Haus aus Stein Nr. 9
Bröker / Oley / Pratajev
Haus aus Stein Nr. 9 (Leseprobe)
Prumskis Bauernoper
Juni 2017
ISBN 978-3-945715-52-9
www.verlag-reiffer.de
Bröker / Oley / Pratajev
Haus aus Stein Nr. 9 (Leseprobe)
Prumskis Bauernoper
Juni 2017
ISBN 978-3-945715-52-9
www.verlag-reiffer.de
- Seite 3 und 4: Haus aus Stein Nr. 9 Herausgegeben
- Seite 5 und 6: Inhaltsverzeichnis Editorial: Das 9
- Seite 7 und 8: Komparskaja, eifersüchtige Ehemän
- Seite 9: das liegt an jedem Menschen selbst.
- Seite 12 und 13: abgesägte Flinte, mit der er einst
- Seite 14 und 15: Volk schütteln mit den Köpfen. Be
- Seite 16 und 17: ski rappelt sich benommen auf, find
- Seite 18 und 19: Wenn Biber beißen Am Abend nach de
- Seite 20: 978-3-945715-52-9 §: IIII III I II
<strong>H<strong>aus</strong></strong> <strong>aus</strong> <strong>Stein</strong><br />
<strong>Nr</strong>. 9<br />
Her<strong>aus</strong>gegeben von Holger Makarios Oley<br />
und Frank Pichelstein Bröker<br />
Leseprobe
Holger Makarios Oley und Frank Pichelstein Bröker (Hg.)<br />
<strong>H<strong>aus</strong></strong> <strong>aus</strong> <strong>Stein</strong> 9<br />
»Prumskis Bauernoper«<br />
Umschlaggestaltung unter Verwendung zweier Bilder <strong>aus</strong> der Petroperbolsker<br />
Sammlung (Der Maler Pratajev), abfotografiert vom<br />
Restaurator und Kunstkenner Gurt Kaktus.<br />
Fotos und Zeichnungen: Archiv der Pratajev-Gesellschaft<br />
1. Auflage 2017, Original<strong>aus</strong>gabe<br />
© Verlag Andreas Reiffer, 2017<br />
Satz und Layout: Wallgold II jun.<br />
Lektorat: Manjoschka Gnatz<br />
Druck und Weiterverarbeitung: Grafische Betriebe Printow<br />
ISBN 978-3-945715-52-9<br />
Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meine<br />
www.verlag-reiffer.de<br />
www.facebook.com/pratajevbibliothek
Inhaltsverzeichnis<br />
Editorial: Das 9. <strong>H<strong>aus</strong></strong> der Pratajev-Gesellschaft ............ 6<br />
Das Werk Pratajevs ............................................................... 8<br />
Zwei Festreden zum 100. Geburtstag<br />
Pratajevs an die Welt ......................................................... 9<br />
Prumskis Bauernoper ...................................................... 17<br />
Gedichte <strong>aus</strong> der Miloproschenskojer Phase, Teil II ... 50<br />
Pratajevs Fragmente ........................................................ 65<br />
Neues <strong>aus</strong> der Forschung ................................................... 72<br />
Die Tagebücher der Helga Bauer, Teil V .................... 73<br />
Ein Vortrag über die Schnapspoesie ............................ 95<br />
Lange Haare. Ein sprachliches Memorandum ......... 105<br />
Holzlöffelgerichte, Fischmushäppchen<br />
und andere Delikatessen, Teil V .................................. 109<br />
Die große Fraglichkeit ..................................................... 118<br />
Aus dem Nachlasse der Klitorisa Smirnowa ............ 120<br />
Das Gedicht im <strong>H<strong>aus</strong></strong> meines Opas ............................. 122<br />
Im Garten der Bärenpicker .......................................... 124<br />
Flussfahrt mit Guinness ................................................ 125<br />
Fälschungen ........................................................................ 132<br />
Aus dem Vereinsleben .........................................................137<br />
Das Tourtagebuch der Russian Doctors ..................... 142<br />
Ausblick vom Turm ........................................................... 156
Prumskis Bauernoper<br />
»Sie war jung, sie war blond, sie kam <strong>aus</strong> der Stadt. Da<br />
konnte Dalmatow ja gar nicht anders, als ihr einen Schluck<br />
<strong>aus</strong> der Flasche anzubieten und er verlegte seinen Scheitel<br />
von rechts nach links. Wenige Minuten später war er mit<br />
ihr verheiratet und wusste nicht warum.«<br />
Aus: »Dalmatows Vermächtnis: Ich besorgte ihr ein Bügelbrett<br />
und andere Spiele« (Galina Garjonaja in einem Artikel<br />
der Literaturnaja Gazieta 2 , 1959)<br />
Der Erlenholzgitarrist Anatoli Prumski betrauerte den<br />
Tod seines Freundes und langjährigen Weggefährten Pratajev<br />
im Herbst des Jahres 1961 auf eigene Weise. Er zog<br />
sich für einige Tage in die Wälder von Branskovskowo zurück<br />
und blickte wehmütig auf die in der Nähe verortete<br />
Datscha des Verlegers Wallgold.<br />
Was hatte man drinnen nicht alles gemeinsam erlebt?<br />
Pi-sexuelle Orgien, rollende Wollknäuel, beißende Biberschlüpfer,<br />
schöne Damen <strong>aus</strong> der Stadt, Schwesternschülerinnen,<br />
stotternde Motoren, Helga Bauer und Katharina<br />
2 Pratajev Werk wurde nicht nur durch das Erscheinen seiner Bücher<br />
verbreitet. Auch einzelne Literaturzeitschriften, wie die Literaturnaja Gazieta,<br />
bediente er mit Gedichten, Fragmenten und kleineren Geschichten. Meistens<br />
wurde er dafür jedoch nicht bezahlt. Die Her<strong>aus</strong>geber machten es sich<br />
einfach und schickten ihm oft eine besonders hübsche, junge Reporterin für<br />
drei bis vier Tage auf Wallgolds Datscha oder ins Teeh<strong>aus</strong> Protnik vorbei.<br />
Galina Garjonaja, später bekannt als Verfasserin der »Tagebücher der<br />
Schlampe Asonowa« sei hier ebenso genannt wie Anfissa Jupnizynskaja,<br />
der Pratajev, nach einigen sehr interessanten Tagen auf Wallgolds Datscha,<br />
eines seiner Ölgemälde mit dem Arbeitstitel »Der vereinsamte Brückenbauer«<br />
vermachte. Vergleiche: »Das große Pratajev-Lexikon«, Meine, 2011.
Komparskaja, eifersüchtige Ehemänner, die verzweifelt<br />
durchs Fenster starrten und riefen: »Das gibt’s doch in<br />
keinem Amerika-Film.« 3<br />
Prumski trank mit den Käferzählern, den Waldarbeitern<br />
und traf schließlich auf eine ansehnliche, ehemalige Komsomolzin,<br />
die sich anbot, mit ihm um Pratajev zu trauern.<br />
So saß man lange Zeit gemeinsam auf dem größten Ameisenhügel<br />
des Waldes und ließ sich krabbeln. Als der Schnaps<br />
alle war und die Wirkung verblasste, fiel der erste Schnee.<br />
Die ansehnliche, ehemalige Komsomolzin sagte: »Wenn<br />
Du mich nicht bald vor einen lodernden Kamin setzt, muss<br />
ich mich in Deinem Mantel zusammenrollen und Winterschlaf<br />
halten.« Das wollte Prumski keineswegs und so<br />
machten sich beide in Richtung Datscha davon.<br />
Was dort en détail geschehen sein könnte, ist nicht überliefert.<br />
Ungebetene, vornehmlich weibliche Gäste wurden<br />
vom zürnenden Prumski allesamt vom Hof gejagt. Baten<br />
sie um Einlass, kam oft (und zurecht) als Antwort: »Bleibt<br />
draußen! Ihr mögt schöne Füße und vielleicht noch schöne<br />
Beine haben. Aber dann wird Euch immer der Bauch in<br />
die Quere kommen. Oder das Gesicht. Verschwindet, Ihr<br />
Einfältigen. Hier wird gearbeitet! 4 «<br />
Die Experten sind sich einig: Mit großer Sicherheit<br />
konnte die ansehnliche, ehemalige Komsomolzin im Win-<br />
3 Vergleiche: Pratajev: »Medizin und Fetisch«, Meine, 1. Auflage 2014.<br />
Kapitel: »Damenbesuche auf der Datscha«.<br />
4 Überlieferung der Familie Parpassow, deren ältere Töchter Jewdokija und<br />
Pelageja annahmen, Pratajev sei noch am Leben und er würde sich in der<br />
Datscha schadlos halten. Die Hoffnungen der Damen beruhten gewiss auf<br />
einer zünftigen Orgien-Teilhabe. Die Gestalt ihres Vater Nikolai Nikolajewitsch,<br />
der sie mit den Jahren immer ähnlicher wurden, inspirierte Pratajev einst zum<br />
Gedicht »Der Bauch«. Vergleiche: »Das große Pratajev-Lexikon«, Meine,<br />
2011.
ter 1961/62 von Anatoli Prumski zu einer dramatischen<br />
Sopranistin 5 <strong>aus</strong>gebildet werden. Wallgolds Datscha wurde<br />
dafür zu einem wahren, kunstbeflissenen Konservatorium.<br />
Möglicherweise spielten lustbetonte Peitschenhiebe<br />
in der stimmlichen Ausbildung eine nicht unwesentliche<br />
Rolle. Prumksi verlieh seiner Schülerin im März 1962,<br />
bevor sich beide wieder trennten, den alles sprengenden<br />
Künstlernamen Nina Nitrokowa. Er schenkte ihr eine in<br />
der Zwischenzeit vollendete Bauernoper, die er mit Gedichten<br />
Pratajevs veredelt hatte. Der Nitrokowa schrieb<br />
er darin die Paraderolle der Jewgenjewna Perwollskaja auf<br />
den Leib. Zuletzt stellte er ein Ensemble <strong>aus</strong> Laiendarstellern<br />
und alten Gefolgsleuten Pratajevs zusammen, darunter<br />
den Molybdanover Heldenbariton Oleg Dramarow in<br />
der Rolle des Dalmatow, und ging seiner Wege.<br />
Das Werk heißt »Lasst Dalmatow friedlich schlafen«.<br />
In den frühen 1960er-Jahren wurde es im Rovtlovensker<br />
Rajon zu einer Marke. Jeder Kolchos riss sich um die Aufführung<br />
und wollte die Nitrokowa mit ihrem Pavlowitsch-<br />
Sopran in kleiner Orchestrierung singen hören. Manches<br />
Schnapsglas, manche Brille, manche Ehe ging noch während<br />
der Aufführung in die Brüche. Doch wer war dieser<br />
Dalmatow?<br />
Ein stattlicher Traktorist, der nie seinen Vornamen<br />
preisgab, der in den 1950er-Jahren als »zufälliger Freund<br />
Pratajevs ohne jegliche Bedeutung« in die Forschungsbücher<br />
einging. Ein einfacher, aber ein würdevoller Philosoph,<br />
sich gerne selbst zitierend. Mitunter pflegte er<br />
Sätze zu sagen wie: »Ob die Welt wirklich weit ist, ach,<br />
5 Der dramatische Sopran ist eine Art des Soprans, in der sich der<br />
Stimm<strong>aus</strong>druck in ein metallisches Timbre mit größter Durchschlagskraft<br />
verwandelt. In der Pratajev-Forschung auch »Pavlowitsch-Sopran« geheißen.
das liegt an jedem Menschen selbst. Hat der Traktor genügend<br />
Brennstoff im Tank, dann kommst du wenigstens<br />
bis Igursk.«<br />
Schreiben und lesen konnte Dalmatow kaum; er meisterte<br />
die schulische Laufbahn nur mit Hilfe seiner Mutter,<br />
die dafür dem Schuldirektor zu Diensten sein musste. Mit<br />
dem Abschlusszeugnis endete diese Affäre und sie konnte<br />
sich als Beischlafrentnerin wieder ungestört der Näharbeit<br />
widmen. Dann aber wurde der junge Dalmatow der<br />
Kolchose »Siegende Kühe« in Shukoje zugeordnet und<br />
begann eine Lehre als Traktorist. Erneut legte die Mutter<br />
ihr Nähzeug zur Seite. »Was tut man nicht alles für den<br />
einzigen Sohn«, br<strong>aus</strong>te sie oft flehentlich auf, wenn Dalmatows<br />
Vater ihren ölverschmierten und mit Heukratzern<br />
verunstalteten Rücken putzte, den der Ausbilder in der<br />
Mittagsp<strong>aus</strong>e so zugerichtet hatte. Im Sommer 1932 war<br />
dieser Spuk mit der Übergabe des Führerscheins für die<br />
Stalinez-1-Erntemaschine von Rostselmasch, landläufig<br />
»Feldungeheuer« genannt, zu Ende und ihr ganzer Stolz<br />
von Sohn ein vollwertiger Traktorist.<br />
Als Pratajev Shukoje Mitte der 1940er-Jahre besuchte<br />
und gemeinsam mit Anatoli Prumski das sehr beliebte<br />
»Schwesternlyrik-Programm 6 « aufführte, lernte er Dalmatow<br />
während der P<strong>aus</strong>e kennen. Er fragte den Traktoristen<br />
nach dem Weg zur Notdurft und der sagte: »Dahinten<br />
links, am Ofen vorbei, durch die Tür, draußen die<br />
dritte Birke von rechts. Bei den Buchen habe ich immer<br />
Ladehemmungen.« Eine Woche später war Dalmatow<br />
6 Mit Liedtexten wie »Der edle Mann« oder »Genieße jede Stund« (<strong>aus</strong> dem<br />
Gedichtband »Lieder eines Veterinärs«, 1945) huldigten Pratajev und Prumski<br />
darin das Treiben und Wirken einer jeden hübschen Krankenschwester.<br />
Vergleiche: »Das große Pratajev-Lexikon«, Meine, 2011.<br />
Gegenüber: Dalmatow
tot. Ein Feldungeheuer erwischte ihn von hinten. Der<br />
Traktorist hatte vergessen, die Bremsen zu ziehen. Pratajev<br />
erfuhr von dessen Abberufung ins Jenseits und so entstand<br />
das Gedicht »Lasst Dalmatow friedlich schlafen 7 «.<br />
1. Akt<br />
Vorhang. Miloproschenskoje am Nachmittag des (zukünftigen)<br />
12. Dezembers 1970: Requisiten längst vergangener<br />
Tage werden im ehrwürdigen Kulturh<strong>aus</strong> versteigert.<br />
Zwei Katzen jagen über den frisch gebohnerten Boden<br />
einer Ratte nach, die in einem Loch verschwindet. Die<br />
Katzen schleudern gegen eine Wand und miauen kläglich.<br />
Eine Kreidearbeit kündigt den brandenburgischen Startenor<br />
Don Drescher für 20 Uhr an: Don Drescher – ein<br />
vorzüglicher Bariton, schläft nie, hat immer ein Mädchen<br />
auf den Lippen und singt voller Energie.<br />
Die halbbetagte Dame <strong>aus</strong> gutem <strong>H<strong>aus</strong></strong>e, Jewgenjewna<br />
Perwollskaja, einst »Die Kuschelige« genannt, erinnert<br />
sich in einer Ecke sitzend an Dalmatow, ihre ehedem so<br />
große Liebe. In den Händen hält sie versteckt eine Wumme<br />
unterm Tisch, seine Wumme, seine laute Wumme, eine<br />
7 Größte Bewunderin dieser Zeilen wurde die Friseuse Iwanowa. Beim Lesen<br />
brach sie immerfort in Tränen der Rührung <strong>aus</strong>. »Ich bin so nass, so überall<br />
nass«, soll sie Pratajev des Öfteren zugeflüstert haben. Doch der Dichter<br />
hielt die Beziehung zur Iwanowa lieber platonisch und antwortete: »Dann<br />
nimm einen Föhn, den gibt es aber nur in der Großstadt.« Ein weiteres, auf<br />
Dalmatow zurückzuführendes Gedicht trägt den Titel »Ladehemmungen<br />
unter Buchen«. Es wurde posthum 1987 im Band »Das Wachs der stählernen<br />
Kerze« von Valerie Kamtschatkin im Verlag der Pratajev-Forschung<br />
veröffentlicht. Vergleiche: »Das große Pratajev-Lexikon«, Meine, 2011.
abgesägte Flinte, mit der er einst Wildschweine schoss.<br />
Und Kornblumen so blau wie das Meer, von dem Dalmatow<br />
immer schwärmte, als er auf der Erntemaschine stehend<br />
wieder und wieder ins Feld feuerte. Ein Damenchor<br />
setzt ein.<br />
Der Schleier<br />
Weißer Schleier Ungeduld<br />
Immer bist in Fahrt<br />
Licht kann dich brechen<br />
Du mein Attentat<br />
Roter Schleier Eifersucht<br />
Niemals weich und zart<br />
Drunter ist man völlig nackt<br />
Herz schlägt hart<br />
Schwarzer Schleier Traurigkeit<br />
Bist in meinem <strong>H<strong>aus</strong></strong><br />
Solange ich dich reißen kann<br />
Fängt die Nacht von vorn noch an<br />
Doch nicht immer reißt der Schleier<br />
Dann mal ich ihn mit Phosphor an<br />
Und stelle mich ins Licht<br />
Die Perwollskaja greift zu einem Schnapsglas, schaut sich<br />
um, trinkt in hastigen Zügen nicht nur dieses eine Glas<br />
leer, sondern alle Gläser, derer sie, versunken in einer<br />
Dezember-Melancholie, habhaft werden kann. Während
dieses Vorgangs wechselt die Beleuchtung. Lichtschwaden<br />
schweben über die Zuschauer hinweg an die Decke und<br />
führen sie zurück in die Vergangenheit.<br />
Der Rückblick ins Jahr 1949 beginnt. Motorenknattern.<br />
Ein Tag im Weizenmonat August im Rajon Rovtlovensk,<br />
in Shukoje. Die Erntebrigaden der Kolchose »Siegende<br />
Kühe« sind in vollem Einsatz. Dalmatow steht breitbeinig<br />
auf einem sich langsam fortbewegendem Mähdrescher<br />
und schießt auf eine Kornblume. Einsatz der Musiker.<br />
Die Wumme<br />
Früh am Morgen<br />
Geht die Wumme los<br />
Viele Fremde fragen:<br />
Sag, was ist das bloß<br />
Man sagt: Das ist die Wumme<br />
Die da so laut kracht<br />
Und die Wumme lärmt<br />
Bis tief in die Nacht<br />
Einblendung der jungen Jewgenjewna Perwollskaja, die es<br />
mit ihren erst 20 Jahren im Glühlampenwerk der Kreisstadt<br />
Sockeltow bereits zur Vorarbeiterin gebracht hat. Sie<br />
tritt ins Bild, nachdem ein Bursche sie vom Bolwerkower<br />
Bahnhof abholte und zur Kolchose fuhr. Die Perwollskaja<br />
will die Ferien bei ihrer Tante, einer Rübenzieherin<br />
<strong>aus</strong> Miloproschenskoje, verbringen und dabei keineswegs<br />
arbeiten (wie sie gleich singend und tanzend verkünden<br />
wird). Die Umstehenden, Bauern, Waldarbeiter, gemeines
Volk schütteln mit den Köpfen. Betagte Frauen stoßen<br />
wüste Drohungen <strong>aus</strong>, die Männer sehen ihr verzückt hinterher.<br />
Einsatz der Musiker.<br />
Die Kuschelige<br />
Ich werde nicht einen Handschlag tun<br />
Ich werde sitzen und ruhen<br />
Nur wenn ein Mann mir eine Kornblume schießt<br />
Vielleicht Liebe in mir sprießt<br />
Denn in mein Zimmer<br />
Passen nur Männer ohne Gewimmer<br />
Die will ich mitnehmen in die Kreisstadt<br />
Bis ich sie satt hab<br />
Ich bin die Kuschelige<br />
Ich bin so lieb<br />
Ich bin die Kuschelige<br />
Ich bin ein Herzensdieb<br />
Ein Vorarbeiter tritt auf den Platz und ruft: »An die Arbeit,<br />
aber schnell.« Die Szenerie leert sich, Jewgenjewna Perwollskaja<br />
sinkt auf einem Heuballen nieder, nur die Alten<br />
bleiben zurück. Eine Wirtsh<strong>aus</strong>tür öffnet sich krachend.<br />
Her<strong>aus</strong> fällt ein Mann mit einer Erlenholzgitarre, Pratajevs<br />
Freund Anatoli Prumski. Er liegt ihr zu Füßen, sagt: »Wir<br />
proben heute ein neues Stück, sieh Dir das an. Es trägt den<br />
Titel: »Das Phantom der Datscha von Branskovskowo.«<br />
Das junge Mädchen klatscht in die Hände. Die Alten spucken<br />
<strong>aus</strong>, ein Mütterchen verliert dabei einen Zahn. Prum-
Weibliche Musiker des Opern-Ensembles.
ski rappelt sich benommen auf, findet den Zahn und bewirft<br />
damit das Mütterchen. Verdutzt blickt es drein.<br />
Prumski und die Perwollskaja betreten das Wirtsh<strong>aus</strong>.<br />
Auf der Bühne steht Pratajev, im Clinch mit dem Ledertrompeter<br />
Fanfarow und dem Patronenhülsenflötisten Janusz<br />
Tadeusz Oltzschekniki. Gestritten wird um eine leere<br />
Flasche Schnaps, die vor Kurzem noch voll war. Fanfarow<br />
und Oltzschekniki zeigen auf Prumksi: »Der ist es gewesen,<br />
der ist es immer gewesen!« Signifikant dieser Unterstellung<br />
beginnt Prumski mit einem balladesken Gitarrenspiel.<br />
Die Perwollskaja stimmt mit schönstem Gesang ein,<br />
der Ledertrompeter und der Patronenhülsenflötist folgen<br />
gemeinsam mit den Orchestermusikern. Nur Pratajev<br />
singt nicht. Erzürnt ob der leeren Flasche Schnaps öffnet<br />
er vor Wut ein Fenster.<br />
Und der See trat über die Ufer<br />
Eines nachts bei vollem Mond<br />
Übers Ufer trat der See<br />
Schwemmte ganz Turjolnik fort<br />
In den Bergen schmolz der Schnee<br />
Hütten, Häuser und Paläste<br />
Ziegenstall und Dorfsowjet<br />
Fanden ihre letzte Ruhe<br />
In dem kalten Wasserbett<br />
Gurgelnd schlang das Wasser Menschen<br />
Und zog alles mit sich fort<br />
Als es endlich abgeflossen<br />
Sah man nichts mehr von dem Ort
Motorengeräusche lassen das Wirtsh<strong>aus</strong> erzittern. Im<br />
Kamin stürzen dekorative Holzscheite um, von der<br />
Schnapsbar fällt ein Glas Schmalz auf den Boden. Vor<br />
dem Fenster kommt eine Erntemaschine zum Stehen.<br />
Pratajev, angewidert ob des Diesels in der Luft, wirft<br />
einen Blumentopf nach ihr. »Nicht mal im Wirtsh<strong>aus</strong><br />
hat man seine Ruhe!«, brüllt er missgestimmt. »Da hat<br />
er recht, wo er recht hat, hat er recht«, brummeln die<br />
männlichen Umstehenden. Pratajev tritt den Rückzug<br />
an, setzt sich an den Kamin.<br />
Auf der Maschine steht Dalmatow, die Wumme in der<br />
Hand. Er ruft ins Wirtsh<strong>aus</strong> hinein: »Wenngleich die Arbeit<br />
noch nicht getan ist, lasst uns Vogelbeerenschnaps<br />
trinken! Ich habe soeben einen stattlichen Biber geschossen,<br />
seht her. Es ist jener Biber, vor dem sich die gesamte<br />
Kolchose ein langes Jahr fürchtete. Wisst ihr noch? Das<br />
Federvieh riss er im Frühjahr, im Sommer zerbiss er ein<br />
ganzes Karussell. Im Herbst zog er das Mütterchen Walikhanowa<br />
an ihrem Holzbein in den Feuerlöschteich. Bitterlich<br />
ertrank es.«<br />
Dalmatow zeigt das erlegte Tier. »Das ist kein Biber,<br />
das ist ein Ereignis! Ich bin kein Freund leichter Küche<br />
und dar<strong>aus</strong> zaubere ich einen vorzüglichen Braten«, fällt<br />
dem herbeieilenden Wirt ein. »Und einen kuscheligen<br />
Schlüpfer«, ereifert sich die Perwollskaja. Sie tut reichlich<br />
entzückt, wird auf einmal ganz unruhig und beginnt mit<br />
unerschütterlicher Melancholie zu singen. Die Orchestermusiker<br />
setzen peu à peu ein. Der Wirt verschwindet mit<br />
dem Biber in der Küche. Den Refrain singen außer dem<br />
weiterhin genervten Pratajev alle mit.
Wenn Biber beißen<br />
Am Abend nach dem Tage<br />
Saß er in seinem Garten<br />
Er sah den Hühnern zu<br />
Die fleißig vor ihm scharrten<br />
Dann sah er einen Schatten<br />
Und dachte nichts dabei<br />
Er trank noch einen Schluck<br />
Er hat ja morgen frei<br />
Doch plötzlich gab´s Gezeter<br />
Und fürchterlich Geschrei<br />
Der Schatten war ein Biber<br />
Und biss ein Huhn entzwei<br />
Er nahm sich einen Knüppel<br />
Und schlug den Schatten tot<br />
Das Fell gibt eine Kappe<br />
Das Fleisch schmeckt gut zum Brot<br />
Wenn Biber beißen<br />
Und Hühner reißen<br />
Dann ist die Welt<br />
Kein schöner Ort<br />
Wenn Biber beißen<br />
Und Hühner reißen<br />
Nimm einen Knüppel<br />
Und jag ihn fort
Die Pratajev-Bibliothek<br />
im Verlag Andreas Reiffer<br />
Her<strong>aus</strong>gegeben von Frank Pichelstein Bröker<br />
und Holger Makarios Oley<br />
Stand 2017<br />
Medizin und Fetisch<br />
Das große Pratajev-Lesebuch II<br />
Der Raucher von Bolwerkow<br />
Das große Pratajev-Lesebuch I<br />
Das große Pratajev-Lexikon<br />
Leben, Werk und Wirkung von A-Z<br />
Das große Pratajev-Liederbuch<br />
Die Songs der Russian Doctors<br />
<strong>H<strong>aus</strong></strong> <strong>aus</strong> <strong>Stein</strong> <strong>Nr</strong>. 8<br />
<strong>H<strong>aus</strong></strong> <strong>aus</strong> <strong>Stein</strong> <strong>Nr</strong>. 7<br />
<strong>H<strong>aus</strong></strong> <strong>aus</strong> <strong>Stein</strong> <strong>Nr</strong>. 6<br />
<strong>H<strong>aus</strong></strong> <strong>aus</strong> <strong>Stein</strong> <strong>Nr</strong>. 5<br />
<strong>H<strong>aus</strong></strong> <strong>aus</strong> <strong>Stein</strong> <strong>Nr</strong>. 4<br />
<strong>H<strong>aus</strong></strong> <strong>aus</strong> <strong>Stein</strong> <strong>Nr</strong>. 3<br />
<strong>H<strong>aus</strong></strong> <strong>aus</strong> <strong>Stein</strong> <strong>Nr</strong>. 2<br />
Alles Titel sind über den Buchhandel und den Verlag lieferbar<br />
www.facebook.com/pratajevbibliothek<br />
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978-3-945715-52-9 §:<br />
IIII III I II III 11111111111111111 l