Berner Kulturagenda 2017 N° 6
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16. – 22. Februar <strong>2017</strong> Anzeiger Region Bern 17<br />
3<br />
In dein Gesicht<br />
Ein Porträt über die Autorin Stefanie Sargnagel besteht im<br />
besten Fall aus Zitaten von ihr selbst. Mit Facebook-Posts<br />
und Reportagen hat sich die Österreicherin nach oben<br />
geschrieben. Nun liest sie im Tojo der Reitschule.<br />
Ihren Aufstieg könnte man so beschreiben:<br />
Aus dem Prekariat auf den<br />
Autorinnenthron. Stefanie Sargnagel,<br />
geboren im Jahr 1986 als Stefanie<br />
Sprengnagel in Wien, hat früher im<br />
Callcenter gearbeitet, sich dort furchtbar<br />
gelangweilt und daraus resultierend<br />
über ihre Zustände zwischen<br />
Kater, Liebeskummer, Besuche beim<br />
Finanzamt und der allgemeinen Desillusion<br />
des Daseins geschrieben. Vorerst<br />
waren das Zweizeiler auf Facebook,<br />
oft mehrere pro Tag; irrwitzig<br />
und schrecklich realistisch kommentierte<br />
sie Aktualitäten. Im Dezember<br />
2015 etwa schrieb sie: «die flüchtlinge<br />
im zug setzen sich weg, weil ich schon<br />
so stink.» Die Anschläge auf «Charlie<br />
Hebdo» kommentierte sie mit: «worüber<br />
lachen dschihadisten?» und «je<br />
suis mohamette».<br />
Mit ihren Büchern «Binge Living:<br />
Callcenter Monologe» (2013) und «Fitness»<br />
(2015) und ihren Veröffentlichungen<br />
im Onlinemagazin «Vice»<br />
wurde sie bekannt, dann schickte sie<br />
der «Bayerische Rundfunk» als Reporterin<br />
an den Wiener Opernball und an<br />
das Oktoberfest. Mit ihrer roten Baskenmütze<br />
und ihrer ausgefuchsten<br />
Beo bachtungsgabe schrieb sie sich in<br />
die Herzen der Aussenseiter und ist<br />
mittlerweile auch in der linken Intellektuellenszene<br />
ein Star. Letztes Jahr<br />
wurde sie an den Wettbewerb des Ingeborg-Bachmann-Preises<br />
eingeladen.<br />
«Übergriffig und respektlos»<br />
Gerne wird Sargnagel mit der amerikanischen<br />
Schauspielerin und Regisseurin<br />
Lena Dunham («Girls») gleichgesetzt.<br />
Die Österreicherin meinte<br />
dazu im Interview mit dem «Tages-Anzeiger»:<br />
«Oft werden wir nur aufgrund<br />
unseres Übergewichts verglichen.<br />
Was soll das? Wenn der Körperbau<br />
eines Kulturschaffenden vom Feuilleton<br />
thematisiert wird, ist das extrem übergriffig<br />
und respektlos. Welcher Mann<br />
muss sich so etwas bieten lassen?»<br />
Prolo-Braut mit System<br />
Stefanie Sargnagel ist die Robin<br />
Hood der Arbeiterklasse, eine Prolo-<br />
Braut mit System. Aus Grammatik<br />
etwa macht sie sich aus Prinzip nichts,<br />
für ihre Hasser verfasste sie folgende<br />
Facebookmeldung: «Ich glaub von allem,<br />
was man so an stalkern, humornazis<br />
und verbitterten, gehässigen<br />
leuten bekommt, die einen kontaktieren,<br />
wenn man öffentlicher wird, find<br />
ich die rechtschreib- und grammatikverbesserer<br />
am allerschlimmsten.»<br />
Im Sommer erscheint ihr neues<br />
Buch und ab Mai ist sie Stadtschreiberin<br />
von Klagenfurt. Eine ehrenwerte<br />
Aufgabe, zu der Sargnagel folgende<br />
Worte findet: «soll ich in klagenfurt zu<br />
tindern beginnen?» Milena Krstic<br />
Tojo Theater Reitschule, Bern<br />
So., 19.2., 19 Uhr<br />
www.tojo.ch<br />
Wir verlosen 2 × 2 Tickets:<br />
tickets@bka.ch<br />
TICKETS<br />
Kleine Unterschiede<br />
Für den deutsch-türkischen Komiker Kaya Yanar ist die<br />
Schweiz eine Fundgrube. Mit «Der Reiz der Schweiz» ist<br />
der Wahlschweizer auf Tournee durch seine neue Heimat.<br />
Schweizer sollen unverhohlen starren.<br />
Laut einem «Tages-Anzeiger»-Artikel<br />
irritiert das viele Expats. Die leicht gehässige<br />
Differenzierung gegenüber<br />
Deutschen ist üblich. Auch der Ethno-<br />
Comedian Kaya Yanar, auf Sat. 1 mit<br />
«Was guckst du?!» und der Kultfigur<br />
Ranjid bekannt geworden, lebt in der<br />
Schweiz. Dazu hat er eine schöne Szene<br />
beobachtet: «Wo krieg ich ein Ticket?»<br />
«Das heisst bei uns Billet.» «Gut, wo<br />
krieg ich das?» «Am Ticketautomat.»<br />
Yanar schrieb das Programm «Der<br />
Reiz der Schweiz» 2016, mit dem er nun<br />
auf zweiter Schweiztournee ist.<br />
Da rin beschäftigt ihn das Tempolimit<br />
120 und das Prinzip der B-Post genauso<br />
wie der eigentümliche Sprach-Singsang.<br />
Auch Sportarten faszinieren ihn:<br />
«Fünf Frauen werfen Teekannen und<br />
putzen» (Curling) oder «Ein Typ haut<br />
mit einer Angel ein Ding weg und dann<br />
wedeln 20 Leute mit ’ner Pfanne. Es ist<br />
wie Fussball schauen, ohne den Ball zu<br />
sehen.» (Hornussen).<br />
<br />
Katja Zellweger<br />
KKThun. Fr., 17.2. und 2.3., 20 Uhr<br />
Kursaal, Bern. Sa., 18.2., 20 Uhr<br />
www.dominoevent.ch<br />
ZVG<br />
Kaya Yanar ist fasziniert von helvetischen Eigenheiten.<br />
Die Flegeljahre sind vorbei<br />
Älter, aber nicht leiser: Die Jazzwerkstatt feiert ihr<br />
10-Jahr-Jubiläum mit Tarantel-Trompeten, klingenden<br />
Comics und ausgeklügelten Dudelsäcken.<br />
«Worüber lachen Dschihadisten?»: Stefanie Sargnagels Humor kennt keine Zensur.<br />
ZVG<br />
Seit zehn Jahren spürt die Jazzwerkstatt<br />
neue Tendenzen im Jazz auf und<br />
bietet aufstrebenden lokalen und internationalen<br />
Musikerinnen und<br />
Musikern eine Plattform. Oder, um es<br />
in den Worten des künstlerischen Leiters<br />
Benedikt Reising zu sagen: «Wir<br />
schütteln und klopfen den alten und<br />
ehrwürdigen Sack namens Jazz und<br />
gucken, was da alles raus fällt.» Im<br />
Editorial zur Jubiläumsausgabe des<br />
Festivals schreibt Reising weiter: «Der<br />
Knuddelbonus ist aufgebraucht.» Was<br />
nicht bedeutet, dass es musikalisch<br />
gesetzter zu und her geht.<br />
Das österreichische Trio Interzone<br />
um den Tempo-Trompeter Mario Rom<br />
etwa spielt wie von der Tarantel gestochen.<br />
Das ist Jazz, der auf der Schnellstrasse<br />
rast, mit Abbiegungen in die<br />
Disco, den Balkan und die Polka. Ausserdem<br />
stellt die Bieler Saxofonistin<br />
Hanna Marchand ihre Neo-Soul-Jazz-<br />
Band Kaana vor, und der <strong>Berner</strong><br />
Niklaus Hürny vertont einen Comic<br />
von Andy Fischli. Den Festivalabschluss<br />
bildet das von Bee-flat präsentierte<br />
Konzert des amerikanischen<br />
Dudelsackspielers Matthew Welch und<br />
seinem Blar-chestra. Welch verbindet<br />
Gamelan-Melodien mit Neuer Musik<br />
und entlockt dem kurligen Instrument<br />
ungewohnte Töne. Sarah Sartorius<br />
Turnhalle im Progr, Bern<br />
Mi., 22. bis 26.2.<br />
www.jazzwerkstatt.ch<br />
Pegelstand<br />
Kolumne<br />
von Sibylle Heiniger<br />
Ein Nachbar fragte mich unlängst,<br />
warum ich so viel vor dem Computer<br />
sitze, ich sei doch Theaterschaffende.<br />
Die Frage amüsierte mich. Zumal damit<br />
ein Bild einhergeht, dass wir<br />
Kunstschaffenden immer in Proberäumen<br />
und Ateliers unserer Kunst<br />
frönen, uns darin verausgaben und<br />
dann an Premierenfeiern oder Vernissagen<br />
ein Cüpli zu viel gönnen. Es lebe<br />
die Bohemienne! Es lebe das romantische<br />
Bild der Künstlerin, des Künstlers<br />
und ihrer Musen!<br />
Die Realität: Ich sitze in der Tat viel<br />
zu viel vor dem Computer. Texte redigieren.<br />
Konzepte schreiben. Tonaufnahmen<br />
bearbeiten. Probepläne verfassen.<br />
Diese Tätigkeiten haben ja noch<br />
etwas Kreatives an sich. Aber auch das<br />
gehört – wie gerade die letzten Tage –<br />
dazu: Abrechnungen machen für die<br />
AHV, die Berufshaftpflicht, die Unfallversicherung<br />
und Einzahlungen für<br />
meine zweite Säule tätigen.<br />
Ich bin zwar freischaffend, was aber<br />
in der Schweiz nicht gleichzusetzen ist<br />
mit selbstständig. Freischaffend zu<br />
sein heisst auch, verschiedene Arbeitgeber<br />
zu haben, die für mich im besten<br />
Fall auch die Sozialleistungen übernehmen.<br />
Anfang Jahr habe ich dann<br />
einen Stapel Lohnausweise vor mir,<br />
nebst der Abrechnungsliste meiner<br />
Pensionskasse, die ich darauf kontrollieren<br />
muss, ob auch alle ihre Beiträge<br />
einbezahlt haben.<br />
In der Kulturstrategie der Stadt Bern<br />
ist ein Ziel klar definiert: «Die soziale<br />
Sicherheit der Kulturschaffenden ist<br />
verbessert.» Kultur Stadt Bern hat dazu<br />
schon ein Merkblatt mit den neu geltenden<br />
Massnahmen veröffentlicht.<br />
Gut so. Vielleicht beschert mir dies<br />
weniger Papierkram. Nun geht es ans<br />
Eingemachte, weg vom Computer:<br />
«Kreatives Engagement und die Eigeninitiative<br />
der Kunstschaffenden» fordert<br />
Alexander Tschäppät im Geleitwort<br />
der Kulturstrategie. Gerne. Und<br />
eine Priorität der Kulturstrategie sei die<br />
Verstärkung des Dialogs, der Kommunikation<br />
und der Transparenz.<br />
Deshalb: Kommen Sie am 20. Februar<br />
ins Kornhausforum zum Gespräch<br />
mit Alec von Graffenried, dem neuen<br />
obersten Kulturchef der Stadt Bern.<br />
Sibylle Heiniger ist Regisseurin, Produzentin<br />
und Vorstandsmitglied von<br />
ACT Bern, dem Berufsverband der freien<br />
Theaterschaffenden. Sie liebt die Aare<br />
(vor allem im Sommer) und gute Bücher<br />
(immer).<br />
Illustration: Rodja Galli, a259<br />
Wir heissen Sibylle Heiniger herzlich<br />
willkommen als neue Kolumnistin!<br />
Sie ersetzt Alexandra von Arx.<br />
Ihr danken wir für die inspirierenden<br />
Texte, die sie seit 2014 für uns<br />
geschrieben hat.