Selbstverständlich automatisiert
Gestaltete und gestaltende Gewohnheiten
in der vernetzen Welt
Selbstverständlich automatisiert
Gestaltete und gestaltende Gewohnheiten
in der vernetzen Welt
INHALT
1. Einführung
1.1 Einleitung
1.2 Gewohnheiten in der Neurobiologie – Wieso, weshalb, wofür?
1.3 Gewohnheiten im sozialpsycholgischen Kontext – Schematisierung
2. Produkte
2.1 Gewohnt konsumieren und benutzen
2.2 Bindung und Abhängigkeit
3. Wohnraum
3.1 Das Bedürfnis nach Umweltstabilität
3.2 Entlastungstendenz – Smart Home
4. Raumordnungen und -verständnis
4.1 Raumwahrnehmung in Einheiten
4.2 Übermüdung und Abstumpfung
5. Mobilitätsverhalten
5.1 Globales und lokales Lebensumfeld
5.2 Wege durch die Stadt
5.3 Urbanisierung und Digitalisierung
6. Fazit
6.1 Gestaltete und gestaltende Gewohnheiten
6.2 Die Ablösung von Gewohnheiten
1. Einführung
1.1 Einleitung
Welche Bedeutung haben Gewohnheiten für die Gestaltung? Ein
Buch, das ich las, welches den schönen Titel „Nichtstun. Eine Kulturanalyse
des Ereignislosen und Flüchtigen“ trägt, brachte mich
auf diese Frage. Ein Kapitel behandelt unterschiedliche Aspekte von
Routinen. Es geht um Ordnung, Berechenbarkeit und Kontrolle. Es
geht um das Wohlfühlen und Vertrauen, das Aneignen neuer Umgebungen
und auch um Abhängigkeiten. Bei allem spielen Routinen
und Gewohnheiten eine große Rolle. Und in allem sind Produkte
oder Objekte Einflussfaktoren oder gar Ursachen. Außerdem wurde
thematisiert, dass Gewohnheiten auch beeinflussen, wie wir unsere
Umgebung wahrnehmen, wonach wir Orte absuchen und was wir in
Umgebungen sehen oder übersehen. Somit stellte sich mir die Frage,
wie bedeutend die Tatsache, dass wir Gewohnheiten ausbilden,
eigentlich für das Gestalten von Objekten ist und wie sehr wir als
Designer Gewohnheiten der Nutzer berücksichtigen sollten. Dass
die Frage aber andersherum gestellt mindestens genauso interessant
ist, wurde mir erst im Verlauf dieser Arbeit klar. Wenn man nämlich
danach fragt, welche Bedeutung Gestaltung für Gewohnheiten hat.
Bevor ich zu Antworten auf diese Fragen kam, bin ich einen Weg über
verschiedene Themenbereiche der Gestaltung gegangen. Ich habe in
meiner Arbeit zuerst den Bezug von Gewohnheiten zu Produkten
gesucht, da dieser der Ausgangspunkt meines Interesses war. Schritt
für Schritt herausgezoomt, führte mich dieser zur Raumnutzung,
da wir Räume mit Produkten bestücken und nutzen. Von dort aus
den Blick noch mehr geweitet, geht es um Raumwahrnehmung und
schließlich um unsere Bewegung im Raum. Um trotz dieser ausgeweiteten
Betrachtung einer Logik folgen und aufeinander aufbauen
zu können, habe ich meine Gedankengänge und Argumentationen
hauptsächlich auf den modernen Stadtraum und Stadtmenschen
bezogen. Die Stadt spiegelt besonders die aktuellen Fortschritte der
Entwicklung wieder, vor allem, wenn es um gesellschaftliche oder
technologische Veränderungen geht. Und da die Digitalisierung als
gewohnheitsverändernder Faktor meiner Meinung nach in diesem
Kontext sehr betrachtenswert ist, eignet er sich für sehr dafür, im
Hinblick auf Gewohnheiten untersucht zu werden.
Im Folgenden geht es nach einem aufklärenden Teil über Gewohnheitsbildung
generell (neurobiologisch und sozialpsychologisch)
zuerst um die unterschiedlichen Zusammenhänge mit Produkten
und dessen Vermarktung. Das Thema Wohnung als Privatraum
voller individueller Alltagsroutinen bildet dann den Übergang zur
Raumwahrnehmung und diese schließlich zur Raumnutzung und
Bewegung im Raum. In jedem Kapitel wird auch, mal mehr und
mal weniger intensiv, der Einfluss der Digitalisierung thematisiert.
Abschließend im Fazit, die wichtigsten Erkenntnisse zusammenführend,
formuliere ich meine Überlegungen zu Gewohnheiten als
immaterielle Produkte und der Frage danach, ob Gewohnheiten mit
der Verbreitung digitaler Assistenzsysteme verschwinden werden.
1.2 Gewohnheiten in der Neurobiologie – Wie, weshalb, wofür?
Gewohnheiten erleichtern unser Leben. In komplexen, unruhigen
und aufgeregten Umgebungen ermöglichen sie es vielleicht sogar
überhaupt. Mit ihnen sparen wir Zeit und Energie. Wir reduzieren
Fehler und können mehrere Dinge gleichzeitig tun, sind effektiver
und unaufgeregter. Gewohnheiten geben uns Sicherheit. Aber wie
eigentlich?
Jedem ist vermutlich bekannt, dass man etwas, das man sich angewöhnt
hat, zuvor häufig wiederholt hat. Man tut etwas, weil man
es immer so tut. Man denkt nicht mehr darüber nach, weil man es
schon so oft gemacht hat. Und manchmal tut man es sogar, ohne es
selbst wirklich zu merken. Nun mag man vermuten, Gewohnheiten
seien etwas, woran wir uns erinnern, sodass wir es einfach wieder
abrufen und abspielen können. Gewohnheiten sind allerdings woanders
verortet als bloße Erinnerungen. Man kann gewohnte Tätigkeiten
ausführen oder gewohnte Wege gehen, ohne sich an den
Weg an sich oder die Handlungsabfolge zu erinnern. Das fanden
Forscher anfang der neunziger Jahre durch einen Patienten heraus,
dessen Hirnregion, die für die Erinnerung zuständig ist, durch einen
Virus so stark beschädigt wurde, dass der Mann nicht mehr in der
Lage war, sich an Dinge, Tätigkeiten oder Menschen zu erinnern.
Sein Kurzzeitgedächtnis funktionierte nicht mehr. Wiederholungen
von gegangenen Wegen oder Alltagstätigkeiten führten aber dazu,
dass er diese unbewusst gehen, bzw durchführen konnte, ohne sich
direkt daran zu erinnern, wo er lang gehen musste oder wie er etwas
tut. Er konnte keinen Weg beschreiben, sich nicht an zu erledigende
Aufgaben erinnern. Aber die Gewohnheit machte es dennoch möglich.
1
Wie entstehen neuronal also Gewohnheiten, wenn sie nicht auf die
normale Erinnerung gestützt sind? Dies lies sich herausfinden, indem
man Gehirnaktivitäten in verschiedenen Hirnregionen maß
1 Vgl. Charles Duhigg, Die Macht der Gewohnheit. Warum wir tun,
was wir tun, Berlin 2012, S. 38
und diese miteinander verglich und analysierte und zwar zum einen
in neuen, unbekannten Situationen, zum anderen in bekannten
Situationen. Was sich hier zeigt, ist auch der Grund dafür, dass
es Gewohnheiten gibt und verdeutlicht, weshalb sie so wichtig und
sinnvoll sind: Wenn uns unbekannte Orte, Gegenstände oder Situationen
begegnen, ist das Hirn höchst aktiv und steuert Tätigkeiten
zur Wahrnehmung und Verarbeitung der neuen Eindrücke. Bei
Wiederholung nimmt diese Aktivität nach und nach ab, sodass man
irgendwann kaum noch aktiv denken muss, um Handlungen auszuführen.
Die Basalganglien (zuständig für Motorik und motorisches
Gedächtnis) übernehmen das Kommando, während das Gehirn weniger
arbeitet, wodurch mentale Kapazitäten frei werden – für andere
Gedanken und Problemlösungen. Das Gehirn sucht nach Wegen,
sich weniger anzustrengen. Also
wandelt es Routinen in Gewohnheiten
um. Grundlage hierfür ist
das „Chunking“ (Portionierung).
Das ist der Prozess, bei dem das
„Routine“ kommt aus dem Französischen
und bedeutet Wegerfahrung. 3
Wir bewegen uns also wiederholt in
uns bekannten Spuren.
Gehirn beginnt, eine Folge von Handlungen routiniert durchzuführen
und sie in eine automatische Routine verwandelt, die zukünftig
identifiziert wird und im Gehirn abgespeichert ist. 2
Risiken birgt dieses Einsparen mentaler Anstrengung jedoch auch:
Wir können im falschen Moment Wichtiges übersehen oder (gewohnheitsgemäß)
falsche Prozesse abspielen, wenn diese ausnahmsweise
mal nicht die richtigen sind. Daher ist ein raffiniertes
System nötig, das darüber entscheidet, wann Gewohnheiten (die
Basalganglien) das Kommando übernehmen und wann nicht. Diese
Entscheidung findet am Anfang eines Verhaltenselementes statt,
wo es einen Auslösereiz gibt. Hier wird die mit dem Reiz verknüpfte
Gewohnheit ausgewählt und aktiviert, sodass die entsprechende
körperliche/mentale/emotionale Routine greift. 3 Am Ende entscheidet
die eintretende oder ausbleibende Belohnung darüber, ob diese
Schleife gemerkt werden soll. Mit mehr Wiederholungen verschrän-
2 Vgl. ebd., S.39
3 DUDEN, URL: http://www.duden.de/rechtschreibung/Routine
(Stand:10.10.2016)
ken sich der Auslösereiz und die Belohnung immer mehr. 4 Und
schließlich kann eine verfestigte Gewohnheit auch zum Bedürfnis
werden, womit sie klar erkennbar einen wichtigen Bestandteil des
Designs darstellt, nämlich wenn Gestalter sich bemühen, Nutzerbedürfnisse
zu bedienen oder gar zu erzeugen.
Wenn Gewohnheiten entstehen, hört das Gehirn der Person auf,
sich mit vollem Einsatz an der Entscheidungsfindung zu beteiligen.
Sie sind nach ihrer Entstehung
in die Strukturen des
Zusammengefasst kann Gewohnheit
definiert werden als die Tendenz,
das gleiche Verhalten unter
Gehirns eingeschrieben und
verschwinden nicht. Wenn eine
stabilen, unterstützenden Bedingungen
zu wiederholen. Das Ver-
soll, müssen die Auslösereize mit
Gewohnheit sich also ändern
halten erfolgt dann automatisch, neuen Routinen verknüpft werden.
Andersherum sind sie aber
unbewusst und schnell, mit minimiertem
kognitiven Aufwand. Und auch störanfällig, wenn z.B. der
es kann gleichzeitig mit anderen Auslösereiz sich minimal verändert.
56 Wir alle kennen die Re-
Aktivitäten ausgeführt werden.
dewendung von der „Macht der
Das hat im Alltag große Vorteile
Gewohnheit“ und dabei kann es
und daher Verstärkungswert. 6
sich nicht nur um das Verhalten
sondern auch um das Denken, Fühlen oder Entscheiden drehen.
Gefühlsgewohnheiten sorgen für die Tendenz, in einer bestimmten
Situation mit dem gleichen Gefühl zu reagieren, z.B. wenn man immer
schnell verärgert ist, wenn man einige Minuten auf jemanden
warten muss. Denkgewohnheiten spiegeln Einstellungen und Werte
wider: ab wann erklärt man jemanden für unzuverlässig, klug oder
bescheiden, was ist moralisch richtig oder falsch? Verhaltensgewohnheiten
sind etwa die Art und Weise, wie man sein Frühstück
zubereitet, wo man seinen Schlüssel immer ablegt und welche Strecke
man bei täglichen Wegen geht. 7 Mögliche Trigger, also Auslöser
4 Vgl. Duhigg, Die Macht der Gewohnheit, S. 40-41
5 Vgl. Ebd., S. 47
6 Bernhard Schlag, Jens Schade, „Psychologie des Mobilitätsverhaltens“
(05.07.2007), URL: http://www.bpb.de/apuz/30357/psychologie-des-mobilitaetsverhaltens?p=all
(Stand 11.10.2016)
7 Vgl. Fanny Jiménez, „Warum unser Gehirn Gewohnheiten liebt“
für solche Gewohnheiten, können
Handlungen (z.B. Warten), Umgebungen
(z.B. die eigene Wohnung),
Objekte/Produkte (z.B. das
Smartphone) aber auch Gerüche,
Emotionen, Gedankenabfolgen,
Tageszeiten oder auch die Anwesenheit
bestimmter Personen sein.
Die Zeitspanne der Gewohnheitsentstehung ist dabei abhängig von
der Komplexität, Wichtigkeit, Frequenz und Nützlichkeit (1). Auch
Logos, Zeichen oder Ladeneinrichtungen (gestaltete Umgebungen)
können Auslösereize sein für den Kauf von Produkten, für das Konsumieren
oder jegliche andere Verhaltensweisen. 8
Wenn sich eine Gewohnheit verstärkt, wird die Belohnung bereits
erwartet, sobald der Auslösereiz wahrgenommen wird. So rückt diese
Belohnung (als Reaktion im Gehirn) dichter an den Auslösereiz.
Diese Antizipation, also die Tatsache, dass das Gehirn durch ein
Verlangen, was aus der Erfahrung entsteht, die Belohnung bereits
erwartet, macht Gewohnheiten unheimlich mächtig und resistent
gegen Ablenkung. Ändern kann man sie am leichtesten, wenn man
den gleichen Auslösereiz und auch eine vergleichbare oder die gleiche
Belohnung beibehält und nur die Routine dazwischen ändert. 9
1
Frequenz
wenig viel
wenig
Gewohnheits-
Zone
Nützlichkeit
viel
(31.03.2012), URL: http://www.morgenpost.de/web-wissen/gesundheit/article106142848/Warum-unser-Gehirn-Gewohnheiten-liebt.
html (Stand: 10.10.2016)
8 Vgl. Nir Eyal, Hooked. How to build habit-forming products, London
2014, S. 30
9 Vgl. Duhigg, Macht der Gewohnheit, S.46-47
1.3 Gewohnheiten im sozialpsycholgischen Kontext – Schematisierung
Warum wir welche Gewohnheiten haben, vor allem solche, die das
Denken betreffen oder einer gewissen Geisteshaltung entspringen,
lässt sich nur biologisch nicht ausreichend erklären. Sehr viel komplexer
erscheint die Antwort auf diese Frage, wenn man sie sozialpsychologisch
herleitet und auf die heutige Zeit bezieht. Im Folgenden
nehme ich hierfür Bezug auf Arnold Gehlen, der sich u.a. mit
der Seele im technischen Zeitalter befasst: Da unser Handeln sich
nach unseren Gedanken und Urteilsgängen, sowie nach Wertgefühlen
und Entscheidungsprozessen richtet, sind die Schemen, also
die habituell gewordenen Verhaltensfiguren, denen diese unterliegen,
besonders relevant. In allem finden wir Automatisierungen. So
richtig verstehen kann man diese vom Individuellen einer Person
her allerdings nur unzureichend, dafür aber umso mehr, wenn man
deren Rolle im sozialen Zusammenhang betrachtet. 10 Diese Tatsache
ist äußerst interessant, denn sie zeigt auf, dass der Designer, der
nicht für ein einzelnes Individuum gestaltet sondern meist für eine
größere Zielgruppe, durchaus in der Lage ist, gewisse Gewohnheiten
des Denkens, Urteilens und Bewertens zu erfassen, um sie in
der Konzeption und Gestaltung zu berücksichtigen. Schließlich beeinflussen
diese Verhaltensschemen das Handeln und begünstigen
oder behindern auch Gewohnheitsbildungen des Handelns.
Um eine Vorstellung dieser Zusammenhänge zu bekommen, nennt
Gehlen das Beispiel eines Mechanikers: Er geht gewohnheitsgemäß
zur Arbeit, die für ihn sowohl Pflicht wie auch Neigung ist und an
der die Gesellschaft ein Interesse hat. Auf diese Ausübung der Tätigkeit
stützt sich sein Ansehen und darauf wiederum seine Selbstachtung.
Qualtitätsansprüche sind mehr durch Ansprüche und
Erwartungen von außen bestimmt, als von ihm selbst. Als Entlastungsleistung
sind auch die zu unserer Arbeit nötigen Bewusstseinsfunktionen
habitualisiert. Wir bilden feine Assoziationen mit einer
10 Vgl. Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische
Probleme in der industriellen Gesellschaft, Frankfurt am
Main 2007, S. 116 Im Folgenden im Text zitiert als STZ
„differenzierten Skala verfügbarer Denkschemata“ (STZ117) aus. Für
alle möglichen Fälle entwickeln wir gewohnte Abläufe, Routinen,
die letztendlich unser Können für die Gesellschaft darstellen. Im Bereich
der intellektuellen Arbeit wird dies besonders deutlich, wenn
die anfängliche Aufmerksamkeit verfliegt und durch Assoziationen
und Denkschemata abgelöst wird. Durch diese Versachlichung der
Automatisierung erlangen wir eine hohe Kritikfestigkeit in dem, was
wir tun und Gewohnheiten werden unheimlich stabil und schwer
auflösbar. Im Bezug auf unsere Gesellschaft kann man ihnen durchaus
die Bedeutung des „Sozialzements“ (STZ 118) zuweisen, denn das
Soziale ist es auch, was sie stützt
– sofern sie sich gesellschaftlich „Tief verankerte Gewohnheiten entziehen
sich unserem Blick oft bis
„richtig“ und ohne Reibung einpassen
zumindest. 12 „Es geht um zur Unsichtbarkeit und werden als
die innerhalb der verschiedenen etwas Gegebenes naturalisiert.“ 11
sozialen Bezugssysteme jeweils
sachlich entsprechende und damit um die im Sinne der bestehenden
Gesellschaftsordnung und Pflichtenverteilung, die als stabil vorausgesetzt
werden, nützlichste Qualität habitueller Einstellungen.[...]
Innerhalb dieses Systems [...] verschwindet zwar das Charakteristische
einer Persönlichkeit einigermaßen, aber der Mensch erscheint
als optimal angepaßt an die Vielheit und Verschiedenheit der Koordinaten
des Sozialsystems.“ (STZ 119) Der Mensch wird in der heutigen
Gesellschaft zum Funktionsträger. Gewohnheiten entsprechend
der Konventionen auszubilden, ist also eine Anpassung, die Stabilität
schafft und folglich auch Rückhalt durch das System bietet.
Spannend in diesem Kontext ist für den Designer meiner Meinung
nach, dass er bei seinen Ideen und Entwürfen stets zwischen den
Stühlen steht: Er muss sich den gesellschaftlichen Ansprüchen und
Erwartungen fügen, muss aufgrund der heutigen hochgradigen Arbeitsteilung
berechenbar handeln und in die Struktur passen, soll
aber andererseits auch Innovatives, Neues schaffen. Im Neuen und
Anderen liegt die Faszination und Begeisterung, das Ausbrechen aus
Gewohnheiten und der Monotonie. Aber fern ab des Gewohnten tun
11 Billy Ehn, Orvar Löfgren, Nichtstun. Eine Kulturanalyse des Ereignislosen
und Flüchtigen, Hamburg 2012, S.109
12 Vgl. ebd., S. 116-119
sich Angriffsflächen auf. Die Kritikfestigkeit schwindet, weil die Automatismen
des Denkens und Handelns nicht greifen und sich das
Neue nicht problemlos in die vorhandene Struktur einfügen lässt.
Aber auch bei der Arbeit des Designers an sich, bei Entwurfsprozessen,
sind Schemen und Automatismen nicht immer eine Stütze. Sie
können hier dazu führen, nicht aus den gewohnten Denkmustern
ausbrechen zu können, wenn dies gefragt ist. Eine spezielle Herausforderung
an den Designer und damit aber gleichzeitig auch eine
seiner größten Fähigkeiten (wenn er es schafft) mag also sicher ein
bewussterer Umgang mit den unbewussten Gewohnheiten, die seine
Tätigkeit betreffen, sein. Er muss Gewohnheiten ausbilden, die
sein „Können“ darstellen und muss dennoch an bestimmten Punkten
habituierte Denkformen ausschalten können. Jedoch hat der Designer
eine Rolle in einer Apparatur, die dank unzähliger Automatismen
gefestigt ist. Und noch dazu ist er neben seinem Beruf noch
Privatperson, die wiederum auch den beschriebenen gesellschaftlichen
Einflüssen unterliegt, die ihm habituierende Gesinnungen und
Denkfiguren beibringen.
1.4 Gewohnheiten im sozialpsycholgischen Kontext – Institutionen
Betrachtet man unsere Gesellschaft, so scheinen Berufstätige heutzutage
die Automatisierung ihrer Arbeit zu erkennen oder zumindest
zu empfinden, weshalb sich eine Verschiebung der Persönlichkeitsauslebung
und des Lebensgehalts auf die Freizeit entwickelt
hat. 13 Doch wer glaubt, dass Freizeit und die darin enthaltenen
kulturellen Inhalte von Gewohnheiten und Schematisierungen frei
sind, der irrt. Denn auch hier lassen sich weitere Einflüsse von außen
erkennen, die in Form von Institutionen auf uns habitualisierend
13 Vgl. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 123-124
wirken. Für diese Erläuterung stütze ich mich hauptsächlich auf die
Institutionstheorie Arnold Gehlens.
Der Mensch kann physisch bedingt (im Gegensatz zum Tier) nicht
in der rohen Natur leben. Er verhält sich nicht (bloßes Reagieren auf
Reize), sondern handelt bewusst und zweckgebunden. Er verändert
die ihn umgebende Natur zu seinem Zweck, um seine eigenen Mängel
zu kompensieren. Nur so ist er lebensfähig. Das, was er sich wie
sein Nest in der Welt erbaut, bezeichnen wir als Kultur, womit wir
als Mensch von Natur aus ein Kulturwesen darstellen. Produkte, sowohl
physische, als auch vermehrt digitale, sind wichtiger Bestandteil
dabei und werden als Werkzeug für die Erbauung genutzt. Diese
Kulturwelt ist ein Ort der Entwicklung von verschiedensten Institutionen.
14 Mit ihr schaffen wir uns einen „kompensatorischen Instinktersatz,
der die innere biologische Führung des Menschen durch
äußere soziale ersetzt.“ 15 Unsere Handlungen nehmen normierte
und normierende Strukturen an, wodurch sie uns Halt geben. Sie
sind stabil gegenüber spontanen Bedürfnissen, verinnerlichen sich
als automatisierte Gewohnheiten und wirken als Regulierungen und
Vorgaben. Solche gewohnten, erlernten und normierenden Handlungen
werden durch daraus hervorgehende Institutionen verfestigt
und verselbstständigen sich. 13
14 Vgl. Stefan Wagner, „Freiheit und Entfremdung in Arnold Gehlens
Institutionentheorie“ (2011), URL: http://www.grin.com/de/ebook/174493/freiheit-und-entfremdung-in-arnold-gehlens-institutionentheorie
Stand (11.10.2016)
15 Jost Bauch, „Vom Eigensinn der der Realitäten“ (2007), URL:
http://www.jf-archiv.de/archiv06/200605012747.htm (Stand:
11.10.2016)
2. Produkte
2.1 Gewohnt konsumieren und benutzen
Nutzungs- und Konsumgewohnheiten, Tagesabläufe, Arbeitsweisen
– Gewohnheiten haben sehr unterschiedliche Bedeutungen, wenn es
um Produkte geht. Solche Produkte beispielsweise, die konsumiert
werden, sind häufig gar abhängig von Gewohnheiten, damit sie sich
regelmäßig und auf lange Sicht verkaufen. Vorteilhaft ist es daher,
wenn das Produkt einen Auslösereiz nutzt, der am besten täglich
und bei möglichst jedem vorkommt. Als beispielsweise die Zahnpasta
Pepsodent auf den Markt gebracht wurde und es diese Art der
Zahnreinigung noch nicht all zu lange gab, konnte das Produkt nur
erfolgreich werden, weil es einen Auslösereiz gab, den jeder täglich
hatte (einen „Zahnfilm“ auf den Zähnen) und weil die Belohnung
ein Verlangen stillte (weißere Zähne, Schönheit). Dieses Versprechen
funktionierte in der Werbung. Noch dazu wurde es spürbar:
Nach dem Zähneputzen fühlten die Leute ein leichtes, frisches
Prickeln im Mund, wodurch ein Effekt gegeben war, der vielleicht
die eigentliche Belohnung war und zur Wiederholung motivierte.
Verlangen sind der Antrieb von Gewohnheiten. 16 Dazu muss auch
der Auslösereiz deutlich wahrnehmbar sein und darf nicht von ähnlichen
Reizen umgeben sein, die sich dann gegenseitig schwächen,
da sie nicht eindeutig identifiziert werden, bzw. in Konkurrenz stehen.
Ein anderes Beispiel ist das Scheitern eines Produktes, weil der Auslösereiz
theoretisch zwar gegeben war, praktisch jedoch nicht wahrgenommen
wurde, weil Menschen sich so an ihn gewöhnt hatten,
dass er dann doch wieder keinen Reiz darstellte. Es handelt sich bei
diesem Beispiel um das Spray Febreze, welches unangenehme Ge-
16 Vgl. Duhigg, Die Macht der Gewohnheit, S. 59
2
rüche binden und somit entfernen konnte. Zwar gibt es viele Menschen,
die im eigenen Haus oder anderswo von schlechten Gerüchen
umgeben sind, jedoch haben sie sich durch diese dauerhafte „Belastung“
daran gewöhnt und riechen es selbst nicht mehr. Also stellt der
Geruch auch keinen Auslösereiz dar, der zum Kauf eines Produktes
bewegt, welches das eben nicht wahrgenommene Problem behebt. Somit
wird die Lösung des Problems auch nicht wertgeschätzt. Gewöhnungen
schwächen also Auslösereize. Und Menschen entwickeln
kein Verlangen nach „Geruchslosigkeit“. Erfolgreich werden konnte
Febreze trotzdem noch, indem es nach dieser Erkenntnis schließlich
eine andere Belohnung versprach, sich anders in der Werbung
verkaufte. Hier war die erfolgreiche Belohnung eher emotionaler
Herkunft. Leute (vor allem Frauen)
fanden Gefallen an einer Art Geste
nach dem Putzen. Sie sprühen
als „finish“ das Febreze Spray auf
Möbel, Gardinen oder auch in den
Raum, riechen die „Frische“ und bekommen
dadurch eine Belohnung
für die Putzarbeit (2). Sie riechen,
was sie getan haben, was ein sehr positives Gefühl ist, das ein Verlangen
erzeugt. Geruchslosigkeit, erweitert um einen Frischedurft,
erleichterte die Gewohnheitsbildung für die Produktnutzung. 17
Wenn wir als Designer neue Produkte etablieren wollen, die einer
Gewohnheit bedürfen, dann müssen wir ein mögliches Verlangen
erzeugen und verstehen, was die Belohnung der Nutzung sein kann,
auch jenseits der eigentlichen Problemlösung, die zwar vielleicht
den eigentlichen Sinn des Produktes ausmacht, aber auf menschlicher
Ebene nicht das ist, was diesen anspricht und begeistert. Eine
neue Belohnung ist oft wirkungsvoller als die Lösung eines Problems,
wenngleich die Lösung des Problems das eigentlich bedeutsame
Ziel ist. 18 Wenn nun aber die Nutzung eines Produktes ein Problem
lösen kann, was häufiger auftaucht, sorgt die Gewöhnung an
diese Nutzung dafür, dass dem Nutzer bei ähnlichen Problemen stets
17 Vgl. ebd., S.68
18 Vgl. Duhigg, Die Macht der Gewohnheit, S. 84
dieses Produkt als erste Lösung einfällt. 19 Deshalb googeln wir alles.
Deshalb fällt uns nicht sofort ein, wie wir den Weg ohne Navigationssystem
finden können. Manche Produkte oder Services funktionieren
sogar nur bei regelmäßiger Nutzung, z.B. das soziale Netzwerk
Facebook. Durch die regelmäßige Nutzung wird es möglich, dass
immer neue Likes/Einladungen/Posts gemacht werden, die wiederum
die Regelmäßigkeit der Nutzung erhöhen oder erhalten, weil es
ständig etwas Neues zu sehen und lesen gibt. Die Likes etc. erhöhen
Bekanntheitsgrade und Teilnahmen an Veranstaltungen, was sich
wiederum auf die Anzahl und Vielfalt der Likes, Posts etc. auswirkt.
Gewohnheiten sind für manche Produkte also eine absolute Bedingung
für ihre Existenz oder Nutzung, weil sie Regelmäßigkeiten
generieren. Oder andersherum ausgedrückt: Solche Produkte sind
nur verkaufbar, wenn sie zur Gewohnheit führen. Bestimmte Pricing
Modelle bieten daher eine Möglichkeit mit kostenlosem Einstieg und
einer späteren Kosteneinführung erstmals Nutzer zu gewinnen, die
sich daraufhin an die Nutzung dieses Produktes gewöhnen und es
weiter nutzen (wollen). 20
2.2 Bindung und Abhängigkeit
Eine weitere Bedeutung spielen Gewohnheiten für die Nutzungsdauer
und Lebensdauer eines Produktes. Diese wird nämlich durch
die Gewohnheit verlängert, das ergibt sich aus dem oben beschriebenen
Prozess der Gewöhnung und regelmäßigen Nutzung, die dazu
führen kann, dass das Produkt über einen langen Zeitraum genutzt
wird, nicht hinterfragt wird (solange es sich als nützlich erweist) und
somit in vielen Fällen auch nicht so früh entsorgt wird oder sein
19 Vgl. Eyal, Hooked, S.3
20 Vgl. ebd., S.22-23
Wert für den Nutzer durch die Gewöhnung so steigt, dass er es sogar
reparieren lässt, um es (oder seine Gewohnheit) nicht zu verlieren.
Denn eine gewohnte Nutzung bedeutet eben auch Vertrauen.
Vertrauen in das Produkt und seinen Nutzen, sodass ein sorgloser,
stressfreier Umgang möglich wird. Und diese Nutzungsgewohnheiten
erzeugen Bedürfnisse. Bedürfnisse nach dem Nutzen oder auch
einem manchmal unbewussten, nicht offensichtlichen Nebennutzen,
der als Belohnung wirkt. So brauchen viele Produkte, dessen
Nutzung zur Gewohnheit werden, praktisch weniger Werbung, weil
die Gewohnheit selbst an die Nutzung erinnert. 21
Für neuartige Produkte kann dieser Effekt wiederum zum Problem
werden. Einerseits kann zwar die Wirkungsweise einer Gewohnheit
genutzt und auf andere neu zu entwickelnde Produkte übertragen
werden, andererseits führt diese auch zu einer gewissen Resistenz
gegen Neues. Nutzer bewerten Altes, Gewohntes, Bewährtes oft
über. Hersteller hingegen bewerten teilweise das Neue an ihren Produkten
über. Die Folge ist, dass der wahrgenommene Unterschied
eines neueren Produktes gegenüber dem alten Produkt eigentlich
zu gering ist: Der Nutzer bleibt lieber beim alten Produkt, denn das
neue erscheint nicht anders genug. Alte Gewohnheiten greifen, die
Routinen lassen sich aber auf das neue Produkt nicht eins zu eins
übertragen. Das mindert die Akzeptanz
und lässt keinen überzeugenden
neuen oder größeren Nutzen
erkennen. Ich erinnere mich an
meine erste Nutzung des Betriebssystems
Windows 8 mit neuer Benutzeroberfläche
(3). Den vorherigen
„Schreibtisch“, den ich kannte,
3
gibt es in seiner Form nicht mehr. Der Aufbau und der Zugang zu
Programmen und Dateien funktioniert anders. Ich komme also mit
meiner gewohnten Bedienungsweise nicht an mein Ziel und klicke
hier und da orientierungslos herum – Trial and Error. Unterm Strich
leider nur Error. Eine Veränderung von gewohnten Handlungsprozessen
verlängert diese für den Nutzer, was dieser als negativ emp-
21 Vgl. ebd., S.18-19
findet. 22 Ich brauche (in meinem Beispiel) also länger, um eine Datei
oder ein Programm zu finden und zu öffnen. Das ist unbefriedigend
und führt zur Abneigung des neuen Betriebssystems, weil ich der
Andersartigkeit die Schuld für diese Verzögerung und meine Verärgerung
gebe. Ich lehne das Produkt deshalb ab. Da wir nun das
Prinzip und die Wirkungsweise von Gewohnheiten kennen, wissen
wir natürlich, dass diese der wahre Grund für meine Unzufriedenheit
sind. Ich bin durch sie nicht in der Lage unbefangen mit einer
neuen Situation umzugehen, bin nicht offen und aufmerksam genug,
um etwas Neues schnell zu lernen, ich hänge in der Gewohnheit,
bequem und sicher. Das Neue verunsichert mich. Erich Fromm beschreibt
Gewohnheiten sogar als etwas, das als Besitz erlebt wird.
Sie werden verdinglicht und ihre Störung enstpricht dann einem
Verlust, der die Sicherheit bedroht. 23 Wir werden also abhängig von
Produkten und habituierten Nutzungen. So abhängig, dass es uns bei
Störungen nicht nur verunsichert, sondern unsere gesamten Handlungsstrukturen
außer Kraft setzt und in verketteten habituierten
Alltagsprozessen oft wie ein umgestoßener Dominostein alle folgenden
Automatismen beeinflusst.
Das Gefühl von Sicherheit oder Unsicherheit, bestimmt durch Gewohnheit
und weitere Faktoren, wird auch in anderen Bereichen
sehr deutlich, z.B. bei unserer Bewegung im Raum, im eigenen oder
fremden Wohnraum, in geschlossenen Innen- oder offenen Außenräumen.
Wir bewegen uns in ihnen, gesteuert durch Interessen, Ziele,
Bedürfnisse und Gewohnheiten, geformt durch die Gesellschaft
und ihre Institutionen.
22 Vgl. Eyal, Hooked, S. 27
23 Erich Fromm, Haben oder sein. Die seelischen Grundlagen einer
neuen Gesellschaft, München 1976, S. 77
3. Wohnraum
3.1 Das Bedürfnis nach Umweltstabilität
Bezugnehmend auf die Ausführungen zur menschlichen Überlebensstrategie,
der Erbauung einer eigenen, angepassten Lebenswelt
in Kapitel 1.4, komme ich nun auf den Wohnraum zu sprechen, der
in ganz offensichtlicher Form ein perfektes Beispiel hierfür darstellt.
Die Wohnkultur wird sozialpsychologisch geformt durch gesellschaftliche
Institutionen, durch Vorbilder, Normierungen und automatisierte
Abläufe, die sich in ein großes System der Gesellschaft
einfügen müssen. Mit dem Blick der Neurobiologie wiederum sind
in ihr die verschiedensten Nutzungsgewohnheiten und Abhängigkeiten
enthalten, die bei Betrachtung der technischen Entwicklung
interessante zukünftige Veränderungen aufzeigen.
Die hierfür relevanten und einzubeziehenden Gegebenheiten, die
das Wesen des Menschen betreffen, sind folgende: Der Mensch hat
ein instinktähnliches Bedürfnis nach Umweltstabilität, ein Interesse
an der Gleichförmigkeit des Naturverlaufs. Das führt zu einer Art
„Tiefenbindung an rhythmische, periodische, selbstläufige Außenprozesse“
(STZ 17). Zu Zeiten, in denen wir von einer wandelbaren
Wirklichkeit umgeben und dem Zeitsystem unterworfen sind, erreichen
wir das Maximum an Stabilität vor allem durch automatische,
sinnvoll funktionierende, periodische Wiederholungen des
Gleichen. Durch Automatismus. Man kann sagen, dass der Mensch
selbst Automatismus ist (Herzschlag, Atmung, Gehen, Handlungskreisläufe
etc.) und deshalb auch fasziniert ist von dem, was dieser
Eigenkonstitution in seiner Außenwelt ähnelt, z.B. dem Gang einer
Maschine. 24 Wir besitzen als Mensch ein Grundbedürfnis nach Stabilität
und Störungsfreiheit des Weltverlaufs und so ist, wie Walther
24 Vgl. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 14-17
Rathenau es bedeutend beschreibt, „[die] Mechanisierung nicht aus
freier, bewußter Vereinbarung [...] entstanden, sondern unbeabsichtigt,
ja unbemerkt erwachsen. Trotz ihres rationalen [...] Aufbaus ist
sie ein [...] dumpfer Naturvorgang.“ 25 . Hierin lässt sich eine deutliche
Parallele zur Gewohnheitsbildung erkennen. Das Bauen von
Maschinen erfolgt aus denselben Beweggründen, wie das Bilden
von Gewohnheiten: Entlastung, Stabilisierung und das Bedürfnis
nach gleichmäßiger Wiederholung. Ein Handlungskreis kann von
einem Menschen oder einer Maschine ausgeführt werden. Am Erfolg
oder Misserfolg korrigiert, wird er schließlich zu einer gewohnheitsgemäß
automatisierten Bewegung und für den Menschen die
sinnvollste Äußerung. 2627
In unserem Wohnraum, den wir wiederholt, Tag für Tag, in gleicher
Weise nutzen, durchlaufen wir viele solcher Kreisläufe. Aufstehen,
zur Toilette gehen, sich anziehen, Räume lüften, Kaffee kochen,
„Veronika nimmt das Haus in Besitz,
indem sie ihren Körper an
es anpasst, aber auch, indem sie
ihm ihren Stempel aufdrückt. Sie
verschiebt die Sofas im Wohnzimmer,
kauft eine Geranie für das
Küchenfenster und findet einen
Platz für ihren Laptop. Jeder Tag
beginnt mit einem Spaziergang
[...]. Die neuen Routinen führen
dazu, dass [sie] sich sicher fühlt,
und lassen Raum für wichtigere
Aufgaben.“ 26
Frühstücken, Zeitung lesen,
Tasche packen, Fenster schließen,
Licht ausschalten, Haustür
hinter sich abschließen und
sich in die Öffentlichkeit begeben.
Jede dieser habitualisierten
Handlungen birgt weitere
kleinteiligere Gewohnheiten.
Während sie als Handlungen
ansich oft allgemeingültig sind,
also bei Personen gleicher Kultur
und mit ähnlichen Lebensumständen
gleichermaßen
auftreten, sind Details dieser
Automatismen oft individuell.
Wie genau der Kaffee gekocht wird, was und wie gefrühstückt wird
oder wo in der Wohnung die Tasche liegt, richtet sich nach eigenen
Ordnungen. Und die sind es, die das Gefühl „zu Hause“ erzeugen.
25 Zit. in: Hermann Schmidt, Die Entwicklung der Technik als Phase
der Wandlung des Menschen. In: Ztschr. VDI, 96 (1954) Nr. 5, S. 119
26 Vgl. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 17
27 Ehn, Löfgren, Nichtstun, S. 110
Daraus folgt, dass wir fremde Ordnungen, in fremden Wohnungen
nur dann als angenehm empfinden, wenn sie unseren eigenen ähnlich
sind. Andere Ordnungen, die auf andere Gewohnheiten schließen
lassen, verunsichern uns. Auch an diese kann man sich natürlich
durch wiederholten Aufenthalt gewöhnen. Andererseits gibt es noch
die Möglichkeit, nicht sich der fremden Ordnung anzupassen, sondern
die fremde Ordnung durch kleine Eingriffe der eigenen näher
zu bringen. Produkte sind hier das, womit wir unsere Gewohnheiten
an uns fremden Orten wiederherstellen können. Und Produkte sind
es auch, die unsere Gewohnheiten innerhalb unseres Wohnraumes
erzeugen und unsere Umwelt für uns stabil halten. Oft tun sie dies
auch durch Entlastung. Denn zu dieser tendieren wir als Mensch. Im
großen Ganzen betrachtet, bemühen wir uns um eine Transformation
der „Koordinaten der Welt auf menschliche Maßstäbe“ (STZ 19),
wie es Arnold Gehlen beschreibt. Zu diesem Aspekt lässt sich aus
der Gestaltung der Architekt Jan Gehl nennen, welcher besonders
bekannt ist durch seine Studien, Analysen und daraus entstehenden
Gestaltungskriterien für die Stadtplanung, die dem Ziel der Einhaltung
menschlicher Maßstäbe dienen sollen (Film The Human Scale).
Denn nur diese entsprechen unserer Natur.
3.2 Entlastungstendenz – Smart Home
Eine andere Art der Entlastung bietet die „Objektivation der menschlichen
Arbeit in das Werkzeug hinein“ (STZ 19), weil wir damit eine
hohe Effektivität erreichen. Eine Handlung wird gleichermaßen ausgeführt
(vertreten durch ein Werkzeug), aber mit größerem Erfolg.
Beide Entlastungsformen haben das Ziel der Gewohnheitsbildung,
der Routine, das Selbtsverständlichwerden des Effekts. Und beides
befreit uns von Alltäglichem und Trivialem, weil es kein aktives
Zutun braucht, wodurch wir frei werden für sensationellere Beanspruchungen.
„Die [...] Merkmale des Handlungskreises und des
Entlastungsprinzips stehen als Determinanten hinter der gesamten
technischen Entwicklung“, welche eine „hintergründige, bewußtlos
aber konsequent verfolgte Logik [zeigt]“: Auf der ersten Stufe wird
die Arbeit mit notwendiger physischer Kraft und erforderlichem
Aufwand geleistet. Auf der zweiten Stufe wird die physische Kraft
technisch objektiviert (Maschine) und in der dritten schließlich
wird auch der geistige Aufwand durch technische Mittel mit Automatismen
entbehrlich gemacht. 28 Laut Gehlen erreicht die Technik
in der Automatisierung ihre methodische Vollendung. Dem stimme
ich nicht ganz zu, denn auf die Automatisierung folgt nun noch die
entwickelte „Intelligenz“ der Dinge, die über die Automatisierung
hinaus geht.
Bezüglich der Gewohnheitsbildung lässt sich an dieser Stelle noch
erwähnen, dass unsere Wahrnehmung, also auch das Erkennen von
Auslösereizen, mehr und mehr durch Sensoren übernommen wird.
Maschinen durchlaufen also mit einer Automatisierung den selben
Prozess, wie der Mensch bei einer habituierten Handlung. „[Der Automatismus]
erweckt [durch Monotonie der Wiederkehr des Gleichen]
eine Resonanz bis in den eigenen Pulsschlag hinein“. (STZ 24)
Im Wohnbereich findet sich das Entlastungsprinzip auf allen drei
Stufen wieder. Wir haben verschiedenste Utensilien als Werkzeuge
und elektrische Geräte im Haushalt, die uns Kraft und Zeit ersparen
(Küchengeräte, Heizsysteme, elektrische Rolläden usw.). Und das
Haus oder die Wohnung werden als sogenannte Smart Homes immer
eigenständiger. Wir brauchen gewisse Gewohnheiten im Alltag nicht
mehr, denn Sensoren ersetzen die Wahrnehmung von Auslösereizen
und programmierte Zeitsysteme steuern die Wiederholung von nötigen
Tätigkeiten. Ich brauche das Fenster nicht mehr öffnen und
schließen, weil dies automatisch geschieht. Ich muss mir nicht angewöhnen
das Licht auszuschalten, denn meine Wohnung „weiß“,
wann es ausgeschaltet werden sollte. Auch mein Kaffee ist bereits gekocht,
bevor mein Bedürfnis danach eine gewohnte Handlung über-
28 28 Vgl. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 19
haupt auslösen kann. Wir müssen also nicht einmal selbst für unsere
Entlastung sorgen (aktiv). Stattdessen gewöhnen wir uns an diese
Bedingungen (passiv). Eine simultane Entwicklung unserer Umgebung
durch den Fortschritt der Technik ergibt sich auch außerhalb
unserer Wohnung, in der Arbeitswelt und im öffentlichen Raum.
4. Raumordnung und -verständnis
4.1 Raumwahrnehmung in Einheiten
Fest gewordene Gewohnheiten werden all zu gern mit der „Macht
der Zeit“ begründet. Jedoch kommt mit der Bedeutung des Raumes
und der Art und Weise, wie Räume definiert und geordnet sind,
eine weitere wirksame Komponente zur Gewohnheitsbildung hinzu.
Und in Wechselwirkung spielt auch die Gewohnheit wiederum eine
Rolle für die Wahrnehmung der räumlichen Ordnungen. Um dies
aufzuschlüsseln, möchte ich an dieser Stelle, gestützt auf die Überlegungen
und Erkenntnisse Georg Simmels in „Der Raum und die
räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“, einen kleinen thematischen
Umweg gehen, um auch entferntere Verbindungen zwischen
Raum und Gewohnheit aufzudecken, die wiederum Erkenntnisse
bezüglich der heutigen modernen Gesellschaft ermöglichen.
Georg Simmel erläutert in seinem Aufsatz, dass die gesellschaftliche
Bedeutung des Raumes nicht im Raum ansich, sondern in der „von
der Seele her erfolgende[n] Gliederung und Zusammenfassung seiner
Teile“ 29 liegt und dass diese Synthese eine spezifisch-psychologische
Funktion ist. Somit ist der Raum nur „die menschliche Art,
an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen
zu verbinden.“ Diese Funktion zeigt sich auch später in den
in Kapitel 5.1 beschriebenen Bezirken oder livehoods einer Stadt, die
eigentlich nur durch die alltäglichen Bewegungen, Konsum- und
Gewohnheitsmuster der Stadtbewohner entstehen. Diese verschiedenen
Räume der Stadt sind als soziologische Gebilde zwar örtlich,
29 Georg Simmel, „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der
Gesellschaft“, in: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über
die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 460
aber nicht räumlich bestimmt, wodurch unterschiedliche Gebilde
auch ein und denselben Raum füllen können.
Damit wir Raum praktisch gut ausnutzen können, zerlegen wir ihn
in Stücke – wir bilden Einheiten, eingerahmt von Grenzen. Wir erfassen
diese Einheiten nach den gesellschaftlichen Gruppen, welche
diese in irgendeinem Sinne erfüllen. Es ist wie ein Wechselspiel: Die
Einheit drückt ihre Grenzen aus, wird aber auch von ihnen getragen.
30 Genau wie die Gewohnheiten Institutionen definieren, aber
auch von ihnen gestützt werden. Einheiten schließen sich in sich zusammen
und grenzen sich gegen die umgebende Welt ab. Und noch
stärker als natürliche Grenzen, wie etwa Flüsse, Meere, Gebirge, sind
beispielsweise politische Grenzen (geometrische Linien zwischen
„Nachbarn“) oder durch übereinstimmende Interessen entstehende
Einheiten und Grenzen. Denn bei diesen haben wir es mit lebendigen,
seelisch wirksamen Grenzen zu tun, die Verschiebungen, Erweiterungen
oder Verschmelzungen erlauben. Diese Grenzen sind
keine räumliche Tatsache, sondern eine soziologische, die sich nur
räumlich formt. Raumgestaltung (um hier besonders den Designer
aufmerksam zu machen) ist daher eine soziologische Funktion. 31
Wir brauchen sie, als Gesellschaftsform, für unser Zugehörigkeitsgefühl,
unsere Sicherheit, schlicht um Raum überhaupt zu erfassen
und zu nutzen, um ihn mit Leben zu füllen. „Der Niederschlag einer
sozialen Einheit im Raum [ist] [...] der Typus ihrer Raumgestaltung,
eine handgreifliche, eine [...] sichtbare Repräsentation ihrer Eigenart.“
32 (Elias 1979: S. 70)
Nachdem nun also hergeleitet wurde, weshalb wir Räume gestalten
und unterteilen, bleibt die Frage, wie dies mit Gewohnheiten im
Zusammenhang steht. Nun, zum einen sind diese Raumeinheiten
unsere Denkgewohnheiten. Wir sind es gewohnt, Raum in Einheiten
wahrzunehmen und zu nutzen und tun dies zu einem großen
Teil auch unbewusst. In ihm entwickeln wir räumliche Nutzungs-,
Aneignungs- und Bewegungsmuster, die uns als soziale Routinen
30 Vgl. ebd., S. 463
31 Vgl. ebd., S. 465
32 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft - Untersuchungen zur Soziologie
des Königtums und der höfischen Aristokratie, Berlin 1983, S. 70
Vertrauen und Identität geben. Zum anderen bilden auch diese Einheiten
in der Wahrnehmung für uns bestimmte „Muster“, welche
wir an anderer Stelle, entsprechend unserer Assoziationsfähigkeiten,
wiedererkennen, was auch bedeutet, dass sie – als gestalteter Raum –
ein Auslösereiz für Denk- und Verhaltensweisen sind. Hier wird nun
auch die tiefgreifende Wirkung von Gestaltung deutlich. Sie bezieht
sich nicht nur auf lokale Räume, sondern meint auch die Gestaltung
soziologischer oder virtueller Räume, wie sie gerade heute vermehrt
durch das Internet und das Digitale entstehen und ermöglicht werden.
Die Globalisierung und auch die Digitalisierung verändern
das Verhältnis von Raum und Gesellschaft, sowie die Konzeptionen
und Modelle, mit denen wir die Welt verstehen. 33 Doch „nicht die
Auflösung des Raumes, sondern die Formierung eines hochdifferenzierten
Geflechts von spezialisierten Standorten [...] kennzeichnet
die[se] Entwicklung“ 34 . In der globalisierten Welt verschwinden
räumliche Distanzen. Und dies führt zu einem weiteren den Raum
betreffenden Thema von heute, nämlich der Entfernung. Interessanterweise
spielt Intelligenz sowohl eine Rolle für das Verständnis von
Entfernung, genauer dem Umgang mit Nähe und Distanz zwischen
Menschen in einem Raum, als auch für die Gewohnheitsbildung.
4.2 Übermüdung und Abstumpfung
Im Bezug auf die räumliche Wahrnehmung schreibt Georg Simmel
zur Bedeutung der Intelligenz: „Je primitiver die Geistesverfassung
ist, desto weniger kann für sie Zugehörigkeit ohne lokale Gegenwärtigkeit
bestehen [...]; mit größerer geistiger Biegsamkeit und
Spannweite werden die Angelegenheiten so geordnet, dass die wesentlichen
Bestimmungen der Zugehörigkeit auch bei räumlicher
33 Vgl. Peter Noller, „Globalisierung, Raum und Gesellschaft: Elemente
einer modernen Soziologie des Raumes“, in: Berliner Journal für Soziologie
(2000), S. 21-48
34 Zit. in: ebd., S. 23
Abwesenheit bewahrt werden können.“ 35 Dies erklärt sich durch das
Abstraktionsvermögen. Dieses ist bei intelligenten, intellektuellen
In der Psychologie zeigte sich,
dass die Habituationsgeschwindigkeit
einen Indikator der Verarbeitungsgeschwindigkeit
und
somit auch der generellen kognitiven
Fähigkeiten darstelllt.
Kinder, die in den ersten Lebensmonaten
besonders schnell an
Reize habituieren, zeigen später,
im Kindes- und Jugendalter, höhere
intellektuelle Leistungen. Die
Fähigkeit, Kontingenzen zwischen
dem eigenen Verhalten und den
darauf folgenden Konsequenzen
zu erkennen, sowie Assoziationen
zwischen verschiedenen Reizen zu
erkennen, bilden die Grundlage
für die Bildung von Gewohnheiten.
Und bestimmen die Intelligenz mit.
Menschen höher. Das Abstraktionsvermögen
ermöglicht es,
Zusammengehörigkeiten auch
dort zu erkennen, wo sie nicht
räumlich sondern soziologisch,
psychologisch oder inhaltlich
sind – eine assoziative Leistung.
Menschen mit hohem Abstraktionsvermögen
können daher
auch über große räumliche Entfernungen
Annäherung und
Zusammensein erleben, während
andererseits auch Distanz
zum räumlich Nahen möglich
ist. Wir reden hier von Beziehungen
zwischen Menschen,
die deshalb eine Rolle in diesem
Zusammenhang spielen, weil
Menschen in Räumen (welcher
Art auch immer) zusammenleben
und diese Räume, wie
erläutert, durch ihr Zusammenleben,
ihr Abgrenzen und Zusammenschließen, überhaupt erst
entstehen. Und betrachten wir die Stadt im Vergleich zur Kleinstadt
oder dem Dorf, so lassen sich deutliche Unterschiede erkennen. Die
Verhältnisse zu den räumlich nahen Menschen, also den Nachbarn,
und das Interesse für diese sind völlig unterschiedlich. Der Stadtmensch,
umgeben von Vielfältigkeit, Komplikation, ständigem
Wandel und großem Mobilitätsaufkommen, entwickelt eine Gleichgültigkeit
gegen das räumlich Nächste. Dies muss er, als Schutzmaßnahme.
Schutz vor Überforderung. Dafür betreibt er fortwährende
Abstraktion und ist an enge Beziehungen mit räumlich Entferntem
gewöhnt. 36 Hat das einen Vorteil? – Gewissermaßen schon: Als Ge-
35 Simmel, „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“,
S. 373
36 Vgl. ebd., S. 373-374
wöhnung werden mit dieser Gleichgültigkeit die Gehirnaktivitäten
und Anstrengungen gemindert. Und räumliche Distanzen schalten
Erregungen, Reibungen und Attraktionen aus. Verstärkend dazu bedeuten
auch „dominierende Intellektualität [...] immer ein Herabsetzen
der gefühlsmäßigen Extreme.“ 34 (S.14) Distanzen bieten Ruhe,
Gemessenheit und Affektlosigkeit. Das sorgt dafür, dass impulsive
Reaktionen auf Berührungsreize herabgesetzt werden und das
erlaubt es, eine emotionale Distanz zu räumlich nahen Menschen
(Nachbarn) zu haben, wenngleich hier unaufhörliche Berührungen
(Treffen) stattfinden, die aber eben zur Abstumpfung führen. Es findet
eine Gewöhnung an die raschen, ununterbrochenen Wechsel
äußerer und innerer Eindrücke statt, an das hohe Tempo und die
Mannigfaltigkeit in der Stadt. Schließlich sind hier auch „harmlose“
Eindrücke, durch ihre häufigen und schnellen Wechsel, eine starke
Erregung der Nerven, für die der Organismus keine Kraft hat. Ohne
Zeit, um sich zu erholen, wird er unfähig, auf Reize mit angemessener
Energie zu reagieren. Simmel nennt das in seinem Aufsatz Die
Großstädte und das Geistesleben „Blasiertheit“ – die Abstumpfung
gegen die Bedeutung der Unterschiede der Dinge: Wenn alles gleichwertig
wird. Wenn die Dinge, denken wir hier auch beispielsweise an
Mobilitätsangebote und Services, nicht in ihrem Wert erkannt werden
und nichts dem anderen vorgezogen wird. Das Ganze geht bis
hin zu einer Entwertung der eigenen Persönlichkeit. Aber auch an
die gewöhnt der verstädterte Mensch sich. 37
Unter diesen Umständen liegt die Bedeutung von Gewohnheiten
auf der Hand: Sie ermöglichen die Bewegung und das Handeln im
komplexen, schnellen und nervenerregenden Lebensraum Stadt.
Auf dem Land ist ihr Zweck und Existenzgrund ein anderer, vielleicht
sogar gegenteiliger: Keine Abwechslung, keine Alternativen,
daher viel Wiederholung und Gleichmäßigkeit. Gewohnheiten sind
dort nicht aktiv der Schutz vor Überforderung sondern passiv die
Folge von Alternativlosigkeit. Wenngleich die Abstumpfung den
Städter als Form der Gewöhnung vor Überforderung schützt, sind
es zusätzlich die individuellen Gewohnheiten, die seine Lebensumgebung
bilden und die Inhalte seines Lebens in der Stadt auf eine
37 Vgl. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, Frankfurt
am Main 2006, S. 16-22
erfassbare und nutzbare Menge reduzieren, ohne dass er ständig erneut
Entscheidungen in der unübersichtlichen Menge der Angebote
treffen muss. Denn auch die empfundene Gleichwertigkeit der Dinge
durch die Blasiertheit des Stadtbewohners ändert nichts an der
Anzahl der Eindrücke und Möglichkeiten. Diese Anzahl wird aber
durch die Gewohnheiten reduziert: Einkaufen in immer demselben
Supermarkt, Essen in immer denselben drei Restaurants, Fahren mit
immer demselben Verkehrsmittel, Entspannen in immer demselben
Park und Nutzung der immer gleichen Wege zwischen diesen Orten.
Wege, die, wenn sie erst einmal zur Gewohnheit geworden sind, als
gesetzt gelten und nicht hinterfragt werden. Wege, die wir einschlagen,
auch wenn wir es dieses eine mal doch gar nicht wollten. Modus:
Autopilot. Das Netz öffentlicher Verkehrsmittel unterstützt uns
dabei. Bahnen und Busse sind getaktet, haben ein festes, übersubjektives
Zeitschema 38 , ihren sich immer wiederholenden Rhythmus,
der funktioniert. Normalerweise zumindest. Und deshalb ist uns die
Gewohnheitsbildung hier so einfach gemacht. Und „ohne das diesen
Zeit- und Fahrplänen inhärente Immer würde der Ablauf unseres
täglichen Lebens [eben] in einem kaum zu bewältigenden Organisationslabyrinth
kollabieren.“ 39 Wenngleich Gewohnheitsbildung hier
zwar als Lösung zum Einsatz kommt, so kann die Blasiertheit andererseits
auch dafür sorgen, dass Auslösereize, die normalerweise eine
Gewohnheiten erzeugen, nicht funktionieren, weil sie nicht wahrgenommen,
nicht gesehen, gehört, gerochen werden.
Weiter ausführen möchte ich die Überlegungen Simmels nun noch
im Bezug auf die moderne Welt, indem ich noch einmal auf die
Institutionstheorie Arnold Gehlens zurückkomme. Mit seiner Beschreibung
der Entstehung von Denkgewohnheiten innerhalb von
Institutionen lässt sich die Überforderung und Abstumpfung des
Städters nocheinmal sozialpsychologisch betrachten. Institutionen
zeigen sich auch als vorgeformte und sozial eingewöhnte Entscheidungen.
Sie entlasten also, weil sie uns so gesehen Entscheidungen
abnehmen. Ein Mangel an stabilen Institutionen bedeutet demnach
38 vgl. ebd., S. 17
39 Volker Albus, „Über die Lehne hinaus oder: >>anders als immer
eine Überbeanspruchung der Entschlussfähigkeit und auch -willigkeit
des Menschen. 40 Solange aber solche Institutionen vorhanden
sind, formen sie Gewohnheiten des Denkens. Allerdings lassen sich
durch diese auferlegten Habituierungen die Erfahrungen, die der
heutige verstädterte Mensch macht, als „Erfahrungen zweiter Hand“
beschreiben. Seine Bewusstseinslage ist eingeübt, wodurch sich auch
das emotionale Bewusstsein ändert. Und auch das Gefühlsleben
wird ein „Gefühlsleben zweiter Hand“. Es folgt Schemen für Gefühle,
Empfindungen und Gedanken, resultierend aus seinem sozialen
Verhalten, welches Regulierungen, Verpflichtungen und Normen
unterliegt. Solche Erfahrungen zweiter Hand wirken zu großen Teilen
medial auf uns ein und müssen besondere taktische Mittel (Dramatisierungen,
Effekthaschereien) nutzen, um der Übermüdung der
Gehirne und der Abstumpfung der Sensorien entgegenzutreten. 41
Wir aber befinden uns im Modus der Selbstverständlichkeit, in dem
beliebige Reize und Eindrücke scheinbar kein Problem darstellen.
Und Gewöhnung führt dazu, dass auch diese auferlegten Formen
des Erlebens als „natürlich“ gelten. So kommt es, dass wir auch unsere
moderne Art der Mobilität, die Art und Weise, wie wir uns gewohnheitsgemäß
durch den Tag bewegen, nicht als Resultat der Einflüsse
gesellschaftlicher Institutionen bemerken.
40 Vgl. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 65)
41 Vgl. ebd., S. 66
5. Mobilitätsverhalten
5.1 Globales und lokales Lebensumfeld
Was ist unser soziales Lebensumfeld? Wo gehen wir regelmäßig hin,
wo halten wir uns auf? Welche Orte nutzen wir? Unsere individuellen
Konsummuster, unsere Gewohnheiten und Geschmäcker werden
heute sichtbar durch: das Internet. All die Daten, die über uns
gesammelt werden, wenn wir im Internet Orte „liken“, unsere Teilnahme
an Veranstaltungen bekannt geben oder Restaurants bewerten,
machen es möglich, unsere individuellen Wege durch die Stadt,
sowie die besuchten Orte zu verlinken, sie mit Interessen anderer
abzugleichen, so „Gruppen“ zu identifizieren und neue Bezirke zu
definieren. Diese Bezirke sind dann nicht mehr rein lokale Gegenden,
sondern mehr inhaltliche, bedingt durch soziale Aktivitäten.
Ihre Grenze umkreist kein Gebiet. Sie lässt sich nicht nur mit Ortsangaben
beschreiben. Diese „Socioscapes“ sind kein Viertel einer
Stadt, sondern ein lokales, aber lokal nicht zwingend zusammenhängendes
Gefüge. Das bedeutet vor allem im urbanen Kontext, dass
der Bewegungsradius der Stadtbewohner nicht unbedingt durch
Stadtteile bestimmt oder motiviert
wird, sondern vielmehr durch Interessens-
und Geschmacksprofile.
Und durch Gewohnheiten.
Geo-soziale Netzwerke im Internet,
wie beispielsweise der amerikanische
Vorreiter Foursquare (4),
4
machen durch persönliche Tipps
und Bewertungen der Nutzer solche Konsum- und Gewohnheitsmuster
auf Stadtkarten sichtbar. Andere Netzwerke, wie beispiels-
5
weise Livehoods (5) nutzen diese Daten weiter, um diese neuartigen
Bezirke als urbane Mikrokulturen, definiert durch den Alltag der Nutzer,
erkennbar zu machen. Die Plattform zeigt für einzelne Spots von
Großstädten beispielsweise Statistiken zu Besucherzahlen je Uhrzeit
oder Wochentag („Hourly/Daily Pulse“), ein Profil des Ortes (Food/
Arts&Entertainment/Nightlife/
Home&Office/Travel/Education/
Shops/Parks), beschreibt so die Charaktere
der jeweiligen „livehoods“
mit ihren beliebtesten Orten und
zeigt außerdem, welchen anderen
Livehoods sie jeweils ähnlich sind. 42
Das Internet, welches uns anfangs vor allem den globalen Zugriff
auf Daten und Orte weltweit eröffnete, erlangt nun an vielen Stellen
wieder einen lokalen Charakter, indem es uns hilft, unsere sehr
komplex gewordene und an Angeboten überfüllte Umgebung zu
verstehen. Viele Menschen sehen nur das Bisschen in der Nähe ihres
Hauses. Aber wenn sie durch virtuelles mapping eine neue Perspektive
einnehmen, ihre Stadt von oben sehen, werden für sie das Ganze
und seine Bezirke ersichtlich. 43 Diese neuen Formen der aktiven
Bürgerschaft, die durch Analysen mit neuen Technologien möglich
wurden, beobachtete auch der mailänder Autor und Philosoph Franco
Bolelli. Das Entdecken, Teilen und Bewerten im worldwide web
ist die Möglichkeit durch kollektive Nutzung Orte und Objekte mit
zu verändern und nach eigenen Wünschen zu verbessern. Das, was
einst eine Eliteerscheinung mit wenigen Ermächtigten war, ist nun
eine Tätigkeit unzähliger Individuen. Auch das sind moderne, neue
Denk- und Handlungsgewohnheiten.
42 Vgl. Paola Tavella, „Social Streets“, in: Abitare 542 (2015), S. 50-51
43 Vgl. ebd., S. 53
5.2 Wege durch die Stadt
Aus gestalterischem Interesse heraus, möchte ich nun wieder stärker
thematisieren, welche Wirkung Gestaltung bei der Habitualisierung
hat. Denn auch wenn Institutionen jeglicher Art unsere Denkschemen
und Handlungsautomatismen formen, die dann das Verhalten
des Menschen und dessen Umgang mit Produkten und seiner Umgebung
beeinflussen, so ist doch auch die Gestaltung eben dieser
Produkte und Umgebungen ein starkes Werkzeug der Verhaltenssteuerung.
Für die Gewohnheitsbildung bei den Wegen, die wir alltäglich
gehen oder fahren, spielt beispielsweise die Struktur der Straßen,
also der Verlauf und die Vernetzung untereinander, eine große
Rolle. Ob die Straßen einer Stadt auf einem strengen Raster basieren
oder verwinkelt und kurvig verlaufen, hat eine starke Auswirkung
darauf, welche Wege wir wählen und wie schnell sich daraus eine
Gewohnheit bildet, vor allem, wenn wir individuell (zu Fuß, Fahrrad,
Motorrad, Auto etc.) unterwegs sind. Wir können entscheiden,
welche Route wir nehmen, um von A nach B zu gelangen. Junge, moderne
Stadtstrukturen weisen grundsätzlich mehr Direktwege und
strengere Raster auf, als versuche man möglichst viele Orte gleich
der „Luftlinie“ erreichen zu können. Georg Simmel erklärte dies
sehr treffend: „Je reiner sich [das innerlich-soziologische Wesen des
Stadtlebens] entwickelt, als desto rationalistischer offenbart es sich –
vor allem in der Verdrängung des Individuellen, Zufälligen, Winkligen,
Gebogenen der Strassenanlagen durch das Schnurgerade, nach
geometrischen Normen Festgelegte, Allgemein-Gesetzliche. [...]
Die[se] Streckung krummer Straßen, die Anlage neuer Diagonalwege,
das ganze moderne System der rechtwinkligen Symmetrie und
Systematik ist zwar unmittelbar Raumersparnis, für den Verkehr
aber vor allem Zeitersparnis, wie sie vom Rationalismus des Lebens
gefordert wird.“ 44 Hauptverkehrswege regieren als schnelle, direkte
Verbindungen die Stadt, unter ihnen, untergeordnet und unauffälli-
44 Simmel, „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“,
S. 11
ger, die Seitenstraßen. Alte Städte hingegen und solche, die mit der
Zeit gewachsen sind und schrittweise aufgebaut wurden, bieten häufiger
mehr verwinkelte Straßen, Krümmungen und Verzweigungen.
6
Gewohnte Wegstrecken entwickeln wir als Bewohner in beiden
Stadttypen, allerdings unterschiedlich schnell. In modernen Strukturen
mit vielen Direktwegen, ergeben sich kaum Alternativen,
wenn wir möglichst schnell von einem Ort zum anderen wollen. Der
„gewohnte Weg“ ist uns quasi schon vorbestimmt, nahezu aufgezwungen,
unterstützt durch an ihm platzierte alltägliche Infrastrukturelemente
(z.B. für Einkauf oder Zugriff auf ÖV-Angebote). Weiter
bekräftigt wird er durch google maps oder andere Routenplaner, die
so programmiert sind, dass sie uns (wenn wir nicht gesonderte Einstellungen
vornehmen) genau solche
Direktwege als erste Empfehlung
präsentieren. Alternative Routen
über kleinere Seitenstraßen mit mehr
Abbiegungen, aber eventuell schönerer
Atmosphäre und ruhigerem
Verkehr, treten in den Hintegrund.
Die Vorteile anderer Strecken sind
nicht präsent und werden von vielen
nicht erkannt, teils nicht einmal als Möglichkeit überhaupt gesucht.
Also nehmen wir den direkten Weg (6). Und da es für uns scheinbar
keine Alternative mit klaren Vorteilen
gibt, passiert die Gewohnheitsbildung
unheimlich schnell. Es bedarf
keiner Entscheidungsfindung, wodurch
die Wiederholung wahrscheinlich ist,
schließlich wird sie nicht hinterfragt.
Die Wegefindung in verwinkelten, eher
organischen Stadtstrukturen funktioniert
anders (7). Unterschiedliche Routen,
die alle von A nach B führen, sind gleichwertiger und weisen bestimmte
Unterschiede eher in ihrer Umgebung und Ausstattung auf
(Einkaufsmöglichkeiten, Grünflächen, Straßenbelagsqualität usw.).
Dies verlangt eine aktive, individuelle Entscheidung. Diese Komple-
7
xität der Entscheidung wirkt sich auf die Geschwindigkeit der Gewohnheitsbildung
aus, die hier bei den meisten Bewohnern vermutlich
langsamer sein wird. Auch ist die Änderung eines gewohnten
Weges hier wahrscheinlicher, denn da hier die Effizienz (schnell und
direkt ans Ziel kommen) nicht greift, sondern nach anderen Kriterien
entschieden werden muss, sind die Umstände weniger stabil und
die Wegwahl verfestigt sich nur bei gleichbleibenden Bedürfnissen
des Individuums. Die Gewohnheit ist hier also nicht durch Stadtplaner
hervorbestimmt, sondern entwickelt sich nach persönlichen
Bedürfnishierarchien. Von diesem Beispiel ausgehend, lässt sich
vielleicht ein allgemeines Prinzip ableiten, welches in der Gestaltung
je nach Ziel entsprechend eingesetzt werden kann: Alternativlosigkeit
beschleunigt die Gewohnheitsbildung und stabilisiert diese,
wenn Bedürfnisse bedient werden, welche die Masse ansprechen.
Meine Vermutung ist, dass das Angebot gleichwertiger Alternativen,
die jeweils bestimmte Bedürfnisse befriedigen, wahrscheinlich die
Gewohnheitsbildung verlangsamt und spätere Veränderungen noch
zulässt. Die Gewohnheiten können sich also einem sich entwickelnden
Individuum anpassen.
5.3 Urbanisierung und Digitalisierung
Mobilität verändert sich. Auch Urbanisierung und Digitalisierung
gehören zu den Faktoren, welche die Mobilitätsgewohnheiten stark
beeinflussen. Die neue Mobilitätslandschaft wird immer abwechslungsreicher
mit Innovationen, wie in Zukunft etwa den fahrerlosen
Autos oder jetzt schon mit neuen Geschäftsmodellen, wie Car-Sharing,
E-Shopping und Lieferservices. So wird der Markt, mit seinem
ehemals recht stabilen und strukturierten Umfeld, sehr dynamisch.
Technologien und Vernetzung machen dies möglich und verändern
damit auch das Mobilitätsverhalten der Menschen, begonnen beim
geringeren Interesse der jungen Generation, einen Führerschein zu
erwerben und ein Auto zu kaufen (da es jetzt Alternativen gibt), bis
hin zu Videokonferenzen (online) und der Möglichkeit der Heimarbeit,
welche die Anwesenheit am Arbeitsplatz oder bei Geschäftsterminen
verzichtbar machen. Letztendlich führt dies dazu, dass
weniger Fahrten zum und vom Arbeitsplatz getätigt werden. Und
nicht nur die Arbeitnehmer, auch die Unternehmen selbst reduzieren
zum Teil ihre Flotten oder bieten einen besonderen Zugang zu
öffentlichen Verkehrsmitteln, um Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.
Denn dies fordert zum Teil der Staat, zum anderen sind es häufiger
auch Ansprüche von den Arbeitnehmern. 45 Die Wege im Kontext
der Arbeit sind aber nicht die einzigen, die sich verringern. Auch
die Notwendigkeit der Einkaufstouren nimmt ab. Onlinehandel und
Lieferservices haben einen wachsenden Anteil an Einzelhandelumsätzen,
denn diese kommen nicht nur der alternden Gesellschaft
(mit Mobilitätseinschränkungen) zugute, sondern wird auch von
jungen und berufstätigen Menschen zunehmend genutzt, die gemütlich
vom Sofa daheim aus einkaufen und ihre Freizeit für andere
Aktivitäten nutzen. Für Aktivitäten also, die neue, andere Wege erfordern.
Das Smartphone ist ein innovatives Produkt, welches den
Zugang und die Nutzung vieler Dienste verändert und erleichtert
hat. Car-Sharing zum Beispiel ist mit der Nutzung eines Smartphones
wesentlich einfacher und attraktiver geworden. Der Nutzer
kann Straßenkarten einsehen, in denen verfügbare Autos angezeigt
werden und er kann sogar schon im Buchungsprozess mit dem
Smartphone direkt die Bezahlung abwickeln. Die Tatsache, dass sich
mit dem Smartphone viele Verhaltensweisen, vor allem im Mobilitätsverhalten,
tracken lassen, eröffnet völlig neue Möglichkeiten
der Preiskalkulation oder der Assistenz im Verkehr (Einparkhilfen,
Geschwindigkeitsempfehlungen, etc.). Die Telematik, mit Optionen
wie Pay- As-You-Drive oder Pay-How-You-Drive ermöglicht Abrechnungskonzepte,
welche die zurückgelegten Strecken, aber auch
das Fahrverhalten in die Kalkulation einbeziehen. Mit der Digitali-
45 Christoph von Both, Jan Oliver Schwarz, Richard Hewitt, „Mobil
ist wer vernetzt ist“, in: Allianz Risk Pulse. Focus: Zukunft der
individuellen Mobilität (Mai 2013), S. 1-3, URL: https://www.allianz.
com/v_1369221222000/media/press/document/other/1305-Risk-Pulse-Mobilitaet-DE.pdf
(Stand 11.10.2016)
sierung entwickeln wir auch neue Gewohnheiten bei der Suche nach
Orten, Verkehrsmitteln, Veranstaltungen usw. Die digital natives
suchen fast ausschließlich online nach Angeboten und Verfügbarkeiten.
Und was nicht digital nutzbar ist, scheint für sie quasi nicht
zu existieren. Das alte analoge Leistungsangebot kann in seiner Erscheinung
dabei nicht einfach ins Digitale kopiert werden. Es muss
sich der Struktur und den Anforderungen des digitalen Marktplatzes
anpassen, weil dessen Nutzer andere Gewohnheiten entwickeln,
eben z.B. auch im Suchen und Sehen. 46 Es lässt sich ein Wandel auf
der Wahrnehmungs- und Entscheidungsebene erkennen und auch
die Bedürfnisstrukturen ändern sich. Es geht dem Nutzer um Verfügbarkeit,
darum jederzeit, flexibel und situationsabhängig von A
nach B zu kommen. Die Nutzer von morgen sind es gewohnt, ihre
Fortbewegung nicht weit vorausplanen zu müssen. Es findet scheinbar
eine Auflösung von Bewegungsgewohnheiten und gewohnter
Verkehrsmittelwahl statt. Stattdessen zeigt der Nutzer ein überwiegend
spontanes, flexibles Verhalten, bei dem in jeder Situation entsprechend
neu gewählt wird. Diese Komplexität verlangt allerdings
andauernde Entscheidungen, die Energie und kognitive Ressourcen
verbrauchen. Das wiederum macht Gewohnheiten erforderlich, um
diese Erfordernisse zu reduzieren und Überforderung zu vermeiden.
Die Lösung scheinen hier Automatisierungen und intelligente
Programme und Geräte zu sein. Digitale „Helfer“ nehmen uns die
Notwendigkeit der Gewohnheitsaubildung, indem sie uns „kennenlernen“
und für uns Entscheidungen treffen. In Form von Vorschlägen
bis hin zu eigenständigen Ausführungen. In Zukunftsszenarien
kennt das autonome Fahrzeug meine Interessen und mein Ziel und
entscheidet danach selbst, welche Route es fährt.
„Selbstbeweglichkeit im Eigenraum und in Eigenzeit ist ein Grundprinzip
moderner Gesellschaften.“ 47 Aber die Vorteile des Autos, als
dessen Nutzer jederzeit Herrscher über Raum und Zeit und damit
weitestgehend selbstbestimmt zu sein, wird nun immer übertragbarer
auch auf andere Verkehrsmittel. Der vorher so große Fragenkatalog
für diese verschwindet: Wann? Wo? Wie? Mit der Verfügbarkeit
46 Vgl. Weert Canzler, Andreas Knie, Die digitale Mobilitätsrevolution.
Vom Ende des Verkehrs, wie wir ihn kannten, München 2016, S. 11
47 Ebd., S. 69
erlangt der Nutzer auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln eine gewisse
Souveränität und hat, genau wie mit einem Auto, einen (eben
immer unterschiedlichen) Raum zur Fortbewegung zur Verfügung
und das zu (fast) jeder Zeit. Das Smartphone wird zum Schlüssel der
intermodalen Welt. Mit ihm „sitzt man im virtuellen Fahrersitz“ 48 ,
zumindest solange, bis es vielleicht durch alternative Produkte gleicher
Funktion ersetzt wird. Dennoch bleibt auch das konkrete Transporterlebnis
relevant, weil eine App noch niemanden von A nach B
transportieren kann. Vor allem bei alltäglichen, sich wiederholenden
Routinefahrten, die nicht andauernd erneut geplant werden müssen,
spielen reale Erfahrungen noch eine große Rolle. Doch die authentische
Erfahrung wird zunehmend durch das Digitale überblendet.
Raumüberwindung wird dazu genutzt, online zu sein. Fahrten im
Nah- und Fernverkehr gelten als gute Gelegenheit für Kommunikation
und Information, allerdings nicht mit den Mitreisenden, sondern
dem weiten Netz der Welt. Verkehrsmittelnutzung verwandelt
sich zu individuellem „Infotainment“. Zurzeit erschweren wir es den
Nutzern jedoch noch, sich multimodal zu bewegen und Gewohnheiten
zu entwickeln, die den Umgang mit dieser Vielfalt vereinfachen:
Alles muss selbst organisiert werden, wobei alle Verkehrsmittel ihre
eigenen Zugänge, Benutzungsregeln, Abrechnungssysteme und Besonderheiten
haben. 49
Was bedeutet diese Entwicklung nun für unsere Mobilitätsgewohnheiten,
für unsere Raumwahrnehmung? Ich denke zuerst einmal
werden Gewohnheiten im Nutzungsprozess eine Voraussetzung für
die Nutzung. Wir können beobachten, wie unsere Bedürfnisse sich
verschieben. Es reicht nicht mehr, dass wir überhaupt von A nach
B kommen, wir wollen auf eine gewisse Weise von A nach B kommen,
nämlich indem wir die Zeit der Fortbewegung nutzen können
für anderes. Dieser Nutzen kann Kommunikation sein, aber auch
Arbeit, Organisation, Erholung oder Erlebnis. Da Gewohnheiten,
oder vielmehr nun die digitalen, vernetzten Services als Ersatz für
Gewohnheiten, es ermöglichen, sich gleichzeitig auf etwas anderes zu
konzentrieren, werden sie zur Voraussetzung unserer Mobilität und
zur Voraussetzung für unsere gesamte Art zu leben.
48 Canzler, Knie, Die digitale Mobilitätsrevolution, S. 36
49 Vgl. ebd., S. 20
6. Fazit
6.1 Gestaltete und gestaltende Gewohnheiten
Im Verlauf dieser Arbeit wurde deutlich, dass Produkte und gestaltete
Umgebungen sowohl von Gewohnheiten bestimmt werden, als
auch Gewohnheiten erzeugen, nicht nur in der Nutzung sondern
ebenso im gesellschaftlichen Zusammenleben. Es bestehen also
wechselseitige Beziehungen und auch unterschiedliche Rollen und
Kontexte. Das Zusammenwirken ist komplex, ein Verständnis hierfür
aber wichtig für den gestaltenden (und, um korrekt zu sein, auch
dem gestalteten) Designer, wie bereits in einigen Themenbereichen
angesprochen. Er kann Gewohnheiten gezielt einsetzen (erzeugen),
um Nutzer an Produkte zu binden oder die Lebensdauer eines Produktes
zu erhöhen. Er kann sich vorhandene Gewohnheiten zunutze
machen oder muss sich mit ihrer Durchbrechung befassen.
Oder aber, und das ist eine interessante Beobachtung, er kann durch
die geplante Bildung einer Gewohnheit ein immaterielles Produkt
schaffen, denn die Gewohnheit wird, wie in Kapitel 2.2 erwähnt, als
Besitz erlebt und verdinglicht. Dass das Immaterielle Gegenstand
der Gestaltung wird, ist angesichts der Digitalisierung nichts Neues.
Gerade im Bereich des Interfacedesign und mit dem Aufkommen
neuer Unterteilungen des Designs, in denen sich auch Servicedesign
und User Experience Design etablieren, ist bereits klar, dass wir in
Zukunft zunehmend nicht mehr nur materielle Produkte gestalten,
sondern auch das Immaterielle dahinter, die Prozesse, die Gefühle,
das Erlebnis – und eben auch die sich ausbildenden Gewohnheiten.
Gewohnheiten gestalten wir demnach schon lange (mit), allerdings
meines Erachtens nach nicht bewusst und daher auch nicht verantwortungsvoll
und treffend genug. Es ist bisher eher so etwas wie ein
Nebeneffekt unserer Gestaltung, der spätestens jetzt, mit der Entwicklung
etlicher digitaler „Hilfmittel“ mehr zum Haupteffekt und
somit bewusst gestaltet werden muss.
6.2 Die Ablösung von Gewohnheiten
In Kapitel 3.1, wo es um die Entlastungstendenz am Beispiel Smart
Home ging, ließ sich eine interessante Bemerkung machen: Das
Ersetzen von menschlichen Fähigkeiten durch Maschinen/Geräte.
Gehlen beschreibt mit den drei Stufen der Entlastung die Strategie
des Menschen, ihm fehlende Organe hinzuzufügen oder nicht ausreichend
effiziente Organe zu ersetzen, um uns zu entlasten. Das
mechanische Werkzeug und später die automatische Maschine sind
ein Organersatz, also eine künstliche Alternative zur organischen
Eigenleistung. Beides, Organ und Maschine, besitzen und benötigen
Materie für ihre Existenz. Nun sind wir in der heutigen Zeit,
in der die Technologie uns immer mehr Möglichkeiten schafft, an
einem Punkt angelangt, wo nicht nur Funktionen von Organen ersetzt
werden, sondern sogar Denkprozesse des Gehirns, also geistige
Leistungen, von der Technik vollzogen werden können. Das
Verhältnis von materiellen und immateriellen Bestandteilen verhält
sich hier nahezu kongruent: Wo in Stufe 1 physische Kräfte, für die
man als Mensch seine Körperteile (Arme, Beine etc.) benötigt, von
einem Werkzeug oder einer Maschine übernommen werden, da
werden in Stufe 3 Denkprozesse (Verschaltungen im Gehirn) von
digitalen Geräten mit Rechenprozessen übernommen. Das Denken
passiert unsichtbar, das Rechnen eines Computers auch. Nun
fällt mir hinsichtlich der Frage nach dem Ersatz von Gewohnheiten
aber auf, dass bisher sowohl die physischen, als auch die geistigen
Prozesse, die ersetzt wurden, bewusste, zielgerichtete Prozesse sind:
Der Hammer ist uns nützlich, wenn wir einen Nagel in die Wand
schlagen wollen. Das Auto hilft uns da, wo wir u.a. schneller und
kraftsparender an einen anderen Ort gelangen wollen. Das Smartphone
ermöglicht uns, über große Distanzen hinweg mit anderen
Menschen zu kommunizieren, wann und wo wir wollen. Auf Internetseiten
werden automatisch unsere vom Computer gespeicherten
persönlichen Daten (z.B. Adresse) in Eingabefelder eingetragen, weil
dies unser Ziel ist. Alles, wo wir unterstützt werden, wo uns Geräte
oder Programme uns entlasten, basiert auf unseren Wünschen, unseren
bewussten Handlungen und Denkprozessen. Gewohnheiten
sind nun aber keine bewussten Prozesse, sondern unbewusste. Der
Grund für ihre Bildung ist zwar auch auf ein Ziel ausgerichtet (die
Entlastung), aber dieses Ziel ist uns nicht bewusst. Natürlich ist das
gewohnheitsgemäße Lichtausschalten eine Handlung, die außerhalb
der Gewohnheit bewusst durchgeführt wird, aber der Auslöser und
der Impuls zur habitualisierten Durchführung dieser Handlung sind
nicht bewusst. Somit passiert das Ersetzen von Gewohnheiten durch
automatisierte Prozesse nicht mit einer solchen Kongruenz, wie für
die anderen Fälle beschrieben. Das mag in der Praxis erst einmal
keine große Rolle spielen, ist aber interessant, wenn man es als Entwicklung
betrachtet, als Stufe 3 möglicherweise: Dass nun auch unbewusster
geistiger Aufwand durch technische, automatisierte Mittel
entbehrlich werden.
Was passiert nun, wenn Gewohnheitsbildungen aufgrund digitaler
Assistenz nicht mehr nötig sind und ausbleiben? Bringt uns das
spürbar etwas? Werden wir freier dadurch und können losgelöst von
eingeschliffenen Wiederholungen wieder spontaner werden? Ich
denke, dass man dies nicht mit einem klaren Ja beantworten kann.
Ja, an manchen Stellen schafft es uns sicher Freiheiten und ermöglicht
Spontanität, an anderen allerdings führt es wahrscheinlich zu
anderen und vielleicht sogar mehr Gewohnheiten. Wenn ich jetzt
z.B. noch für jedes Verkehrsmittel, dass ich nutze, andere zur Gewohnheit
gewordenen Routinen für die Entgeltung habe, weil jedes
Transportmittel sein eigenes Bezahlsystem hat, so wird es diese
unterscheidlichen Gewohnheiten in Zukunft (bei einem alles übergreifenden
Nutzungssystem sowie einer dank digitaler Erfassung
möglichen automatischen Bezahlung) nicht mehr geben. Ja, dann
reduziert sich die Nutzung der Verkehrsmittel auf die Gewohnheiten
beim Einsteigen, Fahren und Aussteigen. Davor habe ich keinen
Planungs- und Zeitaufwand. Oder wenn die Entscheidung darüber,
welches Verkehrsmittel ich nutze, durch eine App auf dem
Smartphone getroffen wird, weil diese Entscheidungsfaktoren, wie
Zeitaufwand, Preis, Komfort etc. kennt und einberechnen kann,
dann brauche ich nicht die Gewohnheit, immer ein und dasselbe
Verkehrsmittel zu nutzen, um mich der Entscheidung zu entlasten,
sondern lasse mir die passende Wahl „sagen“. Aber kann ich deshalb
spontaner leben? Ich bezweifle dies. Digitale Assistenten können
dafür sorgen, dass ich weniger Entscheidungen treffen muss,
mich damit entlaste, aber gleichzeitig erschaffen sie mich umgebende
stabile Bedingungen, weil sie verlässlich – ohne emotionale und
körperliche Schwankungen – immer funktionieren. Diese Stabilität
wiederum ist ein „Nährboden“ für Gewohnheiten, weil sie als Programmierung
demselben Prinzip folgen (Wenn – dann). An dieser
Stelle verweise ich kurz auf den in Kapitel 5.1 beschriebenen Unterschied
zwischen dem Menschen in der Stadt und dem auf dem
Land, wo sich zeigt, dass bei regelmäßiger Wiederholung durch
Alternativlosigkeit auch Gewohnheiten bilden, nur eben nicht zur
Entlastung sondern aus den Bedingungen heraus. Nun könnte die
Art der Programmierung eine gewollte Abwechslung beinhalten,
sodass der digitale Assistent mir bei gleichen Bedingungen dennoch
unterschiedliche Entscheidungen vorschlägt, die alle recht nah an
der vermeintlich treffendsten liegen. So würden Wiederholungen
reduziert werden und meine Umgebung wäre weniger konstant.
Jedoch tritt dann ein anderer Fall ein: Viel Abwechslung führt wieder
zu einer hohen kognitiven Beanspruchung, zur Belastung bis zur
Überbelastung und verlangt am Ende wieder Entlastung, weil wir
zu dieser tendieren. Ähnlich zeigt es sich in der Institutionstheorie
von Arnold Gehlen, die eine sich verringernde Bedeutung von Institutionen
beschreibt, die zu weniger Orientierung führt. Auf sich
allein gestellt schafft es der moderne Mensch nicht, seine Triebe und
Bedürfnisse zielführend umzulenken und fällt mit diesen auf sich
selbst zurück. Der Entlastungseffekt bleibt aus.
Meine Vermutung ist demnach, dass wir den Gewohnheiten nicht
auf Dauer entkommen. Für den Moment ist eine Loslösung durch
digitale Ablösung möglich und befreiend, doch die neuen Zugänglichkeiten
und Möglichkeiten für spontane Entscheidungen, die
sich uns dabei eröffnen, beanspruchen uns so sehr, dass wir uns an
anderen Stellen wieder etwas angewöhnen, wie in dem Beispiel des
Distanzverhaltens zwischen Menschen (4.2). Denkbar wäre, dass ein
Teil unseres Alltags mehr denn je von Gewohnheiten geprägt ist,
während ein anderer, kleinerer, extreme Freiheiten, Abwechslung
und Spontanität bietet. Das passt durchaus auch zu der von Arnold
Gehlen beschriebenen Persönlichkeitsentwicklung, bezogen auf das
Arbeits- und Freizeitverhalten der heutigen Gesellschaft. Gleichmäßig
verteilte Gewohnheiten verschieben sich demnach und bilden
zwei Extreme, die sich abwechseln, damit wir überlebensfähig bleiben.
Quellenverzeichnis
Literatur
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Internet
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www.jf-archiv.de/archiv06/200605012747.htm (Stand: 11.10.2016)
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freiheit-und-entfremdung-in-arnold-gehlens-institutionentheorie
Stand (11.10.2016)
Bilder
1 Sinja Möller nach Vorbild in: Eyal, Nir, Hooked. How to build habit-forming
products, London 2014, S. 30
2 http://www.cosmoty.de/gewinnspiel/febreze-swiffer-meister-proper/febreze-swiffer-meister-proper-2.jpg
3 http://www.gamersglobal.de/sites/gamersglobal.de/files/news/teaser/252/Windows%208_01.png
4 https://de.foursquare.com/explore?mode=url&near=Frankfurt%20
am%20Main%2C%20Deutschland&nearGeoId=72057594040853469
5 http://livehoods.org/maps/nyc
6 Sinja Möller
7 Sinja Möller