Journalistenpreis Bürgerschaftliches Engagement Marion-Dönhoff ...
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also eine billige Suche nach dem größten Glück der größten<br />
Zahl. Übrigens: Was würde aus der Minderheit, die<br />
unter den Tisch fällt, wenn man der Mehrheit bequem<br />
nach dem Munde redet? Wollen also unsere Leser und<br />
Wähler die Wirklichkeit wahrhaftig wahrnehmen – oder<br />
von ihr abgelenkt werden? Wollen sie ihre Zeit vernünftig<br />
nutzen – oder sie totschlagen, sich sammeln – oder<br />
sich zerstreuen? (Mancher Text wird gerade um seiner<br />
Sinnlosigkeit willen verschlungen – mitunter nicht nur in<br />
der Yellow Press.) Wer also die ethischen Fragen bearbeiten<br />
will, die sich aus dieser vertrackten Lage ergeben,<br />
der kann nicht mit dem größten Behagen der größtmöglichen<br />
Zahl, also rein utilitaristisch (oder marktkonform)<br />
operieren; er braucht – als Individuum Journalist für das<br />
Individuum Leser – vielmehr ein normativ fundiertes<br />
Menschenbild. Der Titel des entsprechenden Grundlagenaufsatzes<br />
hätte zu lauten: Was kann, darf, soll und<br />
will der Mensch unserer Zeit wissen?<br />
Aber gestatten wir uns einen kleinen Umweg und setzen<br />
wir noch einmal an jenem achten Gebot an, daß doch<br />
jeder von uns so genau zu kennen vermeint: Du sollst<br />
nicht lügen! Merkwürdig – diese Formulierung: Nirgendwo<br />
in unseren Rechtssystemen gibt es ein so umfassendes<br />
Verbot zu lügen, erst recht kein Gebot, immer und<br />
immerzu die Wahrheit zu sagen. Man darf in der Tat<br />
lügen wie gedruckt – ohne daß man jemals bestraft wird:<br />
es muß schon noch etwas anderes hinzukommen, bevor<br />
der Staatsanwalt tätig wird. Dazu später mehr! Schauen<br />
wir also näher hin:<br />
Das achte Gebot hatte ich in meiner Kindheit in einer katholischen<br />
Konfessions- und Volksschule im damaligen<br />
Südwürttemberg-Hohenzollern (also auf der Schwäbischen<br />
Alb) noch in der knappest möglichen und auf bürgerlichen<br />
Anstand zielenden Form so vorgehalten bekommen:<br />
Du sollst nicht lügen! Soll man ja auch wirklich<br />
nicht! Aber was lesen wir im 2.Mose 20, 16 – und übrigens<br />
wortgleich in Luthers Kleinem Katechismus? Du<br />
sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.<br />
(Buber/Rosenzweig übersetzen wie folgt: Aussage nicht<br />
gegen deinen Genossen als Lügenzeuge.)<br />
Der Text des Alten Testaments formuliert also keineswegs<br />
die orts- und beziehungslose Verpflichtung zur<br />
Festvortrag<br />
Wahrheit als solcher, Tag und Nacht, sondern schützt<br />
präzise „nur“ die Verläßlichkeit der Wahrheitsfindung<br />
vor Gericht und entspricht also der Wahrheitspflicht des<br />
Zeugen in unserer Justiz, im engeren Sinne dem spezifischen<br />
Verbot des Meineides. Erst in Volksmund und<br />
-Lehre wird daraus ein allgemeines, wenngleich seines<br />
präzisen rechtlichen Gehalts entleertes bürgerlich-sittliches<br />
Schwindel-Verbot, eine Ausweitung ins Unbestimmte:<br />
Du sollst nicht lügen!<br />
Merkwürdigerweise sagt aber der bürgerliche Moralismus<br />
nie: Du sollst immer die Wahrheit sagen! Erst<br />
recht steht das so in keinem juridifizierten Kodex. Im<br />
Gegenteil, es gibt sogar regelrechte Verbote, die Wahrheit<br />
zu sagen. Jeder, der einmal als Arbeitgeber (oder als<br />
Personalsachbearbeiter) Verantwortung getragen hat,<br />
hat unter der Aufgabe gelitten, einem ausscheidenden<br />
Mitarbeiter ein Zeugnis zu schreiben – und zwar umso<br />
heftiger, desto lieber er diesen Menschen nur noch von<br />
hinten gesehen hätte. Denn das arbeitsrechtlich korrekte<br />
Zeugnis soll zwei Zielen dienen: Es soll insofern<br />
wahr sein, als der Leser ein zutreffendes Bild des Menschen<br />
gewinnen möchte, der sich bei ihm um einen<br />
neuen Arbeitsplatz bewirbt; es muß aber zugleich aus<br />
Rechtsgründen – und aus der Sicht des betreffenden<br />
Mitarbeiters – „berufsfördernd“ sein. Wenn man also<br />
schriebe: „Dies war der dümmste Buchhalter, der mir<br />
je über den Weg gelaufen ist“, so bliebe man möglicherweise<br />
eng bei der Wahrheit, und jeder potentielle<br />
künftige Arbeitgeber wäre auch hinreichend gewarnt;<br />
freilich, berufsfördernd und arbeitsrechtlich korrekt<br />
wäre das Zeugnis nicht. (Ganz abgesehen davon, daß<br />
man auch noch mit einer Anklage wegen Beleidigung<br />
zu rechnen hätte.) Lobt man aber den ausscheidenden<br />
Mitarbeiter über den Schellenkönig (in der Praxis werden<br />
solche lobhudelnden Zeugnisse sogar zur Bedingung<br />
von Trennungsvereinbarungen im angeblich<br />
gegenseitigen, also in Wahrheit nicht vorhandenen Einvernehmen<br />
gemacht), sieht man sich vielleicht recht<br />
bald der Anfrage des nachfolgenden Arbeitgebers ausgesetzt,<br />
weshalb man ihn denn in die Irre geführt habe.<br />
(Wenn der sich nur in der Stille denkt, man habe selber<br />
die Schwäche des Mannes nicht entdeckt, kommt man<br />
vielleicht noch mit einem diskreten Rufschaden davon.)<br />
Der Ausweg, sich einer kodierten Schleiersprache zu<br />
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