3/2012 - Psychotherapeutenjournal
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Empirische Massenware – uninspirierend, aber anerkannt<br />
Ulfried Geuter<br />
Lieber Herr Padberg,<br />
vielen Dank für Ihren sehr schönen Artikel.<br />
Bei dieser delikaten Thematik schimpfen<br />
Sie nicht, zeigen nicht mit dem Finger auf<br />
jemanden, sondern machen ein Problem<br />
verständlich und beziehen klar Position. Das<br />
ist sehr schön zu lesen und sehr wohltuend.<br />
Als psychotherapeutischer Praktiker lese<br />
ich gerade viel Forschungsliteratur, da<br />
ich ein Buch über Körperpsychotherapie<br />
schreibe. Dabei mache ich die Erfahrung,<br />
dass ein Großteil dieser Literatur auch in<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 3/<strong>2012</strong><br />
tellektuell – also nicht nur mit Blick auf<br />
die Praxis – uninspirierend ist. Die Autoren<br />
lassen einen an ihren Denkbewegungen<br />
nicht teilhaben, nur an Hypothesen,<br />
StandardVersuchsplänen und Ergebnissen.<br />
Die interessanten Informationen sind<br />
oft sehr dünn. Und oft kommt es mir so<br />
vor, als hätten die empirischen Forscher in<br />
ihrem Computer fertige Textschablonen,<br />
in die nur noch die Details der jeweiligen<br />
Forschungsarbeit – welche genaue Hypothese,<br />
wie viele Versuchspersonen etc. –<br />
eingetragen werden. Die entsprechenden<br />
Artikel sind dann wie Kleider, die nach ei<br />
U. Geuter / R. Bastine<br />
nem Schnittmuster aus der Brigitte genäht<br />
wurden.<br />
Akademisch anerkannt aber ist diese uninspirierte<br />
empirische Massenware. Nur wer<br />
diese Ware produziert, kann heute Professor<br />
der Klinischen Psychologie werden. Das<br />
wird mehr anerkannt, als mit mutigen Gedanken<br />
Neuland auszumessen, wie es Watson<br />
tat, was immer man davon auch hält.<br />
Besten Gruß<br />
Die Beziehung zwischen Forschung und Praxis in der Psychotherapie<br />
Reiner Bastine<br />
Der Beitrag ist hübsch polemisch, leider<br />
aber auch plakativ („Forschungsliteratur<br />
instruiert nicht, ... informiert nicht, ... inspiriert<br />
nicht ...“) und nicht wirklich bemüht,<br />
den bemängelten Sachverhalt zu belegen<br />
(angeblich lesen Psychotherapeuten<br />
generell keine „Forschungsliteratur“). Da<br />
die Schlussfolgerungen geradezu abenteuerlich<br />
sind („Die Lektüre von Fachartikeln<br />
ist daher für den Psychotherapeuten<br />
überflüssig“), fragt man sich schon, ob<br />
das wirklich ernst gemeint ist. Die zentrale<br />
und zweifellos richtige Frage aber ist, was<br />
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten<br />
tun und tun sollten, um den Ansprüchen<br />
an eine fachlich ausgewiesene<br />
und fundierte psychotherapeutische Behandlung<br />
gerecht zu werden, und wie die<br />
Beziehung zwischen Forschung und Praxis<br />
in der Psychotherapie aussieht und aussehen<br />
kann.<br />
Nicht nur für unsere Patientinnen und Patienten,<br />
sondern auch für unser Selbstverständnis,<br />
für unsere eigene Arbeit als Psychotherapeuten<br />
wie für unsere Profession<br />
als Ganzes wünschen wir uns eine informierte,<br />
fachkundige, am Stand der wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse orientierte<br />
psychotherapeutische Praxis – spätestens<br />
dann, wenn wir selbst psychotherapeutische<br />
Hilfe in Anspruch nehmen wollen.<br />
Das aber ausschließlich am Lesen von<br />
„Forschungsliteratur“ (was genau meint<br />
der Autor eigentlich damit?) festzumachen<br />
und diese zu kritisieren, weil sie angeblich<br />
von Psychotherapeuten nicht gelesen<br />
würde, wird weder der Forschungsliteratur<br />
noch den praktizierenden Psychotherapeuten<br />
gerecht.<br />
Nehmen wir einmal an, dass mit „Forschungsliteratur“<br />
das gemeint sein soll, was<br />
in wissenschaftlichen Zeitschriften über klinische<br />
und psychotherapeutische Themen<br />
publiziert wird. Das umfasst ein riesiges<br />
Spektrum, das von theoretischen, behandlungs<br />
und forschungsmethodischen bis<br />
hin zu epidemiologischen Fragestellungen<br />
reicht und ebenso klinische Fallanalysen<br />
wie Langzeitstudien einschließt. In der Tat<br />
richten sich diese Veröffentlichungen in<br />
erster Linie an Forscher, die sich mit diesen<br />
Themen beschäftigen und die dazu beitragen,<br />
die aufgeworfenen Fragen weiter zu<br />
entwickeln und Lösungen dafür zu finden.<br />
Das ist auch gut so, denn es gibt nun mal<br />
einen grundlegenden Unterschied zwischen<br />
Forschung und Praxis. Angewandte<br />
Forschung hat immer das Ziel, Erkenntnis<br />
Prof. Dr. Ulfried Geuter<br />
Berlin<br />
se zu erweitern und allgemeine Maßnahmen<br />
zu entwickeln, zu begründen und zu<br />
erproben, die für vorgegebene Umstände<br />
gelten sollen. Der intendierte Geltungsbereich<br />
dieser Erkenntnisse ist immer mitzudenken.<br />
Praxis dagegen hat einen individuellen,<br />
singulären Charakter, d. h., sie<br />
bezieht sich auf das Handeln im Einzelfall,<br />
der sich durch vielfältige Bedingungen und<br />
Bedingungskombinationen auszeichnet.<br />
Dadurch ist für den Einzelfall einerseits nur<br />
eine begrenzte Vorhersage möglich, und<br />
andererseits eine fortlaufende Anpassung<br />
der Behandlung an die sich verändernden<br />
Bedingungen erforderlich.<br />
Wegen der grundlegenden Unterschiede<br />
zwischen Angewandter Wissenschaft<br />
und dem Handeln in der Praxis ist von<br />
der psychotherapeutischen Praxis nicht<br />
zu verlangen, dass sie wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse eins zu eins umsetzt. Und<br />
ebenso wenig ist von der wissenschaftlichen<br />
Forschung zu verlangen, dass sie<br />
absolut geltende Handlungsvorgaben<br />
für alle denkbaren Praxisfälle entwickelt,<br />
noch überhaupt entwickeln kann. Deshalb<br />
geht eine EinszuEinsÜbertragung<br />
wissenschaftlich erforschter Behandlungsmethoden<br />
oder auch von Be<br />
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