong>ären Wortführern e<strong>in</strong> Ärgernis und e<strong>in</strong> Greuel, weil sie <strong>in</strong> dem positiven Verständnis des Bestehenden<br />

zugleich auch das Verständnis se<strong>in</strong>er Negation, se<strong>in</strong>es notwendigen Untergangs e<strong>in</strong>schließt, jede gewordene Form<br />

im Flusse <strong>der</strong> Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem<br />

Wesen nach kritisch und revolutionär ist* (ebd.).<br />

141. Dort heißt es u.a.: +[...] <strong>in</strong>dem Hegel die Negation <strong>der</strong> Negation, <strong>der</strong> positiven Beziehung nach, die <strong>in</strong> ihr liegt,<br />

als das e<strong>in</strong>zig wahrhaft und e<strong>in</strong>zig Positive, <strong>der</strong> negativen Beziehung nach, die <strong>in</strong> ihr liegt, als den e<strong>in</strong>zig wahren Akt<br />

und Selbstbetätigungsakt des Se<strong>in</strong>s aufgefaßt hat, hat er nur den abstrakten, logischen und spekulativen Ausdruck für<br />

die Bewegung <strong>der</strong> Geschichte gefunden, die noch nicht wirkliche Geschichte des Menschen als e<strong>in</strong>es vorausgesetzten<br />

Subjekts, son<strong>der</strong>n erst Erzeugungsakt, Entstehungsgeschichte ist.* (Kritik <strong>der</strong> Hegelschen Dialektik; S. 184)<br />

142. Marx’ eigene Ausführungen s<strong>in</strong>d lei<strong>der</strong> – sieht man von den zitierten Stellen ab – eher vage und verstreut. Und<br />

auch bei Hegel kann man übrigens – trotz des enormen Stellenwerts, den er <strong>der</strong> dialektiktischen Methode e<strong>in</strong>räumt<br />

– kaum von e<strong>in</strong>em explizit ausgearbeiteten Konzept sprechen.<br />

143. Sartre selbst (siehe zu se<strong>in</strong>em Dialektikkonzept auch unten) unterscheidet im E<strong>in</strong>leitungskapitel zwischen e<strong>in</strong>er<br />

positivistischen und die eigene Position aus <strong>der</strong> dialektischen Reflexion ausklammernden dogmatischen Dialektik<br />

und e<strong>in</strong>er offenen, auf die Freiheit gerichtenten (selbst-)kritischen Dialektik.<br />

144. Dazu Adorno explizit: +Dialektik als Verfahren heißt, um des e<strong>in</strong>mal an <strong>der</strong> Sache erfahrenen Wi<strong>der</strong>spruchs<br />

willen und gegen ihn <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchen zu denken. Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Realität, ist sie Wi<strong>der</strong>spruch gegen diese.<br />

Mit Hegel aber läßt solche Dialektik nicht mehr sich vere<strong>in</strong>en. Ihre Bewegung tendiert nicht auf die Identität <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Differenz jeglichen Gegenstandes von se<strong>in</strong>em Begriff; eher beargwöhnt sie Identisches. Ihre Logik ist die des Zerfalls:<br />

<strong>der</strong> zugerüsteten und vergegenständlichten Gestalt <strong>der</strong> Begriffe, die zunächst das erkennende Subjekt unmittelbar<br />

sich gegenüber hat. Deren Identität mit dem Subjekt ist die Unwahrheit.* (Negative Dialektik; S. 146)


A: ANMERKUNGEN 97<br />

145. Andreas Arndt faßt se<strong>in</strong>e Konzeption negativer Dialektik dagegen primär als e<strong>in</strong>en selbstkritischen Reflexionsmodus<br />

auf: +Das Negativ-Vernünftige <strong>der</strong> Dialektik bezeichnet das allgeme<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Erkenntnisarbeit im Modus <strong>der</strong> Selbstkritik.*<br />

(Dialektik und Reflexion; S. 354) Dabei ist sie sich <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit und Endlichkeit allen Se<strong>in</strong>s und allen Denkens<br />

– auch des eigenen – bewußt. Gefor<strong>der</strong>t ist demzufolge +e<strong>in</strong> Beharren auf den Wi<strong>der</strong>sprüchen <strong>der</strong> ersche<strong>in</strong>enden<br />

Wirklichkeit, welche sich e<strong>in</strong>er Lösung durch die Verabsolutierung ihrer Extreme versagen. Sie s<strong>in</strong>d aber auch nicht<br />

<strong>in</strong>different zu machen und dadurch zu bannen. So f<strong>in</strong>det das vernünftige Erkennen ke<strong>in</strong>en Halt an etwas, woran<br />

die subjektiv erlebten und erlittenen Wi<strong>der</strong>sprüche aufgehoben und versöhnt wären. Das Beharren <strong>der</strong> Vernunft<br />

auf den Wi<strong>der</strong>sprüchen kann subjektiv nur als Standhalten <strong>in</strong> ihnen vollzogen werden. Ihr Begreifen gibt nicht mehr,<br />

als die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Bed<strong>in</strong>gungen, unter denen wir uns, selbst auf wi<strong>der</strong>sprüchliche Weise, <strong>in</strong> ihnen bewegen […]*<br />

(Ebd.; S. 357)<br />

146. Wenn man von den mo<strong>der</strong>nistischen Zügen absieht, hat aber somit natürlich gerade <strong>der</strong> späte Adorno große<br />

Relevanz für e<strong>in</strong>e kritische und dialektische reflexive Gesellschaftstheorie im (postmo<strong>der</strong>nen) Kontext des Spätkapitalismus<br />

(vgl. hierzu auch Jameson: Late Marxism; <strong>in</strong>sb. S. 246ff.).<br />

147. Bachelard erblickt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er (dialektischen) +Philosophie des Ne<strong>in</strong>* e<strong>in</strong>e konstruktive Aktivität, die vielfältige<br />

Möglichkeiten eröffnet, wobei er erläutert: +Dialectiser la pensée, c’est augmenter la garantie de créer scientifiquement<br />

des phénomènes complets, de régénérer toutes les variables dégénérées ou étouffeés que la science, comme la pensée<br />

naïve, avait négligées dans sa première étude.* (La philosophie du non; S. 17). Auch Adornos Dialektik-Konzept ist<br />

zwar im Pr<strong>in</strong>zip +offen* angelegt, doch bleibt se<strong>in</strong>e negative Dialektik, im Gegensatz zu Bachelard, an +objektiver<br />

Wahrheit* orientiert (vgl. Negative Dialektik; S. 195f.).<br />

148. Im Neo-Kantianismus gibt es zwar gewisse Ansätze, die hier zu e<strong>in</strong>er Überschreitung ansetzten: Fichte (1762–1814),<br />

<strong>der</strong> das klassische dialektische Schema von These, Antithese, Synthese erstmals explizit dargelegt hat (vgl. Grundlage<br />

<strong>der</strong> gesamten Wissenschaftslehre; § 3), <strong>in</strong>terpretierte Kants Transzendental-Philosophie dah<strong>in</strong>gehend, daß dieser Denken<br />

und Se<strong>in</strong> durch e<strong>in</strong> (dialektisches) Band im Gedanken des (transzendentalen) Absoluten verbunden sah (vgl. Wissenschaftslehre;<br />

S. 491ff. [2. Vortrag]) – wobei er jedoch gerade kritisiert, daß Kant eben damit dem Absoluten als +re<strong>in</strong> für sich<br />

bestehende Substanz* se<strong>in</strong>en absoluten Charakter genommen habe (vgl. ebd.; S. 496ff. [3. Vortrag]). Jonas Cohn,<br />

als zeitgenössischer Vertreten des Neo-Kantianismus, sieht ganz ähnlich e<strong>in</strong>e dialektische Spannung zwischen Objekt<br />

und Subjekt, Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> wirken (vgl. Theorie <strong>der</strong> Dialektik; S. 297ff.). Aber auch im dialektischen System<br />

Cohns bleibt Dialektik, obwohl selbst nicht Denken des Absoluten, so doch auf das Absolute ausgerichtet, strebt auf<br />

dieses zu und wird damit <strong>in</strong> E<strong>in</strong>heit synthetisch aufgelöst (vgl. ebd.; S. 348f.).<br />

149. Den angenommenen Vorrang des Objekts, <strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs die Subjekt-Objekt-Dialektik gemäß Adorno nicht<br />

abbricht (vgl. Negative Dialektik; S. 185), begründet er so: +Vermöge <strong>der</strong> Ungleichheit im Begriff <strong>der</strong> Vermittlung fällt<br />

das Subjekt ganz an<strong>der</strong>s <strong>in</strong>s Objekt als dieses <strong>in</strong> jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich<br />

aber diesem gegenüber immer als An<strong>der</strong>es; Subjekt jedoch ist <strong>der</strong> eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt.<br />

Vom Subjekt ist Objekt nicht e<strong>in</strong>mal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. Zum S<strong>in</strong>n von Subjektivität<br />

rechnet es, auch Objekt zu se<strong>in</strong>; nicht ebenso zum S<strong>in</strong>n von Objektivität, Subjekt zu se<strong>in</strong>.* (Ebd.; S. 182) Auch ich<br />

gehe zwar davon aus, daß das Subjektive und das Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n objektiv s<strong>in</strong>d, daß sie e<strong>in</strong>en +materiellen<br />

Gehalt* haben, <strong>der</strong> ihre Impulse untranszendierbar macht (siehe auch Schlußexkurs). Für mich folgt daraus jedoch<br />

ke<strong>in</strong> Vorrang des Objekts, son<strong>der</strong>n hier zeigt sich vielmehr gerade die +materielle*, unaufhebbare Durchdr<strong>in</strong>gung<br />

von Subjekt und Objekt, Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>.<br />

150. Auch ich verstehe me<strong>in</strong> Konzept natürlich <strong>in</strong>soweit als materialistische Dialektik, als ich davon ausgehen, daß<br />

das auch Bewußtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e +materielle* Grundlage hat (siehe auch nochmals Anmerkung 149 sowie Schlußexkurs).<br />

Doch das bedeutet für mich nicht, die +Beweggründe* auf die Objekt-Seite zu verlagern, son<strong>der</strong>n Subjekt und Objekt<br />

s<strong>in</strong>d durch die Grenze des Bewußtse<strong>in</strong>s (das wie <strong>der</strong> Name schon sagt, ebenso e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> ist) vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> geschieden<br />

(und vere<strong>in</strong>t), und erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> – materiellen – dialektischen Reibung von beiden manifestiert sich Dialektik im sozialhistorischen<br />

Prozeß (siehe unten).<br />

151. Ganz ähnlich spricht Sartre übrigens von e<strong>in</strong>er Dialektik <strong>der</strong> Passivität bzw. von Anti-Dialektik, umgekehrter<br />

Dialektik, Pseudo-Dialektik o<strong>der</strong> auch Dialektik gegen die Dialektik, die als Moment <strong>der</strong> Intelligibilität +e<strong>in</strong>er Praxis<br />

entspricht, die sich gegen sich selbst kehrt, weil sie als ständiges Siegel des Inerten neu entstanden ist […]* (Kritik <strong>der</strong><br />

dialektischen Vernunft; S. 69 [Fußnote 2]).


98 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

152. Wie me<strong>in</strong>e Ausführungen im Text ergeben, handelt es sich, an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abbildung dargestellt, eigentlich<br />

um e<strong>in</strong>e vierdimensionales dialektisches Feld: 1. Die Ebene <strong>der</strong> Dialektik von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>; 2. Die Ebene<br />

<strong>der</strong> Dialektik von Reflexion und Deflexion; 3. Die Ebene <strong>der</strong> reflexiv-deflexiven Dialektik jeweils im Se<strong>in</strong>/Handeln<br />

(Praxis–Praxologie sich äußernd als Reflexivität) sowie im Bewußtse<strong>in</strong> (Theorie–Ideologie sich äußernd als Ambivalenz);<br />

4. Die Ebene <strong>der</strong> Dialektik von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Reflexion (Theorie–Praxis ersche<strong>in</strong>end als<br />

Dynamisierung) sowie auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Deflexion (Ideologie–Praxologie ersche<strong>in</strong>end als Statik). Diese Vierdimensionalität<br />

ist jedoch (graphisch) schwer darstellbar und zudem, was die beiden letztgenannten Dimensionen betrifft, nur abgeleitet<br />

aus dem se<strong>in</strong>erseits (verschränkend) dialektischen Verhältnis <strong>der</strong> Dialektiken <strong>der</strong> beiden ersten Dimensionen.<br />

153. Bhaskar bemerkt hier: +[…] to exist is to be able to become, which is to possess the capacity for self-development,<br />

a capacity that can be fully realized only <strong>in</strong> a society founded on the pr<strong>in</strong>ciple of universal concretely s<strong>in</strong>gularized<br />

human autonomy <strong>in</strong> nature. This process is dialectic; and it is the pulse of freedom.* (S. 385)<br />

154. Wenn Mart<strong>in</strong> Lipset allerd<strong>in</strong>gs von e<strong>in</strong>em +Work<strong>in</strong>g-Class Authoritarianism* spricht (vgl. Political Man; Kap. IV),<br />

um zu zeigen, daß die <strong>Politik</strong> besser <strong>in</strong> den Händen <strong>der</strong> weniger autoritär e<strong>in</strong>gestellten (weil ohneh<strong>in</strong> an <strong>der</strong> Macht<br />

partizipierenden) sozialen Eliten aufgehoben ist und man <strong>in</strong> die Arbeitklasse kaum berechtigte Hoffnungen auf positive<br />

Wandlungsimpulse setzen kann, wie es selbst kritische Neomarxisten wie George Lukács noch taten, so verdeckt<br />

Lipset damit genau den ideologisch-praxologischen Konformierungsapparat, <strong>der</strong> zu diesen autoritären E<strong>in</strong>stellungen<br />

geführt hat.<br />

155. Gurvitch entwickelt hier e<strong>in</strong> dreifaches Verständnis von Dialektik: 1. Dialektik als reale (soziale) Bewegung; 2.<br />

Dialektik als ihrerseits bewegte, nicht fixierbare Methode <strong>der</strong> (dekonstruktiven) Spiegelung <strong>der</strong> dialektischen Bewegung<br />

des Sozialen; 3. Dialektik als (selbst dialektisches) Verhältnis von sozialer Realität zu theoretischer Spiegelung (vgl.<br />

Dialektik und Soziologie; S. 218ff.) Dies führt Gurvitch zu e<strong>in</strong>em empirisch-realistischen Dialektikverständnis (ähnlich<br />

zu Bhaskar, siehe oben), d.h. Dialektik reflektiert immer wie<strong>der</strong> neu die +unendlich variierte[n] Erfahrungen, <strong>der</strong>en<br />

Bezugsgrundlagen unablässig erneuert werden* (ebd.; S. 224).


A: ANMERKUNGEN 99<br />

EXCURSION TERMINAL: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN – ZUM VERHÄLTNIS VON SEIN UND<br />

BEWUßTSEIN, KONTINGENZ UND KONVERGENZ<br />

1. Hierzu bemerkt Adorno ganz ähnlich (allerd<strong>in</strong>gs nicht auf die grundlegende immanente Ambivalenz des +verkörperten*<br />

Bewußtse<strong>in</strong>s abhebend): +Die verme<strong>in</strong>tlichen Grundtatsachen des Bewußtse<strong>in</strong>s s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es als bloß solche. In<br />

<strong>der</strong> Dimension von Lust und Unlust ragt Körperliches <strong>in</strong> sie h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Aller Schmerz und alle Negativität, Motor des<br />

dialektischen Gedankens, s<strong>in</strong>d vielfach vermittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem […]*<br />

(Negative Dialektik; S. 200)<br />

2. Sousa Santos bevorzugt allerd<strong>in</strong>gs den Begriff +Heterotopia*: +What I am about to propose is not a[n] utopia.<br />

Let me call it heterotopia. Rather than the <strong>in</strong>vention of a place elsewhere or nowhere, I propose a radical displacement<br />

with<strong>in</strong> the same place: ours. From orthotopia to heterotopia, from the center to the marg<strong>in</strong> [...] The<br />

aim is to experiment with the frontiers of sociability as a form of sociability.* (Toward a New Common Sense;<br />

S. 481) Der Heterotopia-Begriff von Sousa Santos ist also durchaus +utopisch* – im Gegensatz zu Foucault, <strong>der</strong><br />

Heteropopien als reale soziale Orte, als +Gegenplatzierungen* und +Wi<strong>der</strong>lager* <strong>in</strong>nerhalb des sozialen Raumes begreift<br />

(vgl. An<strong>der</strong>e Räume; S. 68ff.).<br />

3. In diesem negativ-dekonstruktiven S<strong>in</strong>n waren die frühneuzeitlichen utopischen Entwürfe e<strong>in</strong>es Morus o<strong>der</strong> Campanella<br />

also ke<strong>in</strong>e U-topien, son<strong>der</strong>n eher (utopische) Wunsch- und Traumbil<strong>der</strong> (siehe auch unten, Bloch).<br />

4. Dieser utopische Charakter <strong>der</strong> Kunstsphäre bleibt nach Fredric Jameson selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne erhalten, die<br />

doch eigentlich e<strong>in</strong>e radikale Absage an das utopische Denken impliziert, <strong>in</strong>dem auf den ideologischen Charakter<br />

des Utopischen h<strong>in</strong>gewiesen wird. Denn gerade +<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> unser M<strong>in</strong>imalkonsens gerade dar<strong>in</strong> besteht,<br />

daß alles Ideologie ist […], sche<strong>in</strong>t dies auch nicht länger e<strong>in</strong> erschreckendes E<strong>in</strong>geständnis zu se<strong>in</strong>.* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne<br />

und Utopie; S. 108) Und so f<strong>in</strong>det man – +nicht zuletzt unter den Künstlern und Schriftstellern – überall e<strong>in</strong>e […]<br />

›Utopie-Partei‹ […], e<strong>in</strong>e Untergrundspartei, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong>zahl schwer bestimmbar ist, <strong>der</strong>en Programm unerklärt<br />

und vielleicht sogar unformulierbar bleibt, <strong>der</strong>en Existenz <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Bürgerschaft und den Behörden unbekannt<br />

ist, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> sich aber offensichtlich mit <strong>der</strong> Hilfe geheimer freimaurerischer Signale erkennen* (ebd.).<br />

5. Bewußtse<strong>in</strong> wird also hier – ohne, wie Adorno, e<strong>in</strong>en Vorrang des Objekts, son<strong>der</strong>n vielmehr e<strong>in</strong>en Vorrang des<br />

Subjekts anzunehmen – als durchaus +körperliches*, jedoch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er erlebten E<strong>in</strong>zigartigkeit (Qualia-Aspekt) vom<br />

+äußeren Se<strong>in</strong>* zu unterscheidendes Phänomen aufgefaßt, und schon Nietzsche bemerkte schließlich: +›Ich‹ sagst<br />

du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist […] de<strong>in</strong> Leib und se<strong>in</strong>e große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber<br />

tut Ich.* (Also sprach Zarathustra; S. 300 [Von den Verächter des Leibes])<br />

6. Auch im Denken von Adorno, Bloch und Castoriadis spielt natürlich das Subjekt e<strong>in</strong>e wichtige Rolle für die (utopische)<br />

Überschreitung, und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zum Konzept Adornos besteht e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>s große Nähe und Aff<strong>in</strong>ität: Mit se<strong>in</strong>er<br />

Herausstellung des Nichtidentischen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem Mimesis-Gedanken legte er me<strong>in</strong>es Erachtens die Grundlagen<br />

für e<strong>in</strong>e +subjektivistische* Ethik. An<strong>der</strong>erseits – und wie schon an an<strong>der</strong>er Stelle angemerkt (siehe auch nochmals<br />

Anmerkung 149, Kap. 5) – behauptet Adorno, <strong>der</strong> hier noch deutlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> anti-idealistischen, materialistischen Tradition<br />

des Marxismus steht, e<strong>in</strong>en Vorrang des (physischen) Objekts. Ich möchte im Gegensatz dazu jedoch explizit auf<br />

die radikale Subjektivität aller Wahrnehmungen und Empf<strong>in</strong>dungen verweisen, die nicht objektivierbar s<strong>in</strong>d (Qualia-<br />

Problematik), aber gleichzeitig auch das e<strong>in</strong>zige darstellen, was für uns +greifbar* ist. Das Se<strong>in</strong> ist als Erfahrenes subjektiv.<br />

Zudem ist es ja e<strong>in</strong> wesentlicher Punkt <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Argumentation (siehe unten), daß ebendiese Empf<strong>in</strong>dungen immer<br />

auch ambivalenten Charakter haben (womit ich natürlich <strong>in</strong>direkt an Bauman anschließe). Es kommt jedoch sogar<br />

noch e<strong>in</strong> weiterer Punkt h<strong>in</strong>zu, <strong>der</strong> sowohl für Adorno, wie auch für Bloch und Castoriadis gilt: Ihr Subjekt ist e<strong>in</strong><br />

von vorne here<strong>in</strong> soziales Subjekt, d.h. +das Subjekt, von dem wir reden, ist […] nicht das abstrakte Moment <strong>der</strong><br />

philosophischen Subjektivität, son<strong>der</strong>n das durch und durch von <strong>der</strong> Welt und den an<strong>der</strong>en geprägte wirkliche Subjekt*<br />

(Gesellschaft als imag<strong>in</strong>äre Institution; S. 181). Dies führt zu e<strong>in</strong>er Sicht, die zwar die (sozialen) Deformationen des<br />

Subjekts aufzeigt. +Daher kann es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em absoluten S<strong>in</strong>ne auch ke<strong>in</strong>e dem Subjekt ›eigene Wahrheit‹ geben. Die<br />

eigene Wahrheit des Subjekts ist immer Teilhabe an <strong>der</strong> Wahrheit, die es überschreitet, weil sie letztlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

und <strong>der</strong> Geschichte wurzelt […]* (Ebd.) Diese E<strong>in</strong>schätzung bietet aber me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach ke<strong>in</strong>en +wirklichen*<br />

Ansatzpunkt für utopische Transzendenz, die sich – da sie ihrem Charakter nach eben genau nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Faktizität<br />

des Sozialen liegen kann – aus dem s<strong>in</strong>gulären Subjekt speisen muß, das im reflexiven Bezug auf die an<strong>der</strong>en und


100 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

die Welt zu sich und se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Vielheit f<strong>in</strong>det und erst damit zu e<strong>in</strong>er dem +Wi<strong>der</strong>spruch* Raum gebenden<br />

Überschreitung ansetzen kann.<br />

7. Dabei beziehe ich mich freilich auch auf Adorno. Allerd<strong>in</strong>gs ist bei ihm Nichtidentität (siehe oben) primär gegen<br />

den äußeren Identitätszwang gerichtet und bedeutet weniger, wie im Buddhismus, e<strong>in</strong> nach <strong>in</strong>neren gerichtetes Bewußtse<strong>in</strong>,<br />

daß es ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>heitlichen Selbstkern gibt (siehe unten).<br />

8. Die buddhistische Vorstellung des Nicht-Ich unterscheidet sich also von jener Fichtes, <strong>der</strong> dem Ich das Nicht-Ich<br />

negativ entgegengesetzt und beide im Absoluten auflöst, anstatt das Ich zu dekonstruieren (vgl. Grundlage <strong>der</strong> gesamten<br />

Wissenschaftslehre; § 2, Punkt 9). Der buddhistischen Vorstellung (des Mittleren Wegs) schon näher steht dagegen<br />

Husserl, <strong>der</strong> bemerkt: +›Ich b<strong>in</strong>‹. Aber dieses Ich (ego) ist ke<strong>in</strong> Gegenstand im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Realität. Ich f<strong>in</strong>de mich als<br />

Ichpol, als Zentrum von Affektionen und Aktionen […] Eidetisch sehe ich aber e<strong>in</strong>, dass ich als Pol nicht denkbar<br />

b<strong>in</strong> ohne e<strong>in</strong>e reale Umgebung. Das Ich ist nicht denkbar ohne e<strong>in</strong> Nicht-Ich […]* (Die Transzendenz des Alter Ego<br />

gegenüber <strong>der</strong> Transzendenz des D<strong>in</strong>ges; S. 244) Auch Husserl schließt damit aber (negativ) an Kants transzendentalphilosophisches<br />

Ich-Konzept an, das davon ausgeht, daß +ke<strong>in</strong>e Erkenntnis von mir wie ich b<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n bloß wie<br />

ich mir selbst ersche<strong>in</strong>e* möglich ist (Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft; § 25), da e<strong>in</strong> beständiges Ich nur gedacht, niemals<br />

aber (selbst) erfahren werden kann – trotzdem aber e<strong>in</strong>e für jede Erfahrung notwendige, d.h. transzendentale Vorstellung/Idee<br />

ist (vgl. ebd.). Sartre wie<strong>der</strong>um betrachtet das (Nichts des) Ego, <strong>in</strong> Abgrenzung zu Husserl/Kant und an<br />

Heideggers Existenz-Philosophie angelehnt, als außerhalb des Bewußtse<strong>in</strong> stehendes Seiendes: +Es ist außerhalb, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Welt; es ist e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt […]* (Die Transzendenz des Ego; S. 39).<br />

9. Die Vorstellung e<strong>in</strong>es +wesenhaften* Se<strong>in</strong>s beruht laut N)ag)arjuna auf bloßen Konventionen und an die Stelle <strong>der</strong><br />

strengen Kausalität tritt bei ihm (wie im Buddhismus üblich) das +bed<strong>in</strong>gte Entstehen* (prat)itya-samutp)ada), d.h. es<br />

gibt zwar notwendige Bed<strong>in</strong>gungen (für das Handeln), die allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e notwendigen, son<strong>der</strong>n nur kont<strong>in</strong>gente<br />

Folgen haben.<br />

10. In <strong>der</strong> buddhistischen Lehre wird stets betont, daß auch das Bewußtse<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e eigenständige, (vom Körper und<br />

<strong>der</strong> Außenwelt) unabhängige Instanz ist, denn z.B. +nur <strong>in</strong> Abhängigkeit von e<strong>in</strong>em Auge […] und von Formen […]<br />

entsteht e<strong>in</strong> Sehbewußtse<strong>in</strong> […]* (zitiert nach Glasenapp: Die Philosophie <strong>der</strong> In<strong>der</strong>; S. 311 [ohne Quellenangabe]).<br />

11. In diesem bereits oben zitierten Band (siehe S. 352) stellen Varela und Thompson nicht nur die Ähnlichkeiten<br />

zwischen <strong>der</strong> Kognitionstheorie des Radikalen Konstruktivismus heraus, son<strong>der</strong>n betonen explizit die eigenständige<br />

+Wahrheit* <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> meditativen +Introspektion* beruhenden (empirischen) Erkenntnisse des Buddhismus.<br />

12. In <strong>der</strong> +Grammatologie* (1967) heißt es: +Die Dekonstruktion hat notwendigerweise von <strong>in</strong>nen her zu operieren,<br />

sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel <strong>der</strong> alten Strukturen zu bedienen […]* (S. 45) Erst <strong>in</strong><br />

dieser aus dem Innen heraus erfolgenden Dekonstruktion wird die immanente Differenz freigelegt.<br />

13. Freud spricht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch von e<strong>in</strong>er Kränkung des Narzißmus des mo<strong>der</strong>nen Selbst durch<br />

die E<strong>in</strong>sicht <strong>der</strong> Psychoanalyse, daß das Ich +nicht Herr sei <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em eigenen Haus* (zitiert nach Lohmann: Freud<br />

zur E<strong>in</strong>führung; S. 46).<br />

14. Zizek wendet sich hier (übrigens an Lacan angelehnt) gegen die postmo<strong>der</strong>nen, dekonstruktivistischen Hetzjagden<br />

auf das Cartesiansische Subjekt, dessen (begehrliche und damit subversive) Subjektivität e<strong>in</strong> wichtiges Element von<br />

Wi<strong>der</strong>ständigkeit darstellt.<br />

15. Die Rolle <strong>der</strong> (sexuellen) Triebkräfte im sozialen Kontext hob <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Herbert Marcuse hervor (vgl. Triebstruktur<br />

und Gesellschaft; S. 195ff.). Auch neuere Ansätze gehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung. So bemerk Terry Eagleton: +There<br />

is no reason to suppose that a denial of the <strong>in</strong>f<strong>in</strong>ite plasticity of human be<strong>in</strong>gs […] entails an assertion of their rigid<br />

unalterability. No necessarry comfort is given by this belief to the various reactionary brands of biologism […] Paradoxically,<br />

a certa<strong>in</strong> open-endedness and transformability is part of our natures, built <strong>in</strong>to what we are […] But such […] self-make<strong>in</strong>g<br />

is carried out with<strong>in</strong> given limits, which are f<strong>in</strong>ally those of the body itself.* (The Ideology of the Aesthetic; S. 409f.)<br />

Aufgrund dieser Limitierungen besitzt gerade das Körperliche e<strong>in</strong> politisches (Wi<strong>der</strong>stands-)Potential (vgl. auch die<br />

Beiträge <strong>in</strong> Ryan: Body Politics). Allerd<strong>in</strong>gs geht es mir hier nicht um das utopisch-politische Potential alle<strong>in</strong>e des<br />

Körperlichen, son<strong>der</strong>n ich beziehe mich auf die gesamten Wi<strong>der</strong>standspotentiale des (reflexiven) Subjekts, das Köper<br />

und Bewußtse<strong>in</strong> ist – und auch auf <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene gibt es Grenzen <strong>der</strong> Verformbarkeit sowie (ambivalente)<br />

Empf<strong>in</strong>dungen, die nicht dauerhaft abgelenkt werden können (o<strong>der</strong> aber dann zu +Deformationen* führen).


A: ANMERKUNGEN 101<br />

16. Roma<strong>in</strong> Rolland, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong>tensiv mit dem H<strong>in</strong>duismus ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat, beschreibt das +ozeanische* Verlangen<br />

nach Entgrenzung freilich primär als Basis <strong>der</strong> religiösen Orientierung (vgl. Freud: Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur; S.<br />

65f.). E<strong>in</strong> tatsächlich dialektisch dem Streben nach Selbstbehauptung entgegengesetzter (bzw. diesen ergänzen<strong>der</strong>)<br />

+Sozialtrieb* wird erst von Fromm gedacht, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> grundsätzliches Bedürfnis des Menschen sieht, +auf die Welt außerhalb<br />

se<strong>in</strong>er selbst bezogen zu se<strong>in</strong>* (vgl. Die Furcht vor <strong>der</strong> Freiheit; S. 20).<br />

17. Ricœur spielt im Titel auf e<strong>in</strong>e Sentenz von Rimbaud an (+Je est un autre*). Wie aus <strong>der</strong> im Selbst verwurzelten<br />

An<strong>der</strong>sheit so etwas wie e<strong>in</strong> sozialer bzw. +ethischer* Bezug entstehen kann, hat neben Ricœur auch Bernhard Waldensfels<br />

(<strong>in</strong> Anlehnung an die phänomenologische Philosophie von Husserl und Merleau-Ponty) dargelegt: +Die An<strong>der</strong>sheit<br />

des An<strong>der</strong>en und <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en ist angelegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> An<strong>der</strong>sheit e<strong>in</strong>es Selbst, das sich selbst <strong>in</strong> zeitlicher Diastase immer<br />

schon vorweg ist und niemals <strong>in</strong> <strong>der</strong> re<strong>in</strong>enGegenwart mit sich selbst ko<strong>in</strong>zidiert.* (Der Stachel des Fremden; S. 77)<br />

So s<strong>in</strong>d Eigenes und Fremdes schon immer (und durchaus auch körperlich-leiblich, im Rahmen <strong>der</strong> lebensweltlichen<br />

Praktiken) <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verflochten und +bedeuten* (gegenseitige) Verantwortung (vgl. ebd.; S. 76ff.).<br />

18. Dergestalt läßt sich Kont<strong>in</strong>genz <strong>in</strong> Anlehnung an die aristotelische Unterscheidung zwischen <strong>der</strong> mit Notwendigkeit<br />

bestehenden, unverän<strong>der</strong>lichen Substanz und <strong>der</strong> nur Möglichkeitscharakter besitzenden und durch Zufälligkeit geprägten<br />

Akzidens bestimmen (vgl. z.B. Metaphysik; Buch XI, Kap. 8) – wobei allerd<strong>in</strong>gs Kant auf den re<strong>in</strong> transzendentalen<br />

(also vernunftgemäß abgeleiteten) Charakter des Notwendigen h<strong>in</strong>weist (vgl. Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft; Transzendentale<br />

Dialektik, Drittes Hauptstück sowie ergänzend Wetz: Die Begriffe ›Zufall‹ und ›Kont<strong>in</strong>genz‹; S. 27ff.).<br />

19. In ähnlicher Weise äußert sich auch Makropoulos (vgl. Kont<strong>in</strong>genz und Handlungsraum).<br />

20. In <strong>der</strong> <strong>in</strong>dischen Mythologie wird <strong>in</strong> geradezu +astronomischen* Zeitdimensionen gedacht: E<strong>in</strong> Maha) -Yuga (großes<br />

Zeitalter) umfaßt <strong>in</strong>sgesamt 12.000 Götterjahre, wobei e<strong>in</strong> Götterjahr 360 Jahren entspricht. E<strong>in</strong> Tag Brahma) s (Kalpa),<br />

also des h<strong>in</strong>duistischen Weltenschöpfers, besteht aus 1.000 Maha) -Yugas. Ist e<strong>in</strong> Kalpa vorüber, so kommt es zu e<strong>in</strong>er<br />

zwischenzeitlichen Auflösung <strong>der</strong> Welt, <strong>der</strong> sich e<strong>in</strong>e Nacht Brahma) s anschließt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Welt im Ruhezustand<br />

verweilt. Doch auch e<strong>in</strong> Brahma) ist sterblich: Nach 1.000 Brahma) -Jahren (ca. 3 Billionen Jahre) kommt es zur +großen<br />

Auflösung* und e<strong>in</strong> neuer Zyklus von Werden und Vergehen beg<strong>in</strong>nt (vgl. Keilhauer: H<strong>in</strong>duismus; S. 62ff.). Aufgrund<br />

solcher Dimensionen und des zyklischen Zeitverständnisses ist es verständlich, daß konkrete Zeitangaben <strong>in</strong> <strong>der</strong> klassischen<br />

<strong>in</strong>dischen Literatur kaum erfolgen, so daß die historische E<strong>in</strong>ordnung oft schwerfällt.<br />

21. In § 6 bemerkt Kant deshalb: +Die Zeit ist nicht etwas, was für sich bestünde, o<strong>der</strong> den D<strong>in</strong>gen als objektive<br />

Bestimmung anh<strong>in</strong>ge […] Wenn wir von unsrer Art, uns selbst <strong>in</strong>nerlich anzuschauen, und vermittelst dieser Anschauung<br />

auch [von] alle[n] äußere[n] Anschauungen […] abstrahieren, und mith<strong>in</strong> die Gegenstände nehmen, so wie sie se<strong>in</strong><br />

mögen, so ist die Zeit nichts. Sie ist nur von objektiver Gültigkeit <strong>in</strong> Ansehung <strong>der</strong> Ersche<strong>in</strong>ungen […] Die Zeit ist<br />

also lediglich e<strong>in</strong>e subjektive Bed<strong>in</strong>gung unserer (menschlichen) Anschauung […]*<br />

22. Husserl begründet die angenommene Intersubjektivität <strong>der</strong> Zeit mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fühlenden, im sozialen Verständigungsprozeß<br />

vorgenommenen reziproken Vergegenwärtigung <strong>der</strong> je subjektiven Zeithorizonte – ohne allerd<strong>in</strong>gs damit e<strong>in</strong>e objektive,<br />

Subjekt-unabhängige Zeit zu postulieren (vgl. auch Konstitution <strong>der</strong> Intermonadischen Zeit).<br />

23. In diesem Band leistet Nassehi unter soziologischem Blickw<strong>in</strong>kel zusätzlich e<strong>in</strong>en Überblick über die historische<br />

Entwicklung <strong>der</strong> Zeit-Konzepte, an <strong>der</strong> auch ich mich – neben <strong>der</strong> Darstellung von Lucia Stanko und Jürgen Ritsert<br />

(vgl. Zeit als Kategorie <strong>der</strong> Sozialwissenschaften) – mit me<strong>in</strong>en obigen Bemerkungen orientierte.<br />

24. Man kann sich also theoretisch auch frei fühlen, wenn es nur e<strong>in</strong>e Möglichkeit gibt. An<strong>der</strong>erseits ist es plausibel,<br />

daß mit <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> objektiven Möglichkeiten, auch die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit steigt, daß Individuen sich subjektiv<br />

frei fühlen. +Kont<strong>in</strong>gente Gesellschaften*, also Gesellschaften die e<strong>in</strong>en großen Raum <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz für das <strong>in</strong>dividuelle<br />

Handeln offen halten, haben deshalb bessere strukturelle Voraussetzungen für das Empf<strong>in</strong>den von Freiheit.


B: LITERATURVERZEICHNIS


104 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

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• Aronwitz, Stanley: Science as Power – Discours and Ideology <strong>in</strong> Mo<strong>der</strong>n Scoience. University of M<strong>in</strong>nesota Press,<br />

M<strong>in</strong>eapolis 1988<br />

• Arrighi, Giovanni: The Long Twentieth Century – Money, Power, and the Orig<strong>in</strong>s of Our Time. Verso, London/New<br />

York 1994<br />

• Asp<strong>in</strong>wall, Mark: The Unholy Social Tr<strong>in</strong>ity – Modell<strong>in</strong>g Social Dump<strong>in</strong>g un<strong>der</strong> Conditions of Capital Mobility and<br />

Free Trade. In: West European Politics. Heft 1/1996, S. 125–150<br />

• August<strong>in</strong>us, Aurelius: Vom Gottesstaat. 2 Bände, Artemis, Zürich/München 1978<br />

• Aust<strong>in</strong>, Michel/Vidal-Naquet, Pierre: Gesellschaft und Wirtschaft im alten Griechenland. Verlag C. H. Beck, München<br />

1984<br />

• Bachelard, Gaston: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes – Beitrag zu e<strong>in</strong>er Psychoanalyse <strong>der</strong> objektiven<br />

Erkenntnis. Suhrkamp, Frankfurt 1984<br />

• Bachelard, Gaston: La philosophie du non – Essai d’une philosophie du nouvel esprit scientifique. Presses Universitaires<br />

de France, Paris 1949<br />

• Bacon, Francis: Neues Organon (Novum Organum). Felix Me<strong>in</strong>er Verlag, Hamburg 1990<br />

• Baecker, Dirk: Oszillierende Öffentlichkeit. In: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien und Öffentlichkeit. S. 89–107<br />

• Bakun<strong>in</strong>, Michail: Die Aufstellung <strong>der</strong> Revolutionsfrage. In: Stuke, Horst (Hg.): Staatlichkeit und Anarchie und<br />

an<strong>der</strong>e Schriften. S. 95–99<br />

• Bakun<strong>in</strong>, Michail: Staatlichkeit und Anarchie. In: Stuke, Horst (Hg.): Staatlichkeit und Anarchie und an<strong>der</strong>e Schriften.<br />

S. 417–656<br />

• Bandura, Albert: Self-Efficacy – Toward a Unify<strong>in</strong>g Theory of Behavioral Change. In: Psychological Review. Heft<br />

2, Vol. 84 (1977), S. 191–215<br />

• Barnes, Barry: The Nature of Power. University of Ill<strong>in</strong>ois Press, Urbana and Chicago 1988<br />

• Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Suhrkamp, Frankfurt 1996<br />

• Barton, John H.: Beh<strong>in</strong>d the Legal Explosion. In: Stanford Law Review. Vol. 27 (1974/75), S. 567–584<br />

• Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1978<br />

• Baudrillard, Jean: Das An<strong>der</strong>e selbst. Edition Passagen, Wien 1987<br />

• Baudrillard, Jean: Der Symbolische Tausch und <strong>der</strong> Tod. Matthes & Seitz Verlag, München 1982<br />

• Baudrillard, Jean: Die <strong>fatal</strong>en Strategien. Matthes & Seitz, München 1985


106 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Baudrillard, Jean: Die Simulation. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. S. 153–162<br />

• Baudrillard, Jean: Videowelt und fraktales Subjekt. In: Ders. u.a. (Hg.): Philosophien <strong>der</strong> neuen Technologie. S.<br />

113–131<br />

• Baudrillard, Jean u.a.: Der Tod <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – E<strong>in</strong>e Diskussion. Konkursbuchverlag, Tüb<strong>in</strong>gen 1983<br />

• Baudrillard, Jean u.a. (Hg.): Philosophien <strong>der</strong> neuen Technologie. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1989<br />

• Bauman, Zygmunt: Ansichten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Argument-Verlag, Hamburg/Berl<strong>in</strong> 1995<br />

• Bauman, Zygmunt: Is There a <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Sociology? In: Featherstone, Mike (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. S. 217–237<br />

• Bauman, Zygmunt: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Ethics. Blackwell, Oxford/Cambridge 1993<br />

• Bauman, Zygmunt: Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz. In: Bielefeld, Uli (Hg.): Das Eigene und das Fremde. S. 23–49<br />

• Bauman, Zygmunt: Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz – Das Ende <strong>der</strong> E<strong>in</strong>deutigkeit. Junius, Hamburg 1992<br />

• Bauman, Zygmunt: Schwache Staaten – Globalisierung und die Spaltung <strong>der</strong> Weltgesellschaft. In: Beck, Ulrich<br />

(Hg.): K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit. S. 315–332<br />

• Baumgarten, Alexan<strong>der</strong> G.: Aesthetica. Jos. Laterza et Filios, Bari 1936<br />

• Bayer, Erich: Griechische Geschichte. Kröner, Stuttgart 1977<br />

• Bechmann, Gotthard/Rammert, Werner (Hg.): Technik und Gesellschaft – Jahrbuch 6: Großtechnische Systeme<br />

und Risiko. Campus, Frankfurt/New York 1992<br />

• Beck, Re<strong>in</strong>hart: Sachwörterbuch <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Kröner, Stuttgart 1986<br />

• Beck, Ulrich: Das Zeitalter <strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. In: Ders./Giddens, Anthony/Lash,<br />

Scott: Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung. S. 19–112<br />

• Beck, Ulrich: Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen – Zu e<strong>in</strong>er Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung. Suhrkamp, Frankfurt<br />

1993<br />

• Beck, Ulrich: Die Welt als Labor. In: Ders. (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft. S. 154–166<br />

• Beck, Ulrich: Der Konflikt <strong>der</strong> zwei Mo<strong>der</strong>nen. In: Zapf, Wolfgang (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>nisierung mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften.<br />

S. 40–53<br />

• Beck, Ulrich: Eigenes Leben – Skizzen zu e<strong>in</strong>er biographischen Gesellschaftsanalyse. In: Ders./Vossenkuhl, Wilhelm/-<br />

Ziegler, Ulf E.: Eigenes Leben. S. 9–174<br />

• Beck, Ulrich: Gegengifte – Die organisierte Unverantwortlichkeit. Suhrkamp, Frankfurt 1988<br />

• Beck, Ulrich: Jenseits von Stand und Klasse. In: Kreckel, Re<strong>in</strong>hard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. S. 35–74<br />

• Beck, Ulrich: Kapitalismus ohne Arbeit. In: Der Spiegel. Heft 20/1996, S. 140–146<br />

• Beck, Ulrich: Modell Bürgerarbeit. In: Ders. (Hg.): Schöne neue Arbeitswelt. S. 7–189<br />

• Beck, Ulrich: Renaissance des Politischen – o<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche des Konservatismus. In: Leggewie, Claus (Hg.):<br />

Wozu <strong>Politik</strong>wissenschaft? S. 34–46<br />

• Beck, Ulrich: Risikogesellschaft – Auf dem Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Mo<strong>der</strong>ne. Suhrkamp, Frankfurt 1986<br />

• Beck, Ulrich: Ursprung als Utopie – Politische Freiheit als S<strong>in</strong>nquelle <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. In: Ders.: K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit.<br />

S. 382–401<br />

• Beck, Ulrich: Väter <strong>der</strong> Freiheit. In: Ders. (Hg.): K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit. S. 333–381<br />

• Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung? Suhrkamp, Frankfurt 1997<br />

• Beck, Ulrich: Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen? – Zwei Perspektiven ›reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung‹. In: Ders./Giddens,<br />

Anthony/Lash, Scott: Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung. S. 289–315<br />

• Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos <strong>der</strong> Liebe. Suhrkamp, Frankfurt 1990<br />

• Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Individualisierung <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen<br />

e<strong>in</strong>er subjektorientierten Soziologie. In: Dies. (Hg.): Riskante Freiheiten. S. 10–39<br />

• Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang: Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung – Zur Ortsbestimmung <strong>der</strong> Verwendungsforschung.<br />

In: Soziale Welt. Jahrgang 1984, S. 381–406<br />

• Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang: Verwissenschaftlichung ohne Aufklärung? – Zum Strukturwandel von Sozialwissenschaft<br />

und Praxis. In: Dies. (Hg.): We<strong>der</strong> Sozialtechnologie noch Aufklärung. S. 7–45<br />

• Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott: Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung – E<strong>in</strong>e Kontroverse. Suhrkamp, Frankfurt<br />

1996<br />

• Beck, Ulrich/Vossenkuhl, Wilhelm/Ziegler, Ulf E.: Eigenes Leben – Ausflüge <strong>in</strong> die unbekannte Gesellschaft, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> wir leben. Verlag C. H. Beck, München 1995<br />

• Beck, Ulrich (Hg.): K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit. Suhrkamp, Frankfurt 1997<br />

• Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven <strong>der</strong> Weltgesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1998<br />

• Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft – Essays und Analysen. Suhrkamp, Frankfurt 1991<br />

• Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Globalisierung. Suhrkamp, Frankfurt 1998<br />

• Beck, Ulrich (Hg.): Schöne neue Arbeitswelt – Vision: Weltbürgergesellschaft. Campus, Frankfurt/New York 1999<br />

• Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. Suhrkamp, Frankfurt 1994<br />

• Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang (Hg.): We<strong>der</strong> Sozialtechnologie noch Aufklärung? – Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen<br />

Wissens. Suhrkamp 1989


B: LITERATURVERZEICHNIS 107<br />

• Becker, Kar<strong>in</strong>: Politisch-gesellschaftliche Dimensionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – E<strong>in</strong> Beitrag zum Wandel des Grundsätzlichen<br />

im Lichte und Medium von Zeitkritik. Verlag Friel<strong>in</strong>g & Partner, Berl<strong>in</strong> 1992<br />

• Becker, Werner: Idealistische und materialistische Dialektik – Das Verhältnis von ›Herrschaft und Knechtschaft‹<br />

bei Hegel und Marx. Kohlhammer, Stuttgart u.a. 1970<br />

• Becker, Werner/Essler, Wilhelm K. (Hg.): Konzepte <strong>der</strong> Dialektik. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 1981<br />

• Beermann, Wilhelm: Luhmanns Autopoiesisbegriff – ›or<strong>der</strong> from noise‹? In: Fischer, Hans R. (Hg.): Autopoiesis.<br />

S. 243–262<br />

• Beham, Mira: Kriegstrommeln – Medien, Krieg und <strong>Politik</strong>. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1996<br />

• Bell, Daniel: Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus. Campus, Frankfurt/New York 1991<br />

• Bell, Daniel: Die nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft. Campus, Frankfurt/New York 1975<br />

• Bell, Daniel: The End of Ideology – On the Exhaustion of Political Ideas <strong>in</strong> the Fifties. The Free Press, New York<br />

1965<br />

• Benhabib, Seyla: Kritik des ›postmo<strong>der</strong>nen Wissens‹ – e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Jean-François Lyotard. In:<br />

Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. S. 103–127<br />

• Bentele, Günter/Rühl, Manfred (Hg.): Theorien öffentlicher Kommunikation – Problemfel<strong>der</strong>, Positionen, Perspektiven.<br />

Ölschläger, München 1993<br />

• Bentham, Jeremy: An Introduction to the Pr<strong>in</strong>cipals of Morals and Legislation. Hafner Publish<strong>in</strong>g Company, New<br />

York 1948<br />

• Benveniste, Guy: The Politics of Expertise. Boyd & Fraser Publish<strong>in</strong>g Company, San Fransico 1977<br />

• Berd<strong>in</strong>g, Helmuth (Hg.): Nationales Bewußtse<strong>in</strong> und kollektive Identität. Suhrkamp, Frankfurt 1994<br />

• Bereano, Philip L. (Hg.): Technology as a Social and Political Phenomenon. John Wiley & Sons, New York u.a.<br />

1976<br />

• Berger, Johannes (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>ne – Kont<strong>in</strong>uitäten und Zäsuren. Soziale Welt [Son<strong>der</strong>band 4], Verlag Otto<br />

Schwartz & Co., Gött<strong>in</strong>gen 1986<br />

• Berger, Peter A./Hradil, Stefan (Hg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. Soziale Welt [Son<strong>der</strong>band 7], Verlag<br />

Otto Schwarz & Co., Gött<strong>in</strong>gen 1990<br />

• Berger, Peter L./Berger, Brigitte/Kellner, Hansfried: Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität. Campus, Frankfurt/New<br />

York 1987<br />

• Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion <strong>der</strong> Wirklichkeit – E<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong><br />

Wissenssoziologie. Fischer, Frankfurt 1993<br />

• Bermbach, Udo/Kodalle, Klaus.-M. (Hg.): Furcht und Freiheit – Leviathan: Diskussion 300 Jahre nach Thomas<br />

Hobbes. Westdeutscher Verlag, Opladen 1982<br />

• Bernste<strong>in</strong>, Richard J.: Beyond Objectivism and Relativism – Science, Hermeneutics, and Praxis. Blackwell, Oxford<br />

1983<br />

• Bernste<strong>in</strong>, Richard J. (Hg.): Habermas and Mo<strong>der</strong>nitiy. The MIT Press, Cambridge 1985<br />

• Beyme, Klaus: Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t – Von <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Suhrkamp, Frankfurt<br />

1992<br />

• Bhagwati, Jagdish: Geschützte Märkte – Protektionismus und Weltwirtschaft. Keip Verlag, Frankfurt 1990<br />

• Bhaskar, Roy: Dialectic – The Pulse of Freedom. Verso, London/New York 1993<br />

• Bhaskar, Roy: Reclaim<strong>in</strong>g Reality – A Critical Introduction to Contemporary Philosophy. Verso, London/New York<br />

1989<br />

• Bielefeld, Uli: Das Konzept des Fremden und die Wirklichkeit des Imag<strong>in</strong>ären. In: Ders. (Hg.): Das Eigene und<br />

das Fremde. S. 97–128<br />

• Bielefeld, Uli (Hg.): Das Eigene und das Fremde – Neuer Rassismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Alten Welt? Junius, Hamburg 1992<br />

• Bienefeld, Manfred: Capitalism and the Nation State <strong>in</strong> the Dog Days of the Twentieth Century. In: Miliband,<br />

Ralph/Panitch, Leo (Hg.): Between Globalism and Nationalism. S. 94–129<br />

• Bijker, Wiebe E./Hughes, Thomas P./P<strong>in</strong>ch, Trevor J. (Hg.): The Social Construction of Technological Systems<br />

– New Directions <strong>in</strong> the Sociology and History of Technology. The MIT Press, Cambridge/London 1997<br />

• Bijker, Wiebe E./Law, John (Hg.): Shap<strong>in</strong>g Technology/Build<strong>in</strong>g Society – Studies <strong>in</strong> Sociotechnical Change. The<br />

MIT Press, Cambridge/London 1992<br />

• Bischoff, Joachim: Globalisierung – Zur Analyse des Strukturwandels <strong>der</strong> Weltwirtschaft. Supplement zur Zeitschrift<br />

+Sozialismus*, Heft 1/1996<br />

• Blanke, Thomas: Zur Aktualität des Risikobegriffs – Über die Konstruktion <strong>der</strong> Welt und die Wissenschaft von<br />

ihr. In: Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft. S. 275–287<br />

• Blankenburg, Erhard/Lenk, Klaus: Organisation und Recht – Organisatorische Bed<strong>in</strong>gungen des Gesetzesvollzugs.<br />

Westdeutscher Verlag, Opladen 1980<br />

• Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie. Verlag Ferd<strong>in</strong>and Schön<strong>in</strong>gh, Pa<strong>der</strong>born u.a. 1986<br />

• Bloch, Ernst: Das Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung. 3 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1985


108 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Bloch, Ernst: Geist <strong>der</strong> Utopie. Verlag Paul Cassierer, Berl<strong>in</strong> 1923<br />

• Bloch, Ernst: Naturrecht und menschliche Würde [Gesamtausgabe, Band 6]. Suhrkamp, Frankfurt 1977<br />

• Blüthmann, He<strong>in</strong>z/Reicherzer, Judith: Betrug leichtgemacht. In: Die Zeit. Ausgabe vom 29. August (Nr. 36) 1997,<br />

S. 21<br />

• Blumenwitz, Dieter: Verteidigungs- und Sicherheitspolitik – E<strong>in</strong> Streitfall für das Verfassungsgericht? In: Piazolo,<br />

Michael (Hg.): Das Bundesverfassungsgericht. S. 87–105<br />

• Blumer, Herbert: Social Movements. In: Lymann, Stanford M. (Hg.): Social Movements. S. 60–83<br />

• Blüthmann, He<strong>in</strong>z/Reicherzer, Judith: Betrug leichtgemacht – Die krim<strong>in</strong>ellen britischen R<strong>in</strong>dfleischexporte haben<br />

System. In: Die Zeit. Ausgabe vom 29. August (Nr. 36) 1997, S. 21f.<br />

• Bock, Michael: Die Bedeutung <strong>der</strong> Verrechtlichung für Person und Geme<strong>in</strong>schaft. Dietrich Reimer Verlag, Berl<strong>in</strong><br />

1988<br />

• Bod<strong>in</strong>, Jean: Les six livres de la république. Scienta, Aalen 1961<br />

• Böhme, Gernot: Technische Zivilisation. In: Bechmann, Gotthard/Rammert, Werner (Hg.): Technik und Gesellschaft<br />

– Jahrbuch 6. S. 17–39<br />

• Böhret, Carl: Öffentliche Verwaltung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Demokratie. In: Ders.: <strong>Politik</strong> und Verwaltung. S. 11–27<br />

• Böhret, Carl: <strong>Politik</strong> und Verwaltung – Beiträge zur Verwaltungspolitologie. Westdeutscher Verlag, Opladen 1983<br />

• Bohnsack, Ralf/Marotzki, W<strong>in</strong>fred (Hg.): Biographieforschung und Kulturanalyse. Leske+Budrich, Opladen 1998<br />

• Bonito Oliva, Achille: Die italienische Trans-Avantgarde. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.<br />

S. 121–130<br />

• Bonito Oliva, Achille: Im Labyr<strong>in</strong>th <strong>der</strong> Kunst. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1982<br />

• Borchers, Detlef: Der Kampf um die Schlüsselgewalt. In: Die Zeit. Ausgabe vom 14. Juni 1996, S. 70<br />

• Borchert, Jürgen: Sozialstaat unter Druck. In: Universitas. Heft 598 (1996), S. 318–330<br />

• Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter. Ullste<strong>in</strong>, Frankfurt/Berl<strong>in</strong>/Wien 1973<br />

• Bosl, Karl: Die Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte des Mittelalters. Vandenhoeck & Ruprecht, Gött<strong>in</strong>gen 1987<br />

• Bourdieu, Pierre: Die fe<strong>in</strong>en Unterschiede – Kritik <strong>der</strong> gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt 1987<br />

• Bourdieu, Pierre: Die Praxis <strong>der</strong> reflexiven Anthropologie. In: Ders./Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie.<br />

S. 251–294<br />

• Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel Re<strong>in</strong>hard (Hg.): Soziale<br />

Ungleichheiten. S. 183–198<br />

• Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft – Zur Theorie des Handelns. Suhrkamp, Frankfurt 1998<br />

• Bourdieu, Pierre: Sozialer S<strong>in</strong>n – Kritik <strong>der</strong> gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt 1987<br />

• Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie. Suhrkamp, Frankfurt 1996<br />

• Bouthoul, Gaston (Hg.): Staatsideen und politische Programme <strong>der</strong> Weltgeschichte. Cotta Verlag, Stuttgart 1967<br />

• Boyle, Godfrey/Elliott, David/Roy, Rob<strong>in</strong> (Hg.): The Politics of Technology. Longman, New York 1977<br />

• Bradley, Ray: Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy Distribution and Update on Some Transmission and Decontam<strong>in</strong>ation<br />

Studies. In: Gibbs, Clarence J. (Hg.): Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy. S. 11–27<br />

• Bradshaw, York W./Wallace, Michael: Global Inequalities. P<strong>in</strong>e Forge Press, Thousand Oaks/London/New Delhi<br />

1996<br />

• Brand, Karl-Werner: Kont<strong>in</strong>uität und Diskont<strong>in</strong>uität <strong>in</strong> den neuen sozialen Bewegungen. In: Roth, Roland/Rucht,<br />

Dieter (Hg.): Neue soziale Bewegungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland. S. 30–44<br />

• Brand, Karl-Werner: Neue soziale Bewegungen – E<strong>in</strong> neoromantischer Protest? Thesen zur historischen Kont<strong>in</strong>uität<br />

und Diskont<strong>in</strong>uität <strong>der</strong> ›neuen sozialen Bewegungen‹. In: Wasmuth, Ulrike C. (Hg.): Alternativen zur alten <strong>Politik</strong>?<br />

S. 125–139<br />

• Brecher, Jeremy: NAFTA – Ökonomische Wie<strong>der</strong>belebung <strong>der</strong> USA. In: Hoffmann, Re<strong>in</strong>er/Wannöffel, Manfred<br />

(Hg.): Soziale und ökologische Sackgassen ökonomischer Globalisierung. S. 58–73<br />

• Breda, H. L. van/Ijsselig, Samuel (Hg.): Husserliana – Edmund Husserl: Gesammelte Werke. 30 Bände, Mart<strong>in</strong>us<br />

Nijhoff Verlag/Kluwer Academic Publishers, Den Haag u.a. bzw. Dodrecht u.a. 1950–96<br />

• Bredekamp, Horst: Leviathan und Internet. In: Die Zeit. Ausgabe vom 3. Januar (Nr. 2) 1997, S. 35<br />

• Bretherton, Charlotte/Ponton, Geoffrey (Hg.): Global Politics – An Introduction. Blackwell, Oxford/Cambridge<br />

1996<br />

• Bright, Charles/Hard<strong>in</strong>g, Susan (Hg.): Statemak<strong>in</strong>g and Social Movements – Essays <strong>in</strong> History and Theory. The<br />

University of Michigan Press, Michigan 1984<br />

• Brock, Ditmar: Rückkehr <strong>der</strong> Klassengesellschaft? – Die neuen sozialen Gräben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er materiellen Kultur. In:<br />

Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. S. 61–73<br />

• Brock, Lothar/Albert, Mathias: Entgrenzung <strong>der</strong> Staatenwelt – Zur Analyse weltgesellschaftlicher Entwicklungstendenzen.<br />

In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen. Heft 2/1995, S. 259–285<br />

• Brohm, W<strong>in</strong>fried: Polyzentrische Steuerung durch das Recht – Zur Rolle von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland. In: Görlitz, Axel/Voigt, Rüdiger (Hg.): Grenzen des Rechts. S. 31–47


B: LITERATURVERZEICHNIS 109<br />

• Bromberg, Heather u.a. [Interrogate the Internet]: Contradictions <strong>in</strong> Cyberspace – Collective Response. In: Shields,<br />

Rob (Hg.): Cultures of Internet. S. 125–132<br />

• Bronfenbrenner, Urie: Die Ökologie <strong>der</strong> menschlichen Entwicklung – Natürliche und geplante Experimente. Klett-Cotta,<br />

Stuttgart 1981<br />

• Bronfenbrenner, Urie: Ökologische Sozialisationsforschung. Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1976<br />

• Bryden, P. E. /Oliver, Dean F.: Canada/Sweden – Welfare States <strong>in</strong> Trouble. In: Åkermann/Granatste<strong>in</strong> (Hg.):<br />

Welfare States <strong>in</strong> Trouble. S. 171–182<br />

• Brown, P./Gajdusek, D. C.: The Human Spongiform Encephalopathies – Kuru, Creutzdeldt-Jakob Disease, and<br />

the Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker Syndrome. In: Chesebro, Bruce W. (Hg.): Transmissible Spongiform Encephalopathies.<br />

S. 1–20<br />

• Bruce, M. E./Fraser, H.: Scrapie Stra<strong>in</strong> Variation and Its Implications. In: Chesebro, Bruce W. (Hg.): Transmissible<br />

Spongiform Encephalopathies. S. 125–138<br />

• Bruce, M. E. et al.: Transmissions to Mice Indicate that ›New Variant‹ CJD is Caused by the BSE Agent. In: Nature.<br />

Vol. 389 (1997), S. 498–501<br />

• Bruhèze, Adri de la: Clos<strong>in</strong>g the Ranks – Def<strong>in</strong>ition and Stabilization of Radioactive Wastes <strong>in</strong> the U.S. Atomic<br />

Energy Commission, 1945–1960. In: Bijker, Wiebe E./Law, John: Shap<strong>in</strong>g Technology/Build<strong>in</strong>g Society. S. 140–174<br />

• Bubner, Rüdiger: Zur juristischen Substituierung des Politischen. In: Zeitschrift für Rechtspolitik. Heft 10/1993,<br />

S. 399ff.<br />

• Buchste<strong>in</strong>er, Jochen: Wir bedanken uns für dieses Gespräch – Über Kümmeltürken, richtige Säue und das Zusammenspiel<br />

von <strong>Politik</strong> und Journalismus. In: Die Zeit. Ausgabe vom 11. Juli 1997 (Nr. 29), S. 2<br />

• Bühl, Walter L.: Politische Grenzen <strong>der</strong> Autopoiese sozialer Systeme. In: Fischer, Hans R. (Hg.): Autopoiesis. S.<br />

201–242<br />

• Bühl, Walter L.: Strukturkrise und Strukturwandel – Zur Situation <strong>der</strong> Bundesrepublik. In: Berger, Johannes (Hg.):<br />

Die Mo<strong>der</strong>ne. S. 142–166<br />

• Burckhardt, Jacob: Die Kultur <strong>der</strong> Renaissance <strong>in</strong> Italien. Kröner, Reutl<strong>in</strong>gen 1952<br />

• Burkhardt, Johannes: Frühe Neuzeit: 16.–18. Jahrhun<strong>der</strong>t. Athenäum, Königste<strong>in</strong> 1985<br />

• Burton, John W.: World Society. Cambridge University Press, London 1972<br />

• Burton, Michael/Young, Trevor: Measur<strong>in</strong>g Meat Consumers’ Respnse to the Perceived Risks of BSE <strong>in</strong> Great Brita<strong>in</strong>.<br />

In: Risk Decision and Policy. Heft 2/1997, S. 19–28<br />

• Busch, Klaus: Die mult<strong>in</strong>ationalen Konzerne – Zur Analyse <strong>der</strong> Weltmarktbewegungen des Kapitals. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1974<br />

• Callon, Michel: Techno-Economic Networks and Irreversibility. In: Law, John (Hg.): A Sociology of Monsters.<br />

S. 132–161<br />

• Callon, Michel: The Sociology of an Actor-Network – The Case of the Electric Vehicle. In: Ders./Law, John/Rip,<br />

Arie (Hg.): Mapp<strong>in</strong>g the Dynamics of Science and Technology. S. 19–34<br />

• Callon, Michel/Latour, Bruno: Don’t Throw the Baby Out with the Bath School – A Reply to Coll<strong>in</strong>s and Yearley.<br />

In: Picker<strong>in</strong>g, Andrew (Hg.): Science as a Practise and Culture. S. 343–368<br />

• Callon, Michel/Latour, Bruno: Unscrew<strong>in</strong>g the Big Leviathans – How Actors Macro-Structure Reality and how<br />

Sociologists Help Them to Do So. In: Knorr-Cet<strong>in</strong>a, Kar<strong>in</strong>/Cicourel, Aaron V. (Hg.): Advances <strong>in</strong> Social Theory<br />

and Methodology. S. 277–303<br />

• Callon, Michel/Law, John: On the Construction of Sociotechnical Networks – Content and Context Revisited.<br />

In: Knowledge and Societ. Vol. 8 (1989), S. 57–83<br />

• Callon, Michel/Law, John/Rip, Arie: How to Study the Force of Science. In: Dies. (Hg.): Mapp<strong>in</strong>g the Dynamics<br />

of Science and Technology. S. 3–15<br />

• Callon, Michel/Law, John/Rip, Arie (Hg.): Mapp<strong>in</strong>g the Dynamics of Science and Technology – Sociology of Science<br />

<strong>in</strong> the Real World. Macmillan, Bas<strong>in</strong>gstoke/London 1986<br />

• Cameron, Averil: Das späte Rom. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994<br />

• Campanella, Tommaso: Sonnenstaat. In: He<strong>in</strong>isch, Klaus (Hg.): Der utopische Staat. S. 111–170<br />

• Capra, Fritjof: Wendezeit – Bauste<strong>in</strong>e für e<strong>in</strong> neues Weltbild. Scherz, Bern/München/Wien 1983<br />

• Carroll, James D.: Participatory Technology. In: Bereano, Philip L. (Hg.): Technology as a Social and Political<br />

Phenomenon. S. 492–518 [ursprünglich: Science. Vol. 171 (1971). S. 647–653]<br />

• Carson, Rachel: Silent Spr<strong>in</strong>g. The Riverside Press, Cambridge 1962<br />

• Cassirer, Ernst (Hg.): Immanuel Kants Werke. 11 Bände, Verlag Bruno Cassirer, Berl<strong>in</strong> 1922/23<br />

• Castells, Manuel: The Rise of the Network Society [The Information Age, Vol. I]. Blackwell, Oxford/Cambridge<br />

1996


110 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Castoriadis, Cornelius: Durchs Labyr<strong>in</strong>th – Seele, Vernunft, Gesellschaft. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt<br />

1981<br />

• Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imag<strong>in</strong>äre Institution – Entwurf e<strong>in</strong>er politischen Philosophie. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1984<br />

• Chapman, John W.: Rousseau – Totalitarian or Liberal? Columbia University Press, New York 1956<br />

• Chapman, Philip C.: Der Neukonservatismus – Kulturkritik gegen politische Philosophie. In: Schumann, Hans-Gerd<br />

(Hg.): Konservatismus. S. 355–369<br />

• Charta <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen. In: Opitz, Peter J./Rittberger, Volker (Hg.): Forum <strong>der</strong> Welt. S. 318–334<br />

• Charta <strong>der</strong> wirtschaftlichen Rechte und Pflichten <strong>der</strong> Staaten. In: Opitz, Peter J./Rittberger, Volker (Hg.): Forum<br />

<strong>der</strong> Welt. S. 360–368<br />

• Chesebro, Bruce W. (Hg.): Transmissible Spongiform Encephalopathies – Scrapie, BSE and Related Human Disor<strong>der</strong>s.<br />

Spr<strong>in</strong>ger, Berl<strong>in</strong> u.a. 1991<br />

• Childe, Gordon V.: Stufen <strong>der</strong> Kultur – Von <strong>der</strong> Urzeit zur Antike. Kohlhammer, Stuttgart 1952<br />

• Chomsky, Noam: Haben und Nichthaben. Philo Verlagsgesellschaft, Bodenheim 1998<br />

• Christ, Karl: Die Römer – E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> ihre Geschichte und Zivilisation. Verlag C. H. Beck, München 1979<br />

• Cicero: Staatstheoretische Schriften. Akademie Verlag, Berl<strong>in</strong> 1974<br />

• Cicero: Über den Staat (De re publica). In: Ders.: Staatstheoretische Schriften. S. 35–210<br />

• Cicero: Über die Gesetze (De legibus). In: Ders.: Staatstheoretische Schriften. S. 211–341<br />

• Cicourel, Aaaron V.: Notes on the Integration of Micro- and Macro-Levels of Analysis. In: Knorr-Cet<strong>in</strong>a, Kar<strong>in</strong>/Ders.<br />

(Hg.): Advances <strong>in</strong> Social Theory and Methodology. S. 51–80<br />

• Clark, William C./Munn, R. E. (Hg.): Susta<strong>in</strong>able Development of the Biosphere. Cambridge University Press,<br />

Cambridge u.a. 1986<br />

• Classen, Carl J. (Hg.): Sophistik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1976<br />

• Classen, Claus D.: Europäische Integration und demokratische Legitimation. In: Archiv des öffentlichen Rechts.<br />

Heft 2, Band 119 (1994), S. 238–260<br />

• Clemens, Thomas: Das Bundesverfassungsgericht im Rechts- und Verfassungsstaat. In: Piazolo, Michael (Hg.):<br />

Das Bundesverfassungsgericht. S. 13–32<br />

• Cl<strong>in</strong>ton, William J./Gore, Albert: A Framework for Global Electronic Commerce. Internet: www.iitf.nist.gov/eleccomm/ecomm.htm<br />

• Cohen, Jean L./Arato, Andrew: Civil Society and Political Theory. MIT Press, Cambridge/London 1992<br />

• Cohn, Jonas: Theorie <strong>der</strong> Dialektik – Formenlehre <strong>der</strong> Philosophie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt<br />

1965<br />

• Coll<strong>in</strong>s, Harry M.: An Empirical Relativist Programme <strong>in</strong> the Sociology of Scientific Knowledge. In: Knorr-Cet<strong>in</strong>a,<br />

Kar<strong>in</strong>/Mulkay, Michael (Hg.): Science Observed. S. 85–113<br />

• Coll<strong>in</strong>s, Harry M.: Son of Seven Sexes – The Social Destruction of a Physikal Phenomenon. In: Social Studies of<br />

Science. Vol. 11 (1981), S. 33–62<br />

• Coll<strong>in</strong>s, Harry M.: Stages <strong>in</strong> the Empirical Programme of Relativism. In: Social Studies of Science. Vol. 11 (1981),<br />

S. 3–10<br />

• Coll<strong>in</strong>s, Randall: Micro-Translation as a Theory-Build<strong>in</strong>g Strategy. In: Knorr-Cet<strong>in</strong>a, Kar<strong>in</strong>/Cicourel, Aaron V. (Hg.):<br />

Advances <strong>in</strong> Social Theory and Methodology. S. 81–108<br />

• Coll<strong>in</strong>s, Stephen l.: From Div<strong>in</strong>e Cosmos to Sovereign State – An Intellectual History of Consciousness and the<br />

Idea of Or<strong>der</strong> <strong>in</strong> Renaissance England. Oxford University Press, New York/Oxford 1989<br />

• Comte, Auguste: Discours sur L’ésprit positif. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1956<br />

• Cox, Robert W.: Approaches to World Or<strong>der</strong>. Cambridge University Press, Cambridge 1996<br />

• Cox, Robert W.: Globalization, Multilateralism, and Democracy. In: Ders.: Approaches to World Or<strong>der</strong>. S. 524–536<br />

• Cues, Nikolaus von: Von <strong>der</strong> Wissenschaft des Nichtwissens. In: Scharpf, F. A. (Hg.): Des Card<strong>in</strong>als und Bischofs<br />

Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. S. 3–109<br />

• Daele, Wolfgang van den: Objektives Wissen als politische Ressource – Experten und Gegenexperten im Diskurs.<br />

In: Ders./Neidhardt, Friedrich (Hg.): Kommunikation und Entscheidung. S. 297–326<br />

• Daele, Wolfgang van den/Neidhardt, Friedrich (Hg.): Kommunikation und Entscheidung – Politische Funktionen<br />

öffentlicher Me<strong>in</strong>ungsbildung und diskursiver Verfahren. WZB-Jahruch, Berl<strong>in</strong> 1996<br />

• Dahrendorf, Ralf: Anmerkungen zur Globalisierung. In: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven <strong>der</strong> Weltgesellschaft. S.<br />

41–54<br />

• Dahrendorf, Ralf: Der mo<strong>der</strong>ne soziale Konflikt – Essays zur <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Freiheit. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart<br />

1992<br />

• Dahrendorf, Ralf: Fragmente e<strong>in</strong>es neuen Liberalismus. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1987


B: LITERATURVERZEICHNIS 111<br />

• Dahrendorf, Ralf: Lebenschancen – Anläufe zur sozialen und politischen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt 1979<br />

• Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie <strong>in</strong> Deutschland. Piper, München 1968<br />

• Dahrendorf, Ralf: Wenn <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. In: Matthes, Joachim (Hg.): Krise <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft?<br />

S. 25–37<br />

• Dallemagne, Jean-Luc: Die Grenzen <strong>der</strong> Wirtschaftspolitik. Suhrkamp, Frankfurt 1975<br />

• Davies, John K.: Das klassische Griechenland und die Demokratie. Deutscher Taschenbuch Verlag, München<br />

1983<br />

• Dealler, Stephen: History of BSE. Internet: www.airtime.co.uk/bse/hist.htm<br />

• Delleuze, Gilles: Foucault. Suhrkamp, Frankfurt 1992<br />

• Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus – Kapitalismus und Schizophrenie I. Suhrkamp, Frankfurt 1977<br />

• Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Merve, Berl<strong>in</strong> 1977<br />

• Demandt, Alexan<strong>der</strong>: Antike Staatsformen – E<strong>in</strong>e vergleichende Verfassungsgeschichte <strong>der</strong> alten Welt. Akademie-Verlag,<br />

Berl<strong>in</strong> 1995<br />

• Demirovi ć, Alex: Freiheit o<strong>der</strong> die Dekonstruktion des Politischen. In: Georg-Lauer, Jutta (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne<br />

und <strong>Politik</strong>. S. 121–143<br />

• D’Entrèves, Alexan<strong>der</strong> P.: The Medieval Contribution to Political Thought – Thomas Aqu<strong>in</strong>as, Marsilius of Padua,<br />

Richard Hooker. The Human Press, New York 1959<br />

• Derrida, Jacques: Cogito und Geschichte des Wahns<strong>in</strong>ns. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. S. 53–101<br />

• Derrida, Jacques: Die différance. In: Engelmann, Peter (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Dekonstruktion. S. 76–113<br />

• Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Suhrkamp. Frankfurt 1976<br />

• Derrida, Jacques: Gesetzeskraft – Der ›mystische Grund <strong>der</strong> Autorität‹. Suhrkamp, Frankfurt 1991<br />

• Derrida, Jacques: Grammatologie. Suhrkamp, Frankfurt 1983<br />

• Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster – Der Staat <strong>der</strong> Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Fischer,<br />

Frankfurt 1996<br />

• Descartes, René: Discours de la méthode – Von <strong>der</strong> Methode. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1960<br />

• Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen <strong>der</strong> Philosophie [Meditationes]. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg<br />

1959<br />

• Dettl<strong>in</strong>g, Warnfried: Die moralische Generation. In: Beck, Ulrich (Hg.): K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit. S. 124–130<br />

• Dettl<strong>in</strong>g, Warnfried: <strong>Politik</strong> und Lebenswelt – Von Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft. Verlag Bertelsmann<br />

Stiftung, Gütersloh 1995<br />

• Dettl<strong>in</strong>g, Warnfried: Utopie und Katastrophe – Die Demokratie am Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. In: Weidenfeld,<br />

Werner (Hg.): Demokratie am Wendepunkt. S. 101–118<br />

• Dewey, John: Erfahrung und Natur. Suhrkamp, Frankfurt 1995<br />

• Dick<strong>in</strong>son, A. G./Outram, G. W.: Genetic Aspects of Unconventional Virus Infections – The Basis of the Vir<strong>in</strong>o<br />

Hypothesis. In: Ciba Foundation Symposium. Vol. 135 (1988), S. 63–83<br />

• Diemer, Alw<strong>in</strong>: Dialektik. Econ Verlag, Düsseldorf/Wien 1976<br />

• Dierks, Walter: Der restaurative Charakter <strong>der</strong> Epoche. In: Schumann, Hans-Gerd (Hg.): Konservatismus. S. 262–275<br />

• Dimmel, Nikolaus/Noll, Alfred J. (Hg.): <strong>Politik</strong> und Recht – Beiträge zum Wechselverhältnis von Gesellschaft und<br />

Recht. Edition Fortschrittliche Wissenschaft, Wien 1988<br />

• Dir<strong>in</strong>ger, He<strong>in</strong>o/Özel, Muhs<strong>in</strong>: Übertragbare spongiforme Enzephalopathien – Wodurch werden sie verursacht?<br />

In: Spektrum <strong>der</strong> Wissenschaft. Heft 3/1995, S. 52ff.<br />

• Docherty, Thomas: After Theory – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism/<strong>Post</strong>marxism. Routledge, London/New York 1990<br />

• Döhn, Lothar: Liberalismus. In. Neumann, Franz (Hg.): Handbuch Politischer Theorien und Ideologien. S. 9–64<br />

• Dörre, Klaus: Schafft sich autoritäre Technokratie selbst ab? O<strong>der</strong>: Welche ›Gegengifte‹ braucht die ›Risikogesellschaft‹?.<br />

In: Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft. S. 232–247<br />

• Donsbach, Wolfgang: Medien und <strong>Politik</strong> – E<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationaler Vergleich. In: Arm<strong>in</strong>geon, Klaus/Blum, Roger (Hg.):<br />

Das öffentliche Theater. S. 17–39<br />

• Doran, Charles F./H<strong>in</strong>z, Manfred O./Mayer-Tasch, Peter C. (Hg.): Umweltschutz – <strong>Politik</strong> des peripheren E<strong>in</strong>griffs.<br />

Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1974<br />

• Dreitzel, Hans-Peter: Sozialer Wandel – Zivilisation und Fortschritt als Kategorien <strong>der</strong> soziologischen Theorie.<br />

Luchterhand, Neuwied/Berl<strong>in</strong> 1967<br />

• Droz, Jacques (Hg.): Geschichte des Sozialismus. 16 Bände, Ullste<strong>in</strong>, Frankfurt/Berl<strong>in</strong>/Wien 1974–1989<br />

• Droz, Jacques: Die sozialistischen Utopien <strong>der</strong> Führen Neuzeit. In: Ders. (Hg.): Geschichte des Sozialismus. Band<br />

1, S. 112–129<br />

• Dubiel, Helmut: Metamorphosen <strong>der</strong> Zivilgesellschaft [Teil 1] – Selbstbegrenzung und reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung.<br />

In: Ders.: Ungewißheit und <strong>Politik</strong>. S. 67–105<br />

• Dubiel, Helmut: Ungewißheit und <strong>Politik</strong>. Suhrkamp, Frankfurt 1994<br />

• Duden: Deutsches Universallexikon A–Z. Dudenverlag, Mannheim/Wien/Zürich 1989


112 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Durkheim, Emile: Über die Teilung <strong>der</strong> sozialen Arbeit. Suhrkamp, Frankfurt 1977<br />

• Dürr, Hans-Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. 3 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1988–93<br />

• Dürr, Hans-Peter (Hg.): Authentizität und Betrug <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ethnologie. Suhrkamp, Frankfurt 1987<br />

• Eagleton, Terry: Die Illusionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 1997<br />

• Eagleton, Terry: The Ideology of the Aesthetic. Blackwell, Oxford/Cambridge 1990<br />

• Edelman, Murray: Construct<strong>in</strong>g the Political Spectacle. The University of Chicago Press, Chicago/London 1988<br />

• Edelman, Murray: <strong>Politik</strong> als Ritual. Campus, Frankfurt/New York 1990<br />

• E<strong>der</strong>, Klaus: Soziale Bewegung und kulturelle Evolution – Überlegungen zur Rolle <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> kulturellen Evolution <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. In: Berger, Johannes (Hg.): Die Mon<strong>der</strong>ne. S. 335–357<br />

• Edwards, Sebastian: Capital Flows, Foreign Direct Investment, and Debt-Equity Swaps <strong>in</strong> Develop<strong>in</strong>g Countries.<br />

In: Siebert, Horst (Hg.): Capital Flows <strong>in</strong> the World Economy. S. 255–281<br />

• E<strong>in</strong>heitliche Europäische Akte (Auszug). In: Gasteyger, Curt: Europa zwischen Spaltung und E<strong>in</strong>igung. S. 366–384<br />

• Eisenstadt, Shmuel N.: Die Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – Die jakob<strong>in</strong>ischen Grundzüge <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und des Fundamentalismus:<br />

Heterodoxien, Utopismus und Jakob<strong>in</strong>ismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konstitution fundamentalistischer Bewegungen.<br />

Suhrkamp, Frankfurt 1998<br />

• Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Suhrkamp, Frankfurt 1994<br />

• Eliade, Mircea: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit. Suhrkamp, Frankfurt 1985<br />

• Elias, Norbert: Über den Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation – Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bände,<br />

Suhrkamp, Frankfurt 1976<br />

• Elias, Norbert: Über die Zeit. Suhrkamp, Frankfurt 1984<br />

• Elliot, Anthony: Subject to Ourselves – Social Theory, Psychoanalysis and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity. Polity Press, Cambridge/-<br />

Oxford 1996<br />

• Ellul, Jacques: The Technological Society. V<strong>in</strong>tage Books, New York 1964<br />

• Elm, Ludwig: Konservatismus heute – Internationale Entwicklungstrends konservativer <strong>Politik</strong> und Gesellschaftstheorien<br />

<strong>in</strong> den achtziger Jahren. Pahl-Rugenste<strong>in</strong> Verlag, Köln 1986<br />

• Elwert, Georg: Nationalismus und Ethnizität. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Heft 3/1989,<br />

S. 440–464<br />

• Emmanuel, Arghiri: L’échange <strong>in</strong>égal – Essai sur les antagonismes dans les rapports éonomiques <strong>in</strong>ternationaux.<br />

Librairie François Maspero, Paris 1969<br />

• Engelmann, Peter (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Dekonstruktion – Texte französischer Philosophen <strong>der</strong> Gegenwart. Reclam,<br />

Stuttgart 1990<br />

• Engelmann, Peter: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Dekonstruktion – Zwei Stichwörter zur zeitgenössischen Philosophie. In:<br />

Ders. (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Deskonstruktion. S. 5–32<br />

• Engels, Friedrich: Anteil <strong>der</strong> Arbeit an <strong>der</strong> Menschwerdung des Affens. In: Marx, Karl/Ders.: Ausgewählte Werke.<br />

S. 344–354<br />

• Engels, Friedrich: Brief an Franz Mehr<strong>in</strong>g vom 14. Juli 1893. In: Marx, Karl/Ders.: Ausgewählte Werke. S. 664–667<br />

• Engels, Friedrich: Brief an Joseph Bloch vom 21. September 1890. In: Marx, Karl/Ders.: Ausgewählte Werke. S.<br />

656ff.<br />

• Engels, Friedrich: Dialektik <strong>der</strong> Natur [E<strong>in</strong>leitung]. In: Marx, Karl/Ders.: Ausgewählte Werke. S. 329–343<br />

• Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von <strong>der</strong> Utopie zur Wissenschaft. In: Marx, Karl/Ders.: Ausgewählte<br />

Werke. S. 365–417<br />

• Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dühr<strong>in</strong>gs Umwälzung <strong>der</strong> Wissenschaft (Anti-Dühr<strong>in</strong>g). Dietz Verlag, Berl<strong>in</strong> 1983<br />

• Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und <strong>der</strong> Ausgang <strong>der</strong> klassischen deutschen Philosophie. In: Marx, Karl/Ders.:<br />

Ausgewählte Werke. S. 565–599<br />

• Engels, Friedrich: Über die politische Aktion <strong>der</strong> Arbeiterklasse – Manuskript <strong>der</strong> Rede zur Sitzung <strong>der</strong> Londoner<br />

Konferenz <strong>der</strong> Internationalen Arbeiter-Assoziation am 21 September 1871. In: Marx, Karl/Ders.: Ausgewählte<br />

Werke. S. 302<br />

• Epikur: Von <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Furcht – Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente. Artemis,<br />

Zürich/München 1983<br />

• Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp, Frankfurt 1973<br />

• Esp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen, Gøsta: The Three Worlds of Welfare Capitalism. Polity Press, Cambridge 1990<br />

• Etzioni, Amitai: Die aktive Gesellschaft – E<strong>in</strong>e Theorie gesellschaftlicher und politischer Prozesse. Westdeutscher<br />

Verlag, Opladen 1975<br />

• Etzioni, Amitai: The Moral Dimension – Toward a New Economics. The Free Press, New York 1988<br />

• Etzioni, Amitai: The Spirit of Community – Rights, Responsibilities, and the Communitarian Agenda. Crown, New<br />

York 1993


B: LITERATURVERZEICHNIS 113<br />

• Faber, Richard (Hg.): Konservatismus <strong>in</strong> Geschichte und Gegenwart. Königshausen & Neimann, Würzburg 1991<br />

• Falk, Richard: Explorations at the Edge of Time – The Prospects for World Or<strong>der</strong>. Temple University Press, Philadelphia<br />

1992<br />

• Faßler, Manfred/Halbach, Wulf R. (Hg.): Cyberspace – Geme<strong>in</strong>schaften, Virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten. Wilhelm<br />

F<strong>in</strong>k Verlag, München 1994<br />

• Fawcett, Louise/Hurrell, Andrew (Hg.): Regionalism <strong>in</strong> World Politics – Regional Organization and International<br />

Or<strong>der</strong>. Oxford University Press, Oxford 1995<br />

• Fazis, Urs: ›Theorie‹ und ›Ideologie‹ <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Studien zur Radikalisierung <strong>der</strong> Aufklärung aus ideologiekritischer<br />

Perspektive. Social Strategies, Basel 1994<br />

• Featherstone, Mike: Consumer Culture and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. Sage Publications, London/Newbury Park/New Delhi<br />

1991<br />

• Featherstone, Mike: In Pursuit of the <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n – An Introduction. In: Ders. (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. S. 195–215<br />

• Featherstone, Mike: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism and the Aesthetization of Everyday Life. In: Lash, Scott/Friedman, Jonathan<br />

(Hg.): Mo<strong>der</strong>nity and Identity. S. 265–290<br />

• Featherstone, Mike (Hg.): Global Culture – Nationalism, Globalization and Mo<strong>der</strong>nity. Sage Publications, London/Newbury<br />

Park/New Delhi 1990<br />

• Featherstone, Mike (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. Sage Publications, London u.a. 1988<br />

• Featherstone, Mike/Lash, Scott/Robertson, Roland (Hg.): Global Mo<strong>der</strong>nities. Sage Publications, London/Newbury<br />

Park/New Delhi 1995<br />

• Fechner, Frank: <strong>Politik</strong> und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nisierung als Demokratiesierung? Passagen Verlag, Wien<br />

1990<br />

• Ferrara, Alessandro: Reflective Authenticity – Reth<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g the Project of Mo<strong>der</strong>nity. Routledge, London/New York<br />

1988<br />

• Fetscher, Ir<strong>in</strong>g: Herrschaft und Emanzipation – Zur Philosophie des Bürgertums. Piper, München 1976<br />

• Fetscher, Ir<strong>in</strong>g: Rousseaus politische Philosophie – Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1990<br />

• Fetscher, Ir<strong>in</strong>g: Wieviel Konsens gehört zur Demokratie? In: Guggenberger, Bernd/Offe, Claus (Hg.): An den Grenzen<br />

<strong>der</strong> Mehrheitsdemokratie. S. 196–206<br />

• Fetscher, Ir<strong>in</strong>g (Hg.): Neokonservative und ›Neue Rechte‹ – Der Angriff gegen Sozialstaat und liberale Demokratie<br />

<strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten, Westeuropa und <strong>der</strong> Bundesrepublik. C. H. Beck, München 1983<br />

• Feyerabend, Paul: Erkenntnis für freie Menschen – Verän<strong>der</strong>te Ausgabe. Suhrkamp, Frankfurt 1980<br />

• Feyerabend, Paul: Irrwege <strong>der</strong> Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt 1989<br />

• Feyerabend, Paul: Wi<strong>der</strong> den Methodenzwang. Suhrkamp, Frankfurt 1983<br />

• Fichte, Immanuel H. (Hg.): Johann Gottlieb Fichtes sämtliche Werke [fotomechanischer Nachdruck <strong>der</strong> Ausgabe<br />

von 1845/46]. 8 Bände, De Gruyter, Berl<strong>in</strong> 1971<br />

• Fichte, Johann G.: Der geschloßne Handelsstaat. In: Fichte, Immanuel H. (Hg.): Johann Gottlieb Fichtes sämtliche<br />

Werke. Band 3<br />

• Fichte, Johann G.: Grundlage <strong>der</strong> gesamten Wissenschaftslehre. In: Jocobs, Wilhelm G. (Hg.): Johann Gottlieb<br />

Fichte – Schriften zur Wissenschaftslehre. S. 63–97<br />

• Fichte, Johann G.: Reden an die deutsche Nation. In: Fichte, Immanuel H. (Hg.): Johann Gottlieb Fichtes sämtliche<br />

Werke. Band 7<br />

• Fichte, Johann G.: Wissenschaftslehre – Vorgetragen im Jahr 1804. In: Jocobs, Wilhelm G. (Hg.): Johann Gottlieb<br />

Fichte – Schriften zur Wissenschaftslehre. S. 477–712<br />

• Fischer, Hans R. (Hg.): Autopoiesis – E<strong>in</strong>e Theorie im Brennpunkt <strong>der</strong> Kritik. Carl Auer Verlag, Heidelberg 1991<br />

• Fiedler, Leslie A.: Überschreitet die Grenze, schließt den Graben! In: Welsch, Wolfgang: Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.<br />

S. 57–74<br />

• Field, E. J.: Transmission Experiments with Multiple Sclerosis – An Interrim Report. In: British Medical Journal.<br />

Vol. 2 (1966), S. 564f.<br />

• F<strong>in</strong>k, Humbert: Machiavelli – E<strong>in</strong>e Biographie. Knaur, München 1990<br />

• F<strong>in</strong>ley, Moses I.: Das politische Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> antiken Welt. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1991<br />

• F<strong>in</strong>ley, Moses I.: Die antike Wirtschaft. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1977<br />

• Fischer, Günther: Über den komplizierten Weg zu e<strong>in</strong>er nachfunktionalistischen Architektur. In: Ders. et al.: Abschied<br />

von <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. S. 7–23<br />

• Fischer, Günther et al.: Abschied von <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Beiträge zur Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Orientierungskrise. Verlag<br />

Vieweg & Sohn, Braunschweig/Wiesbanden 1980<br />

• Fischermann, Thomas: Die Yuppies von Bangalore. In: Zeit-Magaz<strong>in</strong>. Heft 11/97, S. 24–41<br />

• Fiske, John: Media Matters – Everyday Culture and Political Change. University of M<strong>in</strong>nesota Press, M<strong>in</strong>neapolis/London<br />

1994


114 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Flaig, Berthold B./Meyer, Thomas/Ueltzhöffer, Jörg: Alltagsästhetik und politische Kultur – Zur ästhetischen Dimension<br />

politischer Bildung und politischer Kommunikation. Dietz Verlag, Bonn 1994<br />

• Flick<strong>in</strong>ger, Richard S./Studlar, Donley T.: The Disappear<strong>in</strong>g Voters? – Explor<strong>in</strong>g Decl<strong>in</strong><strong>in</strong>g Turnout <strong>in</strong> Western European<br />

Elections. In: West European Politics. Heft 2, Vol. 26 (1992), S. 1–16<br />

• Forrester, Vivian: Der Terror <strong>der</strong> Ökonomie. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997<br />

• Foster, Hal: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism – A Preface. In: Ders. (Hg.): The Anti-Aesthetic. S. IX–XVI<br />

• Foster, Hal (Hg.): The Anti-Aesthetic – Essays on <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Culture. Bay Press, Port Townsend 1987<br />

• Foucault, Michel: An<strong>der</strong>e Räume. In: Wentz, Mart<strong>in</strong> (Hg.): Stadt-Räume. S. 65–72<br />

• Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Suhrkamp, Frankfurt 1990<br />

• Foucault, Michel: Das Denken des Außen. In: Ders.: Von <strong>der</strong> Subversion des Wissens. S. 46–68<br />

• Foucault, Michel: Der Gebrauch <strong>der</strong> Lüste [Sexualität und Wahrheit 2]. Suhrkamp, Frankfurt 1989<br />

• Foucault, Michel: Die Geburt <strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>ik – E<strong>in</strong>e Archäologie des ärztlichen Blicks. Fischer, Frankfurt 1991<br />

• Foucault, Michel: Die Ordnung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge – E<strong>in</strong>e Archäologie <strong>der</strong> Humnawissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt<br />

1974<br />

• Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses – Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970.<br />

Carl Hanser Verlag, München 1974<br />

• Foucault, Michel: Die politische Technologie des Selbst. In: Ders. u.a. (Hg.): Technologien des Selbst. S. 168–187<br />

• Foucault, Michel: Die Sorge um sich [Sexualität und Wahrheit 3]. Suhrkamp, Frankfurt 1989<br />

• Foucault, Michel: Dispositive <strong>der</strong> Macht – Über Sexualität, Wissen und Macht. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1978<br />

• Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Von <strong>der</strong> Subversion des Wissens. S. 69–90<br />

• Foucault, Michel: Technologien des Selbst. In: Ders. u.a. (Hg.): Technologien des Selbst. S. 24–62<br />

• Foucault, Michel: Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp, Frankfurt 1976<br />

• Foucault, Michel: Um welchen Preis sagt die Vernunft die Wahrheit? – E<strong>in</strong> Gespräch [Interview mit Gérard Raulet].<br />

In: Spuren – Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft. Heft 1/83, S. 22–26 u. Heft 2/83, S. 38ff.<br />

• Foucault, Michel: Von <strong>der</strong> Subversion des Wissens. Fischer, Frankfurt 1987<br />

• Foucault, Michel: Vorrede zur Überschreitung. In: Ders.: Von <strong>der</strong> Subversion des Wissens. S. 28–45<br />

• Foucault, Michel: Wahns<strong>in</strong>n und Gesellschaft – E<strong>in</strong>e Geschichte des Wahns im Zeitalter <strong>der</strong> Vernunft. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1973<br />

• Foucault, Michel: Wahrheit und Macht. In: Ders.: Dispositive <strong>der</strong> Macht. S. 21–54<br />

• Foucault, Michel u.a. (Hg.): Technologien des Selbst. Fischer, Frankfurt 1993<br />

• Fourastié, Jean: Die große Hoffnung des zwangzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts. Bund-Verlag, Köln 1969<br />

• Fox, Matthew: A Mystical Cosmology – Toward a <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Spirituality. In: Griff<strong>in</strong>, David R. (Hg.): Sacred<br />

Interconnections. S. 15–33<br />

• Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien. Suhrkamp, Frankfurt 1991<br />

• Fraenkel, Ernst: Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit <strong>der</strong> Bürger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mo<strong>der</strong>nen parlamentarischen<br />

Demokratie. In: Ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien. S. 261–276<br />

• Frankel, Boris: The Cultural Contradiction of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity. In: Milner, Andrew/Thompson, Philip/Worth, Chris<br />

(Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Conditions. S. 95–112<br />

• Frampton, Kenneth: Die Architektur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – E<strong>in</strong>e kritische Baugeschichte. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart<br />

1991<br />

• Franz, Marie-Louise: Der Traum des Descartes. In: Meier, C. A. (Hg.): Studien aus dem C. G. Jung-Institut. Vol.<br />

III (1952), S. 49–119<br />

• Franzmeyer, Fritz: Vorteil für alle? – Probleme des Handels und <strong>der</strong> Handelspolitik im globalen Zusammenhang.<br />

In: Opitz, Peter J. (Hg.): Weltprobleme. S. 231–267<br />

• Fraser, H. et al.: Transmission of Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy to Mice. In: Veter<strong>in</strong>ary Record. Vol. 123<br />

(1988), S. 472<br />

• Freddi, Giorgio: Adm<strong>in</strong>istrative Rationalität und sozio-ökonomische Intervention. In: Voigt, Rüdiger (Hg.): Recht<br />

als Instrument von <strong>Politik</strong>. S. 209–232<br />

• Freedberg, David: The Power of Images – Studies <strong>in</strong> the History and Theorie of Response. The University of Chicago<br />

Press, Chicago/London 1989<br />

• Frenkel, Michael/Ben<strong>der</strong>, Dieter (Hg.): GATT und neue Welthandelsordnung – Globale und regionale Auswirkungen.<br />

Gabler, Wiesbaden 1996<br />

• Freud, Anna u.a. (Hg.): Sigmund Freud – Gesammelte Werke. 17 Bände, Imago Publish<strong>in</strong>g Co., London 1942<br />

• Freud, Sigmund: Abriß <strong>der</strong> Psychoanalyse. Fischer, Frankfurt 1993 (zusammen mit ›Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur‹)<br />

• Freud, Sigmund: Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur. Fischer, Frankfurt 1993 (zusammen mit ›Abriß <strong>der</strong> Psychoanalyse‹)<br />

• Freud, Sigmund: Die Zukunft e<strong>in</strong>er Illusion. Fischer, Frankfurt 1982 (zusammen mit ›Massenpsychologie und<br />

Ich-Analyse‹)


B: LITERATURVERZEICHNIS 115<br />

• Freud, Sigmund: Jenseits des Lustpr<strong>in</strong>zips. In: Freud, Anna u.a. (Hg.): Sigmund Freud – Gesammelte Werke. Band<br />

XIII, S. 1–69<br />

• Freud, Sigmund: Vorlesungen zur E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Psychoanalyse. Fischer, Frankfurt 1983<br />

• Freud, Sigmund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. In: Freud, Anna u.a. (Hg.): Sigmund Freud – Gesammelte<br />

Werke. Band X, S. 323–355<br />

• Freyermuth, Gundolf S.: Im Netz <strong>der</strong> Verschwörer. In: Die Zeit. Ausgabe vom 21. Juni 1996 (Nr. 26), S. 66<br />

• Frieden, Jeffry A.: Bank<strong>in</strong>g on the World – The Politics of American International F<strong>in</strong>ance.Harper & Row, New<br />

York u.a. 1987<br />

• Friedman, Jonathan: Be<strong>in</strong>g <strong>in</strong> the World – Globalization and Localization. In: Featherstone, Mike (Hg.): Global<br />

Culture. S. 311–328<br />

• Friedmann, Wolfgang: Recht und sozialer Wandel. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1969<br />

• Fritzsche, Klaus: Konservatismus. In: Neumann, Franz (Hg.): Handbuch Politischer Theorien und Ideologien. S.<br />

65–105<br />

• Fromm, Erich: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches – E<strong>in</strong>e sozialpsychologische Untersuchung.<br />

Detsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1980<br />

• Fromm, Erich: Die Furcht vor <strong>der</strong> Freiheit. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1990<br />

• Fromm, Erich: Haben o<strong>der</strong> Se<strong>in</strong>. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1987<br />

• Fuchs, Peter: Die Erreichbarkeit <strong>der</strong> Gesellschaft – Zur Konstruktion und Imag<strong>in</strong>ation gesellschaftlicher E<strong>in</strong>heit.<br />

Suhrkamp, Frankfurt 1992<br />

• Fukuyama, Francis: Das Ende <strong>der</strong> Geschichte? In: Europäische Rundschau. Heft 4/1989, S. 3–25<br />

• Fulbrook, Julian: Legal Implications – Is this Another Thalidomide Case? In: Risk Decision and Policy. Vol. 2 (1997),<br />

S. 9–18<br />

• Gajdusek, D. C./Gibbs, C. J./Alpers, M.: Experimental Transmission of a Kuru-Like Syndrom to Chimpanzees. In:<br />

Nature. Vol. 209 (1966), S. 794ff.<br />

• Gall, Lothar (Hg.): Liberalismus. Athenäum, Königste<strong>in</strong> 1985<br />

• Garfield, Jay L.: The Fundamental Wisdom of the Middle Way – Na) ga) rjuna’s Mu) lamadhyamakaka) rika). Oxford<br />

University Press, New York/Oxford 1995<br />

• Garv<strong>in</strong>, Paul L. (Hg.): Cognition – A Multiple View. Spartan Books, New York/Wash<strong>in</strong>gton 1970<br />

• Gasteyger, Curt: Europa zwischen Spaltung und E<strong>in</strong>igung: 1945–1990. Bundeszentrale für politische Bildung,<br />

Bonn 1991<br />

• Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures – Selected Essays. Basic Books, New York 1973<br />

• Geertz, Clifford: Thick Description – Toward an Interpretive Theory of Culture. In: Ders.: The Interpretaion of<br />

Cultures. S. 3–30<br />

• Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter – Sozialpsychologische Probleme <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft.<br />

Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1962<br />

• Gehlen, Arnold: E<strong>in</strong>blicke. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 1975<br />

• Gehlen, Arnold: Ende <strong>der</strong> Geschichte? In: Ders.: E<strong>in</strong>blicke. S. 115–133<br />

• Gehlen, Arnold: Studien zur Anthropologie und Soziologie. Luchterhand, Frankfurt 1971<br />

• Gehlen, Arnold: Über kulturelle Kristallisation. In: Ders.: Studien zur Anthropologie und Soziologie. S. 311–328<br />

• Geiger, Theodor: Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel. Verlag Gustav Kiepenheuer, Köln/Hagen 1949<br />

• Geiger, Theodor: Vorstudien zu e<strong>in</strong>er Soziologie des Rechts. Luchterhand, Neiwied/Berl<strong>in</strong> 1964<br />

• Geißler, Ra<strong>in</strong>er: Schichten <strong>in</strong> <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft – Die Bedeutung des Schichtbegriffs für die Analyse<br />

unserer Gesellschaft. In: Berger, Peter A./Hradil, Stefan (Hg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. S. 81–101<br />

• Gellner, Ernest: Nationalismus und Mo<strong>der</strong>ne. Rotbuch Verlag, Hamburg 1995<br />

• Gellner, W<strong>in</strong>and: Ideenagenturen für <strong>Politik</strong> und Öffentlichkeit – Th<strong>in</strong>k Tanks <strong>in</strong> den USA und <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Westdeutscher Verlag, Opladen 1995<br />

• General Agreement on Trade and Tarifs (GATT) – Allgeme<strong>in</strong>es Zoll- und Handelsabkommen. In: Liebich, Ferd<strong>in</strong>and<br />

K.: Grundriß des Allgeme<strong>in</strong>en Zoll- und Handelsabkommens. S. 45–145<br />

• Georg-Lauer, Jutta (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und <strong>Politik</strong>. Edition Diskord, Tüb<strong>in</strong>gen 1992<br />

• Gerhards, Jürgen: Neue Konfliktl<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mobilisierung öffentlicher Me<strong>in</strong>ung – E<strong>in</strong>e Fallstudie. Westdeutscher<br />

Verlag, Opladen 1993<br />

• Gerhards, Jürgen: Politische Öffentlichkeit – E<strong>in</strong> system- und akteurstheoretischer Bestimmungsversuch. In: Neidhardt,<br />

Friedhelm (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Me<strong>in</strong>ung, soziale Bewegungen. S. 77–105<br />

• Gerhardt, Volker (Hg.): Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> – Bed<strong>in</strong>gungen und Gründe politischen Handelns. J. B. Metzler,<br />

Stuttgart 1990


116 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Geyer, Thomas: Angst als psychische und soziale Realität – E<strong>in</strong>e Untersuchung über die Angsttheorien Freuds und<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachfolge Freuds. Verlag Peter Lang, Frankfurt u.a. 1998<br />

• Gibbs, Clarence J. (Hg.): Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy – The BSE Dilemma. Spr<strong>in</strong>ger, New York/Berl<strong>in</strong>/Heidelberg<br />

1996<br />

• Giddens, Anthony: Beyond Left and Right – The Future of Radical Politics. Polity Press, Cambridge 1994<br />

• Giddens, Anthony: Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt 1984<br />

• Giddens, Anthony: Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft – Grundzüge e<strong>in</strong>er Theorie <strong>der</strong> Strukturierung. Campus,<br />

Frankfurt/New York 1995<br />

• Giddens, Anthony: Kritische Theorie <strong>der</strong> Spätmo<strong>der</strong>ne. Passagen Verlag, Wien 1992<br />

• Giddens, Anthony: Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er posttraditionalen Gesellschaft. In: Beck, Ulrich/Ders./Lash, Scott: Reflexive<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung. S. 113–194<br />

• Giddens, Anthony: Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity – Self and Society <strong>in</strong> Late Mo<strong>der</strong>n Age. Stanford University Press,<br />

Stanford 1991<br />

• Giddens, Anthony: Risiko, Vertrauen und Reflexivität. In: Beck, Ulrich/Ders./Lash, Scott: Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung.<br />

S. 316–337<br />

• Giddens, Anthony: The Consequences of Mo<strong>der</strong>nity. Stanford University Press, Stanford 1990<br />

• Giddens, Anthony: The Nation State and Violence. Polity Press, Cambridge 1989<br />

• Giebel, Marion: Augustus. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1984<br />

• Giehle, Sab<strong>in</strong>e: Die ästhetische Gesellschaft. Verlag für Entwicklungspolitik, Saarbrücken 1994<br />

• Giernalczyk, Thomas/Freitag, Regula (Hg.): Qualitätsmanagement von Krisen<strong>in</strong>tervention und Suizidprävention.<br />

Vandenhoek & Rupprecht, Gött<strong>in</strong>gen 1998<br />

• Giesen, Bernhard: Die Entd<strong>in</strong>glichung des Sozialen – E<strong>in</strong>e evolutionstheoretische Perspektive auf die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne.<br />

Suhrkamp, Frankfurt 1991<br />

• Gilp<strong>in</strong>, Robert: The Political Economy of International Relations. Pr<strong>in</strong>ceton University Press, Pr<strong>in</strong>ceton 1987<br />

• Gilp<strong>in</strong>, Robert: War and Change <strong>in</strong> World Politics. Camebridge University Press, Cambridge 1981<br />

• Glasenapp, Helmuth: Die Philosophie <strong>der</strong> In<strong>der</strong>. Kröner, Stuttgart 1985<br />

• Gleichmann, Peter/Goudsblom, Johan/Korte, Hermann (Hg.): Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie.<br />

Suhrkamp, Frankfurt 1977<br />

• Globale Trends: siehe +Stiftung Entwicklung und Frieden*<br />

• Göhler, Gerhard/Kle<strong>in</strong>, Ansgar: Politische Theorien im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. In: Lieber, Hans-Joachim (Hg.): Politische<br />

Theorien von <strong>der</strong> Antike bis zur Gegenwart. S. 259–656<br />

• Görlitz, Axel: Politische Funktionen des Rechts. Akademische Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 1976<br />

• Görlitz, Axel/Voigt, Rüdiger (Hg.): Grenzen des Rechts. Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1987<br />

• Görtemaker, Manfred: Deutschland im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t – Entwicklungsl<strong>in</strong>ien. Bundeszentrale für politische Bildung,<br />

Bonn 1989<br />

• Goffman, Erv<strong>in</strong>g: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Suhrkamp, Frankfurt 1974<br />

• Goffman, Erv<strong>in</strong>g: Rahmen-Analyse – E<strong>in</strong> Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Suhrkamp, Frankfurt<br />

1977<br />

• Goffman, Erv<strong>in</strong>g: Verhalten <strong>in</strong> sozialen Situationen – Strukturen und Regeln <strong>der</strong> Interaktion im öffentlichen Raum.<br />

Bertelsmann, Gütersloh 1971<br />

• Goffman, Erv<strong>in</strong>g: Wir alle spielen Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag. Piper, München 1969<br />

• Goldenberg, Boris (Hg.): Karl Marx – Ausgewählte Schriften. K<strong>in</strong>dler, München 1962<br />

• Gordon, David M.: The Global Economy – New Edifice or Crumbl<strong>in</strong>g Foundations? In: New Left Review. Nr. 168<br />

(1988), S. 24–65<br />

• Gordon, W. S.: Advances <strong>in</strong> Veter<strong>in</strong>ary Research. In: Veter<strong>in</strong>ary Record. Vol. 58 (1946), S. 518–525<br />

• Gorz, André: Abschied vom Proletariat – Jenseits des Sozialismus. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1980<br />

• Gorz, André: Kritik <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft – S<strong>in</strong>nfragen am Ende <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft. Rotbuch Verlag,<br />

Hamburg 1994<br />

• Gottlieb, Gidon: Nations without States. In: Foreign Affairs. Heft 3/1994, S. 100–112<br />

• Gottweis, Herbert: <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft. In: Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft. S. 357–377<br />

• Graevenitz, Gerhart/Marquard, Odo (Hg.): Kont<strong>in</strong>genz. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1998<br />

• Gramsci, Antonio: Gedanken zur Kultur. Rö<strong>der</strong>berg, Köln 1987<br />

• Gramsci, Antonio: Sozialismus und Kultur [›Il Grido del Popolo‹ vom 29.1.1916]. In: Ders.: Gedanken zur Kultur.<br />

S. 7–11<br />

• Greb<strong>in</strong>g, Helga: Geschichte <strong>der</strong> deutschen Arbeiterbewegung – E<strong>in</strong> Überblick. Deutscher Taschenbuch Verlag,<br />

München 1970<br />

• Greb<strong>in</strong>g, Helga: L<strong>in</strong>ksradikalismus gleich Rechtsradikalismus – E<strong>in</strong>e falsche Gleichung. Kohlhammer, Stattgart 1971<br />

• Greiffenhagen, Mart<strong>in</strong>: Das Dilemma des Konservatismus <strong>in</strong> Deutschland. Suhrkamp, Frankfurt 1986


B: LITERATURVERZEICHNIS 117<br />

• Greiffenhagen, Mart<strong>in</strong>: Demokratie und Technokratie. In: Koch, Claus/Senghaas, Dieter (Hg.): Texte zur Technokratiediskussion.<br />

S. 54–70<br />

• Grewenig, Adi (Hg.): Inszenierte Information – <strong>Politik</strong> und strategische Kommunikation <strong>in</strong> den Medien. Westdeutscher<br />

Verlag, Opladen 1993<br />

• Griff<strong>in</strong>, David R. (Hg.): Sacred Interconnections – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Spirituality, Political Economy, and Art. State University<br />

of New York Press, Albany 1990<br />

• Griff<strong>in</strong>, David R./Falk, Richard (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Politics for a Planet <strong>in</strong> Crisis – Policy, Process, and Presidential<br />

Vision. State University of New York Press, Albany 1993<br />

• Griff<strong>in</strong>, Keith/Rahman Kahn, Azizur: Globalization and the Develop<strong>in</strong>g World – An Essay on the International<br />

Dimensions of Development <strong>in</strong> the <strong>Post</strong>-Cold War Era. URISD, Genf 1992<br />

• Griffith, J. S.: Self-Replication and Scrapie. In: Nature. Vol. 215 (1967), S. 1043f.<br />

• Grimm, Dieter: Recht und <strong>Politik</strong>. In: Juristische Schulung. Heft 11/1969, S. 501–510<br />

• Grimm, Klaus: Niklas Luhmanns ›soziologische Aufklärung‹ o<strong>der</strong> das Elend <strong>der</strong> apriorischen Soziologie – E<strong>in</strong> Beitrag<br />

zur Pathologie <strong>der</strong> Systemtheorie im Licht <strong>der</strong> Wissenschaftslehre Max Webers. Hoffmann und Campe, Hamburg<br />

1974<br />

• Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1994<br />

• Großklaus, Götz: Medien-Zeit, Medien-Raum – Zum Wandel <strong>der</strong> raumzeitlichen Wahrnehmung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.<br />

Suhrkamp, Frankfurt 1995<br />

• Grossman, Lawrence K.: The Electronic Republic – Reshap<strong>in</strong>g Democracy <strong>in</strong> the Information Age. Vik<strong>in</strong>g, New<br />

York 1995<br />

• Grünewald, Joachim: Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Möglichkeiten und Grenzen. In: Ipsen, Jörn (Hg.):<br />

Privatisierung öffentlicher Aufgaben. S. 5–15<br />

• Gruppe von Lissabon: Grenzen des Wettbewerbs – Die Globalisierung <strong>der</strong> Wirtschaft und die Zukunft <strong>der</strong> Menschheit.<br />

Luchterhand 1997<br />

• Guéhenno, Jean-Marie: Das Ende <strong>der</strong> Demokratie. Artemis & W<strong>in</strong>kler, München/Zürich 1994<br />

• Guér<strong>in</strong>, Daniel: Anarchismus – Begriff und Praxis. Suhrkamp, Frankfurt 1978<br />

• Guggenberger, Bernd: Die politische Aktualität des Ästhetischen. Edition Isele, Egg<strong>in</strong>gen 1992<br />

• Guggenberger, Bernd: Globalität und Zukunft o<strong>der</strong> Demokratie <strong>in</strong> neuen Raum- und Zeitgrenzen. In: Ders./Meier,<br />

Andreas (Hg.): Der Souverän auf <strong>der</strong> Nebenbühne. S. 21–30<br />

• Guggenberger, Bernd: Zuvielisation. In: Ders./Janson, Dieter/Leser, Joachim (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> Das Ende<br />

des Suchens? S. 42–57<br />

• Guggenberger, Bernd/Offe, Claus: <strong>Politik</strong> aus <strong>der</strong> Basis – Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> parlamentarischen Mehrheitsdemokratie.<br />

In: Dies. (Hg.): An den Grenzen <strong>der</strong> Mehrheitsdemokratie. S. 8–21<br />

• Guggenberger, Bernd/Janson, Dieter/Leser, Joachim (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> Das Ende des Suchens? – E<strong>in</strong>e<br />

Zwischenbilanz. Edition Isele, Egg<strong>in</strong>gen 1992<br />

• Guggenberger, Bernd/Meier, Andreas (Hg.): Der Souverän auf <strong>der</strong> Nebenbühne – Essays und Zwischenrufe zur<br />

deutschen Verfassungsdiskussion. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994<br />

• Guggenberger, Bernd/Offe, Claus (Hg.): An den Grenzen <strong>der</strong> Mehrheitsdemokratie. Westdeutscher Verlag, Opladen<br />

1984<br />

• Gurvitch, Georges: Dialektik und Soziologie. Luchterhand, Neuwied 1965<br />

• Gurvitch, Georges: Grundzüge <strong>der</strong> Soziologie des Rechts. Luchterhand, Neuwied 1960<br />

• Gurvitch, Georges (Hg.): La physiologie sociale – Œuvres choisies de C.-H. De Sa<strong>in</strong>t Simon. Presses Universitaires<br />

de France, Paris 1965<br />

• Habermas, Jürgen: Dialektik <strong>der</strong> Rationalisierung. In: Ders.: Die neue Unübersichtlichkeit. S. 167–208<br />

• Habermas, Jürgen: Die E<strong>in</strong>beziehung des An<strong>der</strong>en – Studien zur politischen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt 1996<br />

• Habermas, Jürgen: Die Krise des Wohlfahrtsstaat und die Erschöpfung <strong>der</strong> utopischen Energien. In: <strong>der</strong>s.: Die<br />

neue Unübersichtlichkeit. S. 141–163<br />

• Habermas, Jürgen: Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt. In: Ders.: Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt.<br />

S. 32–54<br />

• Habermas, Jürgen: Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt: Philosophisch-politische Aufsätze. Reclam, Leipzig<br />

1992<br />

• Habermas, Jürgen: Die neue Unübersichtlichkeit. Suhrkamp, Frankfurt 1985<br />

• Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Suhrkamp, Frankfurt 1988<br />

• Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. In: Ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. S. 146–168<br />

• Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik. Suhrkamp, Frankfurt 1991


118 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung – Beiträge zur Diskussion des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats.<br />

Suhrkamp, Frankfurt 1992<br />

• Habermas, Jürgen: Jenseits des Nationalstaats. In: Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Globalisierung. S. 67–84<br />

• Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Suhrkamp, Frankfurt 1973<br />

• Habermas, Jürgen: Moralbewußtse<strong>in</strong> und kommunikatives Handeln. Suhrkamp, Frankfurt 1983<br />

• Habermas, Jürgen: Praktische Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. In: Ders.: Theorie und Praxis.<br />

S. 336–358<br />

• Habermas, Jürgen: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. In: Ders..: Faktizität und Geltung. S. 632–659<br />

• Habermas, Jürgen: Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit – Untersuchungen zu e<strong>in</strong>er Kategorie <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft.<br />

Suhrkamp, Frankfurt 1990<br />

• Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Suhrkamp, Frankfurt 1968<br />

• Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. In: Ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹.<br />

S. 48–103<br />

• Habermas, Jürgen: Technischer Fortschritt und soziale Lebenswelt. In: Ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹.<br />

S. 104–119<br />

• Habermas, Jürgen: Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> Sozialtechnologie? – E<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Niklas Luhmann.<br />

In: Ders./Luhmann, Niklas: Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> Sozialtechnologie. S. 142–290<br />

• Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1981<br />

• Habermas, Jürgen: Theorie und Praxis – Sozialphilosophische Studien. Suhrkamp, Frankfurt 1978<br />

• Habermas, Jürgen: Verwissenschaftlichte <strong>Politik</strong> und öffentliche Me<strong>in</strong>ung. In: Ders.: Technik und Wissenschaft<br />

als ›Ideologie‹. S. 120–145<br />

• Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt<br />

1984<br />

• Habermas, Jürgen: Was heißt Universalpragmatik? In: Ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des<br />

kommunikativen Handelns. S. 353–440<br />

• Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> Sozialtechnologie – Was leistet die Sysetmforschung?<br />

Suhrkamp, Frankfurt 1971<br />

• Habicht, Christian: Cicero <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er. Verlag C. H. Beck, München 1990<br />

• Hacker, Alois: Stichwort BSE. Wilhelm Hyne Verlag, München 1996<br />

• Hagen, Johann J.: Politisierung des Rechts – Verrechtlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. In: Dimmel, Nikolaus/Noll, Alfred J.:<br />

<strong>Politik</strong> und Recht. S. 17–26<br />

• Hajer, Maarten A.: The Politics of Environmental Discourse – Ecological Mo<strong>der</strong>nization and the Policy Process.<br />

Clarendon Press, Oxford 1995<br />

• Halehmi, Zohar/Hommel, Keren/Avital, Oren: Electronic Commerce. Internet: http://techunix.technion.ac.il/~orena/ec<br />

• Hall, Stuart/Held, David/McGrew, Anthony (Hg.): Mo<strong>der</strong>nity and Its Futures. Polity Press, Cambridge 1992<br />

• Hannertz, Ulf: Cosmopolitans and Locals <strong>in</strong> World Culture. In: Featherstone, Mike (Hg.): Global Culture. S. 237–252<br />

• Harraway, Donna J.: A Cyborg Manifesto – Science, Technology, and Socialist-Fem<strong>in</strong>ism <strong>in</strong> the Late Twentieth<br />

Century. In: Dies.: Simians, Cyborgs, and Women. S. 149–181<br />

• Harraway, Donna J.: Simians, Cyborgs, and Women – The Re<strong>in</strong>vention of Nature. Free Association Books, London<br />

1991<br />

• Hartfiel, Günter/Hillmann, Karl-He<strong>in</strong>z: Wörterbuch <strong>der</strong> Soziologie. Kröner, Stuttgart 1982<br />

• Hartey, John: The Politics of Pictures – The Creation of the Public <strong>in</strong> the Age of Popular Media. Routledge, London/New<br />

York 1992<br />

• Harvey, David: The Condition of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity – An Equiry <strong>in</strong>to the Orig<strong>in</strong>s of Cultural Change. Blackwell,<br />

Oxford/Cambridge 1989<br />

• Hassan, Ihab: Culture, Indeterm<strong>in</strong>acy, and Immanence – Marg<strong>in</strong>s of the (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n) Age. In: Ders.: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n<br />

Turn. S. 46–83<br />

• Hassan, Ihab: Pluralism <strong>in</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Perspective. In: Ders.: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Turn. S. 167–187<br />

• Hassan, Ihab: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne heute. In: Welsch, Wolfgang: Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ene. S. 47–56<br />

• Hassan, Ihab: POSTmo<strong>der</strong>nISM – A Paracritical Bibliography. In: Ders.: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Turn. S. 25–45<br />

• Hassan, Ihab: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Turn – Essays <strong>in</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Theory and Culture. Ohio State University Press,<br />

Ohio 1987<br />

• Hassan, Ihab: Toward a Concept of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. In: Ders.: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Turn. S. 84–96<br />

• Haug, Wolfgang F.: Kritik <strong>der</strong> Warenästhetik. Suhrkamp, Frankfurt 1971<br />

• Hayes, Carlton J. H.: The Historical Evolution of Mo<strong>der</strong>n Nationalism. Macmillan, New York 1960<br />

• Heer, Friedrich: Mittelalter – Vom Jahr 1000 bis 1350 [Teil 1 und 2]. Deutscher Taschenbuch Verlag, München<br />

1977<br />

• Hegel, Georg W. F.: E<strong>in</strong>leitung <strong>in</strong> die Geschichte <strong>der</strong> Philosophie. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1940


B: LITERATURVERZEICHNIS 119<br />

• Hegel, Georg W. F.: Grundl<strong>in</strong>ien <strong>der</strong> Philosophie des Rechts. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1967<br />

• Hegel, Georg W. F.: Phänomenologie des Geistes. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1988<br />

• Hegel, Georg W. F.: Wissenschaft <strong>der</strong> Logik. 2 Bände, Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1975<br />

• Hegenbarth, Ra<strong>in</strong>er: Von <strong>der</strong> legislatorischen Programmierung zur Selbststeuerung <strong>der</strong> Verwaltung. In: Blankenburg,<br />

Erhard/Lenk, Klaus (Hg.): Organisation und Recht. S. 130–152<br />

• Heidegger, Mart<strong>in</strong>: Die Technik und die Kehre. Verlag Günther Neske, Pfull<strong>in</strong>gen 1962<br />

• Heidegger, Mart<strong>in</strong>: Se<strong>in</strong> und Zeit. Max Niemeyer Verlag, Tüb<strong>in</strong>gen 1993<br />

• Heidegger, Mart<strong>in</strong>: Über den Humanismus. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 1947<br />

• Heijl, Peter M.: Konstruktion <strong>der</strong> sozialen Konstruktion – Grundl<strong>in</strong>ien e<strong>in</strong>er konstruktivistischen Sozialtheorie. In:<br />

Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. S. 303–339<br />

• He<strong>in</strong>isch, Klaus (Hg.): Der utopische Staat. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1991<br />

• Heise, Arne: Der Mythos vom ›Sachzwang Weltmarkt‹ – Globale Konkurrenz und nationale Wohlfahrt. In: Internationale<br />

<strong>Politik</strong> und Gesellschaft. Heft 1/1996, S. 17–22<br />

• Heiß, Robert: Die großen Dialektiker des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts – Hegel, Kierkegaard, Marx. Kiepenheuer & Witsch,<br />

Köln/Berl<strong>in</strong> 1963<br />

• Heitmeyer, Wilhelm: Entsicherungen – Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse und Gewalt. In: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim,<br />

Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. S. 376–401<br />

• Heitmeyer, Wilhelm: Bundesrepublik Deutschland – Auf dem Weg von <strong>der</strong> Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1997<br />

• Held, David: Democracy and the Global Or<strong>der</strong> – From the Mo<strong>der</strong>n State to Cosmopolitan Governance. Polity<br />

Press, Cambridge 1995<br />

• Heller, Agnes: Can Mo<strong>der</strong>nity Survive? Politiy Press, Cambridge/Oxford 1990<br />

• Heller, Agnes: Existentialism, Alienation, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism – Cultural Movements as Vehicles of Change <strong>in</strong> the Patterns<br />

of Everyday Life. In: Milner, Andrew/Thompson, Philip/Worth, Chris (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Conditions. S. 1–13<br />

• Heller, Agnes: Hermeneutics of Social Science. In: Dies.: Can Mo<strong>der</strong>nity Survive? S. 11–42<br />

• Heller, Agnes/Fehér, Ferenc: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Political Condition. Polity Press, Cambridge 1988<br />

• Herbert, Gary B.: Thomas Hobbes’ Dialectics of Desire. In: New Scholasticism. Vol. 50 (1976), S. 137–163<br />

• Her<strong>der</strong>, Johann G.: Über den Ursprung <strong>der</strong> Sprache. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1965<br />

• Heuser, Uwe J.: Die Tiger werden erwachsen. In: Die Zeit. Ausgabe vom 10. Januar 1997, S. 23<br />

• Hilferd<strong>in</strong>g, Rudolf: Das F<strong>in</strong>anzkapital – E<strong>in</strong>e Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus. Europäische<br />

Verlagsanstalt, Frankfurt 1968<br />

• Hill, Andrew F.: The Same Prion Stra<strong>in</strong> Causes vCJD and BSE. In: Nature. Vol. 389 (1997), S. 448ff.<br />

• Hillstrom, Kev<strong>in</strong> (Hg.): Encyclopedia of American Industries. Gale Research Inc, New York u.a. 1994<br />

• Hirsch, Ernst E./Rehb<strong>in</strong><strong>der</strong>, Manfred (Hg.): Studien und Materialien zur Rechtssoziologie. Kölner Zeitschrift für<br />

Soziologie und Sozialpsychologie [Son<strong>der</strong>band 11], Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1967<br />

• Hirsch, Fred: Die sozialen Grenzen des Wachstums – E<strong>in</strong>e ökonomische Analyse <strong>der</strong> Wachstumskrise. Rowohlt,<br />

Re<strong>in</strong>bek 1980<br />

• Hirsch, Joachim: Der nationale Wettbewerbsstaat – Staat, Demokratie und <strong>Politik</strong> im globalen Kapitalismus. Edition<br />

ID-Archiv, Berl<strong>in</strong>/Amsterdam 1996<br />

• Hirst, Paul/Thompson, Grahame: Globalization <strong>in</strong> Question – The International Economy and the Impossibilities<br />

of Governance. Politiy Press, Camebridge 1996<br />

• Hitzler, Ronald: Wissen und Wesen des Experten. In: Ders./Honer, Anne/Mae<strong>der</strong>, Christoph (Hg.): Expertenwissen.<br />

S. 13–30<br />

• Hitzler, Ronald/Honer, Anne: Bastelexistenz – Über subjektive Konsequenzen <strong>der</strong> Individualisierung. In: Beck,<br />

Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. S. 307–315<br />

• Hitzler, Ronald/Honer, Anne/Mae<strong>der</strong>, Christoph (Hg.): Expertenwissen – Die <strong>in</strong>stitutionalisierte Kompetenz zur<br />

Konstruktion von Wirklichkeit. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994<br />

• Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela: Konsequenzen <strong>der</strong> Entgrenzung des Politischen – Existentielle Strategien<br />

am Beispiel ›Techno‹. In: Imhof, Kurt/Schulz, Peter (Hg.): Die Veröffentlichung des Privaten.<br />

• Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela: ›Let your body take control!‹ – Zur ethnographischen Kulturanalyse <strong>der</strong><br />

Techno-Szene. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki, W<strong>in</strong>fred (Hg.): Biographieforschung und Kulturanalyse. S. 75–92<br />

• Hobbes, Thomas: Leviathan. Reclam, Stuttgart 1992<br />

• Hobbes, Thomas: Leviathan [late<strong>in</strong>ische Fassung]. In: Ders.: Opera Lat<strong>in</strong>a. Band 3<br />

• Hobbes, Thomas: Opera Lat<strong>in</strong>a. 5 Bände, Scientia Verlag, Aalen 1961<br />

• Hobbes, Thomas: Vom Bürger [De Cive]. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1977<br />

• Hobbes, Thomas: Vom Körper [De Corpore]. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1967<br />

• Hobbes, Thomas: Vom Menschen [De Hom<strong>in</strong>e]. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1977<br />

• Hobsbawm, Eric: Nationen und Nationalismus – Mythos und Realität seit 1780. Campus, Franktfurt 1991


120 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Hörn<strong>in</strong>g, Karl H./Michailow, Matthias: Lebensstil als Vergesellschaftungsform – Zum Wandel von Sozialstruktur<br />

und sozialer Integration. In: Berger, Peter A./Hradil, Stefan (Hg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. S. 501–522<br />

• Hoffmann, Re<strong>in</strong>er: NAFTA – E<strong>in</strong> Freihandelsabkommen ohne soziale Dimension. In: Ders./Wannöffel, Manfred<br />

(Hg.): Soziale und ökologische Sackgassen ökonomischer Globalisierung. S. 241–254<br />

• Hoffmann, Re<strong>in</strong>er/Wannöffel, Manfred (Hg.): Soziale und ökologische Sackgassen ökonomischer Globalisierung<br />

– Das Beispiel NAFTA. Westfälisches Dampfboot, Münster 1995<br />

• Hoffmann, Wolfgang: ›Wahl zwischen zwei Übeln‹ – ZEIT-Gespräch mit dem Frankfurter Ökonomen Joachim Mitschke<br />

über Lohnsubventionen und Bürgergeld. In: Die Zeit. Ausgabe vom 3. Oktober (Nr. 41) 1997, S. 27<br />

• Holbach, Dietrich Freiherr von: Système de la nature ou des lois du monde physique et du monde moral. In<br />

Auszügen unter dem Titel ›Die Funktion religiöser Vorstellungen‹ <strong>in</strong>: Lenk, Kurt (Hg.): Ideologie. S. 57–60<br />

• Hollan<strong>der</strong>, Anna: Social Perspectives – Aspects of the Relationship Between General Welfare and Welfare for People<br />

with Special Needs <strong>in</strong> Sweden. In: Åkermann/Granatste<strong>in</strong> (Hg.): Welfare States <strong>in</strong> Trouble. S. 137–144<br />

• Holl<strong>in</strong>g, C. S.: The Resiliance of Terrestrial Ecosystems – Local Surprise and Global Change. In: Clark, William<br />

C./Munn, R. E. (Hg.): Susta<strong>in</strong>able Development of the Biosphere. S. 292–317<br />

• Holloway, John: Reform des Staates – Globales Kapital und nationaler Staat. In: Prokla. Heft 1/1993, S. 12–33<br />

• Holmsten, Georg: Rousseau. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1972<br />

• Holz-Bacha, Christa: Massenmedien und <strong>Politik</strong>vermittlung – Ist die Videomalaise-Hypothese e<strong>in</strong> adäquates Konzept?<br />

In: Jäckel, Peter/W<strong>in</strong>terhoff-Spurk, Peter (Hg.): <strong>Politik</strong> und Medien. S. 181–191<br />

• Honneth, Axel: Kritik <strong>der</strong> Macht – Reflexionsstufen e<strong>in</strong>er kritischen Gesellschaftstheorie. Suhrkamp, Frankfurt 1985<br />

• Honneth, Axel (Hg.): Kommunitarismus – E<strong>in</strong>e Debatte über die moralischen Grundlagen mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften.<br />

Campus, Frankfurt/New York 1993<br />

• Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie. In: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie. S. 205–259<br />

• Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie – Fünf Aufsätze. Fischer, Frankfurt 1992<br />

• Horkheimer, Max: Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft. Fischer, Frankfurt 1990<br />

• Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung. Fischer, Frankfurt 1994<br />

• Horwich, Arthur L./Weissman, Jonathan S.: Deadly Conformations – Prote<strong>in</strong> Misfold<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Prion Disease. In: Cell.<br />

Vol. 89 (1997), S. 499–510<br />

• Howe, Irv<strong>in</strong>g: Mass Society and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Fiction. In: Partisan Review. Heft 3/1959, S 420–436<br />

• Hradil, Stefan: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Sozialstruktur? – Zur empirischen Relevanz e<strong>in</strong>er ›mo<strong>der</strong>nen‹ Theorie sozialen Wandels.<br />

In: Berger, Peter A./Hradil, Stefan (Hg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. S. 125–150<br />

• Hradil, Stefan: Sozialstrukturanalyse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fortgeschrittenen Gesellschaft – Von Klassen und Schichten zu Lagen<br />

und Milieus. Leske+Budrich, Opladen 1987<br />

• Hradil, Stefan: Sozialstrukturelle Paradoxien und gesellschaftliche Mo<strong>der</strong>nisierung. In: Zapf, Wolfgang (Hg.): Die<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften. S. 361–369<br />

• Hucke, Jochen: E<strong>in</strong>schränkung und Erweiterung politischer Handlungsspielräume bei <strong>der</strong> Implementation von Recht.<br />

In: Blankenburg, Erhard/Lenk, Klaus (Hg.): Organisation und Recht. S. 81–97<br />

• Hübner, Kurt: Wissenschaftliche Vernunft und <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>ne. In: Koslowski, Peter/Spaemann, Robert/Löw, Re<strong>in</strong>hard<br />

(Hg.): Mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne? S. 63–78<br />

• Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. 10 Bände, Insel Verlag, Frankfurt/Leipzig 1991<br />

• Hudson, Wayne: Zur Frage postmo<strong>der</strong>ner Philosophie. In: Kamper, Dietmar/Reijen, Willem van (Hg.): Die unvollendete<br />

Vernunft. S. 122–156<br />

• Hughes, Thomas P.: Die Erf<strong>in</strong>dung Amerikas – Der technologische Aufstieg <strong>der</strong> USA seit 1870. C.H. Beck, München<br />

1991<br />

• Hughes, Thomas P.: Networks of Power – Electrification <strong>in</strong> Western Society, 1880–1930. The John Hopk<strong>in</strong>s University<br />

Press, Baltimore/London 1988<br />

• Hughes, Thomas P.: The Evolution of Large Technological Systems. In: Bijker, Wiebe E./Ders./P<strong>in</strong>ch, Trevor J.<br />

(Hg.): The Social Construction of Techological Systems. S. 51–82<br />

• Hunt<strong>in</strong>gton, C. W.: The Empt<strong>in</strong>ess of Empt<strong>in</strong>ess – An Introduction to Early Indian Madhyamika. University of<br />

Hawai Press, Honolulu 1989<br />

• Hunt<strong>in</strong>gton, Samuel P.: The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs. Heft 3/1993, S. 22–49<br />

• Hunt<strong>in</strong>gton, Samuel P.: Konservatismus als Ideologie. In: Schumann, Hans-Gerd (Hg.): Konservatismus. S. 89–111<br />

• Husserl, Edmund: Die Transzendenz des Alter Ego gegenüber <strong>der</strong> Transzendenz des D<strong>in</strong>ges – Absolute Monadologie<br />

als Erweiterung <strong>der</strong> transzendentalen Egologie: Absolute Welt<strong>in</strong>terpretation. In: Breda, H. L. van/Ijsselig, Samuel<br />

(Hg.): Husserliana. Band XIV [Zur Phänomenologie <strong>der</strong> Intersubjektivität, Teil 2], S. 244–255<br />

• Husserl, Edmund: Konstitution <strong>der</strong> e<strong>in</strong>heitlichen Zeit und e<strong>in</strong>heitlich-objektiven Welt durch E<strong>in</strong>fühlung. In: Breda,<br />

H. L. van/Ijsselig, Samuel (Hg.): Husserliana. Band XV [Zur Phänomenologie <strong>der</strong> Intersubjektivität, Teil 3], S.<br />

331–336


B: LITERATURVERZEICHNIS 121<br />

• Husserl, Edmund: Konstitution <strong>der</strong> <strong>in</strong>termonadischen Zeit – Wie<strong>der</strong>er<strong>in</strong>nerung und E<strong>in</strong>führung. In: Breda, H. L.<br />

van/Ijsselig, Samuel (Hg.): Husserliana. Band XV [Zur Phänomenologie <strong>der</strong> Intersubjektivität, Teil 3], S. 332–350<br />

• Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie des <strong>in</strong>neren Zeitbewußtse<strong>in</strong>s. In: Breda, H. L. van/Ijsselig, Samuel (Hg.):<br />

Husserliana. Band X<br />

• Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Zeichen e<strong>in</strong>es kulturellen Wandels. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek<br />

1986<br />

• Huyssen, Andreas: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong>e amerikanische Internationale? In: Ders./Scherpe, Klaus: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne.<br />

S. 13–44<br />

• Ignor, Alexan<strong>der</strong>: Abschied von <strong>der</strong> Antike – Aurelius August<strong>in</strong>us. In: Adomeit, Klaus: Antike Denker über den<br />

Staate. S. 167–203<br />

• Inglehart, Ronald: Kultureller Umbruch – Wertewandel <strong>in</strong> <strong>der</strong> westlichen Welt. Campus, Frankfurt/New York 1989<br />

• Inglehart, Ronald: Mo<strong>der</strong>nization and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nization. Pr<strong>in</strong>ceton University Press, Pr<strong>in</strong>ceton 1997<br />

• Inglehart, Ronald: The Silent Revolution <strong>in</strong> Europe – Intergenerational Change <strong>in</strong> <strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrial Societies. In: American<br />

Political Science Review. Vol. 65 (1971), S. 991–1017<br />

• Illich, Ivan: Entmündigende Expertenherrschaft. In: Ders. u.a.: Entmündigung durch Experten. S. 7–35<br />

• Illich, Ivan u.a.: Entmündigung durch Experten – Zur Kritik <strong>der</strong> Dienstleistungsberufe. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1983<br />

• Imhof, Kurt/Schulz, Peter (Hg.): Die Veröffentlichung des Privaten. Seismo Verlag, Zürich (im Ersche<strong>in</strong>en)<br />

• Ipsen, Jörn (Hg.): Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Private F<strong>in</strong>anzierung kommunaler Investitionen (4. Bad<br />

Iburger Gespräche – Symposium des Instituts für Kommunalrecht <strong>der</strong> Universität Osnabrück am 15. September<br />

1993). Carl Heymanns Verlag, Köln u.a. 1994<br />

• Irw<strong>in</strong>, Alan: Citizen Science – A Study of Peolple, Expertise and Susta<strong>in</strong>able Development. Routledge, London/New<br />

York 1995<br />

• Irw<strong>in</strong>, Alan: Risk and the Controll of Technology – Public Politics for Road Traffic Safety <strong>in</strong> Brita<strong>in</strong> and the United<br />

States. Manchester University Press, Manchester 1985<br />

• Isensee, Josef: Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und <strong>Politik</strong>. In: Piazolo, Michael (Hg.): Das Bundesverfassungsgericht.<br />

S. 49–60<br />

• Iss<strong>in</strong>g, Otmar (Hg.): Geschichte <strong>der</strong> Nationalökonomie. Verlag Franz Vahlen, München 1994<br />

• Jacobs, Wilhelm G. (Hg.): Johann Gottlieb Fichte – Schriften zur Wissenschaftslehre [Werke, Band I]. Deutscher<br />

Klassiker Verlag, Frankfurt 1997<br />

• Jacobson, Harold K.: Networks of Interdependence – International Organisations and the Global Political System.<br />

Alfred A. Knopf, New York 1984<br />

• Jäckel, Peter: Auf dem Weg zur Informationsgesellschaft? – Informationsverhalten und die Folgen <strong>der</strong> Informationskonkurrenz.<br />

In: Ders./W<strong>in</strong>terhoff-Spurk, Peter (Hg.): <strong>Politik</strong> und Medien. S. 11–33<br />

• Jäckel, Michael/W<strong>in</strong>terhoff-Spurk, Peter (Hg.): <strong>Politik</strong> und Medien – Analysen zur Entwicklung <strong>der</strong> politischen<br />

Kommunikation. Vistas Verlag, Berl<strong>in</strong> 1994<br />

• Jähnig, Ra<strong>in</strong>er: Freuds Dezentrierung des Subjekts im Zeichen <strong>der</strong> Hermeneutiken Ricœurs und Lacans. AV-Verlag,<br />

Augsburg 1987<br />

• Ja<strong>in</strong>, Anil K.: Die globale Klasse. In: Wi<strong>der</strong>spruch. Heft 34 (1999), S. 80–84 sowie Internet: www.powerxs.de/agora/globale_klasse.html<br />

• Ja<strong>in</strong>, Anil K.: Marx’ Gespenster und die Illusionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – E<strong>in</strong>e virtuelle Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Jacques<br />

Derrida und Terry Eagleton. In: HP – Zeitschrift <strong>der</strong> Historiker und Politologen an <strong>der</strong> Universität München. Ausgabe<br />

7 (1998), S. 63ff. sowie Internet: www.power-xs.de/agora/marx-gespenster.html<br />

• Ja<strong>in</strong>, Anil K.: Shivas Tanz auf dem Vulkan – Genese und Entwicklung des H<strong>in</strong>du-Nationalismus <strong>in</strong> Indien. Internet:<br />

www.power-xs.de/agora/shivas_tanz.html<br />

• Jameson, Fredric: Late Marxism – Adorno, or, The Persistence of the Dialectic. Verso, London/New York 1990<br />

• Jameson, Fredric: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Zur Logik <strong>der</strong> Kultur im Spätkapitalismus. In: Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus<br />

(Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. S. 45–102<br />

• Jameson, Fredric: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Utopie. In: Weimann, Robert/Gumbrecht, Ulrich (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. S.<br />

73–109<br />

• Jameson, Fredric: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Verso, London/New York 1991<br />

• Jarchow, Hans-Joachim: Der Keynesianismus. In: Iss<strong>in</strong>g, Otmar (Hg.): Geschichte <strong>der</strong> Nationalökonomie. S. 193–213<br />

• Jencks, Charles: Die Sprache <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Architektur. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.<br />

S. 85–94<br />

• Joedicke, Jürgen: Architekturgeschichte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Verlag Karl Krämer, Stuttgart 1990


122 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Joerges, Bernward: Große technische Systeme. In: Bechmann, Gotthard/Rammert, Werner (Hg.): Technik und<br />

Gesellschaft – Jahrbuch 6. S. 40–72<br />

• Joerges, Bernward: Large Technical Systems – Concepts and Issues. In: Mayntz, Renate/Hughes, Thomas P. (Hg.):<br />

The Development of Large Technical Systems. S. 9–36<br />

• Johnson, Hazel J.: Dispell<strong>in</strong>g the Myth of Globalization – The Case for Regionalization. Praeger Publishers, New<br />

York/Westport/London 1991<br />

• Johnson, Richard T.: Real and Theoretical Threats to Human Health Posed by the Epidemic of Bov<strong>in</strong>e Spongiform<br />

Encephalopathy. In: Gibbs, Clarence J. (Hg.): Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy. S. 359–363<br />

• Jonas, Hans: Das Pr<strong>in</strong>zip Verantwortung – Versuch e<strong>in</strong>er Ethik für die technologische Zivilisation. Insel, Frankfurt<br />

1979<br />

• Kairys, David (Hg.): The Politics of Law – A Progressive Critique. Pantheon Books, New York 1982<br />

• Kalter, Johannes: Die materielle Kultur <strong>der</strong> Massai und ihr Wandel. Bremer Afrika-Archiv (Band 4), Bremen 1978<br />

• Kamlah, Wilhelm: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie – Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum<br />

futuristischen Denken <strong>der</strong> Neuzeit. Bibliographisches Institut, Mannheim/Wien/Zürich 1969<br />

• Kamper, Dietmar: Aufklärung – was sonst? E<strong>in</strong>e dreifache Polemik gegen ihre Verteidiger. In: Ders./Reijen, Willem<br />

van (Hg.): Die unvollendete Vernunft. S. 37–45<br />

• Kamper, Dietmar: Medienimmanenz und transzendentale Körperlichkeit – Acht Merkposten für e<strong>in</strong>e postmediale<br />

Zukunft. In: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien und Öffentlichkeit. S. 355–360<br />

• Kamper, Dietmar: Nach <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. In: Welsch, Wolfgang: Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – Schlüsseltexte <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-<br />

Diskussion. S. 162–174<br />

• Kamper, Dietmar/Reijen, Willem van (Hg.): Die unvollendete Vernunft – Mo<strong>der</strong>ne versus <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1987<br />

• Kant, Immanuel: Ausgewählte kle<strong>in</strong>e Schriften. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1969<br />

• Kant, Immanuel: Beantwortung <strong>der</strong> Frage: Was ist Aufklärung? In: Ders.: Ausgewählte kle<strong>in</strong>e Schriften. S. 1–9<br />

• Kant, Immanuel: Grundlegung <strong>der</strong> Metaphysik <strong>der</strong> Sitten. In: Cassirer, Ernst (Hg.): Immanuel Kants Werke. Band<br />

IV, S. 241–324<br />

• Kant, Immanuel: Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft. In: Cassirer, Ernst (Hg.): Immanuel Kants Werke. Band III. Berl<strong>in</strong> 1922<br />

• Kant, Immanuel: Rechtslehre. In: Cassirer, Ernst (Hg.): Immanuel Kants Werke. Band VII, S. 3–180<br />

• Kant, Immanuel: Über den Geme<strong>in</strong>spruch – Das mag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie richtig se<strong>in</strong>, taugt aber nicht für die Praxis.<br />

In: Cassirer, Ernst (Hg.): Immanuel Kants Werke. Band VI. S. 355–398<br />

• Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden – E<strong>in</strong> philosophischer Entwurf. Felix Me<strong>in</strong>er Verlag, Hamburg 1992<br />

• Kapste<strong>in</strong>, Ethan B.: Workers and the World Economy. In: Foreign Affairs. Heft 3/1996, S. 16–37<br />

• Katzek, Jens: Gentechnik im Lebensmittelbereich. Internet: www.gsf.de/OA/higen2.html<br />

• Kaulbach, Friedrich: Kants Idee <strong>der</strong> transzendentalen Dialektik. In: Becker, Werner/Essler, Wilhelm K. (Hg.): Konzepte<br />

<strong>der</strong> Dialektik. S. 5–25<br />

• Keane, John: Democracy and Civil Society – On the Predicaments of European Socialism, the Prospects for Democracy,<br />

and the Problem of Controll<strong>in</strong>g Social and Political Power. Verso, London/New York 1988<br />

• Kehlsen, Hans: Re<strong>in</strong>e Rechtslehre. Verlag Franz Deuticke, Wien 1960<br />

• Keilhauer, Anneliese: H<strong>in</strong>duismus. Indoculture Verlag, Stuttgart 1986<br />

• Keohane, Robert O.: After Hegemony – Cooperation and Discord <strong>in</strong> the World Political Economy. Pr<strong>in</strong>ceton University<br />

Press, Pr<strong>in</strong>ceton 1984<br />

• Kerckhove, Derrick de: Jenseits des Globalen Dorfes – Infragestellung <strong>der</strong> Öffentlichkeit. In: Maresch, Rudolf (Hg.):<br />

Medien und Öffentlichkeit. S. 135–148<br />

• Kerst<strong>in</strong>g, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt<br />

1994<br />

• Kerst<strong>in</strong>g, Wolfgang: Thomas Hobbes zur E<strong>in</strong>führung. Junius, Hamburg 1992<br />

• Kettle, Mart<strong>in</strong>: Als wäre <strong>der</strong> Krieg ausgebrochen… – Englands Konservative nehmen die R<strong>in</strong>dfleischkrise zum Vorwand,<br />

um den Nationalismus auf <strong>der</strong> Insel neu zu beleben. In: Die Zeit. Ausgabe vom 31. Mai (Nr. 23) 1996, S. 8<br />

• Keupp, He<strong>in</strong>er: Auf <strong>der</strong> Suche nach <strong>der</strong> verlorenen Identität. In: Ders./Bilden, Helga (Hg.): Verunsicherungen.<br />

S. 47–69<br />

• Keupp, He<strong>in</strong>er: Grundzüge e<strong>in</strong>er reflexiven Sozialpsychologie – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Perspektiven. In: Ders. (Hg.): Zugänge<br />

zum Subjekt. S. 226–274<br />

• Keupp, He<strong>in</strong>er: Identitätsentwürfe zwischen postmo<strong>der</strong>ner Diffusität und <strong>der</strong> Suche nach Fundamenten. In: Giernalczyk,<br />

Thomas/Freitag, Regula (Hg.): Qualitätsmanagement von Krisen<strong>in</strong>tervention und Suizidprävention. S. 13–45<br />

• Keupp, He<strong>in</strong>er (Hg.): Zugänge zum Subjekt – Perspektiven e<strong>in</strong>er reflexiven Sozialpsychologie. Suhrkamp, Frankfurt<br />

1994


B: LITERATURVERZEICHNIS 123<br />

• Keupp, He<strong>in</strong>er/Bilden, Helga (Hg.): Verunsicherungen – Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel. Hofgrefe, Gött<strong>in</strong>gen<br />

1989<br />

• Keupp, He<strong>in</strong>er/Höfer, Renate (Hg.): Identitätsarbeit heute – Klassische und aktuelle Perspektiven <strong>der</strong> Identitätsforschung.<br />

Suhrkamp, Frankfurt 1997<br />

• Kierkegaard, Søren: Der Begriff Angst – E<strong>in</strong>e simple psychologisch-h<strong>in</strong>weisende Erörterung <strong>in</strong> Richtung des dogmatischen<br />

Problems <strong>der</strong> Erbsünde. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1991<br />

• K<strong>in</strong>gsley, Donal J.: Representative Bureaucracy – An Interpretation of the British Civil Service. The Antioch Press,<br />

Yellow Spr<strong>in</strong>gs 1944<br />

• Kirchheimer, Otto: Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus. In: Luthardt, Wolfgang (Hg.): Otto Krichheimer.<br />

S. 32–52<br />

• Kizer, John B.: The Browser War. Internet: http://pages.zoomnet.net/~jkizer/browser.html<br />

• Klages, Helmut: Werteorientierungen im Wandel – Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen. Campus, Frankfurt/New<br />

York 1985<br />

• Kle<strong>in</strong>, Gisela: The Technocrats – Rückblick auf die Technokratiebewegung <strong>in</strong> den USA. In: Lenk, Hans (Hg.):<br />

Technokratie als Ideologie – Sozialphilosophische Beiträge zu e<strong>in</strong>em politischen Dilemma. S. 45–57<br />

• Kle<strong>in</strong>, Richard: Das Staatsdenken <strong>der</strong> Römer. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1966<br />

• Kle<strong>in</strong><strong>in</strong>g, Gerhard: Angst als Ideologie. In: Wiesbrock, He<strong>in</strong>z (Hg.): Die politische und gesellschaftliche Rolle <strong>der</strong><br />

Angst. S. 194–216<br />

• Klotz, He<strong>in</strong>rich: Kunst im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t: Mo<strong>der</strong>ne – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Zweite Mo<strong>der</strong>ne. Verlag C. H. Beck,<br />

München1994<br />

• Klotz, He<strong>in</strong>rich: Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. S. 99–109<br />

• Knieper, Rolf: Nationale Souveränität – Versuch über Ende und Anfang e<strong>in</strong>er Weltordnung. Fischer, Frankfurt 1991<br />

• Knorr-Cet<strong>in</strong>a, Kar<strong>in</strong>: Die Fabrikation von Erkenntnis – Zur Anthropologie <strong>der</strong> Naturwissenschaften. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1984<br />

• Knorr-Cet<strong>in</strong>a, Kar<strong>in</strong>: The Ethnographic Study of Scientific Work – Towards a Constructivist Interpretation of Science.<br />

In: Dies./Mulkay, Michael (Hg.): Science Observed. S. 115–140<br />

• Knorr-Cet<strong>in</strong>a, Kar<strong>in</strong>/Cicourel, Aaron V. (Hg.): Advances <strong>in</strong> Social Theory and Methodology – Toward an Integration<br />

of Micro- and Macro-Sociology. Routledge & Kegan Paul Ltd., London u.a. 1981<br />

• Knorr-Cet<strong>in</strong>a, Kar<strong>in</strong>/Mulkay, Michael (Hg.): Science Observed – Perspectives on the Social Study of Science. Sage<br />

Publications, London/Beverly Hills/New Delhi 1983<br />

• Koch, Claus/Senghaas, Dieter (Hg.): Texte zur Technokratiediskussion. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1970<br />

• Kocka, Jürgen: Organisierter Kapitalismus o<strong>der</strong> Staatsmonopolistischer Kapitalismus? – Begriffliche Vorbemerkungen.<br />

In: W<strong>in</strong>kler, He<strong>in</strong>rich A. (Hg.): Organisierter Kapitalismus. S. 19–35<br />

• Köhler, Michael: ›<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus‹ – E<strong>in</strong> begriffsgeschichtlicher Überblick. In: Amerikastudien. Heft 1/1977, S.<br />

8–18<br />

• König, Werner: dtv-Atlas zur deutschen Sprache. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1983<br />

• Köllmann, Wolfgang: Bevölkerung und <strong>in</strong>dustrielle Revolution. Vandenhoeck & Ruprecht, Gött<strong>in</strong>gen 1974<br />

• Koepp<strong>in</strong>g, Klaus-Peter: Authentizität als Selbstf<strong>in</strong>dung durch den an<strong>der</strong>en: Ethnologie zwischen Engagement und<br />

Reflexion, zwischen Leben und Wissenschaft. In: Dürr, Hans Peter (Hg.): Authentizität und Betrug <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ethnologie.<br />

S. 7–37<br />

• Köster-Lösche, Kari: R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n – BSE: Die neue Gefahr aus dem Kochtopf. Ehrenwirth Verlag, München<br />

1996<br />

• Kohut, He<strong>in</strong>z: Introspektion, Empathie und Psychoanalyse. Suhrkamp, Frankfurt 1977<br />

• Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Deutscher Taschenbuch Verlag/Klett-<br />

Cotta, München 1986<br />

• Kool, Frits/Krause, Werner (Hg.): Die frühen Sozialisten. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1972<br />

• Korte, Herman/Schäfers, Bernhard (Hg.): E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Hauptbegriffe <strong>der</strong> Soziologie. Leske+Budrich, Opladen<br />

1995<br />

• Koslowski, Peter: Die Baustellen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Wi<strong>der</strong> den Vollendungszwang <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. In: Koslowski,<br />

Peter/Spaemann, Robert/Löw, Re<strong>in</strong>hard (Hg.): Mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne? S. 1–16<br />

• Koslowski, Peter: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Kultur. Verlag C. H. Beck, München 1988<br />

• Koslowski, Peter/Spaemann, Robert/Löw, Re<strong>in</strong>hard (Hg.): Mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne? – Zur Signatur des gegenwärtigen<br />

Zeitalters. Acta humaniora, We<strong>in</strong>heim 1986<br />

• Kraus, Wolfgang: Das erzählte Selbst – Die narrative Konstruktion von Identität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Spätmo<strong>der</strong>ne. Centaurus,<br />

Pfaffenweiler 1996<br />

• Kreckel, Re<strong>in</strong>hard: Politische Soziologie <strong>der</strong> sozialen Ungleichheit. Campus, Frankfurt/New York 1992<br />

• Kreckel, Re<strong>in</strong>hard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt [Son<strong>der</strong>band 2], Gött<strong>in</strong>gen 1983


124 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Krempel, Stefan: Das Phänomen Berlusconi – Die Verstrickung von <strong>Politik</strong>, Medien, Wirtschaft und Werbung.<br />

Verlag Peter Lang, Frankfurt 1996<br />

• Kress, Gisela/Senghaas, Dieter (Hg.): <strong>Politik</strong>wissenschaft – E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> ihre Probleme. Europäische Verlagsanstalt,<br />

Frankfurt 1969<br />

• Kroeber-Riel, Werner: Informationsüberlastung durch Massenmedien und Werbung <strong>in</strong> Deutschland – Messung,<br />

Interpretation, Folgen. In: Die Betriebswirtschaft. Heft 3/1987, S. 257–264<br />

• Krönig, Jürgen: Ohne S<strong>in</strong>n und Verstand. In: Die Zeit. Ausgabe vom 28. März (Nr. 14) 1997, S. 29<br />

• Krönig, Jürgen: Orgiastische Beschwörung nationaler Leidenschaft – Die englische Presse schürt die Angst vor den<br />

Deutschen, um den Wi<strong>der</strong>stand gegen Europa zu stärken. In: Die Zeit. Ausgabe vom 28. Juni (Nr. 27) 1996, S.<br />

45<br />

• Krohne, He<strong>in</strong>z W.: Theorien zur Angst. Kohlhammer, Stuttgart u.a. 1981<br />

• Kübler, Friedrich (Hg.): Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität – Vergleichende Analysen.<br />

Suhrkamp, Frankfurt 1985<br />

• Küchler, Tilman: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Gam<strong>in</strong>g – Heidegger, Duchamp, Derrida. Peter Lang, New York u.a. 1994<br />

• Kuhn, Thomas: The Structure of Scientific Revolutions. The University of Chicago Press, Chicago 1970<br />

• Kulke, Hermann/Rothermund, Dietmar: Geschichte Indiens. Kohlhammer, Stuttgart 1982<br />

• Kunnemann, Harry/Vries, Hent de (Hg.): Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung – Zwischen Mo<strong>der</strong>ne und<br />

<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Campus, Frankfurt/New York 1989<br />

• Kunzmann, Peter/Burkhard, Franz-Peter/Wiedmann, Franz: dtv-Atlas zur Philosophie. Deutscher Taschenbuch<br />

Verlag, München 1992<br />

• Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie – Zur Dekonstruktion des Marxismus. Passagen<br />

Verlag, Wien 1989<br />

• Ladeur, Karl-He<strong>in</strong>z: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Rechtstheorie: Selbstreferenz – Selbstorganisation – Prozeduralisierung. Duncker<br />

& Humblot, Berl<strong>in</strong> 1995<br />

• Lakatos, Imre: Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme. In: Ders./Musgrave,<br />

Alan (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. S. 89–189<br />

• Lakatos, Imre/Musgrave, Alan (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Vieweg, Braunschweig 1974<br />

• Lambert, Rob/Caspersz, Donella: International Labour Standards – Challeng<strong>in</strong>g Globalization Ideology? In: The<br />

Pacific Review. Heft 4/1995, S. 569–588<br />

• Langer, Rita: So heilt Homöopathie – Mediz<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> Natur. Manfred Pawlak Verlagsgesellschaft, Herrsch<strong>in</strong>g<br />

1989<br />

• Lappé, Frances M.: Politics for a Troubled Planet – Toward a <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Democratic Culture. In: Griff<strong>in</strong>, David<br />

Ray/Falk, Richard (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Politics for a Planet <strong>in</strong> Crisis. S. 163–180<br />

• Larrabee, Eric/Meyersohn, Rolf (Hg.): Mass Leisure. The Free Press, Glencoe 1958<br />

• Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzißmus. Ste<strong>in</strong>hausen Verlag, München 1980<br />

• Lash, Scott: Another Mo<strong>der</strong>nity – A Different Rationality. Blackwell, Oxford/Cambridge 1999<br />

• Lash, Scott: Ästhetische Dimension Reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung. In: Soziale Welt. Heft 3/1992, S. 261–277<br />

• Lash, Scott: Reflexivität und ihre Doppelungen – Struktur, Ästhetik und Geme<strong>in</strong>schaft. In: Beck, Ulrich/Giddens,<br />

Anthony/Ders.: Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung. S. 195–286<br />

• Lash, Scott: Sociology of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. Routledge, London/New York 1990<br />

• Lash, Scott/Urry, John: Economies of Signs and Space. Sage Publications, London/Thousand Oaks/New Delhi<br />

1994<br />

• Lash, Scott/Urry, John: The End of Organized Capitalism. The University of Wiscons<strong>in</strong> Press, Madison 1987<br />

• Lash, Scott/Friedman, Jonathan (Hg.): Mo<strong>der</strong>nity and Identity. Blackwell, Oxford/Cambridge 1992<br />

• Laski, Harold J.: Der Aufstieg des europäischen Liberalismus. In: Gall, Lothar (Hg.): Liberalismus. S. 122–133<br />

• Lassalle, Ferd<strong>in</strong>and: Das System <strong>der</strong> erworbenen Rechte (Vorrede). In: Reich, Norbert (Hg.): Marxistische und<br />

sozialistische Rechtstheorie. S. 25–32<br />

• Latouche, Serge: Die Verwestlichung <strong>der</strong> Welt – Essay über die Bedeutung, den Fortgang und die Grenzen <strong>der</strong><br />

Zivilisation. Dipa-Verlag, Frankfurt 1994<br />

• Latour, Bruno: Aramis or the Love of Technology. Harvard University Press, Cambridge/London 1996<br />

• Latour, Bruno: Pasteur – Une science, un style, un siècle. Perr<strong>in</strong>/Institut Pasteur, Paris 1994<br />

• Latour, Bruno: Technology is Society Made Durable. In: Law, John: A Sociology of Monsters. S. 103–131<br />

• Latour, Bruno: Science <strong>in</strong> Action – How to Follow Scientists and Eng<strong>in</strong>eers Through Society. Harvard University<br />

Press, Cambridge 1987<br />

• Latour, Bruno: Wir s<strong>in</strong>d nie mo<strong>der</strong>n gesewen – Versuch e<strong>in</strong>er symmetrischen Anthropologie. Akademie Verlag,<br />

Berl<strong>in</strong> 1995


B: LITERATURVERZEICHNIS 125<br />

• Latour, Bruno/Bastide, Françoise: Writ<strong>in</strong>g Science – Fact and Fiction: The Analysis of the Process of Reality Construction<br />

Through the Application of Socio-Semiotic Methods to Scientific Texts. In: Callon, Michel/Law, John/Rip, Arie<br />

(Hg.): Mapp<strong>in</strong>g the Dynamics of Science and Technology. S. 51–66<br />

• Law, John: Laboratories and Texts. In: Callon, Michel/Ders./Rip, Arie (Hg.): Mapp<strong>in</strong>g the Dynamics of Science<br />

and Technology. S. 35–50<br />

• Law, John: Monsters, Mach<strong>in</strong>es and Sociotechnical Relations. In: Ders. (Hg.): A Sociology of Monsters. S. 1–23<br />

• Law, John: Power, Discreation and Strategy. In: Ders. (Hg.): A Sociology of Monsters. S. 165–191<br />

• Law, John (Hg.): A Sociology of Monsters – Essays on Power, Technology and Dom<strong>in</strong>ation. Routledge, London/New<br />

York 1991<br />

• Lazarsfeld, Paul F./Berelson, Bernard/Gaudet, Hazel: Wahlen und Wähler – Soziologie des Wahlverhaltens. Luchterhand,<br />

Neuwied/Berl<strong>in</strong> 1969<br />

• Lazarus, Richard S./Averill, James R.: Emotion and Cognition – With Special Reference to Anxiety. In: Spielberger,<br />

Charles D. (Hg.): Anxiety. Band 2, S. 241–282<br />

• Lazmézas, Cor<strong>in</strong>ne I. et al.: Transmission of the BSE Agent to Mice <strong>in</strong> the Absence of Detectable Abnormal Prion<br />

Prote<strong>in</strong>. In: Science. Vol. 275 (1997), S. 402ff.<br />

• Leggewie, Klaus: Fuzzy Politics – Weltgesellschaft, Multikulturalismus und Vergleichende <strong>Politik</strong>wissenschaft. In:<br />

Ders. (Hg.): Wozu <strong>Politik</strong>wissenschaft? S. 120–131<br />

• Leggewie, Klaus (Hg.): Wozu <strong>Politik</strong>wissenschaft? – Über das Neue <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Wissenschaftliche Buchgesellschaft,<br />

Darmstadt 1994<br />

• Lefort, Claude/Gauchet, Marcel: Über die Demokratie – Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen.<br />

In: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. S. 89–122<br />

• Leibfried, Stephan/Rieger, Elmar: Wohlfahrtsstaat und Globalisierung – O<strong>der</strong> vom E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> den Ausstieg aus<br />

<strong>der</strong> Weltwirtschaft? In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Heft 3/1996, S. 217–221<br />

• Le<strong>in</strong>er, Barry M. u.a: A Brief History of the Internet. Internet: www.isoc.org/<strong>in</strong>ternet-history<br />

• Leiser<strong>in</strong>g, Lutz: Zwischen Verdrängung und Dramatisierung – Zur Wissenssoziologie <strong>der</strong> Armut <strong>in</strong> <strong>der</strong> bundesrepublikanischen<br />

Gesellschaft. In: Soziale Welt. Jahrgang 44 (1993), S. 486–511<br />

• Lepsius, Ra<strong>in</strong>er M.: Parteiensystem und Sozialstruktur – Zum Problem <strong>der</strong> Demokratisierung <strong>der</strong> deutschen Gesellschaft.<br />

In: Ritter, Gerhard A. (Hg.): Deutsche Parteien vor 1918. S. 56–80<br />

• Len<strong>in</strong>, Wladimir I.: Was tun? Verlag Neuer Weg, Berl<strong>in</strong> 1946<br />

• Lenk, Hans (Hg.): Technokratie als Ideologie – Sozialphilosophische Beiträge zu e<strong>in</strong>em politischen Dilemma.<br />

Kohlhammer, Stuttgart u.a. 1973<br />

• Lenk, Kurt (Hg.): Ideologie – Ideologiekritik und Wissenssoziologie. Campus, Frankfurt 1984<br />

• Lenski, Gerhard: Macht und Privileg – E<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong> sozialen Schichtung. Suhrkamp, Frankfurt 1973<br />

• Leonhard, Wolfgang: Eurokommunismus – Herausfor<strong>der</strong>ung für Ost und West. C. Bertelsmann Verlag, München<br />

1978<br />

• Leontovitsch, Victor: Das Wesen des Liberalismus. In: Gall, Lothar (Hg.): Liberalismus. S. 37–53<br />

• Lév<strong>in</strong>as, Emmanuel: Jenseits des Se<strong>in</strong>s o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s als Se<strong>in</strong> geschieht. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1992<br />

• Lieber, Hans-Joachim: Ideologie – E<strong>in</strong>e historisch-systematische E<strong>in</strong>führung. Ferd<strong>in</strong>and Schön<strong>in</strong>gh Verlag, Pa<strong>der</strong>born<br />

u.a. 1985<br />

• Lieber, Hans-Joachim (Hg.): Politische Theorien von <strong>der</strong> Antike bis zur Gegenwart. Bundeszentrale für politische<br />

Bildung, Bonn 1991<br />

• Liebich, Ferd<strong>in</strong>and K.: Grundriß des Allgeme<strong>in</strong>en Zoll- und Handelsabkommens (GATT). Nomos Verlagsgesellschaft,<br />

Baden-Baden 1967<br />

• Lietzmann, Hans J./Bleek, Wilhelm (Hg.): <strong>Politik</strong>wissenschaft – Geschichte und Entwicklung <strong>in</strong> Deutschland und<br />

Europa. R. Oldenbourg Verlag, München/Wien 1996<br />

• Lippmann, Walter: Die öffentliche Me<strong>in</strong>ung. Rütten+Loen<strong>in</strong>g Verlag, Münchern 1964<br />

• Lipset, Seymour M.: Political Man – The Social Base of Politics. He<strong>in</strong>emann, London/Melbourne/Toronto 1960<br />

• Litten, Ra<strong>in</strong>er: Politisierung <strong>der</strong> Justiz. Hoffmann und Campe, Hamburg 1971<br />

• Lockwood, David: Soziale Integration und System<strong>in</strong>tegration. In: Zapf, Wolfgang (Hg.): Theorien des sozialen<br />

Wandels. S. 124–137<br />

• Lohmann, Hans-Mart<strong>in</strong>: Freud zur E<strong>in</strong>führung. Junius, Hamburg 1986<br />

• Lompe, Klaus: Wissenschaftliche Beratung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> – Beiträge zur Theorie anwenden<strong>der</strong> Sozialwissenschaft. Verlag<br />

Otto Schwartz & Co, Gött<strong>in</strong>gen 1966<br />

• Loo, Hans van <strong>der</strong>/Reijen, Willem van: Mo<strong>der</strong>nisierung – Projekt und Paradox. Deutscher Taschenbuch Verlag,<br />

München 1992<br />

• Löw, Re<strong>in</strong>hard/Spaemann, Robert/Koslowski, Peter (Hg.): Expertenwissen und <strong>Politik</strong>. VCH Verlagsgesellschaft,<br />

We<strong>in</strong>heim 1990


126 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Luard, Evan: The Globalization of Politics – The Changed Focus of Political Action <strong>in</strong> the Mo<strong>der</strong>n World. New<br />

York University Press. New York 1990<br />

• Lucie-Smith, Edward: Die mo<strong>der</strong>ne Kunst: Malerei – Fotographie – Graphik – Objektkunst. Südwest Verlag, München<br />

1992<br />

• Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechts – Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1981<br />

• Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechtssystems. In: Ders.: Ausdifferenzierung des Rechts. S. 35–52<br />

• Luhmann, Niklas: Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Westdeutscher Verlag, Opladen 1992<br />

• Luhmann, Niklas: Das Mo<strong>der</strong>ne <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft. In: Zapf, Wolfgang (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>nisierung mo<strong>der</strong>ner<br />

Gesellschaften. S. 87–107<br />

• Luhmann, Niklas: Das Recht <strong>der</strong> Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1993<br />

• Luhmann, Niklas: Der politische Code – ›Konservativ‹ und ›progressiv‹ <strong>in</strong> systemtheoretischer Sicht. In: Ders.:<br />

Soziologische Aufklärung 3. S. 267–286<br />

• Luhmann, Niklas: Die Beobachtung <strong>der</strong> Beobachter im politischen System – Zur Theorie <strong>der</strong> Öffentlichen Me<strong>in</strong>ung.<br />

In: Wilke, Jürgen (Hg.): Öffentliche Me<strong>in</strong>ung. S. 77–86<br />

• Luhmann, Niklas: Die Codierung des Rechtssystems. In: Rechtstheorie. Jahrgang 1986, S. 171–203<br />

• Luhmann, Niklas: Die Differenzierung von <strong>Politik</strong> und Wirtschaft und ihre gesellschaftlichen Grundlagen. In: Ders.:<br />

Soziologische Aufklärung 4. S. 32–48<br />

• Luhmann, Niklas: Die E<strong>in</strong>heit des Rechtssystems. In: Rechtstheorie. Jahrgang 1983, S. 129–154<br />

• Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft <strong>der</strong> Gesellschaft. 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1997<br />

• Luhmann, Niklas: Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft. Unveröffentlichtes Manuskript, Bielefeld 1993<br />

• Luhmann, Niklas: Die Realität <strong>der</strong> Massenmedien. Westdeutscher Verlag, Opladen 1996<br />

• Luhmann, Niklas: Die Soziologie und <strong>der</strong> Mensch. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. S. 265–274<br />

• Luhmann, Niklas: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen. In: Ders.: Soziologische Aufklärung<br />

6. S. 155–168<br />

• Luhmann, Niklas: Die Weltgesellschaft. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 2. S. 51–71<br />

• Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft <strong>der</strong> Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1988<br />

• Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1990<br />

• Luhmann, Niklas: Die Zukunft <strong>der</strong> Demokratie. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 4. S. 126–132<br />

• Luhmann, Niklas: E<strong>in</strong>ige Probleme mit ›reflexivem Recht‹. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie. Heft 1/1985, S. 1–18<br />

• Luhmann, Niklas: Funktionen <strong>der</strong> Rechtsprechung im politischen System. In: Ders.: Politische Planung. S. 46–65<br />

• Luhmann, Niklas: Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Me<strong>in</strong>ung. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 5.<br />

S. 170–182<br />

• Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. 4 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1980–1995<br />

• Luhmann, Niklas: Inklusion und Exklusion. In: Berd<strong>in</strong>g, Helmuth (Hg.): Nationales Bewußtse<strong>in</strong> und kollektive<br />

Identität. S. 15–45<br />

• Luhmann, Niklas: Kapital und Arbeit – Probleme e<strong>in</strong>er Unterscheidung. In: Berger, Johannes (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>ne.<br />

S. 57–78<br />

• Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren. Luchterhand, Neuwied/Berl<strong>in</strong> 1969<br />

• Luhmann, Niklas: Liebe als Passion – Zur Codierung von Intimität. Surhkamp, Frankfurt 1994<br />

• Luhmann, Niklas: Machtkreislauf und Recht <strong>in</strong> Demokratien. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 4. S. 142–151<br />

• Luhmann, Niklas: Öffentliche Me<strong>in</strong>ung. In: Ders.: Politische Planung. S. 9–34<br />

• Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation – Kann die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen<br />

e<strong>in</strong>stellen? Westdeutscher Verlag, Opladen 1990<br />

• Luhmann, Niklas: Politische Planung – Aufsätze zur Soziologie von <strong>Politik</strong> und Verwaltung. Westdeutscher Verlag,<br />

Opladen 1971<br />

• Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie. Westdeutscher Verlag, Opladen 1993<br />

• Luhmann, Niklas: Soziale Systeme – Grundriß e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en Theorie. Suhrkamp, Frankfurt 1984<br />

• Luhmann, Niklas: Soziologie als Theorie sozialer Systeme. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 1. S. 113–136<br />

• Luhmann, Niklas: Soziologie des politischen Systems. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 1. S. 154–177<br />

• Luhmann, Niklas: Soziologie für unsere Zeit – Seit Max Weber: Methodenbewußtse<strong>in</strong> und Grenzerfahrung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Wissenschaft. In: Meyer, Mart<strong>in</strong> (Hg.): Wo wir stehen. S. 53–59<br />

• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 1 – Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Westdeutscher Verlag, Opladen<br />

1974<br />

• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 2 – Ansätze zur Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft. Westdeutscher Verlag, Opladen<br />

1975<br />

• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 3 – Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Westdeutscher Verlag,<br />

Opladen 1981


B: LITERATURVERZEICHNIS 127<br />

• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 4 – Beiträge zur funktionalen Differenzierung <strong>der</strong> Gesellschaft. Westdeutscher<br />

Verlag, Opladen 1987<br />

• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 5– Konstruktivistische Perspektiven. Westdeutscher Verlag, Opladen<br />

1988<br />

• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 6 – Die Soziologie und <strong>der</strong> Mensch. Westdeutscher Verlag, Opladen<br />

1995<br />

• Luhmann, Niklas: Vertrauen – E<strong>in</strong> Mechanismus <strong>der</strong> Reduktion sozialer Komplexität. Ferd<strong>in</strong>and Enke Verlag, Stuttgart<br />

1973<br />

• Lukács, Georg: Die Verd<strong>in</strong>glichung und das Bewußtse<strong>in</strong> des Proletariats. In: Ders.: Geschichte und Klassenbewußtse<strong>in</strong>.<br />

S. 94–228<br />

• Lukács, Georg: Die Zerstörung <strong>der</strong> Vernunft [Werke, Band 6]. Luchterhand, Neuwied 1962<br />

• Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewußtse<strong>in</strong> – Studien über marxistische Dialektik. De Munter Verlag, Amsterdam<br />

1967<br />

• Lukács, Georg: Klassenbewußtse<strong>in</strong>. In: Ders.: Geschichte und Klassenbewußtse<strong>in</strong>. S. 57–93<br />

• Luthhardt, Wolfgang (Hg.): Otto Kirchheimer – Von <strong>der</strong> Weimarer Republik zum Faschismus: Die Auflösung <strong>der</strong><br />

demokratischen Rechtsordnung. Suhrkamp, Frankfurt 1976<br />

• Luttwak, Edward N.: Weltwirtschaftskrieg – Export als Waffe: Aus Partnern werden Gegner. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek<br />

1994<br />

• Lyman, Stanford M. (Hg.): Social Movements – Critiques, Concepts, Case-Studies. New York University Press,<br />

New York 1995<br />

• Lyotard, Jean-François: Beantwortung <strong>der</strong> Frage: Was ist postmo<strong>der</strong>n? In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus<br />

<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. S. 193–203<br />

• Lyotard, Jean-François: Das Patchwork <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten – Für e<strong>in</strong>e herrenlose <strong>Politik</strong>. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1977<br />

• Lyotard, Jean-François: Das postmo<strong>der</strong>ne Wissen – E<strong>in</strong> Bericht. Edition Passagen, Graz/Wien 1986<br />

• Lyotard, Jean-François: Der Wi<strong>der</strong>streit. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1989<br />

• Lyotard, Jean-François: Die Mo<strong>der</strong>ne redigieren. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. S. 204–214<br />

• Lyotard, Jean-François: Immaterialität und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1985<br />

• MacEwan, Arthur: Globalisation and Stagnation. In: Miliband, Ralph/Panitch, Leo (Hg.): Between Globalism and<br />

Nationalism. S. 130–143<br />

• Machiavelli, Niccolò: Der Fürst (Il Pr<strong>in</strong>cipe). Kröner, Stuttgart 1978<br />

• Machiavelli, Niccolò: Discorsi [sopra la prima deca di Tito Livio] – Gedanken über <strong>Politik</strong> und Staatsführung. Kröner,<br />

Stuttgart 1966<br />

• MacIntyre, Alasdair: Der Verlust <strong>der</strong> Tugend – Zur moralischen Krise <strong>der</strong> Gegenwart. Suhrkamp, Frankfurt 1995<br />

• Macpherson, Crawford B.: Die politische Theorie des Besitz<strong>in</strong>dividualismus. Suhrkamp, Frankfurt 1967<br />

• Maddison, Angus: Phases of Capitalist Development. Oxford University Press, Oxford/New York 1982<br />

• Maheu, Louis (Hg.): Social Movements and Social Classes – The Future of Collective Action. Sage Publications,<br />

London/Thousand Oaks/New Delhi 1995<br />

• Maier, Hans: Epochen <strong>der</strong> wissenschaftlichen <strong>Politik</strong>. In: Lietzmann, Hans J./Bleek, Wilhelm (Hg.): <strong>Politik</strong>wissenschaft.<br />

S. 7–20<br />

• Maihofer, Werner: Ideologie und Recht. In: Ders. (Hg.): Ideologie und Recht. S. 1–35<br />

• Maihofer Werner (Hg.): Ideologie und Recht. Vittorio Klostermann, Frankfurt 1969<br />

• Makropoulos, Michael: Kont<strong>in</strong>genz und Handlungsraum. In: Graevenitz, Gerhart/Marquard, Odo (Hg.): Kont<strong>in</strong>genz.<br />

S. 23–26<br />

• Makropoulos, Michael: Mo<strong>der</strong>nität als Kont<strong>in</strong>genzkultur – Konturen e<strong>in</strong>es Konzepts. In: Graevenitz, Gerhart/Marquard,<br />

Odo (Hg.): Kont<strong>in</strong>genz. S. 75–79<br />

• Makropoulos, Michael: Mo<strong>der</strong>nität und Kont<strong>in</strong>genz. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1997<br />

• Mandel, Ernest: Der Spätkapitalismus. Suhrkamp, Frankfurt 1974<br />

• Mann, Michael: Empires with Ends. In: Ders. (Hg.): The Rise and Decl<strong>in</strong>e of the Nation State. S. 1–11<br />

• Mann, Michael (Hg.): The Rise and Decl<strong>in</strong>e of the Nation State. Basil Blackwell, Oxford/Cambridge 1990<br />

• Mannheim, Karl: Das konservative Denken. In: Schumann, Hans-Gerd (Hg.): Konservatismus. S. 24–75<br />

• Mannheim, Karl: Das utopische Bewußtse<strong>in</strong>. In: Ders.: Ideologie und Utopie. S. 169–226<br />

• Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. In: Ders.: Ideologie und Utopie. S. 49–94<br />

• Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. Verlag G. Schulte-Blumke, Frankfurt 1952<br />

• Manschot, Henk: Nietzsche und die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie. In: Kamper, Dietmar/Reijen, Willem van<br />

(Hg.): Die unvollendete Vernunft. S. 478–496


128 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Manuelidis, Elias E./Manuelidis Laura: A Transmissible Creutzfeldt-Jakob Disease-Like Agent is Prevalent <strong>in</strong> the<br />

Human Population. In: Proceed<strong>in</strong>gs of the National Academy of Sciences of the United States of America. Vol.<br />

90 (1993), S. 7724–7728<br />

• Marc<strong>in</strong>kowski, Frank: Politisierung und Entpolitisierung <strong>der</strong> ›Realität‹ <strong>in</strong> unterschiedlichen Medienformaten – ›A<br />

Difference that Makes a Difference‹. In: Jäckel, Peter/W<strong>in</strong>terhoff-Spurk, Peter (Hg.): <strong>Politik</strong> und Medien. S. 35–53<br />

e<br />

• Marcos, +Subcomandante*: La 4 guerre mondiale a commencé. In: Le Monde diplomatique. Nr. 521 (August<br />

1997), S. 18 u. 4f. (Fortsetzung)<br />

• Marcuse, Herbert: Der e<strong>in</strong>dimensionale Mensch. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994<br />

• Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft – E<strong>in</strong> philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1965<br />

• Maresch, Rudolf (Hg.): Medien und Öffentlichkeit – Positionierungen, Symptome, Simulationsbrüche. Klaus Boer<br />

Verlag,1996 [ohne Ortsangabe]<br />

• Marsh, Richard F.: BSE-Free Status – What Does it Mean? In: Gibbs, Clarence J. (Hg.): Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy.<br />

S. 114–121<br />

• Marshall, Thomas H.: Bürgerrechte und soziale Klassen – Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Campus, Frankfurt/New<br />

York 1992<br />

• Marshall, Thomas H.: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen. In: Ders.: Bürgerrechte und soziale Klassen. S. 33–94<br />

• Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens [Defensor pacis]. 2 Bände, Rütten & Loen<strong>in</strong>g, Berl<strong>in</strong> 1958<br />

• Mart<strong>in</strong>, Hans-Peter/Schumann, Harald: Die Gobalisierungsfalle – Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand.<br />

Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1996<br />

• Mart<strong>in</strong>, Peter: The Mad Cow Deceit. Orig<strong>in</strong>al <strong>in</strong>: Mail On Sunday. Ausgabe vom 17.12.1995; Redigierte Fassung:<br />

Internet: www.uni-karlsruhe.de/~listserv/archive/BSE-L/9607/87.html<br />

• Marty, Mart<strong>in</strong> E./Appleby, R. Scott (Hg.): Fundamentalism Observed. Univerity of Chicago Press, Chicago 1991<br />

• Marx, Karl: Das Kapital – Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie. Alfred Kröner Verlag, Leipzig (ohne Jahresangabe)<br />

• Marx, Karl: Die Deutsche Ideologie (Vorrede). In: Lenk, Kurt (Hg.): Ideologie. S. 106f.<br />

• Marx, Karl: Kritik <strong>der</strong> Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt. In: Goldenberg, Boris (Hg.): Karl Marx<br />

– Ausgewählte Schriften. S. 181–206<br />

• Marx, Karl: Thesen über Feuerbach. In: Ders./Engels, Friedrich.: Ausgewählte Werke. S. 24ff.<br />

• Marx, Karl: Zur Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie (Vorwort). In: Ders./Engels, Friedrich.: Ausgewählte Werke. S.<br />

170–175<br />

• Marx, Karl/Engels, Friedrich: Ausgewählte Werke. Gondrom Verlag, B<strong>in</strong>dlach 1987<br />

• Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest <strong>der</strong> Kommunistischen Partei. In: Dies.: Ausgewählte Werke. S. 31–57<br />

• Matthes, Joachim (Hg.): Krise <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft? – Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages <strong>in</strong><br />

Bamberg 1982. Campus Verlag, Frankfurt/New York 1983<br />

• Maturana, Humberto R.: Neurophysology of Cognition. In: Garv<strong>in</strong>, Paul L. (Hg.): Cognition. S. 3–23<br />

• Maturana, Humberto R./Varela, Fracisco J.: Autopoiesis and Cognition – The Realization of the Liv<strong>in</strong>g. Reidel<br />

Publish<strong>in</strong>g Company, Dodrecht/London 1980<br />

• Maus, Ingeborg: Rechtstheorie und Politische Theorie im Industriekapitalismus. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München<br />

1986<br />

• Maus, Ingeborg: Verrechtlichung, Entrechtlichung und <strong>der</strong> Funktionswandel von Institutionen. In: Dies.: Rechtstheorie<br />

und Politische Theorie im Industriekapitalismus. S. 277–331<br />

• Mayer-Tasch, Peter C.: Die Bürger<strong>in</strong>itiativbewegung – Der aktive Bürger als rechts- und politikwissenschaftliches<br />

Problem. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1985<br />

• Mayer-Tasch, Peter C.: Natur denken – E<strong>in</strong>e Genealogie <strong>der</strong> ökologischen Idee. Fischer, Frankfurt 1991<br />

• Mayer-Tasch, Peter C.: Umweltrecht und Umweltpolitik. In: Doran, Charles F./H<strong>in</strong>z, Manfred O./Ders. (Hg.):<br />

Umweltschutz. S. 13–68<br />

• Mayntz, Renate: Implementation von regulativer <strong>Politik</strong>. In: Dies. (Hg.): Implementation politischer Programme<br />

II. S. 50–74<br />

• Mayntz, Renate (Hg.): Implementation politischer Programme II – Ansätze zur Theoriebildung. Westdeutscher<br />

Verlag, Opladen 1983<br />

• Mayntz, Renate/Hughes, Thomas P. (Hg.): The Development of Large Technical Systems. Campus/Westview Press,<br />

Frankfurt/Boul<strong>der</strong> 1988<br />

• Mazz<strong>in</strong>i, Giuseppe: E<strong>in</strong>ige Ursachen, welche die Entwicklung <strong>der</strong> Freiheit <strong>in</strong> Italien bis jetzt verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten. In: Ders.:<br />

Politische Schriften. S. 181–248<br />

• Mazz<strong>in</strong>i, Giuseppe: Politische Schriften. Reichenbach’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1911<br />

• McCombs, Maxwell E./Shaw, Donald L.: The Agenda-Sett<strong>in</strong>g Function of Mass Media. In: Publik Op<strong>in</strong>ion Quaterly.<br />

Vol. 36 (1972), S. 176–187<br />

• McDonold, Joan: Rousseau and the French Revolution: 1792–1791. Atherlone Press, London 1965


B: LITERATURVERZEICHNIS 129<br />

• McGrew, Anthony: A Global Society? In: Hall, Stuart/Held, David/McGrew, Anthony (Hg.): Mo<strong>der</strong>nity and its<br />

Futures. S. 61–116<br />

• McGrew, Anthony: Conceptualiz<strong>in</strong>g Global Politics. In: Ders/Lewis, Paul (Hg.): Global Politics. S. 1–28<br />

• McGrew, Anthony: Global Politics <strong>in</strong> a Transitional Era. In: Ders/Lewis, Paul (Hg.): Global Politics. S. 312–330<br />

• McGrew, Anthony/Lewis, Paul (Hg.): Global Politics – Globalization and the Nation State. Politiy Press, Camebridge<br />

1992<br />

• McKenzie, Richard B./Dwight, Lee R.: Quicksilver Capital – How the Rapid Movement of Wealth Has Changed<br />

the World. The Free Press, New York u.a. 1991<br />

• McKibben, Bill: Das Ende <strong>der</strong> Natur. List, München 1989<br />

• McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle – ›Un<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g Media‹. Econ-Verlag, Düsseldorf/Wien 1968<br />

• McNeill, William H.: W<strong>in</strong>ds of Change. In: Foreign Affairs. Heft 4/1990, S. 152–175<br />

• Mead, George H.: Geist, Identität und Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1993<br />

• Meadows, Dennis L. u.a.: Die Grenzen des Wachstums – Bericht des Club of Rome zur Lage <strong>der</strong> Menschheit.<br />

Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1972<br />

• Meadows, Donella H.: The Global Citizen. Island Press, Wash<strong>in</strong>gton 1991<br />

• Meadows, Donella H./Meadows, Dennis L./Ran<strong>der</strong>s, Jørgen: Die neuen Grenzen des Wachstums. Deutsche Verlags-<br />

Anstalt, Stuttgart 1992<br />

• Meier, C. A. (Hg.): Studien aus dem C. G. Jung-Institut – Zeitlose Dokumente <strong>der</strong> Seele [Vol. III]. Rascher Verlag,<br />

Zürich 1952<br />

• Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Suhrkamp, Frankfurt 1983<br />

• Meier, Christian: Die Ohnmacht des allmächtigen Dictators Caesar – Drei biographische Skizzen. Suhrkamp, Frankfurt<br />

1980<br />

• Me<strong>in</strong>ecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat [Werke, Band 5]. Oldenbourg Verlag, München 1962<br />

• Melucci, Alberto: Nomads of the Present – Social Movements and Individual Needs <strong>in</strong> Contemporary Society.<br />

Hutchison Radius, London u.a. 1989<br />

• Melucci, Alberto: The New Social Movements Revisited – Reflections on a Sociological Misun<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g. In: Maheu,<br />

Louis (Hg.): Social Movements and Social Class. S. 107–119<br />

• Menschikow, Stanislaw: Lange Wellen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft – Theorie und aktuelle Kontroversen. Institut für Marxistische<br />

Studien und Forschungen, Frankfurt 1989<br />

• Menzel, Ulrich: Die neue Weltwirtschaft – Entstofflichung und Entgrenzung im Zeichen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. In: Peripherie.<br />

Heft 59/60 (1995), S. 30–44<br />

• Menzel, Ulrich: Internationale Beziehungen im Cyberspace. In: Universitas. Heft 1/1994, S. 43–55<br />

• Merton, Robert K.: Social Theory and Social Structure. The Free Press, Glencoe 1961<br />

• Messerl<strong>in</strong>, Patrick A./Sauvant, Karl P. (Hg.): The Uruguay Round – Services <strong>in</strong> the World Economy. The World<br />

Bank, Wash<strong>in</strong>gton 1990<br />

• Meyer, Ahlrich: Frühsozialismus – Theorien <strong>der</strong> sozialen Bewegung 1789–1848. Verlag Karl Alber, Freiburg/München<br />

1977<br />

• Meyer, Eduard: Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums. In: Ders.: Kle<strong>in</strong>e Schriften zur Geschichtstheorie<br />

und zur wirtschaftlichen und politischen Geschichte des Altertums. S. 79–160<br />

• Meyer, Eduard: Kle<strong>in</strong>e Schriften zur Geschichtstheorie und zur wirtschaftlichen und politischen Geschichte des<br />

Altertums. Verlag Max Niemeyer, Halle 1910<br />

• Meyer, Mart<strong>in</strong> (Hg.): Wo wir stehen – Dreißig Beiträge zur Kultur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Piper, München 1988<br />

• Meyer, Thomas: Die Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s. Suhrkamp, Frankfurt 1992<br />

• Meyer, Thomas: Die Transformation des Politischen. Suhrkamp, Frankfurt 1994<br />

• Meyers, Re<strong>in</strong>hard: Grundbegriffe, Strukturen und theoretische Perspektiven <strong>der</strong> Internationalen Beziehungen [zitiert<br />

als ›Internationale Beziehungen‹]. In: Stammen, Theo u.a. (Hg.): Grundwissen <strong>Politik</strong>. S. 220–316<br />

• Mieck, Ilja: Europäische Geschichte <strong>der</strong> Frühen Neuzeit – E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung. Kohlhammer, Stuttgart u.a. 1981<br />

• Miliband, Ralph/Panitch, Leo (Hg.): Between Globalism and Nationalism – Socialist Register 1994. The Merl<strong>in</strong><br />

Press, London 1994<br />

• Mill, John S.: Betrachtungen über die repräsentative Demokratie. Svhön<strong>in</strong>gh, Pa<strong>der</strong>born 1971<br />

• Mill, John S.: Utilitarism. Hackett Publish<strong>in</strong>g Company, Indianapolis 1979<br />

• Mills, Wright C.: The Power Elite. Oxford University Press, London/Oxford/New York 1972<br />

• Milner, Andrew/Thompson, Philip/Worth, Chris (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Conditions. Berg, New York/Oxford/München<br />

1990<br />

• Mises, Ludwig: Bureaucracy. Arl<strong>in</strong>gton House, New Rochelle 1969<br />

• Mises, Ludwig: Nationalökonomie – Theorie des Handelns und des Wirtschaftens. Philosophia Verlag, München<br />

1980


130 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Mitchel, Jeremy: The Nature and Government of the Global Economy. In: McGreew, Anthony/Lewis Paul (Hg.):<br />

Global Politics. S. 174–196<br />

• Mittelman, James H.: Reth<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g the International Division of Labour <strong>in</strong> the Context of Globalisation. In: Third<br />

World Quaterly. Heft 2/1995, S. 273–295<br />

• Mittermüller, Hans G.: Ideologie und Theorie <strong>der</strong> Ökologiebewegung – Zur Konzeption e<strong>in</strong>er ›Ökologischen Philosophie‹.<br />

Peter Lang, Frankfurt u.a. 1987<br />

• Modelski, George: Pr<strong>in</strong>ciples of World Politics. The Free Press, New York 1972<br />

• Moles, Abraham A.: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung. Verlag M. DuMont, Schauberg 1971<br />

• Montaigne, Michel de: Philosophieren heißt sterben lernen. In: Wuthenow, Palph-Ra<strong>in</strong>er (Hg.): Michel de Montaigne<br />

– Essais. S. 7–31<br />

• Montaigne, Michel de: Über die Unbeständigkeit <strong>der</strong> menschlichen Handlungen. In: Wuthenow, Palph-Ra<strong>in</strong>er<br />

(Hg.): Michel de Montaigne – Essais. S. 102–112<br />

• Montanari, Massimo: The Culture of Food. Blackwell, Oxford/Cambridge 1994<br />

• Montesquieu, Charles de: Vom Geist <strong>der</strong> Gesetze. H. Laupp’sche Buchhandlung, Tüb<strong>in</strong>gen 1951<br />

• Mooser, Josef: Auflösung <strong>der</strong> proletarischen Milieus – Klassenb<strong>in</strong>dung und Individualisierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeiterschaft<br />

vom Kaiserreich bis <strong>in</strong> die Bundesrepublik Deutschland. In: Soziale Welt. Heft 3/1983, S. 270–306<br />

• Morgenthau, Hans J.: Politics Among Nations – The Struggle for Power and Peace. Alfred A. Knopf, New York<br />

1978<br />

• Morse, Edward L.: Mo<strong>der</strong>nization and the Transformation of International Relations. The Free Press, New York<br />

1976<br />

• Morus, Thomas: Utopia. In: He<strong>in</strong>isch, Klaus (Hg.): Der utopische Staat. S. 7–110<br />

• Moscovici, Serge: Sozialer Wandel durch M<strong>in</strong>oritäten. Urban & Schwarzenberg, München/Wien/Baltimore 1979<br />

• Mossé, Claude: Die Ursprünge des Sozialismus im klassischen Altertum. In: Droz, Jacques (Hg.): Geschichte des<br />

Sozialismus. Band 1, S. 65–111<br />

• Mossé, Claude: Der Zerfall <strong>der</strong> athenischen Demokratie. Artemis, Zürich/München 1979<br />

• Mouffe, Chantal: Deconstruction, Pragmatism and the Politics of Democracy. In: Dies. (Hg.): Deconstruction<br />

and Pragmatism. S. 1–11<br />

• Mouffe, Chantal (hg.): Deconstruction and Pragmatism. Routledge, London/New York 1996<br />

• Müller, Erika: Gesetzgebung im historischen Vergleich – E<strong>in</strong> Beitrag zur Empirie <strong>der</strong> Staatsaufgaben. Centaurus-<br />

Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1989<br />

• Müller, Erika/Nud<strong>in</strong>g, Wolfgang: Gesetzgebung – ›Flut‹ o<strong>der</strong> ›Ebbe‹? In: Politische Vierteljahresschrift. Heft 1/1984,<br />

S. 74–96<br />

• Müller-Funk, Wolfgang: Die Enttäuschungen <strong>der</strong> Vernunft – Von <strong>der</strong> Romantik zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Edition Falter,<br />

Wien 1990<br />

• Münch, Richard: Dialektik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1991<br />

• Münch, Richard: Die Kultur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1986<br />

• Münch, Richard: Die Struktur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – Grundmuster und differentielle Gestaltung des <strong>in</strong>stitutionellen Aufbaus<br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1984.<br />

• Münch, Richard: Dynamik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft. Suhrkamo, Frankfurt 1995<br />

• Münch, Richard: Globale Dynamik, lokale Lebenswelten – Der schwierige Weg <strong>in</strong> die Weltgesellschaft. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1998<br />

• Münkler, Herfried: Machiavelli – Die Begründung des politischen Denkens <strong>der</strong> Neuzeit aus <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> Republik<br />

Florenz. Fischer, Frankfurt 1990<br />

• Münkler, Herfried: Thomas Hobbes. Campus, Frankfurt/New York 1993<br />

• Mulhearn, Chris: Change and Development <strong>in</strong> the Global Economy. In: Bretherton, Charlotte/Ponton, Geoffrey<br />

(Hg.): Global Politics. S. 155–193<br />

• Mulkay, Michael/Gilbert, Nigel: Theory Choice. In: Mulkay, Michael (Hg.): Sociology of Science. S. 131–153<br />

• Mulkay, Michael (Hg.): Sociology of Science – A Sociological Pilgrimage. Open University Press/Milton Keynes,<br />

Philadelphia 1991<br />

• Mumford, Lewis: Die Stadt – Geschichte und Ausblick. 2 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1979<br />

• Mumford, Lewis: The Myth of the Masch<strong>in</strong>e – Technics and Human Development. Harcourt, Brace & World,<br />

New York 1967<br />

• N)ag)arjuna: Mu) lamadhyamakaka) rika). In: Garfield, Jay L.: The Fundamental Wisdom of the Middle Way. S. 1–83<br />

• Nahamowitz, Peter: Kritische Rechtstheorie des ›Organisierten Kapitalismus‹ – E<strong>in</strong>e konzeptionelle Antwort auf<br />

postregulatorische Rechtstheorie. In: Görlitz, Axel/Voigt, Rüdiger (Hg.): Grenzen des Rechts. S. 185–225


B: LITERATURVERZEICHNIS 131<br />

• Nairn, Tom u.a. (Hg.): Nationalismus und Marxismus – Anstoß zu e<strong>in</strong>er notwendigen Debatte. Rotbuch Verlag,<br />

Berl<strong>in</strong> 1978<br />

• Nairn, Tom: Der mo<strong>der</strong>ne Janus. In: Ders. u.a. (Hg.): Nationalismus und Marxismus. S. 7–44<br />

• Narang, Harash K.: Evidence that Homologous ssDNA Is Present <strong>in</strong> Scrapie, CJD, and BSE. In: Bjornsson, J. et<br />

al. (Hg.): Slow Infections of the Central Nervous System [Annals of the New York Academy of Sciences, Vol. 724<br />

(1994)]. S. 314–326<br />

• Narr, Wolf-Dieter/Schubert, Alexan<strong>der</strong>: Weltökonomie – Die Misere <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Suhrkamp, Frankfurt 1994<br />

• Nassehi, Arm<strong>in</strong>: Das stahlharte Gehäuse <strong>der</strong> Zugehörigkeit – Unschärfen im Diskurs um die ›multikulturelle Gesellschaft‹.<br />

In: Ders. (Hg.): Nation, Ethnie, M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit. S. 177–208<br />

• Nassehi, Arm<strong>in</strong>: Die Zeit <strong>der</strong> Gesellschaft – Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>er soziologischen Theorie <strong>der</strong> Zeit. Westdeutscher<br />

Verlag, Opladen 1993<br />

• Nassehi, Arm<strong>in</strong> (Hg.): Nation, Ethnie, M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit – Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Böhlau Verlag,<br />

Köln/Weimar/Wien 1997<br />

• Negroponte, Nicholas: Total digital – Die Welt zwischen 0 und 1 o<strong>der</strong> die Zukunft <strong>der</strong> Kommunikation. C. Bertelsmann<br />

Verlag, München 1995<br />

• Neidhardt, Friedhelm: Jenseits des Palavers – Funktionen politischer Öffentlichkeit. In: Wunden, Wolfgang (Hg.):<br />

Öffentlichkeits und Kommunikationskultur. S. 19–30<br />

• Neidhardt, Friedhelm (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Me<strong>in</strong>ung, soziale Bewegungen. Kölner Zeitschrift für Soziologie<br />

und Sozialpsychologie, Son<strong>der</strong>heft 34 (1994), Westdeutscher Verlag, Opladen 1994<br />

• Nelk<strong>in</strong>, Dorothy: The Political Impact of Technical Expertise. In: Boyle, Godfrey/Elliott, David/Roy, Rob<strong>in</strong> (Hg.):<br />

The Politics of Technology. S. 189–205<br />

• Neumann, Franz: Angst und <strong>Politik</strong>. In: Ders.: Demokratischer und autoritärer Staat. S. 261–291<br />

• Neumann, Franz: Anarchismus. In: Ders. (Hg.): Handbuch Politischer Theorien und Begriffe. S. 222–294<br />

• Neumann, Franz: Demokratischer und autoritärer Staat – Studien zur politischen Theorie. Europäische Verlagsanstalt,<br />

Frankfurt 1967<br />

• Neumann, Franz: Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft. In: Ders.: Demokratischer<br />

und autoritärer Staat. S. 31–81<br />

• Neumann, Franz: Ökonomie und <strong>Politik</strong> im zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>t. In: Ders.: Demokratischer und autoritärer<br />

Staat. S. 248–260<br />

• Neumann, Franz (Hg.): Handbuch Politischer Theorien und Ideologien. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1984<br />

• Neyer, Jürgen: Das Ende von Metropole und Peripherie? – Soziale Inklusion und Exklusion <strong>in</strong> <strong>der</strong> entgrenzten<br />

Weltwirtschaft. In: Peripherie. Heft 59/60 (1995), S. 10–29<br />

• Neyer, Jürgen: Globaler Markt und territorialer Staat – Konturen e<strong>in</strong>es wachsenden Antagonismus. In: Zeitschrift<br />

für Internationale Beziehungen. Heft 2/1995, S. 287–315<br />

• Neyer, Jürgen/Seelaib-Kaiser, Mart<strong>in</strong>: Arbeitsmarktpolitik nach dem Wohlfahrtsstaat – Konsequenzen <strong>der</strong> ökonomischen<br />

Globalisierung. In: Aus <strong>Politik</strong> und Zeitgeschichte. Heft 26/1996, S. 36–44<br />

• Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In: Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche. Band 2, S. 275–562<br />

• Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. In: Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche. Band 2, S. 7–274<br />

• Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. In: Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche. Band 2, S. 563–760<br />

• Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie <strong>der</strong> Moral. In: Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche. Band 2, S. 761–900<br />

• Nippel, Wilfried: Politische Theorien <strong>der</strong> griechisch-römischen Antike. In: Lieber, Hans-Joachim (Hg.): Politische<br />

Theorien von <strong>der</strong> Antike bis zur Gegenwart. S. 17–43<br />

• Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale – Über die Entstehung <strong>der</strong> öffentlichen Me<strong>in</strong>ung. In: Dies.: Öffentlichlichkeit<br />

als Bedrohung. S. 169–203<br />

• Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentlichkeit als Bedrohung – Beiträge zur empirischen Kommunikationsforschung.<br />

Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1977<br />

• Noelle-Neumann, Elisabeth: Warum die Zeitung überleben wird. In: Dies.: Öffentlichkeit als Bedrohung. S. 89–98<br />

• Nonet, Philippe/Selznick, Philip: Law and Society <strong>in</strong> Transition – Toward Responsive Law. Octagon Books, New<br />

York 1978<br />

• Nonhoff, Mart<strong>in</strong>: Politische Theorie zwischen Dekonstruktion und Pragmatismus. In: Angermüller, Johannes/Ders.<br />

(Hg.): <strong>Post</strong>Mo<strong>der</strong>ne Diskurse zwischen Sprache und Macht. S. 23–34<br />

• Obermeier, Otto-Peter: Zweck – Funktion – System: Kritik konstruktive Untersuchung zu Niklas Luhmanns<br />

Theoriekonzeptionen. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1988<br />

• Offe, Claus: Das politische Dilemma <strong>der</strong> Technokratie. In: Koch, Claus/Senghaas, Dieter (Hg.): Texte zur Technokratiediskussion.<br />

S. 156–171


132 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Offe, Claus: Die Utopie <strong>der</strong> Null-Option – Mo<strong>der</strong>nität und Mo<strong>der</strong>nisierung als politische Gütekriterien. In: Berger,<br />

Johannes (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>ne. S. 97–117<br />

• Offe, Claus: Disorganized Capitalism – Contemporary Transformations of Work and Politics. MIT Press, Cambridge<br />

1985<br />

• Offe, Claus: Politische Herrschaft und Klassenstrukturen – Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme.<br />

In: Kress, Gisela/Senghaas, Dieter (Hg.): <strong>Politik</strong>wissenschaft. S. 155–189<br />

• Offe, Claus: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Suhrkamp, Frankfurt 1980<br />

• Ogburn, William F.: Die Theorie des ›Cultural Lag‹. In: Dreitzel, Hans-Peter: Sozialer Wandel. S. 328–338<br />

• Ohmae, Kenichi: The Ende of the Nation State – The Rise of Regional Economies: How New Eng<strong>in</strong>es of Prosperity<br />

are Reshap<strong>in</strong>g Global Markets. Harper-Coll<strong>in</strong>s, London 1996<br />

• Ohmae, Kenichi: The Rise of the Region State. In: Foreign Affairs. Heft 2/1993, S. 78–87<br />

• Ollero, Andrés: Die technokratische Funktion des Rechts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Systemtheorie von Niklas Luhmann. In: Ronge,<br />

Volker/Weihe, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> ohne Herrschaft? S. 131–140<br />

• Oman, Charles: Globalisation and Regionalisation – The Challenge for Develop<strong>in</strong>g Countries. OECD, Paris 1995<br />

• Opitz, Peter J. (Hg.): Weltprobleme – Globale Herausfor<strong>der</strong>ungen an <strong>der</strong> Schwelle zum 21. Jahrhun<strong>der</strong>t. Bayerische<br />

Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1990<br />

• Opitz, Peter J./Rittberger, Volker (Hg.): Forum <strong>der</strong> Welt – 40 Jahre Vere<strong>in</strong>te Nationen. Bayerische Landeszentrale<br />

für Politische Bildungsarbeit, München 1986<br />

• Ottmann, Henn<strong>in</strong>g: Politische Theologie als Begriffsgeschichte – O<strong>der</strong>: Wie man die politischen Begriffe <strong>der</strong> Neuzeit<br />

politisch-theologisch erklären kann. In: Gerhardt, Volker (Hg.): Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. S. 169–188<br />

• Palman, Guy (Hg.): Das bürgerliche Zeitalter. Fischer, Frankfurt 1974<br />

• Palonen, Kari: Das ›Webersche Moment‹ – Zur Kont<strong>in</strong>genz des Politischen. Westdeutscher Verlag, Opladen 1998<br />

• Palonen, Kari: <strong>Politik</strong> als ›chamäleonartiger‹ Begriff – Reflexionen und Fallstudien zum Begriffswandel <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>.<br />

Hels<strong>in</strong>ki 1985<br />

• Pakulski, Jan: Social Movements and Class – The Decl<strong>in</strong>e of the Marxist Paradigm. In: Maheu, Louis (Hg.): Social<br />

Movements and Social Class. S. 55–86<br />

• Panikkar, Raimon: Rückkehr zum Mythos. Insel, Frankfurt/Leipzig 1992<br />

• Pannwitz, Rudolf: Die Krisis <strong>der</strong> europäischen Kultur. Verlag Hans Carl, Nürnberg 1947<br />

• Park<strong>in</strong>, Frank: Strategien sozialer Schließung und Klassenbildung. In: Kreckel, Re<strong>in</strong>hard (Hg.): Soziale Ungleichheiten.<br />

S. 121–135<br />

• Parsons, Talcott: Recht und soziale Kontrolle. In: Hirsch, Ernst E./Rehb<strong>in</strong><strong>der</strong>, Manfred (Hg.): Studien und Materialien<br />

zur Rechtssoziologie. S. 121–134<br />

• Parsons, Talcott: Societies – Evolutionary and Comparative Perspectives. Prentice-Hall Inc., Englewood Cliffs 1966<br />

• Parsosns, Talcott: Structure and Process <strong>in</strong> Mo<strong>der</strong>n Societies. The Free Press, Glencoe 1960<br />

• Parsons, Talcott: The Social System. The Free Press, New York 1964<br />

• Parsons, Talcott: The System of Mo<strong>der</strong>n Societies. Prentice-Hall Inc., Englewood Cliffs 1971<br />

• Parsons, Talcott/Bales, Robert F./Shils, Edward A. (Hg.): Work<strong>in</strong>g Papers <strong>in</strong> the Theorie of Action. The Free Press,<br />

Glencoe 1953<br />

• Parsons, Talcott/Shils, Edward A. (Hg.): Toward a General Theorie of Action. Harvard University Press, Cambridge<br />

1951<br />

• Pattison, I. H./Jones, K. M.: The Possible Nature of the Transmissible Agent of Scrapie. In: Verter<strong>in</strong>ary Record.<br />

Vol. 80 (1967), S. 2–9<br />

• Penski, Ulrich: Recht als Mittel von <strong>Politik</strong> – Möglichkeit o<strong>der</strong> Mißverständnis? In: Voigt, Rüdiger (Hg.): Recht<br />

als Instrument von <strong>Politik</strong>. S. 35–59<br />

• Peter, Bernhard: Die Integration mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt 1993<br />

• Peters, Bernhard: Der S<strong>in</strong>n von Öffentlichkeit. In: Neidhardt, Friedhelm (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Me<strong>in</strong>ung,<br />

soziale Bewegungen. S. 42–76<br />

• Pevsner, Nikolaus: Architecture <strong>in</strong> Our Time – The Anti-Pioneers. In: The Listener. Ausgabe vom 29.12.1966,<br />

S. 953ff. und Ausgabe vom 5.1.1967, S. 7ff.<br />

• Piazolo, Michael: Zur Mittlerrolle des Bundesverfassungsgerichts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Deutschen Verfassungsordnung. In: Ders.:<br />

Das Bundesverfassungsgericht. S. 7–11<br />

• Piazolo, Micheal (Hg.): Das Bundesverfassungsgericht – E<strong>in</strong> Gericht im Schnittpunkt von Recht und <strong>Politik</strong>. Von<br />

Hase & Koehler Verlag, Ma<strong>in</strong>z/München 1995<br />

• Picker<strong>in</strong>g, Andrew (Hg.): Science as a Practise and Culture. University of Chicago Press, Chicago 1992<br />

• Pieterse, Jan N.: Globalization as Hybridization. In: Featherstone, Mike/Lash, Scott/Robertson, Roland (Hg.):<br />

Global Mo<strong>der</strong>nities. S. 45–68


B: LITERATURVERZEICHNIS 133<br />

• P<strong>in</strong>ch, Trevor J./Bijker, Wiebe E: The Social Construction of Facts and Artifacts – Or How the Sociology of Science<br />

and the Sociology of Technology Might Benefit Each Other. In: Bijker, Wiebe E./Hughes, Thomas P./P<strong>in</strong>ch, Trevor<br />

J. (Hg.): The Social Construction of Technological Systems. S. 17–50<br />

• Pitz, Ernst (Hg.): Leben im Mittelalter – E<strong>in</strong> Lesebuch. Piper, München/Zürich 1990<br />

• Platon: Apologie. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band I<br />

• Platon: Kratylos. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band III<br />

• Platon: Kriton. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band I<br />

• Platon: Nomoi. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band IX<br />

• Platon: Parmenides. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band VII<br />

• Platon: Politeia. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band V<br />

• Platon: <strong>Politik</strong>os. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band VII<br />

• Plessner, Helmuth: Die Frage nach <strong>der</strong> Conditio humana – Aufsätze zur philosophischen Anthropologie. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1976<br />

• Plessner, Helmuth: Die Frage nach <strong>der</strong> Conditio humana. In: (Ders.): Die Frage nach <strong>der</strong> Conditio humana. S.<br />

7–81<br />

• Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und <strong>der</strong> Mensch – E<strong>in</strong>leitung <strong>in</strong> die philosophische Anthropologie.<br />

Verlag Walter de Gruiter & Co., Berl<strong>in</strong> 1965<br />

• Polanyi, Karl: Ökonomie und Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1979<br />

• Polanyi, Karl: The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen.<br />

Europaverlag, Wien 1977<br />

• Pönicke, Herbert: Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Europas im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Schön<strong>in</strong>gh, Pa<strong>der</strong>born<br />

1970<br />

• Popper, Karl R.: Logik <strong>der</strong> Forschung. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tüb<strong>in</strong>gen 1969<br />

• Popper, Karl R.: The Open Society and Its Enemies. Pr<strong>in</strong>ceton University Press, Pr<strong>in</strong>ceton 1950<br />

• <strong>Post</strong>man, Neil: Das Technopol – Die Macht <strong>der</strong> Technologien und die Entmündigung <strong>der</strong> Gesellschaft. Fischer,<br />

Frankfurt 1992<br />

• <strong>Post</strong>man, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter <strong>der</strong> Unterhatlungs<strong>in</strong>dustrie. Deutscher<br />

Bücherbund, Stuttgart/München 1986<br />

• <strong>Post</strong>man, Neil: Wir <strong>in</strong>formieren uns zu Tode. In: Die Zeit. Ausgabe vom 2. Oktober (Nr. 41) 1992, S. 61f.<br />

• Prajña) pa) rmita) -Hridaya-Su) . tra – Su) tra vom Herzen <strong>der</strong> Vollkommenen Weisheit [herausgegeben und e<strong>in</strong>geleitet<br />

von Jên Wên]. Zero Verlag, Rhe<strong>in</strong>berg 1982<br />

• Pr<strong>in</strong>cen, Thomas/F<strong>in</strong>ger, Matthias/Manno, Jack P.: Translational L<strong>in</strong>kages. In: Pr<strong>in</strong>cen, Thomas/F<strong>in</strong>ger, Matthias<br />

(Hg.): Environmental NGOs <strong>in</strong> World Politics. S. 217–236<br />

• Pr<strong>in</strong>cen, Thomas/F<strong>in</strong>ger, Matthias (Hg.): Environmental NGOs <strong>in</strong> World Politics – L<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g the Local and the Global.<br />

Routledge, London/New York 1994<br />

• Prokop, Dieter: Medien-Macht und Medien-Wirkung – E<strong>in</strong> geschichtlicher Überblick. Rombach Verlag, Freiburg<br />

1995<br />

• Prus<strong>in</strong>er, Stanley B.: Novel Prote<strong>in</strong>aceous Infectious Particles Cause Scrapie. In: Science. Vol. 216 (1982), S. 136–144<br />

• Prus<strong>in</strong>er, Stanley B.: Prionen-Erkrankungen. In: Spektrum <strong>der</strong> Wissenschaft. Heft 3/1995, S. 44–52<br />

• Psichari, Henriette (Hg.): Œuvres complètes de Ernest Renan. 10 Bände, Calmann-Lévy, Paris 1947–1961<br />

• Prudey, Mark: Are Organophosphate Pesticides Involved <strong>in</strong> the Causation of Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy<br />

(BSE)? – Hypothesis Based upon Literature Review and Limited Trials on BSE Cattle. In: Journal of Nutritional Medic<strong>in</strong>e.<br />

Vol. 4 (1994), S. 43–82<br />

• Purdey, Mark: Mad Cows and Warble Flies – A L<strong>in</strong>k Between BSE and Organophosphates?. In: Ecologist. Vol.<br />

22 (1992), S. 52–57<br />

• Purdey, Mark: The UK Epedemic of BSE – Slow Virus or Chronic Pesticide-Initiated Modification of the Prion Prote<strong>in</strong>?<br />

[Part 1: Mechanisms for a Cemically Induced Pathogemesis/Transmissibility; Part 2: An Epidemiological Perspective].<br />

In: Medical Hypothesis. Vol. 46 (1996), S. 429–454<br />

• Racevskis, Karlis: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism and the Search for Enlightenment. University Press of Virg<strong>in</strong>ia, Charlottesville/London<br />

1993<br />

• Ramm, Thilo (Hg.): Der Frühsozialismus – Ausgewählte Quellentexte. Kröner, Stuttgart 1956<br />

• Rammert, Werner/Bechmann, Gotthard (Hg.): Technik und Gesellschaft – Jahrbuch 7: Konstruktion und Evolution<br />

von Technik. Campus, Frankfurt/New York 1994<br />

• Raschke, Joachim: Zum Begriff <strong>der</strong> sozialen Bewegung. In: Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hg.): Neue soziale Bewegungen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland. S. 19–29


134 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Rasehorn, Theo: Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt – Alternative Justizsoziologie. Nomos Verlagsgesellschaft,<br />

Baden-Baden 1989<br />

• Reich, Norbert (Hg.): Marxistische und sozialistische Rechtstheorie. Fischer/Athenäum, Frankfurt 1972<br />

• Reich, Robert B.: Die neue Weltwirtschaft – Das Ende <strong>der</strong> nationalen Ökonomie. Ullste<strong>in</strong>, Frankfurt/Berl<strong>in</strong> 1993<br />

• Renan, Ernest: Qu’est-ce qu’une Nation? In: Psichari, Henriette (Hg.): Œuvres complètes de Ernest Renan. Band<br />

1, S. 887–906<br />

• Ribhegge, Wilhelm: Konservatismus – Versuch zu e<strong>in</strong>er kritisch-historischen Theorie. In: Schumann, Hans-Gerd<br />

(Hg.): Konservatismus. S. 112–136<br />

• Ricardo, David: Grundsätze <strong>der</strong> politischen Ökonomie und <strong>der</strong> Besteuerung. Fischer Athenäum, Frankfurt 1972<br />

• Ricœur, Paul: Das Selbst als e<strong>in</strong> An<strong>der</strong>er. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1996<br />

• Riesman, David/Denney, Reuel/Glazer, Nathan: Die e<strong>in</strong>same Masse – E<strong>in</strong>e Untersuchung <strong>der</strong> Wandlung des<br />

amerikanischen Charakters. Rowohlt, München 1961<br />

• Riesman, David: Leisure and Work <strong>in</strong> <strong>Post</strong>-Industrial Society – A Venture <strong>in</strong> Social Forecast<strong>in</strong>g. In: Larrabee,<br />

Eric/Meyersohn, Rolf (Hg.): Mass Leisure. S. 363–388<br />

• Rifk<strong>in</strong>, Jeremy: Beyond Beef – The Rise and Fall of the Cattle Culture. Dutton, New York 1992<br />

• Rifk<strong>in</strong>, Jeremy: Das Ende <strong>der</strong> Arbeit und ihre Zukunft. Campus, Frankfurt/New York 1995<br />

• Rifk<strong>in</strong>, Jeremy: Das Imperium <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>. Campus, Frankfurt/New York 1994<br />

• Rig-Veda. In: Geldner, Karl F. [Übersetzer]: Der Rig-Veda. Verlag Otto Harrassowitz, Leipzig 1951<br />

• Rittberger, Volker: Internationele Organisationen – <strong>Politik</strong> und Geschichte. Leske+Budrich, Opladen 1994<br />

• Ritter, Gerhard A. (Hg.): Deutsche Parteien vor 1918. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1973<br />

• Ritter, Wigand: Welthandel – Geographische Strukturen und Umbrüche im <strong>in</strong>ternationalen Warenaustausch.<br />

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994<br />

• Robertson, Roland: Globalization – Social Theory and Global Culture. Sage Publications, London/Newbury Park/New<br />

Delhi 1992<br />

• Robertson, Roland: Glocalization – Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity. In: Featherstone, Mike/Lash,<br />

Scott/Robertson, Roland (Hg.): Global Mo<strong>der</strong>nities. S. 25–44<br />

• Robertson, Roland: Mapp<strong>in</strong>g the Global Condition – Globalization as a Central Concept. In: Featherstone, Mike<br />

(Hg.): Global Culture. S. 15–30<br />

• Rob<strong>in</strong>son, Micheal J.: Public Affairs Television and the Growth of Political Malaise – The Case of ›The Sell<strong>in</strong>g of<br />

the Pentagon‹. In: The American Political Science Review. Vol. 70 (1976), Heft 2, S. 409–432<br />

• Rob<strong>in</strong>son, Peter/Sauvant, Karl P./Govitrikar, Vishwas P. (Hg.): Electronic Highways for World Trade – Issues <strong>in</strong><br />

Telekommunication and Data Service. Westview Press, Boul<strong>der</strong>/San Francisco/London 1989<br />

• Röd, Wolfgang: Descartes – Die Genese des cartesianischen Rationalismus. Beck, München 1995<br />

• Röd, Wolfgang: Die Rolle <strong>der</strong> Dialektik <strong>in</strong> Hegels Theorie <strong>der</strong> Erfahrung. In: Becker, Werner/Essler, Wilhelm K.<br />

(Hg.): Konzepte <strong>der</strong> Dialektik. S. 69–87<br />

• Röd, Wolfgang: Philosophie <strong>der</strong> Neuzeit – Von Francis Bacon bis Sp<strong>in</strong>oza [Geschichte <strong>der</strong> Philosophie, Band 7].<br />

Verlag C. H. Beck, München 1978<br />

• Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Suhrkamp, Frankfurt 1990<br />

• Röhrich, Wilfred (unter Mitwirkung von Karl G. Z<strong>in</strong>n): <strong>Politik</strong> und Ökonomie <strong>der</strong> Weltgesellschaft – Das <strong>in</strong>ternationale<br />

System. Westdeutscher Verlag, Opladen 1983<br />

• Röhrs, Hermann: Jean-Jacques Rousseau – Vision und Wirklichkeit. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 1993<br />

• Roellecke, Gerd: Das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts und die Verfassung. In: Piazolo, Michael (Hg.):<br />

Das Bundesverfassungsgericht. S. 33–48<br />

• Röttges, He<strong>in</strong>z: Zur Entstehung und Wirkung des Kantischen Begriffs <strong>der</strong> Dialektik. In: Becker, Werner/Essler,<br />

Wilhelm K. (Hg.): Konzepte <strong>der</strong> Dialektik. S. 25–30<br />

• Rötzer, Florian: Die Telepolis – Urbanität im digitalen Zeitalter. Bollmann, Mannheim 1995<br />

• Rötzer, Florian: Interaktion – das Ende herkömmlicher Massenmedien. In: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien und<br />

Öffentlichkeit. S. 119–134<br />

• Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Sche<strong>in</strong> – Ästhetik <strong>der</strong> elektronischen Medien. Suhrkamp, Frankfurt 1991<br />

• Rogers, Carl R.: Empathie – E<strong>in</strong>e unterschätzte Sichtweise. In: <strong>der</strong>s./Rosenberg, Rachel L. (Hg.), Die Person als<br />

Mittelpunkt <strong>der</strong> Wirklichkeit. S. 75–93<br />

• Rogers, Csarl R./Rosenberg, Rachel L. (Hg.), Die Person als Mittelpunkt <strong>der</strong> Wirklichkeit. Klett-Cotta, Stuttgart<br />

1980<br />

• Rohwer, R. G.: The Scrapie Agent – A Virus by Any Other Name. In: Chesebro, Bruce W. (Hg.): Transmissible<br />

Spongiform Encephalopathies. S. 195–232<br />

• Romano, Ruggiero/Tenenti, Alberto: Grundlegung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt – Spätmittelalter, Renaissance, Reformation.<br />

Fischer, Frankfurt 1984


B: LITERATURVERZEICHNIS 135<br />

• Ronge, Volker: Verwendung sozialwissenschaftlicher Ergebnisse <strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten Kontexten. In: Beck, Ulrich/Bonß,<br />

Wolfgang (Hg.): We<strong>der</strong> Sozialtechnologie noch Aufklärung? S. 332–354<br />

• Ronge, Volker/Weihe, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> ohne Herrschaft? – Antworten auf die systemtheoretische Neutralisierung<br />

<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Piper, München 1976<br />

• Roos, Theo: Rauheit des Realen – Short Cuts. In: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien und Öffentlichkeit. S. 367–372<br />

• Rorty, Richard: Habermas and Lyotard on <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity. In: Bernste<strong>in</strong>, Richard J. (Hg.): Habermas and Mo<strong>der</strong>nity.<br />

S. 161–175<br />

• Rorty, Richard: Kont<strong>in</strong>genz, Ironie und Solidarität. Suhrkamp, Frankfurt 1989<br />

• Rorty, Richard (Hg.): The L<strong>in</strong>guistic Turn – Recent Essays <strong>in</strong> Philosophical Method. The University of Chicago<br />

Press, Chicago/London 1967<br />

• Rose, Margaret A.: The <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>n and the <strong>Post</strong>-Industrial – A Critical Analysis. Cambridge University Press,<br />

Cambridge u.a. 1991<br />

• Rosecrance, Richard: Der neue Handelsstaat – Herausfor<strong>der</strong>ungen für <strong>Politik</strong> und Wirtschaft. Campus, Frankfurt<br />

1987<br />

• Rosecrance, Richard: The Rise of the Virtual State. In: Foreign Affairs. Heft 4/1996, S. 45–61<br />

• Rosenau, James N.: The Study of Global Interdependance – Essays on the Transnationalisation of World Affairs.<br />

Frances P<strong>in</strong>ter Publishers/Nichols Publish<strong>in</strong>g Company, London/New York 1980<br />

• Rosenau, James N.: Turbulence <strong>in</strong> World Politics – A Theory of Change and Cont<strong>in</strong>uity. Harvester/Wheatsheaf,<br />

New York u.a. 1990<br />

• Rosenoer, Janathan: CyberLaw – The Law of the Internet. Spr<strong>in</strong>ger, New York u.a. 1996<br />

• Rossi, Paolo (Hg.): Giambattista Vico – Opere. Rizzoli, Milano 1959<br />

• Roszak, Theodore: Person/Planet – The Creative Dis<strong>in</strong>tegration of Industrial Society. Anchor/Doubleday, Garden<br />

Citiy/New York 1978<br />

• Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hg.): Neue soziale Bewegungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik. Campus, Frankfurt/New York<br />

1987<br />

• Rothenberg, Randall: The Neoliberals – Creat<strong>in</strong>g New American Politics. Simon & Schuster, New York 1984<br />

• Rottleuthner, Hubert: Klassenjustiz? In: Kritische Justiz. S. 1–26<br />

• Rousseau, Jean-Jacques: Über die Ungleichheit. In: Weigand, Kurt (Hg.): Jean-Jacques Rousseau – Schriften zur<br />

Kulturkritik. S. 61–269<br />

• Rousseau, Jean-Jacques: Über Kunst und Wissenschaft. In: Weigand, Kurt (Hg.): Jean-Jacques Rousseau – Schriften<br />

zur Kulturkritik. S. 1–59<br />

• Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag o<strong>der</strong> Grundsätze des Staatsrechts. Reclam, Stuttgart 1994<br />

• Rubel, Maximilien: Marx-Chronik – Daten zu Leben und Werk. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1983<br />

• Rucht, Dieter: Mo<strong>der</strong>nisierung und neue soziale Bewegungen – Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich.<br />

Campus, Frankfurt/New York 1994<br />

• Rustermeyer, Re<strong>in</strong>hard: Zur Dezentrierung des Subjekts im neueren französischen Strukturalismus. Blaue Eule<br />

Verlag, Essen1985<br />

• Ryan, Michael: Marxism and Deconstruction. The Johns Hopk<strong>in</strong>s University Press, Baltimore/London 1982<br />

• Ryan, Michael: Politics and Culture – Work<strong>in</strong>g Hypotheses for a <strong>Post</strong>-Revolutionary Society. The Johns Hopk<strong>in</strong>s<br />

University Press, Baltimore 1989<br />

• Ryan, Michael: <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>n Politics. In <strong>der</strong>s.: Politics and Culture. S. 82–97<br />

• Ryan, Michael/Gordon, Avery (Hg.): Body Politics – Disease, Desire, and the Family. Westview Press, Boul<strong>der</strong>/San<br />

Francisco/Oxford 1994<br />

• Ryffel, Hans: Rechtssoziologie – E<strong>in</strong>e systematische Orientierung. Luchterhand, Neuwied 1974<br />

• Sa<strong>in</strong>t-Simon, Claude-Heri de: Catéchisme des <strong>in</strong>dustriels. In: Gurvitch, Gorges (Hg.): La physiologie sociale. S.<br />

141–146<br />

• Sand, Stephanie: IBM – E<strong>in</strong>e kritische Geschichte des Computer-Giganten. Heyne, München 1988<br />

• Sarc<strong>in</strong>elli, Ulrich: ›Fernsehdemokratie‹ – Symbolische <strong>Politik</strong> als konstruktives und als destruktives Element politische<br />

Wirklichkeitsvermittlung. In: Wunden, Wolfgang (Hg.): Öffentlichkeit und Kommunikationsvermittlung. S. 31–41<br />

• Sarc<strong>in</strong>elli, Ulrich: Massenmedien und <strong>Politik</strong>vermittlung – E<strong>in</strong>e Problem- und Forschungsskizze. In: Wittkämper,<br />

Gerhard (Hg.): Medien und <strong>Politik</strong>. S. 37–62<br />

• Sarc<strong>in</strong>elli, Ulrich: Symbolische <strong>Politik</strong> – Zur Bedeutung symbolischen Handelns <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wahlkampfkommunikation<br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland. Westdeutscher Verlag, Opladen 1987<br />

• Sarte, Jean-Paul: Das Se<strong>in</strong> und das Nichts – Versuch e<strong>in</strong>er phänomenologischen Ontologie. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek<br />

1991<br />

• Sartre, Jean-Paul: Die Transzendenz des Ego: Philosophische Essays 1931–1939. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1982


136 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Sartre, Jean-Paul: Kritik <strong>der</strong> dialektischen Vernunft – Theorie <strong>der</strong> gesellschaftlichen Praxis. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1967<br />

• Sartre, Jean-Paul: L’existentialisme est un humanisme. In: Theissen, Joseph (Hg.): Ecriva<strong>in</strong>s existentialistes. S. 3–9<br />

• Sassen, Saskia: The Global City – New York, London, Tokyo. Pr<strong>in</strong>ceton University Press, Pr<strong>in</strong>ceton 1991<br />

• Saussure, Ferd<strong>in</strong>and de: Grundfragen <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Sprachwissenschaft. De Gruyter Verlag, Berl<strong>in</strong> 1967<br />

• Sauvant, Karl P.: Services and Data Service – Introduction. In: Rob<strong>in</strong>son, Peter/Ders./Govitrikar, Vishwas P. (Hg.):<br />

Electronic Highways for World Trade. S. 3–14<br />

• Sauvant, Karl. P.: The Tradability of Services. In: Messerl<strong>in</strong>, Patrick A./Ders.: The Uruguay Round. S. 114–122<br />

• Schäfer, Lothar/Ströker, Elisabeth (Hg.): Naturauffassungen <strong>in</strong> Philosophie, Wissenschaft, Technik. Verlag Karl Alber,<br />

Freiburg/München 1995<br />

• Schapiro, Salwyn: Was ist Liberalismus? In: Gall, Lothar (Hg.): Liberalismus. S. 20–36<br />

• Scharpf, F. A. (Hg.): Des Card<strong>in</strong>als und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Her<strong>der</strong>, Freiburg 1862<br />

• Scheer, Hermann: Zurück zur <strong>Politik</strong> – Die archimedische Wende gegen den Zerfall <strong>der</strong> Demokratie. Piper,<br />

München/Zürich 1995<br />

• Schefold, Bertram/Carstensen, Kristian: Die klassische Politische Ökonomie. In: Iss<strong>in</strong>g, Otmar (Hg.): Geschichte<br />

<strong>der</strong> Nationalökonomie. S. 63–87<br />

• Scheler, Max: Die Zukunft des Kapitalismus. In: Ders.: Die Zukunft des Kapitalismus und an<strong>der</strong>e Aufsätze. S. 75–90<br />

• Scheler, Max: Die Zukunft des Kapitalismus und an<strong>der</strong>e Aufsätze. Francke Verlag, München 1979<br />

• Schelsky, Helmut: Auf <strong>der</strong> Suche nach Wirklichkeit – Gesammelte Aufsätze. Verlag Eugen Die<strong>der</strong>ichs, Düsseldorf/Köln<br />

1965<br />

• Schelsky, Helmut: Die Bedeutung des Klassenbegriffs für die Analyse unserer Gesellschaft. In: Seidel, Bruno/Jenkner,<br />

Siegfried (Hg.): Klassenbildung und Sozialschichtung. S. 398–446<br />

• Schelsky, Helmut: Der Mensch <strong>in</strong> <strong>der</strong> wissenschaftlichen Zivilisation. In: Ders.: Auf <strong>der</strong> Suche nach Wirklichkeit.<br />

S. 439–471<br />

• Schelsky, Helmuth: Thomas Hobbes – E<strong>in</strong>e politische Lehre. Duncker & Humblot, Berl<strong>in</strong> 1981<br />

• Scherrer, Christian P.: Ethno-Nationalismus im Weltsystem – Prävention, Konfliktbearbeitung und die Rolle <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>ternationalen Geme<strong>in</strong>schaft. Agenda Verlag, Münster 1996<br />

• Schie<strong>der</strong>, Wolfgang: 1848/49 – Die ungewollte Revolution. In: Stern, Carola/W<strong>in</strong>kler, He<strong>in</strong>rich A. (Hg.): Wendepunkte<br />

deutscher Geschichte. S. 13–35<br />

• Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche – Werke <strong>in</strong> drei Bänden. Carl Hanser Verlag, München 1994<br />

• Schleiermacher, Friedrich: Dialektik. Felix Me<strong>in</strong>er Verlag, Hamburg 1986<br />

• Schmid, Josef: Bevölkerungswachstum und Entwicklungsprozeß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dritten Welt. In: Opitz, Peter J. (Hg.):<br />

Weltprobleme. S. 25–51<br />

• Schmidt, Karl-He<strong>in</strong>z: Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie. In: Iss<strong>in</strong>g, Otmar (Hg.): Geschichte <strong>der</strong> Nationalökonomie.<br />

S. 37–62<br />

• Schmidt, Kurt (Hg.): Buddhas Reden – Majjhimanikaya: Die Lehrreden <strong>der</strong> mittleren Sammlung. Kristkeitz Verlag,<br />

Leimen 1989<br />

• Schmidt, Siegfried J.: Der Radikale Konstruktivismus – E<strong>in</strong> neues Paradigma im <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Diskurs. In: Ders.<br />

(Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. S. 11–88<br />

• Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Suhrkamp, Frankfurt 1987<br />

• Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Duncker & Humblot, Berl<strong>in</strong> 1962<br />

• Schmitt, Carl: Der Leviathan <strong>in</strong> <strong>der</strong> Staatsleere des Thomas Hobbes – S<strong>in</strong>n und Fehlschlag e<strong>in</strong>es politischen Symbols.<br />

Hohenheim Verlag, Köln 1982<br />

• Schmitt, Carl: Politische Theologie. Duncker & Humblot, Berl<strong>in</strong> 1979<br />

• Schnädelbach, Herbert: Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung. In: Kunnemann, Harry/Vries, Hent de (Hg.):<br />

Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung. S. 15–35<br />

• Schnei<strong>der</strong>, Wolfgang L.: Kooperation als strategischer Prozeß – Adm<strong>in</strong>istrative Auftragsforschung im Spannungsfeld<br />

zwischen professionellem Interesse und politischer Instrumentalisierung. In: Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang (Hg.):<br />

We<strong>der</strong> Sozialtechnologie noch Aufklärung? S. 302–331<br />

• Schnupp, Peter: Standard-Betriebssysteme. R. Oldenbourg Verlag, München/Wien 1988<br />

• Schönherr-Mann, Hans-Mart<strong>in</strong>: Leviathans Labyr<strong>in</strong>th – Politische Philosophie <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Technik. Wilhelm<br />

F<strong>in</strong>k Verlag, München 1994<br />

• Schönherr-Mann, Hans-Mart<strong>in</strong>: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Perspektiven des Ethischen – Politische Streitkultur, Gelassenheit,<br />

Existentialismus. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1997<br />

• Schönherr-Mann, Hans-Mart<strong>in</strong>: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Theorien des Politischen – Pragmatismus, Kommunitarismus, Pluralismus.<br />

Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1996<br />

• Schoeps, Julius H./Knoll, Joachim H./Bärsch, Claus-E.: Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus – E<strong>in</strong>führung/-<br />

Texte/Bibliographien. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1981


B: LITERATURVERZEICHNIS 137<br />

• Schütz, Alfred: Der s<strong>in</strong>nhafte Aufbau <strong>der</strong> sozialen Welt – E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die verstehende Soziologie. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1993<br />

• Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen <strong>der</strong> Lebenswelt. 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1979 und 1984<br />

• Schütz, Astrid: <strong>Politik</strong> o<strong>der</strong> Selbstdarstellung? – Beispiele von <strong>Politik</strong>erauftritten. In: Jäckel, Peter/W<strong>in</strong>terhoff-Spurk,<br />

Peter (Hg.): <strong>Politik</strong> und Medien. S. 193–209<br />

• Schuh, Hans: Wahns<strong>in</strong>n im Blut – Wird <strong>der</strong> BSE-Erreger auch durch Blutprodukte übertragen? In: Die Zeit. Ausgabe<br />

vom 19. Dezember (Nr. 52) 1997, S. 34<br />

• Schuhmann, Helmut: Die nichteheliche Lebensgeme<strong>in</strong>schaft. Forkel-Verlag, Wiesbaden/Heidelberg 1993<br />

• Schulte, Günter: Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie. Campus, Frankfurt/New York 1993<br />

• Schulz, Uwe: Immanuel Kant. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1990<br />

• Schulz, W<strong>in</strong>fried: Die Konstruktion von Realität <strong>in</strong> den Nachrichtenmedien – Analyse <strong>der</strong> aktuellen Berichterstattung.<br />

Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1990<br />

• Schumann, Hans-Gerd (Hg.): Konservativismus. Athenäum, Königste<strong>in</strong> 1984<br />

• Schumpeter, Jeseph A.: Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie. Francke Verlag, München 1980<br />

• Schwan, Alexan<strong>der</strong>: Politische Theorien des Rationalismus und <strong>der</strong> Aufklärung. In: Lieber, Hans-Joachim (Hg.):<br />

Politische Theorien von <strong>der</strong> Antike bis zur Gegenwart. S. 157–257<br />

• Schwarz, Michiel/Thompson, Michael: Divided We Stand – Redef<strong>in</strong><strong>in</strong>g Politics, Technology and Social Choice.<br />

University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1990<br />

• Scott, Alan: Political Culture and Social Movements. In: Allen, John/Braham, Peter/Lewis, Paul (Hg.): Political<br />

and Economic Forms of Mo<strong>der</strong>nity. S. 127–160<br />

• Scott, Alan (Hg.): The Limits of Globalization – Cases and Arguments. Routlegde, London/New York 1997<br />

• Seidel, Bruno/Jenkner, Siegfried (Hg.): Klassenbildung und Sozialschichtung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft,<br />

Darmstadt 1968<br />

• Seligman, Mart<strong>in</strong> E./Maier, Steven F.: Failure to Escape Traumatic Shocks. In: Journal of Experimental Psychology.<br />

Vol. 74, No. 1 (1967), S. 1–9<br />

• Sengenberger, Werner: Arbeitsmarktstruktur – Ansätze zu e<strong>in</strong>em Modell des segmentierten Arbeitsmarkts. Campus,<br />

Frankfurt 1975<br />

• Senghaas, Dieter: Woh<strong>in</strong> driftet die Welt? Suhrkamp, Frankfurt 1994<br />

• Senghaas, Dieter: Zwischen Globalisierung und Fragmentisierung – E<strong>in</strong> Beitrag zur Weltordnungsdebatte. In: Blätter<br />

für deutsche und <strong>in</strong>ternationale <strong>Politik</strong>. Heft 1/1993, S. 50–59<br />

• Sennett, Richard: Der flexible Mensch – Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berl<strong>in</strong> Verlag, Berl<strong>in</strong> 1998<br />

• Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei <strong>der</strong> Intimität. Fischer, Frankfurt 1983<br />

• Shapiro, Michael J.: Read<strong>in</strong>g the <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Polity – Political Theory as Textual Practice. University of M<strong>in</strong>nesota<br />

Press, M<strong>in</strong>neapolis/Oxford 1992<br />

• Sheehan, James J.: Der deutsche Liberalismus – Von den Anfängen im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t bis zum ersten Weltkrieg.<br />

C. H. Beck, München 1988<br />

• Sheldrake, Rupert: Die Wie<strong>der</strong>geburt <strong>der</strong> Natur – Wissenschaftliche Grundlagen e<strong>in</strong>es neuen Verständnisses <strong>der</strong><br />

Lebendigkeit und Heiligkeit <strong>der</strong> Natur. Scherz, Bern/München/Wien 1991<br />

• Shields, Rob (Hg.): Cultures of Internet – Virtual Spaces, Real Histories, Liv<strong>in</strong>g Bodies. Sage Publications, London/-<br />

Thousand Oaks/New Delhi 1996<br />

• Siebert, Horst (Hg.): Capital Flows <strong>in</strong> the World Economy – Symposium 1990 des Instituts für Weltwirtschaft an<br />

<strong>der</strong> Universität Kiel. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tüb<strong>in</strong>gen 1991<br />

• Sieyès, Emmanuel: Qu’est-ce que le Tiers État? Librairie Droz, Genève 1970<br />

• Simmel, Georg: Soziologie – Untersuchungen über die Formen <strong>der</strong> Vergesellschaftung. Duncker & Humblot, München/-<br />

Leipzig 1922<br />

• Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung – Sociologische und psychologische Untersuchungen. Duncker &<br />

Humblot, Leipzig 1890<br />

• Simonis, Georg: Technik<strong>in</strong>novation im ökonomischen Konkurrenzsystem. In: Alemann, Ulrich/Schatz, Heribert/Simonis,<br />

Georg (Hg.): Gesellschaft – Technik – <strong>Politik</strong>. S. 37–74<br />

• Sklair, Leslie: Science, Technology and Democracy. In: Boyle, Godfrey/Elliott, David/Roy, Rob<strong>in</strong> (Hg.): The Politics<br />

of Technology. S. 172–185<br />

• Sklair, Leslie: Sociology of the Global System. Harvester Wheatsheaf, New York u.a. 1991<br />

• Sloterdijk, Peter: Kritik <strong>der</strong> zynischen Vernunft. 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1983<br />

• Sloterdijk, Peter: Nach <strong>der</strong> Geschichte. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. S. 262–273<br />

• Smart, Barry: Mo<strong>der</strong>n Conditions, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Controversaries. Routledge, London/New York 1992<br />

• Smart, Barry: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity. Routledge, London/New York 1993<br />

• Smith, Adam: Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen – E<strong>in</strong>e Untersuchung se<strong>in</strong>er Natur und se<strong>in</strong>er Ursachen. Deutscher<br />

Taschenbuch Verlag, München 1988


138 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Smith, Adam: The Theory of Moral Sentiments. Augustus M. Kelley, New York 1966<br />

• Smith, Anthony D.: Nations and Nationalism <strong>in</strong> a Global Era. Polity Press, Cambridge 1995<br />

• Sobchak, Vivian: Demokratisches ›Franchises‹ und die elektronische Grenze. In: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien<br />

und Öffentlichkeit. S. 324–336<br />

• Sousa Santos, Boaventura de: Toward a New Common Sense – Law, Science and Politics <strong>in</strong> the Paradigmatic<br />

Transition. Routledge, New York/London 1995<br />

• Spaemann, Robert: Ars longa vita brevis. In: Löw, Re<strong>in</strong>hard/Ders./Koslowski, Peter (Hg.): Expertenwissen und<br />

<strong>Politik</strong>. S. 15–26<br />

• Spaemann, Robert: Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität? In: Koslowski, Peter/Ders./Löw, Re<strong>in</strong>hard (Hg.): Mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne?<br />

S. 19–40<br />

• Spangenberg, Peter M.: Komplexitätsebenen mo<strong>der</strong>ner Öffentlichkeit – Über die mediale Emergenz kommunikativer<br />

Wirklichkeitskonstruktion und ihre Verfremdung durch technische Visualisierung. In: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien<br />

und Öffentlichkeit. S. 263–277<br />

• Spann, Othmar (Hg.): Ausgewählte Schriften zur Staats- und Wirtschaftslehre des Thomas von Aqu<strong>in</strong>o. Gustav<br />

Fischer Verlag, Jena 1923<br />

• Spero, Joan E.: Guid<strong>in</strong>g Global F<strong>in</strong>ance. In: Foreign Policy. Heft 73 (1989), S. 114–134<br />

• Spielberger, Charles D. (Hg.): Anxiety – Current Trends <strong>in</strong> Theory and Research. 2 Bände, Academic Press, New<br />

Yxork/San Francisco/London 1972<br />

• Stammen, Theo u.a. (Hg.): Grundwissen <strong>Politik</strong>. Campus, Frankfurt/New York 1991<br />

• Stanko, Lucia/Ritsert, Jürgen: Zeit als Kategorie <strong>der</strong> Sozialwissenschaften – E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung. Westfälisches Dampfboot,<br />

Münster 1994<br />

• Star, Susan L.: Power, Technology and the Phenomena of Conventions: On Be<strong>in</strong>g Allergic to Onions. In: Law,<br />

John (Hg.): A Sociology of Monsters. S. 26–56<br />

• Stavenhagen, Lutz-Georg: Zum Verhältnis von Wissenschaft und <strong>Politik</strong>. In: Löw, Re<strong>in</strong>hard/Spaemann, Robert/Koslowski,<br />

Peter (Hg.): Expertenwissen und <strong>Politik</strong>. S. 27–36<br />

• Stehr, Nico/König, René (Hg.): Wissenschaftssoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie<br />

[Son<strong>der</strong>band 18], Westdeutscher Verlag, Opladen 1975<br />

• Stern, Carola/W<strong>in</strong>kler, He<strong>in</strong>rich A. (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte. Fischer, Frankfurt 1987<br />

• Stern, Robert A.: New Directions <strong>in</strong> American Architecture. George Braziller, New York 1977<br />

• Sternberger, Dolf: Drei Wurzeln <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Insel, Frankfurt 1978<br />

• Sternberger, Dolf: Verfassungspatriotismus. Nie<strong>der</strong>sächsische Landeszentrale für Politische Bildung, Hannover<br />

1982<br />

• Sterne, Jim: World Wide Web Market<strong>in</strong>g – Integrat<strong>in</strong>g the Internet to your Market<strong>in</strong>g Strategy. Wiley, New York<br />

u.a. 1996<br />

• Stiftung Entwicklung und Frieden (Hg.): Globale Trends 93/94 – Daten zur Weltentwicklung. Fischer, Frankfurt<br />

1994<br />

• Stiftung Entwicklung und Frieden (Hg.): Globale Trends 1996 – Fakten, Analysen, Prognosen. Fischer, Frankfurt<br />

1995<br />

• Stober, Rolf: Medien als vierte Gewalt – Zur Verantwortung <strong>der</strong> Massenmedien. In: Wittkämper, Gerhard (Hg.):<br />

Medien und <strong>Politik</strong>. S. 27–36<br />

• Strange, Susan: The Limits of Politics. In: Government and Opposition. Vol. 30 (1995), S. 291–311<br />

• Strasen, Sven: Marxistische Ideologiekritik mit poststrukturalistischen Mitteln – <strong>in</strong>novativer Gehalt und Selbstzerstörungspotential.<br />

In: Angermüller, Johannes/Nonhoff, Mart<strong>in</strong>: <strong>Post</strong>Mo<strong>der</strong>ne Diskurse zwischen Sprache und Macht.<br />

S. 35–45<br />

• Stu-cka, Petr I.: Proletarisches Recht [Auszug]. In: Reich, Norbert (Hg.): Marxistische und sozialistische Rechtstheorie.<br />

S. 79–85<br />

• Stuke, Horst (Hg.): Michail Bakun<strong>in</strong> – Staatlichkeit und Anarchie und an<strong>der</strong>e Schriften. Ullste<strong>in</strong>, Frankfurt/Berl<strong>in</strong>/Wien<br />

1983<br />

• Stürmer, Wolfgang: Natur und Gesellschaft im Denken des Hoch- und Spätmittelalters. Ernst Klett Verlag, Stuttgart<br />

1975<br />

• Swartz, Thomas R./Weigert, Kathleen M. (Hg.): America’s Work<strong>in</strong>g Poor. University of Notre Dame Press, Nortre<br />

Dame/London 1995<br />

• Talmon, Jacole L.: Die Ursprünge <strong>der</strong> totalitären Demokratie. Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1961<br />

• Taylor, Charles: Sources of the Self – The Make<strong>in</strong>g of Mo<strong>der</strong>n Identity. Harvard University Press, Cambridge 1989<br />

• Taylor, Charles: The Ethics of Authenticity. Harvard University Press, Cambridge 1992


B: LITERATURVERZEICHNIS 139<br />

• Taylor, Peter J.: Beyond Conta<strong>in</strong>ers – Internationality, Interstateness, Interterrioriality. In: Progress <strong>in</strong> Human Geography.<br />

Heft 1/1995, S. 1–15<br />

• Taylor, Peter J.: The State as a Conta<strong>in</strong>er – Territoriality <strong>in</strong> the Mo<strong>der</strong>n World-System. In: Progress <strong>in</strong> Human Geography.<br />

Heft 2/1994, S. 151–162<br />

• Taylor, Fre<strong>der</strong>ick W.: Die Grundsätze <strong>der</strong> wissenschaftlichen Betriebsführung [Nachdruck <strong>der</strong> Orig<strong>in</strong>al-Ausgabe<br />

von 1919]. Raben Verlag, München 1983<br />

• Tell<strong>in</strong>g, Glenn C. et al.: Prion Propagation <strong>in</strong> Mice Express<strong>in</strong>g Human and Chimeric PrP Transgenes Implicates<br />

the Interaction of Cellular PrP with another Prote<strong>in</strong>. In: Cell. Vol. 83 (1995), S. 79–90<br />

• Tell<strong>in</strong>g, Glenn C./Scott, Michael/Prus<strong>in</strong>er, Stanley B.: Decipher<strong>in</strong>g Prion Diseases with Transgenic Mice. In: Gibbs,<br />

Clarence J. (Hg.): Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy. S. 202–231<br />

• Tenbruck, Friedrich H.: Der Fortschritt <strong>der</strong> Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß. In: Stehr, Nico/König, René<br />

(Hg.): Wissenschaftssoziologie. S. 19–47<br />

• Teubner, Gunther: Autopoiese im Recht – Zum Verhältnis von Evolution und Steuerung im Rechtssystem. European<br />

University Institute, Badia Fiesolana 1986<br />

• Teubner, Gunther: Reflexives Recht – Entwicklungsmodelle des Rechts <strong>in</strong> vergleichen<strong>der</strong> Perspektive. In: Archiv<br />

für Rechts- und Sozialphilosophie. 1982, S. 13–59<br />

• Teubner, Gunther: Verrechtlichung – Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege. In: Kübler, Friedrich (Hg.): Verrechtlichung<br />

von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität. S. 289–344<br />

• Theimer, Walter: Geschichte des Sozialismus. A. Franke Verlag, Tüb<strong>in</strong>gen 1988<br />

• Theobald, Robert: Free Man and Free Markets. Anchor Books, New York 1965<br />

• Theobald, Robert (Hg.): The Guaranteed Income – Next Step <strong>in</strong> Socioeconomic Evolution? Anchor Books, New<br />

York 1966<br />

• Theissen, Joseph (Hg.): Ecriva<strong>in</strong>s existentialistes. Max Hueber Verlag, München 1989<br />

• Thiel, Udo: John Locke. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1990<br />

• Thieler, Volker: Lebensgeme<strong>in</strong>schaft ohne Trausche<strong>in</strong>. Fischer, Frankfurt 1995<br />

• Thomas von Aqu<strong>in</strong>: Über die Herrschaft <strong>der</strong> Fürsten. In: Spann, Othmar (Hg.): Ausgewählte Schriften zur Staatsund<br />

Wirtschaftslehre des Thomas von Aqu<strong>in</strong>o. S. 7–114<br />

• Thu Nguyen, Dan/Alexan<strong>der</strong>, Jon: The Com<strong>in</strong>g of Cyberspacetime and the End of the Politiy. In: Shields, Rob<br />

(Hg.): Cultures of Internet. S. 99–124<br />

• Thurow, Lester C.: Die Zukunft des Kapitalismus. Metropolitan Verlag, Düsseldorf/München 1996<br />

• Thurow, Lester C: Die Illusion vom großen Jobwun<strong>der</strong>. In: Die Zeit. Ausgabe vom 25. Oktober (Nr. 44) 1996,<br />

S. 41<br />

• Tichenor, P. J./Donohue, G. A./Olien, C. N.: Mass Media Flow and Differential Growth <strong>in</strong> Knowledge. In: Public<br />

Op<strong>in</strong>ion Quaterly. Vol. 34 (1970), S. 159–170<br />

• Tilly, Charles: Social Movements and National Politics. In: Bright, Charles/Hard<strong>in</strong>g, Susan (Hg.): Statemak<strong>in</strong>g and<br />

Social Movements. S. 297–317<br />

• Timmermann, P.: Mythology and Surprise <strong>in</strong> the Susta<strong>in</strong>able Development of the Biosphere. In: Clark, William<br />

C./Munn, R. E. (Hg.): Susta<strong>in</strong>able Development of the Biosphere. S. 435–453<br />

• Tocqueville, Alexis de: Die Demokratie <strong>in</strong> Amerika. Verlag Josef Habbel, Regensburg 1955<br />

• Tönnies, Ferd<strong>in</strong>and: Thomas Hobbes’ Leben und Lehre. Friedrich Frommann Verlag, Stuttgard 1971<br />

• Tönnies, Ferd<strong>in</strong>and: Geme<strong>in</strong>schaft und Gesellschaft. Verlag Karl Curtius, Berl<strong>in</strong> 1922<br />

• Toffler, Alv<strong>in</strong>: Die dritte Welle – Zukunftschance: Perspektiven für die Gesellschaft des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Goldmann,<br />

München 1983<br />

• Toffler, Alv<strong>in</strong>/Toffler, Heidi: Creat<strong>in</strong>g a New Civilization – The Politics of the Third Wave. Turner Publish<strong>in</strong>g Inc.,<br />

Atlanta 1995<br />

• Tong, Guomo: Dialektik <strong>der</strong> Freiheit als Negation bei Adorno – Zur Freiheitskonzeption <strong>der</strong> negativen Dialektik.<br />

Lit Verlag, Münster 1995<br />

• Toulm<strong>in</strong>, Stephen: Kosmopolis – Die unerkannten Aufgaben <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Suhrkamp, Frankfurt 1994<br />

• Toura<strong>in</strong>e, Ala<strong>in</strong>: Beyond Social Movements? In: Lymann, Stanford M. (Hg.): Social Movements. S. 371–393<br />

• Toura<strong>in</strong>e, Ala<strong>in</strong>: Critique de la mo<strong>der</strong>nité. Fayard, Paris 1993<br />

• Toura<strong>in</strong>e, Ala<strong>in</strong>: Die post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1972<br />

• Toura<strong>in</strong>e, Ala<strong>in</strong>: La production de la société. Édition du Seuil, Paris 1973<br />

• Toura<strong>in</strong>e, Ala<strong>in</strong>: Soziale Bewegungen – Spezialgebiet o<strong>der</strong> zentrales Problem soziologischer Analyse? In: Soziale<br />

Welt. Heft 2/1983, S. 143–152<br />

• Toynbee, Arnold: Der Gang <strong>der</strong> Weltgeschichte. 2 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1979<br />

• Treiber, Hubert: Juristische Lebensläufe. In: Kritische Justiz. 1969, S. 22–44<br />

• Treutner, Erhard: Zur strategischen Nutzung rechtlicher Regeln <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwaltung. In: Voigt, Rüdiger (Hg.): Recht<br />

als Instrument von <strong>Politik</strong>. S. 234–255


140 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Tsiros, Nikolaos: Die politische Theorie <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Verlag Peter Lang, Frankfurt u.a. 1992<br />

• Türk, Hans J.: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Mathias-Grünewald-Verlag/Quell Verlag, Ma<strong>in</strong>z/Stuttgart 1990<br />

• Türk, Klaus: Handlungsräume und Handlungsspielräume rechtsvollziehen<strong>der</strong> Organisationen. In: Blankenburg,<br />

Erhard/Lenk, Klaus (Hg.): Organisation und Recht. S. 153–168<br />

• Turner, Fre<strong>der</strong>ick: Rebirth of Value – Meditations an Beauty, Ecology, Religion, and Education. State University<br />

of New York Press, Albany 1991<br />

• UNDP (Hg.): Human Development Report 1996. Oxford University Press, New York/Oxford 1996<br />

• Upson, Joan: The Beef Crisis – Free Trade Issues <strong>in</strong> European Law. In: British Food Journal. Vol. 99 (1997), S.<br />

62–68<br />

• Uyl<strong>der</strong>t, Melanie: Mutter Erde – Orte <strong>der</strong> Kraft und ihre Wirkungen auf Menschen, Tiere, Wasser, Wege. Hugendubel<br />

Verlag, München 1987<br />

• Valjavec, Fritz: Die Entstehung des europäischen Konservatismus. In: Schumann, Hans-Gerd (Hg.): Konservatismus.<br />

S. 138–155<br />

• Varela, Francisco J.: Autonomie und Autopoiese. In: Schmidt, Siegfried J.: Der Diskrus des Radikalen Konstruktivismus.<br />

S. 119–132<br />

• Varela, Francisco/Thompson, Evan: Der Mittlere Weg <strong>der</strong> Erkenntnis: Die Beziehung von Ich und Welt <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Kognitionswissenschaft – Der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung. Scherz,<br />

Bern/München/Wien 1992<br />

• Vattimo, Gianni: Das Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Reclam, Stuttgart 1990<br />

• Vattimo, Gianni: E<strong>in</strong>er Ontologie des Verfalls entgegen. In. Ders.: Jenseits vom Subjekt. S. 65–93<br />

• Vattimo, Gianni: Jenseits vom Subjekt. Edition Passagen, Graz/Wien 1986<br />

• Veblen, Thorste<strong>in</strong>: The Eng<strong>in</strong>eers and the Price System. Harcourt, Brace & World, New York/Burl<strong>in</strong>game 1963<br />

• Veblen, Thorste<strong>in</strong>: The Theory of the Leisure Class – An Economic Study of Institutions. Gearge Allen & Unw<strong>in</strong>,<br />

London 1924<br />

• Vertrag über die Europäische Union [Die Beschlüsse <strong>der</strong> EG-Ratskonferenz von Maastricht im Dezember 1991<br />

– Mit kurzer E<strong>in</strong>führung]. Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1993<br />

• Vertag über die Gründung <strong>der</strong> Europäischen Wirtschaftsgeme<strong>in</strong>schaft vom 25. März 1957 (Auszug). In: Gasteyger,<br />

Curt: Europa zwischen Spaltung und E<strong>in</strong>igung. S. 160–165<br />

• Venturi, Robert: Komplexität und Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Architektur. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne. S. 79–84<br />

• Vester, He<strong>in</strong>z-Günther: Soziologie <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Qu<strong>in</strong>tessenz-Verlag, München 1993<br />

• Vester, Michel u.a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel – Zwischen Integration und Ausgrenzung.<br />

Bund-Verlag, Köln 1993<br />

• Vico, Giambattista: Pr<strong>in</strong>cipe di una scienza nuova. In: Rossi, Paolo (Hg.): Giambattista Vico – Opere. S. 279–860<br />

• Virilio, Paul: Geschw<strong>in</strong>digkeit und <strong>Politik</strong>. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1980<br />

• Voegel<strong>in</strong>, Eric: Die Neue Wissenschaft <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Verlag Karl Alber, München 1991<br />

• Voegel<strong>in</strong>, Eric: Die politischen Religionen. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1993<br />

• Vogler, John: The Structures of Global Politics. In: Bretherton, Charlotte/Ponton, Geoffrey (Hg.): Global Politics.<br />

S. 23–48<br />

• Voigt, Rüdiger: Grenzen des Rechts – E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>leitung. In: Görlitz, Axel/Ders. (Hg.): Grenzen des Rechts. S. 3–16<br />

• Voigt, Rüdiger: Grenzen rechtlicher Steuerung – Zur Brauchbarkeit des Rechts als Steuerungs<strong>in</strong>strument. In: Ders.<br />

(Hg.): Recht und <strong>Politik</strong>. S. 305–316<br />

• Voigt, Rüdiger: Politische Funktionen von Gerichten – Gegensteuerung o<strong>der</strong> Interpretation von Steuerungsvorgaben?<br />

In: Ders.: <strong>Politik</strong> und Recht. S. 225–233<br />

• Voigt, Rüdiger: Recht als Mittel sozialstaatlicher Reformpolitik – Konfliktneutralisierung durch Verrechtlichung?<br />

In: Ders. (Hg.): Recht und <strong>Politik</strong>. S. 125–136<br />

• Voigt, Rüdiger: Sozialpolitik im Wi<strong>der</strong>streit <strong>der</strong> Interessen – Experimentierfeld für Verrechtlichungsstrategien. In:<br />

Ders.: <strong>Politik</strong> und Recht. S. 149–165<br />

• Voigt, Rüdiger: Steuerung durch Anpassung? – Zur Transformation legislatorischer Steuerungsprogramme durch<br />

die öffentliche Verwaltung. In: Görlitz, Axel/Ders. (Hg.): Grenzen des Rechts. S. 48–65<br />

• Voigt, Rüdiger: Verrechtlichung <strong>in</strong> Staat und Gesellschaft. In: Ders. (Hg.): Verrechtlichung. S. 15–37<br />

• Voigt, Rüdiger (Hg.): <strong>Politik</strong> und Recht – Beiträge zur Rechtspolitologie. Universitätsverlag Brockmeyer, Bochum<br />

1993<br />

• Voigt, Rüdiger (Hg.): Recht als Instrument von <strong>Politik</strong>. Westdeutscher Verlag, Opladen 1986


B: LITERATURVERZEICHNIS 141<br />

• Voigt, Rüdiger (Hg.): Verrechtlichung – Analysen zu Funktion und Wirkung von Parlamentarisierung, Bürokratisierung<br />

und Justizialisierung sozialer, politischer und ökonomischer Prozesse. Athenäum, Königste<strong>in</strong> 1980<br />

• Voruba, Georg: Autonomiegew<strong>in</strong>ne – Konsequenzen von Verrechtlichung und Deregulierung. In: Soziale Welt.<br />

Vol. 43 (1992), S. 168–181<br />

• Voß, Re<strong>in</strong>er: Der Traum von <strong>der</strong> großen Steuerreform. In: Zeitschrift für Rechtspolitik. Heft 4, Band 30 (1997),<br />

S. 142–148<br />

• Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Suhrkamp, Frankfurt 1990<br />

• Wallerste<strong>in</strong>, Immanuel: Geopolitics and Geoculture – Essays on the Chang<strong>in</strong>g World-System. Cambridge University<br />

Press, Cambridge u.a. 1991<br />

• Wallerste<strong>in</strong>, Immanuel: The Capitalist World-Economy. Cambridge University Press, Cambridge u.a. 1980<br />

• Wallerste<strong>in</strong>, Immanuel: The Mo<strong>der</strong>n World System – Capitalist Agriculture and the Orig<strong>in</strong>s of the European World<br />

Economy <strong>in</strong> the Sixteenth Century. Academic Press, New York/London 1974<br />

• Wallner, Friedrich: Selbstorganisation – Zirkularität als Erkärungspr<strong>in</strong>zip? In: Fischer, Hans R. (Hg.): Autopoiesis.<br />

S. 41–52<br />

• Wacquant, Loïc J. D.: Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>er Sozialpraxeologie – Struktur und Logik <strong>der</strong> Soziologie Peirre Bourdieus.<br />

In: Bourdieu, Pierre/Ders.: Reflexive Anthropologie. S. 17–93<br />

• Warnke, Mart<strong>in</strong>: Politische Ikonographie – H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e sichtbare <strong>Politik</strong>. In: Leggewie, Klaus (Hg.): Wozu<br />

<strong>Politik</strong>wissenschaft? S. 170–178<br />

• Wasser, Rudolf: Der politische Richter. Piper, München 1972<br />

• Waltz, Kenneth N.: Theory of International Politics. Addison-Wesley Publish<strong>in</strong>g Company, Read<strong>in</strong>g u.a. 1979<br />

• Wasmuht, Ulrike C. (Hg.): Alternativen zur alten <strong>Politik</strong> – Neue soziale Bewegungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diskussion. Wissenschaftliche<br />

Buchgesellschaft, Darmstadt 1989<br />

• Waters, Malcolm: Globalization. Routledge, London/New York 1995<br />

• Weber, Albrecht: Verfassungsgerichte im an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n. In: Piazolo, Michael (Hg.): Das Bundesverfassungsgericht.<br />

S. 61–73<br />

• Weber, Carl W.: Sklaverei im Altertum. Econ Verlag, Düsseldorf/Wien 1981<br />

• Weber, Max: Die protestantische Ethik und <strong>der</strong> Geist des Kapitalismus. In: Wickelmann, Johannes (Hg.): Max<br />

Weber: Die protestantische Ethik I. S. 27–277<br />

• Weber, Max: Die rationale Staatsanstalt und die mo<strong>der</strong>nen politischen Parteien und Parlamente (Staatssoziologie).<br />

In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Band 2, S. 815–868<br />

• Weber, Max: Die Typen <strong>der</strong> Herrschaft. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Band 2, S. 122–176<br />

• Weber, Max: <strong>Politik</strong> als Beruf. Reclam, Stuttgart 1993<br />

• Weber, Max: Rechtssoziologie. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Band 2, S. 387–513<br />

• Weber, Max: Wesen, Voraussetzungen und Entfaltung <strong>der</strong> bürokratischen Herrschaft. In. Ders.: Wirtschaft und<br />

Gesellschaft. Band 2, S. 551–579<br />

• Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. 2 Bände, Verlag J.C.B. Mohr, Tüb<strong>in</strong>gen 1972<br />

• Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. Reclam, Stuttgart 1995<br />

• Weber-Schäfer, Peter: E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die antike politische Theorie – Zweiter Teil: Von Platon bis August<strong>in</strong>us. Wissenschaftliche<br />

Buchgesellschaft, Darmstadt 1992<br />

• Weck, Roger de: An die Arbeit! – Im Grunde streiken nicht die Studenten, son<strong>der</strong>n die <strong>Politik</strong>er. In: Die Zeit.<br />

Ausgabe vom 28.11.1997 (Nr. 49), S. 1<br />

• Weidenfeld, Werner (Hg.): Demokratie am Wendepunkt – Die demokratische Frage als Projekt des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Siedler Verlag, Berl<strong>in</strong> 1996<br />

• Weigand, Kurt (Hg.): Jean-Jacques Rousseau – Schriften zur Kulturkritik. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1995<br />

• Weimann, Robert/Gumbrecht, Ulrich: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Globale Differenz. Suhrkamp, Frankfurt 1991<br />

• We<strong>in</strong>gart, Peter: ›Großtechnische Systeme‹ – E<strong>in</strong> Paradigma <strong>der</strong> Verknüpfung von Technikentwicklung und sozialem<br />

Wandel? In: Ders. (Hg.): Technik als sozialer Prozeß. S. 174–196<br />

• We<strong>in</strong>gart, Peter (Hg.): Technik als sozialer Prozeß. Suhrkamp, Frankfurt 1989<br />

• We<strong>in</strong>gart, Peter: Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> Gesellschaft – Politisierung <strong>der</strong> Wissenschaft. In: Zeitschrift für Soziologie.<br />

Heft 3/1983, S. 225–241<br />

• Weiß, Hans-Dietrich: Verrechtlichung als Selbstgefährdung des Rechts – Betrachtungen zur Gesetzesflut aus dem<br />

Blickw<strong>in</strong>kel <strong>der</strong> Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. In: Die Öffentliche Verwaltung. Heft 16/1978,<br />

S. 601ff.<br />

• Weiß, Ulrich: Das philosophische System von Thomas Hobbes. Frommann-Holzboog, Stuttgart/Bad Cannstatt<br />

1980<br />

• Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Suhrkamp, Frankfurt 1993


142 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

• Wells, Gerald A. et al.: A Novel Progressive Spongiform Encephalopathy <strong>in</strong> Cattle. In: Veter<strong>in</strong>ary Record. Vol.<br />

121 (1987), S. 419f.<br />

• Welsch, Wolfgang: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Pluralität als ethischer und politischer Wert. In: Alberts, Jörg (Hg.): Aufklärung<br />

und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. S. 9–44<br />

• Welsch, Wolfgang: Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne. Acta humaniora, We<strong>in</strong>heim 1987<br />

• Welsch, Wolfgang: Vernunft – Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept <strong>der</strong> transversalen Vernunft. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1995<br />

• Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – Schlüsseltexte <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskussion. Acta Humaniora,<br />

We<strong>in</strong>heim 1988<br />

• Welzmüller, Rudolf: Auf dem Weg <strong>in</strong> die halbierte Gesellschaft – E<strong>in</strong>kommensverteilung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik.<br />

In: Sozialismus; Heft 9/1994, S. 52ff.<br />

• Weltbank (Hg.): Weltentwicklungsbericht 1995 – Arbeitnehmer im weltweiten Integrationsprozeß. UNO-Verlag,<br />

Bonn 1995<br />

• Weltbank (Hg.): Weltentwicklungsbericht 1996 – Vom Plan zum Markt. UNO-Verlag, Bonn 1996<br />

• Welter, Rüdiger: Der Begriff <strong>der</strong> Lebenswelt – Theorien vortheoretischer Erfahrung. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München<br />

1986<br />

• Welzmüller, Rudolf: Differenzierung und Polarisierung – E<strong>in</strong>kommensentwicklung <strong>in</strong> den 80er Jahren. In: Blätter<br />

für deutsche und <strong>in</strong>ternationale <strong>Politik</strong>. Heft 12/1990 (Vol. 41), S. 1479–1488<br />

• Wentz, Mart<strong>in</strong> (Hg.): Stadt-Räume. Campus, Frankfurt/New York 1991<br />

• Werle, Raymund: Justizorganisation und Selbstverständnis <strong>der</strong> Richter – E<strong>in</strong>e empirische Untersuchung. Athenäum<br />

Verlag, Kronberg 1977<br />

• Wessolleck, W<strong>in</strong>fried: Die Ökologiebewegung – Aspekte ihrer sozialen Konstituierung, <strong>Politik</strong> und Philosophie.<br />

Pahl-Rugenste<strong>in</strong> Verlag, Köln 1985<br />

• Wetz, Franz J.: Die Begriffe ›Zufall‹ und ›Kont<strong>in</strong>genz‹. In: Graevenitz, Gerhart/Marquard, Odo (Hg.): Kont<strong>in</strong>genz.<br />

S. 27–34<br />

• White, David M.: The ›Gate Keeper‹ – A Case Study <strong>in</strong> the Selektion of News. In: Journalism Quaterly. Vol. 27<br />

(1950), S. 383–190<br />

• Wiedmann, Franz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1991<br />

• Wiesbrock, He<strong>in</strong>z (Hg.): Die politische und gesellschaftliche Rolle <strong>der</strong> Angst. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt<br />

1967<br />

• Wiggerhaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1988<br />

• Wilesmith, John: Recent Observations on the Epidemiology of Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy. In: In: Gibbs,<br />

Clarence J. (Hg.): Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy. S. 45–55<br />

• Wilesmith, John W./Wells, Gerald A. H.: Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy. In: Chesebro, Bruce W. (Hg.):<br />

Transmissible Spongiform Encephalopathies. S. 21–38<br />

• Wilke, Jürgen (Hg.): Öffentliche Me<strong>in</strong>ung – Theorie, Methoden, Befunde. Verlag Karl Alber, Freiburg/München<br />

1992<br />

• Wilk<strong>in</strong>son, Helen: K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit – Entsteht e<strong>in</strong>e neue Ethik <strong>in</strong>dividueller und sozialer Verantwortung? In:<br />

Beck, Ulrich (Hg.): K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit. S. 85–123<br />

• Will, R. G.: Incidence of Creutzdelf-Jakob Disease <strong>in</strong> the European Community. In: Gibbs, Clarence J. (Hg.): Bov<strong>in</strong>e<br />

Spongiform Encephalopathy. S. 364–374<br />

• Will, R. G./Ironside, J. W./Zeidler, M. et al.: A New Variant of Creutzfeldt-Jakob Disease <strong>in</strong> the United K<strong>in</strong>gdom.<br />

In: Lancet. Vol. 347 (1996), S. 921–925<br />

• Willke, Helmuth: Ironie des Staates – Grundl<strong>in</strong>ien e<strong>in</strong>er Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft. Suhrkamp,<br />

Frankfurt 1992<br />

• Willms, Bernhard: Die Angst, die Freiheit und <strong>der</strong> Leviathan – Staatsmechanismus o<strong>der</strong> politische Dialektik? In:<br />

Bermbach, Udo/Kodalle, Klaus-M. (Hg.): Furcht und Freiheit. S. 79–90<br />

• W<strong>in</strong>kler, He<strong>in</strong>rich A.: Der Nationalismus und se<strong>in</strong>e Funktionen. In: Ders. (Hg.): Nationalismus. S. 5–48<br />

• W<strong>in</strong>kler, He<strong>in</strong>rich A.: E<strong>in</strong>leitende Bemerkungen zu Hilferd<strong>in</strong>gs Theorie des Organisierten Kapitalismus. In: Ders.<br />

(Hg.): Organisierter Kapitalismus. S. 9–18<br />

• W<strong>in</strong>kler, He<strong>in</strong>rich A. (Hg.): Nationalismus. Athenäum, Königste<strong>in</strong> 1985<br />

• W<strong>in</strong>kler, He<strong>in</strong>rich A. (Hg.): Organisierter Kapitalismus – Voraussetzungen und Anfänge. Vandenhoeck & Ruprecht,<br />

Gött<strong>in</strong>gen 1974<br />

• W<strong>in</strong>nicott; D. W.: Reifungsprozesse und för<strong>der</strong>nde Umwelt. K<strong>in</strong>dler, München 1974<br />

• Wittgenste<strong>in</strong>: Philosophische Untersuchungen. Suhrkamp, Frankfurt 1971<br />

• Wittkämper, Gerhard (Hg.): Medien und <strong>Politik</strong>. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1992<br />

• Wolf, Ra<strong>in</strong>er: Zur Antiquiertheit des Rechts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft. In: Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft.<br />

S. 378–423


B: LITERATURVERZEICHNIS 143<br />

• Woolgar, Steve/Ashmore, Malcolm: The Next Step – An Introduction to the Reflexive Project. In: Woolgar, Steve<br />

(Hg.): Knowledge and Reflexivity. S. 1–11<br />

• Woolgar, Steve (Hg.): Knowledge and Reflexivity – New Frontiers <strong>in</strong> the Sociology of Knowledge. Sage Publications,<br />

London u.a. 1988<br />

• Wouters, Cas: Informalisierung und <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation. In: Gleichmann, Peter/Goudsblom, Johan/Korte,<br />

Hermann (Hg.): Materialien zu Nortbert Elias’ Zivilisationstheorie. S. 279–298<br />

• Wright, Erik O.: Classes. Verso, London/New York 1989<br />

• Wright, Erik O.: Varieties of Marxist Conceptions of Class Structure. In: Politics and Society. Vol 9 (1980), S. 323–370<br />

• Wunden, Wolfgang (Hg.): Öffentlichkeit und Kommunikationskultur – Beiträge zur Medienethik. J. F. Ste<strong>in</strong>kopf<br />

Verlag, Hamburg/Stuttgart 1994<br />

• Wuthenow, Palph-Ra<strong>in</strong>er (Hg.): Michel de Montaigne – Essais. Insel Verlag, Frankfurt 1991<br />

• Wyatt-Walter, Andrew: Regionalism, Globalization, and World Economic Or<strong>der</strong>. In: Fawcett, Louise/Hurrell, Andrew<br />

(Hg.): Regionalism <strong>in</strong> World Politics. S. 74–121<br />

• Zablocki, Benjam<strong>in</strong> D./Kanter-Moss, Rosabeth: The Differentiation of Life-Styles. In: Annual Review of Sociology.<br />

Vol. 2 (1976), S. 269–298<br />

• Zapf, Wolfgang: Entwicklung und Sozialstruktur mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften. In: Korte, Herman/Schäfers, Bernhard<br />

(Hg.): E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Hauptbegriffe <strong>der</strong> Soziologie. S. 181–193<br />

• Zapf, Wolfgang: Entwicklung und Zukunft mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften seit den 70er Jahren. In: Korte, Herman/Schäfers,<br />

Bernhard (Hg.): E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Hauptbegriffe <strong>der</strong> Soziologie. S. 195–210<br />

• Zapf, Wolfgang: Mo<strong>der</strong>nisierung und Mo<strong>der</strong>nisierungstheorien. In: Ders. (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>nisierung mo<strong>der</strong>ner<br />

Gesellschaften. S. 23–39<br />

• Zapf, Wolfgang (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>nisierung mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften – Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages<br />

im Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1990. Campus, Frankfurt/New York 1991<br />

• Zapf, Wolfgang (Hg.): Theorien des sozialen Wandels. Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berl<strong>in</strong> 1969<br />

• Zeuner, Bodo: <strong>Politik</strong>wissenschaft als Demokratiewissenschaft – e<strong>in</strong> vergessener Anspruch? In: Albrecht, Ulrich/Altvater,<br />

Elmar/Krippendorf, Ekkehart (Hg.): Was ist und zu welchem Ende betreiben wir <strong>Politik</strong>wissenschaft? S. 128–142<br />

• Zima, Peter V.: Mo<strong>der</strong>ne/<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Gesellschaft, Philosophie, Literatur. A. Franke Verlag, Tüb<strong>in</strong>gen/Basel<br />

1997<br />

• Zimmerli, Walther Ch.: Das antiplatonische Experiment – Bemerkungen zur technologischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. In:<br />

Ders.: Technologisches Zeitalter o<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne? S. 13–35<br />

• Zimmerli, Walther Ch. (Hg.): Technologisches Zeitalter o<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne? Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1991<br />

• Z<strong>in</strong>n, Karl G.: Auf dem Weg <strong>in</strong> die tertiäre Krise? – Der ungesicherte Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft.<br />

In: Internationale <strong>Politik</strong> und Gesellschaft. Heft 1/1995, S. 59–69<br />

• Zizek, Slavoj: Das Unbehagen im Subjekt. Passagen Verlag. Wien 1998<br />

• Zürn, Michael: Jenseits <strong>der</strong> Staatlichkeit – Über die Folgen <strong>der</strong> ungleichzeitigen Denationalisierung. In: Leviathan.<br />

Heft 4/1992, S. 490–513<br />

• Zwehl, Konrad (Hg.): Aufbruch <strong>in</strong>s Industriezeitalter – Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns vom<br />

ausgehenden 18. Jahrhun<strong>der</strong>t bis zur Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Oldenburg Verlag, München 1985


C: ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS


146 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS:<br />

ASEAN: Association of South-East Asian Nations – Zusammenschluß <strong>der</strong> süd-ostasiatischen<br />

Nationen<br />

AWACS: Airborne Warn<strong>in</strong>g and Control System<br />

B90: Bündnis 90<br />

BAföG: Bundesausbildungsför<strong>der</strong>ungsgesetz<br />

BGB: Bürgerliches Gesetzbuch<br />

BIP: Brutto<strong>in</strong>landsprodukt<br />

BSE: Bov<strong>in</strong>e Spongiforme Enzephalopathie<br />

BSP: Bruttosozialprodukt<br />

BVerfGG: Bundesverfassungsgerichtsgesetz (Gesetz über das Bundesverfassungsgericht)<br />

CDU: Christlich Demokratische Union<br />

CJK: Creutzdeldt-Jakob-Krankheit<br />

CSU: Christlich Soziale Union<br />

DFG: Deutsche Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

DNS: Desoxyribonukle<strong>in</strong>säure<br />

DOS: Disk Operat<strong>in</strong>g System<br />

EG: Europäische Geme<strong>in</strong>schaft<br />

EPZ: Europäische Politische Zusammenarbeit<br />

EU: Europäische Union<br />

FCKWs: Flur-Chlor-Kohlenwasserstoffe<br />

FDP: Freiheitlich Demokratische Partei<br />

G7: Gruppe <strong>der</strong> Sieben (die sieben +größten* Industrienationen: USA, Japan,<br />

Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und Kanada)<br />

GASP: Geme<strong>in</strong>same Außen- und Sicherheitspolitik<br />

GATT: General Agreement on Trade and Tarifs – Allgeme<strong>in</strong>es Zoll- und Handels<br />

abkommen<br />

GG: Grundgesetz<br />

GSS: Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker-Syndrom<br />

GUS: Geme<strong>in</strong>schaft Unabhängiger Staaten<br />

IGO(s): International Govermental Oganization(s) – Internationale Regierungsorganisation(en)<br />

INGO(s): International Non-Govermental Oganization(s) – Internationale nicht-staatliche<br />

Organisation(en)<br />

IWF: Internationaler Währungsfond<br />

kB: Kilo-Byte<br />

LDCs: Least Developped Countries – am wenigsten entwickelte Staaten<br />

LFI: Letale familiäre Insomnie<br />

MAFF: M<strong>in</strong>istery for Agriculture, Fischeries, and Food – britisches Landwirtschafts-,<br />

Fischerei- und Ernährungsm<strong>in</strong>isterium<br />

MIT: Massachusetts Institue of Technology<br />

MS: Microsoft<br />

NAFTA: North Atlantic Free Trade Association – Nordatlantische Freihandelsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

NIC(s): Newly Industializ<strong>in</strong>g Countrie(s) – Schwellenlän<strong>der</strong><br />

NGO(s): Non-Governmental Organization(s) – Nicht-staatliche Organisationen


C: ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 147<br />

OECD: Organisation for Economic Co-operation and Development – Organisation<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

PC: Personal Computer<br />

PDS: Partei des Demokratischen Sozialismus<br />

PrP: Zelluläre (+natürliche*) Variante des Prion-Prote<strong>in</strong>s<br />

Sc<br />

PrP : Pathogene Variante des Prion-Prote<strong>in</strong> (Scrapie Prion-Prote<strong>in</strong>)<br />

RNS: Ribonukle<strong>in</strong>säure<br />

SBOs: Specified Bov<strong>in</strong>e Offals – Spefizifierte R<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>in</strong>nere<strong>in</strong>en (die als beson<strong>der</strong>s<br />

BSE-Erregerbelastet gelten)<br />

SE: Spongiforme Enzephalopathie(n)<br />

SEAC: Spongiform Ecephalopathy Advisory Commitee: wissenschaftliches Beratungskommitee<br />

(<strong>der</strong> britischen Regierung) für Spongiforme Enzephalopathien<br />

SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands<br />

UNCTAD: United Nations Conference on Trade and Development – Konferenz <strong>der</strong><br />

Vere<strong>in</strong>ten Nationen über Handel und Entwicklung<br />

UNDP: United Nations Development Programme – Entwicklungshilfeprogramm <strong>der</strong><br />

Vere<strong>in</strong>ten Nationen<br />

UN(O): United Nations (Organization) – (Organisation <strong>der</strong>) Vere<strong>in</strong>te(n) Nationen<br />

UNOSOM: Somalia-E<strong>in</strong>satz <strong>der</strong> UNO-+Friedenstruppen*<br />

UNRISD: United Nations Research Institut for Social Development – Institut <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten<br />

Nationen für soziale Entwicklung<br />

ZDF: Zweites Deutsches Fernsehen

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