Sampler / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 68 (3/2017)
dérive 68 ist ein Sampler, hat also keinen Schwerpunkt, sondern bietet eine Reihe unterschiedlicher urbaner Themen. Diese reichen von der Wohnraumversorgung und der aktuellen Situation am Wohnungsmarkt in Wien (Autor: Justin Kadi) und in Berlin (Andrej Holm) über die antiurbanistische Main-Street-Nostalgie in den USA des Donald Trump (Frank Eckardt), den immer beliebteren, aber nichts desto trotz falschen Vergleich von Städten mit Computern (Shannon Mattern), Wagenplätzen und informellen Siedlungen in Berlin (Niko Rollmann) bis zu – es ist Sommer! – einer kleinen Geschichte des Badens in der Donau bei Wien (Rafael Kopper). Darüberhinaus gibt es ein Interview mit dem Architekturkollektiv Assemble, ein Kunstinsert von Aldo Giannotti und nach einem Jahr Pause wieder eine neue Folge der Geschichte der Urbanität von Manfred Russo. https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-68
dérive 68 ist ein Sampler, hat also keinen Schwerpunkt, sondern bietet eine Reihe unterschiedlicher urbaner Themen. Diese reichen von der Wohnraumversorgung und der aktuellen Situation am Wohnungsmarkt in Wien (Autor: Justin Kadi) und in Berlin (Andrej Holm) über die antiurbanistische Main-Street-Nostalgie in den USA des Donald Trump (Frank Eckardt), den immer beliebteren, aber nichts desto trotz falschen Vergleich von Städten mit Computern (Shannon Mattern), Wagenplätzen und informellen Siedlungen in Berlin (Niko Rollmann) bis zu – es ist Sommer! – einer kleinen Geschichte des Badens in der Donau bei Wien (Rafael Kopper). Darüberhinaus gibt es ein Interview mit dem Architekturkollektiv Assemble, ein Kunstinsert von Aldo Giannotti und nach einem Jahr Pause wieder eine neue Folge der Geschichte der Urbanität von Manfred Russo. https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/heft-68
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Juli — Sept 2017
N o 68
Zeitschrift für Stadtforschung
dérive
dérive
ISSN 1608-8131
8 euro
Sampler
MARSEILLE
Sampler
Guy Debord
Wohnen Berlin/Wien, Interview Assemble,
Kunsthaus Graz
Kleinstadtnostalgie/USA, Wagenplätze/Favelas,
STREETART
Stadt/Computer, Baden/Donau,
CIT Collective & Gaswerk Leopoldau
Produktion/Raum
Krems/Lerchenfeld
SECRETS & CRISES
Marlene Hausegger
Foucault/HETEROTOPIE
dérive
Editorial
In unserer 17-jährigen Tätigkeit sind wir – höchst unverdienterweise
– nicht gerade mit Preisen überhäuft worden,
was möglicherweise auch daran liegt, dass wir uns nie um Auszeichnungen
beworben haben. Heute dürfen wir uns aber
endlich selbst gratulieren: Wir haben nämlich einen Preis
gewonnen und zwar für das urbanize!-Festival. Für diesen
haben wir uns freilich auch nicht beworben, ihn aber trotzdem
bekommen – nämlich den Kleinen Staatspreis für … nein
falsch: den Förderungspreis der Stadt Wien für Architektur. Dieser
Architekturpreis ging bisher ausschließlich an echte
ArchitektInnen, aber wir fragen lieber nicht nach, sondern freuen
uns über den Einzug eines erweiterten Architekturbegriffs,
stellen schon mal den Champagner kalt und fühlen uns ein klein
wenig wie das Architekturkollektiv Assemble, das 2015 den
wichtigsten britischen Kunstpreis – den Turner-Preis – gewonnen
hat und deren Werk gerade in einer Ausstellung im
Architekturzentrum Wien zu sehen ist. Wir haben die Gelegenheit
genutzt und mit Maria Lisogorskaya und Lewis Jones von
Assemble ein Gespräch über ihre Arbeiten, Herangehensweisen
und Ideen geführt, das ab S. 18 dieser Ausgabe zu lesen ist.
Damit wären wir nach dieser höchst eleganten Überleitung
bei der vorliegenden Ausgabe gelandet: Sie ist ein
Sampler, hat also keinen Schwerpunkt, sondern bietet eine
Reihe unterschiedlicher urbaner Themen. Diese reichen –
abgesehen vom Assemble-Interview – von der Wohnraumversorgung
und der aktuellen Situation am Wohnungsmarkt
in Wien und in Berlin über die antiurbanistische Main-Street-
Nostalgie in den USA des Donald Trump, den immer
beliebteren, aber nichts desto trotz falschen Vergleich von
Städten mit Computern, Wagenplätze und informelle Siedlungen
in Berlin bis zu – es ist Sommer! – einer kleinen
Geschichte des Badens in der Donau bei Wien.
Sowohl die Wiener als auch die Berliner Bevölkerung
ist in den letzten Jahren massiv gewachsen, die Nachfrage nach
Wohnraum parallel dazu stark gestiegen. Andrej Holm für
Berlin und Justin Kadi für Wien kommentieren die aktuelle
Lage in den boomenden Hauptstädten. Holm sieht in Berlin
einen »Mix aus demographischen Veränderungen, veränderten
Investitionsstrategien und einem Kahlschlag der sozialen
Wohnungspolitik« dafür verantwortlich, dass es »nicht nur
zu drastischen Mietsteigerungen« gekommen ist, »sondern
zu einer tatsächlichen Wohnungsnotlage mit einem Mangel an
allem, was die Wohnungsversorgung einer Stadt braucht.«
Für Wien diagnostiziert Justin Kadi eine steigende Wohnkostenbelastung
und eine zunehmende Verdrängung in
periphere Lagen. Eine der Ursachen sieht er in der Deregulierung
des Mietrechts im Jahr 1994, die sich aktuell besonders
stark auswirkt.
Eine der Folgen der Wohnungsnot sind informelle
Siedlungen. Niko Rollmann portraitiert die diesbezügliche
Situation in Berlin. Diese ist einerseits von etablierten
Orten – überwiegend Wagenplätzen – gekennzeichnet, die
von den Behörden meist geduldet werden, und andererseits von
wilden Lagern bzw. so genannten Spots, bei denen kein
alternativer Lebensentwurf, sondern die nackte Not Grund für
die informellen Wohnverhältnisse sind.
Frank Eckardt hat sich den US-amerikanischen Mythos
der Main Street speziell unter den neuen politischen Verhältnissen
angesehen. Trumps WählerInnen sind überproportional
oft außerhalb der Großstädte zu finden und lassen sich von
ihrem Hero gerne erzählen, wie schrecklich kriminell und chaotisch
es in den Inner Cities zugeht. Mit verklärtem Blick
sehnen sie sich ins Zeitalter der kleinstädtischen Main Street
zurück, in dem angeblich noch alles gut war. Währenddessen
blicken Konzerne wie Alphabet (formerly known as Google)
nicht in die Vergangenheit, sondern in eine gewinnträchtige
Zukunft, wenn sie nach Lösungen für die von ihnen diagnostizierten
städtischen Probleme suchen. Wobei sie eigentlich
gar nicht suchen, denn sie meinen zu wissen, dass mit ausreichend
Daten die Verkehrsproblematik ebenso zu bewältigen
wie eine effiziente Verwaltung zu garantieren und obendrauf
noch das Gesundheits- und Wohnungswesen auf Vordermann
zu bringen sei. Shannon Mattern weist in ihrem Beitrag für
diese Ausgabe nachdrücklich darauf hin, dass es ein Irrweg ist,
die Stadt wie einen Computer zu denken, und zu meinen,
mit automatisierter Informationsverarbeitung der urbanen
Komplexität gerecht werden zu können.
Passend zur aktuellen Hitzewelle mit über 30°C
erzählt Rafael Kopper in seinem Beitrag die Geschichte des
öffentlichen Badens in der Donau bei Wien und zeigt wie
sie vom »mitunter gefährlichen Nutzgewässer zum beliebten
Freizeitziel« wurde. Er schreibt über frühe Aneignungsprozesse
der Bevölkerung, den entsprechenden Reaktionen
der Politik und der Institutionalisierung der Bedürfnisse
der WienerInnen.
Quasi auf Auszeit hat sich auch Manfred Russo befunden,
der nach einem guten Jahr Pause mit einer neuen Folge
der Geschichte der Urbanität zurückkehrt und sich zum dritten
Mal Henri Lefebvres Theorien zur Produktion des Raumes
widmet. Das Kunstinsert stammt vom in Wien lebenden Künstler
Aldo Giannotti, dessen wunderbare Zeichnung für dérive
sich um das Thema Demolition dreht.
Und dann steht auch noch das bereits 8. urbanize!
Festival vor der Tür: DEMOCRACitY – Demokratie und Stadt
begibt sich von 6.10.–15.10.2017 auf Erkundungsreise durch
Theorie und Praxis einer umfassenden (Re-)Demokratisierung
der urbanen Gesellschaft: Vom Versuch Stadt gemeinsam zu
entwickeln und den von Barcelona ausgehenden Impulsen eines
neuen Munizipalismus, über die Verteilung von Rechten und
Möglichkeiten mittels Urban Citizenship- und Spatial Justice-
Ansätzen, bis zu Chancen und Gefahren für die demokratische
Aushandlung durch die Digitalisierung. Wie immer als volle
10-Tages-Packung mit Vorträgen, Diskussionen, Filmen, Stadtspaziergängen,
Workshops und Interventionen. Da hilft nur
Kalender zücken und Zeit frei schaufeln: Programm-Details
gibt es ab Mitte August 2017 auf www.urbanize.at.
Einen schönen Sommer wünschen
Elke Rauth und Christoph Laimer
01
»Es ist wichtig,
in unseren Städten
Raum für vielfältige Methoden
der Wissensproduktion zu schaffen.«
Shannon Mattern, A City Is Not a Computer, dérive 68, S. 44
ANGEBOT: ABONNEMENT + BUCH*
8 Ausgaben (2 Jahre) dérive um 48,–/68,– Euro (Österr./Europa)
inkl. ein Exemplar von:
Sarah Kumnig, Marit Rosol, Andrea*s Exner (Hg.)
Umkämpftes Grün
Zwischen neoliberaler Stadtentwicklung
und Stadtgestaltung von unten
Bielefeld: transcript, 2017
268 Seiten, ca. 30 Euro
Urbane Gärten sind aus vielen Städten nicht mehr wegzudenken.
Gemeinschaftlicher Gemüseanbau wird dabei oft
als rebellischer Akt der Stadtgestaltung von unten verstanden.
Gleichzeitig taucht »urban gardening« immer häufiger
in Stadtentwicklungsplänen und Werbebroschüren auf. Die
AutorInnen des Bandes liefern eine kritische Analyse
grüner urbaner Aktivitäten und ihrer umkämpften und
widersprüchlichen Rolle in aktuellen Prozessen der Neoliberalisierung
des Städtischen.
*Solange der Vorrat reicht!
Bestellungen an: bestellung@derive.at
dérive
Zeitschrift für Stadtforschung
www.derive.at
www.facebook.com/derivemagazin
Inhalt
01
Editorial
CHRISTOPH LAIMER, ELKE RAUTH
04 — 08
TRUMP on Main Street
FRANK ECKARDT
09 — 13
Wie das MIETRECHT die MIETEN
treibt und was die POLITIK unternimmt
Ein Kommentar zur Lage
am Wiener Wohnungsmarkt
JUSTIN KADI
14 — 17
Mehr LICHT als SCHATTEN
Berliner Wohnungspolitik in Rot-Rot-Grün
ANDREJ HOLM
18 — 22
LERNEN und VERSTEHEN
Das Londoner Architekturkollektiv
Assemble im Gespräch
ANDRE KRAMMER, CHRISTOPH LAIMER
23 — 27
Wagenburgen, Hüttendörfer und SPOTS
Informelle Siedlungen in Berlin
NIKO ROLLMANN
28 — 31
WIEN im WASSER
Kleine Geschichte vom Baden in der Donau
RAFAEL KOPPER
32 — 36
Kunstinsert
Aldo Giannotti
demolition
37 — 45
A CITY is NOT a COMPUTER
SHANNON MATTERN
SERIE
46 — 50
Geschichte der Urbanität, Teil 52
Henri Lefebvre, Teil 8. Die Produktion des Raumes 3
Raum und Körper, Energetik und Spiegelung
MANFRED RUSSO
51 — 60
BESPRECHUNGEN
Der Schwedenplatz und die Raumbildung
gesellschaftlicher Verhältnisse S.51
Die schulische Vermittlung
kritischen (Raum-)Denkens S.52
Das gute Leben wagen S.53
»Nein zur Verführung des Publikums« S.54
Urbane Gärten als Schule
demokratischer Konfliktkultur S.55
Menschenwerkstatt S.56
Probierpferd und Sodabrunnen S.58
Ganz Wien S.59
Journal der Bilder und Einbildungen S.60
68
IMPRESSUM
–
dérive – Radio für Stadtforschung
Jeden 1. Dienstag im Monat von
17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0
oder als Webstream http://o94.at/live.
Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235
03
Frank Eckardt
TRUMP
on Main Street
Kleinstadt, USA, Armut,
Antiurbanismus, Deindustrialisierung,
Idylle, Suburbanisierung, Trump
Ouray/Colorado, 2013
Foto: Alex Berger
Die neue amerikanische Regierung hat vor allem Unterstützung außerhalb
der Großstädte gefunden. Städte sind im Weltbild von Trump und seinen
AnhängerInnen ein Ort von Problemen, Chaos und Gewalt. In konservativen
Kreisen wird dagegen der amerikanische Mythos von der Main Street
wieder belebt. Das wird die Bewohnerinnen und Bewohner der Großstädte
weiter benachteiligen. Doch auch den KleinstädterInnen wird der Mythos
nicht helfen.
04
dérive N o 68 — Sampler
Justin Kadi
Wie das
MIETRECHT
die MIETEN
treibt und was die
POLITIK unternimmt
Wohnkosten, Miete, Mietrecht, Gemeinnützigkeit,
Immobilienmarkt, Wien
Ein Kommentar zur Lage am Wiener Wohnungsmarkt
Die Mieten in Wien steigen seit einigen Jahren rasant. Für Menschen
mit niedrigen Einkommen – und zunehmend auch für DurchschnittsverdienerInnen
– wird es immer schwieriger, leistbaren
Wohnraum in der Stadt zu finden. Steigende Wohnkostenbelastung,
Verdrängung in periphere Lagen bis hin zu Obdachlosigkeit
sind die Folgen. Die Deregulierung des Mietrechts im Jahr 1994
wirkt sich jetzt – in den Zeiten des Betongolds – auf die Höhe der
Mieten besonders stark aus, ebenso wie die fehlenden Sanktionen
bei mietrechtlichen Vergehen. Eine Reform des Mietrechts wird
auf Bundesebene seit Jahren ergebnislos diskutiert, gleichzeitig
droht der Wohnungsgemeinnützigkeit eine Aushöhlung.
Der im Roten Wien erbaute
Lassalle-Hof in Wien Leopoldstadt.
Foto: dérive.
Justin Kadi — Wie das MIETRECHT die MIETEN treibt und was die POLITIK unternimmt
09
Andrej Holm
Mehr LICHT
als SCHATTEN
Berliner Wohnungspolitik in Rot-Rot-Grün
Berlin hat sich in den vergangenen zehn Jahren zur Hauptstadt der Wohnungskrise
entwickelt. Der Mix aus demographischen Veränderungen, veränderten
Investitionsstrategien und einem Kahlschlag der sozialen Wohnungspolitik
hat nicht nur zu drastischen Mietsteigerungen geführt, sondern
zu einer tatsächlichen Wohnungsnotlage mit einem Mangel an allem,
was die Wohnungsversorgung einer Stadt braucht. Viele Berliner Initiativen
kämpfen seit Jahren gegen diese Zustände, zahlreiche ihrer Vorschläge
und Ideen haben nun Eingang in die Politik der aktuellen Berliner Koalitionsregierung
gefunden.
Die Wohnversorgung in Berlin hat sich von dem enormen Wohnungsüberhang
Ende der 1990er Jahre (mit 108 Wohnungen
je 100 Haushalte) in eine Mangelsituation verwandelt (95 Wohnungen
je 100 Haushalte). Insgesamt fehlen schon jetzt mehr
als 100.000 Wohnungen, um alle Haushalte zu versorgen. Noch
größer ist das Defizit an leistbaren Wohnungen. Ausgehend
von einer maximalen Mietbelastung von 30 Prozent des verfügbaren
Haushaltsnettoeinkommens fehlen schon jetzt 150.000
Wohnungen zu leistbaren Preisen für MieterInnen mit geringen
Einkommen Durch das beschleunigte Auslaufen von Bindungen
aus früheren Förderprogrammen fehlt es vor allem an
mietpreis- und belegungsgebundenen Wohnungen. 1 Angesichts
der wachsenden Konkurrenz bei der Vermietung von Wohnungen
greifen vielschichtige Diskriminierungsmechanismen
bei der Wohnungsvergabe, sodass es eine wachsende Zahl an
Gruppen gibt, die ohne Belegungsrechte 2 nahezu vollständig
vom System der Wohnungsversorgung ausgeschlossen sind.
Berlin braucht also dringend mehr Wohnungen, mehr leistbare
Wohnungen und mehr Belegungsbindungen.
Der kürzlich veröffentlichte Mietspiegel für Berlin weist
erstmals eine durchschnittliche Bestandsmiete von über 6 Euro/m 2
aus. Die Angebotsmieten – die fällig werden, wenn ein neuer
Mietvertrag unterzeichnet wird, liegen im Durchschnitt bei fast
10 Euro/m 2 . Die Wohnungssuche wir dadurch immer
schwieriger, denn fast jeder Umzug (selbst in deutlich kleinere
Wohnungen) ist mit einer höheren finanziellen Belastung
verbunden. Die MieterInnen Berlins reagieren auf diese Entwicklung
mit einem kollektiven Umzugsstreik. Die Zahl
der Binnenumzüge hat sich zwischen 2007 (350.000 Umzüge
innerhalb Berlins) und 2015 (275.000 Umzüge) trotz steigen
der Bevölkerungszahlen deutlich verringert. Die zunehmende
Spreizung zwischen Bestands- und Angebotsmieten stellt sich
für die MieterInnen als Mobilitätsbremse und Zugangsbarriere
dar. Aus der Sicht der VermieterInnen wiederum tut sich durch
das Gefälle zwischen Bestands- und Neuvermietungsmiete
eine wachsende Ertragslücke zwischen momentan realisierten
und potenziell möglichen Mieterträgen auf. Selbst ohne zusätzliche
Investitionen in die Wohnungen können in vielen
1
Im Februar 2003 beschloss
der Berliner Senat »aufgrund
der dramatischen
Haushaltslage Berlins […]
den Ausstieg aus der
Anschlussförderung« von
Wohnbauprogrammen (www.
stadtentwicklung.berlin.de/
wohnen/anschlussfoerderung/).
Die 15jährige
Anschlussförderung folgte
auf die 15jährige Grundförderung.
Viele Wohnungen aus
Wohnbauprogrammen sind auch
durch vorzeitige Rückzahlung
der Landesdarlehen
früher als ursprünglich
gedacht aus der Bindung
gefallen.
2
Mieter und Mieterinnen
müssen ihren Anspruch auf
eine mit öffentlichen
Mitteln geförderte Wohnung
durch einen Wohnberechtigungsschein
nachweisen
können. Die Voraussetzungen
für den Erhalt beinhalten
sowohl Einkommensgrenzen
als auch eine Aufenthaltserlaubnis
von mindestens
einem Jahr.
14
dérive N o 68 — Sampler
Interview: Andre Krammer, Christoph Laimer
LERNEN und
VERSTEHEN
Das Londoner Architekturkollektiv Assemble im Gespräch
Eine Tankstelle, die ihren Betrieb eingestellt hatte, und die Idee daraus ein
Kino zu machen, waren 2010 der Startpunkt für eine Gruppe von FreundInnen
und Bekannten, die heute unter dem Namen Assemble bekannt sind,
ein Architekturbüro zu gründen. Das Projekt hieß Cineroleum und fungierte
für ganze sechs Wochen als Kino. Trotz der kurzen Dauer und des ephemeren
Charakters ist Cineroleum bis heute ein prägendes Ereignis für die
Mitglieder von Assemble geblieben, auf das sie immer wieder referieren.
Assemble arbeitet nach dem Learning by doing-Prinzip. Die Lösung der
Aufgabe wird in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Projekt – in
Recherchen, Gesprächen und Experimenten – erarbeitet. Auf die Frage nach
historischen Referenzen, nach Vorbildern und theoretischen Einflüssen antworten
Assemble zurückhaltend, eher nebenbei wird erwähnt, dass es doch
auch so etwas wie gesellschaftspolitische Prinzipien gibt, die ihrer Arbeit
zugrunde liegen. Assembles Praxis ist auch insofern interessant, als dass das
Kollektiv selbst ein organisatorisches Experiment ist. Alle Mitglieder des
Teams, die großteils von Anbeginn dabei sind, sind gleichberechtigte Partner-
Innen. Es gibt keine Hierarchien und keine fixen Aufgabenbereiche.
Eines ihrer interessantesten und beispielgebenden Projekte ist Granby
Four Streets, für das sie 2015 mit dem britischen Turner-Preis ausgezeichnet
wurden, was ihren Bekanntheitsgrad schlagartig erhöhte. Granby Street
war einst eine große ArbeiterInnensiedlung in Liverpool, die über die Jahrzehnte
hinweg weitgehend zerstört wurde. Nur vier Straßenzüge sind
übrig geblieben, für deren Erhalt die BewohnerInnen über zwei Jahrzehnte
lang gekämpft haben. 2011 konnte die Siedlung in einen Community
Land Trust (CLT) 1 eingebracht werden. Gemeinsam mit den BewohnerInnen
entwickelte Assemble ein Sanierungskonzept.
Derzeit läuft im Architekturzentrum Wien eine sehenswerte Ausstellung
über die Arbeit von Assemble. Andre Krammer und Christoph Laimer
haben die Gelegenheit genutzt und Maria Lisogorskaya und Lewis Jones von
Assemble am Tag der Eröffnung für dérive zum Gespräch gebeten.
Learning-by-Doing, DIY, Praxis, CLT,
Organisationsmodelle, Nachhaltigkeit, Materialien
1
Ein CLT ist in der Regel
eine private, gemeinnützige
Gesellschaft, die Grundstücke
mit der Absicht
erwirbt, das Eigentum für
das Land langfristig zu
halten. Der CLT sieht eine
Nutzung des Landes durch
langfristige Mietverträge
vor. Die Pachtinhaber
können ihre Häuser besitzen,
es gelten jedoch Wiederverkaufsbeschränkungen.
Das Eigentum am Land bleibt
beim CLT, womit Spekulation
unterbunden wird. Siehe
dazu den Artikel Narratives
of Urban Resistance. The
Community Land Trust von Udi
Engelsman, Mike Rowe und
Alan Southern in dérive 65.
18
dérive N o 68 — Sampler
Niko Rollmann
Wagenburgen,
Hüttendörfer
und SPOTS
Informelle Siedlungen in Berlin
Informelle Siedlungen, Berlin, Wagenplätze, Armut,
Alternativszene, Protestcamps, Verdrängung
Free Cuvry-Siedlung
Foto: Niko Rollmann
Seit den frühen 1980er Jahren gibt es in Berlin Wagenburgen. Wohnungsnot
auf der einen und das Bedürfnis zusammen mit Gleichgesinnten
alternative Lebensentwürfe umzusetzen auf der anderen Seite waren und
sind die zentralen Gründe für ihre Gründung. Der Charakter der Wagenburgen
und das Platzangebot, das in der Stadt für sie zur Verfügung steht,
hat sich im Lauf der Jahre stark verändert. Unmittelbar nach dem Fall der
Mauer gab es viel Platz und eine entsprechend starke Szene. 2012 dominierten
die Protestcamps am Brandenburger Tor, am Oranienplatz und in der
ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule die öffentliche Aufmerksamkeit. Im
gleichen Jahr entstand am Spreeufer mitten im sogenannten MediaSpree-
Gebiet die mittlerweile geräumte Cuvry-Siedlung. Heute lassen sich grob
zwei Varianten informeller Siedlungen unterscheiden: Einerseits etablierte
Orte, die von den Behörden meist geduldet werden und wilde Lager bzw. so
genannte Spots, bei denen kein alternativer Lebensentwurf sondern die
nackte Not Grund für diese Form des Wohnens ist.
Niko Rollmann — Wagenburgen, Hüttendörfer, und SPOTS
23
Rafael Kopper
WIEN im
WASSER
Eine kleine Geschichte
vom Baden in der Donau
Obwohl die Donau bekanntlich an Wien vorbeifl ießt, statt durch Wien hindurch,
ist die Geschichte der Stadt eng mit ihrem Hauptgewässer verbunden.
Die Donau hat im Lauf der Zeit mehrere Phasen der Transformation
erlebt, die sie vom mitunter gefährlichen Nutzgewässer zum beliebten Freizeitziel
werden ließ. Die Geschichte des öffentlichen Badens erzählt
auch von frühen Aneignungsprozessen der Bevölkerung und den Reaktionen
der Politik.
Wien, Donau, Baden, Freizeit,
Sozialgeschichte, Stadtgeschichte
Chalupna-Lacke 1930, oberhalb Floridsdorfer Brücke / Hubertusdamm
(c) Wikipedia
28
dérive N o 68 — Sampler
Kunstinsert:
Aldo Giannotti
demolition
Spätestens seit Ende 2016, als er mit dem Anerkennungspreis des STRABAG Artaward International
ausgezeichnet wurde, ist Aldo Giannotti in Wien überaus präsent. Kurz davor wurde
sein Projekt Buildings on Buildings am Yppenplatz in Wien Ottakring bei Kunst im Öffentlichen
Raum Wien eröffnet. Bei Buildings on Buildings wurden in Wien an drei Orten reale Fassaden
zum Untergrund seiner performativer Zeichnung: »Sein Anliegen ist es, eine Feedbackschleife
zwischen dem Sujet der Zeichnung und dem Kontext zu erzeugen, in dem die Zeichnung eingebettet
ist«, formuliert es Giorgio Palma in seinem Text zum Projekt.
Aldo Giannotti legt in seinen Zeichnungen immer wieder soziogeographische Fragestellungen
offen, die grundlegende Bezüge in der Architektur permanent hinterfragen. Kaum ein
anderer Künstler bringt urbane und architektonische Fragestellungen mittels Zeichnung gegenwärtig
so pointiert auf den Punkt. Obwohl Giannotti seinen Lebens- und Arbeitsschwerpunkt
mittlerweile nach Wien verlegt hat, agiert er doch weitgehend international. Schon sein Studium
führte den in Genua geborenen Künstler von der Accademia di Belle Arti di Carrara (I) über
die Academy of fine arts in Wimbledon (GB) schließlich über München (Akademie der bildenden
Künste) nach Wien.
Ab 26. August ist Aldo Giannotti in Marseille bei Paréidolie, der International Contemporary
Drawing Fair vertreten. In Wien können seine Arbeiten ab 29. Juni in der Ausstellung
Counterpart #1: Aldo Giannotti & Peter Fritzenwallner im Extra Zimmer (kunstverein-extra.com)
und von 26. August bis 28. September im Projektraum Viktor Bucher als Einzelausstellung
gesehen werden. Letztere Ausstellung wird wie das Insert in dérive den Titel demolition tragen.
Es gibt damit einen ersten Vorgeschmack auf diese Ausstellung.
Auf der ersten Seite von Giannottis demolition üben sich Wreaking Balls in der Erwartung
ein Bauwerke zu demolieren, was dann auf der folgenden Doppelseite durch gezielte
Dekonstruktion (slow speed demolition) tatsächlich geschieht. Dekonstruktion versteht sich dabei
nicht im Sinne des Dekonstruktivismus der 1980er Jahre, sondern vielmehr als konzeptionelles
Verschwindens, das in The Magic und Denied Architecture fortgeführt wird. Die letzte Seite lädt
zu Do-it-Yourself ein – also bitte Schere und Klebstoff organisieren.
Barbara Holub/Paul Rajakovics
32
dérive N o 68 — Sampler
Shannon Mattern
A CITY is
NOT a COMPUTER
Das Kontrollzentrum für die Stadtbeleuchtung von Seattle, 1968.
Credit: Seattle Municipal Archives.
Daten, Information, Wissen, urbane
Intelligenz, Informationsverarbeitung, Smart City,
Archiv, Bibliothek, Internet, Google
Es scheint eine offensichtliche Tatsache, trotzdem müssen wir es laut und
deutlich aussprechen: Urbane Intelligenz ist mehr als die Verarbeitung
von Informationen.
Unternehmen im Smart-City-Business wollen uns weismachen, dass dem
Wohl und Glück unserer Städte nichts im Wege steht, gibt es nur genug auszuwertende
Daten, um die urbanen Systeme zu optimieren. Google/Alphabet
will das derzeit am Beispiel des Stadtverkehrs zeigen. Shannon Mattern
weist darauf hin, dass Google in den USA urbane Infrastrukturen aufbaut,
die das Rückgrat für die Totalübernahme des städtischen Verkehrs werden
sollen. Der vorliegende Artikel nimmt diese Recherche als Ausgangspunkt
und zeigt, dass in der Stadt immer schon Informationen gesammelt und
gespeichert wurden. Gleichzeitig ist das Ökosystem der Städte weitaus komplexer
und beruht nicht alleine auf Informationsverarbeitung. Shannon
Matterns Beitrag ist sowohl eine Anklage gegen die postpolitische Rede
von der Stadt als Computer als auch eine Aufforderung, die Stadt in all
ihrer Vielfältigkeit wahrzunehmen und Daten nicht als objektive Tatsachen
zu akzeptieren.
Shannon Mattern — A CITY is NOT a COMPUTER
37
Geschichte der URBANITÄT, Teil 52
Henri Lefebvre
Teil 8
Die PRODUKTION des
Raumes III: Raum und Körper,
Energetik und Spiegelung
Widerspiegelungstheorie, Energetik Körper,
Raumtheorie, Differenz, Georges Bataille, Friedrich Nietzsche,
apollinisch-dionysischer Kompromiss
Seria
Wir wissen, dass im Zentrum von Lefebvres Philosophie des
Raumes der Körper steht und damit die Philosophie Nietzsches
mit dem Willen zum Leib, die auf der Erkenntnis Schopenhauers
beruht, dass das Leiden den Grundzug des Lebens bildet.
Drücken wir es durch einige Nietzsche-Zitate des Zarathustra
aus, die Lefebvre zwar nicht verwendet, die aber dem Sinn und
der Tendenz seiner Gedanken zugrunde liegen dürften, wenn
es von den Hinterweltlern tönt: »Glaubt es mir Brüder! Der
Leib war’s, der an der Erde verzweifelte, – der hörte den Bauch
des Seins zu sich reden.« (Nietzsche 1980, S. 36) Der Leib
ist das Diesseitige, das Wirkliche, der aber erst verwirklicht
werden muss, denn der aktuelle Körper ist ein krankhaftes
Ding. Der gesunde Leib wird im Gegenzug zu den Vernunftvorstellungen
der Metaphysik als das noch nicht verwirklichte
Wesen des eigentlichen Menschseins gefordert. »Leib bin ich
ganz und gar, und Nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort
für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist die große Vernunft, eine
Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine
Herde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine
kleine Vernunft, mein Bruder, die du ›Geist‹ nennst, ein kleines
Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft.« (a.a.O., S. 39)
Lefebvre möchte aber diese Philosophie des Leibes noch
komplexer fassen, indem er zunächst seine Raumtheorie
darauf aufbaut und eine Synthese zwischen Naturwissenschaft
und Philosophie herstellen möchte, die eine plausible Grundlage
bieten kann, um die Unterdrückung der leiblichen Impulse
besser zu kritisieren, und die in sein materialistisch-marxistisches
Konzept integriert werden kann.
Zunächst fragt Lefebvre, ob nicht der Körper mit seiner
Kapazität zum Handeln und seinen zahlreichen Energien
Raum erschaffen kann? Es gibt seiner Meinung nach immer
schon eine unmittelbare Verbindung zwischen Raum und
Körper, einerseits der Kräfteverteilung des Körpers im Raum
und andrerseits der Besetzung des Raumes durch den Körper.
Aufgrund der naturwissenschaftlichen Arbeiten von Hermann
Weyl (1955) kann Lefebvre den Schluss ziehen, dass es Erhaltungskräfte
in der Physik gibt, die von räumlichen Energien des
Quantenfeldes gespeist werden und zur Bildung von sich selbst
erhaltenden Körpern führen. Die Bewegung dieser Körper,
die zu ihrer Existenz geführt hat und ihnen mitgegeben worden
ist, führt aber nicht nur zur Selbsterhaltung der Körper,
sondern auch zur Bildung des Raumes. Diese elementaren
Kräfte des Quantenfeldes sind älter und stärker als die Objekte
und bilden deren energetische Grundlage, ermöglichen erst die
Objektbildung und deren Haltbarkeit.
Ein weiterer Schlüsselbegriff bei Lefebvre ist die
Energie. In vager Anlehnung an Weyl versucht er eine Art von
Welttheorie zu skizzieren, der zufolge die Umsetzung des
Energieinputs mittels Symmetrie und Spiegelung als Prinzip
der Raumbildung konzipiert wird. Er versucht die materiell-physikalischen
Bedingungen mit dem Bewusstsein der Menschen
in Einklang zu bringen und völlig unterschiedliche
Wissenschaftskonzepte zu konvergieren. Die Symmetrie stellt
sich damit nicht nur als ein Begriff einer geometrischen und
räumlichen Situation dar, sondern steht im Sinne Weyls in
Zusammenhang mit einer bestimmten biophysikalischen Konstellation
des Körpers, die Voraussetzung des Zellwachstums
und damit jeden organischen Wachstums ist. Damit scheint
ein Erhaltungsprinzip, das Raum und Körper zusammenhält,
gegeben zu sein, das weit über die biochemische Anlage des
Körpers hinausgeht. Allerdings ist damit zunächst nur das
Kraftprinzip, nicht aber die Frage nach dem Sinn im Körper
46
dérive N o 68 — Sampler
Besprechungen
Der Schwedenplatz
und die Raumbildung
gesellschaftlicher
Verhältnisse
Christoph Laimer
Wien ist aus städtebaulicher Perspektive
nicht gerade für seine Plätze berühmt.
Der Karlsplatz ist bekanntlich eher eine
Gegend als ein Platz, so urteilte angeblich
zumindest Otto Wagner. Den Rathausplatz
bekommt man als solchen kaum einmal in
den Blick, weil darauf mehr oder weniger
ganzjährig irgendwelche Events stattfi n-
den. Der Reumannplatz fällt auch eher in
die Kategorie Gegend. Der Yppenplatz
hätte räumlich zwar das Potenzial zur
Piazza, ist aber mittlerweile ein einziger
Gastgarten. Der Praterstern ist eine Verkehrshölle,
was ein Drama ist, denn der
Platz hätte ungeheures Potenzial für einen
fantastischen Ort.
Ein weiteres Drama ist die mediale
Berichterstattung über die Wiener Plätze:
Sowohl der Karlsplatz und der Praterstern
als auch der Schwedenplatz werden oder
wurden teils jahrelang als gefährliche Orte
gebrandmarkt, weil sich dort Menschen
aufhalten, die den herrschenden Vorstellungen
wie man auszusehen hat, sich
zu benehmen hat, was man zu konsumieren
hat und wie man seine Freizeit zu
verbringen hat, nicht entsprechen. Die
medial erzeugten Bilder verfestigen sich
vor allem bei den Menschen, die die Plätze
gar nicht kennen oder nutzen und haben
immer wieder zu baulichen oder sicherheitspolitischen
Maßnahmen geführt, die
die Verdrängung unerwünschter Bevölkerungsgruppen
zur Folge hatten.
Der Schwedenplatz, dem die vorliegende
Publikation gewidmet ist, ist insoferne
für Wien typisch, als auch er nicht
der Vorstellung eines Platzes entspricht, hat
man einen klassischen italienischen Platz
als Vorbild vor Augen. Auch er wurde jahrelang
als Angstraum beschrieben, was
sich irgendwann tatsächlich in den Köpfen
festgesetzt hat, obwohl er diesbezüglich in
der jüngeren Vergangenheit sein Topranking
an den Praterstern abgeben musste.
Den Schwedenplatz überhaupt als
Platz wahrzunehmen, ist schon schwierig.
Die Grenze zum Morzinplatz ist räumlich
nicht wahrzunehmen und der angrenzende
Franz-Josefs-Kai entspricht nicht
dem klassischen Abschluss eines Platzes –
vielmehr war der Schwedenplatz
ursprünglich nicht mehr als eine Erweiterung
des Kais. Die langgezogene Form des
Schwedenplatzes ebenso wie die vielen
Kioske, U-Bahn- sowie Parkgaragenaufund
abgänge, Entlüftungsschächte, der
Busparkplatz und die Straßenbahnhaltestellen
verhindern das Raumgefühl, das ein
klassischer Platz vermittelt. Seine heutige
Form erhielt der Schwedenplatz erst in der
Nachkriegszeit durch den Abriss einiger
Häuser, die im Zweiten Weltkrieg stark
beschädigt worden waren.
Wenn der Schwedenplatz nicht durch
seine städtebauliche Form punkten kann,
so tut er das ganz sicher als lebendiger
urbaner Ort. Kaum ein anderer Wiener
Platz ist rund um die Uhr so bevölkert wie
der Schwedenplatz. Das hat einerseits mit
den beiden U-Bahn- und mehreren
Straßenbahnlinien zu tun, die hier ihre
Stationen bzw. Haltestellen haben,
andererseits aber vor allem auch mit dem
Umstand, dass in der Umgebung ein
intensives Nachtleben herrscht und der
Besprechungen
Schwedenplatz die NachtschwärmerInnen
24/7 mit Fastfood und Getränken
versorgt. Nicht zufällig war er ursprünglich
auch Abfahrtsort aller Wiener
Nachtbuslinien.
Rudi Gradnitzer hat sich für seine sozialräumliche
Studie über den Schwedenplatz
nicht eine Betrachtung des kompletten
Platzes vorgenommen, sondern
einzelne prototypische Aspekte ausgewählt.
Das sind einerseits Gebäude: der
Gemeindebau Georg-Emmerling-Hof,
das Hotel Capricorn, der Raiffeisen-Tower
und andererseits die Wiener Verkehrsbetriebe
und die visuelle Kommunikation
am Schwedenplatz und am angrenzenden
Donaukanal.
In seiner Studie geht es dem Autor »um
die Dechiffrierung von architektonisch
gestützten Machtstrukturen und historischen
Prägungen am Beispiel des Schwedenplatzes.
[…] In diesem Sinne ist die
Untersuchung als kritischer Beitrag zum
besseren Verständnis des Bestehenden zu
lesen«, und weiter sich auf Adorno berufend,
»mit dem ausdrücklichen Ziel seiner
Beseitigung«. Zu diesem Zwecke bedient
sich Gradnitzer bei Henri Lefebvre, der in
seinen Schriften zu Stadt und Raum immer
hervorhob, dass Raum nicht einfach existiert,
sondern dass er produziert wird.
Lefebvres Modell der Triade folgend,
untersucht Gradnitzer jeweils den konzipierten,
den materiellen und den gelebten
Raum, was sich als sehr fruchtbarer Ansatz
erweist. Neben diesem zwar in der Theorie
in Stadtforschungskreisen mittlerweile weithin
bekannten, aber praktisch eher selten
angewandten Modell, ist die Breite der für
die Studie verwendeten Literatur als
besonders bemerkenswert hervorzuheben.
Sie umfasst architekturhistorische ebenso
wie zeitgeschichtliche, gesellschaftspolitische
wie stadttheoretische, philosophische
wie biographische Werke. Das führt beispielsweise
dazu, dass im Kapitel über den
im Roten Wien errichteten Georg-Emmerling-Hof
nicht nur das Rote Wien und die
österreichische Architekturgeschichte
Thema sind, sondern – die Ansätze vergleichend
– ebenso über die parallelen
Entwicklungen in der Sowjetunion zu lesen
ist. Superblock, Gartenstadt, Wohnhaus-Kommune
und die Revolutionierung
des Alltagslebens kommen ebenso vor wie
der Umstand Erwähnung fi ndet, dass das
Parteilokal der SPÖ in den 1990ern
51
DEMOCRACitY
Demokratie und Stadt
6.—15. Oktober 2017, Wien
www.urbanize.at
ane Intelligenz
ehr als die
rbeitung von
rmationen.«
ttern — A City Is Not a Computer, S. 38
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung N o 68 Sampler
Zeitschrift für Stadtforschung
Juli — Sept 2017
N o 68
dérive
Informationsverarbeitung, Smart City,
, Baden, Main Street, Antiurbanismus, Trump, Mietrecht,
iegenschaftspolitik, Verdrängung, Learning-by-Doing,
melle Siedlungen, Widerspiegelungstheorie, Körper, Energetik
Juli — Sept 2017
dérive
Sampler
MARSEILLE
Sampler
Guy Debord
Wohnen Berlin/Wien, Interview Assemble,
Kunsthaus Graz
Kleinstadtnostalgie/USA, Wagenplätze/Favelas,
STREETART
Stadt/Computer, Baden/Donau,
CIT Collective & Gaswerk Leopoldau
Produktion/Raum
Krems/Lerchenfeld
SECRETS & CRISES
Marlene Hausegger
Foucault/HETEROTOPIE
ISSN 1608-8131
8 euro
dérive
Diese Ausgabe bestellen
Heft 68
Juli – September 2017
72 Seiten, 8 Euro
Impressum
ABONNEMENT
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
dérive – Verein für Stadtforschung
Mayergasse 5/12, 1020 Wien
Vorstand: Christoph Laimer, Elke Rauth
ISSN 1608-8131
Offenlegung nach § 25 Mediengesetz
Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung
von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den
Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden
Fragen. Besondere Berücksichtigung sollen dabei
inter- und transdisziplinäre Ansätze finden.
Grundlegende Richtung:
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung versteht sich als
interdisziplinäre Plattform zum Thema Stadtforschung.
Redaktion
Mayergasse 5/12, 1020 Wien
Tel.: +43 (01) 946 35 21
E-Mail: mail@derive.at
www.derive.at
www.urbanize.at,
www.facebook.com/derivemagazin
twitter.com/derivemagazin
dérive – Radio für Stadtforschung
Jeden 1. Dienstag im Monat von 17.30 bis 18 Uhr
in Wien live auf ORANGE 94.0
oder als Webstream http://o94.at/live.
Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235
Anzeigenleitung & Medienkooperationen:
Helga Kusolitsch, anzeigen@derive.at
Website: Christian Klettner, Artistic Bokeh, Robert Wildling
Grafische Konzeption & Gestaltung:
Atelier Liska Wesle — Wien / Berlin
mit Sebastian Köck
Lithografie: Branko Bily
Coverfoto: Sonnwendviertel, Wien (Juni 2017)
Foto — Lennart Horst, www.lennarthorst.at
Hersteller: Resch Druck, 1150 Wien
Kontoverbindung
Empfänger: Christoph Laimer
Bank: easybank, A–1010 Wien
IBAN: AT51 14200 20011126570, BIC: EASYATW1
Abonnement
Standard: 24 Euro (inkl. Versandspesen Inland)
Ermäßigt: 20 Euro (inkl. Versandspesen Inland)
Förder- und Institutionenabo: Euro 50
Ausland jeweils plus 8 Euro Versandspesen
Abonnements laufen ein Jahr (vier Hefte). Bestellungen an:
bestellung@derive.at oder per Bestellformular auf www.derive.at
Wir danken für die Unterstützung:
Bundeskanzleramt – Kunstsektion,
MA 7 – Wissenschafts- und Forschungsförderung.
Chefredaktion: Christoph Laimer
Redaktion / Mitarbeit: Thomas Ballhausen, Andreas Fogarasi,
Barbara Holub, Lennart Horst, Michael Klein,
Andre Krammer, Silvester Kreil, Axel Laimer, Iris Meder,
Erik Meinharter, Sabina Prudic-Hartl, Paul Rajakovics,
Elke Rauth, Manfred Russo.
AutorInnen, InterviewpartnerInnen und KünstlerInnen dieser
Ausgabe: Thomas Ballhausen, Frank Eckardt, Aldo Giannotti,
Ernst Gruber, Andrej Holm, Barbara Holub, Lewis Jones, Justin
Kadi, Rafael Kopper, Silvester Kreil, Christoph Laimer, Antje
Lehn, Maria Lisogorskaya, Shannon Mattern, Iris Meder, Peter
Payer, Ursula Maria Probst, Paul Rajakovic, Elke Rauth, Niko
Rollmann, Manfred Russo.
Mitgliedschaften, Netzwerke:
Eurozine – Verein zur Vernetzung von Kulturmedien,
IG Kultur, INURA – International Network for Urban
Research and Action, Recht auf Stadt – Wien.
Die Veröffentlichung von Artikeln aus dérive ist nur mit
Genehmigung des Herausgebers gestattet.
68
dérive N o 68 — Sampler
»Urbane Intelligenz
ist mehr als die
Verarbeitung von
Informationen.«
Shannon Mattern — A City Is Not a Computer, S. 38
Informationsverarbeitung, Smart City,
Donau, Baden, Main Street, Antiurbanismus, Trump, Mietrecht,
Liegenschaftspolitik, Verdrängung, Learning-by-Doing,
DIY, Informelle Siedlungen, Widerspiegelungstheorie, Körper, Energetik