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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
2 2017<br />
18. Januar<br />
29. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt Ekkehart Schäfer, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
• Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln •<br />
Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann,<br />
Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />
Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
Details unter: www.zap-verlag.de/App<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
BER: Amtsträgereigenschaft von Mitarbeitern öffentlicher Unternehmen (S. 47)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neuregelungen im Januar (S. 48) • Prozesskostenhilfebekanntmachung 2017 (S. 50) •<br />
Schutzschriftenregister jetzt Pflicht (S. 51)<br />
Aufsätze<br />
Düsseldorfer Tabelle – Stand 1.1.2017 (S. 67)<br />
Cuypers, Das zuständige Gericht in Zivilsachen – Teil 19 (S. 73)<br />
Haas, Die neuen Regelungen zur Begünstigung von Betriebsvermögen bei der Erbschaft‐ und<br />
Schenkungsteuer (S. 83)<br />
Eilnachrichten<br />
BGH: Pauschales Entgelt für geduldete Überziehungen (S. 58)<br />
EuGH: Anforderungen an die Vorratsdatenspeicherung in der EU (S. 63)<br />
AGH NRW: Voraussetzung fachlicher Unabhängigkeit für Zulassung als Syndikusrechtsanwalt (S. 66)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 47–48<br />
Anwaltsmagazin – – 48–54<br />
Eilnachrichten 1 11–22 55–66<br />
Düsseldorfer Tabelle – Stand: 1.1.2017 11 1385–1390 67–72<br />
Cuypers, Das zuständige Gericht in Zivilsachen – Teil 19:<br />
Gerichtsbestimmung, Grundsätze 13 2169–2178 73–82<br />
Haas, Die neuen Regelungen zur Begünstigung<br />
von Betriebsvermögen bei der Erbschaft‐ und<br />
Schenkungsteuer 20 629–638 83–92<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus, Gelsenkirchen<br />
• RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf •<br />
Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar •<br />
RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA Dr.<br />
Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Hans Reinold Horst,<br />
Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />
Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />
Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />
Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Hans-Jürgen Rabe, Hamburg • RiOLG a.D. Heinrich<br />
Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt,<br />
Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />
RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender,<br />
Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RA Prof. Dr. Hans-Friedrich Frhr. von Dörnberg, Dresden.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />
Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />
(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />
dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />
Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />
Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-41, Telefax: 0228/91911-66,<br />
E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de. Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 241,- € zzgl. MwSt. und<br />
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müssen sechs Wochen zum Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/<br />
91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail: info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche<br />
Redakteurin; Maria Teresa Feldkirchner – Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
BER: Amtsträgereigenschaft von Mitarbeitern öffentlicher Unternehmen<br />
Der geplante Berliner Großflughafen BER und seine<br />
Skandale – aus der Sicht vieler Beobachter stellt<br />
dies eine unendliche Geschichte dar, die bereits<br />
mehr als einmal die Justiz beschäftigt hat. Auch<br />
ohne eine zwischenzeitliche Inbetriebnahme geschweige<br />
denn eines validen Eröffnungstermins<br />
des Berlin/Brandenburgischen Prestigeprojekts<br />
tragen die dortigen Akteure durch Korruptionsund<br />
Betrugsvorwürfe immerhin ungewollt (wenn<br />
auch nicht immer unvorsätzlich) zur Rechtsfortbildung<br />
bei.<br />
So hatte sich kürzlich das Landgericht Cottbus mit<br />
Korruptionsvorwürfen u.a. gegen einen ehemaligen<br />
Prokuristen der Flughafenbetreibergesellschaft<br />
– zugleich die Bauherrin des Großprojekts<br />
– auseinanderzusetzen (Az. 22 KLs 8/15, <strong>ZAP</strong> EN-<br />
Nr. 73/2017). Dieser hatte dem wirtschaftlich<br />
angeschlagenen Gebäudeausrüster, der zu diesem<br />
Zeitpunkt bereits als Auftragnehmer am Projekt<br />
BER tätig war, eine Vorauszahlung auf noch nicht<br />
erbrachte Leistungen von über 60 Millionen Euro<br />
durch Abschluss zweier Ergänzungsvereinbarungen<br />
ermöglicht und dafür als Gegenleistung in<br />
beinahe filmreifer Manier – die Geldübergabe fand<br />
auf einem Autobahnrastplatz statt – 150.000 € in<br />
bar kassiert. Im Zuge von Ermittlungen gegen<br />
Verantwortliche des Gebäudeausrüsters geriet<br />
auch der ehemalige Bereichsleiter und Prokurist<br />
ins Visier der Justiz.<br />
Das in diesem Verfahren nunmehr gefällte Urteil<br />
ist rechtlich vor allem dahingehend von Interesse,<br />
soweit es sich als Voraussetzung für Strafbarkeit<br />
wegen Bestechlichkeit i.S.d. § 332 StGB mit der<br />
Frage der Amtsträgereigenschaft des angeklagten<br />
Bereichsleiters im strafrechtlichen Sinne befasst.<br />
Zum einen war der Angeklagte laut seinem<br />
Vertrag lediglich als „freier Mitarbeiter“ bei der<br />
Flughafenbetreiberin beschäftigt gewesen. Zum<br />
anderen handelt es sich bei der Flughafen Berlin<br />
Brandenburg GmbH um ein privatwirtschaftlich<br />
organisiertes Unternehmen, dessen Gesellschafter<br />
– der Bund sowie die Länder Berlin und<br />
Brandenburg – zwar öffentlich-rechtlich sind,<br />
dessen Aufgaben jedoch nicht auf den ersten<br />
Blick rein hoheitlich einzuordnen sein dürften.<br />
Das Landgericht Cottbus hat bei seiner Entscheidung<br />
die strafrechtliche Einordnung des Angeklagten<br />
als Amtsträger auf § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB<br />
gestützt. Demgemäß ist strafrechtlich als Amtsträger<br />
anzusehen, wer für eine „sonstige Stelle“<br />
Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt.<br />
Als Bereichsleiter sei er trotz seiner<br />
formalen Stellung als freier Mitarbeiter ausreichend<br />
in die Organisation der Flughafenbetreibergesellschaft<br />
eingebunden gewesen, des Weiteren<br />
handele es sich bei dieser Gesellschaft um<br />
eine „sonstige Stelle“ im Sinne der Vorschrift.<br />
Diese Einschätzung begründet das Gericht in der<br />
Hauptsache unter Zuhilfenahme der Fraport-Entscheidung<br />
des BGH vom 3.3.1999 (2 StR 437/98,<br />
BGHSt 45, 16) bzw. der dort angewandten<br />
Kriterien für die Beurteilung der Amtsträgereigenschaft<br />
von Mitarbeitern der damaligen<br />
Flughafen Frankfurt/Main AG. Diese Kriterien<br />
überträgt das Gericht in der aktuellen Entscheidung<br />
auf die Mitarbeiter der Flughafen Berlin<br />
Brandenburg GmbH und kommt – anders als der<br />
BGH, der für die Mitarbeiter der Frankfurter<br />
Flughafenbetreiberin die Amtsträgereigenschaft<br />
abgelehnt hatte – zum gegenteiligen Ergebnis.<br />
Die Flughafen Berlin Brandenburg GmbH nehme<br />
mit dem Bau des durch mehrere Milliarden Euro<br />
in Form öffentlicher Mittel finanzierten Großflughafens<br />
typische hoheitliche Aufgaben der<br />
Daseinsfürsorge wahr. Zudem wertet das Gericht<br />
den starken politischen Einfluss, der durch die<br />
Vertreter der drei öffentlich-rechtlichen Gesell-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 47
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
schafter im Aufsichtsrat auf das Projekt ausgeübt<br />
werde, als weiteres Indiz für die Qualifizierung<br />
der Betreiberin als „verlängerter Arm des Staates“.<br />
Es darf durchaus mit Spannung abgewartet werden,<br />
ob die durch den Angeklagten eingelegte<br />
Revision diese Entscheidung insoweit aufrechterhalten<br />
wird. Denn zum einen dürfte jedenfalls<br />
der Betrieb eines Flughafens – und dies macht mit<br />
den Flughäfen Tegel und Schönefeld den weitaus<br />
größten operativen Geschäftsteil der Flughafen<br />
Berlin Brandenburg GmbH aus – ebenso wenig<br />
wie der Bau eines solchen eine typisch hoheitliche<br />
Aufgabe sein. Dies ergibt sich bereits aus der<br />
Tatsache, dass viele andere Flughäfen aus privater<br />
Hand betrieben werden. Somit wäre auch nach der<br />
Logik des Landgerichts Cottbus zumindest eine<br />
Differenzierung der Mitarbeiter nach deren Aufgabenbereich<br />
– Bau oder Flughafenbetrieb – für<br />
deren Einordnung als Amtsträger erforderlich gewesen.<br />
Darüber hinaus lässt die Rechtsprechung<br />
des BGH zum Amtsträgerbegriff (etwa in den<br />
Entscheidungen „Stadtwerke Köln“ oder „Berliner<br />
Stadtreinigung“) durchaus Spielraum für Weiterentwicklung<br />
zu. Ob die „staatliche Steuerung“ nach<br />
dem Wortlaut des § 11 Abs. 2c StGB tatsächlich<br />
taugliches Kriterium für die Amtsträgereigenschaft<br />
sein kann, darf bezweifelt werden. Die Rede ist dort<br />
nur von der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben.<br />
Die daraus entstehende Unsicherheit für die Mitarbeiter<br />
öffentlicher Unternehmen sollte auch vor<br />
dem Hintergrund zunehmender Privatisierung von<br />
Verwaltungsaufgaben durch eine Neubewertung<br />
des Gesetzgebers beseitigt werden.<br />
Interessant, nicht zuletzt für das Rechtsempfinden<br />
des objektiven Beobachters, wäre die rechtliche<br />
Folge, wenn die Revision die Qualifikation der<br />
Mitarbeiter der Berliner Flughafengesellschaft nicht<br />
teilen sollte: In diesem Fall bliebe lediglich die<br />
Möglichkeit der Bestrafung nach § 299 StGB wegen<br />
Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr in der<br />
zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung. Diese dürfte<br />
jedoch hier an der erforderlichen unlauteren Bevorzugung<br />
im Wettbewerb scheitern, da der Gebäudeausrüster<br />
bereits Auftragnehmerin war und<br />
nicht etwa in einer Ausschreibung oder ähnlichen<br />
Situation anderen Unternehmen gegenüber bevorzugt<br />
worden ist. Die hier gewährte Gegenleistung<br />
für eine Vorauszahlung würde lediglich eine<br />
„Selbstschädigung“ der Firma darstellen. Für den<br />
immerhin zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren<br />
und sechs Monaten verurteilen Angeklagten dürfte<br />
demnach sogar die Straflosigkeit für die Annahme<br />
seiner Beschleunigungszahlung im Raum stehen –<br />
ein Ergebnis, das der Öffentlichkeit sicherlich vor<br />
dem Hintergrund der (Strafrechts-)Geschichte des<br />
BER schwer zu vermitteln sein dürfte.<br />
Rechtsanwalt Dr. BENJAMIN WEILER, Berlin<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neuregelungen im Januar<br />
Zum 1. Januar sind wieder zahlreiche Neuregelungen<br />
in Kraft getreten. Sie betreffen vor<br />
allem die Bereiche Arbeit und Soziales, Gesundheit<br />
und Familie sowie den Steuer- und Finanzsektor.<br />
Über einige Änderungen, wie die Anhebung<br />
des Kindergeldes und der Leistungen<br />
zur Grundsicherung, hatten wir bereits in der<br />
letzten Ausgabe berichtet (<strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin<br />
1/2017, S. 2 f.). Eine Auswahl der wichtigsten<br />
sonstigen Änderungen ist nachstehend wiedergegeben.<br />
48 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
I. Arbeit und Soziales<br />
• Mindestlohn<br />
Der gesetzliche Mindestlohn ist zum 1. Januar von<br />
8,50 € auf 8,84 € brutto je Zeitstunde erhöht<br />
worden.<br />
• Arbeitsstättenverordnung<br />
Bereits seit dem 3. Dezember sind die Anforderungen<br />
an Arbeitsräume und Telearbeitsplätze<br />
neu geregelt. Künftig müssen auch psychische<br />
Belastungen bei der Beurteilung der Gefährdungen<br />
berücksichtigt werden (vgl. näher hierzu <strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin 23/2016, S. 1208).<br />
• Weiterbildung in Kleinbetrieben<br />
Für Arbeitgeber entfällt seit dem 1. Januar die Pflicht,<br />
sich an den Kosten einer beruflichen Weiterbildung<br />
der Arbeitnehmer zu beteiligen, wenn der Betrieb<br />
weniger als zehn Beschäftigte hat.<br />
• Flexi-Rente<br />
Wer eine Regelaltersrente bezieht und trotzdem<br />
weiterarbeitet, erhöht ab dem 1. Januar seinen<br />
Rentenanspruch, wenn er weiter Beiträge zahlt. So<br />
kann die Rente um bis zu neun Prozent jährlich gesteigert<br />
werden. Die Beiträge des Arbeitgebers zur<br />
Arbeitslosenversicherung entfallen zunächst für die<br />
Dauer von fünf Jahren. Ab dem 1. Juli lassen sich Teilrente<br />
und Hinzuverdienst individuell kombinieren.<br />
• Wegfall der Zwangsverrentung<br />
Die sog. Unbilligkeitsverordnung wirkt seit dem<br />
1. Januar einer „Zwangsverrentung“ entgegen. Wer<br />
Leistungen aus der Grundsicherung für Erwerbsfähige<br />
bezieht, wird nicht mehr zum Eintritt in eine<br />
vorgezogene Altersrente mit Abschlägen verpflichtet,<br />
wenn die Höhe dieser Rente zur Bedürftigkeit,<br />
also zum Bezug von Grundsicherungsleistungen<br />
im Alter führen würde.<br />
• Renteneintritt<br />
Seit 2012 erhöht sich die Altersgrenze für den<br />
Eintritt in die Rentenphase schrittweise. Auch mit<br />
dem neuen Jahr steigt sie erneut um einen Monat<br />
an. Wer also 1952 geboren ist und in diesem Jahr<br />
in den Ruhestand geht, muss sechs Monate über<br />
seinen 65. Geburtstag hinaus arbeiten, wenn er<br />
seine Rente abschlagsfrei beziehen möchte.<br />
• Behindertenrechte<br />
Mit dem neuen Bundesteilhabegesetz werden die<br />
Eingliederungshilfe reformiert und die Assistenzleistungen<br />
modernisiert. Das Gesetz wird bis 2020<br />
stufenweise umgesetzt. Ab dem 1.1.2017 erhöhen<br />
sich die Freibeträge für Erwerbseinkommen um bis<br />
zu 260 € monatlich. Die Vermögensfreigrenze liegt<br />
dann bei 25.000 €. Partnereinkommen werden<br />
nicht angerechnet. Bereits im Dezember hat die<br />
Schlichtungsstelle nach dem Behindertengleichstellungsgesetz<br />
ihre Arbeit aufgenommen. Behinderte<br />
Menschen können sich dorthin wenden, wenn sie<br />
Konflikte im öffentlich-rechtlichen Bereich haben.<br />
II. Gesundheit und Pflege<br />
• Neues Begutachtungssystem in der Pflege<br />
Ein neues Begutachtungssystem soll künftig dafür<br />
sorgen, dass der tatsächliche Unterstützungsbedarf<br />
von Pflegebedürftigen besser erfasst wird.<br />
Aus den bisherigen drei Pflegestufen werden fünf<br />
Pflegegrade. Der Begriff der Pflegebedürftigkeit<br />
wird neu definiert. Um den Unterstützungsbedarf<br />
festzustellen, wird künftig der Grad der Selbstständigkeit<br />
gemessen, unabhängig davon, ob es<br />
sich um eine geistige oder körperliche Einschränkung<br />
handelt.<br />
• Waisenrente<br />
Bezieher von Waisenrenten sind ab 2017 in der<br />
gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert.<br />
Bis sie die maßgebende Altersgrenze für<br />
die Familienversicherung erreichen – also maximal<br />
bis zum 25. Lebensjahr – bleiben sie beitragsfrei.<br />
• Arzneimittelrecht<br />
Das Teleshopping für Medikamente ist seit Januar<br />
nur noch eingeschränkt zulässig. Verschreibungspflichtige<br />
Medikamente gibt es künftig nur noch,<br />
wenn vorher Arzt und Patient direkten Kontakt<br />
hatten.<br />
III.Familien- und Frauenrechte<br />
• Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende<br />
Wegen der Erhöhung des Mindestunterhalts steigt<br />
der Unterhaltsvorschuss ab dem 1. Januar für Kinder<br />
bis zu fünf Jahren auf 150 € monatlich, für Kinder<br />
von sechs bis elf Jahren auf 201 € pro Monat.<br />
• Prostituiertenschutzgesetz<br />
Prostituierte sind künftig besser vor Ausbeutung,<br />
Gewalt und Menschenhandel geschützt und erhalten<br />
besseren Zugang zu Unterstützungs- und<br />
Beratungsangeboten (vgl. dazu auch <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin<br />
8/2016, S. 395).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 49
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
IV. Steuern und Finanzen<br />
• Vereinfachte Steuererklärung<br />
Künftig soll auf Papier-Kommunikation zwischen<br />
Bürgern, Unternehmen und Finanzamt in beide<br />
Richtungen weitgehend verzichtet werden. Steuerpflichtige<br />
müssen deshalb seit Januar 2017 bei der<br />
elektronischen Steuererklärung Papierbelege wie<br />
Spendenquittungen nicht mehr einreichen, sondern<br />
nur noch aufbewahren.<br />
• Gewinnverschiebungen ins Ausland<br />
Um schädlichen Steuerwettbewerb zwischen<br />
Staaten und aggressive Steuergestaltungen von<br />
Konzernen zurückzudrängen, können die Finanzverwaltungen<br />
die Finanzströme der Unternehmen<br />
künftig einsehen und überprüfen. Zwischen<br />
den EU-Mitgliedstaaten findet zu diesem Zweck<br />
ein automatischer Informationsaustausch statt.<br />
• Steuerliche Verlustverrechnung<br />
Künftig können Kapitalgesellschaften nicht genutzte<br />
Verluste auch bei einem Wechsel des<br />
Anteilseigners steuerlich geltend machen und<br />
mit künftigen Gewinnen verrechnen. Damit sollen<br />
Investitionen in deutsche Unternehmen gefördert<br />
werden.<br />
• Kleinanlegerschutz<br />
Verkaufsprospekte und Informationsblätter zu<br />
Vermögensanlagen müssen seit dem 3. Januar<br />
zusätzliche Informationen über die Zielgruppe<br />
und den Zweck der Anlage sowie zu möglichen<br />
Verlusten enthalten. Finanzinstitute sind verpflichtet,<br />
umfassend zu bewerten, welche Verluste<br />
für Kunden tragbar sind.<br />
V. Straßenverkehr<br />
• Änderungen in der StVO<br />
Radelnde Eltern dürfen ihren Nachwuchs künftig<br />
auch auf dem Fußweg begleiten. Hinzu kommen<br />
neue Regelungen zu Rettungsgassen, 30er-<br />
Zonen, E-Bikes und Radwegen.<br />
• Emissionsstandards bei Motorrädern<br />
Neue Motorräder und Kleinkrafträder werden seit<br />
Januar nur noch zugelassen, wenn sie den Schadstoffvorgaben<br />
der Euro-4-Norm entsprechen.<br />
Gegenüber der bislang geltenden Euro-3-Norm<br />
verringert sich der Emissionsausstoß um mehr<br />
als die Hälfte. Der maximale Geräuschpegel darf<br />
bei Motorrädern über 175 Kubik nicht mehr als<br />
80 dB(A) betragen.<br />
• Fahrzeug-Klimaanlagen<br />
Seit dem 1. Januar dürfen Klimaanlagen in sämtlichen<br />
Fahrzeugen nicht mehr mit fluorierten<br />
Treibhausgasen mit einem Treibhaus-Potenzial<br />
(GWP) über 150 befüllt werden. Dazu zählt auch<br />
das bisher eingesetzte Kältemittel R134a.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Basiszinssatz zum 1.1.2017<br />
Der Basiszinssatz beträgt auch im ersten Halbjahr<br />
2017 unverändert -0,88 %. Er wird zum<br />
1. Januar und 1. Juli eines jeden Jahres festgelegt<br />
und gem. § 247 Abs. 2 BGB durch die Deutsche<br />
Bundesbank im Bundesanzeiger bekannt gegeben.<br />
Bedeutung hat er etwa für die Berechnung<br />
von Verzugszinsen nach § 288 BGB und für die<br />
Verzinsung im Rahmen der Kostenfestsetzung<br />
nach § 104 Abs. 1 ZPO sowie auch für die<br />
Notarkosten (§ 88 GNotKG). Die Werte für die<br />
zurückliegenden Zeiträume lauten: 2. Halbjahr<br />
2016: -0,88 %; 1. Halbjahr 2016: -0,83 %; 2. Halbjahr<br />
2015: -0,83 %. [Quelle: Bundesbank]<br />
Prozesskostenhilfebekanntmachung<br />
2017<br />
Mit der Bekanntmachung vom 12.12.2016 (BGBl I,<br />
S. 2869) hat der Bundesminister der Justiz und für<br />
Verbraucherschutz die neuen Beträge nach § 115<br />
Abs. 1 S. 3 ZPO veröffentlicht. Danach betragen<br />
die ab dem 1.1.2017 vom Einkommen der Partei<br />
abzusetzenden Beträge:<br />
1. für Parteien, die ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit<br />
erzielen 215 €,<br />
2. für die Partei und ihren Ehegatten oder ihren<br />
Lebenspartner 473 €,<br />
3. für jede weitere Person, der die Partei aufgrund<br />
gesetzlicher Unterhaltspflicht Unterhalt leistet,<br />
in Abhängigkeit von ihrem Alter:<br />
a) Erwachsene 377 €,<br />
b) Jugendliche vom Beginn des 15. bis zur<br />
Vollendung des 18. Lebensjahres 359 €,<br />
c) Kinder vom Beginn des siebten bis zur<br />
Vollendung des 14. Lebensjahres 333 €,<br />
d) Kinder bis zur Vollendung des sechsten<br />
Lebensjahres 272 €. [Quelle: BMJV]<br />
50 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Schutzschriftenregister jetzt Pflicht<br />
Die Bundesrechtsanwaltskammer hat darauf hingewiesen,<br />
dass seit dem 1.1.2017 der neue § 49c<br />
BRAO in Kraft ist. Danach sind alle Rechtsanwältinnen<br />
und Rechtsanwälte nunmehr verpflichtet,<br />
Schutzschriften ausschließlich zum elektronischen<br />
Schutzschriftenregister nach § 945a ZPO einzureichen.<br />
Bereits seit dem 1.1.2016 führt die Landesjustizverwaltung<br />
Hessen für die Länder dieses<br />
zentrale, länderübergreifende Register für Schutzschriften.<br />
Das Schutzschriftenregister (ZSSR) ist erreichbar<br />
unter https://schutzschriftenregister.hessen.de<br />
und darf nicht mit dem bisherigen Schutzschriftenregister<br />
der Europäischen Akademie des Rechts<br />
(ZSR) verwechselt werden.<br />
Grundlage für die technische Ausgestaltung des<br />
Schutzschriftenregisters ist die Verordnung über<br />
das elektronische Schutzschriftenregister (SRV)<br />
vom 24.11.2015. Erstmals definiert die ZPO in<br />
diesem Zusammenhang den Begriff der Schutzschrift:<br />
Schutzschriften sind vorbeugende Verteidigungsschriftsätze<br />
gegen erwartete Anträge<br />
auf Arrest oder einstweilige Verfügung. Wichtig<br />
ist die nach § 945a Abs. 2 S. 1 ZPO geregelte<br />
Rechtsfolge: Eine Schutzschrift gilt als bei allen<br />
ordentlichen Gerichten der Länder eingereicht,<br />
sobald sie in das Schutzschriftenregister eingestellt<br />
ist. Das Problem des fliegenden Gerichtsstands<br />
relativiert sich somit zukünftig (zur<br />
Schutzschrift im einstweiligen Rechtsschutz s.<br />
SCHMITT-GAEDKE <strong>ZAP</strong> F. 13, S. 2091 ff.).<br />
Schutzschriften können nach § 2 Abs. 4 S. 1 SRV<br />
entweder mit qualifizierter elektronischer Signatur<br />
oder über einen „sicheren Übermittlungsweg“<br />
zum Register eingereicht werden.<br />
Ein solcher sicherer Übermittlungsweg soll auch<br />
der Versand über das neue besondere elektronische<br />
Anwaltspostfach (beA) sein, vgl. § 2 Abs. 5<br />
Nr. 2 SRV. Der Nachweis, dass die Nachricht von<br />
einem Rechtsanwalt selbst versandt wurde, wird<br />
gem. § 20 Abs. 3 der Rechtsanwaltsverzeichnisund<br />
-postfachverordnung (RAVPV) allerdings erst<br />
ab dem 1.1.2018 verlangt (§ 32 Abs. 2 RAVPV).<br />
Wegen dieses Zusammenspiels von SRV und<br />
RAVPV können Schutzschriften deshalb erst ab<br />
dem 1.1.2018 über das beA als sicherer Übermittlungsweg<br />
eingereicht werden. Bis dahin können<br />
Schutzschriften aber trotzdem über das beA<br />
eingereicht werden, wenn sie zuvor qualifiziert<br />
elektronisch signiert wurden. [Quelle: BRAK]<br />
Datenbank für notarielle Urkunden<br />
geplant<br />
Die Bundesregierung will etwas dagegen unternehmen,<br />
dass die Räumlichkeiten zur Aufbewahrung<br />
notarieller Unterlagen in den Notariaten<br />
und Gerichten „aus den Nähten platzen“. Sie hat<br />
dazu einen Gesetzentwurf zur „Neuordnung der<br />
Aufbewahrung von Notariatsunterlagen und zur<br />
Einrichtung des Elektronischen Urkundenarchivs<br />
bei der Bundesnotarkammer“ (vgl. BT-Drucks<br />
18/10607) beim Bundestag eingereicht.<br />
Nach geltendem Recht müssen notarielle Urkunden<br />
und andere Notariatsunterlagen zwischen<br />
fünf und 100 Jahren, in bestimmten Fällen sogar<br />
unbefristet aufbewahrt werden. Jährlich kommen<br />
nach Angaben der damit befassten Stellen rund<br />
sieben Millionen Urkunden hinzu. Wie die Bundesregierung<br />
in der Begründung des Gesetzentwurfs<br />
schreibt, stoßen damit sowohl die Notariate als<br />
auch die in vielen Fällen für die Aufbewahrung<br />
zuständigen Amtsgerichte an die Grenzen ihrer<br />
räumlichen Möglichkeiten.<br />
Die Bundesregierung will das Problem durch die<br />
langfristige Umstellung auf eine elektronische<br />
Speicherung solcher Dokumente lösen. Die Datenbank<br />
dafür soll von der Bundesnotarkammer<br />
eingerichtet und geführt werden. Sie soll die<br />
langfristige elektronische Verwahrung von Notariatsunterlagen<br />
gewährleisten. Das vorgelegte<br />
umfangreiche Gesetzeswerk soll die damit verbundenen<br />
Einzelheiten regeln.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Reform des Berufsgeheimnisschutzes<br />
§ 203 StGB stellt den Schutz von Geheimnissen vor<br />
unbefugter Offenbarung sicher, die Angehörigen<br />
bestimmter Berufsgruppen, etwa Rechtsanwälte,<br />
Ärzte, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer, im Rahmen<br />
ihrer beruflichen Tätigkeit anvertraut werden.<br />
Insbesondere die Digitalisierung hat es in den<br />
letzten Jahrzehnten möglich und erforderlich gemacht,<br />
in weiterem Umfang als bisher anfallende<br />
Unterstützungstätigkeiten nicht durch eigenes<br />
Personal erledigen zu lassen, sondern durch Externe,<br />
z.B. darauf spezialisierte Unternehmen oder<br />
selbstständig tätige Personen. Hierzu gehören beispielsweise<br />
auch die Einrichtung, der Betrieb, die<br />
Wartung und die Anpassung von EDV-technischen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 51
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Anlagen. Die Heranziehung dritter, außerhalb der<br />
eigenen Sphäre stehender Personen zu diesen<br />
unterstützenden Tätigkeiten ist für die Berufsgeheimnisträger<br />
allerdings nicht ohne rechtliches<br />
Risiko, sofern diese Personen damit von geschützten<br />
Geheimnissen Kenntnis erlangen können.<br />
Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />
plant deshalb, den Berufsgeheimnisschutz<br />
der aktuellen technischen Entwicklung<br />
anzupassen und hat einen Gesetzentwurf „zur<br />
Neuregelung des Schutzes von Geheimnissen bei<br />
der Mitwirkung Dritter an der Berufsausübung<br />
schweigepflichtiger Personen“ erarbeitet.<br />
Darin ist insbesondere eine Einschränkung der<br />
Strafbarkeit nach § 203 StGB vorgesehen. Ausdrücklich<br />
nicht der Strafbarkeit unterfallen soll<br />
zukünftig das Offenbaren von geschützten Geheimnissen<br />
gegenüber Personen, die an der beruflichen<br />
oder dienstlichen Tätigkeit des Berufsgeheimnisträgers<br />
mitwirken, soweit dies für die<br />
ordnungsgemäße Durchführung der Tätigkeit<br />
der mitwirkenden Personen erforderlich ist. Die<br />
damit verbundene Verringerung des Geheimnisschutzes<br />
soll dadurch kompensiert werden, dass<br />
mitwirkende Personen, die bei der ordnungsgemäßen<br />
Durchführung ihrer Tätigkeit die Möglichkeit<br />
erhalten, von geschützten Geheimnissen<br />
Kenntnis zu erlangen, in die Strafbarkeit nach<br />
§ 203 StGB einbezogen werden. Darüber hinaus<br />
werden für Berufsgeheimnisträger strafbewehrte<br />
Sorgfaltspflichten normiert, die bei der Einbeziehung<br />
von Dienstleistern in die Berufsausübung zu<br />
beachten sind.<br />
Begleitend soll mit dem Entwurf für die Berufsgeheimnisträger<br />
im Bereich der rechtsberatenden<br />
Berufe normiert werden, unter welchen<br />
Voraussetzungen sie Dienstleistungen überhaupt<br />
auslagern dürfen, bei deren Erbringung der<br />
Dienstleister Kenntnis von Daten erhält, die der<br />
Verschwiegenheit unterliegen. Hierbei soll auch<br />
festgelegt werden, welche Pflichten dabei im<br />
Hinblick auf die Wahrung der Verschwiegenheit<br />
zu beachten sind. Die für Rechtsanwälte und für<br />
Patentanwälte bereits auf Ebene des Satzungsrechts<br />
bestehende Berufspflicht, Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter zur Verschwiegenheit zu<br />
verpflichten, wird in das Gesetz übernommen;<br />
hierzu sollen die Bundesrechtsanwaltsordnung,<br />
die Bundesnotarordnung und die Patentanwaltsordnung<br />
entsprechend angepasst werden.<br />
[Quelle: BMJV]<br />
Sozialkassen sollen abgesichert<br />
werden<br />
Die Regierungsfraktionen im Bundestag wollen<br />
die Zukunft des Sozialkassenverfahrens im Baugewerbe<br />
sichern und haben dazu einen Gesetzentwurf<br />
vorgelegt (vgl. BT-Drucks 18/10631).<br />
Damit reagieren sie auf ein Urteil des BAG vom<br />
21.9.2016, in dem die Wirksamkeit von Allgemeinverbindlicherklärungen<br />
des Tarifvertrags über<br />
das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe für<br />
ungültig erklärt worden war. Diese vom BAG<br />
erkannte Unwirksamkeit sei geeignet, den weiteren<br />
Bestand der Sozialkassen zu gefährden und<br />
damit Nachteile sowohl für Betriebe als auch<br />
Beschäftigte mit sich zu bringen. Denn die Kassen<br />
müssten damit rechnen, mit hohen Beitragsrückzahlungen<br />
konfrontiert zu werden, schreiben die<br />
Koalitionsfraktionen.<br />
Um dies abzuwenden, sollen die bislang stets nach<br />
§ 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge,<br />
die dem Sozialkassenverfahren zugrunde<br />
liegen, beginnend mit dem 1.1.2006 kraft Gesetzes<br />
mittels statischer Verweisung für alle Arbeitgeber<br />
verbindlich angeordnet werden. Das Gesetz schaffe<br />
damit eine eigenständige Rechtsgrundlage für die<br />
Sozialkassenverfahren im Baugewerbe. Die Kassen<br />
könnten ausstehende Beiträge wieder einziehen,<br />
die Risiken aufgrund ausstehender Rückforderungsansprüche<br />
könnten abgewendet werden,<br />
heißt es im Entwurf. Das Gesetz soll einen Rechtsgrund<br />
für das Behaltendürfen der eingezogenen<br />
Beiträge i.S.d. §§ 812 ff. BGB schaffen.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Positive Resonanz zur<br />
Beschuldigtenrechtereform<br />
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der die<br />
Rechte von Beschuldigten in Strafverfahren<br />
regelt (s. dazu BT-Drucks 18/9534), ist bei den<br />
Sachverständigen im Grundsatz auf Zustimmung<br />
gestoßen. Bei einer öffentlichen Anhörung des<br />
Rechtsausschusses im Bundestag beschränkte<br />
sich ihre Kritik auf Einzelheiten.<br />
Das vorgeschlagene „Zweite Gesetz zur Stärkung<br />
der Verfahrensrechte von Beschuldigten in Strafverfahren<br />
und zur Änderung des Schöffenrechts“<br />
soll hauptsächlich eine EU-Richtlinie in deutsches<br />
Recht umsetzen. Zudem sind Änderungen im<br />
Recht für ehrenamtliche Richter enthalten. Die<br />
52 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Bundesregierung weist in dem Gesetzentwurf<br />
darauf hin, dass die Rechtslage in Deutschland<br />
schon weitgehend der EU-Richtlinie entspricht<br />
und daher vor allem Klarstellungen und nur<br />
wenige Änderungen vorgesehen sind.<br />
Eine dieser Klarstellungen betrifft das Anwesenheitsrecht<br />
des Verteidigers schon bei der ersten<br />
polizeilichen Vernehmung. Die Polizei wird verpflichtet,<br />
aktiv bei der Suche eines Verteidigers zu<br />
helfen. Auch ist der Verteidiger bei einzelnen<br />
Ermittlungsschritten wie der Gegenüberstellung<br />
vorab zu informieren und zu beteiligen. Der<br />
Berliner Strafverteidiger STEFAN CONEN hob einerseits<br />
die Bedeutung dieser Regelung hervor und<br />
verwies auf Untersuchungen zu später revidierten<br />
Fehlurteilen, wonach Unschuldige vor allem<br />
infolge falscher Identifizierung verurteilt würden.<br />
Wichtiger als das Teilnahmerecht des Verteidigers<br />
sei aber, dass von diesen Vorgängen Videoaufzeichnungen<br />
angefertigt werden, die bei Zweifeln<br />
vor Gericht herangezogen werden könnten. Auch<br />
für andere Vorgänge im polizeilichen Ermittlungsverfahren,<br />
wie Belehrungen, sollten Aufzeichnungen<br />
vorgeschrieben werden. Bei Verfahrensfehlern<br />
trage der Beschuldigte die Beweislast, aber<br />
ohne Dokumentation könne er diesen Beweis<br />
kaum erbringen.<br />
Der Vorsitzende Richter am BGH ROLF RAUM<br />
warnte dagegen, die im Gesetzentwurf angelegte<br />
„zunehmende Formalisierung“ der Verteidigerrechte<br />
würde „Verfahren schwerfälliger und ineffizienter<br />
machen“. Ähnlich argumentierte der<br />
Marburger Oberstaatsanwalt GERT-HOLGER WILLANZ-<br />
HEIMER. Die vorgesehene Verpflichtung, im Verlauf<br />
eines Ermittlungsverfahrens „jedes Mal aktiv den<br />
Verteidiger zu benachrichtigen“, führe zu einer Verkomplizierung.<br />
Ausdrücklich begrüßte dagegen der<br />
Vertreter des Deutschen Anwaltvereins, MICHAEL<br />
ROSENTHAL, die umfassenden Mitwirkungsrechte der<br />
Verteidiger im Ermittlungsverfahren. So werde „bei<br />
Tat-Rekonstruktionen unglaublich viel übersehen“. Die<br />
Anwesenheit des Verteidigers könne hier helfen,<br />
Fehler zu vermeiden.<br />
Gleich mehrere Sachverständige kritisierten eine<br />
vorgeschlagene Änderung des Jugendgerichtsgesetzes.<br />
Darin geht es um die Rechte festgenommener<br />
Jugendlicher und um die Pflicht, ihre Eltern<br />
zu benachrichtigen. Diese Benachrichtigung soll<br />
unterbleiben können, wenn – etwa im Fall krimineller<br />
Familien – durch die Benachrichtigung der<br />
Ermittlungserfolg gefährdet oder das Kindeswohl<br />
beeinträchtigt würde. Hier sehen Gutachter zum<br />
einen Widersprüche zwischen einem neu einzuführenden<br />
Paragrafen und einem weiterbestehenden<br />
alten. Zum anderen forderte der Passauer<br />
Rechtswissenschaftler ROBERT ESSER für einen solch<br />
„weitgehenden Eingriff ins Elternrecht“ genauere<br />
Regelungen und zeitliche Grenzen.<br />
Die im Gesetzentwurf mit enthaltenen Änderungen<br />
im Schöffenrecht sollen es einerseits den<br />
Gemeinden erlauben, leichter genügend ehrenamtliche<br />
Richter zu finden, andererseits Schöffen<br />
besser vor Überlastung schützen. ANDREAS KREUTZER<br />
vom Deutschen Richterbund lobte daran insbesondere<br />
die Abschaffung einer Bestimmung,<br />
wonach Schöffen nach zwei fünfjährigen Amtszeiten<br />
einmal aussetzen müssen, und hob den<br />
Wert erfahrener Schöffen hervor. Auch dass die<br />
Vorschlagsliste für eine Schöffenwahl doppelt so<br />
viele Bewerber wie zu vergebende Ämter enthalten<br />
soll, begrüßte KREUTZER. Die vom Bundesrat<br />
vorgesehene Begrenzung auf das Eineinhalbfache<br />
(vgl. dazu <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 14/2016, S. 723)<br />
lehnte er unter Hinweis auf die demokratische<br />
Legitimation sowie auf notwendige Nachrücker für<br />
ausfallende Schöffen ab. [Quelle: Bundestag]<br />
Richterbund sieht Nachbesserungsbedarf<br />
bei der StPO-Reform<br />
Die Bundesregierung möchte das Strafverfahren<br />
vereinfachen und beschleunigen und hat deshalb<br />
Mitte Dezember den vom Bundesjustizministerium<br />
vorgelegten Entwurf des Gesetzes zur<br />
effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung<br />
des Strafverfahrens (vgl. dazu auch <strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin 13/2016, S. 664) mit einigen<br />
Änderungen beschlossen. Beabsichtigt ist, das<br />
Vorhaben noch in dieser Legislaturperiode in Kraft<br />
treten zu lassen.<br />
Der Deutsche Richterbund hat in einer Stellungnahme<br />
das Vorhaben insgesamt begrüßt, jedoch<br />
auch Kritik an einzelnen Regelungen geübt. So<br />
enthalte der Entwurf nach wie vor Regelungen, die<br />
aus Sicht der Richterschaft seinem Ziel, nämlich<br />
das Strafverfahren zu vereinfachen, nicht gerecht<br />
würden. Dazu gehörten insbesondere die verpflichtende<br />
audiovisuelle Dokumentation von Beschuldigtenvernehmungen<br />
in bestimmten Fällen<br />
sowie das Recht des Verteidigers, in umfangreicheren<br />
Verfahren vor Beginn der Beweisaufnahme<br />
eine Erklärung zur Anklage abzugeben.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 53
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Auch wenn der jetzige Entwurf die zwingende<br />
audiovisuelle Dokumentation von Beschuldigtenvernehmungen<br />
nur noch eingeschränkt zulasse, sei<br />
nicht auszuschließen, dass ein Beschuldigter wegen<br />
der audiovisuellen Aufzeichnung der Vernehmung<br />
die Aussage verweigere, ohne die Aufzeichnung<br />
aber zur Aussage bereit wäre. Der Gesetzentwurf<br />
sehe nicht vor, dass in solchen Fällen auf die<br />
audiovisuelle Dokumentation der Vernehmung verzichtet<br />
werden könnte, was aber geboten sei. Habe<br />
der Beschuldigte letztlich nur die Wahl zwischen<br />
einer audiovisuell dokumentierten Vernehmung<br />
oder einer Aussageverweigerung, sei dies der<br />
Wahrheitsfindung nicht dienlich.<br />
Das vorgesehene Recht des Verteidigers, vor<br />
Beginn der Beweisaufnahme eine Erklärung zur<br />
Anklage abzugeben, sehen die Richter trotz der<br />
Einschränkung auf Verfahren mit einer Verhandlungsdauer<br />
von voraussichtlich mindestens zehn<br />
Tagen sehr kritisch. Es werde in umfangreicheren<br />
Verfahren regelmäßig zu Verfahrensverzögerungen<br />
führen, auch wenn jetzt vorgesehen sei, dass<br />
der Vorsitzende dem Verteidiger aufgeben könne,<br />
die weitere Erklärung schriftlich einzureichen,<br />
wenn ansonsten der Verfahrensablauf erheblich<br />
verzögert würde. Es sei nicht ersichtlich, dass die<br />
Verteidigung nach geltendem Recht keine hinreichenden<br />
Möglichkeiten hätte, im Laufe des Verfahrens<br />
die erforderlichen Erklärungen zur Anklage<br />
abzugeben. Eine Erklärung vorab dürfte i.d.R. nicht<br />
zur Wahrheitsfindung beitragen, sondern nur den<br />
Beginn der Beweisaufnahme hinauszögern.<br />
Der Richterbund bedauert in seiner Stellungnahme<br />
zudem, dass auch der jetzige Entwurf<br />
nach wie vor keine Regelung zur Überwachung<br />
verschlüsselter Kommunikation enthält. Die Praxis<br />
benötige hier klare gesetzliche Vorgaben.<br />
[Quelle: Deutscher Richterbund]<br />
Freizügigkeit von Rechtsanwälten<br />
in der EU<br />
Rechtsanwälte in der Europäischen Union sollen<br />
besser über ihre Möglichkeiten zu einer grenzüberschreitenden<br />
Tätigkeit innerhalb der Gemeinschaft<br />
informiert werden. Aus diesem Grund hat der<br />
Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) im<br />
Herbst vergangenen Jahres Leitlinien über die Freizügigkeit<br />
von Rechtsanwälten formuliert.<br />
Sie gehen auf verschiedene Aspekte der grenzüberschreitenden<br />
Tätigkeit ein. Unter anderem<br />
wird beschrieben, was es in den einzelnen EU-<br />
Ländern bei der vorübergehenden Dienstleistungserbringung<br />
oder der dauerhaften Niederlassung<br />
als Rechtsanwalt zu beachten gilt. Auch<br />
wird erläutert, wie mit dem Umstand umzugehen<br />
ist, wenn der Rechtsanwalt bei seiner Tätigkeit im<br />
EU-Ausland sowohl den dortigen als auch den in<br />
seinem Heimatstaat geltenden Berufsstandsregeln<br />
unterliegt. Die Ausführungen gehen auch<br />
auf die Fragen der doppelten Anwaltszulassung in<br />
mehreren Mitgliedstaaten, auf die Anwendung<br />
der Freizügigkeitsrechte auf sich in fortgeschrittener<br />
Ausbildung befindende Juristen und auf die<br />
Abstimmung zwischen den nationalen Rechtsanwaltskammern<br />
bei einer grenzüberschreitenden<br />
Tätigkeit ein.<br />
Die Leitlinien sind derzeit nur in englischer und<br />
französischer Sprache verfügbar. Erhältlich sind sie<br />
auf der Homepage des CCBE. So kann etwa die<br />
46-seitige englische Version („Guidelines for Bars &<br />
Law Societies on Free Movement of Lawyers<br />
within the European Union“) unter www.ccbe.eu,<br />
dort unter „Documents/Publications“, heruntergeladen<br />
werden.<br />
[Quelle: CCBE]<br />
Mietgerichtstag 2017<br />
Vom 24.3. bis zum 25.3.2017 wird der nächste<br />
Mietgerichtstag in Dortmund, Kongresszentrum<br />
Westfalenhalle, stattfinden. Er hat in diesem Jahr<br />
die „Beendigung von Mietverhältnissen“ zum<br />
Hauptthema. Bereits am Vortag, Donnerstag<br />
den 23.3.2017, findet aus Anlass des 20-jährigen<br />
Bestehens des Deutschen Mietgerichtstags e.V.<br />
ein Symposium zum Thema „Grundfragen der<br />
Mietpreisbildung“ statt.<br />
Die Vorträge und Arbeitskreise der diesjährigen<br />
Veranstaltung gehen u.a. auf den Kündigungsschutz<br />
nach §§ 573, 574 BGB, den Verbrauch von<br />
Kündigungsrechten, den kündigungsrelevanten<br />
Rückstand, die Mieterbelange in der Zwangsverwaltung,<br />
die Vermietung an Touristen, die<br />
Fälligkeit und Abrechnung der Kaution bei Vertragsende,<br />
das Fristsetzungserfordernis für Vermieteransprüche<br />
sowie auf verschiedene Aspekte<br />
der Gewerberaummiete ein.<br />
Die Anmeldung zur Teilnahme erfolgt unter<br />
www.mietgerichtstag.de oder schriftlich an den<br />
Deutschen Mietgerichtstag e.V.<br />
[Quelle: Mietgerichtstag]<br />
54 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Eilnachrichten 2017 Fach 1, Seite 11<br />
Eilnachrichten<br />
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Allgemeines Zivilrecht<br />
Vertragskündigung: Therapie zur Gewichtsabnahme<br />
(BGH, Urt. v. 10.11.2016 – III ZR 193/16) • Ein Vertrag über eine Therapie zur Gewichtsabnahme mit einem<br />
Therapiezentrum kann nach § 627 Abs. 1 BGB kündbar sein, wenn die Therapie nicht nur besonders<br />
qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert, sondern ebenso den unmittelbaren persönlichen<br />
Lebensbereich des Therapieteilnehmers betrifft und auch deshalb als Dienst höherer Art zu qualifizieren<br />
ist. Hinweis: Das vorliegende Urteil beleuchtet die Voraussetzungen einer fristlosen Kündigung bei einer<br />
Vertrauensstellung gem. § 627 Abs. 1 BGB. Der BGH hat in der Vergangenheit die hierfür erforderlichen<br />
Dienste höherer Art angenommen im Fall einer selbstständigen Betriebsärztin (BGH, Urt. v. 13.11.2014 – III ZR<br />
101/14), bei Beauftragung eines Wirtschaftsprüfungsunternehmens mit der internen Revision (BGH, Urt. v.<br />
22.9.2011 – III ZR 95/11), beim Betrieb eines ambulanten Pflegedienstes (BGH, Urt. v. 9.6.2011 – III ZR 203/10)<br />
und bei Ehe- bzw. Partnerschaftsanbahnungsdienstverträgen (BGH, Urt. v. 1.2.1989 – IVa ZR 354/87). Nach<br />
Ansicht des BGH ist das Vorliegen des besonderen Vertrauensverhältnisses objektiv danach zu beurteilen,<br />
ob die angebotenen Dienste typischerweise nur aufgrund besonderen persönlichen Vertrauens übertragen<br />
zu werden pflegen, so dass es nicht darauf ankommt, ob etwa ein Klinikbetreiber wie hier im Fall die<br />
Leistungen nicht persönlich, sondern durch seine Mitarbeiter erbringt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 35/2017<br />
Ärztlicher Behandlungsfehler: Verjährung von Ansprüchen<br />
(BGH, Urt. v. 8.11.2016 – VI ZR 594/15) • Ansprüche aus Behandlungsfehlern können zu anderer Zeit verjähren<br />
als solche aus Aufklärungsversäumnissen. Zwischen den Ansprüchen wegen unzureichender ärztlicher<br />
Aufklärung einerseits und wegen fehlerhafter Behandlung andererseits besteht zwar eine Verknüpfung<br />
dergestalt, dass es Ziel des Schadensersatzbegehrens des Patienten ist, eine Entschädigung für die bei ihm<br />
aufgrund der Behandlung eingetretenen gesundheitlichen Nachteile zu erlangen, doch liegen den<br />
Haftungstatbeständen verschiedene voneinander abgrenzbare Pflichtverletzungen zugrunde. Dies kann<br />
auch zu unterschiedlichen Verjährungsfristen führen. Nach § 203 S. 1 BGB endet die Hemmung der Verjährung<br />
auch durch das Einschlafen der Verhandlungen. Das ist der Zeitpunkt, in dem spätestens eine Erklärung<br />
der jeweils anderen Seite – sei es des Gläubigers oder des Schuldners – zu erwarten gewesen wäre.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 36/2017<br />
Kaufvertragsrecht<br />
Neuwagenkauf: Verweigerung der Abnahme einer Kaufsache bei behebbaren Mängeln<br />
(BGH, Urt. v. 26.10.2016 – VIII ZR 211/15) • Im Hinblick auf die Verpflichtung des Verkäufers zur Verschaffung<br />
einer von Sach- und Rechtsmängeln freien Sache ist der Käufer bei behebbaren Mängeln, auch wenn sie<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 55
Fach 1, Seite 12 Eilnachrichten 2017<br />
geringfügig sind, grds. berechtigt, gem. § 320 Abs. 1 BGB die Zahlung des (vollständigen) Kaufpreises und<br />
gem. § 273 Abs. 1 BGB die Abnahme der gekauften Sache bis zur Beseitigung des Mangels zu verweigern,<br />
soweit sich nicht aus besonderen Umständen ergibt, dass das Zurückbehaltungsrecht in einer gegen Treu<br />
und Glauben (§ 242 BGB) verstoßenden Weise ausgeübt wird. In derartigen Fällen hat der Käufer die<br />
Befugnis, die mit einem behebbaren Mangel behaftete Sache unter Hinweis auf eine geschuldete<br />
mangelfreie Lieferung zurückzuweisen. Hinweis: Mit dem vorliegenden Urteil hat der BGH erstmals die<br />
Frage geklärt, unter welchen Voraussetzungen der Käufer nach der Schuldrechtsreform eine mangelhafte<br />
Sache „zurückweisen“ kann. Der BGH hat außerdem entschieden, dass der Verkäufer in der vorliegenden<br />
Fallgestaltung die Erstattung von Transportkosten und „Standgeld“ auch deshalb nicht verlangen kann, weil<br />
es sich bei diesen Aufwendungen um Erfüllungskosten handelt, die zur Verschaffung einer mangelfreien<br />
Sache notwendig waren und deshalb in jedem Fall vom Verkäufer aufgrund der gem. § 448 Abs. 1 Hs. 1 BGB<br />
geschuldeten Bereitstellung der Kaufsache am vereinbarten Lieferort zu tragen sind.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 37/2017<br />
Sachmängelhaftung: Anforderungen an die Setzung einer angemessenen Nachfrist<br />
(LG Bonn, Urt. v. 26.8.2016 – 1 O 54/16) • Beim Kauf einer Einbauküche kann eine dem Verkäufer gesetzte<br />
Nachfrist von 14 Tagen im Einzelfall zu kurz und deshalb nicht angemessen i.S.v. § 323 Abs. 1 BGB sein, so<br />
dass dann die Voraussetzungen eines gesetzlichen Rücktrittsrechts nicht vorliegen. Die Länge der Frist<br />
muss nach der Sachlage objektiv angemessen sein, um dem Schuldner bei Anspannung aller Mittel und<br />
Kräfte noch die rechtzeitige Leistung zu ermöglichen. Bei der zu erbringenden Nacherfüllung ist<br />
zunächst zu berücksichtigen, ob sich (wie hier im Fall) die Beanstandung des Käufers auf eine aus einem<br />
Natursteinmaterial nach bestimmten Abmessungen neu zu fertigende Leistung in Form der Granitarbeitsplatte<br />
bezog. Auch spielt es eine Rolle, ob der Verkäufer nach Treu und Glauben (§ 242 BGB)<br />
davon ausgehen durfte, dass zwischen den Parteien eine Verständigung über die Art und Weise sowie<br />
den konkreten zeitlichen Ablauf der Nacherfüllung erzielt werden würde. In einem solchen Fall kann<br />
dem Verkäufer eine Nachfrist von vier Wochen einzuräumen sein. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 38/2017<br />
Miete/Nutzungen<br />
Mietvertrag: Angeblicher Angehörigenmietvertrag zum Nachteil der Gläubiger des Vermieters<br />
(BGH, Beschl. v. 21.9.2016 – VIII ZR 277/15) • Beruft sich im Zuge von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in ein<br />
Familienheim ein naher Verwandter des ehemaligen Eigentümers gegenüber dem Zwangsverwalter/<br />
Ersteigerer auf einen bestehenden Mietvertrag mit dem früheren Eigentümer, in dem infolge dort vereinbarter<br />
ungewöhnlicher Konditionen (Mietvorauszahlungen und/oder ungewöhnlich niedriger Miete,<br />
lebenslanges Wohnrecht o.ä.) nahezu jegliche Erträge aus dem Mietgrundstück zum Vorteil des Mieters auf<br />
Dauer oder zumindest für einen sehr langen Zeitraum ausschlossen sind, kann hier der Verdacht eines<br />
kollusiven Verhaltens zum Nachteil der Gläubiger zumindest naheliegen. Dies gilt ebenso im Hinblick darauf,<br />
ob der – zumeist nur in Kopie vorgelegte – (angebliche) Mietvertrag mit dem früheren Eigentümer tatsächlich<br />
auch zu dem darin angegebenen Zeitpunkt und damit vor der Beschlagnahme des Grundstücks<br />
abgeschlossen worden ist. Hinweis: Da Abschluss und Zeitpunkt des (angeblichen) Mietvertrags grds. vom<br />
Mieter nachzuweisen ist, ist darauf zu achten, dass dessen Angaben bereits von der Tatsacheninstanz im<br />
Hinblick auf die beabsichtigte Gläubigerbenachteiligung kritisch und umfassend gewürdigt werden; der BGH<br />
als Revisionsinstanz ist hierzu nämlich nicht befugt und nimmt lediglich obiter dictum im Rahmen der<br />
Erörterung von verfahrensrechtlicher (Revisions-)Anforderungen zur Nichtzulassungsbeschwerde hierzu<br />
Stellung (vgl. Urt. v. 21.9.2016 – VIII ZR 188/15, MDR 23/2016, 1402, s. zur richterlichen Würdigung bei<br />
widersprüchlichem Vortrag aber auch Urt. v. 18.9.2013 – VIII ZR 297/12, NJW-RR 2014, 11; zur in der<br />
Vergangenheit unterbliebenen, aber rechtlich möglichen Mietzinserhöhung als in der Insolvenz des<br />
Vermieters anfechtbare (teilweise) unentgeltliche Leistung s. OLG München, Beschl. v. 21.6.2013 – 14 U 579/<br />
13, ZInsO 2013, 1642). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 39/2017<br />
Maklerverträge: Verbraucherwiderrufsrecht<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 20.10.2016 – 18 U 152/15) • Dem Auftraggeber eines Immobilienmaklers steht ein<br />
Verbraucherwiderrufsrecht nach § 312b Abs. 1 S. 1 BGB zu, da Maklerdienste grds. als Dienstleistungen im<br />
56 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Eilnachrichten 2017 Fach 1, Seite 13<br />
Sinne dieser Vorschrift anzusehen sind. Dies gilt auch dann, wenn der Auftraggeber dauerhaft die<br />
Verwaltung einer oder mehrerer Immobilien zur Mehrung des eigenen Vermögens betreibt. Solange die<br />
Umstände in einem solchen Fall nahelegen, dass eine private Vermögensverwaltung vorliegt, ist<br />
weiterhin von einer Verbrauchereigenschaft des Auftraggebers auszugehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 40/2017<br />
Bauvertragsrecht<br />
Werkvertrag: Darlegung und Beweislast bei Mängelbeseitigung<br />
(OLG Brandenburg, Urt. v. 13.10.2016 – 12 U 26/15) • Es besteht kein Anspruch auf Vergütung restlichen<br />
Werklohns, wenn bislang Mängel an Bodenbelagsarbeiten bestanden, die nicht nachweislich behoben<br />
wurden. Darlegungs- und beweisbelastet für einen Anspruch ist derjenige, der hieraus ein Recht<br />
ableitet, bei einer Unterbevollmächtigung im Baugewerbe ist diesbezüglich der Auftragnehmer<br />
beweisbelastet. Werden Stundennachweise zur Beseitigung der Mängel vorgelegt, die bereits vor<br />
Ingangsetzung der Mangelbeseitigungsfristen entstanden sein sollen, so sind diese Nachweise nicht zur<br />
Darlegung und zum Beweis der Mängelbeseitigung geeignet. Dasselbe gilt, wenn nicht nachvollziehbar<br />
ist, welcher Mangel im Einzelnen Gegenstand der vorgelegten Stundennachweise sein soll.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 41/2017<br />
Bauträgervertrag: Unwirksamkeit von Klauseln<br />
(LG München I, Beschl. v. 23.6.2016 – 11 O 10314/16) • Die Klausel in einem Bauträgervertrag „Der<br />
Verkäufer ist zur Übergabe verpflichtet, wenn das Vertragsobjekt vollständig fertig gestellt und die<br />
Abnahme durchgeführt ist“, ist unwirksam. Dieser Satz benachteiligt den Erwerber (bei der gebotenen<br />
ex-ante-Betrachtung) unangemessen und gefährdet den Zweck des Vertrags: Dem Erwerber wird<br />
angesonnen, etwas abzunehmen, was er rechtlich und faktisch nicht abnehmen kann. „Abnahme“ ist<br />
bekanntlich die körperliche Entgegennahme des Werks verbunden mit der Billigung als im Wesentlichen<br />
vertragsgemäß. Die körperliche Entgegennahme hängt bei Bauleistungen davon ab, dass dem Erwerber<br />
der Besitz übergeben wird. Als AGB unwirksam nach vorgenannter Norm ist ferner (schon für sich<br />
genommen, aber erst recht in Verbindung mit dem vorzitierten Satz) folgende Klausel: „Die Übergabe<br />
kann jedenfalls verweigert werden, wenn der Käufer nicht alle zu diesem Zeitpunkt fälligen Zahlungen<br />
geleistet hat oder Zug um Zug gegen Übergabe leistet“. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 42/2017<br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
Verkehrssicherungspflicht des Reiseveranstalters: Sturz eines Kindes aus ungesichertem Hochbett<br />
(OLG Karlsruhe, Urt. v. 28.9.2016 – 7 U 196/15) • Die Vermietung eines Hochbetts ohne jede<br />
Absturzsicherung in einem Ferienhaus in der Schweiz widerspricht der Verkehrssicherungspflicht des<br />
Reiseveranstalters und stellt einen Reisemangel dar. Eine Absturzsicherung bei Hochbetten dient nicht<br />
ausschließlich dem Schutz vor dem Herausfallen im Schlaf. Sie soll vielmehr auch bei sachgemäßer<br />
Benutzung im wachen Zustand wie beispielsweise beim Ein- und Ausstieg einen gewissen Schutz<br />
bieten. Zum Unfallzeitpunkt 2013 war eine Absturzsicherung bei Hochbetten zum Schutz vor den damit<br />
verbundenen Gefahren obligatorisch. Dies gilt auch für das Reisezielland Schweiz. Die einschlägige<br />
Norm EN 747-1 gilt inhaltsgleich in der Schweiz. Ein anspruchsminderndes Mitverschulden der Eltern<br />
wegen Verletzung der Aufsichtspflicht ist nicht anzunehmen, wenn sich der Unfall des fünfeinhalbjährigen<br />
Kindes alsbald nach der Ankunft der Reisegruppe ereignet hat und die Kinder sich mit Duldung<br />
der Eltern vorübergehend in dem Zimmer mit den ungesicherten Hochbetten aufgehalten haben.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 43/2017<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Sondereigentum: Balkonraum<br />
(KG, Beschl. v. 8.11.2016 – 1 W 493/16) • Balkone können in der Teilungserklärung zum Gemeinschaftseigentum<br />
bestimmt werden. Zu errichtende Balkonräume müssen nicht im Sondereigentum stehen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 57
Fach 1, Seite 14 Eilnachrichten 2017<br />
Gleiches gilt für die baulichen Bestandteile der Balkone, soweit sie nicht ohnehin gem. § 5 Abs. 2 WEG<br />
zwingend Gemeinschaftseigentum sind. Auch der Umstand, dass der Balkon nur durch eine Wohnung<br />
zugänglich ist, macht den Balkonraum nicht notwendigerweise zu Sondereigentum dieser Wohnung.<br />
Vielmehr sind umgekehrt Räume, die der einzige Zugang zu einem im gemeinschaftlichen Eigentum<br />
stehenden Raum sind, selbst Gemeinschaftseigentum, es sei denn, es handelt sich – wie hier bei den<br />
Balkonen – um einen Raum, der von seiner Beschaffenheit her nicht zum ständigen Mitgebrauch aller<br />
Wohnungseigentümer bestimmt ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 44/2017<br />
Übertragung von Miteigentum: Auslegung einer Auflassung<br />
(OLG München, Beschl. v. 20.10.2016 – 34 Wx 228/16) • Eine Auflassungserklärung ist einer Auslegung<br />
grds. zugänglich. Aus der Bestimmung in einer Auflassung, dass die eingetragenen Miteigentümer „den<br />
vorbezeichneten Grundbesitz“ auf die Übernehmer „zum Miteigentum zu gleichen Teilen“ übertragen,<br />
geht allerdings noch mit der erforderlichen Eindeutigkeit hervor, dass in der Hand der Übergeber keine<br />
ideellen Rest-Anteile verbleiben und die Übernehmer gleich große Anteile am Wohnungs- bzw.<br />
Teileigentum erlangen sollen. Obgleich das gewollte Ergebnis auf verschiedene Weise herbeigeführt<br />
werden kann, liegt bei fehlender Zuordnung der den Gegenstand der Übertragung bildenden Anteile auf<br />
einen bestimmten Übernehmer und gleichfalls fehlender individueller Festlegung von ideellen Bruchteilen<br />
als Übertragungsgegenstand die Bedeutung am nächsten, dass jeder Miteigentümer von seinem<br />
Anteil jeweils die Hälfte auf die Übernehmer überträgt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 45/2017<br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Girokonto: Pauschales Entgelt für geduldete Überziehungen<br />
(BGH, Urt. v. 25.10.2016 – XI ZR 9/15) • Bestimmungen in AGB eines Kreditinstituts, nach denen für<br />
geduldete Überziehungen eines Girokontos Kosten i.H.v. 6,90 € pro Rechnungsabschluss zum Ende<br />
eines Kalenderquartals anfallen, soweit die angefallenen Sollzinsen diese Kosten nicht übersteigen, und<br />
Sollzinsen in diesem Fall nicht erhoben werden, unterliegen nach § 307 Abs. 3 S. 1 BGB der richterlichen<br />
Inhaltskontrolle und sind im Bankverkehr mit Verbrauchern gem. § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB<br />
unwirksam. Der Inhaltskontrolle hält die Klausel nicht stand, weil sie von wesentlichen Grundgedanken<br />
der gesetzlichen Regelung abweicht und die Kunden des Kreditinstituts entgegen den Geboten von Treu<br />
und Glauben unangemessen benachteiligt. Die Abweichung vom wesentlichen Grundgedanken der<br />
gesetzlichen Regelung liegt darin, dass die angegriffene Klausel die Kunden der Bank mit einem<br />
Aufwand für Tätigkeiten belastet, die sie in ihrem eigenen Interesse erbringt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 46/2017<br />
Darlehensrückzahlungsanspruch: Auswirkung der Hemmung der Verjährung<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 20.10.2016 – 8 U 1211/16) • § 497 Abs. 3 S. 3 BGB über die Hemmung der Verjährung<br />
eines Darlehensrückzahlungsanspruchs stellt keine Sonderverjährungsregelung dar, sondern nach ihrem<br />
eindeutigen Wortlaut eine Norm, die die Hemmung einer aufgrund anderer Vorschriften in Gang<br />
gesetzten Verjährung bewirkt. Die Rechtsfolge der Hemmung ist wie bei anderen Hemmungstatbeständen<br />
auch, dass gem. § 209 BGB der Zeitraum, während dessen die Verjährung gehemmt ist, in<br />
die Verjährungsfrist nicht eingerechnet wird. Die Rechtsfolgen der in § 497 Abs. 3 S. 3 BGB geregelten<br />
Hemmung richten sich wie die der anderen Hemmungstatbestände der §§ 203 ff. BGB nach § 209 BGB,<br />
so dass der Hemmungszeitraum in die Verjährungsfrist nicht eingerechnet wird und diese ab Ende der<br />
Hemmung weiterläuft bzw. erst dann beginnt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 47/2017<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Unfall im Ausland: Verkehrsunfall zweier Deutscher in Österreich<br />
(OLG München, Urt. v. 4.11.2016 – 10 U 2408/16) • Bei einer Kollision zweier deutscher Fahrzeugführer in<br />
Österreich richtet sich das Schadensrecht nach deutschem Recht, die Sicherheits- und Verhaltensregeln<br />
jedoch nach dem österreichischen Recht, weil dort das schadensbegründende Ereignis eingetreten ist.<br />
Haben beide Fahrzeugführer bei winterlichen Witterungsverhältnissen das Rechtsfahrgebot missachtet,<br />
58 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Eilnachrichten 2017 Fach 1, Seite 15<br />
so ist eine Haftungsverteilung von ⅓ zu ⅔ zu Lasten desjenigen Fahrzeugs angezeigt, das zusätzlich<br />
nicht mit angepasster Geschwindigkeit gefahren ist. Die Höhe des Schadens bemisst sich bei einem<br />
wirtschaftlichen Totalschaden im Falle einer unterbliebenen Ersatzbeschaffung nach dem Brutto-<br />
Restwert des Fahrzeugs vermindert um den Netto-Wiederbeschaffungswert. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 48/2017<br />
Betriebsgefahr: Nichtberührungsunfall<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 2.9.2016 – 9 U 14/16) • Dem geschädigten Radfahrer obliegen Darlegung und<br />
Beweis, dass sein Sturz auf einer 3 m breiten Straße durch ein sich im Gegenverkehr näherndes<br />
Kraftfahrzeug mitbeeinflusst worden und daher nicht ein zufälliges Ereignis ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 49/2017<br />
Haftungsanteile: Überschreitung der Autobahn-Richtgeschwindigkeit<br />
(LG Rottweil, Urt. v. 19.8.2016 – 1 S 57/16) • Eine Mithaftung desjenigen, der die Autobahn-<br />
Richtgeschwindigkeit um ca. 20 % überschreitet, scheidet im Rahmen der Abwägung der Mithaftungsanteile<br />
nach einem Verkehrsunfall aus. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 50/2017<br />
Versicherungsrecht<br />
Haftpflichtversicherung: Verjährung eines Ausgleichsanspruchs<br />
(BGH, Urt. v. 8.11.2016 – VI ZR 200/15) • Der Ausgleichsanspruch aus § 426 Abs. 1 S. 1 BGB unterliegt der<br />
regelmäßigen Verjährungsfrist des § 195 BGB. Der Ausgleichsanspruch aus § 426 Abs. 1 S. 1 BGB entsteht<br />
bereits in dem Augenblick, in dem die mehreren Ersatzpflichtigen dem Geschädigten ersatzpflichtig werden,<br />
d.h. mit der Entstehung der Gesamtschuld im Außenverhältnis. Er besteht zunächst als Mitwirkungs- und<br />
Befreiungsanspruch und wandelt sich nach Befriedigung des Gläubigers in einen Zahlungsanspruch um.<br />
Unabhängig von seiner Ausprägung als Mitwirkungs-, Befreiungs- oder Zahlungsanspruch handelt es sich<br />
um einen einheitlichen Anspruch, der einer einheitlichen Verjährung unterliegt und mit der Begründung der<br />
Gesamtschuld entstanden ist. Für den Beginn der Verjährung ist es nicht erforderlich, dass der<br />
Ausgleichsanspruch beziffert werden bzw. Gegenstand einer Leistungsklage sein kann. Denn ein Anspruch<br />
ist entstanden, sobald er geltend gemacht und notfalls im Wege der Klage durchgesetzt werden kann.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 51/2017<br />
Lebensversicherungsvertrag: Rückabwicklung bei Widerruf<br />
(OLG Karlsruhe, Urt. v. 6.12.2016 – 12 U 130/16) • Bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung<br />
widerrufener Lebensversicherungsverträge steht der Berücksichtigung von Nutzungen nicht entgegen, dass<br />
der Versicherer gezogene Nutzungen bereits in den Auszahlungsbetrag nach Kündigung hat einfließen<br />
lassen. Der Auszahlungsbetrag stellt zunächst eine rein technische Rechengröße dar; in seiner Höhe ist der<br />
Rückabwicklungsanspruch erloschen. Das ändert aber nichts daran, dass die tatsächlich gezogenen<br />
Nutzungen als Rechenposition in die ursprüngliche Rückabwicklungsforderung des Versicherten einzustellen<br />
sind. Hinweis: Das vorliegende Urteil verdeutlicht, welche Positionen bei der bereicherungsrechtlichen<br />
Rückabwicklung widerrufener Lebensversicherungsverträge zu berücksichtigen sind. Im<br />
konkreten Fall genügte die Belehrung über das Rücktrittsrecht nicht den Anforderungen, da sie inmitten<br />
eines fettgedruckten Textblockes abgedruckt war. Zwar war nach Ansicht des OLG Karlsruhe eine<br />
drucktechnische Hervorhebung der Belehrung vom Wortlaut des § 8 Abs. 5 VVG a.F. nicht ausdrücklich<br />
vorausgesetzt. Zur Erreichung ihres gesetzlichen Zweckes muss die Belehrung aber inhaltlich möglichst<br />
umfassend, unmissverständlich und aus Sicht der Verbraucher eindeutig sein. Das erfordert eine Form der<br />
Belehrung, die dem Aufklärungsziel Rechnung trägt und darauf angelegt ist, den Angesprochenen<br />
aufmerksam zu machen und das maßgebliche Wissen zu vermitteln (BGH, Urt. v. 17.12.2014 – IV ZR 260/11).<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 52/2017<br />
Familienrecht<br />
Vaterschaftsanfechtung: Berechtigung einer Mutter zur gesetzlichen Vertretung des Kindes<br />
(BGH, Beschl. v. 2.11.2016 – XII ZB 583/15) • Im Verfahren auf Anfechtung der Vaterschaft ist die allein<br />
sorgeberechtigte und mit dem rechtlichen Vater nicht verheiratete Mutter von der gesetzlichen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 59
Fach 1, Seite 16 Eilnachrichten 2017<br />
Vertretung des minderjährigen Kindes nicht kraft Gesetzes ausgeschlossen. Aus der notwendigen<br />
Beteiligung der Mutter am Abstammungsverfahren folgt noch kein Ausschluss von der Vertretung des<br />
Kindes. Die Mutter ist im einen wie im anderen Verfahren grds. gleichermaßen geeignet oder ungeeignet,<br />
das Kind seinem Wohl entsprechend gesetzlich zu vertreten. Wenn mithin das Gesetz in § 1629 Abs. 2 S. 3<br />
Hs. 2 BGB eine Entziehung der Vertretungsmacht nach § 1796 BGB sogar verbietet, verdeutlicht dies die<br />
gesetzgeberische Wertung, dass die Mutter als geeignete Vertreterin des Kindes anzusehen ist. Für den<br />
Beginn der das minderjährige Kind betreffenden Frist zur Anfechtung der Vaterschaft ist in diesem Fall auf<br />
die Kenntnis der Mutter als alleiniger gesetzlicher Vertreterin abzustellen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 53/2017<br />
Familienpsychologisches Gutachten: Kriterien der Sachverständigenvergütung<br />
(OLG Braunschweig, Beschl. v. 6.10.2016 – 2 W 62/15) • Ein Sachverständiger erhält als Vergütung ein<br />
Honorar für seine Leistungen, das nach Stundensätzen zu bemessen ist. Maßgeblich für die Vergütung<br />
des Sachverständigen ist die für die Erstattung des familienpsychologischen Gutachtens erforderliche,<br />
nicht die tatsächlich aufgewandte Zeit. Diese ist nach einem abstrakten Maßstab zu ermitteln, der sich<br />
an dem Aufwand des Sachverständigen mit durchschnittlichen Fähigkeiten und Kenntnissen orientiert.<br />
Für das Aktenstudium und vorbereitende Arbeiten ist ein durchschnittlich notwendiger Zeitaufwand<br />
von 50 Blatt pro Stunde angemessen, für die Beurteilung einschließlich endgültiger textlicher<br />
Umsetzung ist grds. ein durchschnittlicher Zeitaufwand von einer Stunde für ein bis drei Gutachtenseiten<br />
in Ansatz zu bringen. Zu berücksichtigen ist, wenn im Beurteilungsteil in erheblichem Umfang die<br />
Untersuchungsergebnisse wiederholt werden, sich andererseits aber die Darstellung im üblichen<br />
Rahmen bewegt. In diesem Fall sind zwei Gutachterseiten/Stunde angemessen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 54/2017<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Erbscheinserteilungsverfahren: Kosten der Ermittlung der Testierfähigkeit des Erblassers<br />
(OLG München, Beschl. v. 15.12.2016 – 31 Wx 144/15) • Ein im Betreuungsverfahren eingeholtes<br />
psychiatrisches Sachverständigengutachten stellt im Erbscheinserteilungsverfahren jedenfalls dann<br />
keine tragfähige Entscheidungsgrundlage dar, wenn nicht nur unerhebliche Zweifel an der Testierfähigkeit<br />
bestehen. Wird daraufhin im Beschwerdeverfahren ein Gutachten zur Frage der Testierfähigkeit<br />
eingeholt, ist im Rahmen der für das Beschwerdeverfahren zu treffenden Kostenentscheidung zu<br />
berücksichtigen, ob die letztlich erfolglosen Einwendungen des Beschwerdeführers von vornherein ohne<br />
Substanz waren. Im Rahmen der zu treffenden Billigkeitsentscheidung über die Kostentragungslast<br />
kann es gerechtfertigt sein, die Kosten für dieses Gutachten unabhängig vom Ausgang des Beschwerdeverfahrens<br />
demjenigen aufzuerlegen, dem die Klärung der Frage der Testierfähigkeit letztendlich<br />
zugutekommt. Hinweis: Der Ausgang dieses Beschwerdeverfahrens war ganz überwiegend von den<br />
Ergebnissen der ärztlichen Sachverständigengutachten abhängig. Aus rechtlicher Sicht war hier die<br />
Kostenverteilung interessant, da diese hier teilweise entgegen des in § 84 FamFG normierten Regelfalls<br />
nicht der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt wurden, sondern der Beteiligten zu 3.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 55/2017<br />
Erbverzicht: Anforderungen an die Sittenwidrigkeit<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 8.11.2016 – 10 U 36/15) • Ein Erbverzicht und eine Abfindungsvereinbarung sind im<br />
Grundsatz selbstständige Rechtsgeschäfte. Sie können nach dem Parteiwillen aber als ein einheitliches<br />
Rechtsgeschäft i.S.d. § 139 BGB verknüpft sein, mit der Folge, dass eine etwaige Unwirksamkeit der<br />
Abfindungsvereinbarung auch den Erbverzicht erfasst. Voraussetzung ist, dass nach dem durch<br />
Auslegung zu ermittelnden Geschäftswillen der Parteien beide Geschäfte miteinander „stehen und fallen<br />
sollen“. Werden nämlich der Erbverzicht und die Abfindungsvereinbarung in einer Urkunde aufgenommen,<br />
spricht eine tatsächliche Vermutung für einen solchen Verknüpfungswillen. In diesem Fall<br />
kann sich eine Sittenwidrigkeit des Erbverzichts und damit dessen Unwirksamkeit aus dem Gesamtcharakter<br />
der dem Verzicht zugrundeliegenden schuldrechtlichen Vereinbarung ergeben. Das ist insb.<br />
der Fall, wenn die getroffenen Vereinbarungen ein erhebliches Ungleichgewicht zu Lasten des<br />
Verzichtenden ausweisen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 56/2017<br />
60 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Eilnachrichten 2017 Fach 1, Seite 17<br />
Zivilprozessrecht<br />
Zustellungsvollmacht: Beweislastverteilung bei Entgegennahme von Zustellungen<br />
(BGH, Beschl. v. 27.10.2016 – V ZB 47/15) • Ob der Zustellungsempfänger rechtsgeschäftlich bestellter<br />
Vertreter i.S.v. § 171 ZPO ist, ergibt sich aus den Vorschriften des bürgerlichen Rechts. Steht fest, dass<br />
eine Vollmacht erteilt worden ist, die zu der Entgegennahme von Zustellungen berechtigt, muss das<br />
Erlöschen der Vollmacht derjenige beweisen, der hieraus für ihn günstige Rechtsfolgen herleitet. Steht<br />
dagegen fest, dass die Vollmacht zwar erteilt, aber wieder erloschen ist, so muss der Abschluss eines<br />
Rechtsgeschäfts vor diesem Zeitpunkt von demjenigen bewiesen werden, der die Gültigkeit des<br />
Geschäfts behauptet. Ob ein festgestellter Widerruf eine gem. § 116 Abs. 1 S. 2 BGB nichtige<br />
Scheinerklärung darstellt oder wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot oder die guten Sitten<br />
nichtig ist, muss derjenige beweisen, der sich auf die Nichtigkeit beruft. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 57/2017<br />
Streithelfer: Stellung des Nebenintervenienten im Prozess<br />
(BGH, Beschl. v. 23.8.2016 – VIII ZB 96/15) • Ein Nebenintervenient beteiligt sich auch dann an einem<br />
fremden Prozess, ohne selbst Partei zu werden, wenn er dabei in eigenem Namen und kraft eines<br />
eigenen prozessualen Rechts neben der Hauptpartei handelt. Dabei ist die Frage, ob er als einfacher<br />
oder streitgenössischer Streithelfer auftritt, keine Frage seiner Parteistellung im Prozess, sondern<br />
betrifft allein Art und Umfang der ihm dabei zukommenden Befugnisse. Ob der Streithelfer dabei als<br />
einfacher oder als streitgenössischer Streithelfer auftritt, ist deshalb keine Frage seiner Parteistellung im<br />
Prozess, sondern betrifft allein Art und Umfang der ihm dabei nach §§ 66 Abs. 2, 67 ZPO zukommenden<br />
Befugnisse. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 58/2017<br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Vermögensverzeichnis: Verzicht des Gläubigers auf Übersendung<br />
(BGH, Beschl. v. 27.10.2016 – I ZB 21/16) • Der Gläubiger kann durch Beschränkung des Vollstreckungsauftrags<br />
auf die Zuleitung eines Ausdrucks des letzten abgegebenen Vermögensverzeichnisses<br />
verzichten. Das Vollstreckungsverfahren dient der Durchsetzung der Gläubigerinteressen. Dementsprechend<br />
gilt die Dispositionsmaxime. Der Gläubiger bestimmt Beginn, Art und Ausmaß des<br />
Vollstreckungszugriffs und kann seine Vollstreckungsanträge jederzeit zurücknehmen. Ist der Gläubiger<br />
befugt, das Verfahren jederzeit zum Stillstand zu bringen oder seinen Vollstreckungsantrag zurückzunehmen,<br />
ist ihm grds. auch nicht verwehrt, seinen Vollstreckungsauftrag von vornherein in einer<br />
Weise zu beschränken, die der Gerichtsvollzieher ohne Weiteres überprüfen kann.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 59/2017<br />
Vollstreckungsabwehrklage: Verfolgung prozesszweckfremder Ziele<br />
(BGH, Urt. v. 21.10.2016 – V ZR 230/15) • Erhebt der Schuldner während eines laufenden, aufgrund einer<br />
Sicherungsgrundschuld betriebenen Zwangsversteigerungsverfahrens eine Vollstreckungsabwehrklage,<br />
die er auf die Verjährung eines Teils der Grundschuldzinsen stützt, kann das Rechtsschutzbedürfnis<br />
ausnahmsweise zu verneinen sein. Dies setzt voraus, dass der Gläubiger nicht wegen der<br />
verjährten Zinsen vollstreckt; ferner müssen Indizien vorliegen, die in einer Gesamtwürdigung den<br />
sicheren Schluss erlauben, dass die Vollstreckungsabwehrklage ausschließlich prozesszweckfremden<br />
Zielen dient. Ausschließlich prozesszweckfremde Ziele verfolgt der Schuldner, wenn er die Vollstreckungsabwehrklage<br />
erhebt, um die Vollstreckung aus der Hauptforderung und den nicht verjährten<br />
Zinsen zu behindern. Ein gewichtiges Indiz für eine solche Zielsetzung ist die Erhebung der<br />
Verjährungseinrede und der darauf gestützten Vollstreckungsabwehrklage im laufenden Versteigerungsverfahren<br />
zur Unzeit. Dies kann darauf schließen lassen, dass der Versteigerungstermin mithilfe<br />
des entstehenden Zeitdrucks verhindert werden soll. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 60/2017<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 61
Fach 1, Seite 18 Eilnachrichten 2017<br />
Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />
GmbH-Gesellschafterversammlung: Zulassung eines anwaltlichen Beraters<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 25.8.2016 – 8 U 347/16) • Das Teilnahmerecht des Gesellschafters an der<br />
Gesellschafterversammlung, dem zentralen Willensbildungsorgan in der GmbH, gehört zum Kernbereich<br />
seiner Mitgliedschaftsrechte. Übt ein Gesellschafter sein Teilnahmerecht und sein Stimmrecht in der<br />
Gesellschafterversammlung selbst aus, sieht das Gesetz grds. keine Hinzuziehung von dritten Personen<br />
als Berater, Unterstützer oder Zeugen vor. Es ist jedoch höchstrichterlich anerkannt, dass sich eine<br />
Teilnahmebefugnis von Begleitern daneben ausnahmsweise aus Treuepflichten der übrigen Gesellschafter<br />
ergeben kann. Hinweis: Der BGH hat in dem zitierten Urteil (v. 27.7.2009 – II ZR 167/07)<br />
ausgeführt: „Die Einberufung der Versammlung auf einen Zeitpunkt, zu dem ein Berater eines<br />
Gesellschafters verhindert ist, verletzt das Teilnahmerecht des Gesellschafters, wenn der Gesellschafter<br />
auf die Teilnahme eines Beraters einen Anspruch hat und dem Gesellschafter durch die Wahl des<br />
Termins diese Beratung unzumutbar abgeschnitten wird. (…) Ein Anspruch auf die Teilnahme eines<br />
Beraters kann aufgrund einer Regelung in der Satzung oder aufgrund der gesellschafterlichen<br />
Treuepflicht bestehen, insb. wenn schwerwiegende Entscheidungen zu fällen sind und dem Gesellschafter<br />
die erforderliche Sachkunde fehlt.“ <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 61/2017<br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Einspruchsbeschwerdeverfahren: Kein Aufgreifen neuer Widerrufsgründe von Amts wegen<br />
(BGH, Beschl. v. 8.11.2016 – X ZB 1/16) • Es besteht keine Befugnis des Patentgerichts, im Einspruchsbeschwerdeverfahren<br />
von Amts wegen neue Widerrufsgründe, die nicht Gegenstand des Einspruchsverfahrens<br />
vor dem Patentamt waren, aufzugreifen und diese zur Entscheidungsgrundlage zu machen.<br />
Wird eine das Patent aufrechterhaltende Entscheidung des Patentamts in zulässiger Weise mit der<br />
Beschwerde angefochten, darf hingegen der Einsprechende im Beschwerdeverfahren zusätzliche<br />
Widerrufsgründe geltend machen, die nicht zum Gegenstand der angefochtenen Entscheidung gehören.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 62/2017<br />
Wettbewerbsverstoß: Telefonwerbung ohne Einwilligung<br />
(LG Karlsruhe, Urt. v. 17.11.2016 – 15 O 75/16 KfH) • Haben nicht alle Personen in einem Mehrpersonenhaushalt,<br />
bei welchem mehrere Personen denselben privaten Telefonanschluss benutzen, in den<br />
konkreten Werbeanruf eingewilligt, so ist ein Werbeanruf, der von einer Person entgegengenommen<br />
wird, die nicht eingewilligt hat, ihr gegenüber an sich unzulässig. Hat ein Mitanschlussinhaber in<br />
Telefonwerbung wirksam eingewilligt, verstößt der werbende Anrufer nicht schon durch den Anruf an<br />
sich, sondern erst dann gegen § 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG, wenn er nicht sofort klarstellt, dass er nur mit der<br />
Person sprechen möchte, die in den Anruf eingewilligt hat. Verboten ist es hingegen, sozusagen die<br />
Gelegenheit zu nutzen und gegenüber dem Gesprächspartner zu werben, denn insoweit würde es<br />
zumindest an einer vorherigen Einwilligung fehlen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 63/2017<br />
Arbeitsrecht<br />
Urlaubsabgeltung: Tod des Arbeitnehmers<br />
(BAG, Beschl. v. 18.10.2016 – 9 AZR 45/16 [A]) • Mit dem Tod eines Arbeitnehmers endet das<br />
Arbeitsverhältnis, das Vermögen geht auf den Erben über. Nach nationalem deutschen Recht geht der<br />
Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers mit seinem Tod unter, ohne dass er sich in einen Abgeltungsanspruch<br />
umwandelt. Der Erbe hat mithin keinen Urlaubsabgeltungsanspruch. Der Urlaub ist nur<br />
abzugelten, wenn er wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr<br />
gewährt werden kann und dies eine Abgeltung des Urlaubs im bestehenden Arbeitsverhältnis<br />
ausschließt. Der Arbeitnehmer hat vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch seinen Tod<br />
neben seinem Urlaubsanspruch kein Anwartschaftsrecht auf Urlaubsabgeltung, das Teil der Erbmasse<br />
werden könnte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 64/2017<br />
62 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Eilnachrichten 2017 Fach 1, Seite 19<br />
Personalakte: Recht zur höchstpersönlichen Einsichtnahme<br />
(BAG, Urt. v. 12.7.2016 – 9 AZR 791/14) • Da das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1<br />
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), das als Teil des Persönlichkeitsrechts jedem Grundrechtsinhaber die eigene<br />
Entscheidungsbefugnis über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zuerkennt, im Sinne<br />
objektiver Normgebung auch auf die Anwendung und Auslegung privatrechtlicher Normen ausstrahlt, kann<br />
es damit als solches auch von einem Arbeitnehmer im Hinblick auf die von ihm während des bestehenden<br />
Arbeitsverhältnisses geltend gemachte Einsichtnahme in die für ihn von seinem Arbeitgeber geführte<br />
Personalakte in Anspruch genommen werden. Sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung führt aber<br />
zumindest dann nicht dazu, dass er zur Einsichtnahme einen Anwalt hinzuzuziehen kann, wenn ihm der<br />
Arbeitgeber die Anfertigung von Kopien der in der Personalakte befindlichen Schriftstücke ausdrücklich<br />
gestattet hat. Insoweit wird dem Transparenzbedürfnis des Arbeitnehmers bereits ausreichend Rechnung<br />
getragen. Hinweis: Ob der Anspruch des Arbeitnehmers auf Einsichtnahme in die (papiergebundene)<br />
Personalakte, der im bestehenden Arbeitsverhältnis aus § 83 Abs. 1 S. 1 BetrVG und bei bereits beendeten aus<br />
§ 241 Abs. 2 BGB, nicht aber aus datenschutzrechtlichen Bestimmungen nach §§ 32, 34 BDSG, ableitbar sein<br />
kann (vgl. BAG, Urt. v. 16.10.2010 – 9 AZR 573/09, BAGE 136, 156; zur elektronischen Personalakte: DILLER/<br />
SCHUSTER DB 2008, 928 ff.) gegen den Willen des Arbeitgebers aber zumindest dem Grund nach durch einen<br />
dazu beauftragten Bevollmächtigten (Rechtsanwalt) wahrgenommen werden darf, ist bislang nicht<br />
abschließend geklärt, wird aber z.B. vom LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 17.4.2014 – 5 Sa 385/13, NZA-RR<br />
2014, 465 und entgegen z.B. KANIA, in: Erfurter Komm. zum ArbeitsR, 17. Aufl. 2017, BetrVG § 83 Rn 4)<br />
abgelehnt; insb. kann sich die Frage der Rechtmäßigkeit der Hinzuziehung eines Anwalts ebenso etwa zum<br />
Personalgespräch (vgl. KANDAOUROFF DB 2008, 1210 ff.) oder bei Anhörung zur Verdachtskündigung (vgl. LAG<br />
Hessen, Urt. v. 1.8.2011 – 16 Sa 202/11) stellen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 65/2017<br />
Sozialrecht<br />
Rentenversicherung: Verfassungsmäßigkeit der Begrenzung von MfS-Renten<br />
(BVerfG, Beschl. v. 7.11.2016 – 1 BvR 1089/12 u.a.) • Die nur begrenzte Überführung von Ansprüchen und<br />
Anwartschaften aus dem Sonderversorgungssystem des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR<br />
in die gesetzliche Rentenversicherung der Bundesrepublik ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.<br />
Wegen der Besonderheit des Sonderversorgungssystems des MfS können auch die wiederholten,<br />
einschränkenden Gesetzesänderungen zu anderen Versorgungssystemen und die diesen zugrunde<br />
liegenden Entscheidungen des BVerfG nicht als maßgebliche Änderungen des rechtlichen Umfelds oder<br />
als neue Tatsachen begriffen werden. Hinweis: Im Jahr 1999 erklärte das BVerfG die für die Überführung in<br />
der DDR erworbener Rentenansprüche von Mitgliedern des MfS maßgeblichen Vorschriften des AAÜG<br />
bzw. des SGB VI für in begrenztem Umfang mit dem Grundgesetz unvereinbar, woraufhin diese<br />
Vorschriften geändert wurden. Nach Auffassung des Gerichts haben die jetzigen Verfassungsbeschwerden<br />
keine neuen Tatsachen vorgebracht, die eine andere Beurteilung der Rentenansprüche rechtfertige.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 66/2017<br />
Selbstständigkeit: Unternehmerisches Risiko<br />
(LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 18.10.2016 – L 11 R 837/16) • Ein unternehmerisches Risiko ist zwar ein<br />
Hinweis auf eine selbstständige Tätigkeit. Diesem Risiko müssen aber auch größere Verdienstchancen<br />
gegenüberstehen. Daran kann es bei einer Kurierfahrerin fehlen, wenn dieser vertraglich sämtliche<br />
Risiken aufgebürdet werden, etwa sämtliche Betriebskosten des Fahrzeugs und das Haftungsrisiko<br />
sowie das Bonitätsrisiko der Kunden, sie aber auf die Preisgestaltung für die von ihr übernommenen<br />
Fahrten faktisch keinerlei Einfluss hatte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 67/2017<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Telekommunikation: Anforderungen an die Vorratsdatenspeicherung in der EU<br />
(EuGH, Urt. v. 21.12.2016 – C-203/15 u. C-698/15) • Das Unionsrecht untersagt eine allgemeine und<br />
unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten. Es steht den Mitgliedstaaten<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 63
Fach 1, Seite 20 Eilnachrichten 2017<br />
aber frei, vorbeugend eine gezielte Vorratsspeicherung dieser Daten zum alleinigen Zweck der<br />
Bekämpfung schwerer Straftaten vorzusehen, sofern eine solche Speicherung hinsichtlich der<br />
Kategorien von zu speichernden Daten, der erfassten Kommunikationsmittel, der betroffenen Personen<br />
und der vorgesehenen Dauer der Speicherung auf das absolut Notwendige beschränkt ist. Der Zugang<br />
der nationalen Behörden zu den auf Vorrat gespeicherten Daten muss von Voraussetzungen abhängig<br />
gemacht werden, zu denen insb. eine vorherige Kontrolle durch eine unabhängige Stelle und die<br />
Vorratsspeicherung der Daten im Gebiet der Union gehören. Hinweis: Bereits 2014 hatte der EuGH die<br />
EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt (vgl. ESCHELBACH <strong>ZAP</strong> Kolumne 11/2014,<br />
S. 603). Nun hat er die Vorgaben für die nationalen Regelungen noch einmal konkretisiert und auf das<br />
Notwendigste zur Bekämpfung schwerer Straftaten beschränkt. Nach Auffassung von Datenschützern<br />
dürfte damit auch die kürzlich erfolgte deutsche Neuregelung zur Vorratsdatenspeicherung nicht mehr<br />
haltbar sein. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 68/2017<br />
Bestattungskosten: Erstattung von entfernten Angehörigen<br />
(VGH Bayern, Beschl. v. 10.10.2016 – 4 ZB 16.1295) • In Ausnahmefällen kann die Gemeinde auch<br />
entferntere Angehörige eines Verstorbenen zum Ersatz von Bestattungskosten heranziehen. Dies ist<br />
möglich, wenn die Gemeinde zum einen davon ausgehen muss, dass die vorrangig bestattungspflichtigen<br />
näheren Angehörigen nicht freiwillig zahlen werden und zum anderen ein ihnen<br />
zugestellter Kostenbescheid mangels eines inländischen Wohnsitzes nicht erfolgreich vollstreckt<br />
werden könnte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 69/2017<br />
Steuerrecht<br />
Erbschaftsteuer: Steuerermäßigung bei nach ausländischem Recht besteuerten Vorerwerb<br />
(BFH, Urt. v. 27.9.2016 – II R 37/13) • Bei einem nach ausländischem Recht besteuerten Vorerwerb ist<br />
für einen nachfolgenden Erwerb desselben Vermögens von Todes wegen durch Personen der<br />
Steuerklasse I keine Steuerermäßigung nach § 27 ErbStG zu gewähren. Dabei steht die unionsrechtlich<br />
gewährleistete Kapitalverkehrsfreiheit diesem eingeschränkten Anwendungsbereich des § 27 ErbStG<br />
nicht entgegen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 70/2017<br />
Steuerberaterhaftung: Beratung einer GbR<br />
(BGH, Urt. v. 8.9.2016 – IX ZR 255/13) • Auf Grund eines Vertrags kann regelmäßig nur derjenige<br />
Schadensersatz verlangen, bei dem der Schaden tatsächlich eingetreten ist und dem er rechtlich zur Last<br />
fällt. Dies führt im Rahmen der Beraterhaftung dazu, dass der zum Ersatz verpflichtete Steuerberater<br />
grds. nur für den Schaden seines Mandanten einzustehen hat, wobei die Drittschadensliquidation und<br />
der Vertrag zugunsten Dritter sowie mit Schutzwirkung für Dritte eine Ausnahme bilden. Hat die<br />
steuerliche Beratung einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts nach dem Inhalt des Vertrags auch die<br />
Interessen der Gesellschafter zum Gegenstand, ist der Schaden unter Einbeziehung der Vermögenslagen<br />
der Gesellschafter zu berechnen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 71/2017<br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Betrug durch Unterlassen: Offenbarungspflicht bei Vertragsschluss<br />
(BGH, Urt. v. 4.8.2016 – 4 StR 523/15) • Partnerschaftsverträge, mit denen Rechtsanwälte in eine<br />
Rechtsanwaltsgesellschaft mbH aufgenommen werden, können besondere Verträge sein, die eine<br />
Aufklärung über alle relevanten Gesellschaftsumstände auf Basis des einzugehenden Vertrauensverhältnisses<br />
notwendig machen. Dies gilt insb., wenn die Anwälte durch den Vertrag Gesellschafter<br />
der Gesellschaft werden und Darlehen an diese leisten. Unterbleibt eine Aufklärung, kommt eine<br />
Betrugsstrafbarkeit durch Unterlassen in Betracht. Hinweis: Mit dieser Entscheidung kippt der BGH<br />
die Freisprüche für die Initiatoren einer in finanzielle Schieflage geratenen Rechtsanwaltsgesellschaft<br />
64 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Eilnachrichten 2017 Fach 1, Seite 21<br />
mbH unter Verweis auf die besonderen Aufklärungspflichten bei Verträgen, die schon bei ihrer<br />
Anbahnung auf eine Verbindung abzielen, die auf gegenseitigem Vertrauen basieren sollen und bei<br />
denen Treu und Glauben und die Verkehrssitte die Offenbarung der für die Entschließung des anderen<br />
Teils wichtigen Umstände gebieten. So ist der Weg frei für eine Unterlassensstrafbarkeit. Da das<br />
Landgericht hier gar keine Feststellungen getroffen hatte, bleibt das Ergebnis abzuwarten.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 72/2017<br />
Bestechlichkeit: Frage der Amtsträgereigenschaft<br />
(LG Cottbus, Urt. v. 28.11.2016 – 22 KLs 8/15) • Im Zusammenhang mit dem Bau des Großflughafens<br />
Berlin-Brandenburg hat das LG einen ehemaligen Mitarbeiter der Flughafengesellschaft (FBB) wegen<br />
Bestechlichkeit in einem besonders schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Dieser hatte der<br />
Hauptauftragnehmerin der Flughafengesellschaft in Aussicht gestellt, innerhalb der FBB dafür zu<br />
sorgen, dass umfangreiche Zahlungen auf von ihr geltend gemachte Nachtragsforderungen ungeprüft<br />
ausgezahlt würden. Dafür hatte er Schmiergelder i.H.v. 150.000 € erhalten. Hinweis: Das Gericht<br />
verurteilte den Angeklagten wegen Bestechlichkeit gem. § 332 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB, da die Kriterien<br />
einer Amtsträgereigenschaft i.S.v. § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB erfüllt seien. Der Angeklagte hat Revision<br />
eingelegt (s. auch WEILER <strong>ZAP</strong> Kolumne <strong>ZAP</strong> 2/2017, S. 47 – in diesem Heft). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 73/2017<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Ausländereigenschaft: Strafschärfung<br />
(BGH, Beschl. v. 25.10.2016 – 2 StR 386/16) • Die strafschärfende Erwägung, ein wegen Landfriedensbruch<br />
und gefährlicher Körperverletzung verurteilter Asylbewerber habe durch seine Tat das Ansehen<br />
der in Deutschland lebenden Asylbewerber stark geschädigt und einer positiven Einstellung der Bevölkerung<br />
gegenüber anwesenden Asylsuchenden und anderen Ausländern entgegengewirkt, ist<br />
rechtsfehlerhaft (§ 46 Abs. 2 StGB). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 74/2017<br />
Berufungsverfahren: Ladung zur Hauptverhandlung<br />
(OLG Hamm, Beschl. v. 25.10.2016 – 3 RVs 72/16) • Die Ladung des Angeklagten zur Berufungshauptverhandlung<br />
– einschließlich der Belehrung gem. § 329 StPO – ist in deutscher Sprache abzufassen, weil<br />
die Gerichtssprache deutsch ist (§ 184 GVG). Die Ladung wird nicht dadurch unwirksam, dass sie einem<br />
der deutschen Sprache nicht mächtigen Ausländer ohne Übersetzung zugestellt wird.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 75/2017<br />
Maßregelvollzug: Anrechnung von Vollzugszeiten auf verfahrensfremde Strafen<br />
(LG Kleve, Beschl. v. 7.9.2016 – 180 StVK 393/16, 180 StVK 394/16) • Auch nach Einführung des § 67 Abs. 6<br />
StGB ist es nur in ganz besonderen Ausnahmefällen geboten, den über die gem. § 67 Abs. 4 StGB<br />
anrechenbare Zeit hinaus im Maßregelvollzug erlittenen Freiheitsentzug auf verfahrensfremde noch<br />
nicht verbüßte (Rest-)Strafen anzurechnen. Von einem Härtefall i.S.d. § 67 Abs. 6 StGB ist nicht<br />
auszugehen, wenn die Summe des bisher erlittenen Freiheitsentzuges (Strafhaft, Untersuchungshaft,<br />
Organisationshaft, Therapiezeiten nach § 35 BtMG oder § 64 StGB) die Summe sämtlicher verhängter<br />
noch nicht voll verbüßter Strafen (deutlich) unterschreitet. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 76/2017<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Anwaltshaftung: Unzureichende rechtliche Beratung und Vertretung in einem Vorprozess<br />
(BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 214/15) • Hat der Rechtsanwalt den Verlust des Vorprozesses aufgrund<br />
einer unzureichenden oder fehlerhaften rechtlichen Beratung und Vertretung zu verantworten, trifft<br />
den über die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels unzureichend aufgeklärten Mandanten kein<br />
Mitverschulden, wenn er es unterlässt, gegen die nachteilige Entscheidung im Vorprozess Rechtsmittel<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 65
Fach 1, Seite 22 Eilnachrichten 2017<br />
einzulegen. In welchem Umfang ein Anwalt auch ohne Auftrag seinen Mandanten über die Aussichten<br />
eines Rechtsmittels aufklären muss, kann dahinstehen. Eine Belehrungspflicht besteht jedenfalls bei<br />
ohne Weiteres erkennbarer Divergenz zur höchstrichterlichen Rechtsprechung und in den Fällen, in<br />
denen der Fehler des Urteils darauf beruht, dass der Rechtsanwalt nicht sachgerecht gearbeitet, das<br />
unrichtige Urteil also mitverschuldet hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 77/2017<br />
Syndikusrechtsanwaltszulassung: Fachliche Unabhängigkeit<br />
(AGH NRW, Urt. v. 7.10.2016 – 1 AGH 22/16) • Eine Zulassung als Syndikusrechtsanwalt setzt u.a. voraus,<br />
dass der Bewerber eine fachlich unabhängige Tätigkeit i.S.v. § 46 Abs. 3, 4 BRAO ausübt. Dies kann auch<br />
der Fall sein, wenn der Rechtsanwalt nach dem ursprünglichen Arbeitsvertrag seine Tätigkeit „nach<br />
Maßgabe der Weisungen der Geschäftsführung oder der von ihr bestellten Vorgesetzten“ ausübt, diese<br />
Regelung jedoch nachträglich abbedungen wurde und eine wirksame Ergänzung zum Arbeitsvertrag<br />
darstellt. Allerdings reicht es nach dem Gesetz nicht, dass die fachliche Unabhängigkeit vertraglich<br />
gewährleistet wird. Sie muss auch tatsächlich gewährleistet werden (§ 46 Abs. 4 S. 2 BRAO). Sie muss<br />
also tatsächlich im Rahmen des Anstellungsverhältnisses gelebt werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 78/2017<br />
Gebührenrecht<br />
Anwaltsvergütung: Kartellrechtsverstoß durch staatliche Gebührenordnung<br />
(EuGH, Urt. v. 8.12.2016 – C-532/15 und C-538/15) • Art. 101 AEUV i.V.m. Art. 4 Abs. 3 EUV ist dahin<br />
auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der spanischen Anwaltsgebührenordnung nicht<br />
entgegensteht, die für die Honorare der Prozessbevollmächtigten eine Gebühr festsetzt, die höchstens<br />
um 12 % über- oder unterschritten werden darf, und bezüglich deren sich das nationale Gericht darauf<br />
beschränkt, ihre strikte Anwendung zu überprüfen, ohne dass es in der Lage wäre, unter außergewöhnlichen<br />
Umständen von den durch diese Gebührenordnung festgelegten Grenzen abzuweichen.<br />
Zwar sind nationale Gebührenordnungen geeignet, den Wettbewerb zwischen den EU-Mitgliedstaaten<br />
zu beeinträchtigen. Ein Verstoß gegen Art. 101 AEUV liegt aber nur dann vor, wenn ein Mitgliedstaat die<br />
Ausarbeitung der Gebührenordnung an private Wirtschaftsteilnehmer (z.B. eine Rechtsanwaltskammer)<br />
überträgt und die Festsetzung der Honorare nicht unter staatlicher Kontrolle bleibt. Hinweis:<br />
Damit bestätigt der EuGH seine bisherige Rechtsprechung und wies zwei Klagen gegen angeblich<br />
überhöhte Anwaltsrechnungen zurück. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 79/2017<br />
Gebührenvereinbarung: Sachverständigenkosten erstattungsfähig<br />
(LG Freiburg, Urt. v. 24.11.2016 – 3 S 145/16) • Sachverständigenkosten nach einem Verkehrsunfall können<br />
insb. dann erstattungsfähig sein, wenn der Geschädigte und der von ihm mit der gutachterlichen<br />
Feststellung des Schadens beauftragte Sachverständige eine Gebührenvereinbarung getroffen haben.<br />
Hierbei kann vereinbart werden, dass Nebenkosten für die Erstellung des Gutachtens nach Aufwand<br />
abgerechnet werden, und dass sich das Grundhonorar am ermittelten Schaden orientiert, wobei<br />
Grundlage der Berechnung „der im Honorarbereich V ermittelte Wert der BVSK-Befragung 2015“ ist. Das<br />
in Übereinstimmung mit der Vereinbarung in Rechnung gestellte Grundhonorar ist zu erstatten, wenn<br />
dieses nicht – für den Geschädigten erkennbar – deutlich überhöht ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 80/2017<br />
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66 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Familienrecht Fach 11, Seite 1385<br />
Düsseldorfer Tabelle – 2017<br />
Unterhaltsrecht<br />
Düsseldorfer Tabelle<br />
– Stand: 1.1.2017<br />
Die Tabelle nebst Anmerkungen beruht auf Koordinierungsgesprächen, die unter Beteiligung aller<br />
Oberlandesgerichte und der Unterhaltskommission des Deutschen Familiengerichtstages e.V. stattgefunden<br />
haben. Sie enthält Angaben zum Kindesunterhalt (mit Anrechnung des Kindergeldes), Ehegattenunterhalt,<br />
zu Mangelfällen und Verwandtenunterhalt.<br />
Die Neufassung zum 1.1.2017 ist durch die Anhebung des Mindestunterhalts minderjähriger Kinder durch die<br />
Mindestunterhaltsverordnung vom 3.12.2015 (BGBl I, S. 2188) notwendig geworden. Die Verordnung, die auf<br />
der Grundlage des Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsrechts und des Unterhaltsverfahrensrechts sowie<br />
zur Änderung der Zivilprozessordnung und kostenrechtlicher Vorschriften vom 20.11.2015 (BGBl I, S. 2018)<br />
ergangen ist, orientiert den Unterhalt minderjähriger Kinder seit 2016 nicht mehr am steuerlichen<br />
Kinderfreibetrag, sondern am Existenzminimum, das regelmäßig vom Bundesministerium der Justiz und für<br />
Verbraucherschutz zu ermitteln ist. Zudem ist das Kindergeld zum Januar 2017 erhöht worden, was sich auf<br />
die Zahlbeträge auswirkt. Nicht geändert hat sich der Selbstbehalt des Unterhaltsschuldners; er wurde<br />
zuletzt zum 1.1.2015 angehoben.<br />
Inhalt<br />
A. Kindesunterhalt<br />
B. Ehegattenunterhalt<br />
C. Mangelfälle<br />
D. Verwandtenunterhalt und Unterhalt nach<br />
§ 1615l BGB<br />
E. Übergangsregelung<br />
A. Kindesunterhalt<br />
Nettoeinkommen des Barunterhaltspflichtigen<br />
Altersstufen in Jahren<br />
(§ 1612a Abs. 1 BGB)<br />
Prozentsatz Bedarfkontrollbetrag<br />
(Anm. 6)<br />
(Anm. 3, 4)<br />
0–5 6–11 12–17 ab 18<br />
Alle Beträge in Euro<br />
1. bis 1.500 342 393 460 527 100<br />
2. 1.501–1.900 360 413 483 554 105 1.180<br />
3. 1.901–2.300 377 433 506 580 110 1.280<br />
4. 2.301–2.700 394 452 529 607 115 1.380<br />
5. 2.701–3.100 411 472 552 633 120 1.480<br />
6. 3.101–3.500 438 504 589 675 128 1.580<br />
7. 3.501–3.900 466 535 626 717 136 1.680<br />
8. 3.901–4.300 493 566 663 759 144 1.780<br />
9. 4.301–4.700 520 598 700 802 152 1.880<br />
10. 4.701–5.100 548 629 736 844 160 1.980<br />
ab 5.101<br />
nach den Umständen des Falles<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 67
Fach 11, Seite 1386<br />
Düsseldorfer Tabelle – 2017<br />
Familienrecht<br />
Anmerkungen:<br />
1. Die Tabelle hat keine Gesetzeskraft, sondern stellt eine Richtlinie dar. Sie weist den monatlichen<br />
Unterhaltsbedarf aus, bezogen auf zwei Unterhaltsberechtigte, ohne Rücksicht auf den Rang. Der<br />
Bedarf ist nicht identisch mit dem Zahlbetrag; dieser ergibt sich unter Berücksichtigung der<br />
nachfolgenden Anmerkungen.<br />
Bei einer größeren/geringeren Anzahl Unterhaltsberechtigter können Ab- oder Zuschläge durch<br />
Einstufung in niedrigere/höhere Gruppen angemessen sein. Anmerkung 6 ist zu beachten. Zur<br />
Deckung des notwendigen Mindestbedarfs aller Beteiligten – einschließlich des Ehegatten – ist ggf.<br />
eine Herabstufung bis in die unterste Tabellengruppe vorzunehmen. Reicht das verfügbare<br />
Einkommen auch dann nicht aus, setzt sich der Vorrang der Kinder im Sinne von Anm. 5 Abs. 1<br />
durch. Gegebenenfalls erfolgt zwischen den erstrangigen Unterhaltsberechtigten eine Mangelberechnung<br />
nach Abschnitt C.<br />
2. Die Richtsätze der 1. Einkommensgruppe entsprechen dem Mindestbedarf gemäß der Verordnung<br />
zur Festlegung des Mindestunterhalts minderjähriger Kinder nach § 1612a Abs. 1 BGB vom 3.12.2015<br />
(BGBl I 2015, 2188). Der Prozentsatz drückt die Steigerung des Richtsatzes der jeweiligen<br />
Einkommensgruppe gegenüber dem Mindestbedarf (= 1. Einkommensgruppe) aus. Die durch<br />
Multiplikation des gerundeten Mindestbedarfs mit dem Prozentsatz errechneten Beträge sind<br />
entsprechend § 1612a Abs. 2 S. 2 BGB aufgerundet.<br />
3. Berufsbedingte Aufwendungen, die sich von den privaten Lebenshaltungskosten nach objektiven<br />
Merkmalen eindeutig abgrenzen lassen, sind vom Einkommen abzuziehen, wobei bei entsprechenden<br />
Anhaltspunkten eine Pauschale von 5 % des Nettoeinkommens – mindestens 50 €, bei<br />
geringfügiger Teilzeitarbeit auch weniger, und höchstens 150 € monatlich – geschätzt werden kann.<br />
Übersteigen die berufsbedingten Aufwendungen die Pauschale, sind sie insgesamt nachzuweisen.<br />
4. Berücksichtigungsfähige Schulden sind i.d.R. vom Einkommen abzuziehen.<br />
5. Der notwendige Eigenbedarf (Selbstbehalt)<br />
• gegenüber minderjährigen unverheirateten Kindern,<br />
• gegenüber volljährigen unverheirateten Kindern bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, die im<br />
Haushalt der Eltern oder eines Elternteils leben und sich in der allgemeinen Schulausbildung befinden,<br />
beträgt beim nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen monatlich 880 €, beim erwerbstätigen<br />
Unterhaltspflichtigen monatlich 1.080 €. Hierin sind bis 380 € für Unterkunft einschließlich<br />
umlagefähiger Nebenkosten und Heizung (Warmmiete) enthalten. Der Selbstbehalt soll erhöht<br />
werden, wenn die Wohnkosten (Warmmiete) den ausgewiesenen Betrag überschreiten und nicht<br />
unangemessen sind.<br />
Der angemessene Eigenbedarf, insbesondere gegenüber anderen volljährigen Kindern, beträgt i.d.R.<br />
mindestens monatlich 1.300 €. Darin ist eine Warmmiete bis 480 € enthalten.<br />
6. Der Bedarfskontrollbetrag des Unterhaltspflichtigen ab Gruppe 2 ist nicht identisch mit dem<br />
Eigenbedarf. Er soll eine ausgewogene Verteilung des Einkommens zwischen dem Unterhaltspflichtigen<br />
und den unterhaltsberechtigten Kindern gewährleisten. Wird er unter Berücksichtigung<br />
anderer Unterhaltspflichten unterschritten, ist der Tabellenbetrag der nächst niedrigeren Gruppe,<br />
deren Bedarfskontrollbetrag nicht unterschritten wird, anzusetzen.<br />
7. Bei volljährigen Kindern, die noch im Haushalt der Eltern oder eines Elternteils wohnen, bemisst sich<br />
der Unterhalt nach der 4. Altersstufe der Tabelle.<br />
Der angemessene Gesamtunterhaltsbedarf eines Studierenden, der nicht bei seinen Eltern oder<br />
einem Elternteil wohnt, beträgt i.d.R. monatlich 735 €. Hierin sind bis 300 € für Unterkunft<br />
einschließlich umlagefähiger Nebenkosten und Heizung (Warmmiete) enthalten. Dieser Bedarfssatz<br />
kann auch für ein Kind mit eigenem Haushalt angesetzt werden.<br />
8. Die Ausbildungsvergütung eines in der Berufsausbildung stehenden Kindes, das im Haushalt der<br />
Eltern oder eines Elternteils wohnt, ist vor ihrer Anrechnung i.d.R. um einen ausbildungsbedingten<br />
Mehrbedarf von monatlich 90 € zu kürzen.<br />
68 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Familienrecht Fach 11, Seite 1387<br />
Düsseldorfer Tabelle – 2017<br />
9. In den Bedarfsbeträgen (Anmerkungen 1 und 7) sind Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung<br />
sowie Studiengebühren nicht enthalten.<br />
10.Das auf das jeweilige Kind entfallende Kindergeld ist nach § 1612b BGB auf den Tabellenunterhalt<br />
(Bedarf) anzurechnen.<br />
B. Ehegattenunterhalt<br />
I. Monatliche Unterhaltsrichtsätze des berechtigten Ehegatten ohne unterhaltsberechtigte Kinder<br />
(§§ 1361, 1569, 1578, 1581 BGB):<br />
1. gegen einen erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen:<br />
a) wenn der Berechtigte kein Einkommen hat: 3 / 7 des anrechenbaren Erwerbseinkommens<br />
zzgl. ½ der anrechenbaren<br />
sonstigen Einkünfte des Pflichtigen,<br />
nach oben begrenzt durch den vollen<br />
Unterhalt, gemessen an den zu berücksichtigenden<br />
ehelichen Verhältnissen;<br />
b) wenn der Berechtigte ebenfalls Einkommen hat: 3 / 7 der Differenz zwischen den anrechenbaren<br />
Erwerbseinkommen der<br />
Ehegatten, insgesamt begrenzt durch<br />
den vollen ehelichen Bedarf; für sonstige<br />
anrechenbare Einkünfte gilt der<br />
Halbteilungsgrundsatz;<br />
c) wenn der Berechtigte erwerbstätig ist, obwohl ihn keine gem. § 1577 Abs. 2 BGB;<br />
Erwerbsobliegenheit trifft:<br />
2. gegen einen nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen (z.B.<br />
Rentner):<br />
wie zu 1a, b oder c, jedoch 50 %.<br />
II. Fortgeltung früheren Rechts:<br />
1. Monatliche Unterhaltsrichtsätze des nach dem Ehegesetz berechtigten Ehegatten ohne unterhaltsberechtigte<br />
Kinder:<br />
a) §§ 58, 59 EheG: i.d.R. wie I,<br />
b) § 60 EheG: i.d.R. ½ des Unterhalts zu I,<br />
c) § 61 EheG: nach Billigkeit bis zu den Sätzen I.<br />
2. Bei Ehegatten, die vor dem 3.10.1990 in der früheren DDR geschieden worden sind, ist das DDR-FGB<br />
in Verbindung mit dem Einigungsvertrag zu berücksichtigen (Art. 234 § 5 EGBGB).<br />
III. Monatliche Unterhaltsrichtsätze des berechtigten Ehegatten, wenn die ehelichen Lebensverhältnisse<br />
durch Unterhaltspflichten gegenüber Kindern geprägt werden:<br />
Wie zu I bzw. II 1, jedoch wird grundsätzlich der Kindesunterhalt (Zahlbetrag; vgl. Anm. C und<br />
Anhang) vorab vom Nettoeinkommen abgezogen.<br />
IV. Monatlicher Eigenbedarf (Selbstbehalt) gegenüber dem getrennt lebenden und dem geschiedenen<br />
Berechtigten:<br />
unabhängig davon, ob erwerbstätig oder nicht erwerbstätig 1.200 €<br />
Hierin sind bis 430 € für Unterkunft einschließlich umlagefähiger Nebenkosten und Heizung<br />
(Warmmiete) enthalten.<br />
V. Existenzminimum des unterhaltsberechtigten Ehegatten einschließlich des trennungsbedingten<br />
Mehrbedarfs i.d.R.:<br />
1. falls erwerbstätig: 1.080 €<br />
2. falls nicht erwerbstätig: 880 €<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 69
Fach 11, Seite 1388<br />
Düsseldorfer Tabelle – 2017<br />
Familienrecht<br />
VI. 1. Monatlicher notwendiger Eigenbedarf des von dem Unterhaltspflichtigen getrennt lebenden oder<br />
geschiedenen Ehegatten unabhängig davon, ob erwerbstätig oder nicht erwerbstätig:<br />
a) gegenüber einem nachrangigen geschiedenen Ehegatten 1.200 €<br />
b) gegenüber nicht privilegierten volljährigen Kindern 1.300 €<br />
c) gegenüber Eltern des Unterhaltspflichtigen 1.800 €<br />
2. Monatlicher notwendiger Eigenbedarf des Ehegatten, der in einem gemeinsamen Haushalt mit<br />
dem Unterhaltspflichtigen lebt, unabhängig davon, ob erwerbstätig oder nicht erwerbstätig:<br />
a) gegenüber einem nachrangigen geschiedenen Ehegatten 960 €<br />
b) gegenüber nicht privilegierten volljährigen Kindern 1.040 €<br />
c) gegenüber Eltern des Unterhaltspflichtigen 1.440 €<br />
(vgl. Anm. D I)<br />
Anmerkung zu I–III:<br />
Hinsichtlich berufsbedingter Aufwendungen und berücksichtigungsfähiger Schulden gelten Anmerkungen<br />
A. 3 und 4 – auch für den erwerbstätigen Unterhaltsberechtigten – entsprechend. Diejenigen<br />
berufsbedingten Aufwendungen, die sich nicht nach objektiven Merkmalen eindeutig von den privaten<br />
Lebenshaltungskosten abgrenzen lassen, sind pauschal im Erwerbstätigenbonus von 1 / 7 enthalten.<br />
C. Mangelfälle<br />
Reicht das Einkommen zur Deckung des Bedarfs des Unterhaltspflichtigen und der gleichrangigen<br />
Unterhaltsberechtigten nicht aus (sog. Mangelfälle), ist die nach Abzug des notwendigen Eigenbedarfs<br />
(Selbstbehalts) des Unterhaltspflichtigen verbleibende Verteilungsmasse auf die Unterhaltsberechtigten<br />
im Verhältnis ihrer jeweiligen Einsatzbeträge gleichmäßig zu verteilen.<br />
Der Einsatzbetrag für den Kindesunterhalt entspricht dem Zahlbetrag des Unterhaltspflichtigen. Dies ist<br />
der nach Anrechnung des Kindergeldes oder von Einkünften auf den Unterhaltsbedarf verbleibende<br />
Restbedarf.<br />
Beispiel:<br />
Bereinigtes Nettoeinkommen des Unterhaltspflichtigen (M): 1.350 €. Unterhalt für drei unterhaltsberechtigte<br />
Kinder im Alter von 18 Jahren (K1), 7 Jahren (K2) und 5 Jahren (K3), Schüler, die bei der nicht<br />
unterhaltsberechtigten, den Kindern nicht barunterhaltspflichtigen Ehefrau und Mutter (F) leben. F bezieht<br />
das Kindergeld.<br />
Notwendiger Eigenbedarf des M: 1.080 €<br />
Verteilungsmasse: 1.350 €–1.080 € = 270 €<br />
Summe der Einsatzbeträge der Unterhaltsberechtigten:<br />
335 € (527 – 192) (K 1) + 297 € (393 – 96) (K 2) + 243 € (342 – 99) (K 3) = 875 €<br />
Unterhalt:<br />
K 1: 335 × 270 / 875 = 103,37 €<br />
K 2: 297 × 270 / 875 = 91,65 €<br />
K 3: 243 × 270 / 875 = 74,98 €<br />
D. Verwandtenunterhalt und Unterhalt nach § 1615l BGB<br />
I. Angemessener Selbstbehalt gegenüber den Eltern: mindestens monatlich 1.800 € (einschließlich 480 €<br />
Warmmiete) zuzüglich der Hälfte des darüber hinausgehenden Einkommens, bei Vorteilen des<br />
Zusammenlebens i.d.R. 45 % des darüber hinausgehenden Einkommens. Der angemessene Unterhalt<br />
des mit dem Unterhaltspflichtigen zusammenlebenden Ehegatten bemisst sich nach den ehelichen<br />
Lebensverhältnissen (Halbteilungsgrundsatz), beträgt jedoch mindestens 1.440 € (einschließlich 380 €<br />
Warmmiete).<br />
70 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Familienrecht Fach 11, Seite 1389<br />
Düsseldorfer Tabelle – 2017<br />
II. Bedarf der Mutter und des Vaters eines nichtehelichen Kindes (§ 1615l BGB): nach der<br />
Lebensstellung des betreuenden Elternteils, i.d.R. mindestens 880 €.<br />
Angemessener Selbstbehalt gegenüber der Mutter und dem Vater eines nichtehelichen Kindes<br />
(§§ 1615l, 1603 Abs. 1 BGB): unabhängig davon, ob erwerbstätig oder nicht erwerbstätig: 1.200 €.<br />
Hierin sind bis 430 € für Unterkunft einschließlich umlagefähiger Nebenkosten und Heizung<br />
(Warmmiete) enthalten.<br />
E. Übergangsregelung<br />
Umrechnung dynamischer Titel über Kindesunterhalt nach § 36 Nr. 3 EGZPO: Ist Kindesunterhalt als<br />
Prozentsatz des jeweiligen Regelbetrags zu leisten, bleibt der Titel bestehen. Eine Abänderung ist nicht<br />
erforderlich. An die Stelle des bisherigen Prozentsatzes vom Regelbetrag tritt ein neuer Prozentsatz vom<br />
Mindestunterhalt (Stand: 1.1.2008). Dieser ist für die jeweils maßgebliche Altersstufe gesondert zu<br />
bestimmen und auf eine Stelle nach dem Komma zu begrenzen (§ 36 Nr. 3 EGZPO). Der Prozentsatz wird<br />
auf der Grundlage der zum 1.1.2008 bestehenden Verhältnisse einmalig berechnet und bleibt auch bei<br />
späterem Wechsel in eine andere Altersstufe unverändert (BGH, Urt. v. 18.4.2012 – XII ZR 66/10, FamRZ<br />
2012, 1048). Der Bedarf ergibt sich aus der Multiplikation des neuen Prozentsatzes mit dem Mindestunterhalt<br />
der jeweiligen Altersstufe und ist auf volle Euro aufzurunden (§ 1612a Abs. 2 S. 2 BGB). Der<br />
Zahlbetrag ergibt sich aus dem um das jeweils anteilige Kindergeld verminderten bzw. erhöhten Bedarf.<br />
Es sind vier Fallgestaltungen zu unterscheiden:<br />
1. Der Titel sieht die Anrechnung des hälftigen Kindergeldes (für das 1. bis 3. Kind 77 €, ab dem 4. Kind<br />
89,50 €) oder eine teilweise Anrechnung des Kindergeldes vor (§ 36 Nr. 3a EGZPO).<br />
(Bisheriger Zahlbetrag + ½ Kindergeld) x 100<br />
Mindestunterhalt der jeweiligen Altersstufe<br />
= Prozentsatz neu<br />
Beispiel für 1. Altersstufe<br />
(196 € +77€) x 100<br />
= 97,8 % 279 € x 97,8 %€ = 272,86 €, aufgerundet 273 €<br />
279 €<br />
Zahlbetrag: 273 €–77 € = 196 €<br />
2. Der Titel sieht die Hinzurechnung des hälftigen Kindergeldes vor (§ 36 Nr. 3b EGZPO).<br />
(Bisheriger Zahlbetrag – ½ Kindergeld) x 100<br />
Mindestunterhalt der jeweiligen Altersstufe<br />
= Prozentsatz neu<br />
Beispiel für 1. Altersstufe<br />
(273 €–77 €) x 100<br />
= 70,2 % 279 € x 70,2 %€ = 195,85 €, aufgerundet 196 €<br />
279 €<br />
Zahlbetrag: 196 € +77€ = 273 €<br />
3. Der Titel sieht die Anrechnung des vollen Kindergeldes vor (§ 36 Nr. 3c EGZPO).<br />
(Zahlbetrag + 1 / 1 Kindergeld) x 100<br />
Mindestunterhalt der jeweiligen Altersstufe<br />
= Prozentsatz neu<br />
Beispiel für 2. Altersstufe<br />
(177 € + 154 €) x 100<br />
= 102,7 % 322 € x 102,7 %€ = 330,69 €, aufgerundet 331 €<br />
322 €<br />
Zahlbetrag: 331 €–154 € = 177 €<br />
4. Der Titel sieht weder eine Anrechnung noch eine Hinzurechnung des Kindergeldes vor (§ 36<br />
Nr. 3d EGZPO).<br />
(Zahlbetrag + ½ Kindergeld) x 100<br />
Mindestunterhalt der jeweiligen Altersstufe<br />
= Prozentsatz neu<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 71
Fach 11, Seite 1390<br />
Düsseldorfer Tabelle – 2017<br />
Familienrecht<br />
Beispiel für 3. Altersstufe<br />
(329 € +77 €) x 100<br />
365 €<br />
Zahlbetrag: 406 €–77 € = 329 €<br />
= 111,2 % 365 € x 111,2 %€ = 405,88 €, aufgerundet 406 €<br />
Anhang: Tabelle Zahlbeträge<br />
Die folgenden Tabellen enthalten die sich nach Abzug des jeweiligen Kindergeldanteils (hälftiges<br />
Kindergeld bei Minderjährigen, volles Kindergeld bei Volljährigen) ergebenden Zahlbeträge. Ab dem<br />
1.1.2017 beträgt das Kindergeld für das erste und zweite Kind 192 €, für das dritte Kind 198 €, ab dem<br />
vierten Kind 223 €.<br />
1. und 2. Kind 0–5 6–11 12–17 ab 18 %<br />
1. bis 1.500 246 297 364 335 100<br />
2. 1.501–1.900 264 317 387 362 105<br />
3. 1.901–2.300 281 337 410 388 110<br />
4. 2.301–2.700 298 356 433 415 115<br />
5. 2.701–3.100 315 376 456 441 120<br />
6. 3.101–3.500 342 408 493 483 128<br />
7. 3.501–3.900 370 439 530 525 136<br />
8. 3.901–4.300 397 470 567 567 144<br />
9. 4.301–4.700 424 502 604 610 152<br />
10. 4.701–5.100 452 533 640 652 160<br />
3. Kind 0–5 6–11 12–17 ab 18 %<br />
1. bis 1.500 243 294 361 329 100<br />
2. 1.501–1.900 261 314 384 356 105<br />
3. 1.901–2.300 278 334 407 382 110<br />
4. 2.301–2.700 295 353 430 409 115<br />
5. 2.701–3.100 312 373 453 435 120<br />
6. 3.101–3.500 339 405 490 477 128<br />
7. 3.501–3.900 367 436 527 519 136<br />
8. 3.901–4.300 394 467 564 561 144<br />
9. 4.301–4.700 421 499 601 604 152<br />
10. 4.701–5.100 449 530 637 646 160<br />
Ab 4. Kind 0–5 6–11 12–17 ab 18 %<br />
1. bis 1.500 230,50 281,50 348,50 304 100<br />
2. 1.501 – 1.900 248,50 301,50 371,50 331 105<br />
3. 1.901–2.300 265,50 321,50 394,50 357 110<br />
4. 2.301–2.700 282,50 340,50 417,50 384 115<br />
5. 2.701–3.100 299,50 360,50 440,50 410 120<br />
6. 3.101–3.500 326,50 392,50 477,50 452 128<br />
7. 3.501–3.900 354,50 423,50 514,50 494 136<br />
8. 3.901–4.300 381,50 454,50 551,50 536 144<br />
9. 4.301–4.700 408,50 486,50 588,50 579 152<br />
10. 4.701–5.100 436,50 517,50 624,50 621 160<br />
72 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Zivilprozessrecht Fach 13, Seite 2169<br />
Grundsätze zur Bestimmung des zuständigen Gerichts<br />
Zivilprozessrecht<br />
Das zuständige Gericht in Zivilsachen<br />
– Teil 19: Gerichtsbestimmung, Grundsätze<br />
Von RiOLG i.R. Dr. MANFRED CUYPERS, Duisburg<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Anknüpfung an vertragliche Beziehungen<br />
1. Dienstvertrag<br />
2. GbR<br />
3. Bürgschaft<br />
III. Anknüpfung an unerlaubter Handlung<br />
1. Kapitalanlage<br />
2. Verkehrsunfall<br />
3. Staatshaftung<br />
I. Einleitung<br />
Infolge des Umstands, dass § 281 ZPO und § 36 ZPO nicht recht aufeinander abgestimmt sind, vollziehen sich<br />
Gerichtsbestimmungen in Deutschland häufig nach nur schwer durchschaubaren Kriterien, zumal, wenn sie<br />
von einer „Bindungswirkung“ ausgehen, die lediglich im Falle einer „Willkür“ nicht gegeben sei. Was § 36<br />
Abs. 1 Nr. 6 ZPO anbelangt, so formuliert etwa das OLG Thüringen (Beschl. v. 11.12.2003 – 8 SA 42/03): „Die<br />
Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses fällt nur dann weg, wenn für die Verweisung keine rechtliche Grundlage<br />
besteht oder wenn einer Partei das rechtliche Gehör versagt worden ist“. Mehr Systematik ist bei Entscheidungen<br />
über Gesuche auf Bestimmung eines gemeinschaftlichen Gerichts gem. § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zu verzeichnen.<br />
Hinweis:<br />
Nach Auffassung des BGH (Urt. v. 28.9.2004 – IX ZR 155/03) hemmt auch ein erfolgloser Antrag auf<br />
Gerichtsbestimmung die Verjährung.<br />
II. Anknüpfung an vertragliche Beziehungen<br />
Der Kläger (und Gesuchsteller) bestimmt den Streitgegenstand sowohl durch die Fassung seiner Anträge als<br />
auch durch ihre Begründung. In der Praxis haben sich für das „streitige Rechtsverhältnis“ nach Typen<br />
kategorisierbare Konstellationen herausgebildet. Teils entsprechen sie gesetzlichen Typen, teils sind sie das<br />
Ergebnis neuerer Entwicklungen. Was die „Ansprüche oder Verpflichtungen“ des § 60 ZPO anbelangt, so<br />
lässt sich zwar theoretisch danach differenzieren, ob Schadensersatz eingeklagt ist oder ob es um die<br />
Erfüllung vertraglicher Pflichten geht. Weil deren Nicht- oder Schlechterfüllung aber auch Schadensersatzansprüche<br />
auslösen kann, kommt es indessen häufig schon im Verfahren der Gerichtsbestimmung zu einer<br />
Gemengelage.<br />
1. Dienstvertrag<br />
Was die Erbringung von Dienstleistungen (Art. 5 Nr. 1b VO (EG) Nr. 44/2001) angeht, so sollen hier nur<br />
zwei praktisch besonders bedeutsame Konstellationen betrachtet werden.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 73
Fach 13, Seite 2170<br />
Grundsätze zur Bestimmung des zuständigen Gerichts<br />
Zivilprozessrecht<br />
a) Anwaltsvertrag<br />
Aufgrund des Umstands, dass sich Rechtsanwälte – in den verschiedensten rechtlichen Formen – mehr<br />
und mehr zusammenschließen, kommt Gerichtsbestimmung gem. § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO besonders häufig<br />
beim Anwaltsregress in Betracht. Sie scheidet allerdings von vornherein aus, wenn Rechtsanwälte<br />
lediglich eine Bürogemeinschaft bilden. Nach dem Wortlaut des § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO genügt es nicht, im<br />
Gesuch lediglich den Kanzleisitz der Rechtsanwälte anzugeben. An sich muss der Wohnsitz eines jeden<br />
Rechtsanwalts angegeben werden, der vom Kläger beauftragt worden ist – bei Großkanzleien ein nicht<br />
praktizierbares Verlangen insbesondere, wenn sie weltweit residieren. Die Praxis sieht deshalb i.d.R.<br />
darüber hinweg, dass die Gerichtsbestimmung gem. § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO lediglich die Auswahl zwischen<br />
den allgemeinen Gerichtsständen der vorgesehenen Beklagten ermöglicht. Rechtfertigen lässt sich das<br />
aber nur, wenn man – anstatt auf § 29 Abs. 1 ZPO mit widersprüchlichen Ergebnissen auszuweichen – die<br />
Kanzlei als Niederlassung i.S.d. § 21 Abs. 1 ZPO ansieht. Bei einigen deutschland- oder weltweit tätigen<br />
Anwaltsfirmen ist das sogar zwanglos möglich. Indessen bereitet die Titulierung „Besonderer Gerichtsstand“<br />
angesichts der Ausnahme des § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO Probleme.<br />
aa) Vertragliche Beziehung<br />
Ansonsten hindern die §§ 59, 60 ZPO jedenfalls eine Einbeziehung solcher Rechtsanwälte in die<br />
Gerichtsbestimmung, die mit dem Kläger nicht vertraglich verbunden sind. Allerdings braucht das nicht<br />
ein und derselbe Anwaltsvertrag zu sein, etwa bei erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten einerseits,<br />
zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten andererseits. Natürlich kann eine prozessfähige Gesamtheit<br />
der Rechtsanwälte als solche verklagt werden. Will ein Kläger jedoch wegen § 736 ZPO einen Titel<br />
gegen jeden einzelnen Anwalt, hilft das aber nicht stets weiter.<br />
bb) Auswahl<br />
Bei der Auswahl zwischen verschiedenen Gerichtsständen kommt es ganz darauf an, auf welchem<br />
tatsächlichen Grund die geltend gemachte Verpflichtung beruhen soll. Wird etwa mangelhafte<br />
Vertretung vor Gericht gerügt, ist es in Anlehnung an § 34 ZPO angezeigt, den allgemeinen<br />
Gerichtsstand desjenigen Rechtsanwalts zu wählen, der am Ort oder in der Nähe dieses Gerichts<br />
wohnt bzw. dort seine Kanzlei hat. Wird mangelhafte außergerichtliche Interessenvertretung gerügt,<br />
dann ist angesichts § 21 Abs. 1 ZPO primäres Auswahlkriterium die Kanzlei, wenn in ihr der Anwaltsvertrag<br />
geschlossen worden ist (insoweit zutreffend OLG Köln NJW 2000, 862). Abgestellt werden<br />
kann aber etwa auch darauf, wer zuerst das Mandat erhalten hat (BayObLG, Beschl. v. 21.3.2002 – 1Z AR<br />
17/02 – bei der Auswahl zwischen Verkehrsanwalt und Prozessbevollmächtigten). Bisweilen ist es<br />
indessen lediglich möglich, auf den Gesichtspunkt der „größeren Zahl“ zurückzugreifen.<br />
Beispiel:<br />
Klage ist vor dem Landgericht K gegen vier Rechtsanwälte erhoben, die nach Auffassung des Klägers<br />
nicht auf die drohende Verjährung eines Pflichtteilsergänzungsanspruchs hingewiesen hätten, so dass er<br />
einen Prozess vor dem Landgericht K, in dem er von diesen vier Rechtsanwälten vertreten worden sei,<br />
verloren habe. Beklagter ist ferner ein fünfter Rechtsanwalt, der den Kläger im Berufungsverfahren vor<br />
dem Oberlandesgericht D, von dem die Berufung zurückgewiesen worden war, vertreten hat. Ihm wird<br />
vorgeworfen, im Berufungsverfahren nicht hinreichend zur Hemmung der Verjährung vorgetragen zu<br />
haben. Der Fünftbeklagte rügt die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts K. Es bleibt bei der Zuständigkeit<br />
des Landgerichts K, weil dort vier der fünf Beklagten ihren allgemeinen Gerichtsstand hätten (OLG<br />
Düsseldorf, Beschl. v. 31.1.2003 – I-19 Sa 101/02).<br />
b) Ärztlicher Behandlungsvertrag<br />
Bei „Arzthaftungsfällen“ macht es schon die häufig gegebene Kompliziertheit des Klagegrundes<br />
praktisch unmöglich, das Gesuch an den §§ 59, 60 ZPO zu messen.<br />
aa) Anknüpfungspunkt<br />
Bisweilen steht nicht einmal ein fixer Zeitpunkt zur Verfügung, bei dem im Rahmen der Prüfung, ob die<br />
Voraussetzungen dieser Vorschriften vorliegen, angeknüpft werden kann, etwa, wenn Entschädigung<br />
74 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Zivilprozessrecht Fach 13, Seite 2171<br />
Grundsätze zur Bestimmung des zuständigen Gerichts<br />
für Schmerzen verlangt wird, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt haben. Vielfach weiß der<br />
Patient selbst nicht, auf welchem tatsächlichen Grund sein als Schaden anzusehender aktueller<br />
physischer oder psychischer Zustand beruht. In der Regel wird „notgedrungen“ ein gemeinschaftliches<br />
Gericht für alle Ärzte/Krankenhäuser bestimmt, deren Verhalten für den geltend gemachten Schaden<br />
nach dem Vortrag des Klägers/Gesuchstellers ursächlich gewesen sein kann. Das lässt sich – gerade<br />
wenn Ersatz immateriellen Schadens verlangt wird – nur selten ausschließen.<br />
Beispiel:<br />
Verlangt wird Schmerzensgeld wegen Zahnschmerzen, deren Ursache erst ein vierter Zahnarzt beseitigt<br />
hatte. Bestimmt wird das Gericht des ersten Zahnarztes, weil sich die Symptome später nicht verändert<br />
hatten (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 8.9.2009 – I-5 Sa 64/09; v. 7.10.2010 – I-5 Sa 65/10).<br />
bb) Auswahlkriterien<br />
Es macht an sich Sinn, den allgemeinen Gerichtsstand desjenigen als gemeinschaftlich zu bestimmen,<br />
der nach dem Vortrag des Gesuchstellers im Prozess am besten zur Aufklärung dazu beitragen kann,<br />
worauf der als Schaden zu qualifizierende Zustand zurückzuführen ist (OLG Düsseldorf, Beschl.<br />
v. 18.8.2009 – I-5 Sa 42/09; v. 5.10.2010 – I-5 Sa 67/10). Dabei muss allerdings in Kauf genommen<br />
werden, dass der „Auserkorene“ aus naheliegenden Gründen an einer solchen Aufklärung kein Interesse<br />
haben kann. Dieses Risiko kann man dem Gesuchsteller nicht dergestalt abnehmen, dass man jeden Ort,<br />
an dem er (nicht) untersucht und/oder (nicht) behandelt worden ist, zum „Begehungsort“ i.S.d. § 32 ZPO<br />
macht und ihm, wenn er mehreren Ärzten vorgestellt worden ist, die Wahl überlässt. Denn wenn die<br />
schädigende Handlung in dem Unterlassen der gebotenen „Behandlung“ liegt, wie es in Arzthaftungsprozessen<br />
regelmäßig geltend gemacht wird, verliert auch der „Begehungsort“ jegliche Konturen. Das<br />
erst recht, wenn solchen Ärzten Diagnosefehler vorgeworfen werden, die auf bestimmte Diagnoseverfahren<br />
(MRT, CCT) spezialisiert sind (s. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.7.2010 – I-5 Sa 46/10).<br />
cc) Besonderer Gerichtsstand der unerlaubten Handlung, § 32 ZPO<br />
Was der BGH zu fünf Arzneimittelherstellern gesagt hat (Beschl. v. 14.12.1989 – I ARZ 700/89), lässt sich<br />
nicht ohne Weiteres auf die Arzthaftung übernehmen. Diese knüpft meistens an ein Unterlassen an,<br />
beginnend mit dem Vorwurf unterlassener Aufklärung über Risiken eines ärztliche Eingriffs und endend<br />
mit dem Vorwurf angeblich zu spät vorgenommener Operation z.B. bei einer Netzhautablösung (OLG<br />
Düsseldorf, Beschl. v. 9.12.2010 – I-5 Sa 84/10). So versagt das OLG Saarbrücken (Beschl. v. 8.10.2007 – 5W<br />
256/07) eine Gerichtsbestimmung hinsichtlich zweier verklagter Ärzte, denen Behandlungsfehler in<br />
verschiedenen Krankenhäusern vorgeworfen worden waren, deshalb, weil das Krankenhaus des Gerichts,<br />
in dem die – zwischenzeitlich verstorbene – Klägerin ihren Wohnsitz gehabt hatte, Begehungsort i.S.d.<br />
§ 32 ZPO gewesen sei. Das trifft aber – möglicherweise – auch auf das zweite Krankenhaus zu, obgleich es<br />
nicht im Bezirk des Wohnsitzgerichts lag. Auch geht das Kammergericht Berlin (Beschl. v. 1.6.2006 – 28 AR<br />
28/06, NJW 2006, 2336) zu weit, wenn es der Auffassung ist, für Schadensersatzklagen wegen ärztlicher<br />
Kunstfehler seien gem. § 32 ZPO – unabhängig vom Behandlungsort – grundsätzlich auch die Gerichte am<br />
Wohnort des Verletzten zuständig. Das ist evident, wenn der Patient im Laufe der Zeit seinen Wohnsitz<br />
wechselt, aber auch, wenn er zur weit entfernten Arztpraxis von seinem Wohnsitz anreist.<br />
Gemeinschaftliche Haftung – und damit ein Anspruch auf Bestimmung eines gemeinschaftlichen Gerichts<br />
– kann lediglich durch Vortrag des Klägers und Gesuchstellers zu vertraglichen Verpflichtungen der<br />
verklagten Ärzte begründet werden. Aus ihm muss sich ergeben, dass der geltend gemachte Schaden –<br />
die körperliche Beeinträchtigung (Schmerzen) – in der ganzen Zeit, in der er Kontakt zu den Beklagten<br />
hatte, andauerte, so dass sie kraft Arztvertrags sämtlich verpflichtet waren, seine Ursachen nach den<br />
Regeln der ärztlichen Kunst aus der jeweiligen Situation heraus nachzugehen.<br />
dd) Formalitäten des Gesuchs<br />
Formell gilt das Gleiche wie beim Anwaltsregress: An sich sind im Gesuch nicht nur die Adressen der<br />
Praxen/Krankenhäuser, sondern die Privatanschriften der Ärzte und die Anschriften der Träger<br />
anzugeben. Wenn sich dem Gesuch aber zumindest der allgemeine Gerichtsstand eines Beteiligten<br />
entnehmen lässt, der im Bezirk des Gerichts liegt, bei dem das Gesuch gestellt wird und das deshalb zur<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 75
Fach 13, Seite 2172<br />
Grundsätze zur Bestimmung des zuständigen Gerichts<br />
Zivilprozessrecht<br />
Gerichtsbestimmung berufen ist, kann abgewartet werden, inwieweit das im Rechtszug zunächst<br />
höhere Gericht Nachbesserung verlangt – auch, was die Frage der rechtlichen Verbundenheit der<br />
Beteiligten anbelangt.<br />
2. GbR<br />
Bereits vor der Anerkennung der Prozessfähigkeit der als solche nicht rechtsfähigen Gesellschaft<br />
bürgerlichen Rechts (GbR) durch den BGH (Urt. v. 29.1.2006 – II ZR 331/00) wurden wegen § 736 ZPO<br />
regelmäßig alle Gesellschafter wegen Verbindlichkeiten, die in deren Namen eingegangen worden<br />
waren oder die sie aus sonstigen Gründen gemeinschaftlich trafen, verklagt. Haben diese verschiedene<br />
allgemeine Gerichtsstände, scheint stets das Verfahren gem. § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO eröffnet. Indessen ist<br />
wegen § 60 ZPO zu differenzieren.<br />
a) Vertragliche Ansprüche<br />
Sind Ansprüche „aus einem Vertragsverhältnis“ Gegenstand des Rechtsstreits, kann eine Gerichtsbestimmung<br />
ohne Weiteres erfolgen. In Anlehnung an § 17 Abs. 1 S. 2 ZPO ist dann grundsätzlich der<br />
allgemeine Gerichtsstand desjenigen zu wählen, der die Gesellschaft „verwaltet“ (OLG Düsseldorf,<br />
Beschl. v. 7.4.2006 – I-5 Sa 25/06; v. 15.7.2010 – I-5 Sa 47/10) oder dessen Gerichtsstand dem Ort der<br />
Verwaltung am nächsten liegt (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26.1.2010 – I-5 Sa 100/09).<br />
Hinweis:<br />
Auch dann braucht ein Kläger konkret nicht den gesamten Geschäftsbetrieb der Gesellschaft darzulegen;<br />
vielmehr genügt der Vortrag, welcher der Gesellschafter ihm gegenüber gehandelt hat.<br />
Daran hat die Anerkennung der Prozessfähigkeit der GbR nichts geändert. Allerdings hat auch sie<br />
nunmehr einen allgemeinen Gerichtsstand, eben den des § 17 Abs. 1 S. 2 ZPO. Dieser ist bei ihr indessen oft<br />
mangels Regelung in einer Satzung nur schwer zu ermitteln. Das aber führt allenfalls dazu, dass die<br />
Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO häufiger gegeben sein können, nämlich dann, wenn dieser<br />
Gerichtsstand von dem der Gesellschafter abweicht. Auch wenn das der Fall ist, bleibt es aber dabei, dass<br />
dem mit dem Sitz der Gesellschaft identischen allgemeinen Gerichtsstand des „verwaltenden“ Gesellschafters<br />
der Vorzug zu geben ist. Bei einer Publikumsgesellschaft mit mehreren hundert Mitgliedern<br />
bleibt nichts anderes übrig, als auf den Ort abzustellen, von welchem Ort aus die (gesamte) Verwaltung<br />
geführt wird, unabhängig davon, was in einer Satzung – sollte sie vorhanden sein – oder im Gesellschaftsvertrag<br />
bestimmt ist (KG, Beschl. v. 29.5.2008 – 2 AR 25/08; OLG Frankfurt, Urt. v. 19.12.2008 –<br />
19 U 101/08). Es stellt sich allenfalls die Frage, ob dem Gesuchsteller eine Gerichtsbestimmung mit der<br />
Begründung versagt werden kann, er könne und brauche doch nur die Gesellschaft zu verklagen (so noch<br />
BayObLG, Beschl. v. 9.9.2002 – 1Z AR 166/02). Sie ist indessen im Hinblick auf das Interesse, auch in das<br />
Privatvermögen der Gesellschafter vollstrecken zu können, zu verneinen.<br />
b) Unerlaubte Handlung<br />
Sind Ansprüche „aus unerlaubter Handlung“ Streitgegenstand, kommt Gerichtsbestimmung nur in<br />
Betracht, wenn die Handlung den Gesellschaftern in ihrer Gesamtheit zugerechnet werden kann. Ist<br />
das der Fall, dann ist der allgemeine Gerichtsstand desjenigen zu wählen, der gehandelt hat.<br />
c) Insolvenz<br />
Ist die Gesellschaft infolge Insolvenz aufgelöst, § 728 BGB, und will der Insolvenzverwalter die<br />
Insolvenzmasse durch Heranziehung der Gesellschafter, die verschiedene allgemeine Gerichtsstände<br />
haben, erhöhen, so ist der Gerichtsstand desjenigen zu wählen, der bei der Klärung des Insolvenzgrundes<br />
mitgewirkt hat (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.4.2007 – I-5 Sa 17/07).<br />
3. Bürgschaft<br />
Die Verpflichtung des Bürgen, § 765 BGB, wird durch vertragliche Vereinbarung – einschließlich einer<br />
„Patronatserklärung“–mit ihm begründet. Die Verbindlichkeit, für deren Erfüllung er sich verbürgt, kann<br />
unterschiedliche Gründe haben.<br />
76 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Zivilprozessrecht Fach 13, Seite 2173<br />
Grundsätze zur Bestimmung des zuständigen Gerichts<br />
a) Klagen gegen Hauptschuldner und Bürgen<br />
Was Klagen gegen Hauptschuldner und Bürgen anbelangt, so kann an sich kein Zweifel daran bestehen,<br />
dass sie nicht gem. §§ 59, 60 ZPO als Streitgenossen verklagt werden können, auch wenn der<br />
Klageanspruch „gleichartig“ –weil auf Zahlung von Geld gerichtet – ist. Streitgenossenschaft ist schon<br />
wegen der Einrede der Vorausklage des § 771 BGB nicht gegeben. Wird auf sie im Bürgschaftsvertrag<br />
verzichtet, wird dennoch Gerichtsbestimmung unter dem Gesichtspunkt der „Prozessökonomie“<br />
zugelassen (OLG Brandenburg, Beschl. v. 21.2.2007 – 1 AR 4/07). Sie rechtfertigt es allerdings nicht,<br />
sich über eine Gerichtsstandsvereinbarung hinweg zu setzen. Der Bürge, der mit dem Gläubiger eine<br />
solche Vereinbarung getroffen hat, kann nicht vor das Gericht des Hauptschuldners gezogen werden.<br />
Hinweis:<br />
Allerdings gilt insoweit eine Ausnahme: Ist auch mit dem Hauptschuldner ein Gerichtsstand vereinbart<br />
worden, dann kann dieser trotz abweichender Vereinbarung mit dem Bürgen als gemeinschaftlicher<br />
Gerichtsstand bestimmt werden (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.3.2006 – I-5 Sa 5/06).<br />
Beispiel:<br />
Auftraggeber und Bürge haben einen gemeinschaftlichen Gerichtsstand im Bezirk des Landgerichts A.<br />
Mit dem Auftraggeber, dessen Sitz sich im Bezirk des Landgerichts W befindet, ist § 18 Abs. 1 VOB/B<br />
vereinbart. Das Landgericht W wird bestimmt (OLG Frankfurt, Beschl. v. 10.1.2012 – 11 AR 140/11).<br />
Dem materiell-rechtlichen Vorrang der Haftung des Hauptschuldners entspricht verfahrensrechtlich der<br />
Vorrang seines Gerichtsstands. Er ist grundsätzlich gerechtfertigt, wenn der Schwerpunkt des<br />
beabsichtigten Rechtsstreits voraussichtlich die Hauptschuld sein wird. Das ist i.d.R. zu erwarten,<br />
wenn die Bürgschaft übernommen wurde, um Beschränkungen der Haftung des Hauptschuldners für<br />
seine Verbindlichkeit letztlich nicht greifen zu lassen. „Klassische“ Fälle sind Bürgschaften von<br />
Gesellschaftern für die Erfüllung von Verbindlichkeiten einer GmbH, an der sie beteiligt sind, und zwar<br />
auch bei Gesellschaften in Gründung (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.8.2005 – I-5 Sa 70/05) und<br />
Umwandlung einer Einzelfirma in eine GmbH (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.3.2004 – I-5 Sa 10/04). Die<br />
Vermutung gilt ferner bei bürgenden Geschäftsführern einer GmbH (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.3.2004<br />
– I-5 Sa 1/04, 10/04; v. 9.7.2004 – I-5 Sa 51/04), aber nicht, wenn sie aus der Gesellschaft ausgeschieden<br />
sind (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.3.2004 – I-5 Sa 2/04, im Anschluss an BayObGZ 1999, 75). In allen<br />
diesen Fällen wird stets der (allgemeine oder prorogierte) Gerichtsstand des Hauptschuldners auch auf<br />
den Bürgen erstreckt. Anders, wenn im Prozess gegen den Bürgen voraussichtlich die Wirksamkeit oder<br />
der Umfang seines Bürgschaftsversprechens im Vordergrund steht. Dann ist regelmäßig von der<br />
Bestimmung eines gemeinschaftlichen Gerichts abzusehen, weil dann nicht davon ausgegangen werden<br />
kann, dass ein (gemeinschaftliches) Verfahren zu „Synergieeffekten“ führt.<br />
b) Mehrere Bürgen<br />
Die Auswahl zwischen mehreren Bürgen sollte sich daran orientieren, wer mit dem Hauptschuldner<br />
bzw. seinem Sitz räumlich näher verbunden ist (so auch OLG Hamm, Beschl. 23.9.2014 – I-32 SA 59/14,<br />
weil die Beklagten nicht über § 29 Abs. 1 ZPO einen gemeinsamen Gerichtsstand hätten). Bei einer<br />
Konzernbürgschaft ist maßgeblich der Sitz der Konzerntochter (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.10.2005 –<br />
I-5 Sa 101/05).<br />
c) Rückgriff<br />
Bei einem Rückgriff des in Anspruch genommenen Bürgen gegen ein geschiedenes Ehepaar als<br />
Schuldner kann die Reihenfolge der Benennung in der Klageschrift den Ausschlag geben (OLG<br />
Düsseldorf, Beschl. v. 19.4.2002 – 19 Sa 102/01).<br />
III. Anknüpfung an unerlaubter Handlung<br />
Auch Art. 5 VO (EG) Nr. 44/2001 (EuGVVO) differenziert danach, ob den Gegenstand des Verfahrens<br />
Ansprüche aus einem Vertrag (Nr. 1) oder aus unerlaubter Handlung bzw. einer dieser gleichgestellten<br />
Handlung (Nr. 3) bilden. Diese Differenzierung kann im Verfahren der Gerichtsbestimmung nicht dergestalt<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 77
Fach 13, Seite 2174<br />
Grundsätze zur Bestimmung des zuständigen Gerichts<br />
Zivilprozessrecht<br />
übernommen werden, dass danach unterschieden wird, ob Erfüllung oder Schadensersatz verlangt wird.<br />
Denn auch die Verletzung vertraglicher Pflichten kann Schadensersatzansprüche auslösen, und zwar<br />
unbeschadet des Umstands, dass der Schaden je nach Haftungsgrund anders zu ermitteln sein kann.<br />
1. Kapitalanlage<br />
Das zeigt sich insbesondere in der Neufassung des § 32b ZPO. (Angeblich geschädigten) Kapitalanlegern<br />
geht es vornehmlich darum, aus dem Kreis nach ihrer Auffassung Haftenden ein Urteil gegen<br />
möglichst viele zu erhalten, gegen die voraussichtlich erfolgreich vollstreckt werden kann. Diesem<br />
Interesse hat der Gesetzgeber dadurch Rechnung getragen, dass in der seit dem 1.11.2012 geltenden<br />
Fassung des § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO an die Stelle eines Erfüllungsanspruchs aus Vertrag ein<br />
Schadensersatzanspruch gegen alle diejenigen getreten ist, die eine falsche oder irreführende<br />
öffentliche Kapitalmarktinformation verwendet haben oder die es unterlassen haben, darüber, dass<br />
eine öffentliche Kapitalmarktinformation falsch oder irreführend „ist“, wie geboten aufzuklären. Laut<br />
OLG Hamm (Beschl. v. 15.7.2013 – I-32 SA 47/13) soll es nicht willkürlich sein, wenn das verweisende<br />
Gericht die zum Zeitpunkt der Entscheidung seit fünf Monaten bestehende Gesetzesänderung nicht<br />
beachtet, sondern altes Recht angewandt hat.<br />
a) Prospektverantwortliche<br />
Die nunmehrige schadensersatzrechtliche Anknüpfung sowohl in § 36 Abs. 1 Nr. 1 ZPO als auch in Nr. 2<br />
bereitet bei der Anwendung von § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO einige Schwierigkeiten, wenn man die<br />
„Betroffenen“ lediglich schlagwortartig mit ihrer Funktion bezeichnet, zumal es viele Formen einer<br />
Kapitalanlage gibt.<br />
Hinweis:<br />
Der BGH (Beschl. v. 30.7.2013 – X ARZ 320/13) befasst sich mit dem „Emittenten“ (eines Wertpapiers) und<br />
dem „Anbieter“ des § 32b Abs. 1 ZPO a.F., allerdings nur zur Begründung dafür, dass die Antragsgegnerin zu<br />
2) diese Funktionen nicht wahrgenommen hatte.<br />
Wenn und soweit sich „Vertreiber“ einer Anlage eines Prospektes „bedient“ haben, war es schon vor der<br />
gesetzlichen Neuregelung allgemeine Auffassung, dass es i.d.R. gerechtfertigt war, ihnen durch<br />
Gerichtsbestimmung ihren allgemeinen Gerichtsstand zu nehmen und sie dem allgemeinen Gerichtsstand<br />
des Emittenten oder Anbieters zu unterwerfen (vgl. BGH, Beschl. v. 30.1.2007 – X ARZ 381/06;<br />
OLG Frankfurt, Beschl. v. 10.9.2007 – 21 AR 134/06). Dabei musste man sich allerdings darüber<br />
hinwegsetzen, dass § 32b ZPO a.F. i.S.d. § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO einen gemeinschaftlichen (ausschließlichen)<br />
Gerichtsstand begründete, allerdings alternativ (entweder den des Emittenten oder den des Anbieters;<br />
die „Zielgesellschaft“ betraf und betrifft weiterhin nur Streitigkeiten aus dem Wertpapiererwerbs- und<br />
Übernahmegesetz, OLG Frankfurt, Beschl. v. 13.11.2013 – 11 SV 100/13). Das Kammergericht Berlin (Beschl.<br />
v. 9.5.2016 – 2 AR 18/16) gibt dem Kläger wegen des „oder“ ein Wahlrecht bis zur Klagezustellung. Das<br />
kann – und sollte – man weiterhin tun, zumal es sachgerechter ist, statt auf Begriffe auf den Inhalt der<br />
Kapitalmarktinformation und auf ihre Ursächlichkeit für den Schaden abzustellen. So ist der<br />
Gerichtsstand des § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO in der seit dem 1.12.2012 geltenden Fassung nicht begründet,<br />
wenn die Klage gegen einen Anlageberater oder Anlagevermittler darauf gestützt wird, er habe dem<br />
Anleger die in einer öffentlichen Kapitalmarktinformation aufgeführten Risiken der Anlage verschwiegen<br />
(BGH, Beschl. v. 30.7.2013 – X ARZ 320/13).<br />
Praxishinweis:<br />
Trägt der Kläger vor, dass ein Berater oder Vermittler eine in einem Prospekt veröffentlichte Kapitalmarktinformation<br />
verwendet hat, ist näheres Vorbringen zu der Frage, ob diese Information unmittelbar oder<br />
mittelbar auf den Prospekt zurückgeht, jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn keine anderen Quellen<br />
ersichtlich sind, denen sie der Berater oder Vermittler unabhängig vom Prospektinhalt hätte entnehmen<br />
können (BGH, Beschl. v. 8.12.2015 – X ARZ 573/15).<br />
78 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Zivilprozessrecht Fach 13, Seite 2175<br />
Grundsätze zur Bestimmung des zuständigen Gerichts<br />
Kann der Berater – häufig die Bank, die die Anlage finanziert, bzw. ihre Mitarbeiter – als Verwender i.S.d.<br />
§ 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO angesehen werden, dann schafft die auch die Nr. 1 erfassende Bedingung „wenn<br />
(…) die Klage zumindest auch gegen den Emittenten oder den Anbieter gerichtet wird“, neue Probleme. Das OLG<br />
Frankfurt (Beschl. v. 28.2.2014 – 11 SV 7/14) beseitigt sie durch einschränkende Auslegung dergestalt, dass<br />
diese Voraussetzung nur für den Fall gelten soll, dass sich die Klage ausschließlich gegen Anlageberater<br />
oder Anlagevermittler wegen der in § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO aufgeführten Handlungen richtet. Wird<br />
dagegen die Klage zumindest gegen einen Beklagten auf eine der von § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO erfassten<br />
Handlungen gestützt, greift die Zuständigkeitsregel des § 32b ZPO insgesamt nicht ein, wenn Emittent<br />
oder Anbieter nicht mitverklagt werden (OLG Frankfurt, Beschl. v. 16.6.2014 – 11 SV 46/14; OLG<br />
München, Beschl. v. 27.6.2013 – 34 AR 205/13; OLG Hamm, Beschl. v. 8.4.2013 – I-32 SA 6/13). Sind<br />
Emittent oder Anbieter insolvent geworden und erloschen, so ist nach OLG Brandenburg (Beschl.<br />
v. 25.4.2013 – 1 (Z) Sa 10/13) ihr letzter Sitz maßgeblich. Dann räumt das OLG Frankfurt (Beschl. v. 5.3.2013<br />
– 11 SV 115/13) dem Gerichtsstand der beratenden Bank aber den Vorrang ein.<br />
b) Mehrere Kapitalanlagen<br />
Unter systematischen Gesichtspunkten empfiehlt es sich jedenfalls, bei der Anwendung von § 32b Abs. 1<br />
ZPO nicht (mehr) mit Schlagworten wie „Prospektverantwortlichkeit im engeren/weiteren Sinne“ zu<br />
arbeiten, sondern (zunächst) nur die „Informationsverantwortlichen“ (resp. „Prospektverantwortlichen“)<br />
von den sonstigen „Betroffenen“ auseinander zu halten. Indessen dürfen nicht alle, die mit diesen<br />
Begriffen gekennzeichnet werden können, über § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO einem Gerichtsstand unterworfen<br />
werden.<br />
Beispiel:<br />
Die Klägerin verlangt Schadensersatz wegen fehlerhafter Beratung und Prospektfehlern von dem Berater/<br />
Vermittler und den Gründungsgesellschaftern dreier verschiedener Fonds, an denen sie sich beteiligt hat. Das<br />
OLG Hamm (Beschl. v. 23.5.2016 – I-32 SA 21/16) bejaht die Voraussetzungen des § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO<br />
hinsichtlich aller Gründungsgesellschafter, weil es entgegen dem Wortlaut der Vorschrift nicht erforderlich<br />
sei, dass die Klage gegen einen Emittenten oder Anbieter gerichtet sei. Der Berater falle unter § 32b Abs. 1<br />
Nr. 2 ZPO, weil die Klägerin vorgetragen habe, die Ausführungen im Rahmen der Beratung hätten „natürlich“<br />
auf dem Prospekt beruht. Indessen würden die Gründungsgesellschafter nicht als Streitgenossen gem. §§ 59,<br />
60 ZPO in Anspruch genommen, weil die Klage gegen sie auf gänzlich unterschiedliche Prospekte mit<br />
unterschiedlichen Angaben für unterschiedliche Vermögensanlagen gestützt sei. Der Antrag auf Gerichtsbestimmung<br />
sei deshalb zurückzuweisen.<br />
c) Sonstige Betroffene<br />
Sind mehrere Beklagte nicht in § 32b Abs. 1 ZPO einzubeziehen, kann neben dem allgemeinen<br />
Gerichtsstand ein besonderer Gerichtsstand in Betracht kommen. Geht etwa das Verhältnis zwischen<br />
Anlageberater und Anleger über einen Rat oder eine Empfehlung i.S.d. § 675 Abs. 2 BGB hinaus –<br />
ist also ein Beratungsvertrag anzunehmen –, gilt § 29 ZPO Abs. 1 ZPO (LG Berlin, Beschl. v. 4.4.2016 –<br />
2 O 317/15). Ferner kann der Gerichtsstand des § 21 Abs. 1 ZPO eröffnet sein, wenn die Beratung in der<br />
Filiale einer überregional tätigen Bank erfolgt ist. Dann muss die Bank nicht an ihrem Sitz verklagt<br />
werden. Klage kann auch bei dem Gericht erhoben werden, in dessen Bezirk sich diese Filiale<br />
(Niederlassung) befindet (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.8.2010 – I-5 Sa 54/10 – in die Gerichtsbestimmung<br />
wurde neben dem Berater auch die die Anlage finanzierende Bank einbezogen). Anders<br />
natürlich, wenn die konkrete Anlageentscheidung nicht auf einer Besprechung in der Bankfiliale<br />
beruht, sondern auf einer im Wege der Telekommunikation erteilten Empfehlung. Allerdings kann die<br />
Ausschließlichkeit des § 32b ZPO zum Tragen kommen, nämlich dann, wenn sich die Empfehlung<br />
darauf beschränkte, auf den Prospekt zu verweisen. Dann macht es auch Sinn, die Beurteilung seines<br />
Inhalts einem Musterverfahren am Gericht (Konzentrationsgericht) des Sitzes des Anbieters zu<br />
überlassen. Bei Haustürgeschäften scheitert eine Anwendung von § 32b Abs. 1 ZPO meistens daran,<br />
das der Prospekt erst nach Vertragsschluss übersandt worden ist. Es bleibt § 29c ZPO (vgl. OLG<br />
Naumburg, Beschl. v. 31.1.2014 – 1 AR 30/13).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 79
Fach 13, Seite 2176<br />
Grundsätze zur Bestimmung des zuständigen Gerichts<br />
Zivilprozessrecht<br />
d) Einzelne Kombinationen<br />
• Klage auf Schadensersatz gegen den Steuerberater, der zur Anlage in einen Immobilienfonds geraten<br />
hatte, und die Rechtsnachfolgerin des den Fonds finanzierenden Bankinstituts. Die Drittfinanzierung<br />
war später durch eine Eigenfinanzierung der Fondsgesellschafter ersetzt worden. Als zuständig wird<br />
das Gericht des allgemeinen Gerichtsstandes des Steuerberaters bestimmt (OLG Düsseldorf, Beschl.<br />
v. 30.10.2006 – I-5 Sa 115/06). Arbeiten zu einer Kapitalanlage ratende Gesellschaft und Steuerberater<br />
– angeblich – zusammen (Provisionsteilungsabrede), dann gibt allerdings OLG Düsseldorf (Beschl.<br />
v. 18.1.2011 – I-5 Sa 93/10) dem allgemeinen Gerichtsstand der Gesellschaft den Vorzug.<br />
• Klage auf Schadensersatz gegen eine in Liquidation befindliche Aktiengesellschaft und denjenigen,<br />
der zum Erwerb der Aktien geraten hat. Als zuständig wird das Gericht bestimmt, in dessen Bezirk die<br />
Beratung erfolgt ist (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.3.2006 – I-5 Sa 4/06).<br />
• Klage auf Schadensersatz gegen das Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft, deren Kapitalerhöhung<br />
nicht im Handelsregister eingetragen worden war, und gegen den Vertreiber der Aktien<br />
am erhöhten Kapital. Bestimmt wird das Gericht des Vorstandsmitglieds, da es primär gem. § 188<br />
Abs. 1 AktG verpflichtet ist (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24.7.2007 – I-5 Sa 36/07 u. I-5 Sa 37/07).<br />
• Klage auf Schadensersatz gegen die Beratungsgesellschaft, die Beteiligungsgesellschaft und die<br />
Treuhänder. Bestimmt wird das Gericht der Beratungsgesellschaft, da nach dem Vortrag des Klägers<br />
der Emissionsprospekt vor Zeichnung nicht vorgelegt worden war (OLG Düsseldorf, Beschl.<br />
v. 26.8.2008 – I-5 Sa 50/08).<br />
• Klage auf Schadensersatz gegen die Vertreiberin eines Fonds, ihren Repräsentanten und gegen<br />
einen Vermögensberater. Als zuständig wird das Gericht bestimmt, in dessen Bezirk die „Grundlagen<br />
für das Anlagegeschäft geschaffen“ wurden (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.2.2002 – 19 Sa 116/01).<br />
• Klage auf Schadensersatz ist erhoben beim Landgericht D gegen einen Broker und zwei Vermittler;<br />
sie soll auf die kontoführende Bank mit Sitz in B ausgedehnt werden. Es bleibt bei der durch<br />
den allgemeinen Gerichtsstand des Brokers vorgegebenen Zuständigkeit des Landgerichts D (OLG<br />
Düsseldorf, Beschl. v. 17.10.2003 – I-19 Sa 66/03).<br />
• Klage auf Freistellung von Verbindlichkeiten ist vor dem Landgericht D erhoben gegen eine<br />
Aktiengesellschaft als Kapitalsammelstelle (stille Beteiligung gegen unverbindliche Zusage eines<br />
bestimmten Auseinandersetzungsguthabens), gegen eine Finanzberatungs-GmbH und ihren<br />
Geschäftsführer; nur letztere haben den gleichen allgemeinen Gerichtsstand. Keiner der Beklagten<br />
hat den allgemeinen Gerichtsstand beim Landgericht D. Die Beklagten zu 1) und 3) rügen die örtliche<br />
Zuständigkeit des Landgerichts D. Als Gericht wird das Landgericht G, der allgemeine Gerichtsstand<br />
der Beklagten zu 1), bestimmt, weil dort zahlreiche gleichartige Verfahren anhängig seien (OLG<br />
Düsseldorf, Beschl. v. 28.11.2002 – 19 Sa 81/02; v. 15.10.2003 – I-19 Sa 70/03).<br />
• Anders, aber nur kurze Zeit später: Gegen dieselbe Aktiengesellschaft und ihren Handelsvertreter,<br />
dessen allgemeiner Gerichtsstand das Landgericht K ist, ist Klage auf Freistellung beim Landgericht D<br />
erhoben. Die Beklagte zu 1) rügt auch in diesem Fall die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts D. Der<br />
Kläger stellt Antrag gem. § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO. Nunmehr wird nicht mehr das Landgericht G als<br />
zuständig bestimmt, sondern das Landgericht K, welches sich bereits eingehend mit der Sache<br />
befasst habe und besonders sachkundig sei (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.12.2002 – 19 Sa 92/02).<br />
• Klage auf Schadensersatz wegen Veruntreuung von Geldern, die als Festgeld in Luxemburg<br />
angelegt werden sollten, gegen den ehemaligen Bezirksleiter einer Bausparkasse und gegen diese.<br />
Gemeinsamer Gerichtsstand am Wohnsitz des Bezirksleiters, weil sich die Bausparkasse dessen<br />
Verhalten nach dem Klägervortrag zurechnen lassen müsse (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.9.2004 –<br />
I-5 Sa 73/04).<br />
• Klage soll erhoben werden gegen den über das Vermögen verfügenden Treuhänder und den<br />
Anlageberater. Gemeinsamer Gerichtsstand am Wohnsitz des Anlageberaters, weil dieser den<br />
Treuhänder vermittelt hatte (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.6.2005 – I-5 Sa 30/05).<br />
• Klage auf Schadensersatz ist erhoben gegen den Verkäufer einer Eigentumswohnung und den<br />
Finanzierer. Bestimmt wird das Gericht des Sitzes des Unternehmens, dessen Mitarbeiter zum Kauf<br />
80 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Zivilprozessrecht Fach 13, Seite 2177<br />
Grundsätze zur Bestimmung des zuständigen Gerichts<br />
geraten haben sollen, auch wenn der Schaden darin liegen soll, dass den Kosten der Finanzierung<br />
keine ausreichende Rendite aus der Eigentumswohnung gegenübersteht (OLG Köln, OLGR 2005,<br />
554; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.5.2005 – I-5 Sa 24/05; v. 10.8.2005 – I-5 Sa 67/05; v. 20.10.2005 –<br />
I-5 Sa 53/05).<br />
• Klage auf Schadensersatz ist erhoben gegen die Vermittlerin einer Eigentumswohnung, ihren<br />
Vertreter und den Treuhänder. Es bleibt bei der Zuständigkeit des bereits angerufenen Landgerichts<br />
für alle (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6.5.2002 – 19 Sa 21/02).<br />
• Klage auf Schadensersatz gegen zwei Kreditinstitute. Bestimmt wird das Gericht des Sitzes des<br />
Instituts, das vorrangig finanzieren sollte (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.9.2005 – I-5 Sa 71/05;<br />
v. 29.9.2005 – I-5 Sa 72/05; v. 30.9.2005 – I-5 Sa 73-76/05 u. 80/05).<br />
2. Verkehrsunfall<br />
Der durch einen Verkehrsunfall Geschädigte verhielte sich geradezu fahrlässig, wenn er im Falle der<br />
Schädigung durch ein Kraftfahrzeug nur dessen Fahrer und nicht auch den Halter bzw. die<br />
Haftpflichtversicherung in Anspruch nehmen würde. Er muss den Schaden aber ein und demselben<br />
tatsächlichen Vorgang zuschreiben.<br />
Beispiel:<br />
Verlangt wird u.a. Schmerzensgeld wegen eines Schleudertraumas, das der Kläger in erster Linie einem<br />
Verkehrsunfall vor drei Jahren zuschreibt. Er hält es aber für möglich, dass das Schleudertrauma sich<br />
zusätzlich nach einem zweiten Verkehrsunfall, der sich ein Jahr später ereignete, im Rahmen des<br />
Gesamtbildes seiner körperlichen Beeinträchtigungen ausgewirkt haben könne, so dass er deshalb beide<br />
Unfallgegner auf Zahlung des gleichen Schmerzensgeldbetrags verklagt. In diesem Fall wurde eine<br />
Gerichtsbestimmung abgelehnt (OLG Celle, Beschl. v. 8.7.2005 – 4 AR 68/05).<br />
Bei Verkehrsunfällen im Ausland ist § 32 ZPO nicht anwendbar, auch wenn ausschließlich Personen mit<br />
Sitz in Deutschland beteiligt sind. Halter, Fahrer und Haftpflichtversicherung können zwar vor dem<br />
Gericht ihres allgemeinen deutschen Gerichtsstandes verklagt werden (vgl. § 40 Abs. 4 EGBGB), i.d.R.<br />
fallen die Gerichtsstände aber auseinander.<br />
Literaturhinweis:<br />
Zur Behandlung des EU-Auslandsunfall in der Praxis des deutschen Kfz-Haftpflichtprozesses vgl. LAFONTAINE<br />
<strong>ZAP</strong> F. 9, S. 909 ff.<br />
a) Beteiligte<br />
Nach Art. 10 S. 1 EuGVVO kann der Haftpflichtversicherer auch vor dem Gericht des Ortes verklagt<br />
werden, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist. Ist bereits eine Klage des Geschädigten gegen<br />
den Versicherten oder den Versicherer vor einem deutschen Gericht anhängig, lässt Art. 11 EuGVVO eine<br />
Ladung des jeweils anderen nach Streitverkündung als Streithelfer vor dieses Gericht zu. Sollen<br />
Versicherter und Versicherer gemeinschaftlich auf Schadensersatz verklagt werden, ist Gerichtsbestimmung<br />
gem. § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nicht nur möglich, sondern empfehlenswert. Der gesetzliche<br />
Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer gleicht jedenfalls den Ansprüchen gegen Halter und<br />
Fahrer gem. §§ 7, 18 StVG. Der Unfall als solcher schafft Gleichartigkeit, was den tatsächlichen Grund<br />
anbelangt.<br />
b) Auswahlkriterien<br />
Das Kriterium der „Zweckmäßigkeit“ hat fast immer zur Folge, dass der allgemeine Gerichtsstand des<br />
gegnerischen Fahrers als gemeinsamer Gerichtsstand bestimmt wird mit der Erwägung, dass nur er zur<br />
Aufklärung des Unfallgeschehens beitragen könne (z.B. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.10.2003 – I-19 Sa<br />
87/03 – Niederlande; v. 14.2.2008 – I-5 Sa 4/08 – Marokko; v. 9.12.2008 – I-5 Sa 88/08 – Irland;<br />
v. 17.2.2009 – I-5 Sa 2/09 – Schweiz; v. 3.9.2009 – I-5 Sa 58/09 – Niederlande; v. 15.1.2010 – I-5 Sa 91/09<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 81
Fach 13, Seite 2178<br />
Grundsätze zur Bestimmung des zuständigen Gerichts<br />
Zivilprozessrecht<br />
– Serbien). Ist der Fahrer nicht aufzufinden, bleibt allerdings nur der allgemeine Gerichtsstand der<br />
Haftpflichtversicherung (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.2.2005 – I-5 Sa 110/04 – vgl. § 115 Abs. 1 Nr. 3<br />
VVG). Bisweilen kann aber auch darauf abgestellt werden, wo benannte Zeugen wohnen (OLG<br />
Düsseldorf, Beschl. v. 27.4.2006 – I-5 Sa 37/06; v. 11.11.2008 – I-5 Sa 78/08). Das gilt auch bei<br />
Bestimmungen eines gemeinschaftlichen Gerichts nach Klageerhebung.<br />
c) Einzelne Kombinationen<br />
• Halter und Haftpflichtversicherung mit verschiedenem allgemeinen Gerichtsstand werden nach<br />
einem Verkehrsunfall in Polen vor dem Landgericht M, dem Wohnsitzgericht des Halters, verklagt.<br />
Das Wohnsitzgericht des Halters wird als gemeinschaftliches Gericht bestimmt, weil in seinem Bezirk<br />
alle Zeugen wohnen (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.4.2006 – I-5 Sa 37/06; v. 11.11.2008 – I-5 Sa 78/08).<br />
• Nach einem Verkehrsunfall in den Niederlanden werden Fahrerin und Versicherung vor dem<br />
Amtsgericht V, bei dem keiner von beiden seinen allgemeinen Gerichtsstand hat, verklagt. Das<br />
Amtsgericht V weist auf seine örtliche Unzuständigkeit und, nachdem der Kläger Verweisung an das<br />
Amtsgericht N, in dessen Bezirk der Fahrer seinen allgemeinen Gerichtsstand hat, beantragt hat, auf<br />
dessen örtliche Unzuständigkeit hinsichtlich der Versicherung hin. Auf das daraufhin gem. § 36 Abs. 1<br />
Nr. 3 ZPO gestellte Gesuch bestimmt das höhere Gericht das Amtsgericht N als zuständig, weil nur<br />
die Fahrerin zur Aufklärung des Geschehens beitragen könne (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.10.2003 –<br />
I-19 Sa 87/03).<br />
• Fahrer mit unbekanntem Aufenthalt und Haftpflichtversicherung werden nach einem Verkehrsunfall<br />
in Rumänien vor dem Landgericht D, in dessen Bezirk die Versicherung ihren allgemeinen<br />
Gerichtsstand hat, auf Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 25.000 € verklagt. Das Landgericht D<br />
wird als zuständig bestimmt, weil der Prozess gegen die Versicherung auch ohne Beteiligung des<br />
Fahrers betrieben werden kann (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.2.2005 – I-19 Sa 110/04).<br />
• Ebenfalls nach einem Verkehrsunfall in den Niederlanden werden Halter, Beifahrer und Haftpflichtversicherung<br />
verklagt. Beifahrer und Haftpflichtversicherung rügen die örtliche Zuständigkeit des<br />
Amtsgerichts N, da sie nicht ihren Wohnsitz bzw. Sitz in dessen Bezirk haben, sondern lediglich der<br />
Halter. Es nützt ihnen nichts, weil das Amtsgericht N, da bereits mit der Sache befasst, als das<br />
zuständige Gericht bestimmt wird (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.11.2002 – 19 Sa 88/02).<br />
3. Staatshaftung<br />
Insbesondere bei Unfällen kommt neben der Haftung von Privatpersonen auch eine Haftung von<br />
Hoheitsträgern in Betracht, etwa dann, wenn eine Verkehrssicherungspflicht oder Aufsichtspflicht<br />
Amtspflicht ist oder wenn eine Amtsperson „hoheitlich“ am Straßenverkehr teilnimmt (näher hierzu<br />
s. CUYPERS <strong>ZAP</strong> F. 13, S. 1724 ff.). Bestehen unterschiedliche allgemeine Gerichtsstände, ist das Verfahren<br />
des § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO grundsätzlich eröffnet. Wegen § 839 Abs. 1 S. 2 BGB wird der Hoheitsträger<br />
auch bei der Auswahl des gemeinschaftlichen Gerichts privilegiert. Hinzu kommt, dass er einen<br />
speziellen allgemeinen Gerichtsstand hat, §§ 18, 19 ZPO.<br />
Praxishinweis:<br />
Angesichts dessen ist es empfehlenswert, in diesem Fall von Gesuchen um Bestimmung eines<br />
gemeinschaftlichen Gerichts abzusehen und dem Hoheitsträger lediglich den Streit zu verkünden.<br />
Anders natürlich bei mehreren Hoheitsträgern. Hier kann Gerichtsbestimmung gem. § 36 Abs. 1 Nr. 3<br />
ZPO erfolgen, da darauf abgestellt werden kann, wem in erster Linie eine Amtspflichtverletzung<br />
vorgeworfen wird.<br />
Beispiel:<br />
Vor dem Landgericht D werden wegen eines angeblichen Anspruchs auf Aufopferung Bund und Land<br />
verklagt. Der Rechtsstreit wird an das für den Bund zuständige Landgericht verwiesen, weil sich der<br />
Klageanspruch, auch wenn die Haftungsverteilung nach dem Klagevortrag unklar sei, in erster Linie gegen<br />
den Bund richte (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 8.5.2003 – I-19 Sa 11/03).<br />
82 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Steuerrecht Fach 20, Seite 629<br />
Erbschaft- und Schenkungsteuer – Begünstigung von Betriebsvermögen<br />
Erbschaftsteuer<br />
Die neuen Regelungen zur Begünstigung von Betriebsvermögen bei<br />
der Erbschaft- und Schenkungsteuer<br />
Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht Dr. PETER HAAS, Bochum<br />
Inhalt<br />
I. Vorbemerkung<br />
II. Begriff des Betriebsvermögens<br />
III. Bewertung des Betriebsvermögens<br />
IV. Ermittlung des begünstigten Betriebsvermögens<br />
1. Begünstigtes Vermögen<br />
2. Neue Sonderregelungen<br />
3. Altersversorgungsverpflichtungen<br />
4. Verwaltungsvermögen<br />
5. Berechnung des begünstigten Vermögens<br />
6. Investitionsklausel bei Erwerben von<br />
Todes wegen<br />
V. Steuerbefreiung für begünstigtes Vermögen<br />
bis 26 Mio. Euro<br />
1. Wertgrenze 26 Mio. Euro<br />
2. Familiengesellschaften – Abschlag bis zu<br />
30 % auf das begünstigte Vermögen<br />
3. Regelverschonung 85 %<br />
4. Optionsverschonung mit 100 %<br />
5. Übersicht<br />
VI. Großvermögen über 26 Mio. Euro<br />
1. Verschonungsabschlag<br />
2. Verschonungsbedarfsprüfung<br />
VII. Steuerstundung<br />
VIII. Anwendungsregelung<br />
I. Vorbemerkung<br />
Die Neuregelungen des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes wurden infolge des Urteils des<br />
Bundesverfassungsgerichts vom 17.12.2014 notwendig. Es erteilte dem Gesetzgeber mit Frist zum 30.6.2016<br />
den Auftrag, die Abgrenzung des steuerlich begünstigten zum nicht begünstigten Betriebsvermögen zu<br />
treffen sowie die sog. Lohnsummenregelung zu überarbeiten und schließlich die Privilegierung von<br />
Betriebsvermögen insoweit einzuschränken, als dass Großunternehmen ohne Bedürfnisregelung nicht<br />
ohne Weiteres von der Erbschaft- und Schenkungsteuer entlastet werden. Nach einigem politischen<br />
Ränkespiel konnte der Vermittlungsausschuss seinen Kompromissvorschlag – rund drei Monate nach Ende<br />
der Frist – durchsetzen. Das Gesetz zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes<br />
an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 4.11.2016 ist am 9.11.2016 im Bundesgesetzblatt<br />
verkündet worden (BGBl I, S. 2464) und rückwirkend zum 1.7.2016 in Kraft getreten.<br />
Die Neuregelungen des Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes betreffen nur die Regelungen zu<br />
Betriebsvermögensbegünstigungen – alles andere bleibt im Grunde unverändert. Die Systematik der<br />
gesetzlichen Regelungen zu Betriebsvermögensbegünstigungen wird ebenfalls größtenteils beibehalten.<br />
Geändert wurden Regelungen zur Abgrenzung des begünstigungsfähigen Vermögens von nicht<br />
begünstigten Vermögens, Steuerbefreiungen für begünstigtes Vermögen sowie Verschonungsregelungen<br />
bei Großvermögen über 26 Mio. Euro, eine Stundungsregelung, die quasi keine ist, und<br />
schließlich gab es noch Veränderungen im vereinfachten Ertragswertverfahren.<br />
Die Frage der Begünstigung von Betriebsvermögen ist eine für den Gestaltungsberater enorm wichtige<br />
Materie mit hohem praktischem Beratungswert. Steuerliche Unternehmensnachfolge ist ein wichtiger<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 83
Fach 20, Seite 630<br />
Steuerrecht<br />
Erbschaft- und Schenkungsteuer – Begünstigung von Betriebsvermögen<br />
Aspekt bei der Erarbeitung von Erbfolgegestaltungen und gesellschaftsrechtlichen Regelungen, die<br />
durch das ErbStG geprägt werden. Dieser Aufsatz greift die nun gegenwärtig geltende Rechtslage auf<br />
und bietet einen Überblick über die Regelungen.<br />
II. Begriff des Betriebsvermögens<br />
In der Struktur der Erbschaft- und Schenkungsteuer wird zunächst an die beiden Tatbestandsgruppen der<br />
Erwerbe von Todes wegen (§ 3 ErbStG) oder der Schenkungen unter Lebenden (§ 7 ErbStG) angeknüpft.<br />
§ 3 ErbStG bezieht sich unmittelbar auf die zivilrechtliche Rechtslage, § 7 ErbStG ist für Schenkungen<br />
weiter gefasst als die Schenkung nach § 516 BGB; es gilt hier eine wirtschaftliche Betrachtungsweise nach<br />
dem Prinzip der Bereicherung. Beide Tatbestandsgruppen schließen sich in der Systematik des ErbStG<br />
dann für die Frage der Bewertung, also der Bemessungsgrundlage der Bereicherung, der sachlichen<br />
Freibeträge, der persönlichen Freibeträge und der Progression (dem Steuertarif) zusammen.<br />
Bei der Besteuerung von Betriebsvermögen, sei es durch Erbanfall oder durch Schenkung, wird daher<br />
zunächst der Betriebsvermögensbegriff untersucht. Gemäß § 95 Abs. 1 S. 1 BewG sind dem Betriebsvermögen<br />
alle Teile eines Gewerbebetriebs i.S.d. § 15 Abs. 1, 2 EStG zuzurechnen. Daher wird an die<br />
ertragsteuerliche Gewinnermittlung angeknüpft. Es gilt der Grundsatz der Bestandsidentität (mit<br />
geringen Ausnahmen, s. § 103 Abs. 3 BewG, wonach Rücklagen nur insoweit abzugsfähig sind, als dieser<br />
Abzug ausdrücklich für die Erbschaftsteuer gesetzlich zugelassen wird).<br />
III. Bewertung des Betriebsvermögens<br />
Als steuerpflichtiger Erwerb gilt die Bereicherung des Erwerbers, soweit diese nicht steuerfrei ist, § 10 Abs. 1<br />
S. 1 ErbStG. Die Bewertung ist auf den Stichtag des Todes des Erblassers oder bei Schenkungen auf den Tag<br />
des Eintritts der Bereicherung abzustellen (Stichtagsprinzip des § 11 ErbStG unter Verweis auf § 9 ErbStG).<br />
Allgemein, und damit auch für das Betriebsvermögen, gilt der Grundsatz der realitätsgerechten Wertrelation.<br />
Das BVerfG hatte in einer früheren Entscheidung (Beschl. v. 7.11.2006, BVerfGE 117, 1 und zuvor auch<br />
schon in BVerfGE 93, 165, 172 f.) bereits vom Gesetzgeber eingefordert, für alle Vermögenswerte eine<br />
einheitliche Bemessungsgrundlage heranzuziehen, da auch für alle Tatbestände ein einheitlicher Steuersatz<br />
gelte. Hiernach gilt für alle Bewertungen der gleiche Maßstab des gemeinen Werts, also des aktuellen<br />
Veräußerungspreises. Dieser Wert liegt allerdings nur bei wenigen Wirtschaftsgütern vor. Werden dann<br />
pauschale Wertansätze gebildet oder typisiert, sieht das BVerfG (BVerfGE 117, 1, 36) generelle Bedenken. Daher<br />
ist generell der individuelle Wert festzustellen. Dies führt immer wieder zu Bewertungsschwierigkeiten in<br />
der Praxis der Vielzahl der Veranlagungsfälle und der Verschiedenheit der Wirtschaftsgüter. Gerade bei der<br />
Bewertung von Betriebsvermögen zeigt sich die Schwierigkeit darin, dass es aufgrund komplexer rechtlicher<br />
Verpflichtungen nicht einfach „versilberbar“ und darüber hinaus auch eine Sozialverpflichtung einzupreisen<br />
ist. Bei börsennotierten Kapitalgesellschaften ist die Bewertung einfach: § 11 Abs. 1 BewG knüpft an den<br />
tagesaktuellen Börsenwert an. Bei nicht börsennotierten Kapitalgesellschaften regelt § 11 Abs. 2 BewG die<br />
Anwendung der allgemeinen Betriebsvermögensgrundsätze in §§ 109, 95, 97 BewG, mithin eine unabhängig<br />
von der gesellschaftsrechtlichen Struktur des Betriebsvermögens stichtagsbezogene umfassende Gesamtbewertung<br />
unter Einbeziehung auch aller stillen Reserven, die vorrangig in einem Vergleichswertverfahren an<br />
Verkäufe unter fremden Dritten anknüpft, die weniger als ein Jahr zurückliegen, § 11 Abs. 2 S. 2 BewG. Diese<br />
Werte liegen aber nur selten vor. Daher ist eine Bewertungsmethode des gesamten Betriebsvermögens<br />
(auch bei nur anteiliger Übertragung) in Ansatz zu bringen, die unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten<br />
des Unternehmens oder einer anderen anerkannten Methode einen zeitnahen Verkaufswert widerspiegelt.<br />
Dabei ist die Methode anzuwenden, die ein Erwerber der Bemessung des Kaufpreises für das Unternehmen<br />
zugrunde legen würde, § 11 Abs. 2 S. 2 BewG. Mindestwert ist hierbei allerdings die Summe der Verkehrswerte<br />
der Einzelwirtschaftsgüter abzüglich der Schulden, § 11 Abs. 2 S. 3 BewG.<br />
Wer beruflich in der Praxis der Unternehmensbewertung tätig ist, kennt die zwei gängigen<br />
Bewertungsverfahren, Ertragswertmethode (so auch Standard IDW S 1) und discounted cash flow.<br />
Beiden Methoden liegt zugrunde, die bisherigen Renditen als Vergangenheitsbetrachtung zur Kenntnis<br />
zu nehmen und hieraus künftige Ergebnisse fortzuschreiben und mit den Renditeforderungen der<br />
Eigenkapitalgeber auf den Bewertungszeitpunkt abzuzinsen, zu diskontieren. Da hierbei die künftigen<br />
Erträge ja nicht gemessen, sondern geschätzt werden, zeigt sich der große Spielraum der denkbaren<br />
84 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Steuerrecht Fach 20, Seite 631<br />
Erbschaft- und Schenkungsteuer – Begünstigung von Betriebsvermögen<br />
Planungsszenarien und der darauf errechneten Prognose. Der hieraus errechnete Jahresprognosewert<br />
ist dann zu kapitalisieren mit der Bezugsgröße eines Basiszinssatzes (also dem marktüblichen Zinssatz<br />
für risikofreie Kapitalanlagen) unter Einbeziehung eines Risikozu- oder -abschlags, der die tatsächliche<br />
individuelle Marktlage des Unternehmens widerspiegelt und erforderliche Investitionen erfasst, alles<br />
verbunden mit sehr subjektiven Einschätzungen. Dieser Wert ist für einen Steuerpflichtigen nicht selbst<br />
ermittelbar und bedarf stets eines in jeder Hinsicht aufwändigen Bewertungsgutachtens. Berater in<br />
diesem Bereich haben Freude daran (zu den Bewertungsverfahren s. auch HEURUNG ZErb 2016, 396 ff.).<br />
§§ 199 ff. BewG sehen wahlweise und auf Antrag des Steuerpflichtigen auch eine Erleichterung in der<br />
Form des vereinfachten Ertragswertverfahrens vor, soweit der Unternehmenswert auch realistisch<br />
allein auf die Erträge gestützt werden kann und nicht offensichtlich unzutreffende Ergebnisse erzielt<br />
werden. Hier wird der Durchschnitt der Erträge der letzten drei Jahre vor dem Übertragungsstichtag<br />
(also die letzten drei Erträge durch drei geteilt) mit einem Kapitalisierungsfakor nach § 203 BewG<br />
vervielfältigt. Hier ist die erste Neuregelung zu erwähnen, die nach § 203 Abs. 1 BewG einen<br />
Kapitalisierungsfaktor von 13,75 vorgibt, verbunden mit einer rückwirkenden Anwendung der Regelungen<br />
auf Bewertungen mit einem Stichtag nach dem 31.12.2015, § 205 Abs. 11 BewG<br />
Wer also im Januar 2016 nach dem bisherigen vereinfachten Ertragswertverfahren übertragen und<br />
bewertet hat, ist hier von einer verfassungsrechtlich sehr bedenklichen (vgl. HÖRETH/STELZER DStZ 2016,<br />
901, 909) Rückwirkung betroffen. Die Literatur (BEZNOSKA/HENTZE DB 2016, 2433, 2435) weist allerdings zu<br />
Recht darauf hin, dass der bisher geltende Kapitalisierungsfaktor in der Summe des Basiszinses zzgl.<br />
eines Zuschlags von 4,5 % wohl zu höheren Werten geführt hat, so dass die Rückwirkung in den meisten<br />
Fällen eher zu einer Erleichterung führt.<br />
Hinweis:<br />
Wir sind hier bei der Frage der Bewertung des Betriebsvermögens. Im Anschluss wird gleich festgestellt, dass<br />
die Befreiungstatbestände, so sie vorliegen und erfüllt bleiben, zu guter Letzt sowieso zu einer Steuerfreistellung<br />
auf 0 führen können. Das muss aber nicht so sein (bei Wegfall der Voraussetzungen zur Steuerbefreiung<br />
oder im Fall der Inanspruchnahme nur der kleinen Begünstigung von 85 %, s.u.), so dass es auf diese<br />
Fragen der Höhe der Bewertung auch mit steuerlicher Auswirkung ankommen könnte.<br />
Ausgehend von diesem Wert des Betriebsvermögens ist nachfolgend zu prüfen, welche Begünstigungsregelungen<br />
für Betriebsvermögensübertragungen nach den geänderten Regelungen des ErbStG gelten.<br />
IV.<br />
Ermittlung des begünstigten Betriebsvermögens<br />
1. Begünstigtes Vermögen<br />
Die bisherige Regelung sah eine Differenzierung von begünstigtem Betriebsvermögen und schädlichem<br />
Verwaltungsvermögen vor, wobei ein Anteil des Verwaltungsvermögens (die Quote lag hier bei 10 % und<br />
bis 50 %, je nach Einzelregelung) trotzdem in das begünstigte Vermögen einbezogen wurde. Das BVerfG<br />
monierte die Mitbegünstigung von an sich schädlichem Verwaltungsvermögen, weil es hierfür keinen<br />
Rechtfertigungsgrund gebe. Diese Struktur wurde daher in den Neuregelungen insofern verändert, dass<br />
zwar nach wie vor von dem Begriff des begünstigungsfähigen Vermögens auszugehen ist (§ 13b Abs. 1<br />
ErbStG), dieses aber nur begünstigt wird, soweit es nicht dem dann schädlichen Verwaltungsvermögen<br />
zugerechnet wird.<br />
Der Begriff des „begünstigungsfähigen Vermögens“ sieht nun nach § 13 Abs. 1 ErbStG keine Neuregelungen<br />
vor. Es umfasst neben land- und forstwirtschaftlichem Vermögen insbesondere inländisches Betriebsvermögen<br />
einschließlich gewerblich geprägter (auch vermögensverwaltender) Personengesellschaften<br />
sowie Betriebsvermögen mit EU-Betriebsstätten sowie Anteile an einer Kapitalgesellschaft mit Sitz oder<br />
Geschäftsleitung im Inland oder der EU oder des EWR, wenn der Erblasser oder Schenker am Nennkapital<br />
dieser Gesellschaft unmittelbar zu mehr als 25 % beteiligt war (§ 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG).<br />
2. Neue Sonderregelungen<br />
Ob das begünstigungsfähige Vermögen nun auch begünstigungswürdig ist oder nicht, wird in § 13b Abs. 2<br />
ErbStG geregelt. Hierzu gibt es eine Reihe von überwiegend neuen Sonderregelungen, die die Ermittlung<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 85
Fach 20, Seite 632<br />
Steuerrecht<br />
Erbschaft- und Schenkungsteuer – Begünstigung von Betriebsvermögen<br />
des am Ende begünstigten und nicht begünstigten Betriebsvermögens kompliziert macht. Wie<br />
kompliziert, lässt sich durch begleitenden Gesetzeswortlaut der nachstehend zitierten Regelungen am<br />
einfachsten darstellen:<br />
§ 13b Abs. 2 S. 1 ErbStG<br />
„Das begünstigungsfähige Vermögen ist begünstigt, soweit sein gemeiner Wert den um das unschädliche<br />
Verwaltungsvermögen im Sinne des Absatzes 7 gekürzten Nettowert des Verwaltungsvermögens im Sinne des<br />
Absatzes 6 übersteigt (begünstigtes Vermögen).“<br />
Bei einer Grenze von 90 % Verwaltungsvermögen soll dann gar keine steuerliche Begünstigung des<br />
Betriebsvermögens mehr erfolgen. Hintergrund ist, die alten Gestaltungsmodelle der sog. Cash-<br />
Gesellschaften aus der Steuerbegünstigung auszunehmen.<br />
§ 13b Abs. 2 S. 2 ErbStG<br />
„Abweichend von Satz 1 ist der Wert des begünstigungsfähigen Vermögens vollständig nicht begünstigt, wenn<br />
das Verwaltungsvermögen nach Absatz 4 vor der Anwendung des Absatzes 3 Satz 1, soweit das Verwaltungsvermögen<br />
nicht ausschließlich und dauerhaft der Erfüllung von Schulden aus durch Treuhandverhältnisse<br />
abgesicherten Altersversorgungsverpflichtungen dient und dem Zugriff aller übrigen nicht aus diesen<br />
Altersversorgungsverpflichtungen unmittelbar berechtigten Gläubiger entzogen ist, sowie der Schuldenverrechnung<br />
und des Freibetrags nach Absatz 4 Nummer 5 sowie der Absätze 6 und 7 mindestens 90 Prozent des<br />
gemeinen Werts des begünstigungsfähigen Vermögens beträgt.“<br />
Beispiel:<br />
Beträgt hiernach z.B. der gemeine Wert eines Betriebsvermögens 2 Mio. Euro, das Verwaltungsvermögen<br />
90 % = 1,8 Mio. Euro, liegt kein begünstigungswürdiges Betriebsvermögen vor. Läge das Verwaltungsvermögen<br />
bei 89 % (hier: 1,78 Mio. Euro), wäre die Differenz (220.000 €) begünstigt.<br />
3. Altersversorgungsverpflichtungen<br />
Aus Verwaltungsvermögen (i.d.R. schlichter Geld- oder Wertpapierbestand) rückgedeckte betriebliche<br />
Altersversorgungen, die nach dem Verwaltungsvermögensbegriff nicht begünstigt würden, gehören<br />
nach gesetzlicher Bestimmung des § 13b Abs. 3 ErbStG nicht zum Verwaltungsvermögen.<br />
4. Verwaltungsvermögen<br />
Der Verwaltungsvermögenskatalog ist in § 13b Abs. 4 Nr. 1–5 ErbStG geregelt und umfasst – wie bisher<br />
auch –:<br />
• Nr. 1: vermietete Grundstücke (Ausnahmen § 13b Abs. 4 Nr. 1a–f ErbStG),<br />
• Nr. 2: Anteile weniger als 25 % an Kapitalgesellschaften,<br />
• Nr. 3: Kunstsammlungen etc.,<br />
Hinweis:<br />
Die Neuregelungen hier betreffen nur Luxusgegenstände wie Briefmarkensammlungen, Oldtimer, Yachten,<br />
Segelflugzeuge etc.<br />
• Nr. 4: Wertpapiere und Barvermögen sowie Forderungen.<br />
• Nr. 5 – Schulden: Erwähnenswert ist die Ausnahme, dass Zahlungsmittel, Geschäftsguthaben,<br />
Geldforderungen nur in der Höhe dem Verwaltungsvermögen zuzurechnen sind, soweit ihr gemeiner<br />
Wert nach Abzug der Schulden 15 % des gemeinen Werts des Betriebsvermögens übersteigt.<br />
Das Verwaltungsvermögen soll nur um den Teil der Schulden verringert werden, der diesem<br />
Vermögensanteil quotal entspricht.<br />
Beispiel:<br />
Bei 5 Mio. Euro gemeinem Wert des Betriebsvermögen, 1 Mio. Euro Verwaltungsvermögen und 2 Mio.<br />
Euro € Schulden sind die Schulden nur im Verhältnis (hier:) 5 Mio. Euro zu 1 Mio. Euro = 20 % = 400.000 €<br />
zu berücksichtigen. Begünstigtes Betriebsvermögen daher: 5,6 Mio. Euro.<br />
86 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Steuerrecht Fach 20, Seite 633<br />
Erbschaft- und Schenkungsteuer – Begünstigung von Betriebsvermögen<br />
Hinweis:<br />
Junge Finanzmittel und neue Schulden: Da verhindert werden soll, dass kurz vor der Übertragung noch hohe<br />
Schulden aufgehäuft werden und zugleich Liquidität ins Privatvermögen verschoben wird – was zur Folge<br />
hätte, dass künstliche Schuldenverrechnungspotentiale geschaffen würden, regelt § 13b Abs. 8 S. 1 ErbStG, dass<br />
Finanzmittel, deren positiver Saldo aus Zuführung und Entnahme innerhalb von zwei Jahren vor dem Stichtag<br />
der Übertragung dem Betriebsvermögen zugeführt wurden, grundsätzlich Verwaltungsvermögen (und damit<br />
nicht begünstigt) sind. In § 13b Abs. 8 S. 2 ErbStG wird ergänzt, dass Schulden (quotal insoweit) nicht verrechenbar<br />
sind, soweit sie die durchschnittliche Summe der Schulden der letzten drei Jahre übersteigen.<br />
5. Berechnung des begünstigten Vermögens<br />
Das nicht begünstigte Verwaltungsvermögen errechnet sich über die vorgenannten Ausnahmetatbestände<br />
zu dem Begriff des „Nettowerts“ des Verwaltungsvermögens, also dem nach obigen<br />
Kürzungen oder Ergänzungen bereinigten Werts des Verwaltungsvermögens. Dabei sind 10 %<br />
Freibetrag = unschädliches Verwaltungsvermögen, § 13b Abs. 7 S. 1 ErbStG:<br />
„Der Nettowert des Verwaltungsvermögens wird vorbehaltlich des Satzes 2 wie begünstigtes Vermögen<br />
behandelt, soweit er 10 Prozent des um den Nettowert des Verwaltungsvermögens gekürzten gemeinen Werts<br />
des Betriebsvermögens nicht übersteigt (unschädliches Verwaltungsvermögen).“<br />
a) Berechnung des gemeinen Werts des begünstigungsfähigen Vermögens<br />
Auf die einfachste Formel gebracht (übernommen aus: THONEMANN-MICKER DB 2016, 2312, 2317):<br />
Nettowert des Verwaltungsvermögens<br />
+ unschädliches Verwaltungsvermögen nach<br />
§ 13b Abs. 7 ErbStG (10 % d. Nettowerts)<br />
= Wert des begünstigten<br />
Vermögens<br />
b) Differenzierte Berechnung zur Ermittlung des begünstigungsfähigen Vermögens<br />
Die Literatur (s. z.B. GECK ZEV 2016, 547, ERKIS DStR 2015, 1409, KOREZKIJ DStR 2016, 2434) hat hierzu<br />
folgendes differenziertes Berechnungsschema entwickelt:<br />
1. Kürzung um das nicht begünstigte Vermögen<br />
• Ermittlung und Bewertung des schädlichen Verwaltungsvermögens;<br />
• Kürzung der Finanzmittel (ohne junge Finanzmittel) um Schulden sowie Kürzung um 15 % des<br />
gemeinen Werts des Betriebes;<br />
• Hinzurechnung des Vermögens zum begünstigten Vermögen, das Altersversorgungsverpflichtungen<br />
dient;<br />
• Kürzung des Verwaltungsvermögens in der Quote der anteiligen Zuordnung von Schulden;<br />
• Kürzung des Verwaltungsvermögens um maximal 10 % des um das unschädliche Verwaltungsvermögen<br />
gekürzte Betriebsvermögen.<br />
2. Ermittlung der Verschonungsquote aus der Gegenüberstellung des verbleibenden begünstigten<br />
Vermögens mit dem gemeinen Wert des begünstigungsfähigen Vermögens<br />
6. Investitionsklausel bei Erwerben von Todes wegen<br />
Wenn Verwaltungsvermögen innerhalb von zwei Jahren nach dem Übertragungsstichtag in begünstigungsfähiges<br />
Vermögen investiert wird, das unmittelbar einer gewerblichen Tätigkeit dient, und diese<br />
Investition aufgrund eines „vorgefassten Plans des Erblassers“ erfolgte (den dieser dann zu Lebzeiten<br />
aufgestellt haben muss), dann wird dieses investierte Verwaltungsvermögen rückwirkend in begünstigtes<br />
Betriebsvermögen umqualifiziert (§ 13b Abs. 5 ErbStG).<br />
Hinweis:<br />
Zu dieser letzten Gegenausnahme bleibt abzuwarten, wie dies in der Praxis der Finanzverwaltung aussehen<br />
soll. Was ist ein „vorgefasster Plan des Erblassers“? Was ist eine „Investition“ im Sinne dieses Tatbestands?<br />
Warum ist die gewerblich geprägte Personengesellschaft ausgeschlossen? Hier bleibt die weitere Entwicklung<br />
abzuwarten.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 87
Fach 20, Seite 634<br />
Steuerrecht<br />
Erbschaft- und Schenkungsteuer – Begünstigung von Betriebsvermögen<br />
V. Steuerbefreiung für begünstigtes Vermögen bis 26 Mio. Euro<br />
1. Wertgrenze 26 Mio. Euro<br />
Eine maßgebliche Verfassungsrüge des BVerfG bezog sich darauf, dass die Steuerbegünstigung betrieblichen<br />
Vermögens nach altem Recht auch sehr große Vermögen umfassen konnte. Bei der Vorstellung von<br />
steuerbefreitem „Milliardenvermögen“ befand das BVerfG einen Gleichheitsverstoß zu kleinen und mittleren<br />
Unternehmensvermögen, bei denen die Verschonung von der Erbschaft- und Schenkungsteuer leichter<br />
nachzuvollziehen ist, da man dort durch die Belastung mit der Erbschaftsteuer eventuell die Nachfolgefähigkeit<br />
des Betriebs riskieren würde: Unverhältnismäßig sei die Privilegierung betrieblichen Vermögens,<br />
soweit sie über kleine und mittlere Unternehmen ohne eine Bedürfnisprüfung herausgreift. Hier erreiche die<br />
Ungleichbehandlung schon wegen der Höhe der steuerbefreiten Beträge ein Maß, das ohne die konkrete<br />
Feststellung der Verschonungsbedürftigkeit des erworbenen Unternehmens mit einer gleichheitsgerechten<br />
Besteuerung nicht mehr in Einklang zu bringen sei. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, präzise und<br />
handhabbare Kriterien zur Bestimmung der Unternehmen festzulegen, für die eine Verschonung ohne<br />
Bedürfnisprüfung nicht mehr in Betracht kommt. In der Haltung eines Gesetzgebers schlug das BVerfG<br />
vor, wie man diesem Gleichheitsverstoß begegnen könne, nämlich entweder in der Reduzierung der<br />
Steuerbefreiung durch Betragsgrenzen der Befreiungsnormen oder durch eine individuelle Bedürfnisprüfung.<br />
§ 13a Abs. 1 S. 1 ErbStG begrenzt die Betriebsvermögensbegünstigung daher in der Neuregelung auf<br />
Erwerbe bis 26 Mio. Euro. Bei höheren Erwerben, sog. Großvermögen, wird keine Befreiungsregelung<br />
mehr angewandt (s. hierzu unten VI.), dort wird eine Erleichterung in Form eines Verschonungsabschlags<br />
gewährt, alternativ eine Verschonungsbedarfsprüfung. Damit hat der Gesetzgeber gleich<br />
beide „Vorschläge“ des BVerfG aufgegriffen, einen Gleichheitsverstoß bei der Befreiung von Betriebsvermögen<br />
zu vermeiden.<br />
In die Berechnung der Freigrenze von 26 Mio. Euro sind alle früheren Erwerbe innerhalb der letzten<br />
zehn Jahre mit ihrem früheren Wert dem letzten Erwerb hinzuzurechnen:<br />
§ 13a Abs. 1 S. 3, 4 ErbStG<br />
„Wird die Grenze von 26 Millionen Euro durch mehrere innerhalb von zehn Jahren von derselben Person<br />
anfallende Erwerbe überschritten, entfällt die Steuerbefreiung für die bis dahin nach Satz 1 oder Absatz 10 als<br />
steuerfrei behandelten früheren Erwerbe mit Wirkung für die Vergangenheit. Die Festsetzungsfrist für die Steuer<br />
der früheren Erwerbe endet nicht vor dem Ablauf des vierten Jahres, nachdem das für die Erbschaftsteuer<br />
zuständige Finanzamt von dem letzten Erwerb Kenntnis erlangt.“<br />
Wie immer bei der Zusammenrechnung von Erwerben über verschiedene Rechtszustände (vor 2009, bis<br />
zum 30.6.2016 und heute) ist schwierig, mehrere Erwerbe voneinander abzugrenzen bzw. miteinander zu<br />
verrechnen. Vor 2009 gab es den Begriff des Verwaltungsvermögens gar nicht, nach 2009 änderte sich<br />
das begünstigte Vermögen noch in vielen Einzelheiten. Ob nun der heutige Verwaltungsvermögensbegriff<br />
auch auf die Altübertragungen anzuwenden ist, ist unklar (so auch: REICH BB 2016, 1879, 1882; HÖRETH/<br />
STELZER DStZ 2016, 905). In § 14 ErbStG wird für die allgemeine Zusammenrechnung der Erwerbe hierzu<br />
geregelt, dass zumindest für die Bewertung auf die früheren Werte Bezug genommen wird. Für die<br />
Freibeträge, um die es hier geht, wird allerdings auf das aktuelle Recht Bezug genommen.<br />
2. Familiengesellschaften – Abschlag bis zu 30 % auf das begünstigte Vermögen<br />
Das begünstigte Betriebsvermögen wird bei sog. Familiengesellschaften unter besonderen Bedingungen<br />
bis zu 30 % reduziert. Liegt man dann unter 26 Mio. Euro, greifen die nachfolgend dargestellten<br />
Verschonungsregelungen; wenn nicht s. unten (VI.). Systematisch wird nach der Wertfeststellung des<br />
begünstigten Vermögens diese Familiengesellschaftsbegünstigung geprüft.<br />
§ 13a Abs. 9 ErbStG<br />
„Für begünstigtes Vermögen im Sinne des § 13b Absatz 2 wird vor Anwendung des Absatzes 1 ein Abschlag<br />
gewährt, wenn der Gesellschaftsvertrag oder die Satzung Bestimmungen enthält, die<br />
1. die Entnahme oder Ausschüttung auf höchstens 37,5 Prozent des um die auf den Gewinnanteil oder die Ausschüttungen<br />
aus der Gesellschaft entfallenden Steuern vom Einkommen gekürzten Betrages des steuerrechtlichen Gewinns be-<br />
88 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Steuerrecht Fach 20, Seite 635<br />
Erbschaft- und Schenkungsteuer – Begünstigung von Betriebsvermögen<br />
schränken; Entnahmen zur Begleichung der auf den Gewinnanteil oder die Ausschüttungen aus der Gesellschaft entfallenden<br />
Steuern vom Einkommen bleiben von der Beschränkung der Entnahme oder Ausschüttung unberücksichtigt und<br />
2. die Verfügung über die Beteiligung an der Personengesellschaft oder den Anteil an der Kapitalgesellschaft auf<br />
Mitgesellschafter, auf Angehörige im Sinne des § 15 der Abgabenordnung oder auf eine Familienstiftung (§ 1 Absatz 1<br />
Nummer 4) beschränken und<br />
3. für den Fall des Ausscheidens aus der Gesellschaft eine Abfindung vorsehen, die unter dem gemeinen Wert der<br />
Beteiligung an der Personengesellschaft oder des Anteils an der Kapitalgesellschaft liegt,<br />
und die Bestimmungen den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen. Gelten die in Satz 1 genannten Bestimmungen<br />
nur für einen Teil des begünstigten Vermögens im Sinne des § 13b Absatz 2, ist der Abschlag nur für diesen Teil des<br />
begünstigten Vermögens zu gewähren. Die Höhe des Abschlags entspricht der im Gesellschaftsvertrag oder in der<br />
Satzung vorgesehenen prozentualen Minderung der Abfindung gegenüber dem gemeinen Wert (Satz 1 Nummer 3)<br />
und darf 30 Prozent nicht übersteigen. Die Voraussetzungen des Satzes 1 müssen zwei Jahre vor dem Zeitpunkt der<br />
Entstehung der Steuer (§ 9) vorliegen. Die Steuerbefreiung entfällt mit Wirkung für die Vergangenheit, wenn die<br />
Voraussetzungen des Satzes 1 nicht über einen Zeitraum von 20 Jahren nach dem Zeitpunkt der Entstehung der<br />
Steuer (§ 9) eingehalten werden; die §§ 13c und 28a bleiben unberührt. In den Fällen des Satzes 1<br />
1. ist der Erwerber verpflichtet, dem für die Erbschaftsteuer zuständigen Finanzamt die Änderungen der genannten<br />
Bestimmungen oder der tatsächlichen Verhältnisse innerhalb einer Frist von einem Monat anzuzeigen,<br />
2. endet die Festsetzungsfrist für die Steuer nicht vor dem Ablauf des vierten Jahres, nachdem das für die<br />
Erbschaftsteuer zuständige Finanzamt von der Änderung einer der in Satz 1 genannten Bestimmungen oder der<br />
tatsächlichen Verhältnisse Kenntnis erlangt.“<br />
Die Regelung wirft vielfältige rechtliche und praktische Fragestellungen auf:<br />
• Der Vorab-Abschlag auf den Wert des begünstigen Vermögens bei Familiengesellschaften gilt also<br />
nicht für Einzelunternehmen.<br />
• Ein „steuerlicher Gewinn, gekürzt um die auf den Gewinnanteil entfallende Steuer“ existiert<br />
steuersystematisch gar nicht, da die Personengesellschaft anders als die Kapitalgesellschaft kein<br />
Steuersubjekt ist, sondern die dahinter stehenden Gesellschafter (= steuerliche Transparenz der<br />
Personengesellschaft). Gemeint sein dürfte also die Summe der einzelnen Individualsteuern der<br />
Gesellschafter. Das ist schon nicht einfach festzustellen, da dies die Vorlage der jährlichen<br />
Einkommensteuerbescheide aller Gesellschafter erforderlich macht.<br />
• Eine Entnahmeregelung, die auf den steuerlichen Gewinn, nicht auf den handelsrechtlichen Gewinn<br />
abstellt, ist beachtlich. Bisherige Entnahmeregelungen sind daher zu überarbeiten. Sie müssen aber<br />
zwei Jahre vor der Übertragung bereits bestehen, damit es zu der Anwendung des § 13a Abs. 9 ErbStG<br />
überhaupt kommt. Diese Entnahmebegrenzung ist wirklichkeitsfremd, wenn man sich gegenwärtige<br />
Entnahmeregelungen ansieht. Zudem steht die Quote von 37,5 % einer sich jährlich ändernden<br />
Individualsteuerbelastung der Gesellschafter gegenüber (s. auch RIEDEL ZErb 2016, 371, 373).<br />
• Verfügungen über Gesellschaftsbeteiligungen sind nur an Mitgesellschafter, Angehörige nach § 15<br />
AO oder Familienstiftungen zulässig. Ob dies dann auch für Nießbrauchsübertragungen, Treuhandverfügungen<br />
oder sogar für Verpfändungen gilt, lässt sich nicht direkt aus der Regelung entnehmen.<br />
Auch die Verfügung über Unterbeteiligungen ist nicht geregelt. Vorsichtigerweise sollten diese<br />
Gestaltungen dem Begriff der „Verfügung“ i.S.d. § 13a Abs. 9 ErbStG zugeordnet werden. Die<br />
Anwendung dieser Regelung ist völlig unklar, wenn es dann die genannten „Verfügungen“ gibt, aber<br />
überhaupt keine Gesellschaftsanteile übertragen werden.<br />
• Die Abfindungsbeschränkung muss in den Gesellschaftsverträgen angepasst werden (s. auch<br />
THONEMANN-MICKER DB 2016, 2312, 2314 f.).<br />
• Alle Voraussetzungen nach § 13a Abs. 9 S. 1 Nr. 1–3 ErbStG müssen 20 Jahre nach der Übertragung<br />
noch immer erfüllt sein, da sonst der Wertabschlag rückwirkend entfällt und ggf. eine erhebliche<br />
Nachsteuerbelastung veranlagt wird. Das kann wohl nicht in vielen Fällen gelingen (z.B. bei<br />
Versterben eines Erblassers noch vor dem Ablauf der zwei Jahre nach Änderung der o.g.<br />
Bestimmungen) und führt zu einem fast ewigen Damoklesschwert latenter Nachsteuerbelastung.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 89
Fach 20, Seite 636<br />
Steuerrecht<br />
Erbschaft- und Schenkungsteuer – Begünstigung von Betriebsvermögen<br />
Hinweis:<br />
REICH (DStR 2016, 2447, 2449) hat hierzu schon praktische Formulierungsvorschläge für Gesellschaftsverträge<br />
erarbeitet, die insbesondere den ausdrücklichen Hinweis auf die Ausrichtung des Gesellschaftsvertrags im<br />
Hinblick auf die Befreiungsregelung nach § 13a Abs. 9 ErbStG enthalten sollte, um zu vermeiden, dass nach<br />
Jahren eine spätere Änderung des Gesellschaftsvertrags die bezeichneten Anforderungen übersieht (s. hierzu<br />
auch THONEMANN-MICKER DB 2016, 2312, 2314 f.).<br />
3. Regelverschonung 85 %<br />
Die eigentliche Steuerbefreiungsregelung des § 13a ErbStG greift erst in diesem Prüfungsschritt,<br />
nachdem das Betriebsvermögen festgestellt und bewertet wurde und getrennt wurde von den nicht<br />
begünstigungsfähigen sowie von dem nicht begünstigten Verwaltungsvermögen, ggf. der Familienabschlag<br />
berechnet wurde und dieser Wert dann unter 26 Mio. Euro liegt. Nach § 13a Abs. 1 S. 1 ErbStG<br />
greift dann die sog. Regelverschonung, nach der 85 % des begünstigten Vermögens steuerfrei bleibt.<br />
Hierzu sind nachfolgende zwei weitere Voraussetzungen zu erfüllen.<br />
a) Lohnsumme<br />
Das BVerfG hatte die bisherige Regelung der Freistellung von der Lohnsummenbindung bei Betrieben<br />
bis zu 20 Beschäftigten als Verstoß gegen Art. 3 GG gerügt, da die Privilegierung dieser Betriebe<br />
unverhältnismäßig sei, weil etwa 90 % aller Unternehmen in Deutschland unter diese Regelung fielen.<br />
Die Grenze der zulässigen Typisierung sei überschritten worden, das Regel-Ausnahme-Verhältnis von<br />
Privilegierungen sei faktisch in sein Gegenteil verkehrt. Der Gesetzgeber hat an dem gegenwärtigen<br />
Verschonungskonzept festgehalten und die Freistellung von der Lohnsummenpflicht gem. § 13a Abs. 3<br />
S. 3 und 4 ErbStG begrenzt: Beträgt die Ausgangslohnsumme 0 € oder hat der Betrieb nicht mehr als<br />
fünf Beschäftigte, ist keine Lohnsummenregelung anzuwenden. Bei 6–10 Beschäftigten ist eine<br />
Mindestlohnsumme von 250 % (= 50 %) in fünf Jahren zu erfüllen. Bei 11–15 Beschäftigten muss die<br />
Mindestlohnsumme 300 % (60 %) in fünf Jahren betragen und bei mehr als 15 Beschäftigten 400 % in<br />
fünf Jahren (= 80 %). Dabei ist die Anzahl der Beschäftigten nach Köpfen zu ermitteln. Unberücksichtigt<br />
werden Auszubildende sowie Saisonarbeiter oder Arbeitnehmer im Mutterschutz.<br />
Es bleibt auch bei dieser Regelung bei einem sehr hohen Anteil von Unternehmen, deren Mitarbeiteranzahl<br />
fünf nicht überschreitet. In der Literatur wir dieser Anteil auf mehr als 50 % der Betriebe<br />
geschätzt, leitet hieraus aber keine Verfassungsbedenken ab (vgl. S. VISKORF/LÖCHERBACH/JAHLE DStR<br />
2016, 2425).<br />
b) Behaltensfrist mit Entnahmebeschränkung<br />
Ohne Änderung blieb die Vorschrift zur Behaltensfrist von fünf Jahren in § 13a Abs. 6 ErbStG, die in Satz 1<br />
Nr. 3 auch die Entnahmebeschränkung von 150.000 € beinhaltet (über die Entnahme des Gewinns<br />
hinaus, ermittelt zum Ende des Fünf-Jahres-Zeitraums).<br />
4. Optionsverschonung mit 100 %<br />
Nach § 13a Abs. 10 ErbStG kann durch unwiderrufliche Erklärung des Erwerbers auch eine<br />
Vollverschonung optional gewährt werden, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt werden:<br />
1. In Absatz 1 S. 1 tritt an die Stelle des Verschonungsabschlags von 85 Prozent ein Verschonungsabschlag<br />
von 100 Prozent;<br />
2. in Absatz 3 S. 1 tritt an die Stelle der Lohnsummenfrist von fünf Jahren eine Lohnsummenfrist von<br />
sieben Jahren;<br />
3. in Absatz 3 S. 1 und 4 tritt an die Stelle der Mindestlohnsumme von 400 Prozent eine<br />
Mindestlohnsumme von 700 Prozent;<br />
4. in Absatz 3 S. 4 Nummer 1 tritt an die Stelle der Mindestlohnsumme von 250 Prozent eine<br />
Mindestlohnsumme von 500 Prozent;<br />
90 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017
Steuerrecht Fach 20, Seite 637<br />
Erbschaft- und Schenkungsteuer – Begünstigung von Betriebsvermögen<br />
5. in Absatz 3 S. 4 Nummer 2 tritt an die Stelle der Mindestlohnsumme von 300 Prozent eine<br />
Mindestlohnsumme von 565 Prozent;<br />
6. in Absatz 6 tritt an die Stelle der Behaltensfrist von fünf Jahren eine Behaltensfrist von sieben Jahren.<br />
Darüber hinaus ist die Vollverschonung daran gebunden, dass das begünstigungsfähige Vermögen nicht<br />
zu mehr als 20 % aus Verwaltungsvermögen besteht. Außerdem ist der 10 %-Abschlag auf das<br />
begünstigte Vermögen (§ 13b Abs. 7 S. 1 ErbStG, s.o.) nicht bei der Vollverschonung abwendbar, was<br />
insbesondere bei Unternehmen mit hoher Liquidität (Verwaltungsvermögen) und wenig Schulden die<br />
Optionsverschonung versperrt. Hier sind Gestaltungen vor der Übertragung möglich.<br />
5. Übersicht<br />
Regelverschonung 85 % Optionsverschonung 100 %<br />
5 Jahre Behaltensfrist 7 Jahre Behaltensfrist<br />
150.000 € Entnahmebeschränkung 150.000 € Entnahmebeschränkung<br />
Lohnsumme:<br />
Lohnsumme:<br />
• bis 5 Arbeitnehmer (AN): keine • bis 5 Arbeitnehmer: keine<br />
• 6–10 AN: 250 % (5 Jahre) • 6–10 AN: 500 % (7 Jahre)<br />
• 11–15 AN: 300 % (5 Jahre) • 11–15 AN: 565 % (7 Jahre)<br />
• 16 + AN: 400 % (5 Jahre) • 16 + AN: 700 % (7 Jahre)<br />
Hinweis:<br />
Sehr empfehlenswert für die weitere Lektüre sind neben den hier zitierten Aufsätzen insbesondere die<br />
Aufsätze von RIEDEL (ZErb 2016, 371 ff.), der eine vollständige Prüfungsfolge der neuen Vorschriften in einem<br />
übersichtlichen Schaubild zusammenfasst. Für die Vertiefung und zum Praxisgebrauch bietet LANDSITTEL<br />
(ZErb 2016, 382 ff.) hervorragende Beispiele und Berechnungen sowie eine noch detailliertere graphische<br />
Systematik (ZErb 2016, 394, 395).<br />
VI. Großvermögen über 26 Mio. Euro<br />
Da Großvermögen über 26. Mio. Euro nach vorgehender Berechnung nicht den Begünstigungsregelungen<br />
nach § 13a ErbStG unterliegen, fällt hier zunächst eine volle Versteuerung an. Zwei<br />
Regelungen stehen dem Erwerber von Großvermögen zur Abmilderung der Steuerlast wahlweise zur<br />
Verfügung: Die Geltendmachung eines Verschonungsabschlags (§ 13c ErbStG, s. nachfolgend 1.) oder<br />
einer Verschonungsbedarfsprüfung (§ 28a Abs. 1 S. 1 ErbStG, s. nachfolgend 2.).<br />
1. Verschonungsabschlag<br />
Bei Großvermögen über 26 Mio. Euro verringert sich der Verschonungsabschlag nach der Regelverschonung<br />
(85 %) oder der Optionsverschonung (100 %) um je 1 % je volle 750.000 € Unternehmenswert.<br />
Dieses Abschmelzungsmodell führt im Ergebnis dazu, dass bei einem Wert von 90 Mio. Euro<br />
keinerlei Begünstigung mehr erfolgt (§ 13c ErbStG).<br />
Beispiel 1 – Erwerb eines begünstigten Betriebsvermögens (ggf. nach Familienabschlag)<br />
i.H.v. 30 Mio. Euro:<br />
30 Mio. Euro – 26 Mio. Euro = 4 Mio. Euro / 0,75 = 5,33 %.<br />
• Bei Anwendung der Regelverschonung mindert sich der Erwerb von 4 Mio. Euro dann um<br />
85 % – 5,33 % = 79,67 % auf 813.200 €.<br />
• Bei Anwendung der Vollverschonung mindert sich der Erwerb von 4 Mio. Euro um 94,66 %<br />
auf 213.333,20 €.<br />
Beispiel 2 – Erwerb eines begünstigten Betriebsvermögens (ggf. nach Familienabschlag)<br />
i.H.v. 80 Mio. Euro:<br />
80 Mio. Euro – 26 Mio. Euro = 54 Mio. Euro / 0,75 = 72 %.<br />
• Bei Anwendung der Regelverschonung mindert sich der Erwerb von 54 Mio. Euro dann um 85 % – 72 %<br />
= 13 % auf 46.980.000 €.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017 91
Fach 20, Seite 638<br />
Steuerrecht<br />
Erbschaft- und Schenkungsteuer – Begünstigung von Betriebsvermögen<br />
• Bei Anwendung der Vollverschonung mindert sich der Erwerb von 54 Mio. Euro um 100 % – 72 % =<br />
28 % auf 38.8880.000 €.<br />
2. Verschonungsbedarfsprüfung<br />
Alternativ zu der Inanspruchnahme der obigen Verschonungsabschläge kann der Erwerber von<br />
Großvermögen nachweisen, dass er nicht in der Lage ist, die Steuer aus seinem verfügbaren Vermögen<br />
zu begleichen (§ 28a Abs. 1 S. 1 ErbStG). In diesem Fall kann er eine Verschonungsbedarfsprüfung über sich<br />
ergehen lassen, die nachfolgend erläuterte Prüfung zum Gegenstand hat. Der Erwerber muss maximal die<br />
Hälfte seines verfügbaren Vermögens zur Bezahlung der Erbschaft- oder Schenkungsteuer einsetzen.<br />
Die Ermittlung des sog. verfügbaren Vermögens erfolgt zu 50 % folgender gemeiner Werte:<br />
§ 28 Abs. 2 ErbStG<br />
„Zu dem verfügbaren Vermögen gehören 50 Prozent der Summe der gemeinen Werte des<br />
1. mit der Erbschaft oder Schenkung zugleich übergegangenen Vermögens, das nicht zum begünstigten Vermögen im<br />
Sinne des § 13b Absatz 2 gehört, und<br />
2. dem Erwerber im Zeitpunkt der Entstehung der Steuer (§ 9) gehörenden Vermögens, das nicht zum begünstigten<br />
Vermögen im Sinne des § 13b Absatz 2 gehören würde.“<br />
Nr. 1 betrifft das Verwaltungsvermögen oder sonst nicht begünstigtes Betriebsvermögen, das neben<br />
dem übrigen Vermögen des Erwerbers erfasst wird. Darüber hinaus muss der Erwerber bei<br />
Inanspruchnahme der Verschonungsbedarfsprüfung gem. § 28 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, 2 ErbStG die<br />
Lohnsummenbindung und die siebenjährige Behaltensfrist beachten.<br />
Hinweis:<br />
Hat der Erwerber keinerlei eigenes Vermögen und besteht das Betriebsvermögen aus begünstigtem<br />
Vermögen, könnte also auch ein Großvermögen wieder der Vollverschonung zugeführt werden.<br />
Da zu dem verfügbaren Vermögen auch nicht „versilberbare“ Vermögensanteile wie Grundstücksbeteiligungen<br />
oder nicht liquidierbare Personengesellschaftsbeteiligungen gehören, ist diese Regelung in<br />
manchen denkbaren Fällen nicht zu verwirklichen. Zum verwertbaren Vermögen gehört wohl auch das<br />
steuerbefreite Vermögen, ohne dass die zu zahlende Schenkungsteuer abgezogen werden kann (die<br />
vom Erwerber zu zahlende Erbschaftsteuer ist nach § 10 Abs. 8 ErbStG nicht abziehbar).<br />
VII. Steuerstundung<br />
§ 28 ErbStG ermöglicht eine Steuerstundung, die sich auf bis zu sieben Jahre erstreckt, aber nur im<br />
ersten Jahresbetrag zinslos gestundet wird. Ab dem zweiten bis siebten Jahr fallen dann 6 % Zinsen p.a.<br />
an. Dies dürfte kein gangbarer Weg sein.<br />
VIII. Anwendungsregelung<br />
Die neuen Regelungen des ErbStG sind gem. § 37 Abs. 11 S. 1 ErbStG auf Erwerbe anzuwenden, für die die<br />
Steuer nach dem 30.6.2016 entsteht (also Stichtag des Todes des Erblassers oder Ausführung der<br />
Bereicherung bei Schenkungen, s.o.).<br />
Hinweis:<br />
Hier werden verfassungsrechtliche Bedenken diskutiert (s. z.B. HÖRETH/STELZER DStZ 2016, 901, 902 f.;<br />
CREZELIUS ZEV 2016, 541, 542; RIEDEL ZErb 2016, 371, 382).<br />
92 <strong>ZAP</strong> Nr. 2 18.1.2017