Hinz&Kunzt 294 August 2017
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Das Hamburger
Straßenmagazin
Seit 1993
N O 294
Aug.17
2,20 Euro
Davon 1,10 Euro
für unsere Verkäufer
Sascha:
Mit elf das
erste Mal
obdachlos
Bosse:
„Ich kann
viel bewirken,
viel helfen.“
ART
MUSIC
TATTOO
12. & 13. AUGUST 2017
KULTURWERKSTATT ALTONA
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Editorial
Vom Sylvias Geburtstagskuchen
ist so gut wie nichts
mehr übrig. Die 58-Jährige
ist unsere dienstälteste
Hauswirtschafterin.
Gerne steht sie mit Frank,
genannt „Spinne“, hinter
dem Kaffeetresen. Aber der
Hauptjob von Sylvia, Elena
(links) und Carmen ist
Putzen. Auf Teilzeit –
und fest angestellt.
TITELBILD: DMITRIJ LELTSCHUK
Hamburgs Zentraler
Omnibusbahnhof (ZOB) ist
nicht jedem vertraut –
obwohl er mitten in der City
liegt. Was dort innerhalb
von 24 Stunden passiert,
wer wohin reist und wer was
erlebt, lesen Sie ab S. 6
Bosse kommt:
Im August spielt der
Sänger ein Konzert auf der
Trabrennbahn Bahrenfeld.
Wir haben den 37-Jährigen
gefragt, wieso er sich neben
der Musik für Obdachlose
stark macht. S. 48
Geschichten
aus unserem Alltag
Irgendwie sitzt uns allen noch der G20-Gipfel in den
Knochen. Die Gewalt, die martialischen Bilder, die
Geräusche. Im Vorfeld hatten wir einen offenen
Brief an die Senatoren Melanie Leonhard und Andy
Grote geschrieben und an Bürgermeister Olaf
Scholz (alle SPD). Wir hatten gefordert, dass die Obdachlosen
ein Ausweichquartier bekommen. Keine
Antwort. Während des G20 waren viele Obdachlose
einfach verschwunden. Und die, die blieben, gaben
sich betont cool. Obwohl sie zwischen die Fronten
von Polizei und Demonstranten gerieten (Seite 16).
Da tut etwas Alltag gut. Sylvia, unsere dienstälteste
Hauswirtschafterin, wurde 58 und hat für uns
Kuchen gebacken. Sie liebt es, unsere Büros mit
Blumen zu schmücken, Wäsche zu waschen, mit
„Spinne“ am Kaffeetresen zu stehen oder eben zu
backen. Aber ihr Hauptjob ist natürlich Putzen. Bei
um die 500 aktiven Hinz&Künztlern nicht gerade
einfach. Inzwischen hat sie noch zwei Kolleginnen:
Elena und Carmen, beide aus Rumänien, und beide
haben zunächst Zeitungen verkauft.
Für Elena ist der Schritt in die Festanstellung
besonders groß. Sie ging in Rumänien nur kurze Zeit
in die Schule. Und war noch nie richtig im Urlaub.
Aber im vergangenen Jahr war sie mit uns beim
Papst. „Schön!“, sagt sie und legt ihre Hand ans
Herz. Die drei kommen indirekt auch in unserem
Jahresbericht 2016 (Seite 42) vor. Sie sind drei von 22
Festangestellten, die früher wohnungslos waren. •
Ihre Birgit Müller
Chefredakteurin
(Wir freuen uns über Post von Ihnen.
Schreiben Sie uns doch an info@hinzundkunzt.de)
Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk
Das Thema: Unser
Hamburg. Das Werkzeug:
eine Kamera.
Hinz&Künztler machten
sich auf Motivsuche.
Die Resultate sehen
Sie ab S. 28
Inhalt
Stadtgespräch
04 Gut&Schön
06 24 Stunden am ZOB
12 Winternotprogramm 2018
14 Zahlen des Monats
16 G20-Rückblick
42 Jahresbericht 2016
Hinz&Künztler
24 Saschas neues Zuhause
28 Verkäufer-Fotowettbewerb
Lebenslinien
34 Autor: Günter Märtens
38 Live bei Oriental Karaoke
Freunde
44 Wettbewerb AudiYou
Kunzt&Kult
48 Musik: Bosse-Interview
52 12 Tipps für den August
56 Comic mit Dodo Dronte
58 Momentaufnahme
Rubriken
05 Kolumne
22 Meldungen
46 Leserbriefe
57 Rätsel, Impressum
Russland
Sehnsuchtsort
Datscha
Evgeny Makarov war noch Kind, als er
mit seiner Familie von Russland nach
Hamburg zog. Nun ist der Fotograf, der
auch für Hinz&Kunzt arbeitet, noch
einmal auf die Datscha seiner Kindheit
zurückgekehrt und hat die Bewohner
und ihren Alltag porträtiert. Zum
Beispiel Anna, die ihren Kraftort unter
ihrem Kirschbaum hat. Entstanden ist
ein warmherziger Bildband, durchzogen
von einer sanften Wehmut. FK
•
Einblicke in das Buch 600 M² Glück
gibt es unter www.evgenymakarov.com
WWW.HINZUNDKUNZT.DE
Gut&Schön
Korrekt einkaufen
„Markthalle
mit Flair“
Andreas Achtziger mag es pur – ohne
Plastikverpackungen oder Kartons.
FOTOS: EVGENY MAKAROV, (S.4), JULIA SCHWENDNER (OBEN),
ANDRE KRAMER (UNTEN), WWW.HELPHERE.DE, KOLUMNE: CHRISTOPHER KOCH
Engagement
Unermüdlich für die Demokratie unterwegs
Sie bleibt jung und unangepasst – Esther Bejarano.
Trotz ihrer 92 Lebensjahre tritt die Auschwitz-
Überlebende weiterhin mit der Kölner „Microphone
Mafia“ auf – wie hier in Hamburg. Geehrt wurde
sie jetzt mit dem „Hildegard Hamm-Brücher-
Förderpreis“ für Demokratie. FK
•
Protest hilft Obdachlosen
Es war der Hit im Internet: der
Comedien Andre Kramer und sein
Schild „Ich bin Anwohner und
gehe nur kurz zu Edeka“ vor aufmarschierter
Polizei beim G20.
Klar, dass Edeka das Bild für seine
Werbung nutzte. Was Kramer auf
die nächste Idee brachte: Er bat die
Lebensmittelkette um Spenden für
Obdachlose. Und Edeka lieferte an Hilfe per Klick
die Heilsarmee auf St. Pauli. So haben
wenigstens einige Obdachlose Suchen Unterstützung beim
Sie brauchen eine Bohrmaschine?
vom G20-Gipfel profitiert. FK
•
Umzug? Viele Menschen brauchen
Hilfe, viele Menschen wollen aber
auch helfen. Nur: Wie kommt man
schnell und unkompliziert zusammen?
25 Vereine haben nun die
Internetplattform „HelpHere“
eingerichtet: ein soziales Schwarzes
Brett. Anklicken, Hilfe suchen,
Hilfe posten, geordnet nach Postleitzahlen.
Einfach. Und klasse. FK
Alles unter: www.helphere.de
•
Sie sammeln für eine „Zero-Waste-
Markthalle“. Was wird das?
Eine Markthalle, wie man
sie aus Madrid oder Paris
kennt, haben wir in Hamburg
nicht. Ich möchte ein
wenig von deren Flair zu
uns bringen: eine Halle mit
vielen Ständen, mit viel Leben
und das verbunden mit
einem verpackungsfreien
Einkaufen. Auch ein verpackungsfreier
Supermarkt
gehört dazu.
Gegen Konsum sind Sie aber nicht?
Es gibt die einen, die einen
minimalistischen Lebensstil
pflegen, und es gibt die, die
gerne konsumieren, aber
Müll und Abfall vermeiden
möchten. Ich möchte beide
Gruppen ansprechen, möchte
nicht dogmatisch sein.
Was wird noch anders sein?
Es soll auch ein kultureller
Ort werden mit genügend
Freiflächen für Theaterprojekte,
für Lesungen und
Ausstellungen. Mein Traum
ist es, dass die Leute nach
dem Einkaufen an einer
langen Tafel zusammensitzen
und miteinander besprechen,
wie man diese
Welt vielleicht ein wenig
besser machen kann. FK
•
Crowdfunding noch bis zum
17.8.: www.startnext.com/
zerowaste-markthalle
5
Jahrzehntelang war der ZOB eine
richtige Schmuddelecke.
2003 dann die Renovierung –
für 16 Millionen Euro. Und er wurde
wegen seines futuristischen
Glasdaches „Bauwerk des Jahres“.
Drehkreuz in
die Welt
Busse kommen an und fahren ab,
Menschen verabschieden sich,
winken, warten, wuseln geschäftig umher:
Hamburgs Zentraler Omnibusbahnhof
(ZOB) ist ein spannender Ort.
Frank Keil (Text) und Mauricio Bustamante
(Fotos) haben sich 24 Stunden
lang umgeschaut.
Für Christoph geht es gleich nach Darmstadt. Der Student mag die gelassene
Atmosphäre auf dem ZOB: „Du hast hier keine Schlipsträger, die in ihr Handy brüllen“,
sagt er. Und zum Reisen gehöre eine gewisse Langsamkeit nun mal dazu.
Unser ZOB-Tag beginnt an
einem Mittwochmittag. Wo
um kurz vor 12 Uhr Markus
und Lisa mitten auf
dem Busbahnhofsplatz stehen und sich
küssen. Weil Markus gleich nach Berlin
fährt, und Lisa bleibt zurück. Einen Tag
außer der Reihe haben sie miteinander
verbracht, es musste einfach sein. Sie
versuchen sich jedes Wochenende zu sehen,
in Hamburg oder in Berlin. Lisa
nimmt manchmal das Auto, Markus
fast immer den Bus. Die Fahrt: neun
Euro. „Fantastischer Preis!“, sagt der
umschlungene Markus, den wir jetzt in
Ruhe lassen, damit er sich von Lisa
verabschieden kann, sein Bus geht in
wenigen Minuten. Und danach sind die
beiden wieder allein.
Den Hamburger ZOB gibt es seit
den 1950er-Jahren. Damals fuhren vorzugsweise
die Busse der Bahn und der
Post durchs Land. Doch mit dem Aufkommen
des Individualverkehrs wurde
Busfahren etwas für die, die sich kein
Auto leisten konnten. Der ZOB war
schließlich eine schwer einsehbare
Ecke, die der Hamburger besser mied.
Mit dem Ende des Ostblocks begann
sich das Reisen per Bus langsam zu beleben.
2003 wurde der Bahnhof grundlegend
modernisiert. Der Schub kam
„Man erzählt
sich aus seinem
Leben, man hat
ja Zeit.“ MILA Z.
8
2014: mit der Liberalisierung des Fernbusmarktes,
der die Zahl der Passagiere
so gut wie verdoppelte. Dieser Trend
hält an. Und auch wenn es länderübergreifende
Touren nach Frankreich gibt,
nach Spanien und Portugal, es dominieren
die Verbindungen nach Ost- und
nach Südosteuropa, weil die von dort
kommenden Arbeitsmigranten, die bei
uns auf dem Bau, in der Gastronomie
und in der Pflege arbeiten, ihr Geld
nicht für vergleichsweise teure Bahnoder
Flugtickets gleich wieder ausgeben
wollen.
So ist der Bus, der um 14 Uhr nach
Belgrad geht, nicht der einzige, der
Hamburg mit Serbien verbindet. Am
Rand steht Mila Z. Sie hat ihre Nichte
zum Bus gebracht. Sie selbst hat lange
bei der Deutschen Bahn gearbeitet, hat
die Bahncard 100, fährt umsonst. Aber
Frau Z. nimmt gern den Bus, will sie ihr
altes Zuhause besuchen. Weil ganz
schnell eine Gemeinschaft entstünde,
eine vertraute Reisegesellschaft für
24 Stunden: „Man macht zusammen
Pause, man lernt sich ein wenig kennen,
man erzählt sich aus seinem Leben,
man hat ja Zeit.“
Um 15 Uhr ist es richtig voll: Junge
Leute mit Luftmatratzen und Wasser-
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Stadtgespräch
pistolen, die auf Rockfestivals wollen,
bestimmen kurzzeitig das Bild. Am
Rande eine Gruppe junger Architekturstudenten
aus Istanbul. Mit dem Flieger
sind sie nach Rotterdam gekommen,
von dort ging es per Bus nach Köln,
„Auch die
Straßenmusiker
nehmen unsere
Busse.“
IULIANA-VIOLETA MOSBERGER
nach Hamburg und nun geht es nach
Berlin. Pro Stadt zwei Tage. Klar, Hamburg
sei toll! Das Chilehaus, die Elbphilharmonie
– super. Was ihnen auch
gefallen hat und was sie unbedingt sehen
wollten: die Rote Flora.
Gegen 18 Uhr packt Iuliana-Violeta
Mosberger langsam ihre Sachen. Ihr
Reisebüro im ersten Stock der Wartehalle
bietet Fahrten nach Rumänien an.
Das aktuelle Angebot: für 95 Euro geht
es hin. Will man wieder zurück, kostet
das insgesamt 170 Euro. „98 Prozent
unserer Fahrgäste sind Rumänen. Und
zwei Prozent sind mit Deutschen Verheiratete“,
sagt sie. „Auch die Straßenmusiker,
die Bettler, sie nehmen alle
unsere Busse.“ Nicht nur, weil die Fahrt
so günstig ist – sondern weil man im
Bus so viel Gepäck mitnehmen darf wie
man tragen kann. „Und diese Menschen
nehmen auch mit, was sie hier in
Deutschland auf der Straße gefunden
haben, was aber bei uns noch etwas
wert ist“, sagt sie.
21 Uhr: Dichtes Gedränge vor zwei
Bussen, die nach Polen gehen. Kein
Durchkommen. Kein Durchkommen?
Patricya schüttelt den Kopf: Ehrlich –
das sei gar nichts! Wir sollten mal am
Freitag schauen! Oder an Ostern! „Da
sieht man, wie viele Polen heute in
Deutschland arbeiten“, sagt sie. Sie
pendelt seit den 1990er-Jahren zwischen
Deutschland und Polen. Sie muss
in die Nähe von Kattowitz. „Okay, man
hat im Bus nicht so viel Platz, die Sitze
sind schmal, aber wenn man eine
ruhige Nachbarschaft hat, dann kann
Lisa und Markus führen wie viele Paare eine vernünftige Wochenend-Fernbeziehung
zwischen Hamburg und Berlin. Doch diesmal mussten sie sich einfach mitten in der
Woche sehen! Am Nachmittag füllt sich kurzzeitig die Wartehalle. Es geht nach München,
ins Baltikum, nach Serbien oder etwas schlichter in die Lüneburger Heide.
9
Stadtgespräch
HINZ&KUNZT N°294/AUGUST 2017
Linienbus gefahren, habe hier manchmal
Pause gemacht, aber ich habe den
ZOB gar nicht richtig wahrgenommen
und mir nie Gedanken gemacht, wie
viele Leute hier täglich ankommen und
abfahren“, erzählt er.
Eine Gruppe
Jugendlicher
zieht lärmend
vorbei.
Mehrmals am Tage werden die wichtigsten polnischen Städte angefahren. Weit im
Voraus buchen muss man in der Woche nicht. Jens, der Flaschensammler, wartet auf seinen
Feierabend. In ein paar Tagen ist auch er unterwegs: nach Wien. Natürlich mit dem Bus.
man gut schlafen“, sagt sie. „Aber das
letzte Mal saß eine Oma neben mir, also
eine alte Frau. Und sie hat erzählt,
die ganze Zeit – sie hatte Reisefieber.“
Kurz nach 23 Uhr tritt Herr Gamm
vor die Tür. Sein Arbeitsplatz ist oben
in der Leitstelle im ersten Stock, wo sie
auf Monitoren die An- und Abfahrten
der Busse verfolgen und diese notfalls
einweisen. Er will sich mal kurz die
Beine vertreten. „Dieses Ostern waren
64 zusätzliche Busse eingesetzt, um die
Polen nach Hause zu bringen“, bestätigt
er Patricyas Auskunft. Ruhe sei nie:
Es komme immer ein Bus an, es fahre
immer einer ab. „Ich bin selbst lange
Jens, der Flaschensammler, hat seinen
Spätkaffee ausgetrunken und etwas
gegessen. Gekonnt räumt er nun vorm
Café „Soulfood“ Stühle und Tische zusammen
und kettet sie an. Er hilft und
wird dafür verpflegt, das ist der Deal.
Eine Gruppe Jugendlicher zieht lärmend
vorbei, unterwegs in eines der
neuen Hostels Richtung Steindamm,
Sechslingspforte.
Tiefdunkel ist es geworden, jedenfalls
für Stadtverhältnisse. In einer der
unteren Bustaschen, wie man die Haltebuchten
fachmännisch nennt, steht um
1.30 Uhr ein Bus mit abgeblendeten
Scheinwerfern. Ziel: Lago di Garda.
Ältere Leute drängen in den Bus. „Die
vorderen Plätze sind alle reserviert, aber
weiter hinten ist alles frei“, versucht der
Busbegleiter die aufgeregten Fahrgäste
zu dirigieren. Wie – reserviert? Und die,
die nicht reserviert haben? Das geht
doch nicht! Das gibt’s doch nicht! Und
sie schieben und schubsen und erobern
sich einen Sitzplatz. Hier werden sie
sitzen bleiben und nicht weichen, bis
die Koffer wieder ausgeladen werden.
Mäuse huschen über den Platz.
Der Himmel ist um 5.15 Uhr noch
gräulich, fast fahl. Wird licht, mit rosa
Tupfen durchsetzt, die bald Schlieren
ziehen. Die Wartehalle ist noch geschlossen,
obwohl sie seit einer Viertelstunde
geöffnet sein müsste. Niemand
mag reden. Die Ruhe ist ganz angenehm.
Um 5.45 Uhr fährt ein Bus nach
Berlin, der Bus aus Mannheim, der für
4.45 Uhr angekündigt war, wird um
5.20 Uhr erwartet. Man könnte um
10
Stadtgespräch
6.30 Uhr auch nach Bratislava reisen. Acht Busse
stehen auf der Parkspur.
Um 8 Uhr dann die Tour nach Sofia. Was es
so gar nicht gibt, sind Fahrgäste mit Hunden.
Langsam füllt sich der ZOB. Wenn die Fahrer
aussteigen und sich recken, rutschen ihnen ihre
meist blütenweißen Hemden aus der Hose. Im
Gehen, zur Toilette oder zu einem der Cafés,
stecken sie die wieder zurück.
9 Uhr: Gleich steige ich auch in so einen Bus.
Fahre irgendwohin! Es muss toll sein, morgen um
diese Zeit irgendwo auszusteigen, vom langen Sitzen
zerschlagen und aufgekratzt, müde und wach
zugleich. Ich ringe mein Fernweh nieder. Beim
nächsten Bus steht „Gostiver“ auf der Anzeigetafel.
„Das ist in Makedonien!“, ruft der Busfahrer.
„Unsere Heimat, was sollen wir machen?“, er
wirft seine Zigarette weg, springt in den Bus. 30
Stunden werden er und sein Beifahrer mindestens
unterwegs sein. Zehn Minuten später hält der Bus
aus Kiew. Eine Gruppe schweigender Männer
stellt sich eng in einem Kreis auf, wie Pinguine.
Alle rauchen. Dann steigen sie wortlos wieder ein
und es geht weiter, wohin auch immer.
Um 11 Uhr wird es langsam warm. Christa
Graf hält uns ihren rechten Arm hin, zieht den Ärmel
hoch: Ob wir die Gänsehaut sehen könnten?
Sie ist ja sowas von begeistert von ihrer ersten Fernbusfahrt,
die sie von Aachen nach Hamburg gebracht
hat. „Als ich zu Hause einstieg, dachte ich:
Für die paar Euro diese Strecke, das kann ja eine
lustige Fahrt werden.“ Sie muss jetzt noch eine
Bekannte anrufen und ihr davon vorschwärmen.
Draußen fahren drei Busse nach Berlin nahezu
zeitgleich ab, und der Platz ist plötzlich sehr
leer. Er wird sich in der kommenden halben Stunde
wieder füllen. Dann geht es nach Mainz, nach
Novi Pazar und wieder nach Berlin. Was Markus
und Lisa wohl machen? •
abasto
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Für mehr soziale Wärme
und eine klimaschonende
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FAMILIENFEST AUF DEM BERT-KAEMPFERT-PLATZ
Samstag,
26. August 2017
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Museum der Arbeit
Kontakt: frank.keil@hinzundkunzt.de
Hamburgs Zentraler Busbahnhof
Hamburgs Zentraler Omnibusbahnhof liegt im
Stadtteil St. Georg, gleich neben dem Hauptbahnhof.
Der ZOB ist eine GmbH, fast 70 Prozent
der Anteile gehören der Hamburger Hochbahn.
Die Fahrgastzahlen steigen Jahr für Jahr.
Zunehmend finden sich auch junge Familien
unter den Fahrgästen. Der ZOB ist rund um
die Uhr geöffnet. Nur die Wartehalle
schließt um 23 Uhr und öffnet wieder um 5 Uhr
morgens. Diverse Reisebüros verkaufen
vor Ort Tickets, auch wenn Online-Buchungen
immer beliebter werden.
11
Live-Musik ab 18 Uhr:
EARLY BIRDS
SWINGSCHMELZE
SYLVIA VRETHAMMAR
& ACK VAN ROOYEN
Eintritt tt
kostenlos!
Mehr Infos unter:
www.museum-der-arbeit.de
Ab November
öffnet erneut
das Winternotprogramm
seine Türen.
Nächste Notlage
mit Ansage
Wie in den Vorjahren wird die Stadt mehr als 800 Plätze im kommenden Winternotprogramm
anbieten. Die Probleme für Obdachlose aber bleiben bestehen, sagt
Dirk Hauer von der Diakonie: Es gibt für sie leider zu wenige ganzjährige Unterkünfte.
TEXT: JONAS FÜLLNER
FOTO: DMITRIJ LELTSCHUK
Trotz warmer Temperaturen hat man
sich in der Sozialbehörde und beim
städtischen Unterkunftsbetreiber fördern
und wohnen (f&w) im Juli viele Gedanken
um Schnee und Kälteschutz
machen müssen. Seit mehr als 25 Jahren
bietet die Stadt Obdachlosen von November
bis Ende März im Winternotprogramm
Schutz. Doch f&w musste
eine der bestehenden Unterkünfte
schließen. Das Gebäude im Münzviertel
weicht dem Wohnungsbau. Ein Verlust
von etwa 425 Schlafplätzen.
Inzwischen ist man fündig geworden.
In der Friesenstraße in Hammerbrook
wird eine Flüchtlingsunterkunft
12
zur Notschlafstätte für bis zu 460 Obdachlose
umgebaut. Der Vertrag gilt für
zehn Jahre. Darüber hinaus öffnet auch
die Unterkunft im Schaarsteinweg wieder
ihre Türen. Insgesamt stehen dann
mehr als 800 Plätze zur Verfügung. Darüber
hinaus gibt es etwa 130 Plätze in
Containern auf Kirchengeländen.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE
Stadtgespräch
„Ende 2016 gab
es erste positive
Signale aus
der Sozialbehörde.
Aber jetzt?“ DIRK HAUER
ANKER
DES
LEBENS
FOTO: DIAKONIE HAMBURG
Trotz aller Erleichterung offenbart die
hohe Anzahl der Notschlafplätze die
Probleme der Wohnungslosenhilfe. „Es
hat doch eigentlich niemand Interesse
an einem überbordenden Winternotprogramm“,
sagt Dirk Hauer. Der
58-Jährige leitet den Fachbereich Migration
und Existenzsicherung bei der Diakonie
Hamburg. Statt Notschlafplätze
herzurichten, müsse man den Menschen
endlich Plätze in dauerhaften
Unterkünften anbieten. „Es gab Ende
des Jahres positive Signale aus der Sozialbehörde,
aber leider hat man davon
nichts mehr vernommen.“
1500 dauerhafte
Plätze sollten
allein in diesem
Jahr entstehen.
Ursprünglich wollte die Stadt nämlich
1500 neue Plätze in diesem Jahr schaffen.
Im ersten Halbjahr wurden aber
erst 580 Wohnungslose untergebracht.
„Es müssten deutlich mehr Plätze in
Unterkünften auch für Obdachlose entstehen.
Dann benötigen wir nicht so
viele Betten in den Notunterkünften“,
sagt Hauer. Das Winternotprogramm
sei „leider ein Nadelöhr auf dem Weg
aus der Obdachlosigkeit“.
Wirklich zur Ruhe kommen die
Obdachlosen in den Notunterkünften
allemal nicht. Denn das Winternotprogramm,
so die Linie der Behörde, ist lediglich
ein Erfrierungsschutz. Selbst bei
deutlichen Minustemperaturen dürfen
die Obdachlosen erst gegen 17 Uhr rein
und müssen um 9 Uhr wieder raus.
Seit Jahren fordert die gesamte
Wohnungslosenhilfe eine Tagesöffnung
des Notprogramms. Hinz&Kunzt hatte
Sozialsenatorin Melanie Leonhard sogar
eine Online-Petition mit 55.896
Unterschriften übergeben. Vergeblich.
Stattdessen schlug man eine andere
Gangart ein: Erstmals wurden Obdachlose
abgewiesen. Und das, obwohl es
sich um einen Erfrierungsschutz handelte.
Es waren Osteuropäer, die meisten
Bettler, die in der Regel für ein paar
Monate in Hamburg leben. Weil sie in
der Heimat noch eine Wohnung haben,
sollen sie dorthin zurückkehren.
Einige abgelehnte Obdachlose verblieben
aber nach Angaben von Straßensozialarbeitern
in der Stadt. Sie hätten
anschließend draußen in der Kälte
genächtigt. „Auch die müssen untergebracht
werden, dafür ist Erfrierungsschutz
schließlich da“, sagt Hauer. „Es
geht nicht an, dass man das Winternotprogramm
dadurch entlastet, indem
man die Zugangshürden erhöht.“ •
Kontakt: jonas.fuellner@hinzundkunzt.de
Hinz&Kunzt bietet obdachlosen
Menschen Halt. Eine Art
Anker für diejenigen, deren
Leben aus dem Ruder
gelaufen ist. Möchten Sie
uns dabei unterstützen und
gleichzeitig den Menschen,
die bei Hinz&Kunzt Heimat und
Arbeit gefunden haben, helfen?
Dann hinterlassen Sie etwas
Bleibendes – berücksichtigen
Sie uns in Ihrem Testament! Als
Testamentsspender wird Ihr
Name auf Wunsch auf unserem
Gedenk-Anker in der Hafencity
graviert.
Ein maritimes Symbol für
den Halt, den Sie den sozial
Benachteiligten
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13
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Stadtgespräch
Zahlen des Monats
Geldbußen
wegen Leerstand
12
Mal haben Hamburgs Bezirksämter seit Verschärfung des Wohnraumschutzgesetzes
vor vier Jahren eine Geldbuße verhängt, weil Eigentümer Wohnungen leer stehen
lassen oder sie zweckentfremdet haben. In fünf Fällen ging es um ungenehmigten
Leerstand, in drei um gewerbliche Nutzung etwa als Büro und in vier Fällen
um eine unerlaubte Vermietung als Ferienwohnung, so die Stadtentwicklungsbehörde
auf Nachfragen von Hinz&Kunzt. Die Zahlen beziehen sich auf den Zeitraum
bis Ende 2016, neuere Daten liegen der Behörde nicht vor.
Seit Juni 2013 müssen Eigentümer eine Genehmigung beantragen, wenn sie Wohnungen
länger als vier Monate leer stehen lassen oder für anderes als zum Wohnen nutzen.
Der Senat hatte die Verschärfung mit der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt
begründet. Bei Verstößen gegen das Gesetz können die zuständigen Bezirke eine
Geldbuße bis 50.000 Euro verhängen. In den 12 oben genannten Fällen ging es um insgesamt
32.864 Euro. Welcher Anteil dieses Geldes bezahlt wurde, wird laut Behörde nicht erfasst.
Der Erfolg des Gesetzes beruhe „vor allem auf seiner präventiven Wirkung“, erklärte die
Stadtentwicklungsbehörde. Ziel sei in erster Linie, Zweckentfremdung und Leerstand zu beenden.
978
Wohnungen seien allein 2015 und 2016 wieder vermietet worden, nachdem die
Wohnraumschützer Eigentümer – teils auf deren eigene Anfrage hin – auf ihre Pflichten
hinwiesen. Das zeige, „dass viele Betroffene nach Aufklärung rechtmäßige Zustände herstellen“.
Zuletzt erregte der Bezirk Mitte mediale Aufmerksamkeit über die
Landesgrenzen hinweg: Er hat für ein seit Langem fast vollständig leer stehendes
Mehrfamilienhaus in Hamm einen Treuhänder eingesetzt. Die Maßnahme gilt als
schärfstes Schwert der Wohnraumschützer und wird nun erstmals angewandt.
Laut Bezirksamt sollen in dem Haus sechs Wohnungen saniert und anschließend
vermietet werden. Die Kosten will das Amt dem Eigentümer in Rechnung stellen.
Ob dieser das in diesem Fall verhängte Zwangsgeld in Höhe von 18.000 Euro bezahlt hat,
das ihn zu einer Vermietung bewegen sollte, ist nicht bekannt. Die beteiligten
Behörden verweigern dazu die Auskunft mit Hinweis auf den Datenschutz. •
TEXT: ULRICH JONAS
ILLUSTRATION: GRAFIKDEERNS
Mehr Infos unter www.huklink.de/wohnraumschutz
Kontakt: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de
15
G20-Rückblick
„Bitte raus aus unserm
Wohnzimmer!“
Hamburg versank im G20-Chaos – und viele Obdachlose waren mittendrin.
Zig Schlafplätze gingen während der Gipfeltage verloren und einige Obdachlose
gerieten zwischen die Fronten von Polizei und Demonstranten. Dass niemand
verletzt wurde, ist reiner Zufall. Wir haben die Obdachlosen besucht.
TEXT UND FOTOS: BIRGIT MÜLLER, BENJAMIN LAUFER, ANNABEL TRAUTWEIN, JONAS FÜLLNER
16
Stadtgespräch
Eine individuelle
Lösung gibt
es tatsächlich.
Leider hatten wir recht. Der G20 war
alles andere als ein Hafengeburtstag. Im
Vorfeld hatten wir gefordert, dass die
Obdachlosen zur Entspannung aller
und zu ihrem Schutz in der City und
auf St. Pauli ein Ausweichquartier bekommen.
Wir befürchteten, dass sie
sonst vertrieben würden oder in die
Auseinandersetzungen zwischen Polizisten
und Demonstranten geraten
könnten. Als „hysterisch“ wurden wir
von unseren Ansprechpartnern bezeichnet.
Wie alle, die sich Sorgen
An Hartmuths Platte brausen Polizeifahrzeuge vorbei.
Kurze Zeit später muss er seinen Platz räumen,
weil der Sportladen die Schaufenster vernagelt.
machten. Die Behörde hatte gesagt, im
Notasyl Pik As seien genug Plätze frei.
Und ansonsten werde man „individuelle
Lösungen“ finden. Daran haben wir
nicht geglaubt, weil man sich mit gesundem
Menschenverstand vorstellen
kann, dass es unter Stress keine Zeit für
„individuelle Lösungen“ gibt.
In den Tagen vor und während des
Gipfels waren wir deshalb unterwegs
und haben Obdachlose besucht. Ein
Rückblick. Viele normalerweise belebte
Straßen sind schon ab dem 6. Juli wie
leer gefegt. Manche Geschäfte haben
sich regelrecht verbarrikadiert. Damit
fallen einige Schlafplätze weg. Es sind
deutlich weniger Obdachlose zu sehen
als üblich. Von maximal 25 Obdachlosen
in der Innenstadt spricht Straßensozialarbeiter
Johan Graßhof. „Viele
Obdachlose gehen in ruhige Bereiche,
wo sie denken, dass sie von dort nicht
vertrieben werden oder zwischen die
Fronten geraten“, sagt er. Sie seien in
Außenbezirke, Parks oder unter Brücken
ausgewichen. Und: Im Pik As schlafen
90 Menschen mehr als Anfang Juli.
Eine individuelle Lösung gibt es tatsächlich:
Die Obdachlosen unter der
Kennedybrücke sind quasi evakuiert
worden. Schon Wochen vorher hatten
die Männer erzählt, dass Ordnungshüter
ihnen mitgeteilt hätten, sie müssten
zum G20 weg. Aber Polizei und Bezirk
hatten das immer wieder dementiert.
Bezirksamtsleiter Falko Droßmann
hat deshalb versprochen, sich persönlich
um die acht Männer zu kümmern,
falls sie die Brücke räumen müssten.
Und er hält Wort: Sie werden mit ihren
ganzen Klamotten in eine Unterkunft
nach Bergedorf gebracht – mit dem
Versprechen, nach dem Gipfel wiederkommen
zu dürfen.
17
Rubrik
HINZ&KUNZT N°294/AUGUST 2017
Eigentlich verstehen sich die Bewohner der Kersten-Miles-Brücke gut mit den Polizisten.
Trotzdem geraten sie in Scharmützel zwischen Polizei und Demonstranten.
Unter der Kersten-Miles-Brücke auf
St. Pauli dürfen die Obdachlosen bleiben.
Könnte nur sein, dass sie für ein
paar Stunden wegmüssten, hat ihnen
die Polizei gesagt. Trotzdem geraten sie
zwischen die Fronten. Einmal fliehen
Demonstranten vor der Polizei direkt
durch ihr Lager, und es riecht nach
Bengalos und Tränengas. Zum Glück
wird keiner von ihnen verletzt. Am
nächsten Morgen geht es gleich weiter:
Direkt vor der Platte, auf der der Obdachlose
Thorsten untergekommen ist,
drängen sich Demonstranten. „Es ist
schon ein komisches Gefühl, wenn man
morgens um sieben aufwacht und plötzlich
überall um sich herum Schuhe
sieht“, sagt er.
Er sei aus seinem Schlafsack gesprungen
und habe sich mit ausgebreiteten
Armen vor die Gruppe gestellt. „Ich
hab denen gesagt: ‚Bitte raus aus unserm
Wohnzimmer!‘“, erzählt Thorsten. „Das
wurde auch größtenteils respektiert.“
Einige Demonstranten seien jedoch mitten
über ihre Platte gerannt. Später
kommt es zu Gewaltszenen. „Wir hatten
eine Rauchbombe hier“, sagt Thorsten
und zeigt auf die obere Ecke der Platte.
Zwei weitere trafen den unteren Rand
ihrer Schlafstätte. Er nimmt die Situation
mit demonstrativer Gelassenheit.
Wenige Meter entfernt ist auch
Krzysztof zwischen die Fronten geraten.
Er wird frühmorgens von Demonstranten
und Polizisten geweckt, die an
seinem Schlafsack vorbei in den Park
Hinter Krzysztofs
Platte brennt
ein BMW.
Gregor sitzt unter der Brücke beim S-Bahnhof Sternschanze. Die Polizei hat ihm
geraten, wegzugehen. Dass er ins Pik As gehen könnte, habe ihm niemand gesagt.
stürmen. „Scheiß G20“, sagt er. Und
dann wird auch noch zehn Meter weiter
ein BMW angezündet.
Krzysztof kann von seinem Schlafplatz
nicht alleine weg, dazu ist er zu
krank. Eigentlich hätte er ein Bett im
Krankenhaus an der Hohen Weide,
18
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Stadtgespräch
Krzysztof ist krank. Eigentlich hätte
er einen Platz im Krankenhaus, aber
der Krankenwagen kam nicht durch.
Und dann auch noch das:
Ein paar Meter hinter seiner Platte
wurde ein BMW angezündet.
Jens hat am Rande von Demonstrationen
Flaschen gesammelt. Zum Schluss musste er
rennen. „Mit drei Säcken voller Flaschen.“
erzählt Straßensozialarbeiter Johan
Graßhoff. Doch die Sanitäter im Krankenwagen
hätten gesagt, es sei zu kompliziert,
durch die Straßensperren dort -
hin zu gelangen.
Vom Gipfel kalt erwischt wurde
Gregor. Der Este sitzt unter der Brücke
beim S-Bahnhof Sternschanze. „Ich
wusste nicht, was G20 bedeutet“, sagt
er. „Polizisten sagten mir, ich muss weg.
Aber sie haben nicht gesagt, wohin.“
Die meisten Obdachlosen geben
sich betont unbeeindruckt vom Geschehen,
haben sich mit der Zeit ein dickes
Fell zugelegt. Hinz&Künztler Jens sammelt
jetzt gerade am Fischmarkt und in
der Schanze Flaschen. „Die Linken geben
ja gerne ihre Flaschen ab“, sagt er.
Und nicht nur die. Auch Polizisten wissen:
Pfand gehört daneben.
Die Ausschreitungen schrecken
Jens jedenfalls nicht ab. „Nur am Ende
musste ich rennen – mit drei Säcken
voller Flaschen in der Hand.“ Viele
Obdachlose blicken der Gefahr, verletzt
zu werden, mit trotziger Gleichgültigkeit
entgegen. Auf der Reeperbahn liegen
sogar Obdachlose, während sich
Demonstranten und Polizisten Scharmützel
liefern.
Aber sind nicht die Hamburger
Politiker dafür verantworlich, dass die
Obdachlosen geschützt werden? Menschen,
die nicht mal nach Hause gehen
können? Da kann Rolf, der in der Mönckebergstraße
schnorrt, nur lachen.
Den Glauben an die Politik hat der
71-Jährige längst verloren. Für die
Demonstranten hegt er deshalb große
Sympathien. Schließlich gehöre er auch
zu ihnen. „Ich demonstriere hier seit
Jahren unangemeldet und illegal gegen
Rolf auf der Mönckebergstraße. „Ich demonstriere hier seit Jahren
gegen Altersarmut“, sagt er. „Und es interessiert keinen.“
Altersarmut.“ Aber genau das interessiere
die Politiker ja nicht.
Und wir? Wir verstehen nicht, dass
die Stadt das Risiko, dass Menschen
verletzt werden, in Kauf genommen
hat. Warum gab es nicht eine Ausweichlösung
für alle? Zumal man die
Zeit hätte nutzen können, um Obdachlose
dauerhaft unterzubringen. Das hat
übrigens bei einigen tatsächlich geklappt,
die im Pik As oder in Bergedorf
Zuflucht gefunden haben: 13 Obdachlosen
wurden während der Gipfeltage
vermittelt und müssen nun nicht mehr
zurück auf die Straße. •
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de
19
G20-Rückblick
Bundeskanzlerin Angela Merkel beim C20-Zivilgipfel in Hamburg.
Fairness und Augenhöhe mahnten die Delegierten an. Beim G20 im
Juli noch nicht auf Augenhöhe: Alpha Condé war als Vertreter
der Afrikanischen Union nur zweite Liga, obwohl es um Afrika ging.
Was brachte der Gipfel
den armen Ländern?
Im Vorfeld zum G20 haben wir uns in den vergangenen Monaten mit den
Themen Armut, Hunger und Klimawandel befasst – und damit, was die reichen
Länder tun könnten. Klaus Seitz von Brot für die Welt zieht für uns Bilanz.
INTERVIEW: BIRGIT MÜLLER
Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU) ließ es sich nicht
nehmen. Zum C20, dem Gipfel
der zivilgesellschaftlichen
Organisationen weltweit, flog sie nach
Hamburg, um die Forderungen der 450
Teilnehmer aus 60 Ländern persönlich
entgegenzunehmen. Aber wurden die
Delegierten wirklich gehört und ihre
Anliegen auf dem G20-Gipfel auch diskutiert?
Wir sprachen mit Klaus Seitz.
Er ist bei Brot für die Welt für Politik
zuständig und war beim C20 dabei.
Herr Dr. Seitz, was haben Sie beim
C20 der Bundeskanzlerin für ihren Gipfel
mit auf den Weg gegeben ?
Wir haben vor allem die gegenwärtige
Krise der Globalisierung in den Blick
genommen. Diese Krise äußert sich in
zunehmender sozialer Ungleichheit,
den zerstörerischen Folgen des Klimawandels
und der Instabilität der Finanzmärkte.
Wir haben Angela Merkel und
die anderen Regierenden des G20 deshalb
aufgefordert, die globalen Wirtschafts-
und Finanzbeziehungen neu zu
20
gestalten und an den Prinzipien der Gerechtigkeit
und der Nachhaltigkeit
auszurichten.
Wurden Sie denn mit Ihren Anliegen
überhaupt gehört?
Immerhin hat die Bundeskanzlerin auf
dem C20-Gipfel vor laufenden Fernsehkameras
eingeräumt, dass die Handelsverträge
mit Afrika neu verhandelt
werden müssten. Wichtig war uns aber
ganz besonders, deutlich zu machen,
dass die Beteiligung der Zivilgesell-
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G20-Rückblick
FOTOS: REUTERS/ FABIAN BIMMER, STEFANIE VON BECKER, DPA/ DANIEL BOCKWOLDT,
REUTERS/POOL_NEW, BROT FÜR DIE WELT/ HERMANN BREDEHORST
schaft an der Gestaltung einer nachhaltigen
Entwicklung unverzichtbar ist.
Was sind die Erfolge des G20 aus
Ihrer Sicht?
Als Erfolg muss man schon werten, dass
er nicht in einem Debakel endete. In einer
Zeit, in der in manchen Industrieund
Schwellenländern die Neigung
wächst, sich internationalen Kooperationsverpflichtungen
zu entziehen, kann
man froh sein, dass sich die Mächtigen
der Welt dazu bekannt haben, die bereits
getroffenen Vereinbarungen zur
Armuts- und Hungerbekämpfung sowie
zum Klimawandel auch tatsächlich
umsetzen zu wollen.
„Die Handelspolitik
des G20
richtet viel
Schaden an.“
Gibt es konkrete Beschlüsse, die den
Armen nützen?
Der G20 unter der Präsidentschaft
Deutschlands hatte einen großen
Schwerpunkt auf Entwicklungsthemen.
Es sind auch einige Initiativen beschlossen
worden. Zum Beispiel Jugendbeschäftigung
im ländlichen Raum, der
insbesondere auf Afrika zielt. Oder umfangreiche
G20-Afrika-Partnerschaft
selbst. Es ist ein Fonds für Unternehmerinnen
aufgelegt worden. Und es sollen
die Gesundheitssysteme gestärkt werden
gegen die Ausbreitung von Epidemien
und Pandemien. Insofern gab es
einige Beschlüsse und Initiativen, die
die Armen im Blick hatten. Aber als
sehr substantziell erachte ich diese Erfolge
nicht.
Warum nicht?
Die Entwicklungsprogramme sollten
nicht Hauptgeschäft des G20 sein. Vor
allem weil sie ohne die beteiligten Staaten
ausgehandelt werden, um die es ja
schließlich geht. Das ist ein Top-down-
Ansatz, der einem partnerschaftlichen
„Die Kritik ist
in der Politik
angekommen.“
DR. KLAUS SEITZ
Ansatz völlig widerspricht. Die Afrikanische
Union wurde einbezogen, aber
sie saß nicht von Anfang an bei der Entwicklung
der einzelnen Elemente der
Partnerinitiative mit am Tisch.
Was sollte denn das Hauptgeschäft
des G20 sein?
Das Kerngeschäft ist eigentlich die Regulation
der Finanzmärkte, und da ist
der Gipfel nicht wirklich vorangekommen.
Man muss die Sorge haben, dass
die nicht gefassten Beschlüsse zur stärkeren
Regulation der Finanzmärkte in
ihren Folgen für die Armen viel gravierender
sind als das, was die beschlossenen
Initiativen zur Armutsbekämpfung
wiedergutmachen können. Die Risiken
weiterer Finanz- und Schuldenkrisen
sind nicht eingedämmt und den illegalen
Finanzabflüssen aus den Entwicklungsländern
ist genauso wenig ein
Riegel vorgeschoben worden wie der
Steuervermeidungspraxis vieler internationaler
Konzerne.
Ein Hauptthema war der Freihandel.
Kann man durch Freihandel Hunger, Armut
und Ungleichheit in der Welt bekämpfen?
Die Handelspolitik, die der G20 verfolgt,
richtet viel Schaden an. Der Handel
muss fair und nachhaltig gestaltet
werden, er muss in erster Linie an menschenrechtlichen
und ökologischen
Standards ausgerichtet sein. Aber davon
ist in den Gipfeldokumenten leider
kaum die Rede.
Wie sähen faire Handelsverträge aus?
Gibt es dafür schon Beispiele?
Es gibt keine Blaupause für faire Handelsverträge.
Aber die Handelspolitik
müsste insgesamt auf ein anderes Niveau
gehoben werden: Handel darf kein
Selbstzweck sein. Er muss dazu dienen,
die Ziele einer globalen nachhaltigen
Entwicklung zu erfüllen, die sich die
Staaten gemeinsam bis zum Jahr 2030
vorgenommen haben. Immerhin gibt
es bestimmte Modelle – wie den Fair
Trade selbst. Wir, also Brot für die
Welt, sind ja Mitbegründer der Fair-
Handels-Bewegung um deutlich zu
machen: Soziale und ökologische Standards
werden auf dem Markt und von
den Kunden honoriert. Solche Spielregeln
müssten auch die internationalen
Handelsverträge bestimmen.
Gibt es da einen Hoffnungsschimmer?
Das Bewusstsein dafür wächst bei den
Regierenden. Und dazu hat auch der
öffentliche Protest gegen TTIP und
Ceta, aber auch gegen die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
mit Afrika
beigetragen. Die Kritik ist auch in der
Politik angekommen. •
Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de
Civil20 – der Zivil-Gipfel
Seit 2009 treffen sich zivilgesellschaftliche
Organisationen weltweit,
um einheitliche Forderungen zu
entwickeln und den G20 kritisch zu
begleiten. Die Themen: eine gerechte
Globalisierung und Nachhaltigkeit.
Die Haupt forderung: eine Abkehr
„von einem wachstumsorientierten
Wirtschafts modell, das immer mehr
Verlierer zurücklässt und die ökologischen
Lebensgrundlagen zerstört“.
Der G20 müsse die wachsende
Ungleichheit zwischen den Ländern
und innerhalb der Länder stoppen,
Armut und Hunger bekämpfen
und Gleichberechtigung fördern.
Mehr unter www.civil-20.org/german
21
Stadtgespräch
HINZ&KUNZT N°294/AUGUST 2017
Meldungen
Politik & Soziales
In den USA erscheinen seit einigen Jahren Comic-Helden wie Batman
oder Spiderman im echten Leben. Die kostümierten „Real Life Superheroes“
helfen Alten und Behinderten beim Einkauf oder versorgen
Obdachlose mit Essen und Kleidung. Doch die von Pierre-Elie de Pibrac
fotografisch dokumentierte „Bewegung“ hat ihre Schattenseite. Allzu oft
führen sich ihre Vertreter auf wie eine Bürgerwehr und nehmen das
Gesetz selbst in die Hand, beklagt inzwischen die Polizei.
Brandanschlag an den Landungsbrücken
Zeuge entlastet tatverdächtigen Obdachlosen
Seit Anfang Juli steht ein Obdachloser
wegen versuchten Mordes und
gefähr licher Körperverletzung vor
Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft
dem Obdachlosen D. (29) vor, in der
Nacht zum 31. Januar 2017 gegen
2.35 Uhr unter dem Parkdeck an den
Landungsbrücken die „Platte“ der
beiden Obdachlosen Slawomir und
Krzysztof (siehe H&K 289) angezündet
zu haben. Hintergrund soll ein Streit
um den Schlafplatz gewesen sein.
Als Beweis dienen Videoaufzeichnungen,
die ihn in der Nähe der Landungsbrücken
zeigen. Zudem nahm ein
Spürhund seine Fährte auf.
Der Angeklagte D. bestreitet die
Vorwürfe. Er kenne die Betroffenen,
habe aber die Tat nicht begangen.
Bei der Aufklärung helfen könnte ein
Zeuge. Allerdings: Seine Beschreibung
einer sehr großen und schlanken
Person deckt sich nicht mit den
Video-Aufzeichnungen, die den
22
Angeklagten zeigen. Ob der Fall
jemals aufgeklärt werden kann,
ist ungewiss.
Der ältere der beiden
Obdachlosen ist in der Zeit, die bis
zum Prozess auftakt verging, verstorben.
Sein Tod steht laut Gericht nicht im
Zusammenhang mit dem Brand.
Sein Partner Krzysztof hofft weiter
auf Entschädigung. Er soll im
August aussagen. Ein Urteil wird erst
im September erwartet. JOF
•
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Stadtgespräch
Kosten der Unterkunft
Hilfeempfänger
Bündnis fordert
Mehr Hamburger
Moratorium
erhalten Wohngeld
Hilfeempfänger sollen nicht mehr Die Zahl der Wohngeldempfänger
länger zum Umzug gedrängt werden, ist im vergangenen Jahr in Hamburg
wenn ihre Mietkosten die von der um 43 Prozent angestiegen.
Sozialbehörde festgelegten Höchstgrenzen
überschreiten. Diese
einen Zuschuss zur Miete. Der
Insgesamt erhielten 13.354 Haushalte
Forderung richtet ein Zusammenschluss
von Mieter helfen Mietern, einer bundesweiten Anpassung des
rasante Anstieg ist wohl das Ergebnis
Caritas und Diakonie an die Sozialbehörde.
Hintergrund: Hilfeempfän-
die erste Anhebung seit 2009.
Richtwerts zum Jahr 2016. Es war
ger haben kaum Aussichten auf eine Die höchste Mietsumme, die jetzt
günstigere Wohnung. Sie werden bezuschusst wird, stieg in Hamburg
trotzdem dazu angehalten, pflichtgetreu
ihre erfolglose Suche zu merhin von 407 Euro auf 522 Euro
für einen Einpersonenhaushalt im-
dokumentieren. Ansonsten drohen an. „Die Anpassung des Wohngelds
ihnen gar eine Kürzung der
war überfällig“, sagt Siegmund
Zuschüsse und letztlich der Verlust Chychla, Vorsitzender des Mietervereins
zu Hamburg. In Zukunft sollten
der Wohnung. Damit nicht genug:
Die erhöhte Nachfrage nach günstigen
Miet wohnungen führe zudem Schließlich sei davon auszugehen,
Anhebungen regelmäßiger erfolgen.
zu steigenden Mietpreisen, befürchtet dass auch die Mieten in Hamburg
der Zusammenschluss. JOF
•
weiterhin anziehen. JOF
•
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FOTO: PIERRE-ELIE DE PIBRAC
Mietpreisbremse durchgesetzt
240 Euro weniger
Miete pro Monat
Erfolg für Mieter in Hohenfelde:
Sie dürfen nach einem Urteil des
Amtsgerichts St. Georg ihre Miete
um 240 Euro reduzieren. Die Kläger
hatten sich auf die 2015 eingeführte
Mietpreisbremse berufen. Sie soll
verhindern, dass bei Neuvermietungen
der Preis die ortsübliche
Vergleichsmiete um mehr als zehn
Prozent übersteigt. Bislang hätten
sich Mieter und Vermieter meist außergerichtlich
einigen können, sagt
Siegmund Chychla, Vorsitzender des
Mietervereins zu Hamburg. Dem
neuen Urteil käme große Bedeutung
zu. Schließlich habe man festgestellt,
dass der Wohnungsmarkt im
gesamten Stadtgebiet angespannt ist
und die Mietpreisbremse deswegen
überall gültig ist. JOF
•
G20-Ausschreitungen
Vier Männer ohne festen
Wohnsitz in U-Haft
Bei den Ausschreitungen um den
G20-Gipfel im Juli sind auch vier
Deutsche ohne festen Wohnsitz verhaftet
worden: Den Männern zwischen
19 und 40 Jahren wird Widerstand
gegen Vollstreckungsbeamte
und versuchte gefährliche Körperverletzung
vorgeworfen. Dass es sich bei
ihnen um Obdachlose handelt, sei
nicht wahrscheinlich, so ein Gerichtssprecher.
Weil sie keine Meldeadresse
haben, bestehe Fluchtgefahr – und
das sei ein Grund für die U-Haft.
Soweit die Informationen zu Redaktionsschluss.
Mehr dazu online. BIM•
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anzeigen@hinzundkunzt.de
23
Rastplatz
für einen
Ruhelosen
Sascha kennt das Leben auf der Straße, seitdem
er elf Jahre alt ist. Nun hat der Hinz&Künztler in
einem geschenkten Wohn wagen in Groß Borstel
Zufl ucht gefunden. Auf acht Quadratmetern fühlt
er sich mit Hund Jack endlich frei.
TEXT: SYBILLE ARENDT
FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK
Für Hund Jack ist in
der kleinsten
Hütte Platz. Ihr
neues Zuhause fand
Hinz&Künztler
Sascha bei einem
Online-Marktplatz.
Richtig idyllisch sieht es bei Sascha
aus. Wer hätte gedacht,
dass es im Hinterhof eines
Männerwohnheims so gemütlich ist?
Sein Wohnwagen mit Spitzengardine
und schmuckem roten Vorzelt parkt
mitten im Grünen. Hund Jack, ein
braun-weiß gefleckter Mischling, tobt
fröhlich über den Rasen und hebt sein
Bein an einem Obstbaum.
Auf der gegenüberliegenden Seite
endet die anheimelnde Campingplatz-
Szenerie. Da steht ein Dutzend Container,
sauber übereinandergestapelt. Hier
im Hinterhof des Jakob-Junker-Hauses
haben außer Sascha zwölf weitere Obdachlose
eine Bleibe gefunden.
Der Hinz&Künztler serviert frisch
gebrühten Kaffee an seinem Campingtisch
und lächelt entspannt. Nach Wohnungslosigkeit
sieht Sascha nicht aus,
eher nach Schanze: Jeans, T-Shirt, dazu
derbe Boots. Stolz zeigt er auf das Beet,
das er direkt neben seinem Wohnwagen
gerade anlegt. Sogar einen maßstabsgetreuen
Plan, wie er sich seinen zukünftigen
Garten genau vorstellt, hat er gezeichnet.
„Mit Zahlen bin ich gut“, sagt
der 37-Jährige und setzt dann nach:
„Mit Menschen weniger.“
Geboren wurde Sascha 1980 in
Leverkusen. Die Mutter erkrankt zum
Zeitpunkt seiner Geburt an Chorea
Huntington, einer neurodegenerativen
Erkrankung, die unweigerlich nach
rund 15 Jahren zum Tode führt. „Das
hängt mit Veränderungen in den Eiweißmolekülen
zusammen“, erklärt Sascha
fachmännisch. „Dann setzt ein
geistiger und körperlicher Verfall ein,
ein bisschen wie bei Demenz.“ Ganz
sachlich ist sein Ton, als ob er die Geschichte
einer Fremden erzählen würde.
Als Sascha sechs Jahre alt ist, kommt
die Mutter ins Pflegeheim. Der Vater ist
gleichgültig und noch dazu gewalttätig.
26
„Ich wollte
so frei leben
wie Pippi
Langstrumpf.“
Als er arbeitslos wird, beginnt er eine
Umschulung in einer anderen Stadt.
„Um mich konnte er sich dann angeblich
nicht mehr kümmern“, sagt Sascha.
„Und meine anderen Verwandten auch
nicht, hat er mir gesagt.“ Sascha kommt
ins Heim. Da ist er acht Jahre alt. Ein
fantasievoller Junge, der Pippi Langstrumpf
liebt. „Ich hatte immer den
Wunsch, so wie sie zu leben, so frei.“
Im Heim, „bei den Nonnen“, wie
Sascha verächtlich sagt, fühlt er sich gefangen
und einsam. Zwei Jahre später
Hinz&Künztler
holt der Vater ihn ab. Mit einer neuen
Frau und einem Stiefkind. Sascha ist
jetzt zehn Jahre alt. Das Zusammenleben
in der neuen Familie klappt nicht.
„Die Frau hat mich geschlagen, mein
Vater auch.“ Sascha denkt an Pippi
Langstrumpf, setzt sich aufs Rad und
fährt in einer Stunde bis nach Köln, in
die große Stadt. Er geht zur Domplatte,
lernt dort Punks kennen. „Die waren
nett zu mir. Und sie haben auch gegenseitig
aufeinander aufgepasst.“ Das gefällt
Sascha. Es gibt ihm ein Heimatgefühl,
das er von zu Hause nicht kennt.
Immer öfter fährt er nach Köln. Wird
immer mal wieder von der Polizei aufgegriffen
und nach Hause gebracht.
Manchmal holt ihn auch sein Vater dort
ab. „Dann sprang ich an der nächsten
roten Ampel aus dem Wagen und verschwand“,
sagt Sascha.
Als es eines Abends wieder Streit
beim Abendbrot gibt, steht Sascha auf,
packt ein paar Sachen und verkündet:
„Ich komme nie wieder!“ Der Vater
zuckt nur mit den Schultern. Sascha ist
elf Jahre alt. Er verlässt sein Elternhaus
und kehrt tatsächlich nie wieder zurück.
Es folgen lange Jahre, die er abwechselnd
auf der Straße, in Heimen und Jugendwohnungen
überall verteilt in ganz
Deutschland verbringt.
„Mit Zahlen kann
ich besser als mit
Menschen.“
An manchen seiner Stationen fühlt er
sich sogar wohl. So zum Beispiel in dem
geschlossenen Heim bei Münster, in
dem er mit zwölf Jahren untergebracht
wird. „Der enge Rahmen dort tat mir
gut.“ In der darauf folgenden Unterbringung
geht alles schief. „Der Heimleiter
wollte, dass ich auf der Toilette
die Tür offen lasse. Weil ich mich immer
Gesprächen verweigert habe. Er
hat also seinen Fuß in die Klotür gestellt.
Ich habe das nicht eingesehen
und ihn geschubst. Da ist er mit dem
Kopf gegen die Tür geknallt.“ Sascha
fliegt aus dem Heim und pendelt zwischen
Straße, Hotelzimmer und Wohnung
– am Ende landet er sogar im
Knast. „Ich war auf Amphetaminen
und wurde beim Fahren ohne Führerschein
erwischt.“ Sascha wird zu einer
zweijährigen Haftstrafe verurteilt.
Immer wieder gerät er in Schwierigkeiten.
Dass daran nicht nur die anderen
schuld sind, weiß er selbst. „Ich
kann nicht gut mit Menschen, bin oft
auch leicht reizbar und aggressiv.“ Seine
selbst verordnete Therapie dagegen ist
das tägliche Kiffen. „Wenn ich nicht
schon morgens etwas rauche, kriege ich
keine Ruhe in meinen Kopf. Und
manchmal ertrage ich die Welt nicht
nüchtern, dann schäme ich mich, ein
Mensch zu sein.“ Von anderen Drogen
und Alkohol lässt Sascha hingegen
schon lange die Finger. „Ich mag keinen
Kontrollverlust.“
Und er mag keine Autoritäten, kann
sich nicht unterordnen. Einen Job in der
27
Küche schmeißt er während der Mittagspause,
weil der Koch ihm Vorschriften
macht. Aber Sascha kann sich auch
durchbeißen: Er hat seinen Hauptschulabschluss
nachgeholt, seinen Führerschein
gemacht, eine Schweißerausbildung
absolviert und längere Zeit im
Garten- und Landschaftsbau gearbeitet.
Aber das ging nie lange gut. „Ich kann
einfach keinen normalen Job machen.
Ich brauche ein gewisses Freiheitsgefühl“,
sagt Sascha. Auch eine eigene
Wohnung möchte er nicht mehr, sagt er.
„Ich bin an den Verpflichtungen immer
wieder gescheitert.“
Es bleibt ein Rätsel, wie jemand
über die Schrecken seiner Kindheit und
ein Vierteljahrhundert ohne Heimat so
sachlich berichten kann. Sascha selbst
hat dafür eine Erklärung: „Ich habe
mich eben damit abgefunden und kann
deshalb auch darüber sprechen.“
Mit seiner jetzigen Behausung ist
der drahtige Mann mehr als zufrieden.
„Im letzten Winter wusste ich nicht, wo
ich schlafen sollte. Gerade mit Hund ist
es schwierig, eine Unterkunft zu bekommen.
Also habe ich bei eBay Kleinanzeigen
eine Anzeige aufgegeben, dass
ich einen Wohnwagen suche. Die Resonanz
war groß.“
Und der Hinz&Künztler bekam tatsächlich
ein funktionstüchtiges Camping-Mobil
geschenkt. Doch ein Wohnwagen
ohne Stellplatz – damit hätte
Sascha nichts anfangen können. Dann
erlaubte das Jakob-Junker-Haus ihm
den Wohnwagen in seinem Garten aufzustellen.
Eine ehrenamtliche Fahrerin
organisierte den Transport.
Für Sascha ist das wie ein Sechser
im Lotto. Fürs Erste scheint er einen
Platz gefunden zu haben, an dem er
länger bleibt. Vielleicht liegt es ja auch
ein wenig an Hinz&Kunzt? Seit 2006
verkauft Sascha das Straßenmagazin.
Das tut ihm gut, sagt er. „Ich muss etwas
zu tun haben, kann nicht nur
herumsitzen.“
Und nun hat er auch noch seinen
Garten vor der Tür. Tomaten, Erdbeeren,
Salat, Kohlrabi und Kräuter will
Sascha dort pflanzen. Dazu eine Buchsbaumhecke.
Mit Pflanzen ist Sascha
nämlich genauso gut wie mit Zahlen. •
Kontakt: sybille.arendt@hinzundkunzt.de
Hinz&Künztler
auf Safari
Oft haben sie sich getroffen. Haben Fotos geschaut, über Kameras
gefachsimpelt – sind wieder losgezogen, ihr Foto von ihrem Hamburg zu machen.
Nun liegen die Ergebnisse vor, die sich sehen lassen können!
TEXT: ANNETTE WOYWODE
28
Stadtgespräch
Am Ende gibt’s einen Button:
„Es ist immer zu früh, um
aufzugeben“, steht darauf.
Fotografin Lena Maja Wöhler
legt jedem Hinz&Künztler einen hin
und sagt lachend: „Ich werde jetzt wandern
gehen. Und wenn ich nicht mehr
kann, denke ich an euch. So wie ihr euch
bei dem Fotowettbewerb durchgebissen
habt – das will ich auch schaffen.“
1. Platz
Am liebsten fotografiere ich Tiere. Vor allem Vögel.
Um den Kormoran so zu erwischen, bin ich
immer wieder zur Außenalster gegangen. Nur ein
einziges Mal hatte ich Glück! Am Anfang habe ich
immer mit meinem Handy geknipst. Aber das hat
überhaupt nicht geklappt. Tiere halten ja fast nie
still, und so war immer alles verwackelt. Deswegen
habe ich mir eine kleine Kamera gekauft. Zuerst
habe ich mit Automatik fotografiert, aber auch da
waren von 300 Bildern vielleicht drei scharf.
Inzwischen kann ich mit der Kamera umgehen.
Vielleicht wird Fotografie noch mein Hobby!
Ich habe mir jetzt sogar beigebracht, Fotos am
Computer zu bearbeiten. Man kann an den Farben
noch ’ne Menge machen. Aber der Kormoran,
der sieht wirklich so aus!
Josef (49) verkauft Hinz&Kunzt im Einkaufszentrum
Rahlstedt-Center.
Tatsächlich können die zwölf Teilnehmer
des zweiten Hinz&Kunzt-Fotowettbewerbs
unter Anleitung von Fotografin
Lena Maja Wöhler stolz sein:
Die Ausbeute an wirklich guten Fotos
zum Thema „Mein Hamburg“ ist groß.
36 Bilder waren im Rennen. 36 von
Hunderten, die im Laufe der vergangenen
drei Monate entstanden waren. Jeder
Teilnehmer musste drei Fotos einreichen
– nicht weniger, aber eben auch
nicht mehr. Und so war schon die Vorauswahl,
die Lena zusammen mit den
Verkäufern zu treffen hatte, eine Qual.
Die Jury konnte sich nun erst recht
kaum entscheiden. Nur um den ersten
Preis gab es keine Diskussion: Der Kormoran
von Josef (Seite gegenüber)
stand sofort fest. Das Motiv, die Farben,
der Fokus und, wie Spinne sagte: „Dit
ist doch genial, wie det Vieh da steht.“
Dass so viele gute Fotos eingereicht
wurden, ist nicht selbstverständlich.
Denn die Ausgangsbedingungen für die
Verkäufer waren sehr unterschiedlich.
Sie hatten die Wahl: Einwegkamera,
Digitalkamera, Handy oder die Profikamera
von Fotografin Lena. „Manche
haben sich für die Einwegkamera entschieden,
weil sie Angst hatten, die Digitalkamera
zu verlieren, sie kaputt zu
machen oder auf Platte beklaut zu werden“,
erzählt die 30-Jährige. Die hatten
es natürlich schwerer, denn sie hatten
kein Display, um das Fotografierte zu
überprüfen. Und: „Mit mir hatten sie es
auch nicht leicht“, ergänzt Lena. Insgesamt
15-Mal hat sie sich im Zeitraum
von Anfang April bis Ende Juni mit den
Hinz&Künztlern getroffen. Und immer
habe es geheißen: „Das kannst du besser.“
Oder: „Du musst die Kamera gerader
halten.“ Wer nicht zum Termin
erschien, wurde gnadenlos telefonisch
verfolgt. „Ich hab’ sie getriezt, aber sie
haben trotzdem weitergemacht“, stellt
Lena zufrieden fest.
So richtig schrecklich scheinen die
Hinz&Künztler Lenas Hartnäckigkeit
aber auch nicht gefunden zu haben.
Denn nachdem jeder Teilnehmer seinen
Preis – vom Kinogutschein über
die HVV-Monatskarte bis hin zum
Campingstuhl und Kugelgrill – entgegengenommen
hatte, applaudierten alle
„ihrem“ Coach. Hinz&Künztler Jürgen
fasste es zusammen: „Das hat einfach
total Laune gemacht!“ •
29
3. Platz
Als ich diese Tür gesehen habe, dachte ich zuerst: „Da hängt ein Plakat! Das muss
eine Fotomontage sein.“ Denn da steht nur die Fassade von dem Haus, und dann
guckst du durch die Tür direkt in einen komplett verwilderten Innenhof. Ich bin viel
unterwegs. An dieser Fassade bin ich immer wieder vorbeigekommen und
habe sie mir angeschaut. Na, und irgendwann hab’ ich gedacht: „Das musst du
festhalten.“ Das Bild habe ich mit meiner neuen Kamera gemacht. Auf die habe ich
richtig lange gespart.
Gerold (46) verkauft vor dem Hofladen an der S-Bahn-Station Kornweg.
Er war unsere „Momentaufnahme“ im Juli-Heft.
30
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Stadtgespräch
Mich haben die Hüte
fasziniert. Sie liegen in
einem Schaufenster in
der Steinstraße, gleich um
die Ecke von Hinz&Kunzt.
Einen von diesen Hüten
hätte ich gerne.
Ralf (46) verkauft in
der Innenstadt.
Ich habe drei Jahre lang im Auto gewohnt, direkt am Dammtor. Noch immer gehe ich
dort in der Nähe regelmäßig mit meinem Hund spazieren. Besonders schön finde ich es,
wenn an der Binnenalster diese gelben Frühlingsblumen blühen.
Deshalb wollte ich die für den Fotowett bewerb auch gerne fotografieren. Ich habe die Fotos
mit Lenas Kamera gemacht. Das war für mich gar nicht so einfach, denn für manche Bilder
musste ich ganz nah an die Wasserkante gehen. Ich hatte Angst abzurutschen, denn ich
kann nicht schwimmen. Als ich noch ganz klein war, in Ungarn, musste mich mein Onkel mal
vor dem Ertrinken retten. Seitdem gehe ich eigentlich nicht mehr nah ans Wasser.
Ferenc (37) ist seit fünf Jahren bei Hinz&Kunzt.
Momentan lebt er in einem Keller in Ochsenzoll.
Auf dem Foto sieht man ein Riesenposter. Ich
habe es so fotografiert, dass man nicht sehen
kann, wo ich es aufgenommen habe. Jetzt
kann ich es verraten: Das Poster hing genau
da, wo früher die Essohäuser standen.
Damit keiner die Baustelle sieht, hängen da
wechselnde Bilder. Für mich bedeutet das:
Ich verstecke was, was du nicht sehen sollst.
Damit du nicht mitkriegst, was da passiert.
Ich kenne zwar den Architektenentwurf, aber
wer weiß, ob die neuen Häuser so werden,
wie der Entwurf verspricht.
Erich (64) ist Hinz&Künztler und
Stadtteilkünstler in Mümmelmannsberg.
2. Platz
Von meinem Wohnungsbalkon im 14. Stock habe ich eine geniale Sicht auf die Stadt. Da ist auch das
Foto entstanden. Diese Wolkenbank hing direkt über dem Haus – als Vorbote vom Starkregen, der kurz
danach eingesetzt hat. Dass mein Handy so gute Bilder macht, ist Zufall. Die anderen sind eher unscharf.
Aber die Bilder, die ich mit der Profikamera von Lena gemacht habe, haben schließlich nicht gewonnen!
Für mich zeigt dieses Bild, wie das Wetter in Hamburg sein kann. Wenn das Wetter wechselt, das siehst
du von da oben genau. Und wenn es gießt oder blitzt – das sieht einfach geil aus.
Thomas (57) ist seit Langem bei Hinz&Kunzt und macht gerade eine Verkaufspause.
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Stadtgespräch
Eigentlich wollte ich was ganz anderes
fotografieren. Kleine Tiere von ganz nah
dran oder Sachen im Dunkeln. Aber das
hat nicht geklappt und wäre mit der
Digitalkamera wohl auch gar nicht
gegangen. Die Bilder, die ich am Ende
beim Wettbewerb eingereicht habe,
sind alle durch Zufall entstanden.
Die fliegende Frau ist ein gemaltes Bild.
Ein Kunstprojekt, das ich auf der Altonale
im Vorbeigehen abfotografiert habe.
Daniela (45) lebt in einer
Hinz&Kunzt-WG in Eidelstedt.
Der Hund
gehört einem
Kunden von
mir. Ich fand es
interessant
und lustig, wie
er da aus dem
Fenster
schaut. Direkt
von meinem
Verkaufsplatz
aus habe ich das Bild gemacht. Normalerweise
fotografiere ich ganz selten. Seit
zwei Monaten habe ich aber ein neues
Handy, und seitdem haben die Bilder eine
bessere Qualität. So macht es Spaß.
Reitis (61) hat seinen Stammplatz
in der Stresemannallee.
Die Jury:
Frank „Spinne“ Nawatzki,
Meike Lehmann (Vertrieb),
Sybille Arendt
(Öffentlichkeitsarbeit),
Annette Woywode (Redaktion)
Die Bilder aller Teilnehmer
finden Sie im Internet unter
www.hinzundkunzt.de/fotos2017
Fotografin Lena Maja Wöhler:
www.lenawoehler.com
Danke an FC St. Pauli
Merchandising GmbH & Co. KG
für die Preise
33
Musiker, Schauspieler
und jetzt auch Buchautor:
Günter Märtens erzählt
in „Die Graupensuppe“
von seiner bewegten Zeit
als Junkie in Hamburg.
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Lebenslinien
„Ich war ein
überlanger,
menschlicher
Schrotthaufen“
Als gut gelaunter Kontrabassist bei Ulrich Tukurs Rhythmus
Boys spielt er oft den musikalischen Clown. Früher spielte
Günter Märtens mit seinem Leben. In seinem Buch „Die
Graupensuppe“ erzählt der 58-Jährige von seiner Heroinsucht.
TEXT: SIMONE DECKNER
FOTOS: ANDREAS HORNOFF, GÜNTER MÄRTENS
Pi mal Daumen. Günter Märtens hat
nicht Buch geführt. Aber eine Viertelmillion,
das kommt schon hin. Für so
viel Geld bekommt man heutzutage eine
sonnige Einzimmerwohnung in Lohbrügge
oder zwei fabrikneue 5er BMW
mit Sonderausstattung. Günter Märtens
besitzt weder noch. Er hat sich die
ganze schöne Kohle in Form von Heroin
durch Nase und Venen gejagt.
35
Hamburg im Sommer 1977: Die Republik
fahndet nach der RAF, Märtens,
den alle nur „den langen Märtens“ nennen
wegen seiner stattlichen Länge von
2,06 Metern, rennt seinem Traum hinterher:
Er will ein erfolgreicher Musiker
werden. Mit seinen langen Haaren, den
markanten Wangenknochen und vollen
Lippen sieht er zumindest schon mal
aus wie ein Rockstar. Tagsüber macht
er eine Ausbildung im Sanitärfachhandel,
das beruhigt die Eltern. Nachts
spielt er Bass bei der Band Headstone.
Das läuft ziemlich gut: ausverkaufte
Konzerte, Lob in der Lokalpresse. Auf
Lebenslinien
HINZ&KUNZT N°294/AUGUST 2017
der Bühne fühlt sich der lange Günter
wirklich wie ein ganz Großer.
Anders als in der Reichsbundsiedlung
in Blankenese, in der er mit seinen
Eltern wohnt. Eine Welt, die ihm viel
zu klein ist: Tür an Tür mit Kriegsversehrten,
die in klobigen Rollstühlen
über die Wege kurven, humpelnden
Einbeinigen und einem spießigen
Hausmeister – ein 18-Jähriger, der sich
wie ein Fremdkörper unter Rentnern
fühlt. Wo alles still steht, nur der Rasenmäher
rotiert. Aber Märtens’ Träume
sind so viel mehr St. Pauli als Blankenese.
Die Band ist sein Ticket hinaus. Bis
der Keyboarder plötzlich zu Gott findet
und auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Die Band zerbricht daran
und mit ihr Märtens. „In dem Moment
war da eine große Leere und Traurigkeit“,
sagt er. Zu schwach und gleichzeitig
zu risikofreudig sei er damals gewesen.
Er schnupft zum ersten Mal
Heroin. Frei nach dem Motto: „Jetzt
renne ich mal gegen die Wand und gucke,
ob es weh tut.“
Es tat weh, und
wie. Sieben Jahre
lang. Ist Heroin
für ihn anfangs noch
„wie eine Geliebte“, bestimmt
bald nur noch die
Gier nach dem nächsten Schuss sein
Leben. Er ist körperlich anwesend,
aber nie ganz da. „Ich hatte immer im
Hinterkopf: Habe ich einen Löffel dabei?
Wo kann ich meinen nächsten
Druck machen?“, sagt Märtens. Von
Entzugserscheinungen getrieben,
bricht er Apotheken auf und pfeift sich
rein, was einen Rausch auslöst – inklusive
Pferde-Polamidon. Selbst wohlmeinende
Chefs feuern ihn reihenweise.
Seine Familie glaubt ihm kein Wort
mehr, zu oft hat er sie schon angelogen.
Irgendwann kann und will Günter
Märtens nicht mehr. Ein Selbstmordversuch
scheitert – auf Fotos von früher
sieht man einen zerbrechlich wirkenden
jungen Mann mit Unterarmbandagen
schüchtern in die Kamera lächeln.
Man kann das alles
nachlesen in seinem
autobiografischen
Roman „Die Graupensuppe“.
Märtens warnt darin nicht
moralinsauer vor den bösen Drogen,
sondern erzählt schonungslos und humorvoll
zugleich, wie es ihm als Junkie
ergangen ist. Etwa wenn er sich selbst
als „überlangen menschlichen Schrott-
Heute braucht der 58-Jährige keine Drogen mehr, um sich gut zu fühlen.
„Früher“, so Günter Märtens, „wollte ich damit die Leere in mir füllen.“
Lebenslinien
haufen ohne Hoffnung auf rettendes
Recycling“ bezeichnet.
Er sagt, ohne seine Freunde hätte er
den Ausstieg nicht geschafft. „Die haben
mir tierisch den Arsch aufgerissen,
denen konnte ich null vormachen.“ Er
ist dankbar, dass er die Kurve gekriegt
hat, anders als viele seiner damaligen
Weggefährten. In dem Jahr, in dem er
mit Heroin anfing, warnt der Spiegel
auf seinem Titel schon vom „Mord auf
Raten“. Doch auch vergangenes Jahr
starben in Hamburg 75 Menschen an
den Folgen von Drogenkonsum, so viele
wie seit 2002 nicht mehr.
zum David-Bowie-Konzert war es damals,
die Günter Märtens wieder in die
Spur bringen sollte. Nach Jahren des
Konsums wurde ihm klar, dass er nur
noch zwei Möglichkeiten hatte: weiter
Heroin zu nehmen und sich selbst zu
ruinieren oder aufzuhören. Als er sich
im Rückspiegel sieht, passiert etwas mit
ihm. Wie aus dem Nichts taucht plötzlich
ein Bild vor ihm auf: der kleine
Günter, lachend, unbeschwert. Es ist
nur ein kurzer Moment. Als er aus dem
Auto aussteigt, weiß Märtens, was er
tun muss.
Günter Märtens Traum mit Anfang 20: Rockstar werden. Mit seiner
Band Headstone wollte er den Durchbruch schaffen (oben).
Als die Band zerbrach, begann seine Drogenkarriere. Sie gipfelte
in einem Suizidversuch. Das untere Foto entstand kurz danach.
dauert die Therapie
in einer
Wohngruppe in
Ahrensburg, zu
der er sich freiwillig
verpflichtet.
Dort gelten
strikte Regeln: Drogen, auch Alkohol,
sind komplett tabu, er darf sechs Monate
niemanden aus seiner Familie sehen.
„Ich habe das damals genossen, so
reglementiert zu werden. Dieses Leben
wie unter einer Käseglocke war eine
Riesenerleichterung für mich“, sagt er.
Die Mitarbeiter der Therapiehilfe
Hamburg dosieren ihn langsam herunter.
„Körperlich war das gar nicht so
heftig, psychisch war es schlimmer“,
sagt Märtens. Nach 23 Monaten verlässt
er die Einrichtung clean. „Ich bin
nie wieder auch nur auf die Idee gekommen,
wieder anzufangen.“
Der Saal im St. Pauli Theater ist voll.
Es ist der Abend, an dem Günter Märtens
sein Buch vorstellt. Weil ihm seine
neue Rolle als Autor noch nicht ganz geheuer
ist, hat er seine eigene Band Pling-
Plang als Verstärkung mitgebracht.
Günter Märtens liest vor lauter Aufregung
fast zwei ganze Kapitel, bevor ihm
seine Verlegerin signalisiert aufzuhören.
„Wir wollen ja das Buch auch noch
verkaufen“, sagt Märtens und lacht.
Momentan schreibt er schon an seinem
zweiten. Es macht da weiter, wo
das erste endet: beim Start in den Entzug.
Reich wird er mit dem Verkauf der
Bücher vermutlich nicht werden. Darum
geht es ihm auch nicht. Er ist heil
aus der Sache rausgekommen, das
37
zählt. Er sagt: „Ich habe über diesen
radikalen Weg, den ich niemandem
empfehle, zu mir selbst gefunden.“
Neulich hat er wieder mit seiner
92-jährigen Mutter telefoniert, die noch
immer in Blankenese lebt. Günter Märtens
lacht: „Die hat erst das Ende vom
Buch gelesen, weil sie wissen wollte, ob
es gut ausgeht.“ •
Kontakt: simone.deckner@hinzundkunzt.de
Die Graupensuppe,
Punktum Bücher, 292 Seiten, 20 Euro.
Lesung: 4.8. beim Festival
A Summer’s Tale, 15.45 Uhr,
Grüner Salon, Eventpark Luhmühlen,
Westergellerser Heide,
Westergellersen, Karten ab 74 Euro.
Wo Araber feiern,
wird fast immer Dabke
getanzt – oft stundenlang.
Sänger Morshed
hat den Nerv getroffen.
Heimweh
zum Mitsingen
Von Herzschmerz und Widerstand handelten die Hits der Karaoke-Bars in
Syrien, bevor der Krieg ausbrach. Bei Oriental Karaoke auf Kampnagel werden die
alten Volksweisen und Revolutionslieder wieder gesungen – sie geben vielen
gefl üchteten Arabern ein Stück Heimat zurück.
TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN
FOTOS: LENA MAJA WÖHLER
Die Bühne ist für alle da:
Bei Oriental Karaoke
zählt pure Leidenschaft.
Rubrik
HINZ&KUNZT N°294/AUGUST 2017
Die alten Lieder, sie sind mit
den Musikern
nach Europa gekommen
Das nächste Lied hat es in
sich. Aber Morshed Alzouba
muss da jetzt durch. Er
hat sich das nicht ausgesucht,
wie üblich haben ihn Freunde
beim Oriental Karaoke auf Kampnagel
als Sänger nominiert. Nun blicken
sie zu ihm hoch und zücken ihre Handys,
während Organisator Anas Aboura
den Titel ankündigt: „Ich vermisse das
Brot meiner Mutter.“ Morshed atmet
durch und legt los. Es ist ein dramatisches
Lied, er singt es voller Inbrunst.
Doch kurz vor dem Refrain muss er
schlucken: „Meine Mutter ... Meine
Mutter ...“ Der 27-Jährige starrt auf die
Verse an der Hallenwand, als wolle er
sich daran festhalten. Er fasst sich und
bringt das Lied mit fester Stimme zu Ende.
Das Publikum jubelt. So war die
Stimmung auch früher in den Karaokebars
von Damaskus – vor Ausbruch des
Krieges 2011, erzählt Anas Aboura. Nur
die Technik war damals eine andere:
Fernseher statt Beamer, die Musik kam
nicht vom Laptop, sondern von CDs.
Die Lieder von Heimweh und Trennungsschmerz
sind nicht neu. In vielen
arabischen Ländern wurden sie gesungen
in Erinnerung an die Heimat und
das Leid Vertriebener, etwa aus Palästina,
denen sich viele Araber verbunden
fühlen. „Es sind alte Volkslieder“, erklärt
Anas. „Aber das Gefühl ist dasselbe geblieben.“
Für die Geflüchteten werden
sie nun Teil der eigenen Geschichte.
„Ich konnte fast nicht weitersingen“,
sagt Morshed nach seinem Auftritt.
„Es war so …“ Er sucht nach dem
passenden deutschen Wort. Morshed ist
noch keine anderthalb Jahre in Deutschland.
Aufgewachsen ist er im Nordosten
40
Syriens, seine Heimatstadt Al Hazaka
liegt mit ihren vier großen Kirchen etwa
60 Kilometer von der irakischen Grenze
entfernt, viele Einwohner sind Aramäer
oder Kurden. Morsheds Mutter, sein
Vater, seine Geschwister – alle sind noch
da. „Wir schreiben jeden Tag auf
WhatsApp“, sagt er. Auf die Frage, ob
seine Familie sicher ist, nickt er kurz.
Sorgen macht er sich trotzdem.
Ein fetziger arabischer Popsong
schallt aus den Boxen, der Sänger wirft
sich in Pose. Auch wenn nicht jeder singen
kann wie Morshed, an Leidenschaft
lässt es niemand fehlen. Schon ist die
erste Dabke im Gange, so heißt ein orientalischer
Folkloretanz: Schulter an
Schulter tanzen Männer und Frauen in
einer langen Reihe durch den Raum,
der Erste gibt die Schrittfolge vor. Sie
haben Platz, statt der üblichen 300 Gäs-
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Lebenslinien
Sieht schottisch aus, klingt aber original nach
Levante: Die Sackpfeife wird in Syrien und Palästina
vor allem auf Hochzeiten gespielt. In Hamburg gründete
sich die Band „Gajar“.
Anas und Abeer
(links) kennen
sich noch aus
Syrien. Viele,
die beim Oriental
Karaoke mitmachen,
waren
schon vor der
Flucht nach
Deutschland
Freunde.
te sind heute nur rund 100 da. „Normalerweise
haben wir volles Haus“,
sagt Anas. Aber er hat heute mit weniger
Zulauf gerechnet. So wie auch Mitorganisator
Rashad. „Ramadan und
Champions League“, erklärt er.
In Syrien wurde Karaoke vor allem
in den Jahren vor der Revolution zum
Trend, erzählt Anas. Die Bars verbreiteten
eine neue Atmosphäre, Leute ließen
am Mikro ihren Gefühlen freien
Lauf. „Das hat schon mit der revolutionären
Stimmung zu tun, die damals
aufkam“, sagt der 31-Jährige, der sein
Studium in Syrien abbrechen musste
und als Oppositioneller im Gefängnis
landete. Als 2011 die Rebellion offen
ausbrach, wurden die Bars zu Treffpunkten,
in denen sich Gruppen organisierten
und Verletzte versorgten, erzählt
er. Mancherorts waren Lieder mit
neuem Text zu hören – umgedichtet zu
Anti-Assad-Hymnen. „Auch diese Lieder
haben die Leute mit nach Europa
gebracht“, sagt Anas.
Für ihn ist Oriental Karaoke erst
der Anfang: Anas und seine Freunde
planen ein Haus, das den vielfältigen
Kulturen des Nahen und Mittleren Ostens
eine neue Heimat in Hamburg ge-
41
ben soll – mit Konzerten, Bühnenkunst,
Poesie, Filmabenden und gemeinsamem
Essen. „Shamiram Haus“ soll es
heißen. Anas Aboura träumt auch
schon von einem besonderen Ort: „Unser
größter Wunsch wäre, die Schilleroper
zu bekommen.“ •
annabel.trautwein@hinzundkunzt.de
Info: Oriental Karaoke, Kampnagel,
Jarrestraße 20, Sa, 19.8., 22 Uhr,
Eintritt auf Spendenbasis
Freunde
HINZ&KUNZT N°294/AUGUST 2017
Danke an alle
Unterstützer!
Unser Jahresbericht 2016: ein neues Projekt, eine Ehrung – und eine schwere
Krise, die uns und unseren Verkäufern den Magazinverkauf erschwert hat.
TEXT: JENS ADE
FOTO: LENA MAJA WÖHLER
2016 – das war eine richtige Achterbahnfahrt.
Dabei fing alles so gut an.
Unsere Chefredakteurin Birgit Müller
wurde im Januar für ihren Einsatz mit
dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
„Das ist eine Auszeichnung, die uns
allen gilt – dem Team und den
Hinz&Künztlern auf der Straße“, so
die Mitbegründerin des Magazins.
Im April gab es einen weiteren Höhepunkt:
Zusammen mit der Bäckerei
Junge starteten wir die „BrotRetter“,
unser zweites externes Arbeitsprojekt.
In Lohbrügge verkaufen fünf
Hinz&Kunzt-Verkäufer seitdem Brot
und Backwaren vom Vortag zu günstigen
Preisen – Seite an Seite mit dem
Team von der Bäckerei Junge. Angestellt
sind sie bei uns.
Wenig später war unsere Euphorie
vorbei, denn ebenfalls im April tauchte
das „Straßenjournal Deutschland“
in Hamburg auf. Auch wenn es inhaltlich
nicht vergleichbar ist, entstand
für die Hinz&Künztler eine heftige
Kon kurrenzsituation. Die neuen Verkäufer
vertreiben das Blatt teilweise sehr
offensiv. In einigen Fällen wurden die
Hinz&Künztler sogar bedroht oder verdrängt.
Leser riefen verwirrt oder empört
an, weil sie dachten, das „Straßenjournal“
hätte etwas mit uns zu tun.
Der zweite Schlag folgte wenig
später. Ein in Hamburg erscheinendes
kostenloses Anzeigenmagazin veröffentlichte
im Mai und Juni diffamierende
Presseartikel über uns. Dabei ging es unter
anderem um unsere Rücklagen
(inzwischen rund 1,9 Millionen Euro).
Wir haben versucht, mit Transparenz
und Sachlichkeit dagegenzuhalten.
Rücklagen brauchen wir, weil wir die
Auflagenschwankungen während des
Jens Ade ist seit 13 Jahren
Geschäftsführer von Hinz&Kunzt.
42
Jahres auffangen müssen, und weil nur
so Projekte wie „Spende dein Pfand!“
oder „BrotRetter“ überhaupt starten
können. Insgesamt tragen wir Verantwortung
für 38 Mitarbeiter (davon 22
ehemals Wohnungslose), 20 Wohnungen,
für die wir bürgen oder die wir verwalten
– und für mehr als 500 Verkäufer.
Und wie viele von Ihnen wissen: Wir
planen mit einem Sozialinvestor ein
Haus.
Schließlich meldete sich der Herausgeber
des Anzeigenmagazins und
nahm die Anschuldigungen zurück.
Trotzdem: Die Stimmung und die Auflage
haben unter all dem gelitten. Statt
rund 814.367 Hefte in 2015 haben wir
in 2016 nur 720.402 verkauft. Aber die
Krise hat auch gezeigt, wie sehr wir in
Hamburg verankert sind. Gott sei
Dank haben sich viele Hamburger hinter
uns gestellt und uns weiterhin finanziell
unterstützt. Gerade jetzt! Auch
Rewe, Aldi, Lidl und Edeka helfen, indem
sie Verkaufsplätze für unsere
Hinz&Künztler reservieren.
Und die Sozialarbeit ist zufrieden
mit unseren Projekten: „Spende dein
Pfand!“ am Flughafen mit 3,5 festen
Stellen wurde um ein Jahr verlängert.
Der Höhepunkt war jedoch die
Reise nach Rom. Im November hatte
Papst Franziskus 4000 Obdachlose, Arme
und ihre Begleiter nach Rom eingeladen.
Wir waren mit 21 Verkäufern
und sieben Begleitern dabei. Dieses intensive
Gemeinschaftserlebnis hat uns
unglaublich beflügelt. Viele Obdachlose
haben dadurch wieder Hoffnung
geschöpft oder zu ihrem Glauben
gefunden.
Auch die Spendenbereitschaft ist
zum Glück 2016 stabil geblieben. Ein
Highlight war das Benefizkonzert mit
Ulrich Tukur und seinen Rhythmus
Boys im St. Pauli Theater sowie das Benefizkonzert
der Hamburger Camerata
in der St. Georgskirche mit der Geigerin
Joanna Kamenarska. Aber auch wiederkehrende
Aktionen wie das Neujahrskonzert
in Wentorf und das Acando-
Kickerturnier sind neben den vielen
kleinen und großen Spenden überlebenswichtig
für unsere Arbeit. Unser
besonderer Dank gilt dem Freundeskreis
mit seinen 2500 Mitgliedern. Nur
durch Ihre Hilfe können wir 530 Verkäufern
jeden Monat eine Beschäftigung
ermöglichen, eine Heimat bieten und eine
Lobby sein. Danke! •
Kontakt: jens.ade@hinzundkunzt.de
Mehr unter
www.hinzundkunzt.de
Das Betriebsergebnis 2016
ERLÖSE
2016
2015
2014
Verkaufte Exemplare
Umsatzerlöse Zeitungsverkauf*
Umsatzerlöse Sonderheft
Umsatzerlöse Anzeigen
Übrige Erlöse** (Stadtrundgänge, Veranstaltungen, Arbeitsprojekte)
Umsatzerlöse Warenverkauf
720.402
736.000 €
71.000 €
100.000 €
196.000 €
26.000 €
1.129.000 €
814.367
707.000 €
57.000 €
102.000 €
51.000 €
33.000 €
950.000 €
830.558
679.000 €
86.000 €
109.000 €
29.000 €
26.000 €
929.000 €
Allgemeine Spenden***
Erlöse Freundeskreis
Sponsoring
Spenden/Vermächtnisse für Sonderprojekte
Zuschüsse (für Langzeitarbeitslose, bezahlt die Agentur für Arbeit)
Übrige Erträge (Auflösung Rückstellung, Investitionszuschüsse)
662.000 €
290.000 €
28.000 €
87.000 €
30.000 €
24.000 €
671.000 €
257.000 €
28.000 €
87.000 €
16.000 €
40.000 €
579.000 €
244.000 €
28.000 €
41.000 €
34.000 €
30.000 €
SUMME ALLER ERLÖSE
2.250.000 €
2.049.000 €
1.885.000 €
40% Erlöse Monatsmagazin
davon 33%
Magazinverkauf
3 % Sonderhefte
4% Anzeigen
5,5% Sponsoring
12,5% Übrige
Im Jahre 2016 haben wir 2.250.000 Euro aufgewendet. Den Löwenanteil,
55 Prozent unseres Geldes, geben wir für Personalkosten aus. 2016 hatten
wir insgesamt 38 Mitarbeiter. Die meisten arbeiten in Teilzeit. Davon sind
22 ehemalige Verkäufer. Mitgerechnet sind die neun Hinz&Künztler, die in
unseren Kooperationsprojekten „Spende Dein Pfand!“ am Hamburger Flughafen
und „BrotRetter“ in Zusammenarbeit mit der Bäckerei Junge arbeiten.
55% Personalaufwand
29%
Spenden
60 % Spenden, Sponsoring und übrige Erlöse
13% Freundeskreis-
Beiträge
34%
Personalkosten
21% Personalkosten
für ehemalige
Verkäufer
Das Heft und seine Mitarbeiter finanzieren sich aus den Erlösen aus dem
Zeitungsverkauf*, den Sonderheften und Anzeigen. Durch die Preiserhöhung
haben wir trotz Auflagenrückgang kein Minus gemacht. Die Spenden*** dienen
der Finanzierung des Gesamtprojektes. Stark gestiegen sind die „Übrigen
Erlöse“**. Das liegt an den Einnahmen aus „Spende Dein Pfand!“ und
„BrotRetter“. Damit werden die Personalkosten in diesen Projekten refinanziert.
2% Übrige
2,5% Betreuungsaufwand
22% Betriebliche
Aufwendungen
18,5% Herstellungskosten
Zeitung
45% sonstige Kosten
AUFWENDUNGEN
2016
2015
2014
Personal (Gehälter, Sozialabgaben, Altersvorsorge)
Betriebliche Aufwendungen (Miete, Instandhaltung, Heizung etc.)
Betreuungsaufwand (Lebensmittel, Kaffee, Einzelhilfen)
Honorare (freie Redakteure, Fotografen, Layout)
Foto-, Belichtungs-, Druckkosten
Abschreibungen
Übrige Aufwendungen (Mitgliedsbeiträge, Versicherungen, Bankgebühren)
1.233.000 €
421.000 €
57.000 €
273.000 €
220.000 €
19.000 €
27.000 €
1.024.000 €
363.000 €
90.000 €
242.000 €
181.000 €
18.000 €
24.000 €
958.000 €
414.000 €
42.000 €
261.000 €
160.000 €
21.000 €
12.000 €
SUMME AUFWENDUNGEN
2.250.000 €
1.942.000 €
1.868.000 €
Steuern auf Einkommen und Ertrag
Rücklagen-Einstellung
Rücklagen-Entnahme
4.000 €
104.000 €
108.000 €
7.000 €
157.000 €
57.000 €
16.000 €
156.000 €
155.000 €
BILANZGEWINN
0 €
0 €
0 €
Ein satter Händedruck
muss sein: Hinz&Kunzt-
Juror Rainer gratuliert
Omar zu einem der Preise.
Die Welt von morgen
Wie klingt „Zukunft“? Diese Frage beantworteten rund 80 Schüler
aus Hamburg und dem Umland beim diesjährigen Wettbewerb
von Audiyou und Hinz&Kunzt. Sie wünschen sich vor allem eine Welt ohne Not.
TEXT: JONAS FÜLLNER, FOTO: DMITRIJ LELTSCHUK
Der Bass wummert, das Keyboard
quietscht und orgelt,
während junge Stimmen
gekonnt ihren Rap dem
Beat anpassen: „Das ist die Welt von
morgen, so sehen wir sie. Glückliche
Menschen statt Tränen und Krieg.
Hebt die Hände, wenn ihr das Leben
liebt.“ Das funktioniert: Die Zuhörer
reißen ihre Arme in die Höhe und jubeln,
als der Song „Die Welt von morgen“
durch den Verkaufsraum von
Hinz&Kunzt schallt.
Dort findet an diesem Tag die
Preisverleihung für den Jugend-Hörbuchpreis
Audiyou statt. Gleich zu Beginn
hatte Sascha Draeger eingeräumt:
„Wir hatten dieses Mal die Qual der
Wahl, und es war nicht leicht, sich auf
einen Sieger festzulegen.“ Sascha
Draeger? Den Namen des Audiyou-Jurymitglieds
kannten die Kinder nicht.
Im Gegensatz zu seiner Stimme. Seit
vielen Jahren spricht er die Rolle des
Tim in der Serie TKKG.
Die etwa 80 Schüler aus Hamburg
und Umland hingen aber nicht deswegen
an seinen Lippen. Sie warteten gespannt
darauf, welchen Platz sie mit ihrer
Klasse beim Wettbewerb von
Audiyou und Hinz&Kunzt belegen
würden. Nicht einmal für die Chips
und die große Schüssel voller Gummibären
hatten die Schüler Augen – zumindest
nicht, solange sie noch nicht
ihren Preis eingeheimst hatten.
Der Jubel unter den Schülern war
groß. Denn es gibt keine Pokale, sondern
professionelles Aufnahme-Equipment
zu gewinnen. Schließlich will Audiyou-Initiatorin
Stephanie Landa die
Produktion von Hörspielen und Songs
fördern. Jedes Jahr unter einem neuen
Motto. In diesem Jahr sollten sich die
Kinder Gedanken über die Zukunft
machen. Und die sieht rosig aus,
lauscht man den prämierten Beiträgen.
Die Kinder träumen von einer
Welt ohne Krieg, Hunger, Rassismus –
und Hausaufgaben. Ein nachvollziehbarer
Wunsch, für den die Kinder der
Rudolf-Roß-Grundschule in der Neustadt
in ihrem Hörspiel eine Lösung
präsentierten: Die Protagonisten bas-
Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk
44
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teln heimlich an einem Roboter, der
spätestens im Jahr 2217 alle Hausaufgaben
für sie selbstständig erledigt.
200 Jahre wollte das Team der
Demokratischen Schule Infinita aus
Steinhorst in der Nähe von Bad Oldesloe
allerdings warten. „Kommt alle mit
in die Welt von morgen, niemand
macht sich um Geld noch Sorgen, der
Reichtum ist gerecht verteilt und Zeitmaschinen-Songs
gehen echt mal steil“,
singen sie in ihrer utopischen Vorstellung
in „Die Welt von morgen“.
Mit vorzüglicher Soundqualität, gewitzten
Reimen überzeugten sie die Jury,
die sich aus Stephanie Landa, Sascha
Draeger, Hinz&Kunzt-Verkäufer
Reiner Rümke, Sybille Ahrendt
(Hinz&Kunzt), Annemarie Azong (Studentin)
und Jörgpeter von Clarenau
(NDR Mikado) zusammensetzte. Die
Mitglieder des Siegerteams waren völlig
aus dem Häuschen. „Juhu, es hat sich
gelohnt. Wir haben jede Woche geübt
und gesungen“, sagte Jonathan freudestrahlend.
Seine Mitschülerin Luzie
pflichtete ihm sofort bei: „Ehrlich gesagt,
den Beat konnten wir in den letzten
Wochen schon nicht mehr hören.
Aber jetzt bin ich ganz happy.“ •
Freunde
JA,
ICH WERDE
MITGLIED
IM HINZ&KUNZT-
FREUNDESKREIS.
Damit unterstütze ich die
Arbeit von Hinz&Kunzt.
Meine Jahresspende beträgt:
60 Euro (Mindestbeitrag für
Schüler/Studenten/Senioren)
100 Euro
Euro
Datum; Unterschrift
Ich möchte eine Bestätigung
für meine Jahresspende erhalten.
(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)
Meine Adresse:
Name, Vorname
Straße, Nr.
PLZ, Ort
Telefon
E-Mail
Wir danken unseren Sponsoren Zoom,
Hörcompany, Jumbo Verlag, Hajolt Klangschalen
und der Joachim Herz Stiftung.
Alle Beiträge anhören können Sie unter:
www.huklink.de/audiyou2017
Der Newcomer-Preis ging an die Grundschule
Kapellenweg (oben). Über Platz
eins jubelte das Team der Schule Infinita
(Mitte). Und gute Stimmung herrschte bei
der Preisverleihung auch in der Jury.
Beruf
Geburtsjahr
Einzugsermächtigung:
Ich erteile eine Ermächtigung zum
Bankeinzug meiner Jahresspende.
Dankeschön
Ich zahle: halbjährlich jährlich
IBAN
Wir danken allen, die im Juli an uns gespendet
haben, sowie allen Mitgliedern im
Freundeskreis von Hinz&Kunzt für die
Unterstützung unserer Arbeit!
DANKESCHÖN EBENFALLS AN:
• IPHH • wk it services
• Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH
• Hamburger Tafel • Axel Ruepp Rätselservice
• Hamburger Kunsthalle
• bildarchiv-hamburg.de
• Ilsabe und Hartmann Kühne, die ihren
72. Doppelgeburtstag mit ihren Gästen
gefeiert haben
• Götz Oehlert und seinen Geburtstagsgästen
• Jörg Kutzim und seinen Geburtstagsgästen
• Peter Korn und seinen Gästen zur
Feier zum 60. Geburtstag
• „Rock die Straße“ für das Benefizkonzert
mit Silvia Kohl-Stolze • Mike Manske
• „Kannemann“ und Torsten Fixemer
sowie Kay Hähnel
NEUE FREUNDE
• Maria Bleyer • Heinke Eulenschmidt
• Rainer Groothuis • Joe Hartshorn
• Renate Kaiser • Beate Lakotta
• Ursula Lammel • Claudia Meene
• Maret und Nicolas Schütz • Christoph Wenzl
• Britta Wilkens • Lasse Wolter
BIC
Bankinstitut
Wir versichern, dass Ihre Angaben nur für interne
Zwecke bei Hinz&Kunzt verwendet werden. Ihre
Mitgliedschaft im Freundeskreis ist jederzeit kündbar.
Bitte Coupon ausschneiden und senden an:
Hinz&Kunzt-Freundeskreis
Altstädter Twiete 1-5, 20095 Hamburg
Oder online im Freundeskreis anmelden unter
www.hinzundkunzt.de/freundeskreis
45
HK 294
Buh&Beifall
HINZ&KUNZT N°294/AUGUST 2017
Was unsere Leser meinen
„Unbenutzte Container Obdachlosen zur Verfügung stellen!“
Für eine bessere Welt
H&K 293 und online, „Der Gipfel und die
Obdach losen“, siehe auch Seite 16
Jeder, der in diesen Tagen an Demonstrationen
gegen die menschenverachtende
Politik der G20 teilnimmt, tut
das auch für die Rechte der Obdachlosen
und für eine bessere Welt. Dass die
Stadt Hamburg mal wieder vergessen
hat, für diese Menschen einen Plan zu
entwickeln, ist eine Sauerei. BECKY CUSTER
Wenn die Stadt Hamburg noch
einen Funken Anstand hat, dann stellt
sie unverzüglich die unbenutzten Container
Obdachlosen zur Verfügung. Dabei
denke ich besonders an obdachlose
Frauen und Obdachlose mit Hund.
Unbenutzte Container gibt es ja genug.
Jeder hat eine Chance verdient.
IRMGARD TÖPELMANN
An alles wird immer gedacht,
aber für die Menschen auf der Straße
wird nichts getan. MICHAELA HOLTMANN
Bremen statt Hamburg
H&K 293 und online, „Schutzlos im Gipfeltumult“,
siehe auch Seite 16
Laut shz.de hat der G20-Gipfel
400 Millionen Euro gekostet. Dafür
hätte man in Bremen für 1000 obdachlose
Hamburger Eigentum kaufen können
(Bremen ist die einzige Stadt in
Deutschland, in der die Immobilienpreise
noch akzeptabel sind, und es soll
Obdachlose geben, die, um Wohnraum
zu bekommen, Hamburg verlassen
würden).
MANUELA GERKENS
Merkel soll Hinz&Kunzt lesen
H&K 292, „Der G20 und die Armut“ sowie
„Immer auf die Kleinen“
Die Ausgabe wäre doch für das
Thema Afrika beim Gipfel der G20
sehr wichtig. Wie kann man Frau
Merkel das Heft überbringen?
Hühner – fast umsonst. Dieser Artikel
müsste dort nochmals erörtert werden.
Obwohl die „Entscheider“ das
Problem sicher kennen, ist noch keine
positive Veränderung passiert.
URSEL LÜHR
Leserbriefe geben die Meinung des
Verfassers wieder, nicht die der Redaktion.
Wir behalten uns vor, Leserbriefe zu kürzen.
Wir trauern um
Rainer Giordano
26. August 1958 – 12. Juli 2017
HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE
DER ETWAS
ANDERE
STADTRUNDGANG
Rainer war seit Mai 1995 bei Hinz&Kunzt. Viele Jahre
hatte er seinen Stammplatz in der City beim Hamburger Hof.
Jetzt ist er völlig überraschend gestorben.
Die Verkäufer und das Team
von Hinz&Kunzt
Wir trauern um
Peter Dickhoven
19. Juni 1948 – 24. Juni 2017
Peter war 21 Jahre lang Hinz&Kunzt-Verkäufer. Seinen Festplatz hatte er
bei Aldi in der Cuxhavener Straße. Im Krankenhaus ist er gestorben.
Die Verkäufer und das Team
von Hinz&Kunzt
Wollen Sie Hamburgs City einmal mit anderen Augen sehen?
Abseits der teuren Fassaden zeigt Hinz&Kunzt Orte, die in
keinem Reiseführer stehen: Bahnhofs mission statt Rathausmarkt,
Drogenberatungsstelle statt Alsterpavillon, Tages aufent halts stätte
statt Einkaufspassage.
Anmeldung: info@hinzundkunzt.de
oder Telefon: 040/32 10 83 11
Kostenbeitrag: 10/5 Euro,
nächste Termine: 28.8.2017, 15 Uhr
mit Abschiedshaus
Kunzt&Kult
Gutes tun: Musiker Bosse sammelte auf Festivals Zelte
und Schlafsäcke für Obdachlose (S. 48).
Gutes sehen: Das Metropolis Kino widmet sich in einer
neuen Reihe Jazz- und Soulmusikern (S. 52).
Gutes kochen: Hinz&Künztler Gerald ist gelernter Koch.
Nach Jahren im Knast hofft er auf eine neue Chance (S. 58).
Fahrt frei für Miu: Die Soul-Pop-
Sängerin aus Hamburg begann
ihre Karriere im New Yorker Club
„The Bitter End“. Sogar in der
Elbphilharmonie durfte sie schon
spielen. Am 31.8. stellt sie ihr
neues Album „Leaf“ im Mojo vor
(S. 55) – eine runde Sache.
FOTO: ELENA ZAUCKE
Norddeutschland kann sehr grau, ungemütlich
und auch kalt sein. Also rief Bosse auf dem
Hurricane-Festival dazu auf, übrig gelassene
Zelte und Schlafsäcke einzusammeln – die
anschließend an Obdachlose verteilt wurden.
Axel Bosse
Ich kann
viel bewirken
viel helfen
Seit 20 Jahren ist Axel Bosse gut im Geschäft. In seinen
Songs fi nden sich eine Menge Leute wieder, auf der
Bühne gibt der 37-Jährige alles. Ganz nebenbei engagiert
er sich für Obdachlose, Flüchtlinge und gegen Nazis.
Darüber haben wir mit dem Musiker gesprochen.
TEXT UND FOTOS: LENA MAJA WÖHLER
Kunzt&Kult
Bosse füllt mühelos große Hallen
und Stadien. Er gilt als einer
der führenden Köpfe des
deutschsprachigen Pop.
Wir haben ihn anlässlich seines
Konzertes auf der Bahrenfelder Trabrennbahn
getroffen.
Hinz&Kunzt: Als wir bei deinem
Management nach einem Interview anfragten,
bekamen wir sofort eine Zusage.
Was ist dein Bezug zur Obdachlosigkeit?
AXEL BOSSE: Dass ich einen sehr guten Bekannten
habe, der obdachlos ist. Im
Winter wohnt er in einer WG, aber im
Sommer ist er draußen. Gemeinsam
mit ihm und mit der Hilfe von Hanseatic
Help hatten wir letzten Sommer eine
tolle Idee: Wir wollten obdachlosen
Menschen helfen und gleichzeitig beschäftigten
wir uns mit den unglaublichen
Massen an Plastikmüll, die bei den
vielen Festivals anfallen. So kam die Aktion
„Dein Zelt kann ein Zuhause sein“
zustande. Wir spielten an einem Sonntag
auf dem Hurricane Festival. Viele
junge Leute lassen am Ende des Festivals
ihre Isomatten und Zelte stehen,
später kommt die Müllabfuhr und alles
wird weggeschmissen. Wir haben angeboten,
mit einem großen Lkw auf
deren Recyclingplatz zu fahren und
dort die Sachen entgegenzunehmen.
Die Isomatten und Zelte wurden sauber
gemacht und in Hamburg, Bremen
und Hannover an Obdachlose verteilt.
Wir hatten so viel über, dass sogar ein
Teil nach Sizilien und nach Lampedusa
gegangen ist.
49
Bosse kann weit
mehr, als mit Verve
die Rampensau sein:
Im vergangenen
Dezember sammelte
er bei einem Konzert
10.000 Wintermäntel
ein und verteilte sie
weiter.
Auf einem Konzert in der Großen Freiheit
hast du insgesamt 31.000 Euro für
Hanseatic Help und Pro Asyl einspielen
können. Wie kam diese Aktion zustande?
Mir ist bewusst geworden, dass ich
manchmal nur mit den Fingern schnipsen
muss – und ich kann viel bewirken,
viel helfen. Das Konzert in der Großen
Freiheit war ein Zusatzkonzert, eine
Hassmails
voller
Fehler
„Sonntagssause“, also Sonntag, 15.30
Uhr. Es hat normalen Eintritt gekostet,
einige Künstler haben noch Bilder gemalt,
die verkauft wurden. Die Band
hat umsonst gespielt, die Technik und
die Security haben umsonst gearbeitet,
die Feuerwehr kam umsonst. Und auch
die Große Freiheit selbst wurde uns kostenlos
zur Verfügung gestellt, so ist es
dann am Ende zu dieser Summe gekommen,
die zwischen Pro Asyl und
Hanseatic Help aufgeteilt wurde. Mit
dem Geld passieren nun tolle und wichtige
Sachen!
Im Dezember haben wir etwas
Ähnliches gemacht: Wir sollten in der
Alsterdorfer Sporthalle spielen, und ein
paar Tage vorher habe ich mir gedacht:
Mann, da kommen jetzt zwischen 6000
und 7000 Leute, da fahre ich wieder
mit dem Lkw vor und sage diesmal:
„Ich spiele ein Konzert für euch, ihr
gebt mir eure Winterklamotten, dazu
legt ihr einen Zettel mit eurem Namen
und eurer Mailadresse drauf, ich wähle
später fünf Leute von euch aus, ihr
kommt dann mit all euren Freunden,
und ich spiel’ umsonst noch mal ein
Konzert nur für euch.“ Wir haben mit
der Idee mal eben 10.000 Wintermäntel
gesammelt, die weiterverteilt wurden.
Ich wundere mich manchmal, warum
ich das nicht schon vor fünf Jahren
gemacht habe, es ist echt einfach. Du
brauchst nur eine Idee und ein bisschen
Organisation.
Bei der Verleihung des Echo 2016 hast du
auf der Bühne den Nazis symbolisch den
50
Stinkefinger gezeigt. Sollten generell mehr
Künstler politische Stellung beziehen?
Ja! Definitiv.
Gehört das heutzutage zum Business dazu?
Das wäre auf jeden Fall toll. Und es wäre
wichtig, gerade bei der heutigen Mc-
Fit-Jugend, die ihr Leben auf Instagram
darstellt, für die Style alles ist und
die so unpolitisch ist. Darum sollten
sich Künstler, die nun mal einen Rieseneinfluss
haben, das Recht rausnehmen,
sich zu äußern. Gerade die, die
Angst haben, Fans zu verlieren, die großen
Mainstream Acts! Das würde eine
ganze Menge bewegen. Wie Udo Lindenberg
schon sagte: Würde sich Helene
Fischer gegen Rechts und Fremdenfeindlichkeit
äußern, würde das
wahrscheinlich mehr bewegen, als
wenn ich mich als Bosse äußere. Die
meisten meiner Fans sind politisch korrekte,
offene und liberale Leute.
Hatte der Stinkefinger Konsequenzen
für dich?
Keine spürbaren. Es gab natürlich ein
Echo im Netz: 20 Prozent Shitstorm, 80
Prozent Zustimmung, Lob und Unterstützung.
Wobei ich schon erschrocken
WWW.HINZUNDKUNZT.DE
Kunzt&Kult
war, wie sehr ich bedroht wurde; andererseits
konnte man sich auch kaputtlachen,
schon wegen der vielen Rechtschreibfehler
in diesen Mails.
Die ersten Songs deines Albums „Kraniche“
hast du während eines sechsmonatigen
Aufenthalts in Istanbul geschrieben.
Was hat dich an der Stadt inspiriert?
Einfach alles! Meine Frau ist Türkin und
so haben wir dort sehr viele Familienmitglieder.
Meine Frau bekam das Angebot,
vor Ort einen Film zu drehen, unsere
Tochter war noch sehr jung und nicht
schulpflichtig, und wir haben dann ein
Die T rkei
braucht
noch Zeit
Jahr lang die Stadt unsicher gemacht.
Wir haben immer gut gegessen, haben
uns alles angeguckt, haben viele Leute
getroffen, haben viel Quatsch gemacht.
Die Stadt ist der Wahnsinn! Es gibt so
viele junge Menschen! Istanbul kam mir
oft vor wie in den Erzählungen meines
älteren Bruders über die frühen Zeiten
in Berlin; wie das war, als man im Untergrund
noch getanzt hat und als all die
neuen Ideen kamen. Eine Mischung aus
ungeheurer Produktivität, jeder Menge
Adrenalin, dann wieder totales Chaos
und die Schönheit, wenn Alt und Neu
aufeinandertrifft.
Ein Aufbruch, der zum Greifen nah ist?
Totaler Aufbruch! 200 Prozent mehr
Energie, als ich das aus Deutschland
kannte! Wir haben direkt am Taksim-
Platz gewohnt, da wo Tag und Nacht
wie in Tokio ineinander übergehen. Ich
kann jedem nur empfehlen, dahin zu
fahren!
51
Wie fühlt es sich für dich an, wenn du hörst,
was jetzt in der Türkei los ist?
Schwierig. Ich wünsche dem Land Ruhe
und Gerechtigkeit! Manchmal kann
man sich das nicht richtig vorstellen,
was dort passiert. Wir leben in einem
Land, in dem jeder damit aufgewachsen
ist, dass er immer sagen darf, was er
möchte. Sobald das nicht mehr möglich
ist, wird die Freiheit eingeschränkt.
Und das kann nicht gesund sein.
So wie du die Stimmung der Stadt kennengelernt
hast: Glaubst du, dass sich alles doch
am Ende zum Guten wenden wird?
Daran glaube ich auf jeden Fall! Die
Türkei braucht einfach noch Zeit! Und
wir sollten bedenken, dass Istanbul
nicht die Türkei ist. Man muss nur aus
Istanbul raus zwei Stunden übers Land
fahren, dann kann man Menschen treffen,
die mit einem Esel ihr Feld bestellen.
Das Land ist also noch lange nicht
so entwickelt, wie man als Deutscher
oder Europäer denkt, dass es normal
ist. Und so wird die Türkei noch ein
paar Jahrzehnte brauchen, bis dort die
Gedanken und Werte selbstverständlich
sind, wie wir sie in der EU kennen. Der
Großteil der jungen Leute, die ich dort
kennengelernt habe, denkt so: Die streben
nach freien Gedanken, die wollen
ein freies Internet, freie Kunst und Kultur.
Und diese Generation hat Energie
und wird etwas verändern. •
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de
Engtanz – das aktuelle Album von Bosse
Auf die Frage, wie es zu dem Albumtitel
Engtanz kam, sagte Bosse: „Irgendwann
bin ich auf ,Engtanz‘ gekommen – für
mich ein Bild von zwei Leuten, die Stirn
an Stirn nach einer zerfetzten Nacht
noch dastehen.“
Konzert auf der Bahrenfelder Trabrennbahn:
Mo, 26.8., 18 Uhr; Karten: 43 Euro
M5 MEXICAN BRASS
RYAN MCMULLAN
BREAKING BENJAMIN
MC FITTI
PAPA ROACH
JONAS MONAR
PHOENIX
TORI AMOS
MIKE + THE MECHANICS
MACHINE GUN KELLY
PHILIPP DITTBERNER
KASALLA
THE KILKENNYS
GIORA FEIDMAN &
RASTRELLI CELLO QUARTETT
ROBIN SCHULZ
BRIT FLOYD
NILS LANDGREN FUNK UNIT
JOCO
DUA LIPA
CHRIS REA
KASABIAN
ÜBERJAZZ FESTIVAL
OMD
STONE SOUR
ERASURE
TICKETS: KJ.DE
Kult
Tipps für August:
subjektiv und
einladend
Kino
Jazzfilm über Sucht und Freundschaft
Dale Turner ist ein genialer Musiker,
doch seine Alkoholsucht bringt ihn ans
Limit. Seine Managerin hält ihn deshalb
kurz: Tagsüber sperrt sie ihn ein,
nur nachts zum Konzert darf der Saxofonist
raus. Der mittellose Francis, der
Turner glühend verehrt, kann dabei
nicht zusehen. Bei einem heimlichen
Drink schließen die beiden Freundschaft
und nehmen den Kampf gegen
die Sucht auf. Die „Hoffnungsorte
Hamburg“ zeigen den Klassiker „Um
„Um Mitternacht“ ist ein Klassiker
unter den Jazzfilmen.
Mitternacht“ zum Auftakt der neuen
„Soulfood“-Filmreihe, die Armut und
Sucht in der Jazzszene thematisiert. •
Metropolis, Kleine Theaterstraße 10,
So, 13. August, 17 Uhr, Eintritt 7,50/5 Euro,
www.metropoliskino.de
52
WWW.HINZUNDKUNZT.DE
Kunzt&Kult
Party
Gay Pride im Nachtasyl
Zum Christopher Street Day
steht auch das Nachtasyl ganz im
Zeichen des Regenbogens. Nach der
Parade steigt die Aftershow-Party
für alle, die den Abend mit Pop,
Italo-Disco und Dance-Hits stilecht
ausklingen lassen wollen. •
Nachtasyl, Alstertor, Sa, 5.8., 22 Uhr,
Eintritt 8 Euro, www.thalia-theater.de
FOTOS: KINEMATHEK HAMBURG, LISA RAVE, PABLO HEIMPLATZ
Tanzen befreit – das
zeigt die Performance
„Monument 0.4: Lores
& Praxes“ im MK&G.
Bühne
Weltpremiere zeigt Widerstand als Tanz
Protest und Befreiung kann man auch tanzen! Das zeigt die Choreografin Eszter
Salamon mit einer außergewöhnlichen Tanzperformance im Museum für Kunst
und Gewerbe, bei der sich das Publikum frei zwischen den Tänzern hindurch
bewegen kann. Das internationale Ensemble aus zehn Darstellern zeigt moderne
Interpretationen von Kriegs- und Widerstandskämpfen aus verschiedenen
Krisengebieten der Welt – von Afrika und Südamerika über den Nahen Osten
bis Asien. Die Performance wird als Weltpremiere im Rahmen des Kampnagel
Kulturfestivals gezeigt. •
Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz, Sa, 12.8., 10–18 Uhr,
Eintritt 12/8 Euro, www.kampnagel.de
Festival
Schräge Vögel und jede Menge Kunst
Bei denen piept’s wohl! Geschmückt mit fremden Federn treffen sich farbenfrohe
Feierfreunde in Wilhelmsburg zum Vogelball. Eingeflogen wird dazu unter
anderen Elektroclash-Sängerin Peaches, auch Queer Rapper Mykki Blanco legt
wieder eine Show hin. Federführend ist das Team des MS Artville, das an mehreren
Tagen zum Stromern einlädt:
Am Tag nach dem Vogelball startet
das „Kunstkucken“ mit fachlich begleiteten
Spaziergängen zu den neu
gestalteten Werken auf dem Gelände,
abends steigt die Party „Butterland“.
Zum Abschluss wird das „Burgfest“
gefeiert – mit einer „Kunsthandelszone“,
wo angemeldete Gäste eigene
Kunstwerke feil bieten können.
Danach geht es an Ort und Stelle
weiter mit Musik: Am 18. August
startet das MS Dockville. •
MS Artville, Vogelball, Alte Schleuse 23,
Sa, 5.8., 16 Uhr, Eintritt 21,60 Euro
plus Gebühr, www.huklink.de/vogelball
Beim Vogelball am Reiherstieg feiern alle,
wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.
Theater
Plattfisch und Hochmut
Manntje, Manntje Timpe Te, Buttje,
Buttje inne See … Seit Grimms Zeiten
warnt das Märchen vom Fischer
und seiner Frau vor übertriebenem
Ehrgeiz und seinen Folgen. Nun
bringt Musikproduzent Christian
Berg die Geschichte als Musical für
Eltern und Kinder auf die Bühne. •
Sprechwerk, Klaus-Groth-Straße 23,
Fr, 4.8. – So, 6.8., 17.30 Uhr, Eintritt
18–22 Euro, www.sprechwerk.hamburg
Vortrag
Auf den Spuren Störtebekers
Er konnte einen Vier-Liter-Humpen
in einem Zug leeren, war als Kapitän
der Freibeuterbande Likedeeler gefürchtet
und lief am Ende ohne Kopf
an seinem Henker vorbei – so die
Legende um Klaus Störtebeker.
Was da dran ist und was es bedeutete,
im 15. Jahrhundert Pirat zu sein,
erläutert eine historische Führung. •
Museum für Hamburgische Geschichte,
Holstenwall 24, So, 6.8., 14 Uhr, Eintritt
9,50/6 Euro, www.hamburgmuseum.de
Kinder
Trickfiguren halten zusammen
Der Waisenjunge Zucchini wohnt
gern im Kinderheim – vor allem seit
Camille da ist. Als sie ausziehen soll,
schmiedet er einen gerissenen Plan.
Der Trickfilm „Mein Leben als Zucchini“
läuft unter freiem Himmel. •
Sommerkino, Alsterdorfer Markt,
Fr, 11. August, 21.45 Uhr,
Eintritt auf Spendenbasis,
www.alsterdorf.de
53
Festival
Happy Birthday, Gängeviertel!
54
Die Tage sind bunt, die Nächte auch:
Im Gängeviertel wird wieder Geburtstag gefeiert.
Das muss gefeiert werden: Seit acht
Jahren behauptet sich das Gängeviertel
als kulturelle Insel in der Innenstadt.
Zum Geburtstag sind wieder alle eingeladen,
durch die Gänge zu stromern,
kostenlos Ausstellungen und Konzerte
zu besuchen und mitzufeiern. Los geht
es am Freitagabend mit einer Performance
von Esther Leslie und Ben
Watson zum Thema Widerstand mit
künstlerischen Mitteln, und feinem
Gesang. Elektronische Sounds bringen
die Sängerin Lila und die Band Hunger
zu Gehör. Das Fest ist die beste
Gelegenheit, das Gängeviertel besser
kennenzulernen und über seine politische
Zukunft zu diskutieren:
Was läuft gut, was läuft schief bei den
Verhandlungen mit der Stadt? In einer
Gesprächsrunde sollen alle ihre Fragen
und Ideen einbringen können. •
Gängeviertel, Ecke Valentinskamp/
Caffamacherreihe, ab Do, 24.8. – So, 27.8.,
Eintritt frei, das-gaengeviertel.info
FOTOS: FRANZISKA HOLZ, CHARLOTTE PATMORE
Kunzt&Kult
Konzert
Kate Nash rockt für gleiche Chancen
Mädels an die Mikros! Mit ihrem schrägen, aber tanzbaren Sound und großem
Engagement für benachteiligte junge Frauen hat sich Kate Nash zu einer Heldin
der feministischen Popmusikszene entwickelt. Die britische Sängerin und
Multi-Instrumentalistin macht nicht nur auf der Bühne gute Stimmung gegen
Machokultur, sondern setzt sich als Initiatorin vom „Rock ’n’ Roll for Girls
After School Music Club“ auch für faire Chancen im Musikgeschäft ein.
Im August kommt sie mit ihrem Erfolgsalbum „Made of Bricks“ nach Hamburg
– unterstützt von ihren Schwestern im Geiste, der Band „Skating Polly“. •
Uebel&Gefährlich, St.-Pauli-Bunker, Feldstraße 66, Fr, 18.8., 19 Uhr,
Eintritt 23,70 Euro plus Gebühr, www.uebelundgefaehrlich.com
Konzert
Miu verzaubert das Mojo
Als die Elbphilharmonie mit großem
Tamtam eröffnet wurde, hatte
Sängerin Miu die Akustik schon mal
ausprobiert: Als Erste, die dort einen
Verstärker einstöpseln durfte, spielte
sie im November 2016 ein Testkonzert
im offiziell noch verschlossenen
großen Saal. Ebenso wundersam hört
sich ihr Werdegang an: Nach einem
Gig in New York, der sich zufällig ergeben
haben soll, schmiss sie ihren Job
als Werberin und machte die Musik
zum Beruf. Auch live hält Miu es lieber
fein und kunstvoll, als große Töne
zu spucken: Ihre perfekt getimten
Lieder haben Groove und klingen
trotzdem federleicht. Beim Release-
Konzert ihres neuen Albums „Leaf“
dürfen Fans wieder mitträumen. •
Mojo Club, Reeperbahn 1, Do, 31.8.,
20 Uhr, Eintritt 20 Euro, www.mojo.de
Eine starke
Stimme ist nicht
nur zum Singen
gut: Kate Nash
geigt Machos die
Meinung.
Literatur
Hommage an eine Kiezheldin
Martha ist alt, arm und allein – aber
eine Kämpferin vor dem Herrn.
Schauspieler Michael Weber hat auf
St. Pauli unter einem Dach mit ihr
gewohnt und ihr ein literarisches
Denkmal gesetzt: „Martha“ ist eine
Hommage an sie und all die Überlebenskünstler
auf dem Kiez, die stets
am Rand und dennoch über allem
standen. In der Speicherstadt liest
der Autor aus seinem Roman vor. •
Speicherstadt Kaffeerösterei,
Kehrwieder 5, Di, 29.8., 20 Uhr,
Eintritt 7 Euro,
www.schwarzenaechte.de
Über Hinweise bis zum 10. des
Monats freut sich Annabel Trautwein
unter redaktion@hinzundkunzt.de
Kinofilm des Monats
Indien im
Dilemma
Gegen die Teilung der früheren
britischen Kolonie Indien
wirkte die in etwa zeitgleiche
Teilung Deutschlands
strukturiert wie eine Umsatzsteuererklärung.
Als Indien
unabhängig wurde, schlitterte
das Land in ein echtes Dilemma:
Während der Norden
muslimisch dominiert
war, hatten im Rest Indiens
Hindus die Oberhand. Vergebens
kämpften der Nationalkongress
und der als Held
verehrte Gandhi für den Einheitsstaat.
Am Ende wurden
Millionen Menschen aus ihrer
Heimat vertrieben, die die
„falsche“ Religion hatten.
Über eine Million Menschen
kamen infolge des geopolitischen
Geschachers um.
Nun zeichnet die Regisseurin
Gurinder Chadha engagiert
und kraftvoll ein Bild
dieser Zeit. „Der Stern von
Indien“ heißt ihr Film – und
bietet Geschichtsunterricht
im Kinoformat. Arrangiert
ist die Story um den Lord
„Dickie“ Mountbatten und
seine Frau Lady Edwina. Der
Lord hat den königlichen
Auftrag, sicherzustellen, dass
Indien reibungslos unabhängig
wird. Doch bereits in
seinem prunkvollen Amts -
sitz merkt er, dass das mit
den Hindus und Muslimen
schwieriger wird als gedacht.
Mountbatten taktiert und appelliert,
doch die Fronten verhärten
sich zusehends. Der
grandios ausgestattete Film
bietet anspruchsvolle Unterhaltung
– und auch eine Liebesgeschichte.
•
André Schmidt
geht seit vielen
Jahren für
uns ins Kino.
Er arbeitet in der
PR-Branche.
55
Kunzt&Comic
HINZ&KUNZT N°294/AUGUST 2017
56
WWW.HINZUNDKUNZT.DE
Rätsel
ILLUSTRATION (BLEISTIFT IM IMPRESSUM): BERND MÖLCK-TASSEL
2
3
1
7
6
4
5
1
2
2
4
5
6
3
3
5
4
5
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4
7
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2
Lösungen an: Hinz&Kunzt, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,
per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.
Einsendeschluss: 28. August 2017. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann
zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle gewinnen oder eines von zwei
Exemplaren „Wandsbek Buch“ von Katja Nicklaus (Junius Verlag).
Das Lösungswort beim Kreuzworträtsel war: Buddhismus. Die Sudoku-
Zahlenreihe war: 269 754 813.
9
1
7
8
Füllen Sie das Gitter so
aus, dass die Zahlen von
1 bis 9 nur je einmal in
jeder Reihe, in jeder
Spalte und in jedem
Neun-Kästchen-Block
vorkommen.
Als Lösung schicken
Sie uns bitte die
unterste, farbig gerahmte
Zahlenreihe.
Impressum
Redaktion und Verlag
Hinz&Kunzt
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH
Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg
Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50
Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01
E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de
Herausgeber
Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg
Externer Beirat
Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),
Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Rechtsanwalt),
Rüdiger Knott (ehem. NDR 90,3-Programmchef),
Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),
Thomas Magold (BMW-Niederlassungsleiter i.R.),
Beate Behn (Lawaetz-Service GmbH), Karin Schmalriede (Lawaetz-Stiftung),
Dr. Bernd-Georg Spies (Russell Reynolds),
Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)
Geschäftsführung Dr. Jens Ade
Redaktion Birgit Müller (bim; v.i.S.d.P.),
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Redaktionsassistenz Sonja Conrad, Dina Fedossova
Online-Redaktion Simone Deckner, Jonas Füllner, Benjamin Laufer
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Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Marcus Chomse,
Sigi Pachan, Jürgen Jobsen, Meike Lehmann, Sergej Machov,
Frank Nawatzki, Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Cristina Stanculescu,
Marcel Stein, Cornelia Tanase, Silvia Zahn
Rechnungswesen/Systemadministration Frank Belchhaus
Spendenmarketing Gabriele Koch
Spendenverwaltung Susanne Wehde
Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Ana-Maria Ilisiu, Isabel Kohler
Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),
Chris Schlapp, Harald Buchinger
Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung), Stefan Calin,
Adam Csizmadia, Gogan Dorel, Alexa Ionut, Vasile Raducan
Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg
Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger, Georgi Nikolov,
Klaus Petersdorfer, Herbert Kosecki
Litho PX2@ Medien GmbH & Co. KG
Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH
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Gesellschafter
Durchschnittliche monatliche
Druckauflage 2. Quartal 2017:
70.000 Exemplare
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Momentaufnahme
HINZ&KUNZT N°294/AUGUST 2017
Einst gehörte dem
gelernten Koch ein
Lokal in Linz. Dort
kochte er nicht nur,
sondern verschob
auch mal Hehlerware.
Das ist Geschichte.
„Ich kann à la carte,
ich kann Großküche“
Gerald (50) verkauft Hinz&Kunzt vor der Haspa in der Spitalerstraße.
TEXT: ANNETTE WOYWODE
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE
„Ich bin kein Heiliger“, sagt Gerald
und zuckt mit den Schultern. Man mag
es nicht glauben, denn seine Topfenknödel
sind göttlich! Cremige Quarkbällchen,
mit Vanillesoße und Erdbeerkompott
kunstvoll serviert – eine
Kalorienbombe, die der 50-Jährige
zum Verkaufsstart der Juli-Ausgabe für
200 Hinz&Kunzt-Kollegen zubereitet
hat. Wer so eine paradiesische Süßspeise
zaubern kann, kann doch keinen
Dreck am Stecken haben?
Gerald lacht. „I bin ruhiger wor’n“,
sagt der gebürtige Wiener. Aber früher
habe er sich nichts sagen lassen – und
ziemlich viel Mist gebaut.
Elf Jahre hat Gerald, den bei
Hinz&Kunzt viele nur „Ösi“ nennen,
im Knast gesessen. Er wollte nur eine
Strafe absitzen, anstatt die Geldstrafe
zu zahlen. Aber dann hatte er Ausgang
– und es kam zu einem heftigen Streit
mit einem „Freund“, dem er für die
Wochen im Gefängnis seine Wohnung
überlassen hatte, erinnert er sich. Leichte
Körperverletzung, unerlaubter Waffenbesitz
und Freiheitsberaubung lautete
das Urteil, und so wanderte Gerald
für Jahre hinter Gitter. „Ich denke, die
haben sich gefreut, dass sie mich endlich
mal drangekriegt haben“, meint
Gerald. Er sieht es fast sportlich, denn
bei den vielen krummen Dingern zuvor
hatte er immer großes Glück gehabt.
Glück konnte Gerald gut brauchen:
Als Zweijähriger kam er zu Pflegeeltern,
mit zehn Jahren ins Heim. Kaum
war der „Bua“ 16, schmiss die Heimleitung
ihn raus. „Seitdem stehe ich auf
eigenen Füßen“, sagt Gerald, der damals
eine Kochlehre suchte. „Das hat
mich schon immer interessiert“, erzählt
er. „Ich kann à la carte, ich kann Großküche“,
so Gerald, der sich nach seiner
Ausbildung mit einem Lokal in Linz
selbstständig machte. Und es begannen
die krummen Dinger – Hehlerei, vor allem
von Schmuck –, „sonst kommst net
aus in dem G’schäft“, sagt er im schönsten
Wiener Schmäh.
Als das Haus, in dem sich Geralds
Lokal befand, abgerissen wurde, eröffnete
er andernorts ein Animierlokal. Bis
Anfang der 1990er-Jahre lief der Laden,
den Gerald aber verkaufte, als sich
der Eiserne Vorhang hob – die Konkurrenz
aus dem Osten schlief nicht. Die
„Nebengeschäfte“ liefen weiter. Oft
hatte ihn die Polizei im Visier, „aber die
haben mir nie etwas nachweisen können“.
Bis er wegen Beamtenbeleidigung
eine Strafe hätte zahlen sollen – und
aus Sturheit lieber in den Knast ging,
wo er schließlich für viele Jahre blieb.
Auch das hätte Gerald vermutlich
einfach durchgezogen. Im Gefängnis
konnte er als Koch arbeiten, hatte daher
wenig auszustehen, wie er sagt.
Doch dann starb seine langjährige
Freundin: Hirnschlag. „Das hat Spuren
hinterlassen“, sagt Gerald, „aber ich
durfte sie beerdigen.“ Viel Geld hat er
dafür ausgegeben. Auch die Miete für
die Wohnung zahlte er weiter – viel zu
lange. Hinzu kamen hohe Anwaltskosten.
Als er, inzwischen 46 Jahre alt, aus
der Haft entlassen wurde, waren seine
Ersparnisse aufgebraucht.
In Österreich hielt Gerald nichts
mehr. Im Januar 2013 reiste er nach
Hamburg, kam zunächst im Winternotprogramm
unter. Ein Bekannter brachte
ihn schließlich mit zu Hinz&Kunzt.
„Ich war hoch oben und weit unten“,
sagt Gerald. Dabei strahlt er absolute
Ruhe aus, wie jemand, der seinen
Frieden gefunden hat. In Hamburg
macht er Platte unter einer Brücke.
„Man kann das aushalten“, findet er.
„Aber mal gucken, ob ich gegen Ende
des Jahres in einer Großküche in Arbeit
komme.“ Dass er’s draufhat, beweisen
seine göttlichen Topfenknödel. •
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KUNZT-
KOLLEKTION
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www.hinzundkunzt.de/shop, shop@hinzundkunzt.de, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,
Tel. 32 10 83 11. Preise zzgl. Versandkostenpauschale von 2,50 Euro bis 4 Euro,
Ausland auf Anfrage. Versand ab 100 Euro Warenwert kostenlos.
1. „Gegens Abstempeln“
Zehn selbstklebende 70-Cent-Briefmarken mit
Porträts von Hinz&Künztlern im A5-Heftchen.
Konzeption: Agentur Lukas Lindemann Rosinski,
Preis: 12 Euro
4.
2. „Macht auch wach!“
Hinz&Kunzt-Bio-Kaffeemischung,
100% Arabica gemahlen, 250-g-Beutel
oder Hinz&Kunzt-Bio-Espresso, italienische
Mischung, kräftiger Geschmack,
ungemahlen, 250-g-Beutel, exklusiv von der
Kaffeerösterei Burg aus Hamburg.
Preis: jeweils 5,95 Euro
5.
1.
2.
3. „Lesebrettchen“
Exklusiv für Hinz&Kunzt aus der
Serie „Schöne Aussichten“, Pension
für Produkte Hamburg.
Design: Wolfgang Vogler,
Material: Esche geölt (aus heimischen Wäldern),
lasergraviert. Jedes Brett ist ein Unikat,
in Deutschland gefertigt.
Preis: 15,90 Euro
4. „Non urban“-Klappkarten
5 verschiedene Motive mit Umschlag,
DIN A6, Fotograf Dmitrij Leltschuk.
Der Erlös geht zur Hälfte an den Fotografen,
zur Hälfte an das Hamburger Straßenmagazin.
Preis: 8 Euro
6.
5. „Heiße Hilfe“
Bio-Rotbuschtee, aromatisiert mit
Kakao-Orangen-Note. Zutaten: Rotbuschtee
(k. b. A.), Kakaoschalen, Zimt, Orangenschalen,
natürliches Orangenaroma
mit anderen natürlichen Aromen.
Dose, 75 g, abgefüllt
von Dethlefsen&Balk, Hamburg,
Preis: 7,50 Euro
7.
3.
6. „Einer muss ja das Maul aufmachen“
T-Shirt vom Modelabel „Fairliebt“ aus
100% Biobaumwolle, sozialverträglich
genäht in Bangladesch und
von Hand bedruckt in Deutschland.
Größen: S, M, L, XL. Farben: Petrol für Herren,
Meerwassertürkis für Damen, Preis: 24,90 Euro
7. „Ein mittelschönes Leben“
Eine Geschichte für Kinder
über Obdachlosigkeit von Kirsten Boie,
illustriert von Jutta Bauer.
Preis: 4,80 Euro
Eine der wichtigsten
Wärmequellen für Hamburg
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