Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...
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REpORTAgE<br />
sen überhaupt <strong>in</strong> Wittenberg veröffentlicht hat. Falls sie aber an die<br />
Tür der Schlosskirche genagelt wurden, dann eher von e<strong>in</strong>er Hilfskraft<br />
als vom Theologieprofessor. In den Predigten von 1617 taucht<br />
das Wort „Thesenanschlag“ noch gar nicht auf, hat Wolfgang Flügel<br />
herausgefunden.<br />
Auch e<strong>in</strong> Jahrhundert später, 1717, wird die Reformationsfeier<br />
von oben geregelt. Wieder soll auf die Gefühle der Katholiken Rücksicht<br />
genommen werden. Im Januar legte der Soldatenkönig Friedrich<br />
Wilhelm I. den Jubiläumstag für Brandenburg-Preußen auf den 31.<br />
Oktober, noch bevor die zuständige Stelle für Religionsangelegenheiten,<br />
das 1653 gegründete Corpus Evangelicorum, <strong>in</strong> dieser Sache entschieden<br />
hat. Vermutlich wollte er e<strong>in</strong> großes Fest verh<strong>in</strong>dern, um die<br />
Katholiken und den katholischen Kaiser Karl VI. nicht zu provozieren.<br />
Der Hof <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> feiert gar nicht, der König ist reformiert. 1717<br />
ist der Reformationstag <strong>in</strong> weiten Teilen des Reiches zu e<strong>in</strong>er Sache<br />
der Lutheraner geworden.<br />
Katholiken und Protestanten konkurrieren allerd<strong>in</strong>gs immer<br />
noch. Letztere hatten 1697 e<strong>in</strong>e wichtige Persönlichkeit aus ihrem Lager<br />
verloren. August der Starke, Kurfürst von Sachsen, trat <strong>zum</strong> Katholizismus<br />
über, um König von Polen werden zu können. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
dürfen se<strong>in</strong>e Untertanen ihr Bekenntnis behalten. Da es seit 1715 per<br />
kaiserlichem Edikt verboten ist, hetzerische Schriften gegen die Katholiken<br />
zu verfassen, werden manchmal e<strong>in</strong>fach die alten Schriften<br />
von 1617 verwendet, denn viele Theologen s<strong>in</strong>d mit den Positionen<br />
ihrer Landesherren nicht e<strong>in</strong>verstanden.<br />
In den Predigten des Tages, die der Theologe Ernst-Salomon Cyprian<br />
gesammelt und herausgegeben hat, geht es noch immer um die<br />
Legitimation der Protestanten und die Frage, wer die wahre <strong>Kirche</strong><br />
ist. Die meisten Prediger können sie nicht beantworten, ohne die jeweils<br />
anderen zu beleidigen. Kritik am Ton der Feiern kommt von den<br />
Pietisten. Der Prorektor der pietistischen Universität Halle beispielsweise<br />
mahnt, man dürfe die Reformation nicht auf Luther verkürzen.<br />
Vielleicht auch wegen dieser pietistischen E<strong>in</strong>flüsse sche<strong>in</strong>t 1717 au-<br />
16 Reformationsjubiläum 2017<br />
Luther und Bismarck<br />
auf e<strong>in</strong>er Postkarte<br />
<strong>zum</strong> Reformationsjubiläum<br />
1917.<br />
ßerhalb der Festgottesdienste wenig passiert zu se<strong>in</strong>, aber das soll sich<br />
ändern.<br />
Bevor man 1817 das nächste Mal e<strong>in</strong>e Hundertjahrfeier begehen<br />
kann, wird sich Europa politisch und gesellschaftlich grundlegend<br />
verändern. Es ist die Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution.<br />
Napoleon sitzt unter strenger Aufsicht auf der kle<strong>in</strong>en Insel<br />
St. Helena, der Wiener Kongress hat zwei Jahre zuvor Europa e<strong>in</strong>e<br />
neue Ordnung gegeben. Dem untergegangenen Heiligen Römischen<br />
Reich ist der Deutsche Bund mit 35 Fürstentümern und vier freien<br />
Städten gefolgt.<br />
In Württemberg wird am Sonntag vor dem Reformationstag auf<br />
den Kanzeln e<strong>in</strong>e neunseitige geschichtliche Darstellung über Reformation<br />
und Luther vorgelesen. Für den 31. Oktober 1817, e<strong>in</strong>en Freitag,<br />
ist der Text noch länger, aber auch die Feierlichkeiten wachsen.<br />
In Tüb<strong>in</strong>gen gehen am Morgen des 31. Oktobers Stadtrat und Bürger<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em feierlichen Zug zur <strong>Kirche</strong>. Am Abend ziehen mehr als 400<br />
Studenten mit Fackeln durch die Stadt.<br />
Aus Heilbronn wird der E<strong>in</strong>zug <strong>in</strong> die <strong>Kirche</strong> so geschildert:<br />
„Voran g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> hier bef<strong>in</strong>dlicher, der lutherschen Familie <strong>in</strong><br />
Mansfeld angehöriger Zunftgenosse, Peter Luther, der auf e<strong>in</strong>em weißen<br />
Atlaskissen e<strong>in</strong> schön gebundenes Exemplar der lutherischen Bibelübersetzung<br />
aus der väterländischen Bibelanstalt trug, von zwei<br />
<strong>Kirche</strong>npflegern und zwei jüngeren Schullehrern begleitet. Dieses Bibelexemplar<br />
wurde bei dem E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die <strong>Kirche</strong> auf dem Altar niedergelegt,<br />
zur Seite der Kelch, <strong>in</strong> der Mitte die Büste Luthers aufgestellt.<br />
An zwei Hauptsäulen vor dem Altar h<strong>in</strong>gen die Bildnisse Luthers<br />
und Melanchthons auf Le<strong>in</strong>wand gemalt.“ (Rechtschreibung<br />
angepasst. Zitiert nach Med<strong>in</strong>g, Wichmann von: Jubel ohne Glauben?<br />
Das Reformationsjubiläum 1817 <strong>in</strong> Württemberg, S. 137f.)<br />
Er<strong>in</strong>nerung wird nun nicht mehr nur auf der Kanzel geprägt. Immer<br />
mehr Menschen beteiligen sich an der Gestaltung der Feier, und<br />
es entstehen Bilder, wie das von Luther vor der <strong>Kirche</strong>ntür, die nachwirken.<br />
Auf Gedenkmünzen wird Luthers Porträt verbreitet. In Wittenberg<br />
wird am 31. Oktober der Grundste<strong>in</strong> für das Luther-Denkmal<br />
gelegt. Als es am 1. November 1821 nach Entwürfen von Johann Gottfried<br />
Schadow aufgestellt wird, ist es die erste Statue e<strong>in</strong>es Bürgerlichen<br />
auf deutschem Gebiet. Luther steht alle<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>em Sockel, hält<br />
e<strong>in</strong>e Bibel <strong>in</strong> der Hand und sche<strong>in</strong>t über die Betrachter h<strong>in</strong>wegzublicken.<br />
Bis heute fotografieren ihn so die Touristen.<br />
Auch Goethe, schon 68 Jahre alt, soll e<strong>in</strong>e Skizze für e<strong>in</strong> Lutherdenkmal<br />
entworfen haben, berichtet Hartmut Lehmann <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Aufsatz „Mart<strong>in</strong> Luther und der 31. Oktober 1517“. Außerdem sprach<br />
sich der Dichter dafür aus, an e<strong>in</strong>em Tag an Reformation und Völkerschlacht<br />
bei Leipzig zu er<strong>in</strong>nern. So könnten alle Menschen e<strong>in</strong> Fest<br />
der Humanität feiern. Studenten und Professoren haben e<strong>in</strong>e ähnliche<br />
Idee, als sie sich am 18. Oktober 1817 auf der Wartburg versammeln<br />
und auf Luther und auf die Nation anstoßen.<br />
Hundert Jahre später werden Reformations- und Nationalstolz<br />
noch stärker verbunden. Dabei sah es zuerst ganz anders aus: Das 400.<br />
Reformationsjubiläum sollte e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationales Fest werden, aber<br />
der Erste Weltkrieg ändert alles. 1917 liegt die Schlacht von Verdun<br />
h<strong>in</strong>ter den Deutschen und e<strong>in</strong> Hungerw<strong>in</strong>ter. Umso willkommener<br />
ersche<strong>in</strong>en Gedenktage für den Zusammenhalt der bedrängten Nati-<br />
on. Zwischen den Konfessionen herrschte „Burgfrieden“, nachdem Foto: l<strong>in</strong>ks: Stiftung Luthergedenkstätten <strong>in</strong> Sachsen-Anhalt; rechts: Wartburgstiftung