Umschlag - FreiDok
REuro 10,00
$ 9,50
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SFR 15,50
ISBN 3-9280 13-35-1
c
Editorial
, Janina Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Grusswort
, Mirjam Nastasi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Die singenden Fans des SC Freiburg
, Annika Boehm-Kreutzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Künstlerische Konzepte von Meredith Monk
, Ursula Benzing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Giulio Caccinis Le nuove musiche von 1602 im Selbstversuch
, Silke Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Luciano Berio Sequenza I
, Carolin Fütterer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Offene und geschlossene Konzepte
, Sven Hinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Edward Elgars Cellokonzert – ein Interpretationsvergleich
, Peter Hajek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Wiener Klassik und Öffentlichkeit
, Simone Kathrin Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Das Phänomen der russischen Rockmusik
, Yaroslawa Storchak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Mondrian und Musik
, Anne Dorothea Kütemeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Das Oratorium »Golgotha« von Frank Martin
, Georg Hage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
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Inhalt
Liebe Leserinnen, Liebe Leser!
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{ Musikerinnen und Musiker präsentieren sich klingend. Ihre Gedanken über Musik
bleiben dagegen oft nur einem handverlesenen Publikum vorbehalten. Dabei entstehen
gerade im kreativen Freiraum der Hochschule sehr originelle wissenschaftliche Arbeiten.
Mit dem neuen Magazin NOTENPAPIER möchten wir zur Lektüre einladen.
Ob Musik unmittelbar emotional oder vorrangig als tönende Logik genossen wird,
hängt davon ab, wie wichtig einem sinnliches Erleben und ästhetische Ideen sind. Der
Unterschied entspricht ungefähr dem Verzehr einer Schwarzwälder Kirschtorte und deren
lebensmittelchemischer Analyse. Musikbeschreibungen spiegeln diese Ebenen wider. Der
wirkenden Chemie auf den Grund zu gehen, gehört zur musikalischen Professionalität.
NOTENPAPIER zielt indessen auf eine allgemein interessierte Leserschaft. Darauf
nehmen die Beiträge Rücksicht.
Wie stark Musik erleben und Musik machen emotional fundiert sind, bestimmt
nicht die ästhetische Qualität, sondern die Motivation, die Situation und das Umfeld.
Die singenden Fans leisten im Stadion körperliche Schwerstarbeit und sind doch
hoch zufrieden damit, wie Annika Boehm-Kreutzer herausgefunden hat. Dass Stimmexperimente
zugleich Körperchoreographien sein können, verfolgt Ursula Benzing
bei der Performance-Künstlerin Meredith Monk. Eine Veränderung des Körpergefühls
beschreibt Silke Schwarz im Selbstversuch mit frühbarocker Gesangstechnik. Ihre
praktische Erfahrung nutzt auch Carolin Fütterer, die unterschiedliche Notationen
von Berios Sequenza I testet.
Dahinter steckt ein grundlegendes Problem. Musik entsteht im Erklingen als
flüchtiges Schallobjekt und erhält erst notiert einen materiellen Körper. Nun gibt es
bei der Rückwandlung von Noten in Klang »schwarze Löcher«, in denen Teile der Autorenintention
verschwinden. Aus diesem Reibungsverlust entspringt Interpretation.
Wie stark sie vom subjektiven Lebensgefühl abhängt, diskutiert Peter Hajek an Elgars
Cellokonzert. Dagegen bietet Sven Hinz in seinen 729 Momenten ein offenes Konzept an,
bei dem der oder die Spieler den Ablauf mit bestimmen. Allerdings muss diese aktive
Rolle erst neu gelernt werden, nachdem das Publikum klassischer Sinfoniekonzerte zu
stummen Zuhörern erzogen wurde, wie Simone Kathrin Mayer nachzeichnet. Gern hätte
die UdSSR die grenzenlose Freiheit kontrolliert und konnte Rockmusik doch nicht unterdrücken,
so Yaroslava Storchak. Das inspirierende Verhältnis von Musik und Bildender
Kunst spielt bei Anne Dorothea Kütemeier und Georg Hage eine zentrale Rolle.
Am Gelingen des Startheftes haben viele Anteil, wie Andreas Immer, dem der
Titel einfiel, und Susanne Keßler, die so manchen Fehler fand. Bedanken möchte ich
mich bei allen, bei den Autorinnen und Autoren, den beteiligten Studierenden der
Freien Hochschule für Grafik-Design & Bildende Kunst e.V., Freiburg, und besonders
bei Wolfgang Blüggel, Dozent für Gestaltung, für das tolle Teamwork.
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Janina Klassen Professorin für Musikwissenschaft
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Artwork: Bastian Herbstrith
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Grusswort
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{ Jeder weiß: eine Musikhochschule ist dazu da, professionelle Musikerinnen und
Musiker auszubilden und sie möglichst umfassend auf einen der vielen Musikerberufe
vorzubereiten. Dabei steht die klingende Musik – wie soll es anders sein – im
Mittelpunkt. Nicht umsonst bieten die zahlreichen Konzertveranstaltungen und Vortragsabende
unserer Hochschule – über 400 im Jahr – einerseits Podiumserfahrung für
die Studierenden, andererseits sind sie ein öffentlicher und damit überprüfbarer
Beleg nach innen und außen für die Arbeit, die wir alle gemeinsam – Lehrer, Lernende
und Verwaltung – leisten.
Übersehen wird dabei leicht, dass außer den Anstrengungen in Bezug auf das
klingende Resultat auch zahlreiche und vielfältige Leistungen seitens der Studenten im
Bereich der »musikalischen Reflexion« erbracht werden: theoretische und historische
Fragestellungen, schriftliche Aufsätze, Examensarbeiten, Abhandlungen zur Interpretation
und Aufführungspraxis, aber auch zur Verbindung von Musik mit anderen
Künsten und Wissenschaften. Schier endlos und grenzenlos sind da die Möglichkeiten:
pädagogische und soziale Aspekte der Musik und Musikvermittlung, Musik und bildende
Kunst, Musik und Sprache, Musik und Philosophie, Musik und Informatik, Musik und
Medizin, Musik und Naturwissenschaften und und und.
Das meiste aus dieser studentischen »Produktion« ist der Erfüllung jener Aufgaben
zugeordnet, die von den vielen Prüfungs- und Studienordnungen vorgegeben sind.
Das bedeutet leider, dass diese Arbeiten der Öffentlichkeit, auch der Hochschulöffentlichkeit,
weitgehend verborgen bleiben.
Das neue Hochschulmagazin NOTENPAPIER möchte dies ändern. Hier soll ein Forum
geschaffen werden, das zum einen Überblick über die große thematische Vielfalt vermittelt,
zum anderen auch Anregungen, Anreize und Austauschmöglichkeiten geben soll.
Gespräche innerhalb des Rektorates und der Kollegenschaft führten schrittweise zu
dem Resultat, das Sie hier erstmals vorfinden und das den Auftakt einer Reihe bildet,
die einmal jährlich erscheinen wird.
Das Besondere in der Gestaltung dieses ersten Heftes ist das Ergebnis einer äußerst
fruchtbaren Zusammenarbeit mit der Freien Hochschule für Grafik-Design & Bildende
Kunst e.V. Freiburg, deren StudentInnen aus dem Fachbereich Editorial Design sich
mit viel Engagement und Fantasie am Projekt beteiligen.
Ein großer Blumenstrauß für Frau Prof. Dr. Janina Klassen für die intensive
konzeptionelle und redaktionelle Arbeit. Ihr ist es gelungen, sowohl ein neues Forum
für Studierende als auch eine Verbindung von zwei künstlerischen Ebenen geschaffen zu
haben, welche nicht zuletzt auch zu einer fruchtbaren Kooperation geführt hat.
Prof. Dr. Mirjam Nastasi Rektorin – Hochschule für Musik Freiburg
im Oktober 2005
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Artwork: Matthias Wieber Foto: Albert Josef Schmidt
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»Wenn wir auf der Nordtribüne stehn«
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Die singenden Fans des SC Freiburg
Annika Boehm-Kreutzer
{ Was zieht die Menschen so in den Bann, dass sie – ganz gegen ihre sonstigen
Gewohnheiten – anfangen rhythmisch zu klatschen und zu singen? Würde man einen Fan
auf der Straße treffen und ihn bitten zu singen, täte er das mit ziemlicher Sicherheit
nicht. Warum aber fallen im Stadion diese Hemmungen? Was sind das für Lieder und wo
kommen sie her? Welche Kriterien muss ein Lied erfüllen, um ein Fangesang zu werden?
Wie treffen die Fans den Ton? Ist die Tonart willkürlich? Und was mich als Sängerin
natürlich besonders interessiert: Wie benutzen die Fans ihre Stimme? Sie singen meist
länger als 90 Minuten mit nur kurzen Unterbrechungen. Das ist mehr, als ein Opernsänger
während einer normalen Oper zu singen hat. Um die Gesänge auswerten zu können, stand
ich (übrigens als einziger Nicht-Fan einer Fußball begeisterten Familie) wochenlang
mit einem Aufnahmegerät in der Fankurve des SC Freiburg (Nordtribüne) und wertete zu
Hause das ganze Spiel musikalisch aus.
Wie setzten sich die SC-Fußballfans als Gruppe zusammen?
{ Für den ausdauernden und kräftigen Gesang der Fans, wird eine gute körperliche
Konstitution benötigt. Das Durchschnittsalter der aktiven d.h. singenden Fans liegt
zwischen 18-35 Jahren. Der Anteil der männlichen Fans ist hierbei deutlich höher als der
weiblichen Fans. Im Stadion vereinen sich tatsächlich alle sozialen Schichten, zumindest
bei den stark vertretenen Fanclubs auf den Stehplätzen. Nicht alle Besucher sind in
Fanclubs organisiert oder gehen regelmäßig zu jedem Spiel. Vielmehr verhalten sie sich
so wie Rebstock und Saalmüller dargestellt haben:
? »Konsumorientierte Fans« sind nicht daran interessiert, sich in die Masse der
Fans einzugliedern. Sie halten sich lieber etwas abseits, da sie Fußball lediglich als
abwechslungsreiche Freizeitbeschäftigung ansehen.
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Foto: Albert Josef Schmidt
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? »Erlebnisorientierte Fans« geniessen das Spektakel, bei dem nicht das Fußballspiel
im Vordergrund steht, sondern das Gemeinschaftsgefühl.
? »Fußballzentrierte Fans« sind ihrem Verein treu ergeben, komme was wolle. Fußball
und Fanclub nehmen im Leben eine starke Rolle ein.
»Ein Fußballfan verliert sich in der aufgewühlten Atmosphäre eines Fußballspiels, er
›läßt sich gehen‹« (Rebstock & Saalmüller, S. 27). Gerade das ›sich gehen lassen‹
faszinierte mich am meisten. Um das, was wohl in den meisten Fans vorgeht, richtig begreifen
zu können, muss man vielleicht selbst einmal die Stimmung eines Stadions während
eines Fußballspiels erlebt haben, selbst wenn man sich für das Spiel selber eigentlich
gar nicht interessiert. In unserer Kultur ist es für die meisten Männer undenkbar,
Gefühlen freien Lauf zu lassen. Seit Generationen gilt es, Emotionen zu kontrollieren und
zu beherrschen. Doch Emotionen brauchen ein Ventil, um sich zu entladen. Genau das
kann man im Stadion beobachten. Plötzlich fallen alle Hemmungen. Männer gehen aus
sich heraus und singen, schreien ihren Frust, aber auch ihre Freude heraus, fallen sich in
die Arme und küssen sich. Einige erlauben sich sogar zu weinen. Voraussetzung ist
allerdings ein Gefühl von Geborgenheit in der Gemeinschaft. Das wiederum läßt sich
durch die gemeinschaftlichen Rituale und Outfits erzielen.
Fangesang und Sport
{ Bereits in der griechischen Antike wurde während der sportlichen Wettkämpfe
Musik gemacht. Allerdings läßt sich hierbei nicht erkennen, ob auch gesungen wurde, da
auf den erhaltenen Darstellungen hauptsächlich Aulosbläser abgebildet sind. Was allerdings
übermittelt wurde, ist, dass es auch damals schon Probleme mit Aggressivität und
Gewalt in den Stadien gegeben haben muss. Meine eigenen, diesbezüglichen Befürchtungen
decken sich allerdings nicht damit. Wider Erwarten traf ich bei meinen Befragungen
auch direkt vor dem Spiel nie sturzbetrunkene oder pöbelnden Fans – im Unterschied
zur Situation in der Strassenbahn.
Leider sind keine historischen Fanmusiken überliefert. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts
lässt sich in England, das als »Mutterland« der Fangesänge bezeichnet wird,
das Eingreifen der Fußballfans durch rhythmisches Klatschen und Singen in das Spielgeschehen
zurückverfolgen. Liverpool gilt als Ursprung der Fangesänge. Auch heute noch
beeindrucken die englischen Fußball-Fans mit ihrem Sangesniveau. Als ›Urhymne‹ wird
das Lied »You’ll never walk alone« von der Gruppe Gerry and the Pacemakers aufgeführt
(Morris, Kopiez). Bei meiner Befragung der Freiburger Fans, wurde dieses Lied von vielen
als absolutes Lieblings-, sogar »Gänsehaut«-Lied betitelt. Fangesänge sind heute eine
multikulturelle Mixtur. Sie konnten in dieser Form nur entstehen, weil Medien und Verkehrswesen
die Welt des 20. Jahrhunderts immer überschaubarer machen. Aus jedem
Land wurde ein Stück hinzugefügt und so eingebracht, dass es sich den spezifischen
Bedürfnissen der Fans in dem jeweiligen Land einfügt. So hören wir in den deutschen
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Stadien Klatschrhythmen, die man eher aus den südamerikanischen Ländern gewohnt
ist, kombiniert mit Melodien englischer oder deutscher Volkslieder. Daher ähneln sich
auch die Fangesänge in allen Ländern sehr, aber sie sind, bis auf einige Ausnahmen,
nicht genau identisch.
Die singenden Fans
{ Fans lernen die Gesänge und Rufe meist nach dem Prinzip »learning by doing«.
Ausserdem üben Fans die Gesänge auf Auswärtsfahrten im Bus und später im gegnerischen
Stadion, da dort die eigenen Gruppen kleiner sind und man dadurch die Texte
besser verstehen kann. Eine weitere Quelle der Liedtexte ist die Zeitung der Fanclubs,
»Fanblock«, die es vor den Spielen im Klubhaus der Fangemeinschaften gibt. Hier
werden die neuen und teilweise auch komplexeren Liedtexte veröffentlicht, um sie auch
den evtl. weniger engagierten Fans nahe zu bringen. Schliesslich lassen sich die
Liedtexte auf den Homepages der Fanclubs herunterladen.
Wenn man Fangesänge analysieren möchte, muss man sich erst einmal von der
üblichen Vorstellung des Gesangs lösen. Fangesänge sind weit entfernt von kultiviert
klingenden Chören und seien es auch Laienchöre. Sie dienen dazu, sich und andere anzustacheln
und Emotionen zu verarbeiten. Der produzierte Ton ist eine Mischung aus
Schrei und gesungenem Ton. Zur Erzeugung des Tons benötigt der singende Fan gehörig
Kraft. Alle Muskeln des Körpers sind angespannt und arbeiten bei der Tonerzeugung mit.
Während gewöhnlich beim Singen darauf geachtet wird, dass der Körper sehr locker ist
und nur die zur Tonerzeugung nötigen Muskeln arbeiten, wie das Zwerchfell, die Muskulatur
des Kehlkopfes und des Gaumens, weil sich nur so sich ein optimaler, voller, obertonreicher
und daher weit tragender Ton erzeugen läßt, geht es im Stadion um Rauheit
und Aggressivität.
Der Gesang der Fans ist eher eine Mischung aus Schreien, um Stärke und Angriffslust
zu demonstrieren, und Singen, um die Töne lauter und tragender zu gestalten. Dabei untergraben
die Fans die Tragfähigkeit ihrer Stimmen dadurch, dass sie sämtliche Muskeln
überspannen. Somit können die Klangräume nicht optimal genutzt werden. Trotzdem
erzielen sie in der Masse eine beeindruckende Wirkung.
Die Technik des Fangesangs
{ Die Technik des Fangesangs unterscheidet sich in einigen grundlegenden Dingen
vom kultivierten Gesang. Das auffallendste Kriterium ist die Stellung des Kehlkopfes
und des weichen Gaumens. Im kultivierten Gesang wird durch die Anhebung des weichen
Gaumens erreicht, dass sich der Kehlkopf absenkt, wodurch ein größerer Resonanzraum
entsteht. Bei der Technik der Fangesänge verhält es sich genau umgekehrt. Durch die
komplette Muskelanspannung wird der Kehlkopf sehr weit nach oben gedrückt und der
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Artwork: Matthias Wieber
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Gaumen nach unten gezogen. Er hebt sich nur minimal, da das Heben des Gaumensegels
zur direkten Folge hätte, dass sich der Kehlkopf absenken muß. Dafür ist allerdings
der Druck in der Luftröhre von unten auf die Stimmlippen zu hoch. Das heißt, dem Atemdruck
müssen die Stimmlippen durch extreme Muskelanspannung entgegenwirken, damit
ein Ton erzeugt werden kann und die Luft nicht schlagartig entweicht. Dies passiert
dann, wenn die Muskeln der Stimmlippen dem Überdruck nicht mehr stand halten
können. Doch in den meisten Fällen funktioniert die Balance zwischen extremen Druck
von unten und äußerster Stimmlippenspannung von oben. In diesem Fall beginnen die
Stimmlippen und der Kehlkopf sehr schnell zu schwingen, was zur Folge hat, dass die Töne
höher klingen. Doch wie man nun erkennen kann, ist für diese Art von Geangstechnik
ein großes Maß an Kraft erforderlich, da mehr Muskeln als erforderlich an der Erzeugung
des Tons beteiligt sind. Bei Frauen funktioniert diese extreme Art des Singens übrigens
nicht, da ihre Stimmlippen in der Regel weniger Muskelmasse besitzen.
Dagegen wird im kultivierten Gesang mit dosierter Luftgebung gearbeitet. Es geht
darum, den Druck in der Luftröhre auf die Stimmlippen von unten und den Gegendruck
von oben so in Balance zu halten, dass die Stimmlippen noch optimal schwingen zu
können. Stimmt die Balance, so kann man hören, wie die Stimme frei schwingt, durch
das sogenannte natürliche ›Vibrato‹. Diese Technik ist viel ökonomischer und auch
schonender für die Stimme, als der Fußballgesang. Durch die Überdrucktechnik unterliegen
die Stimmlippen der Fans einer ständigen Reizung, da sie immer mit voller Kraft
aufeinander schlagen. Die Folge ist, dass die Stimme heiser wird und stärker verschleißt.
Und noch ein Problem wirft diese Überdrucktechnik auf: Das Produzieren tiefer Töne
funktioniert durch den Überdruck nicht, da die Stimmlippen unter diesen Bedingungen
nicht dazu gebracht werden können, langsamer zu schwingen, um so tiefe Töne erklingen
zu lassen. Dazu müssten die Fans ihren Körper locker lassen, was wiederum mit der
spannungsgeladenen Situation nicht zu vereinen ist. Im Grunde ist es auch erstaunlich,
dass die Fans die Zeit des Spiels sowie vorher und nachher stimmlich so gut durchhalten,
da sowohl der Körper als auch die Stimme einer ungeheueren konditionellen Belastung
ausgesetzt ist.
Stimmlage und Tonumfang
{ Der Großteil der Männerstimmen besteht in unseren Breiten aus Baritonen,
während der Anteil von Bässen und Tenören auch im Stadion nicht besonders hoch sein
dürfte. Nicht ausgebildete Sänger singen meistens in der Bruststimme, da die den
gewohnten Stimmklang enthält und sich am leichtesten steuern lässt. Zieht man diese
Bruststimme allerdings immer weiter nach oben, da höhere Töne weiter tragen und
lauter scheinen, kommt man irgendwann an den Punkt, an dem die Stimme bricht und in
diesem Klang nicht weiter kann. Dann wechselt die Stimme ins Falsett, die reine Kopfstimme.
Die allerdings ist sehr dünn und fast zart (sie wird häufig auch als Fistelstimme
bezeichnet) und daher für den »Schlachtgesang« unbrauchbar. Dieser als Bruch be-
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zeichnete Klangraum liegt bei ausgebildeten Baritonen im Bereich von e bis f eventuell
bei fis. Bei Laien liegt er oftmals darunter und kann nur mit äußerster Kraftanstrengung
erreicht werden, wenn das Klangpotenzial bis aufs Letzte ausgereizt wird. Nun ist auch
in den meisten Fußball-Gesängen der höchste Ton ein e, häufiger aber sogar noch f oder
fis ist. Das ist außergewöhnlich hoch im Vergleich zu Laiensängern aus Kirchenchören,
die bei dem Versuch in der kultivierten Bruststimme zu singen meist schon bei c oder d
aussteigen. Es scheint, dass die Atmosphäre im Stadion und der Überschwang der
Gefühle die Männer zu sängerischen Höchstleistungen bewegt! Hört man sich die Fangesänge
einen nach dem anderen immer wieder an, so stellt man fest, dass die Tonart
nicht gleich zu identifizieren ist, sondern es immer erst einige Takte dauert, bis sich
der Gesang einheitlich einpendelt. Erst schwimmen die Sänger noch in undefinierbaren,
verschiedenen Tonarten herum.
Die Lieder der Fans
{ Fußball- Fangesänge lassen sich in einzelne Stufen gliedern:
? Reine Klatschrhythmen, die meistens durch eine große Trommel
angeführt und auch häufig mit Pfiffen untermalt werden
? Reine Sprechchöre
? Kombinierte Chöre, die sich aus Klatschen und Sprache zusammensetzten
? Kurzgesänge, die häufig nur die Namen der Spieler beinhalten oder
den Namen des Vereins, aber trotzdem schon verschiedene Tonstufen umfassen
und somit eine gemeinschaftliche Tonart erfordern
? Kurzgesänge mit Klatschrhythmen
? ›Richtige‹ Gesänge, meist mit bekannten Melodien,
auf die neue Texte gedichtet wurden
? Gesänge, die sowohl mit Klatschrhythmen,
als auch mit Sprechchören kombiniert werden
Sieht man sich nun die Voraussetzungen der Stimmen an, dann darf das ideale Lied
einen Umfang einer Sexte (a-fis´) aufweisen. Im Überblick fällt eine gewisse
Regelmäßigkeit aller Lieder auf. Von 34 notierten Gesängen sind 22 acht Takte lang,
neun bestehen aus vier Takten, eines aus 16 Takten und nur zwei fallen aus dem Rahmen
und haben fünf bzw. sechs Takte. In der Regel stehen die Lieder in Dur, nur selten ist
einmal ein Stück in moll darunter und im 4/4 Takt. Er kann leicht mitgeklatscht werden,
was wiederum eine gute Auswirkung auf die Stimmung hat und es erleichtert das
spontane Einsteigen in ein angestimmtes Lied.
Doch sehen wir uns einmal eine Auswahl von Gesängen etwas genauer an. Der
Spitzenreiter ist: ›Schallala‹. Es besteht aus acht Takten, der Tonumfang beträgt eine
Septime, wobei der tiefste Ton, das g, ein eher unwichtiger Ton ist, der direkt vor dem
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Kurzgesänge Fangesänge
Höhepunkt des Liedes »Super SC Freiburg« erklingt. Lassen wir das g also außen vor,
dann ergibt sich ein Umfang von a-f’, genau in der Optimallage der Fans. Ein wesentlicher
Faktor ist, dass die Melodie sehr einfach zu merken und nicht sehr anspruchsvoll
ist. Sie besteht zum größten Teil aus repitierten Tönen, in drei Phrasen zu zwei Takten,
die jeweils den gleichen Rhythmus haben. Nur die letzte Phrase, mit der Huldigung des
eigenen Vereins (»Super SC Freiburg«), hat einen auffälligeren Melodieverlauf. Der
Text ist sehr einfach und schon nach einmaligem Hören mitzusingen, da er aus immer
gleichen Silben besteht. Ebenso häufig erklingt »Ole ole ole, Sportclub Freiburg«. Auch
dieses Stück besteht aus acht Takten, und der Tonumfang beträgt wiederum eine Sept.
Der Rahmen ähnelt zwar dem vorherigen Lied, liegt aber einen halben Ton höher. Auch
hier erklingt der tiefe Ton nur ganz kurz, und er erfüllt keine wirklich wichtige Funktion.
Somit gliedert sich auch dieses Stück wieder in die Optimallage der Fans ein.
Das Original stammt, laut Kopiez und Brink (S. 96), aus dem Refrain des italienischen
Schlager L’amico è, gesungen von Dario Baldau Bembo und Catarina Caselli (1983).
Das Lied »Auf geht’s, Freiburg schieß’ ein Tor!« besteht aus nur vier Takten und hat
lediglich den Tonumfang einer Terz. Der Vorteil bei diesen sehr kurzen Gesängen ist, dass
die Vorsingzeit, das heißt, die Zeit des Anstimmens bis zum Einsteigen der Fans
sehr kurz ist. Das Lied wird schnell erfasst und die Strophe ist im Nu vorbei, so dass die
Stimmung sehr rasch aufgebaut ist.
Dagegen unterscheidet sich der Hit »Wenn wir auf der Nordtribüne stehn«, von den
ersten drei Liedern durch seinen langen Text hat. Er ist nicht so leicht und schnell zu
10 lernen wie die anderen Texte und viel schwerer zu verstehen. Doch trotzdem gliedert sich
auch dieses Lied in das erarbeitete Schema ein. Es liegt in der »Schokoladenlage« der
Fans. Zu seiner Besonderheit gehört, dass sich der Text auf eine ganz bestimmte Gruppe
bezieht, nämlich auf die Fans der Nordtribüne. Komplexere Lieder brauchen etwas
länger, bis sie in Schwung kommen und werden auch nicht ganz so häufig angestimmt
wie die kürzeren Gesänge. »Wir sind nicht aus Zürich...« besteht zum Beispiel aus 16
Takten, wobei acht ein halb Takte mit Text unterlegt sind, während die letzten Takte die
sehr beliebten Tonsilben »ol-e« bringen. Der Tonumfang beseht aus einer Quarte. Das
Problem bei diesem Lied ist, dass die Fans merklich Schwierigkeiten haben, in Schwung
zu kommen. Meistens steigen die übrigen Fans erst bei der Textzeile »wir sind aus
Baden...« ein und sind von da ab mit Herz dabei. Im »ole«-Teil setzt auch die große
Trommel wieder ein, und das Lied bekommt mehr Schwung und zieht nun auch die letzten
noch nicht singenden Fans mit.
Viele Lieder sind von der Melodie her seit langem bekannt und in den Stadien richtige
Evergreens, die lediglich mit einem passenden Text ausgestattet wurden. So begegnen
einem immer wieder bekannte Melodien wie zum Beispiel: »Immer Freiburg siegen
seh’n«. Das Original stammt aus Rod Stewards »I am sailing«. Auf die Melodie von
»Yellow submarin« (Beatles, 1966) funktionert das Lied »Ihr seid nur ein Karnevalsverein«.
Dieser Text wurde zur Fastnachtszeit spontan von den Fans als Reaktion auf eine
Guggenmusik im Stadion erfunden und sofort von allen übernommen. Das war möglich,
da die Melodie allgemein bekannt ist, und der Text lediglich die ständige Wiederholung
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des Wortes »Karnevalsverein« ist. So lassen sich spontane Reaktionen auf das Geschehen
erzielen. Genau dies passierte auch bei dem Lied »Gar keine Haare«, das auf
dem Hit »Guantaramera« basiert. Hier ergab sich die Situation, dass der SC Freiburg
kurz vor Schluss den Sieg sicher hatte und nicht mehr viele spannende Aktionen auf dem
Spielfeld passierten. Als ein Spieler der Gegenmannschaft das Freiburger Tor verpasste,
erfanden die Freiburger dann spontan diesen Text (als Reaktion auf die kurzrasierten
Haare des Spielers) und verbanden ihn mit der allen bekannten Melodie. Aber auch auf
Stücke, die ursprünglich nicht als gesungene Stücke komponiert wurden, wird zurückgegriffen,
oder auf Stücke aus der klassischen Literatur wie Edward Elgars »Stars and
Circumstances«, das zu »We are following Freiburg« umfunktioniert wurde, oder dem
überall sehr beliebten Triumphmarsch aus der Oper Aida von Giuseppe Verdi.
Zusammenfassend lässt sich sagen, das Fußballgesänge eine wichtige Aufgabe in den
Stadien haben. Sie dienen dazu, eine Mannschaft anzufeuern und zu unterstützen sowie
ein Gemeinschaftsgefühl unter den Fans zu erzeugen. Daher wäre es als Folgeprojekt
sicher auch noch interessant, die Wirkung der Gesänge auf die Spieler zu untersuchen.
Die befragten Fußballfans beschrieben alle ein sehr großes Glücksgefühl, wenn sie in der
Masse stehen und singen. Viele bezeichneten es als »Gänsehautgefühl« und erklärten,
süchtig danach zu sein. Nach einem Spiel fühlten sie sich wieder fit für die Woche und,
auch wenn die eigene Mannschaft verloren hat, trotzdem ausgeglichener als vorher.
Daraus folgt, dass das intensive Mitsingen im Stadion die über die Woche angestauten
Aggressionen tatsächlich abzubauen hilft. (Man beachte, dass die randalierenden
Gruppen meistens nicht aktiv am Singgeschehen teilnehmen.)
Eventuell hat dies auch etwas mit der besseren Sauerstoffversorgung des Blutes
durch das zwangsläufig tiefere Atmen beim Singen beziehungsweise Schreien zu tun.
L i t e r a t u r
x Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, dt., Frankfurt am Main 1981
x Berthold Happel: Der Ball als All – Mythos und Entzauberung des Fußballspiels, Münster 1996
x Reinhard Kopiez / Guido Brink: Fußball-Fangesänge – eine FANomenologie, Würzburg 1998
x Desmond Morris: »Die Stammesgesänge«, in: Ders.: Das Spiel, München / Zürich 1981
x Marc Rebstock / Jörg Saalmüller: Der 12. Mann – Die Fußballfans des SC Freiburg, Oberried 1996
p Annika Boehm-Kreutzer,
Opernsängerin, studierte von 1998 bis 2004 an der Musikhochschule Freiburg.
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Soccer Ball by Nina Klotz
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Artwork: Bastian Herbstrith
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Working between the Cracks
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Künstlerische Konzepte von Meredith Monk
Ursula Benzing
{ Die New Yorker Performance-Künstlerin und Komponistin Meredith Monk agiert
im Zwischenbereich zwischen Jazz, Modern Dance, Theater und Neuer Musik. Monk gehört
zu den konsequentesten mix-media-Künstlerinnen der neueren Kunst. Sie hat eine
eigene Technik von Stimmperformance kreiert. Ihre Stücke gehen aus von körperlicher
Klangerfahrung und Bewegung. Auch in der Darstellung geht sie neue Wege mit den
»visual rhymes«, ein auf Farb- und Bildmotive bezogenes, von der Poetik inspiriertes
Gestaltungsverfahren, das Monk einsetzt, um mehrere Raum- und Zeitebenen überblenden
zu können. Im Laufe ihres Lebens hat sie sowohl mit Jazzern, als auch mit Mitgliedern
des Modern Dance Ensembles sowie »klassischen« Musikern zusammengearbeitet.
Zu ihren Besonderheiten gehört der unkonventionelle Umgang mit der Singstimme.
Our Lady of Late – Music for voice and glass
{ Auf der Bühne sitzt eine Frau, ganz in Weiß gekleidet, vor einem kleinen Tisch.
Auf dem Tisch steht ein mit Wasser gefülltes Weinglas. Während des gesamten Konzerts
ändert die Künstlerin ihre Position nicht. Die einzige, fast rituell zelebrierte Bewegung
besteht darin, dass sie immer wieder zwischen den einzelnen Nummern einen kleinen
Schluck aus dem Wasserglas nimmt. Diese sichtbare Handlung der minimalistischen
Choreografie ist zugleich Teil der akustischen Inszenierung ihrer Gesangs-Performance.
Das Wasserglas begleitet ihre Stimme. Indem die Künstlerin mit einem nassen Finger um
den Kelchrand ihres Glases streicht, erzeugt sie (nach dem Prinzip einer Glasharmonika)
einen kristallinen Ton. Durch die kleinen Schlucke zwischendurch verändert sich die
Tonhöhe in subtiler Weise. Our Lady of Late- Music for voice and glass: Unter diesem
Titel sang Meredith Monk eines ihrer ersten Konzerte als Solistin im Januar 1973 in der
Town Hall in New York City. Die Musik war ursprünglich für eine Performance des Tänzers
William Dunas geschrieben worden und erklang in dieser Version bereits 1972.
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Die Solo-Fassung von 1973 markierte den Beginn einer Reihe von Konzerten, die Monk
als Solistin in den nachfolgenden Jahren immer wieder gab. Der Komponist Tom Johnson,
der die Vorstellung im Januar 1973 besuchte, schrieb darüber in der New York City:
»Meredith Monk’s ›Our Lady of Late‹ at Town Hall on January 11 was the closest thing to
a perfect concert that I have heard for some time. She has as much control over her
singing as she does over her dancing, and her music shows as much originality and genuine
inspiration as her choreography« (Johnson, S. 59).
Das Stück Our Lady of Late besteht aus vielen kleinen Abschnitten, die oft nur
eine Minute dauern. Jeder Teil trägt einen bezeichnenden Titel, der seinen Charakter
markiert. Einige genauere Erklärungen mögen dies verdeutlichen:
? Unison: es umspielen sich Glas- und Gesangston, sodass Schwebungen,
Einklänge und mikrotonale Reibungen entstehen
? Knee: Gesang hoch und gepresst, auf die klingende Silbe »knee«
? Hey Rhythm: rhythmische »Heys« werden akzentuiert in patterns
vorgetragen, die Stimme bewegt sich im Quintraum über dem Glas-Ton
? Sigh: Stimme mit viel Luft- und Atemgeräuschen, wie Schluchzen
oder Jammern
? Slide: Stimme glissandiert auf und ab, auf Tonsilbe »ee-yay«
Eine »Partiturseite« zu Slide aus Monks Notizen zeigt eine ungefähre Notation der
Tonhöhen. Sie verdeutlicht anschaulich die Herangehensweise der Komponistin. Die
Ausführung der Partie ist nicht dezidiert festgelegt, sondern bietet Raum zur freien Gestaltung.
Dennoch ist der musikalische Verlauf nicht zufällig oder improvisiert, sondern
durch den aufgrund der Vorgaben definierten Spielraum zentriert. Insgesamt dominiert
in Our Lady of Late das durch die Kürze der Stücke und deren Farbenreichtum gewonnene
Erlebnis. Monk selbst will die »weibliche Stimme in all ihren Gestalten« dargestellt
wissen. Schließlich gilt ihr die Stimme als ein »Medium« (»vehicle«) für eine »seelische
Reise« (»psychic journey«; in: Banes, S. 166). Die Komposition gibt ein faszinierendes
Beispiel von der reichhaltigen Ausdrucksstärke der Singstimme, und sie zeigt zudem
die große technische Perfektion und Wendigkeit, mit der Meredith Monk arbeitet.
The dancing voice
»I think of my work as a big tree with two main branches. One
main branch is the singing and it started from my solo work,
exploring the human voice and all its possibilities … And then
the other branch is the composite forms, which could be operas
or musical theater pieces, or installations, or films.«
(Monk, Frequently asked Questions).
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{ Seit Beginn ihrer Karriere in den 1960-er Jahren gehört die 1942 geborene Künstlerin
Meredith Monk zu den spannendsten und schillerndsten Persönlichkeiten der
modernen Musikszene. In der sogenannten Performance Art stellt sie regelmäßig neue
Kompositionen in vielfältigen Bereichen vor. Sie entwirft ebenso Solo- und Ensemblewerke,
Filme und Filmmusiken, wie Opern und Begleitmusiken zu Theaterstücken. Monks
künstlerische Werke sind vor allem durch ein wesentliches Element geprägt: die menschliche
(Sing-) Stimme in all ihren Schattierungen und Potenzialen. Meredith Monk gilt
als absolute Pionierin auf dem Gebiet neuer, experimenteller Vokaltechniken. Die ästhetische
Faszination für die expressiv-emotionalen Aspekte der menschlichen Stimme
lässt sich zwar schon im frühen 20. Jahrhundert beobachten, wie das Beispiel von Arnold
Schönbergs Pierrot Lunaire zeigt, in dem bereits 1912 neuartige stimmliche Gestaltungsmethoden
gefordert wurden. Doch waren dann vor allem die einschlägigen Stimmexperimente
im Jazz und Neuer Musik der 1950-er und 60-er Jahre richtungsweisend für
die weitere Entwicklung. Wie Luciano Berio in Sequenza III und Cathy Berberian in ihrem
Cross-over von Jazz und modern music, loteten auch Komponisten wie Mauricio Kagel
oder Luigi Nono die Möglichkeiten des klassischen Kunstgesangs bis ins Extrem aus und
stellten in ihren Entwürfen radikal neue Ideen vor. Alle Komponierenden arbeiteten mit
exzentrischen Stimmtechniken, die sich vom traditionellen Singen losgelöst hatten und
gleichsam die Ränder des klassischen Gesangs präsentierten: Atmen, Keuchen, Lachen,
Summen, Schreien und diverse Lauterzeugungen in allen Schattierungen und Tonfällen.
Ein wesentliches Merkmal dieser neuen Stimmästhetik war die Emanzipation der Sprache
von ihrer Funktion als Kommunikationsmittel zum musikalischem Material. Worte
wurden entsemantisiert und dienten nicht mehr nur als Träger inhaltlicher Bedeutung,
sondern die lautliche Hülle von Sprache galt nun selber als Musik.
Meredith Monk gehört zusammen mit der Komponistin und Instrumentalistin Pauline
Oliveros und Joan La Barbara zu den Künstlerinnen, die die Ausdehnung der stimmlichen
Möglichkeiten dann in den 1970-er Jahren weiter vorangetrieben haben. Dabei entwickelte
Monk allerdings einen eigenen, von amerikanischen und europäischen Vorbildern
unbelasteten und neuartigen Stil. Losgelöst von der europäischen Neuen Musik,
aber auch von den Zufallskonzepten John Cages verlegte sie schon vor dreißig Jahren
ihren musikalischen Fokus vor allem auf die emotionale Qualität stimmlicher Äußerungen.
Daher begann sie konsequent den sinnlichen Aspekt des Singens zu kultivieren.
Die Künstlerin berichtet, wie ihr während des Übens im Jahr 1965 eine Art Erkenntnis
(»revelation«) aufging, nämlich die Idee, dass zwischen Stimme und Körper eine unzertrennbare
Verbundenheit herrsche, die es zu entdecken galt. »I realized the voice
could have the same kind of flexibility and range that the body has and that you could
find a language for the voice that had the same individuality as a dancer’s movement,
that you could find a vocabulary that was actually built on your own voice« (Monk, in:
Strickland, S. 93). Diese angestrebte Beweglichkeit der Stimme erlaubten ihr fortan, die
Grenzen der Stimmgebung und den Klangreichtum weiter auszuforschen und ihre Stimme
zu einem Instrument heranzubilden, mit dem sie eine Fülle von neuen Ausdrucksmöglichkeiten
erschloss. Im Unterschied zu vielen zeitgenössischen Kolleginnen und Kolle-
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gen arbeitet sie bis heute nur sehr sparsam mit Elektronik. Stattdessen konzentriert
sie sich nach wie vor auf die natürliche Stimme. »Now after working all these years with
the voice I’ve realized that the voice can do almost everything that electronics can do.«
(Monk, in: Strickland, S. 93). Sie betont, dass sie nicht abhängig sein will von technischen
Geräten, die im entscheidenden Moment möglicherweise den Dienst verweigern
könnten. Ebenso schätzt sie die Möglichkeit, zu jeder Zeit und an jedem Ort der Welt mit
ihrer Musik beginnen zu können.
Ausgehend von der starken emotionalen Qualität des Singens verwundert es kaum,
dass Monk in ihren Kompositionen weitgehend und bewusst auf eine semantische Ebene
durch die Einbeziehung von Text verzichtet. Auch damit nimmt sie eine exponierte
Stellung in der Entwicklung ein. In ihrer Musik liegt das Beredte allein in den Klängen.
Tiefsinnige Worte gelten als »manipulierend«. Durch diese radikale Entsemantisierung
führt sie in ihren »Sprachkompositionen« die Sprache selber gleichsam ad absurdum.
Der Verzicht auf eine Wortsemantik öffnet den Raum zu einer Wahrnehmung des Gesangs
als reinen Klang. Im Zusammenhang mit ihrer Musik wird dabei an mehreren Stellen von
einem »vor-linguistischen« Zustand gesprochen. Als Sängerin geht sie davon aus, dass
die Stimme an sich schon eine eigenständige Sprache artikuliert, die sich beim Singen
auch ohne Worte verständlich machen kann. Durch ihre Unmittelbarkeit vermag die
menschliche Stimme dies überzeugender zu bewirken als jedes Instrument. »I feel the
voice has a much more intrinsic emotional quality than instruments. In a way, it’s
abstract because I don’t use lyrics, but I try never to forget that it’s a human instrument.«
( Monk, in: Schaefer, S. 222). In ihren Notes on the Voice beschreibt Monk den
Zusammenhang zwischen Stimme und Emotion als »a direct line«. Danach repräsentiert
Stimme das gesamte Spektrum menschlicher Emotionen und Gefühle, für die uns die
Worte fehlen. So liegt die Ausdruckskraft der Musik im Ansprechen einer Gefühlsebene,
die durch die starke Subjektivität der singenden menschlichen Stimme vermittelt wird.
Zwei Dinge sind für Meredith Monk also für das Singen entscheidend: die emotionale
Qualität des Vortrags und das unauflösliche Verbundensein von Stimme und
Körper: »The dancing voice. The voice as flexible as the spine. The voice as language.«
(Monk, in: Banes, S. 166).
Meredith Monks »extended vocal technique«
{ Stimmtechnisch arbeitet die Künstlerin mit verschiedenen Ansätzen, deren
Ausformung sie selbst als »extended vocal technique« bezeichnet. Sie benutzt als Ausgangspunkt
den ungewöhnlich großen Ambitus ihrer eigenen Stimme. Extreme Höhen
oder Tiefen werden gleichermaßen erschlossen und an den Rändern auch bewusst als
quietschende oder knarrende Farben eingesetzt. Daneben arbeitet sie mit abrupten
Stimmbandverschlüssen (»glottal stops«) und Register-Brüchen, wie sie zum Beispiel
beim Jodeln benutzt werden. Verschiedene Arten von Vibrato, Tremoli und Triller werden
ebenso verwendet wie das Einbeziehen von Luft- und Atemgeräuschen. Auch nutzt sie
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gelegentlich Techniken des »Oberton-Singens«. Ein großer Teil ihres Gesangs besteht
allerdings nach wie vor aus natürlich gesungenen Tönen. Dabei verwendet sie tonale, oft
einfache Melodien, die »patternartig« wiederholt werden. Darüber hinaus verleiht sie
ihrer Stimme häufig andere Farben und Charaktere und singt beispielsweise mit bewusst
kindlicher, männlicher oder »alter« Stimme. Durch diese Vielfalt erschließen sich dem
Hörer neue und ungeahnte Klangwelten. Oft fragt man sich mit Erstaunen, auf welche
Art bestimmte Klangeffekte produziert wurden.
Alles, was sie an sich selber erprobt hat, verlangt sie auch von ihren Ensemblemitgliedern.
Sängerinnen und Sänger, die Monk für ihr Vokalensemble und ihre Produktionen
auswählt, müssen in der Lage sein, die außergewöhnlichen Techniken zu erlernen.
Vor allem sollten sie Spaß am Experiment haben. Wichtiger als eine klassische Ausbildung
ist für Monk die Besonderheit, die jede einzelne Stimme mit sich bringt, wobei
allerdings eine gewisse technische Flexibilität der Stimme unverzichtbar ist! Über ihre
Ensemblemitglieder sagt sie: »They all have a fantastic technical base, but what I love
about their singing is that when you hear them it’s not that you go, ›Opera singer!‹.
It’s Andrea’s voice or Bob’s voice or Naaz’s voice. I don’t want them to sound like an imitation
of my voice.« (Monk, in: Strickland, S. 97). Zur besonderen Performance gehört
auch die Bereitschaft des Ensembles, sich auf neue Herangehensweisen einlassen zu
können. Monk folgt einer Art »trial and error«-Prinzip, beginnt mit einer Idee, und im
Vorgang des Ausprobierens und wieder Verwerfens entsteht das neue Werk auf einer
gemeinschaftlichen Basis innerhalb der Gruppe. Das Unbekannte ist dabei ein Teil des
ganzen Entstehungsprozesses. Dementsprechend existieren nur selten Noten von einzelnen
Kompositionen. Die Musik wird (wie in Kulturen der mündlichen Überlieferung) gemeinsam
gelernt und behalten, so dass es keiner Notation mehr bedarf. Dieser Lernprozess
vollzieht sich auf einer unmittelbaren körperlichen Ebene, getragen durch die vitale
Energie und die kinetische Kraft, die innerhalb der Gruppe wächst. Das einzige, was
Monk gelegentlich notiert, ist eine Art »Fahrplan«, der den ungefähren Verlauf und die
Gesangssilben festhält, aber keine genauen Tonhöhen markiert.
Musikalisch arbeitet Monk häufig mit kleinen, sich wiederholenden Mustern. Sie legen
eine klangliche Basis fest, über der sich die Gesangslinie frei entfalten kann. In Notes of
the Voice beschreibt Monk das Zusammenspiel von Stimme und einem begleitenden Instrument
so: »Working with a companion (the accompanying instrument: organ, piano,
glass, etc.): repeated patterns or drone creating a carpet, a tapestry of sound for the
voice to turn on, fly over, slide down, cling to, weave through.«(Monk, in: Banes, S. 166).
Diese Struktur ist kennzeichnend für nahezu alle ihre Kompositionen. Dabei grenzt sich
Monk vehement gegen den naheliegenden Vergleich zu Techniken der Minimalmusic ab.
Die Wiederholungen in ihrer Musik dienten nicht dem perpetuierenden Selbstzweck,
sondern sie unterstützen lediglich die solistische Linie, die bei Monk eben gerade nicht
minimalistisch ausgeformt wird: »The repetition in Steve’s music (Steve Reich) seems to
set up a long enough time base so that when things shift it becomes an event, whereas
in my music I use instrumental repetition more as a carpet for the voice to fly off –
to fly from and back onto.« (Monk, in: Strickland, S. 94). Die Stimme, solistisch oder im
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Ensemble, steht demnach deutlich im Vordergrund und eine instrumentale Begleitung
hat sich den Nuancen der vokalen Linie unterzuordnen.
Dolmen Music
{ Bei den archaisch anmutenden Klangentwicklungen in Dolmen Music (1981)
offenbart sich noch eine ganz andere musikalische Inspirationsquelle – die Musik hat
eine gewisse Affinität zum Kirchengesang. Monk bestreitet diesen Einfluss nicht, führt
ihn allerdings nicht ausschließlich auf ihren religiösen Hintergrund zurück. Sie wurde
jüdisch erzogen, in einer reformierten Weise, und sie ist vertraut mit der Musik, die im
Tempel gesungen wurde. Allerdings sieht sie selber keine direkte Verbindung zwischen
der kultischen Musik ihrer Kindheit und ihren eigenen Kompositionen. Woher die ganze
Musik in ihr komme, wisse sie nicht. Die quasi religiöse Klangqualität von Dolmen Music
entspringt vielmehr einem anderen Kontext. Sie ist inspiriert von den druidischen Menhirs,
den archaischen, kultischen Felsformationen in der Bretagne. Monk spricht davon,
dass die Felsen auf sie eine starke energetische Ausstrahlung gehabt hätten. Genau dies
wollte sie in der Musik wiedergespiegeln: »I was thinking about Druids, the ancient
people who had constructed this table. I was trying to make music which had a kind of
primordial quality but also a futuristic quality at the same time.« (in: Strickland, S.98).
Die Faszination des Schamanenhaften, Überdauernden und Geheimnisvollen fließt in die
Musik ein durch langsam aufbauende Steigerungen und Überlagerungen in den Stimmen,
die ein virtuoses und fast unheimliches Eigenleben zu entwickeln scheinen. Zum Teil wird
die Musik durch Violoncello und Klavier unterstützt – dabei weben die Instrumente in
einfachen Wiederholungen den »Klangteppich«, auf dem sich die Solostimmen entfalten
können. In einer Aufführung von Dolmen Music bildeten die Interpreten eine Art »archaische
Gemeinschaft« nach, indem sie – ähnlich der Anordnung der Felsen – im Kreis
saßen. Alle waren in Schwarz und Weiß gekleidet, und sie schienen auf geheimnisvolle
Art in einer nicht erkennbaren Sprache und wie spontan miteinander zu kommunizieren.
Auch für diese Performance-Komposition gibt es keine partiturhafte Notenvorlage.
»The heart of my work is singing«- diese Maxime gilt für alle Werke Monks, auch wenn
der Gesang nie für sich allein steht. Immer spielt die theatralische und vor allem die
körperliche Präsenz in der Performance eine mindestens ebenso bedeutende Rolle wie
die klangliche.
Working between the Cracks
{ Aufgrund der Art ihrer musikalischen Stimm-Performance verwundert es nicht,
dass Meredith Monk als zweiten wichtigen Zweig ihrer Arbeit das Theater nennt. Hier
vermischen sich in ihren Werken Musik, Tanz, Lichtgestaltung und Szene zu einem
»Gesamtkunstwerk«, in dem sich die verschiedenen Ebenen überlagern und gegenseitig
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ergänzen. »Working between the cracks« – das bedeutet für Monk nicht nur die Aufhebung
der Trennlinien zwischen den Künsten; sie verwirklicht durch ihre Kunst
gleichzeitig auch die Idee eines schöpferischen, kreativen und unkonventionellen
7Arbeitens in den »Zwischenräumen« von Kunst, Realität und Leben.
L i t e r a t u r
x Sally Banes: Terpsichore in Sneakers – Post-Modern Dance.
Middletown: Wesley University Press, 1987
x Tom Johnson: The voice of new music – New York City 1972-1982.
Eindhoven, Holland: Apollohuis, 1991
x Deborah Jowitt(Hg.): Meredith Monk. Baltimore + London:
John Hopkins University Press, 1997
x Deborah Jowitt: Time and the dancing image. Berkeley + Los Angeles:
University of California Press, 1988
x Meredith Monk: Frequently asked Questions. http://www.meredithmonk.org
http://www.meredithmonk/faq/index.html, 2001
x Karin Pendle: Women and Music – A History.
Bloomington: Indiana University Press, 1991
x John Schaefer: New Sounds: A Listener’s Guide To New Music.
New York: Harper&Row, 1987
x Nancy Spector: Das Anti-Erzählerische – Meredith Monks Theater. Parkett 23, Zürich 1990
x Edward Strickland: American Composers – Dialogues on Contemporary Music.
Bloomington: University of Indiana Press, 1991
p Ursula Benzing
studierte von 1997 – 2002 Schulmusik mit Hauptfach Blockflöte und Gesang, Referendariat von
2003 – 2005, unterrichtet seit dem Schuljahr 2005/2006 am Melanchthon-Gymnasium Bretten.
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Artwork: Matthias Wieber
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»Mit der Kehle über dem Vokal a
anzuschlagen«
Giulio Caccinis Le nuove musiche von 1602 im Selbstversuch
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Silke Schwarz
{ Der Zufall kam mir zur Hilfe. Unzufrieden damit, Musik des 16. und 17. Jahrhunderts
irgendwie »aus dem Gefühl heraus« zu interpretieren, hatte ich beschlossen, mich
mit barocken Verzierungslehren zu befassen. Welchen Sinn haben Verzierungen? Waren
sie dazu da, Zuhörer zu beeindrucken, indem man ihnen die technischen Fertigkeiten
der Sänger demonstrierte? Eindeutig ja. Aber gibt es nicht noch eine andere Aufgabe?
Da fiel mir ein Faksimile von Giulio Caccinis 1614 in Florenz gedruckter Sammlung
Nuove musiche e nuova maniera di scriverle (Neue Musik und neue Notationsweise) in
die Hände. Dass Giulio Caccini nicht nur Komponist, sondern auch Gesangsvirtuose
und -lehrer war, bekräftigte meine Entscheidung, mich mit diesem Lehrwerk auseinanderzusetzen
und es auf seine praktische Anwendbarkeit hin zu untersuchen.
Wer ist Caccini?
{ In der von Konkurrenz, Intrigen und Missgunst zerfessenen höfischen Gesellschaft
um 1600 scheint Caccini den Typus des Wadenbeissers verkörpert zu haben. Als sein
Kollege Jacopo Peri ihn nach Sängern fragte, die in seiner neuen Oper Euridice mitwirken
sollten, verknüpfte Caccini die Unterstützung mit der Bedingung, dass er, Caccini, für
seine Schüler auch gleich die Gesangspartien in Peris Stück beisteuern dürfte. Gleichzeitig
komponierte er in grosser Eile ebenfalls eine Euridice und schaffte es, sein Stück
sogar noch vor dem von Peri herauszubringen (Schmitz, S. 3). Giulio Caccini wurde
vermutlich am 8. Oktober 1551 geboren und als Dreizehnjähriger an der Capella Giulia in
Rom zum Knabensopran ausgebildet. Am Hof der Medici in Florenz erhielt er weiteren
Unterricht in Gesang, Laute und Harfe. Caccini war ein gefragter Gesangsolist und
bekam deshalb eine feste Anstellung in Florenz. Ab 1575 bildete er selber junge Sänger
am Hof aus. Außerdem war er Mitglied verschiedener Gruppierungen von Musikern und
Intellektuellen, die über ästhetische und aufführungspraktische Fragen in der Musik
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debattierten. Nach internen Streitigkeiten und dem Tod seines Gönners verließ Caccini
1610 den Hof von Florenz. Sein letzter bekannter öffentlicher Auftritt war 1614, während
eines Aufenthaltes in Pisa. Dort leitete er die kirchenmusikalischen Aktivitäten an St.
Nicola. Im selben Jahr erschien der Traktat Nuove musiche e nuova maniera di scriverle
als Fortsetzung der 1602 herausgegebenen Sammlung Nuove musiche. Giulio Caccini
starb 1618 und wurde in der Florentiner Kirche S. Annunziata beigesetzt.
Die Neue Musik von 1602
{ Caccini begeisterten die zeitgenössischen Vorstellungen vom Gesang im antiken
Theater. Techniken des überhöhten Sprechgesangs und auch Maskenspiel zur Kennzeichnung
mythologischer Charaktere kannte man bereits aus der Tradition der Renaissance.
Im Florenz des jungen 17. Jahrhunderts brachten die Komponisten diese Mischung
zwischen Singen und Sprechen in eine Form, den sogenannten »monodischen« Stil, auch
»stile recitativo« genannt. Der Text wurde nach der Sprechmelodie komponiert und
sollte vom Sänger nach rhetorischen Kriterien in freiem Metrum vorgetragen werden.
Dazu diente ein Bassfundament als klangliche Stütze. Es ersetzte den im 16. Jahrhundert
üblichen polyphonen Tonsatz. Caccini komponierte nun in diesem »neuen Stil«
1602 eine Sammlung von Madrigalen, in denen die Technik des monodischen Stils mit
der Kultur des virtuosen Gesangs verbunden war.
Aufführungspraktische Fragen
{ Die Madrigale und Arien in den Nuove musiche sind alle mit einer Solostimme und
einem Begleitinstrument besetzt. Caccini bevorzugt hier die Chitarrone. Generell ist
bemerkenswert, dass Caccini in der Vorrede viel öfter von dem berichtet, was schlecht
ist und was gute Sänger nicht tun sollen, als konstruktive Hinweise zu geben.
Er geht also offensichtlich davon aus, dass die Leser seiner Schrift nicht am Anfang ihrer
Gesangsausbildung stehen und fehlende Hinweise und Erklärungen selbst hinzufügen.
Das beste Beispiel hierfür sind vielleicht Hinweise zum Ausführen des Trillo bzw. des
Gruppo. Wir erfahren nur, dass der Trillo »mit der Kehle über dem Vokal a anzuschlagen
ist und in ähnlicher Weise der Gruppo«. Der Trillo/Gruppo könnte ein tremolierender
Vorgang (wie unser heutiger Triller) sein oder vom Zwerchfell gebildet werden. Möglich
sind auch gleichmäßig schnelle Stimmbandschlüsse (weiche Glottisschläge), was am
ehesten nach Kehlschlag klingt, jedoch schwierig rhythmisch zu kontrollieren ist.
Wichtig ist Caccini eine sichere Intonation und gute Atemarbeit. Um beides zu gewährleisten,
empfiehlt er, die zu singenden Werke immer so zu transponieren, dass man sie
»mit voller und natürlicher Stimme singen und das Falsett vermeiden kann.«
Zur Frage des Vibratos äußert sich Caccini nicht explizit, dennoch lassen seine Anmerkungen
einige interessante Rückschlüsse zu. Wenn man Caccinis Maxime mit »voller
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und natürlicher Stimme zu singen« befolgt, so muss das (nach meiner Auffassung)
zwangsläufig zur Ausbildung eines natürlichen Vibratos führen. Unverständlich ist deshalb
die verbreitete Meinung, nach der in Renaissance- oder Barockmusik die natürliche
Schwingung einer Stimme reduziert werden müsse oder gar ein vollständig vibratoloses
Singen erforderlich sei. Betrachtet man, wie viele Stunden pro Tag die professionellen
Sänger am Hof gesungen haben, dann scheint es aus physiologischen Gründen schwer
möglich, dass Generationen von Sängern, um ein Vibrato zu verhindern, entweder mit zu
viel Atemdruck oder (vor allem Frauen) mit zuviel Nebenluft gesungen haben. Beides
hätte auf Dauer der Stimme geschadet. Greta Moens-Haenen unterscheidet zwischen
»großem und hörbarem kontinuierlichem Vibrato«, »Naturvibrato« und »Verzierungsvibrato«
(Moens-Haenen, Kap. 1). Diese Einteilung ist sinnvoll, um das Tremolo zu
vermeiden. Stattdessen können so die Triller und Bebungen bewusst eingesetzt werden,
um Dissonanzen oder wichtige Worte zu betonen. Das »Naturvibrato« aber ist ein
gewollter Zustand, der sich bei richtigem Gebrauch der Stimme von allein einstellt. Wird
es jedoch absichtlich erzeugt, so wirkt es für den Hörer als Tremolo.
Die Nuove Musiche als Verzierungslehre
{ »Drei Dinge muß derjenige wissen, welcher den schönen Sologesang mit Affekt
praktiziert. Das sind der Affekt, seine Vielfalt und die Lässigkeit des Gesangs«
(Caccini, Vorwort).
Die Sprezzatura bezeichnet nicht allein eine lässige Haltung insgesamt, sondern auch
die Manier, frei mit der Metrik umzugehen. Neben den verschiedenen Formen von Trillern
(Trillo, Gruppo und Ribattuta di gola), Kaskaden und Passagen gehört die Esclamazione
zu den wichtigsten Verzierungen. Auch sie wird als bekannt vorausgesetzt. Dem Notenbeispiel
nach zu urteilen, ist ein laut angesetzter beziehungsweise durch einen Sprung
nach oben angesetzter hoher Ton gemeint, der durch An- oder Abschwellen affektvoll
gestaltet werden kann. Caccini ist sehr sparsam mit dem Gebrauch von Verzierungen.
Er lehrt, dass man die Passagen nur bei weniger affektuosen Musikstücken und
Schlusskadenzen, jedoch nicht bei kurzen Silben und Tanzkanzonetten einsetzen solle,
denn diese sollten allein durch die Lebendigkeit des Gesangs wirken. Diese puristische
Forderung ist aber, betrachtet man die vorausgegangene geniale Entwicklung des
Kontrapunkts, nur sehr schwer einzuhalten. Auch Caccini benutzt öfters Koloraturen,
die seiner eigenen Lehre widersprechen.
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Das Madrigal »Dolcissimo sospiro« – ein Selbstversuch
{ Caccinis Madrigal liegt ein Gedicht von Ottavio Rinuccini zugrunde.
Dolcissimo sospiro Süßester Seufzer,
Ch’esci da quella bocca Der du aus jenem Munde kommst,
Ove d’amor ogni dolcezza fiocca; Woher alle Süße der Liebe strömt;
Deh, vieni a raddolcire Ach, komm und mildere
L’amaro mio dolore. Meinen bitteren Schmerz.
Ecco, ch’io t’apro il core, Sieh da, ich öffne dir mein Herz,
Ma, folle, a chi ridico il mio martire? Aber, ich Tor, wem erzähle ich
Ad’un sospiro errante meine Pein?
Che forse vola in sen ad’altro amante. Einem herumirrenden Seufzer,
Der vielleicht in das Herz eines anderen
Liebenden fliegt.
Das Thema ist Liebespein. Durch die Aufforderung, den bitteren Schmerz des lyrischen
Ichs zu mildern, wird die Situation des Leidens definiert. Das lyrische Ich wird sich
seiner Einsamkeit bewusst. Bei der Wortwahl fällt die Häufung des Vokals o auf, kombiniert
mit dem Vokal i. »Dolcissimo sospiro«, der Beginn der Dichtung, steht im Gedicht
wie ein vorangestellter Ruf. Diese Zeile hat als einzige keinen Reimpartner. So steht es
auch am Anfang der Komposition als Ausruf, der in langen aufsteigenden Notenwerten
beginnt und auf dem Wort »sospiro« … Durch die Vokalkombination dieses Beginns
entwickelt der Sänger beinahe zwangsläufig eine lyrische Grundstimmung.
Ich habe zur Probe dieselbe Tonfolge auf die Worte »Cara, mia bella« gesungen und
bemerkt, dass die breiten Vokale a und e freudiger und direkter klingen, als die
schlanken Vokale o und i. Rinuccini führt durch die Vokalfarben in die klagende Stimmung
ein. Caccini unterstützt dieses Konzept durch die »seufzenden« Figuren beim
Wort »sospiro«.
Ich beginne den ersten Ton laut mit anschließendem Decrescendo, also in einer von
Caccini empfohlenen Exklamation, um ihn wenig später in eine weitere Exklamation auf
dem Spitzenton d” zu führen. Wieder decrescendierend singe ich die Seufzerfigur bis
zum ersten Einschnitt am Ende des Wortes »sospiro«. Beim Probieren der gegenteiligen
Ausführung der Exklamation, nämlich crescendierend nach dem Ansatz stellt sich ein
interessanter Effekt ein. Die Stimme verliert dadurch an Schwingung, wird also
»gerade«. Möglicherweise ist passiert, was Caccini vor allem bei Sopranen widerstrebte:
Die Stimme klang »scharf und unerträglich«. Da Caccini empfiehlt, den Einsatz der
Exklamationen zu variieren, würde diese Art zu dem Wort »amaro« in Takt elf passen.
Allerdings dauert dieser Ton eine ganze und eine übergebundene halbe Note. Caccini
empfiehlt ausdrücklich auf ganzen Noten anstatt einer Exklamation eine »messa
di voce« (Schwellton) einzusetzen. Am überzeugendsten scheint mir eine kombinierte
Ausführung, also ein Piano-Ansatz auf »amaro«, wobei der Schwellton bis zum Schluss
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des Wortes »mio« dauert. Wenn diese Passage sehr dicht und vibratoarm gesungen wird,
wirkt der Schmerz des »dolore«-Seufzer umso stärker. Betrachtet man die Fortführung
des Anfangseufzers, bemerkt man, dass Caccini eine kleine »kontrapunktische Reminiszenz«
verarbeitet hat. In Takt vier beginnt der Sänger den Text »ove amor« (»ove«
bedeutet »dove«, also wo) in folgendem Rhythmus. Dieses Motiv sequenziert der Generalbass
sofort. Danach mündet der Gesang in eine lautmalerische »Ribattuta di gola«,
die sich dann in Sechzehnteln fortbewegt, danach noch eine ganze Note auf dem Ton a’
verharrt, bevor die Schlusssilbe des Wortes »fiocca« erreicht ist. Üblicherweise hätte
ich auf der ganzen Note einen Gruppo oder eine Passage verziert. Nach der Lektüre des
Traktats scheint mir eine »Messa di voce« der naheliegendste Affekt zu sein.
Nach dem Schmerzseufzer folgt der Satz »Ecco ch’io t’apro il core«. Ich führe die
Seufzer crescendierend aus, um die Exklamation im nächsten Takt decrescendierend zu
singen. So hört man die Verzweiflung des Liebenden und die darauf folgende Hoffnungslosigkeit.
»Ma, folle a chi ridico il mio martiro« beginnt mit einer ganzen Note auf demselben
Ton in C-Dur. Vor der Wiederholung von »ma« (»aber«) schreibt Caccini die einzige
Pause, eine halbe Pause, in diesem Stück. In den folgenden Phrasen bis zum Schluss
fällt auf, dass im Gegensatz zur ersten Hälfte sämtliche Schlusssilben verkürzt werden.
Vergleicht man die Notenwerte der letzten Silben so findet man ganze Noten bei den
Worten sospiro, fiocca, dolore, core (beide Male), während martiro, errante, und amante
(außer im Schlussakkord) zwar jeweils auf der zweiten Silbe (Takt 18, 19, 21, 23, 25)
lange Notenwerte aufweisen, die Schlusssilben jedoch immer in Viertelnoten komponiert
wurden. Dies ergibt natürlicherweise eine Temposteigerung, da nach kadenzierenden
Takten sofort weitergesungen werden soll. Caccini hat also die »sprezzatura« quasi
mitkomponiert.
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In der Frage der Stimmbehandlung fällt auf, dass bei diesem Madrigal, die Stimme
schlank geführt werden muss. Der Sänger dieser Musik sollte immer koloraturbereit sein,
das bedeutet, die Stimme im Klangkern, aber flexibel auf einer guten Stützbasis zu
führen. Die Gefahr, diese Einstellung zu verlieren, besteht vor allem während der zahlreichen
ausgehaltenen Töne. Deswegen ist es sinnvoll, den Rat Caccinis zu befolgen, jeden
langen Ton mit einer »Messa di voce« oder einer »Exklamation« zu versehen. Man wird
dadurch gezwungen, die Stimme zu führen und nicht durch Anstreben eines zu großen
Klanges unflexibel zu werden. Falsch wäre allerdings, die Stimme nur auf den Klangkern
zu reduzieren, da die Exklamation einen vollen Forteklang benötigt, der nur mit Unterstützung
des Körperklangs erreicht werden kann. Abschließend ist festzustellen, dass
das Madrigal »Dolcissimo sospiro« jene Ziele, die Caccini in seinem Vorwort formuliert
größtenteils erfüllt. Der Text kann verständlich gesungen werden. Wichtige Worte werden
ausgeziert oder wiederholt und somit betont. Es ist durchaus anspruchsvoll zu singen
und birgt einige technische Schwierigkeiten.
Natürlich habe ich immer wieder Caccinis Texte zu Hilfe genommen, aber schlussendlich
wurde mir bewusst, dass ich aus der Musik viel mehr Nutzen ziehen konnte. Offensichtlich
demonstrierte Caccini das Erklärte, und der Schüler lernte durch Imitation.
Dies macht es uns heute wohl auch so schwer zu entscheiden, welche Singart denn nun
die »richtige« ist für die Musik des 16. und 17. Jahrhunderts.
L i t e r a t u r
x Bötticher, Jörg-Andreas: »Singend denken« – und denkend singen? Zur Wechselbeziehung
barocker Vokal- und Instrumentalpraxis, in: Reidemeister, P. (Hrsg.):
Basler Jahrbuch für historische Aufführungspraxis XXVI 2002, Winterthur, 2003
x Caccini, Giulio: Le nuove musiche 1602 und Nuove musiche e nuova maniera di scriverle
Florenz,1614 ; Nachdruck 1998. Alle deutschen Zitate stammen von Frauke Schmitz.
x Fenlon, Iain: Giulio Romolo Caccini; aus: Sadie, S. (Hrsg.): The New Grove Dictionary
of Music and Musicians Vol. 4, 2. Auflage, 2001, S. 769 – 777
x Moens-Haenen, Greta: Das Vibrato in der Musik des Barock; 1988,
Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz
x Potter, John: Vocal authority, 1998, Cambridge University Press
x Schmitz, Frauke: Giulio Caccini, Nuove musiche (1602/1614); Pfaffenweiler, 1995
p Silke Schwarz
Sängerin, studierte von 1999 bis 2005 an der Musikhochschule Freiburg. Sie erhielt bereits mehrere
Auszeichnungen, darunter den Europäischen Kulturförderpreis.
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Artwork: Wolfgang Blüggel 28
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Space-Notation
Luciano Berio Sequenza I
Carolin Fütterer
{ Luciano Berios Stück Sequenza I für Soloflöte von 1958 existiert in zwei verschiedenen
Notationen. In der ersten Ausgabe (Editioni Suvini Zerboni Milano; S. 5531 Z)
hat Berio die Musik in sogenannter »Space-Notation« komponiert, während die zweite
Ausgabe (Universal Edition Wien; UE 19957) traditionell in rhythmisch exakten Werten
notiert ist. Als Flötistin stehe ich also vor der Wahl, zwischen zwei sehr unterschiedlichen
»Spielanleitungen« für ein und dasselbe Stück entscheiden zu müssen. Warum hat der
Komponist das gemacht? Und was unterscheidet die beiden Notationen? Zunächst
wählte Berio eine offene Aufzeichnungsweise, die den Interpreten gewisse rhetorische
Freiheiten erlaubt. Sie sind wichtig in Bezug auf das Konzept, mit verschiedenen
Gestaltungselementen die Illusion einer Mehrstimmigkeit zu suggerieren. Berio betrat
damit 1958 Neuland. Offenbar fand der Komponist dann allerdings doch, dass die
Interpretationen von Sequenza, die er mit verfolgen konnte, zu wenig seinen Intentionen
entsprachen. Deshalb entschied er sich für eine zweite, rhythmisch exakt festgelegte
Version des Stücks, damit die Kluft zwischen seiner Klangidee und den Ausführungen der
Flötisten geringer würde. Indessen steht dahinter ein generelles Problem der Transformation
von verschriftlichter Musik in Klang.
Sequenza I
y Hh Y
{ »Ich möchte, dass Du mir ein ein kleines Flötensolo komponierst«, bat der Flötist
Severino Gazzelloni den damals dreiunddreissigjährigen Komponisten. Es sollte zu einem
Konzert mit zeitgenössischen Stücken von Togni, Messiaen und Boulez passen. Luciano
Berio nahm die Herausforderung an und widmete Gazzeloni das 1958 in Darmstadt uraufgeführte
Stück Sequenza. Das Flötenstück bildet den Beginn einer ganzen Serie von
Sequenzas (I-XIII; 1958-1995), in denen jeweils ein Instrument (einschliesslich Stimme)
im Mittelpunkt steht. In Sequenza I besteht die Herausforderung darin, auf der Grund-
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lage dodekaphoner und partiell serieller Strukturen, die Partitur für das einstimmige
Instrument Flöte so zu entwerfen, als würden mehrere Stimmen gleichzeitig ablaufen.
Der Titel Sequenza soll betonen, dass es sich in erster Linie um eine Folge (= Sequenz)
harmonischer Felder handelt, der alle anderen musikalischen Funktionen untergeordnet
sind. Die zeitlichen, die sich auf die Tonhöhe beziehenden, die dynamischen und die
morphologischen (form- und gestaltbildende) Dimensionen sind durch drei Spannungsgrade
charakterisiert:
? Der Grad der höchsten Spannung in der zeitlichen Dimension herrscht in den
Momenten mit der größten Schnelligkeit der Artikulation beziehungsweise in den
Momenten mit der längsten Dauer eines Tones.
? Der mittlere Spannungsgrad ist immer durch eine neutrale Verteilung zwischen
ziemlich langen Werten und ziemlich schnellen Artikulationen ausgezeichnet.
? Der kleinste Spannungsgrad wird durch die Stille oder die Tendenz zur Stille bestimmt.
Die Tonhöhendimension hat ihre maximale Spannung, wenn die Noten sich schnell über
das gesamte Register verteilen oder Intervalle großer Spreizung dominieren beziehungsweise
extreme Register gewählt werden. Daraus ergeben sich auch die anderen beiden
Grade. Der maximale dynamische Spannungsgrad findet in Momenten der größten
klanglichen Intensität und des größten dynamischen Kontrastes statt. Als morphologische
Dimension gilt die Verbindung der drei anderen. Sie dient als eine Art rhetorisches
Werkzeug, das den Grad der akustischen Transformation in Bezug auf ein Modell definiert.
In Sequenza I ist es die Erfahrung mit dem historischen Hörbild einer Flöte (als
Modell) und ihre Differenz. Der maximale Grad ist hier erreicht, wenn das typische Hörideal,
der schöne, kultivierte Ton, modifiziert wird durch Flatterzunge, Klappengeräusche
oder Doppeltöne. Wenn in der Ausführung die zeitlichen Beziehungen gewissenhaft
respektiert werden, dann hat man manchmal tatsächlich den Eindruck, wenn auch nicht
einer Polyphonie, so doch einer Gleichzeitigkeit der Ereignisse.
Das Stück wird durch eine Koexistenz zweier verschiedener, scheinbar gegensätzlicher
Anlagen entwickelt. Auf der einen Seite überzeugt die unmittelbare, theatralische und
schon fast aggressive Dimension, auf der anderen Seite bleiben isolierte, absolute
Gesten. Pausen werden benutzt, um die verschiedenen Teile zu trennen, um etwas rhetorisch
hervorzuheben oder einfach als Möglichkeit einer natürlichen Atmung. Über die
Dynamik werden gleiche Charaktere gezeichnet oder Echos provoziert. Außerdem dient
sie auch für gezielte Überraschungseffekte. Mit schnellen Oktavwechseln, dem Anspielen
entfernter Oktaven entsteht eine Art Räumlichkeit, in der verschiedene Klangpunkte
miteinander in Aktion zu treten scheinen. Trotzdem wirkt das Stück nie »zerstückelt«
oder »auseinander gerissen«. Aufgrund der symmetrischen Verwendung von Dynamik,
Dauern und der Gruppierungen der Intervalle gibt es so etwas wie regelmässige Phrasen.
Mit Hilfe von Zeichen werden bestimmte Assoziationen erreicht, wie Ähnlichkeit oder
Kontrast, Wiederholung oder Variation, oder auch die Bestätigung oder Negation von
Symmetrie. Selbst wenn beim Zuhören der Eindruck eines freien Kontinuums entsteht, so
sind doch konkrete Orientierungspunkte vorhanden.
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Zwischen Komponierenden und Interpreten
{ Nicht immer lässt sich bei einer Komposition die Absicht des Autors eindeutig erkennen.
Zwischen der Intention, ihrer Fixierung in Noten und der klanglichen Umsetzung
des Notierten bleiben nicht zu schliessende Spielräume. Die Hermeneutik (=Lehre von
der Sinnerfassung von Aussagen) geht sogar auch bei mehr oder weniger eindeutig
erkennbaren Intentionen davon aus, dass die Interpretation sich unbedingt vom
Sinnhorizont des Autors lösen müsse (vgl. Danuser, Sp. 1053-1069). Dem Komponisten
bleiben zur Sicherung einer angemessenen Vortragsweise folgende Massnahmen:
? die genaue Vortragsbezeichnung
? die mündlich oder schriftlich praktizierte Vortragslehre
? die Realisierung mustergültiger Aufführungen und
? die Fixierung auktorialer, das heisst vom Komponisten gesteuerter
Reproduktionen auf Tonträgern.
Dem gegenüber steht der von der Autorintention abweichende rezeptions- und
interpretationshistorische Wandlungsprozess. Gemeint ist, dass das Stück sich mit jeder
Aufführung ändert und damit möglicherweise sich auch positiv weiterentwickelt.
Gerade das macht die Lebendigkeit von Musik aus. Die im Text notierte Struktur eines
musikalischen Kunstwerks weist meist solch einen Reichtum an Beziehungen auf,
dass es nicht möglich ist, eine einzige, ästhetisch perfekte Fassung davon darzustellen.
Es können immer nur verschiedene einzelne Aspekte eines Werks berücksichtigt werden.
Dies zeigt sich am Zwiespalt zwischen der Forderung nach der Deutlichkeit im Detail
einerseits und andererseits dem Verlangen nach einem »grossen Bogen«, einem
Zusammenhang der Formteile. In Berios Sequenza I verschärft sich das Problem deswegen,
weil Interpreten bestimmte Entscheidungen selber treffen können. Die absolute
Autorität der Autorenintention ist damit bereits ein Stück weit gelockert.
Um so verantwortungsvoller muss nun allerdings auch damit umgegangen werden,
dass die vagen Grenzen zwischen Freiheiten im begrenzten Spielraum und willkürlicher
Interpretation respektiert bleiben.
Space-Notation
{ Da das Stück extrem virtuos ist, hat Berio sich bei der Komposition für eine
»Space-Notation« entschieden. Er sah darin die Möglichkeit einer Notation, die dem
Interpreten (mehr psychologisch als musikalisch) einen gewissen Spielraum lässt,
das Stück seinen musikalischen Fähigkeiten anzupassen. Diese neue Art der Notation
hat zur Bekanntheit des Stücks Ende der fünfziger Jahre wesentlich beigetragen. Während
traditionelle Notationsformen die einzelnen Parameter von Metrik und Tondauern
genau festschreiben, handelt es sich hier um eine Notation in optisch definierten
Abständen. Die Dauer eines bestimmten Zeitraums (hier: 70 Schläge pro Minute) wird
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durch kleine senkrechte Kommata umgrenzt und dient als konstanter Puls. Eine feststehende
Metrik und ausgeschriebene Notenwerte existieren nicht. Das heisst, die
optische Verteilung der Noten zeigt den auszuführenden zeitlichen Abstand innerhalb
des vorgeschriebenen Zeitraums (»Space«) an. Sind die Noten mit einem Balken
verbunden, so sind sie quasi tenuto (gehalten) zu spielen. Stehen sie einzeln, jeweils
mit »Fähnchen«, so sind sie kurz zu spielen, je nach Art der vorgegebenen Artikulation.
Die Dauer der unter Fermaten stehenden Töne wird nicht vorgeschrieben, die kleinen
Noten sollen so schnell wie möglich ausgeführt werden.
Die in Sequenza verwendete Space-Notation löste heftige Diskussionen über die
darin enthaltene immanente Aleatorik (»Zufälligkeit«) aus. Wenn nämlich zu der
»freien« Notationsweise noch die »freie« Spielweise der Interpreten hinzukommt, wie
ungenaue Pausen oder willkürliche Agogik, so fürchtete man, wird es mit einer textgetreuen
Interpretation schwierig. Skeptiker wie Pierre Boulez fragten daher, ob diese
Schreibweise nicht zu sehr zwischen Zufall und Konstruktion »wackele«. Auch Berio
machte die Erfahrung, dass die Interpretation nach seiner Vorstellungen nur dann
gewährleistet war, wenn Komponist und Interpret das Stück gemeinsam einstudierten.
In seiner zweiten Ausgabe fixierte Berio daher den Notentext metrisch genau. Anstelle
eines definierten Zeitraums (70 Impulse pro Minute), bestimmt die Dauer einer Viertelnote
(Viertel = 70) das Tempo. Daraus folgt, dass auch die einzelnen Notenwerte jetzt
metrisch exakt notiert werden. Das heisst, anstelle »längerer« oder »kürzerer« Werte,
die aus dem Zusammenhang heraus interpretiert werden müssen, stehen nun rhythmisch
festgelegte Achtel, Sechzehntel, Triolen oder Quintolen. Ob beabsichtigt oder nicht:
es ändert sich damit der gesamte Charakter des Stücks.
Ausblick
{ Es nicht ganz unproblematisch, die beiden Ausgaben zu vergleichen. So ist zum
Beispiel nicht klar, wo bei der Space-Notation die »Eins« des »Taktes« oder besser des
Spaces zu setzen ist. Bedeutet »auf den Puls«, wenn die Noten in einem Abstand von
ca. einem Milimeter zum Komma stehen? Auf den ersten Blick scheinen die beiden
Ausgaben sich in ihrem Notenbild recht ähnlich zu sein. Vergleicht man dann kritischer,
so zeigen sich doch einige Unterschiede. Die in den beiden Ausgaben manchmal leicht
verschiedene Dynamik ist hierbei unter dem Aspekt der Relativität vernachlässigbar.
Erstaunlicherweise lassen sich durch die Space Notation mehr Nuancen ausmachen,
die rhythmisch ausgeschrieben so gar nicht notierbar sind. Das betrifft vor allem den
sprachlichen Gestus des Stücks. Mit dem genauen Ausrechnen der rhythmischen Wertigkeit
wird der sprachähnliche Gestus mehr zerstört als gefördert.
Trotzdem gehören die zwei Fassungen zu den besonders reizvollen Aspekten des
Stücks. Nach der vergleichenden Gegenüberstellung und meiner eigenen Erfahrung damit
kann ich jedem Flötisten nur empfehlen, sich beide Ausgaben anzuschauen, aber
letztendlich aus der Erstfassung zu spielen. Durch das Lesen der rhythmisierten Fassung
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wird man gezwungen, sich die Erstfassung auch wirklich genau zu erschließen.
Und wenn man dies gewissenhaft tut, dann hat man sich ein nicht einfaches, aber dafür
meisterhaftes Stück der Flötensololiteratur angeeignet.
L e s e n · H ö r e n · S e h e n
x Luciano Berio und Rosanna Dalmonte: Entretiens avec Rosanna Dalmonte,
Lattes, Paris 1983.
x Hermann Danuser: Art. »Interpretation«, in: MGG2, hg.v. Ludwig Finscher, Sachteil Bd. 4,
Kassel etc. 1996, Sp.1053 – 1069.
x Francesca Magnani: La Sequenza I de Berio dans les poétiques musicales des années 50,
in: Analyse musicale 14, 1989, S. 74-81.
x Joachim Noller: Art. »Luciano Berio«, in: Komponisten der Gegenwart,
hg. v. Hanns-Werner Heister / Walter-Wolfgang Sparrer, München 1992 ff., 26. Nlfg., 10/03.
x Circles, Sequenza I, Sequenza III, Sequenza V, Wergo Schallplatten: Mainz 1991 (CD).
x Donaueschinger Musiktage1996, Col legno Musikproduktion: München 1997 (CD).
x Peter-Lukas Graf: Werke für Flöte solo, Claves Records: 3600 Thun/ Schweiz 1989.
x Olivier Mille: ein Film von Olivier Mille, Artline Orig.- Prod.;
Südwestfunk: Baden-Baden 1993 (Video).
p Carolin Fütterer
Flötistin, studierte von 1998 bis 2004 Orchestermusik an der Musikhochschule Freiburg.
+
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Komposition: Sven Hinz
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y Hh Y
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+
Offene und geschlossene Konzepte
y Hh Y
Sven Hinz
{ Klangereignisse, die mit einer Intention hervorgebracht werden, können in
Konzepten (Partituren, graphischen Notationen, verbalen Anleitungen) beschrieben
werden. Je nach dem Grad ihrer Eindeutigkeit lassen sich offene oder geschlossene
Konzepte unterscheiden.
Auf der linken Seite: Beispiel für ein offenes Konzept. Der Anleitung oben rechts entsprechend
werden die Elemente A-B-C immer wieder neu kombiniert und interpretiert.
Zur besseren Handhabung: Felder entlang der durchgezogenen Ränder ausschneiden,
am schraffierten Rand zusammenheften und entlang der gestrichelten Linien schneiden.
Dem gegenübergestellt ist ein Beispiel für ein geschlossenes Konzept (Text unten),
das keinerlei Interpretationsfreiheit zuläßt. Der Text über das Werk ist das Werk selbst
und muß weder erläutert noch erschlossen werden.
Beide Stücke wurden im Rahmen der Veranstaltung »Experimentelles Komponieren
für Schüler« 2005 aufgeführt.
Werkeinführung für einen Sprecher
{ Dieses Werk ist eine reine Sprachkomposition, die aus zwei Teilen, zweimal drei
Sätzen und zweimal zweiundsechzig Wörtern besteht. Der Text stammt vom Komponisten
und enthält das Werk selbst sowie dessen formale und inhaltliche Beschreibung;
darüber hinaus einige Angaben über Vortragston, Artikulation, Sprechtempo und Lautstärke.
Der Vortragston sollte sachlich, die Artikulation verständlich, das Sprechtempo
gemäßigt und die Lautstärke die einer gewöhnlichen Unterhaltung sein.
Der Titel des Werkes »Werkeinführung« erscheint an zwei Stellen in der Partitur:
einmal etwa in der Mitte und einmal am Ende. Form und Inhalt sind vollkommen
identisch. Das Werk ist selbstbezüglich und somit völlig autonom, gleichzeitig jedoch
programmatisch, da es eine außermusikalische Idee zum Inhalt hat: die Werkeinführung.
Aus Symmetriegründen mußten vierzehn Wörter nachträglich eingefügt werden,
die jetzt eine Art Coda bilden.
p Sven Hinz
studiert seit dem Wintersemester 2000/01 an der Musikhochschule Freiburg Schulmusik.
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Foto: Stephan Eschler
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Artwork: Nina Holstein
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Zwischen »Fairy-tale«
und »War requiem«
y Hh Y
Edward Elgars Cellokonzert – ein Interpretationsvergleich
Peter Hajek
{ Gegensätzlicher kann Edward Elgars Cellokonzert kaum charakterisiert werden.
Das erste Zitat stammt von Donald F. Tovey aus den 1930-er Jahren (Tovey, S. 143), das
zweite von Jerrold N. Moore aus den 80-er Jahren (Moore, S. 741). Wie ist es möglich,
dass der eine Märchen voller Humor, der andere den höchsten Ausdruck von Einsamkeit
hört? Lässt sich diese Frage analytisch klären? Und wie verhalten sich die Interpretinnen
und Interpreten? Dazu habe ich vier Aufnahmen untersucht: 1.) eine Einspielung
von 1928 unter der Leitung des Komponisten mit Beatrice Harrison, Cello, und dem New
Symphony Orchestra; 2.) eine Aufnahme von 1945 mit Pablo Casals und dem BBC
Symphony Orchestra unter Sir Adrian Boult sowie zwei Aufnahmen mit Jacqueline du
Pré, von 1965 mit dem London Symphony Orchestra unter Sir John Barbirolli (3) und von
1970 mit dem Philadelphia Orchestra unter Daniel Barenboim (4). Welche Variante
wählen die drei Interpreten, die humorvolle oder die melancholische? Und mit welchen
Mitteln arbeiten sie den jeweiligen Grundcharakter heraus? Hierbei erhält die erste
Aufnahme von 1928 einen hohen Stellenwert, weil der Komponist sie selber dirigiert.
Harrison wurde von Elgar ausdrücklich als »his chosen soloist« bezeichnet.
Aspekte für die Grundstimmung des Cellokonzertes
{ Das Cellokonzert op. 85 gehört zu den Stücken, die Elgar in den Jahren 1918 und
1919 in einem idyllisch gelegenen Sommerhaus bei Brinkwells in Sussex komponierte.
Das Stück besteht aus vier Sätzen: 1. Adagio – Moderato (e-moll); 2. Lento – Allegro
molto (G-Dur); 3. Adagio (B-Dur) und 4. Allegro (e-moll). Sie sind auf mehreren Ebenen
miteinander verknüpft. So geht der erste Satz unittelbar in den zweiten über, während
der dritte und vierte Satz harmonisch mit einander verbunden sind. Ausserdem enthält
die Coda des vierten eine Reminiszenz an den dritten Satz. Darüber hinaus hängen die
Themen aller Sätze in Gestus und Struktur eng miteinander zusammen. Als Bindeglied
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»The Violoncello Concerto
is a fairy-tale, full of (…) humour.«
»Such a concerto of isolation,
loneliness, farewell even, as had never
been written.«
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dient die rezitativische Einleitung des ersten Satzes. Sie ist nicht nur die Quelle melodischen
Materials, sondern sie taucht auch an mehreren Stellen des Konzertes mehr oder
weniger wörtlich wieder auf, so zu Beginn des zweiten und an Anfang und Ende des vierten
Satzes. Zwei kompositorische Aspekte entscheiden den Grundcharakter von Elgars
Cellokonzert: das Spielen mit traditionellen Konventionen, das sich besonders in den rezitativischen
Partien zeigt, und die Interpretation der langsameren Sätze und Passagen.
Spiel oder Scheitern – die Einleitungen der ersten beiden Sätze
{ Schon in der rezitativischen Einleitung des ersten Satzes zeigt sich das für das
ganze Werk typische Muster getäuschter Hörerwartungen. Die ersten Takte – vier
mit nobilmente und largamente bezeichnete Akkorde des Solocellos im fortissimo – versprechen
ein repräsentatives Stück. Jedoch sinkt die Cellolinie in nur vier Takten vom
selbstgewissen fortissimo ins piano und rutscht dabei unaufhaltsam ins tiefe Register
ab.Danach beschleunigt sich zwar das Tempo. Doch auch die schnelle Bewegung gerät
sofort wieder ins Stocken. Dieses Prinzip, nämlich einem vielversprechenden Gestus
etwas ›Enttäuschendes‹ folgen zu lassen, lässt sich nun in zwei Richtungen interpretieren.
Einerseits dahingehend, dass Elgar mit den Erwartungen seiner Zuhörer spielt,
um in eine unerwartete Richtung einzulenken – eine humorvolle Variante. Andererseits
kann man dieses Muster auch als Resignation auffassen: Der Versuch, das Konzert mit
einem strahlenden, emphatischen ersten Satz zu beginnen, scheitert kläglich – eine
tragische Variante. Die Interpretation der rezitativischen Einleitung als Spiel oder
Scheitern wirkt sich dann auch auf den Charakter des folgenden lyrisch-schlichten
Moderatothemas aus.
Die vier untersuchten Aufnahmen unterscheiden sich deutlich in der Gestaltung des
vom Adagio scheinbar zu einem schnellen Satz strebenden Sechzehntelaufgangs und in
der Charakterisierung des Moderatothemas. Beatrice Harrison (1) etwa suggeriert einen
Übergang in einen schnellen Kopfsatz. Dagegen hat Casals (2) offenbar das deutlich
spürbare Bedürfnis, aus Elgars Vorgaben, etwas machen’ zu müssen. »Gute Musik ist nie
eintönig. Wenn sie eintönig klingt, ist es unser eigener Fehler«, so Casals, »weil wir sie
nicht spielen, wie sie gespielt werden sollte« (zit. n. Blum 1981, S. 34). Er formuliert
daher das Moderatothema als gewichtiges Hauptthema und durchbricht den monotonen
Fluss durch unvorhersehbare Unregelmäßigkeit, indem er mal auf den einen, mal auf
den anderen Ton des Sequenzmodells hinspielt. Außerdem senkt er das Tempo ab (Casal:
MM = 49; Harrison: MM = 55). Dadurch fokussiert sich die Aufmerksamkeit auf den
Einsatz des Cellos als eigentliche ›Hauptsache‹ des ersten Satzes. Sein Thema soll sanft
»niedergeh[n] wie ein Blatt, welches im Herbst von einem Baume fällt« (zit. n. Blum, S.
51f.). Wirkt das Moderatothema bei Harrison unauffällig schlicht, so als sollte der
Hörer, dessen Erwartung von etwas Großartigem im Rezitativ genährt worden war, sozusagen
auf den Arm genommen werden, so erhält es bei Casals die Rolle eines echten
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Hauptthemas. Es strahlt aber nicht den in den Anfangstakten versprochenen Triumph
sondern eher herbstliche Einsamkeit aus. Casals Ansatz wirkt wie ein resigniertes Eingeständnis,
dass Elgar die Erwartung des triumphalen Anfangsgestus zwar erfüllen konnte,
es jedoch nicht wollte. Jacqueline du Pré (3, 4) lässt die Erwartung erst gar nicht aufkommen.
Sie spielt die Sechzehntel von Anfang an sehr langsam, was bewirkt, dass sich
hier schon eine gewisse Hoffnungslosigkeit ausbreitet. Diese resignierende Stimmung
behält du Pré auch im (nicht ganz so phantasievoll wie in der Casals-Aufnahme gestalteten)
Moderatothema bei. Ähnliche Beobachtungen gelten für die rezitativische Einleitung
des zweiten Satzes. Harrison und Elgar spielen mit getäuschten Erwartungen,
Casals und du Pré verleihen dem Anfang eine resignative Grundstimmung von Aufbruch
und Scheitern. Entsprechend wirkt der Hauptteil des zweiten Satzes, ein von kurzen
cantabile-Passagen durchsetztes perpetuum mobile, bei Harrison wie ein spielerisches
In-Fahrt-Kommen, bei Casals und du Pré nervös dahinhuschend.
Schlicht oder schmerzvoll-pathetisch – die langsamen Partien
{ Die unterschiedliche Gestaltung der langsameren Partien des Konzertes wirkt sich
vor allem auf die Wahrnehmung der letzten beiden Sätze aus. Bei Casals und noch mehr
bei du Pré lässt sich eine emotionale Aufladung der langsameren Teile des Konzertes
feststellen, wodurch sich das Hauptgewicht von den lebendigen schnelleren (bei Harrison)
zu den melancholischen langsameren Teilen verlagert. Das Adagio, ein »Lied ohne
Worte« des Solocellos, zurückhaltend begleitet von Streichern und Klarinetten, beginnt
mit drei aufwärts führenden, fragenden Motiven, sinkt dann im 7. Takt zurück in eine
synkopische Bewegung des Orchesters, über der sich eine Cellokantilene entwickelt.
Diese wird zweimal wiederholt: zunächst fast identisch (ab Takt 27), aber einen Halbton
tiefer. Die dritte ›Strophe‹ (Takte 45 bis 53) ist bis zur Unkenntlichkeit gekürzt, so dass
fast nur der Beginn wiederzuerkennen ist. Der Schlusstakt dieser letzten Strophe wird
mit dem Wiederaufgreifen der Fragemotive des Beginns verschränkt.
In keiner der vier untersuchten Aufnahmen weichen die Interpreten wesentlich vom
Notentext ab. Und doch wirken sie grundsätzlich verschieden. Harrison singt ein trauriges,
aber schlichtes Lied. Bei Casals und du Pré (1965) geht die Schlichtheit zunehmend
zugunsten ergreifender Leidenschaftlichkeit verloren. Wie stark dieser Stimmungswechsel
wirkt, zeigt ein Vergleich der extremsten Aufnahmen, von Harrison 1928 und du
Pré 1970. Harrison lässt die Werkstruktur klar hervortreten. Sie grenzt die einzelnen
›Strophen‹ deutlich voneinander ab und auch die einzelnen Phrasen sind gemäß ihrer
motivischen Struktur klar untergliedert. Dabei behält sie durchgehend eine einheitliche
Klangfarbe und Tongebung bei. Außerdem schlägt sie ein flüssiges Tempo an (Takte 1-7
im Durchschnitt Achtel = MM 46; du Pré: MM 32), welches sie in der zweiten ›Strophe‹
(molto stringendo) auf fast das dreifache steigert (Takt 34: MM = 124; du Pré MM 60), so
dass der ganze Satz als Einheit überblickt werden kann. Ein völlig anderes Verhältnis
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Artwork: Bastian Herbstrith
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zwischen Detail und Ganzem wählt du Pré 1970. Sie schöpft ihr ganzes reichhaltiges Arsenal
an Ausdrucksmitteln aus: Vibrato und Klangfarbe variiert sie auf engstem Raum,
prägend ist aber besonders ihre Agogik. Während Harrison das Grundtempo vor allem
auf höherer Ebene extrem variiert, macht sich bei du Pré eine phantasievolle Zeitgestaltung
vor allem unterhalb der Taktebene bemerkbar. Der Zeitpunkt des jeweils nächsten
Tones ist kaum vorherzusehen, scheint im Rückblick trotzdem immer zur genau richtigen
Zeit gekommen zu sein. Du Pré nutzt die agogischen Spielräume bis an die Grenzen aus.
Das Zusammenspiel der verschiedenen Ausdrucksparameter (Vibrato, Tongebung, Agogik
u.ä.) ist bei du Pré so komplex, dass kein Ton dem anderen, kein Takt dem folgenden
gleicht. Der Hörer wird von ihr in den einzelnen Augenblick hineingesogen und verliert
die Distanz, die im Gegensatz dazu bei Harrison die formale Struktur so klar hervortreten
lässt. Jacqueline du Pré macht jedes kleine Motiv, ja fast jeden einzelnen Ton zu einem
aufregenden Erlebnis. Der Hörer wird zwar dadurch vom Blick aufs Ganze abgelenkt
– aber ohne dass der Satz dadurch auseinanderfallen würde. Er wird zusammengehalten
von einer einheitlichen Stimmung. Denn alle Vielgestaltigkeit in du Prés Spiel ist nicht
Selbstzweck sondern dient dem Ausdruck eines ergreifenden Schmerzes.
Die emotionale Aufladung langsamer Passagen wirkt sich besonders stark auf die
Wahrnehmung des vierten Satzes aus. Dieses Allegro weist einige für Finalsätze typische
Merkmale auf: Sonatenform mit Rondoelementen, ein schwungvolles Hauptthema, ein
sich immer weiter steigerndes Modulationstempo und eine triumphale Schlussgeste.
Ebenfalls nicht ungewöhnlich für einen Schlusssatz sind Reminiszenzen an vorangehende
Sätze. Allerdings erscheint der Rückblick auf den dritten Satz (Takt 281-331) in der
Coda, die sich stetig bis zum Lento in Takt 325 verlangsamt, mit einer dem dritten Satz
entsprechenden Länge ungewöhnlich ausgreifend. Harrison spielt diese Passage zwar
sehr leidenschaftlich (viele Portamenti, ausdrucksvolles Vibrato), aber die drängende
Unruhe des Allegros bleibt im Bewusstsein des Zuhörers präsent, so dass in der kurzen
Stretta (Takt 336-352 Allegro molto) diese wieder aufgreifen und in eine triumphale
Schlussgeste umgeformt wird. Der Rückblick wirkt bei ihr wie eine vorübergehende ›Episode‹.
Casals und du Pré verleihen dieser Passage durch Vielgestaltigkeit im Detail ein
ungleich größeres Gewicht. Schon allein durch das langsamere Tempo (Harrison: Viertel
= MM 91-35, Casals MM = 59-33, du Pré MM = 62-23 bzw. 56-19) verschwindet allmählich
die Erinnerung an den bewegten Hauptteil, der Episodencharakter geht verloren. Die
Stretta ist dann zu kurz, um die resignative Stimmung wieder aufzuhellen. Sie wirkt eher
wie ein letztes verzweifelt-trotziges Aufbäumen. Die gedrückte Stimmung bleibt beim
Hörer haften und überschattet das ganze Konzert, das im Rückblick Einsamkeit und
Depression auszudrücken scheint.
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Autorenintention und Wende der Rezeption von Elgars Cellokonzert
{ Elgar und Harrison betonen die leichtere, humorvolle, die anderen drei Beispiele
dagegen die melancholische, tragische Seite des Cellokonzertes betonen. Faszinierend
ist, dass der Notentext beide Interpretationsrichtungen zuzulässt. Nur die Tempoangaben
widersprechen der tragischen Interpretation. Offensichtlich hat sich die Interpretation
von Elgars Cellokonzert zwischen 1928 und 1945 von der humorvollen
zur tragischen Version geändert. Zwar ist die Basis von nur vier Aufnahmen keineswegs
genügend repräsentativ, um diese Vermutung auf ein sicheres Fundament zu stellen.
Jedoch scheint sie sich in den Entwicklungstendenzen der musikwissenschaftlichen
Literatur über Elgars Cellokonzert zu bestätigen. Die fast ausschließlich angelsächsische
Elgar-Forschung ist überwiegend biographisch orientiert. Das Hauptinteresse der
Biographen Elgars liegt in der Darstellung seines Charakters, von dem die Musik nicht zu
trennen sei. Analytische Betrachtungen begnügen sich daher meistens damit, biographische
Bezüge herzustellen. Überliefert ist Elgars Bemerkung, das Cellokonzert spiegele
»A man’s attitude to life« wider. Obwohl Elgars Lebenseinstellung als äußerst zwiespältig
zwischen »he was so thin-skinned and so vulnerable« und »jocular gusto«
(McVeagh) beschrieben wird, erhält das Cellokonzert einseitig depressive Attribute
wie »war requiem« ( McVeagh S. 121), »world of loneliness« (Moore, S. 741) oder
»Elgar’s final comment on the agony of the war and of himself« (Anderson, S. 359).
Die zitierten Aussagen entstammen alle der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg,
während in der Vorkriegszeit die humorvollen Charakteristika überwiegen wie Toveys
»a fairy-tale, full […] of meditative and intimate passages; full also of humour, which,
in the second movement and finale, rises nearer to the surface than Elgar usually
permits« (Tovey, S. 143). Die Indizien sprechen dafür, dass Elgar die humorvolle Interpretation
seines Cellokonzertes intendierte. Sowohl der Notentext (die sich in den angegebenen
Metronomzahlen manifestierenden Tempoangaben) als auch die – wenn auch
sehr spärlich – überlieferten Aussagen Elgars und die in diesem Fall wichtigste Quelle
für die Suche nach der Autorenintention, die Aufnahme mit Beatrice Harrison unter der
Leitung von Elgar selbst, weisen in diese Richtung. Würde nun einer Beurteilung der
untersuchten Aufnahmen einzig und allein das Kriterium zugrunde gelegt werden, das im
20. Jahrhundert oft dogmatisch gefordert wurde, der Interpret habe die Werkidee des
Komponisten wiederzugeben und nichts anderes, so müsste man die Aufnahmen von
Casals und du Pré, die zu den einflussreichsten Interpreten des 20. Jahrhunderts zählen,
als die Autorintention verfehlend verurteilen. Hermann Danuser und Hermann Gottschewski,
die sich intensiv mit der Analyse performativer Interpretationen beschäfti-
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gen, schlagen eine andere Beurteilung vor und nennen als das wichtigste Kriterium für
die künstlerische Qualität eines Interpretationskunstwerks »seine innere Stimmigkeit«.
Sie »definiert sich allein aus den auf der Schallplatte festgehaltenen Strukturen«
(Gottschewski 1996, S. 20). Legt man diesen Maßstab zugrunde, muss man den vermeintlichen
Verstoß gegen die Autorenintention akzeptieren. Durch Casals entstand
ein ergreifendes ›neuen‹ Elgar-Cellokonzert, dessen ausdruckshaften Intensität
du Pré noch steigerte.
L i t e r a t u r
x Baldock, Robert: Pablo Casals. Das Leben des legendären Cellovirtuosen, München 1994.
x Blum, David: Pablo Casals und die Kunst der Interpretation, Wilhelmshaven 1981.
x Danuser, Hermann: Artikel Interpretation, in: MGG2, hrsg. von Ludwig Finscher,
Sachteil Bd. 4, Kassel und Stuttgart 1996, Sp. 1053-1069.
x Gottschewski, Hermann: Die Interpretation als Kunstwerk. Musikalische Zeitgestaltung
und ihre Analyse am Beispiel von Welte-Mignon-Klavieraufnahmen
aus dem Jahre 1905, Laaber 1996.
x McVeagh, Diana: Artikel Elgar, in: The new Grove dictionary of music and musicians,
hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 8, London 2001, S. 115-137
x Tovey, Donald Francis: Essays in Musical Analysis, Bd. 2: Concertos and Choral Works,
Oxford 1989 (erste Auflage 1935-1939).
p Peter Hajek
studierte von 1999 bis 2004 Schulmusik, mit Hauptfach Cello.
+
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Artwork: Bastian Herbstrith
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Artwork: Nina Klotz
P Notenpapier_2006|
+
Konzertsäle – Klangräume
Wiener Klassik und Öffentlichkeit
Simone Kathrin Mayer
{ Ludwig van Beethovens Sinfonien gehören für uns selbstverständlich zum Kernrepertoire
»klassischer« Konzertreihen. Ihr adäquater Aufführungsort ist traditionell
das Konzerthaus, dessen architektonische und akustische Gestaltung im Dienst der
Musik steht. Konzertsäle sind öffentliche Räume. Sie geben Aufschluss darüber, wie musikalische
Öffentlichkeit gestaltet wird und welche Rolle die Musik in der Öffentlichkeit
spielt. Zu Beethovens Zeit gibt es in der Stadt Wien allerdings noch gar kein Gebäude,
das eigens für Sinfoniekonzerte gedacht oder sogar dafür konstruiert worden wäre. Der
repräsentative Konzertsaal der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien wird erst 1831
gebaut, vier Jahre nach Beethovens Tod. Wie funktioniert dann musikalische Öffentlichkeit
zur Zeit der Wiener Klassik? Die uns vertraute Art und Weise öffentlicher Konzertveranstaltungen
entwickelt sich um 1800 überhaupt erst. Zu den Begleiterscheinungen
gehört, dass die mitwirkenden Orchester noch keineswegs den heutigen professionellen
Sinfonieorchestern entsprechen. Beethoven spielt dabei insofern eine wichtige Rolle,
weil er mit seinem Wirken in dieser Entwicklung eine neue Dimension öffnet. Raum
hat neben architektonischer und akustischer auch eine soziale sowie als Klangraum
innerhalb der Komposition eine musikästhetische Bedeutung.
Musik und öffentlicher Raum
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{ Der Begriff der Öffentlichkeit ist stets eng verknüpft mit dem der allgemeinen
Gesellschaft. Öffentlichkeit beinhaltet, dass Menschen eines gemeinsamen Lebensraumes
an dem teilnehmen, was ihre Mitmenschen tun und lassen, dass sie interagieren und
kommunizieren. Jede Aktion und Kommunikation findet an einem Ort statt, und sobald
sie öffentlich ist, also viele Personen erreichen soll, stellt sich die Frage nach einem
geeigneten Raum, etwa einem Marktplatz oder einem großen Innenraum. Solche Plätze
sind konkreter öffentlicher Raum. Die neu entstehenden Konzertsäle gehören dazu.
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Partien, für die keine Dilettanten zur Verfügung standen.
Bevor sie gebaut wurden, hatte sich indessen das öffentliche Konzert bereits etabliert.
Konzerte wurden zunächst als Privatinitiativen organisiert. Im Laufe des 18. Jahrhunderts
bildeten sich in fast allen europäischen Metropolen Vereine zur Veranstaltung von
Konzerten. Sie funktionierten meist nach dem Prinzip der Subskription. Interessierte
Musikliebhaber trugen sich in eine Liste ein und verpflichteten sich zur Zahlung einer bestimmten
Summe. Sobald genügend Geld vorhanden war, konnte ein Konzert stattfinden.
Mit dem wachsenden Publikum mussten auch größere Räume angemietet werden,
was wiederum auf die Stärke der beteiligten Orchester zurück wirkte. Vor allem gegen
Ende des 18. Jahrhunderts wuchsen die Orchester, die für sinfonische Konzerte benutzt
wurden, allmählich an. Doch die Aufführungen mit so großen Orchestern litten ständig
an Platz- und Geldproblemen. Man »durfte nicht wählerisch sein, sondern hatte sich mit
einem wenig geeigneten Raume zu begnügen« (Schreiber, S. 203).
Status versus Können
{ Wer spielte in den Orchestern, die etwa Beethovens Sinfonien uraufführten? Wie
war die musikalische Bildung und über welche instrumentalen Fertigkeit verfügte man?
Nach Stefan Weinzierl gab es im zeitgenössischen Wien drei Typen von feststehenden
professionellen Orchestern, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aktiv waren.
? Die kaiserliche Hofkapelle. Sie hatte seit dem Amtsantritt Maria Theresias nur noch
liturgische Funktionen zu erfüllen und spielte im öffentlichen Musikleben der Stadt
keine Rolle. Die Hofkapelle bildete allerdings den Kernbestand für das Orchester der
Tonkünstlersozietät, des ersten dauerhaften Konzertinstituts in Wien.
? Die Theaterorchester, das heißt die Orchester der beiden Hoftheater und die Orchester
der drei privaten, vorstädtischen Theater. Sie waren die wichtigsten professionellen
Ensembles im öffentlichen Konzertleben Wiens und bestritten neben ihrer
Funktion bei Schauspiel, Singspiel, Oper und Ballett auch alle Konzerte, die innerhalb
der Theatergebäude stattfanden. Darüber hinaus wurden sie für Konzerte außerhalb
der Theater verpflichtet, zum Teil als komplettes Ensemble, zum Teil nur für diejenigen
? Die fürstlichen Privatkapellen. Obwohl die Institution der fürstlichen Privatkapelle
bereits Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung verlor, spielte insbesondere
die Kapelle des Fürsten Lobkowitz noch bis 1810 eine wichtige Rolle für das symphonische
Schaffen Beethovens (Weinzierl, S. 114).
Die wichtigste Rolle spielten in Beethovens Aufführungen allerdings nach wie vor die
in sogenannten Liebhaberorchestern organisierten Laien oder Dilettanten. Bis weit in
die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurden die meisten öffentlichen Konzerte
wenn nicht ausschließlich, so doch unter entschiedenem Mitwirken von Dilettanten
bestritten. Erst um 1840 waren Aufführungen mit gemischten Orchestern, die, wie in
Liebhaberorchestern üblich, gar nicht oder kaum geprobt hatten, obsolet. Die gestiege-
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nen technischen Ansprüche wie in Beethovens Sinfonien machten auch professionellen
Musikern zu schaffen. Selbst Berufsmusiker waren zum Teil überfordert. Bei einem
Konzert im Wiener Redoutensaal 1814, in dem Beethoven seine 7. und 8. Sinfonie und
Wellingtons Sieg dirigierte, waren nur sieben der 18 ersten Violinen und sechs der zweiten
professionelle Musiker. Und noch die erste Aufführung der 9. Sinfonie im Kärntnertortheater
1824 fand unter Mitwirkung zahlreicher Amateure der Gesellschaft der
Musikfreunde in Chor und Orchester statt. Sie spielten aus Manuskripten und nach zwei
Proben. Neben der mangelnden Vorbereitung der Hobbymusiker verschärfte sich der
Konflikt zu den Berufsmusikern außerdem durch die Tatsache, dass die sozial oft
höhergestellten Dilettanten »stets die ›erste Stimme‹ innehielten« (Schreiber, S. 59).
Es ist schwierig sich vorzustellen, wieviel von der Absicht der Werke unter solchen
Bedingungen noch beim Publikum ankommen konnte.
Konzert und Publikum
{ Im Prinzip waren die Konzerte der Laienorchester eine Form gemeinsamen Musi- ner47
zierens, zu der nach und nach auch Publikum zugelassen wurde. Passiv zu sein, war in
ihren Konzerten eigentlich nicht erwünscht. Das veranschaulichen die Statuten der 1805
in Warschau gegründeten Musikalischen Gesellschaft. Danach werden ausschließlich
aktive Mitglied aufgenommen. »Wer auf gebührende Einladung des ersten Vorstehers in
den Konzerten nicht musiciren oder singen will, der giebt eben dadurch zu erkennen,
dass er aus der Gesellschaft austritt.« Der Kommentar der Redakteure der Allgemeinen
Musikalischen Zeitung dazu lautet: »Streng, aber weise« (AMZ, in: Preußner, S. 40). Bei
den Besuchern überwog der gesellige Anlass, und der soziale Prestigegewinn, den die
Unterstützung der meist mit wohltätigen Zwecken verbundenen Konzertveranstaltungen
mit sich brachte, war oft wichtiger als der Musikgenuß selbst. Der Anspruch, die dargebotenen
Werke perfekt ausgeführt zu hören, war also nicht unbedingt vorhanden. Auf
der anderen Seite wurde indessen schon in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts
der Ablauf der Konzerte bemängelt. Man wünschte mehr Konzentration des Publikums
auf die Musik und forderte eine dementsprechende Programmgestaltung.
Als im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Besucherzahlen aufgrund der allgemeinen
wirtschaftlichen Krise so stark zurückgingen, dass kaum mehr Subskriptionskonzerte
zustande kamen und reisende Virtuosen vor fast leeren Bänken spielen
mussten, sann man über Neuerungen nach. Zwei Entscheidungen veränderten die Situation.
Auf der einen Seite wurde der Musikbetrieb professionalisiert, indem öffentlich
finanzierte Berufsorchester gebildet wurden. Auf der anderen Seite rückten die pädagogischen
Potentiale der Musik in den Vordergrund. Durch den Umgang mit Musik sollten
Bildung, Humanität und Volkswohl gefördert werden. Mit der Umwandlung der zahlreichen
Musikschulen in Konservatorien wurde die Brücke von der Idee der musikalischen
Volksbildung zum professionalisierten Musikbetrieb geschlagen. Am Ende dieses Wandels
steht das fast ausschließlich vom Staat getragene Konzert, wie wir es heute kennen.
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Beethovens Wiener Konzerträume
{ Aufführungen von Beethovens sinfonischer Musik fanden in sehr unterschiedlichen
Räumlichkeiten statt. Die jeweiligen Auswahlgründe waren vielfältig:
? Der Raum mußte Platz für alle Aufführenden bieten und aus ökonomischen
Gründen noch für möglichst viele Zuhörer.
? Er sollte von den höheren (zahlungskräftigen) Schichten sozial akzeptiert sein,
damit auch die »vornehmen« Leute dem Konzert nicht fernblieben.
? Es musste eine Erlaubnis für das Konzert eingeholt werden.
? Saalmiete und Heizungskosten (die Beheizbarkeit überhaupt) mußten
berücksichtigt werden.
? Manche Räume wurden in akustischer Hinsicht zwar bevorzugt, doch es finden
sich keine Belege, dass dieses Kriterium jemals den Ausschlag für die Wahl
eines Konzertraum gab.
Vor allem im 18. Jahrhundert spielten fürstliche Privatpalais eine wichtige Rolle. Man
denke etwa an Haydn, dem im Schloß Esterháza ein eigener Musiksaal für seine Kapelle
zur Verfügung stand. Im Hinblick auf Beethoven sind das Palais Lobkowitz, das Palais
des Fürsten Lichnowsky und die Residenz des Erzherzogs Rudolf als Proben- und Aufführungsstätten
von einiger Bedeutung, ebenso das Haus des Bankiers von Würth. Indessen
verloren die privaten Konzertstätten im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gänzlich
an Bedeutung. Im Jahr 1807 fand die letzte belegte Aufführung einer Beethoven-Sinfonie
in einem Privatpalais statt. Stattdessen lässt sich eine deutliche Verschiebung um
das Jahr 1810 hin zu den größeren öffentlichen Repräsentations- und Festsälen. So fanden
bis einschließlich 1810/11 dreizehn Konzerte in den Theatern, acht in öffentlichen
Sälen, sechs in Privatpalais und vier in Gasthäusern statt. Dagegen sind es von 1811 bis
1827 acht Sinfonieaufführungen in den Theatern, 53 in öffentlichen Sälen, kein einziges
mehr in den Privatpalais und elf in den Gasthäusern belegt (vgl. Weinzierl). In öffentlichen
Sälen erklangen 1807 zum ersten Mal eine Sinfonie von Beethoven. Doch schon
sechs Jahre später, 1813, übernehmen die öffentlichen Säle hier eine Vorreiterrolle. Der
anfangs sehr hohe Anteil der Theater fällt nie ganz weg, was wahrscheinlich daran liegt,
dass an den Theatern die Berufsmusiker angestellt waren, die zur Aufführung der
Sinfonien immer dringender benötigt wurden. Doch mit Aufkommen der öffentlichen
und der Gasthaussäle als Konzertstätten mussten die Theater Aufführungen an diese
abtreten, im folgenden rangierten sie etwa gleichbedeutend mit den Gasthäusern.
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Klangräume
{ Dass Orchesterstärken den architektonischen und akustischen Gegebenheiten der
Aufführungsräume angepasst werden mussten, ist keine Entdeckung der Wiener Klassik,
sondern war auch vorher schon bekannt. Mich interessierte, ob und inwieweit auch kompositionsästhetische
Entscheidungen räumlich gedacht sind. Aufschlussreich ist, welche
grosse Rolle eine räumliche Metaphorik in den Beschreibungen spielt. In einem fiktiven
Dialog über die 7. Sinfonie schildert die Figur Faustin eine Hochzeit. An einer Stelle
heißt es: »Im Trio aber, da sitzt der Bräutigam selig neben der Holden, die ihm nun für
ewig angehört, gleichsam im Nebenkabinett, und durch die oft geöffnete Thüre dringt
der Lärm der Gesellschaft herein und übertönt die leisen Liebesworte.« Dazu meint ein
weiterer Dialogpartner: »Ja, [...] und wie soll denn in dem (zweifelsohne kleinen) Nebenkabinet
[sic] Platz sein für das ungeheure Fortissimo, wo die Violinen unter stetem
Paukendonner ihr bisher unausgesetzt ausgehaltenes A an die Trompeten abgeben?«
(Ambros, in: Lomnäs/Strauß, II, S. 72 f). Mit der Musik wird hier erstens eine konkrete
Räumlichkeit, nämlich das »Nebenkabinett« assoziiert, zweitens kommt die Vorstellung
zum Ausdruck, dass ein lauter Klang Platz brauche. Tatsächlich ist die Verbindung von
zeitlichen mit räumlichen Phänomenen für uns oft selbstverständlich.
So übt der Anfang der 4. Sinfonie durchaus einen Einfluss auf das subjektive Raumempfinden
eines Hörers aus. Mit dem ersten Takt wird ein Klangraum skizziert, indem der
Ton B über fünf Oktavlagen verteilt ist. Gerade durch das Fehlen eines identifizierbaren
musikalischen Inhalts ist im ersten Takt keine Orientierung möglich. In den Takten 2 bis
5 bleiben die Konturen vor allem harmonisch verschwommen, doch es gibt eine musikalische
Linie, deren satzartiger Aufbau mit dem Ohr verfolgt werden kann. Hier zieht die
Linie die Aufmerksamkeit auf sich. Deshalb ist auch ihre räumliche Wirkung begrenzt.
Dagegen hat Takt 6 hat eine starke Wirkung auf das Raumgefühl, man empfindet eine
deutliche Erweiterung des Klangraumes, eine Aufhellung, als betrete man ein anderes
Zimmer. Hier zählt die Beobachtung, dass in der Musik Raumgefühl mit Stimmung zusammenhängt.
Wir ordnen Räumen bestimmte Stimmungen zu und auch umgekehrt
manche Stimmungen einer gewissen Umgebung. Dabei kann einer bestimmten Stimmung
nur eine begrenzte Auswahl an Räumen zugeordnet werden. Das langsame Tempo begünstigt
beim Hörer die Vorstellung von einer Räumlichkeit, abweichend von der objektiven,
in der er sich befindet. Dabei kommt bei lauten Klängen und großem Tonabstand innerhalb
eines Klanges das Empfinden von großem Raum auf. Eine weitere Charakterisierung
der vermittelten Räumlichkeit findet über die Gefühlsebene statt, die bestimmten
Stimmungen bestimmte Räume zuordnet. Hier ist allerdings auch eine Konzentration auf
die Musik und ihre Klangentfaltung, also ein aktives Zuhören gefordert.
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Die Etablierung der klassischen Musik
{ Für die ernste Musik bedeutete die musikalische Professionalisierung vordergründig
einen Publikumsverlust. Zugleich war sie aber ästhetisch auch ein Befreiungsschlag.
Dem Zwang enthoben, allen verständlich zu sein, konnte Musik nun allein ihren inneren
Gesetzen folgend ganz neue Bahnen einschlagen. Immer häufiger wurden vollständige
Werke (anstelle einzelner Sätze) aufgeführt. Das verbliebene Publikum wollte die
Kunstwerke begreifen. Wiederholte Aufführungen ermöglichten ein (Wieder-) Kennen
der oft komplexen Werke. Kürzere Konzertprogramme sicherten eine durchgängige Konzentration
des Hörers. Die Musikverlage druckten erstmals Werkausgaben statt bunter
Sammlungen. Mit Taschenpartituren gerüstete Kenner erschienen im Publikum und forderten
von den Interpreten Werktreue und angemessene Interpretation. Es entstand auf
diese Weise eine Kunstmusikgemeinde, die sich zunehmend von der Masse der Liebhaber
abgrenzte (vgl. Neitzert, S. 91). An die Stelle einer symmetrischen Kommunikation zwischen
Publikum und Musiker, wie in den Musikgesellschaften und Liebhaberorchestern,
tritt nun eine Ungleichheit.
Das Konzert ist eine Darbietung geworden, bei der die Musik allein im Mittelpunkt
steht. Die Errichtung prunkvoller Konzertsäle ist ein weiterer Hinweis auf die neue Stellung
der Musik und ebenso ihre Verdunklung. All diese Tendenzen machen den Hörer zum
passiven Konsumenten von Musik, der seine Rolle als kritische Instanz im kommunikativen
Prozess verloren hat. Mit der im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzogenen Befreiung
der Musik aus dem Korsett der Allgemeinverständlichkeit emanzipieren sich alle musikalischen
Parameter: Die Dynamik verselbständigt sich, wofür gerade Beethovens Werke
überall Beispiele liefern, es können Passagen allein aus rhythmischen Motiven entstehen,
der Sinn für Klangfarben verfeinert sich maßgeblich.
Um im Konzert verschiedene persönliche Interpretationen auszuschalten, etabliert
sich der Taktstockdirigent. An der Entwicklung dieser Figur läßt sich der Wandel in
der Musikauffassung auch gut mitvollziehen. Im 19. Jahrhundert muß der Dirigent die
vielfach verfeinerten Spielanweisungen überblicken und die für den Einzelspieler allein
schon wegen der Orchestermasse und Lautstärke undurchschaubaren musikalischen
Konstrukte koordinieren, wozu auch erstmals eine entsprechende Probentechnik benötigt
wird. Den ständig gewachsenen Anforderungen an den Orchestermusiker begegnete
man im 19. Jahrhundert mit zunehmender Ächtung der Dilettanten in den Orchestern bei
gleichzeitig besserer Ausbildung für Berufsmusiker. Bis jedoch genügend Berufsmusiker
für alle Orchester vorhanden waren, mischten die Amateure noch lange mit.
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G r u n d l a g e n l i t e r a t u r
x Bonnie und Erling Lomnäs, Dietmar Strauß (Hrsg.): Auf der Suche nach der poetischen Zeit –
Der Prager Davidsbund, 2 Bde, Saarbrücken 1999
x Adam Carse: The Orchestra from Beethoven to Berlioz. New York, 1949
x Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuauflage der 5. Auflage,
Frankfurt am Main 1990.
x Lutz Neitzert: Die Geburt der Moderne, der Bürger und die Tonkunst. Stuttgart 1990.
x Eberhard Preußner: Die bürgerliche Musikkultur. 2. Auflage, Kassel und Basel, 1954.
x Charles Rosen: Der klassische Stil. 3. Auflage, Kassel, Basel, London, New York
und Prag, 1999.
x Ottmar Schreiber: Orchester und Orchesterpraxis in Deutschland zwischen 1780 und 1850.
Nachdruck der Ausgabe Berlin 1938, Hildesheim und New York, 1978.
x Stefan Weinzierl: Beethovens Konzerträume: Raumakustik und symphonische
Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen Konzertwesen, Frankfurt am Main, 2002.
p Simone Kathrin Mayer
studierte von 1999 bis 2004 an der Musikhochschule Freiburg Schulmusik mit Hauptfach Klavier.
Ihre Abschlussarbeit wurde im Juni 2005 mit dem Helene-Rosenberg-Preis ausgezeichnet.
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Artwork: Nina Klotz
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Artwork: Wolfram Drosihn
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Die Stimme aus dem Untergrund
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Das Phänomen der russischen Rockmusik
Yaroslawa Storchak
{ »Ein Freund besuchte mich und fragte, ob ich die neue Sensation gehört hätte, die
Beatles. Er schaltete ein Tonband an, die Aufnahme einer BBC-Radiosendung. Es war
himmlisch. Ich fühlte mich gesegnet und unbesiegbar. Alle Depressionen und Ängste der
letzten Jahre verschwanden. Ich verstand, dass alles, was nicht Beatles war, eigentlich
Unterdrückung war,« berichtete Kolya Vasin über das Frühjahr 1964. Rockmusik wurde
von Anfang an von der Regierung als eine dem sozialistischen Staat feindlich gesinnte
Bewegung eingestuft. Daher entwickelte sie sich in der Sowjetunion vor einem gänzlich
anderen Hintergrund, als es in Westeuropa, in den USA und England der Fall war. Paradoxerweise
brachten die schwierigen Bedingungen aber auch positive Effekte mit sich: nur
so konnte ein solch einmaliges Phänomen entstehen, wie der sowjetische Rockmusik-
Untergrund. Er aktivierte und vereinigte den nonkonformistischen Teil der Jugend in sich.
In den frühen 80-er Jahren – auch die Jahre des »späten Stillstands« und der »Stagnation«
in der Gesellschaft und Politik genannt – spielte die Rockmusik eine besonders
große und positive soziokulturelle Rolle. Für Millionen von Menschen trugen ihre Songs
seltene, kostbare und ersehnte Worte der Wahrheit in sich.
Was versteht man unter »Rock« in Russland?
{ Die russischen Rockjournalisten belegten den Begriff mit so verschieden Ausdrükken
wie »Musik der Jugend«, »Stil des Lebens«, »Lärm und Krach«, »geistiges AIDS« (so
nannten einige sowjetische Schriftsteller die Rockmusik; damit kritisierten sie den angeblich
demoralisierenden und zerstörerischen Effekt dieser Musik auf die sowjetische
Jugend) oder »demokratischste aller Künste«. Sie verstanden Rock als soziales Phänomen,
als die zeitgenössische Form der Folklore, als ideologische Diversion und schließlich
im typisch russischen Verständnis als das böse Schicksal, das auf das Volk und seine
Kultur wartet. Letzteres bedarf einer Erklärung. In der russischen Sprache hat das Wort
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»Rock« neben der Musikrichtung auch die Wortbedeutung »Schicksal« und »bedrückende
Vorahnung«. Unter den russischen Philosophen des Mystizismus und den Dichtern des
Symbolismus Anfang des 20. Jahrhunderts war das Wort »Rock« in dieser seiner ursprünglichen
Bedeutung sehr beliebt. Auf diese Weise ergibt sich aus dem spezifischen
Kontext ein besonderer Anknüpfungspunkt an eine bestimmte Phase in der kutlurellen
Geschichte, der nicht direkt von der Musik ausgeht, sondern über die Wortbedeutung assoziiert
wird. Die Rockmusiker in der Sowjetunion betrachteten diese Musik tatsächlich
als ihr »Schicksal«. In den Texten ihrer Lieder sprachen sie das Thema des »Rock-
Schicksals« oft an und beschrieben, was man als Dichter und Musiker in Russland für
ein schwieriges, nicht selten gefährliches Leben hatte.
Die Anfänge
{ Der Rock’n’Roll erlebte Anfang der 50-er Jahre in Amerika und bald darauf in
Europa seinen Durchbruch. Dies war die Zeit einer harten Konfrontation zwischen der
UdSSR und den USA. Im Bewusstsein der sowjetischen Bürger war zu diesem Zeitpunkt die
Idee vom neuen Feind, dem amerikanischen Imperialismus, schon fest verankert. Sogenannte
»Verehrung des Westens« galt als Vergehen und war strafbar. Offenes Interesse
an allem Westlichen – sei es Musik, Literatur, Malerei oder Mode – war nicht ungefährlich
und auch in praktischer Hinsicht nicht einfach, denn alle offiziellen Wege für das
Eindringen von Information aus dem Westen in die Sowjetunion waren verschlossen.
Jedoch existierte trotz dieser Abschottung eine kleine Gruppe Jugendlicher in der
UdSSR, die alles Amerikanische verehrte, insbesondere den Jazz. Sie kleideten sich mit
›Stil‹, weswegen man ihnen auch den vom englischen Wort »style« abgeleiteten Namen
»Stiliagi« gab. Die Stiliagi waren eine skandalöse, ausgeflippte Jugendkulturszene der
fünfziger Jahre, die ersten Anhänger exotischer Musik und eines alternativen Stils. Insgesamt
war die Gruppe der Stiliagi eher klein und exklusiv. Von den Menschen auf der
Strasse wurden sie nicht besonders wohlwollend angesehen. Artemy Troitsky, ein bekannter
russischer Rockjournalist, interviewte 1988 den ehemaligen ›Stiliaga‹ Alexey
Kozlov, der später der Kopf der populären Funk- und New Wave-Gruppe Arsenal werden
sollte. Hier ein Ausschnitt aus dem Interview mit A. Kozlov: »Die Leute reagierten immer
sehr stark auf uns, vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln (…) Wann immer ich die
Straßenbahn betrat, fingen die Leute zu diskutieren und zu fluchen an: ›Uh, angezogen
wie ein Pfau!‹ oder: Junger Mann, schämen Sie sich nicht, wie ein Papagei herumzulaufen?
(…) Ich lief immer rot an.«
Die sowjetische Gesellschaft jener Zeiten war monolithisch und konnte daher keine
Ausnahme wie die Stiliagi in ihren Reihen dulden, die sich vom gewöhnlichen grauen
sowjetischen Leben abhoben und als erste provokative Gruppe überdrehter Jugendlicher
bezeichnet werden könnten. Die Stiliagi hatten eigentlich keine Gemeinsamkeiten
mit der Rockmusikbewegung: sie hörten altmodische Jazzmusik, und ihre Idole waren
Louis Armstrong, Duke Ellington und vor allem Glenn Miller. Jedoch kann man in diesem
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Phänomen den ersten Versuch erkennen, eine eigenständige Jugend-Subkultur zu begründen.
Der Rock’n’Roll erreichte die sowjetische Jugend erst in den Jahren des
»Krustschower Tauwetters« ab 1957. (Unter Krustschow lockerte sich die äusserst
gespannte politische Situation der Ära Stalin, auch die Beziehungen zu den USA verbesserten
sich in dieser Zeit). Damals erlebte die Hauptstadt Moskau ein »Internationales
Festival der Jugend und der Studenten«. Jazzmusiker, Beatnik-Poeten, moderne Künstler
strömten ins Land. Die Einwohner von Moskau sahen zum ersten Mal echte, lebende junge
»Fremdlinge«. Sie trugen Jeans, hatten einen aufsehenerregenden Haarschnitt und
tanzten Rock’n’Roll. In der Anfangszeit war Rock’n’Roll nur den Kindern einflussreicher
Beamter, Offiziere und Professoren zugänglich, der sogenannten »goldenen Jugend«.
Aber relativ schnell verbreitete sich der neue Stil auch unter den Massen, zuerst in den
großen Städten der Sowjetunion, anschließend in der Provinz. Man muss anmerken, dass
sowohl die Stiliagi- als auch die Rock’n’Roll-Bewegung in der Sowjetunion nicht lange
andauerten und nie die Mehrheit, sondern eher kleinere Jugendkreise ansprachen. Der
Großteil der sowjetischen Jugend jener Jahre war von patriotischem Enthusiasmus erfüllt,
angeregt durch Yuri Gagarins Weltall-Flug und durch die Kubanische Revolution.
»Dekadent«, »cool« oder »anders« zu sein war unter den meisten Jugendlichen nicht
angesagt. Man gab sich romantisch, fleißig und wissensdurstig und wollte der Gesellschaft
von Nutzen sein. Es herrschte unter ihnen also ein Gefühl von Einheit mit der
Mehrheit der Gesellschaft und die Hoffnung, schon bald die versprochene Ära des Kommunismus
zu erreichen.
Der Twist gewann 1960 international große Beliebtheit und konnte sich in der
sowjetischen Gesellschaft fest etablieren. Junge russische Musiker übernahmen den
Twist-Stil in eigene Kompositionen, und die im ganzen Land bekannten sowjetischen
Hits der damaligen Jahre basierten auf den Twist-Rhythmen. Die Versuche der staatlichen
Organe, eine Kampagne gegen den Twist zu starten und als Alternative zu den
westlichen Tänzen neue »sozialstische« Tanzformen einzuführen (die hauptsächlich auf
den Volkstänzen derjenigen Völker beruhten, die zur UdSSR gehörten), schlugen fehl.
»Beatlemania« und der Aufstieg der Rockmusik in der UdSSR
{ Die »Beatlemania« überrollte Osteuropa und die UdSSR im Frühjahr 1964. Die
Beatles wurden zur Inspirationsquelle für viele führende sowjetische Rock-Musiker und
spielten bei der Entstehungsgeschichte der sowjetischen Rockmusik eine einzigartige
Rolle. Nicht nur Kolya Vasin, der Kopf einer Untergrundbewegung von Beatles-Fans in
den 60-er Jahren, fühlte sich durch diese Musik »gesegnet und unbesiegbar«. Millionen
junger Sowjetbürger sangen die Lieder der Beatles, die sie von ausländischen Rundfunkübertragungen
auf Tonband aufnahmen oder auf dem Schwarzmarkt ersteigerten. Die
neue musikalische Sprache regte die Menschen nicht nur zum Zuhören an, sondern dazu,
sich mit den neuen Mitteln dieser Musik selbst auszudrücken. Viele wollten diese Musik
natürlich nur imitieren, um ihre Neuartigkeit nachzuempfinden, für einige Musiker aber
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Musik Labels: Yaroslawa Storchak / Internet
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bedeutete die neue Musik noch viel mehr: Zum ersten Mal bekam die russische Jugend
den Impuls zu individuellem, unabhängigem künstlerischem Ausdruck. Die Beatles
brachten der Sowjetunion viel mehr als nur tanzbare Musik: Ihre Lieder waren »seelische
Nahrung« für viele Jugendliche. In der sowjetischen Rockmusik-Szene zeichnete sich
dadurch ein neuer Weg ab. Die einheimische Rockmusik wurde immer mehr zur sozialen
Kraft, die von der sowjetischen Regierung nicht länger ignoriert werden konnte. In der
zweiten Hälfte der 60-er Jahre fasste die Rockmusik-Gemeinde in der sozialistischen
Gesellschaft immer mehr Fuß und nahm allmählich politische Dimensionen an.
Die sowjetische Rockmusikszene der Siebziger Jahre
{ Die russische Gesellschaft nahm die westliche Pop-Kultur viel langsamer auf,
als die dem Westen benachbarten sozialistischen Staaten. Die Gründe dafür lagen zum
einen in der weiten geographischen Entfernung Russlands von Westeuropa, zum anderen
in der sozialistischen Ideologie der Partei, die die sowjetische Gesellschaft vor dem
»zersetzenden Einfluss« des Westens »schützen« sollte. Die westliche Rock- und Popmusik
drang währenddessen auf anderen Kanälen in die sowjetische Kultur. Die Jugendlichen
fanden eine neue Ideologie und einen neuen Stil, mit dem sie sich identifizieren
konnten: die Hippiebewegung. Ende der Sechziger Jahre tauchten in der Sowjetunion die
ersten überzeugten Hippies auf. Das Aussehen der Hippies wirkte auf die sowjetischen
Beamten abschreckend, aber was sie am meisten beunruhigte, war nicht das äußere
Erscheinungsbild. Hinter den Hippies und ihrer Musik stand eine politisch aktive Jugendbewegung,
die sich gegen Krieg und Gewalt, insbesondere gegen den Vietnamkrieg
richtete. Daher lag in dieser neuen Bewegung eine ungemein stärkere Bedrohung für die
sowjetische Ideologie, als es in Zeiten der Beatlemania der Fall war.
Trotz all der mit der Hippie-Bewegung verbundenen Ereignisse hatte die Rockmusik in
der ersten Hälfte der 70er Jahre mit den begleitenden Phänomenen nur wenig Einfluss
auf die sowjetische Gesellschaft. Die relative Isolation vom Westen und die aus der
Stalin-Ära überkommene Vorsicht verzögerten die Entwicklung der Rockmusik in den
meisten sowjetischen Republiken. Gelegentlich drang die Pop-Kultur westlichen Stils in
die Fernseh- und Radioprogramme vor, im öffentlichen Leben dominierte jedoch hauptsächlich
die traditionelle sowjetische Kultur. Die einheimischen Bands spielten fast alle
angloamerikanische Rockmusik; dabei wurde kopiert, ohne zu verstehen, was man sang.
Jedoch entsprach dies den Erwartungen des Publikums. Die erste russisch singende
Leningrader Band »Nomads« wurde oft ausgepfiffen und blieb ohne Erfolg. Die russische
Sprache galt als ein Symbol für das Einverständnis mit den herrschenden Wertsystemen,
die der Rockmusik abgeneigt waren. Die ersten russischen Rocksongs unterschieden sich
inhaltlich nicht von den anspruchslosen Popliedern jener Tage.
Ein Höhepunkt des landesweiten Aufstiegs der Rockmusik war in den Jahren 1970 –
1972 erreicht. Mit dem Auftauchen von Underground-Rockgruppen wie »Aquarium« und
»Zoopark« bildete sich vor allem in Leningrad allmählich eine Jugend-Subkultur. Der
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Sinn dieser Subkultur bestand in der Erschaffung einer eigenen Welt, die sich von ihrer
Umgebung abgrenzte und durch den Rückzug aus der Gesellschaft gekennzeichnet war.
Dieser Rückzug bedeutete jedoch nicht, dass die Rockmusiker auf die politischen
Geschehnisse nicht reagierten. Im Gegenteil: Sie reagierten darauf mit ihrem bewusst
oppositionellen Lebensstil und mit ihrer Musik. Für die Gründer dieser Untergrund-
Bewegung waren die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, gemeinsame Interessen und
ähnlicher Lebensstil von größter Wichtigkeit. Rockmusik war die sie alle einende
Leidenschaft.
In der zweiten Hälfte der 70-er Jahre erreichte die »Disco-Welle« die Sowjetunion.
Zuerst waren die Kulturbeamten gegenüber der neuen »Musik-Ware« feindlich gesinnt.
Jedoch verstanden sie bald, dass die Disco-Musik aus ideologischer Sicht nicht so
»gefährlich« war wie die Rockmusik. Das Image und der Sound der »Discomania« gefielen
den sowjetischen Kulturbeamten. Diskotheken sollten als effektive Möglichkeit
zur massenhaften Unterhaltung junger Menschen dienen; dabei sollte die Jugend der
geeigneten politischen und ideologischen Beeinflussung unterzogen werden. Die Discomusik
wurde von den Kulturpolitikern als Mittel benutzt, Jugendliche von ihrer Begeisterung
für die Rockmusik abzulenken. Ihre Freizeit sollte in den von städtischen Parteikomitees
eingerichteten Discotheken kontrolliert und unter Aufsicht gestaltet werden
sollte. Die Disco eroberte allmählich die Köpfe vieler sowjetischer Jugendlicher, die sich
gleichsam im »Disco-Fieber« befanden.
Die »heldenhaften« Jahre: sowjetische Rockmusik nach 1980
{ Die 80-er Jahre wurden aufgrund der rasanten Entwicklung innerhalb der Rockmusik
oft als ihre »heldenhaften« bezeichnet. Die Lage der Untergrund-Rockszene veränderte
sich zunehmend: Sie war längst keine kleine, eher isolierte Gruppe von Gleichgesinnten
und Eingeweihten mehr, sondern unter den jungen Menschen sehr populär geworden
und vereinte nun hunderte und tausende Jugendlicher. Diese große Popularität
ist der Tatsache zuzuschreiben, dass die Rockgruppen nicht mehr ausländische Stars
kopierten, sondern ihren eigenen Stil entwickelten und ihre eigenen Lieder schrieben.
Und was noch wichtiger war, sie fingen an, in ihren Liedern Fragen und Probleme anzusprechen,
die junge Menschen bewegten. Die Texte dieser Rockbands waren wesentlich
aktueller und »schärfer«, als diejenigen der vom Staat unterstützten sogenannten
»VIAs« (vokal-instrumentale Ensembles, s.u.). Die neue Bandgeneration sang über das
Leben in der Sowjetunion.
Die Rock-Subkultur der 80-er Jahre wurde differenzierter und vielfältiger. Die wichtigste
Veränderung war die schnelle geographische und gesellschaftliche Ausbreitung
der Rockmusik, in die nun große Jugendmassen verschiedenen Alters und sozialer
Herkunft miteinbezogen wurden. Während die Subkultur früherer Jahre hauptsächlich
aus Studenten und Intellektuellen bestand, kamen nun Schüler und Mitglieder der
Arbeiterjugend dazu. Die Rockmusik-Szene wuchs von einer isolierten und elitären zur
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Massenbewegung heran. Das gewaltige Ausmass der Subkultur Mitte der Achtziger Jahre
führte dazu, dass sie sich nicht mehr in den Untergrund drängen ließ. Man konnte sie
nicht länger ignorieren. Nun erfuhren von ihr sogar Menschen, die nie damit in Berührung
gekommen waren. Der Untergrund-Rock stieg aus den Kellern und Wohnungen auf und
verlagerte sein Wirken in Sportstadien. Für die Verbreitung der Rock-Kultur wurden die
Massenmedien – Presse, Radio und Fernsehen – immer wichtiger. Diese benutzten nun
die von ihnen jahrzehntelang vernachlässigte Rock-Kultur als einen »Rammbock« und
»Mauerbrecher«, der die Bastionen des alten Regimes niederreissen und der Gesellschaft
neue Wege bahnen sollte. Für die »Perestroika-Kultur« war vor allem die Informationsflut
in den Medien typisch: Alles, was früher mit Verboten belegt war, wurde nun
als Sensation dargeboten. Gleichzeitig mit der Anerkennung der Rockmusik vollzog sich
auch die Legalisierung anderer, früher verbotener Kulturformen (wie zum Beispiel der
Liedermacher- oder Bardenkultur von Vladimir Vysotski, Literatur von Dissidenten wie
Solschenizyn, Kultfilme von Tarkowski).
Anfang der 80-er Jahre verbreitete sich die Rock-Kultur auch in weit entfernten
Städten Russlands wie Swerdlowsk und Nowosibirsk, sodass dort eigenständige Rockmusik-Szenen
entstanden. Es entwickelte sich gleichsam eine »Sibirische Rock-Schule«.
Die Repräsentanten dieser »Schule« setzten sich von den Großstadt-Rockmusikern,
die in ihrer Musik eher westlich orientiert waren, ab. Der Ursprung dieser Rockmusikrichtung
und Poesie lag in den Besonderheiten, die das Leben in Sibirien vom Stadtleben
unterschieden. Eine wichtige Entwicklung war die Verarbeitung folkloristischer Elemente
in den Texten dortiger Rockgruppen und die damit verbundene Hinwendung vieler Rockmusiker
zu mündlichen Volkstraditionen. Darum begann man in diesem Zusammenhang
von »echter«, »typisch russischer« Rockmusik zu sprechen. Diese Gruppen begannen
auch russische Musikinstrumente wie Baian (Ziehharmonika) und das Zupfinstrument
Balalaika in ihren Werken einzusetzen und den Stil der traditionellen Tschastuschka
(kurze vierzeilige Volkslieder, meistens mit witziger oder ironischer Konnotation) zu
übernehmen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Einfluss der westlichen Musikkultur auf
diejenige des Sozialismus und der wechselseitige Austausch wurden durch den
ideologischen Faktor massiv behindert. Es war in der Sowjetunion ausreichend, eine
künstlerische Richtung aus ideologischer Sicht als »nicht vertrauenswürdig« und
verdächtig zu bezeichnen, um sie zum feindlichen Element zu erklären und sie öffentlicher
Verfolgung auszusetzen. Die alternative Jugendkultur wurde nach den Verordnungen
der Partei und Regierung allerdings nie ausdrücklich verboten: Ihr wurde lediglich
die Unterstützung versagt und der Nährboden entzogen. Erst mit den politischen
Veränderungen Ende der 80-er Jahre konnte die Rockmusik-Bewegung sich allmählich
offizielle Anerkennung erkämpfen.
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Die praktische Seite des Musikmachens: Leben als Rockmusiker in Russland
{ Die inoffizielle Rockmusikbewegung entwickelte sich abseits vom öffentlichen
gesellschaftlichen Leben im sowjetischen Russland und war einer »verschleierten,
doppelzüngigen« Behandlung durch die Regierung ausgesetzt: Sie wurde je nach Situation
einmal verfolgt, einmal mit völliger Gleichgültigkeit behandelt und in die Isolation
getrieben. Diese Tatsachen prägten die russische Rockmusik entscheidend. Die Rockmusik
existierte jedoch nie als ein in seiner eigenen Welt abgeschlossenes und von der
Öffentlichkeit abgetrenntes Phänomen, sondern war immer eine Reaktion auf das Zeitgeschehen
und die jeweilige politische Situation.
»VIAs« versus Rockmusik im Untergrund
{ Die ersten offiziellen Rockgruppen wurden 1966 im Auftrag des Kultusministeriums
gegründet. Da man aus ideologischen Gründen die Worte ›Rock‹ und ›Beat‹ aber möglichst
vermeiden wollten, nannte man solche Gruppen ›VIAs‹‚ nach der russischen Abkürzung
für »vokal-instrumentale Ensembles«. Die Förderung dieser Ensembles war eine
Reaktion der sowjetischen Regierung auf das Eindringen von westlicher Rock- und Popmusik.
Es war den Beamten unmöglich, den Jugendlichen die Beschäftigung mit Beat-
Musik zu verbieten, darum suchten die kommunistischen Führungskräfte nach einer der
Staatsdoktrin kompatiblen Lösung. Eine solche Lösung schienen die VIAs zu sein. Diese
Ensembles sollten ein »akzeptables Gesicht« der sowjetischen Rockmusik darstellen
und junge Menschen vom rebellischen und provokanten Rockmusikstil des russischen
Rockuntergrunds ablenken. Artemy Troitsky beschreibt die VIAs als »disziplinierte oder,
um ehrlich zu sein: kastrierte« Version der Rockmusik-Gruppen. Diejenigen Musiker, die
bereit waren, ihren Haarschnitt zu kürzen, ihren Dezibel-Pegel zu senken und ihr Repertoire
von den als besonders provokant empfundenen westlichen Songs zu »säubern«,
konnten die Gunst und Unterstützung der Regierung genießen. Ihnen wurde ermöglicht,
nationale Konzert-Tourneen zu veranstalten, in diversen Radio- und Fernsehprogrammen
aufzutreten und bei der sowjetischen Monopol-Firma »Melodiya« Aufnahmen
zu machen. All diese Privilegien blieben den inoffiziellen Rockgruppen verwehrt. Die
VIA-Musiker sollten ein makelloses Bild lebensfroher und munterer sowjetischer
Menschen abgeben und ein »gesundes« Äußeres mit temperament- und gefühlvollem
Sound verbinden. Im Repertoire der VIAs überwogen Lieder mit folgender Thematik:
romantische Liebe, melodramatische Leidenschaften und Pseudopatriotismus.
Während es den Untergrund-Rockgruppen um eine persönliche schöpferische Herangehensweise
an die Musik ging, spiegelten die Lieder der VIAs keinen persönlichen Stil
der einen oder anderen Popgruppe wider, sie konnten im Prinzip von beliebigen Musikern
vorgetragen werden. Die »Muster«-VIAs schwächten die Entwicklung der Untergrund-
Rockmusik und entzogen der inoffiziellen Rockszene Energie und Talente (denn viele inoffizielle
Rockbands wurden aufgelöst, um sich einem VIA anzuschließen). Andererseits
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Disco auf dem Campus Lenino bei Moskau, Designfestival MIRICAL 2003
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trugen die VIAs auf dem Weg der sowjetischen Kulturrevolution ihren Teil bei, indem sie
die Akzeptanz der Rockmusik in der Bevölkerung vermehrten. Bei einem großen Teil der
Jugendlichen waren sie tatsächlich sehr populär.
Festivals und Rock-Clubs
{ Die inoffiziellen Rockbands in ganz Russland fanden verschiedene, alle gleichermaßen
ungewöhnliche Möglichkeiten sich zu Proben und Konzerten zu versammeln, etwa
in verschiedenen Jugendvereinen und -zentren (auch »Kulturpaläste« genannt). Die
»Kulturpaläste« wurden auf Anordnung der Regierung noch während der Stalin-Ära mit
dem Ziel gebaut, die Jugend außerschulisch zu beschäftigen. Daher gab es in jeder Stadt
mindestens einen Kultur- oder Jugendpalast. Hier konnten die Jugendlichen an den vielfältigsten
Arbeitsgruppen (von der Basketball- bis zur Strick-AG) teilnehmen. Solche
Zentren wurden zur Herberge für viele Rockgruppen, die unter dem Vorwand, einer Beatmusik-AG
anzugehören, dort ungehindert proben konnten. Eine besonders konspirative
Atmosphäre herrschte dagegen bei der Durchführung von Untergrund-Konzerten und -
Partys in Privatwohnungen, welche den Namen Kwartirniki erhielten (vom russischen
Wort für ›Wohnung‹). Aufgrund des offiziellen Verbotes waren Kwartirniki stets ein
Abenteuer. Hier konnte man die eigenartigsten und originellsten Gestalten des Rock-
Untergrunds treffen, und Bands, über deren Existenz die ansonsten allwissenden Behörden
nur vage Vermutungen anstellen konnten.
Trotz der Existenz solcher Nischen litt die Arbeit der inoffiziellen Rockgruppen unter
den ihnen durch ihr Schattendasein auferlegten Problemen: Sie waren zerstreut und
hatten wenig Austauschmöglichkeiten mit anderen Bands. Auch konnten sie sich gegen
Verfolgungen durch die städtischen Beamten nicht wehren. Eine weitere Möglichkeit
für die inoffiziellen Rockgruppen sich zu treffen, ihr Können zu zeigen und neue Verbindungen
zu knüpfen war die Durchführung von Festivals. Die Festivals gewannen große
Bedeutung, weil sie die Rockgruppen, die nicht vom Staat unterstützt wurden, zusammenbrachten
und die inoffizielle Rockmusik-Szene vernetzten. Einigen Rockgruppen
ermöglichten solche Veranstaltungen den Durchbruch, indem sie nach Jahren der
Untergrund-Existenz endlich mit ihren Auftritten ans Licht der Öffentlichkeit treten
konnten. Festivals beförderten also die öffentliche Anerkennung einiger Rockgruppen,
denen ansonsten keinerlei »Promotion« möglich war. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg
der Vernetzung und Legalisierung des Wirkens der inoffiziellen Rockgruppen war die
Gründung der sogenannten »Rock-Clubs« in grossen Städten wie Leningrad, Moskau,
Swerdlowsk u.a. Unter einem Rock-Club verstand man eine offizielle Organisation,
die die inoffiziellen Rockgruppen in sich vereinte und so den Rockmusikern und Fans die
Möglichkeiten eröffnete, Kontakte anzuknüpfen, mit anderen Gruppen zusammen
aufzutreten und Informationen auszutauschen.
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Fotografie: Wolfgang Blüggel
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Das Instrumentarium – Magizdat und Samizdat
{ Ohne die Medien Rundfunk, Schallplatte und Fernsehen ist die Rockmusik
bekanntlich undenkbar, denn gerade dadurch bekam diese Musik die Chance, weltweit
verbreitet zu werden. Den russischen Underground-Rockmusikern und -Rockgruppen
blieben die offiziellen Wege des Aufzeichnens der eigenen Musik und ihrer Verbreitung
verwehrt. Auch die Anschaffung benötigter Musikinstrumente sowie westlicher Schallplatten
bereiteten den Untergrund-Rockmusiker in Russland bis in die 80-er Jahre
größte Schwierigkeiten. Aufgrund dieser Verhältnisse entwickelten sich in Russland
einige interessante Besonderheiten. Bezüglich der materiellen Ausstattung blieb die
Situation katastrophal. Es gab nur eine altmodische russische Ausrüstung und qualitativ
billige Instrumente. Aber selbst diese waren Mangelware. Zwar wurde 1966 in Moskau
ein Musikgeschäft eröffnet, das elektrische Gitarren aus Westdeutschland anbot. Die
Instrumente waren aber innerhalb einer halben Stunde ausverkauft. Am nächsten Tag
wurden die gleichen Gitarren für den doppelten Preis auf dem Schwarzmarkt verkauft.
Einige innovative Moskauer Jugendliche entdeckten, dass man mit Hilfe einiger Bauteile
eines gewöhnlichen Telephonapparats eine akustische Gitarre zu einer elektrischen umbauen
konnte. Daraufhin erschütterte Moskau eine Welle des Vandalismus, als hunderte
junger Menschen öffentliche Telephone zerstörten, um die kostbaren Elektroteile zu
ergattern. Die unbefriedigte Nachfrage der Rockmusiker nach technischer Ausrüstung
und der Rockfans nach Aufnahmealben schufen eine Marktlücke, in der eine Untergrundindustrie
und ein Schwarzmarkt von ungekannten Ausmaßen heranwuchsen.
Kleinkriminelle, bekannt als Fartsovshchiki, kauften und verkauften begehrte westliche
Waren wie Alben, Instrumente und modische Kleider. Dadurch konnten sie am
Schwarzmarkt märchenhafte Summen einstreichen. Fartsovshchiki waren der sowjetischen
Regierung und der Bevölkerung ein Dorn im Auge. Da es aber damals keine
andere Möglichkeit gab, an westliche Produkte und Musikproduktionen heranzukommen,
schufen gerade sie die einzige Verbindungslinie zwischen der westlichen und der
sowjetischen Jugend.
In den frühen 80-er Jahren tauchte ein neues Phänomen auf, das wahrscheinlich eine
der wichtigsten Stufen in der Entwicklung der russischen Rockmusik darstellt: »hausgemachte«
Alben. Dies waren Kassetten und Tonbänder, die mit Photos und Texten über
die jeweilige Gruppe ergänzt wurden. Man bemühte sich dabei, die Alben nach allen
Regeln der westlichen Muster zu gestalten (inklusive der ©- und ®-Symbole). Solche
Alben bildeten die Grundlage für die sogenannte »Kassettenrekorder-Kultur« (Magnitofonaia
kultura oder Magizdat: ›mag‹ kommt vom Wort für ›Tonband‹; ›Izdat‹ stammt
von dem Wort ›drucken‹ oder ›veröffentlichen‹). Hausgemachte Alben veränderten bald
den Kurs des russischen Rock und eröffneten sowohl den Musiker als auch den Fans eine
neue Welt. Von nun konnten die Gruppen ihre Musik verbreiten, ohne die Schwierigkeiten
der Organisation eines Konzertes auf sich nehmen zu müssen. In den Jahren 1982 bis
1983 ergriff das Aufnahmefieber alle Rockzentren. Viele Rockgruppen hatten die
Hoffnung auf das Monopolaufnahmestudio »Melodiya« aufgegeben und bevorzugten
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nun diese einfachere Methode der Verbreitung ihrer Musik. Es entwickelte sich eine
regelrechte Heimindustrie für das Aufnehmen und Vervielfältigen von Bändern. Ein
weiteres Phänomen der Untergrund-Rockbewegung war der Rock-Samizdat (›Izdat‹ –
›drucken‹ oder ›veröffentlichen‹; ›sam‹ bedeutet ›selbst‹): das heisst eine ganze Reihe
von »Verlagen«, organisiert in Eigeninitiative der Rockmusiker und Fans. Diese »Verlage«
gaben selbstgemachte Rockzeitschriften heraus, die diverse Artikel über Untergrund-Rockmusik,
Mitteilungen über die Geschehnisse in der Untergrund-Rockszene,
Interviews, Aufsätze, Stellungnahmen zur politischen Situation in Russland u.a.
enthielten. Solche maschinengetippten Magazine wurden von Rockmusik-Gemeinden in
mehreren Städten Russlands herausgegeben und waren nicht-kommerzieller Art.
Rock-Poesie in Russland
{ Die zweite Dimension der Rockmusik, die Dichtung, spielt im russischen Rock eine
außerordentlich große Rolle und kann für das Verständnis nicht außer Acht gelassen
werden. Die Gründe hierfür mögen zum einen in der Erkenntnis der russischen Musiker
liegen, dass sie zunächst den westlichen Musikstil nur »borgten« und dass sie darüber
hinaus technisch meist weniger virtuos waren. Zum anderen hatte die Beschäftigung
mit Poesie in Russland eine lange Tradition und war unter sowjetischen Bürgern sehr populär
(die bekanntesten Dichter trugen ihre Werke oft in ausverkauften Fußballstadien
vor!) Daher legten die russischen Rockmusiker besonderen Wert auf den Text ihrer Lieder
und verstanden sich in erster Linie als Vermittler einer Idee, einer Botschaft; die kommerzielle
Produktion profitabler Tanzmusik stand für sie nie im Vordergrund. Heute
spricht man von der russischsprachigen Rock-Poesie als von einem ausgeformten eigenen
Genre.
Die Texte der russischen Rockmusik standen in direktem Bezug zur dichterischen
Tradition Russlands und setzten diese in Wortschatz und Stil fort. Russische Dichter des
Symbolismus (Ende des 19. Jahrhunderts – erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) waren
in Russland die ersten, die vom Synkretismus der Künste sprachen. Poeten wie Anna
Achmatova, Marina Zvetaeva, Vladimir Majakowski und Sergej Esenin trugen ihre Werke
in »singender Deklamation« vor. In ihren Auftritten verbanden sie Wort und Musik mit
szenischen und Show-Elementen. Diese Vortragsweise beförderte die Entstehung einer
neuen Liedermacher- oder Bardenkultur entscheidend. In den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts
wuchs in Russland eine neue Generation intellektueller Dichter heran, die ihre
Werke gesungen und mit Gitarrenbegleitung vortrugen. Zu diesen »Barden« gehörten
beispielsweise Bulat Okudzhava und Vladimir Vysotski.
Vladimir Vysotski und seine Poesie übten einen großen Einfluss auf die Rockmusiker
der 70-er und 80-er Jahre aus, für die Vysotski gleichsam zum Vorbild und »Lehrer« wurde.
Viele Rockmusiker zeigten tiefe Bewunderung für Vysotski als einem Poeten und Repräsentanten
einer zum sozialistischen Realismus alternativen Kultur. Sie übernahmen
seine dichterische Tradition und vereinigten sie mit dem energischen und kraftvollen
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Stil der westlichen Rockmusik. Daher tauften führende Rockmusikkritiker und Journalisten
den neuentstandenen Stil »Barden-Rock«. Die Rockmusiker, die diesen Musikstil
vertraten, wurden entsprechend »Rock-Barden« genannt. Troitsky schreibt: »Der
Einfluss der literarisch hochwertigen Poesie, insbesondere der Barden-Lieder, auf die
russische Rockmusik in ihrer Blütezeit (ab dem Ende der 70er Jahre), ist vielleicht nicht
weniger wichtig, als der Einfluss des afrikanischen Blues-Stils – auf die amerikanische
Rockmusik« (Troitsky 1990, S. 52).
Die Rockmusiker in Russland betrachteten sich selbst nicht nur als Künstler im Allgemeinen,
sie verstanden sich als Poeten. Rockmusik war Poesie. Die lyrische Qualität der
Texte wurde zum maßgeblichen Kriterium, an dem sich die Musiker beziehungsweise ihre
Musik messen ließen. Rockmusik wurde als eine eigene Kunstform aufgefasst, und ein
echter Rocker mußte nicht nur ein guter Musiker, sondern in erster Linie ein guter Dichter
sein. In russischer Rockmusik ist eine bestimmte Vorstellung von Wahrheit (und zwar
von ihrer besonderen Form: Istina) verbreitet. Istina bedeutet im russischen Verständnis
eine einzigartige »höhere« oder »wahrhaftigste« Wahrheit, und unterscheidet sich
dadurch von Prawda, der »gewöhnlichen« Wahrheit. Die Rockmusiker in Russland beschrieben
ihre Musik oft als Ausdruck der Istina. Rockmusiker sprachen immer wieder
von der »großen Lüge« der sowjetischen Gesellschaft und von der Schwierigkeit, in
dieser Gesellschaft ehrlich zu sein. Die Rockmusik war für die Rockmusiker inmitten des
als machthungrig und heuchlerisch empfundenen sozialistischen Systems eine Insel
der Wahrheit, ihrer Wahrheit, der sie in ihrer Musik Ausdruck gaben. Istina hatte somit
eine größere Authentizität als die Realität des alltäglichen Lebens und die Politik
des Staates. Dieser Istina wollten die Rockmusiker dienen und sie den Menschen durch
ihre Musik verkünden.
Im Rückblick von heute
{ Der Konflikt zwischen der Jugend-Kultur und dem sowjetischen Staat war von
Anfang an vorprogrammiert und im sozialistischen System selbst begründet. Das Sowjetsystem
fußte auf dem staatlichen Monopolanspruch in allen kulturellen und sozialen
Belangen. Dieser konnte keine spontan hervorgebrachte und andersdenkende Kultur
neben sich dulden. Die Haltung der Regierung zur Jugend-Kultur und ihrer Musik war oft
von »Doppelgleisigkeit« und »Doppelzüngigkeit« geprägt. Der sozialistische Staat war
unfähig, mit sozialen und kulturellen Abweichungen umzugehen, erhielt aber den Schein
einer planvoll durchorganisierten sozialistischen Kultur aufrecht. Hinter dieser Fassade
gab es für die Jugendlichen durchaus Möglichkeiten, ihre eigene Kultur zu entwickeln
und sich selbst zu behaupten. Der Staat seinerseits war aus taktischen Gründen
gezwungen, inoffizielle Jugend-Kulturen bis zu einem gewissen Grad zu dulden, um den
Eindruck, alles unter Kontrolle zu haben, nicht zu gefährden. Somit konnten in der
sowjetischen Gesellschaft jugendkulturelle und musikalische Stile wie die der Hippies
und später der Punks existieren, solange durch sie die Allmacht der Partei nicht ernsthaft
in Frage gestellt wurde.
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Für viele Rockmusiker wurde gerade der Zwang zur Konspiration zum zusätzlichen
Ansporn, sich der Rockmusik zu widmen: sie erfüllte ihr Leben mit den Gefühlen von Romantik
und Gefahr, von Furchtlosigkeit, Unbestechlichkeit und dem Gefühl der Freiheit.
Der Rockmusiker jener Jahre verstand sich als Held, der selbstlos bereit war, sich für die
Rockmusik, für seine Freunde und für sein Volk einzusetzen. Mit den gesellschaftlichen
Veränderungen in der zweiten Hälfte der 80-er Jahre, in der Ära der Perestroika also,
erhielt die Rockmusik endlich ihre offizielle Existenzberechtigung. Die Rockmusik
verwandelte sich von einer halblegalen zur modernen und begehrten Musik. Durch die
revolutionierten Rahmenbedingungen aber vollzogen sich in ihr allmählich tiefgreifende
Veränderungen. Konterkultur und Untergrund verschwanden, weil sie als oppositionelle
Bewegung zur Bekämpfung des »Feindes« nicht mehr gebraucht wurden. Die Rebellion
gegen das staatliche System hatte ihre Attraktivität verloren, der Rückzug aus der
Gesellschaft demonstrierte nicht mehr Protest, sondern war jedermanns private
Angelegenheit und erregte kein öffentliches Aufsehen mehr. Die Thematik der Rocklieder
veränderte sich wesentlich: die Rocktexte büßten nach und nach ihre Schärfe und
Widerständigkeit ein, sie wurden milder und anspruchsloser.
Heute wird russische Untergrund-Rockmusik vergangener stürmischer Jahre zur Geschichte.
Ihre musikalischen und poetischen Traditionen jedoch haben eine Grundlage
für kommende Generationen von Rockmusikern und neuen Musikrichtungen geschaffen.
Der Prozess geht weiter.Auch heute entstehen immer wieder Gruppen, mit denen sich die
Jugend identifizieren kann. Die Rockmusik stiftete den russischen Jugendlichen großen
Zusammenhalt. Sie war immer ein Barometer für die Stimmungen des Volkes und scheute
nicht davor zurück, unter allen Bedingungen ehrlich zu bleiben, sie hielt den Menschen
in Russland solch kostbare Werte wie Wahrheit und Freiheit vor Augen.
L i t e r a t u r
x Texte zum Weiterlesen gibt es nur spärlich, die meisten Informationen
sind auf Russisch im Internet veröffentlicht.
x Troitsky, Artemy: Rock in Russland. Rock und Subkultur in der UdSSR.
Wien: Hannibal-Verlag, 1989.
x Cushman, Thomas: Notes from Underground. Rock Music Counterculture in Russia.
New York: State University of New York Press, Albany, 1995.
p Yaroslava Storchak
studiert seit dem WS 1999/2000 Schulmusik mit Hauptfach Klavier.
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Artwork: Matthias Wieber
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Mondrian und Musik
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Wechselströme zwischen den Künsten
Anne Dorothea Kütemeier
{ »Immer mehr drängen sich mir Parallelen zwischen Musik und bildender Kunst auf.
Doch will keine Analyse gelingen« (Paul Klee 1905). Paul Klee wusste, wovon er sprach,
wenn es um die Wechselströme zwischen Musik und Malerei geht, weil er als ausgezeichneter
Geiger und praktizierender Maler in beiden Disziplinen zu Hause war. Seine Notiz
verrät, dass er Verbindungslinien zwischen den Künsten wahrnahm, jedoch sah er sich
außerstande, sie rational zu bestimmen und zu systematisieren. Zu vielfältig waren die
Phänomene und zu unbefriedigend die wissenschaftliche Suche nach Analogien.
Bis heute sind wir auf diesem Gebiet kaum einen Schritt weitergekommen. Staunend
blickt man umher, wieviel Kunst entsteht, wenn sich die Künste berühren, und doch
befindet man sich in einem Niemandsland, einer nicht definierten Zone zwischen den
Einzeldisziplinen, in der es Menschen, Ideen, Kunstwerke gibt, aber keine empirisch
konstruierbaren Brücken von einem Ufer zum anderen. Auf komplexe Weise sind die
Künste miteinander verwoben. Manche Fäden kann man verfolgen, andere verschwinden
auf dem Weg oder sind nur intuitiv begreifbar.
Am Beispiel der sogenannten neoplastizistische Malerei des holländischen Künstlers
Piet Mondrian (1872-1944), in die einerseits musikalische Vorstellungen einflossen und
die andererseits wiederum zu »musikalischen Reaktionen« führte, können verschiedene
Aspekte dieser komplexen Beziehung nachvollzogen werden. Wie werden Elemente aus
einer Kunst durch kreative Prozesse modifiziert und in ein anderes Medium integriert?
Die übersichtliche, ökonomische Kunst Mondrians – heute flächendeckend bekannt
durch das Logo der Studio-Line von L’Oréal – integriert erstaunlicherweise Elemente
der damaligen Unterhaltungs- und Tanzmusik, ist also inspiriert vom Jazz. Mondrians
Affinität zu dieser rhythmus- und geräuschbetonten Musik spiegelt sich sowohl in den
Titeln des Spätwerks wider (Fox Trot, Victory Boogie-Woogie usw.) als auch in der Art,
wenige Bildelemente gleichsam »rhythmisch« miteinander in Beziehung zu setzen. Er
entwickelte ein strenges ästhetisches Konzept, das das dynamische Gleichgewicht von
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Gegensätzen ins Zentrum stellt und in Verbindung mit dem Gedankengut der Theosophie
wegweisend für die junge holländische Kunstbewegung wurde. Mondrians Bilder haben
besonders unter holländischen Komponisten zu ganz unterschiedlichen musikalischen
Reaktionen und Umsetzungen geführt – von der meditativen, horizontal-vertikalen
Klavierkomposition Proeven van Stijlkunst (1916) seines Zeitgenossen Jakob van Domselaer
bis zu eher assoziativen Transferverfahren im Werk des Musiktheaterkomponisten
Louis Andriessen können Mondrians Spuren in Tönen aufgenommen werden. Doch lässt
sich auch bestimmen, ob es eine adäquate musikalische Reaktion auf Mondrians Kunst
gibt? Kann man Mondrian hören? Und wenn ja: Wie klingt er?
Abstraktion als Weg zu einer Malerei des Geistigen
{ In seiner Zeit galt Piet Mondrian als einer der entschlossensten Verfechter
konsequent abstrakter Malerei. Am bekanntesten sind sicher die nach 1921 entstandenen
Werke, so etwa die zahlreichen Bilder mit dem Titel Komposition mit Rot, Gelb und
Blau. Die horizontale und vertikale Linie emanzipiert sich als autonomes Gestaltungselement,
gleichzeitig wird das farbliche Spektrum weiter auf seine Ursprünge zurückgeführt,
bis nur noch viereckige Farbflächen in den Primärfarben Rot, Gelb und Blau sowie
in den Nicht-Farben Weiß und Grau Verwendung finden. Diese wenigen Elemente bestimmen
von nun an Mondrians Oeuvre, werden in unzähligen Variationen durchgespielt und
prägen bis heute das unverwechselbare Profil des Künstlers. Seine Bilder erwecken den
Anschein einer genau berechneten Anlage. Die Bildaufteilung wirkt klar und mathematisch.
Skizzen belegen jedoch, dass Mondrian die Proportionen seiner Bilder nicht berechnete,
sondern intuitiv entwickelte. Dabei wurden Symmetrien vermieden, wenn auch
gelegentlich mit visuellen Erwartungen gespielt wird. Die Balance, die trotz der eigentlich
asymmetrischen Anlage von den Kompositionen ausgeht, ist eine qualitative, keine,
die durch quantitative Berechnung entstanden ist. Ein weiteres Merkmal von Mondrians
Malerei besteht darin, dass seine Bilder nach außen »offen« sind. Sie wirken wie
Ausschnitte, die über den Bildrand hinausdrängen und sich mit dem Raum verbinden.
Das brachte Mondrian in die Nähe der Architektur, denn der sein Bild umgebende Raum
wird durch die Malerei gleichsam mitgestaltet.
Der »Priester im Dienst an der weißen Fläche« – Kunst und Theosophie
{ Neben den schwarzen Linien im rechten Winkel gehörten Farbflächen in den Primärfarben
Rot, Gelb und Blau sowie den Nicht-Farben Weiß und Grau zu den
Gestaltungselementen der Pariser Jahre (1919-1938). Sie dienten als elementare
Sprachmittel eines komprimierten künstlerischen Ausdrucks, dem der Neuen Gestaltung
(Nieuwe Beelding) oder des Neoplastizismus, der alle figurativen Momente vermied und
in totaler Abstraktion das Essentielle der Erscheinungsformen objektiv zu gestalten
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suchte. Willkür und Zufall sollten aus der Kunst entfernt und »Raum für das Göttliche«
geschaffen werden, indem »man nicht die Dinge darstellt«, sondern ihre innere Konstruktion
durchschaut In der konsequenten Abstraktion des Neoplastizismus vereinen
sich Kunsttheorie und Ideologie zu einer Art Pseudo-Religion mit idealistischem Sendungsbewusstsein.
Mondrian selbst stammte aus einem religiösen Elternhaus und war
von väterlicher Seite her stark kalvinistisch geprägt. Lange Zeit spielte er mit dem
Gedanken, die Priesterlaufbahn einzuschlagen, und auch nachdem er sich für die Kunst
entschieden hatte, beschäftigte er sich mit theosophischen Schriften, trat 1909 in die
Niederländische Theosophische Gesellschaft ein und liebte zeitlebens Spekulationen
und ausschweifende Gedankenspiele. Dabei wurden besonders die Schriften des Theosophen
M.H.J. Schoenmaekers bestimmend für die Theoriebildung der De Stijl-Bewegung,
indem die in ihnen entwickelten Ideen den philosophischen Hintergrund zu der bislang
noch überwiegend spekulativen De Stijl-Theorie boten.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Mondrians Kunsttheorie (die
zumindest in diesen Jahren immer auch die Theorie der De Stijl-Gruppe insgesamt war)
durchzogen ist von einem religiös oder mystisch besetzten Vokabular wie etwa Reinheit,
Klarheit, Erkenntnis, Gleichgewicht mit dem Geistigen, dem Universalen etc. Dieses
Universale, nach dem Religion sucht und fragt, soll in der Kunst visualisiert werden,
damit im ästhetischem Erleben eine geistige Erhöhung stattfinden kann, wie man sie
sich sonst von der Meditation, dem Gebet oder Gottesdienst erwartet.
Bach, Schoenmaekers und die Kreuzfigur
{ Auf den theosophischen Hintergrund im Werk Mondrians greift der holländische
Komponist Louis Andriessen in seinem Musiktheater »De Materie zurück«. Im De Stijl
(1984/85) betitelten dritten Teil nähert er sich Leben, Werk und Ästhetik Mondrians in
assoziativer Weise, stellt unterschiedliche Aspekte heraus und bringt sie in einer
Musiktheaterszene montageartig zusammen. Bei seiner Auseinandersetzung mit Mondrian
dauerte es nicht lange, bis Andriessen auf die Schriften Schoenmaekers stieß, und er
erkannte den prägenden Einfluss, den der Theosoph auf das Denken und nachweisbar
auf den literarischen Stil des Malers ausübte. Er entschloss sich, einen Text aus Schoenmaekers
Schrift »Beginselen der beeldende Wiskunde« (Prinzipien einer bildenden
Mathematik) für De Stijl zu verwenden. Dieser handelt von der sogenannten Kreuzfigur
als der vollendeten geometrischen Figur, die zugleich Grundlage für Mondrians
bildnerisches Werk werden sollte.
Diese Kreuzform, bei Schoenmaekers auch »T-Form« genannt, da sich Horizontale
und Vertikale nicht kreuzen, sondern nur berühren, diente als Symbol der Vollkommenheit.
Andriessen wollte nicht allein den metaphysischen Text vertonen, sondern auch die
T-Form musikalisch abbilden. Seine erste Idee führte zu einer der berühmtesten Kreuz-
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figuren in der europäischen Musikgeschichte, nämlich zum B-A-C-H-Motiv. Verbindet
man die nach Tonhöhe angeordneten Noten miteinander, entsteht ein Kreuz. Das Kreuz
erschien Andriessen im Zusammenhang mit Mondrian auch deshalb als geeignet, weil
es auf seinen religiösen Hintergrund verweist. Um jedoch der Schoenmaekerschen
T-Figur gerecht zu werden, suchte er nach einer ähnlichen musikalischen Figur, die eine
repetierende Note beinhalten musste, um das Kreuzen der Linien zu vermeiden. Er kam
auf folgendes Motiv:
Für musikalisch interessanter als sein eigenes Motiv hielt er allerdings Bachs Kreuzfigur,
und so finden beide Kreuzformen in der Komposition Verwendung. Auch mit anderen
Kompositionsprinzipien verweist Andriessen auf den Schöpfer der musikalischen Kreuzfigur.
Er verfährt über weite Strecken frei oder aber streng imitatorisch, schiebt sogar
eine groteske Fuge ein, die sich aus dem Diskobass heraus entwickelt und im Grunde ein
strenger Kanon ist, in dem sich die Stimmeinsätze je einen Halbton von as nach h hocharbeiten.
Damit verweist Andriessen nicht nur zurück in den Barock, sondern auch in die
20er Jahre, die zu porträtieren er sich zum Ziel gemacht hat.
Was ist Rhythmus?
{ Bevor man sich auf die Spur rhythmischer Phänomene in der Malerei begibt,
ist zu klären, was Rhythmus überhaupt meint. Während lange die platonische Definition
vom Rhythmus als Ordnung der Bewegung oder der Zeit (in Abgrenzung zu Harmonie als
Ordnung der Töne) präsent war, wird heute alles unter den Terminus subsumiert, »was
irgendwie mit der Struktur oder dem Ablauf der musikalischen Zeit, oft auch, was mit
Bild- und Raumbewegungen zu tun hat« (Seidel, MGG 8, Sp. 257). Rhythmus ist keine
spezifisch musikalische Qualität. So sprechen wir etwa vom Tagesrhythmus und meinen
damit die bestimmte Abfolge von Ereignissen, die unserem Tag eine (möglichst adäquate)
Ordnung verleiht. Wir staunen über den Rhythmus einer Großstadt, brauchen den
Rhythmus der Jahreszeiten und kennen Menschen, die Rhythmus im Blut haben. Der
Terminus Rhythmus ist allgegenwärtig, man meint zu wissen, was er aussagt, und doch
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leiben Definitionen ungriffig, unvollständig oder unverständlich. Musik als »Zeitkunst«
kommt ohne eine Strukturierung der Klangereignisse in der Zeit nicht aus. Daher hat in
der Musikgeschichte die Rhythmus-Theorie eine lange Tradition. Je nach Blickwinkel des
Forschers unterscheiden sich die Methoden dabei erheblich und tragen eher zur Komplexität
des Themas bei als Lösungen zu liefern. Neben dem Versuch, Klangereignisse in
ihrer Interaktion mit metrischen Gegebenheiten mathematisch aufzuschlüsseln und so
den rhythmischen Wert eines Tones zu bestimmen, geht etwa Jaques-Dalcroze, der
»Urvater« der Rhythmik, von Bewegung und dem unmittelbaren Erleben von Rhythmus
durch den Körper aus und macht Rhythmus zu einer Sache persönlicher, in erster Linie
rein subjektiver Erfahrung. Von kognitionswissenschaftlicher Seite aus werden die
Verarbeitungsprozesse im Gehirn untersucht und zum Ausgangspunkt einer Rhythmusdefinition
herangezogen, während sich Künstler aller Art zwar vielleicht unwissenschaftlich,
doch meist effizient über die Wirkung des Phänomens Rhythmus Gedanken machen
und ihre Ergebnisse kompositorisch erproben.
Von Rhythmus kann nur gesprochen werden, wo es Kontraste gibt. Eine monochrome
Fläche hat ebensowenig rhythmische Qualität wie ein einzelner, unendlich fortgesetzter
Ton. Erst wenn sich ein zweiter, von dem ersten unterschiedener Ton oder eine Pause als
»Nicht-Ereignis« anschließt, ist aus der Beziehung der Ereignisse (und »Nicht-Ereignisse«)
zueinander ein rhythmisches Verhältnis zu erschließen. Diese Ereignisse benötigen
einen Raum, in dem sie stattfinden können. Dabei ist es unwesentlich, ob es sich um
einen architektonischen Raum oder, wie in der Musik, um einen Klang-Zeit-Raum handelt.
Im Bild gibt die Größe der Leinwand einen Raum vor, in dem Bildelemente angeordnet
und zueinander in Beziehung gebracht werden. Anders als bei einem Musikstück, das
sich dem Hörer nur nach und nach zugänglich macht, kann der Betrachter das Gemälde
in seinem Gesamteindruck auf einen Blick erfassen und auf sich wirken lassen. In abstrakter
Malerei ist es ihm zudem in erhöhtem Maße freigestellt, ob oder wo er einen Anfang
oder ein Ende erkennt. Der Blick kann frei von oben nach unten oder von einer Seite
zur nächsten wandern, von innen nach außen, in Kreisen oder Geraden – man kann ein
Bild »lesen« und seinen Verlauf in der (Betrachtungs-) Zeit frei bestimmen, während
man als Hörer von Musik die Dinge auf sich zukommen lassen und sich damit abfinden
muss, dass man das Ende eines Stücks ebensowenig voraussehen wie sich den Anfang bis
zum Schluss merken kann. Dennoch ist man heute vorsichtig geworden, Musik als Zeitund
Malerei als Raumkunst zu bezeichnen, wie es in Anlehnung an Lessings Abhandlung
Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie lange Zeit üblich war. Immer mehr
setzt sich die Vorstellung durch, die Kategorien Raum und Zeit als zwei Wahrnehmungsweisen
desselben Phänomens zu begreifen, die einander ergänzen, aber nicht hermetisch
trennbar sind. Wie nah unsere intuitive Wahrnehmung dieser Vorstellung ist, zeigt
sich im natürlichen Sprachgebrauch: Das Adjektiv lang etwa kann räumlich (eine lange
Linie) wie zeitlich (ein langer Tag) verwendet werden, und oft fließen die Kategorien
sogar ineinander.
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»Fox Trot« und Modernes Lebensgefühl
{ In Mondrians bildnerischem Denken ist Rhythmus das wesentliche Element,
durch das der Künstler seine Komposition subjektivieren kann, denn nach Mondrian wird
nur durch die Realisation eines dynamischen Rhythmus’ ein Werk zum Kunstwerk und
sein Schöpfer zum Medium absoluter Wirklichkeit. »Der Rhythmus von Farb- und
Maßverhältnissen (in genauer Proportion und im Gleichgewicht) bringt das Absolute in
der Relativität von Zeit und Raum zur Erscheinung« (Mondrian, in: Jaffé, S. 40). Anders
ausgedrückt: Es gibt nur wenige Gestaltungsmittel, mit denen der abstrakte Künstler
umgehen soll, und der Rhythmus, d. h. hier die geschickte Anordnung der Teile zueinander,
das wechselseitige Gleichgewicht von Farben und Maßen, entscheidet über den Wert
der Komposition und gibt ihr die individuelle, besondere Note ihres Schöpfers. Rhythmus
ist bei Mondrian schon früh Programm. Die gleichgewichtige Kombination der Bildelemente
tritt sozusagen an die Stelle des Gegenstands und ersetzt Achsensymmetrie und
Perspektive. Schon die Pier und Ozean-Bilder um 1914/15 mit ihren sich verdichtenden
oder entzerrenden Plus-Minus-Zeichen wirken wie eine stenographische Aufschlüsselung
der Wellenbewegung in rhythmische Symbole. Durch die gebrochenen Linien wird
Bewegung für das linear voranschreitende Auge klar erfassbar. Tatsächlich wäre sogar
an eine musikalische Realisation der Bilder im Sinne später entstandener graphischer
Notationsformen in der Musik zu denken, obwohl Mondrian sicher weit davon entfernt
war, seine Bilder als Partituren zu verstehen. Dass es sich bei einigen seiner Kompositionen
aber um ins Visuelle überführte Musik handelt, belegt die Schilderung von W.F.A.
Roëll, einem Korrespondenten der Zeitung Het Vaderland, der Mondrian 1920 während
der Arbeit an einem bislang nicht identifizierten Foxtrottbild besuchte:
Mitten im Atelier ist auf der Staffelei eine quadratische Leinwand befestigt,
die der Maler gerade in Arbeit hat. Sie ist in rechteckige Blöcke aufgeteilt, die mit den
Hauptfarben Rot, Blau und Schwarz ausgefüllt sind. Sie stellt nichts dar. Es ist keine
Regelmäßigkeit in der Figur zu entdecken. Trotzdem herrscht ein nicht unangenehmes
Gleichgewicht – sagt der Maler – und während er dies sagt, dreht er die Leinwand rasch
um, damit sie die richtige Position erhält… Während ich in einem eckigen Korbsessel
mein erstes Staunen verarbeite, enthüllt der Maler den Namen seiner Schöpfung:
Foxtrot. Sie enthält das gleiche modern-rhythmische Lebensgefühl und das regelmäßige
Vor- und Zurücktreten… der Maler erklärt mir bald kurz und deutlich, wie er vom
Foxtrot zu seiner Ab- oder Umbildung gekommen ist und wie die irdische (reale)
Vorstellung auf geheimnisvolle Weise gänzlich verschwunden ist (zit. n. Maur, S. 403).
Mondrians Bilder der zwanziger Jahre sind dynamisch ausbalanciert, aber im Rhythmus
weitaus getragener, weniger »schnell« als die späten New Yorker Werke. Ihre besondere
Qualität besteht darin, dass sich ihr Rhythmus in den Raum fortzusetzen scheint.
Ein Bild wie Komposition in Rot, Gelb und Blau von 1927 gibt scheinbar den Blick auf le-
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diglich einen Ausschnitt frei, der nach außen offen ist und ins Unendliche weitergedacht
werden kann. Das Bild an der weißen Wand wird als Fenster ins Universum zum Initiator
eines Imaginationsprozesses, in dem die Grenze zwischen Bild und Raum, zwischen
sichtbarer und unsichtbarer Wirklichkeit verwischt. Es geht also nicht nur um Rhythmus
im Bild, sondern auch um Rhythmus außerhalb des Bildes. In seinem New Yorker Atelier
schließlich wurde der Raum selbst zur Bildfläche, Lebensraum zum Kunstwerk. Vergrößerte
Farbflächen in Rot, Gelb und Blau waren über die weißen Atelierwände verteilt
und wurden von Mondrian immer wieder nach Belieben neu angeordnet. So erschuf er
unablässig neue visuelle Rhythmen um sich herum und realisierte, zumindest in dieser
Hinsicht, die Vereinigung von Kunst und Leben, um die es ihm zeitlebens gegangen war.
Diese Kunst hatte keine Bilder im konventionellen Sinn mehr nötig. Ihr Rhythmus war
vollends in das Leben eingegangen und mit ihm verschmolzen. Es gab einen Rhythmus
ohne Bild.
Wie klingt Mondrian?
{ Am Anfang meiner Beschäftigung mit dem Thema stieß ich auf eine alte Kassette,
betitelt Mondrian’s Music, die laut Computer im Kunsthistorischen Seminar lagern
sollte. Es dauerte ziemlich lange, bis sie gefunden wurde, nachdem man etwas ratlos
zwischen den Bücherregalen umher gelaufen war und die Studierenden befragte, ob
sie von dem Tonband schon mal etwas gehört hätten. Eine Studentin reagierte spontan:
»Mondrian’s Music? Gibt’s so was wirklich? Das stell’ ich mir ja total spannend vor:
horizontal, vertikal, horizontal, vertikal…« Wie klingt Mondrian? Endlich in Besitz der
Kassette, hörte ich mich 30 Minuten durch wilden Boogie-Woogie und frühen Big Band
Sound, bevor die ätherischen Klavierklänge der Proeven van Stijlkunst mich sacht einhüllten.
Von da an wollte ich einem Geheimnis auf die Spur kommen, das unenthüllbar
bleibt: Wie wird aus einer ausgelassenen Tanzmusik – mit einem Gemälde als Zwischeninstanz
– eine meditative Akkordstudie? Natürlich ist eine solche Frage unzulässig.
Es war nie Domselaers Absicht, Mondrians Beeinflussung durch den Jazz in seine Komposition
miteinzubeziehen, schon gar nicht wollte er ein musikalisch inspiriertes Werk
»zurückübersetzen«. Was sollte es auch für einen künstlerischen Nutzen haben, ein Bild
zu komponieren oder eine Komposition zu malen? Ein solches Verhalten entspränge –
wenn nicht der Suche nach dem Urprinzip des Seins wie bei Mondrian selbst – allenfalls
fotografischer Neugierde, im Grunde einer Abbildungsästhetik, die sich nun nicht mehr
auf Natur, sondern eben auf eine andere Kunst bezieht. Viel spannender und aufschlussreicher
ist doch, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen ein einziges Kunstprodukt
Anreiz geben kann.
Jedes Kunstwerk wird irgendwann in die Welt »entlassen« und ist von da an frei
verfügbar, um zu neuer kreativer Auseinandersetzung anzuregen oder herangezogen zu
werden. Was letztendlich dabei heraus kommt, obliegt keinen apriorischen Gesetzmäßigkeiten,
sondern der Person, die darauf reagiert: ihrem Naturell, ihrem künstlerischen
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Selbstverständnis, ihrem Wissen um den Kontext der Vorlage, ihrer Absicht, ihrem
Können, ihrem Ideenreichtum, ihrem persönlichen Kontext. Über den »Wert« des Kunstwerks
entscheidet nicht die mehr oder weniger gelungene Bezugnahme auf einen gattungsfremden
Gegenstand. Das Wissen um eine solche Bezugnahme kann die Rezeption
um eine Ebene erweitern, dennoch bleibt ein Bild ein Bild, eine Komposition eine Komposition.
Im Mondrian-Gedächtnisjahr 1994 fanden besonders in Holland zahlreiche
Ausstellungen und auch Konzerte statt. Der Pianist Marcel Worms studierte zu diesem
Anlass ein Solo-Programm ein, das er unter dem Titel Pictures at a Mondrian Exhibition
bei Emergo Classics (Holland) einspielte. Neben jazzigen Kompositionen von u.a.
Schulhoff und Tansman sind mehrere aktuelle Auftragskompositionen zu hören, die auf
konkrete Bilder Bezug nehmen. Sie machen noch einmal mehr deutlich, dass Mondrian
sehr unterschiedlich klingen kann, und dass die mannigfaltigen Wechselströme
zwischen Musik, Bild und wieder Musik sich, wenn überhaupt, so nur mit größter Mühe in
systematische Bahnen eindämmen lassen.
Wie klingt Mondrian in mir? Wie würde ich an ein Bild wie Komposition mit Rot,
Gelb und Blau herangehen? Plötzlich stehe ich zwischen den Ufern und beginne, meine
eigenen Fäden zu spinnen.
L i t e r a t u r
x De la Motte-Haber, Helga. Musik und bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur
Klangskulptur, Laaber: Laaber 1990.
x Jaffé, Hans L.C.: Mondrian und De Stijl. Schauberg, Köln: DuMont 1967.
x Maur, Karin v. (Hrsg.): Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts,
München: Prestel-Verlag 1985 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung
in der Staatsgalerie Stg., 6. Juli-22. Sept. 1985)
x Wismer, Beat: Mondrians ästhetische Utopie, CH-Baden: LIT-Verlag Lars Müller 1985.
p Anne Dorothea Kütemeier, geb. Pardall
studierte von 1997 bis 2002 Schulmusik mit Hauptfach Klavier. Das Studienjahr 2001
verbrachte sie in Amsterdam.
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Artwork: Stefanie Wolf
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Das Oratorium »Golgotha«
von Frank Martin
Archaisierendes und Modernes in einer Passion des 20. Jahrhunderts
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Georg Hage
{ »Golgotha« lernte ich kennen und schätzen,
als ich zu zwei Aufführungen des Oratoriums am 3.
und 4. April 2004 in der Freiburger Christuskirche für
die Ausführung des Orgelparts engagiert wurde. Eine
Aufführung in der Bielefelder Rudolf-Oetker-Halle
nur eine Woche zuvor vermochte mich, der ich das
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der Probenarbeit begann mich die Musik mehr und
mehr zu beschäftigen. Die Reaktionen des Freiburger Publikums waren hingegen bemerkenswert:
Emotional bewegt verharrte eine Reihe von Zuhörern noch minutenlang
schweigend auf ihren Plätzen, der außergewöhnlichen Passion nachsinnend. Was ist
der Grund dafür, begann ich mich zu fragen. Wie vermag diese »neue Vision der Leiden
und des Sieges Jesu Christi«, dieses große, aber nicht pompöse und in seiner Haltung
einfache und bescheidene Werk des 20. Jahrhunderts eine solche Wirkung zu erzeugen?
Frank Martin (1890 – 1974) galt zu Lebzeiten als »ein Außenseiter der neuen Musik«
(Billeter 1970). Mittlerweile, dreißig Jahre nach seinem Ableben, scheint es, dass seine
Musik die Aussicht hat ein neues Publikum zu erreichen und zu ergreifen.
Doch was trägt zu diesem Personalstil bei und welche Aspekte spielen dabei eine
Rolle? Ein Kritiker der Uraufführung von »Golgotha« im April 1949 berichtet: »Um der
Thematik einen angemessenen, würdevollen und erhebenden Eindruck zu verleihen,
hat Frank Martin sein ›Libretto‹ selbst verfasst, äußerst dicht, knapp und direkt.
Seine musikalische Sprache ist hier außerordentlich vielfältig. Die verschiedensten und
gegensätzlichsten Elemente finden sich vereinigt: Da trifft die gregorianische Psalmodie
auf das Arioso mit obligatem Soloinstrument, der kontrapunktische Satz steht neben
der Homofonie nach Art Palestrinas und die Schönbergsche Zwölftontechnik neben
perfekten Konsonanzen und dem Volkslied entlehnten Rhythmen und Melodien«
(Tappolet 1949, S.262 f.). Die ersten Eindrücke von verschiedenen Zeitzeugen geben
dazu Anlass, das Oratorium »Golgotha« von Frank Martin näher zu beleuchten.
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Frank Martins künstlerische Entwicklung und sein religiöser Hintergrund
{ Ausgehend von seiner klassischen musikalischen Ausbildung und zunächst von
der Bachschen Harmonik gefesselt, erweiterte sich Frank Martins stilistischer Horizont
sukzessive. Seine Begegnung mit den französischen Impressionisten, Experimente auf
rhythmischem Gebiet sowie die partielle Integration der Zwölftontechnik führten
schließlich zu der für seinen Stil der Reife charakteristischen erweiterten Tonalität, die
in seinem Kammeroratorium »Le Vin Herbé« seine erste charakteristische Ausprägung
fand und die in »Golgotha« zur Hervorhebung besonderer Textinhalte um Passagen
äußerster harmonischer Einfachheit bereichert ist.
Parallel zu diesem stilistischen Werdegang steht Martins ebenso individuell geprägte
religiöse Entwicklung. Als Reaktion auf sein familiäres Umfeld hatte er sich zunächst von
den erfahrenen Traditionen und Einflüssen im elterlichen Pfarrhaus distanzieren müssen.
Schließlich erschien es ihm aber eine innere Notwendigkeit, seinen Glauben musikalisch
auszudrücken – ein universaler Glaube, gegründet auf die christliche Lehre, aber nicht
auf eine Konfession festgelegt. So komponierte er sein eigenes Glaubensbekenntnis,
auch wenn er es im Grunde für vermessen und unangebracht hielt, eine Vertonung des
Passionsgeschehens zu wagen. Insofern ist »Golgotha« eine »Summe« (Meylan, S. 280)
von Glaubensinhalten und -aussagen, die in komprimierter Form zu einer Textvorlage
von hoher literarischer Qualität und höchster Aktualität zusammengestellt sind.
Die Texte und ihre Zusammenstellung
{ Wie die Arbeit im Detail zeigt, ist die Textvorlage zu »Golgotha« aus bestimmten
Texten der Evangelien sowie ausgewählten nichtevangelischen Textstellen zusammengesetzt,
die in ihrer Ganzheit vor allem verschiedene Gegensätze (Tag – Nacht, Licht –
Schatten, Schuld – Unschuld, Himmel – Erde, menschlich – göttlich, Grab – Sieg) zum
Ausdruck bringen. Stets steht der Mensch Jesus im Zentrum des Geschehens, und wie ein
roter Faden spannt sich durch alle Texte inhaltlich der Gedanke der Erlösung: Christi
Opfertod und seine Auferstehung sind die Voraussetzung für das Heil der erlösungsbedürftigen
Menschheit. Diese Aussage ist die befreiende und frohe Botschaft der gesamten
Textvorlage, gleichzeitig Zeichen für die »gläubig christozentrische Haltung des Komponisten«
(Fischer, S. 126) und damit Frank Martins eigenes Bekenntnis.
Durch Eingangschor, Intermedium und Schlusschor ist das Werk formal gegliedert.
Durch seine zweiteilige Anlage trennt es klar die Vorboten zur Leidensgeschichte (Jesu
Einzug in Jerusalem, seine Verurteilung der Pharisäer, das letzte Abendmahl mit der Ankündigung
des Verrats durch Judas sowie der Verrat selbst im Garten Gethsemane, Nr. I-V)
von der eigentlichen Passion (Jesu Prozess vor dem Hohen Priester, seine Verurteilung
durch Pilatus und sein Tod am Kreuz, Nr. VI-X) – wie Bach in der Matthäus-Passion. Den
Platz, den Bach Arien und Chorälen zuweist, nehmen bei Frank Martin die so genannten
Meditationen ein, die die einzelnen Szenen der Passion-Jesu-Darstellung, die für sich
dramatisch gestaltet sind, und die verschiedenen Haltungen Christi reflektieren und
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kommentieren. Wodurch sich die textliche Konzeption von »Golgotha«, bei aller Nähe in
formaler Hinsicht, jedoch nicht nur von Bachs Passionen, sondern von der gesamten
Tradition der Passionsvertonung deutlich unterscheidet, ist die Einbeziehung des Osterereignisses,
in dem nicht zuletzt die bejahende Glaubensaussage Martins und seine
gesamten Lobpreisungen zum Ausdruck gebracht sind. Die Textvorlage kann man als eine
Art Collage bezeichnen, als Montage in ihrem positivsten Sinne. Die engagiert gestaltete
Dramaturgie lässt die zusammengestellte Vorlage als literarisches Kunstwerk erscheinen.
Besonders auffällig ist die außerordentliche emotionale Beteiligtheit des Komponisten.
Die musikalische Realisierung
{ Eine Passion zu schreiben fand Martin zunächst »anmaßend«. Doch dann erhielt er
durch Rembrandts Kupferstich Die drei Kreuze eine neue Inspiration. Hier war das christliche
Heilsgeschehen konzentriert auf den Punkt gebracht. Berührt und ergriffen von dem
»seltsame{n} weiße{n} Licht, das senkrecht auf eine düstere Welt fällt« (in: Halbreich,
S. 27), sah er den Hell-dunkel-Kontrast als Gegensatz von Licht und Finsternis. Dieses
Prinzip übertrug er nun auf die textliche und die musikalische Ebene seiner Komposition.
Der Gegensatz prägt auch die formale Anlage sowie das Klangkonzept des Werkes. Neben
der profilierten Vox Christi, deren herausragende Stellung dem Baritonsolisten zugewiesen
ist, treten die übrigen Partien in den – dunklen – Hintergrund. Um die zentrale
Stellung der Christuspartie weiterhin nicht zu gefährden, entschied sich Frank Martin für
eine entpersonalisierte Evangelistenpartie und verteilte die Erzählung auf verschiedene
Solisten und den Chor, je nach spezifischer Aussage und Kontext. Wird die Handlung
schnell vorangetrieben und zeigt sie dramatische Elemente, berichtet eine Solostimme,
die für den Moment unmittelbar an der Szene teilzuhaben scheint; an Stellen mit eher
deskriptivem Charakter abseits von dramatischer Handlung singt hingegen der Chor.
Dieser repräsentiert außerdem die Volksmenge, übernimmt also zusätzlich die Funktion
der so genannten Turba, und ist im Eingangs- und Schlusschor sowie in einigen der
Meditationen beschäftigt – in letzteren in der Rolle der Gemeinschaft der Glaubenden
(vgl. Meester 1993, S. 135). Die abwechslungs- und kontrastreiche Rollenverteilung
trägt entscheidend zur dramatischen Wirkung des Werkes bei.
Gegenüber dem Vokalpart ist die Rolle des Orchesters – einem großen Orchesterapparat
mit sinfonischem Streichersatz, doppelt besetzten Holzbläsern, vollem Blechbläsersatz
und Schlagwerk, erweitert um Klavier und Orgel – im Wesentlichen auf die
instrumentale Begleitung beschränkt. Rein instrumentale Sätze enthält »Golgotha«
nicht, allein zur Eröffnung des zweiten Teils findet sich (zu Beginn von Nummer VI)
eine längere instrumentale Einleitung. In jedem Fall trägt die farblich differenzierte
Instrumentation maßgeblich zu dynamischen Effekten bei.
Den ersten Satz kann man als Mikrokosmos des ganzen Werkes bezeichnen. Hier finden
sich die wichtigsten Parameter der Tonalität, der Satzweise, der Melodik, Harmonik und
der kontrastreichen Klangregister. Charakteristisch sind stilistische Anklänge an andere
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Vorbilder (wie Bach) und Epochen (Mittelalter) ebenso wie moderne experimentelle
rhythmische Kontrapunktik, Zwölftontechnik und Jazzelemente. Martin verarbeitet
die heteronomen archaisierenden und modernen Elemente zu einer Synthese, die seine
genuine Tonsprache prägt.
Beispiel: Der Aspekt der Rhythmik
{ Exemplarisch herausgegriffen sei der siebte Satz: Jésus devant le Sanhédrin (Jesus
vor dem Hohen Priester). Im »heftigen Rhythmus einer Tokkata« (Halbreich, S. 32) beginnt
die Szene Jesu vor dem Hohen Priester, deren Orchesterbegleitung mit durchgehenden
Achtelläufen zunächst den Satz bestimmt. Die erzählende Rolle kommt den Chortenören
und -bässen zu und wechselt nach der kontrastierenden Passage der Jesusworte
(T. 104 ff.: »Tu l’as dit…«), die vorübergehend das »Allegro con fuoco« beruhigt, zum
Solotenor (T. 137 ff.: »A ces mots…«). Die unruhige Begleitung wird wieder aufgegriffen.
Der erneute Tumult des Volkes mit Steigerungswirkung bis zum Fortissimo bricht unvermittelt
ab, und in starkem Kontrast schließt sich die Meditation im Pianissimo-Choralklang
(T. 267 ff.) an. Unmittelbar ins Auge fällt die Vielzahl der Taktwechsel: Zweier- und
Dreiermetren wechseln ununterbrochen ab, »was den unsteten Effekt großer Fünfer- und
Siebenertakte bewirkt und durch die Klangfarben, besonders der Blechbläser, verschärft
wird.« (Brandt, S. 102) Prinzipiell handelt es sich hier insofern um eine Variante musikalischer
Prosodie. Man könnte in den Taktwechseln Anklänge an die perfekte und imperfekte
Mensurierung der Ars nova sehen, verknüpft mit Martins Erkenntnissen aus der
Beschäftigung mit der bulgarischen Folklore und dem rumänischen Volkslied. Die colla
voce geführten Blechblasinstrumente, zunächst im vollen Hörnersatz, abgelöst von den
Posaunen (T. 9 ff.) und gesteigert durch die Trompeten (T. 23 ff.), »fügen dem Ganzen
eine herb archaische und durchaus mittelalterliche Tönung hinzu« (Halbreich, S. 32).
Ein unerwartetes Ende
{ Zurück zur eingangs aufgeworfenen Frage nach der Wirkung von »Golgotha«:
Wodurch überzeugt Frank Martins Werk? Meines Erachtens spielen bei der Rezeption
zwei Komponenten eine wichtige Rolle. Zum einen wird dem Publikum in der Tat ein
vollendetes Drama vor Augen geführt, das Passionsgeschehen emotionsgeladen, voller
Liebe und voller Hass, und aus verschiedenen Sichtweisen mit aller Härte und Brutalität
schonungslos dargestellt – unmittelbare Betroffenheit stellt sich ein: »Wie konnten
Menschen dich richten mit solcher Härte, solchem Hass, einen Tod dir bereiten, so
schändlich und grausam?« (vgl. Meditation in Nr. VII.) Andererseits aber nimmt das
Passionsoratorium ein gänzlich unerwartetes Ende. Nicht stille Trauer oder mitleidsvolle
Beweinung der Kreuzigung beschließt das Werk, sondern die Einbeziehung der österlichen
Auferstehung, der Jubel über Jesu Sieg, der Triumph des Lebens über den Tod. Daraus
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Artwork: Matthias Wieber
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wächst die Erkenntnis: Die Leidensgeschichte war lediglich Durchgangsstation auf dem
Weg zum Osterereignis, die Passion die andere, aber notwendige Seite des Heilsgeschehens.
Zu guter Letzt hat Christus die gesamte menschliche Schuld auf sich und damit alle
Last von mir selbst genommen; auf unverhoffte und unbegreifliche Weise bin ich befreit:
»Christus starb für uns, in Christ ward uns geschenkt das Leben.« (vgl. Nr. I.) »Martin
konnte gar nicht den Tod Jesu abgelöst sehen von seiner Auferstehung, beides gehörte
für ihn zusammen wie Sündhaftigkeit und Hoffnung auf Erbarmen« (Brandt, S. 107).
Diese Sichtweise spiegelt sich in »Golgotha« unbedingt wider, ohne dass das Werk in
irgendeiner Weise auf äußerliche Effekte zielt oder plakativ wirkt. Es ist ein authentisches
und persönliches Zeugnis, eine Musik, die von Herzen kommt und zu Herzen geht.
»So besorgt er sonst auf seine Empfindungen bedacht und um Zurückhaltung bemüht
war, hat in diesem Werk sein großes Herz geöffnet.« (Tappolet 1949, S. 263)
Die große Außenwirkung ist dem Komponisten selbst nicht verborgen geblieben. »So
passiert es, dass ein Werk, welches man für sich selbst und ohne sich darum zu sorgen,
was man davon denken oder darüber schreiben könnte, geschrieben hat, genau das Werk
ist, das nicht nur das Publikum, sondern auch die Musiker und selbst jene erreicht, deren
Urteil man fürchten könnte. Nicht nur einmal konnte ich diese Erfahrung machen.«
Welch großen Stellenwert Frank Martin selbst seiner Komposition zumaß, zeigt nicht nur
ihr langer Entstehungszeitraum von drei Jahren, sondern nicht zuletzt Martins rückblikkende
Erinnerung an die Kompositionszeit: »>Golgotha< stellte für mich ein einzigartiges
Ereignis in meinem Leben als Komponist dar. Die lange Zeitspanne, die der Ausarbeitung
dieses Oratoriums gewidmet war, lebt für uns beide, für meine Frau wie für mich, in der
Erinnerung fort als eine gesegnete Zeit, als eine Karwoche, die fast drei Jahre gedauert
hat.« (in: Maria Martin, S. 77 f.)
L i t e r a t u r a u s w a h l
x Billeter, Bernhard: Frank Martin. Ein Außenseiter der neuen Musik, Frauenfeld/Stuttgart: Huber 1970
x Brandt, Regina: Religiöse Grundzüge im Werk von Frank Martin, Regensburg: Bosse 1992
x Halbreich, Harry: Entstehung von »Golgotha«; Frank Martin kommentiert »Golgotha«; Kurze Analyse der Partitur,
im Beiheft zur CD-Einspielung: Frank Martin: Golgotha/Messe pour double chœur a cappella, Erato 2292-45779-2
(1992), S. 25 – 34
x Lütteken, Laurenz: Martin, Frank, in: Finscher, Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart.
Personenteil Bd. 11, 2., neubearb. Ausg., 1999 ff., Kassel: Bärenreiter 2004, Spalte 1169 – 1175
x Martin, Maria: (Hrsg.): A propos de…, commentaires de Frank Martin sur ses oeuvres, Neuchâtel: La Baconnière 1984,
S. 79 – 88
x Melroy, Mardia: Frank Martin’s »Golgotha«, D. M. A. dissertation, University of Illinois at Urbana-Champaign 1988
x Tappolet, Willy: Golgotha. Oratorio de Frank Martin, in: SMZ 89 (1949), S. 262 – 263
p Georg Hage
studiert nach dem Abschluss in Schulmusik 2004 an der Musikhochschule Freiburg
Kirchennmusik A und Gesang.
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