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Asha Rajashekhar

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disability studies<br />

Die Geschichte der Menschheit<br />

füllt Bibliotheken mit Dokumenten,<br />

die vom Leid und der Scham erzählen,<br />

die dadurch entstehen, dass sich<br />

Menschen über andere Menschen<br />

stellen. Leid und Scham entstehen<br />

auf beiden Seiten – auf der Seite der<br />

‚Täter‘ und auf der Seite der ‚Opfer‘,<br />

auf der Seite der ‚Normalen‘, Weißen,<br />

Männer, Heteros, Hörenden und auf<br />

der Seite der ‚Andersartigen‘, Schwarzen,<br />

Frauen, Homos, Tauben. Möchte<br />

man das Leid und die Scham ernst<br />

nehmen, ist es an der Zeit, sich mit<br />

den Strukturen, die Leid und Scham<br />

auslösen, auseinanderzusetzen.<br />

Wenden wir uns nun bei der Suche<br />

nach möglichen Ursachen und<br />

bei der Suche nach Möglichkeiten,<br />

die Leidquelle abzustellen, den Konzepten<br />

„postkoloniale Mechanismen“<br />

und „Hearing Privileges“ zu.<br />

Kolonialismus und Postkolonialismus<br />

in Bezug auf<br />

taube Menschen<br />

„Kolonisation“ bezieht sich im eigentlichen<br />

Sinne des Wortes auf die Erschließung<br />

und Besetzung unbekannter<br />

Territorien. Mit dieser ‚Erschließung‘,<br />

die durch die Europäer<br />

in den vergangenen Jahrhunderten<br />

insbesondere in Amerika, Afrika<br />

und Teilen Asiens erfolgte, gingen die<br />

wirtschaftliche Ausbeutung und die<br />

3 Ich gebe hier mit den Worten Benteles (2001, 411) zu bedenken: „Es ist zu ermitteln, ob<br />

der Patient überhaupt ein Patient, das heißt behandlungsbedürftig ist. Dieses Problem<br />

taucht normalerweise nicht auf, da der Patient aus eigenem Antrieb den Arzt aufsucht,<br />

und zwar deshalb, weil er sich krank, also behandlungsbedürftig fühlt. Bei einer CI-Implantation<br />

liegt der Fall anders. Aus der Sicht der Gehörlosengemeinschaft ist ein taub geborenes<br />

Kind nicht krank. Es ist auch kein Patient. Es ist anders als ein hörendes Kind, hat<br />

aber eine ebenso positive Lebensoption.“<br />

4 In diesem Kontext muss auf den Mailänder Kongress (1880) verwiesen werden, auf dem<br />

zahlreiche Taubstummenlehrer versammelt waren, die anschließend der „Oralen Methode“<br />

in vielen Ländern zum Durchbruch verhalfen.<br />

5 Samuel Heinicke (1727–1790) wird als Begründer der „Oralen Methode“ angesehen.<br />

allgemeine Kontrolle bzw. z. T. auch<br />

starke Unterdrückung der Ureinwohner,<br />

ihrer Sprachen und Lebensformen<br />

einher (vgl. Osterhammel 1995).<br />

Auch nach dem Ende der Kolonialzeit,<br />

das sich in zahlreichen Ländern im<br />

20. Jahrhundert vollzog, sind die Folgen<br />

der Kolonisation, d. h. die postkolonialen<br />

Auswirkungen und Gesellschaftsmechanismen,<br />

spürbar.<br />

Typische Kolonisationsmechanismen<br />

lassen sich jedoch auch bei<br />

andersartigen Herrschaftsbeziehungen<br />

feststellen. Auch das Machtverhältnis<br />

zwischen Hörenden und Tauben<br />

und die ‚Herrschaft‘ Hörender<br />

über die Körper und die Gebärdensprache<br />

Tauber weist zahlreiche Parallelen<br />

zu Kolonisations- und Postkolonisationsmechanismen<br />

auf. So<br />

haben in den vergangenen Jahrhunderten<br />

– bis in die Gegenwart hinein<br />

– zahlreiche hörende Mediziner<br />

an den Körpern Tauber herumexperimentiert,<br />

sie mit Blutegeln, Flüssigkeiten<br />

im Ohr, Elektrizität und<br />

CIs traktiert (vgl. Schreibweis 2009,<br />

25 ff.) und hierdurch paradoxerweise<br />

eigentlich gesunde Menschen in<br />

Patienten verwandelt. 3<br />

Und auch hörende Pädagogen<br />

haben in Vergangenheit und Gegenwart<br />

vielfach nur aus der eigenen Lebenswelt<br />

heraus, d. h. aus dem Blickwinkel<br />

des Sprechens und Hörens,<br />

taube Kinder betrachtet und unterrichtet.<br />

Die Erziehung folgte dabei<br />

meist dem Ansatz der sogenannten<br />

Oralen Methode, die sich insbesondere<br />

um Artikulations- und Ableseübungen<br />

bemüht(e). 4 Dementsprechend<br />

beschreibt Rieger Heinickes 5<br />

Sprach- und Pädagogikverständnis<br />

wie folgt: „Die tönende Denkart dagegen<br />

verzeichnet der Phonozentrist<br />

Heinicke als Klangidyll und damit<br />

die Annexion der Taubstummen als<br />

erste Pädagogenpflicht“ (1994, 164).<br />

Hörende Pädagogen, die der „Oralen<br />

Methode“ anhingen bzw. anhängen,<br />

versuch(t)en nicht, sich in die<br />

Fähigkeiten und Bedürfnisse Tauber<br />

hineinzuversetzen und ihrer Gebärdensprache<br />

und Taubenkultur achtsam<br />

zu begegnen, sondern press(t)en<br />

Erstere mit Gewalt in das eigene hörende<br />

Lebensmuster. In dieser Weise<br />

agierten seinerzeit auch Kolonialherren<br />

auf Kontinenten wie z. B. Afrika<br />

und brachten ihrer Meinung nach<br />

‚Kultur und Zivilisation in kulturlose<br />

Gemeinschaften‘. Welch ignorantes<br />

und arrogantes Meinungsbild seiner<br />

selbst und anderer kommt hier zutage!<br />

Was sie tatsächlich taten, ist, die<br />

eigene Kultur fremden Gemeinschaften,<br />

die über Jahrhunderte hinweg<br />

für sich funktioniert haben, überzustülpen.<br />

Auch ‚hörende Kolonialherren‘<br />

haben mit der „Oralen Methode“<br />

Jahrhunderte lang ‚Kultur und Zivilisation‘<br />

verbreitet, um ‚die ach so armen<br />

Tauben vor dem Untergang zu<br />

bewahren‘. Was weiße und hörende<br />

Kolonialherren mit dieser Methode<br />

bewirkt haben, sind m. E. der kulturelle<br />

Kahlschlag der beherrschten<br />

Gemeinschaften, die innere Schieflage,<br />

tief sitzende Wunden und ein<br />

großes Misstrauen gegenüber den<br />

ehemaligen ‚Herren über schwarze<br />

und taube Schützlinge‘ und letzten<br />

Endes auch bei einigen Weißen und<br />

DZ 88 11<br />

291<br />

Beitrag aus: DAS ZEICHEN 88/2011 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)

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