Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

aus Hungergebieten (besonders 1921/22), und daß die so modern entworfenen
Einrichtungen für Verwahrloste unwirksam waren. Maklezerow (1929) beschreibt
sehr drastisch die Verhältnisse und Probleme:
Die Aufnahme- und Verteilungsanstalten, die Kinderheime und Jugendinspektionen
waren hoffnungslos überfordert und dienten lediglich als Abladeplatz
für Kinder. Das wenige und zum Umfallen müde, überarbeitete und
meist kaum geschulte Personal stand mutlos, machtlos und ohne Hilfsmittel
(Nahrung, Kleidung, Medizin, Heizung, Beleuchtung, Möbel, Seife, Baumaterial
zur Reparatur der Gebäude) den sie terrorisierenden Scharen von aggressiven,
arbeitsscheuen, abgestumpften, ungehorsamen, verdreckten, zerlumpten,
halbverhungerten, kranken Kindern gegenüber, die umgehend mit
der neuen Anstaltskleidung (falls es so etwas gab) wieder ausrissen oder vom
Heim aus bewaffnete Raubzüge unternahmen.
Wegen Mangel an Schuhen gingen viele Kinder auch im strengen russischen
Winter barfuß, waren entsprechend krank, hatten Ungeziefer, Läuse,
Krätze, Epidemien - und vor allem Hunger. Die Gebäude waren kriegszerstört,
ohne Fenster und Türen, unbeleuchtet, ungeheizt und boten keinen
Schutz vor dem Frost des russischen Winters ...
Gesunde und Kranke, kriminelle Verwahrloste, Waisen und Süchtige lebten
bunt beieinander, meist mehrere in einem Bett (sofern es überhaupt Betten
gab), viele verrichteten ihre Notdurft in den Saalecken, es gab viele Tote.
Die Zahl der betreuten Kinder nahm lawinenartig zu: von knapp 30.000 im
Jahr 1917 auf 540.000 Anfang 1922. Mitte 1922 halbierte man, weil die Kosten
untragbar wurden, die Zahl der Plätze einfach auf gut 252.000 und warf
die anderen Kinder wieder auf die Straße. Die Zahl der Verwahrlosten stieg
stetig weiter und stabilisierte sich erst 1926.
Das reformpädagogische Konzept hatte in Rußland zunächst scheitern müssen
an den äußeren materiellen und personellen Bedingungen. Die Reaktion
auf diese Erkenntnis war die schroffe Abkehr vom bisherigen Reformkonzept
der kommunistischen Kollektiv-Erziehung und ein Umschwenken auf ganz
traditionelle Lösungen 495 : Familienerziehung (Adoptionsversuche) und simple
Erziehungsmethoden kamen unter Stalin wieder zu Ehren: Einsperren, eiserne
Strenge, Disziplin, Härte, Zucht und Ordnung.
Vor diesem Zeit-Hintergrund muß die Pädagogik Makarenkos und seiner
Zeitgenossen betrachtet werden. Die zum puren Überleben notwendigen Betrügereien
und der - auch international in der Jugenderziehung zeittypi-
495 Auch auf anderen Gebieten, etwa beim Eherecht und bei der Abtreibung, wurden die Reformen
zurückgenommen und wurden ganz traditionelle Lösungen gesucht. Vgl. dazu
Reich (1971: 157 ff.).
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