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2.466 WÖRTER MIT<br />

NILS<br />

LANDGREN<br />

»Die Deutschen<br />

sind anarchischer,<br />

als sie denken.«<br />

03.04.<strong>2017</strong>, Berlin. Das Hotelpersonal sagt, es dürfe die plärrende Dudelmusik in der Lobby nicht<br />

abstellen. „Die haben doch nur Angst vor der Stille“, sagt Nils <strong>Landgren</strong>. Der schwedische Jazzmusiker<br />

dagegen wirkt furchtlos. Erst am Vortag hat er mit seiner Posaune auf einer pro-europäischen<br />

Demonstration gespielt, später moderierte er den Jubiläumsabend seines Labels. Nicht erst<br />

seit seiner Zeit bei der NDR Big Band verfügt der 61-Jährige über hervorragende Deutschkenntnisse.<br />

Seine charakteristischen goldenen Doppel-Ohrringe blitzen, während er sich in der<br />

Lesecke der Lobby über den Zustand Europas, seine Kindheit unter Stahlarbeitern und<br />

die eisenharte Disziplin von ABBA auslässt. Natürlich auf Deutsch<br />

Interview: Jan Paersch | Fotos: Steven Haberland<br />

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NILS LANDGREN<br />

Nils <strong>Landgren</strong>, Sie spielen Posaune,<br />

seitdem Sie 13 Jahre alt sind. Mittlerweile<br />

singen sie aber auch, wann fing<br />

das an?<br />

Mit vier Jahren habe ich mein erstes<br />

A-cappella-Konzert vor versammelter<br />

Verwandtschaft gegeben. (singt ein<br />

schwedisches Kinderlied) Dann vergingen<br />

35 Jahre. 1993 wurde ich gefragt,<br />

ob ich bei einer Soulband in Stockholm<br />

mitspielen wollte. Ich durfte Vorschläge für das Repertoire<br />

machen und habe mir „Sex Machine“ von James<br />

Brown ausgesucht. Ich konnte das natürlich nicht wie<br />

er singen. Wahrscheinlich habe ich eher geschrien als<br />

gesungen. Aber ich dachte einfach: Go for it.<br />

James Brown gilt als „Godfather of Soul“ und Erfinder<br />

des Funk. Wie kamen Sie zu dieser Musik?<br />

Damit bin ich nun einmal aufgewachsen. Mein Vater<br />

war Hobby-Trompeter und hörte nur Jazzplatten.<br />

„Das hier ist Musik!“, sagte er und legte Duke Ellington<br />

und Count Basie auf. Dazu kam der Einfluss meiner<br />

Brüder. Der mittlere der beiden sang in einer<br />

Rockband. Eines Tages, als ich noch klein war,<br />

schleppte er eine Platte von Otis Redding an. Wie<br />

mich das bewegt hat! Das war funky! Die Stimmen,<br />

die Rhythmusgruppe – das war total neu für mich,<br />

hatte aber trotzdem mit Jazz zu tun.<br />

Haben Sie auch Rock’n’Roll gehört?<br />

Als ich sieben war, hörte ich zum ersten Mal die Beatles<br />

– das war eine Revolution. Und dann gleich die<br />

nächste: Jimi Hendrix! Später James Brown und Miles<br />

Davis. Ich war völlig aus dem Häuschen. Miles hat<br />

sich viel Inspiration aus der Soul-Musik geholt, und<br />

diese Musiker haben sich wiederum von ihm inspirieren<br />

lassen. Bei mir kam dann noch der Einfluss meiner<br />

Mutter hinzu, sie interessierte sich für klassische<br />

Musik. Das alles hat mich zu dem Musiker gemacht,<br />

der ich heute bin.<br />

Ihre Eltern haben sich offenbar durchgesetzt, denn<br />

in einer Rockband haben sie noch nicht gespielt.<br />

Ich finde es toll, einer Rockband zuzuhören, aber<br />

mein Körper bleibt dabei still. Auch wenn ich die Attitüde<br />

des Rock’n’Roll schätze, brauche ich eine andere<br />

Art von Rhythmus. Bei Soul und Funk fängt mein<br />

Körper an, sich intuitiv zu bewegen, ganz unbewusst.<br />

Diese Reaktion auf den Rhythmus ist das, was ich<br />

Körperintelligenz nenne.<br />

Sie haben dann erst einmal klassische Posaune<br />

studiert. In so einem Studium fängt man nicht<br />

gerade an, mit dem Fuß zu wippen.<br />

Es gab keine andere Ausbildung damals. Ich musste<br />

das Handwerk lernen, zunächst auf einer normalen<br />

Musikschule, danach auf einem Musikgymnasium.<br />

Die klassische Ausbildung hat mir sehr bei der Technik<br />

geholfen. Als ich damit aufgehört habe, habe ich<br />

nur noch Jazz gespielt, als Autodidakt, denn es gab<br />

noch keine Jazz-Abteilungen an den Hochschulen.<br />

An welche Momente ihrer frühen Kindheit können<br />

Sie sich erinnern, in denen Musik eine große Rolle<br />

gespielt hat?<br />

Wenn mein Vater mit seiner Jazzband zu Hause geprobt<br />

hat. Meine Brüder und ich wurden auch aktiv,<br />

wir haben alle getrommelt. Das hat mit der Geschichte<br />

meiner Heimatstadt Degerfors zu tun. In dieser<br />

Kleinstadt mit 8<strong>00</strong>0 Einwohnern war die Stahlindustrie<br />

sehr bedeutsam, am 1. Mai gingen alle Arbeiter demonstrieren,<br />

und wer marschierte voran? Natürlich<br />

die Blaskapelle. Ich war sechs Jahre alt, und das ganze<br />

Dorf marschierte im Rhythmus meiner Trommel. Alle<br />

trugen rote Fahnen, Degerfors war damals eine echte<br />

Arbeiterstadt, da gab es kaum jemanden, der nicht<br />

im Stahlwerk angestellt war. Das wäre auch meine Berufsperspektive<br />

gewesen. Damals in den 60er-Jahren<br />

versprach diese Arbeit eine sichere Zukunft. Übrigens<br />

spielte schon mein Großvater im Blasorchester. Wenn<br />

der Stahlwerksleiter Geburtstag hatte, mussten sie<br />

vorspielen. Als sich mein Großvater weigerte, gründete<br />

er ein neues Orchester, das dann am 1. Mai spielte.<br />

Keine Ahnung, warum er nicht gefeuert wurde.<br />

Ihr Großvater war also ein Rebell?<br />

Genau, allerdings ein sehr strenger. (lacht) Mein<br />

Vater wollte schon als Jugendlicher Jazztrompete spielen,<br />

aber mein Großvater hat es ihm verboten und sein<br />

Instrument konfisziert. Also hat sich mein Vater die<br />

Trompete eines Freundes geliehen und heimlich im<br />

Gartenschuppen geübt. Später gründete er dann im<br />

Stahlwerk eine Jazzband. Geübt wurde in der Mittagspause,<br />

fast jeden Tag. Mein Vater ist längst pensioniert,<br />

aber diese Band gibt es heute noch.<br />

Ihr Großvater und ihr Vater haben auf ihre Weise<br />

rebelliert. Wie war es bei Ihnen?<br />

Ich war der Jüngste im Bund. Irgendwann habe ich<br />

angefangen, spät nach Hause zu kommen, zu rauchen<br />

und zu viel Alkohol zu trinken. Mit 16 habe ich den<br />

Platz im Musikgymnasium bekommen, das war 80<br />

Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Ich kam<br />

nie mehr richtig zurück. Aber meine Eltern haben<br />

mich weiterhin unterstützt, allerdings hätte mich<br />

meine Mutter lieber als Zahnarzt gesehen.<br />

Es gibt diesen Satz, in abgewandelter Form: Du<br />

kannst den Jungen aus dem Dorf holen, aber nicht<br />

das Dorf aus dem Jungen. Steckt Degerfors noch<br />

in Ihnen?<br />

Je älter ich werde, desto mehr spüre ich, wie sehr ich<br />

meiner Heimat verbunden bin. Ich würde aber nie<br />

dorthin zurückziehen. Die Mentalität in einem Industrie-Ort<br />

ist sehr speziell und nicht besonders offen.<br />

Aber ich unterstütze das lokale Fußballteam als Sponsor,<br />

ich gebe dem Ort etwas zurück. Wahrscheinlich<br />

habe ich noch immer nicht ganz verstanden, was Degerfors<br />

für mich getan hat. Ich hatte gute Lehrer, tolle<br />

Freunde. Die 60er-Jahre waren einfach eine gute Zeit:<br />

Die Zukunft gehörte uns. Es gab nur wenige Wolken<br />

am Himmel, aber ich wusste, wenn ich hier bleibe,<br />

dann sterbe ich. Ich hätte mich totgesoffen.<br />

Sie wohnen aber seit einigen Jahren wieder in einem<br />

kleinen schwedischen Ort.<br />

Aber das ist im Süden, direkt an der Ostsee. In einem<br />

kleinen Fischerdorf. Die Fischer sind offener als die<br />

Arbeiter im Norden, nicht so reserviert. Diese Fischer<br />

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»Bei Soul und Funk fängt mein Körper an, sich intuitiv<br />

zu bewegen, ganz unbewusst. Diese Reaktion auf den<br />

Rhythmus ist das, was ich Körperintelligenz nenne.«<br />

sind viel rumgekommen, sie sind verbunden<br />

mit der Welt. Diese Offenheit habe ich im Wald<br />

vermisst.<br />

Mitte der 70er-Jahre sind Sie nach Stockholm<br />

gekommen, in die Großstadt. Wie haben Sie<br />

diesen Sprung erlebt?<br />

Von Degerfors ging es in die nächste Kleinstadt,<br />

nach Karlstadt, die kam mir schon wie New<br />

York vor. 1975 dann Stockholm. Fantastisch! Jeden<br />

Abend konnte ich Musik hören! Ich habe<br />

viel gespielt, aber nichts verdient. Ich weiß es<br />

noch genau: Im Januar 1976 habe ich genau 34<br />

Kronen verdient, das wären heute nicht einmal<br />

fünf Euro. Ich wohnte in einer WG und konnte<br />

die Miete nicht zahlen. Die Wende kam, als<br />

mich der Pop-Sänger Björn Skifs als Posaunist<br />

in seine Band aufnahm. (singt den Refrain des<br />

Songs „Hooked On A Feeling“) Aber ich wollte<br />

keinen Pop machen. Ich wollte Jazz-Musiker<br />

werden, auf französische Art die Welt erobern:<br />

mit Barett-Mütze, Zigaretten und schwarzem<br />

Kaffee. Jedoch habe ich in der Popband viel gelernt:<br />

wie man auf einer Bühne steht, wie man<br />

Musik kommuniziert. Es war eine gute Zeit,<br />

und ich wurde ein richtiger Hippie.<br />

Freie Liebe inklusive?<br />

Nein, davon habe ich nicht viel mitbekommen.<br />

Es boten sich durchaus Möglichkeiten, wenn wir<br />

auf Tour gingen, allerdings stand ich auf der Liste<br />

ganz unten. Erst kommt der Sänger, dann der<br />

Gitarrist, dann der Drummer und irgendwann<br />

nach den Roadies kommt der Posaunist. (lacht)<br />

In dieser Zeit haben Sie auch ABBA kennengelernt<br />

und später auf ihrem Album „Voulez<br />

Vous“ Posaune gespielt. Was lernt man von<br />

denen?<br />

Es war eine kleine Szene, und weil sie Bläser<br />

brauchten, haben sie halt mich gefragt. Von AB-<br />

BA habe ich gelernt, dass es überall Melodien<br />

gibt. Es geht um Melodien und Geschichten, die<br />

direkt ins Herz treffen. Benny Andersson hat<br />

zusammen mit Björn Ulvaeus etwas ganz Besonderes<br />

geschaffen, und sie haben sich dafür<br />

von Musik jeder Spielart beeinflussen lassen.<br />

Ohne Tschaikowskys Klavierkonzerte kein AB-<br />

BA! Es ist interessant, dass auch der derzeit erfolgreichste<br />

schwedische Pop-Komponist von<br />

komplett anderer Musik beeinflusst wurde: Max<br />

Martin ist eigentlich Metal-Musiker, erst dann<br />

lernte er, schlichte Pop-Songs zu schreiben.<br />

Er hat als Songwriter und Produzent mehr als<br />

20 Nummer-Eins-Hits in den USA gelandet.<br />

PULSE OF EUROPE<br />

Die 2016 in Frankfurt gegründete<br />

überparteiliche Bürgerbewegung<br />

ist eine direkte<br />

Antwort auf die vielen europafeindlichen<br />

Demonstrationen<br />

in einigen Ländern Europas<br />

sowie die Entscheidung<br />

der Briten für den Brexit. Das<br />

Movement versteht sich als<br />

pro-europäische Initiative,<br />

die sich für ein offenes und<br />

grenzenloses Europa einsetzt.<br />

Die Kundgebungen<br />

finden immer sonntags in<br />

mehr als 1<strong>00</strong> Städten in 13<br />

EU-Ländern statt. Am<br />

stärksten vertreten sind<br />

deutsche Städte.<br />

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Seine Songs klingen einfach, aber er hat sein<br />

Songwriting extrem verfeinert. Und er zieht sein<br />

Ding durch, das verbindet ihn mit ABBA: Alle<br />

mussten für ihn nach Stockholm reisen, auch<br />

die US-Stars wie Britney Spears und Pink –<br />

unglaublich!<br />

Welchen Ruf besaßen ABBA in der Jazzszene?<br />

Sie sind bei Jazzmusikern ein totales No-Go. Als<br />

ich für ABBA spielte, wollten einige erst einmal<br />

nichts mehr mit mir zu tun haben. Mir war es<br />

aber wurscht, dass das als uncool galt. Als Studiomusiker<br />

nahm man die Jobs, die man kriegen<br />

konnte. Zudem wollte ich lernen, wie man<br />

so eine Musik spielt. Benny Andersson kann<br />

keine Noten lesen, er ist Autodidakt. Jemand<br />

musste die Noten für ihn aufschreiben. Was die<br />

Musik anging, war er eisenhart, er wusste ganz<br />

genau, was er wollte.<br />

Sind Sie ein ähnlich strenger Bandchef?<br />

Ich lasse meiner Band mehr Freiraum, ich nenne<br />

es Freiheit mit Verantwortung. Wir haben<br />

ein gemeinsames Ziel, aber den Weg dahin darf<br />

jeder gestalten, wie er will. Die Musik der Funk<br />

Unit ist intuitiv, körperlich.<br />

Ist Funk zu spielen harte Arbeit?<br />

Ja. Funk ist eine sehr physische Musik, dafür<br />

braucht man diese intuitive Intelligenz, die Körperintelligenz,<br />

von der ich eben schon sprach.<br />

Es ist hart, auf einer Tour wochenlang jeden<br />

Abend eine Art Marathon zu laufen. Aber wir<br />

bleiben nach all den Jahren noch immer dran –<br />

deswegen sind wir „Unbreakable“, so heißt ja<br />

auch unsere neue Platte. Ich bin nun fast Frührentner,<br />

aber die Musik hält jung. Pete Townshend<br />

hat 1965 im Song „My Generation“ diesen<br />

berühmten Vers geschrieben, „I hope I die before<br />

I get old“. Da habe ich schon früher nicht zugestimmt.<br />

Ich werde spielen, solange ich stehen<br />

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NILS LANDGREN<br />

»Am 1. Mai gingen alle Arbeiter demonstrieren, und wer marschierte<br />

voran? Natürlich die Blaskapelle. Ich war sechs Jahre alt, und<br />

das ganze Dorf marschierte im Rhythmus meiner Trommel.«<br />

kann. Und wenn ich nicht mehr stehen kann,<br />

dann sitze ich halt. Und wenn ich nicht mehr<br />

sitzen kann, dann liege ich.<br />

Zurück in Ihre jungen Jahre, waren die 70er<br />

eine unbeschwerte Zeit?<br />

Es war eine freigeistige Zeit. 1978, als ich meine<br />

Frau bei einer Show kennenlernte, haben wir jede<br />

Nacht bis frühmorgens gefeiert. Ich war damals<br />

längst Profimusiker, habe tagsüber im Studio<br />

gespielt und abends im Theater, und dann<br />

gab es noch eine Late Night Show. Ich musste<br />

beruflich Verantwortung übernehmen, daher<br />

habe ich sehr viel gearbeitet.<br />

Sie sind mit Ihrer Band ständig in Europa<br />

unterwegs. Wie hat sich der Kontinent im<br />

Vergleich zu den 70er-Jahren verändert?<br />

Die politische Lage hat sich dramatisch verändert.<br />

Alle Kulturtreibenden haben die Aufgabe,<br />

gegen die neuen Rechten zu kämpfen, denn<br />

diese Leute betrachten Kultur als etwas Volksfeindliches.<br />

Was Unsinn ist, denn alles um uns<br />

herum ist Kultur. Nicht nur Musikclubs und<br />

Theater, sondern auch Krankenhäuser oder die<br />

Altersversorgung. Ich mache keine explizit politische<br />

Musik, aber ich beobachte, was um mich<br />

herum passiert. Ich möchte Positivität vermitteln.<br />

Musik kann auch politisch sein, ohne politische<br />

Texte zu haben.<br />

Aber muss man heute nicht mehr tun, als<br />

Positivität zu vermitteln? Muss man bei der<br />

Verteidigung der Demokratie nicht radikaler<br />

vorgehen?<br />

Jeder muss für sich entscheiden, ob er auf seine<br />

Art und Weise radikal sein möchte. Mein Ansatz<br />

ist, meine Idee einer offenen Gesellschaft<br />

über die Musik zu kommunizieren. Wenn wir<br />

zeigen, dass wir offen sind, geben wir den Leuten<br />

die Möglichkeit, sich selbst zu öffnen. Man<br />

sollte das tun, was man am besten kann. Daher<br />

mache ich Musik.<br />

Gestern Nachmittag haben Sie für die Bewegung<br />

„Puls of Europe“ ein Treppenkonzert gegeben.<br />

Das ist eine Gegenbewegung zu Pegida, man<br />

trifft sich jeden Sonntag auf dem Gendarmenmarkt<br />

in Berlin, um für ein friedliches Europa<br />

ohne Grenzen einzustehen. Es war ein tolles Gefühl:<br />

Ich stand auf einer Treppe, und vor<br />

mir haben sich 7<strong>00</strong>0 Menschen versammelt,<br />

die für mehr Offenheit demonstrieren.<br />

Die meisten Flüchtlinge wollten 2015 entweder<br />

nach Schweden oder nach Deutschland.<br />

Hat das nur mit dem Wohlfahrtsstaat zu tun,<br />

oder gibt es noch andere Gründe?<br />

Sicherlich haben sie mitbekommen, dass sie in<br />

diesen Ländern etwas mehr willkommen sind.<br />

Diese Menschen haben geschaut, wo es ein<br />

System gibt, das sie als Geflüchtete akzeptieren<br />

könnte. Deutschland und Schweden haben offene<br />

Gesellschaften, da bieten sich die größten<br />

Chancen. Vielleicht muss man es aber auch negativ<br />

formulieren: Für die Flüchtlinge ist es andernorts<br />

schon so schlimm geworden, dass andere<br />

Länder gar nicht erst infrage kommen.<br />

„UNBREAKABLE“<br />

Zum 25-jährigen Jubiläum<br />

ihrer ersten Konzerte erscheint<br />

mit „Unbreakable“<br />

(ACT/edel) am 30. Juni ein<br />

neues Album der Nils <strong>Landgren</strong><br />

Funk Unit. Es bietet gekonnten<br />

Old-School-Funk<br />

und Soul, aufgenommen von<br />

einem locker groovenden<br />

Sextett. Neben dem Posaunisten<br />

und Sänger <strong>Landgren</strong><br />

von Anfang an dabei: Bassist<br />

und Sänger Magnum Coltrane<br />

Price. Beide schrieben<br />

Songs für das Album, auf<br />

dem auch Kompositionen<br />

von Allen Toussaint und Herbie<br />

Hancock zu hören sind.<br />

Trompeter Randy Brecker<br />

und Gitarrist Ray Parker jr.,<br />

Komponist des Ghostbusters-Titelsongs,<br />

absolvieren<br />

Gastauftritte.<br />

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»Die 60er-Jahre waren<br />

einfach eine gute Zeit:<br />

Die Zukunft gehörte<br />

uns. Es gab nur wenige<br />

Wolken am Himmel,<br />

aber ich wusste, wenn<br />

ich hier bleibe, dann<br />

sterbe ich. Ich hätte<br />

mich tot gesoffen.«<br />

ZUR PERSON<br />

Nils <strong>Landgren</strong> (geboren am<br />

15. Februar 1956 im schwedischen<br />

Degerfors) studierte<br />

klassische Posaune und<br />

strebte eine Jazz-Karriere an,<br />

begann seine Laufbahn dann<br />

jedoch als Bandmitglied des<br />

Popstars Björn Skifs. 1992<br />

gründete er die Nils <strong>Landgren</strong><br />

Funk Unit. Zwei Jahre später<br />

heuerte ihn Siggi Loch für<br />

sein junges Label ACT an, für<br />

das <strong>Landgren</strong> bis <strong>2017</strong> fast<br />

eine Million Platten verkaufte<br />

– im Jazzbereich eine<br />

enorme Zahl. Überdies produzierte<br />

<strong>Landgren</strong> Alben von<br />

Freunden wie Viktoria<br />

Tolstoy und Esbjörn Svensson.<br />

Mehrfach war der<br />

Schwede Leiter des JazzFest<br />

Berlin und Leader der NDR Big<br />

Band. Seit 2012 ist er künstlerischer<br />

Leiter des Festivals<br />

JazzBaltica in Schleswig-<br />

Holstein. Ab Mitte Juni geht er<br />

mit seiner Funk Unit wieder<br />

auf Tour. Alle Termine und<br />

weitere Informationen sind<br />

unter www.kj.de zu finden.<br />

Das schwedische Bildungssystem wird als<br />

vorbildlich betrachtet. Gilt das auch für die<br />

kulturelle Bildung?<br />

Das schwedische System ist nicht mehr das, was<br />

es einmal war. Aber es gibt schon noch immer<br />

ein gutes Schulwesen mit Sportgymnasien und<br />

Kulturschulen, in denen Tanz und Theater gefördert<br />

werden. Auch die Hochschulen sind gut<br />

ausgestattet. Ich bin nicht sicher, ob das besser<br />

ist als in Deutschland. Auch bei Ihnen wird die<br />

Kultur sehr gut gefördert. Was Integration und<br />

die Gleichberechtigung der Geschlechter angeht,<br />

ist Schweden allerdings weiterhin sehr weit.<br />

Was macht für Sie Deutsch-Sein, was macht<br />

Schwedisch-Sein aus?<br />

Ich habe fünf Jahre in Deutschland gelebt und<br />

noch länger hier gearbeitet. Mein Label und<br />

meine Agentur sind deutsch, ich bin in Hamburg<br />

Professor an der Hochschule und leite ein<br />

deutsches Jazzfestival. In Deutschland habe<br />

ich ein zweites Zuhause gefunden. (überlegt)<br />

Die Menschen hier sind neugieriger als in<br />

Schweden, besonders im Kulturbereich. Die<br />

Deutschen sind große Kulturkonsumenten, jede<br />

Stadt hat ein eigenes Orchester. Es gibt Grenzen<br />

zwischen Pop, Klassik und Jazz, aber gerade in<br />

den letzten Jahren habe ich eine größere Offenheit<br />

gegenüber anderen Musikformen erlebt.<br />

Das ist jetzt gar nicht negativ gemeint, aber:<br />

Die Deutschen sind ein bisschen, wie soll ich<br />

sagen, viereckiger als die Schweden.<br />

Was bedeutet das, viereckig zu sein?<br />

In Schweden laufen alle bei Rot über die Ampel,<br />

in Deutschland bleibt man selbst mitten in der<br />

Nacht pflichtbewusst stehen. Das muss nichts<br />

Gutes oder Schlechtes sein. Es geht erst einmal<br />

um Respekt. Aber die Deutschen sind anarchischer,<br />

als sie denken, jedoch auf ganz andere Art<br />

und Weise als die Schweden. Die Deutschen gehen<br />

auf die Straße, wenn es darum geht, eine<br />

politische Haltung zu zeigen. Es gibt diese Viereckigkeit,<br />

aber gleichzeitig die Bereitschaft, diese<br />

zu durchbrechen. Meine Erfahrungen sind<br />

beinahe ausschließlich positiv. Ich als alter<br />

Schwede hätte die Dinge, die ich hier erlebt<br />

habe, nie für möglich gehalten.<br />

Gab es einen Moment, in dem Sie als Musiker<br />

Haltung zeigen mussten?<br />

Einmal waren wir mit der Funk Unit in einem<br />

Club in Prag. Wir waren mit einer sehr gut aussehenden<br />

Sängerin unterwegs. In jeder Stadt gab<br />

es Leute, die sich sofort in sie verknallt haben.<br />

Mitten im Konzert in Prag sprangen plötzlich<br />

drei Männer auf die Bühne, grabschten und<br />

versuchten, sie zu küssen. Da haben wir den Gig<br />

sofort abgebrochen. Der Clubbetreiber hat überhaupt<br />

nichts kapiert und bestand darauf, dass<br />

wir weitermachen: „So sind Männer eben.“<br />

Unsere Antwort: „Verpiss dich.“ Unsere Gage<br />

konnten wir natürlich vergessen.<br />

Sind Sie schon einmal vom Publikum ausgebuht<br />

worden?<br />

Nein, noch nicht. Aber in meinem ersten Jahr<br />

als Festivalleiter der JazzBaltica habe ich eine<br />

unschöne Erfahrung gemacht. Wir hatten Herbie<br />

Hancock gebucht, und der Umbau dauerte<br />

extrem lange. Draußen standen 15<strong>00</strong> Leute im<br />

Regen und warteten. Ich bin rausgegangen, und<br />

habe die Leute vertröstet. Aber es dauerte immer<br />

länger, und irgendwann wurde das Publikum<br />

richtig unangenehm, buhte, wollte sein<br />

Geld zurück. Da bin ich mit meiner Posaune<br />

raus und habe ein Lied gespielt. Das hat alle beruhigt.<br />

Da hat sich meine Theorie über die Positivität<br />

einmal mehr als richtig erwiesen: Mit<br />

Musik können Sie eine schlechte in eine gute<br />

Stimmung verwandeln.<br />

Hätten Schweden auch gebuht?<br />

Vielleicht nicht. Aber ist das besser? Manchmal<br />

ist es gut, nicht alles zu akzeptieren. :::<br />

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