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Nacht aus den Angeln hebt? Kann es sein, dass<br />
Grenzschutz plötzlich nur mehr Abriegelung und<br />
Abwehr meint, und nicht mehr, dass man prüft<br />
und kontrolliert und bei Bedarf seiner völkerrechtlichen<br />
Schutzpflicht gegenüber Kriegsflüchtlingen<br />
nachkommt? Ohne Wenn und Aber.<br />
Wir fahren weiter. Zur türkischen Grenze nach<br />
Syrien. Wo auf Menschen, die vor dem Bombenhagel<br />
fliehen, geschossen wird. Wo Menschen den<br />
Tod finden im Kugelhagel unserer fragwürdigen<br />
Verbündeten. Dort herrscht Chaos und hier wird<br />
Politik gemacht. Hier die Schreibtischtäter, die<br />
meinen, Bilder der Abschreckung produzieren zu<br />
müssen. Dort die Frierenden, die Verzweifelten,<br />
die gegen die feinmaschigen Stacheldrahtzäune<br />
anrennen, mit der Kraft der Hoffnungslosen. Hier<br />
die Zyniker, die kopfschüttelnd Gewaltbereitschaft<br />
notieren, weil Flüchtlinge unsere Zäune<br />
attackieren in ihrer Verzweiflung und sich nicht<br />
wie Vieh zusammentreiben lassen. Dort die Menschen,<br />
die keine Alternative haben.<br />
Wir glaubten sie überwunden mit dem Ende des<br />
kalten Kriegs. Doch plötzlich ist die Logik der Abschreckung<br />
wieder mehrheitsfähig. „Wir müssen<br />
unattraktiv werden“ hallt es aus leeren Kopfgefäßen<br />
– als Land, als Staatengefüge, als Menschenschlag.<br />
Wenn das unsere Rettung ist, möchte ich<br />
nicht gerettet werden.<br />
Doch wo beginnen?<br />
Es ist 5 Uhr früh. Ich bin am Grenzübergang<br />
Freilassing. Im letzten Zelt, bevor es über die<br />
Brücke nach Deutschland geht. Draußen ist es noch dunkel. Kalt.<br />
Jede halbe Stunde verlassen 30 Menschen dieses Zelt und 30 neue<br />
kommen. Meine offizielle Aufgabe hier ist es, für einen geordneten<br />
Ablauf zu sorgen. Handlungsspielraum gibt es genug. Wir haben eine<br />
Kinderecke eingerichtet, mit Decken und ein paar Spielsachen. Zum<br />
Durchatmen. Für alle. Auch wenn es nur eine halbe Stunde ist. Die<br />
Erwachsenen danken es uns mit Blicken. Viel wird nicht geredet. Was<br />
wir geben, ist Augenhöhe. Respekt. Verständnis. Ein Lächeln hier.<br />
Eine kleine Geste dort.<br />
In dieser Nacht durchschneide ich bei zirka 500 Menschen das Nummernarmband<br />
und öffne das Zauntor, damit sie über die Brücke nach<br />
Deutschland gehen können. Schüttle Hände, sage „good luck!“, wie<br />
ich es noch nie gesagt habe. Sehe ihnen nach. Ein kleines Mädchen,<br />
dem ich zuvor ein Blatt Papier und Stifte reichte, dreht sich um und<br />
läuft noch einmal zurück. Zu mir. Steckt mir ein Bild zu, das sie im<br />
Zelt gezeichnet hat und lächelt. Ich sehe nur Meer und Menschen. Im<br />
Wasser. Ohne Boot. Rechts oben ein Sonnenfleck. Ich bin bestürzt.<br />
Umarme sie. Danke! Was machen wir hier? Was werden wir unseren<br />
Kindern erzählen? Was wir tun können, ist begrenzt. Aber es gibt<br />
Kraft, als freiwilliger Helfer Teil einer Zivilgesellschaft zu sein, die<br />
menschlich handelnd vorangeht. Im Herbst 2015 hatte man kurze<br />
Zeit das Gefühl, dass das Schüren von Ressentiments gegenüber<br />
Schutzsuchenden in diesem Land nicht mehrheitsfähig ist. Das hat<br />
sich geändert. Grundlegend.<br />
Natürlich stimmt es, dass es so etwas wie eine faktische Obergrenze<br />
gibt, die nämlich dann erreicht ist, wenn unsere Kapazitäten,<br />
Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen, erschöpft sind. Libanon,<br />
ein Land so groß wie Oberösterreich, hat zwei Millionen Flüchtlinge<br />
aufgenommen. Jordanien mehr als eine Million. Und Europa mit<br />
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<strong>gangart</strong> 11