ZEIT MAGAZIN 32-2017 Swing State - Wie die Jugend in Deutschland den Jazz Neu entdeckt
Swing State - ZEIT MAGAZIN 32-2017 - Wie die Jugend in Deutschland den Jazz neu entdeckt.
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INHALT j•3117 /V“ <strong>32</strong> [ zEITIISGÄZIN<br />
Natürlich war der <strong>Jazz</strong> nie verschwun<strong>den</strong>, aber als ich vor e<strong>in</strong> paar Monaten mit Freun<strong>den</strong><br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>Jazz</strong>bar <strong>in</strong> <strong>Neu</strong>kölln gelandet war, traute ich me<strong>in</strong>en Augen kaum: Mitte-20-<br />
Jährige feierten <strong>die</strong> Musiker an dem Abend genauso wie Mitte-60-Jährige. Dann erzählten<br />
mir Bernd Ulrich und MoritzMüller-Wirth begeistert von ihrem Interview mit dem deutschen<br />
<strong>Jazz</strong>star Michael Wollny, das wir im Januar veröffentlicht haben. Wir recherchierten<br />
weiter und merkten schnell: Überall <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> haben <strong>die</strong> Jungen <strong>den</strong> <strong>Jazz</strong> wieder<strong>entdeckt</strong>.<br />
Daraufh<strong>in</strong> baten wir <strong>den</strong> <strong>ZEIT</strong>-Reporter und Musikexperten Ulrich Stock, sich<br />
auf e<strong>in</strong>e Rundreise durch das neue <strong>Jazz</strong>land zu begeben, se<strong>in</strong>e Reportage beg<strong>in</strong>nt auf<br />
Seite 14. Achten Sie mal darauf: Der Autor jazzf mit Sprache. Unsere Art-Direktion jazzt<br />
mit: Das Titelbild ist <strong>die</strong>se Woche <strong>in</strong>spiriert von <strong>den</strong> Plattencovern des legendären<br />
<strong>Jazz</strong>-Labels Blue Note. Christoph Amend<br />
Herr Janosch, wie stellt man sich großen Problemen?<br />
))Wondrak stellt sich nicht sondern er legt sich. In e<strong>in</strong>e <strong>Wie</strong>se mit hohem Gras. Je größer<br />
<strong>die</strong> Probleme s<strong>in</strong>d, desto größer <strong>die</strong> Chance, dass sie ihn dann übersehen.«<br />
1<br />
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c c<br />
5<br />
Haben Sie auch e<strong>in</strong>e Frage an Janosch? Schreiben Sie an ionosch@zeit.de<br />
Diese Woche <strong>in</strong> der Tobtet. und Smartphone-App »DIE <strong>ZEIT</strong>«: E<strong>in</strong>e Jozz-Starthilfe zum Anhören
<strong>in</strong><br />
<strong>den</strong> großen Städten,<br />
<strong>in</strong><br />
Auf e<strong>in</strong>mal ist er wieder da, der <strong>Jazz</strong> —<br />
Clubs. Und auf manchen Konzerten s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Hörer<br />
improvisierten<br />
schon wieder so ung wie<br />
<strong>die</strong> Musiker. \‘Vie kann das se<strong>in</strong>? Unser<br />
Reporter reist durch e<strong>in</strong> beschw<strong>in</strong>gtes <strong>Deutschland</strong><br />
Jenes<br />
Schweben<br />
der<br />
.:-‘5eele
wenn<br />
Von Ulrich Stock<br />
Fotos Hannes Jung<br />
und mitten im Satz kann es losgehen, wenn der Moment<br />
da ist, der Moment, um <strong>den</strong> es geht, um <strong>den</strong> sich alles dreht,<br />
wenn das Horn gol<strong>den</strong> schimmert im gelben Licht, wenn <strong>die</strong><br />
Lider sich schließen, <strong>die</strong> Leiber sich wiegen: wenn das Jetzt<br />
plötzlich da ist und jene Magie entsteht, auf <strong>die</strong> alle hoffen,<br />
jenes Schweben der Seele, <strong>die</strong>ses so schwer zu fassende Glück.<br />
Wenn <strong>die</strong> Gedanken stillstehen oder ihren Kurs ändern, wenn<br />
<strong>die</strong> <strong>in</strong>neren Wogen sich glätten oder neu formieren — <strong>die</strong><br />
Musik uns berührt.<br />
Sie nennen es <strong>Sw<strong>in</strong>g</strong> oder Groove oder Soul. Sie nennen es caal<br />
oder hat. Und wie immer sie es nennen, es fällt von <strong>den</strong> Lippen,<br />
strömt aus <strong>den</strong> Lungen, tönt aus <strong>den</strong> Fellen und h<strong>in</strong>ter <strong>den</strong><br />
Blättern hervor. Und wenn <strong>die</strong> Grenzen verließen und mitten<br />
im Satz <strong>die</strong> Worte fehlen ... dann ist es <strong>Jazz</strong>.<br />
Sie nennen es Groove oder Soul oder <strong>Sw<strong>in</strong>g</strong>, auch <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>.<br />
<strong>Wie</strong> gut, dass hier alle Englisch können. Die Begriffe erzählen<br />
von der Wanderung. Ja, <strong>die</strong>se Musik kommt von woanders her.<br />
Sie kommt aus dem Blues, von <strong>den</strong> Baumwollplantagen, von<br />
<strong>den</strong> schwarzen Sklaven, <strong>die</strong> bei der Arbeit s<strong>in</strong>gend unter ihrer<br />
Fron von der großen <strong>in</strong> <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>e Terz abrutschten. Heute ist<br />
der <strong>Jazz</strong> bei uns Kunst, aber wir müssen uns immer noch nicht<br />
fe<strong>in</strong> machen zum Konzert, Jeans und T-Shirt reichen, 100 Pro<br />
zent Baumwolle, cottonfields at home.<br />
<strong>Jazz</strong> <strong>in</strong> Bad Oldesloe im Rathaus, <strong>in</strong> Bielefeld im Bunker, <strong>in</strong><br />
Krefeld im Keller. <strong>Jazz</strong> <strong>in</strong> Ol<strong>den</strong>burg auf dem Schlossplatz,<br />
umsonst und draußen. <strong>Jazz</strong> bei der SPI) zum Frühschoppen.<br />
Frank-Walter Ste<strong>in</strong>meier, der se<strong>in</strong>en Satz noch nicht gefun<strong>den</strong><br />
hat: Der <strong>Jazz</strong> gehört zu <strong>Deutschland</strong>!<br />
Und nichts wäre wahrer als das. Allenfalls <strong>die</strong> ganz Rechten,<br />
<strong>den</strong>en es niemand recht machen kann, könnten noch maulen,<br />
aber wir s<strong>in</strong>d eben e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wanderungsland, musikalisch allemal.<br />
<strong>Jazz</strong>, ausweislich se<strong>in</strong>er ersten Plattenaufnahme grad hundert<br />
gewor<strong>den</strong>, lebt seit siebzig Jahren auch <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>. Von<br />
<strong>den</strong> Nazis verschmäht und verfolgt, kam er durch <strong>den</strong> Äther<br />
über <strong>den</strong> Kanal. Glenn Miller ließ unerschrockene Deutsche <strong>in</strong><br />
ihren Wohnzimmern vor dem Volksempff<strong>in</strong>ger tanzeh, während<br />
r<strong>in</strong>gsherum <strong>die</strong> Bomben fielen.<br />
Lange her. Inzwischen gehört <strong>Jazz</strong> so sehr zum Inventar, dass er<br />
sogar se<strong>in</strong> Verschw<strong>in</strong><strong>den</strong> überlebt hat. Das Verschw<strong>in</strong><strong>den</strong> aus<br />
<strong>den</strong> Zeitungen, dem Radio, dem Fernsehen. <strong>Jazz</strong> ist Nische,<br />
heißt es <strong>in</strong> <strong>den</strong> Me<strong>die</strong>n. Das <strong>in</strong>teressiert doch ke<strong>in</strong>en, <strong>Jazz</strong> ist<br />
was für ganz spät. Raundabaut rnidnight.<br />
Aber der <strong>Jazz</strong> ist da. Gäbe es e<strong>in</strong>en hartnäckigeren Untergrund<br />
als Bunker und Keller? Schon kommt er, von <strong>den</strong> Vielen noch<br />
kaum bemerkt, wieder herausgekrochen. <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, <strong>in</strong> Köln, <strong>in</strong><br />
Hamburg. Auf e<strong>in</strong>mal ist er wieder da, <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Reihen, im<br />
provisierten Clubs, und erstmals seit Jahrzehnten gibt es wieder<br />
<strong>Jazz</strong>konzerte, bei <strong>den</strong>en <strong>die</strong> Zuhörer so jung s<strong>in</strong>d wie <strong>die</strong> Musi<br />
ker. Das Pendel schlägt zurück <strong>in</strong> der Rhythmusgesellschaft, <strong>die</strong><br />
Welle hat ihr Tal durchlaufen, auf zu neuer Höhe.<br />
Plötzlich spüren da Leute: Es gibt ja noch mehr als Klassik und<br />
Pop, als Opernhaus und Stadion, als uralte Noten und <strong>die</strong>ses<br />
nackte s<strong>in</strong>gende Mädchen auf der Abrissbirne bei YouTube oder<br />
<strong>die</strong> Schimpftira<strong>den</strong> der Rapper. E<strong>in</strong> Genre, das nicht so glatt,<br />
nicht so fertig, nicht so ausgerechnet, nicht so aufgepumpt,<br />
sexistisch, überstrapaziert, abgespielt ist. Das nicht so virtuell<br />
ist. Das uns zurück <strong>in</strong> <strong>den</strong> Augenblick holt.<br />
Hebe <strong>den</strong> Blick von de<strong>in</strong>em Telefon und höre, was der <strong>Jazz</strong> dir<br />
zu sagen hat über de<strong>in</strong> Leben, de<strong>in</strong>e Liebe, de<strong>in</strong>e Stadt und dei<br />
nen Staat (ja!) und über <strong>die</strong>ses bunte Europa, aus dem mehr und<br />
mehr Musiker zu uns kommen. Die Baumwollfelder <strong>2017</strong> s<strong>in</strong>d<br />
Grachten und Fjorde, Sunde und das jüdische Viertel von Kra<br />
kau. <strong>Jazz</strong> kommt aus Schaffhausen und <strong>Wie</strong>n und — als fernes<br />
Echo auf europäische Kultur und Unkultur — sogar aus Israel.<br />
Und <strong>Jazz</strong> kommt aus der deutschen Prov<strong>in</strong>z. Da ist der fiebrigste<br />
Schlagzeuger e<strong>in</strong> vorletztes K<strong>in</strong>d der DDR und <strong>die</strong> kühnste<br />
Saxofonist<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e junge Frau aus Stadthagen — wo immer das ist.<br />
E<strong>in</strong>mal groß über <strong>Jazz</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> zu schreiben, <strong>den</strong> Auf<br />
trag hatte ich nur zu gerne angenommen. Über Wochen h<strong>in</strong><br />
weg besuchte ich Konzerte, traf Musiker, sprach mit Plattenfirmen<br />
und Kritikern. Ich war sogar auf der weltgrößten<br />
Fachmesse, der <strong>Jazz</strong>ahead, <strong>die</strong> Jahr um Jahr nicht etwa <strong>in</strong><br />
Chicago oder New Orleans stattf<strong>in</strong>det, sondern <strong>in</strong> der Hanse<br />
stadt Bremen. Tausende Aussteller und Besucher aus 60 Na<br />
tionen. Kanada, Australien, Belgien, Taiwan, Brasilien — und<br />
<strong>Deutschland</strong> vorneweg.<br />
Mit vollgestopften Tüten kam ich nach Hamburg zurück. Flyer,<br />
Prospekte, CDs. Alle versprechen sie Unerhörtes oder Vertrautes,<br />
manche sogar beides gleichzeitig — was tut man nicht alles, um<br />
Gehör zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>.<br />
E<strong>in</strong>es Nachmittags im Juni saß ich e<strong>in</strong>igermaßen ratlos zwischen<br />
all <strong>den</strong> Platten, Unterlagen und Notizen. <strong>Jazz</strong> ist nicht gleich<br />
<strong>Jazz</strong>. Es gibt so viel. Und es gibt immer mehr. Es gibt vielleicht<br />
sogar zu viel. Selbst <strong>die</strong> heimische Szene ist kaum zu überblicken.<br />
Wo soll man da anfangen?<br />
Es war e<strong>in</strong>e Verzagtheit, <strong>die</strong> je<strong>den</strong> ereilen kann, der sich <strong>in</strong>tensiver<br />
mit <strong>den</strong> Hervorbr<strong>in</strong>gungen unserer Kulturnation befasst. Die<br />
Romane türmen sich auf, klassische Konzerte gibt es an jeder<br />
Ecke, <strong>Deutschland</strong> steht <strong>in</strong> der Blüte. Wir haben von allem<br />
mehr, als wir sehen, hören, lesen können. Luxus. Hölle.<br />
In <strong>die</strong>sem Moment kl<strong>in</strong>gelte das Telefon.<br />
»Hey, hey, wie geht‘s?«<br />
» Ra<strong>in</strong>er«<br />
Kaum <strong>den</strong>ke ich Hölle, ruft der Gottesmann an. Ra<strong>in</strong>er ist<br />
Pastor <strong>in</strong> Hamburg, und er versteht sich auf Unterbrechun<br />
gen. Seit Monaten lässt er je<strong>den</strong> Mittag <strong>in</strong> Barmbek <strong>die</strong><br />
Glocken läuten, damit <strong>die</strong> Gläubigen wie <strong>die</strong> Ungläubigen<br />
wenigstens e<strong>in</strong>mal am Tag herausgerissen wer<strong>den</strong> aus ihren<br />
Gedankenketten.<br />
»Heute Abend schon was vor? Mirko spielt mit se<strong>in</strong>er Band, sie<br />
stellen ihre erste Platte vor...<br />
Mirko ist se<strong>in</strong> Neffe, e<strong>in</strong> junger <strong>Jazz</strong>pianist. Ich habe ihn e<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>ziges Mal gesehen, vor Weihnachten, <strong>in</strong> ganz anderem Zu<br />
sammenhang: hei e<strong>in</strong>em Bibliodrama-Happen<strong>in</strong>g. Da spielte er,<br />
se<strong>in</strong>em Onkel zuliebe, e<strong>in</strong>en 500 Jahre alten Hit, 0 Heiland,<br />
reift <strong>die</strong> Himmel auf während <strong>die</strong> versammelte Geme<strong>in</strong>de <strong>den</strong><br />
Text des Kirchenliedes gestisch und tänzerisch ausdeutete. Ge<br />
lebter Protestantismus <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>!
Golz. Am Bass: Jonas Teichmann. Am Schlagzeug: Frederik<br />
1959 gibt, und es existiert <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Stadt noch e<strong>in</strong>iges mehr.<br />
Weißel. Ich kenne nicht e<strong>in</strong>en von ihnen und ja auch <strong>den</strong> Band<br />
Vom Volt im hippen Karoviertel hatte ich nie gehört.<br />
leader nicht wirklich. So ist das im <strong>Jazz</strong>: immer was <strong>Neu</strong>es.<br />
Als ich gegen halb neun am Ort e<strong>in</strong>treffe, kann ich es kaum<br />
Im schummerigen Licht beg<strong>in</strong>nen sie, ihre psychedelisch ange<br />
fassen: <strong>die</strong> Karol<strong>in</strong>enstraße 45, das ist mitten auf dem Messe<br />
hauchten Stücke zu spielen. Es ist brüllend heiß, <strong>die</strong> Luft zum<br />
gelände. E<strong>in</strong> altes rores Backste<strong>in</strong>haus zwischen <strong>den</strong> strahlend<br />
weißen Ausstellungshallen. Die Messe hat sich <strong>den</strong> Bau optisch<br />
e<strong>in</strong>verleibt, <strong>in</strong>dem sie ihr Dach wie e<strong>in</strong>en Schirm darübergespannt<br />
hat. Und es ist <strong>die</strong>s nicht irgende<strong>in</strong> Messegelände: Es<br />
Schnei<strong>den</strong>, <strong>die</strong> Körper Heben ane<strong>in</strong>ander.<br />
Der Klang von Mirkos E-Piano er<strong>in</strong>nert an <strong>die</strong> große Zeit<br />
des <strong>Jazz</strong>tock, an <strong>den</strong> US-Amerikaner Chick Corea und se<strong>in</strong>e<br />
ist Rk e<strong>in</strong> paar Tage AnfangJuli das Zentrum des Weltgeschehens.<br />
Hier tagt G20. Schon Wochen vorher ist alles voll mit Polizei.<br />
Vor dem E<strong>in</strong>gang zum Club stehen junge Leute mit Bierflaschen<br />
und rauchen, vor <strong>den</strong> r<strong>in</strong>gsum verteilten Mannschaftswagen<br />
stehen Polizisten ohne Bierflaschen und rauchen. Das Volt ist an<br />
<strong>die</strong>sem Abend <strong>die</strong> bestbewachte Spielstätte <strong>Deutschland</strong>s.<br />
Für sieben Euro E<strong>in</strong>tritt und e<strong>in</strong>en Stempel auf <strong>die</strong> Hand geht<br />
es nach oben. Wir haben Mühe, uns zu bewegen. <strong>den</strong>n <strong>in</strong> dem<br />
Me<strong>in</strong>en Raum ist es brechend voll. Durchschnittsalter 25, aber<br />
nur, weil Ra<strong>in</strong>er und ich es etwas anheben. <strong>Jazz</strong>lab heißt das<br />
nie gehört,<br />
ebenfalls<br />
Label, das sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Nacht präsentiert —<br />
es ist erst e<strong>in</strong> paar Monate alt. Fünf junge Bands spielen, abwech<br />
selnd auf zwei Bühnen. Wenn auf der e<strong>in</strong>en Bühne der letzte<br />
Ton verkl<strong>in</strong>gt, kommt der erste von der zweiten Bühne. Ke<strong>in</strong>e<br />
Umbaupausen. Dieser <strong>Jazz</strong> will schnell zur Sache kommen.<br />
Cubolumos. An <strong>den</strong> Tasten: Mirko Cibson. Am Saxofrmn: Lasse<br />
Mirko musste das Lied im Laufe der Stunde e<strong>in</strong> Dutzend Mal<br />
wiederholen. Er tat es so geduldig wie konzentriert. H<strong>in</strong>terher<br />
g<strong>in</strong>g ich zu ihm an <strong>den</strong> Flügel und fragte ihn, ob er mir zur<br />
Er<strong>in</strong>nerung nicht noch e<strong>in</strong>e <strong>Jazz</strong>version spielen könnte. Mirko<br />
lächelte kurz. Ja, gerne. Ich zog me<strong>in</strong> Smartphone hervor und<br />
drückte auf Aufnahme. Ohne e<strong>in</strong>e Sekunde zu überlegen, spielte<br />
er <strong>die</strong> Melo<strong>die</strong>, variierte sie, improvisierte über das ibema und<br />
schlug e<strong>in</strong>en gekonnten Bogen zum Schluss. E<strong>in</strong>e perfekte Form<br />
aus dem Moment heraus. Großartiger Musiker.<br />
»Okay«, sagte ich zu Ra<strong>in</strong>er am Telefon, »ich komme mit. Wo<br />
ist <strong>den</strong>n das?«<br />
«Im Volt, Karol<strong>in</strong>enstraße 45.»<br />
Volt? Ich kenne <strong>den</strong> Hafenbahnhof unten an der Elbe, je<strong>den</strong><br />
Montag <strong>Jazz</strong>. das Golem am Fischmarkt, je<strong>den</strong> Mittwoch, <strong>die</strong><br />
Cascadas Bar am Hauptbahnhof, das Birdland <strong>in</strong> Eimsbüttel,<br />
<strong>die</strong> Fabrik <strong>in</strong> Altona, Kampnagel, <strong>den</strong> Cotton Club, <strong>den</strong> es seit
Auftreten.<br />
Freunde von Return to Forever. Deren Musik <strong>in</strong> <strong>den</strong> siebziger<br />
Jahren des letzten Jahrhunderts war melodisch aufgela<strong>den</strong>,<br />
rhythmisch voller Raff<strong>in</strong>esse und <strong>in</strong>sgesamt so zugespitzt und<br />
makellos, dass ihr Beweisenwollcn irgendwann auch e<strong>in</strong> wenig<br />
langweilig wurde.<br />
Mirkos Band geht da ganz anders heran. Alles wiritt zurück<br />
genommen. Die Stücke lassen <strong>den</strong> Hörern Raum. Man ist bei<br />
allem Können nicht zum Staunen verdammt. Gleichwohl hält<br />
sich auch <strong>die</strong>se Musik an klare Formen. Sie scheut harmonische<br />
Wagnisse, ist geradezu e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>ladung an neue Hörer, es doch<br />
e<strong>in</strong>mal mit <strong>Jazz</strong> zu versuchen.<br />
Aber jetzt b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong>er typischen Obsession des Genres erlegen:<br />
zu vergleichen und zu bewerten. Der spielt wie der und der,<br />
also fast. Und wie sehr geht das <strong>den</strong> Unkundigen auf <strong>den</strong> Keks.<br />
Dabei kommt man ohne kaum aus, <strong>den</strong>n wie sich sonst zurecht<br />
f<strong>in</strong><strong>den</strong> im Ozean der Ansätze? <strong>Jazz</strong> ist immer auch Sortieren.<br />
Mirko und se<strong>in</strong>e Band stehen am Anfang ihres Weges. Wer ihre<br />
Musik mag, kann sie begleiten. So machen es viele <strong>Jazz</strong>freunde:<br />
Sie geraten zufällig <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Konzert, lassen sich überraschen, an<br />
sprechen, merken sich unbekannte Namen und schauen, woh<strong>in</strong><br />
sie <strong>die</strong>se Musiker über <strong>die</strong> Jahre führen. <strong>Wie</strong>der und wieder<br />
gehen sie zu <strong>den</strong> Auftritten. Hitpara<strong>den</strong> und Verkaufszahlen<br />
kümmern sie nicht. <strong>Jazz</strong> ist ihnen e<strong>in</strong>e Frage des Interesses, des<br />
Zugewandtse<strong>in</strong>s, der Liebe. <strong>Deutschland</strong>s <strong>Jazz</strong>puhlikum lässt<br />
sich von der Market<strong>in</strong>gmasch<strong>in</strong>erie kaum erreichen. Es will<br />
entdecken und hört, was es will.<br />
Nach dem Set bedanken wir uns bei Mirko, und Mirko bedankt<br />
sich bei uns. Im <strong>Jazz</strong> danken <strong>die</strong> Musiker ihrem Publikum gern<br />
und viel, manche schon von der Bühne herab, während sie noch<br />
spielen. Sie freuen sich über das Interesse an ihrer Musik. Sie<br />
wissen, wie kostbar Aufmerksamkeit ist. Die Aufmerksamkeit<br />
br<strong>in</strong>gt am Ende das Geld, wenn auch nicht viel. Denn <strong>Jazz</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>Deutschland</strong>, das ist, trotz all der aktuellen Bewegung, immer<br />
noch e<strong>in</strong> hartes Brot.<br />
Drei Euro ist ihr Stun<strong>den</strong>lohn, das hat Anna-Lena Schnabel<br />
neulich mal ausgerechnet. Die 28-jährige Saxofonist<strong>in</strong> zählt<br />
zusammen: Üben, Organisieren, Komponieren, Reisen, Über<br />
nachten, Proben und — ja — Vergangenen November<br />
eröffnete sie als Gastsolist<strong>in</strong> des Julia Hülsmann Quartetts das<br />
Berl<strong>in</strong>er <strong>Jazz</strong>fest, und im voll besetzten Haus der Berl<strong>in</strong>er Festspiele<br />
wusste kaum jemand, wer sie ist. Das hat sie dann mit e<strong>in</strong><br />
paar Salven aus ihrem Mtsaxofon geändert. Mag <strong>die</strong> zierliche<br />
Musiker<strong>in</strong> mit dem wallen<strong>den</strong> Haar auch jedes Publikum um<br />
hauen mit ihrer Kraft und Unbekümmertheit, ihrer Frische und<br />
ihrem Gestaltungsdrang: Es haut sie am Ende des Monats um,<br />
wenn sie sieht, wie wenig bei ihr hängen bleibt.<br />
Sie macht es ja nicht wegen des Geldes. Sie macht es, weil sie es<br />
will und muss. Und das hört man. Bloß, wovon soll sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er
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Die Sänger<strong>in</strong> Laura Totenhagen an ihrer Balkontür <strong>in</strong> KöIn-Braunsfeld<br />
großen Stadt ihre Wohnung bezahlen? Ober das letzte Jahr<br />
h<strong>in</strong>weg hat sie sich, <strong>die</strong> aus Stadthagen stammt und <strong>in</strong> Hamburg<br />
<strong>Jazz</strong> stu<strong>die</strong>rt hat, mir Pendeln und lmprovisieren beholfen. Ihre<br />
Wohnung auf St. Pauli, vom Schimmel befallen, musste sie<br />
aufgeben. Seither ist sie unterwegs zwischen hier und da.<br />
Wo s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> gut betuchten <strong>Jazz</strong>&ns, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e grandiose Musiker<strong>in</strong><br />
mit e<strong>in</strong>em Wohnstipendium unterstützen könnten? Warum<br />
wird alles Geld <strong>in</strong> Oper und Philharmonie gesteckt? Herr Bundes<br />
präsi<strong>den</strong>t, lassen Sie das <strong>in</strong> Ihrer <strong>Jazz</strong>rede nicht unerwähnt!<br />
Der Berl<strong>in</strong>er Christian Lill<strong>in</strong>ger lebt davon, nicht <strong>in</strong> Deutsch<br />
land zu spielen. Das sagt er selber, und es stimmt nur halb oder<br />
zu drei Vierteln. Der Schlagzeuger versteht sich auf Po<strong>in</strong>ten.<br />
Jeder dritte Satz bei ihm kommt mit e<strong>in</strong>em Trommelwirbel.<br />
Kanada. Philipp<strong>in</strong>en. Südamerika. Lissabon. Budapest. Der<br />
schnittige Musiker mit dem Kurzhaar-Blond und der Rock-‘n‘<br />
Roh-Tolle, e<strong>in</strong> vorletztes K<strong>in</strong>d der DDR. geboren am Spree<br />
wald, ist <strong>in</strong> der Welt bekannter als hier dr<strong>in</strong>nen. Deshalb ist er<br />
der dr<strong>in</strong>gendste Tipp, <strong>den</strong> <strong>die</strong>ser Text zu geben hat: Los, los,<br />
Lill<strong>in</strong>ger hören<br />
Der 33-Jährige nimmt es von überall her. Aus dem HipHop, aus<br />
der <strong>Neu</strong>en Musik. Die Beats können ihm nicht unrund genug<br />
se<strong>in</strong>. Ey; wie wär‘s mit Sechssiebtel, aber dann Fünfsechzehntel<br />
und Dreiachtel h<strong>in</strong>terher und das Ganze auf Druck. Die <strong>Jazz</strong><br />
musiker nach dem Krieg, sagt er, hätten so was gar nicht spielen<br />
können, re<strong>in</strong> handwerklich, <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser unglaublichen Präzision.<br />
<strong>Jazz</strong> sei damals nicht so kle<strong>in</strong>teilig gewesen, nicht besser oder<br />
schlechter, nur eben anders.<br />
Hyperactive Kid hat er e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er Bands genannt: der Zappel<br />
philipp, das ist er. Ne<strong>in</strong>, ich esse eure Rhythmen nicht. Er misst<br />
sich am Verrücktesten und Vertracktesten. Es dauert ihm alles<br />
viel zu lang, obwohl ihm alles viel zu schnell geht. Er schwärmt<br />
von Musikern, <strong>die</strong> floaten, <strong>die</strong> superschnell s<strong>in</strong>d im Zusam<br />
menschalten — und das s<strong>in</strong>d alles se<strong>in</strong>e Worte. E<strong>in</strong> Musiker,<br />
sagt er, sei e<strong>in</strong> Forscher, das heißt, es gebe nicht immer e<strong>in</strong><br />
Ergebnis. E<strong>in</strong> Musiker, sagt er, sei e<strong>in</strong> Künstler, man müsse <strong>die</strong><br />
Leute überzeugen, und <strong>die</strong> Leute müssten sich h<strong>in</strong>geben, und<br />
<strong>die</strong> Leute müssten auch Buh sagen können: Ne<strong>in</strong>, ich mag das<br />
Konzert nicht.<br />
Lill<strong>in</strong>ger dHschr auf mich e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, wir s<strong>in</strong>d beim Abend<br />
essen bei e<strong>in</strong>em Franzosen am Prenzlauer Berg1 und ich kann<br />
nicht so schnell mitschreiben, wie er es prasseln lässt. Jan <strong>in</strong><br />
<strong>Deutschland</strong>, sagt er, bewege sich zwischen Superlangeweile<br />
und Superterror. Und er ist mittendr<strong>in</strong> und kuckt oben raus.<br />
We Know Not What We D0 heißt <strong>die</strong> eben erschienene Platte<br />
se<strong>in</strong>es Quanetis Amok Amor. Es ist, wenn ich das mal so sagen<br />
darf, rhythmisch-melodisch superverschachtelter Liebesterror mit<br />
Trompete, Saxofon, Bass und Schlagzeug, und der Titel ist unglatt<br />
— zu fünf Vierteln — gelogen. Diese Musiker wissen, was sie tun,<br />
und <strong>den</strong> Hörern fliegen <strong>die</strong> Ohren weg. In <strong>den</strong> Konzerten müssen<br />
sie schreien, weil <strong>die</strong> e<strong>in</strong>gestrahlte Energie irgendwo h<strong>in</strong>muss.<br />
Nach dem Essen rufen wir e<strong>in</strong> Taxi, und Lill<strong>in</strong>ger führt mich<br />
nach <strong>Neu</strong>kölln <strong>in</strong>s Sowieso, e<strong>in</strong>en Wohnzimmer-Club für Free<br />
<strong>Jazz</strong> und Improvisation, damit ich mal höre, was <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> so<br />
abgeht. Der E<strong>in</strong>tritt kostet 8 bis 15 Euro, kann man selber<br />
bestimmen. Zwanzig, dreißig Leute s<strong>in</strong>d da, wir f<strong>in</strong><strong>den</strong> grad<br />
noch e<strong>in</strong>en Plan. Den Abend eröffnet e<strong>in</strong> mir unbekannter<br />
Trompeter namens Brad Henkel, e<strong>in</strong> Amerikaner <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>,<br />
der währe,zd se<strong>in</strong>es halbstündigen Solos se<strong>in</strong> Instrument aus<br />
e<strong>in</strong>andernimmt und wieder zusammenbaut, zischend, sprdlnd,<br />
ifrand, grschtschtschtnd. E<strong>in</strong> Noise-Erzeuger, der beim Spielen<br />
<strong>die</strong> Rohre herauszieht und an <strong>den</strong> Ventilen dreht. Wenn ich<br />
<strong>die</strong> Augen schließe, sehe ich ke<strong>in</strong>en schwitzen<strong>den</strong> Virtuosen<br />
zwischen Spucke und Schrauben, sondern e<strong>in</strong>en bläulich an<br />
geschimmerten Nerd, der mit e<strong>in</strong> paar Klicks auf se<strong>in</strong>em<br />
Laptop grobporiges Rauschen unterschiedlicher Schattierungen<br />
synthetisiert.<br />
Und dann sitze ich bei Laura auf dem Küchenbalkon, Miet<br />
wohnung <strong>in</strong> Köln, Sonntagnachmittag, 30 Grad, sie hat lecker<br />
Kuchen geholt, Estee gemacht. Jan ist ja immer auch: <strong>in</strong> Ruhe<br />
mal über alles re<strong>den</strong>.<br />
Totenhagen nennt sie ihr Quartett, nach ihr. Laura Totenhagen,<br />
großartiger Name. (Dazu flillt mir Peter Heisrerkamp e<strong>in</strong>, zu<br />
r<br />
P10 - ANA<br />
MARMAI GIRARDOT<br />
CC au, ME 1E<br />
UND STUDIOCANAL<br />
PRANOQIS JEAN-MARC MARIA<br />
CIVIL ROULOT VALVERDE<br />
a<br />
•.<br />
- 1. M<br />
<strong>ZEIT</strong>EN ÄNDERN SICH<br />
MENSCHEN ÄNDERN SICH<br />
FAMILIE BLEIBT<br />
DERWEIN<br />
UND DER<br />
WIND<br />
CDRIC KLAPISCH
—<br />
-<br />
——<br />
dem Joseph Beuys mal gesagt hat: Mit dem Namen Heister<br />
kamp wirste nie was <strong>in</strong> der Kunst, das kannste vergessen. Später<br />
sah ich Heisterkamps Arbeiten auf der Documenta, da hieß er<br />
schon Bl<strong>in</strong>ky Palermo.)<br />
(Was hat das jetzt mit unserem Thema zu tun? Sorry. Ab<br />
schweiftrng. Spontane Idee. Aber das ist <strong>Jazz</strong>. So funktioniert<br />
<strong>Jazz</strong>. E<strong>in</strong> plötzlicher E<strong>in</strong>fall, der <strong>in</strong>s Freie gel&ngt, und alle<br />
müssen damit leben: <strong>die</strong> anderen <strong>in</strong> der Band, das Publikum<br />
auch. Improvisation! Manchmal hält man <strong>den</strong> Atem an: Wo<br />
will das Ganze jetzt h<strong>in</strong>, und wie f<strong>in</strong>det das zu e<strong>in</strong>em guten<br />
Ende?)<br />
(Denn das ist ja auch Jan: <strong>die</strong> Erwartung, dass sich aus dem<br />
improvisierten Tun e<strong>in</strong>e Form ergeben möge; Spontaneität ist<br />
schön, aber noch schöner ist es, wenn sie sich zu etwas Fügt:<br />
wenn der melodische oder harmonische oder rhythmische<br />
Ausbruch e<strong>in</strong>e Po<strong>in</strong>te f<strong>in</strong>det, <strong>die</strong> niemand erwartet hat.)<br />
(Bl<strong>in</strong>ky Palermo heißt e<strong>in</strong> besonders schwungvolles Stück auf<br />
der neuen Platte des Pianisten Omer Kle<strong>in</strong>, der seit Jahren <strong>in</strong><br />
der Stadt lebt, <strong>in</strong> der Beuys lehrte und Heisterkamp stu<strong>die</strong>rte.<br />
Omer Kle<strong>in</strong> aus Netanja bei Tel Avit; der über New York nach<br />
Düsseldorf gekommen ist: e<strong>in</strong> israelischer <strong>Jazz</strong>pianist, e<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>Deutschland</strong> lebender israelischer<strong>Jazz</strong>pianist, e<strong>in</strong> angedeutschter<br />
<strong>Jazz</strong>pianist, der Königsberger Klopse liebt — mit Kapern! — und<br />
vom Mtbier schwärmt.)<br />
Torenhagen spielten neulich auf dem <strong>Jazz</strong>fest Bonn als Vorgruppe<br />
vor dem (und jetzt ist es geschafft:) Omer Kle<strong>in</strong> Trio.<br />
Der populäre Pianist und <strong>die</strong> Newcomer<strong>in</strong>, das ist so e<strong>in</strong> gewisses<br />
Konzept des Festivals. Den Horizont erweitern, Konstellationen<br />
herstellen, e<strong>in</strong> Ohr an der <strong>Jugend</strong>. Der Abend war ausverkauft,<br />
wie alle Konzerte des Festivals schon Wochen vor Beg<strong>in</strong>n. An<br />
Publikum fehlt es dem <strong>Jazz</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nicht.<br />
Laura Totenhagen, gerade mal 24, tritt auf <strong>die</strong> Bühne, vor <strong>die</strong><br />
Männer ihres Quartetts. E<strong>in</strong>e junge Frau, <strong>die</strong> <strong>den</strong> Ton angibt.<br />
Sie s<strong>in</strong>gt Assernbly L<strong>in</strong>e, e<strong>in</strong> Lied, das sie auf e<strong>in</strong> Gedicht der<br />
oppositionellen ch<strong>in</strong>esischen Lyriker<strong>in</strong> Shu T<strong>in</strong>g komponiert hat.<br />
Assembly Litze, Fließband.<br />
Wir kommen von der Nachtsehicht aus der Fabrik / In e<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>ie,<br />
während wir nach Hause marschieren. / Über unseren Köjfen <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er Reihe / Erstreckt sich / Das Fließband der Sterne. / Neben<br />
uns kle<strong>in</strong>e Bäume, / Taub am lauf<strong>in</strong><strong>den</strong> Band.<br />
Aber das ist der Versuch e<strong>in</strong>er deutschen Übersetzung der eng<br />
lischen Übersetzung. Laura s<strong>in</strong>gt an <strong>die</strong>sem Abend auch Ch<strong>in</strong>e<br />
sisch. Laura Totenhagen spricht Ch<strong>in</strong>esisch! BaumwollFeld goes<br />
Reisfeld.<br />
Mit vier sitzt sie am Klavier. Mit zwölf wechselt sie zur Oboe,<br />
weil das e<strong>in</strong> Instrument ist, das niemand spielt. E<strong>in</strong>e begabte<br />
Schüler<strong>in</strong>, <strong>die</strong> es bis <strong>in</strong>s Bundesjugendorchester scham. Mit 18<br />
sieht sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>Jazz</strong>reihe <strong>in</strong> Erftstadt <strong>die</strong> österreichische <strong>Jazz</strong>
e<strong>in</strong><br />
Sänger<strong>in</strong> Filippa Gojo — Auftritt, der sie umhaut. Geschieht<br />
immer wieder im <strong>Jazz</strong>, <strong>die</strong>ses Umhauen. Du hörst etwas, und es<br />
verändert de<strong>in</strong> Leben.<br />
Seither s<strong>in</strong>gt sie selber, demnächst als Meisterstu<strong>den</strong>t<strong>in</strong> <strong>in</strong> Köln.<br />
Was für e<strong>in</strong>e Stimme, fe<strong>in</strong>, diskret, <strong>in</strong>tim, und wie elegant s<strong>in</strong>d<br />
<strong>die</strong> Arrangements. Da mögen manche schimpfen über <strong>die</strong><br />
Akademisierung des <strong>Jazz</strong>, aber gute Ausbildung br<strong>in</strong>gt zuweilen<br />
auch gute Ergebnisse hervor. Laura ist High End.<br />
Ihre erste Platte ist gerade herausgekommen. Mit der Auflage<br />
von 500 Stück wird sie ke<strong>in</strong>e Millionen e<strong>in</strong>nehmen, aber es<br />
ist ihre Visitenkarte für <strong>den</strong> Start <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Jazz</strong>welt. E<strong>in</strong> Album<br />
braucht, wer hekannt ‘ver<strong>den</strong> will.<br />
Schon paradox: <strong>Jazz</strong>, <strong>die</strong>se Kunst des Moments, wird beglaubigt<br />
erst durch <strong>die</strong> Konserve.<br />
Zum Aufnehmen gehen Musiker gern <strong>in</strong>s Kölner Loft, das zu<br />
<strong>den</strong> besten deutschen Glubs zählt. Hier wird der <strong>Jazz</strong> nach vorn<br />
gedacht. Das Loft liegt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Seitenstraße <strong>in</strong> Ehrenfeld, E<strong>in</strong><br />
gang auf dem Hof, e<strong>in</strong> paar schmale Treppen rauf.<br />
Oben s<strong>in</strong>d es an <strong>die</strong>sem Abend 30 Grad, subtropisches<br />
<strong>Deutschland</strong>. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>sames Klima-Aggregat schüttet se<strong>in</strong>e Kälte<br />
<strong>in</strong> <strong>den</strong> kle<strong>in</strong>en Saal, ausverkauft, 70 junge Leute. Ussig s<strong>in</strong>d sie<br />
gekleidet, viele <strong>in</strong> kurzen Hosen. Sie wollen Pahlo Held hören.<br />
Pablo Held, eben 30, ist e<strong>in</strong> Pianist mit ungewöhnlichen Ideen.<br />
Legen&r s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Auftritte se<strong>in</strong>es Trios, weil <strong>die</strong> drei das Material,<br />
das sie verwen<strong>den</strong>, immer neu verfligen, <strong>in</strong>dem sie ke<strong>in</strong>e Setlist<br />
herunterspielen, sondern alle Stücke des Repertoires frei kom<br />
b<strong>in</strong>ieren. Sie fangen irgendwo an und kommen irgendwo h<strong>in</strong>.<br />
Unterwegs br<strong>in</strong>gen sie, was sie vorbereitet haben oder was ihnen<br />
gerade e<strong>in</strong>ffillt. Es ist e<strong>in</strong>e Forschung im Lill<strong>in</strong>gerschen S<strong>in</strong>ne,<br />
e<strong>in</strong>e Superverschalwng. So halten sie <strong>die</strong> Reproduktion vertrauter<br />
Stücke für sich selber <strong>in</strong>teressant.<br />
Im Loft hat Pablo Held e<strong>in</strong>e eigene Reihe, <strong>in</strong> der er nicht mit<br />
se<strong>in</strong>em Trio spielt, sondern befreundete Musiker zu nur e<strong>in</strong>em<br />
Abend e<strong>in</strong>lädt. lrgendwer wird ihm das bezahlen, <strong>den</strong>n alle<strong>in</strong><br />
vom E<strong>in</strong>trittsgeld ließen sich schon <strong>die</strong> Reisekosten nicht be<br />
streiten. Am Bass ist heute e<strong>in</strong> Österreicher, am Schlagzeug e<strong>in</strong><br />
Spanier, am Saxofon e<strong>in</strong> Amerikaner.<br />
Die vier breiten meterlange Notenblätter auf ihren Ständern aus.<br />
Es gihtalso Kompositionen. Siebeg<strong>in</strong>nen mit Waterßabies, e<strong>in</strong>em<br />
melancholisch pulsieren<strong>den</strong> Stück, das vor 40 Jahren e<strong>in</strong>er Platte<br />
des legendären Trompeters Miles Davis <strong>den</strong> Namen gab.<br />
Pahlo Held spielt klare Laufe am Flügel, <strong>die</strong> auf letzte Kniffe<br />
verzichten zugunsten e<strong>in</strong>er vagen Schönheit, ausbalanciert und<br />
poetisch. Ich kann mir kaum e<strong>in</strong>e Musik vorstellen, <strong>die</strong> weiter<br />
vom Kitsch entfernt wäre, ohne sperrig oder willkürlich zu<br />
kl<strong>in</strong>gen. Der Saxofonisc Robert Stillman hat e<strong>in</strong>en leisen, leicht<br />
sprö<strong>den</strong> Ton, gerade nur so spröde, dass er sich dem Hörer<br />
nicht anbiedert. Der Schlagzeuger Jorge Rossy macht viel mir
Christian Lill<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Proberaum <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-[ichtenberg<br />
<strong>den</strong> Hän<strong>den</strong>, se<strong>in</strong>e zart zischen<strong>den</strong> Becken hüllen <strong>die</strong> L<strong>in</strong>ien<br />
der Melo<strong>die</strong><strong>in</strong>strumente e<strong>in</strong>. Der Bassist Matthias Pichler spielt<br />
s<strong>in</strong>nlich und dezent, unaufdr<strong>in</strong>glich akzentuiert. Bei e<strong>in</strong>em Solo<br />
sieht man ihn manchmal kurz <strong>in</strong>nehalten, ganz so, als wisse er<br />
nicht, welche Note er als nächste spielen soll. Die Blicke des<br />
Publikums saugen sich an <strong>die</strong>sen Pausen fest. Hier kann man<br />
<strong>die</strong> Improvisation tatsächlich sehen.<br />
Das Spiel zwischen <strong>den</strong> Vieren läuft so nahtlos zusammen, als<br />
ob sich alles von alle<strong>in</strong> austarierte. <strong>Wie</strong> machen sie das, wenn<br />
sie als Band doch gar nicht existieren? Jahrelange Ause<strong>in</strong>ander<br />
setzung mit der Musik, um dann ganz präsent zu se<strong>in</strong>, wenn<br />
der Moment da ist, der Moment, um <strong>den</strong> es geht, um <strong>den</strong> sich<br />
alles dreht, wenn das Horn gol<strong>den</strong> schimmert im gelben Licht,<br />
wenn <strong>die</strong> Lider sich schließen, <strong>die</strong> Leiber sich wiegen: wenn das<br />
Jetzt plötzlich da ist und jene Magie entsteht, auf <strong>die</strong> alle hoffen,<br />
jenes Schweben der Seele, <strong>die</strong>ses so schwer zu fassende Glück.<br />
Wenn <strong>die</strong> Gedanken stillstehen oder ihren Kurs ändern, wenn<br />
<strong>die</strong> <strong>in</strong>neren Wogen sich glätten oder neu formieren — wenn <strong>die</strong><br />
Musik uns berührt<br />
A°<strong>32</strong> [<br />
<strong>ZEIT</strong>MACAZIN<br />
H<strong>in</strong>ter der Geschichte: Im April besuchte unser Reporter <strong>die</strong><br />
weltweit größte <strong>Jazz</strong>messe <strong>in</strong> Bremen. Er befragte Labels, Promater,<br />
Veranstalter und Kritiker zum Aufschwung des Genres.<br />
Aus <strong>den</strong> Antworten hätte er e<strong>in</strong>en Branchenüberblick ader e<strong>in</strong>en<br />
historischen Abriss verfassen können, so klug wie trocken. Aber<br />
wo ist der Funke, der <strong>den</strong> <strong>Jazz</strong> zum Glühen br<strong>in</strong>gt? In <strong>den</strong> kle<strong>in</strong>en<br />
Clubs wurde er fündig: Es gibt so viele junge Musiker, <strong>die</strong> für <strong>die</strong>se<br />
Mu&k brennen. Uber fünf van ihnen schreibt er hier. Über <strong>die</strong><br />
anderen dann später -.<br />
ZEHN SCHRITTE ZUM JAZZ<br />
j. Wenn Sie iwch nie behn <strong>Jazz</strong> waren, bitten Sie Freunde, <strong>die</strong><br />
sich auskennen, Sie mitzunehmen. Das ist gesellig und<br />
beschleunigt <strong>die</strong> Annäherung — an <strong>die</strong> Musik und <strong>die</strong> Freunde.<br />
z. Geben Sie unbekannten Musikern e<strong>in</strong>e chance.<br />
Technisch s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> meisten <strong>Jazz</strong>er besser ab Popmusiker Und anders<br />
ab Orchestennusiker können sie spielen, wozu sie Lust<br />
haben. Können und Spaß das ist e<strong>in</strong>e attraktive Komb<strong>in</strong>ation.<br />
Lassen Sie sich überraschen. Entdecken ist so viel efiillender<br />
.<br />
ab Erwarten.<br />
4. Wenn Sie etwas Fremdartiges hören: Genießen Sie es.<br />
Wenn Sie etwas ganz und gar nicht mögen.<br />
.<br />
nicht aushalten, nicht ertragen: Dann gehen Sie doch e<strong>in</strong>fach.<br />
Behn <strong>Jazz</strong> gibt es ke<strong>in</strong>en Zuendehörzwang.<br />
6. Je <strong>in</strong>timer e<strong>in</strong> chb, desto <strong>in</strong>tensiver das Erlebnis.<br />
Natürlich können Sie <strong>Jazz</strong> auch <strong>in</strong> der Elbphilharmonie hören<br />
(so Sie Karten bekommen.).<br />
7. Wenn es Ihnen gefallen hat, sagen Sie es <strong>den</strong> Musikern.<br />
Diefreuen sich über e<strong>in</strong> Echo, <strong>den</strong>n es ist ihre persönliche Musik.<br />
Viele <strong>Jazz</strong>musiker scheren sich weder um das glitzernde,<br />
aufAbgrenzung bedachte Startunz des Pop noch um <strong>die</strong> starren<br />
Aufflihrungsrituale der Klassik. Sie s<strong>in</strong>d nahbar, Bürger wie wir.<br />
8. Zu <strong>den</strong> irrefiihrendsten Sätzen nach Konzerten zählt <strong>die</strong>ser:<br />
»Ja, sehr schön, aber zu Hause würde ich mir so envas nie anhören. «<br />
Tun Sie genau das. Kirfen Sie der Band e<strong>in</strong>e Scheibe ab, und<br />
hören Sie sie daheim. Nachher wird das noch Ihre Liebl<strong>in</strong>gspkzne.<br />
9. Wenn Sie Musik gekauft haben und mögen,<br />
achten Sie auf das LabeL Da jede Planenf<strong>in</strong>na e<strong>in</strong>e eigene<br />
musikalische Ästhetik hat, kann ihr Programm <strong>den</strong><br />
Weg zu Ähnlichem weisen — bis Sie so weit s<strong>in</strong>d, etwas hören zu<br />
wollen, das ganz anders ist ab das, was Sie schon kennen.<br />
ia. E<strong>in</strong> Musiker gibt <strong>den</strong> anderen. Wenn Ihnen behn Hören e<strong>in</strong>er<br />
Bandjemand besonders gut gefällt, dann schauen Sie,<br />
wann er wieder <strong>in</strong> der Nähe ist und ob es Aufirn<strong>in</strong>nen von ihnz <strong>in</strong><br />
anderen Konst?llationen gibt. Planenlä<strong>den</strong><br />
Ge kle<strong>in</strong>er, je besser) s<strong>in</strong>d bei der Auswahlgern behilflich.<br />
cONRAD<br />
canop<br />
HfI<strong>in</strong><br />
Hfltonj<br />
U1I{I()<br />
AB €<br />
PRO ZIMMER<br />
PRO NACHT<br />
*