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gangart_6_Flucht

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Nacht aus den Angeln hebt? Kann es sein, dass<br />

Grenzschutz plötzlich nur mehr Abriegelung und<br />

Abwehr meint, und nicht mehr, dass man prüft<br />

und kontrolliert und bei Bedarf seiner völkerrechtlichen<br />

Schutzpflicht gegenüber Kriegsflüchtlingen<br />

nachkommt? Ohne Wenn und Aber.<br />

Wir fahren weiter. Zur türkischen Grenze nach<br />

Syrien. Wo auf Menschen, die vor dem Bombenhagel<br />

fliehen, geschossen wird. Wo Menschen den<br />

Tod finden im Kugelhagel unserer fragwürdigen<br />

Verbündeten. Dort herrscht Chaos und hier wird<br />

Politik gemacht. Hier die Schreibtischtäter, die<br />

meinen, Bilder der Abschreckung produzieren zu<br />

müssen. Dort die Frierenden, die Verzweifelten,<br />

die gegen die feinmaschigen Stacheldrahtzäune<br />

anrennen, mit der Kraft der Hoffnungslosen. Hier<br />

die Zyniker, die kopfschüttelnd Gewaltbereitschaft<br />

notieren, weil Flüchtlinge unsere Zäune<br />

attackieren in ihrer Verzweiflung und sich nicht<br />

wie Vieh zusammentreiben lassen. Dort die Menschen,<br />

die keine Alternative haben.<br />

Wir glaubten sie überwunden mit dem Ende des<br />

kalten Kriegs. Doch plötzlich ist die Logik der Abschreckung<br />

wieder mehrheitsfähig. „Wir müssen<br />

unattraktiv werden“ hallt es aus leeren Kopfgefäßen<br />

– als Land, als Staatengefüge, als Menschenschlag.<br />

Wenn das unsere Rettung ist, möchte ich<br />

nicht gerettet werden.<br />

Doch wo beginnen?<br />

Es ist 5 Uhr früh. Ich bin am Grenzübergang<br />

Freilassing. Im letzten Zelt, bevor es über die<br />

Brücke nach Deutschland geht. Draußen ist es noch dunkel. Kalt.<br />

Jede halbe Stunde verlassen 30 Menschen dieses Zelt und 30 neue<br />

kommen. Meine offizielle Aufgabe hier ist es, für einen geordneten<br />

Ablauf zu sorgen. Handlungsspielraum gibt es genug. Wir haben eine<br />

Kinderecke eingerichtet, mit Decken und ein paar Spielsachen. Zum<br />

Durchatmen. Für alle. Auch wenn es nur eine halbe Stunde ist. Die<br />

Erwachsenen danken es uns mit Blicken. Viel wird nicht geredet. Was<br />

wir geben, ist Augenhöhe. Respekt. Verständnis. Ein Lächeln hier.<br />

Eine kleine Geste dort.<br />

In dieser Nacht durchschneide ich bei zirka 500 Menschen das Nummernarmband<br />

und öffne das Zauntor, damit sie über die Brücke nach<br />

Deutschland gehen können. Schüttle Hände, sage „good luck!“, wie<br />

ich es noch nie gesagt habe. Sehe ihnen nach. Ein kleines Mädchen,<br />

dem ich zuvor ein Blatt Papier und Stifte reichte, dreht sich um und<br />

läuft noch einmal zurück. Zu mir. Steckt mir ein Bild zu, das sie im<br />

Zelt gezeichnet hat und lächelt. Ich sehe nur Meer und Menschen. Im<br />

Wasser. Ohne Boot. Rechts oben ein Sonnenfleck. Ich bin bestürzt.<br />

Umarme sie. Danke! Was machen wir hier? Was werden wir unseren<br />

Kindern erzählen? Was wir tun können, ist begrenzt. Aber es gibt<br />

Kraft, als freiwilliger Helfer Teil einer Zivilgesellschaft zu sein, die<br />

menschlich handelnd vorangeht. Im Herbst 2015 hatte man kurze<br />

Zeit das Gefühl, dass das Schüren von Ressentiments gegenüber<br />

Schutzsuchenden in diesem Land nicht mehrheitsfähig ist. Das hat<br />

sich geändert. Grundlegend.<br />

Natürlich stimmt es, dass es so etwas wie eine faktische Obergrenze<br />

gibt, die nämlich dann erreicht ist, wenn unsere Kapazitäten,<br />

Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen, erschöpft sind. Libanon,<br />

ein Land so groß wie Oberösterreich, hat zwei Millionen Flüchtlinge<br />

aufgenommen. Jordanien mehr als eine Million. Und Europa mit<br />

> Fortsetzung nächste Seite<br />

<strong>gangart</strong> 11

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