GruSSwort Liebe Zuschauerinnen, liebe Zuschauer, es gibt eine Szene bei Chaplin, die der Dramatiker Bertolt Brecht gern zitierte. Charlie will einen Koffer packen, kriegt es nicht hin, weil er die Kleider ungeordnet und zerknäult in sein Reiseutensil wirft. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, das Gepäckstück zu schließen, hängen immer noch Hosenbeine und Hemdzipfel heraus. Kurz entschlossen nimmt Charlie die Schere und schneidet alle Überhänge ab. Für diese Technik der Problemlösung gibt es in der heutigen politischen Praxis einen Namen: Populismus. Da, wo Situationen zu komplex werden und man in Gedankenaustausch oder Verhandlungen zu Kompromissen finden, also die Sachen neu ordnen und zusammenlegen müsste, entscheidet man sich für radikale Antworten, indem man zur Schere greift und alles, was einem nicht in den Kram passt – Tatsachen, Fakten, andere Meinungen – abschneidet oder ignoriert. <strong>Theater</strong> – Kunst überhaupt – kommt mit Selbstbescheidungen oder Beschneidungen nicht weit. Wer das pralle Menschenleben zeigen will, muss in die Vollen greifen. Diese Maxime hat, wie in den Jahren zuvor, die Gestaltung unseres Spielplans bestimmt. Vielfalt, Widerspruch, Beweglichkeit. Madame Bovary ist eine Figur, deren Ausbrüche einen berühren, obwohl sie die Heldin sehenden Auges in die Katastrophe führen. Der Teufel, der als Professor Voland in die sowjetische Hauptstadt reist, bringt nicht nur Chaos in den sozialistischen Alltag, sondern auch Augenblicke der Gerechtigkeit und für den Meister und Margarita die Rettung ihrer Liebe. Anders kompliziert ist die Lage von Iphigenie auf Tauris; ihr wurde das Leben geschenkt, jetzt muss sie sich gegen Thoas zur Wehr setzen, den König, der ihr Asyl gewährte und sie nun zur Frau möchte. Drei Geschichten, die nicht auflösbar sind in eine einzige Botschaft, weil ihre Wahr heiten komplex sind und Deutungen zulassen. Wenn wir daraus etwas lernen können, dann höchstens, dass das Leben nicht auf den Begriff zu bringen ist, sondern eine tägliche Aufgabe bleibt, die Wachheit verlangt und Arbeit. Kunst schärft dafür unsere Sinne. Sie will sensibilisieren. Zuschauer, Musikhörer, Leser wollen überrascht sein, sie reagieren gelangweilt oder verärgert, wenn ihnen Klischees oder Allgemeinplätze vorgesetzt werden. Weil sie sich mit Ehrfurcht dem Reichtum alles Lebendigen näherten, gerieten Künstler wie Goethe, Flaubert oder Bulgakow mit den Anschauungen, Konventionen und Doktrinen ihrer Zeit in Konflikt. Das Symbol der Zensur ist nicht umsonst die Schere. Steffen Mensching Steffen Mensching Intendant 4