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20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin

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Nr. 43 / 21.10.2017<br />

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MACHT<br />

UND<br />

MISSBRAUCH<br />

SPIEGEL-Gespräch<br />

Sebastian Kurz: Unheimlich jung,<br />

unheimlich erfolgreich<br />

Geheimbericht<br />

Die Nato: Unfähig<br />

zur Verteidigung<br />

Das letzte Interview<br />

Houellebecq: Rückzug<br />

aus der Öffentlichkeit


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Das deutsche Nachrichten-Magazin<br />

Hausmitteilung<br />

Betr.: #MeToo, Österreich, Houellebecq, Habermas, Winkler<br />

Unter dem Hashtag #MeToo be -<br />

richten Tausende Frauen in den<br />

sozialen Netzwerken von sexueller<br />

Belästigung, Übergriffen, auch Vergewaltigungen.<br />

Ausgelöst durch die Verfehlungen<br />

des US-Filmproduzenten<br />

Harvey Weinstein, entsteht auf den<br />

Websites von Facebook und Twitter<br />

zurzeit das Bild eines häss lichen<br />

Deutschlands, in dem Frauen Freiwild<br />

zu sein scheinen und Männer vor allem triebgesteuert. Warum diese Kampagne<br />

solche Wucht entfaltet, welche Konsequenzen die Debatte haben dürfte, mit<br />

diesen Fragen beschäftigt sich ein großes Autorenteam in mehreren Texten, in<br />

denen auch Opfer von Übergriffen ausführlich zu Wort kommen. Ein zweiter<br />

Themenkomplex widmet sich der Situation in Österreich. <strong>Der</strong> Spitzenkandidat<br />

der ÖVP, Sebastian Kurz, wird wohl der neue Bundeskanzler werden, wahrscheinlich<br />

mit der rechtspopulistischen FPÖ als Partner. Um dieser Nachrichtenlage<br />

gerecht zu werden, erscheint das Heft mit zwei Titelbildern: #MeToo in<br />

Deutschland, Kurz in Österreich und der Schweiz. Seiten 14 bis 24, 80 bis 84<br />

Michel Houellebecq, derzeit Frankreichs prominentester und umstrittenster<br />

Schriftsteller, plant zu verschwinden, er hat es in einer Mail angekündigt.<br />

Houellebecq möchte sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und keine Interviews<br />

mehr geben, er will ungestört<br />

an seinem nächsten Roman<br />

arbeiten. Romain Leick, an den<br />

die Mail adressiert war, hat<br />

Houellebecq zu einem letzten<br />

Gespräch getroffen. <strong>Der</strong> Autor,<br />

oft beschimpft als Frauenhasser<br />

und Reaktionär, sprach über die<br />

Vorwürfe seiner Gegner, über<br />

die komplizierte Beziehung zwischen<br />

Deutschland und Frankreich<br />

und über seinen heroischen Leick, Houellebecq<br />

Pessimismus. Seite 120<br />

Nahezu zeitgleich kamen zwei große deutsche Intellektuelle auf die Idee,<br />

sich wieder einmal einmischen zu wollen, Jürgen Habermas und Heinrich<br />

August Winkler. Ihr Thema: Europa. Beide wurden auch durch die Lektüre<br />

von Robert Menasse angeregt, der für seinen EU-Roman „Die Hauptstadt“ den<br />

Deutschen Buchpreis gewonnen hat. Beide suchten sich den SPIEGEL als Ort<br />

für ihre Intervention aus. Habermas ist Philosoph und Soziologe, er hat vor<br />

allem Kommunikationstheorien entwickelt. Winkler ist Historiker und hat<br />

sich besonders mit der Geschichte des Westens befasst. Beide sind Herzens -<br />

europäer, setzen aber verschiedene<br />

Schwerpunkte. Jürgen Habermas plädiert<br />

in diesem Heft dafür, den französischen<br />

Präsidenten Emma nuel Macron auf<br />

dem Weg zu einem wirklich vereinten<br />

Europa zu unterstützen. Heinrich August<br />

Winkler betont stärker die Rolle der<br />

Habermas Winkler<br />

nationalen Vielfalt in der Europäischen<br />

Union. Seiten 88, 134<br />

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Ende der Friedensdividende<br />

Verteidigung Ein Geheimbericht der Nato<br />

kommt zu dem Schluss, dass die Allianz<br />

für einen Angriff Russlands nicht gerüstet wäre.<br />

Die Logistik und die Kommandostruktur sind<br />

zu sehr geschrumpft worden. Auf die Deutschen<br />

kommen wohl neue Aufgaben zu. Seite 30<br />

DAVID RAMOS / GETTY IMAGES<br />

CHRISTIAN ASLUND / DER SPIEGEL<br />

WENDY CARLSON / THE NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF<br />

THERON J. GODBOLD / U.S. NAVY / SIPA USA / DDP IMAGES<br />

Katalanisches Rumeiern<br />

Fußball <strong>Der</strong> FC Barcelona ist seit Jahrzehnten<br />

ein wichtiger Kulturträger Kataloniens.<br />

Doch im Streit um die Unabhängigkeit<br />

der autonomen Region verhält sich<br />

der Verein auffällig neutral. Jede Veränderung<br />

würde massiv dem Geschäftsbetrieb<br />

des Profiklubs schaden. Seite 102<br />

Schuld ohne Sühne<br />

Täuschungen 24 Jahre lang versteckt ein<br />

Mann die Leiche seiner Frau in einem<br />

Fass. Dann gesteht er einen Totschlag, der<br />

aber längst verjährt ist. Wegen Verzögerungen<br />

und Fehleinschätzungen auf allen<br />

Seiten konnte aus dem Fall ein perfektes<br />

Verbrechen werden. Seite 54<br />

Rundum giftig<br />

Landwirtschaft Verseucht ein krebserregendes<br />

Pflanzengift seit Jahren die Äcker?<br />

Interne E-Mails zeigen, wie der Agrar -<br />

konzern Monsanto die Risiken seines Herbizids<br />

Roundup verschwieg, Studien über<br />

den Wirkstoff Glyphosat manipulierte und<br />

unliebsame Forscher drangsalierte. Seite 108<br />

6 Titelbild: Illustration: Francesco Ciccolella für den SPIEGEL; Foto: Jork Weismann für den SPIEGEL


In diesem Heft<br />

Titel<br />

Sexismus Die #MeToo-Bewegung<br />

in sozialen Medien befeuert eine längst<br />

überfällige Debatte über das<br />

Verhältnis von Männern und Frauen 14<br />

Protokolle Betroffene berichten,<br />

wie sie mit derben Sprüchen,<br />

Übergriffen und Gewalt umgehen 18<br />

Geschlechter Die Journalistin<br />

Laura Himmelreich über die Folgen<br />

der #Aufschrei-Debatte,<br />

die sie vor vier Jahren ausgelöst hat 22<br />

Debatte <strong>Der</strong> Fall Weinstein<br />

und die Verunsicherung der Männer 24<br />

Deutschland<br />

Leitartikel Warum Männer die Empörung<br />

über sexuelle Belästigung<br />

nicht den Frauen überlassen dürfen 8<br />

Meinung <strong>Der</strong> schwarze Kanal /<br />

So gesehen: Alle wollen<br />

Bundestagsvizepräsident werden 10<br />

U-Boot-Deal mit Antikorruptionsklausel<br />

für Israel / Schwarz-Gelb entmachtet<br />

Steuerfahndung Wuppertal / Frühe Warnung<br />

vor Türkeispitzeln beim Bundesamt 26<br />

Verteidigung Ein internes Papier enthüllt<br />

schwere Mängel im Militärapparat<br />

der Nato 30<br />

Parteien SPIEGEL-Gespräch mit Joschka<br />

Fischer über die Jamaikaverhandlungen und<br />

die Nähe der AfD zum Nationalsozialismus 34<br />

Umwelt <strong>Der</strong> Klimaplan des mächtigsten<br />

deutschen Energiepolitikers 38<br />

Union Merkels Autorität verfällt 42<br />

Sachsen Vom Wahlverlierer zum<br />

Hoffnungs träger – die erstaunliche Karriere<br />

des designierten Ministerpräsidenten<br />

Michael Kretschmer 44<br />

Die Linke <strong>Der</strong> bittere Sieg von<br />

Fraktionschefin Sahra Wagenknecht 46<br />

Kommunen Das frag würdige<br />

Vorruhestandsmodell der Sparkassen 48<br />

Kleinkinder Wer zahlt, wenn Krippenplätze<br />

mehr als 1000 Euro kosten? 50<br />

Gesellschaft<br />

Früher war alles schlechter:<br />

Lebensbedingungen in China /<br />

Sind Briefträger überfordert? 52<br />

Eine Meldung und ihre Geschichte<br />

Wie sich eine japanische Reporterin<br />

zu Tode arbeitete 53<br />

Täuschungen Das perfekte Verbrechen:<br />

Ein Mann versteckt die Leiche<br />

seiner Frau 24 Jahre lang in einem Fass 54<br />

Kolumne Leitkultur 59<br />

Wirtschaft<br />

Audi-Betriebsrat fordert Jobgarantie /<br />

Wenig Spielraum für Jamaikakoalition /<br />

Crowd investing lockt Anleger 62<br />

Gerechtigkeit Deutschland ist gespalten,<br />

die Provinz abgehängt – aber nicht überall 64<br />

Sanktionen Ökonom Rolf Langhammer<br />

über den Sinn von Handelsbeschränkungen 68<br />

Analyse Warum die Zinsen so bald<br />

nicht steigen werden 70<br />

Affären Airbus-Chef Tom Enders<br />

steckt offenbar tiefer im Korruptionssumpf,<br />

als er zugeben mag 72<br />

Gesundheitskarte In Deutschland droht<br />

ein Monopol bei einem entscheidenden<br />

elektronischen Bauteil 74<br />

Ausland<br />

Die Wahlwiederholung in Kenia ist nur ein<br />

hohles Ritual / IWF erwägt Hilfen für den<br />

Fall eines Staatsbankrotts in Venezuela 78<br />

Österreich Sebastian Kurz hat seine Partei<br />

umgebaut und sein Land im Sturm<br />

erobert – doch wofür steht er eigentlich? 80<br />

SPIEGEL-Gespräch mit Wahlsieger Kurz<br />

über eine mögliche Koalition mit der<br />

rechten FPÖ 84<br />

Essay <strong>Der</strong> Historiker Heinrich August<br />

Winkler warnt vor dem Separatismus und<br />

der Abschaffung der Nationalstaaten 88<br />

Somalia Mogadischu ist Ruinenstadt und<br />

Boomtown, das Geschäft ist: der Krieg 90<br />

Analyse Das „Kalifat“ ist zwar am Ende,<br />

die Grün de für seinen Aufstieg sind<br />

jedoch noch da 95<br />

Malta Daphne Caruana Galizia wollte<br />

Korruption, Schmuggel und Mafia-<br />

Machenschaften aufdecken – wurde sie<br />

deshalb ermordet? 96<br />

Sport<br />

Wer ist der beste Formel-1-Fahrer aller<br />

Zeiten? / Magische Momente: „Tagesschau“-<br />

Sprecher Thorsten Schröder über<br />

sein Leiden beim Ironman auf Hawaii 97<br />

Basketball NBA-Star Stephen Curry erklärt<br />

seinen Streit mit US-Präsident Trump 98<br />

Fußball Wie katalanisch ist der<br />

FC Barcelona? 102<br />

Wissenschaft<br />

Zügellos durch Neandertaler-Gene / Mehr<br />

Gewitter auf Schifffahrtsstraßen / Glosse:<br />

Hört auf mit nächtlichen Verhandlungen! 106<br />

Landwirtschaft Die Glyphosat-Lüge – der<br />

Agrarkonzern Monsanto verschwieg die<br />

Risiken seines Unkrautvertilgungsmittels 108<br />

Psychiatrie Wie verrückt ist US-Präsident<br />

Donald Trump? 112<br />

Automobile Warum Millionen Elektroautos<br />

zum Zusammenbruch des Stromnetzes<br />

führen könnten 116<br />

Kultur<br />

Tanz der Aborigines / Treffen der<br />

Gruppe 47 / Kolumne: Zur Zeit 118<br />

Schriftsteller Michel Houellebecq tritt<br />

von der öffentlichen Bühne ab und<br />

zieht im SPIEGEL-Gespräch Bilanz 120<br />

Debatte Mit Rechten reden?<br />

Über den Ernst der Lage schreibt<br />

Redakteur Tobias Rapp … 128<br />

…und über die Doppelstrategie von<br />

Empathie die Autorin Hilal Sezgin 129<br />

Exil Zwei syrische Schriftsteller suchen in<br />

der deutschen Provinz eine neue Heimat 130<br />

Essay <strong>Der</strong> Soziologe Jürgen Habermas<br />

über die europäische Hoffnung<br />

und die historische Chance der Kanzlerin 134<br />

Filmkritik „Sommerhäuser“, die<br />

außer gewöhnliche Tragikomödie<br />

über eine Großfamilie 139<br />

Bestseller 127<br />

Impressum, Leserservice 140<br />

Nachrufe 141<br />

Personalien 142<br />

Briefe 144<br />

Hohlspiegel/Rückspiegel 146<br />

Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ<br />

Joschka Fischer<br />

Er war früher Bundesaußenminister<br />

und empfiehlt<br />

den Grünen im SPIEGEL-Gespräch<br />

die Zusammenarbeit<br />

mit Union und FDP. AfD-<br />

Funktionäre sind für Fischer<br />

keine Rechtspopulisten, sondern<br />

schlicht: Nazis. Seite 34<br />

Manar Moalin<br />

Sie ist 33 Jahre alt, geboren<br />

in Somalia, aufgewachsen in<br />

Europa. Seit drei Jahren<br />

betreibt Moalin den Country<br />

Club in Mogadischu, einer<br />

Stadt, deren Einwohner vom<br />

Krieg leben und unter<br />

dem Krieg leiden. Seite 90<br />

Stephen Curry<br />

Er ist der beste Basketballer<br />

der Welt und einer der<br />

schärfsten Kritiker des US-<br />

Präsidenten. Sportler hätten<br />

eine „gewaltige Stimme“,<br />

sagt er, man müsse sie nutzen,<br />

um zu zeigen, was unter<br />

Trump schiefläuft. Seite 98<br />

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL<br />

CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL<br />

MARCIO JOSE SANCHEZ / PICTURE ALLIANCE / AP<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

7


Das deutsche Nachrichten-Magazin<br />

Leitartikel<br />

Men, too<br />

Männer müssen endlich ihre Stimme gegen sexuelle Belästigung von Frauen erheben.<br />

Wenn mächtige Kotzbrocken wie Harvey Weinstein<br />

öffentlich als Vergewaltiger bezichtigt werden,<br />

macht das die Welt sicherlich ein bisschen<br />

besser. Wie wunderbar, dass nicht nur Hollywoodstars<br />

Sexismus anprangern, sondern seit dieser Woche auch<br />

Frauen, denen glänzendes Scheinwerferlicht egal ist. Mit<br />

#MeToo haben sich betroffene Frauen quer durch alle<br />

Länder und Schichten in den sozialen Netzwerken als Opfer<br />

sexualisierter Gewalt geoutet.<br />

Ihr Aufschrei wird aber erst die volle Wirkung entfalten,<br />

wenn sich auch Männer angesprochen fühlen. Und<br />

zwar jene Mehrheit der Männer, die Frauen nicht belästigen.<br />

Wer zur Gruppe der Anständigen gehört, denkt<br />

häufig, das alles gehe ihn nichts an. Weiße Westen sind<br />

aber keine Entschuldigung<br />

für Wegsehen.<br />

Die Täter könnten nur deshalb<br />

so ungestraft agieren,<br />

„weil sie von einer schweigenden<br />

Masse gedeckt“ würden,<br />

schreibt der Unternehmensberater<br />

Robert Franken in<br />

seinem Blog. Es ist leider<br />

eine Einzelmeinung. Anstatt<br />

sich zu empören, verharm -<br />

losen viele Männer sexuelle<br />

Belästigung mit Sätzen wie:<br />

„Jetzt ist es schon so weit,<br />

dass ich die Frisur der Kollegin<br />

nicht mehr loben darf.“<br />

Niemand will in einer Welt<br />

leben, in der sich Menschen<br />

keine Komplimente mehr<br />

machen dürfen. Auch Frauen<br />

nicht. Darauf können wir uns<br />

alle schnell einigen. Aber damit<br />

ist die Diskussion über<br />

Sexismus nicht zu Ende.<br />

Es kann wirklich schwierig sein, die Grenze zwischen<br />

nett gemeinter Geste und sexistischem Spruch zu erkennen.<br />

Zumal sie individuell und darum bei jeder Frau<br />

anders verläuft. Es ist ein Unterschied, ob man einer<br />

Kollegin in der Kaffeeküche oder im Morgenmeeting<br />

zum Kauf der neuen Schuhe gratuliert.<br />

Neben dem Ort entscheidet auch die Augenhöhe, ob<br />

ein Kompliment angebracht ist. Keine Praktikantin möchte<br />

vom Abteilungsleiter als „charmante neue Mitarbeiterin“<br />

begrüßt werden, weil auch Frauen von Vorgesetzten<br />

lieber für ihre Leistung gelobt werden. Trainerinnen,<br />

die Bosse für Machtmissbrauch sensibilisieren, gibt es<br />

kaum. Stattdessen wird Frauen beigebracht, wie sie<br />

sich per „Arroganz-Prinzip“ in einen Macho ver wandeln,<br />

wenn sie auf der Führungsebene mitreden möchten.<br />

Sprechen Frauen Sexismus offen an, fühlen sich Männer<br />

oft in der Defensive. Das scheint bei vielen reflexhaft<br />

eine Verbrüderung auszulösen. Das Erobern liege nun<br />

mal in der Natur des Mannes. Echte Kerle benähmen sich<br />

manchmal daneben.<br />

Und sind Frauen nicht selbst schuld? Hinter vorgehaltener<br />

Hand heißt es dann, Frauen würden Sexismus nur<br />

beklagen, wenn er ihnen nicht nutze. Praktikantinnen,<br />

die jede Woche vom Chef einen Kaffee spendiert bekämen,<br />

würden schließlich auch nicht mit einer Ohrfeige<br />

ablehnen.<br />

Ja, es gibt Frauen, die Netzstrumpfhosen einsetzen,<br />

um Aufträge an Land zu ziehen, und das ist bedauerlich.<br />

Aber es gibt auch immer noch zu viele männliche<br />

Führungskräfte, die Jobs nach Attraktivität statt nach<br />

Kompetenz vergeben. Viele Männer entwickeln erst ein<br />

Bewusstsein für Sexismus,<br />

wenn sie selbst zum Opfer<br />

werden. Erst dann können sie<br />

verstehen, wie sich Scham<br />

und Hilflosigkeit anfühlen.<br />

Oder es ist die Geburt einer<br />

Tochter, die Männer zu Feministen<br />

werden lässt. Wenn es<br />

die eigene Tochter betrifft,<br />

nehmen sie das Verhalten<br />

LOUISE MACKINTOSH<br />

ihrer Geschlechtsgenossen<br />

plötzlich als potenziell bedrohlich<br />

wahr und fragen sich,<br />

was man gegen sexuelle Übergriffe<br />

tun kann.<br />

Es stimmt nicht, dass sexuelle<br />

Belästigung Männer, die<br />

sich selbst nichts vorzuwerfen<br />

haben, nichts angeht. Wer<br />

schweigt, schützt die Täter<br />

und stützt ein System, das<br />

Frauen klein halten will. Es<br />

mag Überwindung kosten<br />

und ungewohnt sein: Aber<br />

warum ist es so schwer, den Kollegen, von dem alle<br />

wissen, dass er immer wieder Praktikantinnen belästigt,<br />

darauf kritisch anzusprechen? Es wäre jedenfalls wirkungsvoller,<br />

wenn Männer Männern Grenzen setzen würden,<br />

bevor eine Frau zum Aufschrei ansetzt. Und natürlich<br />

müssen sich die Machtstrukturen ändern: Wer zum Beispiel<br />

dafür sorgt, dass in Unternehmen genauso viele<br />

Frauen wie Männer das Sagen haben, schafft eine Atmosphäre<br />

der Gleichberechtigung, in der Machtmissbrauch<br />

seltener ist.<br />

Man muss seinen Nebensitzer im Büro nicht gleich beim<br />

Chef denunzieren, wenn er gehässige Witzchen über die<br />

Körperfülle einer Kollegin macht. Aber muss man mit -<br />

lachen? Es reicht nicht aus, wenn Frauen Sexismus offen<br />

ansprechen. Die Männer müssen mitreden. Den Leitartikel<br />

zur nächsten Aufschrei-Debatte darf dann gern ein Kollege<br />

schreiben.<br />

Anna Clauß<br />

8 DER SPIEGEL 43 / 2017


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Meinung<br />

Jan Fleischhauer <strong>Der</strong> schwarze Kanal<br />

Mit Rechten leben<br />

Ich wünschte, Fritz Teufel<br />

wäre zurück. Ich<br />

hätte nie gedacht,<br />

dass ich die Achtundsechziger<br />

einmal vermissen<br />

würde, aber<br />

so ist es. Für alle, die<br />

nach 1980 geboren wurden<br />

und nicht wissen, von<br />

wem ich rede: Fritz Teufel war Mitbegründer<br />

der Kommune 1, einer der Keimzellen<br />

der Studentenbewegung, und Erfinder der<br />

„Spaßguerilla“, die vor 50 Jahren durch ihre<br />

Provokationen die Zeitgenossen in Atem<br />

hielt. Berühmt wurde Teufel durch einen<br />

Auftritt in einer Talkshow, bei dem er eine<br />

Pistole gegen den Finanzminister richtete.<br />

Es war zum Glück nur eine Wasserpistole.<br />

Wie ich auf Teufel komme? Ich war vergangene<br />

Woche auf der Buchmesse in<br />

Frankfurt. Über 7000 Verlage hatten sich<br />

angemeldet. Salman Rushdie war da, Dan<br />

Brown, Margaret Atwood. Aber das eigentliche<br />

Thema der Messe war der Auftritt des<br />

Antaios Verlags, eines Kleinstverlags aus<br />

Sachsen-Anhalt, der sich auf rechte Erweckungsliteratur<br />

spezialisiert hat.<br />

Am ersten Messetag rückten mehrere<br />

Mitglieder des Börsenvereins an und hielten<br />

Plakate gegen „Rassismus“ hoch. <strong>Der</strong><br />

Frankfurter Oberbürgermeister verteilte<br />

vor dem Stand Flyer, die für die Aktion<br />

„Mut – Mutiger – Mund auf“ warben. Eine<br />

Lesung endete im Tumult, als Demonstranten<br />

zu schreien anfingen.<br />

Mich erinnerten die Protestler an Nonnen,<br />

die sich vor Kinos aufstellen, in denen<br />

unzüchtige Filme gezeigt werden. Selbst<br />

gemalte Plakate, die man in die Höhe reckt,<br />

Kittihawk<br />

um das Böse zu vertreiben, und wenn einem<br />

gar nichts mehr einfällt, fängt man zu<br />

kreischen an? Wenn ich ein Linker wäre,<br />

würde ich mich schämen, ehrlich.<br />

Vielleicht ist es unvermeidlich, dass eine<br />

Bewegung an Agilität einbüßt, wenn sie in<br />

die Jahre kommt. Man kann sich auch geistig<br />

einen Bauchansatz zulegen, wie sich<br />

zeigt. Wer zu lange an der Macht ist, gewöhnt<br />

sich daran, dass er das Sagen hat,<br />

das macht träge.<br />

Die Wahrheit ist, dass die Leute vom<br />

Antaios Verlag mehr von Fritz Teufel und<br />

der Spaßguerilla gelernt haben als die<br />

kreuzbraven Gestalten, die ihm und seinen<br />

Genossen politisch nachfolgten. Heute sind<br />

es die Rechten, die mit ihren Provokationen<br />

die Öffentlichkeit aufschrecken. Dabei<br />

reicht oft schon ein Wort, und alle drum<br />

herum fallen in Ohnmacht oder rufen vor<br />

Schreck „Nazi, Nazi“.<br />

Wenn man keine echten Nazis zur Hand<br />

hat, nimmt man eingebildete. Am Samstag<br />

machte die Nachricht die Runde, der Frankfurter<br />

Stadtverordnete Nico Wehnemann<br />

von der Spaßpartei „Die Partei“ sei auf der<br />

Messe zusammengeschlagen worden, weil<br />

er gegen die Büchernazis protestiert habe.<br />

Wie sich herausstellte, war Wehnemann<br />

beim Versuch, eine Absperrung zu durchbrechen,<br />

von einem Sicherheitsmann zu<br />

Boden gebracht worden. Nicht einmal die<br />

Wasserpistole, mit der man früher Finanzminister<br />

erschreckte, funktioniert noch richtig.<br />

Es wird wirklich Zeit, dass der Geist<br />

von Fritz Teufel wieder in die Linke fährt.<br />

An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein,<br />

Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel.<br />

Im Zentrum<br />

der Macht<br />

So gesehen Alle wollen<br />

Bundestagsvizepräsident<br />

werden.<br />

Ich muss zugeben, es gibt in<br />

der Berliner Politik ein Amt,<br />

dessen Bedeutung ich bisher<br />

krass unterschätzt habe: das<br />

des Bundestagsvizepräsidenten.<br />

Ich hatte es immer für<br />

ein ehrenvolle, aber doch<br />

eher zeremonielle Aufgabe<br />

gehalten, als einer von sechs<br />

Stellvertretern des Bundestagspräsidenten<br />

hin und<br />

wieder eine Sitzung des Parlaments<br />

zu leiten. Aber so<br />

kann man sich irren. Diese<br />

Woche hat mir gezeigt, dass<br />

der Job tatsächlich im Zentrum<br />

des Berliner Macht -<br />

pokers steht: heiß begehrt,<br />

leidenschaftlich umkämpft<br />

und ein zentraler Bau stein<br />

im innerparteilichen Posten -<br />

geschacher.<br />

Die FDP zum Beispiel ist<br />

personell eher schwach aufgestellt.<br />

Sie hat genau zwei<br />

Politiker, denen man bisher<br />

ein Spitzenamt in Berlin zutraute.<br />

Und raten Sie mal:<br />

einer von ihnen wird Bundestagsvize.<br />

Das zeigt doch,<br />

welch überragende Bedeutung<br />

Parteichef Christian<br />

Lindner dem Amt beimisst.<br />

Ich hoffe nur, dass Wolfgang<br />

Kubicki das auch so sieht.<br />

Bei der SPD ist es andersrum:<br />

Da gibt es zu viele Spitzenpolitiker<br />

für die paar Posten,<br />

die eine abgewählte Regierungspartei<br />

zu vergeben<br />

hat. Deshalb ist um die Vizepräsidentschaft<br />

ein Wettstreit<br />

entbrannt, wie ihn die Partei<br />

lange nicht mehr erlebt hat.<br />

Es wird eine Kampfkandidatur<br />

dreier Spitzensozis geben.<br />

Drei! Die Schicksalszahl<br />

der Sozialdemokratie, wie<br />

oft konkurrierten drei um<br />

die Macht. Und jetzt: Kanzlerkandidat<br />

wollte keiner<br />

werden, aber Bundestagsvizepräsident,<br />

das wollen sie<br />

alle. Christiane Hoffmann<br />

10 DER SPIEGEL 43 / 2017


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„Macht ist wie Alkohol“<br />

Sexismus Unter #MeToo brechen Millionen Frauen und Männer das Schweigen<br />

über sexuelle Belästigung im Alltag. Die Wucht ihrer Berichte erreicht<br />

auch Politik und Wirtschaft. Vor allem Führungsleute müssen sensibilisiert werden.<br />

14 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Margot Wallström zum Beispiel, die<br />

schwedische Außenministerin.<br />

„Me too“, schreibt sie am Mittwochnachmittag<br />

auf Facebook. Nur diese<br />

zwei Worte. „Ich auch.“ Und alle wissen,<br />

was sie meint: Auch ich habe sexuelle Belästigung<br />

erfahren.<br />

Es folgen, wie üblich, beleidigende Kommentare:<br />

„Ich bezweifle, dass das passiert<br />

ist. Wer würde dich schon belästigen?“ Andere<br />

kommentieren schlicht: „Me too.“<br />

Zwei Worte reichen, damit eine globale<br />

Bewegung entsteht. Eine Bewegung der<br />

Herabgewürdigten, der Belästigten, der<br />

Misshandelten. Eine Bewegung von Betroffenen,<br />

die bislang anonym und passiv waren.<br />

Nun haben sie Millionen Namen und<br />

Gesichter und teilen der Welt ihre Geschichten<br />

mit.<br />

Seit Sonntag twittern und posten Frauen<br />

und wenige Männer in den sozialen Netzwerken<br />

unter #MeToo ihre Erfahrungen<br />

mit sexuellen Übergriffen. Darunter sind<br />

Prominente, Politikerinnen, Schauspielerinnen,<br />

Sportlerinnen. Ein detailliertes Archiv<br />

über Berichte von Macht und Missbrauch<br />

ist so entstanden, ein digitales Dokument<br />

der Schande.<br />

Das Mächtige an diesem Hashtag ist seine<br />

Bescheidenheit. #MeToo hat nicht den<br />

Anstrich des Politischen, er ruft nicht zum<br />

Protest auf. Er trägt auch nicht die Em -<br />

pörung in seinem Namen, wie einst<br />

#Aufschrei nach der Affäre um Rainer Brüderle<br />

von der FDP, der die „Stern“-Reporterin<br />

Laura Himmelreich mit einer anzüglichen<br />

Dirndl-Bemerkung belästigt hatte.<br />

#MeToo ist zunächst nur eine Erhebung<br />

und die stille Einladung, ein massives Alltagsproblem<br />

zu betrachten. #MeToo heißt:<br />

Hör erst mal zu.<br />

Natürlich, die Debatte um sexuelle Belästigung<br />

ist nicht neu. Sie wurde nach<br />

Brüderle geführt und nach der Kölner Silvesternacht.<br />

Sie wurde nach Sebastian Edathy,<br />

nach dem Gerichtsverfahren gegen<br />

Gina-Lisa Lohfink geführt und nach der<br />

„Grab the pussy“-Bemerkung von Donald<br />

Trump. Und auch, nachdem die CDU-Politikerin<br />

Jenna Behrends in einem offenen<br />

Brief schrieb, dass der damalige Berliner<br />

Innensenator Frank Henkel sie als „große<br />

süße Maus“ bezeichnet haben soll.<br />

Die Debatte erreichte den Bundestag und<br />

veränderte Gesetze. Zweimal wurde in den<br />

vergangenen vier Jahren das Sexualstrafrecht<br />

verschärft: Seit Januar 2015 macht<br />

sich strafbar, wer Nacktbilder von Kindern<br />

und Jugendlichen zu kommerziellen Zwecken<br />

herstellt oder anderen anbietet. Im<br />

November 2016 wurde der Tatbestand der<br />

sexuellen Belästigung ins Strafgesetzbuch<br />

eingeführt. Wer eine andere Person „in sexuell<br />

bestimmter Weise körperlich berührt<br />

und dadurch belästigt“, muss nun mit einer<br />

Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder<br />

mit einer Geldstrafe rechnen.<br />

Mithilfe des neuen Paragrafen 184i des<br />

Strafgesetzbuches sollen Handlungen wie<br />

das Berühren von Po und Brüsten sowie<br />

das plötzliche Küssen leichter als Straftat<br />

geahndet werden können. Es ist ein Paragraf<br />

gegen Grapscher.<br />

Doch es gibt auch die andere Seite: 2015<br />

veröffentlichte die Antidiskriminierungsstelle<br />

des Bundes eine repräsentative Befragung.<br />

Demnach gaben 49 Prozent der<br />

Frauen an, schon einmal eine „gesetzlich<br />

verbotene Belästigung am Arbeitsplatz“<br />

erlebt zu haben – meistens im Büro (56<br />

Prozent), bei Betriebsfesten (48 Prozent),<br />

auf Fluren oder im Fahrstuhl (35 Prozent).<br />

Ein Jahr zuvor hatte eine Studie unter<br />

dem Titel „Truppenbild ohne Dame?“ des<br />

Zentrums für Militärgeschichte und Sozial -<br />

wissenschaften der Bundeswehr für Aufsehen<br />

gesorgt. Demnach waren 55 Prozent<br />

der mehr als 3000 befragten Frauen in ihrer<br />

Bundeswehrzeit sexuell belästigt worden:<br />

47 Prozent berichteten über „Bemerkungen/Witze<br />

sexuellen Inhalts“, 25 Prozent<br />

über das „unerwünschte Zeigen oder<br />

sichtbare Anbringen pornografischer Darstellungen“.<br />

24 Prozent der Befragten,<br />

also mehr als 700 Soldatinnen, waren körperlich<br />

belästigt worden, etwa durch sexuell<br />

motivierte Berührungen an Brust<br />

oder Po, während drei Prozent – also<br />

mehr als 90 Frauen – angaben, Handlungen<br />

sexueller Nötigung oder Vergewaltigung<br />

erlebt zu haben.<br />

<strong>Der</strong> öffentliche Aufschrei über die Zustände<br />

der Truppe hallte seinerzeit nicht<br />

besonders lange nach.<br />

Heute erzählen nur we -<br />

nige Politikerinnen offen<br />

von ihren Erfahrungen<br />

sexueller Erniedrigung.<br />

Aber es sind nicht nur traditionelle Männerbünde,<br />

in denen sich Frauen besonders<br />

oft sexistischer Angriffe erwehren müssen.<br />

Eine im Jahr 2000 erhobene Befragung unter<br />

1062 Münchner Berufsschülerinnen und<br />

Auszubildenden ergab eine Art Branchen-<br />

Ranking. Demnach wurden weibliche Azubis<br />

im Hotel- und Gaststättenbereich besonders<br />

häufig sexuell belästigt (84 Prozent),<br />

gefolgt von ihren Kolleginnen in<br />

technischen und handwerklichen Berufen<br />

(60 bis 66 Prozent).<br />

Ausgerechnet die Politik ahndet eine allzu<br />

große Offenheit der Betroffenen hart:<br />

Abgeordnete, die noch vor vier Jahren in<br />

der #Aufschrei-Kampagne ihre Erlebnisse<br />

geschildert hatten, wurden plötzlich bei<br />

der Postenvergabe übersehen. Ihr Protest<br />

wurde zu einem Stigma. Heute erzählen<br />

deshalb nur wenige Politikerinnen offen<br />

von ihren Erfahrungen sexueller Erniedrigung.<br />

Bundesfamilienministerin Katarina<br />

Barley von der SPD gehört dazu.<br />

Barley kennt solche Situationen noch<br />

aus ihrer aktiven Zeit als Juristin. Einmal<br />

habe der Chef ihr mitgeteilt, es sei doch<br />

sehr gut, dass sie einen Doktortitel habe.<br />

<strong>Der</strong> würde sie davor bewahren, für seine<br />

Sekretärin gehalten zu werden. Auch in<br />

der Politik, sagt die Ministerin, komme<br />

man gerade als jüngere Frau immer noch<br />

häufig in die Situation, dass das Frausein<br />

thematisiert werde – sei es durch Bemerkungen<br />

über die Kleidung, über das Auftreten,<br />

über den Charme. „Unzählige kleine<br />

Begebenheiten“, sagt Barley.<br />

Sie glaubt, die meisten Männer dächten,<br />

sie würden den Frauen etwas Gutes tun,<br />

wenn sie sie lobten. „In Wirklichkeit geht<br />

es um Macht“, sagt Barley. „Viele Männer<br />

verstehen nicht, dass in ihren Bemerkungen<br />

etwas Gönnerhaftes liegt, dass die Bewertung<br />

der Frau auch zeigt, dass der, der<br />

bewertet, die Macht hat, dies zu tun.“ Barley<br />

glaubt, dass #MeToo helfen kann, aber<br />

dass auch die Politik gefragt ist. „Das<br />

Machtgefälle zwischen Männern und Frauen<br />

muss beseitigt werden. Die Lohnlücke<br />

muss geschlossen werden, es müssen so<br />

viele Frauen wie Männer in den Parlamenten<br />

sein, Elternzeit muss genauso Frauenwie<br />

Männeraufgabe sein.“<br />

Vielleicht ist #MeToo nur eine neue<br />

Erregungswelle von vielen, vielleicht ebbt<br />

sie schnell wieder ab. Vielleicht aber reicht<br />

diesmal ihre Wucht aus, um die gesell-<br />

FRANCESCO CICCOLELLA / DER SPIEGEL


Titel<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

15


schaftliche Debatte endlich nachhaltig zu<br />

führen. Viele schreiben, #MeToo habe sie<br />

ermuntert zu berichten, was sie sich früher<br />

zu sagen nicht getraut hätten. Traumata<br />

brauchen Zeit, um erzählt zu werden.<br />

Die Kampagne begann mit einem Tweet<br />

der amerikanischen Schauspielerin Alyssa<br />

Milano. Sie ist vor allem bekannt aus der<br />

Fernsehserie „Charmed“. Sie nutzte den<br />

Hashtag, den die afroamerikanische Aktivistin<br />

Tarana Burke vor mehr als zehn Jahren<br />

in die Welt gesetzt hatte. Burke wollte<br />

auf den weitverbreiteten sexuellen Missbrauch<br />

von Mädchen aufmerksam machen.<br />

Heute freut sie sich über den späten Erfolg<br />

ihrer Idee. Am vergangenen<br />

Sonntag rief Alyssa Milano<br />

dazu auf, unter #MeToo von<br />

sexuellen Übergriffen zu berichten.<br />

Im Laufe des Tages<br />

nutzten 13200 Menschen den<br />

Hashtag, einen Tag später waren<br />

es schon 283300. Im Laufe<br />

der Woche verbreitete sich<br />

das Kennwort millionenfach<br />

über die sozialen Netzwerke<br />

und führte die Debatte aus<br />

dem Ort hinaus, an dem sie<br />

begann: aus Hollywood.<br />

Die Enthüllungen über<br />

Filmproduzent Harvey Weinstein<br />

hatten mit einer Recherche<br />

der „New York Times“ begonnen,<br />

bei der sich Schauspielerinnen<br />

meldeten, die<br />

von Belästigungen durch ihn<br />

berichteten. Fünf Tage später<br />

war es dann eine Geschichte<br />

im „New Yorker“, die lange<br />

vorbereitet war: Hier war von<br />

drei Vergewaltigungsvorwürfen<br />

und zahlreichen anderen<br />

Fällen von sexueller Nötigung<br />

die Rede.<br />

Hollywood reagierte mit<br />

bislang ungekannter Konsequenz.<br />

<strong>Der</strong> Produzent wurde von seiner<br />

eigenen Firma entlassen. Die Oscar-Academy<br />

schloss Harvey Weinstein aus –<br />

kaum ein Produzent war mit seinen Filmen<br />

so oft nominiert gewesen.<br />

Es schien, als hätte Hollywood ein<br />

schlechtes Gewissen. In dieser Industrie<br />

galt es lange als normal, dass junge Schauspielerinnen<br />

mit Regisseuren und Produzenten<br />

ins Bett gehen mussten, um Rollen<br />

zu bekommen.<br />

Roman Polanski wurde 1977 in Los Angeles<br />

wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen<br />

angeklagt und entzog sich der Justiz<br />

durch Flucht nach Europa. Bis heute<br />

muss er damit rechnen, bei der Einreise in<br />

die USA verhaftet zu werden. Hollywood<br />

half ihm dennoch bei der Finanzierung<br />

seiner Filme und verlieh ihm 2003 für sein<br />

Holocaust-Drama „<strong>Der</strong> Pianist“ einen<br />

Oscar.<br />

16 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Dass Woody Allens Adoptivtochter Dylan<br />

Farrow den Vorwurf erhob, von ihm<br />

als Kind sexuell missbraucht worden zu<br />

sein, hat seiner Karriere nicht geschadet.<br />

Allen bestritt die Vorwürfe, juristisch konnten<br />

sie nie geklärt werden. Nun warnte Allen<br />

im Zuge des Weinstein-Skandals vor<br />

einer „Hexenjagd“. Dabei war es ausgerechnet<br />

einer seiner Söhne, Ronan Farrow,<br />

der den Fall über Monate recherchiert und<br />

im „New Yorker“ veröffentlicht hatte.<br />

In Hollywood reicht das Problem tief:<br />

Ungefähr 70 Prozent der Hauptfiguren in<br />

Hollywoodfilmen sind Männer, 97 Prozent<br />

der Kameraleute sind Männer, nur 11 Prozent<br />

der Drehbücher werden von Frauen<br />

geschrieben. Es dominieren der männliche<br />

Blick, die männliche Erzählweise, männliche<br />

Sehnsüchte, männliches Anspruchsdenken<br />

und Übergriffigkeit.<br />

Männer wie Weinstein empfinden ein<br />

Gefühl der Allmacht. Es ist auch in der Politik<br />

weit verbreitet. Die Skandale um Bill<br />

Clinton, der eine Affäre mit seiner Praktikantin<br />

Monica Lewinsky hatte (auch sie<br />

postete #MeToo), und Anthony Weiner,<br />

Kongressabgeordneter der Demokraten,<br />

der eine 15-Jährige mit Sexbotschaften<br />

überhäufte, zeigen, wie das Gefühl zu realem<br />

Missbrauch führen kann.<br />

Man mag die amerikanische Debatte für<br />

hysterisch halten, konsequent aber ist sie.<br />

Männer wie Weinstein werden bis an den<br />

Rand der existenziellen Vernichtung bestraft.<br />

Volle Namen von mutmaßlichen Tätern<br />

werden genannt, wenn der Verdacht<br />

gegen sie hart genug ist, auch in den Zeitungen<br />

und im Internet.<br />

In Deutschland gibt es eine vergleich -<br />

bare Kultur des öffentlichen Anprangerns<br />

nicht. #MeToo ist bislang nur eine Bewegung<br />

der Betroffenen; die Täter bleiben<br />

anonym. Das hat auch Vorteile: Wie groß<br />

wäre die Gefahr der unbelegten Diffamierung?<br />

Die Folge ist nur, dass sich die Männer<br />

aus der aktuellen Diskussion weitgehend<br />

heraushalten.<br />

Es ist deshalb wichtig, dass die Bewegung<br />

das Digitale verlässt und als Debatte<br />

zwischen Männern und Frauen, Angestellten<br />

und Vorgesetzten, Freunden und Bekannten<br />

fortgesetzt wird. Dass sie<br />

aus den intellektuellen Zirkeln<br />

auch zu denen vordringt, die täglich<br />

Sexismus erleben, ohne<br />

abends die Worte zu finden, ihren<br />

Missbrauch auf Facebook zu teilen.<br />

Egal ob Frauen oder Männer<br />

betroffen sind. Es geht um ihre<br />

Abhängigkeit von den Täterinnen<br />

oder Tätern.<br />

Eine gemeinsame Empörung gegen<br />

sexuelle Übergriffe gibt es bisher<br />

nur da, wo es um Kinder geht.<br />

Hier bleibt das Geschlecht bei -<br />

seite, weil jedem der Machtmissbrauch<br />

offensichtlich ist. Dass<br />

auch erwachsene Betroffene oft<br />

physisch, psychisch oder sozial unterlegen<br />

sind und sich deshalb<br />

nicht wehren, fehlt in der aktuellen<br />

Debatte. #MeToo könnte ein<br />

Katalysator zur Veränderung sein.<br />

Das, was die digitale Bewegung<br />

nicht leisten kann, muss der gesellschaftliche<br />

Diskurs erreichen:<br />

differenzieren. Zwischen Verhalten,<br />

das nicht geht, weil es strafbar<br />

ist – und Verhalten, das der oder<br />

die eine als noch akzeptabel empfindet,<br />

der oder die andere aber<br />

nicht.<br />

Wenn der Chef seine Hand auf das Bein<br />

seiner Angestellten legt, wenn er wie zufällig<br />

die Brust oder den Po berührt, dringt<br />

er in die persönliche Intimsphäre der Frau<br />

ein und macht sich, handelt er gegen ihren<br />

Willen, strafbar. Es ist ein verwirrender,<br />

manchmal verstörender Moment, der die<br />

Betroffenen sprachlos macht. Wut, Abscheu<br />

und Scham stellen sich oft erst mit<br />

Verzögerung ein. Wenn so etwas am Arbeitsplatz<br />

geschieht, ist es schwierig, sich<br />

danach wieder normal zu begegnen. Gut<br />

möglich, dass manche Grapscher keine<br />

Vorstellung haben, wie zerstörerisch so ein<br />

Moment sein kann. Deshalb muss auch in<br />

Unternehmen über solche Situationen offen<br />

gesprochen werden.<br />

Wenn der US-amerikanische Vizepräsident<br />

Mike Pence sagt, er würde keine Frauen<br />

mehr zu Vieraugengesprächen treffen,<br />

damit ihm danach keine Vorwürfe gemacht<br />

FRANCESCO CICCOLELLA / DER SPIEGEL


Titel<br />

werden könnten, wenn Männer erzählen,<br />

sie würden sich nicht mehr trauen, allein<br />

mit Frauen im Aufzug zu fahren, liegt darin<br />

eine trostlose Perspektive. Andererseits<br />

ist es tatsächlich so, dass gerade Führungskräfte<br />

das größte Potenzial haben, zu Tätern<br />

zu werden.<br />

„Macht korrumpiert“, sagt der Kölner<br />

Psychologe Joris Lammers, „Menschen in<br />

Spitzenpositionen verändern ihr Verhalten.“<br />

Sie werden aktiver, auch sexuell.<br />

Lammers hat Männer und Frauen zu ihrem<br />

Seitensprungverhalten befragt und herausgefunden,<br />

dass Personen mit Führungsverantwortung<br />

häufiger fremdgehen als einfache<br />

Angestellte. Er hat außerdem<br />

ein ganz einfaches Experiment<br />

durchgeführt: Er ließ Studienteilnehmer<br />

am Computer<br />

auf einen Luftballon klicken.<br />

Mit jedem Klick erhöhte sich<br />

der eigene Kontostand, aber<br />

auch die Gefahr, dass der Ballon<br />

platzt und der Versuchsteilnehmer<br />

gar nichts gewinnt. „Je<br />

mächtiger die Person war, desto<br />

häufiger platzte der Ballon“,<br />

sagt Lammers. Menschen würden<br />

risikofreundlicher und<br />

selbstbewusster, je mehr Macht<br />

sie haben. „Das gilt für Männer<br />

und Frauen“, betont Lammers.<br />

Er glaubt deshalb nicht, dass<br />

Frauen ihre Macht weniger ausnutzen<br />

würden als Männer.<br />

„Macht ist wie Alkohol“, sagt<br />

Lammers, „sie lässt dich Risiken<br />

ausblenden.“ Männer und Frauen<br />

in Spitzenpositionen würden<br />

dazu neigen, sich das zu nehmen,<br />

was sie gerade wollen, was<br />

sexuell übergriffiges Verhalten<br />

begünstigen würde. Warum werden<br />

dann aber mehr Männer als<br />

Frauen auf frischer Tat ertappt?<br />

Lammers glaubt, „dass es vielleicht<br />

weniger als Skandal gesehen wird,<br />

wenn Frauen Untergebene verführen. Und<br />

sich die Männer möglicherweise auch weniger<br />

laut beschweren.“ <strong>Der</strong> französische<br />

Staatspräsident Emmanuel Macron hat die<br />

Lehrerin, mit der er als Schüler eine Liebesaffäre<br />

hatte, auch nicht verklagt, sondern<br />

später geheiratet.<br />

„<strong>Der</strong> beste Weg, Menschen vom Machtmissbrauch<br />

abzuhalten, ist, ihnen klarzumachen,<br />

dass sie die Macht verlieren können“,<br />

sagt Lammers. Deswegen sei auch<br />

der Fall Weinstein so wichtig und die<br />

#MeToo-Debatte im Netz. Experimente<br />

hätten gezeigt, dass es Chefs meistens gar<br />

nicht leiden können, wenn auf dem Gang<br />

über sie getuschelt wird. „Wenn sie nun<br />

befürchten müssen, dass ein anzüglicher<br />

Kommentar sie zum Gespött der Belegschaft<br />

macht, werden sie vielleicht vor -<br />

sichtiger.“<br />

Janina Kugel, 47, Personalvorstand bei<br />

Siemens, kennt sie noch, die bleierne Zeit,<br />

in der Frauen in der deutschen Wirtschaft<br />

häufig zwei Aufgaben zugewiesen wurden:<br />

Kaffee kochen und dem Chef auch anderweitig<br />

zu Diensten zu sein. Zum Glück seien<br />

diese Zeiten inzwischen vorbei. Janina<br />

Kugel hat daran selbst großen Anteil. Noch<br />

vor zehn Jahren wäre es undenkbar gewesen,<br />

die rund 350 000 Siemens-Mitarbeiter<br />

in aller Welt einer Frau zu unterstellen,<br />

darunter viele Techniker und Ingenieure.<br />

Heute wird nicht nur dieses wichtige Ressort<br />

von einer Managerin betreut, Konzernchef<br />

Joe Kaeser hat darüber hinaus<br />

Triebgesteuert<br />

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt<br />

2015<br />

darunter<br />

Vergewaltigung und<br />

sexuelle Nötigung<br />

7558<br />

2016<br />

8001<br />

2015 2016<br />

noch rund ein Dutzend weitere Schlüsselfunktionen<br />

in weibliche Hand gelegt, beispielsweise<br />

die Abteilung Investor Rela -<br />

tions und die wichtige Energiesparte.<br />

Die Kultur habe sich merklich geändert,<br />

berichtet ein enger Vertrauter von Kaeser.<br />

„Anzügliche Macho-Sprüche sind in der<br />

Zentrale inzwischen verpönt.“ Auch eine<br />

Schwangerschaft sei kein Grund mehr,<br />

„sich beruflich selbst zu entleiben und nur<br />

noch Teilzeit zu arbeiten. Das leben die<br />

Frauen im Siemens-Management inzwischen<br />

vor“.<br />

Die Zäsur im Denken lässt sich mittlerweile<br />

auch in Schriftform nachlesen – in<br />

den gerade neu erschienenen Verhaltensrichtlinien<br />

des Konzerns für Mitarbeiter.<br />

„Wir dulden keinerlei Diskriminierung, keine<br />

sexuelle Belästigung oder sonstige persönliche<br />

Angriffe auf einzelne Personen.“<br />

Auch andere Unternehmen haben diese<br />

in Deutschland<br />

erfasste Fälle,<br />

Quelle: Polizeiliche<br />

Kriminalstatistik,<br />

Jahrbuch 2016<br />

§§ 177 Abs. 2, 3 und 4, 178 StGB § 177 Abs. 1 und 5 StGB<br />

7022<br />

46081<br />

7919<br />

2015 2016<br />

47401<br />

exhibitionistische<br />

Handlungen und Erregung<br />

öffentl. Ärgernisses<br />

sonstige sexuelle<br />

Nötigung<br />

Selbstverständlichkeiten inzwischen in<br />

Verhaltenkodices verpackt.<br />

Die hehren Worte spiegeln nicht immer<br />

die Realität wider: In öffentlichen Veranstaltungen<br />

sind Frauen als Expertinnen immer<br />

noch in der Minderheit: Von 23181 Vortragen -<br />

den auf 453 Veranstaltungen waren nur 6103<br />

Frauen, berichtet das Projekt „50 Prozent“.<br />

Männer dominieren die öffentliche Debatte,<br />

was ein Grund dafür sein kann, dass das Thema<br />

auch in der Politik oft nachrangig ist.<br />

Im Wahlkampf spielte das Thema zumindest<br />

bei den linken Parteien eine Rolle.<br />

Die SPD forderte einen Aktionsplan zur<br />

Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.<br />

Die Grünen setzten ebenso wie<br />

die Linke auf umfassende Schulungen<br />

für Polizei und Justiz, damit<br />

sie im Umgang mit Betroffenen<br />

von sexueller Gewalt<br />

sensibilisiert werden. Außerdem<br />

soll es nach ihrem Willen für<br />

Opfer von Vergewaltigungen<br />

eine Notfallversorgung einschließlich<br />

anonymisierter Spurensicherung<br />

und der Pille danach<br />

geben.<br />

Die CDU dagegen ließ sich<br />

nur zu einem Satz hinreißen. In<br />

den letzten vier Jahren habe sie<br />

die „sexuelle Selbstbestimmung<br />

gestärkt und den Schutz von<br />

Frauen und Minderjährigen vor<br />

Gewalt verbessert“. Bei FDP<br />

und CSU findet sich gar nichts<br />

zu sexualisierter Gewalt.<br />

Johannes-Wilhelm Rörig, der<br />

Missbrauchsbeauftragte der<br />

Bundesregierung, will verhindern,<br />

dass das Thema im Fall ei-<br />

5919<br />

4786<br />

ner Jamaikakoalition untergeht.<br />

„Ich möchte, dass der Fall Weinstein<br />

und die zahlreichen Fälle,<br />

2015 2016 die mit #MeToo bekannt werden,<br />

jetzt endlich zum Anlass<br />

genommen werden, dauerhafte<br />

Strukturen und ein dauerhaftes Vorgehen<br />

gegen sexuelle Gewalt zu schaffen.“ Es<br />

dürfe nicht sein, dass weiter „von Skandal<br />

zu Skandal gesprungen wird“.<br />

Rörig fordert deswegen neben mehr Mitteln<br />

für Präventionsmaßnahmen an Schulen<br />

eine „dauerhafte Aufklärungs- und<br />

Sensibilisierungskampagne in der Dimension<br />

der Aids-Kampagne“. Es müsse endlich<br />

allen klar werden, was sexualisierte<br />

Gewalt genau ist, wo die Grenzen sind, an<br />

wen man sich wenden kann und dass die<br />

Folgen und Belastungen für Betroffene<br />

eklatant sein können. „Die Täter leben<br />

vom Schweigen der breiten Masse.“<br />

Das Schweigen ist vorerst beendet.<br />

Maik Baumgärtner, Lars-Olav Beier, Anna Clauß,<br />

Xaver von Cranach, Dinah Deckstein,<br />

Georg Diez, Martin Knobbe, Ann-Katrin Müller,<br />

Sven Röbel, Alexander Sarovic,<br />

Elke Schmitter, Britta Stuff, Claudia Voigt<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

17


#WirAuch<br />

Protokolle In sozialen Netzwerken berichten Millionen Menschen unter dem Hashtag #MeToo von<br />

sexuellen Belästigungen und Vergewaltigungen. Zwölf von ihnen erzählen im SPIEGEL ihre Geschichte.<br />

Hashtag-Illustration<br />

„Zufällig die Hand am Po“<br />

Flugbegleiterin, 31, aus Frankfurt am Main<br />

„Ich arbeite jetzt seit fast zehn Jahren als<br />

Flugbegleiterin, zuerst in der Schweiz,<br />

dann für eine kleine Regionallinie und<br />

nun bei Lufthansa. Man gewöhnt sich daran,<br />

angeglotzt zu werden. Einmal sagte<br />

ein Passagier zu mir, er finde es erotisch,<br />

dass man meinen BH durch die weiße<br />

Bluse sehen könne. Seitdem trage ich<br />

fast immer die Uniformjacke. Sitze ich<br />

am Notausgang Passagieren gegenüber<br />

oder neben ihnen, wollen Männer häufiger<br />

ein Gespräch anfangen, da wird man<br />

auch schon mal gefragt, ob man einen<br />

Freund hat oder was man denn heute<br />

Abend so vorhabe. Ein Mann hat mal angestrengt<br />

auf meinem Mitarbeiterausweis<br />

meinen Namen entziffert und mir dann<br />

eine Freundschaftsanfrage bei Facebook<br />

geschickt – wir standen noch am Boden.<br />

Wenn man beim Service mit dem<br />

Wagen durch den Gang läuft, hat man immer<br />

mal wieder einen Arm oder auch<br />

eine Hand am Po, zufälligerweise passiert<br />

das immer nur Männern, aber vielleicht<br />

sind die auch breiter und sitzen mehr im<br />

Gang. Am schlimmsten sind arabische<br />

Gäste, die denken, wir gehörten ihnen,<br />

und sie hätten dafür mit ihrem Ticket bezahlt.<br />

Ich habe mal ein Praktikum in einer<br />

unserer Lounges gemacht. Es gibt<br />

dort Badewannen. Ein arabisch aussehender<br />

Passagier wollte, dass ich mit ihm ins<br />

Badezimmer komme, ich bin schnell weggegangen.<br />

Die meisten Passagiere verhalten<br />

sich sehr anständig, vor allem die<br />

Vielflieger. In der First Class sind die Gäste<br />

am zurückhaltendsten, am schlimmsten<br />

sind Reisende in der Businessclass.<br />

Ein schnöseliger Typ mit silberner Rolex-<br />

Uhr fragte mich mal, ob ich schon Sex<br />

in einem Flugzeug gehabt hätte. Ich finde<br />

solche Fragen unverschämt, er ist aber<br />

Kunde, und ich muss höflich bleiben.<br />

Die Geschichten über wilde Orgien<br />

zwischen Piloten und Flugbegleitern sind<br />

hingegen völlig übertrieben, und es<br />

nervt, wenn man sich das immer wieder<br />

anhören muss. Unsere Umläufe sind sehr<br />

kurz geworden, oft ist man nur für eine<br />

Nacht im Hotel, alle sind müde und wollen<br />

nur noch schlafen. Zwar gibt es immer<br />

wieder auch Paare unter dem Personal,<br />

aber das ist kein wildes Jeder-mit-<br />

Jedem. Ich habe es nie erlebt, dass mich<br />

Cockpitpersonal bedrängt hat, über ein<br />

bisschen Flirten ging das nie hinaus.“<br />

FRANCESCO CICCOLELLA / DER SPIEGEL<br />

18 DER SPIEGEL 43 / 2017


Titel<br />

„Einmal habe ich mit meinen<br />

High Heels zugetreten“<br />

Claudia Klemt, 40, PR-Redakteurin aus<br />

Rauenberg<br />

„Sexuelle Belästigung bedeutet für mich,<br />

dass mich ein Mann anfasst und ich das<br />

nicht möchte. Genau das erlebe ich seit<br />

meiner Jugend allerdings in immer neuen<br />

Varianten. Ich erinnere mich an den<br />

Weltjugendtag in Köln vor zwölf Jahren,<br />

da presste plötzlich in der dicht gedrängten<br />

S-Bahn ein Mann den erigierten Penis<br />

in meinen Rücken. Leider war ich zu<br />

schockiert, um zu reagieren, dabei habe<br />

ich das im Lauf der Jahre eigentlich gelernt.<br />

Als mich bei einem Karnevalsfest<br />

einmal ein Mann, den ich aus meinem<br />

beruflichen Umfeld kannte, an den Po<br />

fasste, habe ich mit meinen High Heels zugetreten.<br />

Dieses An-den-Po-Fassen ist<br />

überhaupt ziemlich üblich; während meiner<br />

Ausbildung habe ich nebenbei gekellnert<br />

und viele Männer getroffen, für die<br />

solche Übergriffe offenbar zu einem gelungenen<br />

Kneipenabend gehörten. Mit<br />

steigendem Alkoholspiegel hielten sie ihr<br />

Verhalten für immer selbstverständlicher.<br />

Jetzt bin ich 40 Jahre alt und merke,<br />

dass mich mit zunehmendem Alter auch<br />

anzügliche Bemerkungen und Witze<br />

immer wütender machen. Im Job hat<br />

mir das den Ruf der militanten Feministin<br />

eingetragen – und den der Spaßbremse.<br />

Als PR-Redakteurin war ich bei einer<br />

großen Bank lange für die Öffentlichkeitsarbeit<br />

zuständig. Dort wurde in<br />

„Einige senden Penisbilder“<br />

Julia Anna Friess, 27, Musicaldarstellerin<br />

aus Regensburg<br />

„Zu meiner Ausbildung gehörte Tanz -<br />

unterricht, oft begann der früh am Morgen.<br />

Ich fand es um diese Uhrzeit meist<br />

noch ziemlich kalt und zog immer ein<br />

langärmeliges Oberteil an. Einem unserer<br />

Dozenten gefiel das nicht, er meinte,<br />

so könne er das Muskelspiel nicht kontrollieren.<br />

Er kam dann immer zu mir<br />

und wollte mir das Oberteil ausziehen.<br />

Jedes Mal habe ich seine Hände von<br />

meinem Körper genommen und laut gesagt,<br />

dass ich mir allein zu helfen wisse.<br />

Trotzdem: Er hat es wieder und wieder<br />

versucht. Und jedes Mal, wenn ich ihn in<br />

seine Schranken verwies, wurde er frech<br />

oder strafte mich mit Missachtung. Ich<br />

sollte in der letzten Reihe tanzen oder<br />

zusätzliche Übungen machen, solche<br />

Dinge. Anderen Mädchen gegenüber<br />

verhielt er sich ähnlich, ihm eilte dieser<br />

einer Vorstandssitzung dann darüber geredet,<br />

dass sie einen Kunden, der sich<br />

nur von einer bestimmten Kollegin beraten<br />

lassen wollte, verstehen könnten,<br />

weil sie schließlich zwei große Argumente<br />

vor sich hertragen würde. Ich war die<br />

einzige Frau in dieser Runde, und die<br />

Männer merkten gar nicht, wie tief die<br />

Schublade war, in die sie da griffen.<br />

Sexuelle Belästigung ist eine Demonstration<br />

von Macht und Status. Deshalb<br />

fürchte ich auch, dass sie überall in der<br />

Gesellschaft andauern wird, solange wir<br />

keine vollständige Gleichberechtigung<br />

erreichen.“<br />

Ruf ohnehin voraus. Manchmal drängte<br />

er sich auf, wenn wir Studenten feierten,<br />

und tat so, als wäre er 20. In Wahrheit<br />

hatte er aber natürlich Macht darüber,<br />

wie erfolgreich wir unsere Ausbildung<br />

abschließen würden.<br />

Mir waren diese Szenen um das Oberteil<br />

irgendwann so unangenehm, dass<br />

ich es schließlich nicht mehr zum Training<br />

angezogen habe. Aber ich habe den<br />

Schulleiter dann auch gebeten, mich in<br />

einen anderen Kurs einzuteilen. Ich wollte<br />

einen klaren Schnitt, notfalls wäre ich<br />

zur Polizei gegangen, man muss sich solche<br />

Übergriffe nicht bieten lassen. Heute<br />

erlebe ich von Zuschauern ziemlich<br />

merkwürdige Ansinnen, sie sehen mich<br />

auf der Bühne und fragen anschließend<br />

auf Facebook, ob ich ihnen getragene<br />

Strumpfhosen schicken könne, einige<br />

senden mir bizarre Penisbilder. Ich sage<br />

mir dann immer, dass sie allesamt armselige,<br />

lächerliche Gestalten sind. Diese<br />

Männer müssen doch Probleme haben,<br />

sonst würden sie sich anders verhalten.“<br />

ANNA LOGUE / DER SPIEGEL<br />

„Aber das war Krieg“<br />

Brigitte Meese, 88, Kunstmanagerin<br />

in Berlin<br />

„Ich bin als junges Mädchen, mit 15, in<br />

Danzig von einem russischen Soldaten<br />

vergewaltigt worden. Gott sei Dank<br />

nur einmal. Aber das war Krieg. Wir<br />

haben die Bomben überlebt, wir sind<br />

nicht erschossen worden. Das war<br />

das Wichtigste. Was die deutsche<br />

Wehrmacht und besonders die SS in<br />

Russland angestellt hat, war viel<br />

schreck licher als das, was die Russen<br />

in Deutschland taten.<br />

Mit Sexismus heute kann man das<br />

alles überhaupt nicht vergleichen.<br />

Nach Kriegsende ging ich nach Salem<br />

aufs Internat zurück. Wir wohnten mit<br />

vier Mädchen ausnahmsweise mal auf<br />

einem Zimmer in einem Jungsflur, weil<br />

es Platznot gab. Wir waren so naiv –<br />

weder den Jungs noch uns Mädchen<br />

wäre es im Traum jemals einge fallen,<br />

ein anderes Schlafzimmer zu betreten.<br />

Aggressives Anmachen gab es damals<br />

nicht. Allerdings liefen wir auch nicht<br />

halbnackt herum. Später habe ich in<br />

Heidelberg, Paris und London studiert.<br />

Per Anhalter bin ich allein durch ganz<br />

Europa gereist. Nie ist etwas passiert,<br />

nie habe ich einen blöden Spruch<br />

gehört. Es gab andere Konventionen.<br />

Man reizte einander nicht gegenseitig<br />

auf.<br />

Den heutigen Sexismus finde ich<br />

natürlich scheußlich. Aber er geht auch<br />

mit einer sehr freiheitlichen Bewegung<br />

einher. Wenn ich diese entzückenden<br />

jungen Mädchen in Berlin sehe, mit<br />

abgeschnittenen, extrem kurzen Höschen<br />

und Oberteilen, die nichts ver -<br />

hüllen … wissen die eigentlich, was sie<br />

tun?<br />

Andererseits haben sie natürlich<br />

jedes Recht, sich so anzuziehen.<br />

Für Männer darf das kein Freibrief<br />

sein, sich danebenzubenehmen.“<br />

FRANK HORNIG / DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

19


„Politik ist Macht“<br />

Daniela Jansen, 40, aus Aachen ist<br />

Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft<br />

Sozialdemokratischer Frauen in<br />

Nordrhein-Westfalen.<br />

„Politik ist Macht. Und weil es immer<br />

noch viel mehr Politiker als Politikerinnen<br />

gibt, kommt es häufig vor, dass die<br />

Männer versuchen, Frauen einzuschüchtern,<br />

zu verunsichern. Entweder durch<br />

anzügliche Sprüche und Gesten oder<br />

durch respektloses Verhalten. Ich war<br />

fünf Jahre lang Landtagsabgeordnete in<br />

NRW und habe erlebt, dass der Lärm -<br />

pegel bei Plenarsitzungen steigt, sobald<br />

eine Politikerin am Rednerpult steht.<br />

Die Männer quatschen dann laut mit -<br />

einander, machen Zwischenrufe oder stehen<br />

auf und gehen raus. Sie tun das bewusst.<br />

Das ist eine Taktik, um Frauen<br />

aus dem Konzept zu bringen. Nach dem<br />

Motto: ‚Mal sehen, wie lange die das aushält!‘<br />

Es trifft besonders oft Politikerinnen,<br />

die mit hoher Stimme sprechen.<br />

Auch in Ausschusssitzungen habe ich erlebt,<br />

dass es Männern darum geht, ihr<br />

Revier abzustecken. Sie reden mit ausholenden<br />

Gesten, laut und lange. Wenn<br />

eine Politikerin ein Argument vorbringt,<br />

ignorieren das manche Männer und tun<br />

so, als hätte niemand etwas gesagt. Manche<br />

Abgeordnete begrüßen Kolleginnen,<br />

indem sie ihnen gönnerhaft den Kopf<br />

tätscheln. Ein Kollege sagte mal zu mir:<br />

‚Du bist die erste Vorsitzende der SPD-<br />

Frauen, die ich nicht von der Bettkante<br />

schubsen würde.‘ Ich antwortete: ‚Es<br />

wird nie passieren, dass ich auch nur in<br />

die Nähe deiner Bettkante komme.‘ Man<br />

muss als Politikerin austeilen können,<br />

man muss sich an den Machtspielchen<br />

beteiligen, man muss dafür kämpfen, auf<br />

Rednerlisten zu kommen. Das ist anstrengend,<br />

aber von allein geht es nicht.<br />

Ich glaube, dass noch immer viele Politiker<br />

denken: ‚Auf eine Frau kann ich<br />

mich nicht verlassen, die ist zu emotional,<br />

und wenn sie ihre Tage hat, ändert<br />

sie ihre Meinung.‘ Ich wünsche mir mehr<br />

Respekt von den Männern. Manche von<br />

ihnen sagen, dass sie wegen der Debatte<br />

über sexuelle Belästigung verunsichert<br />

seien und dass sie Frauen keine Komplimente<br />

mehr machen wollen, aus Angst,<br />

eine Grenze zu überschreiten. Das ist<br />

Unfug. Die meisten Männer kennen den<br />

Unterschied zwischen einem respektvollen<br />

Kompliment und einer Zote. ‚Das<br />

Kleid steht dir gut‘ ist etwas anderes als<br />

‚Du hast aber mächtig Holz vor der Hütte‘.<br />

Und die Männer sollten wissen, dass<br />

es ein Unterschied ist, ob man eine Frau<br />

unter vier Augen auf ihr Aussehen anspricht<br />

oder im Kreis einer Gruppe.“<br />

„Erst verfolgt, dann gejagt“<br />

Franziska Holzheimer, 29, Poetry-Slammerin<br />

aus Wien<br />

„Me too! Und das so oft, dass ich gar<br />

nicht weiß, welchen Fall ich nennen<br />

soll. Das erste Mal Catcalling, als ich<br />

zwölf war? Oder der Griff in den<br />

Schritt, als ich 17 war? Oder die ganzen<br />

Kommentare dazwischen und danach?<br />

<strong>Der</strong> Abend, als ein Slam-Kollege mir<br />

das Bett seines Mitbewohners anbot,<br />

und dann, als wir in der Wohnung ankamen,<br />

angeblich plötzlich doch nur<br />

seines frei war, und ich später in der<br />

Nacht davon wach wurde, dass er viel<br />

zu nah bei mir lag und mich beim<br />

Schlafen beobachtete? Oder der Tag,<br />

als ich beim Joggen erst verfolgt und<br />

dann gejagt wurde? Es war mitten am<br />

Tag in einer ruhigen Gegend. Er kam<br />

mir auf dem Fahrrad entgegen, fixierte<br />

mich schon von Weitem mit seinem<br />

Blick. Als er mich passiert hatte, drehte<br />

er plötzlich um und fuhr mir hinterher.<br />

Als ich schneller lief, fuhr der<br />

Mann auch schneller. Ich drehte mich<br />

um, der Mann lachte feixend. Er genoss<br />

es, mich zu jagen. Ich bekam Panik<br />

und sprintete in Richtung einer belebteren<br />

Hauptstraße. Erst als ich die<br />

erreicht hatte, drehte er ab.“<br />

„Er bot mir Geld“<br />

Schoresch Davoodi, 36, Politikberater<br />

aus Bochum<br />

„Ich bin in der Nähe von Bochum groß<br />

geworden. Mit 17 wollte ich eines Nachts<br />

per Anhalter ans andere Ende der Stadt,<br />

um dort in eine Disco zu gehen. Ein älterer<br />

Mann hielt an und bot an, mich mitzunehmen.<br />

Doch ich merkte schnell,<br />

dass er gar nicht dahin fuhr, wo ich hinmusste.<br />

Ich bat ihn, aussteigen zu dürfen.<br />

Er schwieg. Ich fühlte mich hilflos<br />

und wartete ab. Schließlich stoppte er<br />

das Auto auf einem Parkplatz in einem<br />

Naherholungsgebiet, legte seine Hand<br />

zwischen meine Beine und versuchte,<br />

mich zu küssen. Ich schrie: ‚Lass das!‘ Er<br />

ließ von mir ab und fing an, mit mir zu<br />

verhandeln. Ob ich nicht für Geld mit<br />

ihm schlafen würde. Als ich ablehnte,<br />

versuchte er weiter, mich zu überreden.<br />

Bedroht hat er mich zum Glück nicht. Irgendwann<br />

sah er ein, dass es nichts<br />

bringt, und fuhr mich schweigend zur<br />

Disco. Ich war total verwirrt, feierte die<br />

Nacht durch, um mich abzulenken. Das,<br />

was ich erlebt hatte, das passierte doch<br />

nur Mädchen, dachte ich. Die wurden<br />

vor fremden Männern gewarnt. Als junger<br />

Mann konnte man sich so was nicht<br />

vorstellen. Ich habe niemandem von diesem<br />

Vorfall erzählt – bis letzte Woche.<br />

Ein Bekannter nahm #MeToo zum Anlass,<br />

auf Facebook zu beschreiben, wie<br />

er in seiner Jugend mehrmals sexuell belästigt<br />

worden war. Das gab mir Mut,<br />

meine Geschichte ebenfalls auf Facebook<br />

zu veröffentlichen. Kurze Zeit später<br />

rief meine Schwester an. Sie war richtig<br />

entsetzt, weil ich ihr nie davon erzählt<br />

hatte. Aber wie auch? In unserer<br />

Gesellschaft dürfen Männer keine Opfer<br />

sein. Das muss sich endlich ändern.“<br />

DOMINIK ASBACH / DER SPIEGEL<br />

„Er zückte ein Messer“<br />

Christine Finke, 51, Autorin aus Konstanz<br />

„Früher war es als junge Frau normal,<br />

von Männern angesprochen zu werden,<br />

auch in unangemessener Weise. Mir<br />

wurde hinterhergepfiffen, ich wurde<br />

bedrängt. Als ich 16 Jahre alt war, fragte<br />

mich ein Mann, ob wir nicht aus<br />

dem Zug steigen und in ein Hotel gehen<br />

sollten. Meine unbeholfene Reak -<br />

tion: ‚Ich habe einen Freund.‘ Richtig<br />

gefährlich wurde es eines Abends in<br />

Freiburg. Ich war Studentin, stand an<br />

einer Haltestelle. Ein junger Typ kam<br />

auf mich zu, baggerte mich massiv<br />

an und kam mir sehr nahe. Ich machte<br />

ihm deutlich, er solle aufhören.<br />

Irgendwann schrie ich: ‚Verpiss dich!‘<br />

Daraufhin zückte er ein Messer.<br />

Passan ten schritten ein, der Typ verschwand<br />

fluchend.<br />

Das Älterwerden hat bei mir den angenehmen<br />

Nebeneffekt, dass so etwas<br />

irgendwann aufhört. Inzwischen bin<br />

ich Mutter, das hält auch viele Männer<br />

davon ab, mich anzumachen. Aber ich<br />

habe eine 17-jährige Tochter und frage<br />

mich, ob ihr so etwas heute auch noch<br />

passiert.“<br />

20 DER SPIEGEL 43 / 2017


Titel<br />

„Ich fühlte mich schuldig“<br />

Francesca Lötscher, 44, Burlesque-Künstlerin<br />

aus Hamburg<br />

„Welche von den vielen Geschichten soll<br />

ich erzählen? Wie ich als junges Mädchen<br />

kaum die Straße vom Bahnhof zur<br />

Marktgasse überqueren konnte, ohne<br />

dass sich ein Mann ungefragt über meinen<br />

Körper oder meine Geschlechtsteile<br />

äußerte? Von den anzüglichen Gesten,<br />

wenn ich mich bückte, um mein Fahrradschloss<br />

anzubringen? Von den Händen<br />

des Reitlehrers im Ferienlager, des amerikanischen<br />

Zollbeamten, des Autobahnpolizisten,<br />

des Unbekannten am Elbufer,<br />

im Zug, im Bus, in der Sauna?<br />

Das alles passierte in der Zeit, als ich<br />

meine eigene Sexualität gerade erst entdeckte.<br />

Einmal, ich war etwa 13, griff<br />

mir ein junger Mann auf der Straße an<br />

meinen Hintern. Ich las damals gerade<br />

Simone de Beauvoir. Ich drehte mich<br />

um und knallte ihm eine. Doch bevor in<br />

mir der Stolz aufsteigen konnte, knallte<br />

er mir eine zurück. Und da fühlte ich<br />

mich tatsächlich schuldig! Schuldig<br />

für meinen Körper, meinen neugierigen<br />

Blick, meine wilden Haare, meinen<br />

lauten Kleiderstil, meinen bunt bemalten<br />

Mopedhelm.“<br />

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL<br />

„Manch einer wird eklig“<br />

Franziska Thoms, 28, Verkäuferin<br />

in einem Telekommunikationsladen<br />

in Hamburg<br />

„Es gibt immer wieder Situationen mit<br />

Kunden, die anstrengend sind. Viele<br />

männliche Kunden nehmen mich nicht<br />

für voll und wollen einen männlichen<br />

Verkäufer wegen kleinster Technikfragen<br />

sprechen. Die meinen, ich sei nicht<br />

kompetent genug. Aber ich habe doch<br />

meine Ausbildung nicht umsonst gemacht!<br />

Manchmal kommt es auch vor,<br />

dass jemand eklig wird. Einer fragte<br />

mich neulich, ob ich nicht mit ihm mitkommen<br />

wolle, um … na ja. Das geht<br />

gar nicht. Den habe ich direkt aus dem<br />

Laden geschmissen. Ich habe aber bei<br />

meinem Arbeitgeber glücklicherweise<br />

einen Ansprechpartner, falls irgendwas<br />

im Laden oder im Team vorfallen sollte.<br />

Das hatten die Schauspielerinnen in<br />

Hollywood ja anscheinend nicht.“<br />

„Ich habe nicht angezeigt“<br />

Paula Deme, 33, Erzieherin und Bloggerin<br />

aus Zürich<br />

„Ein schleichender Prozess“<br />

Anonym, 35, aus Nordrhein-Westfalen<br />

„Mein Chef im Büro benutzt eine fürchterlich<br />

anzügliche Sprache. Bei uns ist<br />

im Moment eine Stelle zu besetzen, und<br />

er hat die Bewerbungen mit den gut aussehenden<br />

Frauen ganz oben auf den Stapel<br />

gelegt. Dazu macht er Kommentare<br />

wie: ‚Oh, auf die muss ich mich mit Viagra<br />

vorbereiten!‘ Bei uns arbeiten fast<br />

nur Frauen, und in solchen Momenten<br />

schweigen alle. Manchmal entgegne ich<br />

ihm lapidar, er könne sich solche Sätze<br />

doch sparen, aber ich bin darauf bedacht,<br />

nicht zu weit zu gehen. Ich will ja<br />

meinen Job behalten. Es ist grundsätzlich<br />

ein Problem, dass viele Frauen sich<br />

nicht wehren, weil sie die Konsequenzen<br />

scheuen. Als Teenager habe ich das in einer<br />

extremen Variante mit meinem Stiefvater<br />

erlebt. Als ich in der Pubertät<br />

weiblicher wurde, stand er plötzlich<br />

beim Abspülen ganz nah hinter mir, an<br />

einem anderen Tag strich er mir die Haare<br />

aus dem Gesicht, später gab er mir<br />

zwischendurch einen Kuss auf den Hals,<br />

dann griff er unter das T-Shirt, irgendwann<br />

streichelte er den Busen. Es war<br />

ein schleichender Prozess, schließlich<br />

ging er bis zum Äußersten. Ich solle es<br />

als unser Geheimnis ansehen, sagte er<br />

immer, und ich habe zwei Jahre lang geschwiegen.<br />

Bis heute wissen nur wenige,<br />

was geschehen ist. Deshalb möchte ich<br />

anonym bleiben. Damals habe ich nichts<br />

gesagt, weil ich mich für das Glück meiner<br />

Mutter mitverantwortlich fühlte, die<br />

Beziehung zu meinem leiblichen Vater<br />

war ja schon zerbrochen. Mein Stiefvater<br />

hat von mir abgelassen, als ich kein<br />

Wort mehr mit ihm redete. Meine Mutter<br />

erfuhr die Wahrheit erst auf einer Familienfeier.<br />

Ich hatte mir damals die<br />

Haare schwarz gefärbt, es sollte ein rebellischer<br />

Akt sein, und mein Stiefvater<br />

ereiferte sich darüber. Da habe ich ihm<br />

entgegengeschleudert, dass es mir vollkommen<br />

egal sei, was er von meinen<br />

Haaren halte und dass er an mich nicht<br />

mehr herankomme. Meine Mutter hat<br />

ihn trotzdem ein Jahr später geheiratet.<br />

Ich war bei der Hochzeit anwesend – ich<br />

wollte ja nicht die Familie zerstören. Die<br />

Ehe wurde ein Jahr später geschieden.<br />

Rückblickend belastet mich wirklich,<br />

dass ich mich nicht gewehrt habe. Wer<br />

weiß, ob er nicht Ruhe gegeben hätte,<br />

wenn ich ihm einfach mal zwischen die<br />

Beine getreten hätte. Ich kann nur allen<br />

raten: Wehrt euch. Immer!“<br />

„Mit 26 vergewaltigte mich mein damaliger<br />

Freund. Er war betrunken, ich<br />

auch. Wir kamen aus dem Klub, und er<br />

meinte, ich stünde ihm jetzt zu. Sonst<br />

würde ich mich ja auch nicht so zieren.<br />

Ich selbst konnte meine Vergewaltigung<br />

gar nicht einordnen. Die Grenze<br />

ist häufig nicht ganz klar, besonders in<br />

einer Beziehung. Er hat bis zum Ende<br />

nicht geglaubt, dass es eine Vergewaltigung<br />

war. Aber ich habe mich doch gewehrt.<br />

Das hat mich von innen aufgefressen,<br />

aber ich habe ihn damals nicht<br />

angezeigt. Ich hatte irgendwie Mitleid.<br />

Heute weiß ich, dass ich es hätte tun<br />

sollen. Voriges Jahr erst habe ich jemanden<br />

getroffen, der mir einen<br />

Schreibjob angeboten hat – und im<br />

nächsten Satz eine Affäre. Das ist<br />

Machtmissbrauch. Aber es heißt dann,<br />

man solle sich nicht anstellen.“<br />

Aufgezeichnet von Laura Backes, Annette Bruhns,<br />

Anna Clauß, Lukas Eberle, Frank Hornig,<br />

Maximilian Krone, Martin U. Müller, Lars-Thorben<br />

Niggehoff, Antonia Schaefer, Katja Thimm<br />

GIAN PAUL LOZZA<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

21


„Viele Männer sind überfordert“<br />

Geschlechter Die Journalistin Laura Himmelreich über Sexismus von älteren Männern gegenüber<br />

jüngeren Frauen – und darüber, was der #Aufschrei-Diskurs gebracht hat<br />

Himmelreich, 34, ist Chefredakteurin des<br />

Online-Jugendmagazins Vice.com. Sie wurde<br />

2013 bundesweit bekannt, als sie – damals<br />

noch als Politikredakteurin des „Stern“ – in<br />

einem Porträt des damaligen FDP-Fraktionsvorsitzenden<br />

Rainer Brüderle beschrieb, wie<br />

anzüglich er sich ihr gegenüber verhalten hatte.<br />

<strong>Der</strong> Fall löste eine Sexismusdebatte aus. Auf<br />

Twitter schilderten Tausende Frauen unter<br />

#Aufschrei ihre Erfahrungen.<br />

SPIEGEL: Frau Himmelreich, dürfen Männer<br />

Frauen in Zukunft keine Komplimente<br />

mehr machen?<br />

Himmelreich: Doch, natürlich. Das Problem<br />

von Sexismus besteht nicht darin, dass<br />

Menschen sich Komplimente machen. Das<br />

Problem ist, dass dabei oft die Grenze zum<br />

Unangenehmen überschritten wird. Wenn<br />

der Chef zu seiner Mitarbeiterin sagt, sie<br />

sehe bezaubernd aus, mag das nett gemeint<br />

sein. Gleichzeitig kann es sein, dass<br />

sie sich durch das Wort „bezaubernd“<br />

herab gesetzt und in ihrer beruflichen Posi -<br />

tion nicht ernst genommen fühlt. Beide<br />

Sichtweisen sind legitim.<br />

SPIEGEL: Wo verläuft diese Grenze?<br />

22 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Himmelreich: Wenn es einen Leitfaden gäbe,<br />

der für alle Menschen gleichermaßen funktionierte,<br />

wäre alles ganz einfach. Aber<br />

die Grenzen sind individuell. Wenn sich<br />

die Gesprächspartner nicht gut kennen,<br />

sollte man lieber etwas vorsichtiger als zu<br />

forsch sein.<br />

SPIEGEL: Können Sie verstehen, dass Männer<br />

verunsichert sind?<br />

Himmelreich: Wer wirklich verunsichert ist,<br />

kann einfach nachfragen: „Hey, ich finde,<br />

du siehst toll aus – ist es in Ordnung, wenn<br />

ich das so sage?“<br />

SPIEGEL: Umgekehrt könnten viele Frauen<br />

ihre Grenzen auch deutlicher kommunizieren.<br />

Himmelreich: Sie tun es bereits, aber das ist<br />

nicht immer so einfach. Wollen Sie wirklich,<br />

dass ständig Meetings unterbrochen<br />

werden, um darüber zu diskutieren, ob<br />

der flapsige Spruch des Kollegen jetzt angemessen<br />

war oder nicht? Den netten<br />

Plausch in der Kaffeeküche ausbremsen,<br />

weil der Blick über den Rand der Tasse hinaus<br />

Richtung Dekolleté gewandert ist?<br />

Ich finde es problematisch, die Verantwortung<br />

den Frauen zuzuschieben.<br />

GREY HUTTON / VICE<br />

SPIEGEL: Warum?<br />

Himmelreich: Weil wir Frauen Besseres zu<br />

tun haben, als ständig unsere Grenzen<br />

zu markieren. Weil es unser Recht ist,<br />

respekt voll behandelt zu werden. Nicht<br />

Frauen sind schuld, wenn sie Übergriffen<br />

ausgesetzt sind, sondern die Männer,<br />

die solche Übergriffe verüben. Außerdem<br />

ist es anstrengend, sich ständig fragen<br />

zu müssen: Wehre ich mich jetzt, oder<br />

könnte das unangenehme Konsequenzen<br />

haben?<br />

SPIEGEL: Inwiefern?<br />

Himmelreich: Wenn der Faktor Macht hinzukommt,<br />

wird es kompliziert, vor allem<br />

im Beruflichen. Es fällt schwerer, sich zu<br />

wehren, wenn man Nachteile für die Karriere<br />

fürchtet. Im Fall Weinstein sehen wir,<br />

dass ein starkes Machtgefälle dazu führt,<br />

dass Übergriffe spät öffentlich werden.<br />

SPIEGEL: Wieso entfachen die Geschichten<br />

über Weinstein, die weit weg in den USA<br />

und dazu im glamourösen Hollywood spielen,<br />

hierzulande so eine Debatte?<br />

Himmelreich: Weil Sexismus auch hier ein<br />

großes Problem ist. Er läuft nur normalerweise<br />

unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle<br />

ab, als Alltagsphänomen<br />

im Leben der meisten Frauen, oft ohne<br />

Konsequenzen für die Täter. Weinstein<br />

bekommt die Folgen zu spüren, das rüttelt<br />

die Leute auf. Probleme brauchen Ge -<br />

sichter, damit wir uns mit ihnen beschäftigen.<br />

Geschichten wie die von Angelina<br />

Jolie treffen uns, weil wir bei einer Frau,<br />

die Lara Croft war, nicht erwarten, dass<br />

sie ähnliche Erfahrungen macht wie viele<br />

von uns.<br />

SPIEGEL: Aber es ist doch ein Unterschied,<br />

ob ein Mann einer Frau auf der Straße hinterherpfeift<br />

oder Straftaten begeht wie<br />

mutmaßlich Harvey Weinstein.<br />

Himmelreich: Ja, sicher. Weinstein ist ein<br />

extremer Fall und weit schlimmer als das,<br />

was viele im Alltag erleben. Aber die Wurzel<br />

des Problems ist dieselbe: Sexismus in<br />

einer ungleichen Gesellschaft. Solange<br />

rund 70 Prozent aller Führungspositionen<br />

in deutschen Unternehmen mit Männern<br />

besetzt sind, solange der Anteil an weib -<br />

lichen Bundestagsabgeordneten so niedrig<br />

ist, solange in deutschen Film- und Fernsehproduktionen<br />

Männer deutlich über -<br />

repräsentiert sind, wie eine Studie im<br />

Auftrag der MaLisa-Stiftung von Maria<br />

Furtwängler neulich nachgewiesen hat, so<br />

lange haben wir keine gleichberechtigte<br />

Gesellschaft.


Titel<br />

SPIEGEL: Können Hashtag-Debatten wie<br />

#Aufschrei und jetzt #MeToo daran etwas<br />

ändern?<br />

Himmelreich: #Aufschrei hat definitiv etwas<br />

gebracht. Damals, 2013, wurde immer wieder<br />

über die Grundsatzfrage diskutiert:<br />

Gibt es Sexismus in Deutschland? Das<br />

fragt jetzt niemand mehr. Nun geht es eher<br />

darum, wie weit Sexismus in der Gesellschaft<br />

verbreitet ist. Im Bewusstsein der<br />

Menschen hat sich etwas verändert. Das<br />

ist der erste Schritt, einer von vielen. Solange<br />

unsere Gesellschaft nicht gleich -<br />

berechtigt ist, wird es alle paar Jahre neue<br />

Debatten über Sexismus geben.<br />

SPIEGEL: Die Geschichten, die unter #Aufschrei<br />

und #MeToo diskutiert werden, handeln<br />

oft von Grenzüberschreitungen älterer<br />

Männer gegenüber jüngeren Frauen.<br />

Ist Sexismus ein Generationenproblem?<br />

Himmelreich: Nicht nur. Aber ja: Wie Menschen<br />

sich verhalten, hängt von ihrer<br />

Sozialisierung ab. Wenn ein Mann jahrzehntelang<br />

in einer Welt gelebt hat, in der<br />

Frauen im Beruf überwiegend in zuarbeitenden,<br />

dienenden Funktionen auftreten<br />

und im Privatleben als attraktive, begehrenswerte<br />

Wesen, formt das sein Frauenbild.<br />

Wenn Frauen dann gleichberechtigt<br />

sein möchten, als Verhandlungspartner<br />

oder vielleicht sogar als Vorgesetzte, sind<br />

manche Männer überfordert – und stellen<br />

die gelernte Rangordnung etwa durch sexistische<br />

Kommentare wieder her, bewusst<br />

oder unbewusst.<br />

SPIEGEL: Gilt das auch für Weinstein?<br />

Himmelreich: Was er getan hat, ist nicht zu<br />

entschuldigen. Aber gerade in Hollywood<br />

ist das Problem besonders offensichtlich:<br />

Junge Frauen werden hier seit je extrem<br />

sexualisiert. In vielen Filmen sind sie eher<br />

schmückendes Beiwerk. Sie treffen jemanden<br />

wie Weinstein und wissen, dass er sie<br />

groß machen kann. Das ist ein irrsinniges<br />

Machtgefälle. Diese Macht war für Weinstein<br />

Alltag. Offenbar hat er sein Verhalten<br />

trotz des Schweigegeldes, das er Frauen<br />

zahlte, nie hinterfragt.<br />

SPIEGEL: Mit Ihrem Text, den Sie 2013 über<br />

Rainer Brüderle veröffentlicht haben, haben<br />

Sie sich gegen Sexismus gewehrt.<br />

Himmelreich: So sehe ich das nicht. Meine<br />

Aufgabe war es, den FDP-Fraktionsvorsitzenden<br />

über Monate zu begleiten und ihn<br />

zu porträtieren. In dieser Zeit hat er sich<br />

mir bei all unseren Treffen von dieser Seite<br />

gezeigt. Das prägte mein Bild. Und so habe<br />

ich ihn porträtiert. Dass der Text eine wochenlange<br />

Debatte auslöst, damit hatte ich<br />

nicht gerechnet.<br />

SPIEGEL: Wie haben Sie die folgenden Wochen<br />

erlebt?<br />

Himmelreich: Intensiv. Ich war 29 Jahre alt,<br />

die „Bild“-Zeitung druckte mein Gesicht<br />

auf der Titelseite, in Talkshows wurde über<br />

meine Entscheidung debattiert. Natürlich<br />

wühlt das auf.<br />

Sexuelle Übergriffe<br />

„Wie häufig haben Sie an Ihrem Arbeitsplatz<br />

folgende Situation selbst erlebt?“<br />

Angaben in Prozent<br />

Zweideutige Kommentare,<br />

Witze mit sexuellem Bezug<br />

39<br />

Bemerkungen mit<br />

sexuellem Inhalt<br />

28<br />

Unangemessene Fragen mit sexuellem Bezug<br />

zu Privatleben, Aussehen<br />

22<br />

Unerwünschte körperliche Annäherung,<br />

Berührung<br />

19<br />

Unerwünschte Umarmung, Küsse<br />

13<br />

Umfrage im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 1002 Befragte,<br />

28. November 2014 bis 2. Januar 2015, angegeben ist die Summe<br />

aus „oft/gelegentlich/selten“ bei den weiblichen Befragten<br />

SPIEGEL: Wie waren die Reaktionen?<br />

Himmelreich: Extrem unterschiedlich. Im<br />

Netz wurde ich teilweise aufs Übelste beschimpft.<br />

Gleichzeitig kam auf einer Party<br />

eine Mitarbeiterin des Bundestags auf<br />

mich zu, umarmte mich und gab mir den<br />

ganzen Abend Drinks aus.<br />

SPIEGEL: Klingt absurd.<br />

Himmelreich: War es auch. Aber mir war<br />

schnell klar: Es ging nicht um mich als<br />

Person. Die Menschen haben ihre Erfahrungen,<br />

die sie mit Sexismus gemacht haben,<br />

auf mich und Rainer Brüderle pro -<br />

jiziert.<br />

SPIEGEL: Hat Ihre plötzliche Bekanntheit<br />

Ihre Arbeit als Journalistin erleichtert?<br />

Himmelreich: Erst mal nicht. Sie hat mir die<br />

Leichtigkeit genommen, Unbefangenheit.<br />

Ich wusste ja: Plötzlich kennen mich so<br />

viele Menschen – und sie hatten eine Meinung<br />

zu dem, was ich geschrieben habe,<br />

vor allem natürlich in der FDP. Die wenigsten,<br />

die mein Verhalten nicht in Ordnung<br />

fanden, haben das offen gesagt. Ich<br />

weiß deshalb, dass die Reaktionen, die ich<br />

persönlich erfahren habe, kein repräsentatives<br />

Meinungsbild abgegeben haben.<br />

Heute als Chefredakteurin einer Onlineredaktion<br />

merke ich, dass mir die Erfahrung<br />

von damals hilft, bei Shitstorms gelassen<br />

zu bleiben und Hass im Netz nicht<br />

überzubewerten.<br />

SPIEGEL: Wenige Monate nach der #Aufschrei-Debatte<br />

flog die FDP aus dem Bundestag.<br />

Rainer Brüderle beendete seine<br />

politi sche Karriere.<br />

Himmelreich: Ich glaube nicht, dass die<br />

Wahlniederlage der FDP maßgeblich etwas<br />

mit dem Text zu tun hatte. Die Partei hat<br />

damals auch so genug Fehler gemacht.<br />

Und was Brüderle angeht: Er hat tatsächlich<br />

einen hohen Preis bezahlt für etwas,<br />

was bei Millionen anderen Männern konsequenzenlos<br />

bleibt.<br />

SPIEGEL: War das fair?<br />

Himmelreich: Männer in solchen Positionen<br />

sollten wissen, wie man sich professionell<br />

verhält – und dass es ihnen schaden kann,<br />

wenn sie es nicht tun.<br />

SPIEGEL: Haben Sie mit Rainer Brüderle danach<br />

noch mal gesprochen?<br />

Himmelreich: Das hat sich nicht ergeben.<br />

SPIEGEL: Begegnet Ihnen das Thema im Alltag<br />

noch?<br />

Himmelreich: Diese Debatte wird immer<br />

Teil meiner beruflichen Biografie bleiben.<br />

Wenn man meinen Namen im Internet<br />

sucht, ergänzt Google automatisch das<br />

Wort „Dekolleté“, was als Kombination<br />

offensichtlich eine häufige Suchanfrage ist.<br />

Natürlich wäre es mir lieber, die Menschen<br />

interessierten sich vor allem für meine Arbeit<br />

als Journalistin und nicht für meine<br />

Brüste.<br />

SPIEGEL: Jungen Frauen wird immer wieder<br />

vorgeworfen, sie würden beruflich von<br />

ihrer Attraktivität profitieren.<br />

Himmelreich: Hat es mir genutzt, als junge<br />

Frau über eine männerdominierte Partei<br />

wie die FDP zu schreiben? Gut möglich.<br />

Nutzt es mir jetzt, dass ich einige der wenigen<br />

jungen Frauen in einer Führungs -<br />

position bin? Sicherlich, ich werde häufig<br />

zu Talkrunden oder Podiumsdiskussionen<br />

eingeladen, weil Frauen dort unterrepräsentiert<br />

sind. Ich kann mir aber nicht aussuchen,<br />

dass ich zufällig eine junge Frau bin.<br />

SPIEGEL: Aber setzen Sie es bewusst ein?<br />

Himmelreich: Nein, das tue ich nicht. Ich<br />

gebe mich so, wie ich bin. Ich trage gern<br />

hohe Schuhe und mag mich lieber mit<br />

Make-up als ohne. Ich sehe auch nicht, warum<br />

ich das ändern sollte. Frauen sollten<br />

sich nicht anpassen – Männern sollten sich<br />

respektvoll benehmen.<br />

SPIEGEL: Als Chefredakteurin bei Vice.com<br />

leiten Sie heute selbst eine Redaktion mit<br />

50 Mitgliedern. Behandeln Sie alle gleich?<br />

Himmelreich: Ich mache mir über diese Frage<br />

viele Gedanken. Bestimmt mache ich<br />

auch mal Fehler. Aber ich bin mir sicher,<br />

ich behandle Mitarbeiter nicht unter -<br />

schiedlich aufgrund ihres Geschlechts.<br />

Und: Ich werde nie das Bedürfnis haben,<br />

mit männlichen Mitarbeitern über ihren<br />

Hintern zu sprechen.<br />

Interview: Miriam Olbrisch<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

23


Titel<br />

Debatte<br />

Harvey Weinstein und wir<br />

Die Frauen haben den Feminismus – und die Männer? Sind verunsichert.<br />

Geführt und erlebt<br />

wird die Debatte<br />

von vielen Männern<br />

allenfalls als<br />

Rückzugsgefecht.<br />

Sie halten sich raus.<br />

Filmproduzent Weinstein<br />

BERTRAND LANGLOIS / AFP<br />

Die Männer müssen jetzt<br />

erst einmal schweigen. Sicher,<br />

es gibt auch männ -<br />

liche Opfer sexueller Übergriffe.<br />

Auch Jungen werden häufig missbraucht.<br />

Und sie sind, jeder einzelne,<br />

nicht weniger Opfer, nur weil<br />

sie Männer sind.<br />

Aber darum geht es jetzt nicht.<br />

Die Enthüllungen über den Filmproduzenten<br />

Harvey Weinstein haben<br />

eine solche Wucht, weil sie<br />

einen Mann als Täter und viele<br />

Frauen als Opfer zeigen. Weil die<br />

Übergriffe bei Weinstein offenbar<br />

System hatten und weil sich, je<br />

mehr Frauen über das berichten,<br />

was ihnen anderswo geschah, der<br />

Verdacht kaum noch abweisen<br />

lässt, dass Männer überhaupt viel<br />

zu oft und viel zu gern ihre Macht<br />

über Frauen ausnutzen.<br />

<strong>Der</strong> Verdacht, dass es nicht nur<br />

ein Problem Weinstein gibt, sondern<br />

ein Problem Mann.<br />

Die erste Reaktion kann da nur<br />

sein: zuzuhören, die Klappe zu halten.<br />

Und: zu akzeptieren, dass es sich nicht nur um ein<br />

paar Bürogeschichten aus der Vorzeit handelt, nicht nur<br />

um ein paar Machenschaften im fernen Hollywood.<br />

Und die zweite muss sein: zu versuchen, den Ausweichmechanismen,<br />

die instinktiv einsetzen, selbst auszuweichen.<br />

Man kann sich von diesen Reflexen<br />

als Mann kaum freimachen. Von<br />

diesem: Es ist doch schon viel besser<br />

geworden. Diesem: Die meisten Männer<br />

sind doch nette Kerle. Diesem: Das<br />

muss eine Verwechslung sein, ich bin<br />

nicht Harvey Weinstein.<br />

Die auffälligste Beobachtung der vergangenen<br />

Tage ist: So gut wie jeder<br />

Mann fühlt sich angegriffen. Nicht direkt,<br />

aber unterschwellig. Nicht persönlich,<br />

aber politisch. Gesellschaftlich. Sofort greift der Verteidigungsreflex.<br />

Zwischen: Ich bin kein Vergewaltiger.<br />

Und: Ist es jetzt schon verboten, einer Frau Komplimente<br />

zu machen? Und die ganz Cleveren überkompensieren<br />

ihr Unwohlsein, indem sie den notorischen Frauenversteher<br />

und leider auch Frauenerklärer geben.<br />

Die Aufgabe aber, die jetzt auf die Männer zukommt,<br />

ist eine andere. Es ist das Männerverstehen und Männererklären.<br />

Und das kann durchaus schmerzhaft werden.<br />

Da geht es sehr wohl um Weinstein und uns. Um die<br />

Verbindung von Status und Sex, Geld und Sex, Macht<br />

und Sex. Um Männlichkeit, um männlichen Erfolg und<br />

seine Symbole.<br />

Um Frauen als Symbol für männlichen Erfolg etwa.<br />

<strong>Der</strong> schier endlose Reigen von Bildern, auf denen Weinstein<br />

weibliche Filmstars im Arm<br />

hält – ist der erst mit dem Wissen<br />

von heute problematisch? Oder<br />

war er nicht schon immer der sichtbare<br />

Auswuchs eines Systems, in<br />

dem die Frau zur Trophäe mächtiger<br />

Männer degradiert wird?<br />

Und gehören die, die Frauen als<br />

Trophäen männlichen Erfolgs akzeptieren,<br />

nicht selbst schon zum<br />

System? Schaffen Männer das Umfeld,<br />

in dem andere Männer sich<br />

dann so benehmen können, wie es<br />

Weinstein tat? Und schaffen Frauen<br />

dieses Umfeld nicht auch? Und<br />

darf man das als Mann sagen?<br />

Genau da wird es hakelig. Genau<br />

da beginnt die neue Unsicherheit<br />

der Männer. Ob ein Kompliment<br />

nett gemeint ist oder an -<br />

züglich, darüber lässt sich reden.<br />

Was verboten sein sollte, dürfte<br />

sich klären lassen. Aber in welcher<br />

Weise sich das Selbstverständnis<br />

der Männer ändern muss,<br />

darüber hat die Debatte kaum<br />

begonnen.<br />

Geführt und erlebt wird sie von vielen Männern allenfalls<br />

als Rückzugsgefecht. Sie sind irritiert, verunsichert,<br />

sie halten sich raus. Die Frauen dagegen erobern in einem<br />

zähen Kampf Millimeter um Millimeter gesellschaftliche<br />

Räume. Sie wehren sich. Sie bestimmen den Diskurs.<br />

Und das hat seinen Grund. Frauen denken seit Jahrzehnten<br />

über das Frausein nach. <strong>Der</strong> Feminismus hat<br />

eine Debattendichte erreicht, deren Verästelung manchmal<br />

absurd erscheint, die aber Frauen eine Vielzahl von<br />

Angeboten macht auf die Frage: Welche Frau willst du<br />

eigentlich sein?<br />

<strong>Der</strong> Diskurs der Männer ist im Grunde nie über das hinausgekommen,<br />

was Herbert Grönemeyer 1984 zu der<br />

Frage „Wann ist ein Mann ein Mann?“ ironisch textete:<br />

„Männer kaufen Frauen. Männer kriegen dünnes Haar.“<br />

Es gibt nicht einmal einen Begriff. <strong>Der</strong> „Maskulinismus“<br />

ist bloß eine Rückwärtsbewegung, die Machomacht verteidigen<br />

will. Und überdies bedeutungslos.<br />

Ein wirklicher Diskurs über Männlichkeit wäre anstrengend.<br />

Weil es ja nicht darum geht, alles Männliche einfach<br />

abzuschleifen, das Eigene in politischer Überkorrektheit<br />

zu ersticken oder schlicht eine bessere Frau zu werden,<br />

nur eben als Mann. Macht und Status und Geld und Sex<br />

sind ja keine an sich verabscheuungswürdigen Ziele. Und<br />

sich etwas zu erarbeiten, zu erkämpfen und stolz darauf<br />

zu sein, das können Männer durchaus auch weiter als<br />

männlich begreifen.<br />

Die Männer sollten schlicht aufhören, immer die Frauen<br />

um Auskunft zu bitten. Sie sollten endlich anfangen,<br />

über sich selbst nachzudenken und sich zu fragen: Welcher<br />

Mann willst du eigentlich sein? Markus Brauck<br />

24 DER SPIEGEL 43 / 2017


Deutschland<br />

Israelisches U-Boot aus deutscher Produktion in Haifa 2014<br />

XINHUA / IMAGO<br />

Waffenexporte<br />

U-Boot-Verkauf nach Israel mit Klausel<br />

Bundesregierung macht den Deal von Korruptionsaufklärung abhängig.<br />

Die Bundesregierung hat dem umstrittenen Verkauf von drei<br />

U-Booten an Israel zugestimmt – allerdings unter strengen<br />

Auflagen. Am Donnerstag einigten sich Kanzleramt, Aus -<br />

wärtiges Amt und das Verteidigungsministerium darauf, ein<br />

sogenanntes Memorandum of Understanding (MoU) mit der<br />

israelischen Regierung zu unterzeichnen, das sich ungewöhnlich<br />

scharf gegen Korruption richtet. Grund sind Bestechungs -<br />

vorwürfe gegen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sowie<br />

Berater und Vertraute des israelischen Regierungschefs.<br />

Bevor die U-Boote geliefert werden könnten, müssten<br />

sämt liche Ermittlungen eingestellt und alle Verdachtsmomente<br />

ausgeräumt sein, heißt es in Paragraf 10 des MoU. Das genaue<br />

Verfahren soll in gegenseitigen Briefen geregelt werden.<br />

In dem Notenaustausch behält sich die Bundesregierung<br />

das Recht vor, die U-Boote selbst dann nicht zu liefern,<br />

wenn die israelische Regierung die Affäre einseitig für<br />

beendet erklärt. Bedingung sei, dass auch der israelische<br />

Generalstaatsanwalt die Einstellung aller Ermittlungen<br />

be stätige und dass die Bundesregierung ihrerseits die Affäre<br />

für beendet hält. red<br />

Bonn-Berlin-Pendler<br />

Skypen statt fliegen<br />

Das Ende der Fluggesellschaft<br />

Air Berlin droht die<br />

Funktionsfähigkeit der Bundesregierung<br />

einzuschränken.<br />

Die insolvente Airline hatte<br />

einen beträchtlichen Teil der<br />

ministerialen Bonn-Berlin-<br />

Pendler auf Grundlage eines<br />

Vertrags mit dem Bundes -<br />

verkehrsministerium befördert.<br />

Das Ministerium muss<br />

nun den „Beamten-Shuttle“<br />

neu ausschreiben – vor<br />

Herbst 2018 werden die<br />

neuen Flieger aber kaum ab -<br />

heben. Bis dahin sollen die<br />

Beschäftigten Dienstreisen<br />

auf das „notwendige Maß“<br />

beschränken, heißt es in einer<br />

ministerialen Dienstanweisung;<br />

insbesondere sei die<br />

„Durchführung des Dienst -<br />

geschäfts über Video- und<br />

Telefonkonferenz“ vorzuziehen.<br />

Zudem wird zur fünfstündigen<br />

Anreise mit der<br />

Deutschen Bahn geraten,<br />

auch wenn dies mit einer<br />

Übernachtung verbunden<br />

sein sollte.<br />

Im Jahr 2015 waren Bundesbeamte<br />

33 307-mal zwischen<br />

Berlin und Bonn geflogen.<br />

Ein Regierungsbericht hatte<br />

im Februar eintägige Dienstreisen<br />

„häufig als besonders<br />

ineffizient“ bewertet. kn<br />

26 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel


Deutschland<br />

Fake News<br />

Desinformation<br />

verfängt<br />

Falschmeldungen in sozialen<br />

Netzwerken wie Facebook<br />

erzielen oft die gewünschte<br />

Wirkung, wie eine Studie<br />

zeigt. Die Berliner Denk -<br />

fabrik „Stiftung Neue Verantwortung“<br />

konfrontierte Bürger<br />

mit ausgewählten Falschnachrichten,<br />

die im Wahlkampf<br />

eine Rolle gespielt<br />

hatten. Ergebnis: Bei AfD-<br />

Wählern war die Bereitschaft,<br />

Fake News zu glauben, am<br />

größten. 75 Prozent der befragten<br />

Rechtswähler hielten<br />

etwa die Falschmeldung, dass<br />

jeder zweite Flüchtling keinen<br />

Schulabschluss habe, für<br />

wahr. Bei Grünen-Wählern<br />

waren es 40 Prozent. Die unzutreffende<br />

Behauptung, Kirchenfrau<br />

Margot Käßmann<br />

habe alle Deutsche Nazis<br />

genannt, hielt ein Viertel der<br />

Demonstrant in Brandenburg<br />

PAUL ZINKEN / DPA<br />

AfD-Wähler für glaubwürdig<br />

– gegenüber fünf Prozent<br />

der Grünen-Anhänger. „Geglaubt<br />

wird, was ins Weltbild<br />

passt“, so das Fazit von<br />

Alexander Sängerlaub, Leiter<br />

des Fake-News-Projekts. Umgekehrt<br />

hatten es echte News<br />

bei AfD-Wählern besonders<br />

schwer: Über die Hälfte hielt<br />

die Forderung von SPD-Kanzlerkandidat<br />

Martin Schulz<br />

nach einem „Arbeitslosengeld<br />

Q“ für Fake News. rom<br />

<strong>Der</strong>adikalisierung<br />

Schwäbischer<br />

Scharlatan<br />

Betrugsverdacht gegen einen<br />

Referenten des baden-württembergischen<br />

Innenministeriums:<br />

<strong>Der</strong> für <strong>Der</strong>adikalisierung<br />

zuständige Mitarbeiter<br />

Daniel Köhler soll dem Vater<br />

einer niederländischen Salafistin<br />

eine Rettungsaktion aus<br />

der früheren irakischen IS-<br />

Hochburg Mossul nur vor -<br />

gegaukelt haben. „Köhler hat<br />

das Leben von Laura und<br />

ihren Kindern aufs Spiel<br />

gesetzt und die Familie betro-<br />

Einwanderung<br />

„Flüchtlinge heißen<br />

wir willkommen“<br />

Daniel Günther, 44 (CDU), Ministerpräsident<br />

von Schleswig-<br />

Holstein, über die liberale Haltung<br />

seiner Jamaikaregierung<br />

gegenüber Migranten<br />

SPIEGEL: Herr Günther, Ihre<br />

Landes-CDU hat der Grünen-<br />

Forderung nach einer Er -<br />

leichterung des Nachzugs von<br />

Familienangehörigen der<br />

Flüchtlinge nachgegeben –<br />

Kiels Jamaikabündnis will<br />

sich laut Koalitionsvertrag<br />

dafür im Bund einsetzen.<br />

Warum?<br />

Günther: Das gilt für Flüchtlinge,<br />

die in ihrer Heimat ernsthaft<br />

gefährdet sind und daher<br />

absehbar länger bei uns bleiben<br />

werden. Wir haben ein<br />

klares Prinzip vereinbart:<br />

Wir heißen Flüchtlinge willkommen<br />

und erwarten im<br />

gen. Er ist ein Scharlatan“,<br />

sagt Anwalt Michiel Pestmann,<br />

der die junge Frau im<br />

Terrorprozess in Rotterdam<br />

vertritt. Bei ihrer Flucht aus<br />

Mossul war die Salafistin<br />

samt ihrer Familie in ein Feuer -<br />

gefecht zwischen IS-Kämpfern<br />

und kurdischen Milizen<br />

geraten. Ihr Mann blieb nach<br />

Aussage von Laura H. schwer<br />

verletzt zurück (SPIEGEL<br />

21/2017).<br />

Köhler hatte H.s Vater gegenüber<br />

behauptet, er habe<br />

ein professionelles Team im<br />

Irak. Laura werde aus Mossul<br />

abgeholt. Doch dieses Team<br />

Gegenzug Integrationsbereitschaft.<br />

Wer Partner und Kinder<br />

in Krisengebieten zurücklassen<br />

muss, hat nicht den<br />

Kopf für Deutschkurse frei.<br />

SPIEGEL: Ihre schwarz-grüngelbe<br />

Regierung will sich<br />

auch für ein Einwanderungsgesetz<br />

starkmachen. Was<br />

erwarten Sie sich davon?<br />

Günther: Angesichts<br />

des Fachkräftemangels<br />

müssen wir endlich<br />

die Möglichkeit<br />

schaffen, Zuwanderung<br />

an unserem<br />

Bedarf auszurichten.<br />

Weil wir kein modernes<br />

Einwanderungsrecht<br />

haben, kommen Menschen<br />

auf der Suche nach<br />

Arbeit als Flüchtlinge und<br />

bleiben zum Teil jahrelang im<br />

Asylsystem hängen. Das wollen<br />

wir ändern. Zugleich stellen<br />

viele Asylanträge, die keinerlei<br />

Aussicht auf Erfolg haben.<br />

Sie wünschen sich – wer<br />

existierte offenbar nicht; die<br />

Familie war im Juli 2016 bei<br />

ihrer Flucht völlig allein. Auf<br />

Anweisung Köhlers hatte der<br />

Vater 10 000 Euro auf ein britisches<br />

Konto überwiesen. Das<br />

Geld verschwand in dunklen<br />

Kanälen. <strong>Der</strong> britische Empfänger<br />

sagte zur Polizei, er<br />

habe einen Teil behalten und<br />

den Rest an einen Mann<br />

namens „Alastair“ weiter -<br />

gegeben; Nachnamen oder<br />

Kontaktadresse kenne er nicht.<br />

Köhler bestreitet den Betrugsvorwurf<br />

und behauptet, er<br />

sei nur ehrenamtlich für die<br />

Familie tätig gewesen. gud<br />

tut das nicht – hier ein besseres<br />

Leben, werden in ihrer<br />

Heimat aber nicht verfolgt.<br />

Daher dürfen sie bisher nicht<br />

bleiben – auch dann nicht,<br />

wenn sie dank beruflicher<br />

Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt<br />

gebraucht würden.<br />

SPIEGEL: Wie beurteilen Sie<br />

die Chancen, dass Jamaika im<br />

Bund sich auf ähnliche<br />

Ziele wie Ihr Landesbündnis<br />

in der Flüchtlingsfrage<br />

verständigt?<br />

Günther: Jamaika in<br />

Kiel zeigt, dass die<br />

Flüchtlingspolitik von<br />

CDU, FDP und Grünen<br />

sich optimal ergänzen<br />

kann. Voraussetzung<br />

ist, dass die Verhandlungspartner<br />

sich zuhören, gemeinsame<br />

Ziele formulieren und dann<br />

gucken, wie man sie erreichen<br />

kann. Dann passt ganz viel zusammen,<br />

was man vorher gegenseitig<br />

in Bausch und Bogen<br />

verdammt hat. ab<br />

CARSTEN REHDER / DPA<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

Ruhigere Zeiten für<br />

Steuersünder?<br />

<strong>Der</strong> Steuerfahndung Wuppertal,<br />

Deutschlands gefürchtete<br />

Anti-Betrugs-Einheit, wird<br />

die Schlagkraft genommen.<br />

Für Unmut sorgt in der Behörde<br />

eine Stellenausschreibung,<br />

in der ein neuer Leiter<br />

gesucht wird – obwohl eine<br />

bewährte Kraft das Fahndungsteam<br />

derzeit leitet. Im<br />

Juni ging der legendäre Chef<br />

Peter Beckhoff in den Ruhestand.<br />

Seine Arbeit hat dem<br />

Staat rund sieben Milliarden<br />

Euro eingebracht – an nachgezahlten<br />

Geldern von Steuersündern<br />

und Geldbußen<br />

von Banken. <strong>Der</strong> damalige Finanzminister<br />

Norbert Walter-<br />

Borjans (SPD) entschied, dass<br />

Beckhoffs im Ankauf von Daten<br />

erfahrene Stellvertreterin<br />

Sandra Höfer-Grosjean seinen<br />

Posten übernehmen sollte,<br />

um die Arbeitsfähigkeit<br />

der Abteilung zu gewähr -<br />

leisten – wohl wissend, dass<br />

in der Finanzverwaltung laut<br />

einer Uraltvorschrift nur<br />

jemand Leiter werden kann,<br />

der bereits bei einem anderen<br />

Finanzamt gearbeitet hat.<br />

Höfer-Grosjean wurde offenbar<br />

gegen den Willen der<br />

mächtigen Oberfinanzdirek -<br />

tion kommissarisch ernannt<br />

und sollte Ende 2018 offiziell<br />

die Stelle erhalten. Das rächt<br />

sich nun: Die neue schwarzgelbe<br />

Landesregierung fühlt<br />

sich nicht an die Entscheidung<br />

ihrer Vorgänger gebunden.<br />

Insbesondere der FDP<br />

ist der Ankauf der Daten ein<br />

Dorn im Auge. bas<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

27


Deutschland<br />

Zeitgeschichte<br />

Kein Geld für<br />

„Landshut“<br />

Mit großem Brimborium<br />

wurde Ende September das<br />

Wrack der 1977 von Terroristen<br />

entführten Lufthansa-<br />

Maschine „Landshut“ aus<br />

Brasilien nach Deutschland<br />

geholt – doch für die geplante<br />

Ausstellung in Friedrichshafen<br />

fehlt das Geld. Das<br />

Industriepolitik<br />

Lex Telekom<br />

Die Bundesregierung macht<br />

sich während der letzten Tagen<br />

ihrer Amtszeit in Brüssel<br />

für Interessen der Deutschen<br />

Telekom stark, die noch zu<br />

rund 32 Prozent in Staatsbesitz<br />

ist. Es geht um den Ausbau<br />

der Datennetze.<br />

Mit Datum 10. Oktober<br />

schickte das Bundeswirtschaftsministerium<br />

eine Weisung für Verhandlungen<br />

über ein<br />

neues Telekom-Paket<br />

nach Brüssel. Deutschland<br />

setzte daraufhin<br />

im Europäischen Rat<br />

durch, dass große Anbieter<br />

wie die Telekom<br />

für bis zu sieben Jahren<br />

von Regulierungen<br />

private Dornier-Museum in<br />

Friedrichshafen will das Flugzeug<br />

in einer fünf Millionen<br />

Euro teuren Halle präsentieren,<br />

die der Staat bezahlen<br />

soll. Außenminister Sigmar<br />

Gabriel (SPD) hatte mit Kulturstaatsministerin<br />

Monika<br />

Grütters (CDU) aber nur vereinbart,<br />

sein Amt zahle den<br />

Heimtransport und Grütters<br />

Behörde die Restaurierung<br />

des Wracks. Grütters weigert<br />

befreit werden können.<br />

Dafür müssten die Konzerne<br />

Wettbewerbern lediglich<br />

anbieten, bei Projekten zum<br />

Netzausbau mitzumachen –<br />

ob diese zustande kommen,<br />

ist dabei nicht relevant.<br />

Die Telekom fordert seit<br />

Jahren, im Gegenzug für den<br />

weiteren Breitbandausbau<br />

Messeauftritt der Telekom in Hannover<br />

„Landshut“-Wrack in Friedrichshafen<br />

sich, weitere Kosten zu<br />

übernehmen, das Auswärtige<br />

Amt wiederum hat keine<br />

Haushaltstitel, um den Bau<br />

des Hangars zu finanzieren.<br />

Museumsdirektor David<br />

Dornier hofft auf Spenden,<br />

doch das Kalkül geht offenbar<br />

nicht auf. Eine gemein -<br />

same Spendenkampagne mit<br />

der „Bild“-Zeitung hat<br />

bislang nur rund 70 000 Euro<br />

eingebracht. csc<br />

von Wettbewerbsauflagen<br />

befreit zu werden. Jürgen<br />

Grützner, Chef des Verbands<br />

privater Telekom-Konkur -<br />

renten VATM, rügt die neue<br />

Ratsposition als „Lex Telekom“:<br />

„Die Regierung versucht,<br />

auf den letzten Metern<br />

Fakten zu schaffen und<br />

sieben Jahre Regulierungspause<br />

zugunsten der<br />

Telekom durchzusetzen.“<br />

Das Wirtschaftsministerium<br />

spricht<br />

auf Nachfrage von<br />

„Regulierungserleichterungen“<br />

für „begrenzte<br />

Zeit“. Dadurch<br />

würde „ein Ausbau,<br />

der sonst voraussichtlich<br />

gar nicht stattgefunden<br />

hätte, für die<br />

Unternehmen finanziell<br />

attraktiver“. gt, rom<br />

ELMAR KREMSER / SVEN SIMON / PA / DPA<br />

ANDREAS FRIEDRIC / 7AKTUELL / IMAGO<br />

Bamf<br />

Frühe Hinweise auf<br />

Türkeispitzel<br />

Das Bundesamt für Migra -<br />

tion und Flüchtlinge (Bamf)<br />

hat bereits Anfang August<br />

Hinweise erhalten, wonach<br />

türkischstämmige Bamf-Mitarbeiter<br />

Informationen über<br />

türkische Asylbewerber an<br />

regierungsnahe Medien in der<br />

Türkei verraten haben könnten.<br />

<strong>Der</strong> CDU-Europaabgeordnete<br />

Axel Voss hatte den<br />

Verdacht in einem Brief an<br />

die Präsidentin des Bundesamts,<br />

Jutta Cordt, ge äußert.<br />

Grund war ein Artikel in der<br />

AKP-nahen türkischen Tageszeitung<br />

„Yeni Akit“ vom<br />

9. Mai. Darin wird behauptet,<br />

Anhänger der Bewegung<br />

des Predigers Fethullah<br />

Gülen würden in Deutschland<br />

„mit offenen Armen<br />

aufgenommen“ und ein<br />

„monat liches Gehalt von<br />

2000 bis 5000 Euro“ erhalten.<br />

<strong>Der</strong> türkische Präsident<br />

Recep Tayyip Erdoğan bezeichnet<br />

die Gülen-Bewegung<br />

als Terrororganisation<br />

(„Fetö“).<br />

In dem Zeitungsbericht<br />

werden 17 Namen von türkischen<br />

Bürgern genannt, die<br />

in Deutschland Asyl beantragt<br />

hätten. Dazu wurden<br />

die Namen von zwei Helfern<br />

veröffentlicht, die in Dortmund<br />

„bei den Asylbear -<br />

beitungen der Fetö-Verräter -<br />

namen“ behilflich seien.<br />

CDU-Politiker Voss befürchtete<br />

schon damals, die Indiskretionen<br />

könnten von Mitarbeitern<br />

oder Dolmetschern<br />

aus deutschen Behörden<br />

stammen, und wies auf drohende<br />

Repressalien für die<br />

Angehörigen der Betroffenen<br />

in der Türkei hin.<br />

Über ähnliche Fälle hatten<br />

vergangene Woche der<br />

SPIEGEL und „Report Mainz“<br />

berichtet. Das Bundesamt<br />

für Migration teilt mit, nur<br />

ein Teil der veröffentlichten<br />

Namen seien zum damaligen<br />

Zeitpunkt im Asylverfahren<br />

existent gewesen. Es prüfe<br />

„die Sachverhalte sehr<br />

sorgfältig“ und leite „wo erforderlich<br />

auch Maßnahmen<br />

ein“. kno<br />

28 DER SPIEGEL 43 / 2017


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7iÀÌiiÀÌÌiÌ>V,6"®ÈÓÉÓäänLâÜ°,näÉ£ÓÈnÉ7°


Deutschland<br />

„Das Risiko<br />

ist erheblich“<br />

Verteidigung In einem Geheimbericht warnt die Nato<br />

davor, dass man einem Angriff Russlands nicht<br />

gewachsen sei. Führende Militärs fordern eine Rückkehr<br />

zu den Kommandostrukturen des Kalten Krieges.<br />

Manöverbeobachter Putin<br />

Die Zeit der Friedensdividende ist vorbei<br />

30 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Das 2. Kavallerie-Regiment ist einer<br />

der ältesten Verbände der US-Armee.<br />

Schon 1846 kämpften Soldaten<br />

der Einheit gegen die Mexikaner. In<br />

den Indianerkriegen zwei Jahrzehnte später<br />

geriet ein Teil des Regiments in einen<br />

Hinterhalt und wurde skalpiert. 1905 schlugen<br />

die Kavalleristen einen Aufstand auf<br />

den Philippinen nieder. Die Truppe war<br />

in zwei Weltkriegen im Einsatz und wurde<br />

mehrmals in den Irak und nach Afghanistan<br />

verlegt.<br />

Am 18. Juli 2017 traf die 1. Schwadron<br />

des stolzen Regiments auf einen Gegner,<br />

dem sie nicht gewachsen war. An der rumänisch-bulgarischen<br />

Grenze staute sich<br />

der Konvoi der US-Kavallerie vor einem<br />

Grenzübergang. „Anderthalb Stunden saßen<br />

wir in unseren Panzern in der Sonne<br />

und warteten auf irgendwelche Typen, die<br />

mit der Hand unsere Papiere abstempeln<br />

mussten“, zitiert der amerikanische Onlinedienst<br />

Defense One Colonel Patrick Ellis,<br />

den Kommandeur der Einheit.<br />

Was in Friedenszeiten wie eine Posse<br />

wirkt, könnte im Ernstfall die Verteidigungsfähigkeit<br />

der Nato infrage stellen.<br />

Seit der russischen Annexion der Krim<br />

2014 bereitet sich das westliche Bündnis<br />

darauf vor, das eigene Gebiet notfalls wieder<br />

gegen einen Aggressor zu verteidigen.<br />

Doch die Grenzbürokratien der 29 Mitgliedstaaten<br />

bremsen Truppenkonvois vermutlich<br />

effizienter aus als jede russische<br />

Panzersperre. Und das Problem ist nicht<br />

allein die Bürokratie.<br />

Seit Ende Juni kursiert im Brüsseler<br />

Hauptquartier der Allianz ein geheimer<br />

Report („NATO SECRET“), der die Schwächen<br />

des Bündnisses schonungslos benennt.<br />

Unter dem unverfänglichen Titel<br />

„Fortschrittsbericht über das verstärkte<br />

Abschreckungs- und Verteidigungsdisposi -<br />

tiv der Allianz“ kommen die Autoren zu<br />

einem dramatischen Befund: „Die Fähigkeit<br />

der Nato, die schnelle Verstärkung<br />

im stark erweiterten Territorium des Verantwortungsbereichs<br />

des Oberbefehlshabers<br />

für Europa logistisch zu unterstützen,<br />

ist seit dem Ende des Kalten Krieges<br />

atrophiert.“<br />

Atrophie nennen Mediziner den<br />

Schwund von Gewebe, der etwa eintritt,<br />

wenn ein Arm eingegipst ist. Es dauert<br />

lange, bis die alte Funktionsfähigkeit wiederhergestellt<br />

ist. 27 Jahre nach Ende des<br />

Kalten Krieges ist die logistische Infrastruktur<br />

der Nato offenbar in einem ähnlichen<br />

Zustand: nur bedingt abwehrbereit.<br />

Es fehlt an fast allem: an Tiefladern für<br />

Panzer, Bahnwaggons für schweres Gerät,<br />

modernen Brücken, die einen 64-Tonnen-<br />

Koloss wie den Kampfpanzer „Leopard 2“<br />

problemlos tragen könnten. Was nützen<br />

die teuersten Waffensysteme,<br />

wenn sie nicht dorthin verlegt<br />

werden können, wo sie benötigt<br />

werden? „Insgesamt ist<br />

das Risiko für eine schnelle<br />

Verstärkung erheblich“, heißt<br />

es in dem Bericht.<br />

Noch nicht einmal auf die<br />

Eingreiftruppe sei Verlass. So<br />

wie der Verantwortungsbereich<br />

des Nato-Oberbefehlshabers<br />

für Europa („SACEUR“)<br />

derzeit aufgestellt sei, „gibt es<br />

keine ausreichende Sicherheit,<br />

SPUTNIK / REUTERS<br />

dass selbst die Nato-Eingreiftruppe<br />

in der Lage ist, schnell<br />

und – wenn nötig – nachhaltig<br />

zu reagieren“.<br />

MARTIN LUKAS KIM / DER SPIEGEL<br />

<strong>Der</strong> Geheimreport aus Brüssel zeichnet<br />

das Bild eines Bündnisses, das nicht in der<br />

Lage wäre, einen Angriff aus Russland abzuwehren.<br />

Weil es seine Truppen nicht<br />

rechtzeitig in Stellung bringen könnte.<br />

Weil es in seinen Stäben zu wenig Offiziere<br />

gibt. Weil der Nachschub über den Atlantik<br />

nicht funktioniert.<br />

Dabei ist die westliche Allianz Wladimir<br />

Putins Autokratenregime militärisch (vermutlich)<br />

und ökonomisch (mit Sicherheit)<br />

weit überlegen. Doch am Ende entschieden<br />

in Tausenden Jahren Militärgeschichte<br />

oft so unspektakuläre Faktoren wie Nachschub,<br />

Versorgung und Logistik über Sieg<br />

oder Niederlage. Zwar rechnet kaum jemand<br />

damit, dass Russland tatsächlich ein<br />

Nato-Land angreifen könnte, doch nur<br />

eine funktionierende militärische Abschreckung,<br />

davon sind viele in der Allianz<br />

überzeugt, wird Putin davon abhalten,<br />

poli tischen Druck auf die Randstaaten des<br />

Bündnisses auszuüben. Auf Länder wie<br />

Estland, Litauen oder Lettland.<br />

Drei Jahre nach der Krim-Annexion steht<br />

die militärische Architektur des Bündnisses<br />

deshalb vor einem tief greifenden Umbau.<br />

Die Zeit der Friedensdividende ist vorbei,<br />

die Kommandostrukturen des Kalten Krieges<br />

kehren zurück. Die Nato soll wieder<br />

für eine große militärische Auseinanderset-


Transport deutscher Schützenpanzer nach Litauen: Willkommen im großen Papierkrieg der Nato<br />

zung gerüstet sein, für eine „MJO+“, wie<br />

es im Militärjargon heißt. Eine solche „Major<br />

Joint Operation Plus“ wäre der Bündnisfall<br />

nach Artikel 5 des Nato-Vertrags.<br />

Die Allianz müsse in der Lage sein,<br />

„schnell einen oder mehrere bedrohte Verbündete<br />

zu stärken, Abschreckung in Friedens-<br />

und Krisenzeiten zu untermauern<br />

und Verbündete im Falle eines Angriffs zu<br />

unterstützen“, heißt es in dem Bericht.<br />

Und sie müsse befähigt werden, schnell<br />

Truppen zu mobilisieren und zu halten,<br />

unabhängig von „Natur, Bedarf, Ort oder<br />

Dauer der Operation“. Dazu seien eine<br />

„robuste militärische Logistik und Fähigkeiten“<br />

mit Kommunikationslinien notwendig,<br />

die von Nordamerika bis zur östlichen<br />

und südlichen Grenze des Nato-Territoriums<br />

reichten und „innereuropäische<br />

Routen“ einschlössen.<br />

Die Verteidigungsminister der 29 Nato-<br />

Staaten erteilten den Auftrag für eine Reform<br />

der Kommandostrukturen schon im<br />

Februar. In Zukunft müsse das Bündnis in<br />

der Lage sein, mehrere Operationen gleichzeitig<br />

bis zum maximalen „Level of Ambition“<br />

durchzuführen, hieß es damals. Militärs<br />

nutzen diesen Fachbegriff, um ihren<br />

institutionellen Ehrgeiz zu definieren.<br />

Die bisherige Nato-Kommandostruktur<br />

würde ihren Zweck „im günstigsten Fall<br />

nur teilweise erfüllen und, obwohl sie nie<br />

getestet wurde, schnell versagen, sollte sie<br />

mit dem vollen Nato-Level of Ambition<br />

konfrontiert werden“, heißt es in dem Papier.<br />

Dieser „Level of Ambition“ wird als<br />

Kategorie „MJO+“ definiert. Im Klartext:<br />

Die Nato bereitet sich auf einen möglichen<br />

Krieg mit Russland vor.<br />

Dass die Kommandostrukturen des<br />

Bündnisses dafür nicht mehr zeitgemäß<br />

sind, ist den Nato-Militärs seit Langem bewusst.<br />

Am vorvergangenen Freitag legten<br />

sie dem Militärkomitee der Allianz ihre<br />

Vorschläge für eine Aufrüstung der Stäbe<br />

vor. Nun dürfen sich alle Nationen dazu<br />

äußern, Anfang November werden die Verteidigungsminister<br />

den Vorschlägen wohl<br />

zustimmen.<br />

„Wir wissen, dass wir die Allianz und<br />

ihre Kommandostrukturen anpassen und<br />

modernisieren müssen“, sagt die nor -<br />

wegische Verteidigungsministerin Ine Eriksen<br />

Søreide. „Norwegen wird sich dafür<br />

einsetzen, dass die Kommandostruktur<br />

der Nato relevant und robust bleibt.“ Und<br />

ihr dänischer Kollege Claus Hjort Frederiksen<br />

sagt: „Russland hat internationales<br />

Recht gebrochen“, deshalb müsse die Allianz<br />

ihre Strukturen überprüfen. „Die<br />

Nato ist nur deshalb das stärkste Verteidigungsbündnis<br />

der Welt, weil sie sich seit<br />

70 Jahren ständig an neue Herausforderungen<br />

angepasst hat“, sagt Frederiksen.<br />

Auch Litauens Ressortchef Raimundas<br />

Karoblis fordert eine bessere Organisation<br />

zur „Abschreckung und Verstärkung der<br />

Nato“ in Osteuropa. Die neue Struktur solle<br />

das Bündnis in „verwundbaren Regionen<br />

wie dem Baltikum“ unterstützen.<br />

Um die Atrophie, die die Strukturen des<br />

Bündnisses befallen hat, zu belegen, reichen<br />

schon wenige Zahlen. Vor dem Fall<br />

der Berliner Mauer dienten 23000 Soldaten<br />

in den Befehlsständen der Nato, aber<br />

damals waren auch Hunderttausende US-<br />

Soldaten in Europa stationiert. Die Stäbe<br />

hätten im Fall der Fälle in kurzer Zeit Truppen<br />

und Material mobilisieren und nach<br />

Osten schicken können.<br />

Auch der Nachschubweg über den Atlantik<br />

von den USA nach Europa war bestens<br />

organisiert. Von 1952 bis 2003 unterhielt<br />

die Nato ein festes Kommando für<br />

den Transport von Kriegsmaterial nach<br />

Europa. Von Norfolk im US-Bundesstaat<br />

Virginia aus plante ein amerikanischer Admiral<br />

als Supreme Allied Commander jeden<br />

Tag für den Ernstfall, also die große<br />

Konfrontation mit der Sowjetunion und<br />

dem Warschauer Pakt.<br />

Dann fiel die Mauer, und es gab einen<br />

kurzen Frühling in den Beziehungen zu<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

31


Nordflotte<br />

NIEDER-<br />

LANDE<br />

Brunssum<br />

BELGIEN<br />

Mons<br />

NATO-<br />

STAATEN<br />

Truppenstärke<br />

3200000<br />

Kampfpanzer<br />

9800<br />

Länder, in<br />

denen jüngst<br />

Nato-Truppen<br />

stationiert wurden<br />

Kampfflugzeuge<br />

6100<br />

GROSSBRITANNIEN<br />

Militärhauptquartiere der Nato<br />

(ein weiteres Hauptquartier<br />

befindet sich in Norfolk Virginia/USA)<br />

*ehemalige Sowjetrepubliken<br />

Hauptquartiere<br />

russischer Militärbezirke<br />

Northwood<br />

FRANKREICH<br />

SPANIEN<br />

zur Zeit des<br />

Kalten Krieges:<br />

Truppenstärke<br />

Kampfpanzer<br />

Kampfflugzeuge<br />

2400000<br />

25900<br />

1140<br />

NORWEGEN<br />

DÄNEMARK<br />

POLEN<br />

DEUTSCHLAND<br />

TSCHECHIEN<br />

Ramstein<br />

SLOWAKEI<br />

ITALIEN<br />

Russische<br />

Exklave<br />

Kaliningrad<br />

Baltische<br />

Flotte<br />

SLOWENIEN<br />

KROATIEN<br />

Neapel<br />

UNGARN<br />

MONTENEGRO<br />

ESTLAND*<br />

LETTLAND*<br />

LITAUEN*<br />

ALBANIEN<br />

RUMÄNIEN<br />

GRIECHENLAND<br />

Die Ostgrenze<br />

der Nato<br />

WEISSRUSSLAND<br />

BULGARIEN<br />

UKRAINE<br />

MOLDAU<br />

Schwarzmeerflotte<br />

Sankt Petersburg<br />

RUSSLAND<br />

Ostukraine<br />

Seit 2014 von<br />

prorussischen<br />

Separatisten<br />

besetzt<br />

Krim<br />

Im März 2014<br />

von Russland<br />

einverleibt<br />

TÜRKEI<br />

Izmir<br />

zur Zeit des<br />

Kalten Krieges<br />

(Warschauer Pakt):<br />

Truppenstärke<br />

Kampfpanzer<br />

Kampfflugzeuge<br />

2300000<br />

53100<br />

3100<br />

Moskau<br />

Rostow<br />

Kampfflugzeuge<br />

1900<br />

RUSSLAND<br />

Truppenstärke<br />

830000<br />

Kampfpanzer<br />

3000<br />

Stationierungsorte<br />

neuer<br />

russischer Divisionen<br />

Hauptquartiere<br />

russischer<br />

Militärbezirke<br />

Hauptquartiere<br />

russischer Flotten<br />

ehemalige Sowjetrepubliken<br />

Russland. Es schien an der Zeit zu sein,<br />

endlich abzurüsten und die Friedensdividende<br />

zu kassieren. Bis 2011 wurden die<br />

Kommandos um 10000 Mann auf 13 000<br />

geschrumpft. Inzwischen sind es nur noch<br />

6800 Soldaten, die in den beiden Befehlsstäben<br />

im niederländischen Brunssum und<br />

im belgischen Mons zum Dienst antreten.<br />

Die Schrumpfkommandos reichten der<br />

Allianz lange Zeit völlig aus, denn die Armeen<br />

des Bündnisses rechneten nicht<br />

mehr mit großen Landkriegen. Sie wurden<br />

massiv umgebaut, denn jetzt war „internationales<br />

Krisenmanagement“ angesagt,<br />

also kleinere Auslandseinsätze außerhalb<br />

des Bündnisgebiets. Landes- und Bündnisverteidigung<br />

schienen von gestern zu sein,<br />

ein Relikt aus den Zeiten der großen Block-<br />

Konfrontation.<br />

Die russische Annexion der Krim 2014<br />

erwischte das Bündnis kalt. Plötzlich war<br />

ein Krieg in Europa wieder denkbar und<br />

nicht mehr auszuschließen, dass die Russen<br />

das Baltikum ins Visier nehmen würden.<br />

Naturgemäß war die Sorge in den osteuropäischen<br />

Nato-Staaten am größten.<br />

Vor allem die Balten und die Polen forderten,<br />

dass die Allianz ein Zeichen setzen<br />

müsse. Und sie drängten auf die Zusicherung,<br />

dass die Nato den Partnern im Ernstfall<br />

schnell zu Hilfe eilen würde.<br />

Sie wurden gehört. Auf dem Gipfel 2014<br />

in Wales beschloss das Bündnis, Kampfeinheiten<br />

in die vier Randstaaten zu schicken,<br />

nach Polen, Litauen, Lettland und<br />

Estland. Die „Battlegroups“ mit jeweils<br />

32 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

etwa tausend Mann unter Führung der großen<br />

Nato-Partner USA, Deutschland,<br />

Großbritannien und Kanada sollen die<br />

Funktion eines „Stolperdrahts“ übernehmen.<br />

Die „Enhanced Forward Presence“<br />

ist zu klein, um militärisch wirklich bedeutsam<br />

zu sein, aber ein deutliches Zeichen<br />

an Russland, dass die Nato entschlossen<br />

ist, ihr Territorium auch in den ehemaligen<br />

Sowjetrepubliken des Baltikums<br />

zu verteidigen.<br />

Doch die Verlegung nach Osten zeigte<br />

auch die Schwächen der Allianz, die jetzt<br />

mit dem Umbau der Kommandostruktur<br />

teilweise behoben werden sollen. So entschlossen<br />

die Nato die Abschreckungspoli -<br />

tik wiederbelebte, so chaotisch verlief die<br />

Umsetzung. „Wir mussten feststellen, dass<br />

wir ziemlich eingerostet waren“, räumt ein<br />

Nato-General ein, „das Bewegen von Truppen<br />

hatten wir schlicht verlernt.“<br />

Die Erfahrungen, die Colonel Ellis vom<br />

2. US-Kavallerie-Regiment im Sommer an<br />

der rumänisch-bulgarischen Grenze machte,<br />

lassen sich auf das ganze Bündnis übertragen.<br />

Alle Länder und oft auch die regionalen<br />

und lokalen Behörden müssen<br />

Militärtransporte einzeln genehmigen. Einheitliche<br />

Formulare gibt es nicht, es reicht<br />

nicht, pauschal die Zahl der Fahrzeuge anzugeben,<br />

die Behörden bestehen auf den<br />

Seriennummern für jeden einzelnen Lkw<br />

oder Panzer. Willkommen im großen Papierkrieg<br />

der Nato.<br />

Will die Nato Truppen von Stuttgart<br />

über Polen nach Lettland zur Abschreckung<br />

an die Nato-Außengrenze zu Russland<br />

verlegen, muss der Transport wochenlang<br />

bürokratisch vorbereitet werden.<br />

„Selbst wenn Krieg ausbrechen sollte, bedeutet<br />

das nicht, dass die Vorschriften außer<br />

Kraft gesetzt werden“, sagt General<br />

Steven Shapiro, Cheflogistiker der US-Armee<br />

in Europa. Und Fachleute wie er wissen,<br />

dass es nicht nur die Bürokratie ist,<br />

die eine Verteidigung des Bündnisgebiets<br />

schwer machen würde.<br />

<strong>Der</strong> Nachschub muss anders organisiert<br />

werden. So entstand die Idee für zwei<br />

neue Kommandos mit insgesamt etwa<br />

2000 Mann. Ein neues maritimes Kommando<br />

soll in den USA nach dem Vorbild des<br />

Supreme Allied Command im Kalten<br />

Krieg die sichere Passage von Truppen<br />

und Material nach Europa organisieren.<br />

<strong>Der</strong> Seeweg, glauben hochrangige Nato-<br />

Militärs, könnte im Ernstfall eine Achillesferse<br />

für den Nachschub werden. In den<br />

geheimen Sitzungen zur Kommandoreform<br />

warnten Analysten, Russland bewege<br />

sich im Atlantik weitgehend unbeobachtet<br />

mit U-Booten. Angriffe auf Nato-Konvois<br />

mit Truppen seien in der derzeitigen Aufstellung<br />

kaum abzuwehren.<br />

Doch auch die Verteilung des Nachschubs<br />

in Europa ist problematisch. Das<br />

soll nun ein weiteres Kommando über -<br />

nehmen, dessen Aufgabe es wäre, die<br />

Logistik zwischen Mitteleuropa und den<br />

östlichen Mitgliedstaaten zu planen und<br />

abzusichern. Es ist davon die Rede, die Bewegungsfreiheit<br />

sicherzustellen und die


Deutschland<br />

Gebiete westlich der Bündnisgrenze besser<br />

zu schützen. Was sich technisch anhört, ist<br />

in Wahrheit die Renaissance des Mobilisierungskonzepts<br />

des Kalten Krieges.<br />

Polen zeigt großes Interesse daran, dieses<br />

„Rear Area Operation Command“ zu<br />

führen. Warschau drängt darauf, dass in<br />

Polen möglichst viele permanente Nato-<br />

Einheiten stationiert werden. Die polnische<br />

Regierung sieht das als ein wirksames<br />

Mittel, um Russland abzuschrecken.<br />

Doch die Amerikaner und andere Verbündete<br />

haben einen anderen Standort ins<br />

Auge gefasst. Deutschland wäre schon aus<br />

geografischen Gründen ein idealer Kandidat.<br />

Schließlich wäre das Kommando eine<br />

Art Drehscheibe für Truppen, die in Bremerhaven<br />

oder anderswo in Mitteleuropa<br />

anlanden. Anfang Oktober fragten hochrangige<br />

US-Militärs informell bei ihren<br />

deutschen Kameraden nach, ob sich die<br />

Bundeswehr nicht für die neue Aufgabe<br />

bewerben wolle.<br />

Auch am Donnerstagnachmittag, beim<br />

ersten Telefonat nach der Bundestagswahl<br />

zwischen Verteidigungsministerin Ursula<br />

von der Leyen und ihrem amerikanischen<br />

Kollegen James Mattis, stand die neue<br />

Kommandostruktur mit auf dem Programm.<br />

Für Berlin ist die Führung des neuen Logistikkommandos<br />

reizvoll. Innerhalb des<br />

Bündnisses könnte Deutschland, das immer<br />

wieder zu einem stärkeren Engagement<br />

für die Allianz gedrängt wird, damit<br />

eine wichtige Aufgabe übernehmen.<br />

Innenpolitisch wäre das Projekt selbst<br />

in einer möglichen Jamaikakoalition mit<br />

den Grünen wohl unproblematisch, denn<br />

die Deutschen würden keine Kampftruppen<br />

stellen, sondern nur Stabssoldaten.<br />

Das ist die Aufgabe, die deutsche Verteidigungspolitiker<br />

traditionell am liebsten<br />

übernehmen.<br />

<strong>Der</strong> Brite Richard Shirreff beobachtet<br />

aufmerksam, dass die Nato endlich aktiv<br />

wird. <strong>Der</strong> Viersternegeneral war bis 2014<br />

stellvertretender Nato-Oberkommandierender<br />

in Europa und damit der höchstrangige<br />

europäische Nato-Soldat. Nach seinem<br />

Abschied sorgte er für Aufsehen, als<br />

er einen Thriller über einen fiktiven Krieg<br />

mit Russland veröffentlichte.<br />

Interessant ist das Buch nicht wegen seiner<br />

literarischen Qualität, sondern wegen<br />

der Botschaft: Nachdem die Allianz seit<br />

dem Ende des Kalten Krieges ferne Krisenzonen<br />

wie Afghanistan in den Blick genommen<br />

hat, müsse sie nun die russische<br />

Bedrohung wieder ernst nehmen. Sonst,<br />

so Shirreffs Befund, habe die Nato gegen<br />

eine Aggression etwa im Baltikum keine<br />

Chance. „Es ist höchste Zeit, dass Europa<br />

die Annexion der Krim als Weckruf begreift“,<br />

sagt Shirreff.<br />

Matthias Gebauer, Konstantin von Hammerstein,<br />

Peter Müller, Christoph Schult<br />

DER SPIEGEL<br />

im Gespräch mit<br />

Jonathan Meese: live<br />

Jonathan Meese<br />

Seine Gemälde, seine Auftritte polarisieren.<br />

Vor ein paar Jahren wurde dem Künstler Jonathan Meese –<br />

nach einem Podiumsgespräch mit dem SPIEGEL – sogar der<br />

Prozess gemacht. Das Verfahren ging ein in die Justizgeschichte,<br />

denn in dem Urteil, das den Künstler entlastete, wurde die<br />

Freiheit der Kunst noch weiter gestärkt. Großes Drama?<br />

Meese hat vieles überstanden, auch den Rauswurf aus Bayreuth,<br />

wo er auf dem Festspielhügel Richard Wagners „Parsifal“<br />

neu inszenieren sollte. Im Laufe der Zeit hat er sich weitgehend<br />

unabhängig gemacht, von Museen, Kuratoren, Galeristen.<br />

Wenn man mit ihm spricht, muss man auch darüber<br />

reden, ob die Kunstwelt der Gegenwart überhaupt<br />

noch für Künstler gemacht ist.<br />

Moderation: Susanne Beyer, stellvertretende<br />

SPIEGEL-Chefredakteurin, und Ulrike Knöfel,<br />

Redakteurin im SPIEGEL-Kulturressort<br />

Montag, 30. Oktober 2017, 20.00 Uhr<br />

<strong>Spiegel</strong>saal, Clärchens Ballhaus, Auguststraße 24, 10117 Berlin<br />

Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.spiegel-live.de.<br />

Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 12 Euro, zzgl. Gebühren. Einlass ab 19 Uhr.<br />

Änderungen vorbehalten.<br />

Jan Bauer<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

33


„Jamaika ist eine Notwendigkeit“<br />

SPIEGEL-Gespräch <strong>Der</strong> frühere Außenminister Joschka Fischer, 69,<br />

sieht eine Zusammenarbeit der Grünen mit Union und FDP als Chance und stellt<br />

die AfD in eine Linie mit dem Nationalsozialismus.<br />

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL<br />

34 DER SPIEGEL 43 / 2017


Deutschland<br />

SPIEGEL: Herr Fischer, schon im Jahr 2005<br />

war Jamaika rechnerisch möglich. Als Sie<br />

damals danach gefragt wurden, mussten<br />

Sie an Angela Merkel und Guido Westerwelle<br />

mit Dreadlocks und einem Joint in<br />

der Hand denken und lachten nur: „Wie<br />

soll das gehen, im Ernst, ich meine, bitte.“<br />

Und heute?<br />

Fischer: Es gilt der alte Bob-Dylan-Song:<br />

„The times they are a-changin’“, die Zeiten<br />

ändern sich. Wir sind ein paar Jahre weiter,<br />

und das, was ich damals – vielleicht auch<br />

nur mangels Fantasie – für unmöglich hielt,<br />

ist heute eine Notwendigkeit geworden.<br />

So kann’s gehen.<br />

SPIEGEL: Was hat sich denn so grundlegend<br />

geändert?<br />

Fischer: Spätestens seit 2015 und dem Ankommen<br />

der Flüchtlinge ist klar, dass die<br />

Zeit des sich immer mehrenden Sonnenscheins<br />

über unserem lieben Vaterland zu<br />

Ende geht. Die großen Probleme des 21.<br />

Jahrhunderts klopfen an unsere Tür. Das<br />

gilt auch für die dramatischen Veränderungen,<br />

die wir global unter anderem beim<br />

Brexit und bei der Wahl von Donald<br />

Trump sehen. Man kann die Menschen<br />

nicht gewinnen, indem man schweigt und<br />

abwartet, wie Angela Merkel es versucht<br />

hat. Die Menschen wollen – im besten Sinne<br />

des Wortes – Führung.<br />

SPIEGEL: Jamaika soll mit Führung punkten?<br />

Es wird eher auf den kleinsten gemeinsamen<br />

Nenner hinauslaufen.<br />

Fischer: Die Verantwortlichen werden in<br />

die Situation kommen, dass sie führen müssen.<br />

Schon allein, weil die Verhältnisse<br />

heute sind, wie sie sind. <strong>Der</strong> Druck der<br />

Realitäten, wie das so schön heißt, wird<br />

enorm werden. Wir haben das schon damals<br />

bei Rot-Grün erlebt: Wir waren noch<br />

nicht im Amt, da war die Frage des Kosovokriegs<br />

bereits zu beantworten. Und<br />

dann kamen noch die Anschläge vom 11.<br />

September.<br />

SPIEGEL: Welche Punkte müssen die Grünen<br />

in einer Koalition mit Union und FDP<br />

unbedingt durchsetzen?<br />

Fischer: Ich verweise auf diejenigen, die in<br />

der Verantwortung sind, die können Ihnen<br />

das sagen. Durch den Zwang zur Einigung,<br />

den ich eben beschrieben habe, werden<br />

sich alle bewegen müssen, nicht nur wir,<br />

sondern auch FDP, CDU und vor allem<br />

CSU. Die ist übrigens ein echter Faktor<br />

der Instabilität bei Jamaika. Das macht<br />

mir die größten Sorgen.<br />

SPIEGEL: Sie sehen kein inhaltliches Thema,<br />

das für die Grünen essenziell wäre?<br />

Fischer: Doch, ich nehme an, da gibt es einige.<br />

Aber das ist Sache der gewählten<br />

Gremien und der Partei. Die Zukunft der<br />

deutschen Automobilindustrie steht zum<br />

Beispiel konkret auf dem Spiel. Werden<br />

wir den Umbruch, den die Elektrifizierung<br />

mit sich bringt, gestalten oder erleiden?<br />

Wir sind das Automobilland. Wenn wir es<br />

nicht schaffen, hier technologisch an der<br />

Spitze zu bleiben, wird es bitter. Das ist<br />

eine der entscheidenden Fragen, was Arbeitsplätze,<br />

Einkommen, Wohlstand angeht,<br />

nicht nur für ein paar Reiche oder<br />

Superreiche, sondern für sehr, sehr viele<br />

Menschen.<br />

SPIEGEL: Wäre es richtig, ab 2030 keine Verbrennungsmotoren<br />

mehr zuzulassen?<br />

Fischer: Über das Jahr kann und wird man<br />

streiten. Aber wir müssen etwas tun, sonst<br />

versündigen wir uns an der Zukunft unseres<br />

Landes. Die Industrie weiß das und<br />

wird deshalb handeln. Was passiert, wenn<br />

China wie angekündigt ein Datum setzt?<br />

Dann hinken wir hinterher. Es wäre doch<br />

wesentlich besser, wenn sich die deutsche<br />

Automobilindustrie und unser Land an der<br />

Spitze dieser Entwicklung bewegen würden.<br />

Und da könnte Jamaika wirklich eine<br />

Chance sein, weil die Grünen mit Union<br />

und FDP eine Lösung finden könnten, und<br />

zwar nicht gegen die Wirtschaft, sondern<br />

für die Mobilität von morgen, für die Menschen<br />

und die Umwelt.<br />

SPIEGEL: Sie klingen wie Cem Özdemir. Telefonieren<br />

Sie öfter, lässt er sich von Ihnen<br />

beraten?<br />

Fischer: Wir telefonieren dann und wann.<br />

Wenn ich so klinge, zeigt das doch, dass<br />

vernünftige Leute zu ähnlichen Schlussfolgerungen<br />

kommen, wenn sie die Fakten<br />

zur Kenntnis nehmen und drüber nachdenken.<br />

Darauf gibt es kein Copyright.<br />

SPIEGEL: Zu den Fakten gehört auch, dass<br />

die Grünen bei der jüngsten Bundes -<br />

tagswahl nur auf dem sechsten Platz gelandet<br />

sind. Laut Infratest dimap sind allein<br />

170 000 Grünenwähler zu den Linken<br />

abgewandert. Haben Sie keine Sorge, dass<br />

Jamaika die Grünen zerreißt?<br />

Fischer: Habe ich nicht. Die Partei macht<br />

einen geschlossenen Eindruck. Sollen die<br />

Grünen nicht regieren aus Sorge, dass<br />

Wähler zu anderen Parteien gehen könnten?<br />

Es ist andersherum: Die Grünen würden<br />

viele Wähler verlieren, wenn sie sich<br />

kategorisch verweigerten.<br />

SPIEGEL: So eindeutig ist das nicht. In Österreich<br />

haben sich die Grünen gespalten. <strong>Der</strong><br />

frühere Parteichef Peter Pilz hat mit einem<br />

dezidierten Linkskurs den Sprung ins Parlament<br />

geschafft. Die Realpolitiker der<br />

Grünen sind draußen. Wie wollen Sie in<br />

einer Jamaikakoalition linke Grünenwähler<br />

bei der Stange halten?<br />

Fischer: Österreich ist doch ein warnendes<br />

Beispiel. Da sitzt jetzt eine Gruppe mit etwas<br />

mehr als vier Prozent im Parlament<br />

und ist völlig machtlos. Und die Rechten<br />

regieren! Gemeinsam hätten die Grünen<br />

acht Prozent gehabt. Natürlich wird Jamaika<br />

für die Partei eine große Herausforderung.<br />

Aber man kann sich die Herausforderungen<br />

nicht aussuchen. Nach Lage der<br />

Dinge will aktuell keine Partei Jamaika,<br />

aber alle müssen, weil das Volk so gewählt<br />

hat. Außer einer Minderheitsregierung<br />

oder Neuwahlen gibt es keine Alternative.<br />

SPIEGEL: Die schließen Sie aus?<br />

Fischer: Wer will denn die Verantwortung<br />

für Neuwahlen übernehmen? Die würden<br />

mit einem noch besseren AfD-Ergebnis<br />

und womöglich wieder unklaren Mehrheiten<br />

enden.<br />

SPIEGEL: Welche Ministerien sollten die<br />

Grünen in einer Jamaikakoalition beanspruchen?<br />

Fischer: Das entscheide nicht ich. Dazu nur<br />

eine Bemerkung aus eigener Erfahrung: Es<br />

geht natürlich immer um die Sache, gerade<br />

bei den Grünen. Es gibt aber neben der<br />

Sachfrage ein weiteres wichtiges Element,<br />

das ist die Machtfrage. Die darf man nicht<br />

unterschätzen, auch im Interesse der Stabilität<br />

einer möglichen Koalition.<br />

SPIEGEL: Was hat das mit der Ressortverteilung<br />

zu tun?<br />

Fischer: Wenn die beiden anderen Koalitionspartner<br />

über mächtige Ressorts verfügen,<br />

wäre es keine gute Idee, wenn die<br />

Grünen nicht ebenfalls ein wichtiges klassisches<br />

Ressort übernähmen. Sonst haben<br />

sie es mit dem Kanzleramt zu tun, dem Finanzministerium<br />

und dem Innenministerium.<br />

Alles große, klassische Ressorts, die<br />

im Zentrum der Regierungsmacht zu Hause<br />

sind. Das gilt es zu bedenken.<br />

SPIEGEL: War das gerade vom ehemaligen<br />

Außenminister das Plädoyer dafür, dass<br />

die Grünen das Außenministerium beanspruchen<br />

sollten?<br />

Fischer: Ich sage nur, dass die Grünen bedenken<br />

sollten, dass sie auch in der Machtfrage<br />

präsent sein müssen.<br />

SPIEGEL: Halten Sie das Außenministerium<br />

nach wie vor für ein mächtiges Ressort?<br />

Fischer: Eindeutig ja. Das Außenministerium<br />

ist nach wie vor sehr wichtig.<br />

SPIEGEL: Als einer der Gründe für den<br />

Aufstieg der AfD gilt die mangelnde Unterscheidbarkeit<br />

der Parteien. Wird das<br />

Problem nicht noch verschärft, wenn in<br />

Zukunft Union, Grüne und FDP in einer<br />

Regierung sind?<br />

Fischer: Keine Sorge, die Parteien werden<br />

sehr unterscheidbar bleiben. Selbst unter<br />

Rot-Grün etwa gab es bestimmt kein Unterscheidbarkeitsdefizit.<br />

Damals wurde<br />

doch immer gesagt: Mein Gott, sind die<br />

chaotisch. In der Großen Koalition war es<br />

den Journalisten dann auf einmal zu ruhig.<br />

SPIEGEL: Mit der AfD sitzt jetzt eine rechtspopulistische<br />

Partei im Bundestag. Ist das<br />

eine politische Zeitenwende?<br />

Fischer: Wieso rechtspopulistisch? Wie nennen<br />

wir in Deutschland eine Partei, die<br />

sich völkisch definiert? Die Tradition ist<br />

eindeutig. Die Letzten, die eine solche Position<br />

vertreten haben, waren die Nazis.<br />

SPIEGEL: Sie halten die AfD für eine Partei<br />

in der Tradition der NSDAP?<br />

Fischer: Oh ja! Ich bin ja in den Fünfzigerjahren<br />

aufgewachsen. Alle in meiner Ge-<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

35


DIE NEUE SERIE AUF YOUTUBE<br />

BUNDESWEHR EXCLUSIVE<br />

HAUTNAH IN DEINEM MESSENGER<br />

IHRE<br />

MISSION<br />

MACHT AUCH DEIN<br />

SICHERER.<br />

LEBEN


neration kennen noch diese deutschen Familientreffen.<br />

Da gab es den Nazi-Opa und<br />

den Onkel, der bei der SS war, und die<br />

sonderten dann ihre Sprüche ab. Und solche<br />

Sprüche kommen plötzlich wieder.<br />

Warum sollte man das als Rechtspopulismus<br />

bezeichnen? Ist Herr Höcke ein<br />

Rechtspopulist oder ein Nazi? Mir geht dieses<br />

Drumrumgerede auf den Keks.<br />

SPIEGEL: Herr Höcke steht auch in der AfD<br />

am rechten Rand.<br />

Fischer: Da sind viele in der aktiven Mitgliedschaft<br />

und Führung der AfD, die reden<br />

wie Nazis und die denken wie Nazis.<br />

Gauland will sich „unser Land“ und „unser<br />

Volk zurückholen“. Ja hallo, kennen wir<br />

das nicht? Ich hatte gehofft und gedacht,<br />

wir wären gesellschaftlich weiter. Aber<br />

man muss zur Kenntnis nehmen: Sie sind<br />

wieder da.<br />

SPIEGEL: Sind dann auch die 12,6 Prozent<br />

der Wähler, die AfD gewählt haben, Nazis?<br />

Fischer: Da muss man unterscheiden. Aber<br />

wir sollten nicht vergessen, nach 1945 hieß<br />

es: Wir wurden verführt, die Nazibonzen<br />

waren schuld an allem, was Deutschland<br />

anderen und sich selbst angetan hat. Wenn<br />

ich heute Herrn Gauland höre oder Herrn<br />

Höcke, dann habe ich immer das Bild des<br />

zerstörten Köln vor Augen, aus dem der<br />

Dom herausragt. Man kann heute nicht<br />

einfach sagen: Ich wusste das nicht, ich<br />

war frustriert. Wir wissen doch, wie dieser<br />

Film endet.<br />

SPIEGEL: Die Sprüche, die Sie von Ihren Familientreffen<br />

kennen: Sind die auf einmal<br />

wieder da, oder waren sie immer da und<br />

man hat sie nicht hören wollen?<br />

Fischer: Ich kann Ihnen diese Frage nicht<br />

beantworten. Es gibt Überzeugungen, die<br />

sich nicht erklären lassen. Was da so alles<br />

von sich gegeben wird, etwa dass Deutschland<br />

ein besetztes Land sei. Das ist doch<br />

hanebüchen. Mich hat das überrascht. Ich<br />

hatte ehrlich gedacht, wir seien weiter.<br />

SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass wir<br />

nicht so weit sind, wie man dachte?<br />

Fischer: Man kann lange nach Erklärungen<br />

suchen. Ich habe noch keine überzeugende<br />

gehört oder gelesen. Jetzt ist es halt so.<br />

Darauf muss man reagieren.<br />

SPIEGEL: Wie denn?<br />

Fischer: Man muss die Auseinandersetzung<br />

an jedem einzelnen Punkt hart und unnachgiebig<br />

führen und Deutschland nicht<br />

diesen Gestalten überlassen oder denen<br />

gar hinterherrennen. Auf der anderen Seite<br />

darf man sich aber auch nicht durch jede<br />

Provokation gleich auf die Zinne treiben<br />

lassen. Das ist ja oft beabsichtigt. Da empfehle<br />

ich aus der Erfahrung im Umgang<br />

mit den Nazi-Opas, die ja offensichtlich<br />

wieder da sind, eine gewisse Grundgelassenheit.<br />

* Mit den Redakteuren Ann-Katrin Müller und Ralf Neukirch<br />

in seinem Berliner Büro.<br />

Deutschland<br />

SPIEGEL: Gelassenheit und Korrektheit werden<br />

im Umgang mit der AfD nicht reichen.<br />

Fischer: Es ist ja nicht nur diese Partei. Es<br />

gibt Pegida, die Identitären und viele andere<br />

Strömungen. Wir erleben den Versuch<br />

von rechts, die Achtundsechziger zu kopieren<br />

und die Diskurshoheit zu erreichen.<br />

SPIEGEL: Wo sehen Sie die Parallele zur Studentenbewegung<br />

von damals?<br />

Fischer: In gewissen Aktionsformen, dem<br />

Mittel der Provokation, den Veröffentlichungen<br />

kleiner Verlage mit provokanten<br />

Titeln, dem Nutzen von Buchmessen als<br />

Forum, diese Dinge meine ich.<br />

SPIEGEL: Hat Frau Merkel die AfD ermöglicht,<br />

indem sie die CDU zu weit nach links<br />

gerückt und damit den Platz am rechten<br />

Rand frei gemacht hat?<br />

Fischer: Nein, nein, nein. Ich will jetzt nicht<br />

Angela Merkel verteidigen, aber wo wären<br />

denn die Wahlergebnisse der Union in den<br />

Städten, wenn sie die rechte Flanke geschlossen<br />

hätte? Da hätte sie eine Reihe<br />

von schweren Niederlagen zu verantworten<br />

gehabt.<br />

Fischer beim SPIEGEL-Gespräch*<br />

„Ich hatte gedacht, wir seien weiter“<br />

SPIEGEL: Die CSU ist da anderer Meinung.<br />

Fischer: Ich habe zuletzt Edmund Stoiber<br />

im Fernsehen gesehen. <strong>Der</strong> ist ganz besessen<br />

von der Idee eines Rechtsrucks. Falsch<br />

ist es trotzdem. Man muss wissen: Für die<br />

CSU ist die absolute Mehrheit in Bayern<br />

wichtig, für den Rest der Republik eher<br />

nicht.<br />

SPIEGEL: Unter den Konservativen in der<br />

Union gilt der österreichische Außenminister<br />

Sebastian Kurz als neuer Held. Dessen<br />

ÖVP hat mit einem dezidiert rechten<br />

Kurs die FPÖ bei der Nationalratswahl<br />

noch überflügelt.<br />

Fischer: Ich halte es lieber mit Macron und<br />

Frankreich als mit Kurz, Strache und Österreich.<br />

Wenn Kurz keine Große Koalition<br />

will, dann kann er nur mithilfe einer rechtsradikalen<br />

Partei Kanzler werden. Das sollten<br />

all diejenigen bedenken, die jetzt Jamaika<br />

schlechtreden und der Union einen<br />

Schwenk nach rechts empfehlen. Wenn die<br />

CSU das will, dann stellt sie das historische<br />

Fundament der Unionsparteien und das<br />

Erbe Konrad Adenauers infrage. Das sollte<br />

sie sich gut überlegen.<br />

SPIEGEL: Herr Fischer, wir danken Ihnen<br />

für dieses Gespräch.<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

37<br />

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL<br />

Investitionen<br />

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C.HARDT / SNAPSHOT / FUTURE IMAGE<br />

Braunkohlekraftwerk Niederaußem<br />

Rat vom Schattenmann<br />

Umwelt Kommt die geplante Jamaikakoalition zustande, muss sie Deutschlands Vorreiterrolle<br />

in der Klimapolitik sichern. Ein grüner Staatssekretär weiß, wie das funktionieren kann.<br />

Die Einladung klang nach Routine.<br />

Am Montag rief Rainer Baake eine<br />

Runde von Journalisten zum Gespräch<br />

ins Bundeswirtschaftsministerium.<br />

Wie jedes Jahr wollte der Staatssekretär<br />

für Energie eine Zahl verkünden, die sogenannte<br />

EEG-Umlage. Sie beziffert, wie<br />

viel Aufschlag die deutschen Strom -<br />

kunden für Wind- und Solarkraft zahlen<br />

müssen.<br />

„Die Entwicklung ist überaus erfreulich“,<br />

verkündete der Spitzenbeamte stolz,<br />

die Umlage sei leicht gesunken. Insgesamt,<br />

so Baake, würden die Strompreise damit<br />

„deutlich weniger steigen als die Infla -<br />

tionsrate“. Zudem sei der Anteil erneuerbarer<br />

Energien in den vergangenen vier<br />

Jahren von 25 auf 35 Prozent<br />

gestiegen, und das ohne nennenswerte<br />

Preiserhöhungen.<br />

„Möglich ist das nur durch die<br />

Reformen dieser Bundesregierung<br />

geworden.“<br />

Was Baake mit seinem Fazit<br />

eigentlich sagen wollte: Es sind<br />

seine Reformen gewesen, die<br />

dazu geführt haben, die Kostenexplosion<br />

der Energiewende einzudämmen<br />

– und so hatte der<br />

Staatssekretär zum Abschluss<br />

Experte Baake<br />

Bestens vernetzt<br />

AXEL SCHMIDT / DDP IMAGES<br />

des Gesprächs noch einen Ratschlag parat:<br />

„Die neue Bundesregierung muss genauso<br />

reformfreudig bleiben, wie es diese Re -<br />

gierung ist.“<br />

Da war er also, der Satz, mit dem sich<br />

Baake als Staatssekretär für die nächste<br />

Amtszeit beworben hatte, geschickt verpackt,<br />

aber unmissverständlich. Wenn es<br />

nach ihm ginge, gäbe es keinen besseren<br />

Kandidaten als ihn selbst, den Umbau des<br />

Energiesektors fortzuführen. Wer den grünen<br />

Spitzenbeamten in diesen Tagen trifft,<br />

spürt hinter der nüchternen Fassade des<br />

drahtigen Mannes, wie sehr er unter Anspannung<br />

steht.<br />

Während die Sondierungsgespräche zwischen<br />

Union, Grünen und FDP Fahrt aufnehmen,<br />

setzt Baake auf sein<br />

jahrzehntelanges Fachwissen.<br />

<strong>Der</strong> gelernte Volkswirt hat seit<br />

Jahren die deutsche Energiepolitik<br />

aus der zweiten Reihe gelenkt<br />

und wurde zum Schrecken<br />

der Energiekonzerne.<br />

Nun hat ihm der Wahlausgang<br />

eine neue Machtoption geschaffen.<br />

Die Grünen wollen ein<br />

Jamaikabündnis in etwa so sehr,<br />

wie Angela Merkel Bundeskanzlerin<br />

bleiben will. Genau<br />

das ist Baakes große Chance, weitere vier<br />

Jahre an den Hebeln der Macht zu ziehen,<br />

geräuschlos, aber hocheffizient.<br />

Was Baake in die Hände spielt: Kaum<br />

ein Thema wird die Legislaturperiode so<br />

bestimmen wie die Klimapolitik. Es geht<br />

nicht mehr allein um Wind- und Sonnenenergie<br />

oder die Frage, wie die Stromnetze<br />

ausgebaut werden sollen. Die Politik muss<br />

entscheiden, wie sich die Deutschen künftig<br />

fortbewegen und wie sie ihre Wohnungen<br />

heizen. Es sind harte Eingriffe erforderlich.<br />

Denn das Land muss rausgeführt<br />

werden aus dem fossilen Zeitalter.<br />

Dekarbonisierung heißt dafür der Fachbegriff,<br />

und der klingt nicht zufällig nach<br />

Epochenwende. Die Zeit großer Klimaziele,<br />

die erst in ferner Zukunft erfüllt werden<br />

müssen, ist vorbei. „Es gibt keine Ausflüchte<br />

mehr“, sagt Baake, „wenn Deutschland<br />

sich vor der Weltgemeinschaft nicht blamieren<br />

will.“<br />

Schon Ende 2020 muss die vermutlich<br />

schwarz-gelb-grüne Koalition beweisen, ob<br />

sie das Ziel von 40 Prozent weniger Treibhausgasausstoß<br />

im Vergleich zum Jahr<br />

1990 einhalten kann. Nach allem, was die<br />

Experten vorhersagen, werde das nicht der<br />

Fall sein, warnt Baake. Er weiß, dass dieser<br />

Moment, insbesondere für einen künftigen<br />

38 DER SPIEGEL 43 / 2017


Deutschland<br />

grünen Umwelt- und Energieminister, wie<br />

ein Offenbarungseid sein wird. Für Baake<br />

ist das ein Ansporn.<br />

Bei den Grünen wissen sie um die Ambitionen<br />

ihres Staatssekretärs und um sein<br />

Talent. 1983 trat er der Partei noch während<br />

des Studiums in Marburg bei. Als Umweltdezernent<br />

kämpfte er für eine Müllverbrennungsanlage<br />

– nicht gerade ein<br />

prestigeträchtiges Ziel für einen Grünen.<br />

Damals erkannte allerdings ein Parteifreund,<br />

mit welchem Geschick Baake die<br />

Mechanik einer deutschen Verwaltung für<br />

seine Zwecke bedienen konnte. Es war der<br />

Turnschuhminister Joschka Fischer, der ihn<br />

an seine Seite holte als Umweltstaatssekretär<br />

des Landes Hessen.<br />

Dort brachte Baake der mächtigen deutschen<br />

Stromindustrie ihre erste Niederlage<br />

bei, als er die Hanauer Nuklearbetriebe<br />

schloss. Unter dem grünen Bundesumweltminister<br />

Jürgen Trittin verhandelte Baake<br />

den Atomausstieg. Mit der Förderung der<br />

erneuerbaren Energien, die er in dieser<br />

Zeit auf den Weg brachte, zwang er die<br />

arroganten Strombosse, ihr Geschäftsmodell<br />

zu ändern.<br />

Die schwarz-gelbe Koalition ab 2009 verzichtete<br />

auf seine Dienste, hielt aber im<br />

Grundsatz an seinen Reformen fest. Danach<br />

durfte er auch persönlich wieder ran.<br />

Zur allgemeinen Überraschung, auch seiner<br />

eigenen, machte ihn der Sozialdemokrat<br />

Sigmar Gabriel zu seinem Energiestaatssekretär<br />

im Wirtschaftsministerium.<br />

Und jetzt? Will der Mann sein Lebenswerk<br />

erfüllen, den Kampf gegen die klimaschädliche<br />

Energie aus Kohle, Öl und<br />

Gas. Baake sagt: „Die nächsten vier Jahre<br />

werden die entscheidenden für die Energiewende<br />

sein.“ Das ist sein Mantra – und<br />

zugleich seine Empfehlung, wieder eine<br />

einflussreiche Position in der nächsten Regierung<br />

zu übernehmen.<br />

Denn kaum einer kennt sich im Geflecht<br />

der Energiegesetze so gut aus wie er. Kein<br />

Politiker der FDP, der in den Jahren ihrer<br />

außerparlamentarischen Opposition das<br />

Thema kaum bearbeitet hat. Und auch<br />

kaum ein Christdemokrat, seit Fraktionsvize<br />

Michael Fuchs, der wohl hartnäckigste<br />

Gegner Baakes, aus dem Parlament ausgeschieden<br />

ist. Da ist höchstens die Kanzlerin,<br />

die eine Menge von Klimapolitik versteht.<br />

Sie weiß, dass die nächste Regierung<br />

vor allem eine Aufgabe hat: den Ausstieg<br />

aus der Verstromung von Braun- und Steinkohle<br />

zu organisieren. Die mehr als hundert<br />

Kraftwerke verhageln dem Land die<br />

Klimabilanz, obwohl es Pionier beim Übergang<br />

ins Zeitalter erneuerbarer Energien<br />

ist. Diese Altlast gilt es zu entsorgen.<br />

In den vergangenen Monaten haben sich<br />

dutzendweise Fachleute dazu gemeldet,<br />

wie der Übergang zu bewerkstelligen sei,<br />

mit einer CO ²<br />

-Steuer oder einem Mindestpreis<br />

im Handel mit CO ²<br />

-Zertifikaten.<br />

Doch das werde nicht funktionieren, sagen<br />

sie in Baakes Abteilungen und Referaten.<br />

Denn das System, mit dem die Brüsseler<br />

EU-Kommission den Ausstoß von Treibhausgasen<br />

möglichst unrentabel machen<br />

will, wird gerade auf europäischer Ebene<br />

reformiert, da käme die neue Regierung<br />

mit ihren Vorschlägen zu spät.<br />

Eine staatliche Abgabe könnte das Problem<br />

ebenfalls nicht lösen, wie die Debatte<br />

um die vor einigen Jahren verhängte Steuer<br />

auf Brennelemente gezeigt hat: Das Verfassungsgericht<br />

hat sie gekippt, weil der<br />

Bund nicht willkürlich Produktionsmittel<br />

mit Steuern belegen darf. Zugleich haben<br />

die Karlsruher Richter dabei einen Weg<br />

gewiesen, wie mit Kohlekraftwerken zu<br />

verfahren wäre. Man müsste ihren Betrieb<br />

1251<br />

Treibhausgasemissionen<br />

in Deutschland, in Millionen<br />

Tonnen CO ²<br />

-Equivalente<br />

906<br />

Prognose<br />

1990 95 2000 05 10 16 2020<br />

Emissionen 2016<br />

Verkehr<br />

Energiewirtschaft<br />

Industrie<br />

Landwirtschaft<br />

Sonstige<br />

750<br />

Klimaschutzziel<br />

2020, entspricht<br />

–40 % gegenüber<br />

1990<br />

Quellen: UBA,<br />

Agora Energiewende<br />

343<br />

188<br />

166<br />

Veränderung<br />

gegenüber 1990<br />

in Prozent<br />

per Gesetz verbieten und das mit einem<br />

Verweis auf das Gemeinwohl begründen.<br />

Bei den Atomreaktoren war es das Risiko<br />

eines Super-GAUs, das den Stopp ermöglicht<br />

hat. Bei den Kohlekraftwerken wäre<br />

es die globale Klimaerwärmung mit all ihren<br />

katastrophalen Folgen, mit der sich das Abschalten<br />

rechtfertigen ließe. Zunächst könnten<br />

jene Meiler geschlossen werden, die bereits<br />

am längsten laufen oder den geringsten<br />

Wirkungsgrad aufweisen. Später könnte es<br />

auch jüngere und rentablere Anlagen treffen.<br />

Insgesamt müssten rund 18 Gigawatt<br />

fossile Erzeugungskapazität raus aus dem<br />

Markt, so schätzen Experten, wenn Angela<br />

Merkel Klimakanzlerin bleiben will. Das<br />

muss Baake ihr nicht erklären, das weiß<br />

71<br />

11<br />

–27<br />

–34<br />

+2<br />

Gebäude 127 –40<br />

–21<br />

–72<br />

sie selbst am besten. Aber auch für den<br />

Seelenfrieden der Jamaikakoalitionäre<br />

wäre es eine Perspektive, könnten sie sich<br />

hinter den Verfassungsrichtern verstecken.<br />

Baake hat es nicht nötig, diese Gedanken<br />

öffentlich zu äußern. Das wird der<br />

Thinktank „Agora Energiewende“ für ihn<br />

tun. Das Institut hat er mitgegründet, als<br />

er unter Schwarz-Gelb pausieren musste.<br />

Noch heute stehen ihm die Experten als<br />

schnelle Eingreiftruppe zur Verfügung.<br />

Jetzt, passend zu den Sondierungsgesprächen,<br />

wird Agora ein Rechtsgutachten<br />

veröffentlichen, wonach „ein Gesetz zum<br />

Kohleausstieg analog zum Atomausstiegsgesetz<br />

verfassungskonform darstellbar“ sei,<br />

so lautet der Schlüsselsatz. Die Kraftwerke<br />

müssten rund 25 Jahre alt sein, damit sie<br />

wirtschaftlich abgeschrieben und ohne<br />

Kompensation für die Konzerne geschlossen<br />

werden könnten. Die Agora-Studie ist<br />

übersichtlich gegliedert, mit vier knackig<br />

formulierten Kernthesen, die auch ein von<br />

Koalitionsverhandlungen gestresster Politiker<br />

verstehen kann.<br />

So ist es ebenfalls bei einer weiteren<br />

Studie, die als Blaupause für einen möglichen<br />

Jamaikavertrag gedacht sein könnte.<br />

Darin geht es um den Strukturwandel für<br />

die Lausitz, jene Region im Osten der Republik,<br />

die von der Schließung von Braunkohletagebauen<br />

und Kraftwerken am<br />

stärksten betroffen wäre.<br />

Agora rollt darin den Plan für einen<br />

„Strukturwandelfonds Lausitz“ aus, der<br />

mit 100 Millionen Euro jährlich die gebeutelte<br />

Region in einen „Wissenschaftsstandort“<br />

verwandeln soll, inklusive eines<br />

Fraunhofer-Zentrums für die Dekarbonisierung<br />

der Industrie und einer neuen<br />

Bahntrasse von Cottbus nach Berlin.<br />

Das Konzept trägt die Handschrift Baakes,<br />

der ein Gespür dafür hat, mit welchen<br />

Angeboten er unterschiedlichste Akteure<br />

für sein Vorhaben ködern kann. Er ist bei<br />

den Sondierungsgesprächen zwar nicht dabei,<br />

doch sei er mit seinen Ideen, die er<br />

„als Privatmann“ einspeist, „stets präsent“,<br />

wie es ein Spitzengrüner formuliert.<br />

Baake ist damit so etwas wie der Schattenmann<br />

der Koalitionsverhandlungen, ein<br />

mächtiger Einflüsterer, ganz gleich, ob es<br />

nun um Elektroautos oder Wärmepumpen<br />

geht. Aber auch beim Zuschnitt der künftigen<br />

Ministerien dürfte sein Ratschlag<br />

nicht ohne Folgen bleiben. Das Energieressort<br />

wollen die Grünen wieder in das<br />

Umweltministerium eingliedern, schon allein,<br />

damit es ganz gewiss unter die Kontrolle<br />

eines Grünen fällt.<br />

<strong>Der</strong>zeit kämpft offenbar Katrin Göring-<br />

Eckardt, die ehemalige Spitzenkandidatin,<br />

um diesen Posten, den die meisten Parteistrategen<br />

eigentlich bei dem Parteilinken<br />

Anton Hofreiter gesehen haben. Baakes<br />

Vorteil: Er ist mit beiden vertraut.<br />

Gerald Traufetter<br />

40 DER SPIEGEL 43 / 2017


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Neues Deutschland<br />

Union Angela Merkel und das Ende des Parteiensystems, wie wir es kennen.<br />

Von René Pfister<br />

Kanzlerin Merkel: Für die Mülltrennung, gegen Atomkraft<br />

LIAN MATZKE / AFP<br />

Anfang September verschickte der<br />

Bayerische Rundfunk einen kurzen<br />

Zusammenschnitt aus Talkrunden<br />

der Siebziger- und Achtzigerjahre. <strong>Der</strong> nur<br />

zweiminütige Film verbreitete sich rasend<br />

schnell im Netz, was nicht nur am wütenden<br />

Manager der Band Ton Steine Scherben<br />

lag, der den Tisch der WDR-Show<br />

„Ende offen“ mit einem Beil traktierte.<br />

Sondern vor allem an Helmut Kohl und<br />

Willy Brandt, die sich in einer TV-Runde<br />

mit rotem Kopf anschrien. <strong>Der</strong> Reiz des<br />

Videos liegt darin, dass es nah wirkt und<br />

gleichzeitig so unglaublich fern. Jedem<br />

sind noch die Gesichter von Kohl und<br />

Brandt präsent, und doch ist es in der Ära<br />

42 DER SPIEGEL 43/ 2017<br />

Merkel unvorstellbar geworden, dass sich<br />

zwei Spitzenpolitiker im Fernsehen aufführen<br />

wie Zecher vor einer Wirtshausschlägerei.<br />

Angela Merkel hat in ihrer zwölfjährigen<br />

Amtszeit das Land auf vielerlei Art<br />

und Weise verändert, sie hat unter anderem<br />

dafür gesorgt, dass das rohe und unverstellte<br />

Gefühl aus der Politik verschwand.<br />

Merkel hat es schon immer verstanden,<br />

ihre Emotionen zu zügeln. Wenn<br />

es überhaupt je einen Ausbruch gab, dann<br />

im Frühjahr 1995, als ihr in einer Kabinettssitzung<br />

die Tränen kamen, weil Helmut<br />

Kohl sie mit ihrer Smogverordnung abtropfen<br />

ließ. Merkel machte danach nie wieder<br />

den Fehler, sich eine solche Blöße zu geben.<br />

Sie weinte nicht, sie brüllte nicht, sie<br />

ließ sich nicht einmal provozieren. Als sie<br />

im September 2005 die Bundestagswahl<br />

gewann und Gerhard Schröder in der Elefantenrunde<br />

tobte, wirkte der schon merkwürdig<br />

aus der Zeit gefallen.<br />

Man kann die Ära Merkel auch als Geschichte<br />

der Pazifizierung lesen, nie zuvor<br />

ging es in der deutschen Politik gesitteter<br />

zu. Selbst die Opposition begegnete Merkel<br />

mit einem Respekt, der manchmal an<br />

Bewunderung grenzte; wenn es um die<br />

großen Themen ging, den Euro oder die<br />

Flüchtlinge, gab es im Bundestag ein großes<br />

Einvernehmen, es wurde debattiert,


Deutschland<br />

Wenn es Merkels<br />

Ziel war, die Politik zu<br />

mäßigen, dann ist es<br />

gründlich misslungen.<br />

aber nie gehasst. Umso schärfer war der<br />

Kontrast, als dann am 24. September die<br />

AfD den Sprung in den Bundestag schaffte<br />

und Alexander Gauland noch am Wahlabend<br />

versprach, seine Partei werde von<br />

nun an die Kanzlerin „jagen“.<br />

<strong>Der</strong> Aufstieg der AfD hat viele Gründe,<br />

aber einer war sicher auch, dass Merkel<br />

ihre Politik an den Empfehlungen der Meinungsforscher<br />

ausgerichtet hat. Wenn man<br />

heute, mit einigem Abstand, noch einmal<br />

die Analysen von Matthias Jung zur Hand<br />

nimmt, dem Demoskopen des Vertrauens<br />

der CDU, dann lesen sie sich wie Blaupausen<br />

für Merkels Politik. Folgt man Jungs<br />

Empfehlungen, dann blieb der CDU gar<br />

keine andere Wahl, als sich nach links zu<br />

orientieren. Denn einerseits verlieren die<br />

klassischen CDU-Milieus immer mehr an<br />

Bedeutung, und andererseits sterben der<br />

Union alle vier Jahre rund eine Million<br />

ältere Wähler weg.<br />

Als im Zuge der Eurokrise die AfD ihre<br />

erste Blüte erlebte, erkannte Jung in der<br />

neuen Partei nicht etwa eine Gefahr für<br />

die Union, sondern eine Art Glücksfall.<br />

„Die CDU/CSU ist durch die bloße Existenz<br />

der AfD vom latenten Vorwurf<br />

befreit, rechts zu sein, was anders als in<br />

den meisten europäischen Ländern in<br />

Deutschland einen stigmatisierenden Charakter<br />

hat“, schrieb Jung in einem Aufsatz,<br />

der im Jahr 2015 erschien und die<br />

Überschrift „Die AfD als Chance für die<br />

Union“ trug.<br />

Jung drehte den Satz von Franz Josef<br />

Strauß, wonach es rechts von der Union<br />

keine demokratisch legitimierte Partei geben<br />

darf, einfach um: Gerade weil es nun<br />

eine Partei rechts von der Union gibt, kann<br />

die CDU umso glaubwürdiger den Verdacht<br />

zerstreuen, sie sei eine rechte Partei.<br />

Dass der Aufsatz Jungs ausgerechnet in<br />

der Zeitschrift „Politische Studien“ erschien,<br />

der Hauspublikation der CSU-nahen<br />

Hanns-Seidel-Stiftung, gibt der Sache<br />

eine besondere Würze.<br />

Nun kann man keinem Politiker ernsthaft<br />

vorwerfen, dass er versucht, so viele<br />

Wähler wie möglich zu erreichen, und<br />

Merkels Strategie war über lange Jahre<br />

sehr erfolgreich. Wenn sie es schafft, eine<br />

Jamaikakoalition zu zimmern, könnte sie<br />

16 Jahre lang regieren, vor ihr gelang das<br />

nur Helmut Kohl; in ihrer Amtszeit<br />

schrumpfte die SPD auf zuletzt 20,5 Prozent.<br />

Merkel ist dabei, die Parteienlandschaft<br />

Deutschlands zu revolutionieren. Sie<br />

denkt dabei viel radikaler, als es viele in<br />

der CDU glauben. Im Moment wird in der<br />

Partei darüber gestritten, ob die Kanzlerin<br />

die richtige Strategie im Umgang mit der<br />

AfD verfolgt. Das aber setzt voraus, dass<br />

es überhaupt eine Strategie gibt. Am<br />

Wahlabend sagte Merkel, die „strategischen<br />

Wahlziele“ seien erreicht: Die Union<br />

sei die stärkste Kraft, an ihr vorbei könne<br />

keine Regierung gebildet werden. Im<br />

Umkehrschluss heißt das: Den Einzug der<br />

AfD in den Bundestag zu verhindern gehörte<br />

gar nicht zum Ziel des Adenauer-<br />

Hauses.<br />

Wenn man mit dem kalten Blick des<br />

Parteistrategen die Lage betrachtet, dann<br />

bringt der Einzug der AfD durchaus Vorteile<br />

für die CDU: Im letzten Bundestag<br />

hätten SPD, Grüne und Linke Merkel abwählen<br />

können. Am 24. September aber<br />

verloren SPD und Linkspartei zusammen<br />

900 000 Stimmen an die AfD. Die linke<br />

Mehrheit im Parlament verschwand. So<br />

gesehen zementiert die AfD Merkels<br />

Macht.<br />

Manche in der CDU argumentieren,<br />

dass Deutschland, was den Rechtspopu -<br />

lismus angehe, lediglich eine verspätete<br />

Nation sei. In fast jedem Nachbarland gibt<br />

es inzwischen eine Partei, die von einer<br />

Melange aus Abstiegsängsten und Fremdenfeindlichkeit<br />

profitiert. Das ist richtig.<br />

Aber in Deutschland war das Tabu gegen<br />

rechts aus historischen Gründen immer besonders<br />

stark. Erst die Flüchtlingskrise öffnete<br />

der AfD den Weg in den Bundestag.<br />

Es wäre unfair zu sagen, dass Merkels<br />

Flüchtlingspolitik parteitaktischen Motiven<br />

gefolgt sei. Aber sie komplettierte das Bild<br />

einer CDU, die sich um das rechte Spektrum<br />

nicht mehr kümmert, das Bild einer<br />

Partei, die sich von sich selbst entfernt.<br />

Merkel hat die CDU inzwischen so entkernt,<br />

dass die Konsequenzen weit über<br />

die Partei hinausreichen. Es war ja nicht<br />

nur die SPD, die in den vergangenen zwölf<br />

Jahren dramatisch schrumpfte. Bei der<br />

Bundestagswahl stieg die AfD in manchen<br />

Gegenden Ostdeutschlands zur neuen<br />

Volkspartei auf, in Sachsen überholte sie<br />

sogar die CDU, weshalb Ministerpräsident<br />

Stanislaw Tillich in dieser Woche seinen<br />

Rücktritt erklärte. In Bayern wird die CSU<br />

ihre Sonderstellung verlieren, wenn die<br />

AfD dauerhaft stark bleibt. Ohne die absolute<br />

Mehrheit ist sie nur noch eine „CDU<br />

in Lederhose“, wie der ehemalige Bundesinnenminister<br />

Hans-Peter Friedrich sehr<br />

anschaulich sagte.<br />

Die Stabilität der Bundesrepublik beruhte<br />

immer auf der Stärke der beiden<br />

Volksparteien. Die Polarität zwischen<br />

SPD und Union sorgte dafür, dass weite<br />

Teile der Wähler eine politische Heimat<br />

fanden. Merkels Ansatz ist es, diese Polarität<br />

aufzuheben, sie will eine große politische<br />

Partei der Mitte schaffen, die umspült<br />

wird von den Radikalen von links<br />

und rechts. Das hat allerdings seinen<br />

Preis.<br />

Das große Verdienst der Volksparteien<br />

war immer, dass sie den Rahmen für einen<br />

zivilen Diskurs schufen. Es war über Jahrzehnte<br />

ihr Anspruch, auch jene Wähler zu<br />

halten, die mit dem Radikalen flirten, ihm<br />

aber nicht verfallen. Das bröckelte zuerst<br />

auf der linken Seite des politischen Spektrums,<br />

als Gerhard Schröder die Agenda<br />

2010 umsetzte und sich dabei kaum die<br />

Mühe machte, seinen Wählern die Reformen<br />

zu erklären. Die Folge war der Aufstieg<br />

der Linkspartei. Nun gibt es mit der<br />

AfD ein rechtes Pendant.<br />

Die CDU ist unter Merkel zu einer Partei<br />

geworden, gegen die kein aufgeklärter<br />

Mensch etwas sagen kann: Sie ist für die<br />

Mülltrennung und gegen Atomkraftwerke,<br />

sie weist keinen Asylbewerber an der<br />

Grenze ab und hat ermöglicht, dass auch<br />

Schwule und Lesben heiraten dürfen. Generalsekretär<br />

Peter Tauber könnte mit seinem<br />

Hipsterbart jederzeit als Barista in einem<br />

Kreuzberger Café anheuern. Merkel<br />

hat die rechten Geister aus der CDU vertrieben;<br />

verschwunden sind sie deshalb<br />

nicht.<br />

Wenn es Merkels Ziel war, die deutsche<br />

Politik zu mäßigen, dann ist das gründlich<br />

misslungen. Mit der AfD wird deutlich,<br />

was passiert, wenn das zivilisierende Korsett<br />

der Volkspartei entfällt. Unsagbares<br />

wird plötzlich sagbar, das rohe Ressen -<br />

timent kehrt zurück: Alexander Gauland,<br />

einst braver Chef der hessischen Staatskanzlei,<br />

nennt Merkel eine Diktatorin und<br />

würdigt die Leistungen der deutschen Soldaten<br />

im Zweiten Weltkrieg. Die AfD ist<br />

die hässliche, braune Kehrseite der durch<br />

und durch aufgeklärten Merkel-CDU.<br />

Was nun? Merkel weigert sich, die CDU<br />

wieder ein Stück weiter nach rechts zu<br />

schieben, auch weil es wie das Eingeständnis<br />

eines Fehlers wirken würde. Merkel<br />

geht es jetzt um die Verteidigung ihres Erbes,<br />

und kein CDU-Chef hat die Partei so<br />

weit in die Mitte geführt. Das ist ihr Vermächtnis.<br />

Merkel will sich dafür genauso<br />

wenig entschuldigen wie Gerhard Schröder<br />

für seine Agenda. Es geht jetzt auch<br />

ums Rechthaben.<br />

Inzwischen gibt es in Europa etliche<br />

Parteien, die keinen eigenen inhaltlichen<br />

Kern mehr haben, sondern nur noch dazu<br />

da sind, ihren Spitzenkandidaten zu tragen.<br />

Die ÖVP des Sebastian Kurz gehört<br />

dazu, auch Emmanuel Macrons Bewegung<br />

„En Marche!“ in Frankreich. Beide sind<br />

auf ihre Weise erfolgreich, allerdings vollkommen<br />

abhängig von der Person an der<br />

Spitze. Die CDU ist immer gut damit<br />

gefahren, sich nicht ganz dem Vorsitzenden<br />

auszuliefern. Auch das hat Merkel<br />

geändert.<br />

■<br />

DER SPIEGEL 43/ 2017<br />

43


<strong>Der</strong> Messias war kaum verkündet,<br />

da holte ihn die eigene Partei schon<br />

wieder auf den Boden der Realität<br />

zurück. <strong>Der</strong> designierte neue sächsische<br />

Ministerpräsident Michael Kretschmer, ätzte<br />

die einheimische CDU-Bundestagsabgeordnete<br />

Veronika Bellmann via Facebook,<br />

habe mit seinen 42 Jahren eine steile<br />

Karriere hingelegt. Vom Studium direkt<br />

zum Mitarbeiter in ihrem Abgeordnetenbüro,<br />

dann in den Bundestag und nun auf<br />

den Chefposten in der Dresdner Staatskanzlei:<br />

„Kreißsaal – Hörsaal – Plenarsaal<br />

– MP?!“ Ein politisches Talent sei er<br />

ja ohne Zweifel, „aber ein Sebastian Kurz<br />

für Sachsen ist er definitiv nicht“.<br />

Die kleine Lösung an<br />

der Elbe zeigt, wie verzweifelt<br />

die sächsische<br />

Union versucht, ihre erodierende<br />

Macht zu stabi -<br />

lisieren. Die AfD ist seit<br />

der Bundestagswahl die<br />

stärkste Kraft in einem<br />

Land, in dem die CDU seit<br />

27 Jahren regiert und einst<br />

Wahl ergebnisse von bis zu<br />

58 Prozent erzielte. Blanke<br />

Panik macht sich unter den<br />

Mandatsträgern breit. Mit<br />

Noch-Regierungschef Tillich: Da ist etwas zerbrochen<br />

<strong>Der</strong> Betriebsunfall<br />

Sachsen Nach dem überraschenden Rücktritt von Ministerpräsident<br />

Stanislaw Tillich soll ein Wahlverlierer die angeschlagene<br />

Partei retten. Michael Kretschmer kündigt einen starken Staat an.<br />

Nachfolger Kretschmer<br />

„Sachse mit Herz“<br />

seinem überraschenden Rücktritt als Regierungschef<br />

offenbarte Stanislaw Tillich<br />

seine eigene Ratlosigkeit. Kretschmer, so<br />

sagt er, sei „jung und doch erfahren“. Ein<br />

„Sachse mit Herz und Verstand“. Nur, ob<br />

Jugend und Herkunft reichen, um bei der<br />

Landtagswahl 2019 die Mehrheit der bisherigen<br />

Staatspartei zu retten, wird selbst<br />

in den eigenen Reihen bezweifelt.<br />

Doch Tillich hat die Partei mit seiner<br />

einsamen Entscheidung überrumpelt. Ei -<br />

ne Stunde vor der Verkündung am Mitt -<br />

woch holte er das Parteipräsidium in die<br />

Staatskanzlei. Die Teilnehmer glaubten<br />

an eine Kabinettsumbildung, eine Neuausrichtung<br />

der Politik. Kurz nach der<br />

Wahl hatte Tillich einen<br />

Rechtsruck angekündigt.<br />

Mehr innere Sicherheit,<br />

mehr Abschiebungen, damit<br />

rechneten die Christdemokraten.<br />

Stattdessen<br />

warf der Mann entnervt<br />

hin. Niemand konnte ihn<br />

umstimmen, obwohl man<br />

ihn verzweifelt als „Pfeiler<br />

SVEN ELLGER / IMAGO<br />

RALF HIRSCHBERGER / DPA<br />

der Stabi lität“ würdigte.<br />

Da ist etwas zerbrochen<br />

zwischen Tillich und seinen<br />

Sachsen. Es gab in den<br />

letzten Jahren immer mal wieder Szenen,<br />

die das beschreiben. Wenn der Regent in<br />

seinem Büro mit Blick über Elbe und<br />

Dresdner Altstadt saß und sagte, er verstehe<br />

sein Land nicht und manchmal nicht<br />

einmal die eigene Partei. Dieses permanente<br />

Kokettieren mit der AfD, Verständnis<br />

für Pegida, die Ignoranz gegenüber Rassismus.<br />

Aber er müsse mit der „Partei leben,<br />

wie sie nun einmal ist“.<br />

Geholfen haben die Anbiederung nach<br />

rechts und das ratlose Aussitzen in der<br />

Staatskanzlei ganz offensichtlich nicht. Bei<br />

der Bundestagswahl verlor die Sachsen-<br />

Union 15,8 Prozentpunkte vor allem an<br />

die AfD. Die kam am Ende auf 27 Prozent,<br />

die CDU auf 26,9. Drei Wahlkreise gingen<br />

komplett an die AfD. Fehlt der Erfolg,<br />

kommen schnell die Heckenschützen.<br />

Amtsvorgänger Kurt Biedenkopf übernahm<br />

die Rolle. Die beiden Christdemokraten<br />

hatten sich zuvor wegen Biedenkopfs<br />

staatlich finanzierten Tagebüchern<br />

beharkt. Nun gab „König Kurt“ der „Zeit“<br />

genüsslich zu Protokoll, er sorge sich um<br />

sein Lebenswerk. Die Sachsen hätten das<br />

Gefühl, sie würden nicht gut regiert. Tillich<br />

sei scheu, wenn es um Entscheidungen<br />

gehe, und ihm fehle die nötige Vorbildung.<br />

Er sei ohnehin für das Amt ursprünglich<br />

nicht vorgesehen gewesen. Ein Regierungschef<br />

quasi als Betriebsunfall. Tillich hat<br />

die Brachialkritik schwer getroffen. Als<br />

dann noch die CDU-Landräte meuterten,<br />

war das Maß voll.<br />

Richten soll es nun ein Mann, dem Parteifreunde<br />

bislang maximal ein Ministeramt<br />

zugetraut hätten. Michael Kretschmer<br />

ist ein Eigengewächs der sächsischen<br />

Union. Mit 14 ging er in die Parteijugend,<br />

mit 19 wurde er Stadtrat in Görlitz. Er hat<br />

eine Ausbildung als Büroinformationselektroniker,<br />

studierte Wirtschaftsingenieur -<br />

wesen. Mit 27 zog er in den Bundestag ein,<br />

mit 29 wurde er Generalsekretär der Landes-CDU.<br />

Es ist eine klassische Partei -<br />

karriere ohne den geringsten Abzweig in<br />

das Leben der anderen.<br />

Politisch ist der Mann schwer einzuordnen.<br />

Er selbst beteuert, er stehe „mit beiden<br />

Beinen fest in der Mitte“. Wenn es<br />

der Sache dient, beugt er sich jedoch auch<br />

gern nach rechts. Es war Kretschmer, der<br />

2015 den Stacheldrahtzaun von Ungarns<br />

Ministerpräsident Viktor Orbán an der<br />

Grenze zu Serbien verteidigte: „Ich finde<br />

das richtig.“ Kurz darauf forderte er, damals<br />

Vizechef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,<br />

ein Bekenntnis seiner Partei zur<br />

Begrenzung der Flüchtlingszahlen.<br />

Und als 2016 Sachsens Vizeregierungs -<br />

chef Martin Dulig (SPD) wegen der fremdenfeindlichen<br />

Randale im Land Polizei<br />

und Justiz eine „inakzeptable Laisser-faire-<br />

Haltung“ attestierte, watschte ihn Kretschmer<br />

rüde ab: Dulig schade „unserem Land<br />

durch sein Auftreten“, man müsse von<br />

44 DER SPIEGEL 43 / 2017


Deutschland<br />

einem Minister „ein Mindestmaß an Loyalität<br />

gegenüber der Gesellschaft erwarten“.<br />

Einen Auftritt Kretschmers bei „Anne Will“<br />

zum Thema Flüchtlinge kommentierte die<br />

„Welt“ mit den Worten, Kretschmer sei „in<br />

manchen Phasen wie der in die CDU verlängerte<br />

Arm von Pegida“ aufgetreten.<br />

Jetzt trifft Kretschmer auf eine waidwunde<br />

Partei, die nach Orientierung sucht<br />

und einem Rechtsruck wohl nicht im Wege<br />

stünde. Wohin geht die Reise unter einem<br />

Ministerpräsidenten Kretschmer? Nachdem<br />

sich Parteivorstand und Landtagsfraktion<br />

– mit einigen Abweichlern – hinter<br />

ihn gestellt hatten, gab Kretschmer einen<br />

ersten Ausblick: <strong>Der</strong> Rechtsstaat müsse<br />

durchgesetzt werden, es zählten ein starker<br />

Staat und „deutsche Werte“.<br />

Es ist die Tonlage, die sich bereits in einem<br />

mit der CSU verfassten „Aufruf zu<br />

einer Leit- und Rahmenkultur“ findet, an<br />

dem Kretschmer mitgearbeitet hat. Auszug:<br />

„Patriotisch ist, wer sein Land und<br />

dessen Leute mag.“ Nationalhymne und<br />

Fahne werden ebenso als „Voraussetzungen<br />

gemeinsamen Glücks“ gepriesen wie<br />

der Gebrauch der deutschen Sprache und<br />

bewährte Umgangsformen. Ohne solche<br />

Gemeinsamkeiten, heißt es in dem Papier,<br />

„zerfällt eine Gesellschaft“.<br />

Unumstritten tritt Kretschmer das Tillich-Erbe<br />

nicht an. Gerade hat er nach<br />

15 Jahren sein Mandat für den Bundestag<br />

verloren. Ausgerechnet an einen weitgehend<br />

unbekannten Malermeister der AfD.<br />

Einen, mit dem er früher in der Jungen<br />

Union war und mit dem er einst Helmut<br />

Kohl im Kanzleramt besuchte. Kretschmer<br />

steht für die Niederlage der heimischen<br />

CDU bei der Bundestagswahl. Auch weil<br />

er als Generalsekretär seiner Partei die<br />

Kampagne maßgeblich gesteuert hat. Nach<br />

verlorenen Wahlen sind für gewöhnlich<br />

die Generalsekretäre die Ersten, die ihren<br />

Kopf hinhalten müssen. Auch an der<br />

Basis in Sachsen gab es solche Stimmen.<br />

Doch nun wird der große Wahlverlierer<br />

befördert.<br />

Nach Lage der Dinge gab es nur einen<br />

Mann, der Tillichs Wunschnachfolger hätte<br />

verhindern können: Bundesinnenminister<br />

Thomas de Maizière. <strong>Der</strong> Bundespolitiker<br />

mit Wahlkreis in Meißen war sogar von<br />

Biedenkopf ins Spiel gebracht worden.<br />

Doch die klandestine Vorbereitung des Tillich-Rücktritts<br />

ließ ihm kaum Zeit, die<br />

Truppen zu sammeln, er hätte sofort springen<br />

müssen. Er tat es nicht und hielt im<br />

Landesvorstand, so empfanden es die Teilnehmer,<br />

stattdessen eine Laudatio auf<br />

Kretschmer. Dann gab er bekannt, seine<br />

Lebensplanung auf Berlin auszurichten.<br />

Kretschmer bleibt nun Zeit bis zur Wahl<br />

des Ministerpräsidenten im Dezember, sich<br />

in Sachsen bekannt zu machen und Kritiker<br />

zu überzeugen. <strong>Der</strong> Neue kündigt einen<br />

intensiven Dialog mit der Parteibasis<br />

und den Menschen im Land an. Er wolle<br />

nachsteuern bei der inneren Sicherheit und<br />

mehr Lehrer in die Schulen bringen. <strong>Der</strong><br />

ländliche Raum müsse ebenso gefördert<br />

werden wie die großen Städte. Er werde<br />

„zuhören, um zu verstehen“.<br />

Ob er auch eine Verwaltung führen kann,<br />

ist eine bange Frage, die viele Christdemokraten<br />

seit dieser Woche umtreibt. Kretschmer<br />

war nie Minister, nie Staatssekretär.<br />

Er kennt den Staatsapparat nur von außen.<br />

Experte für die Eignung von Politikern<br />

für das wichtigste Amt im Freistaat ist unbestritten<br />

Kurt Biedenkopf. Seinem späteren<br />

Nachfolger Georg Milbradt gab er einst<br />

mit auf den Weg, ein hochbegabter Fachmann,<br />

aber ein miserabler Politiker zu sein.<br />

Tillich, der immerhin Europaminister, Chef<br />

der Staatskanzlei, Umweltminister und Finanzminister<br />

war, fehlte angeblich die Vorbildung<br />

für das hohe Amt. Man darf gespannt<br />

sein, wann der „König“ sich wieder<br />

meldet. Andreas Wassermann, Steffen Winter<br />

© 2017 McDonald’s<br />

* Ob dein Restaurant an der Verkaufsaktion teilnimmt, erfährst du im Restaurant an der Kasse.


Deutschland<br />

„Souverän<br />

geht anders“<br />

Die Linke Fraktionschefin Wagenknecht<br />

legt im Machtkampf<br />

der Führung nach: Die Partei<br />

müsse ihre Position in<br />

der Flüchtlingsfrage ändern.<br />

Einer, der schon lange dabei ist, kommentierte<br />

das jüngste Scharmützel<br />

mit dem routinierten Zynismus des<br />

erfahrenen Gremienpolitikers: „Uns wird<br />

ja gern unterstellt, wir wollten gar nicht<br />

regieren“, sagte der Genosse in kleiner<br />

Runde. „Dabei haben wir doch gerade erlebt,<br />

dass wir sehr herrschsüchtiges Personal<br />

haben.“<br />

Keiner lachte. Denn die Frage, ob die<br />

Linke im Bund regierungstauglich und<br />

-willig ist, stellt sich seit dieser Woche gar<br />

nicht mehr. Eher die Frage, ob sie überhaupt<br />

politiktauglich ist.<br />

Die Geschichte der Linkspartei war stets<br />

eine Geschichte von Duellen: Ost gegen<br />

West, Mann gegen Frau, Realo gegen Fundi,<br />

Lafontaine gegen Bartsch, Gysi gegen<br />

Lafontaine. In dem ewigen Drama könnte<br />

die Paarung Sahra Wagenknecht gegen<br />

Katja Kipping nun in einem Grundsatzstreit<br />

um die Flüchtlingspolitik münden.<br />

Es geht um die Ausrichtung der Partei:<br />

Die Parteivorsitzende Kipping zielt auf das<br />

urbane, aufgeklärte Milieu, eine junge,<br />

weltoffene und avantgardistische Linke.<br />

Fraktionschefin Wagenknecht sieht in der<br />

Flüchtlingspolitik dagegen die Hauptursache<br />

für die Wählerwanderung von links<br />

nach rechts, gerade im Osten. „Es geht darum,<br />

sensibler mit den Ängsten von Menschen<br />

umzugehen, statt sie als ‚rassistisch‘<br />

zu diffamieren und damit Wähler regelrecht<br />

zu vertreiben“, sagt sie.<br />

Wagenknecht will die Linke nach rechts<br />

schieben – und kündigt an, sich bei dem<br />

Reizthema weiter gegen die Parteilinie zu<br />

stellen: „Statt mit der wenig realitätstaug -<br />

lichen Forderung ‚Offene Grenzen für alle<br />

Menschen sofort‘ Ängste und Unsicherheitsgefühle<br />

zu befördern, sollten wir uns darauf<br />

konzentrieren, das Asylrecht zu verteidigen“,<br />

so Wagenknecht. „Das bedeutet nicht,<br />

dass jeder, der möchte, nach Deutschland<br />

kommen und hier bleiben kann.“ In der<br />

Frage müsse man bald zu einer neuen Linie<br />

kommen. Die Rassismusvorwürfe gegen<br />

sich wies sie als absurd zurück: „So zu argumentieren<br />

ist politisch fahrlässig, weil es<br />

echte, gefährliche Rassisten wie Björn Höcke<br />

unkenntlich macht und so verharmlost.“<br />

Es geht um politische Strategie – und<br />

um einen Machtkampf zwischen den beiden<br />

bekanntesten Frauen der Partei. Nach<br />

dem mittelprächtigen Ergebnis bei der<br />

Bundestagswahl wollte Kipping den schon<br />

lange gehegten Plan umsetzen, ihren<br />

Einfluss auch in der Bundestagsfraktion<br />

auszudehnen: über Vertraute im Fraktionsvorstand<br />

und über mehr Stimm- und<br />

Rederechte für die Parteichefs in der parlamentarischen<br />

Vertretung der Linken.<br />

Wagenknecht wehrte diesen Angriff auf<br />

ihren Machtbereich als Fraktionsvorsitzende<br />

ab, indem sie mit Rücktritt drohte. Mit<br />

derselben Methode hatte sie bereits ver-<br />

* Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch, Bernd Riexinger,<br />

Katja Kipping.<br />

Linkenpolitiker beim Fraktionstreffen in Potsdam am 17. Oktober*: Führung durch Erpressung<br />

CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL<br />

hindert, dass die Parteichefs Kipping und<br />

Bernd Riexinger Spitzenkandidaten zur<br />

Bundestagswahl wurden. Das Problem an<br />

dieser Methode: Sie lässt sich nicht beliebig<br />

oft wiederholen.<br />

In der Linken kursiert nun der Vorwurf<br />

„Führung durch Erpressung“. Stundenlang<br />

diskutierte die Fraktion vorigen Dienstag<br />

in Potsdam die künftige Aufstellung. Es<br />

wurde laut. „Ein peinlicher Kindergarten“<br />

sei das Ganze, so ein Fraktionsmitglied.<br />

Ein Machtspiel, bei dem alle verlören.<br />

Und auch die Ideen, mit denen die Partei<br />

Wähler zurückgewinnen will, wirken<br />

hilflos: Mehr Hüpfburgen in den Städten<br />

oder weniger Anträge im Bundestag? Die<br />

einen wollen die Bockwurstesser im Osten<br />

nicht verprellen, die anderen zielen auf<br />

die Veganer in den Großstädten. Ein Drittel<br />

der Teilnehmer waren Neulinge im Bundestag.<br />

Sie zeigten sich besonders frustriert<br />

über den misslungenen Start. „Verzweifelt“<br />

beschrieb einer die Stimmung.<br />

Schließlich zogen sich die drei Hauptkontrahenten<br />

gemeinsam mit Co-Fraktions -<br />

chef Dietmar Bartsch in ein Zimmer zurück,<br />

um eine Lösung zu finden. Kipping<br />

und Wagenknecht, beide in unschuldiges<br />

Weiß gekleidet, guckten sich kaum in die<br />

Augen. Demonstrativ verschränkte Wagenknecht<br />

die Arme vor der Brust. Kipping<br />

raufte sich die Haare, verwies auf die Beschlüsse<br />

der Partei. Bartsch ließ durchblicken,<br />

dass es ein Leichtes gewesen wäre,<br />

die Anträge aus der Parteiführung in der<br />

Fraktion komplett durchfallen zu lassen.<br />

Er pochte auf Kompromisse, damit jeder<br />

sein Gesicht wahren könne.<br />

Im Ergebnis durfte dann Kipping ihre<br />

Freundin Caren Lay als Fraktionsvize<br />

durchsetzen. Dafür blieben die Fraktionschefs<br />

im Kampf um die heiß begehrten Rederechte<br />

und -zeiten im Bundestag hart.<br />

Was dieser Kompromiss wert ist, zeigte<br />

sich bereits bei seiner Präsentation vor<br />

Journalisten. Weil Bernd Riexinger es wagte,<br />

als Erster zu reden, fiel Wagenknecht<br />

ihm ins Wort und übernahm: „Bernd, das<br />

ist hier die Pressekonferenz der Fraktion.“<br />

Kipping kofferte wegen dieses Maulkorbs<br />

später zurück: „Souverän geht anders.“<br />

In der Opposition konkurriert die Partei<br />

künftig mit AfD und SPD um Aufmerksamkeit<br />

und Ideen. Wie soll das gehen angesichts<br />

des Führungsstreits? Beginnt nun<br />

die Restlaufzeit, oder kann die Partei sich<br />

noch mal neu erfinden? Die brauchten so<br />

etwas wie eine Mediation, glaubt der Ex-<br />

Vorsitzende Klaus Ernst.<br />

Doch nun fürchten viele, dass Wagenknecht<br />

auch ihre Flüchtlingspolitik mit einer<br />

Rückzugsdrohung durchsetzen will –<br />

gegen den Widerstand von Parteichefin<br />

Kipping. Komme es so weit, sagt einer aus<br />

dem neuen Fraktionsvorstand, könnte das<br />

bedeuten: Eine von beiden muss gehen.<br />

Nicola Abé, Markus Deggerich<br />

46 DER SPIEGEL 43 / 2017


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Deutschland<br />

Doppelt kassieren<br />

Kommunen Mit einem fragwürdigen Vorruhestandsmodell wollen Sparkassen bundesweit<br />

Personal loswerden – zulasten des Sozialstaats.<br />

Mehr als 150 Jahre lang gab es im<br />

Peiner Land, auf halber Strecke<br />

zwischen Hannover und Braunschweig<br />

gelegen, eine eigenständige Bank,<br />

die Kreissparkasse Peine. Es war ein überschaubares<br />

Kreditinstitut, zuletzt arbeiteten<br />

dort rund 400 Mitarbeiter, sie betreuten<br />

15 Filialen im Landkreis.<br />

Doch dann glaubten die Politiker in der<br />

Region, das Geldhaus sei zu klein, um im<br />

Wettbewerb bestehen zu können. Des -<br />

halb musste es Anfang dieses Jahres mit<br />

den Sparkassen Hildesheim und Goslar/<br />

Harz fusionieren. Sitz der neuen Bank ist<br />

Hildesheim, sie ist die drittgrößte Sparkasse<br />

Niedersachsens und mit 1700 Mit -<br />

arbeitern einer der größten Arbeitgeber<br />

der Region.<br />

Wie in Peine ist es in vielen Regionen.<br />

Seit Jahren fusionieren Sparkassen, werden<br />

Filialen geschlossen, Stellen gestrichen.<br />

Niedrige Zinsen und der Strukturwandel<br />

in der Branche erhöhen den Druck zur<br />

Veränderung.<br />

Doch seit der Fusion der drei Sparkassen<br />

in Südniedersachsen hat Vorstandschef<br />

Jürgen Twardzik ein Problem: Er verfügt<br />

über zu viel Personal. Was soll er mit drei<br />

Personalabteilungen, drei Vorstandssekretariaten,<br />

drei Buchhaltungen? In internen<br />

Unterlagen der Sparkasse werden „hohe<br />

Personalüberhänge“ beklagt, mehr als<br />

300 Mitarbeiter sind demnach entbehrlich.<br />

Andererseits sind Entlassungen keine<br />

Lösung. Hire and fire – das könnte sich<br />

ein internationaler Finanzkonzern erlauben,<br />

nicht aber eine Sparkasse, hinter der<br />

Kommunen stehen, deren Bürgermeister<br />

und Landräte wiedergewählt werden wollen.<br />

Sparkassen fördern Sport und Kultur.<br />

Auf dem Image des heimatverbundenen<br />

Geldhauses beruht ihr Erfolg.<br />

Also machte Twardzik gute Miene zum<br />

bösen Spiel: Für die Kunden werde sich<br />

durch die Fusion nur wenig ändern, beteuerte<br />

der Vorstandschef. Und auch die Mitarbeiter<br />

hätten die nächsten Jahre nichts<br />

zu befürchten. Falls Personal abgebaut<br />

werden müsse, solle dies durch natürliche<br />

Fluktuation geschehen.<br />

Wie aber soll das gehen? Ein Fünftel der<br />

Belegschaft möglichst schnell durch Fluktuation<br />

abbauen? Die Antwort soll die Unternehmensberatung<br />

Bertschat und Hundertmark<br />

liefern, die Twardzik diskret engagiert<br />

hat. Die Firma aus Bad Nauheim<br />

versteht sich auf den geräuschlosen Personalabbau<br />

und gilt als heißer Tipp unter<br />

Sparkassenchefs, die sparen wollen.<br />

48 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

CHRIS GOSSMANN<br />

Kreditinstitut in Hildesheim: Das Image des heimatverbundenen Geldhauses wahren<br />

Bertschat und Hundertmark sind bestens<br />

im Geschäft. Das Unternehmen hat<br />

ein spezielles Personalabbaumodell ent -<br />

wickelt, den „Vorruhestand-Flex“. Ältere<br />

Mitarbeiter erhalten dabei ein lukratives<br />

Abfindungsangebot, das ihnen helfen soll,<br />

die Zeit zwischen dem Ausscheiden und<br />

dem Rentenbeginn zu überbrücken.<br />

<strong>Der</strong> Clou daran: Die Vorruheständler<br />

sollen sich bei der Arbeitsagentur jobsuchend<br />

melden, um bis zu zwei Jahre lang<br />

Arbeitslosengeld zu beziehen. So können<br />

sie doppelt kassieren: die Abfindung der<br />

Sparkasse und zusätzlich Stütze.<br />

Besonders rechnet sich das Modell für<br />

den Arbeitgeber. Allein die Sparkasse<br />

Hildesheim Goslar Peine kann bei ihrem<br />

Personalabbau einen Millionenbetrag sparen,<br />

wenn sie nicht, wie bei echten Vor -<br />

ruhestandsmodellen üblich, die Kosten<br />

vollständig selbst trägt.<br />

Rechtlich liegt ein solches Vorruhestandskonstrukt<br />

zulasten der Sozialkassen in einer<br />

Grauzone. Zwar war es bis vor zehn Jahren<br />

in vielen Branchen üblich, überzählige ältere<br />

Mitarbeiter zum Amt abzuschieben.<br />

Damals konnten Arbeits lose ab dem 58. Lebensjahr<br />

Arbeitslosengeld und danach<br />

Hartz IV kassieren, ohne dem Arbeitsmarkt<br />

zur Verfügung zu stehen. Dann aber änderte<br />

die Bundesregierung die Vorschriften.<br />

Seither dürfen auch ältere Arbeitslose nicht<br />

auf dem Sofa die freie Zeit genießen. Sie<br />

müssen bereit sein, einen neuen, womöglich<br />

auch schlechter bezahlten Job anzunehmen.<br />

Tun sie es nicht, drohen Sanktionen.<br />

Allerdings ist es für die Arbeitsagen -<br />

turen nicht einfach herauszufinden, ob<br />

die oft schwer vermittelbaren älteren Ex-<br />

Banker ernsthaft einen neuen Job suchen<br />

oder nur das Arbeitslosengeld I (ALG I)<br />

kassieren wollen. Auf jeden Fall werde das<br />

Modell „kritisch“ gesehen, sagt eine Sprecherin<br />

der Bundesagentur für Arbeit: „<strong>Der</strong><br />

Bezug von Arbeitslosengeld widerspricht<br />

der Idee eines Vorruhestands.“<br />

Den klandestinen Griff in die Sozialkassen<br />

versuchen auch andere Unternehmen.<br />

Doch bei den Sparkassen ist er besonders<br />

pikant. Denn laut Gesetz muss ihre Tätigkeit<br />

darauf gerichtet sein, der Allgemeinheit<br />

zu dienen.<br />

Kein Verständnis für die Tricks hat deshalb<br />

die Gewerkschaft Ver.di. „So etwas<br />

gehört sich nicht“, findet der Fachbereichsleiter<br />

Finanzdienstleistungen beim Landesbezirk<br />

Niedersachsen-Bremen, Markus<br />

Westermann: „Sparkassen haben einen<br />

öffentlichen Auftrag und nicht das Ziel, il -<br />

legal die öffentlichen Kassen zu plündern.“


Den Vorstandschef<br />

plagt kein schlechtes<br />

Gewissen dabei, die<br />

Sozialkassen anzuzapfen.<br />

Bei welchen Sparkassen Bertschat und<br />

Hundertmark tätig sind, lässt sich nur<br />

schwer herausfinden. „Die Berater erhalten<br />

praktisch bei jedem Sparkassenvorstand<br />

sofort einen Termin, wenn sie ihr<br />

Konzept vorstellen wollen“, heißt es in der<br />

Branche.<br />

Das Unternehmen selbst will keine<br />

Auskunft geben: Es sei zur „Verschwiegenheit<br />

gegenüber Dritten verpflichtet“. Für<br />

die Anwendung des „Vorruhestand-Flex“-<br />

Modells seien die Sparkassen und ihre<br />

Arbeit nehmer allein verantwortlich.<br />

Auch die Geldhäuser geben sich zu -<br />

geknöpft. Dabei hat der bayerische Sparkassenverband<br />

sogar eine Rahmenvereinbarung<br />

mit Bertschat und Hundertmark<br />

unterzeichnet. Für den niedersächsischen<br />

Verband organisierten die Berater im Frühjahr<br />

zwei Workshops, und auch in Nordrhein-Westfalen<br />

sind sie gefragt.<br />

In einer Postille des Deutschen Sparkassen-<br />

und Giroverbands machte Firmenchef<br />

Bernhard Bertschat im Sommer ungeniert<br />

für den Griff in die Sozialkassen Werbung.<br />

Unter der Überschrift „Was Vorruhestandsmodelle<br />

unschlagbar macht“ beschreibt er<br />

den Kniff mit der Arbeitsagentur. „Ein bestehender<br />

ALG-I-Anspruch wird fiktiv angerechnet“,<br />

frohlockt er.<br />

Stolz berichtet Bertschat auch, dass „immer<br />

mehr Sparkassen“ sein Vorruhestandsmodell<br />

favorisierten. So habe Anfang des<br />

Jahres die Sparkasse Vorpommern das Projekt<br />

„zur Zufriedenheit von Arbeitgeber<br />

und Arbeitnehmern“ umgesetzt.<br />

Und tatsächlich: Nach der Fusion der<br />

Sparkassen Vorpommern und Rügen, bestätigt<br />

eine Sprecherin, habe man mit Bertschat<br />

und Hundertmark ein Abbauprogramm<br />

entwickelt. 76 Mitarbeitern über<br />

57 Jahre sei das Modell „Vorruhestand-<br />

Flex“ angeboten worden. Die Annahmequote<br />

lag bei 96 Prozent. Ob alle ausscheidenden<br />

Kollegen nun zum Arbeitsamt gehen,<br />

um die Abfindung mit Arbeitslosengeld<br />

aufzustocken, wisse sie nicht, sagt sie: „Ich<br />

glaube aber nicht, dass das ein Problem ist.“<br />

Dass sich das Abfindungsmodell nur<br />

mit der zusätzlichen Stütze rechnet, zeigen<br />

die Unterlagen der Sparkasse Hildesheim<br />

Goslar Peine. Nach einer Beispielrechnung<br />

sollen einem 59-jährigen Sparkassenmit -<br />

arbeiter 95 Prozent seines bis herigen<br />

Netto gehalts bis zum Renteneintritt mit 63<br />

garantiert werden. Selbst die Sozialversicherungsbeiträge<br />

und die fälligen Steuern<br />

auf den Abfindungsbetrag werden über-<br />

nommen. Das Geld erhält der „Vorruheständler“<br />

mit dem Ausscheiden auf einen<br />

Schlag. Das hört sich attraktiv an.<br />

Mithilfe eines Computerprogramms berechnet<br />

das Unternehmen allerdings auch<br />

den Arbeitslosengeldanspruch bis auf den<br />

Cent genau. Diese Summe kann mehrere<br />

Zehntausend Euro betragen und wird von<br />

der Abfindung abgezogen. Zudem geht<br />

die Berechnung davon aus, dass der Ex-<br />

Mitarbeiter während des Arbeitslosengeldbezugs<br />

über die Behörde krankenversichert<br />

ist.<br />

Als besonderen Service bietet die Unternehmensberatung<br />

die Betreuung der<br />

ausscheidenden Mitarbeiter bis zur Rente<br />

und eine Haftung für die Beratungsergebnisse<br />

an. Es gibt Gerüchte, Bertschat und<br />

Hundertmark würden den Betroffenen raten,<br />

Kaffeeflecken auf ihre Bewerbungsunterlagen<br />

zu machen, damit sie nicht unbeabsichtigt<br />

in einen neuen Job vermittelt<br />

werden. Das Unternehmen bestreitet, dass<br />

es eine spezielle Beratung der Mitarbeiter<br />

für den Umgang mit der Arbeitsagentur<br />

gebe. Es würden lediglich „die gesetzlichen<br />

Regelungen“ erläutert.<br />

Sparkassenchef Twardzik jedenfalls<br />

plagt kein schlechtes Gewissen, die So -<br />

zialkassen anzuzapfen: „Das machen andere<br />

Unternehmen auch“, sagt er, „und<br />

wir stehen im Wettbewerb.“ Die Mitarbeiter<br />

hätten zudem jahrelang in die Arbeitslosenversicherung<br />

eingezahlt. „Da ist es<br />

in Ordnung, wenn sie nach dem Ausscheiden<br />

ihre Ansprüche geltend machen.“ Für<br />

die Sparkasse gehe es darum, ein attraktives<br />

Abfindungs angebot zu machen, das<br />

sich wirtschaftlich rechne.<br />

Kontrolliert werden die Sparkassenvorstände<br />

von Verwaltungsräten, in denen vor<br />

allem Kommunalpolitiker sitzen. Diese<br />

könnten am meisten von der dubiosen Finanzierung<br />

des Personalabbaus profitieren:<br />

Ausschüttungen der Sparkassen fließen in<br />

die Haushalte ihrer Städte und Landkreise.<br />

Kein Wunder, dass es dort ebenfalls<br />

wenig Unrechtsbewusstsein gibt. An der<br />

Spitze des Verwaltungsrats der neuen Spar -<br />

kasse steht Ingo Meyer, Oberbürgermeister<br />

von Hildesheim. „Kein Mitarbeiter wird<br />

gezwungen, einen Vorruhestandsvertrag<br />

zu unterschreiben. Keiner wird gezwungen,<br />

sich arbeitslos zu melden“, sagt er,<br />

obwohl das Modell gerade darauf basiert.<br />

Die Politiker hätten die Fusion schließlich<br />

nicht beschlossen, weil die Sparkassen<br />

„auf Rosen gebettet“ seien. Dass die Stadt<br />

vom Umbau des Geldhauses profitiert, bestreitet<br />

das Stadtoberhaupt nicht. Mit mehr<br />

als 1,6 Millionen Euro haben die drei<br />

Sparkassen im vergangenen Jahr Vereine<br />

und soziale Initiativen in der Region unterstützt.<br />

„Das muss so bleiben“, findet<br />

Meyer, „in dem Bereich ist unsere Sparkasse<br />

der größte Player in der Stadt.“<br />

Michael Fröhlingsdorf<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

49<br />

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1<br />

WHO. Media Centre Hepatitis C Fact sheet No164. http://www.<br />

who.int/mediacentre/factsheets/fs164/en/ [letzter Zugriff Juni 2017]<br />

2<br />

Marinho RT et al. World J Gastroenterol 2013; 19: 6703-6709


Deutschland<br />

Kita mit Yoga<br />

Kleinkinder Private Krippen<br />

verlangen teils mehr als 1000 Euro<br />

pro Monat. Müssen Kommunen<br />

die Mehrkosten erstatten, wenn sie<br />

selbst zu wenig Plätze haben?<br />

50 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Es war viel zu organisieren für die<br />

dreiköpfige Familie: der Umzug von<br />

Köln nach München, die neue Wohnung,<br />

Räume für die Zahnarztpraxis, die<br />

die Mutter dort eröffnen wollte – und eine<br />

Betreuung für den zweijährigen Sohn.<br />

Sechs Monate im Voraus beantragte die<br />

Mutter bei der Stadt München einen Platz.<br />

Doch erst zwei Monate vor dem benötigten<br />

Termin bot die Verwaltung ihr mehrere<br />

Tagesmütter an, die aber nicht die gewünschten<br />

Betreuungszeiten hatten. In<br />

ihrer Panik suchte die Mutter nach einer<br />

privaten Kita und fand auch schnell einen<br />

Platz zum Wunschtermin. Kostenpunkt<br />

allerdings: monatlich 1380 Euro für die<br />

Ganztagsbetreuung, plus 100 Euro Essensgeld.<br />

Da die Stadt München ihrer Pflicht, einen<br />

Betreuungsplatz bereitzustellen, nicht<br />

rechtzeitig nachgekommen sei, klagten die<br />

Eltern für ihr Kind auf sogenannten Aufwendungsersatz.<br />

Vor dem Verwaltungs -<br />

gericht scheiterten sie damit noch. Doch<br />

der Verwaltungsgerichtshof (VGH) gab<br />

ihnen im Grundsatz recht, wogegen die<br />

Stadt Revision einlegte.<br />

Kommenden Donnerstag verhandelt<br />

deshalb das Bundesverwaltungsgericht in<br />

Leipzig den Fall. Ein halbes Dutzend Klagen<br />

sind bereits jetzt beim VGH anhängig.<br />

Auch für andere Großstädte, wo in großer<br />

Zahl Kitaplätze fehlen, dürfte das Urteil<br />

relevant werden.<br />

Seit August 2013 haben Kinder schon<br />

ab dem ersten Geburtstag einen gesetz -<br />

lichen Anspruch auf einen Betreuungsplatz,<br />

entweder in einer Krippe, also in einer<br />

Kita, oder bei einer Tagesmutter. In<br />

München gibt es aktuell 3633 städtische<br />

Krippenplätze und 18019 weitere Klein -<br />

kinderplätze bei freien Trägern<br />

wie Kirchen und Privatinitiativen<br />

oder Tagesmüttern. In<br />

der bayerischen Landeshauptstadt<br />

können 64 Prozent der<br />

Ein- bis Dreijährigen versorgt<br />

werden.<br />

„Rechnerisch ist München<br />

gut aufgestellt“, sagt Ursula<br />

Oberhuber, die Sprecherin des<br />

städtischen Referats für Bildung<br />

und Sport. Doch die Plätze<br />

verteilen sich nicht gleichmäßig<br />

auf die Wohnviertel.<br />

Während in manchen Gegenden<br />

das Angebot ausreicht,<br />

müssen andernorts die Eltern<br />

suchen. Besserung ist nicht in Sicht, denn<br />

München wächst und wächst.<br />

Die Stadt misst dem anstehenden Urteil<br />

deshalb grundsätzliche Bedeutung zu:<br />

„Die Frage ist: Welcher Betreuungsplatz<br />

erfüllt den Rechtsanspruch?“, sagt Oberhuber,<br />

„die Entscheidung bindet die Verwaltungen<br />

bundesweit.“<br />

Dass prinzipiell eine Ersatzpflicht besteht,<br />

wenn Eltern gezwungen waren, sich<br />

auf dem privaten Markt eine Betreuung<br />

zu suchen, haben die Leipziger Richter bereits<br />

entschieden. Doch gilt eine solche Ersatzpflicht<br />

auch dann, wenn die Kommune<br />

Bewegungsraum in Münchner Privatkita Tejay’s: Auch Schwimmunterricht und Skikurse<br />

Kinderbetreuung<br />

in Deutschland, 2016 *<br />

Quote<br />

Bedarf<br />

1- bis unter 2-Jährige<br />

36%<br />

2- bis unter 3-Jährige<br />

61%<br />

MAXIMILIAN MUTZHAS<br />

eine Tagesmutter angeboten hat, die Eltern<br />

aber lieber einen Krippenplatz hätten?<br />

Und was ist, wenn sie sich eine Luxuskita<br />

suchen?<br />

Von den Tagesmüttern, urteilte der VGH<br />

im aktuellen Fall, hätte allenfalls eine den<br />

zeitlichen Bedarf der Eltern decken können.<br />

Um den Sohn dorthin zu bringen und<br />

wieder abzuholen, wäre die Mutter aber<br />

täglich zwei Stunden unterwegs gewesen –<br />

zu viel, meinten die Richter. Vor allem<br />

aber müssten Eltern sich nicht<br />

60%<br />

77%<br />

*Tageseinrichtungen, Tagespflege<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt; DJI<br />

mit einer Tagesmutter zufriedengeben,<br />

wenn sie ihr Kind<br />

lieber in eine Krippe geben<br />

möchten.<br />

Das haben andere Ober -<br />

gerichte bisher anders gesehen.<br />

Schon deshalb ist das Münchner<br />

VGH-Urteil für den Bayreuther<br />

Juraprofessor Stephan<br />

Rixen ein „Meilenstein“, weil<br />

Eltern auf dieser Basis frei zwischen<br />

Tagesmüttern und Krippen<br />

wählen könnten.<br />

Klar ist aber auch: Wenn das<br />

Bundesverwaltungsgericht dieses<br />

Wahlrecht bestätigen sollte,<br />

würde es für die Kommunen noch schwieriger.<br />

Viele Eltern dürften sich dann nicht<br />

mehr mit einem aus ihrer Sicht weniger befriedigenden<br />

Angebot abspeisen lassen.<br />

Auch in der Kostenfrage stellte sich der<br />

VGH klar auf die Seite der Zahnärztin und<br />

ihrer Familie. Ihre Mandantin habe sich<br />

keine „Luxuskita“ ausgesucht, sagt die Anwältin<br />

der Familie, Ingrid Hannemann.<br />

Auch städtische Einrichtungen hätten tatsächliche<br />

Kosten von 1033 Euro pro Platz –<br />

und zwar noch ohne die Kosten für Errichtung<br />

und Bewirtschaftung des Gebäudes.<br />

Da seien 350 Euro mehr für ein privates<br />

Angebot in München tendenziell im Rahmen,<br />

befanden auch die Richter des VGH.<br />

Die Betreiberin der angeblichen Luxuskita<br />

Tejay’s, Sonja Schmid, mag dieses Label<br />

zwar ebenso wenig wie die Anwältin,<br />

wirkt aber durchaus stolz darauf, dass ihre<br />

beiden Einrichtungen „von der Qualität<br />

und dem Förderangebot her in München<br />

sicher an der Spitze liegen“.<br />

Tatsächlich wird das Tejay’s zweisprachig<br />

geführt, auf Deutsch und Englisch. Zum<br />

Angebot gehören Yoga, Tanzen, Schwimm -<br />

unterricht und Skikurse; sechs Erzieherinnen<br />

betreuen 25 Kinder. Luxus oder nicht –<br />

die Münchner Richter sahen darin ein<br />

„Friss-oder-stirb-Angebot“, die Eltern hätten<br />

also keine andere Option gehabt.<br />

Dabei bringt sogar die Stadt München<br />

immer wieder Kinder im Tejay’s unter –<br />

und trägt dann zumindest den Großteil der<br />

Kosten. Angeblich hätte die Stadt auch<br />

dem Sohn der Zahnärztin dort noch einen<br />

Platz vermitteln können. Aber da sei der<br />

ja schon belegt gewesen – von ihm selbst.<br />

Jan Friedmann, Dietmar Hipp


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Früher war alles schlechter<br />

Nº 95: Wohlstand in China<br />

QUELLEN: XINHUA, EUROMONITOR<br />

1981 lebten fast 90 % der Chinesen in Armut … … 2016 sind es 3 %.<br />

2005 verdienten Industriearbeiter 1,20 Dollar die Stunde …<br />

… 2016 sind es 3,60 Dollar.<br />

2008 wurde die erste Hochgeschwindigkeitsstrecke für Züge eingeweiht …<br />

… 2016 sind es über 22000 Streckenkilometer.<br />

Kommunistische Wohltaten. Das im Westen verbreitete Mantra,<br />

dass früher alles besser gewesen sei, hört man in China so gut<br />

wie nie – oder nur von unverbesserlichen Ma(s)o(ch)isten.<br />

Doch der Große Sprung nach vorn, den Mao versprach, kam<br />

für China erst mit dem Anschluss an die Weltwirtschaft.<br />

Man darf die unfassbaren Zahlen, die seither in chinesischen<br />

Statistiken stehen, mit einem Superlativ zusammenfassen:<br />

Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit ging es so vielen<br />

Menschen in so kurzer Zeit so viel besser. 1981 lebten mehr<br />

als 800 Millionen oder fast 90 Prozent der Chinesen unter der<br />

absoluten Armutsgrenze (von 1,90 Dollar am Tag), heute<br />

sind es noch 43 Millionen. Inzwischen hat die Kommunistische<br />

Partei ein neues Ziel, sie nennt es eine „moderat wohlhabende<br />

Gesellschaft“: Die Stundenlöhne der Arbeiter haben<br />

sich seit 2006 von 1,20 auf 3,60 Dollar verdreifacht, liegen damit<br />

höher als in den meisten Schwellenländern und reichen<br />

bald an die in Portugal (4,50 Dollar) heran. Wie ist den Chinesen<br />

das gelungen? Unter anderem mit radikaler Verkehrspolitik:<br />

Seit 2006 baute China pro Jahr rund 94000 Kilometer neue<br />

Straßen, 260 Kilometer jeden Tag, und seit 2008 gut 22000 Kilo -<br />

meter Hochgeschwindigkeitsbahnstrecken. Auf diesen Straßen<br />

und Schienen rollen ihre Güter auf Chinas Häfen und rasen die<br />

Chinesen auf ihren moderaten Wohlstand zu. Über die Globalisierung<br />

schimpft hier kaum jemand.<br />

bernhard.zand@spiegel.de<br />

Stress<br />

Sind die Briefträger überfordert,<br />

Herr Cosmar?<br />

Thomas Cosmar, 55, Bezirks -<br />

vorsitzender bei der Dienstleistungsgewerkschaft<br />

Ver.di,<br />

über leere Briefkästen in Berlin<br />

SPIEGEL: Zurzeit erhalten<br />

viele Berliner ihre Post verspätet.<br />

Was ist da los?<br />

Cosmar: Wir haben einen sehr<br />

hohen Krankenstand. Die<br />

Zusteller sind physisch und<br />

psychisch überlastet.<br />

SPIEGEL: Ist Briefträger denn<br />

so ein harter Job?<br />

Cosmar: Natürlich! <strong>Der</strong> Briefträger<br />

hat in Berlin an seinem<br />

Fahrrad mindestens vier<br />

Briefbehälter. Die wiegen gefüllt<br />

rund 18 Kilogramm und<br />

werden mehrmals am Tag bewegt.<br />

Das ist Schwerstarbeit.<br />

SPIEGEL: Klingt nicht nach<br />

dem romantischen Bild vom<br />

deutschen Briefträger in der<br />

stolzen Uniform.<br />

Cosmar: So stellen sich das<br />

die Leute gern vor, ja. In der<br />

Realität ist der Briefträger bis<br />

zu 15 Kilometer unterwegs.<br />

Mit dem Rad. Ist er zu Fuß,<br />

sind es täglich sechs bis zehn<br />

Kilometer. Das muss man<br />

erst mal leisten, dauerhaft.<br />

Zumal das Durchschnittsalter<br />

der Briefträger bei über<br />

48 Jahren liegt.<br />

SPIEGEL: Fehlt der Briefträgernachwuchs?<br />

Cosmar: Ja. Von zehn Leuten,<br />

die neu anfangen, bleiben<br />

höchstens zwei dauerhaft im<br />

Beruf. Die körperliche Be -<br />

lastung ist zu groß.<br />

SPIEGEL: Aber ist das Postaufkommen<br />

durch die E-Mails<br />

nicht weniger geworden?<br />

IMAGO<br />

Cosmar: Im privaten Bereich.<br />

Dafür hat die Werbepost zugenommen.<br />

Auch Pakete werden<br />

mehr verschickt – und<br />

die sind schwerer geworden.<br />

Die Leute lassen sich heute<br />

vieles nach Hause liefern,<br />

Säcke mit Katzenstreu oder<br />

Büroartikel. Dann wiegt ein<br />

Paket schnell 20 Kilo.<br />

SPIEGEL: Kommt die Post in<br />

Berlin trotzdem bald wieder<br />

pünktlich?<br />

Cosmar: Tja, ich hoffe. Zumal<br />

der Weihnachtsverkehr beginnt.<br />

Da brauchen wir jeden,<br />

der laufen kann.<br />

SPIEGEL: Haben Sie selbst mal<br />

als Briefträger gearbeitet?<br />

Cosmar: Ja. Ich habe vor<br />

29 Jahren bei der Post angefangen<br />

– als Eilzusteller. jmg<br />

52 DER SPIEGEL 43 / 2017


Karoshi<br />

Eine Meldung und ihre Geschichte Wie sich<br />

eine junge japanische<br />

Reporterin zu Tode arbeitete<br />

Es war eine der letzten E-Mails, die sie ihrem Vater<br />

schickte. Sie hatte einen Ton, den der Vater von seiner<br />

Tochter nicht kannte. Sie schrieb: „Ich habe viel<br />

zu tun. <strong>Der</strong> Stress staut sich an, einmal am Tag denke ich,<br />

dass ich aufhören möchte. Aber jetzt kommt es darauf<br />

an, durchzuhalten, nicht?“<br />

Einen Monat später war Miwa Sado tot. Man hatte sie<br />

in ihrer Wohnung gefunden, sie lag auf dem Bett, das<br />

Handy fest umklammert. Die Todesursache lautete: Herzversagen.<br />

Nun sitzen ihre Eltern im Ministerium für Gesundheit,<br />

Arbeit und Soziales in Tokio und geben eine Pressekonferenz.<br />

Sie klagen an. Sie verwenden den Begriff „Ka-<br />

roshi“. Karoshi bedeutet: Tod durch Überarbeitung.<br />

Miwa Sado ist nur 31 Jahre<br />

alt geworden. Sie hatte<br />

als Reporterin bei NHK<br />

gearbeitet, Japans öffentlich-rechtlicher<br />

Rundfunkund<br />

Fernsehanstalt, und<br />

sie hatte ihren Beruf geliebt.<br />

Vor Jahren, als sie<br />

noch Jura studierte, hatte<br />

sie einen Journalismus -<br />

kursus besucht. Sie wollte<br />

immer Reporterin sein,<br />

keine Anwältin.<br />

Sie lebte für ihre Geschichten.<br />

Einmal war sie<br />

auf eigene Kosten auf eine<br />

Insel geflogen, um die Geschichte<br />

eines abgestürzten<br />

Militärhubschraubers<br />

zu recherchieren. Ihr letzter<br />

Arbeitsplatz war ein<br />

kleines Büro im Rathaus<br />

von Tokio gewesen, Miwa<br />

Sado war die Jüngste und<br />

die Beste in ihrem Team. Sie berichtete erst über die Wahl<br />

zum Tokioter Stadtparlament, später über die Wahl zum<br />

Oberhaus des japanischen Parlaments, dann sollte sie nach<br />

Yokohama wechseln, sie wäre dort Leiterin einer Redaktion<br />

geworden. Sie starb wenige Tage vor ihrem Umzug,<br />

es war der 24. Juli 2013.<br />

Mehr als vier Jahre vergehen zwischen Sados Tod und<br />

der Pressekonferenz ihrer Eltern. Dass die erst jetzt reden,<br />

liegt daran, dass Japan erst jetzt dazu bereit ist. Immer wieder<br />

hatte NHK, die Rundfunkanstalt, in letzter Zeit über<br />

Fälle von „Karoshi“ berichtet, zunächst über solche, die<br />

woanders spielten. Über den Fall einer Frau etwa, die bei<br />

einer Werbeagentur gearbeitet und jeden Monat ungefähr<br />

hundert Überstunden angesammelt hatte – und die schließlich<br />

aus ihrem Wohnheim in den Tod gesprungen war.<br />

Aus ihrem Fall entwickelte sich eine öffentliche Debatte<br />

über ein Land, das altert und schrumpft und deshalb seine<br />

Jungen verheizt. Es gibt in diesem Land nur wenige Krankschreibungen<br />

wegen Erschöpfung oder Erkältung. Es gibt<br />

Sado<br />

Aus dem „Berliner Kurier“<br />

Gesellschaft<br />

stattdessen pausenlos Werbung für Vitamin- und Aufputschdrinks,<br />

und es gibt einen Begriff, der beschreiben<br />

soll, warum es gut ist, solche Sachen zu kaufen: „Kenko<br />

Kanri“ heißt dieser Begriff, „die Gesundheit verwalten“.<br />

Erst als diese Debatte im Land war, war für NHK die Zeit<br />

gekommen, über ihren eigenen Fall zu berichten, über<br />

den Tod Miwa Sados. <strong>Der</strong> Beitrag lief in den 21-Uhr-Nachrichten<br />

und dauerte knapp zwei Minuten.<br />

In Japan gibt es ein Amt für Arbeitsnormen, das sich<br />

auch um die Einhaltung der Vorschriften kümmert. Auf<br />

Antrag von Miwa Sados Eltern nahmen die Beamten die<br />

Spur auf und fanden heraus, dass die junge Frau im Monat<br />

vor ihrem Tod 159 Überstunden angesammelt hatte. Am<br />

Sonntag, dem 7. Juli 2013, arbeitete sie beispielsweise von<br />

morgens um elf bis abends um acht. Am folgenden Montag<br />

dann wieder von morgens 9.51 Uhr bis zum Dienstagmorgen<br />

um 2.56 Uhr, und am selben Tag begann sie mor -<br />

gens um 10 Uhr und arbeitete danach 15 Stunden lang.<br />

Ihre Eltern haben andere Zahlen. Sie kommen für<br />

denselben Monat auf 209 Überstunden. Rechnet man die<br />

Regelarbeitszeit hinzu, so wäre dies ein 12-Stunden-Tag –<br />

ohne ein einziges freies Wochenende. Bei der Rekonstruktion<br />

studierten die Eltern Dienstpläne, aber auch Taxiquittungen<br />

sowie Chroniken<br />

ihres Computers und<br />

ihres Handys. Sie haben<br />

mit Managern des Senders<br />

gesprochen, und einer sagte,<br />

die Arbeit eines Reporters<br />

richte sich nach individuellem<br />

Ermessen, „wie<br />

bei einem Einzelunternehmer“.<br />

Es ist schwer zu sagen,<br />

was das bedeutet in<br />

einem Land, dessen Bürger<br />

schon im Kindergarten<br />

NHK<br />

lernen, dass man die<br />

Gruppe nicht enttäuschen<br />

darf.<br />

Miwas Vater erzählt<br />

Journalisten, dass er und<br />

seine Frau hundert Tage<br />

nach dem Tod der Tochter<br />

ein buddhistisches Ritual<br />

abgehalten hätten. Daran<br />

habe auch ein Kollege aus<br />

Sados ehemaligem Team<br />

teilgenommen. Als die Mutter sagte: „Miwa war das Ass un -<br />

serer Familie“, habe der Kollege geantwortet: „Wer stirbt,<br />

weil er keine Ausdauer besitzt und nicht fähig ist, sich die<br />

Zeit einzuteilen, ist kein Ass.“ Dann habe er der Mutter<br />

seinen überfüllten Terminkalender hingehalten.<br />

Die Mutter sitzt neben dem Vater, sie sagt lange nichts,<br />

immer wieder kommen ihr die Tränen. Nach dem Verlust<br />

der Tochter sei seine Frau in tiefe Depressionen gefallen<br />

und akut selbstmordgefährdet gewesen, sagt der Vater. Er<br />

bittet den Sender, Lehren aus dem Tod seiner Tochter zu<br />

ziehen, „das wünscht sie sich bestimmt auch im Himmel“.<br />

Am Ende sagt die Mutter noch ein paar Worte. Sie richtet<br />

sich an die Journalisten vor sich, ungefähr 20 sind gekommen,<br />

die meisten ungefähr so alt wie ihre Tochter,<br />

als sie starb. Die Mutter sagt: „Ihr seid wie meine Söhne<br />

und Töchter. Bitte überlegt euch gut, ob die Arbeit wirklich<br />

so wichtig ist.“<br />

Dann hört man nur noch das Klackern von Tastaturen.<br />

Wieland Wagner<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017 53


Gesellschaft<br />

Franziskas Grab<br />

Täuschungen 24 Jahre lang versteckt ein Mann die Leiche seiner Frau in einem Fass.<br />

Dann gesteht er einen Totschlag, der aber längst verjährt ist. Die Geschichte eines ebenso<br />

bizarren wie perfekten Verbrechens. Von Maik Großekathöfer<br />

An die Polizei. In diesem Fass ist die<br />

Leiche meiner ehemaligen Frau<br />

Franziska Sander, geb 4.8.65.“<br />

So beginnt, in kalter Klarheit, der Brief,<br />

den Jens K.* auf das Fass gelegt hat, in<br />

dem er seit 24 Jahren seine tote Frau verwahrt.<br />

<strong>Der</strong> Verfasser spricht seinen Adressaten<br />

direkt an, die Polizei, er hat sie längst<br />

erwartet. Den Brief schrieb er vor mehr<br />

als zehn Jahren, mit Kugelschreiber auf<br />

kariertem Papier.<br />

Jens K. fährt fort: „Sie hat sich am<br />

10.2.1992 selbst das Leben genommen. Sie<br />

hat sich mit Paketband an einem Haken<br />

in unserer damaligen Wohnung erhängt.<br />

Ich habe sie trotz ihrer ständigen Depressionen<br />

sehr geliebt, habe den Wunsch verspürt<br />

ihr zu folgen.“<br />

<strong>Der</strong> Brief, drei gefaltete Seiten, steckt<br />

unter einem Stück Pappe, das K. auf das<br />

Fass geklebt hat, auf das Grab seiner<br />

Frau. Neben dem Schreiben stehen in großer<br />

Schrift die Worte „Faß enthält LEI-<br />

CHE“ auf der Pappe, darunter das Wort<br />

„Polizei“ und ein Pfeil, der zum Brief zeigt.<br />

<strong>Der</strong> schwarze Marker, den K. für diesen<br />

überdeutlichen Hinweis benutzt hat, liegt<br />

noch auf dem Fass, als die Ermittler alles<br />

finden.<br />

K. schreibt: „Nach einer Woche habe<br />

ich allen Mut zusammen genommen, sie<br />

in diesem Fass beerdigt, mein Leben neu<br />

begonnen. Ich habe Kinder, welche ich mit<br />

einer anderen Frau nach dem Tod gezeugt<br />

habe. Ich liebe diese über alles, sie sollen<br />

NIE den Eindruck bekommen müssen, ihr<br />

Vater sei ein Mörder, dieses ist nicht so!“<br />

Mit dem Fund der Leiche von Franziska<br />

Sander am 13. September des vergangenen<br />

Jahres in einer Stadt in Schleswig-Holstein<br />

findet nicht nur die 24 Jahre dauernde Ungewissheit<br />

ihrer Angehörigen ein Ende, ihres<br />

Bruders, ihrer drei Schwestern. Als die<br />

Beamten das Tor zur Garage öffnen, in<br />

der das Fass versteckt war, kommt auch<br />

einer der seltsamsten Fälle der jüngeren<br />

deutschen Kriminalgeschichte ans Licht.<br />

Die Ermittlungsakte umfasst 13 Bände,<br />

fast 1400 Seiten, die eine Geschichte er-<br />

* Namen geändert.<br />

54 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

zählen von Lügen, Eifersucht und Schweigen.<br />

Zum Vorschein kommt aber auch eine<br />

Reihe von Verfahrensmängeln, Verzögerungen<br />

und Fehleinschätzungen auf allen<br />

Seiten. Mehr aus Nachlässigkeit denn aus<br />

Raffinesse konnte aus dem Fall Franziska<br />

Sander die Geschichte eines perfekten Verbrechens<br />

werden, eines Verbrechens jedenfalls,<br />

das ohne Sühne bleibt.<br />

Denn Jens K., der Ex-Mann und mutmaßliche<br />

Täter, ist frei, er lebt mit seiner<br />

Familie in einem Haus an einer Pferdekoppel.<br />

Ein Mord ist ihm nicht nachzuweisen,<br />

ein Totschlag gilt als hochwahrscheinlich.<br />

Aber Totschlag verjährt nach 20 Jahren.<br />

Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll<br />

von jenem 13. September 2016: Die Beamten<br />

fragen Jens K., was er gemacht habe,<br />

nachdem er seine Frau angeblich erhängt<br />

in der Wohnung fand.<br />

Jens K.: „Ich habe Franziska in einem<br />

Fass verpackt und das Fass zugeschweißt.<br />

Ich kann Ihnen zeigen, wo das Fass ist.“<br />

Polizist: „Wo ist das?“<br />

„Hier. Ich habe eine Garage angemietet.“<br />

„Ist das Fass immer mit umgezogen?“<br />

„Ja. Das sollte meine Versicherung sein,<br />

damit ich beweisen kann, dass ich ihr nichts<br />

getan habe. Ich habe noch nie jemanden<br />

geschlagen oder einem Gewalt angetan.“<br />

Als sie sich kennenlernen, 1982 in<br />

Hannover, ist Jens K. 18 und Franziska<br />

Sander 17 Jahre alt, eine Teenagerliebe.<br />

Sie ist vom Land hergezogen, besucht eine<br />

Fachoberschule für Gestaltung, wohnt in<br />

einem katholischen Mädchenwohnheim.<br />

Er schließt eine Lehre zum Außenhandelskaufmann<br />

ab, später lässt er sich zum<br />

Erzieher ausbilden. 1985 verloben sie sich<br />

und ziehen zusammen, zwei Zimmer, Küche,<br />

Bad. Drei Jahre später heiraten sie.<br />

Ein vergilbtes Hochzeitsfoto, das bei den<br />

Akten liegt, zeigt eine hübsche, junge Frau<br />

mit Fransenschnitt, Pausbacken, weißer<br />

Rüschenbluse und breitem Lächeln; neben<br />

ihr, ebenso glücklich lächelnd, ein junger<br />

Mann mit Vokuhila, Schulterpolsterjackett<br />

und dünnem Schlips. Er ist jetzt 24, sie 23<br />

Jahre alt, ein unauffälliges, kleinbürger -<br />

liches Ehepaar irgendwo in Deutschland<br />

mit unbekannten Träumen.<br />

13. September 2016. Noch am Tag der<br />

Vernehmung gehen die Kriminalbeamten<br />

gemeinsam mit Jens K. zum Garagenhof,<br />

wo er die Leiche deponiert haben will, und<br />

öffnen das Tor Nummer elf.<br />

Sie sehen ein großes Durcheinander,<br />

eine Schubkarre, einen Autositz, eine<br />

Schleifmaschine. In der hinteren rechten<br />

Ecke, verborgen hinter drei Autoreifen, unter<br />

Tüten, Teppichresten, Müll und blauer<br />

Plane, steht eine Sackkarre. Darauf, festgebunden<br />

mit zwei Spanngurten: das Fass.<br />

Am nächsten Morgen lässt der Rechtsmediziner<br />

in Hannover das Fass vermessen<br />

und wiegen. 87,5 Zentimeter hoch, 60 Zentimeter<br />

Durchmesser, 134 Kilogramm.<br />

Zwei Mitarbeiter in weißen Schutzanzügen<br />

öffnen es mit einer elektrischen Blechschere.<br />

Das Fass ist bis zum Rand mit Katzenstreu<br />

gefüllt. K. sagt später, er habe damit<br />

verhindern wollen, „dass der Körper<br />

sich in dem Fass frei bewegt“.<br />

Katzenstreu bindet Flüssigkeit und neutralisiert<br />

Gerüche.<br />

Als die Mediziner das Substrat mit einem<br />

Kehrblech nach und nach entfernen, kommen<br />

etliche Gegenstände zum Vorschein,<br />

die Jens K. seiner Frau offenbar als Grabbeigaben<br />

zugedacht hatte, Dinge, die eine<br />

Rolle gespielt haben müssen in ihrem gemeinsamen<br />

Leben: ein Kuscheltier, ein vertrockneter<br />

Blumenstrauß, ein gestreiftes<br />

Kopfkissen. Eine Kette mit einem Anhänger<br />

in Form eines Mondes. Ein roter Bilderrahmen<br />

mit einem Hochzeitsfoto. Eine<br />

Zimtstange, Gerstenähren, zwei lilafarbene<br />

Stiefeletten. Ein Kinderbuch mit dem Titel<br />

„Bigu, das kleine Igelchen mit den Locken“.<br />

Was die Forensiker zu Gesicht bekommen,<br />

erinnert an ein Indianergrab.<br />

Schließlich finden sie, verpackt in einem<br />

Müllsack, die zusammengeschnürte Leiche<br />

der Franziska Sander.<br />

Man weiß nicht viel darüber, was für<br />

eine Beziehung die Eheleute in den frühen<br />

Neunzigern geführt haben. Die Angaben<br />

darüber sind widersprüchlich, sie stammen<br />

einerseits von Jens K. und andererseits<br />

von Franziskas Bruder Hubertus Sander.<br />

Jens K. sagt, seine Frau habe nie selbst<br />

arbeiten und „keinen Kontakt zu ihrer


Fass in der Rechtsmedizin in Hannover, späteres Opfer Sander um 1985<br />

CHRISTIAN ASLUND / DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017 55


Gesellschaft<br />

56 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Familie“ haben wollen. Ihr Bruder sagt,<br />

bevor seine Schwester Jens K. kennenlernte,<br />

sei sie „lebensfroh“ und „kontaktfreudig“<br />

gewesen. K. sagt, seine Frau sei unzufrieden<br />

gewesen, weil er „ihre Lebensansprüche“<br />

nicht habe erfüllen können, sie<br />

habe mehrfach versucht, sich umzubringen,<br />

habe oft „Wutausbrüche“ gehabt. Ihr<br />

Bruder sagt, niemand aus der Familie habe<br />

Franziska je wütend erlebt, sie sei K. „hörig“<br />

gewesen. K. habe sie sozial isoliert,<br />

bis sie das Haus nicht mehr allein verlassen<br />

durfte, er habe sie in der Wohnung eingeschlossen,<br />

das Telefon ausgestöpselt und<br />

mitgenommen. Jens K. sagt, Franziska und<br />

er, das sei „die große Liebe“ gewesen.<br />

Aus dem Obduktionsbericht und anderen<br />

Dokumenten: „<strong>Der</strong> Leichnam ist komplett<br />

konserviert und wirkt mumifiziert.<br />

Eine Untersuchung des Kehlkopfes und des<br />

Zungenbeines lässt keine konkreten Ergebnisse<br />

bzgl. eines Knochenbruches zu … Bei<br />

hochgradiger Mumifizierung/Fäulnis pathologisch<br />

und anatomisch keine Hinweise auf<br />

eine Todesursache … Das noch im Fass befindliche<br />

Katzenstreu und das Fass wurden<br />

umweltgerecht entsorgt.“<br />

Zu diesem Zeitpunkt wissen die Ermittler<br />

nur, dass Franziska Sander seit 24 Jahren<br />

und sieben Monaten tot ist. Wie sie<br />

ums Leben kam, bleibt unklar. Es gibt keine<br />

Befunde, die die Geschichte des Jens<br />

K. bestätigen, und keine, die sie widerlegen.<br />

Vom November 1991 datiert das letzte<br />

Telefongespräch der Franziska Sander mit<br />

einer ihrer Angehörigen. Sie erzählt ihrer<br />

Schwester, dass sie beabsichtige, mit ihrem<br />

Mann nach Norwegen auszuwandern. Nun<br />

beginnt auch das lange Lügen des Jens K.<br />

Ein halbes Dutzend verschiedene Versionen<br />

vom Verschwinden oder Ableben<br />

seiner Frau wird er in den folgenden Jahren<br />

erzählen. Seinem besten Freund erklärt<br />

Jens K. damals, seine Frau sei an<br />

Krebs erkrankt und liege in Hamburg in<br />

einer Spezialklinik. Ein paar Wochen später<br />

sagt er, sie sei gestorben und anonym<br />

bestattet worden. Die Angehörigen lässt<br />

er glauben, Franziska suche in Norwegen<br />

ein Haus, für ihre gemeinsame Zukunft.<br />

Dann, im Herbst 1992, als seine Frau bereits<br />

seit Monaten tot ist, sagt er der<br />

Schwester und dem Bruder, Franziska<br />

habe ihn verlassen, weil der Umzug nach<br />

Norwegen nicht geklappt habe. Er wisse<br />

nicht, wo sie sei.<br />

Polizist: „Ist es Ihnen tatsächlich gelungen,<br />

diese Sache die ganzen Jahre für sich<br />

zu behalten?“<br />

Jens K.: (Kopfnicken)<br />

<strong>Der</strong> Bruder von Franziska Sander wendet<br />

sich im November 1992 an die Polizei.<br />

Er will eine Vermisstenanzeige aufgeben,<br />

was jedoch misslingt. <strong>Der</strong> Beamte habe ihn<br />

wieder fortgeschickt, weil „keine Hinweise<br />

auf ein Verbrechen“ vorlägen. Franziska<br />

Sander sei volljährig, so habe man dem Bruder<br />

erklärt, sie könne „tun und lassen, was<br />

sie wolle“, wenn überhaupt, sei es „Sache<br />

des Ehemannes“, sie als vermisst zu melden.<br />

Das tut Jens K. natürlich nicht. Nicht<br />

1992, nicht in den folgenden Jahren, nie.<br />

Keine Vermisstenanzeige – keine Fahndung.<br />

Kein Verdacht auf ein Verbrechen –<br />

keine Ermittlung. Franziska Sander verschwindet<br />

so spurlos, wie sie gelebt hat.<br />

Damit die Geschwister weiter davon ausgehen,<br />

sie sei noch am Leben, legt Jens K.<br />

im Februar 1993 eine krude falsche Fährte.<br />

Er fährt nach Hamburg und wirft eine Postkarte<br />

ein, die er mit Schreibmaschine an<br />

sich selbst adressiert hat. Absender: „F.“<br />

Auf der Karte steht einzig die Nummer einer<br />

anrufbaren Telefonzelle. Jens K. leitet<br />

die Karte später an Franziskas Geschwister<br />

weiter – als Beweis, dass sie noch lebt.<br />

Polizist: „Möchten Sie einen Rechtsanwalt?“<br />

Jens K.: „Dann muss mir einer bestellt<br />

werden. Ich habe dazu derzeit nicht die finanziellen<br />

Möglichkeiten.“<br />

Am 20. August 1994 wird in der Bothfelder<br />

Heide in Hannover eine unbekannte<br />

Frauenleiche gefunden, zerstückelt. Hubertus<br />

Sander, Franziskas Bruder, damals<br />

47 Jahre alt, als Forstdirektor wohnhaft in<br />

Berlin, richtet sich an die zuständige Mordkommission:<br />

Seit zwei Jahren vermisse er<br />

seine Schwester, Franziska Sander, er befürchte,<br />

sie sei die Tote. Er habe „die Vermutung,<br />

ihr wurde etwas angetan“.<br />

Aus diesem Anlass kommt es am 1. September<br />

1994 erstmals zu einer Vernehmung<br />

des Jens K., wobei man ihn nicht<br />

als Verdächtigten befragt, sondern als Zeugen.<br />

Und er erzählt weiter widersprüch -<br />

liche Geschichten, Lügen.<br />

Sagt, seine Frau habe „immer höhere<br />

Ansprüche“ gestellt. Sagt: „<strong>Der</strong> Streit war<br />

so massiv, dass Franziska am 10. Februar<br />

1992 unsere Wohnung verlassen hat.“ Er<br />

erwähnt die Postkarte, die sie ihm später<br />

aus Hamburg geschickt habe, sie hätten<br />

sich daraufhin verabredet, Franziska habe<br />

bei dem Treffen „sehr gepflegt“ ausgesehen.<br />

Er sagt, er selbst wolle bald eine Vermisstenanzeige<br />

aufgeben, sollte Franziska<br />

nicht in eine Scheidung einwilligen.<br />

Nichts davon stimmt.<br />

Die Polizei unternimmt auch jetzt nicht<br />

mehr als nötig. Sie überprüft nicht, ob K.<br />

die Anzeige wirklich aufgibt, ob er sich<br />

tatsächlich scheiden lässt. Sie ignoriert,<br />

dass keine Adresse von Franziska Sander<br />

festzustellen ist. Als klar wird, dass die unbekannte<br />

Tote in der Heide „aufgrund des<br />

abweichenden Zahnstatus“ nicht Franziska<br />

Sander sein kann, wird Spurenakte 13<br />

am 1. November 1994 geschlossen.<br />

Unbegreiflich ist, wie sich in dieser Geschichte<br />

nun die Zeit zu strecken und zu<br />

dehnen beginnt. Aus Tagen der Untätigkeit<br />

werden Wochen, aus Wochen ohne<br />

Nachrichten Monate, aus Monaten des Vergessens<br />

werden Jahre. Ab und zu erkundigen<br />

sich die Geschwister beim Einwohnermeldeamt,<br />

ob ihre Schwester vielleicht<br />

eine neue Anschrift habe, denn in Hannover<br />

ist inzwischen die „Abmeldung von<br />

Amts wegen“ erfolgt, für die deutsche Bürokratie<br />

gilt sie damit als obdachlos. Franziska<br />

Sander wird zum Geist.<br />

Und Jens K.? <strong>Der</strong> hat schnell ein neues<br />

Leben begonnen. Neun Monate nach Franziskas<br />

Tod hat er eine andere Frau kennengelernt,<br />

M.*, die aus einer früheren Beziehung<br />

eine kleine Tochter hat. Das Fass<br />

bringt er zunächst im eigenen Keller unter,<br />

später in einer Garage in der Nähe des<br />

Hauptbahnhofs in Hannover. Auch seine<br />

neue Freundin belügt er, erzählt ihr, er<br />

habe an Franziskas Bett gestanden, als sie<br />

an Krebs gestorben sei. M. gibt später zu<br />

Protokoll: „Als wir über ihren Tod gesprochen<br />

haben, hat er geweint.“<br />

Die Jahre vergehen, gute Jahre für Jens<br />

K., er zeugt zwei Kinder mit M. und sieht<br />

der Stieftochter beim Aufwachsen zu. 2002<br />

zieht die Familie um nach Schleswig-Holstein.<br />

Das blaue Fass mit der Leiche seiner<br />

Frau holt er ein Jahr später aus Hannover<br />

nach, im Kofferraum eines Kombis, er verstaut<br />

es in der Garage mit der Nummer elf.<br />

Jens K. kümmert sich um den Haushalt<br />

und die Kinder, fährt Taxi, versucht sich<br />

als Vertreter für Handpuppen und Alarmanlagen.<br />

Die Polizei ruft nicht an, die Geschwister<br />

seiner toten Frau auch nicht<br />

mehr, niemand stört ihn.<br />

Hubertus Sander, der Bruder, ist heute<br />

70 Jahre alt, er lebt in Schweden, in einem<br />

roten Holzhaus. Er sitzt in seinem Wohnzimmer,<br />

er zeigt Fotos seiner Schwester:<br />

Franziska beim Zelten, beim Rodeln, mit<br />

Gitarre. Er sagt: „Wenn die Polizei ihre Arbeit<br />

gemacht hätte, wäre er nicht einfach<br />

davongekommen.“ Und ohne ihn, den Bruder,<br />

wäre Franziska Sander wohl für immer<br />

verschwunden geblieben.<br />

Denn im Herbst 2012, als seine Schwester<br />

schon seit 20 Jahren tot ist, unternimmt<br />

Hubertus Sander einen „letzten Versuch,<br />

sie zu finden“. Neue Gesetze kommen ihm<br />

dabei zu Hilfe und ein Kriminalhauptkommissar,<br />

den Hubertus Sander zufällig kennengelernt<br />

hat. Dessen Ermittlungsergebnisse<br />

liegen der Vermisstenanzeige bei, die<br />

am 8. Januar 2013 eingeht.<br />

Die Anzeige wird weitergeleitet an den<br />

Zentralen Kriminaldienst Hannover, die<br />

Beamten schreiben Franziska Sander zur<br />

Fahndung aus, „Zweck der Ausschreibung:<br />

Aufenthaltsermittlung“. Zwischen dem<br />

Eingang der Vermisstenanzeige und der<br />

Vorladung Jens K.s vergehen drei Jahre,<br />

was nicht überrascht in dieser Geschichte.<br />

K., der zu dieser Zeit als Erzieher mit<br />

Flüchtlingskindern arbeitet, antwortet in<br />

einer E-Mail: „Ich war von dem Schreiben<br />

etwas überrascht, da der Fortgang meiner<br />

Frau nun 23 Jahre her ist und ich nie wie-


Niemand kann ihn widerlegen, nur er selbst.<br />

Deswegen ist er frei. So funktioniert das Gesetz.<br />

Fundort des Fasses, Kinderbuch im Fass, Vorbereitung der Obduktion der Leiche<br />

der etwas gehört habe. Gibt es Hinweise<br />

auf ihren Verbleib? Weiterhin stellt sich<br />

die Frage, wie und in welchem Umfang<br />

ich Ihnen helfen kann? Mit freundlichen<br />

Grüßen, Jens K., 19.01.2016“.<br />

Am 11. März 2016 kommt es zur zweiten<br />

Vernehmung, 22 Jahre nach der ersten, in<br />

seinem Wohnort in Schleswig-Holstein, sie<br />

dauert fast vier Stunden.<br />

<strong>Der</strong> Polizist vermerkt im Protokoll:<br />

„Herr K. ringt um Fassung und fängt leicht<br />

an zu weinen. Er wünscht eine Tasse Kaffee<br />

zu trinken.“<br />

<strong>Der</strong> Beamte konfrontiert K. mit seiner<br />

Aussage von 1994, er habe eine Postkarte<br />

von Franziska bekommen, aus Hamburg.<br />

Und erhält eine überraschende Antwort.<br />

„Das können wir kurz machen. Die Karte<br />

habe ich selbst geschrieben. Zweck war<br />

eigentlich nur die Beruhigung der Familie.“<br />

Mit dem Geständnis, die Postkarte sei<br />

fingiert gewesen, belastet K. sich selbst.<br />

Macht er einen Fehler? Oder wähnt er sich<br />

in Sicherheit, weil er die Verjährungsfristen<br />

kennt?<br />

Die Staatsanwaltschaft Hannover eröffnet<br />

ein Ermittlungsverfahren, Verdacht auf<br />

Totschlag, § 212 StGB. Die Ermittler befragen<br />

nun, Sommer 2016, eine Reihe von<br />

Personen, die mit Jens K. zu tun hatten,<br />

sie reden mit Nachbarn an seiner ehe -<br />

maligen Wohnadresse in Hannover, mit<br />

früheren Freunden, mit den vier Geschwistern<br />

der Verschwundenen.<br />

13. September 2016, ein Dienstag: Das<br />

ist der Tag, an dem die Polizei schließlich<br />

K.s Haus durchsucht, der Tag, an dem sie<br />

das Fass findet. Nun wird K. in zwei Vernehmungen<br />

zwei weitere, unterschiedliche<br />

Spielarten der Wahrheit präsentieren.<br />

Polizist: „Wie war das mit Franziska?<br />

Was hat sie mit Ihnen gemacht? Oder ist<br />

sie einfach gegangen? Man kann auf unterschiedliche<br />

Weisen gehen.“<br />

Jens K.: „Ja, sie hat mich verlassen.“<br />

„Wie hat sie das gemacht?“<br />

„Das Letzte, was gesagt wurde, damit<br />

liegen Sie schon richtig.“<br />

„Wie meinen Sie das?“<br />

„Sie hat sich das Leben genommen.“<br />

K. schildert nun die Ereignisse jenes<br />

10. Februar 1992, dem letzten Tag im Leben<br />

der Franziska Sander. Er habe am<br />

Abend eine Betriebsfeier des Kindergartens<br />

besuchen wollen, in dem er arbeitete,<br />

aber seine Frau habe ihn nicht gehen lassen<br />

wollen, es sei zum Streit gekommen.<br />

Wenn er auf das Fest gehe, werde sie ihn<br />

verlassen oder sich das Leben nehmen,<br />

habe sie gesagt. Jens K. sagt, er habe diese<br />

Worte „nicht ernst“ genommen und sich<br />

auf den Weg gemacht. Als er zurück -<br />

gekommen sei, „hing sie in unserer Wohnung“,<br />

an einem Balken im Schlafzimmer,<br />

eine Schlinge aus Paketkordel um den<br />

Hals. In der Brust habe eine „Spritze mit<br />

Reinigungsbenzin“ gesteckt. „Was letztlich<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

57


Gesellschaft<br />

Hochzeitsfoto als Grabbeigabe im Fass<br />

tödlich war, weiß ich nicht.“ Er habe noch<br />

versucht, seine Frau wiederzubeleben,<br />

aber sie sei „schon ganz kalt“ gewesen.<br />

Version A, niedergeschrieben in jenem<br />

Brief an die Polizei, der auf dem Fass mit<br />

der Leiche lag, hieß: Suizid durch Erhängen.<br />

Von einer Giftspritze ist hier nicht die<br />

Rede, ebenso wenig von einem Wieder -<br />

belebungsversuch.<br />

Version B heißt nun: Suizid durch Erhängen<br />

plus Giftspritze, tot vorgefunden,<br />

Wiederbelebungsversuch.<br />

Rätselhaft ist, warum K. von seiner ursprünglichen<br />

Geschichte abweicht, die Unstimmigkeiten<br />

machen ihn unglaubwürdig.<br />

K. wird im Anschluss an das Verhör vorläufig<br />

festgenommen. Er darf ein T-Shirt,<br />

eine Unterhose, ein Paar Socken und zehn<br />

Euro einpacken. Es folgt die einzige Nacht,<br />

die er im Gefängnis verbringt, bis heute.<br />

Am nächsten Morgen, 14. September<br />

2016, während die Rechtsmediziner das<br />

Fass mit Franziska Sanders Leiche öffnen,<br />

wird K. erneut vernommen. Er hätte das<br />

Recht zu schweigen, wie er es schon so<br />

viele Jahre getan hat, aber er spricht. Jetzt<br />

sagt K. plötzlich, dass seine Frau noch gelebt<br />

habe, als er von der Betriebsfeier nach<br />

Hause gekommen sei. Sie habe im Türrahmen<br />

zum Schlafzimmer gestanden, nackt,<br />

mit einer Spritze in der Hand.<br />

Polizist: „Hat Franziska Sie angesprochen?“<br />

„Sie sagte: ,Das hast du jetzt davon.‘“<br />

Dann habe sie sich die Spritze unterhalb<br />

der linken Brust in den Oberkörper gestochen.<br />

Die Spritze, Fassungsvermögen zehn<br />

Milliliter, müsse seine Frau aus der Werkzeugkiste<br />

genommen haben. Auf der Anrichte<br />

habe ein Behälter mit Reinigungsbenzin<br />

gestanden. Franziska Sander, so<br />

sagt es K., habe noch ein paar Sekunden<br />

aufrecht gestanden, gesprochen habe sie<br />

nicht mehr. Sie habe die Augen verdreht,<br />

am ganzen Körper gezuckt, dann sei sie<br />

zu Boden gesackt.<br />

Bis hierhin beschreibt er einen Suizid.<br />

Eine Spritze mit Reinigungsbenzin, direkt<br />

ins Herz appliziert, kann in der Tat tödlich<br />

sein. Doch was er dem Beamten anschließend<br />

erzählt, verändert seine Rolle an jenem<br />

Abend und macht ihn zum Täter. Jens<br />

K. gibt zu, seine Frau getötet zu haben.<br />

Polizist: „Was haben Sie dann gemacht?“<br />

Jens K.: „Ich bin zu ihr gegangen und<br />

habe, weil ich dachte, dass sie das nicht<br />

unbeschadet überlebt, zugedrückt. Ich<br />

habe sie gewürgt, um das offensichtliche<br />

Leiden zu beenden. Ich habe so lange zugedrückt,<br />

bis sie sich nicht mehr rührte.“<br />

Version C: lebend angetroffen, kein Erhängen,<br />

Giftspritze, dann Totschlag durch<br />

Erwürgen.<br />

Nur K. kann erklären, warum er sich zu<br />

diesem Zeitpunkt zur Tat bekennt. Weil er<br />

weiß, dass ihm keine Strafe droht? Oder<br />

doch, weil er endlich die Wahrheit erzählen<br />

will? Oder nähert er sich ihr stückweise an?<br />

Bevor der Beamte das Verhör beendet,<br />

erfährt er noch, wie K. nach dem Tod seiner<br />

Frau mit deren Leiche umging. Er habe sie<br />

ins Ehebett getragen, sich neben sie gelegt.<br />

Dann habe er sich entschlossen, mit seiner<br />

toten Frau an einen Strand in Dänemark<br />

zu fahren, um sie dort zu verbrennen – und<br />

sich selbst gleich mit, wie er behauptet. Er<br />

sei also mit einem gemieteten Wohnmobil<br />

samt der Leiche nach Henne Strand gefahren,<br />

an einen Ferienort an der Nordsee, er<br />

habe dort Brennholz gekauft und im Wagen<br />

verteilt. Dann aber verlässt ihn der Mut,<br />

und er entscheidet sich anders.<br />

Er fährt zurück nach Hannover, kauft<br />

das Fass. Auf dem Betriebshof seines Vaters,<br />

eines Busunternehmers, zwängt er<br />

die Leiche hinein, samt Grabbeigaben und<br />

Katzenstreu. Jens K. schweißt den Deckel<br />

fest. Franziska Sander verschwindet für<br />

24 Jahre.<br />

Polizist: „Haben wir wirklich jetzt alles<br />

geklärt?“<br />

Jens K.: „Von mir aus schon.“<br />

Am 14. September 2016 wird der Beschuldigte<br />

K. um 13.26 Uhr aus dem Polizeigewahrsam<br />

entlassen, „noch vor Vorführung<br />

vor den Richter“. Ein Totschlag<br />

ist verjährt. Die Zeit verschont ihn vor einer<br />

Gefängnisstrafe.<br />

Wie und warum starb Franziska Sander?<br />

Nur Jens K. kennt die Antwort. Wollte<br />

sie ihn verlassen, und hat K. deswegen beschlossen,<br />

sie zu töten? Vielleicht hat er<br />

ihr die Spritze selbst verabreicht, vielleicht<br />

hat er sie im Schlaf überrascht und erwürgt.<br />

Vielleicht war alles noch mal ganz anders.<br />

Vielleicht war es so, wie er sagt.<br />

Die Forensiker haben keine Einstich -<br />

stelle einer Spritze gefunden, was nach so<br />

langer Zeit aber nicht bedeuten muss, dass<br />

es keine gab. Sie können nach 24 Jahren<br />

auch kein Benzin im Körper nachweisen,<br />

Benzin ist ein flüchtiger Stoff. Ein Rechts -<br />

mediziner der Berliner Charité sagt, die<br />

Kombination aus Benzin und Katzenstreu<br />

sei „so ziemlich die Anleitung zur per fekten<br />

Leichenbeseitigung respektive Mord“.<br />

Hubertus Sander, der Bruder, sagt: „Jemandem,<br />

der so lange gelogen hat, darf<br />

man nicht glauben.“ Er hofft, dass sich<br />

noch Zeugen melden, die einen Mordverdacht<br />

erhärten. Mord verjährt nicht.<br />

<strong>Der</strong> Sprecher der Staatsanwaltschaft<br />

sagt, die Familie Sander habe sein Mit -<br />

gefühl, es sei in diesem Fall „einfach alles<br />

blöd gelaufen“. Natürlich sei es ein Fehler<br />

gewesen, den Hinweisen nicht früher nachgegangen<br />

zu sein.<br />

Niemand kann Jens K. widerlegen, nur<br />

er selbst. Deswegen ist er frei. So funktioniert<br />

das Gesetz. <strong>Der</strong> Staatsanwalt hat das<br />

Verfahren gegen Jens K. am 14. September<br />

2017 eingestellt.<br />

Nachdem die Geschwister im Oktober<br />

2016 die Überreste ihrer Schwester zurückerhalten<br />

haben, bestatten sie die Asche<br />

von Franziska Sander im Familiengrab auf<br />

dem Friedhof in Steinhude, bei ihrer Mutter<br />

und ihrem Vater.<br />

Franziska<br />

1965 – 1992<br />

Es steht kein Name am Briefkasten,<br />

kein Name an der Klingel des Hauses, in<br />

dem Jens K. als freier Mann wohnt.<br />

Drückt man die Klingel, öffnet sich nach<br />

einer Weile die Tür. Da steht ein schlaksiger<br />

Mann, 52 Jahre alt, rote Jogginghose,<br />

graue Haare, der Blick schläfrig, die Wangen<br />

jungenhaft rund. Als der Besucher<br />

sagt, er sei Journalist und wolle mit ihm<br />

über Franziska Sander reden, schließt Jens<br />

K. wortlos die Tür.<br />

58 DER SPIEGEL 43 / 2017


Kahler Krempling<br />

Leitkultur Alexander Osang über seine<br />

kleine deutsche Heimat<br />

Gesammelte Pilze<br />

Vielleicht liegt es am Alter, aber ich mag den deutschen<br />

Herbst. In meiner Jugend kannte ich eigentlich<br />

nur zwei akzeptable Jahreszeiten: Sommer<br />

und Winter. Jetzt, da es langsam dunkel wird, entdecke<br />

ich die Grautöne. Zum ersten Mal bemerkte ich das vor<br />

gut zehn Jahren, in Amerika. Ich war mit einem Miet -<br />

wagen auf dem Weg von Cincinnati, wo ich einen Wahlkampfauftritt<br />

von Dick Cheney beobachtet hatte, nach<br />

Pittsburgh, wo die Dixie Chicks ein Konzert gegen George<br />

W. Bush spielten. Es war Ende September. Hinter der<br />

Grenze zu Pennsylvania, wo die Landschaft hügelig,<br />

herbstlich und deutsch ist, fuhr ich auf einen Parkplatz<br />

und rannte wie ein Mondsüchtiger in einen bunten Laubwald.<br />

Bestimmt war auch Dick<br />

Cheney schuld. Ich hüpfte zwischen<br />

den Bäumen umher und<br />

fühlte mich zu Hause. Heimatlich.<br />

Ich war kurz davor, einen Baum<br />

zu umarmen, weil er mir wie ein<br />

Landsmann vorkam.<br />

So geht es den Grünen zurzeit.<br />

Sie versuchen, das Wort Heimat<br />

in ihre politischen Konzepte zu integrieren,<br />

auch um es der AfD wegzunehmen.<br />

Die Reaktionen auf diese<br />

Versuche klingen, als wollte Katrin<br />

Göring-Eckardt Deutschland<br />

in den Grenzen von 1937 zurück.<br />

Ich las ein Interview mit einer<br />

Psychologin, in dem der deutsche<br />

Heimatbegriff auseinandergenommen<br />

wurde. Die Franzosen, lernte<br />

ich, verbinden Heimat vor allem<br />

mit Bürgersinn, wir Deutschen mit<br />

Gebiet. Bei mir läuft, sobald ich<br />

das Wort Heimat höre, ein Lied im Kopf ab, das ich als<br />

Junge gesungen habe. Es fängt so an: „Uns’re Heimat, das<br />

sind nicht nur die Städte und Dörfer, uns’re Heimat sind<br />

auch all die Bäume im Wald.“ Es gibt, je länger das Lied<br />

geht, immer mehr Heimat – Fische, Vögel, das Korn auf<br />

dem Feld –, und am Ende wird der Deckel draufgemacht:<br />

„Wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört.“ Auch die<br />

deutschen Kommunisten waren da sehr deutsch. Zusammen<br />

mit dem Volksmusikfernsehen, dem Einheitsfeuerwerk und<br />

dem ständigen Zwang, die nächste deutsche Hymne mitsingen<br />

zu müssen, führte das irgendwann dazu, dass meine<br />

Heimat immer kleiner wurde, bis ich mich im Death Valley<br />

mehr zu Hause fühlte als in Berlin-Mitte.<br />

Wie Jürgen Trittin muss ich noch mal ganz von vorn<br />

anfangen. Klein. Nicht gleich mit dem Wald, nicht mal<br />

mit dem Baum. Vielleicht mit dem Pilz.<br />

In meiner Kindheit war ich oft Pilze sammeln. Es ging<br />

eher ums Sammeln als ums Essen. Als Kind habe ich Pilzgerichte<br />

gehasst, sie sahen matschig aus und schmeckten<br />

auch so. Aber das Sammeln machte Spaß. Als Jugend -<br />

licher verlor ich den Waldpilz aus den Augen, dann fiel<br />

die Mauer, und man musste nichts mehr sammeln, man<br />

konnte alles kaufen. Auch Pilze. In einem Sommerhaus<br />

in den Hamptons entdeckte ich 2005 hinter Büchern zwei<br />

Gefrierbeutel mit Psychopilzen. Das war für etwa 20 Jahre<br />

mein einziger Pilzfund. Aber die Sammelgene waren angelegt,<br />

und jetzt, da ich ein Wochenendgrundstück in<br />

Brandenburg besitze, bricht sich die Natur Bahn.<br />

Ich kenne inzwischen Steinpilzstellen, über die ich mit<br />

niemandem rede. Ich unterteile Freunde in Sammler und<br />

Nichtsammler. Ich spüre eine Pilzsammlergrenze. Ich weiß<br />

nicht genau, wo sie verläuft, aber ich habe einen Verdacht.<br />

Neulich besuchte uns ein Paar in Brandenburg, er<br />

stammt aus dem Südwesten Deutschlands, sie aus dem<br />

Nordosten. Er sah nur den mythischen Wald, sie die Pfifferlinge.<br />

Ich habe bei einem Abendessen neben einer<br />

Münchner Schauspielerin gesessen, der beim Thema Pilze<br />

nur die Spätfolgen von Tschernobyl einfielen. Irgendwann<br />

kam sie von den Pilzen zu den Wildschweinen, die die<br />

Pilze äßen und nun ebenfalls ungenießbar seien. Da schaltete<br />

ich ab. Kürzlich war ein Berliner Koch hier draußen,<br />

der aus Frankfurt an der Oder stammt. Er betrat unseren<br />

Wald wie sein Wohnzimmer. Er schneidet Pilze an, um zu<br />

sehen, welche Farbe ihr Saft hat. Danach entscheidet er,<br />

ob man sie essen kann. Er ist ein<br />

Pilzschamane. Frankfurt (Oder)<br />

liegt im Osten, es ist praktisch<br />

Polen. In unserem Berliner Mietshaus<br />

wohnt ein älteres Ehepaar,<br />

das sich im Sommer leicht vergiftete,<br />

weil es Wein zu Tintlingen<br />

trank, Pilzen, die eher aussehen<br />

wie Fabelwesen. Beide stammen<br />

aus dem Baltikum. Am Wochenende<br />

erzählte mir ein Bekannter,<br />

dass er schöne Hallimasche gefunden<br />

habe. <strong>Der</strong> Mann ist Physiker,<br />

kommt aus dem nordöstlichen<br />

Brandenburg, hat eine russische<br />

Frau und besitzt heute eine tausendköpfige<br />

Rinderherde in der<br />

Nähe von Kaliningrad. In meinem<br />

kleinen Pilzbuch fand ich zum<br />

Hallimasch: roh giftig, zerstört<br />

Holz, schmeckt gekocht wie essigsaure<br />

Tonerde.<br />

Je weiter man nach Osten kommt, desto hemmungsloser<br />

wird die Liebe zum Pilz. <strong>Der</strong> Kahle Krempling ist gegart<br />

wohlschmeckend, kann aber noch Jahre nach seinem<br />

Genuss zu tödlichen Vergiftungen führen, so steht es in<br />

meinem DDR-Pilzführer. Mehr muss man über den wilden<br />

Osten nicht wissen. Kahler Krempling klingt fast wie ein<br />

westdeutsches Synonym für den Ostmann. Leute, die so<br />

was gegessen haben, wählen nicht zwangsläufig Volks -<br />

parteien.<br />

Mein neuer brandenburgischer Grundstücksnachbar<br />

stammt aus Illinois, wo der ehemalige Präsident Barack<br />

Obama seine politische Laufbahn begonnen hat. Auf seinem<br />

Grundstück wachsen die schönsten Steinpilze, die<br />

man sich vorstellen kann. Er will sie nicht. Er ist ein Mann<br />

aus dem Westen. Es wäre für ihn, als würde er Moos essen.<br />

Oder Erde. Nimm du sie, sagt er. Ich suche jetzt auf amerikanischem<br />

Boden in Ostdeutschland nach Steinpilzen.<br />

Näher war ich noch nie dran an meiner Heimat.<br />

ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017 59


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ANBIETER: Vicampo.de GmbH, Taunusstraße 57, 55118 Mainz • ABFÜLLER: SP-38453 SAV les Vignerons des Albères, 66740Saint-Genies-des-Fontaines • SP-43966 Sarl Lafage,<br />

Mas Miraflors, Route de Canet, 66000 Perpignan • SP-41164 Domaine de l’Alba, Saint-Louis Fleury d’Aude par Sélect Vins, 1100 Narbonne • SP-39678 Maison Ventenac, 4, Rue des<br />

Jardins, 11610 Ventenac Cabardès • SP-39746 Chapoutier S.A., 18 avenue du Docteur Paul Durand, 26600 Tain l’Hermitage • SP-44017 Xavier Vins SARL, Route de Sorgues 1901, 84350<br />

Châteauneuf-du-Pape • SP-40253 Knipser, Hauptstraße 47–49, 67229 Laumersheim • SP-41526 Champagne Pommery (Vranken), 5 pl Gén Gouraud, 51100 Reims


Produktion in Ingolstadt<br />

STEFAN WARTER / AUDI AG<br />

Audi<br />

Betriebsrat fordert Jobgarantie bis 2025<br />

Arbeitnehmer wollen einen Zukunftsplan für die VW-Tochter aushandeln.<br />

<strong>Der</strong> Autohersteller Audi soll bis zum Jahr 2025 keine<br />

betriebsbedingten Kündigungen aussprechen. Das fordert<br />

Betriebsratschef Peter Mosch. „In Zeiten des rapiden technischen<br />

Wandels brauchen die Beschäftigten bei Audi dringend<br />

Sicherheit“, sagt er. Die aktuelle Beschäftigungssicherung<br />

läuft im Jahr 2020 aus. Für Mitarbeiter der Schwestermarke<br />

Volkswagen hingegen gilt bereits eine Garantie bis<br />

2025. Mosch will mit dem Vorstand nun bis Jahresende<br />

eine eigene Zukunftsvereinbarung für Audi und seine rund<br />

60000 Mitarbeiter in Deutschland aushandeln. Diese soll<br />

auch konkrete Zusagen für die Produktion von Elektro -<br />

modellen an den deutschen Standorten Ingolstadt und<br />

Neckarsulm umfassen. Die E-Auto-Offensive soll dazu<br />

beitragen, die derzeit unterbeschäftigten Werke wieder<br />

stärker auszulasten. Mosch fordert zudem neue Jobs in der<br />

Batterieproduktion und bei den digitalen Dienstleistungen.<br />

„Wir wollen den Vorstand in die Pflicht nehmen, zusätz -<br />

liche Tätigkeitsfelder zu schaffen“, sagt der Betriebsratschef.<br />

Beim Audi-Konkurrenten Daimler handelten die<br />

Arbeitsnehmervertreter zuletzt sogar eine Beschäftigungsgarantie<br />

bis 2030 aus. Im Gegenzug stimmten sie der Aufspaltung<br />

des Konzerns in drei selbständige Sparten zu. sh<br />

Verkehr<br />

Freie Fahrt für den<br />

Bahn-Chef<br />

Deutsche-Bahn-Chef Richard<br />

Lutz bekommt bei der Besetzung<br />

dreier Vorstandsposten<br />

weitgehende Mitspracherechte.<br />

Das ordnete der scheidende<br />

Bundesverkehrsminister<br />

Alexander Dobrindt (CSU)<br />

stellvertretend für den Staat<br />

als Alleineigentümer an. Damit<br />

reagierte er auf die erneute<br />

Absage der Aufsichtsratssitzung<br />

am vorigen Donnerstag,<br />

auf der die neuen<br />

Vorstände gewählt<br />

werden sollten. Die<br />

Entscheidung Dobrindts<br />

ist auch ein Zeichen<br />

des Misstrauens<br />

an Aufsichtsratschef<br />

Utz-Hellmuth Felcht,<br />

Koederitz<br />

MIKE SCHMIDT / IMAGO<br />

der laut Satzung für die Auswahl<br />

der Kandidaten verantwortlich<br />

ist. Den designierten<br />

Güterverkehrvorstand Jürgen<br />

Wilder wollten die<br />

Arbeitnehmerseite<br />

und die SPD-Mitglieder<br />

des Aufsichtsrats<br />

aber nicht abnicken.<br />

Wilder gab deshalb<br />

seinen Rückzug bekannt.<br />

Gesetzt ist derzeit<br />

nur Martin Seiler als Personalvorstand.<br />

Die ursprünglich<br />

als Digital-Vorstand vorgesehene<br />

Professorin Sabina<br />

Jeschke ist nicht mehr unumstritten.<br />

Wieder im Gespräch<br />

ist Martina Koederitz, Managerin<br />

von IBM. Die Zeit für<br />

Lutz und Felcht drängt. Dobrindt<br />

will am 10. November<br />

endgültig über alle drei Personalien<br />

entschieden haben. gt<br />

62 DER SPIEGEL 43 / 2017


Wirtschaft<br />

Geldanlage<br />

Crowdinvesting<br />

lockt Anleger<br />

Mancher Anleger liebäugelt<br />

mit dem sogenannten<br />

Crowdinvesting: Bei einer<br />

Umfrage des Forsa-Instituts<br />

konnten sich 15 Prozent der<br />

Teilnehmer vorstellen, bei einer<br />

solchen Schwarmfinanzierung<br />

mitzumachen. Bei den<br />

unter 40-Jährigen waren es<br />

sogar 26 Prozent. Nur zwei<br />

Prozent der Befragten nutzen<br />

diese Form des Investments<br />

schon. Beim Crowdinvesting<br />

beziehungsweise Crowdfunding<br />

sammeln Firmen über<br />

HSH Nordbank<br />

Länder wollen den<br />

Preis hochtreiben<br />

In dem Verkaufspoker um<br />

die HSH Nordbank erhöhen<br />

die Eigentümer der Landesbank<br />

kurz vor dem Ende der<br />

Bieterfrist den Einsatz. In<br />

einer Unterlage für die Interessenten<br />

verlangen Hamburg<br />

und Schleswig-Holstein<br />

eine Ausgleichszahlung von<br />

100 Millionen Euro für die<br />

Garantie, mit der sie die Bank<br />

nach der Finanzkrise vor dem<br />

Kollaps bewahrt hatten. Für<br />

die Garantie zahlt die HSH<br />

jährlich Millionen an Gebühren,<br />

auch in den nächsten<br />

das Internet Geld für eine<br />

Geschäftsidee. Zündet sie,<br />

bekommen Investoren Zinsen<br />

oder werden am Gewinn<br />

beteiligt. Bei der Umfrage gaben<br />

33 Prozent der Befragten<br />

eine hohe Rendite als mög -<br />

lichen Grund an, ein solches<br />

Investment zu tätigen. Allerdings<br />

droht bei Misserfolg<br />

auch der Totalverlust. „Noch<br />

dazu ist die Schwarmfinan -<br />

zierung bislang nur schwach<br />

reguliert“, sagt Wolf Brandes<br />

von der Verbraucherzentrale<br />

Hessen, die die Umfrage im<br />

Rahmen des Projekts „Marktwächter<br />

Finanzen“ in Auftrag<br />

gegeben hat. ase<br />

Jahren wären noch Zahlungen<br />

fällig gewesen, die aber<br />

im Zuge der Privatisierung<br />

vom Käufer abgelöst werden<br />

sollen. Insider glauben allerdings,<br />

dass 40 Millionen Euro<br />

als Ausgleich ausreichen würden.<br />

Die 100-Millionen-Forderung<br />

könnte Bieter abschrecken,<br />

heißt es. Noch im Rennen<br />

sind die Finanzinvestoren<br />

Cerberus, Apollo, J. C.<br />

Flowers und der bisher un -<br />

bekannte Bieter Socrates<br />

Capital. Hinter der Londoner<br />

Beteiligungsfirma soll jedoch<br />

ein anderer Kaufinteressent<br />

stehen. Am nächsten Freitag<br />

um 18 Uhr müssen verbind -<br />

liche Gebote vorliegen. mhs<br />

Staatsfinanzen<br />

Wenig Spielraum<br />

für Jamaika<br />

<strong>Der</strong> Finanzspielraum der<br />

neuen Bundesregierung fällt<br />

viel kleiner aus, als bislang<br />

gedacht. Nach Berechnungen<br />

des Bundesfinanzministeriums<br />

(BMF) stehen der geplanten<br />

Jamaikakoalition in den<br />

nächsten vier Jahren nur<br />

30 Milliarden Euro für neue<br />

Vorhaben zur Verfügung. Nur<br />

so könne die schwarze Null,<br />

also ein Bundeshaushalt ohne<br />

Neuverschuldung, gehalten<br />

werden, heißt es in einer<br />

Unterlage, die das BMF für<br />

die anstehenden Koalitionsverhandlungen<br />

erstellt hat.<br />

Auf das Jahr gerechnet, ergibt<br />

sich also ein Betrag von<br />

durchschnittlich 7,5 Milliarden<br />

Euro. Damit ließe sich gerade<br />

einmal die von CDU und<br />

Baustelle in München<br />

CSU geplante Steuerentlastung<br />

mit einem Volumen von<br />

15 Milliarden Euro finanzieren,<br />

wenn sich die Länder,<br />

wie üblich, mit der Hälfte an<br />

den Einnahmeausfällen beteiligen.<br />

Die FDP fordert eine<br />

doppelt so hohe Entlastung.<br />

Auch für weitere Maßnahmen,<br />

beispielsweise neue<br />

Investitionen in Infrastruktur<br />

oder Digitalisierung, wäre<br />

kein Geld übrig. Größer würde<br />

der Spielraum, wenn die<br />

neue Regierung die schwarze<br />

Null im Bundeshaushalt aufgäbe<br />

und die Verschuldungsmöglichkeiten,<br />

die das Grundgesetz<br />

vorgibt, ausschöpfte.<br />

Nach der dort verankerten<br />

Schuldenbremse darf der<br />

Bund neue Kredite in Höhe<br />

von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts<br />

aufnehmen.<br />

In absoluten Zahlen sind das<br />

rund elf Milliarden Euro. rei<br />

FLORIAN PELJAK / PICTURE ALLIANCE / SZ PHOTO / DPA<br />

Die Samstagsfrage Wozu braucht Tesla deutsche Ingenieure?<br />

Tesla-Gründer Elon Musk hat viel erreicht. Seine US-<br />

Automarke gilt als Pionier der E-Mobilität. Weltweit<br />

haben mehr als 500000 Kunden das neue<br />

Model 3 bestellt. Ein Weckruf für die deutsche<br />

Autoindustrie: BMW, Daimler und VW wetteifern<br />

darum, wer den besten „Tesla-Fighter“ baut,<br />

ein Auto, das eher einem iPhone auf Rädern als<br />

einem gewöhnlichen Mercedes oder Golf gleichen<br />

soll. Ein Kampf zwischen neuer und alter Autowelt<br />

ist entbrannt, mit erstaunlichen Folgen: Während die<br />

deutschen Hersteller nun um IT-Experten und Programmierer<br />

buhlen, umwirbt Tesla gezielt klassische Autoingenieure.<br />

Im rheinland-pfälzischen Prüm hat der US-Konzern zu<br />

Jahresbeginn den Zulieferer Grohmann Engineering gekauft.<br />

Musk persönlich reiste in die Eifel, um die Mitarbeiter von seiner<br />

„Mission“ zu überzeugen. Diese Woche sagte Tesla ihnen<br />

auch noch deutlich höhere Gehälter und eine Jobgarantie bis<br />

geplante Produktion 2018:<br />

500000<br />

Fahrzeuge<br />

2022 zu. <strong>Der</strong> Grund für die Charmeoffensive: Tesla<br />

ist auf Grohmanns Know-how angewiesen. Mit<br />

dem Model 3 geht der US-Konzern erstmals in<br />

die Massenfertigung, und das bereitet Tesla<br />

sichtlich Probleme. Im dritten Quartal stellte das<br />

Unternehmen gerade mal 260 Stück des neuen<br />

Hoffnungsautos her. Eigentlich waren 1500 geplant.<br />

Beim Hochfahren der Produktion kommt<br />

Grohmann nun eine zentrale Rolle zu. <strong>Der</strong> Mittelständler<br />

baut Fertigungsanlagen für viele Komponenten,<br />

die in einem modernen Auto wichtig sind, von Sensoren<br />

bis zu Hochvoltspeichern. Ingenieure aus Prüm reisen<br />

nun oft in die USA, um Musks Fabriken mit Automatisierungstechnik<br />

auszurüsten. Die Konkurrenz sieht darin den Beweis,<br />

dass Musk zwar gute Ideen hat, bei der Umsetzung aber<br />

Hilfe aus Deutschland braucht. Sein Produktionschef heißt<br />

seit 2016 übrigens Peter Hochholdinger. Er kommt von Audi. sh<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

63


Gelobtes Hinterland<br />

Gerechtigkeit Deutschland ist gespalten: Die Metropolen boomen, die Provinz kommt<br />

kaum hinterher. Doch auch dort gibt es Erfolgsgeschichten. Vier Beispiele.<br />

Deutschland im Herbst 2017, das ist,<br />

auf den ersten Blick, ein Land im<br />

Sonnenschein. Die Arbeitslosigkeit<br />

bei 5,5 Prozent, das Bruttoinlandsprodukt<br />

mit 38114 Euro pro Einwohner so hoch<br />

wie nie. Es steigen die Haushaltseinkommen,<br />

der private Konsum, die Exporte, die<br />

Lebenserwartung. Auf den Straßen kommt<br />

man vor lauter Baustellen kaum voran. In<br />

den Zustandsberichten, die das Wirtschaftsministerium<br />

ins Land schickt, ist fast alles<br />

„robust“, „beschleunigt“ oder „dynamisch“.<br />

Die Städte wachsen. Bis 2035 wird die<br />

Einwohnerzahl von Frankfurt am Main um<br />

11 Prozent steigen, die von München oder<br />

Berlin sogar um mehr als 14 Prozent, in der<br />

Hauptstadt werden dann mehr als vier Millionen<br />

Menschen leben. Doch Deutschlands<br />

Gesamtbevölkerung nimmt seit Jahren<br />

kaum zu; wenn die Metropolregionen<br />

wachsen, muss anderswo etwas kleiner werden.<br />

<strong>Der</strong> Boom geht zulasten der Provinz.<br />

In den Jahren 2005 bis 2015 schrumpfte<br />

die Bevölkerung in 37 Prozent der Mittelstädte<br />

und in 52 Prozent der Kleinstädte.<br />

An diesem Auseinanderklaffen von Großstadt<br />

und Hinterland wird sich auf absehbare<br />

Zeit nichts ändern, wie der noch unveröffentlichte<br />

Raumordnungsbericht 2016<br />

des Bundes deutlich macht. Die Diskrepanz,<br />

heißt es dort, werde „künftig weiter<br />

an Dynamik gewinnen“.<br />

Von Hamburg und München, Stuttgart,<br />

Köln, Düsseldorf, Frankfurt und, vor allem,<br />

Berlin aus gesehen ist der Rest von<br />

Deutschland, in Abstufungen: Provinz.<br />

Doch wer durch diese Gegenden reist, der<br />

entdeckt schnell, dass vieles dem schnellen<br />

Befund widerspricht. Es gibt schrumpfende<br />

Gemeinwesen, sterbende Dörfer. Es gibt<br />

aber auch prosperierende Kleinstädte,<br />

funktionierende Mittelzentren und blühende<br />

Dörfer.<br />

Warum die einen Kommunen Erfolg<br />

haben und die anderen nicht, hat in der<br />

Politik lange Zeit niemanden so richtig interessiert.<br />

Erst die Rede von den „Abgehängten“<br />

der Republik, die AfD wählen<br />

und offenbar vornehmlich in der Provinz<br />

leben, hat das Interesse am Land geweckt.<br />

Politiker von den Grünen bis zur CSU bemühen<br />

sich seitdem, den Geschichten von<br />

der abgehängten Provinz eine positive Erzählung<br />

gegenüberzustellen. Plötzlich ist<br />

viel von Heimat die Rede, wird über die<br />

Einrichtung von Heimatministerien nachgedacht.<br />

Als wenn mit einer neuen, alten<br />

Vokabel die Probleme schon gelöst wären.<br />

Aber die Fragen, die diskutiert werden,<br />

sind die richtigen: Was ist unverzichtbar,<br />

wenn man den Niedergang einer Stadt oder<br />

eines Kreises stoppen oder einen Trend sogar<br />

umkehren will? Worauf kommt es an?<br />

Wie macht man das Land, wie macht man<br />

die deutsche Provinz zukunftsfest?<br />

Es gibt Antworten auf diese Fragen. Antworten,<br />

die manche Dörfer, Städte und<br />

Kreise selbst geben. Die Antworten heißen,<br />

unter anderem, Halle (Saale), Offenbach<br />

am Main, Freyung-Grafenau und<br />

Werra-Meißner. Zweimal Ost, zweimal<br />

West. Zweimal Stadt, zweimal Land.<br />

Halle (Saale)<br />

Bildung, Forschung und Kultur sind auch abseits<br />

der Metropolen anziehend. Besuch in<br />

einer „Schwarmstadt“.<br />

Halle, 40 Kilometer vor Leipzig gelegen,<br />

ist ein schönes Beispiel dafür, dass sich<br />

Trends tatsächlich umkehren lassen. Lange<br />

litt die Stadt unter Bevölkerungsschwund<br />

und Niedergang, in den letzten Jahren erlebte<br />

sie eine Wende zum Positiven. Leipzig<br />

geht es wieder gut, deshalb geht es<br />

auch Halle besser, vielleicht liegt es daran.<br />

Wissenschaftler bezeichnen solche Phänomene<br />

als „Überschwappeffekte“.<br />

Zu DDR-Zeiten hielt Halle an der Saale<br />

Republikrekorde. Mehr als 40 Prozent der<br />

Chemieproduktion der DDR stammte aus<br />

dem Bezirk, das sorgte für Arbeit, Wohlstand<br />

und Selbstbewusstsein. Die Menschen<br />

im Bezirk Halle kauften mehr Mopeds<br />

oder Motorräder als die anderen, sie<br />

rauchten mehr und tranken mehr Milch.<br />

Nach dem Zusammenbruch der DDR<br />

blieb davon nicht viel. Halle erlebte eine<br />

massive Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit<br />

war die Folge.<br />

Bert-Morten Arnicke, 44, machte 1990<br />

in Halle sein Abitur. Heute steuert er sei-<br />

Halle (Saale)<br />

236991 Einwohner<br />

Stand: 31. Dezember 2015<br />

private<br />

Schuldnerquote*<br />

kommunale<br />

Schulden<br />

pro Einwohner**<br />

Sozialhilfe<br />

im Alter**<br />

16,9 % 1941 €<br />

163<br />

von<br />

10 000 Einwohnern<br />

ab 65 Jahren<br />

Magdeburg<br />

SACHSEN-ANHALT<br />

Bundesdurchschnitt<br />

Bundesdurchschnitt<br />

Bundesdurchschnitt<br />

* Anteil der Bürger, die überschuldet sind. ** Stand 2014<br />

Quelle: BBSR<br />

Leipzig<br />

64 DER SPIEGEL 43 / 2017


Wirtschaft<br />

nen Dienst-VW-Kastenwagen auf einen riesigen<br />

Parkplatz, der früher, zu DDR-Zeiten,<br />

Sperrzone war: Er gehörte zu einer<br />

sowjetischen Kaserne.<br />

Die Soldaten sind längst abgezogen. Arnicke<br />

ist Projektmanager für den neu entstandenen<br />

Weinberg-Campus, nach Berlin-Adlershof<br />

der zweitgrößte ostdeutsche<br />

Technologiepark – das komplette Münchner<br />

Oktoberfest mit all seinen Zelten und<br />

Fahrgeschäften würde mehr als dreimal<br />

auf das Gelände passen.<br />

„Spitzenforschung“, sagt Arnicke. Und<br />

dann fährt er das Who’s who von Halle<br />

ab: ein Fraunhofer-Institut, ein Gebäude<br />

der Max-Planck-Gesellschaft, das Bio-Verfahrenstechnik-Zentrum,<br />

zwei Leibniz-<br />

Ins titute. Mittendrin Gebäude der Universität,<br />

kleinere und größere Labore von Firmen<br />

und am Rande die Universitätsklinik.<br />

Ein Ebola-Wirkstoff wurde in Halle mitentwickelt,<br />

einer der bekanntesten Festplatten-Wissenschaftler<br />

der Welt hat hier<br />

sein Labor, Forscher suchen nach Wirkstoffen<br />

gegen Alzheimer und Diabetes. In<br />

der Weinberg-Mensa sind Spanisch oder<br />

Englisch sprechende Gäste fast so normal<br />

wie Besucher mit Hallenser Dialekt.<br />

So viel Internationalität verändert eine<br />

Stadt. Es gibt exotische Restaurants und<br />

Kneipen, die Kreativwirtschaft blüht, angetrieben<br />

durch die drittgrößte Kunsthochschule<br />

der Republik – heute werden in der<br />

Stadt an der Saale sogar Hollywoodfilme<br />

vertont. Halle wurde zur Schwarmstadt:<br />

So bezeichnen Soziologen Orte mit einer<br />

„beträchtlichen Anziehungskraft auf Bildungssuchende“.<br />

Noch immer verdienen Menschen in<br />

Halle – wie auch im Rest der neuen Bundesländer<br />

– weniger als Menschen in Hannover<br />

oder Bonn. Ursache für die Lohnlücke<br />

ist der Mangel an Großunternehmen,<br />

weil hauptsächlich Großunternehmen<br />

Weniger Flächenförderung<br />

und Gießkanne, dafür<br />

Konzentration auf Forschung<br />

und Entwicklung.<br />

hohe Gehälter zahlen. Bei der Stadt überlegt<br />

man also, wie Platz für Werke und<br />

Verwaltungen von Konzernen geschaffen<br />

werden kann.<br />

Halle hat nicht einfach Glück gehabt.<br />

Halle hatte einen Plan.<br />

Eine Milliarde Euro floss seit 1990 in das<br />

Weinberg-Gelände, durch Investitionen von<br />

Bund, Land, EU und natürlich Halle selbst.<br />

Die Stadt ging in Vorleistung und kaufte<br />

dem Bund das Kasernenareal ab. Es half,<br />

dass es auch zu DDR-Zeiten eine Tradition<br />

für Wissenschaft in Halle gegeben hat, daran<br />

konnte man anknüpfen; Ähnliches erlebte<br />

Jena mit seiner reichen Produktionsgeschichte<br />

von optischen Geräten.<br />

Die Politik, die allenfalls Rahmenbedingungen<br />

setzen kann, hat in diesem Fall vieles<br />

richtig gemacht. Auf dem Entwicklungsstand,<br />

auf dem sich Deutschland inzwischen<br />

befindet, entstehe Wirtschaftswachstum<br />

hauptsächlich durch Innovation, sagt<br />

Oliver Holtemöller, Professor für Volkswirtschaftslehre<br />

an der Martin-Luther-Universität<br />

Halle-Wittenberg und Leiter der<br />

Abteilung Makroökonomik am Leibniz-<br />

Institut für Wirtschaftsforschung Halle.<br />

Was das bedeutet, für Halle, aber auch<br />

für andere Städte, die einen Strukturwandel<br />

hinter sich haben? Weniger Flächenförderung,<br />

sagt Holtemöller, weniger Gießkanne,<br />

dafür Konzentration auf die För -<br />

derung von Forschung und Entwicklung<br />

sowie der Standortattraktivität für Hochqualifizierte.<br />

Denn nur wo Spitzenforschung<br />

stattfindet, besteht die Chance,<br />

dass Ausgründungen erfolgreich sind und<br />

dass sich irgendwann die private Wirtschaft<br />

andockt – was wiederum Arbeitsplätze<br />

und damit Wachstum mit sich<br />

bringt.<br />

Offenbach am Main<br />

Vielleicht hängen ein hoher Ausländeranteil<br />

und Kreativität zusammen. Über den Standortvorteil<br />

Heterogenität.<br />

Wer mit dem ICE auf dem Weg nach<br />

Frankfurt durch Offenbach fährt, sieht erst<br />

einmal nicht viel von der Stadt: ein paar<br />

Wiesen, einige Gewächshäuser, Brache.<br />

Wenig lässt darauf schließen, was dahinterliegt.<br />

„Ein Drecksloch“, wie der Rapper<br />

Ree in seinem Song „Offenbach“ singt?<br />

Oder das Ausland? „Geh hin, wo du herkommst,<br />

wenn’s dir hier nicht passt, Mann,<br />

geh zurück nach Deutschland“, rappt er –<br />

„das ist Offenbach.“<br />

Offenbach hat einen Ausländeranteil<br />

von 37 Prozent, das ist ein bundesdeutscher<br />

Spitzenwert; er macht die Kommune<br />

zu einer der internationalsten Städte<br />

Deutschlands.<br />

Rund 60 Prozent der Einwohner haben<br />

ausländische Wurzeln, in der Innenstadt<br />

sind es sogar 70 Prozent. Lange gab es<br />

Spannungen, die Kriminalitätsrate war immer<br />

wieder großes Thema, Rapper wie<br />

Haftbefehl machten Karriere mit Stücken,<br />

in denen sie die Prostituierten und Drogendealer<br />

Offenbachs besangen. In Offenbach<br />

sei man es gewohnt, sich „zu fetzen<br />

und zu bluten“, rappen sie, „Kanacken<br />

jumpen up vor den abgefuckten Cops.“<br />

Dabei ist die Stadt längst nicht so verroht,<br />

wie die Songtexte glauben machen<br />

wollen. Die Gewaltkriminalität geht zurück,<br />

auch die Gesamtzahl der Straftaten<br />

sinkt: 2016 wurden 11 607 Fälle registriert,<br />

Offenbach<br />

am Main<br />

123734 Einwohner<br />

Stand: 31. Dezember 2015<br />

private<br />

Schuldnerquote*<br />

17,8 %<br />

Bundesdurchschnitt<br />

Bundesdurchschnitt<br />

kommunale<br />

Schulden<br />

pro Einwohner**<br />

8156 €<br />

Sozialhilfe<br />

im Alter**<br />

763<br />

von<br />

10 000 Einwohnern<br />

ab 65 Jahren<br />

Bundesdurchschnitt<br />

Frankfurt<br />

am Main<br />

HESSEN<br />

Darmstadt<br />

* Anteil der Bürger, die überschuldet sind. ** Stand 2014<br />

Quelle: BBSR<br />

Hanau<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

65


minus zehn Prozent, obwohl die Bevölkerung<br />

wächst. Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit<br />

bei knapp zehn Prozent. Einer Umfrage<br />

der Industrie- und Handelskammer<br />

zufolge wollen jedoch 27 Prozent der Unternehmen<br />

künftig mehr Mitarbeiter einstellen.<br />

Fast 70 Prozent der Firmen gaben<br />

an, dass sich die Standortbedingungen in<br />

den vergangenen fünf Jahren verbessert<br />

hätten.<br />

„Die Stadt muss sich nicht verstecken“,<br />

sagt Maziar Rastegar, 36, Grafikdesigner<br />

mit iranischen Wurzeln und Offenbacher<br />

Lokalpatriot. Rastegar hat in Offenbach<br />

an der renommierten Kunsthochschule<br />

HfG studiert und sich vor einigen Jahren<br />

im Stadtteil Nordend in einer ehemaligen<br />

Pelzfabrik ein Arbeits- und Wohnloft eingerichtet:<br />

große Fenster, viele Holzmöbel,<br />

Ledersofa, Perserteppich.<br />

Das Viertel am Mainufer war einst ein<br />

Problembezirk, inzwischen sind auf der<br />

anderen Seite des Hafenbeckens Hunderte<br />

neue Wohnungen entstanden. Restaurants<br />

und Kindergärten gibt es hier, auch für die<br />

Pendler, die in Frankfurt arbeiten und in<br />

Offenbach leben.<br />

Was in Offenbach auffällt: der hohe Anteil<br />

Kreativer. Gibt es einen Zusammenhang<br />

zwischen Multikulturalismus und<br />

Kreativität?<br />

Rastegar entwirft Logos für seine Kunden,<br />

gestaltet die Inneneinrichtung von<br />

Restaurants oder verkauft T-Shirts mit Offenbach-Aufdruck.<br />

Er hat eine eigene<br />

Schriftart entworfen, die „Offenbach<br />

Neue“: eine Mischung aus deutscher Fraktur<br />

und arabischer Schrift. „Ich finde, das<br />

drückt den Charakter der Stadt perfekt<br />

aus“, sagt er.<br />

Kleinunternehmern und Kreativen wie<br />

Rastegar ist es zu verdanken, dass sich Offenbachs<br />

Image langsam von der Schmuddelstadt<br />

zur kleinen Kultmetropole wandelt.<br />

<strong>Der</strong> Anteil der Kreativwirtschaft liegt<br />

bei mehr als 7 Prozent der Bruttowertschöpfung.<br />

Im Vergleich: In Berlin beträgt<br />

die Kennziffer 8,5 Prozent, in ganz<br />

Deutschland rund 2 Prozent.<br />

„Es gibt immer noch Viertel, da ist man<br />

in der Jogginghose overdressed“, sagt Rastegar.<br />

„Hier ist nicht alles aufgeräumt und<br />

poliert. Aber das ist okay so. Aus so etwas<br />

entsteht Kreativität.“<br />

In Deutschland, sagt der Wirtschaftsforscher<br />

Oliver Holtemöller, bilde man sich<br />

immer noch viel auf die Stärke des Ver -<br />

arbeitenden Gewerbes ein. „Es könnte<br />

sein, dass sich das als kurzsichtig erweist.“<br />

Kreis Freyung-Grafenau<br />

Günstiges Bauland ist gut. Schnelles Internet<br />

ist besser. <strong>Der</strong> Wert digitaler Infrastruktur.<br />

Auf den ersten Blick ist Freyung-Grafenau<br />

kein guter Standort für eine Firmengründung.<br />

Für fast alles braucht man hier ein<br />

Auto, München ist genauso weit entfernt<br />

wie Prag. Im gesamten Kreisgebiet gibt es<br />

nicht einen Kilometer Autobahn, keine<br />

nennenswerte Zugverbindung und keine<br />

Universität, die Hightech und Ideen bringen<br />

könnte. Weil eine Universität fehlt,<br />

fehlen Akademiker. Viele junge Leute verlassen<br />

die Region.<br />

Trotzdem ist Freyung-Grafenau eine<br />

wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Von 2000<br />

bis 2014 wuchs die Wirtschaftskraft pro<br />

Kopf durchschnittlich um 3,4 Prozent pro<br />

Jahr, in ganz Deutschland waren es im selben<br />

Zeitraum nur 2,4 Prozent. Die Arbeitslosenquote<br />

lag 2016 bei 3,4 Prozent, das<br />

ist praktisch Vollbeschäftigung. Überdurchschnittlich<br />

ist die Zahl der Selbstständigen.<br />

<strong>Der</strong> Freyung-Grafenau-Kreis ist das, was<br />

in der alten Bundesrepublik „Zonenrandgebiet“<br />

hieß. Die Nähe zur tschechischen<br />

Grenze war lange ein Problem, die Öffnung<br />

der Grenze brachte Chancen.<br />

Auch Christina und Daniel Gotsmich<br />

sind zum Studium erst einmal weggezogen,<br />

nach Berlin. Umso überraschender, dass<br />

sie ihre erste Firma nicht etwa in Kreuzberg<br />

gegründet haben, sondern eben in<br />

Freyung, 7400 Einwohner, kurz vor der<br />

tschechischen Grenze. 2011 starteten sie<br />

mit einer Kommunikationsagentur, fünf<br />

Jahre später folgte mit der Möbelmarke<br />

Kommod das zweite Start-up.<br />

Die Treiber der guten Entwicklung im<br />

Kreis sind nicht einige wenige weithin<br />

sichtbare Großunternehmen. Hinter dem<br />

Wachstum stehen viele kleine Unternehmer:<br />

Spezialisierte Maschinenbauer gibt<br />

es ebenso wie Hersteller von Kamera -<br />

objektiven, Produzenten von Styropor<br />

oder eben die Möbelfirma von Christina<br />

und Daniel Gotsmich.<br />

Ein Quadratmeter Bauland kostet im Osten<br />

Bayerns 34 Euro, in deutschen Städten<br />

ist es mit 280 Euro rund achtmal so viel.<br />

Das ist auch für Unternehmen ein Wett -<br />

bewerbsvorteil. Für das Firmenbüro in<br />

Freyung zahlen Christina und Daniel Gotsmich<br />

eine Miete von drei Euro pro Quadratmeter.<br />

Doch billig sein allein reicht nicht. Lange<br />

surften die Einwohner im Kreis quälend<br />

langsam durchs Netz. Für Privatpersonen<br />

war das lästig, für Firmen unter Umständen<br />

existenzgefährdend. Erst seit die bayrische<br />

Landesregierung den Breitbandausbau<br />

fast komplett subventioniert, wird das<br />

Internet auch in Freyung-Grafenau schneller<br />

– und erst das macht es möglich, dass<br />

Gründer aus Berlin auch in der Provinz<br />

arbeiten können.<br />

<strong>Der</strong> Sachverständigenrat Ländliche Entwicklung<br />

sieht das ähnlich. Er formuliert<br />

Landkreis<br />

Freyung-Grafenau<br />

78122 Einwohner<br />

Stand: 31. Dezember 2015<br />

private<br />

Schuldnerquote*<br />

* Anteil der Bürger, die überschuldet sind.<br />

kommunale<br />

Schulden<br />

pro Einwohner**<br />

Sozialhilfe<br />

im Alter**<br />

6,1 % 1673 €<br />

124<br />

von<br />

10 000 Einwohnern<br />

Bundesdurchschnitt<br />

Bundesdurchschnitt<br />

ab 65 Jahren<br />

Bundesdurchschnitt<br />

Regensburg<br />

** Stand 2014<br />

BAYERN<br />

Passau<br />

Pilsen<br />

TSCHECHIEN<br />

Quelle: BBSR<br />

66 DER SPIEGEL 43 / 2017


Wirtschaft<br />

es nur etwas beamtenhaft. „Die Verfügbarkeit<br />

von schnellen und leistungsstarken<br />

Breitbandanbindungen ist ein entscheidender<br />

Standortfaktor“, heißt es in einer Stellungnahme<br />

des Rats zum Thema „Länd -<br />

liche Räume“. Die Experten sehen darin<br />

ein Problem für die gesamte Volkswirtschaft.<br />

Deutschland könne die Chancen<br />

der Digitalisierung nur nutzen, wenn auch<br />

in ländlichen Räumen flächendeckend eine<br />

hochleistungsfähige digitale Infrastruktur<br />

entstehe. Wird dieses Ziel verfehlt, bestehe<br />

die Gefahr, dass die ländlichen Gebiete<br />

beim Übergang zur „Gigabitgesellschaft“<br />

nicht mitkommen.<br />

Mindestens genauso wichtig wie das digitale<br />

Internet sind in Freyung-Grafenau<br />

die analogen Netzwerke: das Provinzielle.<br />

Man kennt sich. „So ein Bezirksamt in<br />

Berlin ist sehr anonym“, sagt Daniel Gotsmich.<br />

„Wenn ich hier zum Landratsamt<br />

fahre, muss ich mindestens eine Stunde<br />

einplanen, weil man sich auf dem Flur verratscht.“<br />

Werra-Meißner-Kreis<br />

Wenn die Bürger die Toiletten im Gemeindehaus<br />

selbst renovieren. Die Aussagekraft<br />

ehrenamtlichen Engagements.<br />

Das Problem von Landrat Stefan Reuß ist,<br />

dass er etwas schaffen muss, was erst einmal<br />

aussichtslos erscheint: Er muss Geld<br />

sparen und gleichzeitig den Kreis attraktiv<br />

halten – damit nicht noch mehr Menschen<br />

wegziehen, sondern womöglich sogar neue<br />

kommen. „Wir brauchen Infrastruktur,<br />

sonst ist der ländliche Raum im Eimer“,<br />

sagt er.<br />

Reuß will seinen Kreis als Wohnstandort<br />

profilieren. In den nächstgrößeren Städten<br />

Göttingen und Kassel sind die Mieten hoch,<br />

Wohnraum ist knapp und das Bauen teuer.<br />

„Ohne bürgerschaftliches<br />

Engagement<br />

könnte ich das<br />

Licht ausknipsen.“<br />

„Aber für den Weg aufs Land entscheiden<br />

sich die Leute nur, wenn es hier genug<br />

gibt“, sagt Reuß – genug Schulen, Busse,<br />

Ärzte, Supermärkte eben. Und da wird es<br />

eng.<br />

Junge Ärzte ließen sich auch mit Ansiedlungsprämien<br />

von bis zu 50000 Euro,<br />

die das Land Hessen im Rahmen eines<br />

„Gesundheitspakts“ bezahlt, nicht in die<br />

Region locken, wenn ihre Kinder keine<br />

Schule in der Nähe fänden, sagt Reuß. Obwohl<br />

sich die Zahl der Erstklässler seit 1995<br />

fast halbiert hat, hat Reuß deshalb keine<br />

Schule geschlossen.<br />

Die Nachmittagsbetreuung an Kindergärten<br />

und Grundschulen hat der Kreis bis<br />

16 Uhr ausgebaut, knapp 260 000 Euro hat<br />

das gekostet. Um Geld zu sparen, wurden<br />

die Anfangszeiten an den Schulen so gestaffelt,<br />

dass es morgens weniger Busse<br />

braucht, um alle Kinder pünktlich zum Unterricht<br />

zu bringen.<br />

Die Lücken im öffentlichen Nahverkehr<br />

sind trotzdem riesig. In einigen Gemeinden<br />

fährt außer dem Schulbus morgens<br />

und nachmittags kein weiterer Bus. Im<br />

Ringgau, einer Gemeinde im Südzipfel<br />

des Kreises, gibt es deshalb seit dem Jahr<br />

2011 das „Bürgermobil“. Über 20 Ehrenamtliche<br />

fahren den Kleintransporter,<br />

der von einem Verein gekauft wurde, und<br />

sammeln an zwei Tagen pro Woche Mitfahrgäste<br />

in den Dörfern ein. Die Abfahrtzeiten<br />

sind auf die Arzttermine abgestimmt,<br />

damit Patienten, die mit dem Bürgerbus<br />

zum Arzt fahren, auch die Rückfahrt<br />

nicht ver passen.<br />

„Ohne bürgerschaftliches Engagement<br />

könnte ich das Licht ausknipsen“, sagt Bürgermeister<br />

Burkhard Scheld in Herleshausen.<br />

Vor Kurzem hätten ihn ein paar Ehrenamtliche<br />

gefragt, ob er 1000 Euro zur<br />

Verfügung stellen würde, um die Toiletten<br />

im Gemeindehaus zu sanieren. Neue Fliesen,<br />

Kloschüsseln und anderes Material<br />

sind nötig. Eingeplant sind für das ganze<br />

Haus nur 300 Euro im Jahr. Scheld schichtete<br />

daraufhin mühsam in seinem Haushalt<br />

hin und her. „Dafür arbeiten zehn, zwölf<br />

Leute umsonst. Wenn ich eine Firma für<br />

die Klos beauftragen müsste, könnte ich<br />

das doch gar nicht bezahlen.“<br />

Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-<br />

Instituts für Bevölkerung und Entwicklung,<br />

hat sich in mehreren Studien mit<br />

den Zukunftsperspektiven des Landes beschäftigt.<br />

Wann immer Klingholz und<br />

seine Kollegen nach den Ursachen dafür<br />

forschen, warum und wie es einzelnen<br />

Gemeinden gelungen ist, sich gegen den<br />

Niedergang zu stemmen, stoßen sie auf<br />

einen Indikator: die Vereinsdichte. „Wenn<br />

sich Menschen in einer Gemeinde engagieren<br />

und der Bürgermeister mitzieht,<br />

dann läuft es.“<br />

Sinnvoller als aufwendige Förderprogramme<br />

aus Brüssel seien für viele Gemeinden<br />

oder private Initiativen „5000<br />

Euro ohne Bürokratie“. Klingholz empfiehlt<br />

obendrein, den Gemeinden größe -<br />

re finanzielle Autonomie zuzugestehen,<br />

wie es etwa in Skandinavien geschehe.<br />

Dort bekommen die Gemeinden ein<br />

Regionalbudget, das sie für Schulen,<br />

Straßen oder Altenpflege ausgeben<br />

können. Sie dürfen auch selbst entscheiden,<br />

ob sie kleine Schulen am Leben<br />

Werra-Meißner-<br />

Kreis<br />

100715 Einwohner<br />

Stand: 31. Dezember 2015<br />

private<br />

Schuldnerquote*<br />

11,6 %<br />

Bundesdurchschnitt<br />

Bundesdurchschnitt<br />

kommunale<br />

Schulden<br />

pro Einwohner**<br />

4058 €<br />

Sozialhilfe<br />

im Alter**<br />

199<br />

von<br />

10 000 Einwohnern<br />

ab 65 Jahren<br />

Bundesdurchschnitt<br />

Kassel<br />

Göttingen<br />

HESSEN<br />

THÜRINGEN<br />

Eisenach<br />

* Anteil der Bürger, die überschuldet sind. ** Stand 2014<br />

Quelle: BBSR<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

67


erhalten oder lieber den Nahverkehr<br />

ausbauen wollen.<br />

Die Zukunft<br />

Die Provinz durchlebt, was Deutschland insgesamt<br />

bevorsteht. Das Land als Experimentierfeld.<br />

„Das Land leidet an kollektiver Depression<br />

und Lethargie“, sagt Gabriela Christmann<br />

vom Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung<br />

in Erkner. Wenig überraschend,<br />

wenn jahrzehntelang das Ergebnis<br />

beinahe jeder Studie gewesen sei: Das Land<br />

stirbt. „Es gab immer nur Negativbotschaften“,<br />

sagt Christmann. „Diesen Diskurs<br />

müssen wir umdrehen und die Chancen auf<br />

dem Land in den Vordergrund stellen.“<br />

Um die Chancen zu nutzen, braucht es<br />

Zugang zu Wissen ebenso wie den Einsatz<br />

der Menschen, die dort leben. Ländliche<br />

Räume, das sagen Forscher ebenso wie Politiker,<br />

werden wieder wichtiger. Nachdem<br />

sich Aufmerksamkeit und Förderung in den<br />

vergangenen Jahrzehnten auf die Metropolregionen<br />

richteten, rückt jetzt das Land in<br />

den Blickpunkt: Dörfer und Gemeinden,<br />

aber auch Städte wie Offenbach, Halle, Kaiserslautern<br />

oder Bremerhaven, Wismar oder<br />

Itzehoe. Land ist wichtig: als Kraftzentrum,<br />

als Erholungsraum, auch als Gegenentwurf.<br />

Was die Provinz gerade durchlebt, ist in<br />

manchem auch ein Vorgriff auf die Zukunft<br />

Deutschlands insgesamt. Manche Veränderungen,<br />

die den Metropolregionen noch bevorstehen,<br />

sind hier längst angekommen.<br />

Für die Überalterung etwa gilt das allemal.<br />

Um seine Bevölkerungszahl stabil zu<br />

halten, das hat die Uno vor ein paar Jahren<br />

ausgerechnet, müssten jährlich rund<br />

350000 Zuwanderer nach Deutschland<br />

kommen. Um das Verhältnis von Erwerbstätigen<br />

zu Älteren aufrechtzuerhalten,<br />

brauchte es über 3,6 Millionen im Jahr.<br />

Das ist unrealistisch. Werden diese Zahlen<br />

verfehlt, dann wäre das Land Vorreiter eines<br />

grundlegenden Strukturwandels. Die Menschen<br />

in den „ländlichen Räumen“ erproben<br />

schon jetzt, wie die Deutschen künftig leben<br />

werden – als Pioniere, nicht als Abgehängte.<br />

Gerade auf dem Land gebe es Freiräume,<br />

um Neues auszuprobieren, sagt Markus<br />

Mempel vom Deutschen Landkreistag.<br />

„Das kann alles Mögliche sein, von großen<br />

Rechnerfarmen über Flächen für Künstler<br />

und andere Freigeister oder große Höfe,<br />

in denen man Mehrgenerationenhäuser<br />

einrichten kann“, sagt Mempel.<br />

Deutschlands Zukunft ist in manchem<br />

eher in der Provinz zu besichtigen, nicht<br />

in den Städten. Das gilt für die Probleme –<br />

und die Lösungen.<br />

Kathrin Elger, Hauke Goos, Isabell Hülsen,<br />

Nils Klawitter, Martin U. Müller, Philipp Seibt<br />

Interaktive Karten: Wie steht Ihr Landkreis<br />

da? www.spiegel.de/Gelobtes-Land/<br />

Staatschef Kim in einer Lebensmittelfabrik in Pjöngjang: „Wir müssen akzeptieren, dass es mit Nordkorea<br />

„Kim wird nicht aufgeben“<br />

Sanktionen Die USA, die EU und die Uno setzen Nordkorea<br />

mit Handelsbeschränkungen unter Druck. <strong>Der</strong> Ökonom<br />

Rolf Langhammer bezweifelt den Sinn solcher Maßnahmen.<br />

Langhammer, 70, ist Handelsexperte am Institut<br />

für Weltwirtschaft in Kiel.<br />

SPIEGEL: Eine Lösung im Nordkoreakonflikt<br />

scheint fern: Je härter der Westen sanktioniert,<br />

desto eifriger testet Kim die Atombom -<br />

be. Sind Sanktionen das richtige Mittel?<br />

Langhammer: Die Erfolgsbilanz von Wirtschaftssanktionen<br />

ist, um es vorsichtig zu<br />

sagen, bescheiden. Untersuchungen zeigen,<br />

dass in der Vergangenheit kaum 30 Prozent<br />

der verhängten Sanktionen erfolgreich waren.<br />

Es gibt Forscher, die die Erfolgsrate<br />

noch geringer schätzen. Davon abgesehen,<br />

ist es oft schwer, einen kausalen Zusammenhang<br />

zwischen diesen Maßnahmen<br />

und möglichen Erfolgen zu begründen.<br />

SPIEGEL: Warum?<br />

Langhammer: Meist liegt eine lange Zeitspanne<br />

zwischen der Verhängung der<br />

Sanktionen und Veränderungen in der<br />

Politik. Es gibt viel Raum für andere Einflussfaktoren.<br />

SPIEGEL: Wie wahrscheinlich ist es, dass<br />

Nordkorea unter dem Druck der Sanktionen<br />

auf sein Atomprogramm verzichtet?<br />

Langhammer: Kim hat zwei Rettungsleinen:<br />

eine interne – die Fähigkeit, die Atombombe<br />

zu bauen. Und eine externe – die schützende<br />

Hand Chinas. Das Atomprogramm<br />

garantiert sein politisches Überleben im eigenen<br />

Land; er wird es auf keinen Fall aufgeben.<br />

Was China angeht: Wir sind einerseits<br />

darauf angewiesen, dass China sich<br />

an den Sanktionen beteiligt, andererseits<br />

gibt es gerade an Chinas Rolle Zweifel.<br />

SPIEGEL: Inwiefern?<br />

Langhammer: Wenn Nordkorea weniger<br />

Kohle, Textilien und Arbeitskräfte absetzen<br />

kann als bisher, müssten die chinesischen<br />

Einfuhren eigentlich zurückgehen.<br />

Wir wissen aber nicht, ob das der Fall ist.<br />

SPIEGEL: Die Uno hat gerade beschlossen,<br />

30 Prozent weniger Öl nach Nord korea zu<br />

liefern. Das Öl kommt hauptsächlich aus<br />

China.<br />

Langhammer: Unser Problem ist: Wir wissen<br />

auch nicht, welche Menge Öl China tatsächlich<br />

liefert. Denn seit Dezember 2013<br />

veröffentlichen die Chinesen keine Zahlen<br />

über das Exportvolumen mehr. Die Frage<br />

ist also: 30 Prozent wovon? Wie viel Öl<br />

68 DER SPIEGEL 43 / 2017


Wirtschaft<br />

eine weitere Nuklearmacht gibt“<br />

braucht Nordkorea überhaupt? Früher haben<br />

die Chinesen rund 600000 Tonnen exportiert<br />

und die Russen rund 300000 Tonnen.<br />

Solange wir die Gesamtmenge nicht<br />

kennen, wissen wir nicht, wie viel 30 Prozent<br />

weniger sind.<br />

SPIEGEL: Was bedeutet das konkret?<br />

Langhammer: Wir haben zunächst nur auf<br />

dem Papier eine Verschärfung der Sanktionen.<br />

Inwieweit sie umgesetzt werden –<br />

inwieweit sie überhaupt Bedeutung haben<br />

– wissen wir nicht. China könnte beispielsweise<br />

sagen: Ihr kriegt die gleiche Menge<br />

wie vorher, wir geben euch das Öl aber<br />

30 Prozent billiger. Damit wären die Sanktionen<br />

wertmäßig eingehalten. Allerdings:<br />

Je detaillierter die Sanktionen gewesen<br />

wären, desto weniger wahrscheinlich wäre<br />

es gewesen, dass die Chinesen und Russen<br />

zugestimmt hätten.<br />

SPIEGEL: Und wenn China seine Politik<br />

überdenkt?<br />

Langhammer: Selbst dann hätte Nordkorea<br />

immer noch geheime und illegale Wege,<br />

um an Geld zu kommen: Drogen- und Waffenhandel,<br />

den Export militärischer Expertise<br />

und Software. Es gibt immer Außenseiter,<br />

die Sanktionen brechen, das wird<br />

auch bei Nordkorea der Fall sein. Malaysia<br />

ist so ein Kandidat. Man müsste jeden Tanker<br />

kontrollieren, das ist nicht so einfach.<br />

Nehmen Sie Kuba: Selbst ein sehr weit -<br />

gehendes Embargo hat die kubanische Regierung<br />

nicht in die Knie gezwungen – und<br />

Kuba ist leichter zu isolieren als Nord -<br />

korea.<br />

KCNA / REUTERS<br />

SPIEGEL: Kuba lebte 57 Jahre lang mit Sanktionen.<br />

Warum erweisen sich autoritäre<br />

Regime häufig als erstaunlich stabil gegen<br />

Druck von außen?<br />

Langhammer: Je länger die Sanktionen andauern,<br />

desto größer ist der Gewöhnungseffekt.<br />

Sanktionen stärken dann das Nationalgefühl,<br />

sie schaffen eine Art Wagenburgmentalität.<br />

Die Frage bei Kuba ist doch:<br />

Hat das Land trotz der Sanktionen so lange<br />

durchgehalten – oder wegen der Sanktionen?<br />

Am einfachsten scheint es bei afrikanischen<br />

Volkswirtschaften zu sein. Ein kleptokratischer<br />

Machthaber weiß: Wenn ich<br />

meine Politik nicht ändere, bin ich sehr bald<br />

nicht mehr im Amt, weil die Wirtschaft in<br />

die Schattenwirtschaft abgleitet, daher meine<br />

Steuereinnahmen sinken und ich meine<br />

Klientel nicht mehr versorgen kann.<br />

SPIEGEL: Bei solchen Herrschern wirken<br />

auch gezielte Sanktionen: das Einfrieren<br />

von Auslandsguthaben, Reisebeschränkungen,<br />

ein Exportstopp von Luxusgütern.<br />

Langhammer: Dafür sind diese Leute anfällig.<br />

Ihr Wohlstand und ihre Macht sind an<br />

ihre Funktion gebunden. Wenn es um Korruption<br />

geht, muss man dort den Scheinwerfer<br />

auf den Zolldirektor richten, der<br />

ist potenziell der reichste Mann. Wenn der<br />

Scheinwerfer sehr hell ist, wird er vorsichtig<br />

sein, um nicht Konkurrenten anzuziehen.<br />

Kim ist, nach allem, was wir wissen,<br />

kein Konsummensch und an der Anhäufung<br />

von persönlichem Reichtum nicht interessiert.<br />

Er und seine Umgebung brauchen<br />

keinen Luxus.<br />

SPIEGEL: Wo wirken welche Sanktionen am<br />

ehesten?<br />

Langhammer: Kleine offene Volkswirtschaften<br />

kann man am ehesten mit einem<br />

Finanzembargo treffen, indem man sie beispielsweise<br />

vom internationalen Zahlungssystem<br />

Swift abtrennt. Eine große, relativ<br />

geschlossene, rohstoffreiche Volkswirtschaft<br />

wie Russland durch Sanktionen zu<br />

einem Zugeständnis zu zwingen, ist nahezu<br />

aussichtslos. Solche Länder regieren<br />

mit einer Importsubstitutionspolitik, damit<br />

kann man jahrelang durchkommen.<br />

SPIEGEL: Wenn das alles so wenig bringt:<br />

Warum wird überhaupt sanktioniert?<br />

Langhammer: Man möchte politisch Handlungsfähigkeit<br />

beweisen. Man will zeigen,<br />

dass man einer Regierung bestimmte Dinge<br />

nicht durchgehen lässt. Die internationale<br />

Gemeinschaft will Nordkorea dafür<br />

bestrafen, dass es sich über sämtliche Auflagen,<br />

sein aggressives Atomprogramm einzustellen,<br />

hinweggesetzt hat.<br />

SPIEGEL: Drohungen gegen ein Land gab<br />

es früher auch schon: gegen Iran, gegen<br />

den Irak, gegen Libyen. Präsident Donald<br />

Trump droht auch denen, die weiter mit<br />

Nordkorea Handel treiben.<br />

Langhammer: Das ist tatsächlich neu. Früher<br />

gab es Sanktionen, die entweder befolgt<br />

oder ignoriert wurden. Es gab aber nicht<br />

die direkte Drohung eines Regierungschefs<br />

gegenüber einem anderen Land: Wenn du<br />

die Sanktionen nicht befolgst, dann mach<br />

ich dir mit deinem Geschäft in meinem<br />

Land richtig Ärger. Die trumpsche Politik<br />

versteht ja die amerikanische Außenhandelspolitik<br />

im Wesentlichen als Außen -<br />

politik. Das gibt dem amerikanischen<br />

Präsidenten sehr viel Macht, Schrauben<br />

anzuziehen.<br />

SPIEGEL: Sanktionen verursachen, wenn sie<br />

schmerzhaft sind, immer Kosten auf beiden<br />

Seiten: beim Sanktionierten – und<br />

beim Sanktionierenden.<br />

Langhammer: Und meist verwechseln wir<br />

Kosten mit Wirksamkeit. Zumal es einen<br />

Trend gibt: Wir ersetzen physischen Handel<br />

immer mehr durch digitalen Handel<br />

mit Dienstleistungen. Software, Musiktitel<br />

oder Videospiele werden bei Sanktionen<br />

aber überhaupt nicht erfasst. Das ist ein<br />

Milliardengeschäft. Wir wissen gar nicht<br />

mehr, was Handel alles umfasst. Dienstleistungen<br />

haben keine Zölle. Wir wissen nicht<br />

mehr, wo die physische Ländergrenze ist.<br />

<strong>Der</strong> physische Handel wuchs 2016 weniger<br />

als die Weltproduktion und wird auch in<br />

den nächsten Jahren nicht mehr so rasch<br />

wachsen wie früher. Was wir bei den Sanktionen<br />

machen, ist im Grunde altmodisch.<br />

SPIEGEL: Was wäre die Alternative zu Wirtschaftssanktionen?<br />

Langhammer: Wir müssen akzeptieren, dass<br />

es mit Nordkorea eine weitere Nuklearmacht<br />

gibt. Es hätte sie nicht geben dürfen,<br />

aber es gibt sie. Das heißt, wir akzeptieren<br />

die Police einer Lebensversicherung für<br />

Kim. Die Nordkoreaner wollen bilaterale<br />

Gespräche mit den Amerikanern, um als<br />

Nuklearmacht offiziell anerkannt zu werden,<br />

vielleicht muss man da ansetzen. Vielleicht<br />

kann ja auch eine dritte Macht,<br />

Europa oder ein einzelnes europäisches<br />

Land, die Rolle des ehrlichen Maklers übernehmen.<br />

SPIEGEL: Das erfordert strategisches Genie,<br />

taktisches Geschick und psychologisches<br />

Verständnis.<br />

Langhammer: Ich erinnere mich an eine<br />

Anekdote aus meiner Schulzeit. Wir sollten<br />

einen lateinischen Text über eine Belagerung<br />

ins Deutsche übersetzen, es wurde<br />

meine einzige Sechs in Latein. Irgendeine<br />

Festung war eingeschlossen, die Römer<br />

sollten ausgehungert werden, irgendwann<br />

wurden Brote geworfen. Ich hatte keine<br />

Ahnung, wer wohin warf, und musste raten.<br />

Ich übersetzte: Die Belagerer werfen Brote<br />

über die Zinnen, um die Belagerten zur Aufgabe<br />

zu bringen. Anders konnte ich es mir<br />

nicht erklären. Tatsächlich hatte ich die Wagenburgmentalität<br />

nicht verstanden, richtig<br />

war: Die Römer warfen Brote auf die Be -<br />

lagerer, um zu beweisen, wie wirkungslos<br />

das Aushungern ist. Ich hatte offensichtlich<br />

dieses psychologische Verständnis damals<br />

nicht.<br />

Interview: Hauke Goos<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

69


Wirtschaft<br />

Unterm Schuldenberg<br />

Analyse Die Europäische Zentralbank steuert auf eine strengere Geldpolitik zu. Doch zu<br />

einer spürbaren Zinswende wird es nicht kommen. Die Währungshüter sitzen in der Falle.<br />

Wenn eines fernen Tages die Historiker über Mario<br />

Draghi urteilen, dann werden sie um drei Wörter<br />

nicht herumkommen: „whatever it takes“. <strong>Der</strong><br />

Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) hat sie<br />

vor gut fünf Jahren bei einer Investorenkonferenz in London<br />

gesprochen. Die EZB werde tun, was auch immer<br />

notwendig sei, um den Euro zu bewahren, sagte Draghi.<br />

Es war eine Warnung an Spekulanten, die damals angesichts<br />

der hohen Schulden in Ländern wie Griechenland<br />

und Italien auf einen Zerfall der Währungsunion wetteten.<br />

Und es war eine Einladung an alle, auf steigende Kurse<br />

europäischer Anleihen und Aktien zu setzen. <strong>Der</strong> Notenbankchef<br />

hatte eine Garantie ausgesprochen. Die EZB untermauerte<br />

den Schwur, indem sie in großem Stil Staatsund<br />

Unternehmensanleihen kaufte.<br />

Man muss sich das noch einmal in Erinnerung rufen,<br />

um zu verstehen, welche Bedeutung die in den kommenden<br />

Wochen anstehenden geldpolitischen<br />

Entscheidungen haben. Und wie<br />

sie ausfallen werden.<br />

Am Donnerstag wird Draghi erstmals<br />

seit Jahren wohl signalisieren,<br />

dass die EZB die Geldpolitik künftig<br />

etwas restriktiver gestalten will – weniger<br />

Anleihekäufe, vielleicht irgendwann<br />

auch höhere Leitzinsen, aber nur<br />

dann, wenn nichts dazwischenkommt.<br />

Auch in Amerika bremst die Zentralbank<br />

nicht, sie gibt nur etwas weniger<br />

Gas. Und das dürfte so bleiben, egal,<br />

ob weiterhin Janet Yellen die Notenbank<br />

Fed führt oder jemand anderes.<br />

Warum ist das so? Die Notenbanken<br />

sind zu Gefangenen ihrer eigenen<br />

Politik geworden. Nach der Finanzkrise von 2008 und<br />

noch einmal in der Eurokrise haben sie eine Serie von Banken-,<br />

Firmen- und Staatspleiten verhindert.<br />

Investoren und Schuldner haben sich seitdem daran gewöhnt,<br />

dass die Fed, die EZB und andere wichtige Zentralbanken<br />

die Zinsen niedrig halten. Wenn die Zinsen<br />

unterhalb der Inflationsrate liegen – in der Eurozone ist<br />

das beim Leitzins seit 2010 fast ununterbrochen der Fall –,<br />

schrumpfen Verbindlichkeiten automatisch, die Schuldner<br />

müssen weniger abbezahlen, als sie sich geliehen haben.<br />

Ersparnisse verlieren dagegen real an Wert, es kommt<br />

zu einer Umverteilung von Gläubigern zu Schuldnern.<br />

Davon profitieren klamme Staaten wie Italien oder Griechenland,<br />

aber auch die Bundesregierung, die sich sogar<br />

zu Negativzinsen Geld leihen kann.<br />

Trotz der Hilfe durch die EZB sind die Krisenstaaten<br />

der Eurozone nicht von ihren hohen Verbindlichkeiten<br />

heruntergekommen. Weltweit ist die<br />

Summe aus staatlichen und privaten<br />

Schulden sogar auf ein Rekordniveau<br />

gestiegen, die künstlich niedrigen Zinsen<br />

dürften dazu beigetragen haben.<br />

Leitzins der Europäischen Zentralbank, in %<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

–1<br />

Inflationsrate<br />

der Eurozone, in %<br />

2007 Quelle: Thomson Reuters Datastream 2017<br />

Draghi und Yellen selbst rechtfertigen ihre Politik anders.<br />

Die EZB etwa verweist darauf, dass die Inflationsrate,<br />

der wichtigste Gradmesser der Geldpolitik, noch immer<br />

deutlich unter dem Zielwert von zwei Prozent liegt. Eine<br />

Preissteigerung in dieser Höhe gilt als gesund, um Wachstum<br />

zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen. Vor allem<br />

soll so ein ausreichender Puffer gegen eine Deflation gebildet<br />

werden, also eine Abwärtsspirale aus fallenden Preisen<br />

und schrumpfender Wirtschaft.<br />

Vor etwa zwei Jahren war die Eurozone einem solchen<br />

Szenario bedrohlich nahe. Doch mittlerweile ist das Wachstum<br />

robust, die Inflationsrate in der Währungsunion steht<br />

bei 1,5 Prozent, in Deutschland bei 1,8 Prozent und selbst<br />

im krisengeschüttelten Griechenland bei einem Prozent.<br />

Darüber, ob die Inflation überhaupt sachgemäß ge -<br />

messen wird, ob etwa Wohn-, Ausbildungs- und Gesundheitskosten<br />

adäquat eingepreist werden, kann man zudem<br />

streiten. Es gibt Anzeichen, dass die<br />

offizielle Statistik den Preisanstieg untertreibt.<br />

Zudem beziehen die Notenbanken<br />

den Anstieg von Vermögenswerten<br />

zu wenig in ihre geldpolitischen<br />

Entscheidungen ein.<br />

Große Teile der Bevölkerung verlieren<br />

durch den Anstieg der Aktienkurse<br />

und Immobilienpreise an Kaufkraft:<br />

relativ, weil jüngere Bürger, die noch<br />

kein Sach- oder Finanzvermögen haben,<br />

im Vergleich zu Älteren und Vermögenden<br />

zurückfallen. Die Vermögenspreis-Inflation<br />

wird aber auch absolut<br />

spürbar, etwa wenn sich die rasch<br />

steigenden Immobilienpreise in höheren<br />

Mieten niederschlagen. Schon jetzt<br />

wächst in deutschen Großstädten der Einkommensanteil,<br />

den die Bewohner auf die Miete verwenden.<br />

Aus einem weiteren Grund ist es gefährlich, den Anstieg<br />

der Vermögenspreise zu ignorieren: Es wächst die Gefahr<br />

eines Crashs. Die erratische Politik Donald Trumps oder<br />

ein Platzen der Immobilienblase in China könnten eine<br />

Flucht aus Aktien und riskanten Anleihen auslösen. Mögliche<br />

Folgen wären höhere Marktzinsen, Pleiten, weniger<br />

Investitionen und eine Rezession.<br />

Draghi, Yellen und ihren Kollegen dürfte bewusst sein,<br />

dass sie im Moment wenig Handlungsspielraum hätten,<br />

um auf solche wirtschaftlichen Schocks zu reagieren. Sie<br />

müssen sich Luft für den nächsten Rettungseinsatz verschaffen,<br />

indem sie schrittweise die Anleihenkäufe zurückfahren<br />

und die Zinsen erhöhen.<br />

Gehen sie zu abrupt vor, könnten sie jedoch selbst das<br />

Feuer entfachen, dass sie so sehr fürchten.<br />

Animation:<br />

Was macht die EZB?<br />

spiegel.de/sp432017ezb<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

Denn manch ein Schuldner in der Eurozone<br />

könnte einen schnellen Zinsanstieg<br />

nicht verkraften. Das wird Draghi<br />

nicht zulassen. Whatever it takes.<br />

Martin Hesse<br />

70 DER SPIEGEL 43 / 2017


Gemeinsam machen wir das deutsche<br />

Gesundheitssystem zu einem der besten der Welt.<br />

Erfahren Sie mehr unter www.pkv.de/martin


PETER RIGAUD / LAIF<br />

Airbus-Vorstandsvorsitzender Enders: Krise, welche Krise?<br />

Im Sumpf<br />

Affären Airbus-Chef Tom Enders gibt im Korruptionsskandal den Aufklärer und schiebt die<br />

Verantwortung auf Manager in Frankreich. Dabei wollte er selbst unbedingt mit ihnen arbeiten.<br />

Eigentlich hatte die „Jetzt rede ich!“-<br />

Woche gut angefangen für Tom Enders,<br />

58: Erst durfte der Airbus-Chef<br />

der französischen Zeitung „Le Monde“<br />

lang und breit erklären, wie er die Welt<br />

sieht, dann dem deutschen „Handelsblatt“,<br />

noch länger, noch breiter. Sein Grundsound:<br />

Krise, welche Krise? Die ganzen<br />

Korruptionsvorwürfe gegen Airbus – alles<br />

halb so wild, alles nicht bewiesen.<br />

<strong>Der</strong>selbe Tom Enders, der noch im Juni<br />

seinen Topmanagern im vertrauten Kreis<br />

gesagt hatte, die Lage sei „todernst“, die<br />

„Scheiße“ könne man nicht länger „unter<br />

den Teppich kehren“, erzählte jetzt, dass<br />

es der Firma prima gehe und das Einzige,<br />

was man ihr vorhalten könne, ein paar fehlende<br />

Angaben gewesen seien. In irgendwelchen<br />

Exportpapieren. Das klang schön<br />

läppisch – und der Chef schön lässig.<br />

So gut ging es dann aber doch nicht weiter.<br />

Am Donnerstag meldeten der SPIEGEL<br />

72 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

und sein französischer Partner Mediapart,<br />

dass Enders ausgerechnet dem Kopf der<br />

Pariser Einheit, die heute im Zentrum des<br />

Schmiergeldverdachts steht, zum Abschied<br />

eine monströse Summe bewilligt hatte.<br />

Rund 80 Millionen Euro kassierte dieser<br />

Jean-Paul Gut demnach.<br />

Jetzt der nächste Dämpfer: Anscheinend<br />

steckt der selbst ernannte Aufklärer<br />

Enders tiefer im Sumpf, als er notorisch<br />

behauptet. Dass er in seiner Zeit als<br />

Deutschlandchef mit der mutmaßlichen<br />

Schmutztruppe um Monsieur Gut zusammengearbeitet<br />

hat, um in Österreich einen<br />

umstrittenen Deal abzuwickeln, war bekannt<br />

(SPIEGEL 41/2017). Weitere Papiere<br />

zeigen nun aber, wie stark er sich dafür<br />

ins Zeug legte, dass ihm das Team aus Paris<br />

behilflich war. Dabei galt damals im<br />

Konzern, dass die Franzosen mit dem<br />

Österreichgeschäft nichts zu tun haben<br />

durften.<br />

Enders ließ sich von Gut und seinen Leuten<br />

die Blaupause für ein Firmenkonstrukt<br />

erstellen, über das nach heutiger Erkenntnis<br />

gut hundert Millionen Euro verschwunden<br />

sind. Die Papiere widersprechen damit<br />

dem, was Enders dem „Handelsblatt“ sagte:<br />

dass er selbst mit der Vector, der dubiosen<br />

Firma im Zentrum des Geflechts,<br />

„gar nichts“ zu tun hatte. Ebenso sprechen<br />

die Umstände gegen seine Darstellung, der<br />

Konzern habe die Minifirma, in die er Riesensummen<br />

pumpte, nie kontrolliert.<br />

Im Mittelpunkt der Affäre bei Airbus –<br />

damals noch EADS – steht heute die inzwischen<br />

aufgelöste Vertriebssparte EADS<br />

International in Paris. Eine Art Sondereinsatzkommando,<br />

das immer dann in die<br />

Schlacht um Aufträge zog, wenn ein Flugzeugdeal<br />

besonders schwierig und schmierig<br />

wurde.<br />

Auch der Verkauf von 18 „Eurofighter“-<br />

Maschinen nach Österreich fiel 2003 in die


Wirtschaft<br />

IN DER SPIEGEL-APP<br />

Kategorie delikater Geschäfte. Trotzdem<br />

sollten die Franzosen damit ursprünglich<br />

nichts zu tun haben. Die EADS-Partner<br />

im „Eurofighter“-Konsortium, die Italiener,<br />

Spanier und Briten, hatten das durchgesetzt.<br />

Sie fürchteten, dass über die Franzosen<br />

Firmengeheimnisse abfließen könnten,<br />

weil EADS in Frankreich noch mit<br />

dem Dassault-Konzern zusammenarbeitete.<br />

<strong>Der</strong> baute ein anderes Kampfflugzeug.<br />

Es war dann Enders, seit 2004 EADS-<br />

Deutschlandchef, der die Truppe in Paris<br />

anbettelte, dass sie trotzdem beim Österreichgeschäft<br />

mitmischen sollte – wenn<br />

schon nicht beim Verkauf, dann wenigstens,<br />

um eine Bedingung zu erfüllen, die Österreich<br />

gestellt hatte. EADS, so der Deal, musste<br />

dem Land nebenher Geschäfte für vier<br />

Milliarden Euro besorgen, um die Wirtschaft<br />

anzukurbeln. Damit wollte die Regierung in<br />

Wien den Wählern die teure Anschaffung<br />

der „Eurofighter“ schmackhaft machen.<br />

Zunächst schien der Chef der Pariser<br />

Einheit, Jean-Paul Gut, zu schmollen.<br />

Doch Enders wollte nicht hinnehmen, dass<br />

sich die Franzosen herauszogen. Erst recht,<br />

weil EADS ja zugesagt hatte, der Wirtschaft<br />

in Österreich Aufträge zu besorgen.<br />

Dieses Versprechen zu halten, habe damals<br />

hohe Priorität gehabt und ihn sehr beschäftigt,<br />

sagte Enders schon 2013 internen Ermittlern<br />

bei EADS, wie aus einem Protokoll<br />

hervorgeht. Er habe sich dazu auch<br />

unterrichten lassen. Leider hätten sich die<br />

Deutschen mit solchen „Gegengeschäften“<br />

bei Rüstungsdeals nicht ausgekannt. Deshalb<br />

habe er auf die Pariser Vertriebsspezialisten<br />

gehofft, auf ihre Erfahrung. Angeblich<br />

ging es ihm jedoch nur darum, wie<br />

man für solche Geschäfte saubere Verträge<br />

mit Beratern, Vermittlern, Agenten aufsetzt,<br />

die helfen sollten.<br />

In Wahrheit war das nicht alles: Schon<br />

im Dezember 2003 lieferten die Franzosen<br />

den Plan für eine Briefkastenfirma auf Zypern.<br />

Sie sollte Millionen aus der Konzernkasse<br />

bekommen, angeblich Erfolgsprämien<br />

dafür, dass die Minifirma Aufträge für<br />

die Wirtschaft in Österreich ranschaffte.<br />

Für dieses windige Zypernmodell machte<br />

sich Enders stark. Angeblich, so seine Erklärung,<br />

konnte ihm die Firma helfen, die<br />

Verpflichtungen in Österreich zu erfüllen.<br />

Aus dem Zypernmodell wurde zwar am<br />

Ende doch nichts, dafür aber aus einer<br />

ganz ähnlichen Firma in London, der<br />

Vector. Jene Firma, bei der die rund hundert<br />

Millionen Euro versickert sind. Warum<br />

sich Enders ausgerechnet von einer<br />

neu gegründeten Zwei-Mann-Bude die nötige<br />

Erfahrung versprochen hatte, Milliardengeschäfte<br />

für Österreichs Wirtschaft hereinzuholen,<br />

blieb bisher sein Geheimnis.<br />

Ebenso, warum er angeblich nicht merkte,<br />

dass dort so viel Geld verschwand, obwohl<br />

er sich doch nach eigenen Angaben stark<br />

für die Gegengeschäfte interessiert hatte.<br />

Und ungeklärt bleibt auch, warum Enders<br />

die Vector überhaupt brauchte.<br />

Schließlich hatte erst das „Eurofighter“-<br />

Konsortium, dann eine von einem früheren<br />

EADS-Mann geführte Firma in Österreich<br />

schon viele Gegengeschäfte beschafft.<br />

Die Firma in Österreich arbeitete auch erfolgreich<br />

daran, noch den Rest hereinzuholen.<br />

Was sollte also die Minifirma in<br />

London? Und wofür bekam sie Geld, wenn<br />

die Arbeit andere erledigten?<br />

Das fragen sich heute auch Staatsanwälte<br />

in München und Wien, die dem Verdacht<br />

nachgehen, dass die Vector mit Geld<br />

von EADS bestochen hat – und dies ihr<br />

wahrer Zweck war. Airbus bestreitet das.<br />

Dass Tom Enders partout nicht auf die<br />

Mannschaft in Paris verzichten wollte, die<br />

er nun als Keimzelle dubioser Geschäfte<br />

anprangert, belegt auch die Mail eines „Eurofighter“-Managers.<br />

„Wir hatten nochmals<br />

versucht (tom und gut) sowie hertrich<br />

und camus zu einer Einigung zur Mitarbeit<br />

von cadudal zu kommen“, hieß es da Ende<br />

2004. Bedeutet: Damals waren sogar die<br />

EADS-Chefs Rainer Hertrich und Philippe<br />

Camus eingeschaltet, damit „tom“ Enders<br />

von Jean-Paul „gut“ dessen wichtigsten<br />

Mann fürs Österreichprojekt freibekam,<br />

Jean-Claude Cadudal.<br />

Zwar blieb Gut im Kern hart: „Leider<br />

ist voraussichtlich alles gescheitert, so dass<br />

ich mit tom vereinbart habe, schritte vorzubereiten,<br />

dass wir eine eigene clearingstelle<br />

einrichten“, heißt es in der Mail des<br />

„Eurofighter“-Managers weiter. Hinter<br />

„clearingstelle“ verbarg sich dann aber offenbar<br />

jene Vector, die heute unter Verdacht<br />

steht. Die Vorlage dafür hatten die<br />

Franzosen mit dem Zypernmodell geliefert.<br />

Obwohl also der Vertrieb in Paris und<br />

der Chef in Deutschland geschlossen hinter<br />

dem Plan standen, eine Klitsche für die<br />

Gegengeschäfte zu gründen – gesteuert<br />

haben soll EADS die neue Vector nicht.<br />

Behauptet Enders jedenfalls. Auch das ist<br />

wohl nur die halbe Wahrheit: In einem<br />

Protokoll von 2004 hieß es, Enders befürworte<br />

persönlich die Gründung der Vorgängerfirma<br />

auf Zypern inklusive der<br />

„damit verbundenen Personalkonsequenzen“.<br />

Nach Lage der Dinge konnte damit<br />

eigentlich nur eines gemeint gewesen sein:<br />

dass zwei deutsche Manager den Konzern<br />

verlassen sollten, um danach die Zypernklitsche<br />

zu führen. In einer internen Präsentation<br />

hieß es unverblümt, die Firma<br />

auf Zypern stehe damit „de facto“ unter<br />

der Kontrolle von EADS.<br />

Genauso aber steuerte mindestens einer<br />

der beiden Deutschen offenbar den Nachfolger<br />

der Zypernfirma, die ominöse<br />

Vector, auch wenn Enders das Gegenteil<br />

behauptet.<br />

Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,<br />

Dinah Deckstein, Gunther Latsch, Jörg Schmitt,<br />

Gerald Traufetter<br />

Wartezimmer<br />

Deutschland<br />

Wie fühlt es sich für eine Familie an,<br />

aus ihrem neuen Zuhause gerissen zu<br />

werden? Was bedeutet das für die<br />

Eltern, die ihren Kindern eine Zukunft<br />

ohne Diskriminierung schenken wollten?<br />

Wie kommt ein junges Mädchen<br />

damit zurecht, ihre neuen besten<br />

Freunde zu verlieren? Die Geschichte<br />

einer albanischen Familie in Deutschland<br />

– über erzwungenes Warten, enttäuschte<br />

Hoffnungen und Unwägbarkeiten<br />

der deutschen Abschiebepolitik.<br />

Sehen Sie die Visual Story im<br />

digitalen SPIEGEL, oder scannen Sie<br />

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MARIA FECK / DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

73


Wirtschaft<br />

Einer wird gewinnen<br />

Gesundheitskarte Erst verzögerten Verbandsfunktionäre die digitale Nutzung von Patientendaten,<br />

dann versagte die Industrie. Heimlicher Profiteur des Desasters ist ein Mittelständler aus Koblenz.<br />

Die Schwestern vom Guten Hirten<br />

sind lange schon verschwunden.<br />

Wo sie früher gebetet und geschlafen<br />

haben, liegt heute ein Gewerbegebiet.<br />

Geblieben ist nur die Stille, die über dem<br />

Ort liegt.<br />

<strong>Der</strong> Name des alten Klosters dient noch<br />

immer als Adresse: „Maria Trost“. Doch<br />

in den Neubauten rund um das alte Gemäuer<br />

wird nicht mehr ums Seelenheil gerungen,<br />

hier arbeiten ein Mann und seine<br />

Firma an einer ganz und gar irdischen Erlösung:<br />

endlich ein Mammutprojekt in<br />

Gang zu bringen, das in den zurückliegenden<br />

14 Jahren geschätzte 1,7 Milliarden<br />

Euro verschlungen hat. Es geht um die umstrittene<br />

elektronische Gesundheitskarte,<br />

es geht um ein riesiges IT-Netz, das schon<br />

bald alle Ärzte, Kliniken, Apotheken und<br />

Krankenkassen des Landes miteinander<br />

verbinden soll.<br />

Frank Gotthardt heißt der Mann, Compu -<br />

group sein Unternehmen. Sein Geschäftsfeld:<br />

Software für Ärzte und Krankenhäuser.<br />

In den vergangenen 30 Jahren hat<br />

Gotthardt hier in der nonnenhaften Abgeschiedenheit<br />

einen börsennotierten Softwarekonzern<br />

mit mehr als einer halben<br />

Milliarde Euro Jahresumsatz aufgebaut.<br />

Und er war dabei so forsch und gründlich,<br />

dass Kritiker monieren, er habe sich mit<br />

seinen Programmen wie ein Krake in Praxen<br />

und Kliniken ausgebreitet.<br />

Gotthardt ist gerade dabei, seine Marktmacht<br />

noch weiter ausbauen. <strong>Der</strong> 67-jährige<br />

Unternehmer wirbt bei Ärzten und<br />

Compugroup-Chef Gotthardt<br />

Bill Gates aus dem Westerwald<br />

Kliniken bereits für ein Ding, das einen<br />

ziemlich hässlichen Namen – der „Konnektor“<br />

– hat, aber der entscheidende Baustein<br />

für das Milliardenprojekt Gesundheitskarte<br />

ist. Das Ding ist ein Stück Hardware,<br />

das die einzelnen Praxen sicher mit<br />

dem ungeheuren Datennetz verbinden soll.<br />

Auch diesem Netz haben die Fachleute einen<br />

furchtbaren Namen gegeben. Sie nennen<br />

es „Telematikinfrastruktur“.<br />

Die Pointe ist: Gotthardt wird für viele<br />

Monate voraussichtlich der Einzige sein,<br />

der einen offiziell zugelassenen Konnektor<br />

verkaufen kann, weil die Wettbewerber im<br />

Zeitplan weit zurück liegen.<br />

Für Gotthardt und seine Compugroup<br />

ist das ein Erfolg. Für die Gesundheits -<br />

ALINA EMRICH & KIÊN HOÀNG LÊ / LÊMRICH / DER SPIEGEL<br />

politiker in der Hauptstadt dagegen ist es<br />

eine Peinlichkeit: Dass ein Unternehmer<br />

ungewollt zum Monopolisten werden<br />

kann, ist der bislang letzte Akt im unendlichen<br />

Drama um die Einführung der elektronischen<br />

Gesundheitskarte.<br />

Die Idee für die aus Berlin verordnete<br />

Digitalisierung der Branche reicht zurück<br />

bis in das Jahr 2001. Damals kam heraus,<br />

dass mehr als 50 Patienten starben, die den<br />

Cholesterinsenker Lipobay von Bayer zusammen<br />

mit anderen Medikamenten einge -<br />

nommen hatten. Und die Frage stellte sich:<br />

Warum gibt es keine Datenbank, die nicht<br />

nur Doppeluntersuchungen vermeiden<br />

und Kosten sparen hilft, sondern die Menschen<br />

auch vor gefährlichen Wechselwirkungen<br />

von Medikamenten warnen kann –<br />

und damit möglicherweise Leben rettet.<br />

Wenig später brachte die damalige Gesundheitsministerin<br />

Ulla Schmidt (SPD)<br />

das bislang größte öffentliche IT-Projekt<br />

des Landes auf den Weg: eine smarte elektronische<br />

Gesundheitskarte für alle Ver -<br />

sicherten, die nicht nur Notfalldaten enthalten<br />

sollte, sondern auch einen individuellen<br />

Arzneimittelplan. Röntgenbilder,<br />

Arztbriefe, Informationen über Vorerkrankungen<br />

– auf all diese Informationen sollten<br />

Ärzte und Patienten zugreifen können.<br />

So weit die Hoffnung.<br />

In der Praxis entwickelte sich das Vorhaben<br />

zum Fiasko – und zu einem milliardenteuren<br />

Beleg dafür, wie schwer sich<br />

Deutsch land mit Großprojekten tut. Die<br />

neue Karte wird zwar seit 2011 an die Ver-<br />

LEMRICH<br />

Das Gesundheitsnetz<br />

Wie Ärzte, Kliniken,<br />

Apotheken und Krankenkassen<br />

miteinander<br />

verbunden werden sollen<br />

Konnektor<br />

baut eine sichere Verbindung<br />

zu Patientendaten, zum<br />

Beispiel der Krankenkasse, auf. Kann die Daten<br />

lesen und schreiben.<br />

380410885<br />

Verschlüsselte Verbindung<br />

zur „Telematikinfrastruktur“<br />

(vom World Wide Web<br />

abgeschirmtes Netz)<br />

KRANKENKASSE<br />

340910300<br />

Praxisverwaltungssystem<br />

Lesegerät<br />

steht am Empfang der Praxis,<br />

der Klinik oder in der Apotheke.<br />

Zugang nur mit …<br />

… elektronischer Gesundheitskarte …<br />

Chipkarte mit Personendaten und Lichtbild:<br />

soll als Schlüssel Zugang zu Daten ermöglichen,<br />

die der Patient freigibt: ab 2018 Notfalldaten<br />

und Medikationspläne, später elektronische<br />

Patientenakte mit Röntgenbildern usw.<br />

… und Praxiskarte<br />

enthält den zweiten<br />

Schlüssel, ohne den<br />

kein Zugang möglich ist.<br />

74 DER SPIEGEL 43 / 2017


sicherten verschickt, jedoch fast ohne die<br />

angestrebten Funktionen. Bis heute unterscheidet<br />

sie nur das Passfoto von ihren Vorgängern.<br />

Kassenfunktionäre wie Martin Litsch,<br />

Chef des AOK-Bundesverbands, frotzeln<br />

längst, die Milliardeninvestition habe bislang<br />

kaum mehr als „einen besseren Mitgliedsausweis“<br />

hervorgebracht. Dabei sollte<br />

die Karte längst als Zugangsschlüssel für<br />

Patientendaten dienen. Bis Ende 2018 soll<br />

es offiziell endlich so weit sein. Darauf wetten<br />

würde wohl niemand, der sich jemals<br />

ernsthaft mit dem Thema beschäftigt hat.<br />

Kassenmanager halten eher 2020 für realistisch.<br />

Wenn dieses Mal alles glatt läuft.<br />

Was die Sache so kompliziert macht, ist<br />

die Tatsache, dass eine schier unendliche<br />

Zahl von Funktionären das Projekt gemeinsam<br />

verhandeln und auf den Weg<br />

bringen sollte. Für den Aufbau des besonders<br />

gesicherten Brancheninternets schuf<br />

die Politik eine Betreibergesellschaft namens<br />

Gematik, in der sich die Spitzenverbände<br />

von Ärzten und Kassen jahrelang<br />

belauert und beharkt haben – in Sichtweite<br />

des Bundesgesundheitsministeriums, das<br />

nur wenige Schritte entfernt liegt und dem<br />

Treiben sehr lange und sehr ratlos zusah.<br />

Eine toxische Gemengelage aus Widerwillen,<br />

Inkompetenz und widerstreitenden<br />

Interessen sorgte dafür, dass es jahrelang<br />

kaum voranging. Vor zwei Jahren schritt der<br />

amtierende Ressortchef Hermann Gröhe<br />

(CDU) ein und brachte ein neues E- Health-<br />

Gesetz auf den Weg, das den Verbänden<br />

von Kassen und Ärzten mit strengeren Fristen<br />

und empfindlichen Strafzahlungen<br />

droht, sollten sie bei der Einführung des<br />

neuen Netzes und der geplanten Funktionen<br />

der Karte weiter versagen. Allerdings<br />

währte der Eifer nur kurz. Entnervt hat sich<br />

das Ministerium inzwischen darangemacht,<br />

die Vorgaben wieder zu lockern.<br />

Gestandene Kassenfunktionäre reagieren<br />

mit Augenrollen und Schulterzucken,<br />

wenn es um die leidige Karte geht, und<br />

selbst prominente Vertreter wie AOK-Chef<br />

Litsch erklären, dass sie das Prinzip der<br />

Betreibergesellschaft Gematik für gescheitert<br />

halten. Allerdings hat sich eines im<br />

Lauf der Jahre verändert: Inzwischen ist<br />

es vor allem die Industrie, die fast alle gesetzten<br />

Fristen vertrödelt.<br />

Doris Pfeiffer, Chefin des GKV-Spitzenverbands,<br />

hat die Probleme akribisch aufgeschrieben.<br />

Und diese Liste des Versagens<br />

ist lang geworden: verzögerte Lieferung<br />

der Testkarten; nicht onlinefähige Kartenterminals;<br />

mangelnde Termintreue; Start<br />

der Erprobung: 25 Monate nach dem vereinbarten<br />

Termin. Vor allem: Probleme<br />

beim Konnektor.<br />

Vor Jahren hatte die Gematik gleich<br />

zwei große Konsortien beauftragt, diese<br />

sicheren Verbindungsboxen zu entwickeln.<br />

Eines wird angeführt von der Telekom-<br />

Tochter T-Systems, das andere von der<br />

Compugroup. Doch ausgerechnet der Telekom-Ableger,<br />

immerhin noch zu einem<br />

knappen Drittel in Staatsbesitz, schaffte<br />

es nicht, die notwendige Technik rechtzeitig<br />

bereitzustellen; einem speziell für den<br />

Testbetrieb entwickelten Konnektor wurde<br />

die Genehmigung verweigert. <strong>Der</strong> geplante<br />

Testlauf in echten Praxen fand schließlich<br />

zunächst ohne T-Systems statt. Was<br />

das für ihren Vertrag bedeutet, darüber<br />

verhandeln Gematik und das Unternehmen<br />

noch immer.<br />

T-Systems selbst führt die Verspätung<br />

vor allem auf unstete Anforderungen der<br />

Betreibergesellschaft zurück. „Seit Projektbeginn<br />

hat es rund 160 Änderungen<br />

an den Vorgaben gegeben. Die letzten<br />

stammen noch aus dem Juni“, sagt Telekom-Sprecher<br />

Rainer Knirsch. Außerdem<br />

seien die Sicherheitsanforderungen an die<br />

Technik beispielsweise gegen Cyberangriffe<br />

massiv gestiegen. „Dafür brauchten die<br />

Unternehmen mehr Entwicklungszeit“, so<br />

Knirsch. Die Klagen der Kassen über die<br />

Industrie seien „ein Stück ritualisierte<br />

Kommunikation“.<br />

Die Compugroup konnte mit den wechselnden<br />

Vorgaben offensichtlich besser<br />

umgehen. In diesem Frühjahr testete sie<br />

in 500 Praxen, ob sich Adressdaten oder<br />

Geburtstage der Versicherten sicher und<br />

schnell aktualisieren lassen. Die Gematik<br />

stufte den Probelauf als erfolgreich ein.<br />

Alle rund 150000 Arztpraxen und 2000 Kliniken<br />

sollen bis Mitte 2018 mit Konnektoren<br />

und Lesegeräten beliefert werden, so<br />

sieht es das E-Health-Gesetz vor. Deshalb<br />

hat Gotthardt jetzt einen Vorsprung.<br />

Noch im Oktober, so hofft man in Koblenz,<br />

könne die Gematik das letzte Okay<br />

für den Compugroup-Konnektor geben.<br />

Gotthardt wäre damit zunächst der einzige<br />

Anbieter auf dem Markt – eine Lage, die<br />

auch dem Gesundheitsministerium nicht<br />

besonders behagt.<br />

Es sei ärgerlich, dass in diesem Jahr voraussichtlich<br />

nur eines der beiden großen<br />

Industriekonsortien auf den Markt gehen<br />

könne, heißt es bei Gröhes Beamten. Allerdings<br />

tue man alles dafür, dass es bald<br />

einen weiteren Wettbewerber gebe: So hat<br />

die Gematik im Sommer den österreichischen<br />

IT-Dienstleister Rise beauftragt,<br />

einen weiteren Konnektor zu entwickeln.<br />

Die Vorgabe: Die Geräte sollen im ersten<br />

Quartal 2018 bereitstehen.<br />

Auch T-Systems hofft inzwischen wieder<br />

darauf, Praxen und Kliniken im Frühjahr<br />

2018 beliefern zu können. Anfang Oktober<br />

hat das Unternehmen ein großes Paket mit<br />

den neu entwickelten Geräten bei der Gematik<br />

als sogenanntes Produktmuster eingereicht.<br />

Mitte November will T-Systems<br />

den Konnektor offiziell zur Zulassung schicken,<br />

ein Prozedere, das einige Monate<br />

dauern könnte. Das Unternehmen selbst<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

75<br />

ISBN 9783548377490


WIE EIN<br />

LAND<br />

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Jahren radikalisierte. In seinem Buch<br />

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Geschichte in der Türkei.«<br />

HASNAIN KAZIM<br />

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Wirtschaft<br />

rechnet damit, dass es seine Geräte im Fe -<br />

bruar oder März auf den Markt bringen<br />

kann – und damit fast ein halbes Jahr nach<br />

Gotthardt.<br />

In den nächsten Monaten muss die Compu -<br />

group Konkurrenz also nicht fürchten. Auch<br />

ihm sei Wettbewerb lieber, schon aus marktwirtschaftlichem<br />

Prinzip, sagt Gotthardt.<br />

Doch seine Genugtuung darüber, dass er<br />

die große T-Systems ausgestochen hat, versucht<br />

der Mittelständler nicht zu verstecken.<br />

„Ich bin nicht traurig darüber, dass<br />

wir so leistungsfähig sind.“ Die Compugroup<br />

sei eben kein IT-Gemischtwarenladen.<br />

Tatsächlich hat er sein Unternehmen<br />

konsequent auf den Gesundheitsmarkt ausgerichtet.<br />

In den Siebzigerjahren erhielt<br />

Gotthardt den ersten Auftrag von seiner<br />

Tante, die in Koblenz einen Dentalgroßhandel<br />

betrieb. Für sie und andere Kunden<br />

schrieb der junge Programmierer Buchhaltungssoftware.<br />

Als einer seiner Kunden in<br />

die Insolvenz schlitterte, übernahm Gotthardt<br />

als Gegenleistung eine Firma mit<br />

einem Kundenstamm von 70 Zahnarzt -<br />

praxen und modernisierte deren Software –<br />

der Grundstein seines Geschäfts.<br />

Gewachsen ist es vor allem durch Übernahmen.<br />

Zuerst wurde Gotthardts Compugroup<br />

zum Marktführer für Zahnarztsoftware.<br />

2003 schluckte das Unternehmen<br />

mithilfe eines Finanzinvestors zwei Anbieter<br />

für Allgemeinmedizinersoftware und<br />

setzte sich an die Spitze auch dieses Marktes.<br />

Vier Jahre später ging die Compugroup<br />

an die Börse. Für die deutsche Gesundheitsbranche<br />

ist er so etwas wie ein<br />

Bill Gates aus dem Westerwald.<br />

Den ersten Konnektor hat Gotthardt in<br />

der Zahnarztpraxis seiner Frau installieren<br />

lassen, in einem 2000-Seelen-Dorf. Wenn<br />

die Sprechstundenhilfe die elektronische<br />

Gesundheitskarte neuer Patienten in den<br />

Leseschlitz einführt, zeigt ein Computerprogramm<br />

an, ob sie korrekt krankenversichert<br />

sind. „Das dauert nur Sekunden“,<br />

schwärmt Gotthardt – und es klingt, als suche<br />

er einen Beweis, dass das Not leidende<br />

Megaprojekt Gesundheitskarte eben doch<br />

nicht tot sei.<br />

Das Thema Gesundheitskarte dürfte<br />

auch bei den Koali tionsverhandlungen in<br />

Berlin eine Rolle spielen. Denn es gibt Kassenmanager,<br />

die darüber nachdenken, ob<br />

es nicht besser wäre, das Milliardenvorhaben<br />

mit dem absehbaren Regierungswechsel<br />

einfach einzustampfen.<br />

AOK, Techniker Krankenkasse (TK) und<br />

Co. sind bereits dazu übergegangen, nicht<br />

mehr auf staatliche Vorgaben für die digitale<br />

Patientenakte zu warten, sondern<br />

Apps für ihre Versicherten selbst zu entwickeln.<br />

Die TK hat sich den Software -<br />

riesen IBM ins Boot geholt. Die AOK stellte<br />

am Dienstag in Berlin ein Pilotprojekt<br />

vor, bei dem Patienten von ihrem Smart -<br />

phone aus selbst auf ihre Daten zugreifen<br />

76 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

können. Ein Stück Plastik mit einem Chip<br />

darauf spielt in diesem Projekt keine Rolle.<br />

Allerdings wollen auch die Ortskrankenkassen<br />

das neue, sichere IT-Netz nutzen.<br />

Alles andere wäre für die Compugroup<br />

ein herber Rückschlag. Nach eigenen Angaben<br />

hat das Unternehmen bereits einen<br />

zweistelligen Millionenbetrag in das Projekt<br />

investiert. Die Platinen und Gehäuse<br />

für die Konnektor-Produktion warten bereits<br />

in Containern, bei einem Auftragsfertiger<br />

steht eine Produktionsstraße für die<br />

Boxen bereit. Mehr als 500 Techniker für<br />

den Einbau in den Praxen hat die Compugroup<br />

geschult.<br />

Was fehlt, ist die finale Zulassung der<br />

Gematik, bevor die Compugroup ihre<br />

Geräte ausliefern kann. Nach Gotthardts<br />

ursprünglichen Plänen wollte er bis Jahres -<br />

ende 40000 Praxen mit der neuen Technik<br />

ausstatten. Nun hofft er, dass es bis Ende<br />

Dezember noch 10000 werden könnten.<br />

Den Erfolg würden ihm nicht alle in der<br />

Branche gönnen, er hat dort nicht nur<br />

Freunde. Schon heute nutzen 40 Prozent<br />

aller Arzt- und Zahnarztpraxen in Deutschland<br />

seine Software und seine Dienste.<br />

Gotthardts Marketing gilt als aggressiv. Zuletzt<br />

eckte er mit der Werbung für seine<br />

Konnektoren an, kurz entschlossene Besteller<br />

köderte er mit einem „Frühbucher-<br />

Rabatt“. Arztpraxen, die sich für die „Basisausstattung<br />

mit Konnektor, Kartenleser,<br />

VPN-Zugangsdienst und Ein weisung des<br />

Teams“ entschieden, bot sein Finanzvorstand<br />

via Interview schon im Sommer einen<br />

Preis von 3690 Euro inklusive Mehrwertsteuer<br />

an – zum Ärger einer großen<br />

Kassenärztlichen Vereinigung, die das als<br />

voreilig empfand. Erst ein Krisengespräch<br />

konnte den Streit schlichten.<br />

Auch im Gesundheitsministerium haben<br />

Beamte Gotthardt nahegelegt, seine Marktmacht<br />

nicht zu missbrauchen. Die Angst,<br />

dass die Compugroup ihren technischen<br />

Vorsprung nutzen könnte, um ein dauerhaftes<br />

Monopol zu schaffen, hält Gotthardt<br />

für überzogen. „Im Prinzip bauen wir<br />

doch auch eine Plattform für unsere Wettbewerber“,<br />

sagt er. <strong>Der</strong> für ihn interessante<br />

Markt sei nicht der Aufbau der Infrastruktur.<br />

Es seien die neuartigen Dienste, die<br />

darauf möglich würden. Seine Rechnung<br />

ist einfach: Wenn er einen Konnektor verkauft,<br />

verdient er nur ein einziges Mal.<br />

Wenn eine Arztpraxis aber seine Software<br />

und seine Dienste dazu erwirbt, wird ein<br />

dauerhaftes Geschäft daraus.<br />

Nur für ein grundsätzlicheres Problem<br />

muss auch Gotthardt eine Lösung finden:<br />

die Zweifel der Patienten. Das Datenschutzniveau<br />

sei „außerordentlich hoch“,<br />

wie Gotthardt sagt. Doch wenn man das<br />

Wort „elektronische Gesundheitskarte“ im<br />

Internet sucht, ist „verweigern“ noch immer<br />

einer der ersten Treffer.<br />

Marcel Rosenbach, Cornelia Schmergal


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Ausland<br />

USA<br />

<strong>Der</strong> Charaktertest<br />

Für einen amerikanischen<br />

Präsidenten gibt es kaum<br />

eine heiklere Aufgabe als den<br />

Anruf bei der Familie eines<br />

gefallenen Soldaten. Wer mit<br />

den Hinterbliebenen spricht,<br />

muss aus sich selbst heraus<br />

die angemessenen Worte finden,<br />

es gibt kein Manuskript<br />

für solche Telefonate. Ein<br />

Kondolenzanruf ist der<br />

Charaktertest für den Oberbefehlshaber.<br />

Donald Trump<br />

hat ihn nicht bestanden.<br />

Im Grunde hat er in der Affäre<br />

um seinen Anruf bei der<br />

Witwe des gefallenen Sol -<br />

daten David Johnson alles<br />

falsch gemacht, was man als<br />

Präsident falsch machen<br />

kann. Er reagierte viel zu<br />

spät auf die Nachricht, dass<br />

Anfang Oktober vier US-Soldaten<br />

in Niger getötet worden<br />

waren. Dann sagte er der<br />

Witwe den unfassbaren Satz,<br />

ihr Mann habe ja gewusst,<br />

worauf er sich einlasse, „aber<br />

ich glaube, es tut trotzdem<br />

weh“. Das ist nicht nur haarsträubend<br />

unsensibel, sondern<br />

unamerikanisch. Trump<br />

bringt ausgerechnet jene<br />

gegen sich auf, die er in den<br />

Krieg schickt. Ein strategisch<br />

äußerst unkluges Vorgehen in<br />

einer Nation, die mit Stolz<br />

auf ihre Armee blickt.<br />

Natürlich kommen nun<br />

weitere Taktlosigkeiten ans<br />

Licht. Einem trauernden<br />

Vater versprach Trump 25 000<br />

Dollar für den Verlust seines<br />

Sohnes, versäumte es aber,<br />

das Geld zu überweisen. Er<br />

behauptete, im Gegensatz zu<br />

ihm hätten andere Präsidenten<br />

keine Kondolenzanrufe<br />

getätigt, was nicht stimmt.<br />

Und er zog seinen Stabschef<br />

John Kelly in die Sache<br />

hinein, der einen Sohn unter<br />

Obama in Afghanistan ver -<br />

loren hatte und das ungern<br />

öffentlich zum Thema macht:<br />

Er forderte Journalisten auf,<br />

Kelly darauf anzusprechen.<br />

Trumps Präsidentschaft hatte<br />

von Anfang an selbstzerstörerische,<br />

nihilistische Züge.<br />

Hinter den Familien gefallener<br />

Soldaten steht nun das<br />

ganze Land. cx<br />

Venezuela<br />

Hilfe vom IWF<br />

<strong>Der</strong> Internationale Währungsfonds<br />

(IWF) erwägt offenbar,<br />

der Regierung von Nicolás<br />

Maduro mit einem Notkredit<br />

zu helfen, sollte das hoch<br />

verschuldete Land den Staatsbankrott<br />

erklären. IWF-Experten<br />

schätzen die Kosten eines<br />

Rettungspakets auf rund<br />

30 Milliarden US-Dollar jährlich.<br />

In zwei Wochen muss<br />

Caracas Schuldenzahlungen<br />

Chen<br />

China<br />

Beton und<br />

Gehorsam<br />

<strong>Der</strong> 19. Kongress von Chinas<br />

Kommunistischer Partei ist<br />

reich an Pomp und Ritualen.<br />

Eine Personalie ist bei aller<br />

Huldigung von Parteichef Xi<br />

Jinping allerdings interessant:<br />

der Aufstieg seines Vertrauten<br />

Chen Min’er. Könnte er<br />

der Mann sein, den Xi langfristig<br />

für seine Nachfolge in<br />

Stellung bringt? Und was<br />

würde das für Chinas Zukunft<br />

bedeuten? Chen, 57,<br />

stammt aus der reichen<br />

Küstenprovinz Zhejiang, wo<br />

er dem heutigen Präsidenten<br />

einst als Propagandachef<br />

diente. 2012 schickte ihn Xi<br />

nach Guizhou, eine der ärmsten<br />

Regionen, wo Chen in<br />

fast fünf Jahren gut 2500<br />

Kilometer Autobahnen, zwei<br />

der höchsten Brücken und<br />

das größte Radio teleskop der<br />

Welt errichten ließ. Im Juli<br />

machte Xi ihn zum Parteichef<br />

der Megastadt Chongqing,<br />

womit Chen ins Politbüro<br />

aufrückt, womöglich sogar in<br />

von über zwei Milliarden<br />

Dollar bedienen. Geld, das<br />

dringend für Lebensmittel -<br />

importe benötigt wird. Die<br />

Hungerkrise wird sich dadurch<br />

voraussichtlich verschärfen –<br />

mehr als 80 Prozent der Lebensmittel<br />

werden eingeführt.<br />

Misswirtschaft, Korruption<br />

und der Absturz des Ölpreises<br />

haben den einst reichen<br />

Ölstaat in den Abgrund<br />

getrieben. Eine Finanzspritze<br />

des IWF könnte jedoch ausgerechnet<br />

an Präsident Nicolás<br />

TYRONE SIU / REUTERS<br />

dessen „Ständigen Ausschuss“,<br />

das sieben Mitglieder<br />

zählende, mächtigste<br />

Gremium der Volksrepublik.<br />

Chens selbst für Insider überraschend<br />

schneller Aufstieg<br />

deutet an, welche Eigenschaften<br />

in Xis China an die Spitze<br />

führen: Bauwut und unbedingte<br />

Loyalität. Das bäuer -<br />

liche Guizhou hat heute<br />

mehr Autobahnkilometer als<br />

Großbritannien, und aus dem<br />

Munde des Gesalbten ist kein<br />

kritisches Wort über Xi überliefert,<br />

aber viele von dessen<br />

goldenen Sentenzen: „Die<br />

Macht muss in den Käfig der<br />

Institutionen eingesperrt<br />

werden“, zitierte Chen 2015<br />

seinen Mentor. Dass Xi sich<br />

selbst an diese Regel hielte,<br />

kann man nicht sagen. bza<br />

Maduro scheitern, denn seine<br />

Regierung müsste um Beistand<br />

bitten, und das ist<br />

kaum zu erwarten: Venezuela<br />

hatte bereits 2007 alle Beziehungen<br />

zum IWF abgebrochen.<br />

Politisch hat Maduro<br />

zudem seine Macht gefestigt:<br />

Mit dem wohl manipulierten<br />

Sieg der Regierungspartei<br />

bei den Gouverneurswahlen<br />

vom vergangenen Sonntag<br />

hat er die Opposition isoliert,<br />

ein Machtwechsel ist nicht<br />

in Sicht. jgl<br />

Regierungsanhänger in Caracas<br />

JUAN BARRETO / AFP<br />

78 DER SPIEGEL 43 / 2017


Schreie von rechts<br />

Ihren Nationalfeiertag hat die Ukraine eigentlich im August – die radikale Rechte aber begeht<br />

den 14. Oktober, den „Tag der Vaterlandsverteidiger“. 5000 Polizisten schützten den um -<br />

strittenen Marsch, der an die Gründung der Ukrainischen Aufstandsarmee im Zweiten Weltkrieg<br />

erinnert. Sie half einst an der Seite der Deutschen bei der Ermordung der Juden und<br />

kämpfte später gegen die Deutschen – ebenso wie gegen Polen und die Sowjetunion.<br />

ANATOLII STEPANOV / DPA<br />

Kommentar<br />

Farce an der Urne<br />

<strong>Der</strong> erneute Wahlgang in Kenia ist nur ein hohles Ritual.<br />

Das Wahltheater in Kenia geht weiter. Im August, beim ersten<br />

Versuch, einen neuen Präsidenten zu wählen, wurde massiv<br />

manipuliert. Am kommenden Donnerstag soll das Volk nun<br />

ein zweites Mal abstimmen. Nachdem Oppositionsführer Raila<br />

Odinga aus dem Rennen ausgestiegen ist, weil er neuerliche<br />

Fälschungen befürchtet, wird der Urnengang zur Farce: <strong>Der</strong><br />

Amtsinhaber, Präsident Uhuru Kenyatta, hat keinen Gegner<br />

mehr, ein Sieg scheint ihm sicher. In den Hochburgen der Anhänger<br />

Odingas herrscht schon jetzt Bürgerkriegsstimmung.<br />

Pessimisten schließen nicht aus, dass sich die Katastrophe des<br />

Jahres 2008 wiederholen könnte, als nach einer chaotischen<br />

Präsidentschaftswahl mehr als 1300 Menschen getötet wurden.<br />

Das Beispiel Kenia zeigt, wie gefährlich Wahlen in fragilen<br />

Nationen sein können: Sie spalten die Wählerschaft entlang<br />

ethnischer Trennlinien. An der Urne werden aus Kenianern<br />

dann Kikuyu, Luo oder Kalenjin, es zählt nur noch die ethnische<br />

Loyalität. Die Programme der Spitzenkandidaten unterscheiden<br />

sich ohnehin nicht: Es geht ihnen allein um die<br />

Macht – und um den Zugriff auf staatliche Ressourcen, die<br />

sie dann an ihre Volksgruppen verteilen. Kenia lehrt auch,<br />

dass Wahlen noch keine Demokratie machen, in Afrika sind<br />

sie oft nur Fassade. Und sie können Gesellschaften zerrütten,<br />

weil der demokratische Unterbau fehlt. Aber die Wahl -<br />

beobachter aus dem Westen sind oft schon zufrieden, wenn<br />

Abstimmungen überhaupt über die Bühne gehen. Da scheint<br />

zu gelten: nicht so genau hinschauen; Hauptsache, gewählt;<br />

schnell wieder heim. Auch den ersten Anlauf in Kenia hatten<br />

sie abgesegnet, es war das Oberste Gericht Kenias, das das<br />

Ergebnis schließlich für ungültig erklärte und eine Wieder -<br />

holung der Wahl anordnete. So verkommt die Demokratie<br />

zum Elektoralismus, zu einem hohlen Wahlritual mit fatalen<br />

Folgen.<br />

Bartholomäus Grill<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017 79


Ausland<br />

<strong>Der</strong> Entrümpler<br />

Österreich Wieder hat ein junger Mann die Macht erobert und höflich, aber skrupellos das<br />

Establishment entsorgt. Doch was ist Sebastian Kurz: ein guter Europäer oder ein Opportunist<br />

mit Gespür für den rechten Zeitgeist? Und was bedeutet sein Sieg für Deutschland?<br />

<strong>Der</strong> Mann, der gerade so elegant auf<br />

dem Zeitgeist surft wie einst Robby<br />

Naish auf den Wellen vor Hawaii,<br />

will jetzt kurz demonstrieren, wie man das<br />

macht mit dem Entrümpeln. Er steht in<br />

seinem Büro im altehrwürdigen Außen -<br />

ministerium am Wiener Minoritenplatz<br />

und deutet auf Ecken und Wände, wo früher<br />

antikes Mobiliar stand oder alte Gemälde<br />

hingen. Alles entsorgt, ausgemistet,<br />

von ihm persönlich. Schön leer jetzt, schön<br />

kühl und modern. Selbst das Holzkreuz<br />

an der Wand wirkt wie moderne Kunst.<br />

Sebastian Kurz geht hinter seinen höhenverstellbaren<br />

Schreibtisch im Industriedesign<br />

und deutet auf das Bild, das er aufhängen<br />

ließ. Eine gemalte Karte Europas,<br />

mit der kleinen künstlerischen Verfremdung,<br />

dass Finnland unten liegt, Spanien,<br />

Italien und Griechenland hingegen liegen<br />

oben. Europa steht im Büro von Sebastian<br />

Kurz auf dem Kopf. Um sicherzustellen,<br />

dass der Gast es bemerkt, weist er noch<br />

mal darauf hin. Auf dem Kopf. Vielsagender<br />

Blick. Lächeln.<br />

Er lächelt viel an diesem Mittwoch nach<br />

dem Sieg. Seine dezent gepuderten Wangen<br />

leuchten so rosig und frisch wie die<br />

des Jungen auf der Kinderschokoladen -<br />

packung. So wie er sein Büro entrümpelt<br />

hat, hat Kurz innerhalb weniger Monate<br />

auch seine Partei entrümpelt und die alte,<br />

traditionelle ÖVP in eine moderne Bewegung<br />

mit starkem Anführer verwandelt.<br />

Er hat einen scharfen Anti-Flüchtlings-<br />

Wahlkampf geführt und damit den politischen<br />

Diskurs so beeinflusst, dass am<br />

Wahltag zwei Parteien deutlich rechts der<br />

Mitte zusammen fast 60 Prozent der Stimmen<br />

erhielten: die stramm rechte FPÖ und<br />

die konservative ÖVP, die inzwischen nur<br />

noch „Liste Sebastian Kurz“ heißt.<br />

Wenn sein Plan aufgeht, wird Kurz mit<br />

31 Jahren der jüngste Regierungschef<br />

Europas sein, nachdem er mit 27 Jahren<br />

schon jüngster Außenminister wurde. Das<br />

allein hat etwas Surreales. Aber Kurz ist<br />

dieser Superlativ nicht genug. Er scheint<br />

gewillt, nicht nur seine Partei und sein<br />

Land auf den Kopf zu stellen, sondern<br />

auch die europäische Politik. Die Nationalisten<br />

in Ungarn oder Polen freuen sich<br />

schon auf einen Verbündeten im Kampf<br />

gegen das flüchtlingsfreundliche Europa.<br />

In Deutschland blickt man mit einer<br />

Mischung aus Faszination, Sehnsucht und<br />

80 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Kurz ist kein Extremer,<br />

sondern er ist einfach<br />

nur extrem hungrig<br />

nach Macht und Erfolg.<br />

Kopfschütteln auf Kurz und seine Bewegung.<br />

„Warum haben wir nicht so einen?“,<br />

fragte schmachtend die ewig nach politischen<br />

Erlösern fahndende „Bild“-Zeitung.<br />

Mit seiner Kombination aus jugendlichem<br />

Charme, einem politischen Stil, der<br />

Traditionen und alte Gepflogenheiten<br />

überwinden will, und einer konsequent<br />

auf Abschottung setzenden Programmatik<br />

scheint Kurz den Zeitgeist gerade besser<br />

zu bedienen als viele andere Politiker. Er<br />

hat es jedenfalls geschafft, die meisten seiner<br />

Konkurrenten als Leute von gestern<br />

erscheinen zu lassen.<br />

Sein Kurs in der Flüchtlingspolitik<br />

hat Auswirkungen weit über Österreich<br />

hinaus. Für viele in der Union, die sich<br />

spätestens seit dem Erfolg der AfD einen<br />

Rechtsruck ihrer Parteien wünschen, ist<br />

Kurz nun ein Gegenmodell zur eigenen<br />

Kanzlerin. Er verkörpert jene Eigenschaften<br />

und Positionen, die sie an ihrer Chefin<br />

vermissen. Jens Spahn, der sich auf politische<br />

Symbolik schon immer gut verstand,<br />

postete am Wahlabend ein Grinse-Selfie<br />

mit Kurz von dessen Siegesfeier in Wien.<br />

Das Signal war klar: Eine andere, konservativere<br />

Politik ist auch in Deutschland<br />

möglich, mit Jens Spahn an der Spitze, der<br />

einigen in der Union ohnehin als bevorzugter<br />

Merkel-Nachfolger gilt.<br />

Aber taugt Sebastian Kurz wirklich als<br />

leuchtendes Vorbild? Ist er tatsächlich jener<br />

konservative Wunderknabe, als der er<br />

nun vielerorts gefeiert wird?<br />

Seine Geschichte ist die eines begabten<br />

Aufsteigers, der aus einem Wiener Arbeiterbezirk<br />

nach oben drängte. Er wuchs in<br />

Meidling auf, im Westen Wiens, als einziges<br />

Kind eines Ingenieurs und einer Lehrerin.<br />

Die Familie wohnte in einem Mehrfamilienhaus.<br />

Kurz selbst spricht von einer<br />

friedlichen, glücklichen Kindheit. Seinen<br />

Aufstieg in der Politik beschreibt er als Folge<br />

einiger Zufälle und glücklicher Umstände,<br />

aber das blendet den glühenden Ehrgeiz<br />

aus, der ihn antreibt.<br />

Nein, Sebastian Kurz ist kein Nazi, auch<br />

kein Rassist. Selbst wenn Linke, Satiriker<br />

oder gar die „New York Times“ ihn nun in<br />

diese Nähe rücken. Aber das trifft es nicht.<br />

Er hat die Migration zum alles überwölbenden<br />

Wahlkampfthema gemacht, das<br />

schon, und er hat fast alle Forderungen der<br />

FPÖ übernommen. „Kurz hat uns die Themen<br />

geklaut“, klagte FPÖ-Chef Heinz-<br />

Christian Strache hinterher. Kurz hat die<br />

Themen der Rechten endgültig salonfähig<br />

gemacht – aber er hat der FPÖ damit eben<br />

auch 168000 Wähler abgejagt.<br />

Kurz, das ist das Wahrscheinlichste, ist<br />

kein Extremer, sondern einfach nur extrem<br />

hungrig nach Macht und Erfolg, ein konservativer<br />

Karrierist, der vermutlich auch<br />

ein linker Karrierist hätte werden können,<br />

wäre es dem Aufstieg dienlich gewesen.<br />

Die prägendste Ideologie, die man ihm zuschreiben<br />

kann, ist der Opportunismus.<br />

„Manchmal habe ich das Gefühl, er wollte<br />

eigentlich nur Klassensprecher werden,<br />

und dann ist das Ganze eskaliert“, hat Strache<br />

einmal über Kurz gesagt, nun wird er<br />

wohl sein Koalitionspartner und Vizeklassensprecher<br />

werden.<br />

„Fesch“ ist das Wort, das in keinem Zeitungsartikel<br />

über Kurz fehlt. Fesch heißt<br />

gut aussehend, zuvorkommend, athletisch,<br />

sportlich, lässig, mit derselben Beschreibung<br />

wurde einst auch Jörg Haider von<br />

seinen Fans bedacht, der frühere FPÖ-<br />

Chef, der vor neun Jahren bei einem<br />

Autounfall starb. Vielleicht ist Sebastian<br />

Kurz ihm auch darin nicht unähnlich, dass<br />

er ein gutes Gespür für die politische Stimmung<br />

hat. Und die ist in Österreich, stärker<br />

noch als in Deutschland, geprägt von<br />

der Angst vor Überfremdung und dem<br />

Wunsch nach einfachen Antworten auf die<br />

Probleme einer komplexen Welt.<br />

Verstörend jedoch ist die Schmerzfreiheit,<br />

mit der Kurz auf ein Bündnis mit Leuten<br />

zusteuert, die teilweise politisch nicht<br />

weit von Nazis entfernt sind oder zumindest<br />

welche waren. Für Österreich mag das<br />

nicht allzu überraschend sein, schließlich<br />

ist die FPÖ hier längst eine fast normale<br />

Partei, für Europa hingegen schon.<br />

FPÖ-Chef Strache nahm einst an Zelt -<br />

lagern der „volkstreuen Jugend“ teil, einer<br />

völkischen Nachwuchsorganisation. Er zog<br />

zusammen mit Neonazis bei Demos durch<br />

die Straßen und nahm an paramilitärischen<br />

Wehrsportübungen teil. Spricht man Kurz


Wahlsieger Kurz: Ein konservativer Karrierist<br />

CHRISTIAN BRUNA / SHUTTERSTOCK<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017 81


Ausland<br />

Wahlparty der FPÖ in Wien: Nicht weit von Nazis entfernt<br />

auf die Gesinnung seines Wunschpartners<br />

an, spielt er das charmant lächelnd herunter.<br />

Am Mittwochabend hat er sich erstmals<br />

mit Strache privat in dessen Wohnung getroffen.<br />

In einem „offenen, sympathischen,<br />

freundlichen“ Gespräch sei man sich auch<br />

„menschlich nähergekommen“, berichtete<br />

Strache später.<br />

Kurz ist der konservativste Vertreter jenes<br />

neuen Politikertypus, der nun weltweit<br />

Erfolge feiert. Dazu zählen der kanadische<br />

Premier Justin Trudeau und Frankreichs<br />

Präsident Emmanuel Macron, aus Deutschland<br />

gesellt sich am ehesten FDP-Chef<br />

Christian Lindner in diese Riege.<br />

Die Generation Slim-Fit, wie Kurz und<br />

Kollegen in Anspielung auf ihre eng geschnittenen<br />

Anzüge sowie ihre manchmal<br />

eher dünnen Programme genannt werden,<br />

reklamiert für sich eine Politik jenseits der<br />

Kategorien rechts und links. Sie vertreten<br />

einen postideologischen Politikansatz, profitieren<br />

meist von einem ausgeprägten<br />

Charisma, sind rhetorisch geschickt oder<br />

wenigstens geschult und bedienen sich konsequent<br />

der neuesten Tricks aus Werbung<br />

und Marketing. Was sie verbindet, ist die<br />

Ablehnung klassischer Parteistrukturen.<br />

Allen gemein ist auch, dass sie sich als Alternative<br />

zum Establishment präsentieren,<br />

obwohl sie diesem seit Langem angehören.<br />

So radikal wie Kurz aber ist kaum einer<br />

vorgegangen. Als er im Mai designierter<br />

Vorsitzender der ÖVP wurde, blieb von<br />

der alten Volkspartei nicht viel übrig. Nach<br />

der Machtübernahme dauerte es nicht lange,<br />

bis die Homepage der ÖVP wegen Umbauarbeiten<br />

gesperrt wurde. Wer sie anklickte,<br />

wurde auf seine persönliche Seite,<br />

die des „Teams Kurz“, weitergeleitet. Aus<br />

dem Parteinamen ÖVP wurde die „Liste<br />

Sebastian Kurz – die neue Volkspartei“.<br />

Die Partei bekam ein neues Logo, eine<br />

neue Führungsstruktur und der neue Chef<br />

mehr Macht als seine Vorgänger.<br />

„Was Kurz sagt, ist jetzt Gesetz“, erklärte<br />

der ehemalige ÖVP-Chef und Kurz-<br />

Förderer Michael Spindelegger.<br />

Kurz hat früh begriffen, dass Politik heutzutage<br />

ohne ein hohes Maß an Inszenierung<br />

nicht auskommt. Mit 22 wurde er Chef<br />

der Jungen Volkspartei und posierte danach<br />

auf dem Kühlergrill eines Geländewagens<br />

mit der Aufschrift „Geil-o-Mobil“.<br />

Das war eine seiner wenigen Verirrungen<br />

ins Nassforsche. Er zog seine Lehren daraus<br />

und tritt heute betont galant und zurückhaltend<br />

auf. Er lernte, seine Ambition hinter<br />

Bescheidenheit zu verstecken.<br />

Im Außenministerium bemühten sich<br />

seine Berater mit Erfolg, ihn als genüg -<br />

samen, hart arbeitenden jungen Mann zu<br />

porträtieren, der heimatverbunden und zugleich<br />

weltoffen ist. Kurz fährt auch mal<br />

mit der U-Bahn ins Büro, kürzere Wege<br />

geht er zu Fuß. Wo seine Vorgänger Privatjets<br />

nutzen, lässt Kurz Linienflüge buchen,<br />

meistens Economy.<br />

Am Donnerstag nach dem Wahlsieg<br />

fliegt er ebenfalls Economy, diesmal nach<br />

Brüssel, was in den sozialen Netzwerken<br />

gleich per Foto dokumentiert wird. Hier<br />

findet ein Treffen der konservativen Europäischen<br />

Volkspartei statt, danach tagen<br />

aber auch die Staats- und Regierungschefs<br />

– und Kurz lässt sich die Gelegenheit<br />

nicht entgehen, um sich in der Nähe von<br />

Angela Merkel und Jean-Claude Juncker<br />

zu präsentieren.<br />

Kurz verkörpert die<br />

Hoffnung, über die Größe<br />

eines kleinen<br />

Landes hinauszuwachsen.<br />

Die Scheinwerfer Brüssels suchte er<br />

auch in den Jahren als Außenminister, den<br />

Österreichern gefielen die souveränen und<br />

selbstbewussten Auftritte. Kurz verkörpert<br />

damit perfekt die Hoffnung seiner Landsleute,<br />

über die Größe des kleinen Österreichs<br />

hinauszuwachsen.<br />

Europa ist nun die Bühne, auf der Kurz<br />

mit Angela Merkel auf Augenhöhe operiert.<br />

In der Flüchtlingskrise zeigte der junge<br />

Mann aus Wien der erfahrenen Kanzlerin<br />

bereits, dass er sich nicht als Juniorpartner<br />

sieht. Während Merkel den Zustrom<br />

der Migranten durch einen Deal mit<br />

der Türkei stoppen wollte, setzte Kurz offenbar<br />

hinter ihrem Rücken durch, die<br />

Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien<br />

zu schließen. Er besuchte dafür<br />

beinahe im Wochentakt die Balkanländer<br />

und lotete aus, wie eine Schließung der<br />

Flüchtlingsroute aussehen könnte.<br />

Schon früh, im November 2015, machte<br />

er sich zudem den Kampfbegriff von Merkels<br />

Gegnern zu eigen, forderte eine<br />

„Obergrenze“ für die Aufnahme von<br />

Flüchtlingen und ließ sich dafür auch von<br />

Konservativen aus Deutschland feiern. Im<br />

vergangenen März besuchte er den Parteitag<br />

von Europas Konservativen auf Malta<br />

und nahm sich anschließend Zeit, im Keller<br />

des Tagungshotels über Migrations -<br />

politik zu diskutieren. Leute wie Hans-<br />

Peter Friedrich von der CSU hörten begeistert<br />

zu, wie Kurz über seine Erfolge<br />

auf Kosten der Kanzlerin plauderte.<br />

Auch auf anderen Politikfeldern forderte<br />

der Außenminister Kurz die Bundeskanzlerin<br />

und ihre Regierung immer wieder<br />

heraus. So verlangte er früh ein vorläufiges<br />

Ende der Beitrittsverhandlungen mit der<br />

Türkei. In Österreich kam diese Opposition<br />

gegen den großen Nachbarn bestens an.<br />

Seit der Flüchtlingskrise gilt Kurz zudem<br />

als Freund der Nationalisten in Polen oder<br />

Ungarn, der Kaczyńskis, der Orbáns und<br />

weiterer EU-Regierungschefs im rechten<br />

Spektrum. Nun scheint am europäischen<br />

Horizont eine Wiederbelebung der alten<br />

Habsburger Verbindung auf, als Gegenpol<br />

zu Macron und Merkel, die sich für eine<br />

Vertiefung der Union aussprechen, wenn<br />

auch mit unterschiedlicher Intensität.<br />

Kurz als einen Europaskeptiker wie<br />

Orbán abzustempeln wäre jedoch falsch.<br />

In der Flüchtlingsfrage teilen beide zwar<br />

einen Kurs der konsequenten Abschottung.<br />

CHARBONNIER NATHANAEL / NEWS PICTURES<br />

82 DER SPIEGEL 43 / 2017


FPÖ-Chef Strache: „Menschlich nähergekommen“<br />

Anders als Orbán und Kaczyński ist der<br />

Österreicher jedoch von der Notwendigkeit<br />

der EU überzeugt. Wo es dem eher kleinen<br />

Österreich nutzt, etwa bei der Außen- und<br />

Sicherheitspolitik, plädiert Kurz sogar für<br />

eine Vertiefung der Zusammenarbeit.<br />

Die Vision seines Rollenvorbilds Macron<br />

von einem solidarischeren Europa teilt<br />

Kurz hingegen nicht. Dass die EU-Mitgliedstaaten<br />

künftig finanziell stärker füreinander<br />

einstehen und ihre Sozialstandards angleichen<br />

sollen, hält er für falsch.<br />

In Brüssel schauen sie nun mit Sorge<br />

auf die Entwicklung in Österreich. Als<br />

Wolfgang Schüssel im Jahre 2000 eine Koalition<br />

mit Haiders FPÖ bildete, reduzierten<br />

die EU-Staaten ihre Beziehungen zu<br />

Wien zunächst auf ein Mindestmaß. Dazu<br />

wird es diesmal nicht kommen, dafür gibt<br />

es inzwischen zu viele rechtskonservative<br />

Regierungen in Europa. In seinem Gratulationsschreiben<br />

mahnte Kommissionschef<br />

Juncker jedoch gleich eine europafreundliche<br />

Politik der neuen Regierung an.<br />

Österreich wird in der zweiten Jahreshälfte<br />

2018 die EU-Ratspräsidentschaft<br />

übernehmen, ausgerechnet dann sind wichtige<br />

Entscheidungen zu erwarten: der Abschluss<br />

der Verhandlungen über den Brexit<br />

sowie über den künftigen siebenjährigen<br />

Finanzrahmen für die Gemeinschaft. Das<br />

Letzte, was Europa da brauchen kann,<br />

ist eine österreichische Regierung, in der<br />

Europafeinde den Kurs mitbestimmen.<br />

„Österreich wird ein europafreundliches<br />

Land bleiben“, beteuert Kurz am Donnerstag<br />

in Brüssel gegenüber allen Gesprächspartnern.<br />

Ihn ärgert, dass ausländische<br />

Zeitungen über einen Rechtsruck in Österreich<br />

schreiben. Immerhin habe er mit seinem<br />

Wahlsieg den Durchmarsch der FPÖ<br />

doch verhindert.<br />

Es ist schwer zu sagen, was ein weniger<br />

auf das Thema Migration konzentrierter<br />

Wahlkampf bewirkt hätte. Fakt ist jedenfalls,<br />

dass die FPÖ in den Umfragen anfangs<br />

weit vor den Konservativen lag. Und<br />

das Beispiel der Schüssel-Haider-Regierung<br />

zeigt, dass die Rechten ihre Anziehungskraft<br />

verlieren, sobald sie mitregieren.<br />

Nach nicht mal drei Jahren Schwarz-Blau<br />

stürzte die FPÖ damals bei der Wahl ab.<br />

Solche Argumente werden in diesen Tagen<br />

auch von vielen Mitgliedern der Union<br />

vorgetragen, um Angela Merkel unter<br />

Druck zu setzen. Die Kanzlerin weiß, dass<br />

ihr mit Kurz ein Konkurrent erwachsen<br />

ist, nicht nur in Brüssel, sondern auch im<br />

Streit über den richtigen Kurs ihrer eigenen<br />

Partei. Sie hat mitbekommen, dass<br />

sich viele Unzufriedene in CDU und CSU<br />

plötzlich auf Kurz berufen, wenn sie die<br />

Programmatik der Union kritisieren.<br />

Als Merkel in der Vorstandssitzung der<br />

CDU am vergangenen Montag auf Kurz’<br />

Wahlsieg zu sprechen kam, schaffte sie es,<br />

ihren Gegner in der Flüchtlingskrise gleichzeitig<br />

zu loben und kleinzureden. Es sei ja<br />

sehr schön, dass die ÖVP nun stärkste<br />

Kraft in Österreich sei. Aber leider habe<br />

auch die FPÖ stark zugelegt. Und: Ein Ergebnis<br />

von nur 31 Prozent so zu feiern,<br />

das sei doch auch etwas seltsam, sinnierte<br />

die Kanzlerin. Sie wolle das Ergebnis der<br />

Union von knapp 33 Prozent keinesfalls<br />

schönreden. Aber verglichen damit habe<br />

Kurz jedenfalls keinen historischen Sieg<br />

eingefahren.<br />

HANS KLAUS TECHT / DPA<br />

Merkel weiß, dass Kurz gute Kontakte<br />

nach Deutschland hat, zu Regierungsmitgliedern<br />

wie Ursula von der Leyen etwa.<br />

Die Kanzlerin dürfte auch nicht vergessen<br />

haben, dass Kurz vor allem 2016 keine Gelegenheit<br />

ausließ, die Bundesregierung in<br />

deutschen Talkshows und TV-Interviews<br />

zu tadeln. „Ich werde mich sicher nicht in<br />

die deutsche Debatte einmischen“, begann<br />

er gern seine Ausführungen. Um dann mit<br />

Blick auf die Kanzlerin nachzuschieben:<br />

„Es geht auch darum, die Wahrheit auszusprechen.“<br />

Oder: „Die Suche nach Schuldigen<br />

nützt ja nichts.“<br />

Merkel reagiert seither oft trotzig, wenn<br />

sie auf Kurz angesprochen wird. „Wenn<br />

Sie mich also fragen, ob die Schließung der<br />

Balkanroute das Problem gelöst hat, sage<br />

ich klar: nein“, erklärte sie im Oktober<br />

2016. Wenig später stand in den CDU-Parteitagsbeschlüssen<br />

jedoch, dass dieser von<br />

Kurz eingeleitete Schritt ein Erfolg sei.<br />

Viele Unionspolitiker loben nun den<br />

Österreicher, manche hinter vorgehaltener<br />

Hand, andere auch offen. „Einige österreichische<br />

Themen wie die Sorge der Menschen<br />

um Sicherheit sind vergleichbar mit<br />

Deutschland“, sagt Paul Ziemiak, Chef der<br />

Jungen Union. Kurz habe einen „sehr bürgernahen<br />

Wahlkampf geführt“, lobt er den<br />

fast gleichaltrigen Politiker. „Klare Sprache<br />

und direkter Dialog stehen bei ihm im Mittelpunkt.“<br />

Nur wenige kritisieren Kurz für seinen<br />

Rechtskurs: „Er hat der FPÖ jedenfalls<br />

nicht geschadet, sie ist stärker als zuvor“,<br />

sagt Vorstandsmitglied Elmar Brok. Kurz’<br />

Rolle in der Flüchtlingspolitik sei „nicht<br />

immer hilfreich“ gewesen, die Auftritte im<br />

deutschen Fernsehen anmaßend. „Ich erkenne<br />

wenig in dem österreichischen Wahlkampf<br />

oder Wahlergebnis, was für die<br />

Union nachahmenswert wäre“, betont<br />

ebenfalls der Außenpolitiker Norbert Röttgen.<br />

„Wir wollen auch im Namen Christdemokraten<br />

bleiben und nicht Anhänger<br />

der Liste des jeweiligen Spitzenkandidaten<br />

werden.“<br />

Als Sebastian Kurz am Donnerstagmittag<br />

im Brüsseler Akademiepalast steht,<br />

läuft auf einmal Angela Merkel an ihm vorbei.<br />

Sie bemerkt ihn nicht. Kurz hastet ihr<br />

nach, im Türrahmen erwischt er sie und<br />

spricht sie von hinten an. Er wolle sie doch<br />

noch mit Handschlag begrüßen, sagt er höflich.<br />

Knapp zehn Minuten sitzen sie dann<br />

beisammen. Nicht lang genug, um wirklich<br />

miteinander warm zu werden. Falls das<br />

überhaupt möglich ist.<br />

Melanie Amann, Markus Feldenkirchen,<br />

Walter Mayr, Peter Müller,<br />

Christoph Scheuermann, Christoph Schult<br />

Video: „Nur eine<br />

Mehrheit rechts der Mitte“<br />

spiegel.de/sp432017kurz<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

83


„Wähler können nicht falschliegen“<br />

SPIEGEL-Gespräch <strong>Der</strong> österreichische Wahlsieger und Außenminister Sebastian Kurz<br />

über eine mögliche Koalition mit der Rechtsaußen-Partei FPÖ, seine harte<br />

Linie in Migrationsfragen und sein Verhältnis zu CDU-Politikern in Deutschland<br />

Politiker Kurz: „Strache hat recht, wenn er sagt, dass es in gewissen Fragen Überschneidungen gibt“<br />

JORK WEISMANN / DER SPIEGEL<br />

84 DER SPIEGEL 43 / 2017


Ausland<br />

SPIEGEL: Herr Kurz, Sie sind 31 Jahre alt<br />

und womöglich bald Bundeskanzler. Sind<br />

Sie sich manchmal selbst unheimlich?<br />

Kurz: Überhaupt nicht. Ich bin mir aber der<br />

großen Verantwortung bewusst. Bei mir<br />

hat sich in den vergangenen Jahren vieles<br />

sehr schnell, aber auch nicht von heute<br />

auf morgen entwickelt. Ich habe mehr als<br />

sechs Jahre Regierungserfahrung. Die Entscheidung<br />

zur Spitzenkandidatur habe ich<br />

mir nicht leicht gemacht. Ich habe mich<br />

im Mai entschieden, die Österreichische<br />

Volkspartei zu verändern, eine breite Bewegung<br />

zu starten – mit dem Ziel, dieses<br />

Land zum Positiven zu verändern.<br />

SPIEGEL: Verstehen Sie, dass es anderen<br />

Leuten unheimlich ist, wenn ein so junger<br />

Mensch die Geschicke eines Landes übernimmt?<br />

Kurz: Wenn’s den Menschen in Österreich<br />

so ginge, dann hätten sie mich wahrscheinlich<br />

nicht gewählt. Die Österreicher konnten<br />

sich in all den Jahren ein Bild von mir<br />

machen. Andere Kandidaten waren wesentlich<br />

kürzer auf der politischen Bühne.<br />

Manche Kandidaten in Deutschland, die<br />

davor auf europäischer Ebene tätig waren,<br />

waren den Wählern vermutlich fremder.<br />

SPIEGEL: Wünschen Sie sich nicht manchmal,<br />

für dieses Amt mehr Lebenserfahrung<br />

zu haben?<br />

Kurz: Jeder ist, was er ist. Man wird nicht<br />

von heute auf morgen 30 Jahre älter. Ältere<br />

haben natürlich den Vorteil breiterer Lebenserfahrung.<br />

Aber deswegen sollte man<br />

sich als junger Mensch nicht in eine Depression<br />

stürzen. Wenn das junge Alter<br />

wirklich ein Problem ist, bleibt immer noch<br />

als Trost: Es wird von Tag zu Tag besser.<br />

SPIEGEL: Ständig wird über Ihr Äußeres geredet<br />

und geschrieben. Ärgert Sie das?<br />

Kurz: Das habe ich nicht so erlebt. Im Wahlkampf<br />

ging es um vieles, um Inhalte, um<br />

Stil, um „dirty campaigning“ mit Methoden,<br />

die wir in Österreich eigentlich nicht<br />

wollen – aber was kaum ein Thema war,<br />

ist die Frage, wie die Spitzenkandidaten<br />

ausschauen.<br />

SPIEGEL: Ihre jugendliche Erscheinung war<br />

schon immer wieder ein Thema.<br />

Kurz: Es sollte um Inhalte gehen. Natürlich<br />

bekomme ich SMS, da steht dann drin:<br />

„Nimm doch eine Krawatte, wenn Du ins<br />

Fernsehen gehst“. Aber danach richte ich<br />

mich nicht.<br />

SPIEGEL: Am Mittwoch ist in Wien ein Magazin<br />

erschienen, auf dessen Cover Sie als<br />

„Neofeschist“ bezeichnet werden – in Anlehnung<br />

an Jörg Haider.<br />

Kurz: Außer mit Haider bin ich auch schon<br />

mit Viktor Orbán verglichen oder als<br />

einer beschrieben worden, der den ganzen<br />

Tag auf dem Schoß von Frau Merkel<br />

hockt. Nichts davon ist Realität, aber ich<br />

nehme zur Kenntnis, dass es in der Politik<br />

und in den Medien dazugehört, jemanden<br />

in eine Schublade zu zwängen. Ich ver -<br />

suche dagegen, mit meinen Ideen zu überzeugen.<br />

SPIEGEL: Bei der Wahl am 15. Oktober kamen<br />

ÖVP und FPÖ zusammen auf fast<br />

60 Prozent. Das gab es noch nie nach dem<br />

Krieg. Was ist der Grund für diese Verschiebung<br />

nach rechts?<br />

Kurz: Auch ÖVP und SPÖ sind zusammen<br />

auf fast 60 Prozent gekommen. Es stimmt:<br />

Auch die FPÖ hat klar dazugewonnen. Das<br />

heißt wohl, dass zusätzliche Wähler die Linie<br />

dieser Partei ansprechend fanden. Wir als<br />

Volkspartei sind eine Kraft aus der Mitte der<br />

Bevölkerung. Als ich im Mai die Partei übernehmen<br />

durfte, haben wir die Entscheidung<br />

getroffen, eine breite Bewegung zu starten.<br />

In den letzten Monaten haben wir 200000<br />

neue Unterstützer gewonnen – in einem kleinen<br />

Land mit neun Millionen Einwohnern.<br />

SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, die Dia -<br />

gnose Rechtsruck sei Quatsch?<br />

Kurz: Ich möchte Diagnosen des SPIEGEL<br />

nicht infrage stellen. Das Wahlergebnis ist<br />

aber eindeutig – die Volkspartei hat diese<br />

Wahl gewonnen. In den letzten 50 Jahren<br />

gab es das zuvor nur einmal, dass kein Sozialdemokrat<br />

der Sieger war. Wir wissen,<br />

dass uns auch viele Grünen-Wähler ihre<br />

Stimme gegeben haben.<br />

SPIEGEL: Wollen Sie künftig nicht eher<br />

rechts Politik machen?<br />

Kurz: Hart arbeitende Menschen in Österreich<br />

können sich immer schwerer etwas<br />

aufbauen. Wir sind ein absolutes Spitzensteuerland.<br />

Es gibt kaum ein Land auf der<br />

Welt, in dem die Differenz zwischen Brutto-<br />

und Nettogehalt so groß ist wie bei uns.<br />

Die Steuer- und Abgabenquote ist deutlich<br />

höher als in Deutschland, obwohl es bei<br />

Ihnen auch funktionierende Spitäler und<br />

Schulen gibt. Wir wollen veraltete Strukturen<br />

aufbrechen, um einen serviceorientierten<br />

schlanken Staat zu schaffen. Seit<br />

1990 haben sich die Ausgaben im Gesundheitssystem<br />

verdreifacht, und trotzdem<br />

wird die Qualität der Leistungen, vor allem<br />

in Wien, immer schlechter. Wir nähern uns<br />

immer mehr der Zweiklassenmedizin.<br />

SPIEGEL: Kann ein Einzelner wirklich eine<br />

Partei, ja gar ein ganzes Land von Grund<br />

auf erneuern?<br />

Kurz: Niemand kann das allein, aber ich<br />

war in meinem ganzen politischen Leben<br />

noch nie allein. Wir haben, ganz im Gegenteil,<br />

die breiteste Bewegung in Österreich<br />

überhaupt geschaffen. Und stellen<br />

nun die größte Zahl auch an neuen Abgeordneten,<br />

die Expertise aus ihren bisherigen<br />

Bereichen mitbringen – aus der Wirtschaft,<br />

aus der Wissenschaft.<br />

SPIEGEL: Was ist Ihnen nun lieber? Eine<br />

schwarz-blaue Koalition mit der FPÖ, was<br />

im Ausland wenig beliebt wäre? Oder eine<br />

schwarz-rote, ein Bündnis mit der SPÖ,<br />

was in Österreich nicht so gut ankäme?<br />

Kurz: Mein Ziel ist eine stabile Regierung,<br />

die auch die Kraft hat, Veränderung möglich<br />

zu machen. Auch eine Minderheits -<br />

regierung ist denkbar, wenn man keinen<br />

Koalitionspartner findet – das ist aber nicht<br />

das Ziel. In Österreich braucht man für<br />

viele Entscheidungen eine Zweidrittelmehrheit.<br />

Das wäre zum Beispiel möglich,<br />

wenn man zusätzlich die Neos (eine liberale<br />

Partei –Red.) hinzuzöge.<br />

SPIEGEL: Aber mit wem wollen Sie re -<br />

gieren?<br />

Kurz: Ich werde mit allen Parteien reden.<br />

Ich muss diese Gespräche abwarten.<br />

SPIEGEL: Eine Koalition mit der SPÖ unter<br />

dem als konservativ geltenden Verteidigungsminister<br />

Hans Peter Doskozil wäre<br />

eine Alternative zur FPÖ?<br />

Kurz: Ich habe mit Doskozil immer sehr<br />

gut zusammengearbeitet und schätze ihn.<br />

SPIEGEL: Ihr wichtigstes Wahlkampfthema<br />

war die Migration. Zeigt Ihr Sieg, dass man<br />

Rechtsaußen-Parteien schlagen kann,<br />

wenn man ihre Themen übernimmt?<br />

Kurz: Politiker sollten das tun, was sie für<br />

richtig erachten, und nicht Strategien verfolgen,<br />

mit denen sie glauben, Wahlen gewinnen<br />

zu können. Ich habe seit Beginn<br />

der Flüchtlingskrise eine klare, konsequente<br />

und – wenn Sie so wollen – harte Linie<br />

gegen illegale Migration verfolgt. In Staaten<br />

wie Österreich sind Ordnung und<br />

Sicherheit in Gefahr, wenn wir Migration<br />

nicht steuern. Es geht nicht nur um Menschen<br />

aus Syrien und dem Irak, sondern<br />

auch um Millionen Menschen in Afrika,<br />

die bereit sind, nach Europa zu kommen,<br />

wenn sie das Gefühl haben, der Weg sei<br />

offen.<br />

SPIEGEL: <strong>Der</strong> FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian<br />

Strache sagt, fast 60 Prozent der Österreicher<br />

hätten diesmal das Programm der<br />

FPÖ gewählt.<br />

Kurz: Strache hat recht, wenn er sagt, dass<br />

es in gewissen Fragen Überschneidungen<br />

und Gemeinsamkeiten in den Programmen<br />

gibt. Wir haben aber bei anderen Themen<br />

auch Gemeinsamkeiten mit anderen<br />

Parteien. Das ist gut so. Wie sollten wir<br />

sonst in der Politik zusammenarbeiten?<br />

Ich würde mir auch auf europäischer Ebene<br />

mehr Übereinstimmung wünschen.<br />

SPIEGEL: Sie werden wegen Ihres Alters<br />

manchmal mit dem französischen Präsidenten<br />

Emmanuel Macron verglichen. <strong>Der</strong><br />

hat den Front National, das Pendant zur<br />

FPÖ, klar bekämpft. Sie halten es für möglich,<br />

mit einer Rechtsaußen-Partei zu koalieren.<br />

Welche Strategie ist richtig?<br />

Kurz: Macron hat den starken Willen, in<br />

Europa etwas zum Positiven zu verändern.<br />

Als europäischer Bürger und österreichischer<br />

Politiker bin ich darüber froh. Ich<br />

werde alles dafür tun, ihn und andere zu<br />

unterstützen, die vorhaben, die EU zu verändern<br />

und damit zu stärken. Was seine<br />

Haltung zu Marine Le Pen angeht: Die<br />

politischen Systeme sind überhaupt nicht<br />

vergleichbar. In Österreich bekommt die<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

85


Ausland<br />

stärkste Partei einen Regierungsauftrag<br />

und muss sich Koalitionspartner suchen.<br />

Für mich gibt es zwei theoretische Partner.<br />

Es ist theoretisch auch möglich, dass die<br />

SPÖ versucht, an der Macht zu bleiben,<br />

indem sie mit der FPÖ eine Koalition gegen<br />

den Wahlgewinner eingeht.<br />

SPIEGEL: Ist die FPÖ für Sie eine ganz normale<br />

Partei? Auch mit dem Parteivorsitzenden<br />

Strache, der sogar Jörg Haider zu<br />

brachial war?<br />

Kurz: Parteien sind unterschiedlich. Ich<br />

habe mit 17 Jahren begonnen, mich politisch<br />

zu engagieren. Ich habe eine ganz<br />

klare Haltung und eine ideologische Festigung.<br />

In einer Demokratie gibt es aber<br />

nicht nur die eigene Meinung. Im österreichischen<br />

Parlament gibt es fünf Parteien,<br />

die alle demokratisch gewählt wurden und<br />

dadurch ihre Berechtigung haben.<br />

SPIEGEL: Sie kennen sicherlich die Bilder<br />

von Strache, der in seiner Jugend in militärischer<br />

Kleidung durch die Wälder streifte.<br />

Er hat lange Beziehungen zur rechten<br />

Szene. Schaudert es Sie nicht, so jemanden<br />

zum Vizekanzler zu machen?<br />

Kurz: Ich kenne die Bilder. Ich glaube, sie<br />

sind in einer Zeit entstanden, als ich noch<br />

nicht einmal auf der Welt war.<br />

SPIEGEL: Das ändert ja nichts.<br />

Kurz: Die Wählerinnen und Wähler haben<br />

das Recht, eine Entscheidung zu treffen.<br />

Sie können sich nicht falsch entscheiden.<br />

Wir sind der klare Wahlgewinner, als proeuropäische<br />

Kraft der Mitte – und es gibt<br />

zwei etwa gleich starke Parteien auf dem<br />

zweiten und dritten Platz.<br />

SPIEGEL: <strong>Der</strong> Wähler kann natürlich wählen,<br />

wie er will. Sie müssten aber nicht mit<br />

einer Partei koalieren, die stark auf Fremdenfeindlichkeit<br />

setzt.<br />

Kurz: Es ist meine Entscheidung, mit wem<br />

ich koaliere, dessen bin ich mir bewusst.<br />

Deshalb werde ich auch Gespräche führen<br />

und versuchen, eine stabile Regierung zum<br />

Wohle unseres Landes zu bilden.<br />

SPIEGEL: Gibt es für Sie rote Linien? Was<br />

ist für Sie nicht verhandelbar?<br />

Kurz: Definitiv gibt es die. Nicht nur nach<br />

rechts, sondern auch nach links. Ich würde<br />

es aber für unangebracht halten, Regierungsverhandlungen<br />

über das deutsche<br />

Politikmagazin DER SPIEGEL zu starten.<br />

Ich bitte Sie da um Ihr Verständnis. Wenn<br />

man in einer Regierung ordentliche Arbeit<br />

für das eigene Land leisten möchte, muss<br />

man mit einem Partner Vertrauen aufbauen<br />

und sich auf Projekte einigen. Wer über<br />

Medien unzählige Bedingungen aufstellt,<br />

wird das nicht tun können.<br />

SPIEGEL: In Deutschland ist das CDU-Präsidiumsmitglied<br />

Jens Spahn ein großer Unterstützer<br />

Ihrer Politik. Er war auch auf<br />

Ihrer Wahlparty. Was schätzen Sie an ihm?<br />

Kurz: Ich habe mich sehr gefreut, dass er<br />

am Wahlabend als Vertreter unserer<br />

Schwesterpartei anwesend war. Ich schätze<br />

Kurz, SPIEGEL-Redakteure*<br />

„Ich habe eine ideologische Festigung“<br />

ihn wegen seiner klaren Haltungen, die er<br />

auch klar artikuliert. Politiker sind oft nicht<br />

so klar, wie sie es gerne wären, aus Sorge<br />

vor negativen Folgen. Gerade als Außenminister<br />

gilt es auch mal, diplomatisch zu<br />

sein. Ich halte ihn für einen Visionär und<br />

Vordenker, habe aber auch zu vielen anderen<br />

in der CDU und CSU ein gutes Verhältnis,<br />

etwa zu Wolfgang Schäuble oder<br />

Ursula von der Leyen. Und ich habe mich<br />

sehr gefreut, dass Angela Merkel mich am<br />

Wahlabend als Erste angerufen hat, um<br />

mir zu gratulieren, und freue mich auf die<br />

Zusammenarbeit mit ihr.<br />

SPIEGEL: Würden Sie Jens Spahn gern als<br />

Bundeskanzler sehen, wenn Merkel mal<br />

nicht mehr will?<br />

Kurz: Es gibt in Deutschland mit Angela<br />

Merkel eine Kanzlerin, eine der erfahrensten<br />

Politikerinnen Europas, die es geschafft<br />

hat, das vierte Mal in Folge eine Wahl zu<br />

gewinnen. Sie hat ein tolles Team, mit Persönlichkeiten<br />

wie Jens Spahn und anderen,<br />

die natürlich in ihrem Leben noch alles erreichen<br />

können.<br />

SPIEGEL: Als Sie 2016 die Schließung der<br />

Westbalkanroute vorbereitet haben, zum<br />

Teil hinter dem Rücken Merkels, hatten<br />

Sie da Kontakt zu CDU-Politikern?<br />

Kurz: Wir haben immer einen guten Kontakt<br />

zwischen Österreich und Deutschland<br />

gehabt, auch wenn wir in der Migrationsfrage<br />

nicht immer einer Meinung waren.<br />

SPIEGEL: In der CDU wird über Ihre Person<br />

ein Richtungskampf ausgetragen. <strong>Der</strong> rechte<br />

Flügel sucht Ihre Nähe. Viele finden:<br />

Lass uns mehr Kurz wagen.<br />

Kurz: Ich habe in der Migrationsfrage eine<br />

klare Haltung. Aber es gibt auch andere<br />

Themen als nur die Migration – da bin ich<br />

dann wieder mit anderen in der CDU einig.<br />

So ist das in der Politik.<br />

SPIEGEL: Angela Merkel und die Union haben<br />

die Bundestagswahl gewonnen, aber<br />

mehr als acht Prozent der Stimmen verloren.<br />

Woran lag das aus Ihrer Sicht?<br />

Kurz: Die Union hat bei dieser Wahl 33 Prozent<br />

erreicht, ich habe bei uns 31,5 Prozent<br />

erreicht. Das ist für uns ein extrem hohes<br />

Ergebnis. Wenn die Union von jemandem<br />

Tipps braucht, dann sicher nicht von Par-<br />

* Walter Mayr, Markus Feldenkirchen und Mathieu von<br />

Rohr in Wien.<br />

JORK WEISMANN / DER SPIEGEL<br />

teien, die schlechtere Ergebnisse erzielt<br />

haben.<br />

SPIEGEL: Was war aus Ihrer Sicht wichtiger<br />

für das Ende der Flüchtlingskrise 2016: Die<br />

Schließung der Balkanroute, die Sie vorangetrieben<br />

haben, oder das von Merkel favorisierte<br />

EU-Abkommen mit der Türkei?<br />

Kurz: Beides hat gewirkt, beides war sinnvoll.<br />

Jede Maßnahme, die dazu beiträgt,<br />

illegale Migration zu stoppen und Hilfe<br />

vor Ort zu stärken, ist eine gute Maßnahme.<br />

Es hat sich in den letzten Monaten auf<br />

europäischer Ebene Gott sei Dank vieles<br />

in die richtige Richtung entwickelt, die Italiener<br />

haben ihre Politik massiv verändert.<br />

Es ist aber eine fatale Fehleinschätzung,<br />

wenn manche nun glauben, die Migra -<br />

tionsfrage sei gelöst und man könne sich<br />

zurücklehnen. Die Zahlen sind zwar etwas<br />

niedriger als in den Vorjahren, aber immer<br />

noch zu hoch, und der Migrationsdruck<br />

wird nicht nachlassen.<br />

SPIEGEL: Was fordern Sie?<br />

Kurz: Wir müssen auf europäischer Ebene<br />

massiv dafür kämpfen, illegale Migration<br />

zu stoppen. Wir müssen ein vollkommen<br />

neues Frontex-Mandat schaffen, einen gemeinsamen<br />

Außengrenzschutz aufbauen,<br />

bei dem die Italiener und Griechen nicht<br />

alleingelassen werden. In Österreich sind<br />

wir bereit, mit Polizei und Soldaten unseren<br />

Beitrag zu leisten.<br />

SPIEGEL: Im Wahlkampf haben Sie davon<br />

gesprochen, die Mittelmeerroute zu schließen.<br />

Wie soll das gehen?<br />

Kurz: Wir müssen klarstellen: Wer sich il -<br />

legal auf den Weg macht, wird kein Asyl in<br />

Europa bekommen. Wir sollten Menschen<br />

an der EU-Außengrenze retten, versorgen<br />

und zurückstellen in die Herkunfts- und<br />

Transitländer. Wir sollten Menschen ausschließlich<br />

über Resettlement-Programme<br />

aufnehmen und die Hilfe vor Ort ausbauen.<br />

SPIEGEL: Wie soll das funktionieren? Sie<br />

wollen die Boote stoppen und die Insassen<br />

in Libyen wieder ausladen?<br />

Kurz: Zunächst müssen wir besser mit der<br />

libyschen Küstenwache kooperieren, damit<br />

die Menschen sich gar nicht auf den Weg<br />

machen und die Schiffe nicht ablegen können.<br />

Sobald jemand gerettet wird, darf er<br />

nicht aufs italienische Festland gebracht<br />

werden. Wenn die Menschen nicht zurückgebracht<br />

werden können, dann sollen sie<br />

in sichere Zentren, wo sie Schutz und Versorgung<br />

bekommen, aber nicht das bessere<br />

Leben in Europa. Wenn wir ihnen das ermöglichen,<br />

machen sich immer mehr Menschen<br />

auf den Weg.<br />

SPIEGEL: Was war auf dem Höhepunkt der<br />

Flüchtlingskrise 2015 der Fehler der deutschen<br />

Bundeskanzlerin?<br />

Kurz: Es geht nicht um den Fehler der deutschen<br />

Bundeskanzlerin. Es gab in Europa<br />

viele, die für eine falsche Politik eingetreten<br />

sind: eine Politik der offenen Grenzen.<br />

Die hatten den Glauben, dass jeder, der<br />

86 DER SPIEGEL 43 / 2017


nach Europa durchkommt, das Recht haben<br />

soll, einen Asylantrag zu stellen. Deshalb<br />

haben immer mehr ihre Chance gesehen,<br />

und das führte zu einer Überforderung<br />

bei uns und zu immer mehr Toten<br />

im Mittelmeer. Das habe ich immer abgelehnt,<br />

wird heute aber Gott sei Dank auch<br />

kaum von jemandem noch verfolgt.<br />

SPIEGEL: Werden Sie sich in der EU in der<br />

Migrationsfrage mit den osteuropäischen<br />

Ländern zusammenschließen?<br />

Kurz: Ich freue mich über jeden Staat in<br />

der EU, der in der Migrationsfrage eine<br />

ähnliche Sichtweise hat. Das sind mittlerweile<br />

sehr, sehr viele, und es werden monatlich<br />

mehr. Wir lösen die Migrationsfrage<br />

nicht durch mehr Verteilung in Europa.<br />

SPIEGEL: Wie sehen Sie Ihre Rolle im<br />

Umgang mit Ungarn oder Tschechien, Länder,<br />

zu denen Österreich enge Beziehungen<br />

hat?<br />

Kurz: Österreich ist ein Land, das Brückenkopf<br />

zwischen Ost und West in Europa<br />

sein kann. Wirtschaftlich hat uns das immer<br />

sehr genutzt, auch politisch halte ich<br />

das für unsere Aufgabe.<br />

SPIEGEL: Sie bezeichnen sich als überzeugten<br />

Europäer, koalieren aber womöglich<br />

bald mit einer europaskeptischen Partei.<br />

Was wollen Sie erreichen, wenn Österreich<br />

nächstes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft<br />

übernimmt?<br />

Kurz: Ich bin Vertreter einer bürgerlichen<br />

Partei und habe von den Wählern den Auftrag<br />

erhalten, eine proeuropäische Kraft<br />

der Veränderung zu sein. Wir möchten erreichen,<br />

dass die EU subsidiärer wird und<br />

in manchen Fragen besser zusammenarbeitet,<br />

sich aber da zurücknimmt, wo Nationalstaaten<br />

besser entscheiden können.<br />

SPIEGEL: Was heißt das konkret?<br />

Kurz: Wir brauchen in der Außen- und Verteidigungspolitik<br />

eine engere Zusammenarbeit.<br />

Das wollen gerade die großen Staaten<br />

oft nicht so gern, wir schon. Wir brauchen<br />

aber keine Sozialunion, davon halte<br />

ich nichts. Wie soll das funktionieren? Sollen<br />

die österreichischen Sozialstandards<br />

auf rumänisches Niveau gesenkt werden?<br />

Soll in Rumänien die österreichische Mindestsicherung<br />

von monatlich 850 Euro eingeführt<br />

werden, was weit mehr als das<br />

Durchschnittseinkommen wäre? Wir brauchen<br />

nicht immer mehr Regeln in Europa,<br />

wir sollten dafür sorgen, dass die bestehenden<br />

Regeln eingehalten werden – von<br />

Maastricht bis Dublin.<br />

SPIEGEL: Werden Sie sich in Brüssel gegen<br />

die Reformideen etwa von Emmanuel<br />

Macron stellen?<br />

Kurz: Ich schätze viele seiner Vorschläge.<br />

Gerade was die Migration betrifft, auch zu<br />

Sicherheitsfragen. Was die Budgetpolitik<br />

betrifft, sind wir näher an Deutschland.<br />

Da teile ich die Linie Schäubles. In manchen<br />

Fragen teile ich übrigens weder die<br />

deutsche noch die französische Meinung.<br />

Das soll’s auch geben dürfen.<br />

SPIEGEL: Was machen Sie, wenn die Sozialdemokraten<br />

und Freiheitlichen gegen Sie<br />

eine Regierung bilden?<br />

Kurz: Die Zügel nach der Wahl hat der Bundespräsident<br />

in der Hand. Die Frage stellt<br />

sich derzeit nicht.<br />

SPIEGEL: Sie wurden mit 27 Jahren Außenminister,<br />

mit 31 Jahren womöglich Bundeskanzler.<br />

Was machen Sie eigentlich mit<br />

45? Gibt es da noch Ziele?<br />

Kurz: Ich bin ein sehr begeisterungsfähiger<br />

Mensch, und mir hat alles, was ich bisher in<br />

meinem Leben unternommen habe, Freude<br />

gemacht. Für mich war immer klar, dass ich<br />

nicht mein ganzes Leben in der Politik verbringe.<br />

Solange ich das Gefühl habe, etwas<br />

beitragen zu können, werde ich das tun. Ich<br />

habe aber, um ehrlich zu sein, überhaupt<br />

keine Sorge, dass es außerhalb der Politik<br />

nicht auch schöne Dinge im Leben gibt.<br />

SPIEGEL: Herr Kurz, wir danken Ihnen für<br />

dieses Gespräch.<br />

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Europas falsche Freunde<br />

Essay Wer die Nationen abschaffen will, fördert die Nationalisten.<br />

Von Heinrich August Winkler<br />

Pro-spanische Demonstranten in Barcelona: <strong>Der</strong> Staat als Hüter von Recht und Demokratie<br />

ETIENNE DE MALGLAIVE / GETTY IMAGES<br />

Ist Walter Hallstein, der erste Präsident der Kommission<br />

der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den Jahren<br />

1958 bis 1967, wirklich der Vordenker der europäischen<br />

Sezessionisten, als der er neuerdings von einigen<br />

Autoren porträtiert wird? Drei mehr oder weniger gleichlautende<br />

Äußerungen werden ihm zugeschrieben. Erstens:<br />

„Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee.“<br />

Zweitens: „Das Ziel des europäischen Einigungsprozesses<br />

ist die Überwindung der Nationalstaaten.“ Drittens: „Ziel<br />

ist und bleibt die Überwindung der Nation und die Organisation<br />

eines nachnationalen Europa.“<br />

In den Reden und Schriften Walter Hallsteins sind diese<br />

Aussagen nicht zu finden. Dennoch behaupten der österreichische<br />

Schriftsteller Robert Menasse, auf der Frankfurter<br />

Buchmesse soeben für seinen Brüssel-Roman „Die<br />

Hauptstadt“ mit dem Deutschen Buchpreis geehrt, seine<br />

deutsche Mitstreiterin, die Politologin Ulrike Guérot, und<br />

nun auch Jakob Augstein (SPIEGEL 42/2017), dass Hallstein<br />

sich so geäußert habe. Augstein, der das dritte Zitat offenbar<br />

von Menasse übernimmt, mit der Einschränkung,<br />

der Kommissionspräsident „solle“ dies gesagt haben.<br />

Leider sagen Menasse und Guérot nicht, wo sie die angeblich<br />

wörtlichen Zitate von Hallstein gefunden haben,<br />

und wir erfahren von ihnen auch nicht, wann, wo und in<br />

welchem Zusammenhang er sich so geäußert haben soll.<br />

Menasse erwähnt wohl zwei wichtige Reden des Europapolitikers,<br />

aber was Hallstein dort sagt, widerspricht dem,<br />

was sein Interpret ihm unterstellt. In seiner ersten Rede<br />

vor dem Europäischen Parlament beschrieb der Kommissionspräsident<br />

am 19. März 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft<br />

als eine „Staatengemeinschaft mit<br />

starken föderativen Zügen“. Vor dem Europäischen Gemeindetag<br />

in Rom erteilte er zwar am 15. Oktober 1964<br />

der Idee der nationalstaatlichen Souveränität alten Stils<br />

„und der heutigen politischen Form der Nationen“ eine<br />

Absage, ebenso aber auch der Folgerung, „dass die be -<br />

stehende politische Ordnung ausgelöscht, durch einen<br />

europäischen Supranationalstaat ersetzt wird“. Es gehe<br />

vielmehr darum, die „Kraftquellen der Nationen zu erhalten,<br />

ja sie zu noch lebendigerer Wirkung zu bringen“.<br />

Falls Guérot und Menasse sich auf Quellen stützen können,<br />

die der bisherigen Forschung nicht bekannt waren,<br />

sollten sie diese nennen. Solange es keine belastbaren Belege<br />

für die Hallstein zugeschriebenen Zitate gibt, müssen<br />

diese als apokryph, das heißt als unecht, gelten. Die Lesart<br />

vom post-, ja antinationalen EU-Vorkämpfer Hallstein<br />

dürfte eine Legende oder, anders gewendet, Ausfluss einer<br />

postfaktischen Geschichtsbetrachtung sein.<br />

Doch Hallstein hin oder her, auch ohne die problematische<br />

Berufung auf ihn gibt es genug Gründe, sich kritisch<br />

mit den Thesen von Menasse, Guérot und Augstein aus -<br />

einanderzusetzen. „Nationen haben sich bekriegt, Regionen<br />

haben gelitten, immer wieder ihre Eigenheiten bewahrt,<br />

Regionen sind die Herzwurzel der Identität“, heißt<br />

88 DER SPIEGEL 43 / 2017


Ausland<br />

es in einem Text von Robert Menasse. Glaubt der Autor<br />

wirklich, dass regionale Sezessionsbewegungen von Natur<br />

aus friedlich sind? Hat er den jahrzehntelangen Terror<br />

der baskischen ETA, der nordirischen IRA und der Süd -<br />

tiroler Separatisten vergessen?<br />

Menasse übersieht zudem, dass Regionalismus und Nationalismus<br />

keine Gegensätze sein müssen. Die Schotten betrachten<br />

sich ebenso wie die Katalanen als Nation, und dafür<br />

gibt es gute historische Gründe. Beim aktuellen Konflikt um<br />

die Unabhängigkeit Kataloniens prallen zwei Nationalismen<br />

aufeinander, der spanische und der katalanische. Die Gegenüberstellung<br />

von friedlicher Region und kriegerischer<br />

Nation ist ein Produkt ahistorischen Wunschdenkens.<br />

Augstein plädiert dafür, ganz im Sinne von Menasse<br />

und Guérot, die Landkarten neu zu sortieren, und begründet<br />

das so: „Das Europa der Regionen wäre das gerechtere<br />

Europa.“ Wenn er sich da mal nicht irrt. <strong>Der</strong> Separatismus<br />

der Katalanen, Flamen und der Norditaliener<br />

von der Lega Nord ist von Wohlstandschauvinismus geprägt.<br />

Die dortigen Sezessionsbewegungen wehren sich<br />

gegen die Zumutung, Solidarität gegenüber den sozial<br />

schwächeren Regionen des jeweiligen Landes üben zu<br />

müssen. Einen militanten Regionalismus treffen wir nur<br />

in wohlhabenden, nicht in strukturell benachteiligten Gegenden<br />

an. Die Letzteren wären die Opfer, nicht die Nutznießer<br />

jener „Dekonstruktion der Nationalstaaten“, für<br />

die Ulrike Guérot bereits einen festen Zeitplan vorgesehen<br />

hat: Im Jahr 2045, wenn sich das Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

zum 100. Mal jährt, soll dieser Prozess abgeschlossen<br />

sein und die Europäische Republik errichtet werden.<br />

Für die Freunde der Europäischen Republik spielt es<br />

offenbar keine Rolle, ob die Völker Europas die Auflösung<br />

der Nationalstaaten und deren Ersetzung<br />

durch Regionen überhaupt wollen. In den meisten Staaten<br />

der Europäischen Union gibt es zurzeit nicht die geringsten<br />

Anzeichen für einen erstarkenden Sezessionismus. Ihre<br />

Bürger empfinden unbeschadet aller regionalen Besonderheiten<br />

die Zugehörigkeit zu ihrer Nation als selbstverständlich,<br />

und im Nationalstaat sehen sie den einzig verlässlichen<br />

Hüter von Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie.<br />

Das ficht Menasse aber nicht im Geringsten an. Er sieht<br />

die nationalstaatliche Demokratie ohnehin nur als Relikt<br />

der Vergangenheit, das zu erhalten sich nicht lohnt. In seinem<br />

2012 erschienenen Buch „<strong>Der</strong> Europäische Landbote“<br />

schreibt er, man müsse sich mit dem Gedanken anfreunden,<br />

„die Demokratie erst einmal zu vergessen, ihre Institutionen<br />

abzuschaffen, soweit sie nationale Institutionen<br />

sind, und dieses Modell einer Demokratie, das uns so<br />

heilig und wertvoll erscheint, weil es uns vertraut ist, dem<br />

Untergang zu weihen. Wir müssen stoßen, was ohnehin<br />

fallen wird, wenn das europäische Projekt gelingt. Wir<br />

müssen dieses letzte Tabu der aufgeklärten Gesellschaften<br />

brechen, dass unsere Demokratie ein heiliges Gut ist“.<br />

Die Konturen der neuen nachnationalen Demokratie,<br />

die es Menasse zufolge zu erfinden gilt, bleiben im Dunkeln.<br />

Er selbst wisse nicht, wie sie aussehen werde, räumt<br />

er ein. Vermutlich setzt er aber auch hier auf die über -<br />

legene Einsicht der von ihm verklärten Brüsseler Beamten,<br />

in denen er den Geist des aufgeklärten Absolutismus habsburgischer<br />

Prägung fortleben sieht. Sie sollen, so scheint<br />

es, den Kern jener sich allmählich herausformenden „wirklich<br />

universalen Klasse“ bilden, „deren Engagement zu einem<br />

System eines universalen Rechtszustands in Freiheit<br />

für alle, in Nachhaltigkeit führen wird“. Dass eine derart<br />

aufgeklärte Elite keines demokratischen Mandats bedarf,<br />

ergibt sich daraus mit zwingender Logik. Denn dieses Mandat<br />

würde ja noch die Spuren der nationalen Demokratie<br />

in sich tragen und damit nicht „wirklich universal“ sein.<br />

Die Pioniere der westeuropäischen Einigung haben aus<br />

den Erfahrungen der beiden Weltkriege den Schluss gezogen,<br />

dass es den Nationalismus zu überwinden galt, der<br />

Europa an den Rand der Selbstzerstörung getrieben hatte.<br />

<strong>Der</strong> klassische, isolierte, uneingeschränkt souveräne Nationalstaat<br />

hatte aus ihrer wohlbegründeten Sicht zumindest<br />

in Europa keine Zukunft mehr. Die Mitglieder des<br />

Staatenverbunds, den sie schufen, sind denn auch postklassische<br />

Nationalstaaten, die Teile ihrer Hoheitsrechte<br />

gemeinsam ausüben und andere Teile auf supranationale<br />

Einrichtungen übertragen haben.<br />

Die Abschaffung der Nationen und Nationalstaaten<br />

aber lag nicht in der Absicht der Wegbereiter der Europäischen<br />

Union und auch nicht in der von Walter Hallstein,<br />

dem Verfechter eines bundesstaatlich verfassten Europas.<br />

Sie waren sich bewusst, dass die Wurzeln der meisten europäischen<br />

Nationen bis tief ins Mittelalter zurückreichen<br />

und die der älteren Nationalstaaten ebenfalls. Sie hatten<br />

recht: Zu den Besonderheiten Europas gehört seine historisch<br />

gewachsene nationale Vielfalt. Wer die Nationen<br />

und die Nationalstaaten abschaffen will, zerstört Europa<br />

und fördert den Nationalismus. Menasse und seine Mitstreiter<br />

befinden sich auf einem Holzweg.<br />

Gerade ist von Heinrich August Winkler das neue Buch „Zerbricht<br />

der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und<br />

Amerika“ erschienen.<br />

„AUS WELCHEM LAND DIE<br />

HÄHNCHEN KOMMEN, IST UNSEREN GÄSTEN<br />

WICHTIG. DARUM SAGEN WIR ES IHNEN.“<br />

Katja Albers, Luxor Grill Düsseldorf<br />

Höchste Zeit für eine verbindliche Herkunftskennzeichnung<br />

auf Speise karten: 84 % der Verbraucher ist es wichtig, dass<br />

ihr Geflügel fleisch aus Deutschland kommt. Trotzdem gehen<br />

noch zu wenige Gastronomen mit gutem Beispiel voran und<br />

informieren, woher ihr Fleisch stammt.<br />

Geflügel-Charta.de


Warlord City<br />

Somalia Die Reichen essen Hummer, die Terroristen machen Geld, der Tod ist eine Autobombe entfernt.<br />

Das ist Mogadischu, eine Stadt, die vom Krieg lebt. Von Fritz Schaap und Christian Werner (Fotos)<br />

Als der Krieg in den Country Club<br />

von Mogadischu kam, waren die<br />

ersten Gänge gerade serviert worden.<br />

50 Gäste, Geschäftemacher und Regierungsleute,<br />

saßen an langen Tafeln, auf<br />

den Tischen standen Schüsseln voller Kameleintopf,<br />

Zicklein, Hummer, Schwertfisch.<br />

Dann detonierte ein Transporter vor<br />

dem Tor, gefüllt mit Sprengstoff, die Explosion<br />

pulverisierte Teile der Schutzmauer,<br />

fegte das oberste Stockwerk von der<br />

Villa und zerstörte ihre ganze Vorderseite.<br />

Danach feuerten vier Angreifer mit<br />

Sturmgewehren auf die Sicherheitsleute<br />

des Country Club, stürmten ein gegenüberliegendes<br />

Restaurant, und als zwölf Stunden<br />

später der letzte Kämpfer endlich erschossen<br />

wurde, waren 3 Wachleute und<br />

16 Gäste tot.<br />

Sechs Wochen später ist von dem Anschlag<br />

nichts mehr zu sehen. Es ist ein<br />

Montagvormittag, und Manar Moalin wartet<br />

auf ihre Gäste. Sie steht auf einem Geschützturm<br />

am Eingang, eine 33-Jährige,<br />

die Lippen rot geschminkt, der Lidschatten<br />

golden, und betrachtet die Straßensperren<br />

an der Kreuzung, einen gepanzerten Wagen,<br />

der gerade die Betonbarrieren umkurvt,<br />

und die schwer bewaffneten Sicherheitsleute<br />

vor ihrem Country Club, die im<br />

Schatten lehnen und Kat kauen.<br />

Ein zweieinhalb Meter breiter Wall aus<br />

Sand und Zement schützt nun den Klub,<br />

die Villa leuchtet in frischem Weiß. Kokospalmen<br />

und Gummibäume säumen zwei<br />

offene Hütten, die mit Palmwedeln gedeckt<br />

sind. <strong>Der</strong> Country Club von Mogadischu<br />

ist eine Mischung aus Palast, Festung<br />

und Bretterverschlag, vor allem aber:<br />

Refugium hoher Regierungsleute, Treffpunkt<br />

von Geschäftsleuten und den Reichen<br />

der Stadt. <strong>Der</strong> vielleicht seltsamste<br />

Ort von Mogadischu, Hauptstadt des gescheitertsten<br />

aller Staaten. Seit 27 Jahren<br />

ohne eine Regierung, die alle Teile des<br />

Landes kontrolliert, seit drei Jahrzehnten<br />

im Krieg.<br />

Warlords und dubiose Geschäftsmänner<br />

herrschen hier und natürlich al-Schabab,<br />

Verbündete von al-Qaida, auf deren Konto<br />

allein im vergangenen Jahr mehr als 4200<br />

Tote gingen. Auch der Anschlag vom vergangenen<br />

Sonnabend, bei dem mehr als<br />

300 Menschen starben, wird ihnen zugeschrieben.<br />

Und doch boomt Mogadischu.<br />

Die Stadt ist eine Metropole des Grauens,<br />

ihr Geschäftsmodell das Chaos.<br />

Manar Moalin verlässt ihren Aussichtspunkt<br />

und setzt sich auf eine Art Holzthron<br />

90 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

im Garten. Ein paar Zwergantilopen zittern<br />

im Wind, eine Riesenschildkröte kriecht vorbei.<br />

Ihr blaues Kopftuch hat Moalin wie ein<br />

Pirat um den Kopf gebunden. Sie trägt ein<br />

kobaltblaues Hemd unter einer schwarzen<br />

Weste, enge Jeans, einen goldenen Nasenring.<br />

Das trockene Ploppen einer Maschinengewehrsalve<br />

weht herüber. „So laufen<br />

eben die Geschäfte hier“, sagt sie und deutet<br />

auf die letzten Spuren der Zerstörung.<br />

Moalins Stimme klingt jung, rau, nach<br />

Londoner West End. Dort, in London, hat<br />

sie studiert, Wirtschaft; aber geboren<br />

wurde sie in Somalia, aufgewachsen ist sie<br />

in Italien. In Dubai betrieb sie ein Luxusspa.<br />

Es war ein gutes Leben, doch dann<br />

zog es ihre Mutter 2009 nach Mogadischu,<br />

und auch Moalin hatte das Gefühl, es sei<br />

Zeit, in ihre Geburtsstadt zurückzukehren.<br />

Sie kam für einen ersten Besuch, dann wieder,<br />

schließlich für immer. Vor fast drei<br />

Jahren, im Dezember 2014, eröffnete sie<br />

ihren Klub.<br />

Das erste Jahr drohte sie zu zerbrechen.<br />

In Mogadischu braucht jeder Verbündete.<br />

Moalin hatte keine. Die Konkurrenz ließ<br />

den Klub vom Geheimdienst stürmen, ein<br />

paar Clanführer aus dem Viertel ließen<br />

eine Privatarmee davor aufmarschieren,<br />

man drohte ihr, man denunzierte sie, raubte<br />

sie aus. Mehr als einmal hatte sie eine<br />

Gewehrmündung an der Stirn. Es dauerte<br />

zwölf Monate, bis sie die Regeln verstanden<br />

hatte. „Ich habe hier meine Freiheit,<br />

meine Ruhe, meine Gesundheit verloren“,<br />

sagt sie. „Ich kann nicht anziehen, was ich<br />

will, nicht gehen, wohin ich will. Ich wohne<br />

in einer Festung, die ich nie verlasse.“<br />

Aber fortgehen will sie trotzdem nicht.<br />

Zweimal kam ihr Bruder, um sie wieder<br />

nach Dubai zu holen. Die Kinder wollen<br />

sie zurück, der Ehemann auch. Doch Moalin<br />

bleibt. Aus Trotz. Und weil sie in ihrer<br />

Heimat etwas voranbringen will.<br />

„Es geht mir mittlerweile weniger ums<br />

Geld als ums Prinzip“, sagt sie. Sie will<br />

sich, wie so viele Rückkehrer, nicht noch<br />

einmal vertreiben lassen. Aber natürlich<br />

geht es auch ums Geld. „Man kann hier<br />

so reich werden wie nirgendwo sonst.“<br />

Auch beim Angriff auf ihren Klub spielte<br />

Geld eine Rolle. Moalin sagt, sie zahle<br />

kein Schutzgeld. Das war der eine Grund.<br />

<strong>Der</strong> andere war, dass Geschäftsleute aus<br />

dem Viertel ihren Klub übernehmen wollten,<br />

sie sollen Schabab-Kämpfer für den<br />

Anschlag angeheuert haben.<br />

Nachdem Rebellen 1991 den Diktator<br />

Siad Barre gestürzt hatten, übernahmen<br />

Clans und Warlords die Macht, später auch<br />

al-Schabab. Schätzungsweise zweieinhalb<br />

Millionen Somalier wurden vertrieben, gut<br />

eine Million floh ins Ausland, bis zu anderthalb<br />

Millionen kamen infolge des Konflikts<br />

um, die meisten davon Zivilisten.<br />

Das Land machte Schlagzeilen mit Piraten,<br />

Entführungen, Terroranschlägen, Hungersnöten.<br />

Es gibt eigentlich kein Somalia<br />

mehr, nichts, was einen Staat ausmacht,<br />

keine Justiz, keine Polizei, keine Steuern.<br />

Aber seit dem Frühjahr gibt es eine neue<br />

Regierung. Seither sprechen europäische<br />

Diplomaten von einem „window of opportunity“.<br />

Auch wenn die Wahl nicht mehr<br />

war als ein großes Herumschieben von Bestechungsgeldern,<br />

angeblich wurden bis<br />

zu 1,3 Millionen Dollar für einen Sitz im<br />

Parlament gezahlt. Auch wenn es nicht die<br />

Bürger waren, die wählten, sondern 14025<br />

Clanabgesandte. Und auch wenn Mogadischu<br />

der einzige Ort ist, den diese Regierung<br />

einigermaßen kontrolliert. Denn<br />

einen großen Teil des Landes beherrscht<br />

weiterhin al-Schabab.<br />

Vor sechs Jahren wurden die Extremisten<br />

aus Mogadischu vertrieben. Doch das heißt<br />

nicht, dass Frieden herrscht. Es wird nur<br />

ein bisschen weniger gestorben. Die größte<br />

Gefahr sind nun die Autobomben. Es gibt<br />

noch immer ganze Viertel, die in Schutt liegen,<br />

von Kugeln durchsiebte Fassaden,<br />

Menschen, die in Ruinen leben. Doch neben<br />

den Skeletten der Villen sind Neubauten<br />

entstanden. <strong>Der</strong> Immobilienmarkt<br />

wächst, bis zu eine Million Dollar kosten<br />

neue Villen. Hotels eröffnen, Restaurants,<br />

Taxiunternehmen, Banken. Mehr als<br />

100000 Somalier sind in den vergangenen<br />

Jahren aus dem Ausland zurückgekehrt.<br />

Es ist früher Nachmittag, im Country<br />

Club fahren immer mehr Land Cruiser vor,<br />

gepanzert und mit getönten Scheiben.<br />

Moalin steht am Eingang und begrüßt ihre<br />

Gäste, Parlamentarier, Geschäftsleute, die<br />

Chefs des Staatsfernsehens. Schüsse sind<br />

zu hören, aber niemand beachtet sie. Die<br />

Eskorten von zwei Gästen beschießen sich,<br />

eine Verwechslung.<br />

Moalin führt die Männer in einen von<br />

grünen Lichterketten beleuchteten Raum.<br />

<strong>Der</strong> Gang der Klubchefin erinnert an den<br />

eines Boxers, breit und stolz. Es wird Goldmakrele<br />

an Linguine mit einem Tomaten-<br />

Koriander-Sugo serviert. Ein Geschäftsmann<br />

ordert einen Hummer. „Allahu akbar“,<br />

ruft der Muezzin über die Köpfe,<br />

doch niemanden kümmert es. <strong>Der</strong> Country<br />

Club, das ist auch ein Ort der Freiheit


Ausland<br />

CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL<br />

Country-Club-Betreiberin Moalin: „Die Somalis haben im Krieg viel verloren, vor allem ihre Seele“<br />

CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL<br />

Soldaten im Hafenviertel von Mogadischu: Neben den Ruinen entstehen neue Villen für eine Million Dollar<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

91


Eingang des VIP-Bereichs im Country Club: Treffpunkt von Politikern und windigen Geschäftemachern<br />

CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL<br />

92 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

und Zuflucht in einer von Religion und<br />

Krieg zerrütteten Stadt.<br />

„Die Somalis“, sagt Moalin, „haben im<br />

Krieg viel verloren, vor allem ihre Seele.“<br />

Als das Mörserfeuer die Stadt in Flammen<br />

aufgehen ließ, sei auch die Moral ausgebrannt.<br />

Zurück blieb nur der nackte Wille<br />

zum Überleben. Mitgefühl und Menschlichkeit<br />

seien verschwunden, sagte Moalin.<br />

Mogadischu wurde zu einer skrupellosen<br />

Finanzmetropole der anderen Art.<br />

An einem Tisch weit hinten im Garten,<br />

wo die Wasserpfeifen in langen Reihen stehen,<br />

sitzt ein kleiner, gedrungener Mann<br />

mit weichem Gesicht und amerikanischem<br />

Ostküstenakzent, mit viel Pomade im<br />

Haar und einem schmal geschnittenen<br />

Anzug. Mohamed Said ist Abgeordneter<br />

und Berater des Präsidenten. Er ist fast<br />

täglich im Klub und kennt beinahe jeden<br />

in der Regierung. Er weiß, wie diese Stadt<br />

funktioniert.<br />

„Mogadischu“, sagt er, „wird noch immer<br />

von Warlords beherrscht.“<br />

Die neuen Warlords trügen keine Patronengurte,<br />

befehligten keine Kindersoldaten<br />

mit glasigen Augen mehr. Nein, sie seien<br />

Geschäftsleute. Doch ihre Interessen<br />

setzten sie mit den gleichen Mitteln durch,<br />

mit Waffen, Autobomben, Entführungen<br />

und Enthauptungen.<br />

Said lässt seine Brille mit dem dünnen<br />

Goldrand auf die Nasenspitze rutschen<br />

und schaut in den Rauch der Wasserpfeife,<br />

dann spricht er leise, wie fast jeder in Mogadischu,<br />

der etwas zu sagen hat. Aufmerksamkeit<br />

zu erregen kann tödlich sein.<br />

Es würden hier in Somalia nicht Geschäfte<br />

gemacht, um einen Krieg zu finanzieren.<br />

Es werde nicht um Land gekämpft oder<br />

um Ideologien. Es werde Krieg geführt,<br />

weil er die Geschäfte am Laufen halte.<br />

Wieder Schüsse, diesmal auf der Hauptstraße.<br />

Angehörige eines mächtigen Clans<br />

demonstrieren; einer der Ihren wurde zum<br />

Tode verurteilt, weil er den Minister für<br />

Wiederaufbau erschossen hatte. Aus Versehen,<br />

sagen seine Stammesbrüder.<br />

Die Stadt ist nervös.<br />

Al-Schabab, so scheint<br />

es, startet eine<br />

neue Offensive der Angst.<br />

Natürlich gebe es aber auch Hoffnung,<br />

sagt der Abgeordnete. „Die neue Regierung<br />

besteht zum Großteil aus Technokraten,<br />

die aus der Diaspora zurückgekehrt<br />

sind und keine starken Clanverbindungen<br />

haben.“ Das allerdings sei zugleich auch<br />

ein Problem. Denn die Männer, die im<br />

Land geblieben seien, respektierten jene<br />

nicht, die in den USA, in Norwegen, in<br />

England studiert hätten.<br />

Und das sei nicht alles, denn die wahre<br />

Macht liege ohnehin nicht bei der Regierung.<br />

„Die Leute, die die großen Konzerne<br />

für Telekommunikation, Strom und Wasser<br />

kontrollieren, sind die wahren Herrscher<br />

der Stadt“, sagt Said. Und sie alle<br />

hätten enge Verbindungen zu al-Schabab.<br />

Gerade, erzählt er, sei die Regierung mit<br />

einem gewagten Plan vorgeprescht: Jeder,<br />

der an al-Schabab Steuern zahle, solle bestraft<br />

werden. Doch die Geschäftsleute hätten<br />

protestiert, der Plan sei zurückgewiesen<br />

worden. <strong>Der</strong> Abgeordnete lacht, es ist<br />

ein hohes, hüpfendes Lachen. Wie kann,<br />

fragt er, die Regierung mit so etwas drohen?<br />

Jeder, der hier ein Gewerbe betreibe,<br />

zahle Steuern an al-Schabab. Wer nicht<br />

zahle, dem ergehe es wie Moalin.<br />

„Man kann nicht verlangen, die Schutzgeldzahlungen<br />

zu beenden, wenn man als<br />

Regierung nicht für Sicherheit sorgen<br />

kann“, sagt er. Dann wendet er die Kohle<br />

auf der Wasserpfeife, rührt in seinem Espresso<br />

und schaut auf sein riesiges<br />

Smartphone. Absätze klackern auf dem<br />

Fliesenboden, die Stewardessen von Jubba<br />

Airways laufen über den Hof. „Alles in<br />

Mogadischu ist ein Geschäft“, fährt er fort.<br />

Ob auch sein Sitz im Parlament ein Geschäft<br />

war und, wenn ja, wie dieses Geschäft<br />

genau aussieht – dazu will er nichts<br />

sagen, natürlich.<br />

Er redet dafür über ein anderes Geschäft,<br />

vielleicht überhaupt das wichtigste im<br />

Land: die internationale Hilfe. 1,2 Milliarden<br />

Dollar fließen laut Uno jährlich nach<br />

Somalia. Aber fast keine internationale Organisation<br />

arbeitet im Süden des Landes,


Ausland<br />

CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL<br />

Straßenszene in Mogadischu: Es gibt kein Somalia mehr, nichts, was einen Staat ausmacht<br />

dort, wo al-Schabab herrscht. Es sind daher<br />

lokale NGOs, die die Hilfsgüter an die Bevölkerung<br />

verteilen. „Und genau da“, so<br />

der Abgeordnete, „verschwindet das Geld.“<br />

Eine dumpfe Detonation unterbricht seine<br />

Worte. <strong>Der</strong> Abgeordnete schaut kurz<br />

auf. Eine Bombe sei an den Wagen eines<br />

Hochzeitskonvois geheftet worden, heißt<br />

es später. Angeblich habe die Frau eine<br />

Affäre gehabt. <strong>Der</strong> Bräutigam habe al-<br />

Schabab einen Mordauftrag erteilt.<br />

„Manch ehemaliger Warlord“, fährt der<br />

Abgeordnete fort, „ist einfach irgendwann<br />

zu einem religiösen Führer geworden.<br />

Hauptsächlich, weil das die Jugend besser<br />

mobilisiert.“ Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung<br />

seien unter dreißig, viele nie<br />

zur Schule gegangen. „Die wollen Teil von<br />

etwas sein, und das kann ihnen al-Schabab<br />

bieten, im Gegensatz zur Regierung.“<br />

Er zahlt und geht zu seinem Land Cruiser,<br />

Funkgeräte rauschen, ein Toyota-Pickup<br />

fährt vorneweg, auf der Ladefläche fünf<br />

bewaffnete Aufpasser. Als sie die Einfahrt<br />

passieren, geben sie Gas und schießen die<br />

Straße hinunter. Langsam fahren kann in<br />

Mogadischu tödlich sein.<br />

Die Verkehrsregeln sind einfach in dieser<br />

Stadt: Wer die größere Eskorte besitzt,<br />

hat immer Vorfahrt. Stau ist gefährlich, im<br />

Stau ist man ein einfaches Ziel. Und die<br />

Stadt ist nervös in diesen Tagen, die Frequenz<br />

der Anschläge nimmt zu. Al-Schabab,<br />

so scheint es, startet eine neue Offensive<br />

der Angst. An den Checkpoints schießen<br />

die Soldaten auf jeden, der nicht ihren<br />

Anweisungen folgt. Sie zerren Tuk-Tuk-<br />

Fahrer von ihrem Dreirad, prügeln mit ihren<br />

Gewehrkolben auf sie ein.<br />

Keine sechs Kilometer entfernt vom<br />

Country Club, im Garten des City Palace<br />

Hotel, wartet ein Mann, der erklären kann,<br />

wie das Unternehmen al-Schabab funktioniert.<br />

Ein Mann, der in den vergangenen<br />

sieben Jahren 35 Männer und Frauen mit<br />

der Machete geköpft und vermutlich noch<br />

mehr erschossen hat. Er sitzt an einem blauen<br />

Plastiktisch und trinkt Cappuccino, das<br />

Abendlicht ist weich, die Kellner tragen<br />

weiße Hemden und schwarze Hosen.<br />

Bis vor einem Jahr war der 55-Jährige<br />

Kommandeur von al-Schabab für den Südwesten<br />

Somalias, ein Emir. Er bittet darum,<br />

seinen Namen nicht zu nennen. Im vergangenen<br />

Oktober, nachdem er zwei Anschläge<br />

eines konkurrierenden Flügels innerhalb<br />

von al-Schabab überlebt hatte,<br />

machte er einen Deal mit der Regierung:<br />

Freiheit gegen Informationen. Seither ist<br />

er in Mogadischu.<br />

Sein Gesicht ist zerschunden, die Augen<br />

hinter der Sonnenbrille sind rot unterlaufen,<br />

die Fingernägel abgekaut. Auf seinem<br />

Kopf sitzt eine weiße Häkelmütze. Wenn<br />

der Kellner vorbeigeht, verstummt er.<br />

Seine Geschichte erzählt er so: Früher<br />

sei er Bauer gewesen und Vorsteher eines<br />

Dorfs in der Region Lower Shebelle, er<br />

besaß Pflanzungen am Fluss und verkaufte<br />

seine Früchte bis nach Mogadischu. Dann,<br />

2006, kam die Dürre, und die Melonen gingen<br />

ein, die Bananen, die Mangos, die Bohnen.<br />

Eines Tages standen die Männer von<br />

al-Schabab vor seiner Tür. Komm zu uns,<br />

sagten sie, wir bezahlen dich gut. Er zögerte.<br />

Komm zu uns, wir bezahlen dich<br />

gut. Oder wir erschießen dich.<br />

Sie machten ihn zum Finanzchef der<br />

Region, und er merkte bald, dass es weniger<br />

um Gott ging als ums Geld. „Al-Schabab<br />

ist ein riesiges Unternehmen“, sagt der<br />

Emir. Sie trieben Steuern ein, erpressten<br />

Unternehmer und Politiker in Mogadischu.<br />

Die meisten Politiker und alle Unternehmen<br />

zahlten Schutzgeld. Schon der Telekommunikationsriese<br />

Hormuud zahle pro<br />

Filiale 1000 Dollar am Tag, behauptet er,<br />

allein in Mogadischu gebe es 17 Filialen.<br />

„Sie verbreiten Angst, weil Angst die<br />

Basis ihres Geschäftsmodells ist.“<br />

Um den Umsatz von Hotels und Restaurants<br />

zu kalkulieren, schicke al-Schabab<br />

Spione dorthin. Sie kassierten mal ein paar<br />

Hundert Dollar im Monat, mal bis zu<br />

50 000 Dollar für große Hotels. Wer nicht<br />

zahle, werde entführt, dann könne er sich<br />

entscheiden: zahlen oder enthauptet werden.<br />

Spätestens da hätten fast alle gezahlt.<br />

„Al-Schabab verdient im ganzen Land“,<br />

sagt der Emir. „Sie nehmen Wegzölle auf<br />

Straßen, die sie kontrollieren. Manche<br />

Routen bringen mehr als 50 000 Dollar am<br />

Tag ein.“ Zudem haben sie laut Uno den<br />

millionenschweren Schmuggel von Holzkohle<br />

und Zucker im Süden des Landes in<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

93


Ausland<br />

Gäste im Country Club: Wer Frieden will, ist eine Gefahr<br />

der Hand, zusammen mit der kenianischen<br />

Armee; sie schmuggeln Elfenbein und Nashornhörner.<br />

Aber nicht nur im Land würden Umsätze<br />

generiert. Auch das Ausland unterstütze<br />

al-Schabab finanziell, allen voran Katar<br />

und Saudi-Arabien. Er spricht von 20 Millionen<br />

Dollar, die katarische Scheichs vergangenes<br />

Jahr in sein Herrschaftsgebiet<br />

eingeflogen haben sollen. Beweise dafür<br />

hat er jedoch nicht. Das Geld wandere in<br />

die Taschen der Bosse, die davon Waffen<br />

kauften, ihre Kämpfer bezahlten und ihre<br />

Safes füllten. Ihre Familien würden in<br />

Europa und den USA wohnen, ihre Kinder<br />

nur die besten Universitäten besuchen.<br />

Auch er selbst wohnte in einer Villa mit<br />

acht Zimmern am Meer, südwestlich von<br />

Mogadischu, fuhr zwei neue Gelände -<br />

wagen, hatte drei Sklaven und zwölf Sicherheitsleute.<br />

Über dem Flughafen steigen zwei Uno-<br />

Helikopter auf. <strong>Der</strong> Emir schaut ihnen nach.<br />

Die humanitäre Hilfe sei ein Segen, sagt<br />

er dann. Für al-Schabab. Gerade dieses<br />

Jahr, da mehr als 800000 Menschen wegen<br />

der Hungersnot ihre Dörfer verlassen<br />

mussten. Fünf Prozent von den Budgets<br />

der Hilfsorganisationen verlange die Terrorgruppe.<br />

Das ist allerdings noch eine niedrige<br />

Schätzung. Sogar zehn Prozent lege die<br />

Uno auf die Seite, offiziell für „capacity<br />

building“ oder Ähnliches, inoffiziell wird<br />

damit al-Schabab bezahlt, damit die lokalen<br />

Uno-Partner Hilfsgüter verteilen können.<br />

Das sagt ein hochrangiger Mitarbeiter<br />

der Uno in Nairobi, der für Somalia zuständig<br />

ist.<br />

Da die Uno die Arbeit der lokalen<br />

NGOs jedoch nicht kontrollieren könne,<br />

wisse eigentlich niemand, ob die Hilfe bei<br />

den Betroffenen ankomme. Ein Mitarbeiter,<br />

der ebenfalls anonym bleiben will,<br />

schätzt, dass es eine gute Quote sei, wenn<br />

zehn Prozent der Hilfe die Bedürftigen erreiche.<br />

Auch Hungersnöte seien in Somalia<br />

ein Geschäft.<br />

<strong>Der</strong> Krieg könnte schon lange vorbei<br />

sein, wenn nicht alle Parteien so gut daran<br />

verdienten, sagen in Hintergrundgesprächen<br />

viele Uno-Mitarbeiter. Einer erzählt,<br />

dass selbst Sicherheitsfirmen, die für sie<br />

arbeiteten, al-Schabab für Angriffe engagierten,<br />

um danach höhere Preise verlangen<br />

zu können. Von der Atmosphäre der<br />

Unsicherheit profitierten letztlich alle, sagen<br />

sie, durchaus auch selbstkritisch.<br />

Es werde sich nur etwas ändern, wenn<br />

man die Hilfe einstelle. Das viele Geld, es<br />

In Somalia ist fast alles<br />

kaputt – das sind<br />

beste Voraussetzungen<br />

fürs Geschäft.<br />

halte nur die Korruption und die Instabilität<br />

aufrecht.<br />

Im Country Club ist es Abend geworden.<br />

<strong>Der</strong> Rauch der Wasserpfeifen hängt über<br />

dem Garten, der Himmel ist klar, ein halber<br />

Mond steht tief. In kleinen Gruppen haben<br />

sich die Gäste über den Garten verteilt.<br />

Moalin streicht eine Tischdecke glatt und<br />

sagt, dass viele in der Regierung wirklich<br />

Frieden wollten, ein Ende der Korruption.<br />

Aber sie hielten sich bedeckt. Denn wenn<br />

ihre Kollegen erführen, was sie dächten,<br />

sie würden sie rauswerfen. Denn wer den<br />

Status quo infrage stelle, der sei eine Gefahr<br />

fürs Geschäft. „Die treffen sich hier<br />

und reden darüber, aber sie trauen sich<br />

nicht, öffentlich aufzubegehren.“<br />

CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL<br />

In einem Pavillon neben einem Gummibaum<br />

sitzen zwei türkische Geschäftsmänner.<br />

Keiner möchte reden. Natürlich nicht.<br />

Denn die Türken spielen hier eine eigenartige<br />

Rolle. 2011 war Recep Tayyip Erdoğan<br />

nach fast zwei Jahrzehnten der erste nicht<br />

afrikanische Regierungschef, der die Hauptstadt<br />

besuchte. Türkische Unternehmen teerten<br />

Straßen, errichteten ein Krankenhaus,<br />

sie bauten auch den Flughafen, der von der<br />

türkischen Firma Favori LLC betrieben wird,<br />

von der man bei der Uno vermutet, dass Erdoğans<br />

Sohn an ihr beteiligt ist. Ein türkischer<br />

Konzern betreibt den Hafen.<br />

Studien zufolge könnte Somalia über<br />

riesige Erdölreserven verfügen. Die Türken<br />

könnten an diesem Geschäft mitverdienen<br />

wollen. Am Rande von Mogadischu<br />

baut die Türkei zudem eine Militärbasis.<br />

In Diplomatenkreisen heißt es, dort sollten<br />

jährlich tausend somalische Soldaten ausgebildet<br />

werden, die jedoch unter türkischer<br />

Kontrolle bleiben sollen. Laut vertraulichen<br />

Uno-Berichten fliegt Turkish<br />

Airlines regelmäßig Geldkoffer ein, sie gehen<br />

an das Präsidentenbüro und an hohe<br />

Politiker und sollen der Türkei wohl Sicherheit<br />

und freie Hand garantieren.<br />

Die Türken, sagt Manar Moalin, übernähmen<br />

das Land.<br />

Sie läuft zwischen den Gästen umher,<br />

die immer zahlreicher werden. Die Nacht<br />

hat sich über Mogadischu gelegt. Moalin<br />

ist müde, die ständigen Explosionen zehren<br />

an ihren Nerven. Ricky Martin tönt<br />

aus den Boxen. Und wieder hallt eine Detonation<br />

durch die Nacht, eine Mörsergranate<br />

wahrscheinlich.<br />

An einem der Tische sitzt einsam ein<br />

Mann im strahlend blauen Anzug, am Handgelenk<br />

eine Rolex, an den Füßen rahmengenähte<br />

Schuhe. Mac, so stellt er sich vor, ist<br />

einer von den Somaliern, die im Krieg nicht<br />

flohen, einer dieser zwielichtigen Dealmaker<br />

der Stadt, eine Mischung aus Mittelsmann,<br />

Schmuggler und Unternehmer. Zu Geld ist<br />

er mit Diamanten aus dem Kongo gekommen.<br />

Jetzt vermehrt er es hier. Uranabbau<br />

zum Beispiel, das sei das nächste große Ding.<br />

Gerade habe er ein Treffen mit den Chinesen<br />

gehabt. Die wollten das Meer, 3000<br />

Kilometer Küste hat Somalia, unendliche<br />

Mengen an Fisch. Sie hätten bereits Fischereiabkommen<br />

mit verschiedenen Warlords<br />

im Norden geschlossen, auch mit der Regierung<br />

sprächen sie derzeit.<br />

Somalia, sagt Mac, sei ein Land, in dem<br />

fast alles kaputt sei, wo fast alles gebraucht<br />

werde, ein „jungfräulicher Staat“, ohne<br />

Sicherheit, ohne Strukturen. Das seien<br />

doch beste Voraussetzungen fürs Geschäft.<br />

„Es ist“, sagt Mac, „fantastisch.“<br />

Video: Manar Moalin über<br />

die Zeit nach dem Angriff<br />

spiegel.de/sp432017somalia<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

94 DER SPIEGEL 43 / 2017


Sträflich kurzsichtig<br />

Analyse Mit der Eroberung von Rakka ist das „Kalifat“ tot, doch der IS lebt weiter.<br />

Denn die Gründe, die zu seinem Aufstieg führten, sind noch immer da.<br />

Anti-IS-Kämpfer in Rakka<br />

BULENT KILIC / AFP<br />

<strong>Der</strong> „Islamische Staat“ hat Rakka endgültig verloren,<br />

seine Hochburg in Syrien. Anfang der Woche nahmen<br />

kurdisch geführte Milizionäre nach monatelangen<br />

Kämpfen die letzten Bastionen des IS ein, ein Krankenhaus<br />

und das Fußballstadion. Das Grauenskalifat ist<br />

nun Geschichte. Zumindest in seiner Form als Herrschaft<br />

über Städte, Land und zeitweise Millionen Menschen, mit<br />

einem Verwaltungsapparat, Grenzen und Fahnen, kurz:<br />

als quasistaatliche Macht symbolisierendes Projekt.<br />

Die IS-Strategen sind Virtuosen der Symbolik, und nichts<br />

hatte mehr Strahlkraft, passte besser zu frühislamischen<br />

Prophezeiungen als der Eroberungsfeldzug von 2014. Doch<br />

auch der Westen und alle, die<br />

nun das Ende des IS feiern, haben<br />

sich von dieser Symbolik<br />

blenden lassen. Allen voran die<br />

USA, die ihren Krieg gegen den<br />

IS zur Priorität machten. Nein,<br />

es war absolut kein Fehler, gegen<br />

den IS zu Felde zu ziehen.<br />

Es war nur sträflich kurzsichtig,<br />

dies inmitten eines mörderischen<br />

Krieges in Syrien und eines<br />

zutiefst zerrissenen Iraks zu<br />

tun – ohne sich Gedanken um<br />

die Zeit danach zu machen.<br />

Nun ist zwar das „Kalifat“<br />

verschwunden, Rakka zurück -<br />

erobert. Doch die Bedingungen<br />

haben sich nicht verbessert, der<br />

Hass zwischen Sunniten und<br />

Schiiten ist sogar gewachsen.<br />

Und der IS floriert in solch einem<br />

Vakuum, in dieser Atmosphäre<br />

von Krieg und Hass. Er<br />

geht jetzt wieder in den Untergrund,<br />

wo er sich auch früher schon geschmeidig bewegt<br />

hat. Die wenigen Überlebenden ziehen sich in Wüsten -<br />

gebiete und Dörfer zurück. 90 Prozent der Führer sind tot.<br />

Sollte es den restlichen gelingen, sich neu zu organisieren,<br />

könnten sie eines Tages wieder zuschlagen, am ehesten<br />

dann wohl unter einem neuen Label. Die Umstände dafür<br />

wären jedenfalls günstig.<br />

Wie rasch der Hauptfeind von gestern absorbiert wird<br />

durch die Kämpfe von morgen, zeigt der Umgang mit den<br />

letzten IS-Leuten in deren gerade eroberten Hochburgen.<br />

In Rakka schlossen die kurdischen Befreier einen Deal mit<br />

den verbliebenen Kämpfern und deren Familien: freier<br />

Abzug gegen Aufgabe, inklusive der ausländischen Kämpfer.<br />

Im irakischen Hawidscha, wo noch weit mehr IS-Kämpfer<br />

ausharrten, gab es einen ähnlichen Deal zwischen der<br />

Terrorgruppe und der kurdischen Autonomieregierung.<br />

Nach Aussage von Zeugen entkamen so Hunderte Kämpfer<br />

mitsamt ihren schweren Waffen ins Kurdengebiet.<br />

<strong>Der</strong> IS war gestern. Nun ist der Irak wieder mit voller<br />

Wucht da angekommen, wo er vor 2014 stand: Araber gegen<br />

Kurden, Bagdad gegen Arbil. Die mit amerikanischen<br />

wie deutschen Waffen hochgerüsteten Kurden stimmten<br />

am 25. September auf Betreiben ihres Präsidenten Masoud<br />

Barzani in einem Referendum für die Unabhängigkeit<br />

ihrer Autonomieregion im Norden des Irak – und darüber<br />

hinaus für die Annexion der Ölmetropole Kirkuk sowie<br />

jener Gebiete, die ihre Truppen im Sommer 2014 unter<br />

Kontrolle gebracht hatten, als die irakische Armee wie<br />

gelähmt war von der Blitzoffensive des IS.<br />

<strong>Der</strong> Vorstoß der Kurden ging am vergangenen Montag<br />

krachend schief: <strong>Der</strong> irakische Premier Haider al-Abadi<br />

schickte die Armee, ebenfalls aufgerüstet von den USA,<br />

sowie die von Teheran kontrollierten<br />

schiitischen Milizen nach<br />

Kirkuk. Binnen Stunden büßten<br />

die Kurden alle neu gewonnenen<br />

Gebiete rings um Kirkuk<br />

ein. Darüber hinaus verloren<br />

die beiden herrschenden Kurdenparteien<br />

jedes Ansehen im<br />

Volk: Barzanis KDP, weil sie<br />

das Referendum gegen alle Warnungen<br />

forciert hatte. Und die<br />

PUK, gegründet vom ehema -<br />

ligen irakischen Präsidenten<br />

Dschalal Talabani, weil sie einen<br />

Deal mit der Zentralregierung<br />

gemacht und sich kampflos<br />

aus Kirkuk zurückgezogen<br />

hatte, dem „kurdischen Jerusalem“,<br />

das bis zum letzten Blutstropfen<br />

zu verteidigen sich die<br />

Kurden stets geschworen hatten.<br />

Was dies für Kurdistan, wo<br />

Stolz eine Währung ist wie Geld,<br />

bedeutet, lässt sich kaum überschätzen.<br />

Auf dem kurdischen Fernsehsender Rudaw TV<br />

brachen erst die Peschmerga, dann der Journalist in Tränen<br />

aus über das, was sie als schmählichen Verrat ansehen.<br />

Niemand spricht heute mehr von Mossul, der einstigen<br />

Millionenstadt, die erst im Juli vom IS befreit wurde. Auch<br />

die Befreiung Rakkas wird bald vergessen sein, überrollt<br />

von den kommenden Kämpfen darum, wer die Ruinenstadt<br />

künftig beherrschen wird: die kurdischen Truppen, die<br />

alles daransetzen, ihr gewonnenes Terrain zu konsolidieren<br />

– oder die Armee von Machthaber Assad und seinen<br />

Hilfstruppen aus dem Irak, Libanon und Afghanistan.<br />

Und die USA, die den Anti-IS-Kampf vorantrieben? Sie<br />

machen Politik als Wille ohne Vorstellung. Sie würden im<br />

Irak nun nicht Partei ergreifen, so Präsident Donald Trump.<br />

Und eine Sprecherin des Außenministeriums sagte: Die<br />

Idee sei, in Rakka die Grundversorgung instand zu setzen,<br />

„aber kein Nationbuilding“ zu betreiben. Anschließend<br />

könne die Stadt „dem Gastland“ zurückgegeben werden.<br />

Auf die Frage, wie dies funktionieren solle, mitten im<br />

Krieg, hatte sie keine Antwort.<br />

Christoph Reuter<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

95


Ausland<br />

„Es gibt überall<br />

Betrüger“<br />

Malta Die Investigativjournalistin<br />

Daphne Caruana Galizia<br />

ent hüllte Steuerflucht, Geld -<br />

wäsche und Korruption.<br />

Wurde sie deshalb ermordet?<br />

Daphne Caruana Galizia machte sich<br />

keine Illusionen. Über 20 Jahre lang<br />

hatte sie die Mächtigen auf Malta<br />

mit ihren Enthüllungen geärgert. Doch es<br />

änderte sich: nichts. „Unsere Polizei hat keinen<br />

Willen, irgendwas zu unternehmen“,<br />

sagte sie Anfang Mai. Die Justiz sei ein Instrument<br />

der Regierenden, sie verhindere<br />

Ermittlungen. Und trotzdem machte die<br />

53-Jährige weiter, Bloggerin, Missionarin<br />

und Aufklärerin in einem, um die dunklen<br />

Seiten der Sonneninsel aufzudecken.<br />

Denn Caruana Galizia war der Überzeugung,<br />

dass ihr Land der Mafia und korrupten<br />

Politikern in die Hände gefallen sei,<br />

und sie sah es als ihre Aufgabe an, das zu<br />

ändern. Das wurde ihr zum Verhängnis.<br />

Am Montag riss eine Autobombe sie in<br />

den Tod; ein professionelles Attentat, offenbar<br />

mit Plastiksprengstoff verübt. Eine<br />

halbe Stunde vorher hatte sie ihren letzten<br />

Blogeintrag verfasst: „Es gibt überall Betrüger.<br />

Die Situation ist verzweifelt.“ Zwei<br />

Wochen zuvor hatte sie sich an die Polizei<br />

gewandt, weil sie sich bedroht fühlte.<br />

„Meine Mutter wurde ermordet, weil sie<br />

zwischen der Herrschaft des Rechts und<br />

denen stand, die die Gesetze vergewaltigen“,<br />

schrieb ihr Sohn Matthew auf Facebook.<br />

Die Institutionen des Staates funktionierten<br />

nicht mehr, Maltas Regierung<br />

dulde „eine Kultur der Straflosigkeit“.<br />

Staat und organisierte Kriminalität seien<br />

kaum zu trennen. Auch der Oppositionsführer<br />

sprach von einem „politischen<br />

Mord“ und davon, dass auf der Insel „die<br />

Gesetze des Dschungels“ herrschten.<br />

Es scheint, als habe die Journalistin erst<br />

sterben müssen, damit die Welt genauer<br />

hinschaut auf diese Urlaubsinsel zwischen<br />

Europa und Afrika, aber eben auch: Steuer -<br />

oase, Geldwaschanlage, Zentrum des Waffen-,<br />

Drogen- und Ölschmuggels von und<br />

nach Libyen. Ein Treffpunkt zwielichter<br />

Geschäftemacher und Gaddafi-Leute, von<br />

Mafiosi und Russen, die sich eine maltesische<br />

Staatsbürgerschaft gekauft haben.<br />

Es waren diese Machenschaften, über<br />

die Caruana Galizia schrieb. Erst als Journalistin<br />

und Mitherausgeberin des „Malta<br />

Independent“, später in ihrem Blog Running<br />

Commentary. Ihre Artikel waren<br />

scharf, manchmal sogar aggressiv, auch vor<br />

persönlichen Angriffen schreckte sie nicht<br />

zurück, nicht immer konnte sie Belege präsentieren.<br />

Aber Caruana Galizia hatte oft<br />

recht. Für viele Malteser wurde sie zur Heldin,<br />

ihre Enthüllungen waren Inselgespräch.<br />

Ihr Lieblingsgegner war die Regierung,<br />

insbesondere Premierminister Joseph Muscat.<br />

Zwei Monate bevor ein internationales<br />

Journalistenkonsortium den Skandal namens<br />

Panama Papers aufdeckte, beschuldigte<br />

die Journalistin den damaligen Energieminister<br />

sowie den Kabinettschef des<br />

Trauerkundgebung für Caruana Galizia am Dienstag: „Gesetze des Dschungels“<br />

DARRIN ZAMMIT LUPI / REUTERS<br />

Ministerpräsidenten, sie hätten 2013 Briefkastenfirmen<br />

in Panama eröffnet. Die Journalistin<br />

vermutete, dass darüber Bestechungsgelder<br />

aus Aserbaidschan flossen,<br />

möglicherweise im Zusammenhang mit<br />

einem Vertrag über Gaslieferungen von<br />

Baku nach Malta.<br />

<strong>Der</strong> Energieminister musste zurücktreten,<br />

bestritt aber die Korruptionsvorwürfe;<br />

der Kabinettschef, der engste Mitarbeiter<br />

von Muscat, blieb im Amt. Dabei droht<br />

ihm in einem anderen Fall sogar ein Strafverfahren:<br />

Ein Ermittlungsrichter sah den<br />

Verdacht bestätigt, der Kabinettschef habe<br />

von drei Russen, die Staatsbürger Maltas<br />

werden wollten, fast 167000 Euro erhalten.<br />

Im Frühjahr enthüllte Caruana Galizia<br />

einen weiteren Skandal: Michelle Muscat,<br />

die Frau des Ministerpräsidenten, besitze<br />

eine Briefkastenfirma in Panama, auf deren<br />

Konto Anfang 2016 mehr als eine Million<br />

Euro überwiesen wurden – und zwar<br />

von einer Firma der Tochter des aserbaidschanischen<br />

Präsidenten Ilcham Alijew.<br />

Anfang Mai präsentierte Caruana Galizia<br />

bei einem Treffen mit dem SPIEGEL<br />

ihre Kronzeugin: eine blonde Russin, die<br />

sich „Maria“ nannte, Ex-Mitarbeiterin der<br />

maltesischen Pilatus-Bank. Einer Bank, die<br />

Caruana Galizia als „reine Geldwäscheveranstaltung“<br />

bezeichnete. Mehrere Mitglieder<br />

der Alijew-Familie sollen, so die<br />

Russin, zu ihren wichtigsten Kunden gehört<br />

haben. Sie behauptete, die Überweisungen<br />

auf die Konten von Muscats<br />

Panama-Firma gesehen zu haben. Diese<br />

Anschuldigungen wiederholte sie mehrmals<br />

unter Eid vor einem Ermittlungsrichter,<br />

die Bank widersprach. Im Sommer jedoch<br />

verließ die Russin Malta, sie fühlte<br />

sich bedroht und unter Druck gesetzt.<br />

Auch ein diese Woche vorgelegter Abschlussbericht<br />

des Panama-Untersuchungsausschusses<br />

im EU-Parlament scheint Caruana<br />

Galizias Verdächtigungen eher zu<br />

bestätigen. Dort wird Malta als eines der<br />

Länder genannt, dessen Banken und Kanzleien<br />

massenhaft Briefkastenfirmen in<br />

Panama eingerichtet haben, zum Schaden<br />

anderer EU-Mitglieder, denen hohe Steuersummen<br />

entgangen sein dürften. Zudem<br />

ist auf Malta eine riesige Online-Wett -<br />

industrie entstanden, die ideale Möglichkeiten<br />

zur Geldwäsche bietet.<br />

Ministerpräsident Muscat hat stets alle<br />

Vorwürfe gegen ihn zurückgewiesen. Trotz<br />

der Enthüllungen wurde er im Juni wiedergewählt.<br />

Um dem Verdacht der Vertuschung<br />

aus dem Weg zu gehen, hat er nun<br />

das amerikanische FBI um Amtshilfe bei<br />

der Aufklärung des Mordes gebeten.<br />

Zwar wurde vor Kurzem eine Euro -<br />

päische Staatsanwaltschaft gegründet, die<br />

bei Schäden zulasten der EU ermitteln<br />

soll. Doch bisher beteiligen sich daran<br />

nur 20 Mitgliedstaaten. Malta ist nicht<br />

darunter.<br />

Christoph Pauly<br />

96 DER SPIEGEL 43 / 2017


Siegquote in der Formel 1* Fahrerkarriere beendet aktiver Fahrer<br />

Weltmeistertitel<br />

Starts Rennsiege<br />

Juan Manuel Fangio<br />

51 24<br />

Argentinien<br />

Alberto Ascari<br />

Italien<br />

Jim Clark<br />

Großbritannien<br />

Lewis Hamilton<br />

Großbritannien<br />

Michael Schumacher<br />

Deutschland<br />

Jackie Stewart<br />

Großbritannien<br />

Alain Prost<br />

Frankreich<br />

Ayrton Senna<br />

Brasilien<br />

Stirling Moss<br />

Großbritannien<br />

Sebastian Vettel<br />

Deutschland<br />

32<br />

72<br />

204<br />

307<br />

99<br />

199<br />

161<br />

66<br />

194<br />

13<br />

25<br />

61<br />

91<br />

27<br />

51<br />

41<br />

16<br />

46<br />

*nur Fahrer mit mehr als fünf Starts<br />

24,2<br />

23,7<br />

25,6<br />

25,5<br />

27,3<br />

29,9<br />

29,6<br />

34,7<br />

40,6<br />

Motorsport<br />

Ferrari-Opfer Vettel<br />

Sport<br />

Siegquote<br />

in Prozent<br />

47,1<br />

Für viele Formel-1-Fans ist Ayrton Senna<br />

der beste Rennfahrer aller Zeiten,<br />

für andere bleibt es für immer Michael<br />

Schumacher, der Mann mit den meisten<br />

Weltmeistertiteln. Berücksichtigt<br />

man jedoch die Quote der Siege, war<br />

der erfolgreichste Fahrer Juan Manuel<br />

Fangio, der von den WM-Rennen, bei<br />

denen er an den Start ging, fast jedes<br />

zweite gewann. Allerdings gibt auch<br />

die Siegquote nur bedingt Auskunft<br />

über das Können: Sebastian Vettel ist<br />

auf Platz zehn abgestürzt, seitdem er<br />

für Ferrari fährt. Dabei dürfte er das<br />

Autofahren dort nicht verlernt haben.<br />

OLAF MALZAHN / IMAGO<br />

Magische Momente<br />

„Bei Kilometer 50 war die Herrlichkeit vorbei“<br />

„Tagesschau“-Sprecher Thorsten Schröder, 49, über seinen Kampf beim Ironman auf Hawaii<br />

burg erneut, um auch dort<br />

zunächst zu scheitern. Mir<br />

fehlten 26 Sekunden zu<br />

einem sicheren Startplatz.<br />

SPIEGEL: Doch einer der vor<br />

Ihnen Platzierten verzichtete<br />

auf sein Hawaii-Ticket, Sie<br />

rückten nach.<br />

Schröder: Ein herr -<br />

liches Drehbuch,<br />

besser geht es nicht.<br />

SPIEGEL: Dort ging<br />

es los mit dem<br />

Schwimmen im<br />

Pazifik.<br />

Schröder: Ich mag<br />

kein Salzwasser,<br />

nach einer Stunde<br />

hatte ich buchstäblich<br />

die Nase voll.<br />

SPIEGEL: Nach 1.13:36<br />

Stunden wechselten<br />

Sie auf die Straße.<br />

180 Kilometer Rad -<br />

fahren.<br />

Schröder: Ich fuhr<br />

mit 36er-Schnitt, hatte<br />

kaum Wind. Bei<br />

Kilometer 50 war es<br />

SPIEGEL: Hawaii-Finisher 2017<br />

– wie hört sich das an?<br />

Schröder: Großartig. Als ich<br />

vor sechs Jahren mit dem<br />

Training für meinen ersten<br />

Ironman begann, hielt ich<br />

dieses Ziel für utopisch.<br />

SPIEGEL: Wie haben Sie sich<br />

vorbereitet?<br />

Schröder: Ich entwickelte einen<br />

Zwei-Jahres-Masterplan.<br />

Die entscheidende Phase:<br />

52 Wochen intensives Training,<br />

sechs Tage die Woche.<br />

SPIEGEL: Welche Schwerpunkte<br />

setzten Sie?<br />

Schröder: Ich kräftigte meine<br />

Rumpfmuskulatur intensiv,<br />

damit ich nicht wie der schiefe<br />

Turm von Pisa durch das<br />

Ziel laufe. Zudem: keine<br />

Chips und Schokolade, Alkohol<br />

nur an Weihnachten und<br />

Karneval.<br />

SPIEGEL: In Frankfurt verpassten<br />

Sie Anfang Juli die Qualifikation<br />

für Hawaii knapp.<br />

Schröder: Fünf Wochen später<br />

versuchte ich es in Hamdann<br />

vorbei mit der Herr -<br />

lichkeit.<br />

SPIEGEL: Die tückischen<br />

Mumuku-Winde meldeten<br />

sich.<br />

Schröder: Und zwar kräftig.<br />

Ich kam ins Schlingern, wurde<br />

fast umgeweht.<br />

Schröder<br />

SPIEGEL: Zuletzt der Marathon.<br />

Schröder: <strong>Der</strong> Lauf war hammerhart.<br />

Nach fünf Kilometern<br />

hätte er gern zu Ende<br />

sein können. Die Sonne grillt<br />

dich, es gibt keinen Schatten.<br />

Ich hangelte mich von einer<br />

Verpflegungsstation zur<br />

nächsten, übergoss<br />

mich mit Eiswasser.<br />

SPIEGEL: Ihre Endzeit:<br />

10.56:12.<br />

Schröder: Lustig,<br />

dass ich nun als<br />

Sportler Schlagzeilen<br />

mache. Als Kind<br />

wollte ich Profi -<br />

fußballer werden.<br />

SPIEGEL: Warum hat<br />

es nicht gereicht?<br />

Schröder: Ich erkrankte<br />

an der<br />

Wirbelsäule. Mit<br />

15 Jahren wurde<br />

ich operiert, trug<br />

zwölf Monate lang<br />

ein Korsett, machte<br />

jahrelang keinen<br />

Sport. tne<br />

FRANK WECHSEL<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017 97


Sport<br />

Das Echo<br />

der Hurensöhne<br />

Basketball Donald Trump hat sich mit den schwarzen<br />

Sportlern angelegt. Auch mit dem derzeit<br />

größten NBA-Star. Ein Treffen mit Stephen Curry<br />

in der Umkleidekabine. Von Philipp Oehmke<br />

Eine halbe Stunde nach dem Spiel gegen<br />

Denver steht Stephen Curry, nur<br />

ein Handtuch um die Hüfte gebunden<br />

und mit Badelatschen an den Füßen,<br />

in der Umkleidekabine der Golden State<br />

Warriors.<br />

Er hat lange geduscht. Die Umkleide -<br />

kabine leert sich langsam. Die meisten wollen<br />

schnell nach Hause. Am nächsten Tag<br />

steht für die derzeit beste Basketballmannschaft<br />

der Welt ein 14-Stunden-Flug nach<br />

China an, vor dem es den Spielern offenbar<br />

graut. Es ist eine dieser Marketing reisen,<br />

wie sie Bayern München auch macht.<br />

Stephen Curry ist der größte Star der<br />

NBA, der vielleicht begabteste Spieler seit<br />

Michael Jordan. Und derzeit einer der<br />

größten Gegenspieler von Präsident Donald<br />

Trump. „Wir haben hier eine große<br />

Plattform, eine gewaltige Stimme, die wir<br />

nutzen müssen“, sagt Curry vor seinem<br />

Spind. „Wir müssen darauf aufmerksam<br />

machen, was in diesem Land unter diesem<br />

Präsidenten gerade alles schiefläuft.“<br />

<strong>Der</strong> Streit mit Trump hatte Ende September<br />

begonnen. Damals hatte Curry erklärt,<br />

dass er bei einer teaminternen Abstimmung<br />

über die Einladung ins Weiße<br />

Haus sicherlich mit Nein stimmen werde,<br />

wenn er sich überlege, was dessen Hausherr<br />

in diesem Land anrichte. Traditionell<br />

empfängt der US-Präsident die wichtigsten<br />

Meisterteams des Landes. Currys Wor -<br />

te waren so gelassen gesprochen, wie er<br />

Basketball spielt: anstrengungslos, fast<br />

abwesend.<br />

Trump war jedoch über Currys Aussage<br />

so beleidigt, dass er die Warriors über Twitter<br />

auslud. <strong>Der</strong> Präsident, der sich so sehr<br />

die Anerkennung von Soldaten und Sportlern<br />

wünscht, hatte mit den Warriors<br />

schnell noch Schluss gemacht, bevor sie<br />

mit ihm Schluss machen konnten. So hatte<br />

es der Warriors-Headcoach Steve Kerr anschließend<br />

formuliert.<br />

Schon seit einigen Wochen herrscht ein<br />

Krieg der Worte zwischen Trump und den<br />

98 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Profisportlern in den USA. Colin Kaepernick,<br />

der damalige Quarterback des Footballteams<br />

der San Francisco 49ers, hatte<br />

ihn im vergangenen Jahr ausgelöst, indem<br />

er sich beim Abspielen der US-Nationalhymne<br />

hinkniete, um gegen die Ungleichbehandlung<br />

der Schwarzen und gegen<br />

Polizeigewalt in den USA zu demonstrieren.<br />

Immer mehr Spieler der Footballliga<br />

NFL hatten sich ihm angeschlossen.<br />

Dann schwappte der Protest auf an de -<br />

re Sportarten über und landete auch im<br />

Basketball.<br />

Schließlich war der Streit eskaliert. Auf<br />

einer seiner geliebten Wahlkampfveranstaltungen<br />

in Alabama – die Trump abhält,<br />

auch wenn kein Wahlkampf ist – hatte er<br />

die schwarzen Footballspieler angegriffen,<br />

die sich vor den Spielen bei der Nationalhymne<br />

weigern strammzustehen. Trump<br />

sprach indirekt auch über Kaepernick, der<br />

seinen Job verloren hatte.<br />

Darauf spielte Trump an, als er brüllte:<br />

„Würde es euch nicht gefallen, dass einer<br />

der NFL-Teambesitzer, sobald jemand<br />

unsere Flagge nicht respektiert, sagt:<br />

Schmeißt den Hurensohn vom Feld, und<br />

zwar sofort! Er ist gefeuert! Er ist gefeuuuuert!“<br />

In dieser Aussage schwang aber noch etwas<br />

anderes mit, nämlich Rassismus. Die<br />

Besitzer der Teams sind fast alle weiß, die<br />

meisten Zuschauer ebenfalls. Nur die Athleten<br />

sind zum größeren Teil Afroamerikaner.<br />

Die weißen Besitzer sollen also für<br />

den patriotischen Seelenfrieden des weißen<br />

Publikums die schwarzen Akteure feuern,<br />

wenn die nicht spuren.<br />

Zufällig, ohne Trumps Aussagen zu kennen<br />

und somit fast prophetisch, hatte Stephen<br />

Curry zur gleichen Zeit seine Unlust<br />

vorgetragen, das Weiße Haus zu besuchen.<br />

Als er von Curry gehört hatte, am frühen<br />

Samstagmorgen, zu jener Tageszeit<br />

also, zu der sich der Präsident offenbar<br />

stets am verletzlichsten fühlt, hatte Trump<br />

daraufhin seinen Tweet gegen Curry ab-<br />

gesetzt und einem weiteren afroamerikanischen<br />

Sportler den Krieg erklärt.<br />

Beim ersten öffentlichen Auftritt der<br />

Warriors nach dem Trump-Eklat war die<br />

Oracle Arena in Oakland Ende September<br />

ausverkauft, obwohl es nur ein Vorbereitungsspiel<br />

war. Zu Gast waren die Denver<br />

Nuggets. Die Champions verloren 108 zu<br />

102. Curry sorgte lediglich für 11 Punkte,<br />

vergangene Saison machte er im Durchschnitt<br />

25,3.<br />

Curry steht danach allein vor seinem Spind<br />

aus Edelholz, zieht sich eine Unterhose<br />

seines Sponsors an und zwängt sich in eine<br />

sehr teure Jeans mit vielen aufgeribbelten<br />

Stellen. Niemand spricht ihn an. Dabei gilt


Basketballstar Curry im Spiel gegen die Minnesota Timberwolves 2016: „Es geht um Ehre und das Recht auf eine eigene Meinung“<br />

JESSE JOHNSON / USA TODAY SPORTS<br />

Curry als das freundlichste Genie, das die<br />

Liga je gesehen hat.<br />

Wo könnte man besser über Trump reden<br />

als hier in der Umkleidekabine, im<br />

„locker-room“ also, einer Örtlichkeit, die<br />

der Präsident selbst weltberühmt gemacht<br />

hat, als er der Welt erklärte, es sei unter<br />

Männern in Ordnung, beim „locker-roomtalk“<br />

darüber zu sprechen, wie man Frauen<br />

am besten begrapscht.<br />

SPIEGEL: Mr Curry, sorry, wie geht es Ihnen?<br />

Curry: Weil wir verloren haben?<br />

SPIEGEL: Wegen des ganzen Ärgers mit Donald<br />

Trump. Weil der Präsident Sie persönlich<br />

angegriffen hat, Sie im Weißen<br />

Haus nicht willkommen sind.<br />

Curry: Surreal, oder? Dass der Präsident<br />

meint, einzelne Personen angreifen zu<br />

müssen. Es ist auf jeden Fall unter der Würde<br />

des Amtes. So benimmt man sich nicht<br />

als Staatsoberhaupt.<br />

SPIEGEL: Warum wollten Sie nicht ins Weiße<br />

Haus?<br />

Curry: Ich habe das Verhalten des Präsi -<br />

denten genau verfolgt. Es bestand in der<br />

ständigen Verdrehung amerikanischer<br />

Werte. Ich persönlich wollte für meine<br />

eigene Hygiene daran keinen Anteil haben.<br />

Als ich gefragt wurde, habe ich genau das<br />

gesagt. Aber das bin nur ich.<br />

SPIEGEL: Immerhin.<br />

Curry: Nein. Es geht hier nicht um mich.<br />

Wenn es nur um mich ginge, wäre die Sache<br />

relativ schnell vorbei. Aber wir sind<br />

ein Team. Wir werden bald eine Teamsitzung<br />

abhalten und ein Gespräch darüber<br />

führen, wie wir die Warriors vertreten wollen<br />

und wie sich jeder meiner Teamkollegen<br />

mit seiner persönlichen Geschichte darin<br />

wiederfindet. Das ist wichtig.<br />

Die Teamkollegen laufen auf dem Weg<br />

aus der Umkleide heraus an Stephen Curry<br />

vorbei und nicken. Zwischen den muskulösen<br />

Bäumen, die seine Mitspieler sind<br />

– Kevin Durant, der andere Superstar des<br />

Teams, ist zwei Meter sechs, der Georgier<br />

Zaza Pachulia, zwei Meter elf –, wirkt Curry<br />

beinahe zierlich. Er ist nur einen Meter<br />

neunzig groß und wiegt 86 Kilo. Das ist<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

99


SPIEGEL TV WISSEN<br />

SONNTAG, 22. 10., 19.15–20.05 UHR | PAY-TV<br />

BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN<br />

Die Rückkehr der Luftschiffe<br />

Nach der goldenen Ära der Zeppe -<br />

line zu Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

stehen die fliegenden Riesen nun<br />

vor einer Renaissance. In England<br />

Transport-Zeppelin (Computersimulation)<br />

und den USA stehen zwei XXL-<br />

Luftschiffe kurz vor der Serienreife.<br />

<strong>Der</strong> Traum vom laut- und mühe -<br />

losen Transport riesiger Lasten<br />

bringt immer neue Entwürfe hervor.<br />

SPIEGEL TV MAGAZIN<br />

SONNTAG, 22. 10., 23.15– 0.00 UHR | RTL<br />

„Guten Tag, ich rufe von E.on an“ – Die<br />

Tricks der türkischen Callcenter-<br />

Mafia, die von einem Verbrecher<br />

beherrscht wird, den die Staats -<br />

anwaltschaft den „schlimmsten und<br />

brutalsten Zuhälter der holländischen<br />

Kriminalgeschichte“ nennt;<br />

Sie sind gekommen, um zu bleiben –<br />

Die ersten Tage der neuen<br />

AfD- Abgeordneten im Bundestag;<br />

Schlacht um Rakka – Exklusive<br />

Innenansichten von Kriegsreporter<br />

Gabriel Chaim.<br />

SPIEGEL GESCHICHTE<br />

MITTWOCH, 25. 10., 20.15 – 21.00 UHR | SKY<br />

Die Geheimnisse<br />

der digitalen Revolution –<br />

Spieler, Hacker, Nerds<br />

Ein Leben ohne Computer? Das<br />

kann sich heute kaum noch jemand<br />

vorstellen. Egal ob Smartphone,<br />

Tablet oder ein schnöder Fahrkarten -<br />

automat – die kleinen Elektrogehirne<br />

haben einen wahren Siegeszug<br />

mitten in unseren Alltag hinter sich.<br />

Doch wer hat den Computer er -<br />

funden? Und was ist eigentlich seit<br />

den visionären Garagentüfteleien<br />

im Silicon Valley bis zum heutigen<br />

Internetzeitalter geschehen?<br />

ORANGE SMARTY<br />

Sport<br />

eine Statur, mit der man gewöhnlich Fußballtorwart<br />

werden kann, aber nicht NBA-<br />

Superstar.<br />

Überhaupt ist Curry ein sehr ungewöhnlicher<br />

König des Basketballs. Anders als<br />

seine Vorgänger auf dem NBA-Thron, Le-<br />

Bron James oder Kobe Bryant, trägt er keine<br />

großflächigen Tätowierungen, er führt<br />

nicht das Leben eines Rap-Stars.<br />

Stephen, genannt Steph, Curry, 29 Jahre<br />

alt, ist stattdessen mit seiner Frau und den<br />

Kindern auf dem Cover der Zeitschrift „Parents“<br />

zu sehen. Er hat das Körbewerfen<br />

nicht auf einem asphaltierten, mit Maschendraht<br />

umzäunten Basketballcourt in<br />

der schlechten Gegend einer Großstadt gelernt,<br />

sondern von seinem Vater, ebenfalls<br />

einem NBA-Spieler. Curry ist vor allem<br />

bisher kaum durch Provokationen oder<br />

Renitenz aufgefallen.<br />

SPIEGEL: Sie haben sich bisher selten öffentlich<br />

politisch geäußert. Warum?<br />

Curry: Das stimmt. Bisher habe ich bloß<br />

mit Präsident Obama ein paarmal Golf gespielt.<br />

Das war’s. Das Nächste, was passiert<br />

ist, war, dass ich vergangenen Samstag mit<br />

20 Nachrichten aufwachte, in denen Leute<br />

mir gratulierten und Unterstützung zusagten.<br />

Ich wusste nicht, worum es geht. Dann<br />

bin ich auf Twitter gegangen und habe mir<br />

den Mist angesehen.<br />

SPIEGEL: Haben Sie sich geärgert?<br />

Curry: Nein. Es war eine gute Gelegenheit<br />

zu äußern, was ich denke. Nun kommt die<br />

ganze Liga zusammen. Die Spieler, aber<br />

auch die Trainer.<br />

SPIEGEL: Was stört Sie an Trump?<br />

Curry: Ehrlich gesagt, fast alles, was von<br />

ihm kommt. Wie er über die NFL-Spieler<br />

geredet hat, die friedlich protestieren und<br />

damit in keiner Weise Kriegsveteranen,<br />

der Flagge oder Hymne ihren Respekt versagen.<br />

Es ging ja fast so weit, dass er die<br />

Spieler und ihre Jobsicherheit bedroht hat.<br />

Im Gegensatz zu der Basketballliga ist die<br />

Footballliga traditionell eng mit den amerikanischen<br />

Streitkräften verbunden. Soldaten<br />

gucken lieber Football als Basketball,<br />

es gibt gemeinsame Veranstaltungen. So<br />

hat sich unter einigen Footballfans die<br />

Meinung gebildet, dass sich, wer sich während<br />

der Hymne und des dazugehörigen<br />

Schwenkens der Flagge hinsetzt, auch den<br />

Soldaten, die für diese Flagge ihr Leben<br />

riskieren, den Respekt verweigert.<br />

SPIEGEL: Sie waren der Meinung, der Präsident<br />

bestärke die Leute, die sagen, kniende<br />

Profis würden die Nation beleidigen?<br />

Curry: Wir reden hier über das Amt des<br />

Präsidenten. Das betrifft eine Menge Leute,<br />

völlig unabhängig davon, wo sie sich<br />

politisch sonst so verorten. Es geht hier<br />

um Respekt, Ehre, Individualismus und<br />

das Recht auf eine eigene Meinung. Und<br />

es war unglaublich, welche Reaktionen aus<br />

der Liga kamen.<br />

Zu denjenigen, die Curry öffentlich verteidigt<br />

haben, gehörte auch LeBron James<br />

von den Cleveland Cavaliers. Das war bemerkenswert<br />

in Anbetracht des Verhältnisses<br />

zwischen James und Curry: LeBron<br />

James wurde von Curry vom Thron ge -<br />

stoßen.<br />

In den vergangenen drei Jahren handelte<br />

die NBA auch davon, wie sich diese beiden<br />

Männer duellierten: der jüngere, wendige,<br />

freche Emporkömmling Curry gegen<br />

den alten, gewaltigen König, der müde geworden<br />

war, aber noch mal alle Kräfte mobilisierte.<br />

<strong>Der</strong> eine spielte für ein Team<br />

Footballspieler Kaepernick (l.)<br />

„Er ist gefeuuuuert“<br />

aus Oakland bei San Francisco, das Silicon-Valley-Investoren<br />

gehört und auch so<br />

geführt wird, der andere für eine Mannschaft<br />

aus der Stahlarbeiterstadt Cleveland.<br />

LeBron James mit seinem ganzen Legendenstatus<br />

twitterte also an Trump, er<br />

sei ein „bum“, also ein Penner, Curry habe<br />

doch längst gesagt, er werde nicht kommen,<br />

da sei es lächerlich, ihn jetzt auszuladen.<br />

Ins Weiße Haus eingeladen zu werden<br />

sei so lange eine Ehre gewesen, bis er<br />

da aufgetaucht sei.<br />

Curry: You bum! Da musste ich lachen. Ich<br />

habe diesen Ausdruck das letzte Mal bei<br />

Straßen-Basketballspielen gehört. Dort fiel<br />

er ständig und war ein ziemlich heftiger<br />

Ausdruck.<br />

Dann sagt Curry noch einmal „bum“, diesmal<br />

zu seinem Begleiter. Du bum, komm,<br />

wir müssen los. Die Katakomben der Oracle<br />

Arena haben sich geleert, es ist spät geworden,<br />

draußen liegt verlassen der Parkplatz.<br />

In China, in einem Spiel gegen die Minnesota<br />

Timberwolves, erzielt Stephen Curry<br />

40 Punkte innerhalb von 30 Minuten.<br />

Er spielt wie befreit auf.<br />

Video:<br />

#takeaknee<br />

spiegel.de/sp432017curry<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

MARCIO JOSE SANCHEZ / AP<br />

100 DER SPIEGEL 43 / 2017


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SD17-005


Sport<br />

Unentschieden<br />

Fußball <strong>Der</strong> FC Barcelona schweigt darüber, ob er für oder gegen<br />

die Unabhängigkeit Kataloniens ist. Von Juan Moreno<br />

Wäre der FC Barcelona ein normaler<br />

Verein, es wären für den Klub<br />

fantastische Wochen. Souveräne<br />

Tabellenführung in Spaniens Primera División.<br />

Konkurrent Real Madrid liegt fünf<br />

Punkte zurück nur auf Platz drei. Lionel<br />

Messi scheint beschlossen zu haben, dass<br />

Cristiano Ronaldo jetzt oft genug Weltfußballer<br />

war, und spielt seit Wochen wie das<br />

Genie, das er ist.<br />

In der Champions League hat Barça bisher<br />

alle Gruppenspiele gewonnen. Am<br />

Mittwoch siegte das Team mit Halbgas 3:1<br />

gegen Olympiakos Piräus, die komplette<br />

zweite Halbzeit war die Mannschaft in Unterzahl,<br />

nachdem Gerard Piqué des Feldes<br />

verwiesen worden war. Zudem ist der Verein<br />

derzeit spanischer Tabellenführer im<br />

Basketball, Handball, Rollhockey und Volleyball,<br />

die Fußballerinnen stehen ebenfalls<br />

auf Platz eins.<br />

Auch finanziell laufen die Geschäfte des<br />

FC Barcelona wie geschmiert. Die Umsatzprognose<br />

wurde kürzlich präsentiert:<br />

897 Millionen Euro für die Saison 2017/18.<br />

Kein Sportverein hat weltweit jemals höhere<br />

Zahlen genannt. Bis 2021 soll der Umsatz<br />

auf über eine Milliarde Euro pro<br />

Saison wachsen.<br />

Was also ist das Problem?<br />

<strong>Der</strong> FC Barcelona ist kein normaler<br />

Verein, und Spanien ist derzeit<br />

kein normales Land.<br />

Seit gut zwei Jahren rasen in der spanischen<br />

Innenpolitik zwei Züge aufeinander<br />

zu: die konservative Regierung in Madrid,<br />

davon überzeugt, dass Katalonien genug<br />

Autonomie besitzt und jetzt endlich Ruhe<br />

geben sollte; ihr gegenüber die katalanische<br />

Regionalregierung, die<br />

den Traum vieler Katalanen<br />

von einem eigenen Staat zum Greifen<br />

nahe wähnt.<br />

Beide Seiten bombardieren sich mit Vorwürfen<br />

und Drohungen. Beide Seiten betonen<br />

den Dialog, sind aber nicht wirklich<br />

dazu bereit. Woche für Woche ziehen Hunderttausende<br />

Katalanen durch die Straßen<br />

Barcelonas. Gegner und Befürworter der<br />

Autonomie: Die Lager sind ungefähr<br />

gleich groß. Ein Fieber hat die<br />

ganze Region erfasst. Familien<br />

brechen im Streit auseinander,<br />

Freundschaften werden beendet, Kollegen<br />

beschimpft.<br />

Es gibt derzeit nur eine Frage: Für oder<br />

gegen die Unabhängigkeit? Wo stehst du?<br />

Hat man sich einmal bekannt, hat das Konsequenzen.<br />

Für die Freundschaft, für das<br />

Gerard<br />

Deulofeu<br />

Geschäft. Das ist für alle so. Auch für den<br />

FC Barcelona.<br />

Genau darum schweigt der Klub. Es ist<br />

derzeit unmöglich, einen offiziellen Vertreter<br />

des Vereins zu einer klaren Aussage zu<br />

bewegen. Natürlich, man ist Katalane, mit<br />

ganzem Herzen, Patriot, klar, aber La Liga<br />

wegen der Unabhängigkeit zu verlassen,<br />

das wäre ja Wahnsinn, mehr noch Selbstmord,<br />

das würde alles gefährden. Man<br />

könnte es auch so ausdrücken: Patriotismus<br />

hin oder her, aber eine Milliarde Euro Umsatz<br />

sind eine Milliarde Euro Umsatz.<br />

Katalanen<br />

im Kader<br />

FC Barcelona<br />

Saison<br />

2017/18<br />

Saison<br />

2007/08<br />

Bojan<br />

Krkić<br />

Saison<br />

1997/98<br />

Óscar<br />

García<br />

Sergi<br />

Roberto<br />

Sergio<br />

Busquets<br />

Xavi<br />

Roger<br />

García<br />

Spieler mit mindestens<br />

fünf Ligaspielen<br />

Jordi<br />

Alba<br />

Albert<br />

Celades<br />

Pep<br />

Guardiola<br />

Sergi<br />

Barjuán<br />

Gerard<br />

Piqué<br />

Oleguer<br />

Carles<br />

Puyol<br />

Víctor<br />

Valdés<br />

Gerard<br />

Piqué<br />

Aleix<br />

Vidal<br />

Albert<br />

Ferrer<br />

JOSE JORDAN /AFP<br />

Seit Jahrzehnten ist der FC Barcelona<br />

der große Kulturträger der autonomen Region<br />

Katalonien. Das Aushängeschild, vergöttert<br />

in der Region, bewundert auf der<br />

Welt. Auf die Trikots lässt die Vereinsführung<br />

seit Jahren die vier Worte „mes que<br />

un club“, mehr als ein Verein, drucken. Es<br />

ist Barças Mantra, in jedem Fanshop, in<br />

jedem Klubschreiben ist es zu lesen, in jedem<br />

Präsidenteninterview wird es gepredigt.<br />

Wir sind mehr als nur Fußball.<br />

Niemand fragte bisher, was das eigentlich<br />

genau bedeutet. Es gab Vermutungen.<br />

„Die Nationalmannschaft Kataloniens“ sei<br />

der Verein, hat Jordi Pujol, der ehemalige<br />

Regierungschef der Region, gesagt. „Die<br />

unbewaffnete Armee Kataloniens“, beschrieb<br />

es der Autor Manuel Vázquez Montalbán.<br />

Es war ein Gefühl. Spaß-Patriotismus<br />

– auch wenn oft höchstens sechs<br />

Stammkräfte der Mannschaft wirkliche Katalanen<br />

waren (siehe Grafik).<br />

<strong>Der</strong> Verein konnte gut damit leben, vor<br />

allem nachdem der Präsident Joan Laporta<br />

abtrat, der als Politiker unmissverständlich<br />

für die Unabhängigkeit Kataloniens stand.<br />

<strong>Der</strong> Verein tat das, was er viele Jahre getan<br />

hatte. Er arrangierte sich, zwinkerte<br />

der Unabhängigkeitsbewegung immer wieder<br />

zu, machte es sich aber letztlich im<br />

Unkonkreten gemütlich, im Rumeiern.<br />

War nicht das Schlechteste fürs Geschäft.<br />

Alle fühlten sich mitgenommen. Katalanen,<br />

Spanier, die ganze Welt.<br />

Selbst wenn sie im Stadion Camp Nou<br />

„Unabhängigkeit, Unabhängigkeit“ brüllten,<br />

selbst wenn beim Champions-League-<br />

Spiel gegen den italienischen Meister Juventus<br />

Turin ein Riesenbanner entrollt<br />

wurde, auf dem stand: „Welcome to the<br />

Catalan Republic“, selbst als mitten in der<br />

Debatte um das Referendum vom 1. Oktober<br />

Plakate mit „SOS Democràcia“ auftauchten<br />

– vom Verein hieß es immer, man<br />

sei nicht politisch, stehe aber „auf der Seite<br />

des katalanischen Volkes“.<br />

Sollte sich die spanische Staatskrise in<br />

eine spanische Katastrophe verwandeln<br />

und Katalonien sich abspalten, dann wird<br />

der FC Barcelona sagen müssen, welche<br />

Seite des katalanischen Volkes der Verein<br />

genau meint. Zu den wenigen Gewissheiten,<br />

die es momentan über das katalanische<br />

Volk gibt, gehört, dass es zutiefst gespalten<br />

ist.<br />

<strong>Der</strong>zeit bekommt der Verein Druck von<br />

allen Seiten. <strong>Der</strong> spanische Ligaverband<br />

beispielsweise ist verärgert, dass die Debatte<br />

überhaupt hochkocht. So etwas stört<br />

102 DER SPIEGEL 43 / 2017


Barça-Fans beim Champions-League-Spiel im April gegen Juventus Turin: „Die unbewaffnete Armee Kataloniens“<br />

MARCO BERTORELLO / AFP<br />

das Geschäft. „Wir haben gerade aufgrund<br />

der Situation in Katalonien unsere Verhandlungen<br />

mit der Türkei, Singapur und<br />

Indien ausgesetzt“, sagte in dieser Woche<br />

Javier Tebas, der stockkonservative Präsident<br />

der spanischen Liga.<br />

Tebas, gelinde gesagt kein Freund Kataloniens,<br />

lässt keine Gelegenheit aus, Barça<br />

vorzurechnen, wie desaströs die Unabhängigkeit<br />

und ein damit einhergehender Ausschluss<br />

vom Wettbewerb sein würde.<br />

Barça macht etwa ein Viertel des Umsatzes<br />

im spanischen Profifußball, Real Madrid<br />

ein weiteres Viertel. Den Rest teilen<br />

sich die anderen 40 Vereine der Primera<br />

und der Segunda División. Das mit Abstand<br />

beste Produkt der spanischen Liga<br />

ist „el clásico“, Barça gegen Real, der epische<br />

Kampf der beiden spanischen Fußballgiganten,<br />

den zuletzt eine halbe Milliarde<br />

Menschen auf der Welt sehen wollten.<br />

„Genauso wie Katalonien die Europäische<br />

Union verlassen würde, könnten die<br />

katalanischen Vereine nicht in der spanischen<br />

Liga bleiben. Ich glaube, dass die<br />

katalanische Liga ein wenig wie die holländische<br />

wäre“, erklärte Ligachef Tebas.<br />

Unbedeutend.<br />

Was er derzeit nicht sagt: Die spanische<br />

Liga wäre ohne Barcelona in derzeitiger<br />

Form ebenfalls nicht überlebensfähig.<br />

In Barcelona reagiert man unterschiedlich<br />

auf die Drohungen aus Madrid. Entweder<br />

komplett entrückt, wie Gerard Esteva,<br />

Sportbeauftragter der katalanischen<br />

Regierung. Er vertritt die These, dass der<br />

FC Barcelona im Falle einer Unabhängigkeit<br />

„das große Glück hätte, sich die Liga<br />

auszusuchen, in der er spielen“ wolle.<br />

Schließlich spiele in Spanien auch ein<br />

Team aus dem Kleinstaat Andorra und in<br />

Frankreich der AS Monaco.<br />

Die Verantwortlichen des FC Barcelona<br />

dagegen wissen, dass man etwa in einer<br />

katalanischen Liga, in der das viertbeste<br />

Team die eigene zweite Mannschaft ist,<br />

keine Zukunft hat. Die derzeitigen Budgetplanungen<br />

basieren darauf, dass sich<br />

nichts für den Verein ändert. Dass Barcelona<br />

weiterhin in exakt denselben Wettbewerben<br />

antritt wie bisher. Dass die Sponsoren<br />

weiterhin dabei bleiben, dass die<br />

Fernsehgelder fließen, dass Asien erobert<br />

wird. Dass der FC Barcelona ein weltumfassender<br />

Klub bleibt.<br />

Im Verein ist man sich sicher, dass am<br />

Ende niemand auf das einträgliche Geschäft<br />

verzichten möchte. Über drei Mil -<br />

liarden Euro hat die spanische Liga in diesem<br />

Jahr eingesammelt. Die Vereine, vor<br />

sechs Jahren noch völlig überschuldet, stehen<br />

dank der Zentralvermarktung der<br />

Fernsehrechte derzeit in der Summe gut<br />

da. Barcelonas Niedergang würde alle mit<br />

in den Abgrund ziehen.<br />

Aber ebenso groß wie der Druck aus<br />

der Hauptstadt sind die Forderungen der<br />

Befürworter einer Unabhängigkeit. Sie<br />

wollen, dass Barcelona endlich mit dem<br />

Herumgetanze aufhört und Flagge bekennt.<br />

Diese Woche eskalierte erstmals die Diskussion.<br />

Nachdem zwei bekannte Anführer<br />

der Unabhängigkeitsbewegung wegen<br />

„aufrührerischen Verhaltens“ in Untersuchungshaft<br />

gekommen waren, lud der Verein<br />

zwei Stellvertreter der Inhaftierten in<br />

die Ehrenloge zum Spiel gegen Olympiakos<br />

Piräus ein.<br />

Wieder ein kleines Zeichen Richtung<br />

Unabhängigkeitsbewegung. Wie immer etwas<br />

verdruckst. Die übliche Masche. <strong>Der</strong><br />

Verein bot gleich noch ein Banner an. Riesengroß:<br />

„Dialog, Respekt, Sport“.<br />

Den Ehrengästen reichte dies nicht.<br />

„Dialog, Respekt, Sport? Was soll das heißen,<br />

das ist einfach nur dämlich“, sagte einer.<br />

Man hatte ein eigenes Großplakat mit<br />

zum Spiel gebracht, das vor der Begegnung<br />

auf dem Vorplatz des Stadions ausgebreitet<br />

wurde. Darauf sah man die Gesichter<br />

der beiden Inhaftierten, darunter<br />

das Wort „Freiheit“.<br />

Barçá war das aber zu heikel. Man entschied<br />

sich dagegen, das Banner aufzuhängen.<br />

Die beiden Vertreter weigerten sich<br />

daraufhin, zum Spiel zu kommen.<br />

<strong>Der</strong> Verein hat nun alle in Katalonien<br />

verärgert, Sezessionisten und Unionisten.<br />

Zumindest alle diejenigen, für die der FC<br />

Barcelona mehr ist als einfach nur ein<br />

Klub.<br />

■<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

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mitgeteilt.<br />

www.spiegel.de/p17<br />

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Wissenschaft+Technik<br />

Astrophysik<br />

„Himmelskarte<br />

des Unsichtbaren“<br />

FRANZ BISCHOF<br />

Vor zwei Jahren<br />

wiesen Forscher<br />

erstmals Gravi -<br />

tationswellen<br />

nach – diese waren<br />

beim Zusammenstoß<br />

zweier<br />

schwarzer Löcher entstanden. Unklar<br />

blieb, wo und wie genau sich<br />

im Universum der Crash ereignete.<br />

Nun gelang es, das Epizentrum<br />

eines Gravitationsbebens präzise<br />

zu ermitteln: <strong>Der</strong> Zusammenstoß<br />

zweier Neutronensterne setzte<br />

nicht nur Gravitationswellen frei,<br />

sondern auch elektromagnetische<br />

Strahlung, die von optischen<br />

Teleskopen aufgefangen wurde.<br />

Die Entdeckung markiere den Beginn<br />

einer neuen Ära der Astronomie,<br />

sagt Karsten Danzmann, 62,<br />

Direktor am Max-Planck-Institut<br />

für Gravitationsphysik in Hannover.<br />

SPIEGEL: Was ist so bedeutend<br />

daran, den Zusammenstoß<br />

zweier Neutronensterne zu<br />

beobachten, die 130 Millionen<br />

Lichtjahre von uns entfernt<br />

sind?<br />

Danzmann: Die Gravitationswellen-Astronomie<br />

schenkt<br />

uns gleichsam ein neues Sinnesorgan,<br />

um das Universum<br />

zu erkunden. Bislang waren<br />

wir taub, als würden wir<br />

ohne Gehör durch den lichtlosen<br />

Dschungel tappen. Wir<br />

fangen zwar schon längere<br />

Zeit Gammastrahlenblitze<br />

auf, mussten aber stets spekulieren,<br />

was dahintersteckt.<br />

Nun können wir solche dramatischen<br />

Ereignisse im All<br />

belauschen – und dadurch<br />

auch Phänomene wie die<br />

Lichtgeschwindigkeit und die<br />

Expansion des Universums<br />

mit nie da gewesener Präzi -<br />

sion bestimmen.<br />

SPIEGEL: Wirft das neues Licht<br />

auf Alltagsfragen?<br />

Danzmann: Natürlich. Haben<br />

Sie sich mal gefragt, woher<br />

das Gold in einem Ehering<br />

oder einer Kette stammt?<br />

Nun, diese schweren Elemente<br />

werden beim Verschmelzen<br />

von Neutronensternen<br />

erbrütet, in kosmischen<br />

Hochöfen, die wir dank der<br />

Gravitationswellen endlich<br />

beobachten können. Im Weltall<br />

wird alles recycelt. Was<br />

von gestorbenen Sternen übrig<br />

bleibt, wird wieder zu<br />

neuen Sternen und zu Planeten<br />

wie der Erde verbacken.<br />

SPIEGEL: Werden Sie auch<br />

Himmelsobjekte entdecken,<br />

die nie ein Mensch zuvor gesehen<br />

hat?<br />

Danzmann: Schon jetzt finden<br />

wir ungefähr ein schwarzes<br />

Loch pro Monat. Aber durch<br />

empfindlichere Instrumente<br />

könnten wir in zwei Jahren<br />

so weit sein, dass wir jeden<br />

Tag ein neues schwarzes<br />

Loch entdecken. Und vielleicht<br />

tauchen dabei auch<br />

noch exotischere Objekte auf,<br />

die bislang nur als Hypothese<br />

existieren, zum Beispiel<br />

„Gravastars“ oder „Nackte<br />

Singularitäten“. Nach und<br />

nach könnten wir eine Himmelskarte<br />

des Unsichtbaren<br />

erstellen. hil<br />

MAURICIO ANTON / SPL / AGENTUR FOCUS<br />

106<br />

Genetik<br />

Zügellose Neandertaler<br />

<strong>Der</strong> längst ausgestorbene Neandertaler lebt weiter – wenn<br />

auch nur in Form weniger seiner Gene, die sich heute noch<br />

bei vielen Menschen nachweisen lassen. Die<br />

Neandertaler-DNA steht dabei offenbar mit<br />

einer gewissen Neigung zur Zügellosigkeit in<br />

Zusammenhang, wie eine umfangreiche<br />

Erbgutanalyse ergeben hat, basierend auf<br />

Geninformationen und Gesundheitsdaten<br />

von 112000 Menschen in der britischen<br />

„UK Biobank“. Laut der neuen Studie,<br />

veröffentlicht im „American Journal of<br />

Human Genetics“, neigen Betroffene häufiger<br />

zum Rauchen, zur schlechten Laune,<br />

zur nächtlichen Aktivität und dazu,<br />

tagsüber gern mal ein Nickerchen<br />

zu halten. hil<br />

Fußnote<br />

12,7<br />

Millionen<br />

Vogelbrutpaare sind in<br />

Deutschland innerhalb von<br />

zwölf Jahren verloren ge -<br />

gangen. Diesen Rückgang<br />

um rund 15 Prozent belegt<br />

eine Auswertung des Naturschutzbundes<br />

Deutschland,<br />

basierend auf Vogelbestandsdaten<br />

der Bundes -<br />

regierung. Mögliche Gründe<br />

für den Vogelschwund:<br />

<strong>Der</strong> intensive Anbau von<br />

Mais und Raps nimmt zu,<br />

der Bestand an artenreichen<br />

Wiesen und nahrhaften<br />

Insekten nimmt ab.<br />

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In Dieselgewittern<br />

Ein Blitz durchzuckt den Himmel über dem Golf von<br />

Thailand – fotografiert von Bord des US-Flugzeug -<br />

trägers USS „John C. Stennis“. Solche tropischen<br />

Gewitter ereignen sich auffallend oft über viel befah -<br />

renen Schiffsrouten, haben Atmosphärenforscher<br />

jetzt herausgefunden. In Meeresgegenden, in denen<br />

viele Schiffe fahren, so berichten die Wissenschaftler<br />

in der Fachzeitschrift „Geophysical Research Letters“,<br />

blitzt und donnert es doppelt so häufig wie in abge -<br />

legenen Teilen des Indischen Ozeans und des Südchinesischen<br />

Meeres. Die Erklärung: Dieselabgase fördern<br />

offenbar die Bildung gewitterträchtiger Wolken.<br />

DDP IMAGES<br />

Glosse<br />

Die unausgeschlafene Republik<br />

Schlafmangel als Ausweis heroischer Arbeitswut? Träumt weiter, Leute!<br />

<strong>Der</strong> Herbst ist da, die Nächte werden länger – vor allem die<br />

Verhandlungsnächte, bei denen die Schwarzen, die Grünen<br />

und die Gelben die Chancen für eine Jamaikakoalition aus -<br />

loten. Ah, Jamaika, da denken viele Menschen an Rum-Cocktails<br />

oder exotische Aufputschmittel. Die deutschen Verhandlungsführer<br />

dürften dabei eher auf althergebrachte Wachmacher<br />

setzen: mit Kaffee und Traubenzucker gegen den Schlafentzug.<br />

Die meisten Studenten gewöhnen sich spätestens<br />

beim Verfassen ihrer Bachelorarbeit ab, in Nachtschichten<br />

Verschlamptes nachzubüffeln; denn erfahrungsgemäß sind die<br />

bleischweren Stunden zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang<br />

wenig produktiv. In der Politik hingegen gehört der rituelle<br />

Schlafentzug fest zur Inszenierung jedes sogenannten Verhandlungsmarathons.<br />

Egal, ob bei Koalitionsverhandlungen<br />

oder der Eurorettung: Wer vor Mitternacht ein Ergebnis verkündet,<br />

muss ein Versager sein, der sich nicht so verausgabt<br />

hat, wie es die Gesellschaft von ihren Tränensack-Athleten<br />

erwartet. Schließlich fühlen sich angeblich 80 Prozent der Arbeitnehmer<br />

unausgeschlafen. Durchwachte Nächte gelten als<br />

Ausweis von besonderem Fleiß. Nur: warum eigentlich?<br />

Schlafentzug wirkt ähnlich wie eine Alkoholsause. Wer übermüdet<br />

ist, benimmt sich wie ein Besoffener: irrational, leicht<br />

beeinflussbar, risikofreudig, unkonzentriert, teils mit Tunnelblick<br />

und Wortfindungsstörungen. Insofern könnten die Jamaikakoalitionäre<br />

auch gemeinsam einen Joint durchziehen – die<br />

Wirkung wäre ähnlich wie ein Verhandlungsmarathon, würde<br />

aber schneller gehen und mehr Spaß machen. Dabei ginge<br />

es auch anders. Schließlich schenkt uns die Zeitumstellung am<br />

29. Oktober zusätzlich eine Stunde Schlaf, wenn wir uns<br />

darauf einlassen. Die Politik hat hier die einmalige Chance, im<br />

Sinne einer wirkmächtigen Leitkultur mit gutem Beispiel<br />

voranzugehen: rechtzeitig ab ins Bett.<br />

Hilmar Schmundt<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017 107


Wissenschaft<br />

„Drecksforschung“<br />

Landwirtschaft Interne E-Mails enthüllen, wie der US-Konzern Monsanto Risiken<br />

verschwieg und Studien manipulierte, um das Pflanzengift Glyphosat reinzuwaschen.<br />

Ob Pestizide mit dem Wirkstoff Krebs verursachen, wurde nie richtig getestet.<br />

Es gibt Unternehmen, deren Ruf so<br />

ruiniert scheint, dass die Erwartungen<br />

an Ethik und Geschäftsgebaren<br />

ausgesprochen niedrig sind.<br />

Schockierend ist es dennoch, wenn sich<br />

die Vorwürfe schwarz auf weiß bestätigen.<br />

<strong>Der</strong> Agrarkonzern Monsanto steht unter<br />

Beschuss, weil das von der Firma entwickelte<br />

Unkrautvertilgungsmittel Roundup<br />

(Wirkstoff: Glyphosat) verdächtigt wird,<br />

krebserregend zu sein. Am Mittwoch sollen<br />

die EU-Mitgliedstaaten entscheiden, ob die<br />

Chemikalie, deren Zulassung am 15. Dezember<br />

ausläuft, für weitere zehn Jahre in<br />

der EU erlaubt wird. Vorausgegangen ist<br />

ein jahrelanger Streit, der nun durch brisante<br />

Dokumente weiter zugespitzt wird.<br />

Interne E-Mails, Präsentationen und Memos<br />

enthüllen Monsantos Strategien, Glyphosat<br />

mit allen Mitteln reinzuwaschen.<br />

Und diese „Monsanto Papers“ lassen noch<br />

mehr erahnen: Offenbar weiß der Konzern<br />

selbst nicht so genau, ob Roundup unbedenklich<br />

für die Gesundheit ist.<br />

„Man kann nicht sagen, dass Roundup<br />

nicht krebserregend ist“, schreibt die Monsanto-Toxikologin<br />

Donna Farmer in einer<br />

der E-Mails. „Wir haben nicht die nötigen<br />

Tests durchgeführt, um diese Aussage zu<br />

machen.“<br />

Die am 22. November 2003 verschickte<br />

Mail ist eines von mehr als hundert Dokumenten,<br />

die Monsanto in den USA durch<br />

richterlichen Beschluss als Beweismittel<br />

zur Verfügung stellen musste. Rund 2000<br />

Kläger fordern in Sammelklagen Schadensersatz<br />

von Monsanto. Sie behaupten,<br />

Roundup habe bei ihnen oder bei ihren<br />

Angehörigen das Non-Hodgkin-Lymphom<br />

ausgelöst – eine Form von Lymphdrüsenkrebs.<br />

Hat Monsanto Risiken verschwiegen?<br />

Die Dokumente legen das nahe. Für die<br />

Firma ist die Veröffentlichung der Papiere<br />

eine Katastrophe. Auch in Leverkusen bei<br />

Bayer dürfte die Sache diskutiert werden –<br />

der deutsche Chemiekonzern ist im Begriff,<br />

Monsanto zu kaufen.<br />

„Die Monsanto-Papiere erzählen eine<br />

alarmierende Geschichte von wissenschaftlicher<br />

Einflussnahme, Betrug und zurückgehaltenen<br />

Informationen“, sagt Michael<br />

Baum, Partner der Kanzlei Baum, Hedlund,<br />

Aristei & Goldman, die eine der<br />

US-Sammelklagen anstrengt. Monsanto<br />

benutze dieselben Strategien wie die Tabakindustrie:<br />

„Zweifel säen; Kritiker attackieren;<br />

Forschung manipulieren.“<br />

Glyphosat ist das weltweit meistversprühte<br />

Herbizid. Über 800 000 Tonnen<br />

des Stoffs produzieren Firmen wie Monsanto,<br />

Syngenta oder Bayer jedes Jahr.<br />

Auch in Deutschland wird es verkauft. Die<br />

Bauern machen mit dem Mittel Tabula<br />

rasa, um Felder für die neue Aussaat vorzubereiten.<br />

Oder sie spritzen damit Kartoffel-<br />

oder Rapspflanzen kurz vor der Reife<br />

tot. Dann ist die Ernte einfacher.<br />

Seit mehr als 40 Jahren ist der Bauern-<br />

Blockbuster in Gebrauch und inzwischen<br />

fast überall zu finden: im Urin von Mensch<br />

und Tier, in der Milch, im Bier, im Speiseeis,<br />

vor allem im Kraftfutter aus den USA<br />

oder Brasilien, das auch in den Trögen<br />

deutscher Rinder und Schweine landet.<br />

Lange galt Glyphosat als gesundheitlich<br />

unbedenklich, weil es einen Stoffwechselweg<br />

hemmt, der für Pflanzen zwar essenziell<br />

ist, bei Säugetieren jedoch nicht vorkommt.<br />

Doch ist das Mittel wirklich so<br />

harmlos? Im März 2015 nährte ein Warnruf<br />

von höchster Warte Zweifel an der Saga<br />

vom unbedenklichen Pestizid. Die Internationale<br />

Agentur für Krebsforschung<br />

(IARC), ein Gremium unter dem Dach der<br />

Weltgesundheitsorganisation, stufte Glyphosat<br />

als „wahrscheinlich krebserregend<br />

für den Menschen“ ein. Das Votum löste<br />

die Sammelklagen in den USA aus.<br />

Monsanto reagierte sofort. Die IARC-<br />

Einschätzung widerspreche „Jahrzehnten<br />

umfangreicher Sicherheitsforschung der<br />

führenden Regulierungsbehörden der<br />

Welt“, wetterte Cheftechniker Robb Fraley.<br />

Firmenchef Hugh Grant diffamierte die Arbeit<br />

als „Drecksforschung“.<br />

Nun jedoch zeigt sich: Monsanto hatte<br />

das IARC-Votum schon erwartet. Den Konzernforschern<br />

aus St. Louis war von vornherein<br />

klar, dass die Expertenrunde eine<br />

Krebswarnung aussprechen würde.<br />

„Worüber wir lange besorgt waren, ist<br />

eingetreten“, schrieb die Toxikologin Farmer<br />

im September 2014. „Glyphosat soll<br />

von der IARC überprüft werden.“ Monsanto-Kollege<br />

William Heydens präzisierte die<br />

Sorgen einen Monat später: „Verwundbar“<br />

sei man nicht nur „im Bereich Epidemiologie“,<br />

sondern potenziell auch bei „Exponierung,<br />

Gentox und Wirkmechanismus“.<br />

In epidemiologischen Studien kann untersucht<br />

werden, ob das Auftreten von<br />

Krankheiten mit bestimmten Stoffen zusammenhängt.<br />

Unter anderem auf solche<br />

Studien stützt die IARC ihr Votum. Die<br />

Untersuchungen aus den USA, Kanada<br />

und Schweden legen nahe, dass Glyphosat<br />

das Risiko erhöht, an Lymphdrüsenkrebs<br />

zu erkranken.<br />

Gentox wiederum ist die Kurzform für<br />

Genotoxizität und beschreibt, ob eine Substanz<br />

das Erbgut schädigt. Erbgutschäden<br />

können Krebs auslösen.<br />

Vom Acker in die Welt Glyphosatbelastung von Mensch, Natur und Nahrung*<br />

Glyphosat lässt sich im Wasser<br />

vieler Seen und Flüsse nachweisen,<br />

etwa in der Donau, im Rhein und im<br />

Neckar; selbst im Grundwasser ist<br />

es mancherorts enthalten.<br />

Tierfutter kann Glyphosat enthalten.<br />

Vor allem in Gentech-Soja aus<br />

Brasilien oder den USA, das auch an<br />

deutsche Schweine und Rinder<br />

verfüttert wird, sind Rückstände.<br />

In Deutschland hatten sieben von<br />

zehn untersuchten Großstädtern<br />

Glyphosat im Urin. Die Aufnahme<br />

erfolgt mit der Nahrung.<br />

*Nach Einschätzung des Bundesinstituts für Risikobewertung sind alle gemessenen Konzentrationen gesundheitlich unbedenklich.<br />

108 DER SPIEGEL 43 / 2017


BRUNO BEBERT / BESTIMAGE / ACTION PRESS<br />

STEVEN LÜDTKE / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

Proteste gegen Monsanto in Nizza, Glyphosat-Einsatz bei Göttingen: „Wir haben beschlossen, die Studie zu stoppen“<br />

STEVEN LÜDTKE / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

Und was mit „verwundbar“ gemeint ist,<br />

lässt sich in weiteren Monsanto-Mails nachlesen.<br />

Man habe „keine direkten Tests“<br />

zur „krebserregenden Wirkung“ von<br />

Roundup durchgeführt, heißt es da. Oder:<br />

„Wir führen keine subchronischen, chronischen<br />

oder teratogenen Untersuchungen<br />

mit unseren Formulierungen durch.“ Letztere<br />

würden zeigen, ob Roundup Fehlbildungen<br />

auslösen kann, wie es manche Studien<br />

nahelegen. Rattenembryonen etwa,<br />

die mit verdünntem Roundup geduscht<br />

wurden, entwickelten Skelettschäden.<br />

Sogar eigenen Gutachtern traute Monsanto<br />

nicht. Toxikologin Farmer fasste eine<br />

Analyse des Monsanto-Beraters James Parry<br />

so zusammen: „Dr. Parry folgerte, dass<br />

Glyphosat in der Lage sei, Genotoxizität<br />

zu produzieren.“ Als Warnung wollte Farmer<br />

dies aber nicht verstanden wissen.<br />

Man müsse Parry weitere Studien zukommen<br />

lassen, um ihn „von seiner Position<br />

abzubringen“, schrieb sie stattdessen.<br />

Auch der Wirkmechanismus des Stoffs<br />

scheint nicht so harmlos, wie es die Industrie<br />

gern behauptet. Denn Glyphosat tötet<br />

nicht nur Pflanzen, sondern auch viele<br />

Mikroorganismen. Mensch und Tier sollten<br />

damit zwar nicht direkt betroffen sein,<br />

wohl aber das Mikrobiom, die Millionen<br />

Bakterien der Darmflora.<br />

Bei Rindern, die glyphosathaltiges Kraftfutter<br />

fressen, verändert sich dadurch zum<br />

Beispiel die Häufigkeit mancher Mikroorganismen<br />

im Pansen, hat die Leipziger Veterinärmedizinerin<br />

Monika Krüger beobachtet<br />

– mit Auswirkungen auf die Gesundheit<br />

der Tiere. Das Bundesinstitut für Risikoforschung<br />

(BfR), das in der EU für die<br />

Einschätzung von Glyphosat zuständig ist,<br />

widerspricht dem allerdings.<br />

Verantwortunglos verhalten sich die<br />

Monsanto-Forscher auch, wenn es um die<br />

Aufnahme von Roundup in den Körper<br />

geht. „Zwischen 5 und 10 Prozent“ des<br />

Stoffs drängen durch die Haut von Ratten,<br />

fanden die Konzernexperten schon 2002<br />

bei eigenen Tierversuchen heraus.<br />

Die Quote lag weit höher als erwartet:<br />

Das Ergebnis habe das Potenzial, die<br />

„Roundup-Risikobewertungen“ zu „spren-<br />

In Tee und Kaffee wurden<br />

Spuren von Glyphosat gefunden.<br />

Bei Instantprodukten lagen die<br />

Werte oftmals höher.<br />

Glyphosat findet sich auch in<br />

Milch aus konventioneller<br />

Landwirtschaft. Die Kühe<br />

nehmen die Chemikalie mit<br />

dem Kraftfutter auf.<br />

In Getreide, Backwaren und<br />

Mehl wurde Glyphosat festgestellt,<br />

insbesondere wenn es<br />

kurz vor der Ernte versprüht<br />

worden war.<br />

Glyphosatrückstände entdeckten<br />

Analytiker auch in Bier. Allerdings<br />

müsste man täglich 1000 Liter Bier<br />

trinken, um den derzeit gültigen<br />

toxikologischen Grenzwert zu<br />

erreichen.<br />

Quellen: BfR, BUND, FAO, IDAEA-CSIC, Monsanto, „Öko-Test“, VMF Uni Leipzig<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

109


Wissenschaft<br />

110 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Gift gegen<br />

Grünzeug<br />

Absatz von Glyphosat<br />

weltweit, in<br />

Tausend Tonnen<br />

2014<br />

826<br />

2008<br />

543<br />

geschätzter Marktwert<br />

4,1 Mrd. €<br />

2002<br />

269<br />

Quellen:<br />

Environmental<br />

Sciences Europe,<br />

Agrow<br />

gen“, heißt es in einer E-Mail. Die Konsequenz:<br />

„Wir haben beschlossen, die Studie<br />

zu stoppen.“ Auch über den Verdauungstrakt<br />

nahmen Versuchstiere mehr Round -<br />

up-Inhaltsstoffe auf als erhofft.<br />

Vor allem aber wird aus den Monsanto-<br />

Papieren deutlich, dass den Experten ein<br />

Unterschied sehr bewusst war, der in der<br />

öffentlichen Diskussion häufig untergeht.<br />

Herbizide wie Roundup enthalten neben<br />

Glyphosat weitere gefährliche Chemikalien,<br />

die unter anderem notwendig sind,<br />

um dem Wirkstoff den Weg durch die harten<br />

Pflanzenwände zu bahnen. Diese geheimen<br />

Rezepturen jedoch sind oftmals<br />

schädlicher als der Wirkstoff allein.<br />

Das Problem daran: Viele Regulierungsbehörden<br />

bewerten vor allem den Wirkstoff<br />

Glyphosat isoliert auf Giftigkeit, nicht<br />

aber die versprühten Mixturen – ein Erfolg<br />

jahrelanger Lobbyarbeit der Industrie.<br />

Ob die Environmental Protection Agency<br />

aus den USA, die Europäische Behörde<br />

für Lebensmittelsicherheit oder das BfR:<br />

Sie alle führen sogenannte Risikoanalysen<br />

durch. In den dafür ausgewerteten Studien<br />

träufeln Forscher Ratten reines Glyphosat<br />

ins Futter. Dann bestimmen sie jene Glyphosat-Menge,<br />

die den Tieren gerade eben<br />

noch keine Schäden zufügt. Andere Studien<br />

stellen fest, in welcher Konzentration<br />

der Stoff tatsächlich in der Umwelt vorkommt.<br />

Liegen die beiden Werte weit auseinander,<br />

geben die Kontrolleure Entwarnung.<br />

Bei Glyphosat ist das so. Das Urteil:<br />

nicht krebserregend.<br />

Anders die gefahrenbezogene Bewertung,<br />

die zum IARC-Votum führte: Unabhängig<br />

von der Dosis untersuchen Forscher<br />

dabei, ob der Stoff prinzipiell gefährlich<br />

ist. Zudem bewerten sie, was geschieht,<br />

wenn die kompletten Mixturen, in diesem<br />

Fall Roundup, versprüht werden. Bei solchen<br />

epidemiologischen Studien können<br />

die Bedingungen nicht so gut kontrolliert<br />

werden. Dafür bilden sie die Wirklichkeit<br />

besser ab – und führten zum IARC-Votum:<br />

wahrscheinlich krebserregend.<br />

Zu einem ähnlichen Resultat kamen<br />

auch die Monsanto-Experten. „Glyphosat<br />

ist OK, aber das formulierte Produkt verursacht<br />

den Schaden“, schrieb Monsanto-<br />

Forscher Heydens an Donna Farmer.<br />

Wäre es da nicht angebracht gewesen,<br />

die Öffentlichkeit zu warnen? <strong>Der</strong> Konzern<br />

tat nichts dergleichen. Stattdessen setzte<br />

die Firma ihre massive Lobbykampagne<br />

fort und ließ kaum etwas unversucht, um<br />

missliebige Forscher zu diskreditieren.<br />

Eines der Opfer war der französische<br />

Toxikologe Gilles-Éric Séralini. Er tat genau<br />

das, was eigentlich Monsantos Aufgabe<br />

gewesen wäre: Séralini träufelte Versuchsratten<br />

über zwei Jahre Roundup ins<br />

Trinkwasser und fütterte sie mit glyphosatbelastetem<br />

Gentech-Mais. Was er fand,<br />

war alarmierend: Manche der Tiere entwickelten<br />

Nierenschäden, die Weibchen erkrankten<br />

auffallend häufig an Brustkrebs.<br />

Im September 2012 veröffentlichte das<br />

Fachblatt „Food and Chemical Toxicology“<br />

die Studie. Danach brach in Séralinis Leben<br />

die Hölle los. Hunderte Forscher protestierten.<br />

Séralini wurden „Falschaussagen“<br />

vorgeworfen und die „Verwendung<br />

von Tieren für Propagandazwecke“.<br />

Im November 2013 zog das Journal<br />

die Veröffentlichung zurück. Zufall oder<br />

nicht – ein halbes Jahr zuvor hatte das<br />

Fachmagazin einen ehemaligen Monsanto-Mitarbeiter<br />

in seinen Beirat berufen.<br />

Auch die internen Memos bestätigen, wie<br />

Monsanto Druck ausübte. Er habe „erfolgreich<br />

mehrere Sachverständige dazu gebracht,<br />

Briefe an den Herausgeber“ zu<br />

schreiben, brüstete sich der damalige Monsanto-Experte<br />

David Saltmiras. <strong>Der</strong> Vorgang<br />

sei „in unserem besten Interesse“ und „die<br />

letzte Ölung für Séralinis Glaubwürdigkeit“.<br />

Methodisch ist Séralinis Arbeit tatsächlich<br />

angreifbar. Das machte es den Monsanto-Experten<br />

leicht. Doch bei der Gefahrenbewertung<br />

der IARC wiederholte<br />

sich das Muster. Hier hatte Monsanto sogar<br />

einen detaillierten „Bereitschafts- und Einsatz-Plan“<br />

vorbereitet, um gegen das Votum<br />

der Krebsexperten vorzugehen.<br />

Die Firma engagierte ein Team von Forschern<br />

und Lobbyexperten. Ihr Ziel: ein<br />

„orchestrierter Aufschrei“. Die IARC sollte<br />

als Organisation mit einer Geschichte<br />

„fragwürdiger und politisch aufgeladener<br />

Entscheidungen“ diskreditiert werden.<br />

Tatsächlich brach nach dem IARC-Votum<br />

ein Sturm der Entrüstung los. Die Finanzierung<br />

des Gremiums wurde hinterfragt.<br />

Erst im Juni machte die Falschmeldung<br />

die Runde, ein Mitglied der IARC<br />

habe Informationen zurückgehalten.<br />

<strong>Der</strong> Monsanto-Schlachtplan sah zudem<br />

„drei neue wissenschaftliche Veröffentlichungen“<br />

vor. 2016 erschien tatsächlich<br />

eine kritische „Review“ zur IARC-Bewertung.<br />

Die internen Papiere zeigen: Monsanto<br />

nahm massiv Einfluss auf den Inhalt.<br />

Zudem erhielten zwei der Autoren offenbar<br />

direkt Geld von Monsanto. So wird<br />

dem ehemaligen Mitarbeiter John Acquavella<br />

die Summe von 20700 US-Dollar quittiert,<br />

für „Beratung im Zusammenhang<br />

mit dem Glyphosat-Expertengremium“.<br />

Monsanto weist die Einflussnahme zurück.<br />

Zu den weiteren Vorwürfen nimmt<br />

die Firma keine Stellung. Offene Fragen<br />

bleiben: Wieso veröffentlicht Monsanto<br />

seine eigenen Forschungsergebnisse nicht?<br />

Warum finanziert die Firma nicht zum Beispiel<br />

eine unabhängige Wiederholung der<br />

Séralini-Studie, die alle Zweifel ausräumen<br />

könnte?<br />

„Monsanto würde alles tun, um sein Produkt<br />

Roundup zu schützen“, sagt Daniel<br />

Boese von der Bürgerbewegung Avaaz.<br />

Über Jahre habe die Firma die Verbraucher<br />

getäuscht und Gutachten beeinflusst.<br />

Die Firma „zerstört wissenschaftliche<br />

Sicher heitsmechanismen, auf die sich die<br />

Öffentlichkeit eigentlich verlässt“, so Boese.<br />

<strong>Der</strong> Lobbyeinfluss des Unternehmens<br />

sei massiv. So sei der Glyphosat-Bericht<br />

des deutschen BfR in Teilen aus Unter -<br />

lagen der Glyphosate Task Force übernommen,<br />

eines Monsanto-geführten Industrieverbandes.<br />

Das BfR weist den Plagiats -<br />

vorwurf zurück.<br />

Europas Politiker sollten sich die Monsanto-Papiere<br />

besser gut ansehen, bevor<br />

sie Glyphosat für weitere zehn Jahren zulassen.<br />

Italien, Österreich und Frankreich<br />

wollen sich bereits dagegen entscheiden.<br />

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela<br />

Merkel (CDU) zögert noch.<br />

„Wir werden uns dafür einsetzen, dass<br />

Sie diesen Stoff da, wo es notwendig ist,<br />

auch weiterhin anwenden können“, rief<br />

sie den Landwirten noch im Juni auf dem<br />

Deutschen Bauerntag zu. In einer möglichen<br />

Jamaikakoalition mit den Grünen<br />

könnte es für Merkel allerdings schwer werden,<br />

dieses Versprechen einzuhalten.<br />

Ohnehin täten auch Europas Landwirte<br />

gut daran, sich Schicksale wie jenes von<br />

Jack McCall vor Augen zu führen, dessen<br />

Witwe Teri zu den Klägerinnen in den<br />

USA gehört.<br />

<strong>Der</strong> kalifornische Farmer versprühte<br />

über Jahrzehnte Roundup in seinen Obstplantagen.<br />

Ein treuer Begleiter blieb dabei<br />

lange an seiner Seite: sein Hund Duke.<br />

Erst starb der Hund an Lymphdrüsenkrebs.<br />

Dann McCall.<br />

Philip Bethge<br />

Mail: philip.bethge@spiegel.de


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Rosenzweig & Schwarz, Hamburg


Wissenschaft<br />

Verrückt oder bösartig?<br />

Psychiatrie Einige führende amerikanische Seelenkundler haben den Geisteszustand von<br />

Präsident Donald Trump begutachtet – ihre Ferndiagnosen sind beängstigend.<br />

US-Präsident Trump: „Sadistisch, mitleidlos, grausam, unmoralisch, primitiv, kaltschnäuzig, räuberisch, schikanierend, entmenschlichend“<br />

LUCA BRUNO / AP<br />

Das Verhalten des Täters zeige charakteristische<br />

Merkmale eines Soziopathen,<br />

urteilt der Gutachter<br />

und Psychiater Lance Dodes. Es handle<br />

sich dabei um „eine der schwerwiegendsten<br />

aller seelischen Störungen“. Soziopathen<br />

litten unter einem „Defekt in der<br />

grundlegenden Natur ihres Menschseins“.<br />

Ihre typischen Eigenschaften: „Sadistisch,<br />

mitleidlos, grausam, abwertend, unmoralisch,<br />

primitiv, kaltschnäuzig, räuberisch,<br />

schikanierend, entmenschlichend.“<br />

Dodes lässt keinen Zweifel daran, dass<br />

er von einem gefährlichen Monstrum<br />

spricht. Doch gemeint ist nicht etwa der<br />

Attentäter von Las Vegas. Nein, die Rede<br />

ist vom amtierenden Präsidenten der Vereinigten<br />

Staaten.<br />

Dodes’ Expertise ist Teil eines Buchs, in<br />

dem 27 Fachleute – teils sehr namhafte Psychiater<br />

und Psychologen – ihr Urteil über<br />

112 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Donald Trump abgeben*. <strong>Der</strong> Band ist aus<br />

einer Konferenz hervorgegangen, die unter<br />

dem Motto „Duty to Warn“ (Pflicht zu warnen)<br />

an der Uni Yale stattfand.<br />

Entstanden ist ein unheimliches Seelenpanorama.<br />

Trump werden ein „hypermanisches<br />

Temperament“, eine „wahnhafte<br />

Loslösung von der Wirklichkeit“ und „paranoide<br />

Hyperempfindlichkeit“ attestiert.<br />

Die Autoren unterstellen ihm nicht nur<br />

„Gedankenlosigkeit“, „Leichtsinn“ und<br />

„Selbstverherrlichung“, sondern auch<br />

„Frauenhass“, „Boshaftigkeit“ und „Bewunderung<br />

für Gewaltherrscher“. Sogar<br />

vor Vergleichen mit Adolf Hitler schrecken<br />

die Fachleute nicht zurück.<br />

Den Leser hinterlässt das Buch fassungslos:<br />

Wird das mächtigste Land der Welt<br />

* Bandy Lee (Hg.): „The Dangerous Case of Donald<br />

Trump“. Thomas Dunne Books; 384 Seiten.<br />

wirklich von einem Verrückten regiert? Einem<br />

Größenwahnsinnigen, der nicht recht<br />

weiß, was er tut? Oder steigert sich hier<br />

nur eine Handvoll Psychiater, empört über<br />

Trumps irrlichternden Politikstil, in überzogene<br />

Horrorfantasien hinein?<br />

Den ethischen Richtlinien ihres Berufsstands<br />

zufolge hätten die Autoren ein<br />

solches Buch nicht schreiben dürfen. Die<br />

sogenannte Goldwater-Regel verbietet es<br />

ihnen als Psychiatern, sich über Menschen<br />

des öffentlichen Lebens zu äußern. Er -<br />

lassen wurde diese Vorschrift, nachdem<br />

1964 mehr als tausend Psychiater dem<br />

damaligen republikanischen Präsidentschaftskandidaten<br />

Barry Goldwater im<br />

Rahmen einer Zeitschriftenumfrage bescheinigt<br />

hatten, er sei aus psychischen<br />

Gründen amtsuntauglich.<br />

Goldwater verlor die Wahl, vor Gericht<br />

jedoch obsiegte er: Die Zeitschrift wurde


Zahlreiche US-Präsidenten litten<br />

unter Symptomen<br />

seelischer Störungen.<br />

Abraham Lincoln (1861 bis 1865)<br />

Weinen in der Öffentlichkeit<br />

Theodore Roosevelt (1901 bis 1909)<br />

Berühmt für manische Tiraden<br />

John F. Kennedy (1961 bis 1963)<br />

Oft unter dem Einfluss von Psychopillen<br />

DPA<br />

AP<br />

AP<br />

zur Zahlung von Schadensersatz verpflichtet.<br />

<strong>Der</strong> amerikanische Psychiaterbund<br />

APA empfand es als Schmach für die Zunft<br />

und untersagte seinen Mitgliedern fortan<br />

jegliches fachliche Urteil über Politiker, die<br />

sie ärztlich nicht untersucht haben.<br />

Die Autoren des Buchs begehren jetzt<br />

gegen dieses Schweigegebot auf. Im Fall<br />

Trump sei das Gefühl weit verbreitet, dass<br />

mit ihm psychisch irgendetwas nicht<br />

stimmt. Da sei es geradezu die Pflicht der<br />

Psychiater, den Menschen mit ihrer Expertise<br />

Erklärungshilfen anzubieten.<br />

„Eine der seltsamsten Erfahrungen in<br />

meiner Karriere als Psychiaterin war es,<br />

festzustellen, dass die einzigen Leute, die<br />

nicht über einen Gegenstand sprechen dürfen,<br />

diejenigen sind, die am meisten da -<br />

rüber wissen“, klagt Bandy Lee, die Organisatorin<br />

der Konferenz an der Universität<br />

Yale. Und auch der Psychiater Leonard<br />

Glass erklärt: „Wir sind die einzige medizinische<br />

Fachdisziplin, für die ein solcher<br />

Maulkorb gilt. Niemand stört sich daran,<br />

wenn sich ein Kardiologe über den Zusammenbruch<br />

von Hillary Clinton oder ein<br />

Orthopäde über die Verletzung eines Footballstars<br />

äußert.“<br />

Indem sich die Buchautoren nun an eine<br />

Bewertung von Trumps Persönlichkeit wagen,<br />

werden auch die Schwierigkeiten eines<br />

solchen Unterfangens offenbar. Die<br />

Herausgeber betonen, es könne nur um<br />

die Beurteilung von Trumps Verhalten in<br />

der Öffentlichkeit gehen, nicht hingegen<br />

darum, ihm eine bestimmte Geisteskrankheit<br />

zu attestieren.<br />

Trotzdem prasseln die Diagnosen in<br />

dem Buch auf Trump nur so ein: Die meisten<br />

der selbst ernannten Gutachter favorisieren<br />

die „narzisstische Persönlichkeitsstörung“,<br />

andere gehen noch weiter und<br />

glauben, Anzeichen von „bösartigem Narzissmus“<br />

zu erkennen. Aber auch die „dissoziale<br />

Persönlichkeitsstörung“ steht hoch<br />

im Kurs. Dodes hält Trump für einen Soziopathen,<br />

Michael Tansey aus Chicago<br />

bringt die „wahnhafte Störung“ als mög -<br />

liche Diagnose ins Spiel. Und dann gibt es<br />

natürlich noch jene, die Trump für aufmerksamkeitsgestört<br />

erklären oder bei ihm<br />

eine beginnende Demenz zu erkennen<br />

glauben.<br />

Kurzum: Alle Autoren sind sich einig,<br />

dass Trump irgendwie nicht richtig tickt,<br />

und dies auf äußerst beängstigende Weise.<br />

Nur: Welcher Natur seine Störung eigentlich<br />

ist, das wissen sie auch nicht genau.<br />

Es scheint, dass der US-Präsident an mehr<br />

als nur einer Geisteskrankheit leidet.<br />

„Eindeutige Diagnosen zu erstellen ist<br />

nicht nötig, und es ist auch nicht hilfreich“,<br />

sagt Psychiater Glass – schon deshalb, weil<br />

völlig unklar sei, was eine klare Diagnose<br />

eigentlich bedeuten würde. Denn in einem<br />

sind sich Glass und seine Kollegen einig:<br />

Eine seelische Erkrankung schließt die Ausübung<br />

des höchsten Staatsamts nicht automatisch<br />

aus.<br />

Bei einer retrospektiven Analyse kamen<br />

Forscher im Jahr 2006 zu dem Schluss, dass<br />

rund ein Viertel von 37 betrachteten US-<br />

Präsidenten Symptome zeigte, die eine seelische<br />

Erkrankung nahelegen. Abraham<br />

Lincoln zum Beispiel weinte in der Öffentlichkeit,<br />

und Theodore Roosevelt war berühmt<br />

für seine manischen Tiraden. Bei<br />

John F. Kennedy konnten die Autoren der<br />

Studie zwar keinen unmittelbaren Hinweis<br />

auf eine seelische Störung finden, doch<br />

stand er oft unter dem Einfluss psycho -<br />

aktiver Medikamente. Alle drei waren<br />

zweifellos erfolgreiche Präsidenten.<br />

Bei Trump aber ist es irgendwie anders;<br />

und die Autoren mühen sich damit ab zu<br />

definieren, worin denn der Unterschied<br />

liegen könnte. Immer wieder kommen sie<br />

auf die Frage zurück, ob Trump wohl all<br />

die Lügen, die er verbreitet, selbst glaubt;<br />

ob er ein gerissener Publicityprofi oder<br />

ein geistig gestörter Besessener ist; ob er<br />

mutwillig Menschen manipuliert oder nur<br />

wahnhaften Impulsen folgt. Kurzum: ob<br />

Trump verrückt oder bösartig ist.<br />

Eine verbindliche Antwort auf diese<br />

Fragen könne sie nicht liefern, sagt die Psychiaterin<br />

und Traumaforscherin Judith Herman:<br />

„Wahrscheinlich trifft auf Trump beides<br />

zu.“ Aber viel wichtiger: Letztlich komme<br />

es darauf gar nicht an. Entscheidend sei,<br />

wie gefährlich Trump eigentlich ist.<br />

Psychiater würden häufig hinzugezogen,<br />

wenn es darum gehe zu beurteilen, welche<br />

Gefahr von einem Menschen ausgeht, sagt<br />

Herman. „Bei der Bewertung greifen wir<br />

oft nicht auf ein persönliches Gespräch,<br />

sondern allein auf eine Beurteilung beobachtbaren<br />

Verhaltens zurück.“<br />

Wenn es um solche Gutachten geht,<br />

dann hat das Wort von James Gilligan Gewicht.<br />

Er ist forensischer Psychiater an der<br />

New York University, viele Jahre lang hat<br />

er ein Gefängnis für geistig kranke Straftäter<br />

geleitet. Er hat Mörder, Vergewaltiger<br />

und andere Kriminelle begutachtet. Was<br />

er über Trump zu sagen hat, fällt vernichtend<br />

aus: „Er ist auf beispiellose und abnorme<br />

Weise gefährlich.“<br />

Gilligan hat Berichte über Trump durchforstet,<br />

um nach Hinweisen auf seine Einstellung<br />

zur Gewalt zu suchen. Die Indizien,<br />

die er zusammengetragen hat, sind<br />

furchterregend:<br />

‣ Trump sponserte 1989 eine Kampagne,<br />

die das Ziel hatte, fünf Jugendliche in<br />

New York hinzurichten. Als dann deren<br />

Unschuld bewiesen war, ließ er das einfach<br />

nicht gelten.<br />

‣ Er prahlte damit, sich Frauen gegenüber<br />

jede Art von Übergriffen leisten zu können<br />

(„Greif ihnen an die Muschi. Du<br />

kannst alles machen“).<br />

‣ Im Wahlkampf versprach Trump, er werde<br />

nicht nur das Waterboarding wieder<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

113


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GE-Topmann Jeffrey Immelt zieht Bilanz<br />

Wissenschaft<br />

zulassen, sondern „noch viel weiter<br />

gehen“.<br />

‣ Er forderte seine Anhänger auf Wahlveranstaltungen<br />

auf, Protestler zusammenzuschlagen<br />

(„Prügelt ihnen die Seele<br />

aus dem Leib. Ich zahle den Anwalt.<br />

Versprochen“).<br />

‣ Er rief Waffennarren kaum verhohlen<br />

dazu auf, seine Konkurrentin Hillary<br />

Clinton zu erschießen.<br />

‣ Er erklärte sich selbst für unantastbar<br />

(„Ich könnte mitten auf der Fifth Avenue<br />

jemanden erschießen, und es würde<br />

mich keine einzige Wählerstimme kosten“).<br />

‣ Er äußerte verschiedentlich Unverständnis<br />

darüber, warum man Atomwaffen,<br />

wenn man sie schon habe, nicht auch<br />

nutzen dürfe.<br />

„Androhung von Gewalt, Prahlerei mit<br />

Gewalt, Anstiftung zu Gewalt“, resümiert<br />

Gilligan. Für ihn gibt es keinen Zweifel:<br />

Donald Trump spricht die Sprache eines<br />

Diktators.<br />

Gilligans Kollege Tansey pflichtet ihm<br />

in seinem Buchkapitel bei. Ihn ängstigt vor<br />

allem die Bewunderung, die Trump für Gewaltherrscher<br />

bekundet hat. Über Saddam<br />

Hussein sagte Trump: „Er hat Terroristen<br />

getötet. Das hat er so gut gemacht! Sie haben<br />

ihnen nicht ihre Rechte vorgelesen.<br />

Sie haben nicht geredet. Du warst ein<br />

Terrorist, und das war’s.“ Und über Putin<br />

verkündete er im Wahlkampf: „In puncto<br />

Führung kriegt er ein A, und unser Präsident<br />

schneidet nicht so gut ab.“ Ähnliche<br />

Hochachtung wie für Saddam oder Putin,<br />

sagt Tansey, habe Trump früheren US-<br />

Präsidenten gegenüber nie zum Ausdruck<br />

gebracht.<br />

Despoten hätten auf Trump eine große<br />

Anziehungskraft, erklärt Tansey, denn ihre<br />

absolute Macht sei das, wovon er selbst<br />

träume. Er sehne sich nach der bedingungslosen<br />

Verehrung seiner Fans und der physischen<br />

Vernichtung seiner Gegner, so wie<br />

es nur in einer Diktatur möglich ist.<br />

Das sind massive Vorwürfe. Und Gilligan<br />

steigert sie noch, indem er auf das<br />

nukleare Inferno verweist, das auszulösen<br />

nun einem möglicherweise Geistesgestörten<br />

überlassen sei: „Er kann in wenigen<br />

Sekunden mehr Menschen töten, als jeder<br />

Diktator der Vergangenheit es in seiner<br />

gesamten Regierungszeit konnte.“<br />

Doch was können die 27 Experten mit<br />

ihrer niederschmetternden Analyse er -<br />

reichen?<br />

Leonard Glass hofft, der Begeisterung<br />

der Trump-Anhänger mit seiner Expertise<br />

etwas entgegensetzen zu können: „Die<br />

Leute glauben, Donald Trump sei ein richtiger<br />

Kerl“, sagt er. „Sie denken: <strong>Der</strong> hat<br />

Mumm, der hat Geld, der lässt sich von<br />

niemandem was sagen.“ Deshalb sei es<br />

wichtig, den Menschen zu erklären, dass<br />

all das aufgeblasene Geprahle vermutlich<br />

114 DER SPIEGEL 43 / 2017


Jetzt im<br />

Handel<br />

Die US-Verfassung sieht<br />

ein Verfahren vor, einen<br />

unfähigen Präsidenten<br />

des Amtes zu entheben.<br />

nur Ausdruck einer Ich-Schwäche sei. Wer<br />

es nötig habe, sich selbst so maßlos zu<br />

preisen, dem mangle es an Selbstwert -<br />

gefühl.<br />

Auch Judith Herman geht es vor allem<br />

darum, Augen zu öffnen. Die Gefahr sei<br />

groß, dass sich die Menschen an das Verhalten<br />

ihres Präsidenten gewöhnten, so<br />

lange, bis sie es für normal hielten. „Die<br />

Sehnsucht, dass der Kaiser Kleider hat, ist<br />

groß“, sagt die Traumaforscherin. Auch<br />

hofften viele, dass die Verantwortung des<br />

Amts Trump mäßigen könne. Herman zufolge<br />

aber lehrt die psychiatrische Erfahrung,<br />

dass die Verleugnung von krankhaftem<br />

Verhalten ein Fehler und die Hoffnung<br />

auf Besserung bei einem so sehr in starren<br />

Stereotypen gefangenen alten Mann vergebens<br />

ist.<br />

Herman hat zusammen mit zwei Kolleginnen<br />

eine psychiatrische Überprüfung<br />

des Präsidenten angeregt. Das Trio hat genaue<br />

Vorstellungen, wie ein solcher Tauglichkeitstest<br />

aussehen könnte, und jetzt<br />

werben sie unter Politikern dafür.<br />

Tatsächlich sieht die amerikanische Verfassung<br />

ein solches Verfahren zumindest<br />

theoretisch vor: Dem vierten Absatz des<br />

25. Verfassungszusatzes zufolge können<br />

Kabinett und Kongress den Präsidenten<br />

seines Amtes entheben, wenn sie ihn für<br />

unfähig halten, seinen Aufgaben nachzukommen.<br />

Dass es dazu kommen könnte,<br />

gilt unter den gegenwärtigen politischen<br />

Umständen allerdings als sehr unwahrscheinlich.<br />

Trotzdem wollte die Chicagoer Psy -<br />

chiaterin Prudence Gourguechon genauer<br />

wissen, wann ein Präsident eigentlich<br />

dienst untauglich ist. Was, so fragte sie sich,<br />

sind denn die Fähigkeiten, die eine Person<br />

mit solch extrem hoher Verantwortung aufweisen<br />

sollte?<br />

Zu ihrem Erstaunen suchte Gourguechon<br />

in der Fachliteratur lange vergebens<br />

nach einer klaren Antwort auf ihre Frage.<br />

Fündig wurde sie schließlich beim Militär.<br />

Das Armeehandbuch über Führungskräfte<br />

definiert, solide begründet auf psychologische<br />

Forschung und militärische Erfahrung,<br />

welche Eigenschaften einen guten<br />

Offizier ausmachen.<br />

Vor allem auf fünf Kriterien kommt es<br />

demnach an: Vertrauen, Selbstkontrolle,<br />

Urteilsvermögen, Selbstreflexion und Empathiefähigkeit.<br />

Treffender lässt sich nicht zusammenfassen,<br />

was Trump nicht hat. Johann Grolle<br />

www.spiegel-wissen.de<br />

Lesen Sie dazu:<br />

Hunde Ihr erstaunliches Einfühlungsvermögen<br />

Tierparks Sollte man Zoos abschaffen?<br />

Wölfe Die Rückkehr der grauen Jäger<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

115


Das deutsche Stromnetz …<br />

rund 326 000 km Freileitungen<br />

(überwiegend Hoch-, Mittel- und<br />

Niederspannungsmasten)<br />

sowie<br />

1,5 Millionen km Kabelleitungen<br />

davon<br />

2012 km<br />

8400 km<br />

Höchstspannung über 125000 Volt (V)<br />

Hochspannung über 72500 V bis 125000 V<br />

416 000 km Mittelspannung über 1000 V bis 72500 V<br />

1 071000 km<br />

Niederspannung bis 1000 V<br />

Viele Kabelleitungen sind jahrzehntealt.<br />

Erhöhter Stromfluss, etwa durch<br />

Millionen Ladestationen, würde die<br />

Niederspannungsleitungen erwärmen,<br />

ihre Ummantelung zermürben.<br />

Nettostromverbrauch 2016<br />

525 Milliarden Kilowattstunden<br />

davon<br />

Industrie<br />

246,5<br />

Gewerbe,<br />

Handel,<br />

Dienstleistungen<br />

139<br />

Verkehr<br />

11<br />

Haushalte<br />

128,5<br />

Versorgung bei hohem<br />

Leistungsbedarf aus dem<br />

Hoch- und Mittelspannungsnetz<br />

Blackout im Parkhaus<br />

Automobile Das Stromnetz ist zu schwach für einen starken Ausbau der Elektromobilität:<br />

Wenn Millionen Batterieautos auf den Straßen fahren, droht ein Zusammenbruch.<br />

116 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Vor dem Gesetz und an der Steck -<br />

dose sind alle Menschen gleich. Das<br />

erlebte kürzlich ein hochrangiger<br />

Stuttgarter Automanager, als er beschloss,<br />

seine private Garage für die Zukunft zu<br />

rüsten. Ein Stromanschluss mit 22 Kilowatt<br />

sollte an die Wand – stark genug, um handelsübliche<br />

E-Mobile in anderthalb bis<br />

zwei Stunden vollzutanken.<br />

<strong>Der</strong> Stromversorger sagte zu, doch nur<br />

unter einer Bedingung: Erst müssten die<br />

Straße und die Einfahrt vor dem Haus für<br />

die Verlegung eines stärkeren Kabels aufgerissen<br />

werden.<br />

<strong>Der</strong> Vorgang ist dem Betroffenen, Vorstandsmitglied<br />

eines großen deutschen Autokonzerns,<br />

unangenehm genug; deshalb<br />

erzählt er darüber mit der Bitte um Diskretion.<br />

Alle großen deutschen Fahrzeugproduzenten<br />

bekennen sich inzwischen offiziell<br />

zum Batteriemobil. Da sind solche<br />

Erfahrungsberichte unerwünscht.<br />

<strong>Der</strong> Mann hat erlebt, was jedem Bundesbürger<br />

in dieser Situation widerfahren<br />

dürfte, sofern er nicht gerade in einer Gewerbeimmobilie<br />

mit robusterer Verkabelung<br />

wohnt: Stromverbraucher dieser Größe<br />

schließt in Privathaushalten kein Elektriker<br />

ohne Rücksprache mit dem örtlichen<br />

Netzbetreiber an.<br />

So müssen in Stuttgart alle Verbraucher<br />

ab 4,6 Kilowatt angemeldet werden. An<br />

anderen Orten werden ähnliche Grenzen<br />

gesteckt. „Planungsbüros und Bauträger<br />

haben dieses Thema bei fast allen Neubauvorhaben<br />

auf dem Tisch“, sagt ein Prokurist<br />

einer süddeutschen Wohnungsbaugesellschaft.<br />

Auch er wünscht keine Namensnennung,<br />

da es reichlich Streit um dieses<br />

Thema gebe.<br />

Das Stromnetz ist nicht unerschöpflich,<br />

und für die politisch erwünschte Massenmotorisierung<br />

mit Batterieautos wird hier<br />

ein empfindlicher Engpass entstehen. Ohne<br />

das Aufladen des Fahrzeugs im privaten<br />

Haushalt kann Elektromobilität nicht funktionieren.<br />

Bislang sind die Ladezeiten zu<br />

lang, um wie bei dem Benzinauto rasch<br />

am Wegesrand tanken zu können.<br />

Menschen ohne Stellplatz oder Garage<br />

werden sich nicht einmal Gedanken über<br />

die Anschaffung eines Elektroautos machen;<br />

die anderen, und das sind durchaus<br />

einige Millionen Bürger, könnten bald<br />

E-Mobilisten werden. Sie sollten sich dann<br />

aber ein wenig mit den physikalischen Gesetzen<br />

und Zwängen beschäftigen, die hinter<br />

der Steckdose herrschen.<br />

Dort liegen Kabel, so dünn wie Bleistiftminen<br />

– die Endausläufer einer komplexen<br />

Versorgungsmaschinerie, die vom Kraftwerk<br />

über vier Spannungsebenen bis zur<br />

Nachttischlampe reicht und ohne Übertreibung<br />

als Arteriensystem modernen Wohlstands<br />

bezeichnet werden darf. Die höchste<br />

Ebene mit 380000 Volt dient dem Stromtransport.<br />

Auf der zweithöchsten (bis<br />

125000 Volt) werden industrielle Großabnehmer<br />

versorgt.<br />

Am unteren Ende gelangt der Strom<br />

zum Menschen – mit moderaten 230 Volt.<br />

Das mindert die Lebensgefahr beim versehentlichen<br />

Berühren offener Leitungen,<br />

setzt aber auch der nutzbaren Stromleistung<br />

niedrige Grenzen. Wird die zu hoch,<br />

erhitzt sich das Kabel. Bevor es durchglüht,<br />

springt die Sicherung raus.<br />

Doch schon ein unentwegtes Erwärmen<br />

im zulässigen Bereich lässt die Leitung altern.<br />

Die Isolierung wird brüchig. Es<br />

kommt zu Fehlströmen und Kurzschlüssen.<br />

Statt die übliche Lebensdauer von 50 Jahren<br />

und mehr zu erreichen, wird das Kabel<br />

schon nach 10 Jahren mürbe. Passiert das<br />

gelegentlich, ist es ein Ärgernis; passiert<br />

es unentwegt, entsteht ein volkswirtschaftliches<br />

Desaster.<br />

Ein Kupfer- und Aluminiumschatz von<br />

anderthalb Millionen Kabelkilometern liegt<br />

im Boden der Republik. Manche der noch<br />

heute stromführenden Leitungen wurden<br />

verlegt, als der Bundeskanzler Kurt Georg<br />

Kiesinger hieß. Die Netzbetreiber verstehen<br />

keinen Spaß mit ihrer teilhistorischen<br />

Infrastruktur. Zunehmend setzen sie dem<br />

Kunden daher Grenzen. Zu den schlimmsten<br />

Strom- und Kabelfressern zählen Durchlauferhitzer<br />

zur Warmwasserproduktion:<br />

einst als technischer Clou gepriesen, heute<br />

vielerorts nur noch mit Genehmigung installierbar.<br />

Sie fordern um die 20 Kilowatt<br />

aus der Leitung – etwa so viel wie der heimische<br />

Schnelllader fürs E-Mobil.<br />

Dass der keine Standardausstattung für<br />

die heimische Garage werden kann, mag<br />

den passionierten Stromfahrer noch nicht<br />

erschüttern. Gewöhnlich hat er die ganze<br />

Nacht Zeit für die Elektrobetankung. Da


Technik<br />

… und seine Schwachstelle<br />

sonstige elektrische<br />

Haushaltsgeräte<br />

Heizung<br />

Kochen,<br />

Trocknen,<br />

Bügeln,<br />

sonstige Prozesswärme<br />

Bei kompletter Umstellung des<br />

Pkw-Verkehrs auf Elektroantrieb<br />

würde sich der Stromverbrauch<br />

verdoppeln.<br />

Beleuchtung<br />

7% 4% 29%<br />

Knapp 41 Millionen Haushalte<br />

sind an das Niederspannungsnetz<br />

angeschlossen.<br />

Die gebräuchlichen 230-V-<br />

Anschlüsse erlauben keinen<br />

hohen Stromdurchfluss,<br />

Schnellladestationen für<br />

E-Autos überlasten die Kabel.<br />

Warmwasserbereitung<br />

Quellen: BDEW,<br />

AG Energiebilanzen,<br />

eigene Berechnung<br />

8%<br />

Wie sich der<br />

Stromverbrauch der<br />

12%<br />

Haushalte zusammensetzt<br />

128,5<br />

Mrd. Kilowattstunden<br />

17%<br />

Information,<br />

Kommunikation<br />

23%<br />

Kühl- und Gefriergeräte<br />

und sonstige Prozesskälte<br />

+ 128,4<br />

Mrd. Kilowattstunden<br />

Mehrbedarf*<br />

*Nettostromverbrauch für 45,8 Mio. Elektromobile bei<br />

Annahme einer gleichbleibenden durchschnittlichen<br />

Einzelfahrleistung von 14 015 km jährlich.<br />

reicht auch eine einfache Steckdose mit<br />

16-Ampere-Sicherung. Aus der lassen sich<br />

gut drei Kilowatt zapfen – genug, um auch<br />

größere Batterien über Nacht zu füllen.<br />

Und die meisten der heutigen E-Fahrer tun<br />

genau das.<br />

Doch auch dieser Bedarf ist keine Kleinigkeit.<br />

Über längere Zeiträume lägen in<br />

einem durchschnittlichen Haushalt maximal<br />

zwei Kilowatt an, erklärt Andreas Breuer,<br />

Technologiechef des Essener Netzbetreibers<br />

Innogy. Wenn nun massenhaft Ladegeräte<br />

das Anderthalbfache zusätzlich zapften,<br />

habe das „durchaus Netzrückwirkungen“.<br />

Eine sparsame Kleinfamilie, sagt Breuer,<br />

verbrauche gut 3000 Kilowattstunden pro<br />

Jahr. Schafft sich diese nun ein Elektroauto<br />

an und fährt damit 14000 Kilometer jährlich,<br />

was etwa dem Bundesdurchschnitt<br />

entspricht, wird sich (bei einem realistischen<br />

Verbrauch von 20 Kilowattstunden<br />

pro 100 Kilometer) der Strombedarf dieses<br />

Haushalts fast verdoppeln. <strong>Der</strong> massen -<br />

hafte Durchbruch der E-Mobilität wäre<br />

folglich eine Zerreißprobe für das Niederspannungsnetz.<br />

Würden Parkhäuser oder<br />

Tiefgaragen großer Wohnblocks an allen<br />

Stellplätzen nur mit simplen Standardsteckdosen<br />

ausgestattet – der Blackout<br />

wäre vorprogrammiert.<br />

Das weiß auch Stromexperte Breuer.<br />

Und doch sieht er keinen Grund, die Vi -<br />

sion von der Stromfahrt deshalb abzusagen.<br />

Innogy, mehrheitlich im Besitz des<br />

Stromriesen RWE, versteht sich wie der<br />

Dachkonzern durchaus als Unterstützer<br />

der Elektromobilität. „Die Sache“, hofft<br />

Breuer, „ist beherrschbar, denn es wird<br />

nicht alles auf einmal passieren.“<br />

Es komme nun darauf an, dem wachsenden<br />

Bedarf mit intelligenter Technik<br />

und nicht einfach mit einem stupiden Ausbau<br />

des Netzes zu begegnen. Einen Meter<br />

neuen Kabels einzugraben kostet auf dem<br />

Land etwa hundert Euro, in der Großstadt<br />

erheblich mehr. Eine flächendeckende<br />

Neuverdrahtung der Republik wäre unbezahlbar.<br />

Obendrein käme es allerorten zu<br />

Straßensperrungen. Die Elektromobilität<br />

würde zum größten Stauproduzenten aller<br />

Zeiten.<br />

Breuer empfiehlt deshalb, auch im<br />

Stromnetz dem Vorbild kluger Leitsysteme<br />

des Straßenwesens zu folgen: So wie diese<br />

den Verkehr ohne weitere Fahrspuren wieder<br />

harmonisch fließen lassen, könne eine<br />

„Orchestrierung der Stromflüsse“ Ähn -<br />

liches im bestehenden Kabelbaum bewirken:<br />

„Ein wichtiger Schlüssel ist die Vermeidung<br />

von Gleichzeitigkeit.“<br />

So schwebt dem Ingenieur eine Art Ampelschaltung<br />

für die Zapfpunkte in der Tiefgarage<br />

vor, die die Ladegeräte nach -<br />

einander freischaltet. Kaum jemand, glaubt<br />

er, fahre tagsüber so viel, dass er die ganze<br />

Nacht an die Steckdose müsste.<br />

Innogy hat bereits ein Steuergerät für<br />

ähnliche Zwecke entwickelt. Es trägt den<br />

Namen „Smart Operator“ und hat die Größe<br />

eines Autoradios. Erdacht wurde es ursprünglich<br />

zur Netzentlastung aus einem<br />

anderen Grund: dem übermäßigen Einspeisen<br />

volatilen Ökostroms.<br />

Die zeitweise extreme Förderung von<br />

Fotovoltaik führte zu einem Boom von<br />

Kleinanlagen, die durchweg das Niederspannungsnetz<br />

bedienen und zuweilen<br />

mehr Energie liefern, als dieses abführen<br />

kann. Innogy installierte drei Exemplare<br />

des Smart Operator in drei ländlichen Test -<br />

orten.<br />

Eines davon befindet sich im Trafohaus<br />

hinter dem Schulgebäude von Wincheringen,<br />

einem hübschen Dorf inmitten von<br />

Weinbergen an der Mosel. Er ist verbunden<br />

mit einer Wetterstation, 23 Haushalten,<br />

13 Solaranlagen und 2 Großakkus, die<br />

überschüssigen Strom zwischenbunkern<br />

können.<br />

Je nach Wetterprognose dirigiert das<br />

Steuergerät die Elektronenströme: Ist am<br />

Morgen wolkenloser Himmel zu erwarten,<br />

entleert es nachts nach Kräften die Akkus,<br />

um Speicherplatz zu schaffen für den sonst<br />

schwer verdaubaren Sonnensegen. Die Anlage<br />

habe alle Erwartungen erfüllt, erklärt<br />

Projektleiter Stefan Willing: „Wir können<br />

damit ohne Netzausbau 30 Prozent mehr<br />

Ökostrom nutzen als zuvor.“<br />

Ähnlich hilfreich könne ein solcher Puffer<br />

wirken, um Energievorschüsse zu bunkern,<br />

wenn später in einer Tiefgarage 20<br />

Autos gleichzeitig geladen werden sollen.<br />

Die Rechnung geht allerdings nur auf, wenn<br />

diese Anlagen samt ihren teuren Puffer -<br />

akkus am Ende nicht mehr kosten als dickere<br />

Kabel. Das Projekt Smart Operator,<br />

mit dem Innogy drei Dörfchen beglückte,<br />

verschlang allein acht Millionen Euro.<br />

Welchen Preis die Allgemeinheit für ein<br />

Stromnetz zahlen müsste, das Millionen<br />

Elektroautos störungsfrei versorgen soll,<br />

vermag noch niemand einzuschätzen. Fest<br />

steht, dass das Schnellladen von Autobatterien<br />

im eigenen Haushalt ein exotischer<br />

Luxus bleiben dürfte.<br />

<strong>Der</strong> Stuttgarter Automanager schlug das<br />

Angebot des Stromversorgers aus, eigens<br />

für ihn eine bessere Leitung legen zu<br />

lassen.<br />

Seine Branche hat genug Affären am<br />

Hals. Da wollte er nicht auch noch als privilegierter<br />

Starkstromtanker ins Gerede<br />

kommen.<br />

Christian Wüst<br />

Video: Die Krux mit<br />

dem Stromspeicher<br />

spiegel.de/sp432017stromnetz<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

117


Szene aus Bangarra-Stück<br />

„OUR land people stories“<br />

Tanz<br />

Verjagt, verscharrt und entwurzelt<br />

VISHAL PANDEY<br />

<strong>Der</strong> Künstlerische Direktor der<br />

australischen Tanzkompanie<br />

Bangarra, Stephen Page, 52,<br />

über die Massaker an den Urein -<br />

wohnern seines Landes und<br />

den Versuch, ihren Geist in der<br />

Kunst zu beleben<br />

SPIEGEL: Welche Geschichte<br />

erzählt Bangarra?<br />

Page: Unser Land hat kein<br />

Narrativ wie „Schindlers Liste“<br />

oder ein Curriculum, das<br />

in den Schulen die rund<br />

65 000-jährige Geschichte der<br />

schwarzen Ureinwohner<br />

lehrt, die von den Briten gejagt<br />

und in Massengräbern<br />

verscharrt, die Überlebenden<br />

entwurzelt und in Reservate<br />

gepfercht wurden. Die Tänzer<br />

vermitteln Geschichten<br />

über die Beziehung der Ureinwohner<br />

zum Leben, zu ihrem<br />

Land – die philosophischspi<br />

rituellen Prinzipien ihrer<br />

Lebenskultur.<br />

SPIEGEL: Was ist denn die Botschaft?<br />

Page: Erst 1967 wurden die<br />

Aborigines durch ein Referendum<br />

als Menschen anerkannt.<br />

Davor galten sie als Wilde,<br />

die zur Flora und Fauna des<br />

Landes zählten. Es geht uns<br />

bei all dem darum, ihr Vermächtnis<br />

darzustellen und<br />

ihre Vergangenheit auferstehen<br />

zu lassen.<br />

SPIEGEL: Als Tänzer, der<br />

selbst Wurzeln im Nunukul-<br />

Stamm hat, sind Sie seit<br />

Gründung der Gruppe 1989<br />

dabei. Was treibt Sie an?<br />

Page: Ich betrachte mich als<br />

Geschichtenerzähler. Natürlich<br />

geht es auch um Versöhnung,<br />

um Kontaktaufnahme<br />

mit diesem Erbe, um ein neues<br />

Denken und, in diesen modernen<br />

Zeiten, um die Stärkung<br />

eines gemeinsamen<br />

Geistes.<br />

SPIEGEL: Was werden die Zuschauer<br />

bei Ihren Gastspielen<br />

in Bonn und Berlin zu sehen<br />

bekommen?<br />

Page: In Bonn präsentieren<br />

wir nun eine Art von Best-of-<br />

Programm und die Verbindung<br />

der Ureinwohner mit<br />

den Elementen. In Berlin<br />

wird es die Geschichte der<br />

Ankunft der Briten in Australien<br />

sein, die Massaker, die<br />

geschahen, aus der Perspek -<br />

tive jener, die sie erlitten<br />

haben. suk<br />

Literatur<br />

Zwischen Drogerie und Bäckerei<br />

Die Schriftstellerin Nora Bossong, 35, über das Treffen einer Art Gruppe 47, die keine sein will<br />

Es gibt keine Handynummer, aber irgendwo soll ein Schild<br />

sein mit der Aufschrift Gruppe 47. Wie früher also. Und tatsächlich,<br />

da steht sie, die Reisegruppe, über die ich vor Jahren<br />

meine erste Uniprüfung abgelegt habe und die nun am Infopoint<br />

des Nürnberger Hauptbahnhofs wartet. Den meisten<br />

der Schriftstellerinnen und Schriftsteller bin ich längst begegnet,<br />

einigen persönlich, vielen durch ihre Texte, doch in der<br />

Gruppe, da kann Hans Magnus Enzensberger mit noch so jungenhaftem<br />

Charme die Bedeutung der Gruppe relativieren,<br />

wirkt es zumindest auf mich dann eben doch – wie ein Mythos,<br />

etwas skurril zwischen Drogerie und Bäckerei platziert.<br />

Dort, wo 1967 die alte Pulvermühle stand und Studenten gegen<br />

die „Papiertiger“ demonstrierten, hängen heute bunte<br />

Lichterketten, die Lesungen sind auf verschiedene Orte in der<br />

Kleinstadt verteilt. Es ist keine Tagung, kein Wiederaufleben<br />

der Gruppe, was 50 Jahre später stattfindet; das anzunehmen<br />

wäre auch verstiegen. Vieles, was durch sie entstanden ist,<br />

lebt ohnehin, wenn auch gewandelt, im Literaturbetrieb fort,<br />

anderes hatte seine Funktion in einer bestimmten Zeit und<br />

lässt sich nicht in die Gegenwart übertragen. Manche Fragen<br />

kann man natürlich immer wieder stellen: wie literarische<br />

Spracharbeit und politische Reflexion zueinander stehen, wie<br />

man sich als Intellektuelle Gehör verschafft, ob sich einsame<br />

Schreibarbeit mit einer Gruppe verträgt. Die Antworten sind<br />

heute andere als 1947 oder 1967. Sich in der Provinz zu treffen<br />

aber scheint mir trotz Lichterkette zeitgemäßer denn je – in<br />

einer „Ersatz-Hauptstadt“, um der Aufgeregtheit Berlins zu<br />

entkommen.<br />

118 DER SPIEGEL 43 / 2017


Kultur<br />

Sachbücher<br />

Kein Spiel<br />

mehr<br />

Buchmesse Leipzig<br />

2009: „Kein Störer<br />

und kein Krakeeler“<br />

am Stand, notiert der<br />

rechte Verleger Götz<br />

Kubitschek frustriert.<br />

Normalität als Nightmare,<br />

da lässt sich der<br />

Triumph kaum ermessen,<br />

den Kubitschek<br />

nun in Frankfurt feierte.<br />

Störer am Stand,<br />

alle Medien schrieben<br />

Filme<br />

Königin des Kinos<br />

Per Leo,<br />

Maximilian<br />

Steinbeis,<br />

Daniel-Pascal<br />

Zorn<br />

mit Rechten<br />

reden.<br />

Ein Leitfaden<br />

Klett-Cotta;<br />

184 Seiten;<br />

14 Euro.<br />

Wer nach einer sicheren<br />

Geldanlage sucht, kann<br />

schon jetzt darauf wetten,<br />

dass die britische Schauspielerin<br />

Sally Hawkins im nächsten<br />

Jahr beim Oscar-Rennen<br />

dabei ist. Denn die 41-Jährige<br />

brilliert in gleich zwei Filmen.<br />

Im Fantasy-Drama „Shape of<br />

Water“, das auf dem Festival<br />

von Venedig den Goldenen<br />

Löwen gewann und Anfang<br />

nächsten Jahres anlaufen<br />

wird, spielt sie zutiefst berührend<br />

eine stumme Putzfrau,<br />

die sich in ein Monster verliebt.<br />

Und in der Filmbiografie<br />

Maudie (Regie: Aisling<br />

Walsh), die schon jetzt ins<br />

Kino kommt, verkörpert sie<br />

die 1970 verstorbene kanadische<br />

Künstlerin Maud Lewis,<br />

die seit ihrer Kindheit an<br />

schwerer Arthritis litt und<br />

über ihn. Aber ist das richtig?<br />

Per Leo, Maximilian Steinbeis<br />

und Daniel-Pascal Zorn<br />

haben „Mit Rechten reden“<br />

geschrieben, eine Art Antwort,<br />

und sie haben Kubi -<br />

tschek durchschaut: Sein Lebenselixier<br />

ist die Aufmerksamkeit.<br />

„Egal, was Rechte<br />

sagen oder schreiben, sie<br />

denken ihren Gegner mit“,<br />

sie schlügen mit dem „Hämmerlein<br />

auf die Moralsehne,<br />

und wenn das Empörungsschenkelchen<br />

brav zuckt“,<br />

ergötzten sie sich daran. Klarer<br />

und schöner kann man es<br />

kaum sagen. Das Buch mutet<br />

Linken und „Nicht-Rechten“<br />

viel zu, entlarvt feige Sprachlosigkeit<br />

und moralische<br />

Selbstgefälligkeit<br />

und ruft zur Offenheit<br />

auf: „<strong>Der</strong> andere<br />

könnte Recht haben.“<br />

Liegt es aber am<br />

heterogenen Autorenkollektiv,<br />

dass das<br />

Buch trotzdem oft<br />

so flach ausfällt?<br />

„Rechts“, steht da, sei<br />

„keine eingrenzbare<br />

Menge von Überzeugungen<br />

oder Personen,<br />

sondern eine bestimmte<br />

Art des Redens“.<br />

Ein arg schlanker<br />

Fuß in Zeiten, da sogar<br />

Sahra Wagenknecht mal<br />

rechts klingt. <strong>Der</strong> rechte Prototyp<br />

im Buch ist ein tumbes<br />

Strichmännchen, Debatten<br />

mit ihm lesen sich so, wie<br />

man sich Konflikte mit Lieblingsfeinden<br />

ausmalt: <strong>Der</strong><br />

Nicht-Rechte ist stets siegreich<br />

– er denkt ja die Worte<br />

des Gegners mit. Aber echte<br />

Rechte denken selbst. Noch<br />

ärger ist die Kernbotschaft<br />

des Buchs an die Rechten:<br />

Eure „Meinungen, Überzeugungen<br />

und Ideen stellen für<br />

uns gar kein Problem dar“.<br />

Doch, verdammt! Die Ruhe<br />

von 2009 ist vorbei. Das ist<br />

kein Spiel mehr. ama<br />

dennoch eine populäre Ma -<br />

lerin wurde. Die Kunst von<br />

Hawkins besteht darin, auf<br />

jede mitleidheischende Geste<br />

zu verzichten. Sie macht aus<br />

den beiden behinderten Frauen<br />

starke Charaktere, stille<br />

Kämpferinnen. Irgendwann<br />

vergisst der Zuschauer bei<br />

„Maudie“, dass die Malerin<br />

gehandicapt ist. Gebannt<br />

schaut er ihr dabei zu, wie<br />

sie mit allem malt, was sie<br />

noch bewegen kann, notfalls<br />

mit den Lippen. lob<br />

Gemälde von Maud Lewis<br />

COURTESY OF THE ART GALLERY OF NOVA SCOTIA<br />

Nils Minkmar Zur Zeit<br />

Das perfekte Mahl<br />

Einmal sorgte ich in einem Bahnabteil in<br />

Frankreich für milde Panik. Eine gemischte<br />

Gruppe von Mitreisenden<br />

hatte sich zu mir gesetzt, vertieft in<br />

Fachgespräche. Sie kam von einem<br />

Kongress für Deutschlehrer. Nach einer<br />

Weile erst bemerkte man meine<br />

deutsche Zeitung und konnte darauf<br />

schließen, dass ich Deutsch verstehe, am<br />

Ende sogar spreche. Diese Erkenntnis sorgte für anhaltendes<br />

Schweigen, denn bei all ihren unbestrittenen pädagogischen<br />

und germanistischen Kenntnissen – nun spontan<br />

Deutsch zu sprechen, noch dazu vor Kollegen, das trauten<br />

sie sich schlicht nicht.<br />

Wenn sogar die Lehrer selbst es vermeiden, die von<br />

ihnen unterrichtete Fremdsprache tatsächlich zu sprechen,<br />

werden es die Schüler kaum lernen. Franzosen um<br />

die Fünfzig haben unter Umständen sechs Schuljahre lang<br />

Deutsch gelernt, können aber kaum elementare Konversation<br />

betreiben. So kommen wir zu einem Europa, in<br />

dem der französische Präsident in der Frankfurter Universität<br />

auf Englisch begrüßt wird. Auch der Französischunterricht<br />

in Deutschland funktioniert nicht besonders gut.<br />

Die Kinder lernen Jahr um Jahr sogenannte Grundlagen,<br />

um eines fernen Tages den perfekten, nach Tempus und<br />

Kasus fein arrangierten Satz zu formulieren: „Ich werde<br />

wünschen, das von meinem Onkel zubereitete Mahl genossen<br />

zu haben.“ Bis dahin fragen sie sich still, ob<br />

Froschschenkel zur Vorspeise gereicht wurden. Das Ziel<br />

scheint zu sein, dass deutsche Schüler, wenn sie groß sind,<br />

reden wie die Figur eines Proust-Romans. Französische<br />

Schüler ergreifen dann idealerweise mit 18 das deutsche<br />

Wort und klingen wie ein preußischer Beamter, der nach<br />

Feierabend Gedichte schreibt. Vorher sagen sie kaum<br />

einen Mucks. Aber man lernt Sprachen so nicht, übrigens<br />

auch nichts anderes: Man kocht nicht eines Tages das<br />

perfekte Mahl, nachdem man jahrelang nur Rezepte studiert<br />

hat.<br />

Kleinkinder beginnen irgendwann zu sprechen, ohne<br />

einen Schimmer von Grammatik zu haben. Sie lernen,<br />

weil ihre Eltern, Geschwister und andere Kinder mit ihnen<br />

reden und sich über jede Äußerung freuen. Fehler<br />

werden erwartet und gewürdigt – Hauptsache, das Kind<br />

sagt was. Es gibt keinen Punktabzug, wenn die Südfrucht<br />

nur Nane heißt. Ein Sprachunterricht, der auf Fehlervermeidung<br />

basiert, ist bloß abgesessene Zeit. Die Großen<br />

machen es uns vor: Montaigne schrieb seine Essays munter<br />

drauflos, oft diktierte er sie auch – ohne Grammatik<br />

oder Orthografie. Shakespeare schrieb seinen eigenen Namen<br />

in unterschiedlichen Schreibweisen. Und einer der<br />

erfolgreichsten britischen Publizisten unserer Zeit, der im<br />

vergangenen Jahr verstorbene A. A. Gill, konnte wegen<br />

einer Schreibschwäche nicht mal eine E-Mail fehlerfrei<br />

schreiben. Es war völlig egal. In früheren Zeiten mochte<br />

als Hindernis gelten, dass man keine Personen des anderen<br />

Landes in den Klassenraum bekam. Heute skypen<br />

Menschen aus allen Erdteilen miteinander, es wäre ein<br />

Klacks, deutsche und französische Schüler regelmäßig zu<br />

verbinden, damit sie tun, was sie auch nach der Schule<br />

unablässig praktizieren: beherzt loslabern.<br />

An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

119


Kultur<br />

„Autor der totalen Schlaffheit“<br />

SPIEGEL-Gespräch Die fremde Nähe zwischen Deutschland und Frankreich, die letzten<br />

Zuckungen der Linken, sein heroischer Pessimismus – Michel Houellebecq zieht Bilanz.<br />

Sein Verschwinden hatte er schriftlich angekündigt:<br />

Zu seinem letzten Interview empfing<br />

Frankreichs prominentester und umstrittenster<br />

Schriftsteller Houellebecq, 61, während der<br />

Buchmesse Ende voriger Woche in seinem<br />

Hotel zimmer. <strong>Der</strong> Autor sprach, wie von ihm<br />

gewohnt, ernsthaft und zögerlich, rauchte ununterbrochen<br />

und schenkte sich spanischen<br />

Rotwein ein. Im Schauspiel Frankfurt hatte er<br />

zwei Tage zuvor einen improvisierten Vortrag<br />

über den Zustand der europäischen Kultur gehalten.<br />

Er habe vor Kurzem beschlossen, so<br />

hatte er dem SPIEGEL geschrieben, seine Einlassungen<br />

in der Öffentlichkeit einzustellen.<br />

Für die Frankfurter Buchmesse und den<br />

SPIEGEL mache er eine Ausnahme: Er finde<br />

es ziemlich gut, dass sein letztes Interview<br />

„dans mon magazine préféré“ (in seinem Lieblingsmagazin)<br />

erscheine.<br />

SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, Sie sind<br />

zugleich ein Starautor und ein Skandal -<br />

autor, der bewundert, geliebt und verabscheut<br />

wird. In Deutschland sieht man in<br />

Ihnen den radikalsten Schriftsteller unserer<br />

Zeit, einen schonungslosen Diagnostiker<br />

des Leidens und der Einsamkeit des modernen<br />

Individuums. In Frankreich gelten<br />

Sie vielen als Provokateur und Schmuddel -<br />

literat und stehen im Mittelpunkt unzäh -<br />

liger Polemiken. Wie verstehen Sie diesen<br />

Unterschied?<br />

Houellebecq: Schwer zu sagen, ich habe keine<br />

schlüssige Erklärung. Vielleicht ertragen<br />

die Deutschen, von der Geschichte und<br />

der in ihr angehäuften Schuld unvergleichlich<br />

viel schlimmer mitgenommen, den<br />

Blick in den <strong>Spiegel</strong> besser. Es kann sein,<br />

dass man mich in Frankreich nicht liebt,<br />

weil man die Gesellschaft und die Wirklichkeit,<br />

die Dürftigkeit und das Elend der<br />

Moderne, die ich beschreibe, nicht liebt.<br />

Man darf aber nicht den Radiologen für<br />

das Entstehen des Krebsgeschwürs verantwortlich<br />

machen. Frankreich schätzt die<br />

Epoche nicht, in der es lebt.<br />

SPIEGEL: Büßen Sie persönlich für die Negativität<br />

Ihrer Romanfiguren?<br />

Houellebecq: Die französischen Journalisten<br />

sind oft wie besessen von der Frage,<br />

wie viel von mir in meinen Protagonisten<br />

steckt. Deshalb schnüffeln sie in meiner<br />

Biografie und sogar in meiner Unterwäsche.<br />

Sie sind die moralischen Hohepriester<br />

einer Zeit ohne Religion und Moral.<br />

Sie wollen haftbar machen, zur Rechenschaft<br />

ziehen, verurteilen und bestrafen.<br />

120 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Deshalb versucht man, mich als Nihilisten<br />

und Reaktionär abzustempeln. Man erhebt<br />

mich zum Propheten, um mir anzulasten,<br />

was kommt. Meiner Erfahrung<br />

nach sind die deutschen Journalisten viel<br />

ernsthafter bei der Sache, wenn sie ein<br />

Buch vorstellen. Man soll sich vor Allgemeinheiten<br />

hüten, ich jedenfalls habe sehr<br />

viel weniger schlechte Erfahrungen mit<br />

deutschen als mit französischen Journalisten<br />

gemacht.<br />

SPIEGEL: Danke für das Kompliment, aber…<br />

Houellebecq: Bin ich deprimiert, oder ist<br />

die Welt deprimierend? Für die deutschen<br />

Medien scheint die Unterscheidung klar,<br />

für die französischen werde ich mich wohl<br />

nie von der Sünde der Verzweiflung los -<br />

sagen können. Ich ziehe die Medien an,<br />

weil ich medienuntauglich bin.<br />

SPIEGEL: Sind Sie ein germanophiler Autor?<br />

Houellebecq: Ja, schon. Jedenfalls habe ich<br />

eine bessere Kenntnis der deutschen Literatur<br />

und Philosophie als die meisten meiner<br />

Kollegen.<br />

SPIEGEL: Wie kam es dazu?<br />

Houellebecq: Als einen der ersten Deutschen<br />

habe ich Friedrich Nietzsche gelesen.<br />

Seine Geisteskraft imponierte mir, obwohl<br />

ich seine Philosophie unmoralisch und abstoßend<br />

fand. Ich hätte gern sein Fundament<br />

zertrümmert, wusste aber nicht, wie<br />

ich es intellektuell anstellen sollte. Als ich<br />

25 oder 27 Jahre alt war, entdeckte ich<br />

Arthur Schopenhauer – eine Erleuchtung,<br />

eine wirkliche Erschütterung. Auch liebe<br />

ich die deutschen Romantiker sehr, Novalis,<br />

Kleist vor allem. Die deutsche Romantik<br />

verbreitete sich damals so unwiderstehlich<br />

wie der Rock ’n’ Roll in den Fünfzigerjahren.<br />

Zu Recht.<br />

SPIEGEL: Sie haben für Ihre Hommage an<br />

Schopenhauer Passagen aus seinem Werk<br />

selbst ins Französische übersetzt*. Aber<br />

Sie sprechen kein Deutsch?<br />

„Eine Religion, ein<br />

wahrer Glaube, ist sehr<br />

viel mächtiger in der<br />

Wirkung auf die Köpfe<br />

als eine Ideologie.“<br />

Houellebecq: Ich traue mich nicht, nicht<br />

mehr. Ich könnte keine ordentlichen deutschen<br />

Sätze bilden. Aber ich könnte unter<br />

Umständen Deutsch lesen, wenn ich nicht<br />

so ein Faulpelz wäre.<br />

SPIEGEL: In der Europäischen Union sind<br />

Deutschland und Frankreich so aufeinander<br />

fixiert wie keine anderen Länder. Aber<br />

jenseits aller rituellen Freundschaftsbezeugungen<br />

– wie weit kennen sich die beiden<br />

Nationen wirklich, die man gern als<br />

unzertrenn liches Paar beschreibt?<br />

Houellebecq: In Frankreich redet man über<br />

Deutschland mehr als über alle anderen<br />

europäischen Länder zusammengenommen.<br />

Das ist verblüffend. Doch ich glaube,<br />

die Deutschen kennen die Franzosen besser<br />

als umgekehrt, schon weil sie öfter<br />

nach Frankreich kommen als die Franzosen<br />

nach Deutschland.<br />

SPIEGEL: Damit meinen Sie aber jetzt die<br />

Touristen und nicht die Truppen des Kaisers<br />

oder der Wehrmacht?<br />

Houellebecq: Wieder ein Beispiel dafür,<br />

dass der Deutsche sich selbst misstraut.<br />

Nein, was ich meine, das geht viel weiter<br />

als der gewöhnliche Tourismus. Viele Deutsche<br />

kaufen sich eine Wohnung oder ein<br />

Haus und lassen sich in Frankreich nieder.<br />

Die Franzosen wissen dagegen wenig von<br />

den Deutschen. Sie sind von ihnen beeindruckt,<br />

aber sie beneiden sie nicht. Deshalb<br />

ist die Beziehung ziemlich gut, obwohl<br />

der Vergleich der beiden Länder immer<br />

zum Nachteil Frankreichs ausfällt. Die<br />

übertriebene Selbstentwertung der Franzosen<br />

bringt sie nicht dazu, die Deutschen<br />

zu hassen, sondern sich selbst zu verachten.<br />

SPIEGEL: Das betrifft allenfalls die Wirtschaftskraft,<br />

nicht die kulturelle Ausstrahlung.<br />

Frankreich ängstigt sich vor dem industriellen<br />

Niedergang.<br />

Houellebecq: Das ist keineswegs eine eingebildete<br />

Gefahr.<br />

SPIEGEL: <strong>Der</strong> französische Philosoph und<br />

Kulturanthropologe René Girard hat das<br />

Verhältnis beider Länder zueinander seit<br />

Napoleon und Clausewitz als „mimetische<br />

Rivalität“ beschrieben, die ständigen Konfliktstoff<br />

erzeuge.<br />

Houellebecq: Das überzeugt mich nicht. <strong>Der</strong><br />

Blick auf Deutschland hält die Franzosen<br />

dazu an, sich zu berappeln. Das war schon<br />

* Michel Houellebecq: „In Schopenhauers Gegenwart“.<br />

Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. DuMont;<br />

76 Seiten; 18 Euro.


TIM WEGNER / DER SPIEGEL<br />

Schriftsteller Houellebecq: „Die lateinische Art eben, ermüdend“<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017 121


Houellebecq beim SPIEGEL-Gespräch*: „Die deutschen Autoren sollten sich dem erotischen Roman zuwenden“<br />

TIM WEGNER / DER SPIEGEL<br />

nach der Niederlage von 1871 so. Sie sind<br />

sich des Umstands bewusst, nicht ernsthaft,<br />

nicht tüchtig genug zu sein. Sie erleben<br />

sich als dem lateinischen Raum zugehörig,<br />

also als zweitklassig.<br />

SPIEGEL: Aber lateinisch sind sie doch auch!<br />

Houellebecq: Darüber kann man streiten.<br />

Die Franzosen sehen sich seit einigen Jahren<br />

als kaum besser als die Griechen.<br />

Frankreich ist zwischen dem Norden und<br />

dem Süden Europas hin und her gerissen.<br />

Kein ausgeglichenes Land. Zerknirschung<br />

und Prahlerei liegen nah beieinander.<br />

SPIEGEL: In der Kultur ist der Auftritt ziemlich<br />

glanzvoll, wie man gerade auf der<br />

Frankfurter Buchmesse feststellen konnte.<br />

Houellebecq: Die Literatur ist aber nicht<br />

das wichtigste Anliegen für die Mehrheit<br />

der Bevölkerung. Viele Länder sind stolz<br />

auf ein nationales Schmuckstück. Nehmen<br />

Sie die Automobilindustrie. Es ist so,<br />

dass ein Franzose, der Geld hat, ich zum<br />

Beispiel, kaum ein französisches Auto<br />

kaufen wird. Was würde geschehen, wenn<br />

die deutsche Autoindustrie zusammen -<br />

bräche?<br />

SPIEGEL: Eine nationale Katastrophe!<br />

Houellebecq: Und eine der nationalen Moral<br />

obendrein, weil sie ein Symbol deutscher<br />

Tüchtigkeit ist und daher an das<br />

Selbstwertgefühl rührt. Die Amerikaner<br />

können es sich dagegen leisten, ihre Autohersteller<br />

in die Zweitklassigkeit absinken<br />

zu lassen.<br />

122 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

SPIEGEL: In Ihren Romanen, in „Karte und<br />

Gebiet“ oder „Unterwerfung“, beschreiben<br />

Sie liebevoll die schönen deutschen<br />

Limousinen und SUVs, die Ihr Erzähler<br />

fährt. Haben PS-starke deutsche Autos es<br />

Ihnen angetan?<br />

Houellebecq: Ich habe ja eine Ingenieursausbildung.<br />

Ich fahre gern Auto, die französischen<br />

Autobahnen sind ausgezeichnet,<br />

die deutschen inzwischen weniger. Aber<br />

was ich eigentlich sagen will: Es gibt bestimmte<br />

nationale Symbole, die kein Land<br />

fallen lassen würde. Dazu gehört für die<br />

USA die kulturelle Vorherrschaft. Eher<br />

würden sie das Silicon Valley zusammenbrechen<br />

lassen oder an China verscherbeln<br />

als Hollywood. Man kann den Amerikanern<br />

vieles vorwerfen, aber entgegen allen<br />

gängigen Vorurteilen wissen sie um die hegemoniale<br />

Bedeutung der Kultur. So seltsam<br />

es ist, die europäischen Länder, die<br />

so stolz auf ihre alte Kultur sind, scheinen<br />

sie manchmal zu vergessen.<br />

SPIEGEL: In der Literatur kann Europa doch,<br />

anders als im Film, ganz gut mithalten?<br />

Houellebecq: Haben Sie den Auftritt eines<br />

Erfolgsautors wie Dan Brown auf der<br />

Buchmesse erlebt? Was für ein Aufwand,<br />

was für eine Bugwelle! Die Europäer lesen<br />

ihre jeweiligen nationalen Autoren und ansonsten<br />

überwiegend Übersetzungen aus<br />

* Mit dem Redakteur Romain Leick in einem Hotelzimmer<br />

in Frankfurt am Main.<br />

dem Englischen. Sie lesen einander zu<br />

wenig. Aber ganz sicher wird es Europa<br />

nicht geben, wenn es keine europäische<br />

Kultur gibt. Und der europäischen Kultur<br />

geht es derzeit nun einmal nicht sonderlich<br />

gut.<br />

SPIEGEL: Die USA haben begriffen, was für<br />

ein Machtmittel die Kultur ist?<br />

Houellebecq: Die amerikanische Kultur<br />

hat zum Zusammenbruch des Sowjetkommunismus<br />

mehr beigetragen als der Rüstungswettlauf<br />

des Kalten Kriegs oder die<br />

Verlockungen der Konsumgesellschaft.<br />

Wenn zu Gorbatschows Zeiten amerikanische<br />

Filme anliefen, bildeten sich endlose<br />

Warteschlangen vor den Kinos in<br />

Russland.<br />

SPIEGEL: Könnte die amerikanische, überhaupt<br />

die westliche Kultur auch über den<br />

Islam triumphieren?<br />

Houellebecq: Es ist meine tiefe persönliche<br />

Überzeugung, dass eine Religion, ein wahrer<br />

Glaube, sehr viel mächtiger in der Wirkung<br />

auf die Köpfe ist als eine Ideologie.<br />

<strong>Der</strong> Kommunismus war eine Art falsche<br />

Religion, ein schlechter Ersatz, kein wahrer<br />

Glaube, obwohl er sich so inszenierte,<br />

mitsamt einer eigenen Liturgie. Eine Religion<br />

ist sehr viel schwieriger zu zertrümmern<br />

als ein politisches System. Die Religion<br />

hat eine Schlüsselfunktion in der Gesellschaft<br />

und für deren Zusammenhalt,<br />

sie ist ein Motor der Gemeinschaftsbildung.<br />

<strong>Der</strong> Islam wird widerstehen.


Kultur<br />

SPIEGEL: Was kann das säkulare, laizistische<br />

Europa, in dem das Christentum mehr und<br />

mehr verblasst, dagegen aufwenden?<br />

Houellebecq: Es gibt eine bemerkenswerte<br />

Wiederkehr des Katholizismus in Frankreich.<br />

Es ist ein Phänomen, das ich fühle,<br />

ohne es wirklich zu verstehen, und es ist<br />

weniger reaktionär, als vielfach behauptet<br />

wird. Getragen wird es zum Beispiel von<br />

den sogenannten Charismatikern, die ihre<br />

Gottesdienste in Happenings, in Gefühlsergüsse<br />

verwandeln, wie es auch Pfingstler<br />

oder Evangelikale tun. Die Demonstrationen<br />

gegen die Ehe für alle und das Adoptionsrecht<br />

für gleichgeschlechtliche Paare<br />

haben die Politik durch ihre Massenmobilisierung<br />

überrascht. Niemand hätte derlei<br />

für möglich gehalten. Die Katholiken in<br />

Frankreich sind sich ihrer Stärke so wieder<br />

bewusst geworden. Das war wie eine unterirdische<br />

Strömung, die plötzlich zutage<br />

trat. Für mich einer der interessantesten<br />

Momente in der jüngsten Geschichte.<br />

SPIEGEL: Wie erklären Sie diesen Moment?<br />

Houellebecq: Ich neige immer dazu, die<br />

Dinge materialistisch zu erklären, was zunächst<br />

etwas platt und abstoßend wirken<br />

mag: Tatsache ist, dass gläubige Katholiken<br />

mehr Kinder in die Welt setzen. Und sie<br />

vermitteln den Kindern ihre Werte. Das<br />

heißt, ihre Zahl wird zunehmen.<br />

SPIEGEL: Das scheint arg biologisch gedacht.<br />

Selbst Papst Franziskus meinte, Katholiken<br />

müssten sich nicht vermehren wie die Karnickel.<br />

Davon abgesehen rebellieren Kinder<br />

oft gegen ihre Eltern.<br />

Houellebecq: Sie irren sich. Die 68er waren<br />

die Ausnahme, historisch betrachtet.<br />

SPIEGEL: Die muslimischen Einwanderer -<br />

familien sind im Schnitt auch kinderreicher<br />

als die einheimischen.<br />

Houellebecq: Ganz genau. Deshalb wird der<br />

Anteil der Muslime an der Bevölkerung in<br />

Westeuropa weiter wachsen, in Frankreich<br />

wie in Deutschland. Und das wird die<br />

Ängste vor Überfremdung und Kolonisierung<br />

immer weiter nähren.<br />

SPIEGEL: Mit welchen Folgen?<br />

Houellebecq: Das weiß ich nicht. Vielleicht<br />

gelingt die Integration, obwohl diese ja<br />

immer Separation zunächst voraussetzt.<br />

Aber auch ein Bürgerkrieg liegt im Bereich<br />

des Möglichen, wie ich es in meinem<br />

Roman „Unterwerfung“ beschrieben habe.<br />

Ich bin übrigens der Meinung, dass die<br />

Integration der Muslime sehr viel besser<br />

funktionieren würde, wenn der Katholizismus<br />

Staats religion wäre. Mit dem zweiten<br />

Platz als respektierte Minderheit in einem<br />

erklärt katholischen Staat würden sich die<br />

Mus lime sehr viel leichter abfinden als mit<br />

dem jetzigen Schwebezustand. Womit sie<br />

nämlich nicht zurechtkommen, sind die<br />

säkulare Gesellschaft und der laizistische<br />

Staat, der eine Religionsfreiheit vertritt,<br />

die sie nicht verstehen und die sie als<br />

Instrument der Religionsbekämpfung<br />

empfinden – was sie in Frankreich, historisch<br />

gesehen, auch war. Da können die<br />

Muslime noch so tief in den Koran hin -<br />

einsteigen, sie finden keine Anleitung für<br />

den Umgang damit. <strong>Der</strong> Prophet Mohammed<br />

konnte sich überhaupt nicht vor -<br />

stellen, dass es so etwas wie einen Atheisten<br />

gibt.<br />

SPIEGEL: In der Flüchtlingskrise haben französische<br />

und andere europäische Politiker<br />

den Deutschen unterstellt, nach der moralischen<br />

Vorherrschaft in Europa zu greifen.<br />

Was sind für Sie deutsche Tugenden?<br />

Houellebecq: Ich hänge das viel tiefer. Die<br />

Deutschen sind einfach bei Weitem besser<br />

organisiert, das ist ein Unterschied wie Tag<br />

und Nacht. Ich habe die Erfahrung bei meinen<br />

Besuchen selbst gemacht: Die Deutschen<br />

planen rational, die Franzosen lassen<br />

es bis zum Schluss darauf ankommen, dass<br />

es schon gut gehen wird. Die lateinische<br />

Art eben. Ermüdend.<br />

SPIEGEL: Mit Verlaub, deutsche Disziplin,<br />

ist das nicht ein albernes Klischee?<br />

Houellebecq: So? Ihr Problem ist, dass<br />

Deutschland sein eigenes Klischee nicht<br />

mag. Deshalb versuchen die Deutschen<br />

seit geraumer Zeit, die Vorstellung ihrer<br />

selbst als seriöse, kompetente, gut organisierte<br />

Leute zu widerlegen.<br />

SPIEGEL: Was auch unschwer gelingt. Vielleicht<br />

mögen die Deutschen sich jenseits<br />

des Klischees ja selbst nicht?<br />

Houellebecq: Sie wären gern Italiener! Die<br />

Italiener haben jedenfalls keine Schwierigkeiten<br />

mit ihren Klischees, sie lieben sie.<br />

SPIEGEL: Die Deutschen wären gern ein liebenswertes<br />

Volk.<br />

Houellebecq: Aber ich habe nicht den Eindruck,<br />

dass die Franzosen die Deutschen<br />

nicht lieben. Sie lieben sie jedenfalls mehr<br />

als die Engländer. Wenn ein Deutscher sich<br />

in einem französischen Dorf ein Haus<br />

kauft, schmeißt man ihm in der Regel nicht<br />

die Scheiben ein, obwohl die Dörfler, besonders<br />

in der Provence, nicht wirklich zugänglich<br />

oder aufnahmebereit gegenüber<br />

Fremden sind. Die Deutschen geben sich<br />

ja auch meistens viel Mühe mit den Einheimischen.<br />

Nein, glauben Sie mir, Sie sind<br />

in Frankreich keine ungeliebten Gäste.<br />

SPIEGEL: Ist das Verhältnis nicht immer<br />

zwiespältig gewesen, gerade auch im politischen<br />

Umgang? Die Deutschen werden<br />

„Dass Deutschland<br />

nun eine rechtsextreme<br />

Partei im Parlament<br />

hat, beweist, dass es<br />

normal wird.“<br />

als ökonomisches Vorbild dargestellt, doch<br />

man sucht auch eifrig nach Schwachstellen<br />

im deutschen Modell. <strong>Der</strong> extremen Linken<br />

unter Jean-Luc Mélenchon wie der extremen<br />

Rechten unter Marine Le Pen dient<br />

die Kanzlerin als willkommene Buhfrau.<br />

Houellebecq: Das stimmt. Berlin übernimmt<br />

die Funktion des Sündenbocks. <strong>Der</strong> wahre<br />

Zorn gilt der Brüsseler Eurokratie, für die<br />

die deutsche Regierung den Kopf hinhalten<br />

muss. Ich habe nie daran geglaubt, dass<br />

der nationale Souveränitätswille vergehen<br />

würde. Die Vereinigten Staaten von<br />

Europa wird es nie geben, da verfolgte<br />

man lange eine Schimäre. Um es unverblümt<br />

zu sagen: Die Unabhängigkeitsbestrebungen<br />

setzen sich auf mittlere und<br />

längere Sicht immer durch.<br />

SPIEGEL: Also demnächst in Katalonien?<br />

Sie kennen Spanien, Sie haben eine Zeit<br />

lang dort gelebt.<br />

Houellebecq: Ja, die Katalanen werden gewinnen.<br />

<strong>Der</strong> Wunsch nach Unabhängigkeit<br />

erlischt nie. Er kann zwischendurch einschlafen,<br />

aber er wird wieder aufwachen.<br />

Auch in Schottland. Die Zentralregierung<br />

in Madrid hat dagegen keine Chance. Sie<br />

sollte die Katalanen ziehen lassen.<br />

SPIEGEL: Frankreich ist das Gegenbeispiel<br />

– ein zentralistischer Staat, der alle Regionalismen<br />

erfolgreich unterbunden hat.<br />

Selbst Korsen und Basken halten still.<br />

Houellebecq: Momentan ja. <strong>Der</strong> Wille zur<br />

Macht, den das Königshaus der Kapetinger<br />

aufgebracht hat, ist in der Geschichte absolut<br />

außergewöhnlich. Persönlich bedaure ich<br />

den Sieg des Zentralismus ein wenig, aber<br />

Fakt ist, dass Frankreich eine Einheit ist und<br />

immer bleiben wird. Das ist eine politische<br />

und zivilisatorische Leistung, die nur wenigen<br />

Nationen gelungen ist. Deutschland gehört<br />

nicht dazu. Deshalb kann ich mir auch<br />

nicht vorstellen, dass Frankreich jemals ein<br />

föderales Europa akzeptieren wird.<br />

SPIEGEL: <strong>Der</strong> neue Präsidenten Emmanuel<br />

Macron will sich an die Spitze einer europäischen<br />

Erneuerung setzen. Gibt er damit<br />

Frankreich sein verlorenes Selbstbewusstsein<br />

wieder?<br />

Houellebecq: Die Stimmung ändert sich.<br />

<strong>Der</strong> Hang zur Selbstgeißelung lässt nach.<br />

Ob das nachhaltig ist, hängt vom wirtschaftlichen<br />

Erfolg ab. Macron hatte während<br />

der Wahlkampagne eigentlich nur ein<br />

einziges Thema, das im Grunde gar kein<br />

Sachthema war: eine Ode an den Optimismus.<br />

Diese Beschwörung hat gewirkt,<br />

dank seiner Jugend und seiner atypischen<br />

Persönlichkeit.<br />

SPIEGEL: Ist die Stimmung in Frankreich<br />

gar nicht so skeptisch, wie es den Anschein<br />

hat und wie auch Sie zu glauben scheinen?<br />

Houellebecq: Das Verhältnis der Franzosen<br />

zu Europa ist völlig paradox. Das muss<br />

man betonen, denn es ist erstaunlich: Die<br />

Franzosen sind gegen Europa, aber für den<br />

Euro. Warum? Allein aus dem Grund, dass<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

123


Romancier Houellebecq: „Nicht Teil des Geschäfts der Meinungsproduktion“<br />

TIM WEGNER / DER SPIEGEL<br />

sie sich selbst nicht trauen. Sie sind überzeugt,<br />

dass sie ohne den Euro und seine<br />

Sicherheit im Schlamassel versinken werden,<br />

dass die Schulden ihnen über den<br />

Kopf wachsen. Sie betrachten sich nicht<br />

als fähige Haushälter, und vielleicht stimmt<br />

das ja auch, die Zahlen scheinen es zu bestätigen.<br />

Es ist eine unsinnige Haltung: Sie<br />

wollen den Euro, aber am liebsten ohne<br />

die Zwänge, die mit ihm einhergehen.<br />

SPIEGEL: Worin gründet die Faszination, die<br />

Macron über Frankreich hinaus ausübt?<br />

Houellebecq: Er ist ein seltsamer Mensch. Ich<br />

habe ihn einmal interviewt, als er noch Finanzminister<br />

war, bevor seine Sammlungsbewegung<br />

„En Marche!“ richtig in Gang<br />

gekommen war. Und am Ende dieses Gesprächs<br />

fand ich ihn immer noch genau so<br />

seltsam, irgendwie ungreifbar. Man versteht<br />

nicht wirklich, was er denkt. Er lässt sich<br />

nicht entschlüsseln. Man kann ihm keine klar<br />

formulierte Überzeugung entlocken. Mein<br />

Eindruck ist, dass er sich auf seinen eigenen<br />

Optimismus reduziert. Er hypnotisiert sich<br />

selbst und im selben Zug fast das ganze Land.<br />

Insofern war seine Wahlkampagne eine Ansteckungskampagne.<br />

Atemberaubend!<br />

SPIEGEL: Kann er damit Frankreich und der<br />

EU wirklich neuen Schwung einhauchen,<br />

zusammen mit der drögen Frau Merkel,<br />

die sich gegen Visionen sträubt?<br />

Houellebecq: Ich bezweifle es. Die depressive<br />

Stimmung kommt von der Allgegenwart<br />

der Ökonomie, der erdrückenden<br />

124 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Übermacht wirtschaftlicher Rationalität.<br />

Dafür steht Deutschland, auch im Denken<br />

von Macron. Die Ökonomie macht aber<br />

nicht glücklich. Man wird umso unglück -<br />

licher, je mehr man an sie denkt. Europa<br />

hat ein sentimentales Problem. Es löst<br />

kaum noch positive Emotionen aus.<br />

SPIEGEL: Wie also weiter?<br />

Houellebecq: Macron probiert es mit Grandezza,<br />

er ruft Europa auf: Mir nach! <strong>Der</strong><br />

Versuch lohnt sich. Immer weniger Franzosen<br />

erinnern sich an Charles de Gaulle,<br />

aber die Nostalgie des Gaullismus ist ihnen<br />

geblieben. Eine gewisse Höhe der politischen<br />

Führung, ein bisschen Großsprecherei,<br />

republikanischer Glanz, das gefällt, damit<br />

kann man verführen.<br />

SPIEGEL: Und Deutschland?<br />

Houellebecq: Wie ich schon sagte, die Deutschen<br />

lieben ihre eigenen Vorzüge nicht, zu<br />

Unrecht. Dass Deutschland jetzt eine rechtsextreme<br />

Partei im Parlament hat, beweist,<br />

dass es beginnt, in Europa ganz normal zu<br />

werden, mit normalen Sorgen und Interessen.<br />

Man könnte fast sagen, dass das eine gute<br />

Nachricht ist. Die Deutschen werden doch<br />

nicht 300 Jahre in Sack und Asche gehen!<br />

SPIEGEL: So könnte auch die AfD reden.<br />

Houellebecq: Daran ist nichts Gefährliches,<br />

jedenfalls nicht mehr und nicht weniger<br />

als anderswo.<br />

SPIEGEL: Macron hat mit seiner Wahl eine<br />

breite, neue bürgerliche Mitte konstituiert.<br />

Zugleich beginnt sich der Widerstand gegen<br />

seine Reformpolitik zu verstärken.<br />

Steht Frankreich an einem Wendepunkt?<br />

Houellebecq: Die Linke liegt jedenfalls im<br />

Sterben, ihre Ideen sind tot, trotz eines<br />

Volkstribuns wie Mélenchon und seiner<br />

unbestreitbaren Wortgewalt. Die Wahrheit<br />

ist, dass es in Frankreich nur noch die Rechte<br />

und die extreme Rechte gibt. Die Linke<br />

hat ihre Mobilisierungskraft verloren.<br />

SPIEGEL: Auch unter den Intellektuellen, unter<br />

denen der Marxismus bis in die jüngste<br />

Zeit quicklebendig war?<br />

Houellebecq: Übrig geblieben ist nur noch<br />

ein Altlinker wie Alain Badiou. Das ist alles.<br />

Die Wiese ist abgegrast.<br />

SPIEGEL: Und Didier Eribon, der in Deutschland<br />

einen großen Erfolg mit seiner „Rückkehr<br />

nach Reims“ erzielt hat und erklärt,<br />

dass Macron nicht sein Präsident sei?<br />

Houellebecq: Ach ja, ich hätte fast vergessen,<br />

dass es ihn auch noch gibt. In der Tat.<br />

SPIEGEL: Haben Sie ihn gelesen?<br />

Houellebecq: Nein. Ich habe den Marxismus<br />

sterben sehen. Ich habe immer gesagt, dass<br />

Romane die Welt nicht verändern können.<br />

Aber Solschenizyns „Archipel Gulag“ von<br />

1973 hat die Welt verändert. Das Buch war<br />

ein Donnerschlag in Frankreich. Für den<br />

Marxismus läutete das Sterbeglöcklein.<br />

SPIEGEL: Frankreich galt lange als nicht<br />

reformierbar. Kann Macron wirklich das<br />

Gegenteil beweisen?<br />

Houellebecq: Ich glaube schon. Es gibt noch<br />

Klassen in Frankreich, aber der Klassen-


Kultur<br />

kampf findet nicht mehr statt. Die Wähler<br />

sind viel weniger blöd und verantwortungslos,<br />

als die Medien sie gern schildern. Sie<br />

wissen, dass die Schulden und die Defizite<br />

nicht endlos steigen können. Deshalb bezweifle<br />

ich, dass hinter dem linken Widerstand<br />

noch eine große soziale Kraft steht.<br />

SPIEGEL: Ist die Deutungshoheit endgültig<br />

nach rechts gewandert? Die Figur des engagierten,<br />

radikalen, Feuer spuckenden Intellektuellen<br />

gibt es ja noch in Frankreich.<br />

Houellebecq: Ich kann nicht sagen, ob die<br />

Rechte den Kampf der Ideen gewonnen<br />

hat. Die Medien, die Journalisten stehen<br />

überwiegend noch immer auf der Seite<br />

der Linken. Auf der anderen Seite gab es<br />

aufsehenerregende Bucherfolge rechter<br />

Autoren wie Éric Zemmour über Frankreichs<br />

angeblichen Selbstmord oder Alain<br />

Finkielkraut über die unglückliche Iden -<br />

tität. Die Intellektuellen spielen immer<br />

noch ihre Rolle in Frankreich, aber ihr Typus<br />

verändert sich.<br />

SPIEGEL: Sie begreifen sich nicht als Intellektuellen?<br />

Houellebecq: Nein. Ich bin es objektiv nicht,<br />

weil ich die Kriterien nicht erfülle. Ich leite<br />

keine Verlagsreihe, bin kein bestallter Kolumnist,<br />

habe kein öffentliches Exerzierfeld.<br />

Ich bin nicht Teil des Geschäfts der<br />

Meinungsproduktion.<br />

SPIEGEL: In Ihren Romanen finden sich viele<br />

theoretische Überlegungen wie Essays<br />

zur Geschichte. Sie bringen gern soziologische<br />

und ökonomische Ausführungen in<br />

den Erzählfluss ein.<br />

Houellebecq: Als Schriftsteller bin ich auch<br />

Soziologe und Ökonom. Das ist gut so.<br />

<strong>Der</strong> Roman ist heute das bevorzugte Instrument<br />

der Gesellschaftskritik. Den theoretischen<br />

Essayisten, den Gesellschaftswissenschaften<br />

und der Philosophie ging nach<br />

Denkern wie Bourdieu, Deleuze, <strong>Der</strong>rida,<br />

Foucault der Atem aus. Zurzeit kommt da<br />

nicht viel. Die „French Theory“ hat sich<br />

überlebt. Wenn man mich einen Gesellschaftskritiker<br />

oder einen Soziologen<br />

nennt, meint man es als Kritik an meiner<br />

Erzählkunst, an meinem angeblich literarisch<br />

ungenügenden Stil. Aber ich fasse<br />

das als Kompliment auf. Literatur ohne<br />

Ideen, Stil als reine Kunst ist nicht meine<br />

Sache. Die Verfechter einer puristischen,<br />

schönen, reinen Literatur sind Gaukler,<br />

die keine Wahrheit zu sagen haben. Dem<br />

französischen Roman geht es gegenwärtig<br />

gut, weil er den Kontakt zur Realität der<br />

Gesellschaft und zum konkreten Leben<br />

hält.<br />

SPIEGEL: Französische Autoren werden in<br />

Deutschland gern gelesen. Umgekehrt werden<br />

sehr viel weniger deutsche ins Französische<br />

übersetzt. Inwieweit kennen Sie<br />

die zeitgenössische deutsche Literatur?<br />

Houellebecq: Diese Frage bringt mich in<br />

Verlegenheit. Ich kenne Thomas Bernhard<br />

und Peter Handke, zwei Österreicher übrigens,<br />

und danach nichts mehr. Übersetzungen<br />

sollten in Europa stärker öffentlich<br />

gefördert werden.<br />

SPIEGEL: Damit lässt sich das Interesse des<br />

Publikums nicht erzwingen. Ist den Franzosen<br />

die deutsche Wirklichkeit nach der<br />

Wiedervereinigung einfach zu weit weg?<br />

Houellebecq: Ich gebe den deutschen Autoren<br />

einen guten Rat: Sie sollten sich dem<br />

erotischen Roman zuwenden. Die Deutschen<br />

sind ja Großmeister der privaten<br />

pornografischen Produktion im Internet.<br />

Da befindet sich eine Lücke, die zu füllen<br />

wirklich Aussicht auf Erfolg, auch kommerziellen,<br />

verspricht. Und das meine ich<br />

nur halb im Scherz. Das Interesse in Frankreich<br />

wäre vorhanden.<br />

SPIEGEL: Ihr Thema ist die Schwierigkeit,<br />

wahre Liebe zu finden. Sie sind der literarische<br />

Erforscher der Nöte und Ängste der<br />

Mittelschicht, die um ihren Status in der<br />

Gesellschaft kämpft. Schauen Sie gar nicht<br />

auf die Welt der ganz Reichen und der<br />

ganz Armen?<br />

Houellebecq: Doch, nur kenne ich die untere<br />

Mittelschicht eben am besten. Ich bin<br />

in meinen literarischen Mitteln leider etwas<br />

beschränkter als Balzac, der die ganze<br />

menschliche Komödie abbilden wollte. Ich<br />

habe Hunderte Notizseiten und Aufzeichnungen<br />

über einen Banker angefertigt, der<br />

mir sein Leben erzählte, einen wichtigen<br />

Mann aus der Finanzwelt, der zu meinen<br />

treuen Lesern gehört. Ich habe nichts daraus<br />

gemacht, und ich glaube nicht, dass<br />

ich es noch tun werde.<br />

SPIEGEL: Und was ist mit dem anderen<br />

Ende der sozialen Leiter? Wer befasst sich<br />

mit dem Frankreich von ganz unten?<br />

Houellebecq: Das ist eine Schwäche, davon<br />

gibt es zu wenig in der literarischen Produktion<br />

der Gegenwart. Ich habe schon<br />

seit einiger Zeit das Gefühl, dass der Kriminalroman<br />

auf diesem Gebiet der allgemeinen<br />

Literatur voraus ist. <strong>Der</strong> französische<br />

Krimi ist sehr gut geworden. Früher<br />

hatten seine Autoren eine linke Grundhaltung.<br />

Das hat sich geändert. Die Grenzen<br />

des Genres sind gesprengt. Es gibt inzwischen<br />

sogar Krimis ganz ohne Polizei, man<br />

stelle sich vor. Ich halte das für einen Ausdruck<br />

von geschärftem Realismus: Es gibt<br />

tatsächlich Zonen, aus denen die Ordnungsmacht<br />

praktisch verschwunden ist.<br />

„Meine Intuition<br />

befindet sich<br />

gewissermaßen auf<br />

der Suche unterhalb<br />

des Vernünftigen.“<br />

SPIEGEL: Ist Frankreich, in dem der Ausnahmezustand<br />

herrscht, nicht schon fast ein<br />

Polizeistaat?<br />

Houellebecq: Da fragen Sie mal die Polizisten.<br />

Ich habe mit vielen gesprochen, weil<br />

ich nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift<br />

„Charlie Hebdo“ im Januar 2015 ein<br />

Jahr lang Polizeischutz genoss. Die Polizei<br />

ist hochgradig unzufrieden, ihre Mittel und<br />

ihre Ausrüstung sind unzulänglich, sie hat<br />

den Eindruck, dass der Staat teilweise kapituliert<br />

und ganze Territorien aufgegeben hat.<br />

Meiner Meinung nach hat sie nicht unrecht.<br />

SPIEGEL: <strong>Der</strong> französische Roman war mit<br />

Balzac und Zola schon im 19. Jahrhundert<br />

fest in der sozialen Realität verankert. Erhalten<br />

Sie diese Tradition aufrecht?<br />

Houellebecq: Die Messlatte liegt sehr hoch.<br />

Das ist ein Ruhmeskapitel der französischen<br />

Literaturgeschichte. Balzac wollte<br />

wirklich die ganze Gesellschaft abbilden,<br />

und er hat es beinahe geschafft. Zola führte<br />

die Recherche, die Dokumentation in den<br />

Roman ein. Und Maupassant befasste sich<br />

auch mit Menschen, die ganz unten angekommen<br />

waren.<br />

SPIEGEL: Fehlt heute dagegen ein Marcel<br />

Proust, der sich den höheren Ständen widmete?<br />

Houellebecq: Proust gelang eine feine Gesellschaftsanalyse.<br />

Was die Leser bei ihm<br />

lieben, ist die raffinierte Boshaftigkeit, mit<br />

der er die Zusammenkünfte und Konversationen<br />

der sogenannten besseren Kreise<br />

beschreibt. Bei ihm steht nicht die menschliche,<br />

sondern die mondäne Komödie im<br />

Mittelpunkt.<br />

SPIEGEL: Neben Ihnen beschäftigt sich eine<br />

Erfolgsschriftstellerin mit den Nöten der<br />

Mittelschicht: Yasmina Reza. Teilen Sie mit<br />

ihr die Vorliebe für die Tragödien der Banalität?<br />

Houellebecq: Wir schätzen einander sehr.<br />

Aber meine Personen sind noch kaputter.<br />

Sie beschreibt Paare, die sich bekriegen<br />

und zerreißen. Bei mir gibt es nicht einmal<br />

mehr dafür genug Leidenschaft. Ich bin<br />

der Autor der totalen Schlaffheit.<br />

SPIEGEL: Dennoch glauben Sie an die Möglichkeit<br />

der Liebe?<br />

Houellebecq: Ja. Ich kann mich mit der Idee<br />

der Unbeständigkeit, der Flüchtigkeit nicht<br />

abfinden. Darin liegt ein heroischer Pessimismus.<br />

Man sollte sich nicht zu viele<br />

Illusionen über das Leben machen. Das<br />

Schwinden, das Überwinden aller Illusionen<br />

ist nicht unbedingt etwas Schlimmes,<br />

es ist im Gegenteil ein gesunder Pessimismus,<br />

der allerdings eine Portion Heldenmut<br />

erfordert. Das habe ich bei Schopenhauer<br />

gefunden. Philosophisch ist diese Haltung<br />

nicht weit vom Buddhismus entfernt.<br />

SPIEGEL: <strong>Der</strong> auch für Sie, wie für Schopenhauer,<br />

eine Verlockung war?<br />

Houellebecq: Ja, aber es war nur ein Moment,<br />

der vorübergegangen ist. Ich glaube, ich<br />

bin zu romantisch, um buddhistisch zu sein.<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

125


Kultur<br />

Das Nachrichten-Magazin<br />

für Kinder.<br />

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www.deinspiegel.de/info<br />

SPIEGEL: Schopenhauer liebte seinen Pudel,<br />

Sie liebten Ihren Corgi Clément. Sie haben<br />

ihm sogar ein Denkmal gesetzt. Haben Sie<br />

sich wieder einen Hund angeschafft?<br />

Houellebecq: Nein, ich lebe ja seit einigen<br />

Jahren in Paris, und Paris ist für Hunde<br />

die Hölle. Das ist ein Skandal. Überall ist<br />

der Zutritt für Hunde verboten. Wozu gibt<br />

es öffentliche Parkanlagen, wenn Hunde<br />

nicht hineindürfen? Frankreich ist in dieser<br />

Hinsicht ein äußerst ärgerliches Land, mit<br />

einer lachhaften Leidenschaft für die Regulierung<br />

des täglichen Lebens.<br />

SPIEGEL: Ein finsteres und von der Verwaltungsbürokratie<br />

beherrschtes Land, haben<br />

Sie einmal geschrieben.<br />

Houellebecq: Das stimmt mehr denn je, und<br />

auch Macron wird daran nichts ändern.<br />

SPIEGEL: Offenkundig haben Sie eine anarchistische<br />

Seite. Ihre Romane sind subversiv,<br />

aber im intellektuellen Diskurs werden<br />

Sie als Neoreaktionär stigmatisiert. Macht<br />

Ihnen das was aus?<br />

Houellebecq: Ich war zufrieden damit, es<br />

war fast eine Ehre, denn ich befand mich<br />

damit in guter Gesellschaft. Das Wort neoreaktionär<br />

jagt heute in Frankreich keinem<br />

mehr einen Schrecken ein. Die Linke ist<br />

hierzulande wirklich bösartig geworden.<br />

Man wird jedes Mal angeklagt, wenn man<br />

etwas sagt. Man wird unter Beobachtung<br />

gestellt. Die linken Gesinnungswächter<br />

sind seit einiger Zeit wahrhaft unausstehlich<br />

geworden. Sie verhalten sich wie ein<br />

Tier, das in der Falle sitzt und fühlt, dass<br />

es bald zu Ende ist.<br />

SPIEGEL: Auch wenn es Ihnen schmeichelt,<br />

als reaktionär gescholten zu werden, so<br />

sind Sie doch ebenso wenig eine Ikone der<br />

Rechten.<br />

Houellebecq: Die Bourgeoisie mag mich<br />

nicht, weil sie sich durch mich besudelt<br />

fühlt – zu viel Sex –, und die harte, eingefleischte<br />

Rechte mag mich nicht, weil ich<br />

ihre Heldenverehrung ganz und gar nicht<br />

teile. Ich bin nicht der neue Louis-Ferdinand<br />

Céline. Ich möchte um keinen Preis<br />

so schreiben wie Céline, sein Stakkato, seine<br />

Atemlosigkeit, seine Punktierung, sein<br />

Stil – das alles gefällt mir überhaupt nicht.<br />

SPIEGEL: Anders als Céline hassen Sie nicht.<br />

Houellebecq: Ich bin nicht einmal aggressiv.<br />

Die kulturelle Rechte in Frankreich lehnt<br />

mich ab, weil ich nicht zu ihren Husaren<br />

oder Neohusaren gehöre. Ich stehe überhaupt<br />

nicht in ihrer Tradition, die bis in<br />

die Vierzigerjahre zurückreicht. Viele von<br />

ihnen waren Kollaborateure wie Céline<br />

oder Paul Morand, ein übler Dreckskerl.<br />

SPIEGEL: Lässt sich die in Deutschland wie<br />

in Frankreich wiederentdeckte Bewunderung<br />

für Albert Camus damit erklären,<br />

dass er schon früh eine nicht marxistische,<br />

humanistische Linke vertrat?<br />

Houellebecq: Da es mit dem Marxismus und<br />

Sartre vorbei ist, bleibt Camus als Galionsfigur<br />

eines linken Milieus, das noch immer<br />

126 DER SPIEGEL 43 / 2017


über seine Machtpositionen in den Medien<br />

und im öffentlichen Diskurs verfügt. Mein<br />

Fall ist er nicht, ehrlich gesagt. Seine Theaterstücke<br />

sind grottenschlecht, in den Romanen<br />

finden sich einige schöne Sätze,<br />

viel mehr nicht, und seine Philosophie des<br />

Absurden ist idiotisch; sie reicht nicht an<br />

Samuel Beckett heran.<br />

SPIEGEL: Glauben Sie an die Renaissance<br />

der europäischen Kultur?<br />

Houellebecq: Ich würde sie mir wünschen.<br />

Wenn ich an die europäische Kultur glaube,<br />

so doch nicht an die europäische politische<br />

Union. Eine Kultur kann ohne Staat<br />

existieren. Es gab eine deutsche Kultur -<br />

nation, bevor es einen deutschen National -<br />

staat gab, und vielleicht wäre es besser gewesen,<br />

wenn es so geblieben wäre. Gleiches<br />

gilt für Italien. Es ist ein Irrweg,<br />

Europa über die politische Union zusammenzuführen.<br />

Die Kulturgemeinschaft<br />

wäre vielversprechender. <strong>Der</strong> kulturelle<br />

Imperialismus der angelsächsischen Welt<br />

lässt sich nicht bestreiten. Da rede ich ausnahmsweise<br />

wie ein Linker.<br />

SPIEGEL: Sie haben vor diesem Gespräch<br />

angekündigt, dass es Ihr letztes Interview<br />

sein werde. Warum haben Sie sich entschieden,<br />

in der Öffentlichkeit künftig zu<br />

schweigen?<br />

Houellebecq: Ich bin mir bewusst geworden,<br />

dass ich das, was ich wirklich gern sagen<br />

möchte, nicht wirklich ausdrücken kann.<br />

Es gibt sehr viele Dinge, die mich bewegen,<br />

aber zu wenig rational sind, als dass ich<br />

sie formulieren könnte. Meine Intuition<br />

befindet sich gewissermaßen auf der Suche<br />

unterhalb des Vernünftigen.<br />

SPIEGEL: Das klingt sehr geheimnisvoll. Sie<br />

verstummen nicht aus politischen Gründen,<br />

um Auseinandersetzungen aus dem<br />

Weg zu gehen oder Bedrohliches zu vermeiden?<br />

Houellebecq: Die Scherereien, die ich bekommen<br />

könnte oder schon bekommen<br />

habe, sind nebensächlich. Es geht vielmehr<br />

um formale, um ästhetische Formen und<br />

Betrachtungen. Das, worüber man schreiben<br />

kann, erstreckt sich viel weiter als das,<br />

worüber man sprechen kann.<br />

SPIEGEL: Wird es bald einen neuen Roman<br />

von Ihnen geben?<br />

Houellebecq: Ich arbeite daran. Ich weiß<br />

nicht, wie lange es noch dauern wird, aber<br />

ja, es wird einen neuen Roman geben. Ich<br />

bin nur noch nicht weit genug, um das<br />

Ende absehen zu können.<br />

SPIEGEL: Und vor allem kein Wort über den<br />

Inhalt?<br />

Houellebecq: Bloß nicht!<br />

SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, wir danken<br />

Ihnen für dieses letzte Gespräch.<br />

Video:<br />

Das letzte große Interview?<br />

spiegel.de/sp432017houllebecq<br />

oder in der App DER SPIEGEL<br />

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);<br />

nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller<br />

Belletristik<br />

1 (1) Dan Brown<br />

Origin<br />

2 (–) Daniel Kehlmann<br />

Tyll<br />

Rowohlt; 22,95 Euro<br />

Daniel Kehlmann erzählt, wie<br />

der Hass nach Deutschland<br />

kam – eine Geschichte aus<br />

dem Dreißigjährigen Krieg mit<br />

leider aktuellen Anklängen<br />

3 (15) Robert Menasse<br />

Die Hauptstadt<br />

4 (–) Kerstin Gier<br />

Wolkenschloss<br />

5 (2) Ken Follett<br />

Das Fundament der Ewigkeit<br />

6 (4) Maja Lunde<br />

Die Geschichte der Bienen<br />

7 (3) Jo Nesbø<br />

Durst<br />

8 (5) Marc-Uwe Kling<br />

QualityLand<br />

9 (–) Cassandra Clare<br />

Lord of Shadows<br />

10 (8) Sven Regener<br />

Wiener Straße<br />

Lübbe; 28 Euro<br />

Suhrkamp; 24 Euro<br />

Fischer; 20 Euro<br />

Lübbe; 36 Euro<br />

btb; 20 Euro<br />

Ullstein; 24 Euro<br />

Ullstein; 18 Euro<br />

Goldmann; 19,99 Euro<br />

Galiani; 22 Euro<br />

11 (6) Walter Moers Prinzessin<br />

Insomnia & der alptraumfarbene<br />

Nachtmahr<br />

Knaus; 24,99 Euro<br />

12 (9) David Lagercrantz<br />

Verfolgung<br />

Heyne; 22,99 Euro<br />

13 (10) Mariana Leky Was man von<br />

hier aus sehen kann DuMont; 20 Euro<br />

14 (7) Elena Ferrante Die Geschichte<br />

der getrennten Wege Suhrkamp; 24 Euro<br />

15 (11) Elena Ferrante Meine<br />

geniale Freundin<br />

Suhrkamp; 22 Euro<br />

16 (19) Leïla Slimani<br />

Dann schlaf auch du Luchterhand; 20 Euro<br />

17 (–) Salman Rushdie<br />

Golden House<br />

18 (12) Paulo Coelho<br />

<strong>Der</strong> Weg des Bogens<br />

19 (13) Carmen Korn<br />

Zeiten des Aufbruchs<br />

20 (14) Marion Poschmann<br />

Die Kieferninseln<br />

C. Bertelsmann; 25 Euro<br />

Diogenes; 18 Euro<br />

Kindler; 19,95 Euro<br />

Suhrkamp; 20 Euro<br />

Sachbuch<br />

1 (1) Peter Wohlleben Das geheime<br />

Netzwerk der Natur Ludwig; 19,99 Euro<br />

2 (2) Axel Hacke Über den Anstand in<br />

schwierigen Zeiten und die<br />

Frage, wie wir miteinander umgehen<br />

Kunstmann; 18 Euro<br />

3 (12) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt<br />

Zukunft Kiepenheuer &Witsch; 22 Euro<br />

4 (4) Peter Wohlleben Das geheime<br />

Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro<br />

5 (3) Thorsten Schulte<br />

Kontrollverlust<br />

6 (19) Gregor Gysi<br />

Ein Leben ist zu wenig<br />

Kopp; 19,95 Euro<br />

Aufbau; 24 Euro<br />

7 (–) Gerald Hüther Raus aus der<br />

Demenz-Falle!<br />

Arkana; 18 Euro<br />

8 (7) Andreas Michalsen Heilen mit<br />

der Kraft der Natur Insel; 19,95 Euro<br />

9 (–) Karsten Brensing Das Mysterium<br />

der Tiere<br />

Aufbau; 22 Euro<br />

10 (8) Yuval Noah Harari<br />

Homo Deus<br />

C.H. Beck; 24,95 Euro<br />

11 (5) Susanne Fröhlich / Constanze Kleis<br />

Kann weg! Gräfe und Unzer; 17,99 Euro<br />

12 (17) Christian Peter Dogs / Nina Poelchau<br />

Gefühle sind keine Krankheit<br />

13 (–) Rolf Dobelli Die Kunst des<br />

guten Lebens<br />

14 (11) Flake Heute hat die<br />

Welt Geburtstag<br />

S. Fischer; 20 Euro<br />

<strong>Der</strong> laute Rammstein-Mann<br />

ganz leise: Keyboarder<br />

Flake hat über sein Leben<br />

geschrieben, melancholisch<br />

und von zarter Schönheit<br />

Ullstein; 20 Euro<br />

Piper; 20 Euro<br />

15 (9) Eckart von Hirschhausen Wunder<br />

wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro<br />

16 (–) Reinhold Messner<br />

Wild<br />

S. Fischer; 20 Euro<br />

17 (10) Souad Mekhennet Nur wenn<br />

du allein kommst C.H. Beck; 24,95 Euro<br />

18 (20) Ijoma Mangold<br />

Das deutsche Krokodil Rowohlt; 19,95 Euro<br />

19 (–) Thomas Middelhoff<br />

A115 – <strong>Der</strong> Sturz<br />

LangenMüller; 24 Euro<br />

20 (14) Ulrich Wickert Frankreich muss man<br />

lieben, um es zu verstehen<br />

Hoffmann und Campe; 22 Euro<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017 127


Debatte Auf der Frankfurter Buchmesse kam es in der vorvergan -<br />

genen Woche zu Tumulten, die Polizei musste eingreifen: das Ende<br />

oder die Unterbrechung einer Tradition der diskursiven Auseinan -<br />

dersetzung? Zwei Analysen einer Situation, in der Rat losigkeit<br />

und Zorn herrschen – und Uneinigkeit darüber, wie man mit rechts -<br />

extremen Positionen und Personen umgehen soll.<br />

<strong>Der</strong> kommende Kulturkampf<br />

Die radikale Rechte weiß, mit welchen Gegnern sie es zu tun hat.<br />

Von Tobias Rapp<br />

Wenn am Dienstag der Bundestag zu seiner konstituierenden<br />

Sitzung zusammentritt, wird der<br />

Altliberale Hermann Otto Solms, 76, ihn mit einer<br />

Rede eröffnen. Bislang kam diese Ehre immer dem ältesten<br />

Abgeordneten zu. Doch der älteste Volksvertreter<br />

ist nun Wilhelm von Gottberg, 77, ein AfD-Rechtsaußen<br />

aus Niedersachsen. Um ihn als Alterspräsidenten zu verhindern,<br />

änderte der Bundestag im Juni flugs seine Geschäftsordnung:<br />

<strong>Der</strong> dienstälteste Abgeordnete soll es nun<br />

machen. Das wäre Wolfgang Schäuble, 75, der wird aber<br />

voraussichtlich Bundestagspräsident, also gab er die Eröffnung<br />

an Solms ab.<br />

Das ist nur der Anfang. In den kommenden Wochen<br />

gibt es eine Menge Posten zu besetzen und eine Menge<br />

Büros neu zu verteilen. Immer wird eine Frage im Raum<br />

stehen, auf die es keine einfache Antwort gibt: Wie gehen<br />

wir mit den Rechten um? Ausgrenzen?<br />

Normal behandeln? Nach den<br />

Regeln spielen oder die Regeln ändern?<br />

Was tun, wenn jemand im<br />

Plenum provoziert, was ganz bestimmt<br />

passieren wird? Protestieren,<br />

argumentieren, ignorieren?<br />

Nicht nur im Bundestag macht man<br />

sich darüber Gedanken. Landtagsabgeordnete<br />

und Bezirkspolitiker<br />

stehen vor ähnlichen Situationen.<br />

Manche seit Jahren.<br />

Die Rechte ist vorbereitet. „Die<br />

Aufstellung ist nun komplett“, sagte<br />

der rechte Verleger und Aktivist<br />

Götz Kubitschek am Wahlabend<br />

dem SPIEGEL. Wenn Politik ein<br />

Spiel wäre, dann säße die AfD auf der einen Seite des<br />

Bretts – und alle anderen wären auf der anderen Seite.<br />

Diese Worte sollte man ernst nehmen. Kubitscheks Ansage<br />

lautet: Wir haben jetzt eine Partei, die überall vertreten<br />

ist. Wir sind in der Lage, Begriffe zu prägen, weil wir die<br />

Medien zu nutzen wissen. Wir haben eine gewisse Macht<br />

auf der Straße. Und wir haben Rückzugsräume, in denen<br />

wir kulturelle Hegemonie beanspruchen können. Wir wissen,<br />

wer wir sind. Und damit arbeiten wir jetzt.<br />

Kubitschek fügte auch hinzu, worum es für die radikale<br />

Rechte in den kommenden Jahren gehen werde: den<br />

Kampf gegen die Westbindung. Den Kampf gegen die<br />

neoliberale Wirtschaftsordnung. Den Kampf gegen das<br />

„linksliberale Gesellschaftsexperiment“. Und gegen eine<br />

Bildungspolitik, die zu viele Menschen an die Universitäten<br />

bringe. Das ist die Ankündigung eines Kulturkampfs.<br />

Bei den Veranstaltungen von Kubitscheks Verlag auf der<br />

Frankfurter Buchmesse gab es am vergangenen Wochenende<br />

Tumulte. Offenbar ist die liberale Öffentlichkeit<br />

schlecht auf diese Auseinandersetzung vorbereitet.<br />

Paradoxerweise nicht zuletzt aus historischen Gründen.<br />

Lange hielt die Mehrheit der Deutschen radikale Rechte<br />

Veranstaltung in Frankfurt 2017<br />

Aufstellung komplett<br />

für Ewiggestrige, die zurück in die NS-Zeit wollen. Solche<br />

Leute gibt es selbstverständlich immer noch. Mit dem Verweis<br />

auf die deutsche Vergangenheit bekommt man aber<br />

weder eine Partei wie die AfD zu fassen noch die rechten<br />

Hipster von der Identitären Bewegung. Im Gegenteil, auf<br />

der Seite der Rechten hat man mit dem Nazivorwurf leben<br />

gelernt und ein geschicktes Spiel daraus gemacht, sich<br />

zum Opfer von Missverständnissen zu erklären. Dass in<br />

den Neunzigern Skinheads das Bild der Rechten dominierten,<br />

tut ein Übriges: Viele Deutsche glauben, Rechtsradikalismus<br />

sei im Wesentlichen ein Bildungsproblem.<br />

Dass es überhaupt rechtsradikale Intellektuelle gibt,<br />

scheint ihnen ein Widerspruch in sich.<br />

Die radikale Rechte dagegen weiß ziemlich gut, mit<br />

wem sie es in Deutschland zu tun hat. Mit einer liberalen<br />

Mehrheitsgesellschaft, die verlernt hat, über ihre Grundlagen<br />

nachzudenken. Mit Menschen,<br />

welche die Welt, in der sie<br />

leben, für selbstverständlich halten.<br />

Doch so ist es nicht. Die Gleichstellung<br />

der Geschlechter, die Öffnung<br />

des Staatsangehörigkeitsrechts, die<br />

Homo-Ehe – all das ist erkämpft<br />

worden. Wir laufen auf festem<br />

Grund. Doch nur, weil er im Streit<br />

einmal festgestampft worden ist.<br />

Nichts garantiert, dass das so bleibt.<br />

Und die Rechte kann weit in die<br />

FRANK RUMPENHORST / DPA<br />

Gesellschaft hineinfunken: Auch<br />

viele Linke haben Probleme mit<br />

den USA und sehen den Kapitalismus<br />

kritisch. Vielen Konservativen<br />

geht die Toleranz für andere Lebensentwürfe<br />

immer wieder zu weit. In allen politischen<br />

Lagern gibt es ein Unbehagen mit dem schnellen gesellschaftlichen<br />

Wandel. Daran knüpft die Rechte an.<br />

Im Wahlkampf hat sie Themen gesetzt, und sie wird es<br />

weiter tun. Wer glaubt, er könnte dieser Auseinandersetzung<br />

entgehen, hat sie schon verloren. <strong>Der</strong> Rechten ist<br />

auch nicht mit moralischer Selbstüberhöhung und „Nazis<br />

raus“-Rufen beizukommen. Mit Rechten reden? Die Kunst<br />

wird darin bestehen, ihre Provokationen ins Leere laufen<br />

zu lassen, sie nicht zu den Opfern zu machen, als die sie<br />

sich oft und gern stilisieren – und sie inhaltlich zu stellen.<br />

Das wird nicht klappen, ohne sich mit ihren Positionen<br />

und ihrem Denken zu beschäftigen. Aber niemand wird<br />

dieser Diskussion ausweichen können. Sie läuft schon, ob<br />

die liberale Öffentlichkeit das will oder nicht.<br />

Die radikale Rechte hat einen umfassenden Angriff auf<br />

die liberalen Errungenschaften der Bundesrepublik<br />

Deutschland begonnen. Er wird dauern. Die Rechten wissen<br />

das. Sie haben Zeit. Jahrzehntelang haben sie hilflos<br />

dem Marsch der Linksliberalen durch die Institutionen<br />

des Landes zugeschaut. Sie werden alles aufbieten, was<br />

sie haben, um diese Errungenschaften zurückzudrehen.<br />

128 DER SPIEGEL 43 / 2017


Kultur<br />

Die kommende Vielfalt<br />

Auch für Selbstverständlichkeiten einzustehen, braucht es Training.<br />

Von Hilal Sezgin<br />

Ja, ich kann es gut verstehen, wenn man Nazis im öffentlichen<br />

Raum ausbuht, statt mit ihnen zu diskutieren.<br />

Und, ja, ich habe jenem Bekannten gratuliert,<br />

der neulich auf unserer Dorfstraße angehalten und sein<br />

Autodach erklommen hat, um ein AfD-Plakat vom Laternenmast<br />

zu reißen.<br />

Beides gehört nicht zu den feinsten Umgangsformen in<br />

einer Demokratie. Aber rechten Gruppierungen Einhalt<br />

zu gebieten und zu verhindern, dass sie den öffentlichen<br />

Raum mit ihren hasserfüllten Parolen zupflastern, ist auch<br />

eine Form von Politik. Nämlich eine vieler Aktionsmöglichkeiten<br />

von Individuen – nicht von gesellschaftlichen<br />

oder staatlichen Institutionen. Es ist richtig, dass das Recht<br />

auf Meinungsfreiheit auch Publikationen schützt, die am<br />

rechten Rand provozieren, und auch, dass als Partei zugelassen<br />

ist, wer noch nicht allzu massiv mit Menschenfeindlichkeit<br />

auffiel. Die Justiz muss<br />

sparsam sein mit Verboten. Doch<br />

wenn empörte Personen demonstrieren<br />

und Sprecher ausbuhen,<br />

dann ist das nicht Zensur, sondern<br />

Zivilgesellschaft in Aktion.<br />

Im Übrigen hat es ja tatsächlich<br />

eine lange Zeit gegeben, in der<br />

man niemanden hätte niederschreien<br />

müssen, sondern ihn einfach hätte<br />

rechts liegen lassen können. Als<br />

beispielsweise Thilo Sarrazin sein<br />

erstes Buch veröffentlichte, 2010,<br />

Verunstaltung in Berlin 2000<br />

Vornehme Zurückhaltung<br />

CARSTEN KOALL / DDP IMAGES<br />

hätten Leser nicht Millionen Exemplare<br />

kaufen und Talkshows ihn<br />

nicht unaufhörlich ein laden müssen.<br />

Auch hätte es das Land als einen<br />

Schock erleben können, wie die Ägypterin Marwa<br />

El-Sherbini mitten in einem Dresdener Gerichtssaal 2009<br />

von ihrem islamfeindlichen Verfolger erstochen wurde.<br />

Und bei Entdeckung der NSU-Morde, 2011, hätte man<br />

deutlich aussprechen können, dass es in Deutschland wieder<br />

rechten Terror gibt. Aber weite Teile unseres Bildungsbürgertums<br />

hielten sich vornehm zurück.<br />

Das ganze Drucksen und Zaudern hat die Rechte nur<br />

anwachsen lassen. Und obwohl ich gern den Eindruck vermeiden<br />

würde, die Migrationshintergrundkarte auszuspielen,<br />

sei doch daran erinnert: Die Möglichkeit zu schweigen<br />

hat ohnehin nicht jeder. Die Frage, ob man mit Nazis<br />

überhaupt etwas zu tun haben will, stellt sich weder der<br />

Frau mit Kopftuch, die auf der Straße angespuckt wird,<br />

noch dem afrikanischen Geflüchteten, der selbst in einer<br />

belebten Innenstadt mit Prügel rechnen muss, noch mir,<br />

die – viel harmloser – ihr ganzes Berufsleben hindurch<br />

aufgrund ihres Namens Adressatin höchst sonderbarer<br />

rassistischer Bemerkungen geworden ist.<br />

Die Migrationshintergrundkarte wieder eingesteckt und<br />

aus der Perspektive politischer Aktivisten gesprochen:<br />

Die momentane Ratlosigkeit, wie man mit Rechten umgehen<br />

müsse, ist auch dem Umstand geschuldet, dass weite<br />

Teile unserer Bevölkerung in politischen Protesten schlicht<br />

aus der Übung sind. Nach dem Ende des Kalten Krieges<br />

und dem Abflauen der Friedensbewegung schien erst einmal<br />

alles in trockenen Tüchern. In Feuilletondebatten wurden<br />

in Nuancen semi-linke oder dezent-konservative Weltsichten<br />

verhandelt. Erst als mit Donald Trump die blanke<br />

Irrationalität an die Macht kam, wurde die Verunsicherung<br />

flächendeckend. Und nun, seit der Bundestagswahl, wird<br />

auch hierzulande den eher Unpolitischen deutlich, dass<br />

sie für eine gewaltfreie liberale Gesellschaft eintreten müssen.<br />

Was über Jahrzehnte nicht nötig schien.<br />

Für Feministinnen, die ihre Sexismuskritik jahrein, jahraus<br />

gegen Prüderievorwürfe verteidigen müssen, oder für<br />

Tierrechtlerinnen wie mich ist das nichts ganz Neues. Wer<br />

die Opfer sexueller Gewalt oder das Leid der über 65 Milliarden<br />

jährlich geschlachteten Tiere<br />

vor Augen hat, weiß: Es geht jeden<br />

Tag um etwas. Diese Tücher<br />

sind niemals trocken. Man weiß<br />

dann zudem: Man muss und kann<br />

immer wieder mit politischen Gegnern<br />

reden. Auch eine ethische Veganerin<br />

sieht in Fleischessern nicht<br />

bloß „Feinde“, sondern hat Freunde,<br />

die Fleisch essen. Ebenso wenig<br />

sind AfD-Wähler reine „Monster“.<br />

Sie sind nicht einmal ausschließlich<br />

AfD-Wähler, das ist nur eine ihrer<br />

sozialen Rollen und eines ihrer<br />

Gesichter. Auch sie sind als Menschen<br />

verwundbar – und müssen als<br />

Rechte bekämpft werden. Wenn<br />

ihre Oma gestorben ist, schickt man eine Kondolenzkarte,<br />

und später auf der Buchmesse schreit man sie nieder. Mit<br />

diesem Paradox lernt jeder zu leben, der eine starke Meinung<br />

hat, die nicht von der Umgebung geteilt wird. Dabei<br />

äußert sich der eine im politischen Streit kategorisch, der<br />

andere vermittelnder. Wir brauchen Empathie, um über<br />

die Lager hinweg zu kommunizieren, und das rigorose<br />

Prinzip „Keinen Fußbreit“ in anderen Konstellationen.<br />

Konzentrieren wir uns statt auf Verfahrensfragen vermehrt<br />

auf normativen Input. Dafür braucht es auch große<br />

Wörter: Gerechtigkeit und Solidarität, Gewaltfreiheit, Frieden<br />

und Menschlichkeit. Für solche scheinbaren Selbstverständlichkeiten<br />

öffentlich einstehen zu müssen ist für<br />

viele eher ungewohnt, man möchte kein Pathos zeigen<br />

oder gar Gefühl, will nicht „idealistisch“ wirken und nicht<br />

„naiv“. All diese Ängste sollten wir jetzt aufgeben. Wir<br />

haben bemerkt, dass etwas verloren zu gehen droht. Rufen<br />

wir es zurück, jeder und jede in der eigenen Tonlage.<br />

Von Hilal Sezgin erschien zuletzt: „Nichtstun ist keine Lösung.<br />

Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs“<br />

(DuMont).<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

129


Dichter Hamza in der Buchholzer Buchhandlung Slawski: „Ich komme aus einem unglücklichen Land“<br />

LUCAS WAHL / DER SPIEGEL<br />

Ein Gedicht für Wanne-Eickel<br />

Exil Weiterleben nach dem Krieg: wie zwei syrische Schriftsteller versuchen, in der<br />

deutschen Provinz eine neue Heimat zu finden<br />

130 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

Sie sitzt im Deutschkurs. Sie soll sprechen,<br />

sich beteiligen. Aber sie versteht<br />

kein Wort. Sie schweigt. Plötzlich<br />

meldet sie sich, weil sie Durst hat: „Ich<br />

möchte eine Tasse Wasser.“ Da klatschen<br />

alle. Die Lehrerin ruft: „Super, Lina!“ und<br />

gibt ihr ein Stück Schokolade. Sie weint.<br />

„Ich fühlte mich wie in der ersten Klasse“,<br />

erzählt Lina Atfah, 28.<br />

Atfah ist Lyrikerin, sie hat arabische Literatur<br />

studiert, doch jetzt muss sie<br />

Deutsch lernen wie ein Kind in der Schule.<br />

Den Intensivkurs an der Uni brach die Syrerin<br />

damals ab, nun besucht sie eine Integrationsklasse<br />

an der Volkshochschule Herne.<br />

Sie soll ihre Adresse sagen und ihre<br />

Postleitzahl. Sie lebt jetzt unter Menschen,<br />

die ihre Sprache nicht verstehen, ihre Gedichte<br />

nicht lesen können.<br />

Sie weiß, sie müsste schneller Fortschritte<br />

machen im Deutschen. Aber sie will Gedichte<br />

schreiben, sie muss schreiben. Sie<br />

fühlt, jetzt ist ihre Chance. „Gerade gibt<br />

es in Deutschland so viel Interesse an arabischer<br />

Literatur. Wer weiß, ob in zwei<br />

Jahren noch einer nach uns fragt?“<br />

Im November 2014 verließ die Schriftstellerin,<br />

die wegen ihrer kritischen Gedichte<br />

und Artikel seit Jahren nicht bei<br />

Kulturveranstaltungen auftreten durfte,<br />

ihre Heimatstadt Salamija in Westsyrien.<br />

Jetzt lebt sie in Wanne-Eickel. Im einstigen<br />

Kohlerevier, an das nur noch ein paar<br />

alte Fördergerüste erinnern. Nicht weit<br />

vom Bahnhof, in Wanne, hat sie eine kleine<br />

Wohnung mit ihrem Mann, einem Physiker.<br />

Sie hat noch schnell das Treppenhaus<br />

gewischt, sie sind mit dem Putzdienst dran.<br />

Nun sitzt sie auf dem Sofa im Wohnzimmer<br />

und pustet sich ein paar Haare aus<br />

der Stirn. Atfah ist impulsiv, temperamentvoll,<br />

sie lacht gern, selbst jetzt, wenn sie<br />

von ihrem Heimweh spricht. Wird sie je<br />

zurückkehren können? Welches Syrien<br />

wird es dann sein?<br />

„Ich hatte Glück“, sagt sie und dreht den<br />

Satz gleich um: „Hatte ich Glück?“ Sie ist<br />

gerettet, aber ihr Land liegt großteils in<br />

Trümmern. So viele sind tot, verletzt, leiden<br />

im Gefängnis. In ihrer Heimatstadt,<br />

die regimetreue Milizen kontrollierten,<br />

greife der „Islamische Staat“ wieder mit<br />

Mörsergranaten an, berichtet Atfah.<br />

Oft ist sie von Schuldgefühlen geplagt.<br />

Sie darf noch mal neu anfangen, aber was<br />

ist mit denen, die dortbleiben mussten?<br />

Manchmal, sagt sie, gehe sie tagelang nicht<br />

aus dem Haus. In der ersten Zeit in Deutschland<br />

konnte sie nicht schreiben, hatte Panikattacken.<br />

„Wir haben die Bomben überlebt/<br />

und jetzt ist unser Leben zu weit weg/<br />

als dass wir es uns zurückholen könnten.“<br />

Aref Hamza, 43, hat das geschrieben,<br />

nachdem er im Juni 2014 in Deutschland<br />

angekommen war. Auch er ist Lyriker, im<br />

Hauptberuf war er Anwalt. Er und seine<br />

Familie überlebten die Kämpfe in seiner<br />

Heimatstadt Hasaka und die Flucht nachts<br />

durch Nordsyrien über die türkische Grenze.<br />

Einmal wanderten plötzlich Lichtstrahlen<br />

vor ihnen über den Boden, offenbar<br />

ein Kontrollposten, aber sie blieben unent-


Kultur<br />

deckt, kein Soldat schoss. Drei Schleuser<br />

begleiteten sie. Irgendwann zeigten sie auf<br />

einen hellen Punkt, seht ihr, das ist die<br />

Türkei. Und Hamza sprach mit seinem<br />

sechsjährigen Sohn: „Schau, hinter uns ist<br />

es dunkel, das ist Syrien, und da vorn gibt<br />

es viele Lichter und Plätze, an denen du<br />

spielen kannst. Aber dazwischen lauern<br />

Soldaten, und deshalb müssen wir jetzt<br />

ganz still sein, okay?“ Alles, was sie hatten,<br />

trugen sie in zwei Koffern bei sich, vor allem<br />

Sachen für die Kinder und Fotoalben<br />

mit den Bildern aus glücklichen Tagen.<br />

So kamen sie nach Buchholz, Nordheide.<br />

Hier, in dem geruhsamen Städtchen<br />

im Hamburger Speckgürtel, lebt Hamza<br />

nun seit drei Jahren. Zurzeit ist er der einzige<br />

Dichter, den Buchholz hat.<br />

Ein Lyriker, sagt er, schreibt über das<br />

Leiden der Menschen. „Aber ich weiß<br />

nicht, leiden die Menschen hier?“ Er ist<br />

über die Friedhöfe gegangen und hat die<br />

Gräber studiert. Viele Tote sind älter als<br />

achtzig Jahre alt geworden. Das hat ihn<br />

beeindruckt, in Syrien sterben viele jung –<br />

im Krieg, durch Terror, im Gefängnis.<br />

Hamza hat Gedichte über die Folter geschrieben,<br />

über Wände, an denen das Blut<br />

klebt, und Kupferdraht, der mit Strom zum<br />

Werkzeug des Bösen wird. Als Anwalt vertrat<br />

er Syrer, die 20 Jahre lang im Gefängnis<br />

saßen, verurteilt in Schnellprozessen,<br />

„völlig unfaire Verfahren“, sagt Hamza. Einer<br />

seiner Mandanten sei anders als üblich<br />

ohne Augenbinde vor ein Militärgericht gebracht<br />

worden. „Er sollte seine Schwester<br />

sehen, die nackt war“, erzählt Hamza. Sie<br />

hätten gedroht, sie zu vergewaltigen, wenn<br />

er nicht alles zugibt, was sie ihm vorwarfen.<br />

Das Grauen ist weit weg, doch er trägt<br />

die Bilder in sich, wenn er jetzt über friedliche<br />

Plätze geht in Buchholz, er sieht die<br />

Menschen noch vor sich, die von Kugeln<br />

oder Bomben zerfetzt vor ihren Häusern<br />

lagen. Die Herbstsonne trocknet den Regen<br />

von der Straße, er trinkt Espresso im Café<br />

Paradies, wo es besonders gute Schokoladentorte<br />

gibt. Am Nebentisch prosten sich<br />

zwei ältere Damen mit Sekt zu. Es ist elf<br />

Uhr vormittags. „Ich bin einsam/ Ich habe<br />

kein Land mehr/ Meine Nachbarin ist einsam<br />

geworden/ Sie hat keinen Hund mehr.“<br />

Meist schreibt Hamza nachts, wenn seine<br />

beiden kleinen Söhne schlafen. Das Gedicht<br />

mit dem Hund trägt er fast immer<br />

auf den Lesungen vor, zu denen er eingeladen<br />

wird, nach Berlin und Heidelberg,<br />

nach München und Mainz. Ein Netzwerk<br />

von Kulturstiftungen, Literaturhäusern<br />

und Initiativen unterstützt die Exilschriftsteller<br />

in Deutschland, verhilft ihnen zu<br />

Auftritten, bringt sie mit deutschen Autoren<br />

zusammen, übersetzt ihre Werke und<br />

veröffentlicht sie in Anthologien*.<br />

* „Weg sein – hier sein. Texte aus Deutschland“. Seces -<br />

sion; 256 Seiten; 24 Euro.<br />

Kürzlich kam nach einer Lesung in<br />

Frankfurt eine begeisterte Zuhörerin zu<br />

ihm, er habe ihre Verzweiflung so gut getroffen.<br />

Ihr Hund sei gestorben, und das<br />

sei schlimmer als bei jedem Mann, den sie<br />

verloren habe. Ohne Mann komme sie<br />

zurecht, aber ohne Hund? Sie fing an zu<br />

weinen, und Aref Hamza sagte: Sorry.<br />

Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen<br />

sollen.<br />

Im Juni trat er im Forum der Hamburger<br />

Körber-Stiftung zusammen mit Lina Atfah<br />

auf, auch sie hält häufig Lesungen. Sie hat<br />

honiggetränkte Baklavas mitgebracht, die<br />

sie im Publikum verteilt. „Ich möchte etwas<br />

mit Ihnen feiern“, erklärt sie, „heute<br />

ist mein Vater aus der Haft entlassen worden!“<br />

Sie ist aufgeregt, sie lacht und wirft<br />

ihre langen Haare nach hinten. Dann setzt<br />

sie zur Saghrada an, dem Freudentriller<br />

arabischer Frauen. Das Publikum klatscht.<br />

Sie liest: „Ich werde diese Länder, die uns<br />

Zuflucht gewährten, fragen:/ Wer bin ich?“<br />

Nachts hat sie Albträume, immer die<br />

gleichen. Sie hat ihren Mann verloren, sie<br />

sucht ihn überall, in Straßen, in Häusern,<br />

doch alle sind leer, kein Mensch außer ihr.<br />

Dann träumt sie, dass ihre Heimatstadt im<br />

Wasser versinkt, und sie schwimmt und<br />

schwimmt, schnappt nach Luft, um nicht<br />

zu ertrinken, und ruft nach ihrem Vater.<br />

Er ist ihr großer Kummer. Als Einziger<br />

der Familie ist er noch in Syrien, er gilt als<br />

Regimegegner und durfte bisher nicht ausreisen.<br />

Er war Agraringenieur im Staatsdienst.<br />

„Sie haben ihn entlassen, alle Pensionsansprüche<br />

gestrichen“, sagt Atfah. Im<br />

Mai wurde er festgenommen, blieb über<br />

einen Monat im Gefängnis. Atfah war verrückt<br />

vor Sorge, er ist herzkrank, braucht<br />

Tabletten. Jeden Tag telefoniert sie lange<br />

mit ihm, auch jetzt ruft er an, das Bild<br />

eines schmalen, dunkelhaarigen Mannes<br />

erscheint auf dem Smartphone-Display.<br />

„Baba, kaif halak, Habibi?“ ruft sie, „Papa,<br />

mein Liebling, wie geht es dir?“<br />

Lina war zehn Jahre alt, als ihr ein Nachbarsmädchen<br />

verriet, dass man beim Referendum<br />

Süßigkeiten bekomme für jeden<br />

Ausweis, der als Jastimme eingetragen werden<br />

kann. Es war Februar 1999, Präsident<br />

Hafis al-Assad ließ pro forma über seine<br />

fünfte Amtszeit abstimmen.<br />

Lina sammelte alle Ausweise im Haus<br />

ein, die ihrer Eltern, ihrer Großeltern, ihres<br />

Onkels und selbst die der Tanten, die schon<br />

lange tot waren. Zwölf Ausweise gab sie<br />

im Wahlbüro ab, doch sie bekam nur sieben<br />

Baklavas. Sie fühlte sich betrogen und<br />

erzählte alles ihrem Großvater. <strong>Der</strong> sagte:<br />

Weißt du, dass du meine Stimme dem<br />

Mann verkauft hast, der mich ins Gefängnis<br />

geworfen hat? Zwölf Jahre lang war er in<br />

Haft. Sie brach in Tränen aus. „Ich habe<br />

mit einem Schlag verstanden“, sagt sie,<br />

„wie das Assad-Regime funktioniert.“<br />

An einem heißen Tag im Sommer 2013<br />

wurde Aref Hamza klar, dass sie in Syrien<br />

keine Zukunft mehr hatten. In der Stadt<br />

tobten Kämpfe zwischen den kurdischen<br />

Milizen und Regierungstruppen. Häufig<br />

gab es keinen Strom, kein Wasser, die Kinder<br />

hatten keine Schule. Sie kauerten in<br />

der Küche auf dem Boden, die Kinder<br />

weinten, stopften sich die Finger in die Ohren.<br />

„Wir hatten solche Angst“, sagt Hamza,<br />

„immerzu.“ Als ein Panzer in die Straße<br />

rollte, flohen sie in einen Park, und sein<br />

ältester Sohn fragte: „Papa, müssen wir<br />

jetzt sterben?“<br />

Seine 3000 Bücher musste Hamza in Syrien<br />

zurücklassen, darunter viele deutsche<br />

Klassiker, Thomas Mann, Bertolt Brecht,<br />

Hermann Hesse, Günter Grass, Schopenhauer<br />

und Nietzsche, er hat sie alle gelesen,<br />

auf Arabisch. Nur je eine Ausgabe<br />

Dichterin Atfah bei Lesung in Heidelberg: „Ich hatte Glück – hatte ich Glück?“<br />

PETER JUELICH / DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

131


Kultur<br />

„Das detailreichste und<br />

enthüllendste Porträt einer der<br />

größten Bands aller Zeiten“<br />

EMPIRE<br />

Ab 20.10. als Special Edition<br />

inkl. 4,5 Stunden<br />

exklusivem Bonusmaterial<br />

seiner eigenen Werke nahm er mit in den<br />

beiden Koffern. Und die Bücher? Die sind<br />

bei Verwandten in Hasaka gestapelt. Als<br />

es kalt wurde im Winter und die Verwandten<br />

erzählten, wie sehr sie froren, sagte<br />

Hamza: „Verbrennt die Bücher.“ Sie weigerten<br />

sich. „Menschen sind doch wichtiger<br />

als Bücher“, sagt Hamza.<br />

Nun ist er wieder von Büchern umgeben,<br />

und vielleicht wird er eines Tages sagen,<br />

sie hätten ihn gerettet. Seit einem halben<br />

Jahr hat er einen Aushilfsjob in der<br />

Buchhandlung Slawski, meist montags und<br />

dienstags, für zehn Euro die Stunde. <strong>Der</strong><br />

Laden ist klein, aber gut sortiert und gemütlich,<br />

Kunden sitzen gern auf dem blauen<br />

Sofa in der Mitte und lesen. Wenn Hamza<br />

ein Buch aus dem Regal zieht, nimmt<br />

er es vorsichtig, fast zärtlich in die Hand.<br />

Man könne sich mit ihm über die ganze<br />

Weltliteratur unterhalten, lobt seine Chefin<br />

Monika Külper. Sie schwärmt von seinen<br />

Umgangsformen, die Kunden liebten<br />

ihn. Seine Deutsch wird immer besser. Die<br />

Buchhandlung öffnet um neun Uhr, doch<br />

Hamza bittet, zum Interview später zu<br />

kommen, erst müssten die Kundenbestellungen<br />

erledigt sein. Er ist ein höflicher,<br />

bescheidener Mann, er will seine Dankbarkeit<br />

zeigen. Deutschland nennt er ein<br />

„gutes Exil“.<br />

Eigentlich sei er ja bereits in Syrien im<br />

Exil gewesen, sagt er. Ein Regimekritiker,<br />

Kurde dazu, der sich schon 2004 an einem<br />

friedlichen Sitzstreik vor dem Parlament<br />

in Damaskus beteiligte. Als Anwalt verteidigte<br />

Hamza ehrenamtlich auch politische<br />

Häftlinge, schrieb kritische Artikel. Zwei<br />

seiner Gedichtbände sind in Syrien verboten.<br />

2004 hatte er noch den Mohammedal-Maghout-Preis<br />

bekommen für Lyrik.<br />

„Ich komme aus einem unglücklichen<br />

Land“, sagt Hamza. Einem Land, in dem<br />

die Bauern den Wetterbericht nicht mehr<br />

verfolgten, wie er in einem Gedicht<br />

schreibt: „<strong>Der</strong> Himmel bedeutet uns nichts<br />

mehr/ und inzwischen legen wir unsere<br />

Söhne in die Erde anstelle von Saatgut.“<br />

In Buchholz fragt er seine Söhne immer<br />

wieder: Wollt ihr zurück? Nein, sagen sie<br />

dann. Sie seien glücklich in ihrer Schule,<br />

sie gehen in die zweite und die vierte Klasse,<br />

sie haben Schwimmen gelernt, spielen<br />

Fußball, sein ältester Sohn malt. Sie haben<br />

eine schöne Wohnung bekommen.<br />

„Das syrische Volk braucht psychologische<br />

Hilfe“, sagt Lina Atfah, „wir haben<br />

den Glauben an alles verloren.“ Ihre Mutter<br />

ist zu Besuch gekommen, sie nickt.<br />

Dann weint sie. Sie war Französischlehrerin<br />

in Syrien, eine schmale, fein gekleidete<br />

Frau. Sie lebt jetzt mit ihren jüngeren Kindern<br />

in der Nähe. Immer, wenn von ihrem<br />

Mann die Rede ist, weint sie. „Ich war<br />

schon so verzweifelt, dass ich mich fragte,<br />

wessen Hand ich küssen könnte, damit er<br />

herkommt“, sagt Lina Atfah.<br />

Nun hat die Familie zum ersten Mal Hoffnung.<br />

Sie haben an das Kanzleramt geschrieben,<br />

wo Atfah beim Tag der Offenen<br />

Tür ihre Gedichte las, und an das Auswärtige<br />

Amt. Das hat sich inzwischen gemeldet,<br />

man will sich kümmern. Sie sei Deutschland<br />

so dankbar, sagt Atfah, aber dass der<br />

Familiennachzug ausgesetzt sei für viele<br />

Flüchtlinge, finde sie ein großes Unrecht.<br />

Bevor sie ausreisen konnte, musste sie<br />

Verhöre der Sicherheitsbehörden über sich<br />

ergehen lassen. Immer wieder die Frage:<br />

„Warum schreibst du gegen uns? Warum<br />

schreibst du nicht für Assad?“ 2011 hatte<br />

sie sich an den Protesten beteiligt, man<br />

verweigerte ihr deshalb zunächst die Papiere.<br />

Schon als 17-Jährige kritisierte sie<br />

in einem Gedicht, die Menschen stürben<br />

an Hunger, die Gouverneure dagegen, weil<br />

sie zu viel äßen.<br />

Dann kam der Tag ihrer Ausreise, ohne<br />

das Recht auf Rückkehr. „Ich wollte alle<br />

Kleider mitnehmen, meine Erinnerungen,<br />

meine Kindheit.“ So kam sie mit einem<br />

Aref Hamza sagt, er<br />

träume nicht mehr.<br />

Er habe aber auch keine<br />

Albträume mehr.<br />

50 Kilogramm schweren Rucksack in<br />

Deutschland an, voller Kleider, arabischer<br />

Süßigkeiten, einer Teekanne samt Teegläsern<br />

und Löffeln, Büchern und zwölf Flaschen<br />

ihres Lieblingsparfums.<br />

Vor drei Wochen hat Lina Atfah ihre erste<br />

Deutschprüfung, Niveau A1, bestanden.<br />

Sie war so stolz, dass sie sich gleich wieder<br />

für einen Intensivkurs angemeldet hat. Gerade<br />

sind neue Gedichte von ihr erschienen.<br />

Und sie probiert, auf Deutsch zu schreiben:<br />

„ Ich versuche zu leben. Ich versuche neue<br />

Adresse zu buchstabieren. Ich versuche<br />

meinen alten <strong>Spiegel</strong> zu zerbrechen.“<br />

Aref Hamza sagt, er träume nicht mehr.<br />

Aber er habe auch keine Albträume mehr.<br />

Eines Tages kam sein Sohn zu ihm und<br />

küsste ihm die Hand. „Was ist?“, fragte er<br />

ihn. „Du hast gesagt, wir werden schöne<br />

Plätze sehen“, sagte sein Sohn, „und du<br />

hast nicht gelogen.“<br />

Seitdem weiß Hamza, dass er das Richtige<br />

getan hat, als er seine Heimat verließ<br />

und sein Haus und seine Bücher und sein<br />

Anwaltsbüro und seine Freunde und die<br />

langen Nächte, die er so liebte, in denen<br />

man zusammensaß und nicht an den nächsten<br />

Morgen dachte.<br />

Nun überlegt er, ob er die deutsche<br />

Staatsbürgerschaft beantragt. Er sucht<br />

einen Ausbildungsplatz in einem Anwaltsbüro.<br />

Und: Im Frühjahr erscheint sein<br />

erster Gedichtband auf Deutsch.<br />

Annette Großbongardt<br />

132 DER SPIEGEL 43 / 2017


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Rosenzweig & Schwarz, Hamburg


„…was das uns Deutsche wieder kostet!“<br />

Essay Ist das die Antwort auf den französischen Präsidenten?<br />

Von Jürgen Habermas<br />

Hoffnungsträger Macron: Gegen die „traurigen Leidenschaften“ Europas<br />

MICHAEL PROBST / AP<br />

Für Walter Benjamin war Paris die Hauptstadt Euro -<br />

pas, für den trotzig-ironischen Robert Menasse soll<br />

Brüssel es werden. Das ist eine fragile Hoffnung. <strong>Der</strong><br />

frisch gekürte Träger des Deutschen Buchpreises temperiert<br />

denn auch im „taz“-Interview hochgesteckte Erwartungen<br />

mit einer hübschen Story über den Abend mit einem<br />

deutschen Korrespondenten in einem verrauchten<br />

Brüsseler Journalistencafé. Er konnte beobachten, wie<br />

diesem von seiner Frankfurter Redaktion ein Bericht aus<br />

dem Brüsseler Raumschiff mit dem Bescheid zurückgegeben<br />

wurde: „Schreib nicht so kompliziert. Schreib nur,<br />

was das uns Deutsche wieder kostet.“<br />

Das gedämpfte Interesse, das deutsche Politiker, Manager<br />

und Journalisten an der Gestaltung eines politisch<br />

handlungsfähigen Europas nehmen, lässt sich kaum auf<br />

eine bündigere Formel bringen. Eine timide und willfährige<br />

Presse springt unserer politischen Klasse seit Jahren<br />

bei, um die breitere Öffentlichkeit mit dem Thema Europa<br />

nur ja nicht zu belästigen. Die Entmündigung des Publikums<br />

hätte nicht schöner demonstriert werden können<br />

als mit der sorgfältig präparierten Einschränkung des Themenspektrums<br />

für die einzige sogenannte Fernsehdebatte<br />

zwischen Merkel und Schulz vor der Bundestagswahl.<br />

Auch während des Jahrzehnts der immer noch weiterschmorenden<br />

Finanzkrise durften sich die Kanzlerin und<br />

ihr Finanzminister – im krassen Gegensatz zu den Tatsachen<br />

– als die wahren „Europäer“ darstellen.<br />

Aber nun erscheint ein Emmanuel Macron auf der Bühne<br />

und könnte, trotz seiner einschmeichelnden Bemühungen<br />

um eine rücksichtsvolle Kooperation mit der geschlagenen<br />

und von der eigenen Partei bedrängten Kanzlerin, den<br />

Schleier über diesem wohlgefälligen Selbstbetrug lüften.<br />

Die „realistischen“ Köpfe in den überregionalen Zeitungen<br />

scheinen zu befürchten, das deutsche Publikum könnte<br />

sich von den Worten des französischen Präsidenten über<br />

des Kaisers neue Kleider die Augen öffnen lassen: Es könnte<br />

erkennen, dass die deutsche Regierung mit ihrem robusten<br />

Wirtschaftsnationalismus ziemlich nackt dasteht. Georg<br />

Blume sammelt in den ersten Kapiteln eines Buches, das<br />

soeben mit dem Untertitel „Wie Deutschland eine Freundschaft<br />

riskiert“ erschienen ist, traurige Belege aus Presse<br />

und Politik für den neudeutsch-herablassenden Tenor gegenüber<br />

Frankreich und den Franzosen. Manche Kommentare<br />

zu Macron schwankten von Anbeginn zwischen Gleichgültigkeit,<br />

Arroganz und vorauseilender Abwehr. Und bis<br />

auf einen SPIEGEL-Titel blieb auch das Echo auf die sorgfältig<br />

vorbereitete Europa-Rede des französischen Präsidenten<br />

schwach bis tonlos. Aus diesem Stoff, der sich für<br />

eine Komödie eignet, könnte die anstehende Jamaika -<br />

koalition eine handfeste Tragödie basteln – wenn beispielsweise<br />

ein Finanzminister Christian Lindner Schäubles Testament<br />

vollstrecken sollte. Dieser hat in einem „non-paper“<br />

für die Euro-Gruppe der Finanzminister schon einmal ein<br />

Programm entworfen, das jeden Kompromiss mit der zukunftsweisenden<br />

Initiative des französischen Präsidenten<br />

blockieren soll. Darin verknüpft Schäuble die Einrichtung<br />

eines Europäischen Währungsfonds mit der Lieblingsvorstellung<br />

des Ordoliberalen, der einer gefürchteten demokratischen<br />

Beteiligung der Betroffenen dadurch vorbeugen<br />

will, dass die Finanz- und Wirtschaftsordnung im Ganzen<br />

der politischen Entscheidung entzogen wird und einer technokratischen<br />

Verwaltung vorbehalten bleibt.<br />

134 DER SPIEGEL 43 / 2017


Kultur<br />

Ungefähr in diesem Stil hätte ich mir gerne den Frust<br />

von der Seele geschrieben. Aber dafür ist die Situation<br />

zu ernst, denn die nächste deutsche Regierung (sofern<br />

überhaupt noch einer Lust dazu hat) muss den Ball des<br />

französischen Präsidenten, der nun in ihrem Feld liegt,<br />

aufnehmen. Schon eine Politik des bloßen Aufschiebens<br />

oder Unterlassens würde genügen, um eine historisch einzigartige<br />

Chance zu verspielen.<br />

Selten sind die Kontingenzen der Geschichte so drastisch<br />

hervorgetreten wie beim unerwarteten Aufstieg dieser<br />

faszinierenden, vielleicht blendenden, jedenfalls ungewöhnlichen<br />

Person. Niemand hat damit rechnen können,<br />

dass ein parteiloser Minister der Regierung Hollande,<br />

der im egozentrischen Alleingang, so schien es, aus dem<br />

Nichts eine politische Bewegung ins Leben rief, ein ganzes<br />

Parteiensystem umstülpen würde. Es war gegen alle demoskopische<br />

Weisheit, dass es einer einzelnen Person<br />

ohne Anhang innerhalb der kurzen Periode eines Wahlkampfes<br />

gelingen könnte, mit einem konfrontativen Programm<br />

für die Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit<br />

gegen einen anschwellenden Rechtspopulismus, dem<br />

jeder dritte Franzose seine Stimme gegeben hat, dennoch<br />

die Mehrheit der Wähler zu gewinnen. Dass jemand wie<br />

Macron in einem Land, dessen Bevölkerung seit je euroskeptischer<br />

war als Luxemburger und Belgier, als Deutsche,<br />

Italiener, Spanier und Portugiesen, zum Präsidenten<br />

gewählt werden könnte, war schlechthin unwahrscheinlich.<br />

Allerdings ist es bei nüchterner Betrachtung ebenso unwahrscheinlich,<br />

dass die nächste deutsche Regierung die<br />

Weitsicht hat, auf die Frage, die ihr Macron gestellt hat,<br />

eine produktive, das heißt eine weiterführende Antwort<br />

zu finden. Ich würde schon aufatmen, wenn sie überhaupt<br />

die Relevanz der Frage richtig einschätzen würde.<br />

Es ist unwahrscheinlich genug, dass sich eine von internen<br />

Spannungen geprägte Koalitionsregierung dazu aufraffen<br />

wird, die beiden Weichenstellungen zu revidieren, die Angela<br />

Merkel in der ersten Stunde der Finanzkrise durchgesetzt<br />

hat: sowohl den Intergouvernementalismus, der<br />

Deutschland eine Führungsrolle im Europäischen Rat sichert,<br />

wie auch die Sparpolitik, die sie dank dieser Rolle<br />

den Südländern der Union zum eigenen, überproportionalen<br />

Vorteil Deutschlands oktroyieren konnte. Und es ist<br />

erst recht unwahrscheinlich, dass sich diese Kanzlerin nicht<br />

auf ihre innenpolitisch geschwächte Stellung herausreden<br />

wird, um ihrem charmanten Gegenüber klarzumachen, dass<br />

sie dessen formvollendet angediente Reformperspektive<br />

bedauerlicherweise nicht einnehmen kann – Perspektiven<br />

lagen ihr immer schon fern.<br />

Andererseits, und das ist die Frage, die mich bewegt,<br />

kann diese bemerkenswert kluge und gewissenhafte, aus<br />

einem protestantischen Pfarrhaus stammende, bisher vom<br />

Erfolg verwöhnte, aber auch nachdenkliche Politikerin (der<br />

ich persönlich nie begegnet bin) wirklich ein Interesse daran<br />

haben, in dieser unrühmlichen Rolle ihre dann 16 aktiven<br />

Jahre als Bundeskanzlerin zu beenden? Will sie abtreten<br />

nach vier weiteren Jahren des Durchwurstelns und der zerbröselnden<br />

Macht? Oder wird sie allen denen zum Trotz,<br />

die jetzt schon über ihren Untergang raunen, Größe zeigen<br />

und über ihren Schatten springen?<br />

Auch sie weiß, dass sich die europäische Währungsgemeinschaft,<br />

die im elementaren deutschen Interesse<br />

liegt, nicht auf Dauer stabilisieren lässt, solange<br />

sich, wie unter dem gegenwärtigen Regime, die<br />

starken Niveauunterschiede der Volkseinkommen, der<br />

Arbeitslosigkeit und der Staatsverschuldung zwischen den<br />

seit Jahren auseinanderdriftenden nationalen Ökonomien<br />

im Norden und Süden Europas immer weiter vertiefen.<br />

Das Gespenst der „Transferunion“ verstellt den Blick auf<br />

diese zerstörerische Dynamik. Diese ist nur aufzuhalten,<br />

wenn ein wirklich fairer Wettbewerb über nationale Grenzen<br />

hinweg hergestellt und eine Politik gegen die fortschreitende<br />

Entsolidarisierung zwischen den nationalen<br />

Bevölkerungen und innerhalb der jeweils eigenen Nationen<br />

verfolgt wird. Das Stichwort Jugendarbeitslosigkeit<br />

muss hier genügen. Macron entwirft ja nicht nur eine Vision,<br />

er fordert konkret das Vorangehen der Eurozone<br />

bei der Angleichung der Körperschaftsteuern, er fordert<br />

eine wirksame Finanztransaktionsteuer, die schrittweise<br />

Konvergenz der verschiedenen sozialpolitischen Regimes,<br />

die Einrichtung des Amtes eines europäischen Staats -<br />

anwalts für die Regeln des internationalen Handelsverkehrs<br />

usw.<br />

Andererseits sind es nicht diese einzelnen, ja längst bekannten<br />

Vorschläge, die das Auftreten, die Initiative und<br />

die Rede dieses Politikers aus allem herausheben, woran<br />

wir bisher gewöhnt sind. Was aus dem Rahmen fällt, sind<br />

drei charakteristische Züge:<br />

‣ der Mut zur politischen Gestaltung;<br />

‣ das Bekenntnis zur Umstellung des europäischen Eliteprojekts<br />

auf die demokratische Selbstgesetzgebung der<br />

Bürger;<br />

‣ das überzeugende Auftreten einer Person, die der Gedanken<br />

artikulierenden Kraft des Wortes vertraut.<br />

Mit einer sehr französischen Wortwahl wendet sich<br />

der Präsident am 26. September an sein studentisches<br />

Publikum und ebenso an die politische Klasse in Deutschland,<br />

wenn er wiederholt die<br />

„Souveränität“ beschwört, die<br />

nicht mehr der Nationalstaat,<br />

sondern nur noch Europa seinen<br />

Bürgern gewährleisten<br />

kann. Nur im Schutz und mit<br />

der Kraft des geeinten Europas<br />

könnten diese Bürger in der<br />

durch einandergeratenen Welt<br />

ihre gemeinsamen Interessen<br />

und Werte behaupten. Macron<br />

spielt die „wirkliche“ Souveränität<br />

gegen die schimärische der<br />

französischen „Souveränisten“<br />

aus. Er nennt das unwürdige<br />

Da hat wirklich<br />

jemand den Mut,<br />

sich gegen<br />

das fatalistische<br />

Bewusstsein<br />

von Fellachen<br />

aufzulehnen?<br />

Spiel des Regierungspersonals, das sich zu Hause von den<br />

Gesetzen distanziert, die es in Brüssel selber beschlossen<br />

hat, beim Namen und fordert nicht weniger als die Neugründung<br />

eines politisch nach innen wie nach außen handlungsfähigen<br />

Europas: Diese Selbstermächtigung der europäischen<br />

Bürger ist mit „Souveränität“ gemeint. Als<br />

Schritte zur Institutionalisierung der gemeinsamen Handlungsfähigkeit<br />

nennt Macron die engere Zusammenarbeit<br />

in der Euro zone auf der Grundlage eines gemeinsamen<br />

Haushaltes. <strong>Der</strong> zentrale und umstrittene Vorschlag lautet:<br />

„Ein (solcher) Haushalt kann nur einhergehen mit einer<br />

starken politischen Steuerung durch einen gemeinsamen<br />

Minister und eine anspruchsvolle parlamentarische Kontrolle<br />

auf europäischer Ebene. Allein die Eurozone mit<br />

einer starken internationalen Währung kann Europa den<br />

Rahmen einer Weltwirtschaftsmacht bieten.“<br />

Mit dem Anspruch, die Probleme einer zusammenwachsenden<br />

Weltgesellschaft politisch zu gestalten, ragt Macron<br />

wie nur wenige andere aus der chronisch überforderten,<br />

opportunistisch angepassten und perspektivelos von Tag<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

135


Kultur<br />

Philosoph Habermas<br />

Als Linker bin ich<br />

kein „Macronist“,<br />

wenn es so<br />

etwas gibt. Aber<br />

wie er über Europa<br />

spricht, macht<br />

einen Unterschied.<br />

ARNE DEDERT / DPA<br />

zu Tag reagierenden Schicht politischer Funktionäre heraus.<br />

Man reibt sich die Augen: Da ist jemand, der am<br />

Status quo noch etwas ändern will? Da hat jemand den<br />

frivolen Mut, sich gegen das fatalistische Bewusstsein von<br />

Fellachen aufzulehnen, die sich den vermeintlich zwingenden<br />

systemischen Imperativen einer in abgehobenen<br />

internationalen Organisationen verkörperten Weltwirtschaftsordnung<br />

gedankenlos beugen?<br />

Wenn ich ihn recht verstehe, bringt Macron ein Interesse<br />

zur Geltung, das bisher in unserem Parteiensystem zwischen<br />

dem alltäglichen Neoliberalismus der „Mitte“, dem<br />

selbstzufriedenen Antikapitalismus der Linksnationalisten<br />

sowie der abgestandenen identitären Ideologie der Rechtspopulisten<br />

nicht ausbuchstabiert und daher nicht repräsentiert<br />

ist. Es gehört zum Versagen der Sozialdemokratie,<br />

dass eine im Grundsatz globalisierungsfreundliche, europa -<br />

politisch vorwärtstreibende Politik, die gleichzeitig die<br />

sozialen Zerstörungen eines entfesselten Kapitalismus im<br />

Blick behält und daher auch auf die notwendige transnationale<br />

Reregulierung wichtiger Märkte drängt, trotz einiger<br />

Bemühungen von Sigmar Gabriel kein erkennbares<br />

Profil gewonnen hat. Den Ellbogenspielraum für die Profilierung<br />

einer solchen Politik hätte Gabriel wohl erst als<br />

Finanzminister einer fortgesetzten und Macron entgegenkommenden<br />

Großen Koalition erhalten können.<br />

<strong>Der</strong> zweite Umstand, durch den Macron sich von anderen<br />

Figuren unterscheidet, ist der Bruch mit einem stillschweigenden<br />

Konsens. In der politischen Klasse verstand<br />

es sich bis jetzt von selbst, dass das Europa der Bürger<br />

ein viel zu komplexes Gebilde<br />

ist und dass die finalité, das Ziel<br />

der europäischen Einigung, eine<br />

viel zu komplizierte Frage ist,<br />

als dass man die Bürger selbst<br />

damit befassen dürfte. Die laufenden<br />

Geschäfte der Brüsseler<br />

Politik sind nur etwas für Experten<br />

und allenfalls für die gut informierten<br />

Lobbyisten; während<br />

die Regierungschefs die<br />

ernsteren Konflikte zwischen<br />

aufeinanderstoßenden nationalen<br />

Interessen unter sich, in der<br />

Regel durch Aufschieben oder<br />

Ausklammern, beilegen. Vor allem<br />

aber besteht zwischen den<br />

politischen Parteien Einverständnis<br />

darüber, dass in nationalen<br />

Wahlen europäische Themen<br />

tunlichst zu vermeiden<br />

sind, es sei denn, dass sich die<br />

hausgemachten Probleme auf<br />

die Schultern Brüsseler Bürokraten<br />

abschieben lassen. Und nun<br />

will Macron mit dieser mauvaise<br />

foi aufräumen. Er hat ein Tabu bereits damit gebrochen,<br />

dass er die Reform Europas in den Mittelpunkt seiner<br />

Kampagne gerückt und diese Offensive, ein Jahr nach<br />

dem Brexit, gegen „die traurigen Leidenschaften“ Europas<br />

sogar gewonnen hat.<br />

Dieser Umstand verleiht dem oft gehörten Satz, dass<br />

die Demokratie das Wesen des europäischen Projektes<br />

sei, in seinem Munde Glaubwürdigkeit. Die Umsetzung<br />

seiner angekündigten politischen Reformen in Frankreich<br />

kann ich nicht beurteilen. Es wird sich zeigen müssen, ob<br />

er das „sozialliberale“ Versprechen, die schwierige Balance<br />

zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher<br />

Produktivität einzuhalten, einlöst. Als Linker bin ich kein<br />

„Macronist“, wenn es so etwas gibt. Aber wie er über Eu -<br />

ropa spricht, macht einen Unterschied. Er wirbt um Verständnis<br />

für die Gründungsväter, die Europa ohne die Bevölkerung<br />

erschaffen hätten, weil sie einer aufgeklärten<br />

Avantgarde angehörten; er selbst will aber nun aus dem<br />

Elite- ein Bürgerprojekt machen und fordert naheliegende<br />

Schritte zur demokratischen Selbstermächtigung der europäischen<br />

Bürger gegen die nationalen Regierungen, die<br />

sich im Europäischen Rat gegenseitig blockieren. So fordert<br />

er für die Europawahlen nicht nur ein allgemeines<br />

Wahlrecht, sondern auch eine Kandidatenaufstellung nach<br />

länderübergreifenden Parteilisten. Das befördert nämlich<br />

die Ausbildung eines europäischen Parteiensystems, ohne<br />

das aus dem Straßburger Parlament kein Ort werden kann,<br />

wo gesellschaftliche Interessen über die Grenzen der jeweils<br />

eigenen Nation hinweg verallgemeinert und zur Geltung<br />

gebracht werden können.<br />

Wenn man die Bedeutung von Emmanuel Macron<br />

richtig einschätzen will, kommt noch ein dritter<br />

Aspekt in Betracht, eine persönliche Eigenschaft:<br />

Er kann reden. Es handelt sich in seinem Fall nicht nur<br />

um einen Politiker, der sich durch seine rhetorische Begabung<br />

und die Sensibilität für das geschrieben Wort Aufmerksamkeit,<br />

Ansehen und Einfluss erwirbt. Vielmehr<br />

verleiht die genaue Wahl seiner inspirierenden Sätze und<br />

die Artikulationskraft der Rede dem politischen Gedanken<br />

selbst analytische Schärfe und eine ausholende Perspektive.<br />

Norbert Lammert war bei uns der Letzte, der Erinnerungen<br />

an die großen Bundestagsdebatten von Gustav<br />

Heinemann, Adolf Arndt und Fritz Erler in der frühen<br />

Bundesrepublik geweckt hat. Natürlich bemisst sich die<br />

Qualität der Ausübung des Politikerberufs nicht am rednerischen<br />

Talent. Aber Reden können die Wahrnehmung<br />

der Politik in der Öffentlichkeit verändern, das Niveau<br />

heben und den Horizont einer öffentlichen Debatte erweitern.<br />

Und damit auch die Qualität nicht nur der politischen<br />

Willensbildung, sondern des politischen Handelns<br />

selber.<br />

Wo die Formlosigkeit der Talkshows zum Maßstab für<br />

Komplexität und Atemlänge des öffentlich zulässigen<br />

politischen Gedankens wird, fällt Macron durch das Format<br />

seiner Reden auf. Anscheinend fehlt uns die Wahrnehmungsfähigkeit<br />

für solche Qualitäten, sogar für das<br />

Wann und Wo einer Rede. So war die Rede, die Macron<br />

vor Kurzem im Rathaus von Paris aus Anlass des Reformationsjubiläums<br />

gehalten hat, nicht nur inhaltlich interessant;<br />

sie war nicht nur ein geschickter Versuch, den<br />

Rückblick auf die Geschichte der Konfessionskämpfe in<br />

Frankreich zur Anpassung einer Staatsdoktrin, des strengen<br />

französischen Laizismus, an die Anforderungen einer<br />

pluralistischen Gesellschaft zu nutzen. Anlass und Thema<br />

der Rede waren zugleich eine Geste an die protestantisch<br />

geprägte Kultur des Nachbarlandes – und an die evangelische<br />

Kollegin in Berlin.<br />

Natürlich sind uns Anspruch und Stil, staatliche Macht<br />

zu repräsentieren, spätestens seit dem nostalgischen Blick<br />

eines Carl Schmitt auf die französische Gegenaufklärung<br />

im 19. Jahrhundert fremd geworden. Uns mag der Sinn<br />

für die Gravitas eines Lebens im Élysée-Palast fehlen, den<br />

Macron im SPIEGEL-Gespräch hochhält. Aber die intimere<br />

Kenntnis der hegelschen Geschichtsphilosophie, mit der<br />

er auf die Frage nach Napoleon als dem „Weltgeist zu<br />

Pferde“ reagiert, ist dann doch wieder eindrucksvoll. ■<br />

136 DER SPIEGEL 43 / 2017


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Kultur<br />

Jenseits des Zauns<br />

Filmkritik In ihrer melancholischen<br />

Komödie „Sommerhäuser“ erzählt Sonja<br />

Maria Kröner vom Ende eines Idylls.<br />

Kinostart: 26. Oktober<br />

Die Kinder tollen über die Wiese und klettern ins<br />

Baumhaus, Vati reibt Mutti die Schultern mit Sonnenmilch<br />

ein, die Großtante sitzt in der bunt gemusterten<br />

Hollywoodschaukel und strickt. Eine deutsche<br />

Familie im Sommer 1976. Wie schön das alles ausschaut.<br />

Wenn nur die lästigen Wespen nicht wären.<br />

Im Garten ragt der Stumpf eines Baumes in den blauen<br />

Himmel, gerade zerstört von einem Blitz, genau an dem<br />

Tag, als Uroma beerdigt wurde. Nun packen alle mit an,<br />

der Vater, der Großvater, die Kinder, sie zersägen den<br />

Baum und transportieren ihn ab. Und der Film „Sommerhäuser“<br />

macht aus der Familienidylle Kleinholz.<br />

Die deutsche Regisseurin Sonja Maria Kröner<br />

zeigt die Siebziger als eine Zeit, in der<br />

vieles brüchig wird, Bäume und Rollenbilder,<br />

soziale Strukturen und verbindende Werte.<br />

Die Familie könnte das Holz auftürmen und<br />

anzünden. Aber das Lagerfeuer würde sie<br />

nicht mehr vereinen.<br />

Bernd (Thomas Loibl), Enkel der verstorbenen<br />

Urgroßmutter Sophie, schlurft mit Vollbart<br />

und kalkweißen Beinen durch den Garten,<br />

seine Kinder tanzen ihm auf der Nase<br />

herum, vor seinem Vater Erich (Günther Maria<br />

Halmer) kuscht er. Seine Frau Eva (Laura<br />

Tonke) hat Angst, dass Bernds Schwester Gitti<br />

(Mavie Hörbiger) vom Erbe mehr abkriegt.<br />

Gitti trägt eine goldene Bluse und einen<br />

orange roten Rock. Die Klamotten habe ihr<br />

ein alter Verehrer spendiert, sagt sie stolz.<br />

„Alt sind sie ja immer“, gibt Eva zurück.<br />

Großtante Ilse (Ursula Werner) hat ihre<br />

Mutter Sophie bis zum Tod gepflegt. Sie<br />

möchte, dass alles so bleibt, dass die Familie<br />

hier jeden Sommer wieder zusammenkommt. Alle anderen<br />

wollen das Grundstück verkaufen.<br />

Die Regisseurin Kröner wurde 1979 in München geboren<br />

und studierte dort Film. Bislang drehte sie Videoinstallationen<br />

und Kurzfilme. Für „Sommerhäuser“ erhielt sie<br />

bereits einige Preise.<br />

Regisseurinnen wie Maren Ade, Nicolette Krebitz, Maria<br />

Schrader oder Valeska Grisebach haben sich in den vergangenen<br />

Jahren an neue Themen, Stile und Erzählweisen<br />

herangewagt. War das deutsche Kino in jüngerer Zeit<br />

frisch und ungewöhnlich, war es meist weiblich.<br />

In „Sommerhäuser“ ist von der ersten Szene an zu spüren,<br />

dass auch Kröner einen ganz eigenen Blick auf die<br />

Welt wirft. Sie zeigt ihre Figuren in seltsam verdrehten,<br />

aus der Balance geratenen Einstellungen. Immer ragt etwas<br />

ins Bild, verstellt etwas den Blick. Diese Welt ist zu<br />

kantig und zu sperrig, um sie in Bilder zu fassen.<br />

Doch das ändert sich jäh, als das Runde ins Eckige<br />

kommt, als die kleine Jana (Emilia Pieske), Tochter von<br />

Eva und Bernd, ins Bild springt, auf einem dieser Hüpfbälle,<br />

wie sie in den Siebzigern in Mode waren. Die Kamera<br />

folgt Jana in einer langen Einstellung quer durch<br />

den Garten. Es wirkt befreiend.<br />

Hier ist eine Regisseurin, die weiß, wie eine einzige Bewegung<br />

einen Film aufreißt und den Zuschauer einmal<br />

tief durchatmen lässt. Ein Kind, das die Familiengeheimnisse<br />

und Zwistigkeiten kaum kennt, hüpft fröhlich und<br />

ausgelassen mitten durch das Minenfeld.<br />

Einmal verstecken sich Jana und Gittis Tochter Inga<br />

(Anne-Marie Weisz) unter einem Esstisch. <strong>Der</strong> Film nimmt<br />

den Blick der Kinder ein. Sie sehen, wie die Erwachsenen<br />

Platz nehmen, sich ihre Schuhe ausziehen und darüber<br />

reden, was mit dem Grundstück geschehen soll. Unter<br />

dem Tisch bekommen Jana und Inga versteckte Berührungen<br />

der Erwachsenen mit, die verraten, was wirklich<br />

in ihnen vorgeht. Kröner macht daraus eine wunderbare<br />

Szene, in der die Zuschauer mit den Mädchen erahnen,<br />

wie in dieser Familie geschachert und taktiert wird.<br />

Und es sind auch die Kinder, die in „Sommerhäuser“<br />

die Welt jenseits der Familie erkunden. Jana hüpft auf ihrem<br />

Ball bis vor einen Zaun am Rande des Grundstücks<br />

und klettert durch eine Lücke auf die andere Seite. Dort<br />

tut sich ein märchenhafter Wald auf, düster und verwunschen,<br />

an den Ästen hängen Puppen.<br />

Darsteller Hörbiger, Loibl, Tonke: Kleinholz aus der Großfamilie<br />

Wie der Regisseur David Lynch in seinem Film „Blue<br />

Velvet“ oder in seiner TV-Serie „Twin Peaks“ zeigt Kröner,<br />

dass die Idylle und der Horror Nachbarn sein können. Ein<br />

Kindermörder hält sich in der Gegend auf, er schneidet<br />

seinen Opfern Hände und Füße ab.<br />

Kröner fügt diese ganzen scheinbar disparaten Elemente<br />

zusammen. Sie nutzt den Horror, um die Familiengeschichte<br />

aufzuladen. Sie holt sich beim französischen Kino den<br />

Mut, einen Film zu machen, in dem wenig passiert, außer<br />

dass ein paar Leute bei großer Sommerhitze im Garten<br />

abhängen. Und sie entwickelt aus der Komik Tragik.<br />

Am Ende des Films ist die Familie über den Garten verteilt,<br />

jeder für sich, in sich gekehrt, sprachlos. Es ist Herbst,<br />

Laub fällt von den Bäumen, Ilse fegt es zusammen. <strong>Der</strong><br />

Sommer, in dem man in der Hollywoodschaukel saß, im<br />

Bassin planschte und Wespen jagte, ist weit weg.<br />

Lars-Olav Beier<br />

PROKINO FILMVERLEIH<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

139


Impressum<br />

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion)<br />

HERAUSGEBER Rudolf Augstein<br />

(1923 – 2002)<br />

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140 DER SPIEGEL 43 / 2017


Nachrufe<br />

GOTTFRIED BÖTTGER, 67<br />

Er war Raggi Ragtime, der Boogie-Man, er wollte Spaß –<br />

und das war wohl sein Erfolgsrezept: <strong>Der</strong> Pianist Gottfried<br />

Böttger vereinte großes technisches Können mit der Gabe,<br />

sein Publikum mitzureißen. Die Freude am Spiel wollte er<br />

auf seine Zuhörer übertragen, das war seine Philosophie,<br />

und deswegen, sagte er einmal, bevorzuge er Ragtime. In<br />

einem musikalischen Elternhaus groß geworden, lernte<br />

Böttger schon als Kind das Klavierspielen, als Jugendlicher<br />

spielte er mit Musikern aus einem kirchlichen Posaunenchor<br />

in seiner ersten Jazzband. Als junger Mann war er<br />

dann Mitbegründer der Band Leinemann, des Panikorchesters<br />

von Udo Lindenberg und anderer Combos. Böttger<br />

gehörte zum Kern der Hamburger Szene, die Anfang der<br />

Siebziger im Onkel Pö residierte. <strong>Der</strong> Klub war ein internationaler<br />

Treffpunkt für Jazzmusiker wie Chet Baker, Chick<br />

Corea, Pat Metheny – und Al Jarreau startete hier seine<br />

Weltkarriere. <strong>Der</strong> in Hamburg geborene Böttger machte<br />

zahlreiche Aufnahmen, unter anderem mit Lonzo Westphal<br />

und dem Blues-Pianisten Memphis Slim. Er komponierte<br />

Bühnen- und TV-Musik und lehrte von 1997 an Mediendidaktik,<br />

später wurde er zum Professor ernannt. Seit<br />

1974 war er der Mann am Klavier in der Talkshow<br />

„3nach9“, rund 3000 Gäste und 40 Moderatoren erlebte er<br />

in 40 Jahren als TV-Pianist. <strong>Der</strong> Kabarettist Hans Scheibner<br />

überschrieb einen Nachruf auf seinen Freund mit der<br />

Zeile: „Gotti spielt jetzt auf Wolke 4“. Gottfried Böttger<br />

starb am 16. Oktober in Hamburg an Krebs. ks<br />

WOLFGANG BÖTSCH, 79<br />

<strong>Der</strong> promovierte Jurist gehörte zu<br />

jener raren Spezies von Politikern,<br />

die sich durch ihr Wirken selbst<br />

überflüssig machen. Als letzter<br />

Postminister brachte Bötsch von<br />

1993 bis 1997 die Privatisierung<br />

von Telekom, Post und Postbank<br />

auf den Weg und setzte die Nachfolgeunternehmen<br />

des ehemaligen<br />

Staatsmonopolisten Bundespost dem Wett bewerb aus. Als<br />

Konsequenz fiel sein Ressort weg. Seine Karriere begann<br />

Bötsch als Kommunalpolitiker der CSU im Stadtrat von<br />

Würzburg. 1976 zog er als direkt gewählter Abgeordneter<br />

seiner Heimatstadt in den Bundestag ein. <strong>Der</strong> bei Freunden<br />

wie Gegnern wegen seiner Jovialität geschätzte Unterfranke<br />

bekleidete wichtige Ämter in der gemeinsamen<br />

Bundestagsfraktion von CDU und CSU. Er stieg zum Parlamentarischen<br />

Geschäftsführer auf und lei tete von 1989 an<br />

bis zu seiner Berufung ins Kabinett Kohl die CSU-Landesgruppe.<br />

Nach seinem Rückzug aus der Bundesregierung<br />

wirkte er als Justiziar der Unionsfraktion. 2005 schied er<br />

aus dem Bundestag aus und arbeitete fortan als Anwalt,<br />

unter anderem für Telekommunikationsrecht – einen Bereich,<br />

den er entscheidend geprägt hat. Wolfgang Bötsch<br />

starb am 14. Oktober in Würzburg. rei<br />

SEPP SPIEGEL / IMAGO<br />

PA / INTERTOPICS<br />

ROY DOTRICE, 94<br />

Seine erste Rolle soll die der<br />

guten Fee in Aschenputtel gewesen<br />

sein, während seiner<br />

Zeit als Kriegsgefangener in<br />

Deutschland. Später studierte<br />

Dotrice an der Royal Academy<br />

of Dramatic Art und stand<br />

bald auf der Bühne, zunächst<br />

in Hunderten Theaterstücken<br />

in der britischen Provinz. Sein<br />

feines, subtiles Spiel begeisterte<br />

Kritiker und Publikum gleichermaßen,<br />

besonders deutlich<br />

wird das an der Laufzeit<br />

des Ein-Mann-Stücks „Brief<br />

Lives“, in dem er 1782-mal als<br />

der Autor und Chronist John<br />

Aubrey (1626 bis 1697) auftrat;<br />

das brachte dem Schauspieler<br />

einen Eintrag ins Guinness-<br />

Buch der Rekorde. Sowohl in<br />

Großbritannien als auch den<br />

USA war er ein beliebter TV-<br />

Seriendarsteller. In dem oscarprämierten<br />

Kinofilm „Amadeus“<br />

(1984) ist er als Mozarts<br />

Vater zu sehen. Zuletzt wurde<br />

er für „Game of Thrones“ als<br />

Hallyne aus der Gilde der Alchimisten<br />

beschäftigt. Beiderseits<br />

des Atlantiks blieb indes<br />

die Bühne sein liebster Ort.<br />

Roy Dotrice starb am 16. Oktober<br />

in London. ks<br />

RICHARD WILBUR, 96<br />

Schon mit acht Jahren hat er<br />

sein erstes Gedicht veröffentlicht.<br />

Vielleicht muss man so<br />

früh beginnen, um gleich zwei<br />

Pulitzerpreise im Leben zu<br />

gewinnen. Wilbur war Soldat<br />

im Zweiten Weltkrieg, zunächst<br />

als Kryptograf, später<br />

wurde er, wegen ideologischer<br />

Unzuverlässigkeit, als<br />

Infanterist in Italien und<br />

Deutschland eingesetzt. Er<br />

studierte in Harvard, lehrte<br />

unter anderem an der Wes -<br />

leyan-Universität. Kritiker<br />

glaubten in seinen leisen,<br />

menschenfreundlichen Naturgedichten<br />

eine Reaktion auf<br />

ZUMA PRESS / IMAGO<br />

die Schrecken des Krieges zu<br />

erkennen. Wilbur hat das<br />

stets verneint. Er übersetzte<br />

Molières „Tartuffe“ ins Englische,<br />

schrieb für Leonard<br />

Bernsteins Musical „Candide“<br />

Liedtexte, und den protestierenden<br />

Studenten widmete er<br />

1970 das Gedicht „For the Student<br />

Strikers“. Seit 1948<br />

schrieb er für den „New Yorker“.<br />

Sein letztes Gedicht, das<br />

er dort veröffentlichte, endet<br />

so: „Jetzt legt der lange blaue<br />

Schatten dieser Bäume / sich<br />

auf den Schnee und kommt<br />

zur Ruhe.“ Richard Wilbur<br />

starb am 14. Oktober in Belmont,<br />

Massachusetts. vw<br />

JEREMY, ALTER UNBEKANNT<br />

Landlungenschnecken sind<br />

Hermaphroditen; das erleichtert<br />

grundsätzliche Dinge des<br />

Lebens, die Fortpflanzung zum<br />

Beispiel, denn jede kann mit jeder<br />

Nachwuchs zeugen. Jeremy<br />

allerdings war anders als<br />

die anderen: Ein links- statt eines<br />

rechtsgedrehten Hauses außen<br />

und innen alle Organe auf<br />

der anderen Seite als üblich, inklusive<br />

der Geschlechts teile –<br />

Jeremy schien zur Keuschheit<br />

verdammt, als er auf einem<br />

Londoner Komposthaufen entdeckt<br />

wurde. Die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass das Tier ein<br />

gleichgedrehtes treffen würde,<br />

ging gegen null. Dann starteten<br />

Forscher einen internationalen<br />

Aufruf, schließlich sind die<br />

seltenen linken Schnecken für<br />

die Genforschung von allergrößtem<br />

Interesse. Tomeu und<br />

Lefty wurden gefunden. Ein<br />

Drama entspann sich, denn die<br />

beiden vergnügten sich zunächst<br />

nur miteinander statt<br />

mit Jeremy; Tomeu hatte<br />

schließlich doch noch ein Einsehen.<br />

Die Nachkommen der<br />

drei sind allerdings alle rechtsgedreht,<br />

die Forscher hoffen<br />

nun auf die Enkelgeneration.<br />

Jeremy wurde am 11. Oktober<br />

tot aufgefunden. ks<br />

DR. ANGUS DAVISON<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

141


NICHOLAS KAMM / AFP<br />

Bilder, Menschen und Geschichte<br />

Das Gespür für die gesellschaftliche Bedeutung zeitgenössischer<br />

Kunst hat den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama,<br />

56, und seine Frau Michelle, 53, mit Auszug aus dem Weißen<br />

Haus nicht verlassen. Im Gegenteil: Die Wahl der Maler ihrer<br />

beider Porträts für die Smithsonian National Portrait Gallery<br />

in Washington, in der Bilder aller ehemaligen Präsidenten gezeigt<br />

werden, ist ebenso kunstsinnig wie politisch bedeutsam.<br />

Das Bildnis des 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten wird<br />

Kehinde Wiley malen, das der ehemaligen First Lady soll<br />

Amy Sherald auf die Leinwand bringen. Wiley ist im Gegensatz<br />

zu Sherald bereits sehr bekannt, beide malen vor allem<br />

figu rativ, beide sind Afroamerikaner. Die Obamas umgaben<br />

sich im Weißen Haus mit zeitgenössischer afroamerikanischer<br />

Kunst; ihre Entscheidung für Wiley und Sherald ist in Zeiten<br />

des offenen Rassismus ein deutliches Bekenntnis. Und trägt<br />

dazu bei, den Anspruch der Portrait Gallery zu erfüllen, „die<br />

amerikanische Geschichte durch die Menschen zu erzählen,<br />

die sie geprägt haben“. ks<br />

VENTURELLI / GETTY IMAGES<br />

1000 Watt<br />

Die laut Magazin „People“<br />

„schönste Frau der Welt“,<br />

Julia Roberts, 49, feiert am<br />

28. Oktober ihren runden Geburtstag<br />

– und sieht dem Ehrentag<br />

offenbar mit einer gehörigen<br />

Portion Gelassenheit<br />

entgegen. Gelassener jedenfalls<br />

als ein Teil der Klatschpresse.<br />

Vor einem Monat<br />

meldete Radar Online, die<br />

Schauspielerin und ewige<br />

„Pretty Woman“ durchleide<br />

wohl eine Midlife-Crisis,<br />

sie gebe Tausende Dollar für<br />

neue Kleidung und Kosmetikprodukte<br />

aus. Schlimmer<br />

noch: Sie, die – angeblich –<br />

ihrem Körpergewicht nie Beachtung<br />

geschenkt habe,<br />

halte eine strenge vegane<br />

Diät, um abzunehmen. Vergangene<br />

Woche allerdings<br />

kam schon wieder die (beruhigende)<br />

gegenteilige Meldung<br />

von Daily Mail Online:<br />

Roberts ohne Make-up gesichtet,<br />

total leger, strahlend<br />

und keineswegs klapperdürr.<br />

Die Frau mit dem 1000-<br />

Watt-Lächeln dürfte Meisterin<br />

darin sein, all die Spekulationen<br />

über ihr Privatleben<br />

und das Geheimnis ihrer<br />

Schönheit schlicht zu ignorieren,<br />

um ihre Nerven zu<br />

schonen. In einem Interview<br />

mit „Harper’s Bazaar“ sagte<br />

sie mit Blick auf ihren<br />

bevorstehenden Geburtstag:<br />

„Zu viele Gedanken und<br />

zu viel Grübeln, das erschöpft<br />

mich. Es geht doch<br />

weiter voran, oder etwa<br />

nicht?“ In diesem Sinne:<br />

Happy Birthday! ks<br />

142 DER SPIEGEL 43 / 2017


Personalien<br />

Überraschung!<br />

Zeit für Gesichter<br />

Zwei Tage nach ihrem Kennenlernen<br />

machten sich die<br />

Nouvelle-Vague-Legende<br />

Agnès Varda, 89, und der Fotograf<br />

und Streetart-Künstler JR,<br />

34, an die Arbeit – und ein<br />

Regie-Dream-Team war geboren.<br />

Auf einem 18-monatigen<br />

Roadtrip porträtierte das Duo<br />

die Bewohner ländlicher Regionen<br />

in Frankreich, darunter<br />

viele, die sich vom Fortschritt<br />

abgehängt fühlen. <strong>Der</strong><br />

Dokumentarfilm „Visages Villages“<br />

(auf Deutsch „Gesichter<br />

Dörfer“) zeigt die Begegnungen<br />

und die Fotoaktionen<br />

JRs, der die Gesichter der<br />

Nein, Salman Rushdie hatte natürlich<br />

nicht erwartet, dass<br />

ihm der amerikanische Präsident<br />

zum 70. Geburtstag<br />

gratulieren würde, den der indischstämmige<br />

Autor im<br />

Sommer in New York feierte.<br />

Schließlich hatte er gerade<br />

„Golden House“ geschrieben,<br />

einen Gesellschaftsroman,<br />

in dem Donald Trump, nur<br />

wenig verkleidet<br />

als die Comicfigur<br />

„Joker“, sein blutiges<br />

Unwesen<br />

treibt. „Aber“, so<br />

sagte er jetzt dem<br />

SPIEGEL, „ein anderer<br />

Präsident<br />

hat mir gratuliert,<br />

völlig aus dem<br />

Blauen heraus.<br />

Und zwar der<br />

deutsche Bundespräsident.<br />

Ich war total<br />

überrascht.“ Frank-Walter<br />

Steinmeier beließ es nicht<br />

bei einem Glückwunschschreiben,<br />

er lud Rushdie, der<br />

vor wenigen Tagen seine<br />

Deutschlandtournee beendet<br />

hat, ins Schloss Bellevue ein.<br />

Ende November soll er, zusammen<br />

mit weiteren Gästen,<br />

„über das aufklärerische<br />

Poten zial von Literatur und<br />

über die Verteidigung der<br />

Meinungs-, Kunstund<br />

Wissenschaftsfreiheit<br />

gegen<br />

Fanatismus<br />

und antiintellektuelle<br />

Ressentiments<br />

sprechen“,<br />

so Steinmeier.<br />

Rushdie hat schon<br />

zugesagt. Sein<br />

Freund Daniel<br />

Kehlmann wird<br />

auch kommen. vw<br />

CHAD BATKA / DER SPIEGEL<br />

Menschen in Überlebensgröße<br />

plakatierte. <strong>Der</strong> Film ist auch<br />

ein Dokument der Freundschaft<br />

zwischen den ungleichen<br />

Filmemachern. Varda<br />

habe ihn manchmal mitten in<br />

der Nacht mit der Video-App<br />

Facetime angerufen, wenn ihr<br />

Ideen für den Film gekommen<br />

seien, erzählt JR. Ihr Gesicht<br />

habe er dabei aber nicht gesehen,<br />

sondern meist nur ihre<br />

Haare. Sechs Monate lang waren<br />

die beiden für den Kinofilm<br />

auf Werbetour. Dafür ist<br />

Varda in Zukunft ihre Zeit zu<br />

schade. Sie wolle lieber fürs<br />

Fernsehen drehen – da reichten<br />

zehn Minuten Promotion<br />

pro Sendung. smo<br />

EVERETT COLLECTION / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

<strong>Der</strong> Augenzeuge<br />

„Riesige Summen“<br />

Die Aktienkurse steigen und steigen – trotz vieler internationaler<br />

Krisen und Gefahren. Vergangene Woche hat der Deutsche<br />

Aktienindex Dax mehrfach die Marke von 13 000 Punkten<br />

überschritten. <strong>Der</strong> angehende Bankkaufmann Florian<br />

Schürmann, 21, Auszubildender bei der Sparkasse Bielefeld,<br />

war mit seiner Berufsschulklasse bei der Deutschen Börse in<br />

Frankfurt am Main, um das Geschäft mit den Aktien im Zentrum<br />

des Wertpapierhandels zu beobachten.<br />

„Ich finde das beeindruckend, wenn man von der Besuchertribüne<br />

aus auf den Handelssaal der Börse herunterschaut.<br />

Man erlebt hier live, was man sonst immer nur<br />

im Fernsehen sieht, die Entwicklung der Märkte in Echtzeit.<br />

Auf den ersten Blick wirkt das alles ganz ruhig. Es<br />

gibt keine sichtbare Hektik oder laut rufenden Händler,<br />

wie das wohl früher mal war. Bis auf einen kleinen<br />

Bruchteil findet der Handel komplett per Computer<br />

statt. Aber wenn man sich überlegt, welche riesigen<br />

Summen in jeder Sekunde den Besitzer wechseln, dann<br />

ist das fast schon ein wenig beunruhigend. Im Prinzip<br />

weiß ich zwar, wie der Handel funktioniert, aber im Detail<br />

kennt man die Systeme, mit denen die Geschäfte abgewickelt<br />

werden, dann doch nicht. Das ist ein bisschen<br />

eine Blackbox. Trotzdem muss man Vertrauen in die Abläufe<br />

haben, sonst funktioniert das ganze System nicht.<br />

<strong>Der</strong> Börsenhandel fasziniert mich, seit ich als kleiner<br />

Junge mit meinem Vater den Film „Wall Street“ gesehen<br />

habe. Es ist schockierend, wie skrupellos und zerstörerisch<br />

man dort wirken kann. Andererseits finde ich spannend,<br />

welche Chancen die Börse bietet. Aber natürlich<br />

gibt es Risiken. Wie wirkt sich der Brexit aus, was passiert<br />

bei internationalen Krisen wie in Nordkorea? Man<br />

muss immer damit rechnen, dass es an der Börse auch<br />

wieder runtergeht. Jetzt könnte so ein Punkt erreicht<br />

sein, an dem der Markt sich mal wieder erholt und überbewertete<br />

Aktien auf einen gerechtfertigten Preis sinken.<br />

Wer sein Geld nur kurzfristig anlegen will, sollte vorsichtig<br />

sein mit Aktien. Aber bei langfristigen Anlagen<br />

kommt man um Aktien nicht herum, finde ich. Das gilt<br />

gerade für uns junge Leute, die an ihre Altersvorsorge<br />

denken. Ich selbst habe einen Sparplan, meine vermögenswirksamen<br />

Leistungen sind in Aktien angelegt, zwei<br />

Einzelaktien und einen Fonds. Ich glaube, wenn man<br />

sehr langfristig denkt, macht man keinen Fehler, auch<br />

jetzt noch einzusteigen.“ Aufgezeichnet von Matthias Bartsch<br />

PETER JÜLICH / DER SPIEGEL<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017 143


„Die Praxis wird über den Erfolg der Theorie entscheiden. Die<br />

Jugendlichen der Vorstädte wird man nicht mit Mozart erreichen.“<br />

Gernot Hilge, Münster<br />

Ein Lichtblick ist er allemal<br />

Nr. 42/2017 „Ich bin nicht arrogant.<br />

Ich sage und tue, was ich mag.“ SPIEGEL-Gespräch<br />

mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron<br />

Was für ein wunderbares Interview. Von<br />

Macrons Worten geht eine beeindruckende<br />

Kraft aus, die mir Mut macht. Allein der<br />

Satz „Ehrgeiz ist nie bescheiden“ ist ein<br />

Diktum fürs Zitatelexikon. Er scheint mir<br />

nicht nur „Frankreichs letzte Chance“ zu<br />

sein, sondern Europas größte (und dringend<br />

benötigte) Chance.<br />

Prof. Dr. Florian Krötz, München<br />

Emmanuel Macron ist eine charismatische<br />

Blendgranate. <strong>Der</strong> kleine Sonnenkönig aus<br />

Frankreich möchte ein neues Europa, sein<br />

neues Europa. Nicht mehr Demokratie,<br />

nicht Stärkung der Regionen, nicht mehr<br />

Bürgerbeteiligung oder gar direktdemokratische<br />

Elemente, sein Ziel ist die Schaffung<br />

eines europäischen Superstaats, geführt<br />

und gelenkt von einer technokratischen<br />

Elite. Eine Fata Morgana der Arroganz.<br />

Raffaele Ferdinando Schacher, Rorschach (Schweiz)<br />

Dass der Herr Macron Journalisten genau<br />

an dem Tag einlädt, an dem er am Abend<br />

das „kleine Volk“ – Schulklassen aus sozial<br />

schwachen Vierteln, Angestellte des Palasts<br />

mit ihren Familien – im Palast zu einem<br />

Konzert einlädt, entlarvt eine beispiellose<br />

Inszenierung dieses Präsidenten, der<br />

sich „volksnah“ geben will. Er hat ja wohl<br />

in den wenigen Monaten, die er in seinem<br />

Schloss verbracht hat, viel an Spontaneität<br />

verloren und übt sich jetzt darin, den Menschen<br />

da draußen ein bürgernahes Bild<br />

von sich selbst zu geben. Was für ein<br />

Schmierentheater! Außer Privilegien für<br />

die Elite Frankreichs abzuschaffen, hat er<br />

bis jetzt so gut wie gar nichts geleistet.<br />

Brigitte Wolfsteiner, Merkenbach (Hessen)<br />

Wegen Macron auf dem Titel habe ich mal<br />

wieder den SPIEGEL gekauft und bin mehr<br />

als überrascht worden. Tolles Interview!<br />

<strong>Der</strong> Leitartikel von Barbara Supp war auch<br />

gut! Und gefallen haben mir auch die Artikel<br />

zum Fall Weinstein und zum Klima.<br />

Dr. Beate Mücke, Berlin<br />

Was ist denn nun eigentlich Macrons „Erzählung“?<br />

Gerade im SPIEGEL wird in letzter<br />

Zeit sehr häufig die Wichtigkeit der<br />

„Erzählung“ in der Politik beschworen.<br />

Was das eigentlich bedeuten soll, wird dabei<br />

großzügig im Unklaren belassen. Als<br />

Beispiel für etwas einer Erzählung zumindest<br />

Ähnliches fällt mir der Ursprungs -<br />

mythos der Goten ein. Natürlich konnten<br />

auch die Nazis und andere totalitäre Regime<br />

ihre Herrschaft auf eine Fülle von Erzählungen<br />

stützen. All diese Erzählungen<br />

haben gemeinsam, dass es sich um dreiste,<br />

wenn auch meist sehr elaborierte Lügengeschichten<br />

handelt, die fast immer dazu<br />

dienen, eine sehr autoritäre Regierung<br />

zu legitimieren. Ist es also das, was der<br />

SPIEGEL gemeinsam mit Macron in der<br />

europäischen Politik vermisst? Oder ist<br />

Ihnen vielleicht doch nur der Begriff der<br />

politi schen Vision zu abgedroschen?<br />

Colin Sauter, Stuttgart<br />

Präsident Macron, SPIEGEL-Redakteure<br />

Dieses großartige Gespräch in einem großartigen<br />

Ambiente erinnert mich an Gedanken<br />

des ebenfalls großartigen Essayisten<br />

und Frankreichliebhabers Friedrich Sieburg<br />

aus dem Jahre 1939 in seinem „Blick<br />

durchs Fenster“. Nein, nein, Frankreich sei<br />

gegen das Heroische, Napoleons Heldentum<br />

mit der französischen Art nicht vereinbar,<br />

das Lebensgefühl dieses egoistischen<br />

und gesunden Volkes habe die Idee<br />

des Heldischen wie einen Bazillus ausgeschieden.<br />

Wird das Heldentum durch den<br />

Präsidenten Macron möglicherweise erneut<br />

entflammt werden können?<br />

Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.)<br />

Was hat eine Vermögensteuer mit Neid zu<br />

tun? Jedes Vermögen in Unternehmerhand<br />

wurde maßgeblich von Arbeitern und Angestellten<br />

mitverdient, die Steuer kann als<br />

Anzahlung für ein bedingungsloses Grundeinkommen<br />

verwendet werden, zur Ankurbelung<br />

der Wirtschaft. Denn hier<br />

kommt eine Tatsache ins Spiel, die Herr<br />

Macron offenbar nicht verinnerlicht hat:<br />

„Alle Wirtschaft geht vom Bürger aus“,<br />

also von Leuten wie Ihnen und mir. Ein<br />

einfaches Gedankenexperiment mag dies<br />

verdeutlichen: Wenn der Bürger nichts<br />

JEROME BONNET / DER SPIEGEL<br />

kauft, kann der Unternehmer noch so viel<br />

investieren – es kommt dabei nur Investitionsonanie<br />

heraus. Oder Überproduktion.<br />

Wolfgang Luckner, Bonn<br />

Herr Macron hat nett geplaudert. Zu sagen<br />

hat er den einfachen Franzosen und Deutschen<br />

jedoch nichts, was uns Malochern<br />

wichtig wäre, denn wie seine geschätzte<br />

Kollegin Frau Merkel lebt er in einer Welt,<br />

die mit dem Leben der kleinen Leute nun<br />

überhaupt nichts zu tun hat.<br />

Guido Zander, Brügge (Schl.-Holst.)<br />

Fast so gut wie Wehner<br />

Nr. 41/2017 SPIEGEL-Gespräch mit Gregor Gysi über<br />

sein Leben in der DDR und Humor in der Politik<br />

Schon lange bin ich beim Lesen nicht mehr<br />

so unterhalten worden. Nebenbei liefert<br />

Gysi auch noch die Erklärungen, warum die<br />

AfD im Osten so erfolgreich ist. Das fängt<br />

mit der damals so hochgelobten Bürgerbewegung<br />

an. Gegen vieles sein, aber keinen<br />

konstruktiven Vorschlag bringen – heißt das<br />

nicht jetzt AfD? Dann dieses Dauergenöle<br />

von selbst ernannten Gutmenschen, die den<br />

Ossi erziehen wollen. Wie heißt es so schön:<br />

Erst wenn der letzte inquisitorische Eiferer<br />

damit aufhört, mit der Unrechtsstaatkeule<br />

auf die ostdeutschen Normalbürger einzudreschen,<br />

werdet ihr merken, dass die bundesdeutsche<br />

Grundordnung auf unaufge -<br />

arbeitetem braunen Sumpf aufbaut. Aber<br />

zu diesem Thema gibt es keinen Aufschrei,<br />

keinen Generalverdacht, dem sich die westdeutsche<br />

Bevölkerung stellen müsste. <strong>Der</strong><br />

gilt nur für den Osten. Den Menschen, die<br />

ihr Arbeitsleben hier verbrachten, jetzt eine<br />

geringe Rente haben und zusehen mussten,<br />

wie größtenteils drittklassige Westimporte<br />

ihre Arbeitsplätze plattmachten und sich<br />

selbst die bestbezahlten Posten sicherten,<br />

wird nach wie vor von der Politik suggeriert,<br />

Menschen zweiter Klasse zu sein. Gysi und<br />

Marx haben etwas gemeinsam: Ihre Analyse<br />

ist richtig. Es nutzt nur nix. Die Macht haben<br />

andere.<br />

Bodo Lehmann, Dahme/Mark (Brandenb.)<br />

Ich hätte Gysi als Bundeskanzler gewählt,<br />

wenn es denn die Gelegenheit gäbe. <strong>Der</strong><br />

eloquenteste und einer der intelligentesten<br />

Parlamentarier der letzten Jahrzehnte.<br />

Fast so gut wie Wehner.<br />

Helmut Neff, Karlsruhe<br />

Die markanten Punkte des Gesprächs<br />

bestätigen meine Meinung über Gysi als<br />

Prototyp des glatten Winkeladvokaten, der<br />

144 DER SPIEGEL 43 / 2017


Briefe<br />

seinen Mantel immer rechtzeitig in den<br />

Wind gehängt hat. <strong>Der</strong> entlarvendste Satz,<br />

„Auch das Unrecht stand immerhin im Gesetz“,<br />

erinnert mich fatal an die Aussage<br />

des Nazijuristen Filbinger: „Was damals<br />

Recht war, kann doch heute kein Unrecht<br />

sein.“<br />

Jürgen Neunaber, Oldenburg (Nieders.)<br />

Die Justiz war in der DDR und anderen<br />

sozialistischen Staaten erklärtermaßen Teil<br />

des Herrschaftsapparats. Dazu gehörten<br />

auch ausnahmslos alle Anwälte. Wenn<br />

Linkenpolitiker Gysi<br />

Gysi im Interview erzählt, die Entscheidung,<br />

Anwalt zu werden, wäre ein „bisschen<br />

Auflehnung“, wirkt das für mich als<br />

ehemaligen DDR-Bürger wenig glaubhaft.<br />

In kaum einem Studienfach gab es in der<br />

DDR ähnlich restriktive Zugangsbeschränkungen<br />

wie bei Jura. Hauptvoraussetzung<br />

war absolute Systemtreue.<br />

Fred Walkow, Altjeßnitz (Sachs.-Anh.)<br />

Nach Gysis Argumentation wäre das Nazi -<br />

regime kein Unrechtsstaat, denn durch die<br />

Nürnberger Gesetze war ja schließlich alles<br />

gesetzlich geregelt. Im Strafgesetzbuch der<br />

DDR existierte der Paragraf 99: „Wer der<br />

Geheimhaltung nicht unterliegende Nachrichten<br />

zum Nachteil der Deutschen Demokratischen<br />

Republik… übergibt… sammelt<br />

… zugänglich macht … wird mit Freiheitsstrafe<br />

von zwei bis zu zwölf Jahren<br />

bestraft.“ Alles gesetzlich geregelt! Über<br />

20 Jahre hat es gedauert, ehe ich anlässlich<br />

einer Bundestagsdebatte von ihm zum ersten<br />

Mal so etwas hörte wie: die DDR wünsche<br />

sich ja niemand zurück. Aber dieser<br />

ehemalige Vorsitzende der Partei der Spalter<br />

wird von den Medien nach wie vor<br />

hofiert als DDR-Kenner und plustert sich<br />

dabei auf als Sprecher der angeblich von<br />

bornierten „Wessis“ gedemütigten „gelernten<br />

DDR-Bürger“. Schwer erträglich für<br />

alle, die unter den „gelernten DDR-Bürgern“<br />

gelitten haben! Mit besten Grüßen<br />

und langjähriger Sympathie für Ihr einst<br />

illegal gelesenes und von der „Stasi“ beschlagnahmtes<br />

und für Vernehmungs -<br />

zwecke in einem grünlichen Panzerschrank<br />

verwahrtes Blatt.<br />

Michael Verleih, Hanau (Hessen)<br />

HANNES JUNG / DER SPIEGEL<br />

<strong>Der</strong> Staat ist weggewandert<br />

Nr. 40/2017 Essay: <strong>Der</strong> AfD-Erfolg<br />

im Osten trübt die Einheitsfeiern am 3. Oktober<br />

Als neuer Bundesbürger mit „Migrationshintergrund<br />

DDR“ hat mich die in diesem<br />

Essay zum Ausdruck gebrachte westdeutsche<br />

Arroganz geradezu empört. <strong>Der</strong> Verfasser<br />

wirft den Ostdeutschen vor, sie seien<br />

„auf dem Weg zur Selbstdesintegration aus<br />

dem Konsens der liberalen Gesellschaft“,<br />

und verkennt dabei, dass eine liberale Gesellschaft<br />

wohl in der Lage sein sollte, andere<br />

Meinungen auszuhalten. Wenn der<br />

Verfasser sich im Osten wie in einer Kolonie<br />

fühlte, so liegt es wohl daran, dass der<br />

Osten im Jahre 1990 „beigetreten“ wurde<br />

und nicht mit dem anderen Teil Deutschlands<br />

„wiedervereinigt“. Nicht einmal die<br />

Nationalhymne der DDR, „Auferstanden<br />

aus Ruinen und der Zukunft zugewandt,<br />

lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland,<br />

einig Vaterland“, die wir unter SED-<br />

Herrschaft nicht mehr singen durften (!),<br />

fand Aufnahme in einer „wiedervereinigten“<br />

deutschen Nationalhymne.<br />

Gerd Nagel, Wurzbach (Thür.)<br />

DER SPIEGEL Lieber Herr Nagel, ich bin selbst<br />

am 3. 10. 1990 der Bundesrepublik Deutschland<br />

„beigetreten“. Ich bedauere allerdings<br />

zutiefst, inzwischen zu „westdeutscher Arroganz“<br />

fähig zu sein. Herzlich<br />

Stefan Berg, Autor im Deutschlandressort des SPIEGEL<br />

Noch nie habe ich eine so treffende, aber<br />

nicht abschätzige Beschreibung der Befindlichkeiten<br />

der Menschen in den neuen Bundesländern<br />

gelesen.<br />

Astrid Sperling-Theis, Baden-Baden<br />

Wir Ossis haben die Mauer umgekippt!<br />

Wir haben, neben anderem, 108179 Quadratkilometer<br />

mitgebracht. Ihr habt so viel<br />

bekommen: bis dahin völlig unerreichbare<br />

Immobilien, Ländereien, Nationalparks,<br />

Blechschild mit Reichsadler<br />

Firmen samt den dazugehörigen Märkten,<br />

die sich bis Wladiwostok erstrecken, Versicherungsnehmer,<br />

Käufer eurer Altautos,<br />

Konsumenten, Kunstwerke, Forschungs -<br />

ergebnisse. Was für Geschenke! Und dann<br />

diese jährlich anschwellende Undankbarkeit.<br />

Warum jammert ihr immer noch?<br />

Gerhard Mühlhausen, Berlin<br />

SASCHA STEINACH / DPA<br />

Ein guter Artikel. Ex-DDRler muss man<br />

global als Migranten begreifen, auch wenn<br />

sie nicht selbst gewandert sind: Ihr Staat<br />

ist weggewandert, verschwunden, und das<br />

stellte sie vor die Frage, ob sie sich in das<br />

Aufnahmeland integrieren können, ob<br />

man sie dort will und, wenn ja, mit wie<br />

viel Recht auf eigene Tradition, „Religion“,<br />

Besonderheit. Sie können also sehen, wie<br />

schwer die Integration für die Migranten<br />

sein kann.<br />

Reinhard Wolff, Aachen<br />

Abenteuerliche Geschichte<br />

Nr. 41/2017 3200 Jahre alte Hieroglyphen<br />

könnten das Rätsel um den Untergang der Imperien<br />

im östlichen Mittelmeer lösen<br />

Nachdem der SPIEGEL bereits vor knapp<br />

20 Jahren, in Ausgabe 53/1998, jedes Wort<br />

von dem trostlosen Unsinn begierig aufgesogen<br />

hat, mit dem Herr Zangger seine<br />

absurde Identifikation von Troja mit Atlantis<br />

zu begründen versuchte, geht er nun<br />

dem Herrn aufs Neue auf den Leim und<br />

betet in allen Details dessen rufmörderische<br />

Verunglimpfungen des verstorbenen<br />

Archäologen Manfred Korfmann nach,<br />

unbewiesene Plagiatsvorwürfe inklusive.<br />

Noch bevor die Authentizität des Textes<br />

überhaupt geprüft ist, auf den gestützt<br />

Zangger seine „neueste“ Theorie (die im<br />

Wesentlichen bereits 1994 formuliert<br />

wurde) zum Besten gibt, macht sich der<br />

SPIEGEL bereits zu seinem vorbehaltlosen<br />

Advokaten – und wirft dabei bedenkenlos<br />

Luwier und Seevölker durcheinander.<br />

Prof. Dr. Heinz-Günther Nesselrath, Universität Göttingen,<br />

Seminar für Klassische Philologie<br />

Eberhard Zangger hat wieder zugeschlagen.<br />

Als Beleg für seine Theorie präsentiert<br />

er die Kopie einer Hieroglyphen-Inschrift<br />

eines Großkönigs Kupanta-Kurunta<br />

aus dem Nachlass des britischen Archäologen<br />

James Mellaart, zu deren Entstehung<br />

eine abenteuerliche Geschichte präsentiert<br />

wird. Gegen Zanggers Theorie spricht,<br />

dass in den ägyptischen Quellen über die<br />

von den „Seevölkern“ zerstörten Länder<br />

auch Arzawa erscheint, der bedeutendste<br />

luwische Staat im westlichen Kleinasien.<br />

Woher ein wesentlicher Teil der „Seevölker“<br />

stammte, die Philister, nämlich aus<br />

dem mykenischen Griechenland, wissen<br />

wir aus ihrer materiellen Hinterlassenschaft<br />

im heutigen südlichen Israel. Daneben<br />

kamen die „Seevölker“ auch aus anderen<br />

Gebieten, so dem der europäischen<br />

Urnenfelderkultur.<br />

Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf-Dietrich Niemeier, Direktor emeritus<br />

des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe<br />

(leserbriefe@spiegel.de) gekürzt<br />

sowie digital zu veröffent lichen und unter<br />

www.spiegel.de zu archivieren.<br />

DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

145


Hohlspiegel<br />

Rückspiegel<br />

Aus der „Neuen Westfälischen“<br />

Aus der „Süddeutschen Zeitung“:<br />

„<strong>Der</strong> Schauspieler Casey Affleck wurde<br />

im vergangenen Jahr der wiederholten<br />

Belästigung bezichtigt – und gewann daraufhin<br />

einen Oscar.“<br />

Aus einem Werbeflyer der Stadt Jever<br />

Aus GuteKueche.at: „Köstliche Schoko-<br />

Mandeln werden im Backofen<br />

goldgelb gebacken. Zum Schluss wird<br />

das Rezept im Kakao gewälzt.“<br />

Aus RP Online: „Heute feiert<br />

Deutschland seine Einheit, dabei scheint<br />

die Spaltung zwischen Ost und West<br />

auch 27 Jahre nach der Wiedervereinigung<br />

noch nicht vollzogen.“<br />

Aus der „Dill-Post“ in Hessen:<br />

„Die Sperrung der Landstraße nach<br />

Nanzenbach hat begonnen, und<br />

ein Schlumpfloch gibt es auch nicht.“<br />

Kleinanzeige aus dem Informationsblatt<br />

„Schwabachbogen“<br />

Aus der Apothekenzeitschrift<br />

„Rätsel&Medizin“: „Früher gehörte ein<br />

Verdauungsschnaps für viele Menschen<br />

dazu. Er wurde zum Beispiel aus Enzianwurzeln<br />

gebrannt. Die Bitterstoffe aus<br />

den Wurzeln können gegen Völlegefühl<br />

und Belehrungen helfen.“<br />

Aus den „Lübecker Nachrichten“<br />

Aus den „Badischen Neuesten<br />

Nachrichten“: „Gerne<br />

verbringt der fünfköpfige Familienvater<br />

hier Zeit mit seiner Frau.“<br />

146 DER SPIEGEL 43 / 2017<br />

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www.spiegel-geschichte.de<br />

Lesen Sie dazu:<br />

Papstkritik<br />

Luthers geniales<br />

Marketing<br />

Revolte<br />

Aufstand der Bauern<br />

Religionskrieg<br />

<strong>Der</strong> Weg ins Desaster<br />

Zitate<br />

Die „Neue Zürcher Zeitung“<br />

zum SPIEGEL-Gespräch „Ich bin nicht<br />

arrogant“ mit Frankreichs Präsident<br />

Emmanuel Macron (Nr. 42/2017):<br />

Dem Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL<br />

hat er (Macron –Red.) … die französische<br />

Seele erklärt: „Die Franzosen wollen<br />

einen König wählen, aber sie wollen<br />

ihn auch jederzeit wieder stürzen können.“<br />

Das spiele keine Rolle. Ihm gehe<br />

es darum, dem Land zu nützen. Dann<br />

sagt er dies (und nun bitte festhalten):<br />

„Dafür brauchen wir eine Art politisches<br />

Heldentum.“ Soll man sich freuen oder<br />

fürchten?<br />

Die „Landeszeitung Lüneburg“ über die<br />

Folgen des SPIEGEL-Berichts „Es gab jedes<br />

Mal eine Schreierei“ im Mordprozess<br />

am Landgericht Lüneburg (Nr. 40/2017):<br />

Kompisch (der Richter –Red.) verwies<br />

auf … einen Artikel im SPIEGEL, dort<br />

kamen die Familien von Täter und Opfer<br />

zu Wort. Tenor: Es hatte bereits zuvor<br />

Streit zwischen Kristian G. (der Täter)<br />

und dem Kunden (das Opfer) gegeben …<br />

Von alldem will die Ehefrau nichts gewusst<br />

haben. Auch ihr Sohn nicht…<br />

Die „WAZ“ über Fragen von Herner<br />

Schülern an SPIEGEL-Redakteur Takis<br />

Würger zu seinem Roman „<strong>Der</strong> Club“:<br />

„Sind Adjektive böse?“ Das sei er<br />

in der Schule auch schon gefragt worden,<br />

sagte der Autor und erklärte: „Sie<br />

war traurig“ rufe bei den meisten nichts<br />

hervor. Aber wenn er eine Träne aus<br />

dem Augen winkel rollen und sie einen<br />

schwarzen Strich auf die Wange ziehen<br />

lasse, „haben alle ein Bild im Kopf“.<br />

Ehrungen<br />

Das SPIEGEL-Team Kristina Gnirke,<br />

Isabell Hülsen und Martin U. Müller wurde<br />

mit dem 1. Preis des Otto-Brenner-<br />

Preises für kritischen Journalismus für<br />

„Ein krankes Haus“ (SPIEGEL-Titel<br />

51/2016) ausgezeichnet. Die Autoren hätten<br />

mit ihrer Recherche über den<br />

Asklepios-Konzern „schonungslose Aufklärung<br />

über die Missstände im Gesundheitswesen“<br />

geleistet, so die Jury.<br />

SPIEGEL-Mitarbeiter Fritz Schaap erhielt<br />

den 2. Otto-Brenner-Preis für seine<br />

Serie über das kriegsgebeutelte Syrien.<br />

Schaaps Reportagen „Furcht und Betäubung“<br />

(Nr. 50/2016), „Es war einmal<br />

eine Nation“ (Nr. 7/2017) und „In der<br />

Hand der Gangster“ (Nr. 10/2017)<br />

seien „Kriegsberichterstattung im besten<br />

Sinne des Wortes“.


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