zds#46
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DIE ZEITSCHRIFT<br />
DER STRASSE<br />
Das Bremer Straßenmagazin<br />
Ausgabe 46<br />
www.zeitschrift-der-strasse.de<br />
2,50 EURO<br />
1,30 € für den Verkäufer<br />
WACHMANN<br />
STRASSE<br />
EINE ART<br />
PERSÖNLICKEIT<br />
ES MUSS<br />
MASSVOLL SEIN<br />
BUDDHISMUS FÜR<br />
DEN ALLTAG<br />
DIE MACHT DER<br />
GEWÖHNUNG<br />
Am Benqueplatz baut<br />
ein Tischler Cembali<br />
alter Meister nach<br />
Eine Metzgerin<br />
spricht über Leber,<br />
Wild und Veganer<br />
Ruhe und Meditation,<br />
wo sich Autos<br />
ineinanderknäulen<br />
Nach erstem Protest<br />
akzeptieren sie das<br />
Heim für Geflüchtete
EDITORIAL | 3<br />
Ein bisschen Angst<br />
und Idealismus<br />
Wenn du aus südwestlicher Richtung kommst und in die Wachmannstraße<br />
willst, puh! – also bevor es da so richtig bürgerlich-lauschig wird, muss<br />
ja erst einmal der Stern bezwungen werden. „Ein Angstraum“ ist das,<br />
sagt der Landesbehindertenbeauftragte, mit dem wir dort einen kleinen<br />
Rundgang gemacht haben (Seite 26). Doch schon ein paar Meter weiter<br />
kann es erstaunlich ruhig sein! In der alten Villa nämlich, in der statt<br />
Kaufleuten und Richtern heute lauter Buddhisten residieren. Wir haben<br />
sie mal zu Hause besucht, wo es übrigens sehr schlicht, aber gar nicht so<br />
religiös zugeht (Seite 20).<br />
Auch anderswo an der Wachmannstraße ist es weniger bourgeois,<br />
als man gemeinhin denkt. Nicht nur in dem ehemaligen Seniorenheim,<br />
in dem heute geflüchtete Menschen leben – was nicht jedem im<br />
Schwachhausen gleich gefallen hat (Seite 28). Sondern auch bei dem<br />
Cembalobauer Christian Kuhlmann, in dessen Werkstatt früher mal ein<br />
reicher Kaffeeröster sein Büro hatte. Dort haben wir einen idealistischen<br />
Autodidakten kennengelernt, der andere gern zu sich nach Hause einlädt<br />
(Seite 8). Ein paar Meter weiter liegt eine kleine Metzgerei (übrigens ein<br />
reiner Frauenbetrieb), in der maßvoller Konsum gepredigt und bei Weitem<br />
nicht alles verkauft wird, was der Kunde gern haben wollen würde<br />
(Seite 12). Apropos Frauen: Unsere neue Kollegin Petra Kettler wollen<br />
wir natürlich auch vorstellen. Sie professionalisiert gerade unseren Vertrieb<br />
und bekämpft den „Wildwuchs“, wie sie uns auf Seite 30 erklärt.<br />
Viel Vergnügen wünschen<br />
Jan Zier, Philipp Jarke<br />
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße<br />
Die Zeitschrift der Straße<br />
Foto Titelseite: Benjamin Eichler<br />
Seite 2: Wolfgang Everding<br />
ist das Bremer Straßenmagazin – ein gemeinsames Projekt von<br />
Studierenden, JournalistInnen, sozial Engagierten, StreetworkerInnen,<br />
HochschullehrerInnen und von Menschen,<br />
die von Wohnungslosigkeit und Armut bedroht oder betroffen<br />
sind. Herausgegeben wird sie vom Verein für Innere Mission in<br />
Bremen. Die Zeitschrift der Straße Wird auf der Straße verkauft,<br />
die Hälfte des Verkaufserlöses geht an die VerkäuferInnen.<br />
Jede Ausgabe widmet sich einem anderen Ort in Bremen und<br />
erzählt Geschichten von der Straße.
DIE ORIGINALEN<br />
Das ist Bremens Visitenkarte! Wenn Sie mit<br />
Bremen zu tun haben, hier leben, hier Ihren<br />
Firmensitz haben, dann kommen Sie an dem<br />
Klassiker der Bremenkalender wohl nicht vorbei<br />
… Und bestimmt werden Sie kaum etwas<br />
Originelleres verschenken können!<br />
Inhalt<br />
„Da nich’ für“, sagt der Bremer, wenn er was<br />
prima gemacht hat und er noch nicht einmal<br />
ein Dankeschön erwartet. „Da nich’ für“, sagt<br />
auch unser Premium-Kalender zu allen, die ihn<br />
in die Hand bekommen. Da sehen Sie die<br />
Wesermetropole von einer anderen Seite.<br />
Die ganz neuen Stadtansichten werden mit<br />
frechem Strich gezeigt, mit all dem witzigen<br />
Drumherum, das detailverliebt in jeder Ecke<br />
steckt. So kennen Sie die Doell Kalender. Je<br />
mehr die Stadt sich verändert, desto frischer<br />
weht auch hier der Wind.<br />
12 „Es muss maßvoll sein“<br />
Heike Michels betreibt eine Metzgerei.<br />
Ein Gespräch über Konsum,<br />
Gänsestopfleber und Vegetarier<br />
14 Fotostrecke<br />
Wenn Straßen faszinieren<br />
08 „Eine Art Persönlichkeit“<br />
Sein Großvater war Kaffeeröster, doch<br />
Christian Kuhlmann baut lieber Cembali<br />
24-27<br />
20 Buddhismus für den Alltag<br />
Ruhe und Meditation, wo sich Autos,<br />
Fahrräder und Straßenbahnen<br />
ineinanderknäulen<br />
24 Neue Farbe soll es richten<br />
Der Stern muss sicherer werden,<br />
daher wird er mal wieder umgebaut<br />
20<br />
26 Unterwegs im Akustikbrei<br />
Kann man als Blinder den Stern<br />
umrunden?<br />
27 „War doch babyeinfach“<br />
Mit drei kleinen Kindern um den<br />
Stern – geht viel leichter als mit dem<br />
Rad oder dem Auto<br />
28 Die Macht der Gewöhnung<br />
Der Protest in Schwachhausen war<br />
groß. Heute akzeptieren sie die<br />
Unterkunft für Geflüchtete<br />
28<br />
12<br />
08<br />
Beste Zeiten<br />
Verlagsgesellschaft mbH<br />
Oskar-Schulze-Straße 12<br />
28832 Achim<br />
Tel 0421 - 168 45 45<br />
Fax 0421 - 20 53 94 95<br />
info@beste-zeiten.de<br />
www.beste-zeiten.de<br />
30 „Das ist oft berührend“<br />
Ein Gespräch mit Petra Kettler, der<br />
neuen Vertriebskoordinatorin der<br />
Zeitschrift der Straße<br />
Illustration:<br />
Anna-Lena Klütz ist freie Künstlerin und freut<br />
sich, wenn aus einer scheinbar nichtssagenden<br />
Straße ein Bild voller spannender Einblicke wird.
6 | zahlEN & Fakten<br />
1907<br />
WACHMANN<br />
STRASSE<br />
1.260 Meter lange Wohn- und Geschäftsstraße<br />
in Schwachhausen zwischen dem Kreisverkehr<br />
Am Stern und dem Schwachhauser Ring<br />
2016<br />
Recherche & Text: Jan Zier, Philipp Jarke<br />
Fotos: www.bremer-ansichtskarten.de / Steffy van Valanger (1907), Hartmuth Bendig (2017)<br />
Jahr, in dem die Wachmannstraße erstmals<br />
auf einem Stadtplan eingezeichnet war: 1891<br />
Jahr der Fertigstellung der ersten 17 Häuser<br />
der Straße: 1904<br />
Zahl der Änderungsschneidereien: 3<br />
Zahl der Weinhändler: 2<br />
Zahl der Bäckereien: 2<br />
Ertrag des in Schwachhausen geernteten und<br />
gekelterten Wachmannweins im Jahr 2016, in<br />
Halbliterflaschen: ca. 100<br />
Verkaufspreis pro Flasche Roséwein, in Euro: 15<br />
Verkaufspreis pro Flasche Rotwein, in Euro: 20<br />
Zahl der Pkw und Lkw am Stern, pro Tag: 25.000<br />
Zahl der Radfahrer am Stern, pro Tag: 5.500<br />
Zahl der Straßenbahnen am Stern, pro Tag: 500<br />
Zahl der von der Polizei aufgenommenen<br />
Verkehrsunfälle am Stern im Jahr 2004: 48<br />
Zahl der von der Polizei aufgenommenen<br />
Verkehrsunfälle am Stern im Jahr 2011: 68<br />
Zahl der von der Polizei aufgenommenen<br />
Verkehrsunfälle am Stern im Jahr 2015: 57<br />
Zahl der Verletzten am Stern im Jahr 2015: 16<br />
Zahl der Schwerverletzten im Jahr 2015: 3<br />
Überwiegendes Verkehrsmittel der am Stern<br />
verletzten Personen: Fahrrad<br />
Rang des Sterns unter Bremens Unfallschwerpunkten<br />
im Jahr 2014: 1<br />
Geschätzte Kosten des Umbaus des Sterns im<br />
Sommer 2017, in Euro: 640.000<br />
Kostenübernahme durch den Bund, in Euro:<br />
420.000<br />
Günstigster Preis für eine Übernachtung im<br />
Einzelzimmer des örtlichen Hotels inklusive<br />
Frühstück, in Euro: 42<br />
Mitgliedsbeitrag im Buddhistischen Zentrum<br />
Bremen, pro Monat in Euro: 15<br />
Mitgliedsbeitrag im örtlichen Fitnessstudio, pro<br />
Monat in Euro: 49,99<br />
Mitgliedsbeitrag im örtlichen Yoga- und Pilatesstudio,<br />
pro Monat in Euro: 60<br />
Johann Wachmann ist heute völlig vergessen, auch<br />
wenn eine große Straße an ihn erinnert. Dabei<br />
gab es seinerzeit gleich mehrere Politiker dieses<br />
Namens! Jener, um den es hier in Schwachhausen<br />
geht, lebte von 1592 bis 1659, hat von den Historikern<br />
den Beinamen „der Ältere“ bekommen –<br />
und war der Sohn des Bremer Ratsherrn Johann<br />
Wachmann. Er studierte in Marburg und an der<br />
niederländischen Universität Franeker, war danach<br />
Hauslehrer in Speyer und promovierte 1628<br />
in Straßburg, ehe er nach Bremen zurückkehrte<br />
und Advokat wurde. Als Jurist machte er sich<br />
um Weiterentwicklung des Stadtrechtes verdient,<br />
zusammen mit seinem Onkel, dem Bürgermeister<br />
Heinrich Krefting. Später war Johann Wachmann<br />
immer wieder im diplomatischen Einsatz für den<br />
Bremer Senat unterwegs. So nahm er als Syndikus<br />
(heute würde man das Staatsrat nennen) an den<br />
Friedensverhandlungen in Osnabrück teil, die den<br />
Westfälischen Frieden begründeten und den Dreißigjährigen<br />
Krieg (1618–48) beendeten.<br />
Dort setzte sich Wachmann vor allem für die<br />
Reichsunmittelbarkeit Bremens ein – mit Erfolg.<br />
Die Stadt bekam schließlich von Kaiser Ferdinand<br />
III. – gegen eine Zahlung von 100.000 Reichstalern<br />
– das Linzer Diplom und damit den begehrten<br />
Status: Bremen war im Heiligen Römischen Reich<br />
fortan niemand anderem unterstellt als eben dem<br />
Kaiser.<br />
Der Westfälische Frieden bestätigte auch den<br />
Weserzoll, den Graf Anton Günther von Oldenburg<br />
seit 1612 für seine Unterhaltung der Weser forderte.<br />
Das war den Bremer Bürgern – und Johann<br />
Wachmann – ein Dorn im Auge. Sie verweigerten<br />
die Zollzahlung. Deshalb wurde die Stadt 1652 mit<br />
der sogenannten „Reichsacht“ belegt, also geächtet.<br />
Es folgten politische Verhandlungen, geführt<br />
von einem anderen Johann Wachmann, der ein<br />
Neffe des hier Geehrten war, zudem der Sohn des<br />
Bremer Bürgermeisters Herbert Wachmann. 1653<br />
musste „Johann Wachmann der Jüngere“, wie ihn<br />
Historiker nennen, vor dem Reichstag klein beigeben:<br />
Der Regensburger Vergleich wurde geschlossen.<br />
Und die Ächtung war beendet. Johann Wachmann<br />
der Jüngere wurde daraufhin übrigens<br />
kaiserlicher Rat und in den Adelsstand erhoben.
8 | PORTRAIT<br />
„Eine Art<br />
Persönlichkeit“<br />
Sein Großvater wurde als Kaffeeröster reich, doch<br />
Christian Kuhlmann ist Tischler und baut lieber<br />
Cembali. Hausbesuch bei einem Idealisten<br />
Text: Jan Zier<br />
Fotos: Jasmin Bojahr<br />
Wie man so ein Cembalo baut, brachte Christian<br />
Kuhlmann sich einfach selbst bei. Er hat nie ein<br />
Buch darüber gelesen und auch nie Musik studiert,<br />
ja: Er kann das Instrument selbst nicht einmal<br />
wirklich gut spielen. Der Tischler hat einfach<br />
irgendwann angefangen. Heute baut er in seinem<br />
„Atelier für Cembalobau“ historische Instrumente<br />
alter Meister aus dem 17. und 18. Jahrhundert nach.<br />
Wobei wir hier nicht von einem schnöden<br />
Imitat reden: Christian Kuhlmann arbeitet nicht<br />
einfach nur einen Bauplan ab. Er will immer den<br />
Geist und die Seele des Originals wiederkehren<br />
lassen. „Ein gutes Cembalo ist für mich mehr als<br />
die Summe der einzelnen Teile“, sagt der 48-Jährige:<br />
„Es ist eine Art Persönlichkeit, die da entsteht.“<br />
Im Moment ist es die eines flämischen Cembalobauers<br />
von 1644, ein katholischer Priester aus<br />
Österreich hat es sich bestellt. Das Original von<br />
Andreas Ruckers gehörte damals zu den begehrtesten<br />
Instrumenten seiner Zeit. Der Resonanzkörper<br />
aus Pappelholz ist schon fertig, die Seiten<br />
aus Weicheisen fehlen noch, und die Tastatur steht<br />
noch in der Ecke der kleinen Werkstatt. 450 Stunden<br />
wird Christian Kuhlmann daran bauen, drei<br />
bis vier Monate also, und alles ist reine Handarbeit.<br />
Rund 20.000 Euro kostet das Instrument am Ende.<br />
Reich wird sein Erbauer trotzdem nicht: „Wer viel<br />
Geld verdienen will, wird nicht Cembalobauer.“<br />
Man muss das durchaus dazusagen, denn<br />
Christian Kuhlmann wohnt mit seiner Familie in<br />
einer großzügigen Villa am Benqueplatz, mitten<br />
im vornehmen Schwachhausen. Der Kaufmann<br />
Carl Ronning hat sie einst bauen lassen, der Sohn<br />
eines Tischlermeisters übrigens – als Kaffeeröster<br />
in Bremen wurde Ronning reich. Seine Firma war<br />
damals die erste, die Kaffee abgepackt verkaufte;<br />
vor 50 Jahren übernahm Melitta sie trotzdem. Wo<br />
heute die Cembali entstehen, hatte der Urgroßvater<br />
einst sein Büro, mit Blick ins Grüne: Von dem<br />
Erker aus überschaut schaut man in einen weitläufigen<br />
Garten – Ronning wollte, dass seine Kinder<br />
mit etwas Natur aufwachsen. Herr Kuhlmann<br />
wohnt hier bei seiner Mutter zur Miete.<br />
Manchmal lädt er<br />
zu Konzerten<br />
in sein Wohnzimmer<br />
Ein paar Mal im Jahr öffnet er das „Kulturhaus<br />
Ronning“, wie er es nennt, für das Publikum.<br />
Zusammen mit seiner Frau, einer Barockgeigerin,<br />
veranstaltet er dann Konzerte in<br />
seinem Wohnzimmer. Bis zu 50 BesucherInnen<br />
kommen an solchen Abenden hierher, die<br />
Konzerte gibt es zum Unkostenbeitrag und weil<br />
Herr Kuhlmann sich damit „einen Traum“ erfüllen<br />
will. Natürlich wird Cembalo gespielt;<br />
aber nicht nur, und hinterher gibt es Häppchen.<br />
Christian Kuhlmann in seiner Werkstatt: Drei bis vier Monate Arbeit steckt er in den Bau eines Cembalos.<br />
Der kleine Konzertsaal ist mit lauter alten Teppichen<br />
ausgelegt, und an der Wand hängen Bilder<br />
von Blumen und Kräutern: handkolorierte<br />
Stiche aus dem 16. Jahrhundert, die Kuhlmann<br />
bisweilen als Vorlage nutzt, um die Resonanzböden<br />
seiner Cembali zu bemalen. In der Ecke hängt ein<br />
großes Portrait des 1949 verstorbenen Carl Ronning,<br />
etwas versteckt, neben einem Schrank, „auch über<br />
100 Jahre alt“, wie Kuhlmann beiläufig sagt, in einer<br />
anderen hängt ein altes Basshorn, dazwischen<br />
steht eine Art Nähtischchen, das sich als kleines<br />
Klavier entpuppt, sobald man den Deckel anhebt.<br />
Gleich fünf Cembali finden sich derzeit hier, und<br />
alle haben sie eine Geschichte zu erzählen. Eines<br />
gehörte mal einem namhaften Sammler, der es<br />
als spanisches Original gekauft hat – das es nicht<br />
war. Von dem Fälscher, der auf diese Weise noch<br />
mehr Cembali neu gebaut und als alt verkauft hat,<br />
hieß es später, er habe Selbstmord begangen, aber<br />
auch diese Geschichte kann eine Fälschung sein.<br />
Kuhlmann hat das Instrument günstig erworben,<br />
jetzt steht es hier neben einem von zweien, die er<br />
sich im vergangenen Jahr selbst gebaut hat. „Ein<br />
finanzielles Desaster“, sagt er – und lacht da-
10 | PORTRAIT<br />
bei, denn natürlich hat er in dieser Zeit kein Geld<br />
verdient. Er sei eben ein Idealist, sagt Kuhlmann.<br />
Deswegen hat er auch, nach 17 Jahren, seine Zusammenarbeit<br />
mit dem renommierten Bremer<br />
Musikfest aufgekündigt. „Die haben die Bodenhaftung<br />
verloren“, sagt er, und setzten zu sehr auf<br />
das Spektakel, auf große Namen, die Massen und<br />
Sponsoren anziehen. Manchmal: auf Kosten der<br />
Qualität. Und dafür will einer wie Christian Kuhlmann<br />
sich nicht hergeben.<br />
Gerade hat er einen jungen Cembalisten bei<br />
sich zu Hause aufgenommen, den 25-jährigen Italiener<br />
Enrico Ieroncic, der schon Klavier spielt, seit<br />
er vier ist, und vor vier Jahren begann, das Cembalospiel<br />
zu studieren. Er macht nun so eine Art<br />
Praktikum hier, dazu jede Menge professioneller<br />
Hausmusik, aber ausbilden darf Christian Kuhlmann<br />
– einer von bundesweit etwa 30 CembalobauerInnen<br />
– ihn nicht. Denn der ist eben kein<br />
Meister, rein zunftrechtlich betrachtet.<br />
Zum Cembalo<br />
kam er über<br />
die Lautsprecher<br />
Er selbst spielte früher mal Travers-Flöte, also die<br />
hölzerne Vorgängerin der modernen Querflöte,<br />
aber mehr „für den Hausgebrauch“, wie Kuhlmann<br />
sagt. Und doch brachte sie ihn zur Alten Musik, zu<br />
Johann Sebastian Bach und seiner Zeit. Dass es<br />
am Ende dann das Cembalo wurde, liegt übrigens<br />
an Hi-Fi-Lautsprechern: Die hat Kuhlmann früher<br />
mal gebaut und dann eben mit der Musik von<br />
Cembali getestet, wegen der Hochtöne und weil<br />
das Klangspektrum größer ist als beispielsweise<br />
das einer Geige. Irgendwann wollte er dann ein<br />
eigenes Cembalo bauen. Er fuhr nach Antwerpen,<br />
um im Museum und in Privatsammlungen historische<br />
Instrumente zu studieren, machte Fotos, erstand<br />
eine Bauzeichnung. Mittlerweile ist das über<br />
20 Jahre her und jedes Cembalo ein „offenes Buch“<br />
für ihn.<br />
Kuhlmann indes hat früher gar nicht gerne gelesen,<br />
sondern lieber handwerklich gearbeitet. Und<br />
weil er Legastheniker ist, wie er freimütig erzählt,<br />
hat er zwar „Schwierigkeiten mit schulischen Regeln“<br />
– kann dafür aber „komplexe Sachverhalte<br />
leichter erfassen“, sagt er. Und so ein Cembalo ist<br />
ganz schön kompliziert! Anders als beim Klavier<br />
werden die Saiten hier nicht angeschlagen, sondern<br />
gezupft. Jede von ihnen wird durch einen<br />
Kiel angerissen, der wiederum in einen Holzstab,<br />
Springer genannt, eingearbeitet ist. 60 gibt es pro<br />
Saitensatz, und manche Cembali haben einen, andere<br />
zwei davon. So entsteht der tragende, etwas<br />
metallische, aber durchaus lebhafte Ton des Cembalos,<br />
der einen Umfang von bis zu fünf Oktaven<br />
haben kann. Wer glaubt, dass die Cembalomusik<br />
sich seit dem Barock nicht weiterentwickelt hat,<br />
der irrt übrigens: Auch zeitgenössische Komponisten<br />
wie György Ligeti haben es benutzt, in dem<br />
bekannten Thema der schwarz-weißen „Miss<br />
Marple“-Filme kommt es vor, und bei den Beatles,<br />
den Doors und den Rolling Stones auch. In der<br />
CD-Sammlung, die sich in der Werkstatt stapelt,<br />
findet sich trotzdem vor allem Alte Musik: Christian<br />
Kuhlmann ist „kein ewig Gestriger“, sagt er,<br />
aber einer, der in die Zeit seiner Cembali zurückgehen,<br />
ihrem Lebensgefühl nachspüren will: „Wenn<br />
man den Klang verinnerlicht hat, baut man ihn<br />
mit hinein.“<br />
Nicht allen seine KundInnen ist das genauso<br />
wichtig wie ihm. Natürlich würde er am liebsten<br />
nur für professionelle MusikerInnen arbeiten, und<br />
in der Szene, so hört man, hat Christian Kuhlmann<br />
auch einen guten Ruf. Aber die Cembalisten haben<br />
halt oft nicht das nötige Geld, jedenfalls nicht,<br />
wenn sie vor allem Alte Musik spielen. „Meine<br />
Klientel ist oft eine andere“, so wie bei dem<br />
Ruckers, den er gerade baut. Manchmal ist so ein<br />
Cembalo halt einfach ein elegantes Möbelstück,<br />
das außen marmoriert und innen zinnoberrot<br />
oder in Schildpattoptik gestrichen ist. Christian<br />
Kuhlmann missfällt dieser Umgang, „auch wenn<br />
das ein bisschen arrogant klingt“. Doch am Ende<br />
blendet er solche Gedanken in seiner Werkstatt<br />
einfach aus. Er fühle sich zuallererst dem Instrument<br />
verpflichtet, sagt er. Also nicht dem Kunden.<br />
Warum? „So ein Cembalo überlebt jeden Menschen.“<br />
Jan Zier spielt leidlich Tenor-Saxophon<br />
und fand den Klang der Cembali früher<br />
meist etwas dünn und fiepsig.<br />
Jasmin Bojahr studiert Freie Kunst in<br />
Bremen und mag am Cembalo die filigrane<br />
Vogelform<br />
Im Wohnzimmer stehen gleich fünf Cembali. Zu jedem gibt es eine eigene Geschichte zu erzählen.<br />
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Text: Frauke Kuffel<br />
Fotos: BenjaminEichler<br />
Woher kommt das Wild, das Sie verkaufen? Früher<br />
war es ja tatsächlich so, dass Jäger das Fleisch<br />
gebracht haben. Heute kommt unser Wild aus einem<br />
Betrieb in Mecklenburg-Vorpommern, mit<br />
dem wir seit über 20 Jahren zusammenarbeiten.<br />
Wir bekommen Teilstücke und bearbeiten sie so,<br />
dass der Kunde nichts mehr daran machen muss.<br />
Bei unserem Lieferanten findet das Häuten in verschiedenen<br />
Räumen statt, dafür gibt es zwei Kammern,<br />
eine für das Wild, das noch in der Decke ist,<br />
und eine für das bereits herausgeschlagene. Im<br />
Fell befindet sich oft Ungeziefer, deshalb muss das<br />
streng getrennt sein. Früher war es so, dass die Jäger<br />
einfach anriefen, wenn sie beispielsweise einen<br />
Hirsch erlegt hatten. Dann kam ein Haken unter<br />
die Decke und das Tier wurde hier abgehängt.<br />
Wie halten Sie es persönlich mit dem Fleischkonsum?<br />
Ich will lieber weniger und dafür besseres<br />
Fleisch essen! Das beherzige ich auch bei meinen<br />
Kunden: Wenn sie unsicher sind, rate ich manchmal<br />
dazu, weniger zu kaufen, weil es mir in der<br />
Seele wehtun würde, wenn hinterher viel übrig<br />
bleibt. Dafür ist es einfach zu gut! Ich verkaufe sehr<br />
gerne, aber es muss maßvoll sein. Es ist auch unsere<br />
Aufgabe, dem Kunden zu angemessenen Portionen<br />
zu raten. Und ich lege viel Wert darauf, dass<br />
die Frauen, die hier verkaufen, gut beraten können.<br />
Sie sollen dem Kunden sagen können, was das für<br />
ein Stück ist, wo es herkommt, wie es aufgezogen<br />
wurde und was man damit anfangen kann.<br />
Gibt es in der Wildbranche auch Nutztierhaltung?<br />
Ja, es gibt die Gattertierhaltung, auch hier in der<br />
Region. Wir verkaufen aber solche Ware nicht.<br />
Es gibt Dinge, von denen wir uns distanzieren:<br />
Milchlamm, Gänsestopfleber und Gatterwild.<br />
„Es muss<br />
maßvoll sein“<br />
Heike Michels betreibt eine Wild-und-Geflügel-Metzgerei.<br />
Ein Gespräch über Konsum, Gänsestopfleber und Vegetarier<br />
Können Sie denn so ein Tier zerlegen? Zerteilen<br />
kann ich das wohl, aus der Decke schlagen nicht.<br />
Ich wollte immer mal meinen Jagdschein machen,<br />
auch wegen der Wildkunde, aber ich möchte nicht<br />
so gerne schießen. Mit dem Schlachten und Ausnehmen<br />
kenne ich mich schon aus, weil ich in einem<br />
landwirtschaftlichen Betrieb aufgewachsen<br />
bin, aber das Aus-der-Decke-Schlagen ist schon<br />
nochmal was anderes.<br />
Sind Sie gelernte Metzgerin? Nein. Ich bin gelernte<br />
Hauswirtschaftsleiterin und wollte eigentlich was<br />
anderes machen – wie es im Leben so ist.<br />
Wie viele Leute beschäftigen Sie? Zehn, pro Tag<br />
sind etwa sechs Frauen beschäftigt. Morgens ist<br />
das meiste zu tun: Frisches Geflügel kauft man am<br />
besten direkt vor der Zubereitung, daher macht es<br />
für uns kaum Sinn, nach 20 Uhr offen zu haben.<br />
Unsere Öffnungszeiten sind ganz traditionell.<br />
Kaufen auch Restaurants bei Ihnen ein? Wir beliefern<br />
auch, aber das wird immer weniger. Vielen<br />
Restaurants ist unsere Ware zu teuer. Ich möchte<br />
unsere gute Ware aber nicht zu billig verkaufen.<br />
Entweder will man gute Ware – oder eben nicht.<br />
Es gibt immer mehr Vegetarier oder Veganer.<br />
Macht sich das bei Ihrem Umsatz bemerkbar?<br />
Nein. Vegetarier kommen natürlich nicht zu uns,<br />
obwohl wir auch fleischlose Salate anbieten. Der<br />
Anteil der Vegetarier ist aber doch noch relativ<br />
gering, auch wenn man den Eindruck hat, dass es<br />
da einen Trend gibt. Weil wir gute Ware anbieten<br />
und unsere Lieferanten kennen, kommen auch<br />
Kunden, die wenig tierische Produkte essen, aber<br />
Wert auf gute Qualität legen und Fleisch bewusst<br />
konsumieren wollen.<br />
Was ist ein Milchlamm? Ganz junges Lamm, das<br />
noch bei der Mutter trinkt und ihr ganz früh weggenommen<br />
wird, weil sein Fleisch als besonders zart<br />
und wohlschmeckend gilt. Ist es bestimmt auch,<br />
aber das widerstrebt eben meinem Empfinden.<br />
Zu Ostern werden wir oft nach solchen Dingen gefragt,<br />
weil es dazu viele Rezepte gibt. Viele überlegen<br />
sich vorher nicht, was das für ein Tier ist, oder<br />
sie werden durch Bezeichnungen getäuscht: Weil<br />
Gänsestopfleber auf Französisch „Foie gras“ heißt,<br />
denken viele, es geht um was ganz Schönes.<br />
Und was spricht gegen Gattertierhaltung? Die Tiere<br />
haben in einem Gatter viel Platz und können<br />
sich frei bewegen. Aber es ist eben kein typisches<br />
Wild, das im Wald groß geworden ist, wo es selbst<br />
Kräuter suchen konnte. Wir verkaufen auch kaum<br />
ausländisches Wild: Wir haben in Deutschland so<br />
schönes Wild in guter Qualität – das reicht mir!<br />
Allerdings verkaufen wir französische und schwedische<br />
Spezialitäten, hauptsächlich, weil ich selbst<br />
ein Schweden-Fan bin und da Betriebe gefunden<br />
habe, bei denen ich mir sicher sein kann, dass die<br />
Qualität ordentlich ist. Wir wissen bei allen Tieren,<br />
wo sie herkommen und dass sie nicht gezüchtet<br />
sind. Es gibt ja Fasane, die in einer Voliere aufgezogen<br />
und dann freigelassen und erschossen werden.<br />
Bei unseren Fasanen aus Schweden weiß ich, dass<br />
sie frei geschossen wurden, nachdem sie in der<br />
Wildnis aufwuchsen. Und unsere Enten werden<br />
in Fischerhude vom Teich geschossen. Wenn mal<br />
keine Tiere geschossen werden müssen, dann gibt<br />
es das Produkt bei uns auch nicht. Und damit kann<br />
ich auch gut leben.<br />
Frauke Kuffel studiert Philosophie in<br />
Oldenburg und schreibt ihre Bachelorarbeit<br />
über Tierethik.<br />
Benjamin Eichler ist freier Fotograf<br />
und Vegetarier.
FOTOstrecke | 15<br />
Wenn Straßen<br />
faszinieren<br />
Fotos & Text: Hartmuth Bendig
Hochschule Bremerhaven<br />
Anzeige<br />
Anzeige<br />
Elf Stationen<br />
in Schwachhausen!<br />
29. März 2017<br />
10-15 Uhr<br />
www.hs-bremerhaven.de<br />
CarSharing. Soviel Auto macht Sinn.<br />
Hochschule Bremerhaven • An der Karlstadt 8 • 27568 Bremerhaven<br />
Telefon 0421 - 79 27 00<br />
www.cambio-CarSharing.de/Bremen
18 | Fotostrecke<br />
Wenn ich so mit offenen Augen durch die<br />
Straßen gehe, entdecke ich oft Strukturen,<br />
Muster und Details. Sie regen mich<br />
zu Fotos an, die oft ein wenig untypisch<br />
sind und nicht sofort mit dieser Straße in<br />
Verbindung zu bringen sind.<br />
Hartmuth Bendig war lange Sozialarbeiter<br />
in Bremen und widmet sich<br />
inzwischen vermehrt der Fotografie.
20 | Ortstermin<br />
Buddhismus<br />
für den Alltag<br />
Ruhe und Meditation, wo sich Autos, Fahrräder<br />
und Straßenbahnen ineinanderknäulen – ein<br />
Besuch im Buddhistischen Zentrum<br />
Text: Elisabeth Nöfer<br />
Fotos: Lena Möhler<br />
Text: Elisabeth Nöfer<br />
Fotos: Lena Möhler<br />
Strahlend weiß leuchtet die Villa quer über den<br />
Kreisverkehr am Stern. Eine elegante Freitreppe<br />
führt zur Veranda, dort fallen die letzten Sonnenstrahlen<br />
auf ein Plakat, das einen ruhenden Buddha<br />
zeigt. Im Obergeschoss leben zwölf Menschen in<br />
einer Wohngemeinschaft, darunter eine Familie<br />
mit Kindern. In der großzügigen, lichtdurchfluteten<br />
Küche der WG ist es überraschend still. Die<br />
113 Jahre alten Mauern halten den Verkehrslärm<br />
draußen.<br />
Christopher Vogel – 26 Jahre alt, schlank, wacher<br />
Blick – studiert Geologie und wohnt seit anderthalb<br />
Jahren hier. „Aber auch wenn ich hier<br />
wohne“, sagt er, „fühle ich mich eher als Gast. Ich<br />
versuche, das nicht als Selbstverständlichkeit zu<br />
sehen.“ Vogels WG ist keine gewöhnliche, sie ist<br />
Teil des Buddhistischen Zentrums Bremen. Hier<br />
wird der sogenannte Diamantweg-Buddhismus<br />
der „Karma-Kagyü-Linie“ gelehrt, einer der vier<br />
großen Schulen des tibetischen Buddhismus.<br />
Bevor das buddhistische Zentrum im September<br />
2009 die Villa beziehen konnte, erzählt Vogel,<br />
hätten die Mitglieder der Gemeinschaft Parkett<br />
freigelegt, Mauern herausgebrochen und über<br />
2.000 Quadratmeter Wände gestrichen – und zwar<br />
ehrenamtlich. „Alles, was nötig ist, damit das hier<br />
funktioniert, machen wir selber“, sagt Knut Köstergarten,<br />
der ebenfalls in der WG wohnt. Die Ausgaben<br />
für die Zentrumsräume würden über Mitgliedsbeiträge,<br />
Privatspenden und ehrenamtliche<br />
Arbeit aufgebracht.<br />
Das Haus am westlichen Ende der Wachmannstraße<br />
wurde Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
als Residenz des Bremer Kaufmanns Wilhelm<br />
August Korff errichtet. Durch die Verlängerung<br />
der heutigen Hermann-Böse-Straße bis zur<br />
Hollerallee wurde damals das Gelände am Bürgerpark<br />
mit prachtvollen Villen bebaut. Später diente<br />
das Gebäude als Landesarbeitsgericht. Heute befinden<br />
sich auf den mehr als 1.000 Quadratmetern<br />
auch eine Kindertagesstätte und die Büroräume<br />
des Immobilienverwalters Anton Brinkhege, dem<br />
die Villa gehört. Er pflegt einen guten Kontakt<br />
zum Buddhistischen Zentrum. „Wir gehen gern<br />
ins Zentrumscafé und holen uns einen Kaffee“,<br />
sagt sein Sohn Felix Brinkhege. „Und manchmal<br />
laden sie uns zu ihren Feiern ein.“ Die Nutzung<br />
durch eine größere Wohngemeinschaft bietet sich<br />
an, weil das denkmalgeschützte Haus baulich<br />
nicht in Privatwohnungen unterteilt werden darf.<br />
So ließ sich die Nutzung durch das Buddhistische<br />
Zentrum gut realisieren.<br />
Die Mitglieder des 2002 gegründeten Bremer<br />
Zentrums sind überwiegend gebürtige Deutsche,<br />
aus allen Alters– und Berufsgruppen: „Vom Lagerarbeiter<br />
bis zum Arzt“, sagt Köstergarten. In<br />
der Wohngemeinschaft sind fast alle berufstätig,<br />
Köstergarten ist PR-Texter. Nebenbei macht der<br />
drahtige 50-Jährige die Öffentlichkeitsarbeit und<br />
organisiert das Veranstaltungsprogramm für das<br />
Bremer Zentrum.<br />
In den Räumen sei bewusst auf eine Dekoration<br />
im klassisch-tibetischen Stil verzichtet worden.<br />
„Hier gibt es keine Räucherstäbchen“, sagt<br />
Köstergarten. Die Wände und Vorhänge des Meditationsraums<br />
sind weiß, der klassische Deckenstuck<br />
ist erhalten geblieben. An den Wänden<br />
hängen Fotos der „Karmapa“, der buddhistischen<br />
Lehrer. Auf dem Altar an der Stirnseite steht eine<br />
goldene Buddha-Statue.
22 | Ortstermin<br />
„Wir machen Alltagsbuddhismus“, sagt Köstergarten.<br />
Ihre Form des Buddhismus soll in das Leben<br />
von Menschen integrierbar sein, die Familie, Arbeit<br />
und Kinder haben. So lehrt es der Däne Ole Nydahl,<br />
von Köstergarten und Vogel nur „Lama Ole“<br />
genannt. 1972 traf Nydahl mit seiner Frau auf ihrer<br />
Hochzeitsreise in Tibet den 16. „Gyalwa Karmapa“,<br />
das damalige Oberhaupt der Karma-Kagyü-Linie.<br />
Seither verbreitet er dessen Lehren im Westen und<br />
gründet neue buddhistische Zentren.<br />
Claudia Popp steht an diesem Nachmittag im<br />
Meditationsraum und legt ihre Hände an die Stirn.<br />
Sie gleitet hinunter auf das Brett vor ihren Füßen,<br />
steht wieder auf und wiederholt die erste Grundübung,<br />
die „Verbeugung“. 111.111 Mal soll man die<br />
vier Grundübungen wiederholen, um „den Geist<br />
von störenden Eindrücken zu befreien und mit positiven<br />
Eindrücken aufzufüllen“, so heißt es auf der<br />
Internetseite des Vereins.<br />
Christopher Vogel macht morgens nach dem<br />
Aufstehen hundert oder mehr dieser Wiederholungen,<br />
dann hat er eine halbe Stunde meditiert.<br />
Noch hält er keine Einführungsvorträge, die erfahrenere<br />
Zentrumsmitglieder hier jeden Donnerstag<br />
kostenlos für interessierte Gäste anbieten. Vogel<br />
übernimmt die ganz alltäglichen Aufgaben in der<br />
Wohngemeinschaft. „Altglas wegbringen, putzen,<br />
jeder bringt sich ein – wie in jeder anderen WG<br />
auch“, sagt Vogel.<br />
Vogel kommt aus einem eher christlichen Elternhaus<br />
und stieß durch ein Buch auf den Buddhismus.<br />
Seither meditiert er regelmäßig im Buddhistischen<br />
Zentrum. „Nach drei Wochen habe ich<br />
angefangen mitzuhelfen, Klos putzen war mein<br />
erster Job“, sagt er und grinst. „Irgendwann bin ich<br />
einfach mit nach oben in die Küche gegangen. Ich<br />
hab mich sofort zu Hause gefühlt.“ Als ein Zimmer<br />
frei wurde, weil ein Mitglied wegzog, durfte er einziehen.<br />
Im Leben von Knut Köstergarten, dem Sprecher<br />
des Zentrums, gab es Zeiten, in denen er regelmäßig<br />
meditierte, in anderen kam er kaum dazu. Bis es die<br />
Möglichkeit gab, die alte Villa zu sanieren. Da habe<br />
er erst einen richtigen Zugang bekommen, sagt<br />
Köstergarten. Seit zweieinhalb Jahren wohnt er<br />
nun in der WG. Warum Buddhismus, Knut Köstergarten?<br />
„Ich habe mehr Spaß am Leben, wenn ich<br />
meditiere“, sagt er. „Wenn etwas passiert, das mir<br />
nicht gefällt, muss ich nicht sofort darauf reagieren.<br />
Ich kann abwarten und das negative Gefühl vielleicht<br />
auch wieder ziehen lassen.“<br />
Ruhe und Ausgeglichenheit – diese Themen<br />
würden im Lifestyle-Bereich immer wichtiger, sagt<br />
Köstergarten. Viele Menschen seien auf der Suche<br />
nach etwas, das ihrem Leben einen tieferen Sinn<br />
gebe. Von einem Trend zum Buddhismus möchte<br />
er aber nicht sprechen. Denn nur wenige Gäste kämen<br />
nach der Einführungsmeditation wieder, um<br />
Buddhismus zu einer Lebenshaltung zu machen.<br />
„Man muss Verantwortung für sich und andere<br />
übernehmen. Und es ist Arbeit am eigenen Geist“,<br />
wirft Vogel ein. „Wir wollen niemanden bekehren,<br />
wir machen einfach ein Angebot“, sagt Köstergarten.<br />
Die Anhänger streben danach, im eigenen Leben<br />
zur Erleuchtung zu finden. Lehrer wie Lama<br />
Ole geben ihnen dabei Orientierung, sie seien aber<br />
keine Götter. „Leute, die das suchen, sind vielleicht<br />
in der evangelischen oder katholischen Kirche besser<br />
aufgehoben“, glaubt Köstergarten.<br />
Elisabeth Nöfer studiert Kulturwissenschaften<br />
und fährt jeden Morgen<br />
am Buddhistischen Zentrum vorbei.<br />
Lena Möhler ist freie Fotografin und<br />
fand es sehr angenehm, in so viele<br />
offene Gesichter zu blicken.<br />
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BERICHT | 25<br />
Neue Farbe<br />
soll es richten<br />
Der Stern muss sicherer werden, vor allem für Radfahrer.<br />
Daher wird der Kreisverkehr mal wieder umgebaut,<br />
zumindest ein wenig<br />
Als ich vor zweieinhalb Jahren nach Bremen zog,<br />
hörte ich schon bald vom „Stern“. Was für ein schöner<br />
Name für eine Straße, dachte ich! (Ich wusste<br />
noch nicht, dass es ein Kreisverkehr ist.) Aber dieser<br />
„Stern“ wurde stets begleitet von einen „Oouh“,<br />
einem Kopfschütteln oder Raunen. Und nachdem<br />
ich mich eingelebt habe, muss ich sagen: Der Stern<br />
ist saublöd, zumindest zu Hauptverkehrszeiten.<br />
Mit dem Auto kann man es dann total vergessen<br />
und auf dem Rad muss man sehr vorsichtig sein.<br />
Der Stern ist seit Jahren der Unfallschwerpunkt<br />
Nummer eins in Bremen. 57 Mal musste<br />
die Polizei im Jahr 2015 einen Unfall aufnehmen,<br />
16 Mal wurde dabei jemand verletzt, drei Mal sogar<br />
schwer. In den Jahren zuvor sah es oft noch<br />
schlechter aus.<br />
Dabei versucht man seit Jahren, den Stern sicherer<br />
zu machen. Es geht vor allem um die Radfahrer,<br />
die an den meisten schweren Unfällen<br />
beteiligt sind. Im Herbst 2010 wurde der Fahrradstreifen<br />
farbig markiert, um die Autofahrer zu sensibilisieren.<br />
Genützt hat es nichts, die Unfälle mit<br />
Radfahrern sind seither nicht seltener geworden.<br />
Also wurden die Unfälle genauer untersucht.<br />
Die wichtigsten Ergebnisse waren folgende:<br />
a) Die Autofahrer berichteten oft, sie hätten<br />
die beteiligten Radfahrer gar nicht gesehen<br />
(das passiert vor allem Rechtsabbiegern).<br />
b) Häufig kam es zu Missverständnissen zwischen<br />
Rad- und Autofahrern. Dabei ist der Stern kein Shared<br />
Space, wo es gemächlich zugeht und man leicht<br />
aufeinander Rücksicht nehmen kann. Am Stern<br />
wollen alle nur schnell durch, Rad- und Autofahrer<br />
gleichermaßen. Da müssen die Regeln klar und intuitiv<br />
erfassbar sein. Scheint aber nicht so zu sein.<br />
c) Junge Radfahrer sind an Unfällen besonders<br />
häufig beteiligt, junge Autofahrer hingegen sehr<br />
selten. Junge Radler sind eher schneller unterwegs,<br />
ältere Autofahrer reagieren eher langsamer<br />
und haben ein kleineres Blickfeld – eine ungünstige<br />
Kombination.<br />
Ein verkehrspsychologisches Gutachten ergab<br />
zudem, dass rechts abbiegende Autofahrer unter<br />
enormem Stress stehen: In kürzester Zeit müssen<br />
sie auf andere Verkehrsteilnehmer vor sich, neben<br />
und hinter sich achten, die in unterschiedlichen<br />
Richtungen unterschiedlich schnell unterwegs<br />
sind. Und lenken müssen sie natürlich auch noch.<br />
Text: Philipp Jarke<br />
Fotos: Norbert Schmacke<br />
Die Folge: Fahrfehler, für Radfahrer enden sie mitunter<br />
katastrophal. Daraus lässt sich ein Schluss<br />
ziehen: Den Autofahrern müsste es einfacher gemacht<br />
werden. Dieses „einfacher“ lässt sich aber<br />
auf verschiedenen Wegen erreichen.<br />
Eine Möglichkeit, die im Radfahrerland Niederlande<br />
teilweise angewendet wird: Die Vorfahrt<br />
für Radfahrer wird abgeschafft. Die Radler dürfen<br />
an solchen Kreiseln in beide Richtungen fahren,<br />
müssen aber an jeder Einmündung ein- und ausfahrenden<br />
Autos die Vorfahrt überlassen. Der Vorteil:<br />
Die Regeln sind klar und die Radfahrer haben<br />
ihre Sicherheit selbst in der Hand, statt sich auf die<br />
Autofahrer verlassen zu müssen. Die Unfallzahlen<br />
sind daher sehr gering. Der Nachteil: An einem<br />
6er-Kreisel wie dem Stern müsste man als Radfahrer<br />
ständig stoppen, zur Rushhour käme man<br />
kaum über die Straße. Die großartige Radstrecke<br />
von der City zur Uni würde massiv unattraktiver –<br />
das kann niemand wollen.<br />
Einfacher für Autofahrer wird es auch, wenn<br />
sie langsamer fahren. Dazu muss man sie aber<br />
zwingen (oder uns – ich fahre ja auch ab und an<br />
Auto). Man könnte daher die Kreisausfahrten<br />
über eine Bodenschwelle führen. Weil das aber die<br />
Kapazität des Sterns reduzieren könnte, kam das<br />
nicht in Betracht. Bremens Verkehrsplaner haben<br />
sich etwas anderes überlegt: Die Autos sollen künftig<br />
nicht mehr in spitzem Winkel aus dem Stern<br />
heraus abbiegen, sondern fast rechtwinkelig. Dadurch<br />
können sie von hinten kommende Radfahrer<br />
besser sehen, außerdem muss man bei so einer<br />
scharfen Kurve runter vom Gas. Deshalb werden<br />
die mit schrägen Strichen versehenen Sperrflächen<br />
zwischen der Fahrbahn und dem Radweg<br />
verbreitert – von zwei auf vier Meter. Zudem wird<br />
der Radweg nun rot angemalt, in der Hoffnung,<br />
dass allen die Vorfahrt der im Kreis fahrenden<br />
Radler stärker im Bewusstsein bleibt.<br />
Im Mai soll der Umbau beginnen, 640.000<br />
Euro wird er kosten, von denen der Bund drei Viertel<br />
übernimmt. Bleibt zu hoffen, dass der Stern dadurch<br />
tatsächlich sicherer wird. Denn sollten die<br />
Unfallzahlen nicht zurückgehen, will sich der Beirat<br />
Schwachhausen für eine Ampellösung stark<br />
machen. Dann hätte der Stern so ziemlich jeden<br />
Reiz verloren. Und ob er dadurch sicherer würde,<br />
ist auch unklar.
Unterwegs im Akustikbrei<br />
Kann man als Blinder den Stern umrunden?<br />
Wir probieren es aus, mit Joachim Steinbrück,<br />
dem Landesbehindertenbeauftragten<br />
„War doch babyeinfach!“<br />
Mit drei kleinen Kindern um den Stern?<br />
Geht viel besser als mit dem Rad oder dem Auto<br />
ORTSTERMIN | 27<br />
Protokoll: Jan Zier<br />
Text: Philipp Jarke<br />
Treffpunkt: Die Straßenbahnhaltestelle. Joachim<br />
Steinbrück kommt mit seiner Assistentin.<br />
"Früher bin ich öfters hier ausgestiegen, als<br />
das Landesarbeitsgericht noch in dem Eckhaus<br />
saß, wo heute das Buddhistische Zentrum ist. Das<br />
geht noch. Aber sonst würde ich hier nicht alleine<br />
um den Platz laufen, es sei denn in den Verkehrsrandzeiten,<br />
also vielleicht am Sonntagmorgen. Ich<br />
kenne den Stern noch aus den Siebzigern, als ich<br />
hier als Anfänger hinten auf dem Tandem fuhr.<br />
Da war der Stern schon ein Angstraum. Wir gehen<br />
im Uhrzeigersinn um den Platz. Hier fängt es schon<br />
an, der Gleisbereich ist schwer zu erkennen, von<br />
rechts kommen Taxen, aber die müssen ja warten.<br />
Wenn ich in den Bürgerpark will, dann meide ich<br />
den Stern immer. Es fällt mir am Stern schwer, zu<br />
hören, wo die Straßenbahn fährt, wo die Autos herkommen<br />
und hinwollen. Das kann ich hier ganz<br />
schwer einschätzen, das ist alles ein Akustikbrei.<br />
Und die Radfahrer höre ich eh nicht, bis sie an mir<br />
vorbei sausen. Deshalb gehe ich hier auch nicht<br />
entlang, wenn ich nicht unbedingt muss. Was den<br />
Stern betrifft, betreibe ich eine Umgehungsstrategie:<br />
Mir fehlt der Mut, die Grenzen des Machbaren<br />
an diesem Ort auszureizen und entschlossen<br />
alleine die Straße zu überqueren. Wenn ich hier<br />
wohnen würde, dann bräuchte ich auf jeden Fall<br />
nochmal eine Einweisung von einem Orientierungs-<br />
und Mobilitätslehrer. Den Verkehrsplanern<br />
geht es ja vor allem darum, die Autos und die Radfahrer<br />
in dem Kreisel unter einen Hut zu bringen,<br />
Fußgänger spielen da nur eine untergeordnete Rolle.<br />
Es gibt zwar Konzepte für barrierefreie Kreisverkehre,<br />
aber dann bräuchte man Ampeln mit<br />
Blindenakustik und Zebrastreifen – es stellt sich<br />
dann also die Frage, inwieweit man zu Lasten der<br />
Autos in den Verkehrsfluss eingreifen will; Platz<br />
dafür wäre schon genug da."<br />
Was kann der Landesbehindertenbeauftragte hier tun?<br />
"Wenig. Mein schärfstes Schwert ist die Rüge,<br />
verbunden mit der Hoffnung, dass die Politik, die<br />
Medien, die Öffentlichkeit das aufgreift. Die Behindertenverbände<br />
haben zwar ein Verbandsklagerecht,<br />
aber ihnen fehlen meist die personellen und<br />
finanziellen Ressourcen, es zu nutzen. Der Stern<br />
ist aber auch kein Schwerpunkt meiner Arbeit,<br />
weil ich da kaum Beschwerden oder Anfragen bekomme.<br />
Aber vielleicht liegt das auch daran, dass<br />
sich die Leute schon mit der Lage hier abgefunden<br />
haben und der Stern vielen als austherapiert gilt."<br />
Gegen den Uhrzeigersinn wollen wir um den Stern<br />
herum laufen, an der Tankstelle geht es los. Also<br />
zunächst über die Wachmannstraße, da kommt<br />
gleich mal die Straßenbahn und wir haben rot.<br />
Meine Söhne (drei, fünf und sieben Jahre alt) bleiben<br />
stehen, kein Problem. Als die Bahn durch ist,<br />
ruft der Mittlere „Grün!“, stimmt aber gar nicht,<br />
andere Fußgänger von gegenüber waren bloß<br />
schon losgelaufen. Die Ampel geht aus, wir gehen<br />
weiter zur Parkallee. Ein Auto will aus dem Kreisel<br />
herausfahren, bremst aber früh und lässt uns<br />
über die Straße gehen. Da biegt ein Rettungswagen<br />
mit Blaulicht und Martinshorn aus der Hollerallee<br />
in den Stern und fährt schnell durch Richtung<br />
Krankenhaus. Der Mittlere und der Älteste diskutieren<br />
aufgeregt, was da wohl passiert sein mag,<br />
der Jüngste fängt an zu heulen – weil er nicht zu<br />
Wort kommt. Weiter geht es über die Holleralle, die<br />
Kinder haben nur Augen für die Autos und laufen,<br />
ohne sich umzuschauen, über die Radwege – nicht<br />
so gut, Jungs, da müsst ihr auch drauf achten! Das<br />
nächste Auto lässt uns wieder durch, danke, an der<br />
Parkallee Richtung Viertel das gleiche. Wo kommt<br />
denn diese Rücksicht her? Haben die Autofahrer<br />
Mitleid mit uns, weil wir bei vier Grad und Regen<br />
um den Stern stapfen? Aber da, – fast bin ich versucht<br />
zu sagen: endlich! – an der Hollerallee Richtung<br />
Schwachhauser Heerstraße stehen wir schon<br />
mit der Schuhspitze auf der Straße, als ein rechtsabbiegendes<br />
Auto doch noch vor uns durchfährt.<br />
Aufgepasst, Jungs: Nie einfach loslaufen, immer<br />
Blickkontakt zum Autofahrer suchen. „Na, klar,<br />
Papa.“ Dann sind wir schon rum um den Stern,<br />
fünfeinhalb Minuten hat es gedauert. Und, wie<br />
war das, Jungs? „Das war babyeinfach!“ Stimmt<br />
schon. Aber allein würde ich meine Söhne trotzdem<br />
nicht um den Stern laufen lassen.<br />
Jan Zier fährt weder mit dem Automobil<br />
noch mit dem Fahrrad gern über den<br />
Stern.<br />
Philipp Jarke mag den Stern, weil es dort<br />
keine Ampeln gibt.<br />
Norbert Schmacke war überrascht, wie<br />
rücksichtsvoll alle VerkehrsteilnehmerInnen<br />
miteinander umgegangen sind.<br />
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Die Macht der Gewöhnung<br />
Nach anfänglichen Protesten akzeptieren die<br />
Schwachhauser heute die Unterkunft für Geflüchtete<br />
Text: Eva Przybyla<br />
Fotos: Lena Möhler<br />
Rund 70 Menschen aus Afghanistan, Syrien und dem Iran leben nun in der Gabriel-Seidl-Straße.<br />
Am Anfang war die Angst vor den Flüchtlingen<br />
groß.<br />
Rückblende: Wir schreiben das 2013 und der<br />
Bremer Senat sucht händeringend nach Wohnraum.<br />
In Schwachhausen wird eine zweite Flüchtlingsunterkunft<br />
geplant, über 1.000 Menschen<br />
flüchten allein in diesem Jahr nach Bremen. 2016<br />
werden es sogar 3.185 sein.<br />
Doch so einfach ist das in Schwachhausen nicht.<br />
Die grüne Beiratssprecherin Barbara Schneider erinnert<br />
sich, dass einige AnwohnerInnen vorschlugen,<br />
neue Flüchtlingsunterkünfte doch lieber in<br />
Tenever einzurichten. Weil dort die Nachbarn doch<br />
auch Arabisch sprächen. Als im Dezember 2013 die<br />
erste Einwohnerversammlung einberufen wird,<br />
stellen sich die StadtteilpolitikerInnen schon auf<br />
die alten, vorurteilsdurchtränkten Argumente ein.<br />
Und die kommen auch: „Es ist oft nur eine Frage<br />
von Minuten, bis die ersten Ängste wegen Lärm,<br />
Dreck und Kriminalität durch die Flüchtlinge ausgesprochen<br />
werden“, sagt Schneider. Die entkräftet<br />
sie mit Fakten: Die Bremer Polizei verzeichnet<br />
rund um Flüchtlingsunterkünfte keinen Anstieg<br />
von Kriminalität. Ebenso wenig käme es vermehrt<br />
zu Ruhestörungen. Die Mehrheit der gut 60 AnwohnerInnen<br />
scheint diese Sorgen nicht zu teilen:<br />
Viele wollen sich ehrenamtlich engagieren und<br />
helfen. Andere stören sich an der Größe der neuen<br />
Flüchtlingsunterkunft in der Gabriel-Seidl-Straße.<br />
Einst lebten in dem nunmehr leerstehenden<br />
Heim rund 20 SeniorInnen. Nun sollten bis zu 90<br />
Geflüchtete dort einziehen, in abgetrennten Wohnungen<br />
mit eigenen Küchen und Bädern. Ein Luxus<br />
für die Geflüchteten: „Normalerweise gibt es in<br />
solchen Wohnheimen nur Gemeinschaftsduschen<br />
und geteilte Küchen“, sagt Schneider. Doch die<br />
schiere Zahl der Neu-BürgerInnen ist für einige<br />
SchwachhauserInnen unvorstellbar.<br />
Einige AnwohnerInnen der Gabriel-Seidl-Straße<br />
gehen nach der Versammlung wütend nach<br />
Hause. Eine Woche später äußern sie im Stadtteilparlament<br />
erneut ihre Bedenken. Es geht ihnen<br />
um Feuerschutz, Fahrradständer und Fluchtwege.<br />
Das ehemalige Seniorenheim könnte für 70 Geflüchtete<br />
zu klein sein, befürchten sie. Der damalige<br />
Sozial-Staatsrat Horst Frehe von den Grünen<br />
versichert, dass die Landesbauverordnung natürlich<br />
eingehalten werde. Am Ende beschließt der<br />
Beirat einstimmig, dass das Heim kommen wird.<br />
Gerade das bringt die skeptischen AnwohnerInnen<br />
in Rage. Dem Weser-Kurier sagen sie später, man<br />
habe ihre Bedenken nicht ernst genommen.<br />
In einem offenen Brief verlangen sie, dass<br />
maximal 30 bis 40 Flüchtlinge in dem Heim untergebracht<br />
werden. Dabei berufen sie sich auf<br />
die Genfer Flüchtlingskonvention, die eine menschenwürdige<br />
Unterbringung von Geflüchteten<br />
vorschreibt. Die AnwohnerInnen unterschreiben<br />
den Brief, jedoch nur handschriftlich. Für Barbara<br />
Schneider ist das „anonym“. Und mit anonymen<br />
Menschen „rede ich nicht“, sagt sie. Schneider antwortet<br />
mit einem offenen Schreiben, weist darauf<br />
hin, dass über Flüchtlingsheime keine Anwohner-<br />
Innen entscheiden, sondern gewählte VertreterInnen<br />
wie sie. „Würden wir basisdemokratisch vorgehen,<br />
könnten wir alle Unterkünfte zumachen“,<br />
sagt sie. „Die Bedenken waren nur ein Feigenblatt<br />
für die Haltung: Wir wollen keine Flüchtlinge haben!“,<br />
kritisiert die Grünen-Politikerin.<br />
Im Weser-Kurier erscheint dazu ein Kommentar,<br />
der eine ähnliche Meinung vertritt wie zuvor<br />
Barbara Schneider. Als der Beirat ihn in seinem<br />
Schaukasten aushängt, wird er über Wochen hinweg<br />
mit dem offenen Brief der AnwohnerInnen<br />
überklebt. Auch wir haben mit einem der AnwohnerInnen<br />
gesprochen, der an den Protesten beteiligt<br />
war. Leider mussten wir seine Aussagen aus<br />
diesem Text entfernen: Er entsprach nicht seinen<br />
Erwartungen; der Mann drohte uns mit rechtlichen<br />
Schritten, wenn wir seine Aussagen veröffentlichen<br />
würden.<br />
Irgendwann wurde es ruhiger um die Flüchtlingsunterkunft,<br />
die nach über zwei Jahren endlich<br />
von Geflüchteten bezogen werden konnte. Erst<br />
im April 2016 zogen 70 Geflüchtete ein, Alleinstehende<br />
und Familien aus Afghanistan, Syrien<br />
oder dem Iran. Die Arbeiterwohlfahrt betreut das<br />
Übergangswohnheim, dessen Leiterin Franziska<br />
Görlich ist. Sie ist auch Ansprechpartnerin, wenn<br />
Probleme auftreten. Es wird sogar eigens eine Hotline<br />
eingerichtet. Doch das Telefon klingelt sehr<br />
selten. Sie erlebe bisher nur positiv eingestellte<br />
und aufgeschlossene NachbarInnen, sagt Görlich.<br />
Auch an den weiteren runden Tischen bleibt es<br />
ruhig, berichtet die grüne Ortsamtsleiterin Karen<br />
Mathes. Zwei der von uns befragten BewohnerInnen<br />
des Heims halten die Daumen nach oben, als<br />
sie nach den NachbarInnen gefragt werden. Eine<br />
Bewohnerin sagt, sie seien nett.<br />
Und die SkeptikerInnen? Bei den runden Tischen<br />
blieben sie stumm, sagt Schneider. Es ist ganz so,<br />
wie sie es auch von anderen Heimen kennt: „Die<br />
praktische Erfahrung und Begegnung mit Flüchtlingen<br />
beseitigt alle Ängste.“ Auch Franziska Görlich<br />
ist zufrieden: „Für Flüchtlinge bieten Ausstattung<br />
und Lage der Unterkunft mit die besten<br />
Bedingungen in ganz Bremen.“<br />
Eva Przybyla studiert Komplexes Entscheiden<br />
und hat sehr viel Zeit in diesen<br />
Artikel gesteckt.<br />
Lena Möhler ist freie Fotografin und empfand<br />
die Stimmung im Wohnheim als angespannt.
30 | GESPRÄCH<br />
„Das ist oft<br />
berührend“<br />
Ein Gespräch mit Petra Kettler,<br />
der neuen Vertriebskoordinatorin<br />
der Zeitschrift der Straße<br />
Wie sahen deine ersten Tage als Vertriebskoordinatorin<br />
aus? Ich habe vor allem viel mit den ehrenamtlichen<br />
Kolleginnen und Kollegen gesprochen.<br />
Wir haben Verbesserungsvorschläge gesammelt<br />
und Dinge angesprochen, die bei der Arbeit stören.<br />
Da konnte ich einiges herauslocken, das sie von<br />
sich aus vielleicht nicht gesagt hätten.<br />
Zum Beispiel? Das Büro war manchmal etwas<br />
schmuddelig. Das Reinigungsunternehmen ist nur<br />
für die Fußböden und Toiletten zuständig. Alles<br />
andere müssen wir aber selbst sauber halten. Wenn<br />
man das weiß, wischt man den Kaffeefleck eben<br />
schnell mal weg. Das ist ja nicht weiter schlimm.<br />
Wie erlebst du die Stimmung im Vertriebsteam?<br />
Alle stehen voll hinter dem Projekt! Es ist ja kein<br />
gewöhnliches Ehrenamt: Man hat Kontakt mit<br />
Menschen, mit denen man sonst eher wenig zu tun<br />
hat. Wir schnacken viel mit unseren Verkäufern,<br />
sofern die Sprache das zulässt, und erfahren viel<br />
aus ihrem Leben. Das ist oft berührend.<br />
Was gehst du als nächstes an? Im Büro bin ich dabei,<br />
die Dinge ein wenig zu ordnen – Strukturen zu<br />
schaffen ist nämlich mein Steckenpferd. Bislang<br />
hat jeder im Team die Sachen woanders abgelegt.<br />
Dadurch war es manchmal schwer, Listen oder<br />
Informationsblätter schnell wiederzufinden. Das<br />
wird jetzt etwas systematischer. Dann werde ich<br />
schon bald auf die Straße gehen zu unseren Verkäufern<br />
und Probleme ansprechen und versuchen,<br />
Konflikte zu entschärfen, wenn es welche gibt.<br />
Seit Anfang 2017 koordiniert<br />
Petra Kettler, 57, unser Vertriebsteam,<br />
dem sie seit zwei Jahren angehört.<br />
Fragen: Philipp Jarke<br />
Foto: privat<br />
Gibt es derzeit konkrete Probleme? Wir hören<br />
von ein bisschen Wildwuchs, einige sollen die<br />
Zeitschrift der Straße ohne Ausweis verkaufen. Diejenigen<br />
werde ich ansprechen und ihnen etwas<br />
strenger sagen: So geht es nicht! Ob wir es dadurch<br />
in den Griff kriegen, muss man sehen.<br />
Wie bist du zur Zeitschrift der Straße gekommen?<br />
Als ich 2016 erfuhr, dass ehrenamtliche Helfer für<br />
das Vertriebsteam gesucht wurden, habe ich hier<br />
angefangen und ein, zwei Tage pro Woche die Zeitschriften<br />
an die Verkäufer ausgegeben, mit ihnen<br />
geklönt und so weiter. Das macht mir viel Spaß,<br />
und als dann die bezahlte Stelle ausgeschrieben<br />
wurde, habe ich mich beworben.<br />
Und die Jahre davor? Tja, wo soll ich anfangen?<br />
Die letzten drei Jahre habe ich nicht gearbeitet, davor<br />
war ich fünf Jahre lang Koordinatorin in der<br />
Behindertenhilfe des Martinsclubs. Davor wiederum<br />
habe ich etwas ganz anderes gemacht: Ich war<br />
17 Jahre lang bei einer Bank beschäftigt. Und gelernt<br />
habe ich nach der Schule Zahnarzthelferin –<br />
so kommt man zur Zeitschrift der Straße! Zwischen<br />
meinen beruflichen Stationen habe ich mich viele<br />
Jahre ganz der Familie gewidmet. Länger als ursprünglich<br />
geplant, denn unser Sohn ist im Alter<br />
von vier Jahren schwer erkrankt. Ich habe ihn<br />
dann 17 Jahre lang gepflegt, vor drei Jahren ist er<br />
gestorben. Nach einer Auszeit habe ich mir gesagt:<br />
Jetzt orientiere ich mich noch einmal neu – und<br />
habe die Zeitschrift der Straße gefunden. Das ist genau<br />
das, was ich machen möchte!<br />
Impressum<br />
Herausgeber Verein für Innere Mission in Bremen,<br />
Blumenthalstraße 10, 28209 Bremen<br />
Partner<br />
Hochschule Bremerhaven<br />
Büro<br />
Auf der Brake 10–12, 28195 Bremen,<br />
Mo–Fr 10–16,<br />
Tel. 0421/175 216 27<br />
Kontakt post@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Internet www.zeitschrift-der-strasse.de<br />
Anzeigen Preisliste 07, gültig vom 1.12.2016<br />
Kontakt: Michael Vogel,<br />
anzeigen@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Abo<br />
nur für Firmen, Institutionen und<br />
Nicht-BremerInnen (40 € / 10 Ausgaben):<br />
abo@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Spendenkonto Verein für Innere Mission,<br />
IBAN DE22 2905 0101 0001 0777 00<br />
Sparkasse Bremen<br />
Verwendungszweck (wichtig!): Zeitschrift der Straße<br />
Spenden sind steuerlich absetzbar.<br />
Redaktion<br />
Fotografie<br />
Marketing<br />
Vertrieb<br />
Gesamtleitung<br />
Philipp Jarke, Frauke Kuffel, Elisabeth Nöfer,<br />
Eva Przybyla, Jan Zier<br />
Leitung: Philipp Jarke, Jan Zier<br />
redaktion@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Hartmuth Bendig, Jasmin Bojahr, Benjamin<br />
Eichler, Wolfgang Everding, Lena Möhler, Norbert<br />
Schmacke<br />
Bildredaktion: Jan Zier<br />
Anneke Geller, Janine Hamann,<br />
Pia Homann, Birte Strauss<br />
Leitung: Prof. Dr. Wolfgang Lukas<br />
marketing@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Marie Adenrele, Maria Albers, Ragni Bätzel, Lisa<br />
Bäuml, Angelika Biet, Christian Claus, Eike<br />
Kowalewski, Georg Kruppa, Benjamin Naumann,<br />
Hauke Redemann, Michael Risch, Sonja Schnurre,<br />
Eva Schönberger, Klaus Seeger, Philipp Sieber,<br />
Dorothea Teckemeyer, Diethard von Wehren<br />
sowie viele engagierte VerkäuferInnen<br />
Koordination: Petra Kettler<br />
Leitung: Rüdiger Mantei, Reinhard „Cäsar“ Spöring<br />
vertrieb@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Bertold Reetz, Prof. Dr. Dr. Michael Vogel<br />
Gestaltung Fabian Horst, Janina Freistedt<br />
Ottavo Oblimar, Glen Swart<br />
Lektorat Textgärtnerei, Am Dobben 51, 28203 Bremen<br />
V. i. S. d. P. Philipp Jarke & Jan Zier / Anzeigen: Michael Vogel<br />
Druck<br />
BerlinDruck GmbH + Co KG, Achim<br />
Papier<br />
Circleoffset White,<br />
ausgezeichnet mit dem Blauen<br />
Umweltengel und dem EU-Ecolabel<br />
Erscheint zehnmal jährlich<br />
Auflage 8.000<br />
Gerichtsstand<br />
& Erfüllungsort Bremen<br />
ISSN 2192-7324<br />
Mitglied im International Network of Street Papers (INSP).<br />
Gefördert durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft.<br />
Die Redaktion übernimmt keine Haftung für unverlangt eingesandte<br />
Manuskripte, Fotos und Illustrationen. Die Zeitschrift der Straße und<br />
alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Mit<br />
Ausnahme der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne<br />
Einwilligung des Verlages strafbar. Alle Anbieter von Beiträgen, Fotos<br />
und Illustrationen stimmen der Nutzung in den Ausgaben der<br />
Zeitschrift der Straße im Internet, auf DVD sowie in Datenbanken zu.<br />
Unsere VerkäuferInnen erkennen Sie am Verkäuferausweis.<br />
REIHERSIEDLUNG<br />
Wir begegnen<br />
Freund und Feind<br />
und sprechen jene,<br />
die noch da sind.<br />
Ab 3.4. beim<br />
Straßenverkäufer<br />
Ihres Vertrauens
Für den Preis einer Zigarette pro Tag ...<br />
werden sie mitglied in unserem<br />
FREUNDESKREIS<br />
und unterstützen sie damit<br />
unsere sozial- und bildungsarbeit<br />
die zeitschrift der strasse<br />
ist gut für die gesellschaft<br />
Informationen über die Mitgliedschaft und das Beitrittsformular finden Sie unter<br />
www.zeitschrift-der-strasse.de/fk