Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

20.6.2. Die Notzeit 1921/22
Die Zeit vom Frühling 1921 bis Ende 1922, insbesondere das Jahr 1922 war
äußerst hart und voller Katastrophen 525 . Makarenko riskierte mehrfach seine
eigene Existenz und die der Kolonie, sowohl durch seine Pädagogik wie auch
durch seine kriminellen, aber überlebensnotwendigen Beschaffungsaktionen,
die auch seine Nerven angriffen. Er verzweifelte und litt auch an seiner pädagogischen
Ohnmacht: Im Frühling 1922 beging er beinahe Selbstmord, als er
erfuhr, daß ein Kolonist als Straßenräuber arbeitete.
Vor allem in dieser Notzeit entstand Makarenkos Erziehungskonzeption.
Am Ende dieser Zeit waren Normalisierung, Stetigkeit, Routine, und wirtschaftliche
Leistung erreicht, der schlimmste Mangel war überwunden, der
Aufbau erfolgreich abgeschlossen, und das durch Disziplinierung, Militarisierung,
Tradition und eine spezifische Selbstverwaltung bestimmte Makarenko-
Modell der Erziehung war im wesentlichen fertig. Es hatte allerdings auch nur
wenig Ähnlichkeit mit anderen Kinderrepubliken.
Die Aufnahme einer neuen Gruppe Jugendlicher aus den besiegten Bürgerkriegsarmeen
machte die Kolonie im April 1921 wieder zum Räubernest. Persönliche
Streitereien und Feindschaften, Schlägereien, gefährliche Messerstechereien
waren an der Tagesordnung, Erzieher wurden allerdings nicht
mehr bedroht. Makarenko setzte seine gebieterische Autorität im Einzelfall
erfolgreich ein, sammelte die Waffen ein und schlug Messerstecher nieder,
meist beendete bereits sein Erscheinen die Messerstechereien. Nach einem
Mord warf er die schlimmsten Messerstecher aus der Kolonie.
Alkohol wurde in der Kolonie zum Problem. Im April 1921 führte die Kolonie
in ihrer Nachbarschaft mit polizeilicher Genehmigung Aktionen gegen
die (verbotene, aber allgemein übliche) Schnapsbrennerei der Bauern durch:
Die Höfe der Nachbarn wurden durchsucht und alle Schnapsflaschen und
Destillationsgerätschaften zerschlagen.
Beim Kartenspiel verspielten die Jugendlichen untereinander ihr Essen, ihre
Kleidung oder tägliche Dienste etc., wodurch manche zu Hunger oder zum
Diebstahl gezwungen wurden, während andere große Mengen Geld und Zukker
ansammelten. Makarenko verbot das Glücksspiel, beschlagnahmte die
Gewinne und agitierte gegen die Ausplünderung der Kameraden:
525 Diese Zeit war im ganzen Land katastrophal! 1921/1922 herrschte eine verheerende Hungersnot,
in der Hunderttausende oder gar Millionen Menschen verhungerten. Auch halbierte
man Mitte 1922 (weil die Kosten untragbar wurden) die Zahl der öffentlich betreuten
Kinder einfach auf gut 252.000 und warf den Rest wieder auf die Straße (vgl. Maklezerow
1929: 318). Die Arbeitskraft selbst der Kinder, Lehrer und Erzieher wurde zur
Produktion benötigt, Heime wurden zur Subsistenzproduktion verpflichtet (vgl. Kapitel
20.3.3.).
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